Alexander Thomas Interkulturelle Handlungskompetenz
Alexander Thomas
Interkulturelle Handlungskompetenz Versiert, an...
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Alexander Thomas Interkulturelle Handlungskompetenz
Alexander Thomas
Interkulturelle Handlungskompetenz Versiert, angemessen und erfolgreich im internationalen Geschäft
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
1. Auflage 2011 Alle Rechte vorbehalten © Gabler Verlag | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011 Lektorat: Stefanie A. Winter Gabler Verlag ist eine Marke von Springer Fachmedien. Springer Fachmedien ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.gabler.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung: STRAUSS GMBH, Mörlenbach Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-8349-3015-6
Inhaltsverzeichnis
5
Inhaltsverzeichnis 1 1.1 1.2 1.3
Einleitung ......................................................................................................................... 7 Der interkulturell kompetente Kapitän ...................................................................... 10 Drei auf einer einsamen Insel ....................................................................................... 10 Anmerkungen zum interkulturellen Management .................................................. 12
2 2.1 2.2 2.3 2.4 2.5
Interkulturelle Handlungskompetenz und ihre Entwicklung ............................ 15 Interkulturelle Handlungskompetenz und kulturelle Überschneidungssituationen ....................................................................................... 15 Berichte aus der Praxis von Auslandseinsätzen ........................................................ 17 Die Entwicklung interkultureller Handlungskompetenz ........................................ 20 Interkulturelles Lernen und Training ......................................................................... 25 Themenfelder internationaler Kooperationen ........................................................... 30
3 3.1 3.2 3.3 3.3.1 3.3.2 3.3.3 3.3.4 3.3.5 3.4
Mitarbeiterführung ...................................................................................................... 33 Beispiele für kulturell bedingt kritische Interaktionssituationen in der Mitarbeiterführung ............................................................................................ 33 Führungsverhalten unter kulturellen Diversitätsbedingungen ............................. 38 Einzelmerkmale der Mitarbeiterführung unter kulturvergleichenden Kontextbedingungen ..................................................................................................... 40 Führungsstile .................................................................................................................. 41 Zielsetzungen und Problemlösetechniken ................................................................. 43 Entscheidungsprozesse ................................................................................................. 44 Leistungskontrolle ......................................................................................................... 45 Arbeitsmotivation .......................................................................................................... 46 Führung in multinationalen Unternehmen ............................................................... 47
4
Teamarbeit ..................................................................................................................... 53
5
Verhandeln .................................................................................................................... 63
6
Status und Rolle ............................................................................................................ 79
7
Soziale Wahrnehmung und Eindrucksbildung ...................................................... 97
8
Lob und Tadel ............................................................................................................. 113
9
Vertrauensmanagement ............................................................................................ 131
10
Sachorientierung/Person‐ und Beziehungsorientierung .................................... 151
11
Individuelle und kollektive Orientierung ............................................................ 169
6
Inhaltsverzeichnis
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Regelorientierung und Regelrelativierung/Pragmatismus ................................ 185
13
Direktheit und Indirektheit ...................................................................................... 203
14
Hierarchiemanagement ............................................................................................. 221
15
Religiöse Orientierungen .......................................................................................... 237
16
Schlussbemerkungen ................................................................................................. 249
Literatur .......................................................................................................................................... 253 Der Autor ........................................................................................................................................ 256
Einleitung
1
7
Einleitung
Im vorliegenden Buch geht es darum, kulturbedingte Unterschiede in der Wahrnehmung, im Denken, in der Urteilsbildung, in den emotionalen Prozessen und im Handeln, beson‐ ders in der zwischenmenschlichen Kommunikation und Kooperation, kennenzulernen und zu lernen, damit umzugehen. Wenn Menschen aus unterschiedlichen Kulturen aufeinandertreffen und füreinander be‐ deutsam werden, entsteht, im Vergleich zur Begegnung von Menschen aus ein und dersel‐ ben Kultur, eine kulturelle Überschneidungssituation, die spezifische Merkmale aufweist. Die agierenden Personen verfügen nicht mehr über einen so hohen Bestand an gemeinsam geteiltem Hintergrundwissen und die zur Interpretation und Beurteilung der Aktionen und Reaktionen der Partner sowie zur Steuerung und Kontrolle des eigenen Handelns herangezogenen Bezugsmaßstäbe unterscheiden sich deutlich. Erschwerend kommt hinzu, dass die Wahrnehmungs‐ und Beurteilungsprozesse sehr schnell und so routiniert ablau‐ fen, dass sie keiner bewussten Steuerung mehr unterliegen. Sie vollziehen sich gleichsam automatisch nach den bisher angewandten, vertrauten und in der Regel auch erfolgreichen Verarbeitungsmethoden. Die Folge sind häufig auftretende Partnerreaktionen und Interaktionssituationen, die so nicht erwartet wurden. Beide Partner erfahren also erwartungswidrige Verhaltensreaktio‐ nen und Situationsgestaltungen. Dies macht einen stutzig, man fragt sich: „Was soll das denn jetzt? So macht man das doch nicht!“ Schließlich stellt man Vermutungen über die Ursachen dieses erwartungswidrigen Verhaltens und Geschehens an wie zum Beispiel: „Der Partner weiß noch nicht so recht, wie es geht. Ich muss es ihm beibringen!“. Oder: „Der Partner hat nicht aufgepasst, war unkonzentriert. Ich muss es nun noch einmal ver‐ suchen und seine Aufmerksamkeit auf den Sachverhalt zentrieren!“ Oder: „Der Partner will es offensichtlich nicht so machen, wie es richtig ist. Ich muss ihn überzeugen oder zwingen!“. Oder sogar: „Der Partner verhält sich absichtlich so abweichend, er will mich provozieren. Ich werde ihm schon zeigen, dass so etwas mit mir nicht zu machen ist!“ In allen diesen Fällen wird die Ursache für erwartungswidriges Verhalten dem Partner allein angelastet. Wenn immer wieder und dies in vielen unterschiedlichen Situationen und bei unterschiedlichen Personen und Personengruppen ähnliche Erfahrungen gemacht werden, verstärkt sich das Gefühl, die Situation nicht mehr überblicken zu können. Die Orientie‐ rung droht verloren zu gehen, und man gewinnt den Eindruck, die Prozesse und Situatio‐ nen nur noch in sehr begrenztem Umfang steuern und kontrollieren zu können. Genau das aber erzeugt bei allen Fach‐ und Führungskräften ein hohes Maß an Unruhe, Stress und Unzufriedenheit. Für (deutsche) Fach‐ und Führungskräfte gibt es nichts Schlimmeres, als das Gefühl zu haben, die Kontrolle über das Geschehen, also über den Aufgabenbereich zu verlieren, für den sie zuständig sind. Auf die Frage, wie denn der Auslandseinsatz im Gastland so läuft, bekommt man dann von deutschen Fach‐ und Führungskräften oft zu hören: „So richtig voran geht hier nichts!“ Dieser Stoßseufzer kommt nicht nur von den 70 Prozent Expatriates, die vorzeitig
A. Thomas, Interkulturelle Handlungskompetenz, DOI 10.1007/978-3-8349-6880-7_1,
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Einleitung
ihr Auslandsengagement abbrechen, weil sie mit ihrem Latein am Ende sind. Er kommt auch nicht nur von denjenigen, die den Stress nicht mehr aushalten oder das Gefühl haben, den auf sie zukommenden Anforderungen nicht gewachsen zu sein. Selbst erfolgreiche Fach‐ und Führungskräfte haben oft das Gefühl, die Welt nicht mehr zu verstehen. Weit vom Denken und Fühlen ihrer ausländischen Mitarbeiter entfernt zu sein, nicht mehr verstanden zu werden und eben nicht mehr recht voranzukommen, obwohl sie sich doch immer so viel Mühe gegeben hatten. Es gibt sogar Expatriates, die jahrzehntelang für ihr Unternehmen und ihre Organisationen im Ausland tätig waren und dies in verschiedenen Kontinenten und die schließlich zu dem Ergebnis kommen, dass sie eigentlich nicht viel von dem verstanden haben, was ihre Partner gedacht und gefühlt haben. Sie haben auch keine Vorstellung von dem, was denn in all den vielen unterschiedlichen Situationen bei ihnen handlungsrelevante Wirkungen erzeugt hat. Diesen geht es dann so ähnlich wie Sir Robert Hart, dem Generaldirektor des chinesischen Zolldienstes, der mehr als vier Jahrzehnte in China gelebt und gearbeitet hatte, um dann schließlich zu folgender Erkenntnis zu kommen: „China ist wirklich ein schwer zu verste‐ hendes Land. Vor ein paar Jahren glaubte ich, endlich so weit gekommen zu sein, etwas von seinen Angelegenheiten zu wissen, und ich suchte, meine Ansichten darüber zu Pa‐ pier zu bringen. Heute komme ich mir wieder wie ein vollkommener Neuling vor. Wenn ich jetzt aufgefordert würde, drei oder vier Seiten über China zu schreiben, würde ich nicht recht wissen, wie ich dies anfangen sollte. Nur eines habe ich gelernt. In meinem Vaterlande heißt es gewöhnlich: Lass dich nicht biegen und wenn es dabei auch zum Bru‐ che kommt. In China ist es dagegen gerade umgekehrt: Lass dich biegen, aber lass es nicht zum Bruche kommen“ (Smith, 1990). Der einzige Unterschied besteht womöglich darin, dass den modernen Expatriates eine solche abschließende Stellungnahme nicht einmal in den Sinn gekommen wäre. Aber wer ist heute noch vier Jahrzehnte hintereinander im Ausland tätig? Die Erkenntnis, die sich aus diesen Erfahrungen gewinnen lässt, besteht darin, dass die Einsichten und die Vertrautheit mit einer fremden Kultur sich nicht schon dadurch einstellen, dass man lange in ihr lebt und arbeitet. Vielmehr können die Vielfalt und die Tiefe der Erfahrungen im Umgang mit Menschen einer anderen Kultur dazu füh‐ ren, dass man immer vorsichtiger wird, ein abschließendes Urteil zu fällen und zu glau‐ ben, wirklich etwas verstanden zu haben. Interkulturelles Verständnis oder gar interkultu‐ relle Kompetenz sind also keine Selbstläufer, die sich von alleine einstellen, gleichsam im Zuge beiläufigen Lernens. Das, was sich an Erfahrungen hinter der Aussage „So richtig voran geht hier nichts!“ ver‐ birgt, hängt womöglich weniger mit der Fremdartigkeit des Partnerverhaltens und der Lebensbedingungen im Land zusammen, sondern ist eher das Resultat spezifischer, unre‐ flektierter und nicht bewusstseinspflichtiger Erwartungen. So beispielsweise, dass es im‐ mer kalkulierbar und absehbar vorangehen muss, dass man immer weiß, was ein „richti‐ ges“ Vorangehen beinhaltet, und davon überzeugt zu sein, alles dazu Erforderliche getan zu haben, damit es so „ richtig vorangeht“, wie man es sich vorgestellt hat. Der Stoßseufzer „So richtig voran geht hier nichts!“ ist also das Resultat erwartungswidri‐ ger Beobachtungen und Erfahrungen im Umgang mit Menschen der Kultur, in der man lebt und arbeitet, ohne dass man eine Vorstellung davon hat, was das unerwartete Verhal‐
Einleitung
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ten der Partner, der Bedingungen am Arbeitsplatz und der Lebensverhältnisse insgesamt verursacht hat. Wer nun auf die Idee kommt, seinen ausländischen Partner danach zu fragen, warum „hier nichts so richtig vorangeht“, wird die Erfahrung machen, dass er mit dieser Frage auf Unverständnis stößt. Der so angesprochene Partner versteht überhaupt nicht, was mit dieser Frage gemeint ist, und kann sie deshalb auch nicht beantworten. Die Lösung des Dilemmas liegt darin, dass man sich ausgiebig mit den Lebens‐ und Ar‐ beitsbedingungen im Zielland beschäftigt. Dabei sind die kulturspezifischen Determinan‐ ten und Kontextbedingungen, unter denen die Partner leben, arbeiten und miteinander interagieren, zu analysieren. So kann man dann allmählich ein Bild davon bekommen, welche Werte, Normen, Sitten, Gebräuche, Verhaltensregeln, Etiketten und Tabus sowie Einstellungen und Gewohnheiten im Zielland vorherrschen und verhaltensbestimmend sind. Forschungen zur Entwicklung interkultureller Kompetenz haben gezeigt, dass besonders kulturell bedingt „kritische“ Interaktionssituationen und Episoden geeignet sind, einen Lernprozess in Gang zu setzen. Darüber kann sich dann die interkulturelle Kompetenz als Schlüsselqualifikation für den erfolgreichen und zufrieden stellenden Umgang mit Men‐ schen aus anderen Kulturen entwickeln. Im vorliegenden Buch werden solche kritischen Interaktionssituationen präsentiert, be‐ sprochen und analysiert, die aus Interviews, durchgeführt mit deutschen Fach‐ und Füh‐ rungskräften in verschiedenen Ländern, stammen. Es sind authentische Erfahrungen er‐ wartungswidrigen Verhaltens, gefasst in Situationsschilderungen, in denen sich die aus‐ ländischen Partner derart verhalten, dass der deutsche Expatriate sie nicht mehr versteht. Dabei sind die Situationen so ausgewählt, dass sie in Aufgabenfelder passen, die typisch sind für Fach‐ und Führungskräfte im Auslandseinsatz und in denen eben kulturspezifi‐ sche Merkmale verhaltensteuernd wirksam werden. Die Situationen werden aus verschiedenen Perspektiven betrachtet und analysiert, damit der Leser, der sich in die handelnden Personen hineinversetzt, eine Vorstellung davon bekommt, welche gedanklichen Prozesse, Emotionen und Motivationen das Verhalten des deutschen einerseits und seines ausländischen Partners andererseits bestimmen. Dabei geht es nicht darum, nur spezielle Kenntnisse über eine spezifische Kultur zu erwerben oder Lösungen für die präsentierten speziellen kritischen Interaktionssituationen vorzuge‐ ben und zur Nachahmung zu empfehlen. Es geht vielmehr darum, eine Sensibilität und Feinfühligkeit für die kulturellen Determinanten menschlichen Verhaltens allgemein auf‐ zubauen. Der Leser als Lernender soll auf diese Weise in die Lage versetzt werden, selbst‐ ständig kulturell bedingt kritische Interaktionssituationen zu erkennen und so zu meis‐ tern, dass beide Interaktionspartner auf der Grundlage gegenseitiger kultureller Wert‐ schätzung ein hohes Maß an Zufriedenheit und Effizienz erreichen. Dazu ist ein Mindest‐ maß an interkultureller (Handlungs‐)Kompetenz als zentrale Schlüsselqualifikation zur Bewältigung der kulturell bedingten Anforderungen in einer sich immer weiter internatio‐ nalisierenden und globalisierenden (Wirtschafts‐)Welt erforderlich.
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Einleitung
In den beiden folgenden Texten werden in karikierender Weise die kulturspezifischen Beeinflussungen menschlichen Handelns in extremen Situationen beschrieben. Dabei wer‐ den zwar bewusst Übertreibungen, Stereotype und Vorurteile eingebaut, um den Leser stutzig werden zu lassen und zum Schmunzeln zu bringen. Hinter dieser Kulisse aber werden ernst zu nehmende kulturspezifische Sichtweisen, Verhaltensgewohnheiten und Handlungsmuster deutlich, die auf die Interaktionsprozesse einwirken.
1.1
Der interkulturell kompetente Kapitän
Ein Kreuzfahrtschiff mit internationalem Publikum an Bord rammt einen gewaltigen Eisberg und beginnt, langsam zu sinken. Da die Rettungsboote klemmen, gibt der Kapi‐ tän den Befehl, dass die Passagiere unverzüglich die Schwimmwesten anlegen und von Bord springen sollen. Nach zehn Minuten kehrt der Erste Offizier verzweifelt zurück und meldet: „Keiner ist bereit zu springen. Was sollen wir tun?“ Da geht der Kapitän selbst von der Brücke, und nach weiteren zehn Minuten sind alle Passagiere von Bord. „Wie haben Sie das denn bloß gemacht?“, fragt der Erste Offizier erstaunt. „Ganz einfach, mein Lieber“, sagt der Kapitän, „den Engländern habe ich gesagt, es sei unsportlich, nicht zu springen, den Franzosen, es sei schick, den Deutschen, dies sei ein Befehl, den Japanern, es sei gut für die Potenz, den Amerikanern, sie seien versichert, und den Italienern, von Bord zu springen sei verboten.“ Offensichtlich reicht für einige der Passagiere der Befehl zu springen alleine nicht aus, um das damit verbundene Risiko einzugehen. Erst die Unterstützung des Befehls durch die Aktivierung kulturspezifischer Werte aus den Bereichen Sport, Ästhetik, Autorität, Ge‐ sundheit, Sicherheit und Protest hat Erfolg.
1.2
Drei auf einer einsamen Insel
Der Schauplatz ist eine kleine, einsame, unbewohnte, tropische Inselgruppe. Auf diesen wunderschönen Inseln mitten im Ozean stehen jeweils die folgenden Personen: zwei Italiener und eine Italienerin zwei Franzosen und eine Französin
Drei auf einer einsamen Insel
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zwei deutsche Männer und eine deutsche Frau zwei Griechen und eine Griechin zwei Engländer und eine Engländerin zwei Bulgaren und eine Bulgarin zwei Japaner und eine Japanerin zwei Chinesen und eine Chinesin zwei Amerikaner und eine Amerikanerin zwei Iren und eine Irin Die Aufgabe besteht darin zu überlegen, was auf den Inseln passiert. Hier die Antworten: Der eine Italiener bringt den anderen wegen der Italienerin um. Die beiden Franzosen leben glücklich mit der Französin in einem „Verhältnis zu dritt“. Die beiden Deutschen machen einen strikten Wochenplan, für die abwechselnden Besu‐ che bei der Deutschen. Die beiden Griechen schlafen miteinander und die Griechin putzt und kocht für sie. Die beiden Engländer warten darauf, dass jemand sie der Engländerin vorstellt. Die beiden Bulgaren schauen lange auf den endlosen Ozean und genauso lange auf die Bulgarin und beginnen zu schwimmen. Die beiden Japaner schicken ein Fax nach Tokio und warten auf Anweisungen. Die beiden Chinesen eröffnen eine Apotheke, einen Schnapsladen, ein Restaurant und eine Wäscherei und schwängern die Chinesin, damit sie Angestellte für ihre Läden be‐ reitstellt. Die beiden Amerikaner denken ernsthaft über Selbstmord nach, weil die Amerikanerin nicht aufhört zu jammern: über ihre Figur; über den einzig wahren Feminismus; dass sie alles das, was die beiden können, auch kann; über die Notwendigkeit der Selbsterfül‐ lung; über die gleichberechtigte Aufteilung von Hausarbeit; wie Sand und Palmen sie fett aussehen lassen; wie ihr letzter Freund ihre Ansichten respektiert hat und dass er sie viel netter behandelt habe, als die beiden es tun; dass die Beziehung zu ihrer Mutter immer besser wird; dass immerhin die Steuern niedrig sind und dass es nicht regnet. Die beiden Iren teilen zuerst die Insel in Nord und Süd und errichten eine Schnapsbren‐ nerei. Sie erinnern sich nicht daran, ob „Sex is in the picture“, weil es nach den ersten paar Litern vom Kokosnuss‐Whisky so lebendig wurde. Aber sie sind zufrieden, denn immerhin haben die Engländer keinen Spaß. (aus „The Global Village“).
12
Einleitung
Hier werden an fiktiven Beispielen geschlechtsspezifischen Rollenverhaltens nationale Stereotype thematisiert und in ihren Auswirkungen auf das Verhalten beschrieben. Zur Einstimmung, Anregung und Motivation, sich mit den folgenden Texten ausgiebig zu beschäftigen und auseinanderzusetzen, einige Zitate mehr oder weniger berühmter Den‐ ker zu Themen wie Lernen, Reflektieren, Handeln und Erleben sowie Verändern: „Der Mensch hat dreierlei Wege, klug zu handeln; erstens durch Nachdenken, das ist der in edelste, zweitens durch Nachahmen, das ist der leichteste, und drittens durch Erfah‐ rung, das ist der bitterste“(Konfuzius, 5. Jh. v. Chr.). „Lernen ohne eigenes Nachdenken führt zum Nichtwissen; Nachdenken ohne Lernen birgt in sich Gefahr“ (Konfuzius, 5. Jh. v. Chr.). „Wer fragt, irrt vielleicht einmal, wer nicht fragt, irrt ewig, wer nie fragt, immer“ (nach Wang‐Wie, Studienkreis). „Wenn Menschen, die einander nicht verstehen, zumindest verstehen, dass sie nicht verstehen, dann verstehen sie einander besser, als wenn sie nicht verstehen, dass sie einander nicht verstehen“ (Gustav Ichheiser, 1949). „Nur wer den Gegner und sich selbst gut kennt, kann in 1000 Schlachten siegreich sein“ (aus Zun Shu, ca. 5. Jh. v. Chr.). Als moderne Variante abgewandelt: „Nur wer den fremdkulturellen Partner und sich selbst gut kennt, kann im Zusammenle‐ ben und in der Zusammenarbeit erfolgreich sein.“
1.3
Anmerkungen zum interkulturellen Management
Nachfolgend werden immer wieder die problematischen, unerwarteten, irritierenden Aspekte internationalen Managements betont. Im Mittelpunkt stehen kulturbedingt kriti‐ sche Interaktionssituationen, die zu bearbeiten sind. Vieles, oft sogar das meiste, verläuft im Auslandseinsatz so wie in der Interaktion mit Personen im Heimatland „unproblema‐ tisch“, weil bestehende Unterschiede nicht bemerkt werden, das gegenseitige Verstehen, die Kommunikation und Interaktion nicht so beeinträchtigt sind, dass es auffällt, weil wie selbstverständlich bei allen Partnern eine gewisse Bereitschaft vorhanden ist, aufeinander zuzugehen, sich anzupassen, vorsichtig miteinander umzugehen, womöglich kritische Stellen schon im Vorfeld zu entschärfen oder zu übersehen.
Anmerkungen zum interkulturellen Management
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Im internationalen Management machen sich im Arbeitsalltag womöglich auch global wirkende kulturelle Konvergenzen bemerkbar. So sind zum Beispiel die Orte, die Räume, das Prozedere, die Ablaufprozesse etc. bei Konferenzen, Tagungen und Verhandlungen weltweit relativ vereinheitlicht, meist den westlichen Standards angepasst. Auch in Afrika trifft man sich zu Wirtschaftsverhandlungen nicht mehr für mehrere Tage unter dem Palaverbaum und bleibt so lange sitzen, bis eine Einigung zustande gekommen ist, son‐ dern man trifft sich im Konferenzraum mit Beamer, Laptop, Flipchart, Overheadprojektor und all dem Material, das zu einem modernen Konferenzraum gehört. Aber vor diesem Hintergrund fallen die durch unterschiedliche kulturelle Orientierung bedingten Irritatio‐ nen besonders auf. Sie sind nur schwer zu beseitigen, weil die verursachenden Frakturen nicht bewusstseinspflichtig sind. Die eigenkulturellen Orientierungen sind so in die Hand‐ lungsroutinen übergegangen, dass sie nicht mehr bemerkt werden. Aber die zum Ver‐ ständnis des fremdkulturellen Verhaltens erforderlichen Kenntnisse und Einsichten fehlen. So bleibt den Interaktionspartnern nichts anderes übrig als zu versuchen, die entstandenen Situationen mit den Mitteln zu meistern, die sie im Rahmen ihres eigenen kulturellen Kon‐ textes erworben und verinnerlicht haben. Genau die sind aber ungeeignet, kulturell be‐ dingt kritische Interaktionssituationen zu verstehen und zu überwinden. Verstärkt wird dieser Prozess noch durch die Tendenz, die Ursachen für die misslungene Kommunikation und Interaktion als Defizit dem Partner zuzuschreiben (personale Attributionen). Aus Sicht deutscher Fach‐ und Führungskräfte verhält sich der ausländische Partner schlicht und einfach „falsch“, und genauso bewertet der ausländische Partner das Verhalten der deutschen Fach‐ und Führungskräfte – auch sie verhalten sich aus seiner Sicht „falsch“. Diesen sich selbst verstärkenden Zirkel aufzubrechen und ein Verständnis für die Wirk‐ samkeit kultureller Orientierungssysteme zu entwickeln, ist das Ziel dieses Buches. Der Auslandseinsatz ist jedoch in der Regel nicht nur eine Aneinanderreihung von Prob‐ lemen und Enttäuschungen. Er ist für viele eine lebenslang wirksam bleibende Bereiche‐ rung, verbunden mit dem Bewusstsein der „Horizonterweiterung“, des Meisterns kultu‐ reller Diversitäten und des produktiven interkulturellen Managements. Dabei ist aber auch nicht zu übersehen, dass nicht wenige ihren Auslandseinsatz vorzeitig abbrechen oder nicht die in sie gesetzten Erwartungen erfüllen. Ohne Sensibilisierung für die Wirksamkeit kultureller Einflussfaktoren auf das Verhalten und ohne qualifizierte Vorbereitung auf die kulturellen Besonderheiten, die mit dem Einsatzort und den Einsatzgegebenheiten ver‐ bunden sind, und ohne den Einsatz begleitender Beratung, eventuell auch Coaching, pro‐ duzieren zu viele deutsche Fach‐ und Führungskräfte Prozessverluste und bleiben damit deutlich unter ihrem Leistungsoptimum.
Weiterführende Literatur: Harris, P. R./Moran, R. T. (1996): Managing cultural differences. Leadership for a new world business. 4th ed., Houston. Kühlmann, T. (Hrsg.) (1995): Mitarbeiterentsendung ins Ausland, Göttingen. Rothlauf, R. (2006): Interkulturelles Management, 2. Aufl., Wien. Straub, J./Weidemann, A./Weidemann, D. (Hrsg.) (2007): Handbuch interkulturelle Kommunikation und Kompetenz, Stuttgart, Weimar.
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+
Einleitung
Interkulturelle Handlungskompetenz und kulturelle Überschneidungssituationen
2
Interkulturelle Handlungskompetenz und ihre Entwicklung
2.1
Interkulturelle Handlungskompetenz und kulturelle Überschneidungssituationen
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In den vergangenen Jahrzehnten hat mit Zunahme der Internationalisierung und Globali‐ sierung vieler, wenn nicht sogar aller Bereiche in unserer Gesellschaft die Schlüsselqualifi‐ kation „Interkulturelle Handlungskompetenz“ immer mehr an Bedeutung gewonnen. Bei Stellenausschreibungen im Bereich von Wirtschaft und Verwaltung wird oft schon inter‐ kulturelle Handlungskompetenz als Einstellungsmerkmal vorausgesetzt, verbunden mit Auslandserfahrungen und längeren Auslandseinsätzen. Dabei bleibt nicht selten offen, was unter interkultureller Handlungskompetenz überhaupt zu verstehen ist und was zum Aufbau dieser Schlüsselqualifikation geleistet werden muss. Eine für die hier zu behandelnde Thematik gut geeignete vom Autor vorgenommene Defi‐ nition interkultureller Handlungskompetenz lautet: Interkulturelle Handlungskompetenz zeigt sich in der Fähigkeit, kulturelle Bedingungen und Einflussfaktoren in der Wahrnehmung, im Urteilen, im Denken, in den Emotionen und im Handeln bei sich selbst und bei fremden Personen zu erfassen, zu würdigen, zu respektierten und produktiv zu nutzen und zwar im Sinne einer wechselseitigen Anpas‐ sung, einer Toleranz gegenüber Inkompatibilitäten (kulturell bedingte Unvereinbarkei‐ ten) und der Entwicklung möglicherweise synergetischer Formen des Zusammenlebens, der Lebensgestaltung und der Bewältigung von Problemen. Darüber hinaus ist interkulturelle Kompetenz die notwendige Voraussetzung für eine angemessene, erfolgreiche und für alle Seiten zufriedenstellende Kommunikation, Begeg‐ nung und Kooperation mit Menschen aus unterschiedlichen Kulturen. Wissenschaftliche Forschungsarbeiten und Praxiserfahrungen haben immer wieder belegt, dass interkulturel‐ le Kompetenz nicht von alleine entsteht – auch nicht, wenn man längere Zeit im Auslands‐ einsatz tätig war –, sondern das Resultat eines gezielten Lern‐ und Entwicklungsprozesses ist. Die Entwicklung interkultureller Kompetenz setzt die Bereitschaft voraus, sich mit frem‐ den und unvertrauten kulturellen Orientierungssystemen auseinanderzusetzen und zwar basierend auf einer Grundhaltung kultureller Wertschätzung. Nicht Toleranz und Respekt gegenüber Fremdheit und Andersartigkeit reichen hier aus, vielmehr muss ein Bewusst‐ sein dafür geschaffen werden, dass kulturelle Unterschiede ein wichtiges und kreatives Entwicklungspotenzial beinhalten, das zur Bereicherung der Lebensqualität und zur Stei‐
A. Thomas, Interkulturelle Handlungskompetenz, DOI 10.1007/978-3-8349-6880-7_2,
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Interkulturelle Handlungskompetenz und ihre Entwicklung
gerung der Effizienz im Arbeitskontext genutzt werden kann. Dies setzt allerdings voraus, dass man in der Lage ist, die Werthaltigkeit der kulturell bedingten Unterschiede zu er‐ kennen. Von entscheidender Bedeutung zum Aufbau interkultureller Handlungskompe‐ tenz gehört es, die kulturellen Bedingtheiten der Wahrnehmung, des Denkens, des Urtei‐ lens, des Empfindens und des Handelns einerseits bei sich selbst und andererseits bei anderen Personen zu erfassen und zu würdigen. Dabei ist oftmals das Erfassen und das sich Bewusstwerden der eigenkulturellen Orientierungssysteme, Werte, Normen, Bezugs‐ maßstäbe, Verhaltensregeln und verinnerlichten Handlungsroutinen schwieriger als die Erfassung und das Vertrautmachen mit fremdkulturellen Orientierungssystemen. Die im Rahmen der Entwicklung interkultureller Handlungskompetenz zu bewältigenden Anforderungen sind in Abbildung 2.1 veranschaulicht. Es geht dabei um die Bearbeitung der kulturellen Überschneidungssituation. Abbildung 2.1:
Das Eigene, das Fremde, das Interkulturelle
Plötzlich und unerwartet und zudem meist unbemerkt wird der ausländische Partner in einer Art und Weise erlebt, die irritiert. Da eine deutsche Fach‐ und Führungskraft im Auslandseinsatz sich aber einer so ungewohnten und bedrohlich wirkenden Situation nicht entziehen kann, muss sie das Verhalten des ausländischen Partners in ihren Hand‐ lungsplänen, Handlungsintentionen, Handlungsvorbereitungen und Ausführungsstrate‐ gien berücksichtigen. Die kulturelle Überschneidungssituation entsteht aus der wechselsei‐ tigen Interaktion zwischen dem Eigenem und dem Fremden (Doppelpfeil in Abbildung 2.1). Diese neue kulturelle Überschneidungssituation ist für beide Kommunikations‐ und Interaktionspartner von anderer Qualität als das, was sie normalerweise in der Interaktion
Berichte aus der Praxis von Auslandseinsätzen
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und Kommunikation mit ihren Landsleuten erleben und zu bearbeiten haben. Das Inter‐ kulturelle stellt Anforderungen, zu deren produktiver und kreativer Bewältigung interkul‐ turelle Handlungskompetenz Voraussetzung ist.
2.2
Berichte aus der Praxis von Auslandseinsätzen
Zur Einstimmung zunächst einige Berichte deutscher Fach‐ und Führungskräfte über ihre interkulturellen Erfahrungen während eines Auslandseinsatzes: Der Produktmanager eines großen deutschen Pharmaunternehmens berichtet: „Ich habe zunächst drei Jahre in Ostasien gearbeitet und wurde dann in die USA ver‐ setzt. In Asien überfällt einen die Fremdheit gleich am ersten Tag, man spürt sie wie ei‐ nen Hammerschlag. Es dauert Monate, bis man beginnt, hinter der Fremdheit hier und da auch Vertrautes zu entdecken. In den USA habe ich es umgekehrt erlebt. Manche Äußerlichkeit mutet zwar zunächst auch fremd an, beispielsweise die Architektur der Städte, aber doch nicht so fremd wie in Asien. Ich habe das, was ich sah, auch ständig in Bezug zu Deutschland gesetzt. Ich habe mich mit Hoffnung, öfter aber auch mit Sorge, gefragt: Wann wird es bei uns auch so sein wie hier? Schon in dieser Frage kommt ein gewisses Maß an Nähe zwischen Deutschland und den USA zum Ausdruck! Mit den Menschen kam ich in den USA zunächst sehr gut zurecht: ‚Leute wie du und ich’, dachte ich. Aber je länger ich da war, desto fremder wurden sie mir – und dies in vielen Bereichen. Aus der heutigen Distanz betrachtet würde ich immer noch sagen, dass die Unterschiede insgesamt viel geringer sind als die zu meinen ostasiatischen Partnern, aber es gab in den USA Momente, da war ich mir dessen gar nicht mehr so si‐ cher, und zwar deshalb, weil wenig so lief, wie ich es erwartet hatte. Aber ein wichtiger Unterschied lag auch in meinem Herangehen an die beiden Kultu‐ ren: In Asien habe ich Fremdheit erwartet und dann manche Gemeinsamkeit gefunden. In Amerika habe ich Gemeinsamkeit erwartet und bin auf viel Fremdes gestoßen.“ Ein amerikanischer Trainer, der Manager auf den Arbeitseinsatz in Deutschland vorberei‐ tet, berichtet: „Die meisten Deutschen unterschätzen die Unterschiede zwischen den USA und Deutschland. Umgekehrt ist es etwas anders: Deutschland ist bei uns in den Medien, überhaupt in unserem Alltag, viel weniger präsent. Aber natürlich haben wir ein ganzes Bündel von Klischees im Kopf, wenn wir an Deutschland denken. Dabei sind wir auch nicht ganz frei von Misstrauen, aufgrund der Ereignisse im Zusammenhang mit dem Zweiten Weltkrieg, der Nachkriegsgeschichte und den aktuellen Entwicklungen im Zu‐ sammenhang mit Rechtsradikalismus und Fremdenfeindlichkeit in Deutschland.
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Interkulturelle Handlungskompetenz und ihre Entwicklung
Unsere Manager, die nach Deutschland geschickt werden, fallen jedenfalls gelegentlich auf den Bauch, schon deshalb, weil sie denken, sie seien schlicht und einfach besser als die Deutschen – technisch und natürlich erst recht moralisch. Weiterhin ist festzustellen, dass einige bedeutende deutsche Unternehmen in den letzten Jahren große Schwierigkeiten auf dem amerikanischen Markt hatten. Eine Weile haben Sie die Ursachen dafür vor allem in den Wechselkursschwankungen und ähnlichen ‚Schicksalsschlägen’ gesehen. Aber inzwischen hat man sich zu der Erkenntnis durchge‐ rungen, dass falsches Auftreten ihrer Repräsentanten in den USA einen viel bedeutsa‐ meren Anteil an den Misserfolgen hatte. Man macht sich inzwischen Gedanken darüber, was es heißt, in den USA ‚richtig’ und ‚angemessen’ aufzutreten.“ Ein deutscher Managementtrainer bemerkt: „Es besteht bei deutschen Firmen durchaus eine gewisse Nachfrage zur Vorbereitung auf die USA. Wenn man allerdings berücksichtigt, dass die USA nach wie vor das Land sind, in das deutsche Unternehmen im Schnitt die meisten Auslandsmitarbeiter entsen‐ den, ist die Nachfrage überproportional niedrig. Während es mittlerweile viele Unter‐ nehmen für unabdingbar halten, einen nach China oder Japan zu entsendenden Mitar‐ beiter auf die chinesische respektive japanische Kultur allgemein und die Unterneh‐ menskultur im Besonderen vorzubereiten, hat eine entsprechende Vorbereitung auf die USA noch immer den Charakter einer ‚Luxusveranstaltung’. Die Einschätzung, dass amerikanische Vorgehensweisen eigentlich jedem gebildeten Deutschen vertraut sein müssen, ist immer noch weit verbreitet. Interessanterweise ha‐ ben vor allem die deutschen Unternehmen gelernt, sich besser vorzubereiten, die schon lange in dem USA‐Markt präsent sind und häufig erfahren haben, wie schnell man dort eine Bruchlandung machen kann. Sie vor allem sind es, die ihre Mitarbeiter heute sys‐ tematisch auf einen Amerika‐Einsatz nicht nur sprachlich, landeskundeorientiert und marktspezifisch vorbereiten, sondern auch auf den Umgang mit der Mentalität der Amerikaner.“ In diesen Berichten werden schon einige zentrale Aspekte und Anforderungen angespro‐ chen, die einerseits mit den charakteristischen Merkmalen kultureller Überschneidungssi‐ tuationen zu tun haben und andererseits mit den Möglichkeiten und Problemen im Zu‐ sammenhang mit der Entwicklung von Fähigkeiten und Fertigkeiten zum Umgang mit interkultureller Diversität zusammenhängen, wie z. B. Differenzen zwischen Erwartung und Realität, erwartete und erfahrene kulturelle Ähnlichkeit und Unähnlichkeit, kulturell angemessenes und adäquates Reagieren, Divergenzen zwischen Selbstbild und Fremdbild sowie vermutetem Fremdbild, Ignoranz in Bezug auf die Notwendigkeit interkultureller Orientierungstrainings, unterschiedliche Ursachenzuschreibungen für wirtschaftliche Misserfolge im Zielland u. Ä. Auf all diese Punkte wird im Verlauf der weiteren Themen‐ behandlung ausführlich eingegangen.
Berichte aus der Praxis von Auslandseinsätzen
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Ein deutscher Manager berichtet aus Moskau: „Für insgesamt zwei Jahre wurde ich von meinem Unternehmen, das in der Unterneh‐ mensberatung in Deutschland tätig ist, zu unserer Vertretung nach Moskau entsandt. Insgesamt waren im Moskauer Büro etwa 15 Expatriates aus verschiedenen Ländern tä‐ tig. Der überwiegende Teil der Mitarbeiter (etwa 95 Prozent) stammte aus Russland. Sowohl die Vorbereitungsphase als auch die ersten Wochen nach Ankunft in Moskau waren gut organisiert. Momente der Frustration gab es zwar genug, aber man hatte sich in gewisser Weise auch mental darauf vorbereitet und wusste, was einen erwartet. Im beruflichen Bereich gab es die größten Anpassungsprobleme, vor allem aufgrund der unterschiedlichen Arbeitsweise und Organisation im Vergleich zu Deutschland. Nach ein paar Monaten gewöhnt man sich allerdings an die Mentalität der russischen Kolle‐ gen und erkennt, dass Deutschland nicht unbedingt das Maß aller Dinge sein muss und es auch anders genauso gut funktioniert. Hilfreich in dieser Phase aber war sicherlich auch der Austausch mit den anderen Expatriates. Allerdings stellt jeder Arbeitsplatz‐ wechsel innerhalb Deutschlands eine ähnliche Situation dar. Die größten Probleme gab es im privaten Bereich. Das bisherige soziale Umfeld fiel weg und musste neu entwickelt und organisiert werden: Neue Freunde mussten gefunden werden. Alltägliche einfache Dinge wie Einkaufen gestalteten sich aufgrund sprachli‐ cher und kultureller Probleme schwierig und zeitraubend, und zumindest in der An‐ fangsphase ist man auf die Unterstützung vor allem durch Kollegen angewiesen. Ande‐ rerseits ist genau dieses erste Jahr die interessante Seite bei einem Auslandseinsatz. Zu‐ dem ist man nicht allein: Andere Expatriates teilen das Schicksal und stehen unterstüt‐ zend zur Seite. Nach ein paar Monaten hatte ich mich schließlich akklimatisiert und fühlte mich heimisch. Die Rückkehr und die Integration nach zwei Jahren verliefen nicht einfacher, eher schwieriger. Erst einmal hieß es Abschied nehmen von der neu gewonnenen Heimat und von Freundschaften und wieder in die ‚Normalität’ zurückkehren. Die größten Schwierigkeiten gab es bei der Rückkehr allerdings nicht im privaten, sondern im beruf‐ lichen Umfeld. Die Zeit bleibt während der Abwesenheit in der Heimatgesellschaft nicht stehen und man kann nicht davon ausgehen, dass man mit offenen Armen wieder emp‐ fangen wird. Kunden und Mandanten, die man vor dem Auslandseinsatz betreut hat, werden nun von anderen Kollegen betreut. Wer ist schon so selbstlos und weicht von seiner Position, nur weil ein Kollege aus dem Ausland zurückkehrt? Hier gibt es sicher‐ lich das größte Frustrationspotenzial, denn insgeheim hat man sich ja auch aus dem Auslandseinsatz ein berufliches Fortkommen versprochen und auch viel Zeit und Ner‐ ven investiert (von privaten Schwierigkeiten mit dem Partner ganz zu schweigen). Ins‐ gesamt war ich während der Anfangsphase meiner Rückkehr froh, den Auslandseinsatz nicht nur aus beruflichen Gründen, sondern auch aus privatem Interesse unternommen zu haben. Aus persönlicher Sicht hat sich der Auslandseinsatz sicherlich vollauf gelohnt. Den beruflichen Nutzen muss man eher langfristig sehen. Die Erfahrungen und Kennt‐ nisse, die man im Ausland gewonnen hat, können in der Regel nicht sofort verwertet werden, machen sich aber sicherlich in jedem Lebenslauf gut.
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Interkulturelle Handlungskompetenz und ihre Entwicklung
Unbedingt notwendig für eine erfolgreiche berufliche Reintegration ist, dass man wäh‐ rend des Auslandseinsatzes niemals die Rückkehr aus den Augen verliert. Unabdingbar ist, dass der Kontakt zu den Kollegen in der Heimat immer aufrechterhalten bleibt und ein Ansprechpartner im Heimatland zugewiesen wird. Mit diesem sollte man frühzeitig über die zukünftige Position nach der Rückkehr sprechen. Hierbei steht überwiegend der Entsandte in der Pflicht. Er muss immer wieder den Kontakt mit der Heimatgesell‐ schaft suchen. Das ‚alte’ Netzwerk sollte gepflegt werden. Besuche im Heimatland soll‐ ten genutzt werden, um mal kurz bei den alten Kollegen vorbeizuschauen. Fortbil‐ dungsangebote der Heimatgesellschaft sollten besucht werden, um den beruflichen An‐ schluss nicht zu verpassen. Alles in allem muss für eine gute berufliche Reintegration bereits während der Entsendung gesorgt werden. Ferner kann man nicht damit rechnen, dass sich die Entsendung sofort beruflich auszahlt. Es ist eher eine langfristige Investiti‐ on, die sich aber früher oder später auszahlen wird.“ In diesem Bericht wird hauptsächlich auf die privaten und beruflichen Schwierigkeiten, die in der Regel immer mit einem Auslandseinsatz verbunden sind, hingewiesen. Zudem wird das bislang immer noch stiefmütterlich behandelte Problem der Reintegration nach einem Auslandseinsatz in seinen verschiedenen Facetten angesprochen. Hier lässt sich schon erkennen, dass ein interkulturelles Vorbereitungstraining auf den Auslandseinsatz sich nicht allein darauf beschränken kann, den Expatriate für das Leben und Arbeiten im Zielland fit zu machen, sondern auch für die Wiedereingliederung in das vertraute, aber in mancher Hinsicht auch fremd gewordene kulturelle Gefüge und die sich daraus ergeben‐ den Ansprüche. Wer einmal aus einem Unternehmen, einer Organisation oder einer Ar‐ beitsgruppe im Zuge eines längeren Auslandseinsatzes ausgeschieden ist, hinterlässt dort keine Lücke, in die er problemlos wieder hineinkann und hineinpasst. Die Organisation oder Arbeitsgruppe formiert sich neu, eben nun ohne den Expatriate, und da er nicht täg‐ lich am Arbeitsplatz erscheint, sich womöglich monatelang nicht meldet, gerät er bei den Kollegen, aber auch bei den Vorgesetzten leicht in „Vergessenheit“, bis er dann eines Tages plötzlich und unerwartet wieder auftaucht. Nur noch wenige, möglicherweise niemand, denken mehr an die vor Jahren abgegebenen Versprechungen bezüglich eines weiteren Karriereschritts und eines größeren Verantwortungsbereichs. Entfremdungsgefühle ge‐ genüber dem eigenen Unternehmen und der früher so vertrauten Arbeitsgruppe sowie den Kollegen, Vorgesetzten und Mitarbeitern führen zu erheblichen Belastungen, die oft nur durch den Wechsel in ein anderes Unternehmen oder die Übernahme eines erneuten Auslandseinsatzes bewältigt werden können.
2.3
Die Entwicklung interkultureller Handlungskompetenz
Die Entwicklung interkultureller Handlungskompetenz ist ein recht vielschichtiges The‐ ma. Es beginnt mit den personenspezifischen Voraussetzungen, Fähigkeiten und Ressour‐ cen, die ein Lernender als Resultat aus seiner bisherigen lebensgeschichtlichen Entwick‐ lung bis zum Zeitpunkt des Auslandseinsatzes oder eines interkulturellen Vorbereitungs‐
Die Entwicklung interkultureller Handlungskompetenz
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trainings für einen Auslandseinsatz oder zur Kooperation mit ausländischen Partnern im Heimatland einbringt. Die Abbildung 2.2 zeigt den Entwicklungsverlauf hin zur interkul‐ turellen Handlungskompetenz, der mit den personalen und lebensbiografisch‐sozialen Bedingungen beginnt und über verschiedene Phasen interkulturellen Lernens zur interkul‐ turellen Handlungskompetenz führt. Abbildung 2.2:
Entwicklung interkultureller Kompetenz
Günstige Bedingungen zur Entwicklung interkultureller Handlungskompetenz aus der lebensgeschichtlichen Entwicklung können vorausgegangene Erfahrungen im Umgang mit Fremdheit sein: a. Begegnungen und Zusammenarbeit mit Menschen aus anderen Kulturen unter folgen‐ den Bedingungen: ‒ ‒ ‒ ‒
Wertschätzung des Fremden Aufnahmebereitschaft und Neugier auf Fremdes Bereitschaft zur Reflexion von eigenkulturellem und fremdkulturellem Orientie‐ rungssystem Fähigkeit, vom Fremden zu lernen
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Interkulturelle Handlungskompetenz und ihre Entwicklung
b. Organisierter interkultureller Austausch mit dem Ziel des interkulturellen Lernens (Jugend‐ , Schüler‐, Studenten‐ und Praktikantenaustausch) c. Interkulturelle Zusammenarbeit mit für beide Partner erstrebenswerten Zielen und kompensatorischen Zielhandlungen (internationale Studiengruppen, plurikulturelle Arbeitsgruppen etc.) d. Gezieltes interkulturelles Vorbereitungstraining (kulturallgemein/kulturspezifisch) e. Gezieltes interkulturelles Begleittraining/Supervision/Coaching f. Gezieltes interkulturelles Reintegrationstraining/Supervision/Coaching Solche Erfahrungen garantieren keineswegs die Entwicklung interkultureller Handlungs‐ kompetenz, erhöhen aber die Chance, interkulturelle Handlungskompetenz zu entwickeln und aus interkulturellen Trainings einen erhöhten Nutzen ziehen zu können. Aus Forschungen zur Entwicklung interkultureller Handlungskompetenz ergeben sich Hinweise, dass folgende spezifische Persönlichkeitsmerkmale die Chancen zur Entwick‐ lung dieser Kompetenz stützen: a. Offenheit und Neugier für Neues, Fremdes, Unvertrautes; Bereitschaft, sich auf Unbe‐ kanntes und Andersartiges einzulassen und es zu erkunden. b. Selbstsicherheits‐ und Selbstwirksamkeits‐Bewusstsein, die dazu führen, dass man sich sicher fühlt, ohne Angst vor Versagen, Ansehensverlust und Orientierungsverlust, mit Menschen aus anderen Kulturen kommunizieren und interagieren zu können. c. Physische und psychische Belastbarkeit als Fähigkeit, die es einem ermöglicht, selbst unter Stressbedingungen kontrolliert und überlegt zu handeln. d. Perspektivenwechsel, der es möglich macht, kulturell bedingt kritische Interaktionssitua‐ tionen, in denen also unerwartetes Partnerverhalten zu verarbeiten ist, von verschiede‐ nen Blickwinkeln aus zu betrachten, zu bewerten und zu interpretieren. e. Ambiguitätstoleranz, die es erlaubt, mit widersprüchlichen, inkompatiblen und intrans‐ parenten Erscheinungsformen menschlichen Verhaltens gelassen und tolerant umzu‐ gehen. Diese in der Person des Handelnden vorhandenen Fähigkeiten zur Entwicklung interkul‐ tureller Handlungskompetenz sind durch situative Faktoren zu erweitern, die günstige oder ungünstige Bedingungen zur Entwicklung interkultureller Handlungskompetenz im Auslandseinsatz darstellen: 1. Arbeitsbedingungen 2. Position, Status, Rolle 3. Soziale Beziehungen 4. Lebensbedingungen (Essen, Schlafen, Wohnen)
Die Entwicklung interkultureller Handlungskompetenz
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5. Klimabedingungen 6. Vertrautheit, Ähnlichkeit, Bekanntheitsgrad Die getrennte Betrachtung von personellen Fähigkeiten und situativen Bedingungen zur Entwicklung interkultureller Handlungskompetenz entspricht nur bedingt den interakti‐ ven Gegebenheiten im Arbeits‐ und Lebensalltag. Bei Lebens‐ und Arbeitsvollzügen im Auslandseinsatz geht es aber darum, die verschiedenen Einflussfaktoren, die interaktives Geschehen wechselseitig bedingen, zu erkennen und darauf zu reagieren. Daraus ergeben sich Leistungen des Handelnden, die sich aus den individuellen Fähigkeiten/Fertigkeiten, den effektiv gestalteten Situationen und den sozialen Bedingungen und Bezügen zur Ent‐ wicklung interkultureller Handlungskompetenz ergeben: 1. Relativität von Gegebenheiten und Ereignissen so, dass starre, einlineare Betrachtun‐ gen, Begründungskonstrukte und Handlungsstrategien vermieden werden und eine Offenheit und Bereitschaft zur Relativierung entsteht; 2. Multiple Perspektiven der Betrachtung situativer Gegebenheiten und Handlungs‐ planung; 3. Diversität von Handlungsbedingungen, Erklärungs‐, Begründungs‐ und Bewertungs‐ komponenten und Handlungsplanungen; 4. Reflexion und Evaluation eigener und fremder Handlungsvollzüge. Neben diesen Bedingungen und Faktoren zur Förderung interkultureller Handlungskom‐ petenz lassen sich auch fundamental unterschiedliche, individuelle Reaktionsweisen auf die Konfrontation mit interkulturellen Managementanforderungen feststellen. Diese zei‐ gen, dass die Bereitschaft von Fach‐ und Führungskräften zur produktiven Auseinander‐ setzung mit kulturell bedingten Anforderungen in der Kommunikation und Interaktion mit ausländischen Partnern keine Selbstverständlichkeit ist. Die folgenden vier Reaktions‐ typen auf Fremdheit haben nachhaltige Konsequenzen für die Chancen zum Aufbau inter‐ kultureller Handlungskompetenz: 1. Der Ignorant: Personen dieses Reaktionstyps gehen davon aus, dass jeder, der nicht so denkt und handelt, wie es „richtig“ ist, d. h. wie sie es gewohnt sind, entweder dumm ist (ihn muss man aufklären), unwillig (ihn muss man motivieren oder zwingen) oder unfähig (ihn kann man trainieren). Wer sich dann nach allen erdenklichen Bemühun‐ gen immer noch „falsch“ verhält, dem ist nicht zu helfen. Er kommt als Partner nicht in Betracht. Kulturell bedingte Verhaltensunterschiede werden nicht wahrgenommen, nicht ernst genommen oder einfach negiert. 2. Der Universalist: Für Personen dieses Reaktionstyps sind Menschen im Grunde überall auf der Welt gleich. Kulturelle Unterschiede haben – wenn überhaupt – nur unbedeu‐ tende Einflüsse auf das Managementverhalten. Mit Freundlichkeit, Toleranz und Durchsetzungsfähigkeit lassen sich alle Probleme bewältigen. Im Zuge der Tendenz zur kulturellen Konvergenz werden die noch bestehenden kulturellen Unterschiede rasch verschwinden. Zu dieser Gruppe sind oft die so genannten „Global Player“ zu
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Interkulturelle Handlungskompetenz und ihre Entwicklung
zählen, die zwar weltweit unterwegs sind, sich aber meist nur in weltweit einheitlichen Hotels, Verkehrs‐ und Konferenzräumen aufhalten. 3. Der Macher: Personen dieses Reaktionstyps sind davon überzeugt, dass es gleichgültig ist, ob kulturelle Einflüsse das Denken und Verhalten bestimmen oder nicht. Entschei‐ dend ist, dass man weiß, was man will, dass man klare Ziele hat, sie überzeugend ver‐ mitteln kann und sie durchzusetzen versteht. Wer den eigenen Wettbewerbsvorteil er‐ kennt und ihn optimal nutzt, gewinnt, unabhängig davon, in welcher Kultur er lebt und tätig wird. 4. Der Potenzierer: Personen dieses Reaktionstyps sind überzeugt, dass jede Kultur Eigen‐ arten des Denkens und Handelns ausgebildet hat (kulturspezifisches Orientierungs‐ system), die von den Mitgliedern der Kultur gelernt und/oder als „richtig“ anerkannt werden. Produktives internationales Management muss diese unterschiedlichen Denk‐ und Handlungsweisen als Potenzial erkennen und ernst nehmen. Kulturelle Unter‐ schiede können, aufeinander abgestimmt und miteinander verzahnt, synergetische Effek‐ te erzeugen und so einen Wettbewerbsvorteil im internationalen Management bieten. Es ist einsichtig, dass die Reaktionstypen „Ignorant“ und „Universalist“ von ihrer Grund‐ einstellung zur Wirkung kultureller Unterschiede auf interpersonales Verhalten nur schwer zur Entwicklung interkultureller Handlungskompetenz finden werden. Das trifft im Prinzip auch für den „Macher“ zu, allerdings werden Personen dieses Reaktionstyps dann einen Weg zum Aufbau interkultureller Handlungskompetenz suchen und finden, wenn sie im Auslandseinsatz den Eindruck gewinnen, dass ihnen interkulturelle Hand‐ lungskompetenz einen (Wettbewerbs‐)Vorteil in der Kooperation mit ausländischen Part‐ nern einbringen kann. Der „Potenzierer“ bringt von seiner Grundeinstellung her die bes‐ ten Voraussetzungen zum Aufbau interkultureller Handlungskompetenz mit. Immer wieder ist zu beobachten, dass Expatriates auch ohne vorherige interkulturelle Vorbereitung, Beratung oder entsprechendes zielkulturspezifisches Orientierungstraining in der Bewältigung ihrer Managementaufgaben durchaus erfolgreich sind. Das trifft si‐ cherlich zu, wenn sie in Arbeitsfeldern tätig sind, in denen die Bewältigung kultureller Überschneidungssituationen nicht derart im Vordergrund steht wie in anderen Bereichen. So wird der Betriebsleiter einer nahezu völlig automatisierten Produktionsanlage in China, der hauptsächlich mit chinesischen Technikern zu tun hat, in seinem Arbeitskontext nur bedingt mit kulturspezifischen Interaktionssituationen zu tun haben. Demgegenüber wird eine für Marketing, Kundenakquisition und Serviceaufgaben zuständige Fach‐ und Füh‐ rungskraft viel stärker in Bezug auf interkulturelle Kompetenz gefordert sein. Hier stellt sich die Frage, wie es kulturell nicht vorbereiteten Personen dennoch gelingt, mit den auch für sie unabwendbar erwartungswidrigen Reaktionen ihrer Geschäftspartner fertig zu werden. Die Bearbeitung interkulturell bedingter Handlungsstörungen weist ebenfalls individuelle Varianten auf. In der Regel folgen auf das Aufnehmen unerwartet auftretender Aktionen und Reaktionen des Geschäftspartners Desorientierung und das Gefühl, missverstanden zu werden.
Interkulturelles Lernen und Training
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Daraus ergeben sich drei unterschiedliche Varianten der Bearbeitung: 1. Abwehr: „So etwas lasse ich mir von dem nicht gefallen! Jetzt muss endlich damit Schluss sein!“, lautet der Schluss, nach dem immer wieder Gefühle der Kränkung, des Beleidigtseins und der Verärgerung vorausgegangen sind. Zudem wird die immer wieder erfahrene Irritation allein dem Versagen des Partners zugeschrieben, der nicht bereit ist, sich zu ändern. 2. Anpassung/Gewöhnung: „Das ist hier nun mal so, da muss man durch!“ Maximale Be‐ reitschaft zur Anpassung, sich einzufügen und sich an die unvermeidbaren Gegeben‐ heiten zu gewöhnen, führt allmählich zu Handlungsroutinen, mit denen beide Partner leben und zurechtkommen können. Eine pragmatische Anpassung und Gewöhnung an die fremdkulturell geprägten Verhaltensweisen und Umgebungsbedingungen sind hier der Schlüssel zum Erfolg und reichen für den normalen Arbeitsalltag aus. Ein dif‐ ferenziertes Verständnis für die fremdkulturellen Orientierungssysteme und deren Handlungswirksamkeit kann auf diese Weise aber nicht aufgebaut werden. Es fehlt dann in schwierigen Situationen, erhöht die Prozessverluste und mindert die Entfal‐ tung der vorhandenen Leistungspotenziale. 3. Akzeptanz/Innovation: „Die kulturellen Unterschiede sind eine Bereicherung und aus ihnen lässt sich etwas Neues entwickeln!“ Situationsanalyse, Informationsgewinnung, Ausprobieren neuer Handlungsstrategien, verbunden mit einer wertschätzenden Grundeinstellung gegenüber kulturell Fremden führen zum interkulturellen Verstehen und erleichtern den Aufbau interkultureller Handlungskompetenz.
2.4
Interkulturelles Lernen und Training
Ergebnisse moderner Lernforschung haben gezeigt, dass, von wenigen Ausnahmen abge‐ sehen, ein hohes Maß an interkultureller Handlungskompetenz nur dann erreicht werden kann, wenn der Umgang und die Bearbeitung kultureller Überschneidungssituationen gezielt und systematisch geschehen und eingeübt werden. Bewährt hat sich dabei das Verfahren „Interkultureller Lernzirkel“, das von Stefan Kammhuber (2000) aus drei unter‐ schiedlichen Lernkonzepten heraus entwickelt wurde, nämlich dem Lernzirkel von Kolb (1984), dem Konzept des kontextualisierten Lernansatzes von Bransford, Brown und Cocking (1999) und den situierten Lernkonzepten von Mandl und Friedrich (2006), Gruber (1999) und Renkl (1996). Da dieses Lernkonzept auch den Themenfeldern zu Grunde liegt, die in den Kapiteln die‐ ses Buches behandelt werden, muss etwas genauer auf die einzelnen Lernschritte einge‐ gangen werden. Immer geht es darum, Lernprozesse zu initiieren, die geeignet sind, Wis‐ sen derart aufzubauen und kognitiv zu verankern, dass es in entsprechenden konkreten Handlungssituationen, also in kulturellen Überschneidungssituationen, aktiviert wird. So kann es dann zur Handlungssteuerung, Handlungsregulation, Handlungsausführung und Handlungskontrolle eingesetzt werden. Träges Wissen, das zum passenden Zeitpunkt im
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Interkulturelle Handlungskompetenz und ihre Entwicklung
Handlungsfluss nicht aktivierbar ist, soll vermieden und aktives Wissen implementiert werden. Die Abbildung 2.3 zeigt den Aufbau des interkulturellen Lernzirkels. Abbildung 2.3:
Interkultureller Lernzirkel
Anhand dieses Lernzirkels werden im Folgenden Hinweise gegeben, wie die Texte der nachfolgenden Kapitel zu bearbeiten sind, um einen zum Aufbau interkultureller Hand‐ lungskompetenz geeigneten Lern‐ und Entwicklungsprozess durchlaufen zu können. Der Ausgangspunkt sind kulturell bedingt kritische Interaktionssituationen deutscher Fach‐ und Führungskräfte mit ausländischen Partnern. Es handelt sich dabei in der Regel nicht um Situationen, die zu Lernzwecken konstruiert wurden, sondern um authentisch erlebte und in Interviews mit deutschen Fach‐ und Führungskräften vor Ort im Auslandseinsatz geschilderte Ereignisse, die nicht einmalig erfahren wurden, sondern immer wieder, und also nahezu alltäglich auftreten. Diese Interaktionssituationen sind zwar kulturspezifisch, denn die Interaktionen zwischen den deutschen Expatriates und ihren Partnern finden immer in einem bestimmten Land statt. Für den hier in Frage kommenden Lernprozess sind aber nicht die landesspezifischen Besonderheiten wichtig. Von zentraler Bedeutung ist der Aufbau eines Verständnisses für die Anforderungen, die sich aus der Bewältigung kultureller Überschneidungssituationen im jeweiligen Handlungsfeld ergeben und wie interkulturell kompetentes Management auszusehen hat. Bevor Sie nun den zweiten Lernschritt beginnen, sollten Sie sich in die einzelnen Personen der Interaktionssituation hineinversetzen und dazu eventuell die Situationsschilderung nochmals lesen.
Interkulturelles Lernen und Training
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Die eigene individuelle Interpretation des Handlungsgeschehens ist deshalb wichtig, um zu‐ nächst einmal unbeeinflusst von vorgegebenen erläuternden und begründenden Texten eine eigenständige Bewertung zu entwickeln. Dabei können Sie auch auf mehrere Deutun‐ gen kommen, die alle mehr oder weniger zutreffend sein könnten. Alle diese Deutungen sollten Sie aufschreiben und dann nach dem Grad ihrer Stimmigkeit zur Erklärung der kulturellen Überschneidungssituation bewerten. Das Kennenlernen und Generieren multipler Interpretationsperspektiven erfolgt durch das Lesen des Abschnitts „Erläuterungen und Begründungen“. Nun stehen Ihnen eigene und vorge‐ gebene Erläuterungen und Begründungen zur Verfügung, die durchaus unterschiedlich sein können. Lernwirksam ist es, sie miteinander zu vergleichen. Mithilfe der vorgegebe‐ nen Begründungen und der selbst entwickelten Begründungen vor dem Hintergrund der Situationsschilderung sollten Sie zu einem abschließenden Urteil kommen. Nachdem die Interpretationsperspektiven entwickelt wurden, kommt es darauf an, dass Sie eigenständig eine oder mehrere Handlungsperspektiven definieren. Es müssen folgende Fragen beantwortet werden: 1. Was ist in der geschilderten Situation an unerwarteten Ereignissen eingetreten? 2. Wie sollte sich die deutsche Fach‐ und Führungskraft verhalten, um zu einer Problemlösung zukommen? 3. Welche Konsequenzen könnte dieser Lö‐ sungsweg für alle Beteiligten haben? Die Reflexion der Handlungsfolgen erfolgt mithilfe der vorgegebenen „Lösungsstrategien“, die mit den eigenen Lösungswegen verglichen werden. Schließlich schließt sich noch die Metakontextualisierung als ein Schritt weg vom konkreten Fallbeispiel hin zur Verallgemeinerung der gewonnenen Erkenntnisse an. Dieser Schritt vollzieht sich folgendermaßen: Sie haben ein Fallbeispiel bearbeitet und erkannt, wie in einer aus deutscher Sicht klar sachbezogenen Interaktionssituation der ausländische Part‐ ner den Schwerpunkt seines Handelns auf die Berücksichtigung personaler und bezie‐ hungsorientierter Faktoren verlegt. Für ihn treten dabei die sachlichen Aspekte in den Hintergrund. Diese unterschiedlichen Orientierungen haben z. B. im Handlungsfeld „Mit‐ arbeiterführung“ nachhaltige Folgen und diese haben Sie nun kennengelernt. Somit haben Sie generell etwas gelernt über Ihre eigenkulturellen Orientierungen im Kontext von Mit‐ arbeiterführung und über die kulturellen Orientierungen Ihres Partners. Zudem sollten Sie so ein generelles Verständnis dafür aufgebaut haben, wie in einer solchen Situation vorzu‐ gehen ist, wenn ein Weg der Kommunikation und Interaktion gefunden werden soll, der es Ihnen und Ihrem Partner ermöglicht, die angestrebten Ziele zu erreichen und dabei noch ein hohes Maß an Zufriedenheit zu erfahren. Da diese Lernschritte nicht nur am Beispiel einer einzelnen kulturellen Überschneidungssi‐ tuation durchlaufen werden, sondern an vielen Situationen und in unterschiedlichen Handlungsfeldern, entwickelt sich interkulturelle Handlungskompetenz nicht nur in Be‐ zug auf eine spezifische Kultur und ein spezifisches Aufgabenfeld interkulturellen Mana‐ gements, sondern es wird ein situativ verankertes Wissen aufgebaut, das in relevanten interkulturellen Interaktionssituationen aktiviert wird und zur Verfügung steht.
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Interkulturelle Handlungskompetenz und ihre Entwicklung
Nach einem zweitägigen Orientierungstraining für deutsche Fach‐ und Führungskräfte zur Vorbereitung auf den Arbeitseinsatz in China wurden die Trainingsteilnehmer sechs Mo‐ nate nach dem Training am Einsatzort in China darüber befragt, was sie von den Trai‐ ningsinhalten noch behalten haben. Weiterhin berichten sie, wie und wann ihnen das, was sie im Training gelernt hatten, geholfen hat, kulturelle Überschneidungssituationen mit chinesischen Partnern zu meistern. Die vormaligen Trainingsteilnehmer erinnern sich nur an wenige Details aus dem Training und diese waren individuell wiederum sehr vielfältig. Alle aber fühlten sich gut vorbereitet und berichteten, dass sie immer wieder in Situatio‐ nen geraten, in denen sie erwartungswidriges Verhalten erleben, dann aber sofort das Gefühl haben, die Situation schon zu kennen (situatives Wiedererkennen) und zwar aus dem Training. Genau das ermöglicht es ihnen, blitzschnell abrufen zu können, was sie zur Situationsbearbeitung und Problemlösung dazu gelernt hatten. Mit anderen Worten, sie erkennen sehr schnell die Situation, sind zur Situationsanalyse fähig und wissen, was zu tun ist (Thomas/Hagemann/Stumpf, 2003; Thomas, 2008). Genau das soll auch mit den Texten in diesem Buch erreicht werden: Es soll eine interkul‐ turelle Handlungskompetenz aufgebaut werden, die es erlaubt, in jeder sich bietenden kulturellen Überschneidungssituation kulturadäquat und angemessen zu handeln. Dies ist aber zweifellos ein hoher Anspruch. Aber genau das soll mit den Texten erreicht werden. Die zu bewältigenden Aufgaben in den einzelnen Handlungsfeldern sollen die Grundla‐ gen bilden, diesem Anspruch gerecht zu werden. Deshalb sind hier die anzustrebenden Fertigkeiten zur Orientierung zusammengestellt. 1. Wichtig ist zunächst die Aktivierung und Stärkung von Handlungspotenzialen, die rou‐ tinemäßig zur Verfügung stehen: Dazu gehört ein hohes Maß an sozialer Kompetenz, um die kommunikativen Anforderungen im Interaktionsprozess mit fremdkulturellen Partnern zu bewältigen. Weiterhin ist eine gewisse Distanzierung vom eigenen Selbst, verbunden mit einer Öffnung für die Interessen, Wünsche und Intentionen des ande‐ ren, also des fremdkulturell geprägten Partners notwendig. Diese Selbst‐Distanzierung muss verbunden sein mit einem hohen Maß an Empathie, also eines Einfühlens in die Befindlichkeitslage des Partners. Die Fähigkeit zum Perspektivenwechsel, zur Gewin‐ nung von Orientierungsklarheit und zum Aufbau kultureller Wertschätzung für fremdkulturelle Verhaltensmodalitäten sind weitere Aspekte der Aktivierung von Handlungspotenzialen. Alles dies muss so verinnerlich sein, dass es in kulturellen Überschneidungssituationen wie selbstverständlich und routinemäßig aktiviert wird. 2. Als Nächstes ist die Gewinnung von Handlungssicherheit erforderlich: Dazu gehört Klarheit über die in der Interaktion mit ausländischen Partnern zu erreichenden Ziele, die eigenen Erwartungen und Intentionen sowie Klarheit über verschiedene Wege der Zielerreichung. Voraussetzung dafür ist ein gewisses Maß an Sicherheit im Aufspüren von kulturellen Synergiepotenzialen im Interaktionsprozess. Hinzu kommen muss ein gewisses Maß an Sicherheit, Irritationen und ihre Ursachen präzise zu erfassen. Wei‐ terhin muss Klarheit bestehen in Bezug auf wechselseitige Kompatibilitäten und auftre‐ tende Inkompatibilitäten bezüglich eigener und fremder Ziele und Intentionen.
Interkulturelles Lernen und Training
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3. Die Entwicklung von Handlungskreativität ist deshalb wichtig, um in den vielfältigen kulturell bedingten und häufig wechselnden Interaktionssituationen handlungsfähig zu bleiben. Dazu gehört das Entdecken variabler Wege der Informationsgewinnung zum Aufbau und zur Absicherung eines Verständnisses für die Reaktionen des Part‐ ners. Weiterhin ist das Entdecken, Verstärken und Nutzen von Möglichkeiten sozialer Unterstützung zu wertschätzendem und kulturadäquatem Handeln erforderlich. Hilf‐ reich ist dabei kreatives und innovatives Netzwerkmanagement. Kreative Formen der Partizipation, der Konfliktlösung und des Herstellen einer von beiden Seiten als positiv empfundenen interpersonalen Interaktionssituation (Impressionmanagement), eventu‐ ell verbunden mit kreativen Formen des Einsatzes von Mediationsstrategien sind gute Voraussetzungen zur Zielerreichung verbundenen mit einem hohen Maß an beidersei‐ tiger Zufriedenheit über den Interaktionsverlauf. 4. Handlungsflexibilität ist erforderlich, um den aus wechselnden kulturellen Überschnei‐ dungssituationen resultierenden Handlungsanforderungen gerecht zu werden. Wich‐ tig ist dabei das Generieren alternativer Handlungsweisen, Handlungswege und Inter‐ pretationsmuster, um auf wechselnde Anforderungen und Bedienungskonstellationen in der Interaktion mit ausländischen Partnern reagieren zu können. Dazu gehört die Fähigkeit zum Einsatz variabler Verhaltensstrategien im Zusammenhang mit den not‐ wendigen Erläuterungen, Begründungen und Interpretationen im Zuge der Bewälti‐ gung kulturell bedingt kritischer Interaktionssituationen. Variable Zielerreichungsstra‐ tegien sind von besonderem Nutzen, um auf kulturell bedingt unterschiedliche, förder‐ liche oder hinderliche Bedingungen zeitlicher, räumlicher, gesellschaftlicher, politi‐ scher, personeller, wirtschaftlicher etc. Art zur Zielerreichung reagieren zu können. 5. Im Verlauf vielfältiger interkultureller Erfahrungen baut sich mit der Zeit ein gewisses Maß an Handlungsstabilität auf, das notwendig ist, um die erforderlichen interkulturel‐ len Handlungsroutinen zur Wirkung zu bringen. Der Expatriate wird dann nicht mehr bei jeder kulturellen Überschneidungssituation neu überlegen und planen müssen, sondern er verfügt dann über so genannte Skripts, die er sofort abrufen kann. Ihm steht also für die Reaktionen in bestimmten Situationen und die Bewältigung der situativen Anforderungen ein aufeinander abgestimmtes Konglomerat an Interpretations‐ und Handlungswissen zum sofortigen Abruf zur Verfügung. 6. Zur interkulturellen Handlungskompetenz gehört auch die Fähigkeit zur Transformati‐ on erworbener Handlungskompetenz, d. h. dass das bei der Bewältigung bestimmter kul‐ tureller Überschneidungssituationen erworbene Handlungswissen auf neue und an‐ dersartige Situationen übertragen werden kann. Konkret bedeutet das die Übertragung kulturspezifischer Qualifikationen auf andere Kulturen und die generalisierte Strategie interkulturellen Lernens und Handelns. Auch das Generalisieren von interkulturellem Prozess‐ und Problemlöseverständnis ist hierzu erforderlich. Es geht dabei nicht um eine einfache Übertragung von einmal erfolgreich angewandten Strategien auf alle möglichen kulturellen Überschneidungssituationen, sondern um eine den jeweiligen Bedingungen angepasste Transformationsleistung.
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Interkulturelle Handlungskompetenz und ihre Entwicklung
Das in diesem Buch präsentierte interkulturelle Erfahrungsmaterial, verbunden mit den darauf Bezug nehmenden Analysen, Erläuterungen und Bewertungen bietet die Chance, vieles von dem zu verwirklichen, was hier als Komponenten interkultureller Handlungs‐ kompetenz aufgeführt ist. Hinzu kommen muss aber immer auch die eigene interkulturel‐ le Erfahrung vor Ort im Arbeitseinsatz und in der Lebensführung im Ausland. Für viele deutsche Fach‐ und Führungskräfte steht aber heute nicht mehr unbedingt ein langjähriger Auslandseinsatz zur Debatte, sondern zeitlich befristete und ständig wech‐ selnde Einsätze an mehreren Standorten im Ausland. Während bei langjährigen Auslands‐ einsätzen eine auf die jeweilige Zielkultur ausgerichtete interkulturelle Handlungskompe‐ tenz gefordert ist, wird ein hoher Grad an interkultureller Handlungskompetenz speziell verbunden mit Handlungskreativität, Handlungsflexibilität und Transformation erworbe‐ ner Handlungskompetenz verlangt. Im Zuge der Internationalisierung und Globalisierung vieler Bereiche unserer Gesellschaft sind immer mehr deutsche Fach‐ und Führungskräfte in Deutschland verpflichtet, mit ausländischen Partnern zusammenzuarbeiten. Auch hier ist interkulturelle Handlungskompetenz erforderlich, da eine solche Zusammenarbeit nur gelingen kann, wenn beide Seiten ein ausreichendes Maß an interkultureller Sensibilität und gegenseitiger kultureller Wertschätzung in den interpersonalen Interaktionsprozess einbringen. Für alle drei der hier angesprochenen Typen internationaler Kooperation ist interkulturelle Handlungskompetenz eine notwendige Voraussetzung zum Erfolg.
2.5
Themenfelder internationaler Kooperationen
Es gibt inzwischen eine umfangreiche Literatur zum Thema „Internationales Manage‐ ment“, gespeist aus wirtschaftswissenschaftlichen Forschungen zum Thema. Eine Über‐ sicht der einschlägigen wirtschaftswissenschaftlichen Literatur, erstellt im Zusammenhang mit einem Forschungsprojekt zur Personalführung in der deutsch‐tschechischen Wirt‐ schaftskooperation, ergab eine Liste von 29 Themen, die immer wieder in der Literatur genannt werden (Bürger/Thomas, 2007, S. 20): 1. Ziele setzen 2. Entscheidungen treffen 3. Kommunikative Kompetenz 4. Informationsmanagement/‐kontrolle 5. Motivieren können 6. Anweisungen geben 7. Überzeugen können 8. Feedback geben
Themenfelder internationaler Kooperationen
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9. Kontrolle ausüben 10. Kritik vermitteln 11. Teammanagement 12. Koordinieren können 13. Delegieren können 14. Beziehungsmanagement 15. Konfliktmanagement 16. Kreatives Problemlösen 17. Umgang mit Mehrdeutigkeiten und Intransparenz 18. Orientierung geben 19. Personalführung 20. Personalentwicklung 21. Netzwerke bilden 22. Ressourcen akquirieren 23. Ideen, Leistungen etc. nach außen „verkaufen“ (Impressionmanagement) 24. Kundenorientierung 25. Initiative fördern 26. Veränderungsmanagement 27. Qualitätsmanagement 28. Firmenloyalität 29. Zeitmanagement In diesem Buch werden 13 Themenfelder behandelt und stellen die Titel der einzelnen Kapitel. Diese Themen bezeichnen die Handlungsfelder, die sich in der internationalen Kooperation generell als stark kulturabhängig erwiesen haben. Das gilt nicht nur für deut‐ sche Fach‐ und Führungskräfte in wirtschaftsbezogenen Auslandseinsätzen, sondern auch für solche, die in der Entwicklungszusammenarbeit, in der Verwaltung, im Gesundheits‐ wesen, im Bildungswesen etc. tätig sind oder in Deutschland mit ausländischen Partnern zu tun haben. Überall, wo Menschen kooperieren, spielen z. B. Teamarbeit, Status und Rolle, Vertrauen, Hierarchie, Sach‐ und Personorientierung eine Rolle. Das Ziel dieses Buches ist, wie bereits ausgeführt, die Entwicklung interkultureller Hand‐ lungskompetenz zu ermöglichen, indem kulturell bedingt kritische Interaktionssituationen zwischen deutschen Fach‐ und Führungskräften und ihren ausländischen Partnern analy‐ siert und nach dem Konzept des interkulturellen Lernzirkels bearbeitet werden. Das soll
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Interkulturelle Handlungskompetenz und ihre Entwicklung
aber anhand von 13 genau spezifizierten Handlungsfeldern geschehen, die sich in der internationalen Zusammenarbeit als besonders problematisch erwiesen haben. Problema‐ tisch insofern, als gerade deutsche Fach‐ und Führungskräfte, aufgrund ihrer kulturspezi‐ fischen Sozialisation und beruflichen Erfahrungen, in diesen Handlungsfeldern Schwierig‐ keiten haben, die von ihren Erwartungen abweichenden Handlungsstrategien und Reakti‐ onen der ausländischen Partner zu verstehen. Die zu den einzelnen Handlungsfeldern vermittelten grundlegenden Informationen am Kapitelanfang orientieren sich an sozialpsychologischen Erkenntnissen (Thomas, 1992; Bierhoff/Frey, 2006) und an arbeits‐ und organisationspsychologischen Forschungsarbeiten (Schuler/Sonntag, 2007). Die Lösungsvorschläge zu den einzelnen Situationen und die zusammenfassenden Bewertungen für deutsche Fach‐ und Führungskräfte am Ende des Kapitels begründen sich in kulturvergleichenden und interkulturellen Forschungsarbeiten (Thomas, 1996a, 1996b, 2003). Wichtig ist auch hier, dass Sie Ihre beruflichen Erfahrungen im Umgang mit diesen Hand‐ lungsfeldern in die Analyse und Behandlung der interkulturellen Aspekte mit einbringen und auch durchaus zu abweichenden Schlussfolgerungen zu dem kommen können, was im Text vorgeschlagen wird. Je stärker Sie sich mit Ihren Erfahrungen einbringen und das im Buch präsentierte Material als Anregung zur Entwicklung von Bewertungsmaßstäben und Handlungsstrategien nutzen, umso wirksamer ist der Lernerfolg für das, was von Ihnen in der konkreten internationalen Kooperation verlangt wird.
Weiterführende Literatur: Thomas, A/Kammhuber, S./Schroll‐Machl, S. (Hrsg.) (2007), Handbuch Interkulturelle Kommunikati‐ on und Kooperation. Bd. 2: Länder, Kulturen und interkulturelle Berufstätigkeit, 2. Aufl., Göttingen. Thomas, A./Kinast, E.‐U./Schroll‐Machl, S. (Hrsg.) (2005): Handbuch Interkulturelle Kommunikation und Kooperation. Bd. 1: Grundlagen und Praxisfelder, 2. Aufl., Göttingen.
Beispiele für kulturell bedingt kritische Interaktionssituationen in der Mitarbeiterführung
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Mitarbeiterführung
Unter dem Aspekt des interkulturellen Diversitätsmanagements taucht das Thema Mitar‐ beiterführung in zwei Varianten auf: Deutsche Fach‐ und Führungskräfte haben in Deutschland Mitarbeiter zu führen, die nicht deutscher Herkunft sind, oder deutsche Fach‐ und Führungskräfte haben im Rahmen eines Auslandseinsatzes, also als Expatriates, Mit‐ arbeiter aus dem jeweiligen Zielland oder aus anderen Ländern, die in dem Einsatzland arbeiten, zu führen. Dabei können sie ihre Führungsaufgaben im Auftrag ihres deutschen Mutterhauses, eines Joint Ventures, eines internationalen Konsortiums oder eines auslän‐ dischen Auftraggebers ausüben. Wie auch immer der konkrete Arbeitsauftrag beschaffen ist, die Fach‐ und Führungskräfte haben es mit kulturell heterogenen Lebens‐ und Ent‐ wicklungsverläufen ihrer Mitarbeiter zu tun. Zudem findet die Führungsarbeit unter recht unterschiedlichen Rahmenbedingungen statt, angefangen von expliziten oder impliziten unternehmenskulturellen Leitlinien für Führungskräfte über unterschiedliche Ausprä‐ gungsgrade von Partizipation bis hin zu ziel‐ und leistungsorientierten oder sozial inter‐ pretativen Führungsstil‐Traditionen. Kulturspezifische Einflussfaktoren wirken sowohl bei interpersonaler Führung wie bei der Führung von gemischtkulturell zusammengesetzten Arbeitsgruppen.
3.1
Beispiele für kulturell bedingt kritische Interaktionssituationen in der Mitarbeiterführung
1. Beispiel: Der Bericht Die Interaktion zwischen einem US‐amerikanischen Chef und seinem griechischen Mitar‐ beiter ist in der folgenden Darstellung in Tabelle 3.1 unterteilt nach den einzelnen Hand‐ lungsschritten und den gegenseitigen Beurteilungen und Merkmalszuschreibungen (Attri‐ butionen) sowie den Zielvorstellungen seitens der Partner.
A. Thomas, Interkulturelle Handlungskompetenz, DOI 10.1007/978-3-8349-6880-7_3,
© Gabler Verlag | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Tabelle 3.1:
Mitarbeiterführung
Interaktionsbeispiel zwischen einem US-amerikanischen Chef und seinem griechischen Mitarbeiter (aus Triandis/Vassiliou, 1972)
Überlegungen und Emp‐ findungen des amerikani‐ schen Vorgesetzten
Überlegungen und Emp‐ findungen des griechischen Angestellten
Ich bitte ihn, sich zu beteiligen.
Amerikaner: Wie lange brauchst Du, um diesen Bericht zu beenden?
Sein Verhalten ergibt kei‐ nen Sinn. Er ist der Chef. Warum sagt er es mir nicht?
Er lehnt es ab, Verantwor‐ tung zu übernehmen.
Grieche: Ich weiß es nicht. Wie lange soll ich brauchen?
Ich bat um eine Anweisung.
Ich zwinge ihn, Verantwor‐ tung für seine Handlungen zu übernehmen.
Amerikaner: Du kannst selbst am besten einschät‐ zen, wie lange es dauert.
Was für ein Unsinn! Ich gebe ihm wohl besser eine Antwort.
Verhalten
Er ist unfähig, die Zeit richtig einzuschätzen; diese Grieche: 10 Tage. Schätzung ist völlig unrealistisch.
Ich biete ihm eine Abmachung an.
Amerikaner: Besser 15. Bist Du damit einverstanden, es in 15 Tagen zu tun?
In Wirklichkeit braucht man für den Bericht 30 normale Arbeitstage. Also arbeitete der Grieche Tag und Nacht, benö‐ tigte aber am Ende des 15. Tages immer noch einen weite‐ ren Tag.
Ich vergewissere mich, dass Amerikaner: Wo ist der er unsere Abmachung Bericht? einhält.
Das ist meine Anweisung: 15 Tage.
Er will den Bericht haben.
Beide schlussfolgern, dass er noch nicht fertig ist.
Grieche: Er wird morgen fertig sein.
Beispiele für kulturell bedingt kritische Interaktionssituationen in der Mitarbeiterführung
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Dieser dumme, inkompe‐ tente Chef! Nicht nur, dass Amerikaner: Aber wir haben er mir falsche Anweisungen Ich muss ihm beibringen, ausgemacht, er sollte heute gegeben hat, er würdigt Abmachungen einzuhalten. noch nicht einmal, dass ich fertig sein. einen 30‐Tage‐Job in 16 Tagen erledigt habe. Der Amerikaner ist überrascht.
Der Grieche reicht seine Kündigung ein.
Grieche: Ich kann für so einen Menschen nicht arbeiten.
Hier interagieren Personen unter klar definierten Rollenanforderungen. Der US‐Amerikaner ist der Chef und der Grieche ist sein Mitarbeiter. Es besteht eine ein‐ deutige Aufgabenstellung, der griechische Mitarbeiter soll einen Bericht erstellen und der US‐amerikanische Chef will wissen, wann er mit dem Bericht rechnen kann. Zudem sind beide Personen kompetent und hoch motiviert. Der US‐amerikanische Chef ist eine kom‐ petente Führungskraft, denn wer geht schon so intensiv auf seinen Mitarbeiter ein und versucht, dessen Mitarbeit zu fördern? Der griechische Mitarbeiter ist kompetent, weil sein Bericht offensichtlich zur Zufriedenheit des Chefs ausfällt und er ist zudem noch hoch motiviert, denn wer arbeitet schon mehrere Tage hintereinander Tag und Nacht, um seine Arbeit zeitgerecht zu erledigen? Trotz dieser optimalen Bedingungen kommen beide nicht miteinander zurecht und der griechische Mitarbeiter reicht verärgert seine Kündigung ein. Wie kann es dazu kommen? Der US‐amerikanische Chef verfolgt ein bestimmtes Konzept, nach dem er seine Unterge‐ benen zur Mitarbeit anhalten will. Sie sollen mitplanen, mitentscheiden, Vorschläge ma‐ chen, Zusagen machen und dafür sorgen, dass sie eingehalten werden. Den Mitarbeiter als „Experten“ für seinen Arbeitsplatz und seinen Aufgabenbereich will er ernst nehmen. Der griechische Mitarbeiter demgegenüber erwartet einen Chef, der über alle Vorgänge seines Arbeitsbereichs so gut Bescheid weiß, dass er aus einer realistischen Planung heraus Zeitvorgaben machen kann, die auch eingehalten werden können. Nur wer dies kann, wird von ihm als Chef anerkannt. Ein Chef wird dafür bezahlt, dass er Entscheidungen trifft und Verantwortung trägt, und nicht dafür, dass er seine Untergebenen nach ihrer Meinung fragt und sie entscheiden lässt. Da beide Kooperationspartner in dem Beispiel die jeweiligen Erwartungen des anderen nicht erfüllen, sprechen sie sich gegenseitig nicht nur für diese spezielle Aufgabe und in dieser spezifischen Begegnungssituation, sondern generell jegliche Leistungsfähigkeit und Kompetenz ab.
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Mitarbeiterführung
In diesem Beispiel begegnen sich zwar zwei Individuen mit ihren spezifischen Lebenser‐ fahrungen, Einstellungen und Wertvorstellungen, aber ihre Kommunikation und Koopera‐ tion sind nicht nur von diesen personspezifischen, lebensgeschichtlichen Bedingungen und Entwicklungen bestimmt, sondern auch von dem, was ihre jeweils kulturspezifischen Orientierungssysteme für die Rolle eines Chefs und für die Rolle eines Mitarbeiters vor‐ schreiben: Beim US‐Amerikaner „Management by motivation“ und beim Griechen „Der Chef hat das Sagen, ich habe die Anweisungen zu befolgen“. Die kulturspezifischen Rol‐ lenvorschriften bestimmen also im konkreten Interaktionsfall die unterschiedlichen Rol‐ lenerwartungen der Partner und die aus der Verhaltensbeobachtung resultierenden Perso‐ nenbewertungen. Die eigentliche Ursache für den entstehenden Kooperationskonflikt, der schließlich zum Interaktionsabbruch führt, liegt in den unreflektierten kulturabhängigen und in diesem Fall nicht kompatiblen Handlungsvorschriften. Da der US‐amerikanische Chef und der griechische Mitarbeiter diese Zusammenhänge nicht durchschauen, nehmen sie zwangsläufig eine so genannte internale Attribuierung vor, d. h., die Schuld für das Versagen wird mit der persönlichen Inkompetenz des Partners begründet und nicht, wie es den realen Bedingungen entspricht, vor dem Hintergrund der unterschiedlichen kultu‐ rellen Orientierungssysteme, die hier über ihre Kulturstandards handlungswirksam werden. Im Verlauf des gesamten Kommunikations‐ und Interaktionsprozesses arbeiten beide Partner aneinander vorbei, ohne dass ihnen das auch nur ansatzweise bewusst wird. Kei‐ ner kommt auf die Idee, einmal den Interaktionsstrom zu unterbrechen, z. B. um eine Art Metakommunikation zu führen derart: „Moment einmal, hier liegt doch wohl ein Missver‐ ständnis vor. Ich habe nicht so viel Erfahrung mit der Erstellung von Berichten hier in Griechenland wie sie. Deshalb bitte ich um eine realistische Einschätzung der erforderli‐ chen Zeit.“ Oder: „Chef, unsere Abmachung ist bei allem Bemühen leider nicht zu halten. Ich habe den Bericht zwar fast fertig, benötige aber noch circa vier Tage wegen der Kom‐ plexität der Materie. Ist das so o. k.?“ Nichts dergleichen passiert. Der US‐amerikanische Chef zieht alle Register, um die Eigenverantwortlichkeit seines griechischen Mitarbeiters zu stärken. Der griechische Mitarbeiter tut alles, um die vermeintlichen Anweisungen seines Chefs zu erfüllen. Selbst nachdem beide im höchsten Grade unzufrieden sind mit dem Verlauf des Arbeitsprozesses, finden sie nicht zu einer Klärung der Situation und zu einem Verständnis für das Verhalten des anderen. Die eigenen kulturellen Orientierungen in Bezug auf ihre jeweiligen Rollen determinieren das Verhalten. Der US‐amerikanische Chef handelt zwar entsprechend international verbreiteter Füh‐ rungsleitlinien, die aber weitgehend an US‐amerikanischen Kulturstandards orientiert sind wie individuelle Eigenverantwortlichkeit, Partizipation, Leistungsorientierung und Gleichheitsdenken (Slate/Schroll‐Machl, 2009). Der griechische Mitarbeiter folgt als Untergebener seinem kulturspezifischen Orientie‐ rungssystem, das ihm vorschreibt, zu gehorchen, Anweisungen auszuführen und der allwissenden Autorität des Chefs Folge zu leisten.
Beispiele für kulturell bedingt kritische Interaktionssituationen in der Mitarbeiterführung
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2. Beispiel: Fehlermeldung Herr Brand ist Betriebsleiter in einem tschechischen Zweigwerk, das für sein deutsches Mutterunternehmen Kleineisenteile herstellt. Der Produktionsablauf ist weitgehend au‐ tomatisiert, doch an drei Stellen müssen tschechische Mitarbeiter noch per Hand steu‐ ernd eingreifen. Zudem ist noch tschechisches Personal in der Zwischen‐ und Endkon‐ trolle tätig. Alle Mitarbeiter sind angewiesen, bei auftretenden Problemen sofort den Produktionsprozess anzuhalten und den Werkstattleiter zu informieren, der dann für die Behebung der Störung sorgt. Herr Brand aber ist verzweifelt, weil diese Anweisung zu oft nicht befolgt wird. So kommt es immer wieder zu Beschwerden aus dem Mutter‐ unternehmen, dass fehlerhafte Teile angeliefert wurden, die dann aufwändig nachbear‐ beitet werden müssen. Diese Unzuverlässigkeit hat nichts mit mangelnder fachlicher Ausbildung zu tun oder schlampiger Arbeit einzelner Mitarbeiter. Das hat Herr Brand alles schon vergleichend kontrolliert. Auch innerbetriebliche Sabotage kann definitiv ausgeschlossen werden. Wenn nun Herr Brand seine tschechischen Mitarbeiter auf ihr Fehlverhalten anspricht, reagieren sie sofort gekränkt, sind beleidigt, ihre Arbeitsmotivation lässt nach und es kommt zu gehäuftem Absentismus. Herr Brand kann sich das Verhalten seiner tschechi‐ schen Mitarbeiter nicht erklären. Herr Brand weiß natürlich aus langjähriger Erfahrung im Umgang mit der Fertigungsan‐ lage, dass immer mal wieder Fehler auftreten können. In diesen Fällen muss die Anlage sofort gestoppt werden, damit keine fehlerhaften Teile in den weiteren Verarbeitungspro‐ zess einfließen, und das bereitstehende Wartungsteam ist sofort zu informieren. Dieses Vorgehen ist zwar allen an der Anlage Beschäftigten bekannt und mehrfach erläutert wor‐ den, wird aber zu oft nicht befolgt. So kommt es zu Kundenbeschwerden über fehlerhafte Endprodukte und, wenn es gut geht, werden die fehlerhaften Teile vor der Endmontage entdeckt und ausgetauscht. Herr Brand weiß auch, dass es Mitarbeitern grundsätzlich schwerfällt, den Chef auf Fehler aufmerksam zu machen, denn bei all dem Stress entstehen dadurch zusätzliche unange‐ nehme Situationen. Zudem bestand in den autoritär geführten Betrieben während der kommunistischen Zeit in der Tschechoslowakei die Gefahr, dass bei auftretenden Fehlern erst einmal derjenige als Verursacher angesehen wurde, der den Fehler meldete, und die‐ ser wurde nicht selten bestraft. Aber Herr Brand weiß auch, dass diese Zeit lange genug vorbei ist und dass er und die Betriebsleitung schon sehr viel getan haben, um unter den Mitarbeitern ein Wir‐Gefühl und eine gemeinsame Verantwortung für das Wohlergehen des gesamten Unternehmens zu erzeugen. Wovon Herr Brand aber nichts weiß, ist die in Tschechien weit verbreitete Tradition, mit Problemen pragmatisch umzugehen, selbst anzupacken und eigenständig nach kreativen Problemlösungen zu suchen und die Probleme dann eigenhändig zu beheben. Das Verhal‐ ten der tschechischen Mitarbeiter ist bestimmt von den tschechischen Kulturstandards „Abwertung von Strukturen und Improvisationsliebe“, „Personenorientierte Kontrolle“ und „Konfliktvermeidung“ (Schroll‐Machl/Nový, 2003). Diese tschechischen Kulturstan‐
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Mitarbeiterführung
dards prallen in diesem Beispiel mit den deutschen Kulturstandards „Sachorientierung“, „Regelorientierte, internalisierte Kontrolle“ und „Wertschätzung von Strukturen und Re‐ geln“ (Schroll‐Machl, 2003) hart aufeinander. Beide Partner, sowohl Herr Brand als auch seine tschechischen Mitarbeiter, handeln entsprechend dieser kulturspezifischen Stan‐ dards, fühlen sich beide im Recht und werden so lange an diesem Verhalten festhalten, bis ihnen bewusst wird, nach welchen kulturspezifischen Orientierungsmustern sie selbst handeln und dass ihr Partner mit der gleichen festen Überzeugung nach einem anderen kulturspezifischen Muster handelt. Nur über diesen Prozess des gegenseitigen Bewusst‐ werdens der kulturspezifischen Orientierungssysteme und ihrer Handlungswirksamkeit kann eine Lösung für das anstehende Problem gefunden werden. An diesem Lösungspro‐ zess müssen allerdings alle beteiligten Partner in partizipativer Weise mitarbeiten.
3.2
Führungsverhalten unter kulturellen Diversitätsbedingungen
Im Zusammenhang mit Führungsverhalten im Kulturvergleich gibt es zwei sich wider‐ sprechende Standpunkte: Die „Universalisten“ behaupten, dass Führungsprinzipien un‐ abhängig von kulturellen Kontextbedingungen allgemeine Gültigkeit und Wirksamkeit besitzen. Die „ökonomischen Relativisten“ postulieren in diesem Zusammenhang, dass mit zunehmender Modernisierung der Gesellschaft und verstärkter Industrialisierung und Globalisierung gleichsam zwangsläufig eine Konvergenz verschiedener Führungsprinzi‐ pien und Führungspraxen stattfindet. Demgegenüber gehen die „Kulturrelativisten“ da‐ von aus, dass unterschiedliche kulturelle Ausgangsbedingungen unterschiedliche Anfor‐ derungen an das Führungsverhalten stellen. Führungstheorien ebenso wie die Führungs‐ praxis sind kulturgebunden und somit nicht problemlos von einer Kultur auf eine andere zu übertragen. Sie nehmen an, dass die kulturspezifischen Unterschiede bis zu einem ge‐ wissen Grad auch resistent sind gegenüber Modernisierungs‐ und Industrialisierungsef‐ fekten, wie Vergleiche zwischen japanischen und amerikanischen Führungskonzepten und Managementpraktiken gezeigt haben (Fürstenberg, 1981; Ouchi, 1981). Einige Forscher fordern, zwischen Kultur und Managementphilosophie zu unterscheiden, da es nur dann zu Führungsproblemen kommt, wenn die Managementphilosophie den in der jeweiligen Kultur vertretenen Werten und Normen widerspricht. Dies wird vornehm‐ lich dann der Fall sein, wenn im Zuge wirtschaftlicher und politischer Dominanz eines Landes gegenüber einem anderen Land (z. B. Industrieländer gegenüber Entwicklungs‐ ländern) die Akzeptanz kulturfremder Managementkonzepte und Führungspraktiken erzwungen wird. In dem genannten ersten Beispiel wird deutlich, wie eine eher moderne Managementphilosophie, repräsentiert durch den US‐amerikanischen Chef, auf eine eher traditionelle Managementphilosophie, die der griechische Mitarbeiter verinnerlicht hat, trifft und zu kulturell bedingt kritischen Interaktionssituationen führt. Die Interaktions‐ probleme zwischen Herrn Brand und seinen tschechischen Mitarbeitern im zweiten Bei‐ spiel entstehen dadurch, dass die tschechischen Mitarbeiter zwar die hochmoderne nahezu voll automatisierte Fertigungsanlage technisch beherrschen, aber bei auftretenden Fehlern
Führungsverhalten unter kulturellen Diversitätsbedingungen
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auf ihr gewohntes traditionsbedingtes Problemlösekonzept zurückgreifen und nicht das der modernen Technik entsprechende anwenden. Inzwischen ist allgemein anerkannt, dass kulturelle Determinanten Führungsverhalten beeinflussen, so dass die entsprechenden Forschungen sich weitgehend darauf konzentrie‐ ren zu erfassen, unter welchen kulturellen Bedingungen unterschiedliches Führungsver‐ halten wirksam wird. So werden die eher „technischen“ Bereiche des Managements weni‐ ger von kulturellen Einflüssen betroffen sein als die Bereiche, in denen personen‐ und verhaltensbezogene Aspekte relevant werden wie z. B. der Führungsstil, die Organisation von Autoritätsbeziehungen, Entscheidungsstile und Formen der Partizipation. Kulturvergleichende Forschungen zur Identifizierung zentraler, handlungswirksamer Kulturdimensionen und deren Auswirkungen auf das Führungsverhalten haben zu eini‐ gen bemerkenswerten Resultaten geführt: a. Traditionalismus‐ versus Modernitäts‐Dimension: Kulturen unterscheiden sich hinsichtlich ihrer Tendenz, am Vergangenen, Überkommenen und Traditionellen festzuhalten oder aber für Neuerungen aufgeschlossen zu sein und auf Einflüsse von außen mit Verände‐ rungsbereitschaft zu reagieren. Selbst innerhalb einer Nation, Kultur und Organisation sowie eines Unternehmens lassen sich Gruppen und Individuen finden, die von dieser kulturellen Dimension unterschiedlich geprägt sind. Für eine Führungskraft ist es wichtig zu wissen, ob Vorgesetzte, Kollegen und Mitarbeiter generell oder welche Gruppen und Personen im Unternehmen eher zum Traditionalismus neigen oder für Modernitätswerte aufgeschlossen sind. b. Partikularismus‐ versus Universalismus‐Dimension: Partikularismus, der häufig im Zu‐ sammenhang mit patriarchalischer Orientierung auftaucht, betont Freundschaftsver‐ pflichtungen und zwischenmenschliche Beziehungen, auch wenn sie der Organisati‐ onseffektivität entgegenarbeiten. Demgegenüber betont der Universalismus die Ver‐ pflichtung gegenüber der Gesellschaft und der Gruppe als Ganzes. Partikularismus ist stärker in Entwicklungsländern und in vielen asiatischen Kulturen verbreitet, wohin‐ gegen in angloamerikanisch und europäisch beeinflussten Gesellschaften universalisti‐ sche Tendenzen vorherrschen. c. Pragmatismus‐ versus Idealismus‐Dimension: Obwohl für den Führungserfolg ein hoher Grad an Pragmatismus erforderlich ist, zeigen Führungskräfte und Mitarbeiter aus un‐ terschiedlichen Kulturen verschiedene Grade der Orientierung ihres Denkens und Verhaltens an Idealvorstellungen bzw. an Überzeugungen, die eher aus den im prag‐ matischen Handeln gewonnenen Erfahrungen resultieren. Also Erfahrungen über Or‐ ganisationsstabilität, Arbeitszufriedenheit, Status, Prestige, Sicherheit, Konformität etc. d. Hohe versus niedrige Machtdistanz‐Dimension: Die von Geert Hofstede (1980) aus seinen kulturvergleichenden Forschungen thematisierte Dimension bezeichnet den Grad der ungleichen Machtverteilung innerhalb einer Gesellschaft. Bei einem hohen Grad an Machtdistanz vermeiden die Mitarbeiter, dem Vorgesetzten zu widersprechen, werden Entscheidungen autokratisch getroffen, wird ein nicht‐partizipativer Führungsstil be‐ vorzugt und erfolgt der Kommunikationsfluss von oben nach unten. Große Machtdis‐
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Mitarbeiterführung
tanz zeigen Länder mit einer hohen Bevölkerungsdichte und einem großen Wohl‐ standsgefälle sowie traditionell verankerten Autoritätsstrukturen. e. Dimension der Vermeidung von Unsicherheit: Diese Dimension wurde ebenfalls aus den Forschungen von Geert Hofstede abgeleitet. Gesellschaften und Kulturen sind in unter‐ schiedlichem Maße in der Lage, unsichere, instabile und widersprüchliche Situationen zu meistern. In einigen Kulturen versuchen die Menschen, Situationen mit einem ho‐ hen Grad an Unsicherheit zu vermeiden, indem sie ihre Mitglieder bei Nicht‐Befolgung vieler formaler Regeln für Pflichten, abweichende Ideen und Verhaltensweisen streng bestrafen und an absoluten Wahrheiten, Autoritäten und an der Objektivität von Ex‐ pertenurteilen kritiklos festhalten. Erfolgreiches Führen in solchen Kulturen erfordert ein hohes Maß an Eindeutigkeit und Klarheit in der Symbolisierung entsprechenden Führungsverhaltens. Das Verhalten des griechischen Mitarbeiters im ersten Beispiel ist dafür ein Beleg. f. Maskulinitäts‐ versus Femininitäts‐Dimension: Diese Dimension unterscheidet Kulturen danach, inwieweit ihre Mitglieder auf Gewinn, Leistung, Durchsetzungsvermögen und Besitzstreben hin orientiert sind (masklin) oder sich eher beziehungs‐ und kooperati‐ onsorientiert verhalten (feminin). Kulturvergleichende Studien zeigen bezüglich dieser Dimension deutliche Unterschiede zwischen europäischen und asiatischen Kulturen. In China und den asiatischen Schwellenländern zeigen sich deutliche Tendenzen, beide Aspekte, nämlich Leistungsorientierung und Durchsetzungsvermögen, besonders im wirtschaftlichen Bereich mit beziehungs‐ und kooperationsorientiertem Verhalten zu verbinden. (Thomas/Schenk/Heisel, 2008) g. Individualismus‐ versus Kollektivismus‐Dimension: In einigen Kulturen ist der Handelnde in ein relativ unverbindliches und eng begrenztes lokales soziales Netzwerk eingebun‐ den. Er ist verpflichtet, für sich selbst und seine persönliche Weiterentwicklung zu sor‐ gen (Selbstverwirklichung als oberstes Lebensziel) und allenfalls für nahe Angehörige da zu sein. Demgegenüber bestehen in anderen Kulturen sehr enge existenzielle Fami‐ lien‐ und Gruppenbindungen und eine klare Trennung zwischen Eigen‐ und Fremd‐ gruppe. Hier spielt die Verpflichtung und Erwartung zur gegenseitigen Hilfe, insbe‐ sondere innerhalb der Eigengruppe, eine zentrale Rolle. Fremdgruppen und deren Hilfsbedürftigkeit sind dagegen, wenn überhaupt, nur von untergeordneter Bedeu‐ tung.
3.3
Einzelmerkmale der Mitarbeiterführung unter kulturvergleichenden Kontextbedingungen
Während im vorstehenden Kapitel Führungsverhalten generell unter unterschiedlichen kulturellen Bedingungen behandelt wurde, geht es in diesem Kapitel darum, zentrale Merkmale der Personalführung unter kulturvergleichenden Kontextbedingungen zu be‐ handeln.
Einzelmerkmale der Mitarbeiterführung unter kulturvergleichenden Kontextbedingungen
3.3.1
41
Führungsstile
Unter dem Begriff Führungsstil versteht man unterschiedliche Ausprägungsformen und ‐grade von Verhaltensweisen von Personen in einer Organisation oder Gruppe, die auf‐ grund ihrer Stellung und Funktion Führungsaufgaben übernehmen oder denen Führungs‐ aufgaben übertragen worden sind. Sehr bekannt sind die Untersuchungen der Sozialpsy‐ chologen Lippitt und White (1943) über die Auswirkung autokratischer, demokratischer und Laissez‐faire‐Führungsstile auf das Prozessgeschehen und die Leistungseffizienz in Kleingruppen. Nicht zuletzt diese Studien haben zu der weltweiten Verbreitung des Füh‐ rungsstilkonzepts geführt, obwohl der Begriff sehr unterschiedlich aufgefasst wird und es schwerfällt, einzelne Führungsstile präzise zu beschreiben und deren Ausprägungen auf das Arbeitsverhalten sowie das soziale Klima in Arbeitsgruppen zu messen. Eine ganze Reihe von Untersuchungen zu Führungsstilforschung im internationalen Kontext zeigt, dass in industrialisierten Ländern ein eher partizipativer Führungsstil praktiziert wird, wohingegen in vorindustriellen Ländern, in Schwellenländern und Entwicklungsgesell‐ schaften ein eher autoritärer und paternalistischer Führungsstil vorherrscht. Selbst in Eu‐ ropa zeigen sich deutliche Unterschiede zwischen dem ausgeprägten partizipativen Füh‐ rungsstil in Großbritannien und den skandinavischen Ländern und einem zwischen partizipativ und autoritär angesiedelten Führungsstil in Deutschland sowie vor allem in Frankreich bzw. einem stark autoritären Führungsstil in Griechenland. Die Effektivität des Führungsstils, der in einer Kultur praktiziert wird, hängt wesentlich davon ab, welche Partizipationserwartungen die Mitarbeiter haben. Die Partizipationser‐ wartungen wiederum sind das Resultat des individuellen Sozialisationsprozesses, der auf den sozioökonomischen Erfahrungen der Vorgängergeneration aufbaut und sich in einer spezifischen Art und Weise der Regulierung von Vorgesetzten‐Mitarbeiter‐Beziehungen als Merkmal des jeweiligen kulturspezifischen Orientierungssystems niederschlägt. Es ist deshalb nicht verwunderlich und wird zudem durch viele Studien belegt, das sich ein Mitarbeiter dann, wenn eine geringe Diskrepanz zwischen den Partizipationserwartungen und dem im Führungsstil praktizierten Partizipationsangebot besteht, umso mehr mit seiner Arbeitsgruppe und seiner Organisation sowie deren Zielen identifiziert. Und umso höher sind auch seine Arbeitsmotivation, seine Arbeitsbereitschaft und der Gruppenzu‐ sammenhalt. Der in vielen Kulturen anzutreffende paternalistische Führungsstil verbindet autokratisches Führungsverhalten mit gegenseitiger Verpflichtung und strikter Loyalität. Dieser Füh‐ rungsstil bewirkt, dass sich die effektive Macht auf die obersten Führungspositionen kon‐ zentriert, so dass vor allem Finanz‐ und Personalentscheidungen in der Hand der obersten Führungskräfte verbleiben, während Entscheidungen, die den Arbeitsprozess betreffen, delegiert werden. Damit wird betriebliche Verantwortung auch auf untere Führungspositi‐ onen verlagert. Paternalistische Führungselemente, wie sie sich z. B. in Angestelltenverhält‐ nissen auf Lebenszeit, Betriebstreue, altersbezogener Entlohnung, Bereitstellung von Wohn‐ raum, Freizeiteinrichtungen usw. ausdrücken, zeigt sich besonders stark ausgeprägt in Ländern wie Japan, Ägypten, Chile und Indien und zeigte sich bis vor wenigen Jahren auch noch in Deutschland und Frankreich, nicht aber in den USA und Großbritannien.
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Mitarbeiterführung
Kulturvergleichende Forschungen zu Führungsstilen führen allerdings oft zu recht wider‐ sprüchlichen Ergebnissen, besonders dann, wenn es darum geht, den in einem Land oder in einer Kultur vorherrschenden Führungsstil eindeutig zu bestimmen. Meist werden bei den Forschungen Fragebogenerhebungen mit Managern durchgeführt, die über das von ihnen praktizierte Führungsverhalten gegenüber Mitarbeitern befragt werden. Diese Selbstaussagen werden dann als Indiz für einen bestimmten Führungsstil gewertet. Es ist aber bekannt, dass die Einstellungen gegenüber einem so komplexen und vielfältigen und zudem sozialen Normen unterworfenen Phänomen wie der Vorgesetzten‐Mitarbeiter‐ Beziehung keineswegs mit dem tatsächlich praktizierten Verhalten übereinstimmen müs‐ sen. Diese Aussagen zum praktizierten Führungsstil orientieren sich eher an idealisierten Vorstellungen über das, was in der eigenen Kultur als Führungsstil erwünscht ist, also an sozial erwünschtem Verhalten, als an dem, was unter den Restriktionen praktischer Perso‐ nal‐ und Führungsarbeitarbeit realisiert wird respektive realisiert werden kann. So zeigte sich bei einigen Ergebnissen, dass Führungskräfte aus industrialisierten Ländern ein rela‐ tiv geringes Vertrauen in die Initiative, Führungs‐ und Verantwortungsbereitschaft ihrer Mitarbeiter besitzen, obwohl sie gleichzeitig eine positive Einstellung gegenüber den Vor‐ teilen eines partizipativ‐demokratischen Führungsstils aufweisen. Eine weitere Gefahr kulturvergleichender Führungsstilforschung besteht darin, voreilige Generalisierungen vorzunehmen. Die meisten Befragungsergebnisse beruhen nämlich auf einer relativ klei‐ nen und sehr spezifischen Managergruppe, werden aber als typisch für den in der jeweili‐ gen Kultur verbreiteten Führungsstil angesehen. So haben z. B. Manager in Entwicklungs‐ ländern mit einer westlich geprägten Ausbildung in Ökonomie und Management eine durchaus mit ihren europäischen und amerikanischen Kollegen vergleichbare positive Einstellung zum partizipativen Führungsstil, zumindest als ein anzustrebendes Ideal, obwohl sie ihn in ihrer Kultur nicht praktizieren und womöglich auch nicht praktizieren können, da die Mitarbeiter, die sie beschäftigen, diesen Führungsstil nicht gewohnt sind und ihn ablehnen. Ein Expatriate, der mit Erfolg in seinem Heimatunternehmen einen partizipativen Füh‐ rungsstil praktiziert hat, weil er von der Nützlichkeit dieses Führungsstils überzeugt ist und im Verlauf von Führungstrainings mit ihm vertraut gemacht worden ist, wird mit erheblichen Schwierigkeiten zu kämpfen haben, wenn er diesen Stil in einem Land respek‐ tive einer Kultur anwendet, in dem/der seine Mitarbeiter einen eher autoritären oder pa‐ ternalistischen Führungsstil gewohnt sind und dies über Generationen hinweg. Die Mitar‐ beiter fühlen sich, wie das im ersten Beispiel bei dem griechischen Mitarbeiter der Fall war, verunsichert, überfordert und in gewisser Weise auch ausgenutzt. Sie gewinnen den Ein‐ druck, dass der Expatriate zwar als Chef gut bezahlt wird, aber dafür keine Leistung er‐ bringt und nicht bereit ist, Verantwortung für die Arbeitsvorgänge zu übernehmen, son‐ dern diese auf die Mitarbeiter abwälzt und immer wieder Entscheidungen an sie delegiert, die der Expatriate eigentlich selbst zu treffen hätte. Damit die so entstehenden kritischen Interaktionssituationen nicht eskalieren, wird der Expatriate sich zunächst einmal an den traditionellen Führungsstil anpassen und in der Regel eher autoritär und paternalistisch führen müssen. Das ist keine leichte Aufgabe, besonders unter fremdkulturellen Bedin‐ gungen. Hier kann die Unterstützung durch im Gastland erfahrene Expatriates aus dem Heimatland oder aus anderen Ländern nützlich sein. Auf der anderen Seite kann die deut‐
Einzelmerkmale der Mitarbeiterführung unter kulturvergleichenden Kontextbedingungen
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sche Führungskraft womöglich nur unter den Bedingungen partizipativer Führung die Leistungsqualität von ihren Mitarbeitern erzielen, die ihr vorschwebt und die von der Unternehmensleitung erwartet wird. Über kurz oder lang muss es ihr aber gelingen, ihre Mitarbeiter so zu qualifizieren, dass sie die Anforderungen, die ein partizipativer Füh‐ rungsstil an sie stellt, erfüllen können. Womöglich ist diese Aufgabe „on the job“ und über „learning by doing“ allein überhaupt nicht zu bewältigen, sondern bedarf gesonderter Anstrengungen mithilfe von Supervision und Trainings.
3.3.2
Zielsetzungen und Problemlösetechniken
Die Wirtschaftlichkeit eines Unternehmens im nationalen wie im internationalen Wettbe‐ werb und die Beurteilung der nationalen und globalen Ökonomie bestimmen die Zielset‐ zungen von Führungskräften stärker als kulturelle Einflüsse. Im Kulturvergleich ergeben sich deutliche Unterschiede zwischen industrialisierten Ländern einerseits, in denen Wachstum, Leistungssteigerung und Wettbewerb als Managementziele dominieren, und Entwicklungsländern andererseits, in denen mehr Wert auf Stabilisierung des erreichten Niveaus gelegt wird. So ist z. B. die Wettbewerbsorientierung bei US‐amerikanischen, niederländischen und britischen Unternehmen deutlich stärker ausgeprägt als bei indi‐ schen, indonesischen und kolumbianischen Unternehmen. Unterschiede in Bezug auf Zielorientierung und Problemlösetechniken im Führungsver‐ halten sind weiterhin begründet in der Art des in der Gastkultur vorherrschenden Welt‐ bildes (synthetisch‐ganzheitlich gegenüber elementaristisch‐abstrakt), der Zeitwahrneh‐ mung (gegenwartsgebunden‐kurzfristig gegenüber zukunftsorientiert‐langfristig) und im Vertrauen in die Vorhersehbarkeit und Planbarkeit zukünftiger Ereignisse und Hand‐ lungsresultate (kurzfristig‐unsicher gegenüber langfristig‐gesichert, zuverlässig). Damit hängen für wirtschaftliches Handeln und Management wichtige Faktoren zusammen wie Vertrauen und Risikobereitschaft, die einerseits abhängig sind von den individuellen Er‐ fahrungen der Führungskraft im Umgang mit Menschen und andererseits von den in der Kultur tief verankerten Werten, Überzeugungen, Denk‐ und Urteilstraditionen sowie kol‐ lektiven Stimmungsmustern. So zeigen sich kulturell recht deutlich verankerte Unterschiede in der Handhabung sozia‐ ler Konflikte. Manager asiatischer Kulturen (Japan, Korea, China, Indonesien) neigen dazu, Konflikte zu vermeiden, zu überdecken und herunterzuspielen. Konflikte dürfen auf kei‐ nen Fall in der sozialen Interaktion offen ausgetragen werden, damit für keinen der betei‐ ligten Partner ein nicht mehr gutzumachender „Gesichtsverlust“ entsteht. In nordameri‐ kanischen und europäischen Ländern werden demgegenüber Konflikte als selbstverständ‐ liche Folgen sozialer Interaktionen angesehen, und ihre „öffentliche“ Behandlung wird als erster Schritt zu einer wirksamen Konfliktlösung betrachtet. Die Offenlegung von Konflik‐ ten, die Diskussion ihrer Ursachen und die gemeinsame Suche nach sachorientierte Lö‐ sungen werden besonders in Deutschland als ein produktives und innovatives Element der Führung und des Organisationsmanagements angesehen. Machtkonflikte, Entschei‐ dungskonflikte, Rollenkonflikte, Bewertungskonflikte und interpersonale Konflikte nicht
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Mitarbeiterführung
zu beachten, nicht zu thematisieren, auszusitzen oder über dritte Personen zu lösen versu‐ chen, gilt als unprofessionell und zeugt von einer schwachen Führungspersönlichkeit, die sich nichts zutraut. In anderen Kulturen sind genau dies die Methoden der Wahl, um Kon‐ fliktsituationen gesichtswahrend zu meistern.
3.3.3
Entscheidungsprozesse
Ein wichtiger Aspekt erfolgreichen Führens besteht darin, Entscheidungen herbeizufüh‐ ren, vorzubereiten, zu treffen und durchzusetzen; alles Prozesse, die kulturspezifisch de‐ terminiert sind. Im Rahmen der Entscheidungsfindung werden vier verschiedene Stile unterschieden: nämlich der „technische Entscheidungsstil“, bei dem das Individuum die Entscheidung selbstständig und eigenverantwortlich trifft, der „bürokratische Entschei‐ dungsstil“, bei dem die Entscheidung durch ein Komitee nach festgelegten Regeln getrof‐ fen wird, der „logische Entscheidungsstil“ mit bevorzugter Entscheidungsfindung durch Rolleninhaber, die dazu befugt sind, und der „sozial‐kognitive Entscheidungsstil“, bei dem die Entscheidung in der Gruppe entwickelt und kollektiv abgestimmt wird. Forschungen zu Entscheidungsstilen zeigen, dass Europäer eher dazu tendieren, Entschei‐ dungen auf vergangene Erfahrungen und Erfolge zu stützen, während in den USA Ent‐ scheidungen eher zukunftsorientiert, rational und gruppenbezogen sind. In Lateinamerika basieren Entscheidungen eher auf Intuition und Improvisation, und die Schnelligkeit, mit der Entscheidungen getroffen werden, ist wichtiger als die Informationssuche und das Abwägen von Alternativen. In arabisch und asiatisch geprägten Kulturen herrscht eine paternalistische Einstellung vor, bei der die Familie und die engere Bezugsgruppe mit in die Entscheidungsfindung einbezogen werden. Es gibt aber überall verschiedene Misch‐ formen, die zum Teil für einen Expatriate schwer zu überschauen sind. So wird beispiels‐ weise in Japan eine Entscheidung von unten nach oben vorbereitet und entwickelt. Je wichtiger die Entscheidung ist, umso höher wird sie in der Hierarchie nach oben weiterge‐ reicht, um Zustimmung zu erhalten. Dieses Vorgehen sorgt dafür, dass alle Firmenmit‐ glieder die Verantwortung für die Entscheidung mittragen, wodurch zugleich der Grup‐ penzusammenhalt erhöht und die Identifikation mit den Firmenzielen verstärkt wird. Der Firmenchef M. verkündet dann am Ende, wenn alle mitdiskutiert haben und die unter‐ schiedlichen Argumente gegeneinander abgewogen worden sind, die endgültige Ent‐ scheidung. Bei besonders bedeutsamen Entscheidungen wird in Japan das kulturspezifi‐ sche Bedürfnis nach sozialer Harmonie und störungsfreier interpersonaler Beziehung aktiviert und der Entscheidungsprozess dementsprechend abgestimmt. In den USA be‐ steht zwar auch eine Vorliebe für Gruppenentscheidungen, allerdings nur für aufgabenbe‐ zogene Problemstellungen und auf niedrigerem Bedeutungsniveau, wohingegen bedeu‐ tende Entscheidungen zentralistisch und mit individueller Verantwortungszuschreibung versehen getroffen werden. Für einen Expatriate als Führungskraft ist es besonders wichtig, sich möglichst schnell ein Bild davon zu machen, wie im Gastland wichtige Entscheidungen vorbereitet, entwickelt, kommuniziert und endgültig getroffen werden. Davon hängt ab, wie gut es ihm gelingt,
Einzelmerkmale der Mitarbeiterführung unter kulturvergleichenden Kontextbedingungen
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Verhandlungen zu führen, Kompetenz zu zeigen, anerkannt zu werden, Vertrauen aufzu‐ bauen und schließlich seine Interessen durchzusetzen. In allen Ländern sind dabei natür‐ lich auch die vorherrschenden hierarchischen Strukturen zu beachten, die verfügbaren oder durch eigene Anstrengung zu schaffenden Entscheidungsspielräume zu kennen und über die mit Positionen und Rollen verbundenen Entscheidungsbefugnisse Bescheid zu wissen.
3.3.4
Leistungskontrolle
Ein Vergleich zwischen euro‐amerikanischen und asiatischen Leistungskontrollsystemen hat zu zwei unterschiedlichen Modellen geführt: a. In Asien herrscht das „Modell der sozialen Gruppe“ vor, was besagt, dass das Verhal‐ ten der Gruppe und nicht die individuelle Einzelleistung belohnt wird. Die gruppen‐ abhängige Belohnung wirkt zugleich als Anregung, mit der Arbeitsgruppe intensiv und effektiv zu interagieren und für sie Verantwortung zu übernehmen. Erst die inten‐ sive und produktive Zusammenarbeit in der Gruppe rechtfertigt eine hohe Entloh‐ nung. b. In den westlichen Kulturen ist das „Modell des rational handelnden Individuums“ weit verbreitet, das davon ausgeht, dass der Mensch primär bestrebt ist, seine eigenen Bedürfnisse zu befriedigen, zweckvoll, zielgerichtet und gewinnmaximierend zu han‐ deln, wobei die eigene Selbstverwirklichung sowie die Förderung und Optimierung der eigenen Potenziale stets im Vordergrund stehen. Eine gute individuelle Leistung wird höher bewertet als eine schwache und zwar umso höher, je geringer der leistungs‐ förderliche Gruppeneinfluss zu veranschlagen ist. Eine Gruppe fungiert lediglich als Kontextbedingung oder als Werkzeug, dessen sich der Einzelne zur Zielerreichung be‐ dient. In kulturvergleichenden Forschungen zeigte sich, dass ausgehend von diesen beiden Mo‐ dellen Manager in Japan und den USA bei der Bewertung der individuellen Leistung die über das Individuum verfügbaren Informationen, besonders über vorausgegangene Leis‐ tungsergebnisse und deren Integrationsgrad in Gruppen sowie die Gruppeneffektivität, die sie erreichen konnten, unterschiedlich stark berücksichtigten. So glauben japanische Manager, dass die Gruppe die Produktivität des Mitarbeiters stärkt, wohingegen die Gruppe in den USA eher als Garant dafür angesehen wird, dass der Mitarbeiter die erwar‐ tete Leistung tatsächlich erbringt. Festzuhalten bleibt, dass jede Kultur Handlungsmöglichkeiten zur Steuerung und Beurtei‐ lung individuellen Leistungsverhaltens schafft. Die Handlungsmöglichkeiten können zur Erfüllung der Arbeitsanforderungen mehr oder weniger hilfreich sein. Sind die kulturell verfügbaren Handlungsmöglichkeiten der Anforderungsbewältigung förderlich, erwächst daraus ein Produktivitätsvorteil, wirken sie eher hinderlich, dann kommt es so lange zu Produktionseinbußen, bis sich die kulturellen Handlungsmöglichkeiten erweitern oder sich die Arbeitsanforderungen durch technisch‐wirtschaftliche Veränderungen wandeln.
46
3.3.5
Mitarbeiterführung
Arbeitsmotivation
Kulturvergleichende Forschungen zur Arbeitsmotivation haben gezeigt, dass Bedürfnisse der Selbstaktualisierung und der Selbstachtung kulturübergreifend als die wichtigsten Arbeitsmotive eingeschätzt werden. Das Bedürfnis nach Selbstaktualisierung wird unter den vorherrschenden Arbeitsbedingungen in allen Kulturen am wenigsten befriedigt. Intrinsische Motivationen nehmen mit der sozialen Rangstufe und mit der Höhe des Bil‐ dungsniveaus deutlich zu. Länderspezifische Unterschiede zeigen sich hinsichtlich der Motivbefriedigung, die als eine Funktion des entwickelten Organisationsniveaus anzuse‐ hen ist. Führungskräfte und höhere Angestellte in allen Ländern streben nach leistungs‐ fördernden und verantwortungsvollen Aufgaben mit Weiterbildungs‐ und Entwicklungs‐ möglichkeiten. In Untersuchungen zur Bedeutung von Arbeitszielen und Arbeitsmotivation wurden al‐ lerdings die Anstrengungen, Risiken und Fehlschläge, die jemand bereit ist, in Kauf zu nehmen, um eine Befriedigung seiner Bedürfnisse auf einem hohen Niveau zu erreichen, nicht mit erfasst. So liefern viele Untersuchungen eher ein Bild handlungsferner Einstel‐ lungen und realitätsferner Wunschträume über befriedigende Arbeitsbedingungen von Führungskräften und Mitarbeitern in unterschiedlichen Kulturen als ein realistisches Bild führungswirksamer Motive und deren Befriedigungsmöglichkeiten. Für den Expatriate ergeben sich aus diesen Resultaten einer Reihe wichtiger Aufgaben im Zusammenhang mit der Führung von einheimischen Mitarbeitern. Er muss sich bemühen, so schnell wie möglich herauszufinden, welche Bedürfnisse unter den von der gegenwär‐ tig vorherrschenden Tradition geprägten Arbeitsbedingungen befriedigt werden und wel‐ che unbefriedigt bleiben. Er muss herausfinden, inwieweit die in seinem Verantwortungs‐ bereich liegenden Arbeitsbedingungen Möglichkeiten der Bedürfnisbefriedigung für die einheimischen Mitarbeiter bieten und dadurch ihre Arbeitsmotivation steigern und welche arbeitsmotivierenden Faktoren durch die neuen Produktionsbedingungen womöglich wegfallen. Er muss auch recherchieren, welche Möglichkeiten in seinem Bereich bestehen, bisher unerfüllt gebliebene Bedürfnisse, die aber, womöglich angeregt durch massenmedi‐ ale Informationen, von seinen Mitarbeitern als durch die Arbeitsbedingungen real zu be‐ friedigen angesehen werden, auch tatsächlich zu befriedigen. Auf der Grundlage der in der jeweiligen Gastkultur vorherrschenden Werte‐ und Normensysteme muss eine als gerecht angesehene Leistungsbewertung vorgenommen werden und eine entsprechende Entlohnung erfolgen. Dabei kann eine individuelle Leistungsbewertung, eine gruppenbe‐ zogene Leistungsbewertung sowie eine Mischung aus beiden Leistungsbewertungen vor‐ genommen werden und sich daran eine entsprechende Entlohnung anschließen. Ein solch komplexer Prozess, in dem die traditionellen Werte, Normen und Regeln einerseits und andererseits die durch veränderte Arbeitsprozesse und Arbeitsanforderungen geschaffe‐ nen neuen Bedingungen berücksichtigt werden müssen, benötigt viel Zeit und ist nur in enger Kooperation mit einheimischen Führungskräften zu bewältigen.
Führung in multinationalen Unternehmen
3.4
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Führung in multinationalen Unternehmen
Mit zunehmender Internationalisierung und Globalisierung der Wirtschaft stellt sich für viele Unternehmen nicht nur die Frage, wie ihre Führungskräfte für eine Tätigkeit im Aus‐ land zu qualifizieren sind und wie ausländische Mitarbeiter ins Unternehmen integriert werden können, sondern wie zum Konzern gehörende ausländische Unternehmen und Tochtergesellschaften geführt werden sollen, damit sie auf ausländischen Märkten wett‐ bewerbsfähig sind. Daraus ergeben sich eine Reihe von Fragen, wie: Wie sollen und kön‐ nen im Heimatland praktizierte und bewährte Führungskonzepte auf ausländische Unter‐ nehmen übertragen werden? Welche Alternativen bieten sich im Ausland an? Muss ein heimisches Unternehmen, das sich zu einem multinationalen Konzern entwickelt hat, eine neue Führungsphilosophie und Führungspraxis entwickeln, und wie könnte diese ausse‐ hen? Bereits vor Jahren wurden zur Beantwortung dieser Fragen drei Modelle entwickelt: a. Das kulturelle Dominanz‐Modell: Das in einer spezifischen Kultur entwickelte Führungs‐ konzept, meist das der Muttergesellschaft, wird auf alle Tochtergesellschaften im Aus‐ land angewandt. Kulturelle Unterschiede werden entweder ignoriert oder als unbedeu‐ tend zur Erreichung der Unternehmensziele angesehen. Die kulturellen Eigenarten und Orientierungssysteme der ausländischen Mitarbeiter, aber auch der Kunden und ande‐ rer Partner haben formal keinen Einfluss auf die wirtschaftliche, technische und soziale Planung sowie Entwicklung des Unternehmens. Sie können aber auf informellem We‐ ge zu Problemen und Konflikten führen, die bei den ausländischen Mitarbeitern lang‐ fristig eine verminderte Identifikation mit dem Gesamtunternehmen, einen Verlust der Arbeitsmotivation und damit eine Schwächung des Gesamtunternehmens zur Folge haben. Die vermeintliche Stärke dieses Modells resultiert aus seiner strukturellen Klar‐ heit und Einfachheit, seiner inneren Konsistenz und internen Durchsetzbarkeit. Ein so geführtes Unternehmen erscheint auf den ersten Blick als eine einheitliche, schlagkräf‐ tige und mächtige Organisation, die es versteht, ausländische Ressourcen für eigene In‐ teressen nutzbar zu machen. Dies ist auch der Grund, warum dieses Modell in der Wirtschaft relativ weit verbreitet ist. b. Das kulturelle Kompromiss‐Modell: Nach dem Prinzip der Ähnlichkeit zwischen den in‐ und ausländischen Teilen des Unternehmens und des Maximums an Konsens wird ein Kompromiss zwischen den verschiedenen existierenden Managementkonzepten und Führungsstilen gesucht, der dann die Richtlinien des Gesamtunternehmens bestimmt. Zwar wird gegenüber den auf Kompromissen beruhenden Managemententscheidun‐ gen kein offener Widerstand aus den Reihen der Mitarbeiter aufkommen, doch beste‐ hen für das Management nur eingeschränkte Handlungsmöglichkeiten, sachlich not‐ wendige Maßnahmen auch dann durchzusetzen, wenn sie von den gefundenen Kom‐ promissformen abweichen. Gerade für die Bewältigung komplexer internationaler Probleme ist dieses Modell relativ ineffizient. c. Das kulturelle Synergie‐Modell: Nach diesem Modell entwickeln sich die Richtlinien des Unternehmens unter Beachtung der verschiedenen kulturellen Orientierungssysteme der Mitarbeiter, der Kunden und anderer Partner. Kulturelle Unterschiede im Mana‐
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Mitarbeiterführung
gement und der Mitarbeiterführung werden als Potenziale zur Entstehung neuer For‐ men der Unternehmensführung ernst genommen, die den Anforderungen internatio‐ nalen Wirtschaftens besser entsprechen als die gewohnten. Die Entwicklung einer Ma‐ nagementphilosophie und Managementpraxis nach diesem Modell erfordern zwar ei‐ nen hohen Aufwand an Analyse, Planung und Innovation, doch ist auch mit hoher Ak‐ zeptanzbereitschaft seitens der Mitarbeiter und einer hohen Effektivität des Gesamtun‐ ternehmens im internationalen Wettbewerb zu rechnen. International sehr bekannt geworden sind in diesem Zusammenhang auch die von Heenan und Perlmutter (1979) entwickelten vier Formen des Managements multinationaler Unter‐ nehmen, die nach wie vor von großer Bedeutung sind: Ethnozentrische Orientierung: Führungs‐ und Entscheidungsmacht sind im Mutterunter‐ nehmen monopolisiert. Zielsetzung und Bewertungsmaßstäbe haben sich nach dem kultu‐ rellen Orientierungssystem des Stammhauses zu richten. Es bestehen für alle Tochterun‐ ternehmen einheitliche und verbindliche Regelungen und Vorschriften, deren Einhaltung überwacht wird. Da nur die im Stammhaus geschulten Führungskräfte über das erforder‐ liche Managementwissen und die entsprechende Praxiserfahrungen verfügen, werden allein sie als Leiter der Tochterunternehmen eingesetzt. Den einheimischen Mitarbeitern verbleiben weniger Aufstiegschancen und Entwicklungsmöglichkeiten, was, verbunden mit einem Mangel an umfassenden Kenntnissen über das Gesamtunternehmen, das Miss‐ trauen gegenüber der Zentrale fördert und die Bereitschaft zur intensiven Zusammenar‐ beit vermindert. Dieses System verhindert auch, dass aus den Tochterunternehmen welt‐ weit wichtige Informationen, die zur Weiterentwicklung des Unternehmens und zum Erhalt seiner Wettbewerbsfähigkeit bedeutsam sind, an die Zentrale weitergeleitet werden. Demgegenüber verstärkt sich im Mutterunternehmen der Eindruck, dass alles Know‐how dort gebündelt ist und dass man mithilfe des zentralen Managements weltweit alles im Griff hat, wohingegen in den Tochterunternehmen häufig über einen Mangel an Kenntnis und Kompetenz bei den Führungskräften im Mutterunternehmen geklagt wird. Polyzentrische Orientierung: Die Verschiedenartigkeit der Kulturen wird beachtet. In den ausländischen Tochterunternehmen sind einheimische Führungskräfte eingesetzt, da sie nicht nur mit der Kultur, den Sitten und Gebräuchen ihres Landes vertraut sind und die dort verbreiteten Sprachen beherrschen, sondern auch die lokalen politischen und wirt‐ schaftlichen Bedingungen kennen und die im Lande üblichen Normen und Regeln im Umgang mit den Geschäftspartnern untereinander anzuwenden verstehen. Die Beziehun‐ gen des Unternehmens zu Mitarbeitern, Kunden, Regierungsstellen und anderen Wirt‐ schaftspartnern werden so erleichtert und gefestigt. Das Unternehmen wird von der ein‐ heimischen Bevölkerung eher als zugehörig akzeptiert, der Fremdheitseffekt wird abge‐ baut und die Identifikation der Mitarbeiter mit dem Gesamtunternehmen gestärkt. Geozentrische Orientierung/Regiozentrische Orientierung: Im Rahmen dieser beiden Modellva‐ rianten weisen die Unternehmen eine eher horizontale Organisationsstruktur auf, in der Macht‐ und Entscheidungskompetenzen von der Zentrale in die regionalen Geschäftsstel‐ len verlagert werden. Die zentrale Geschäftsleitung übernimmt nur mehr Koordinations‐ funktion und die Bestimmung allgemeiner Rahmenziele. Die geozentrische Orientierung
Führung in multinationalen Unternehmen
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fördert die Identifikation mit dem Gesamtunternehmen, in dem sich die einzelnen regiona‐ len Tochterunternehmen als eigenständige und eigenverantwortliche Teile des Ganzen betrachten. Dies erhöht und sichert bei aller kulturellen Differenzierung das Gefühl der Autonomie und Eigenverantwortlichkeit, stärkt das Selbstbewusstsein und festigt zugleich die Binnenkohäsion. In der Realität gibt es immer spezifische Kombinationen dieser Modelle und nur selten eine auf nur eine der Varianten zugeschnittene Ausprägung der Unternehmensstruktur. Unabhängig vom praktizierten Modell haben die Manager von Auslandsgesellschaften vielfache Anforderungen im Zusammenspiel zwischen zentraler Geschäftsleitung und ausländischer Tochtergesellschaft zu erfüllen. Sie müssen zur kohärenten Leitung des Gesamtunternehmens beitragen, und sie müssen zugleich für die adäquate Anpassung der zentralen Unternehmensentscheidungen an die besonderen Bedingungen des Gastlandes sorgen. Dies erfordert ein hohes Maß an Einfühlungsvermögen sowohl in die Handlungs‐ bedingungen, Handlungsgrenzen und Handlungsmöglichkeiten im Heimatland als auch im Gastland, verbunden mit der Fähigkeit zur Integration heterogener Einflussfaktoren, aber auch zur Akzeptanz von Ambiguitäten. In der Praxis stellt sich zudem für das Management in multinationalen Unternehmen im‐ mer wieder die Frage, welche Vor‐ und Nachteile mit dem Einsatz von Führungskräften aus dem eigenen Land, dem Gastland oder einem anderen Drittland sowohl für Aufgaben im Heimatland als auch im Gastland verbunden sind. Forschungen zu dieser Thematik haben zusammengefasst zu folgenden Erkenntnissen geführt (Negandhi, 1987): a. Führungskräfte aus dem Heimatland: Diese Führungskräfte sind mit den Zielsetzungen, Führungsgrundsätzen, Geschäftspraktiken usw. des Unternehmens vertraut, verfügen über gute Kontakte innerhalb der Zentrale, haben ihre technische, wirtschaftliche und organisatorische Kompetenz bereits unter Beweis gestellt, sind im Unternehmen ver‐ ankert, bekannt und angesehen. Dies alles erhöht die Wahrscheinlichkeit einer effekti‐ ven Zusammenarbeit mit der Zentrale und eines kompetenten Managements im Sinne der Unternehmensleitung. Probleme bereiten die Aneignung eines ausreichend hohen Maßes an fremdsprachlicher Kompetenz, die Anpassung an die kulturspezifischen Orientierungssysteme im Gastland und die Einarbeitung in das soziale, ökonomische und politische Umfeld im Einsatzland. Auswahl, Training, Bezahlung und Betreuung der Führungskräfte und zum Teil ihrer Familienangehörigen während des Auslands‐ einsatzes sind zudem mit erheblichen Kosten verbunden. Auslandstätigkeiten können meist auch nur zeitlich begrenzt übernommen werden mit der Konsequenz eines häu‐ figen Führungswechsels in den Tochterunternehmen. Da die ausländischen Mitarbeiter dazu tendieren, selbst Führungspositionen zu übernehmen, entstehen schwer zu be‐ wältigende Konkurrenzsituationen zwischen den deutschen Fach‐ und Führungskräf‐ ten und den einheimischen Führungskräften und Mitarbeitern. Aber auf deren Loyali‐ tät und Mitarbeit sind die Manager gerade im Ausland besonders angewiesen. b. Führungskräfte aus dem Gastland: Der Vorteil des Einsatzes von Führungskräften aus dem Gastland besteht zunächst einmal in ihrer Vertrautheit mit den lokalen Gegeben‐ heiten und den Geschäftspraktiken des Landes sowie den relativ geringen Kosten. Die
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Mitarbeiterführung
erhöhten Aufstiegsmöglichkeiten einheimischer Mitarbeiter stärkt deren Arbeitsmoti‐ vation und Bereitschaft, sich mit dem Unternehmen zu identifizieren. Kulturelle Unter‐ schiede zwischen den Orientierungssystemen der ausländischen Führungskräfte und ihrer Partnern in der Unternehmenszentrale führen allerdings häufig zu Kommunika‐ tions‐ und Verständigungsproblemen mit der Konsequenz, dass es auf Seiten der aus‐ ländischen Führungskräfte zu Loyalitätskonflikten gegenüber ihren Vorgesetzten in der Unternehmenszentrale kommt, besonders dann, wenn sich herausstellt, dass die Vorgesetzten aus Unkenntnis der lokalen Gegebenheiten Fehlentscheidungen treffen und diese dann trotz geäußerter Bedenken und Kritik durchzusetzen versuchen. Ein weiteres Problem beim Einsatz von Führungskräften aus dem Gastland besteht darin, ihnen bei zentralen und nur ihren Bereich betreffenden Unternehmensentscheidungen ein ausreichendes Mitspracherecht einzuräumen. Dies kann nur gelingen, wenn die ausländischen Führungskräfte gut geschult sind, fachliche und überfachliche Qualifi‐ kationen besitzen und ihnen die Möglichkeit gegeben wird, innerhalb des Gesamtun‐ ternehmens ein ausreichend differenziertes Netzwerk an Kontaktmöglichkeiten zu Kol‐ legen in Deutschland und anderen Tochterunternehmen weltweit aufzubauen. c. Führungskräfte aus einem Drittland: Diese Form der Managementrekrutierung wird dann gewährt, wenn im eigenen Hause und im ausländischen Tochterunternehmen keine geeigneten Experten für bestimmte Aufgaben zu Verfügung stehen und wenn aus Kos‐ tengründen Führungskräfte aus einem dritten Land angeworben werden müssen. Die auf kulturspezifische Unterschiede zurückzuführenden Kommunikations‐ und Interak‐ tionsprobleme zwischen Führungskräften, Mitarbeitern und Unternehmenszentrale treten naturgemäß bei diesem Modell in verstärktem Maße auf. Das ist auch der Grund, warum dieses Modell selten angewandt wird und wenn, dann nur für relativ kurze Engagements. Insgesamt ist festzustellen, dass weltweit immer mehr einheimische Führungskräfte in den Tochterunternehmen zum Einsatz kommen und dies eben nicht nur aus Kostengründen, sondern auch wegen der Vertrautheit mit dem kulturellen, wirtschaftlichen und politi‐ schen Umfeld im Gastland. Zudem verfügen einheimische Führungskräfte in der Regel über ein zum Teil über Generationen hinweg entwickeltes soziales Netzwerk, das nicht nur für das Privatleben, sondern auch für die berufliche Tätigkeit von zentraler Bedeutung ist. Ein sehr markantes Beispiel dafür ist die hohe Bedeutung, die in China dem „Guanxi‐ System“ von alters her und bis heute beigemessen wird: „Guanxi bedeutet ein Netzwerk an Beziehungen, in das so jedes Mitglied der Gesellschaft eingebunden ist. Beziehungen zu nutzen, um ‚Hintertüren’ zu öffnen, gilt als legitim, aber das Nutzen von Guanxi verpflich‐ tet immer auch zu Gegenleistungen. Beziehungen können unterschiedliche Grundlagen haben und damit unterschiedliche Leute einbinden, die verschiedene Funktionen haben. Der Vermittlung durch Dritte kommt eine große Bedeutung zu. Der Aufbau von Bezie‐ hungen, ist nicht voraussetzungslos möglich. Guanxi müssen ‚gepflegt’ werden“ (Tho‐ mas/Schenk/Heisel, 2008, S. 153). Auf solche eng geknüpften Beziehungsnetzwerke zu‐ rückgreifen zu können, wenn man Führungskräfte aus dem Gastland einsetzt, ist in vielfa‐ cher Hinsicht von großem Vorteil, vorausgesetzt die einheimischen Führungskräfte sind bereit, sich für das Unternehmen so weit zu engagieren, dass sie ihr Netzwerk mit in die
Führung in multinationalen Unternehmen
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Unternehmensführung einbinden. Dies bedarf eines hohen Grades an entwickeltem Ver‐ trauen und Loyalität gegenüber den deutschen Vorgesetzten und Kollegen.
Weiterführende Literatur: Bergemann, N./Sourisseaux, A. L. J. (Hrsg.) (2003): Interkulturelles Management. 3. Aufl., Ber‐ lin/Heidelberg. Rosenstil, L. v./Regnet, E./Domsch, M. E. (Hrsg.) (2009): Führung von Mitarbeitern. Handbuch für erfolgreiches Personalmanagement, 6. Aufl., Stuttgart. Stumpf, S. (2005): Interkulturelles Führen und Managen, in: Thomas, A./Kinast, E.‐U./Schroll‐Machl, S. (Hrsg.), Handbuch interkulturelle Kommunikation und Kooperation. Bd. 1: Grundlagen und Pra‐ xisfelder, 2. Aufl., Göttingen, S. 324‐339. Thomas, A./Stumpf, S. (2003): Aspekte interkulturellen Führungsverhaltens, in: Bergemann, N./ Sourisseaux, A. L. J. (Hrsg.), Interkulturelles Management, 3. Aufl., Berlin, S. 71‐108.
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Mitarbeiterführung
Teamarbeit
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Teamarbeit
Teamarbeit war immer schon ein zentrales Thema in der modernen Arbeitswelt und ist es heute in verstärktem Maße. Es gab schon immer Aufgabenstellungen, die ein Einzelner überhaupt nicht oder nur schwer alleine bewältigen kann und die von planmäßiger Koor‐ dination mehrerer Personen betroffen waren. Ob es sich um die Koordination physischer oder geistiger Aufgabenstellungen handelt, immer sind zwei Faktoren zur Zielerreichung ausschlaggebend: Die in ihr vorhandenen Potenziale müssen zum einen geeignet sein, um die gestellte Aufgabe zu bewältigen, und zum anderen müssen die zielrelevanten Potenzi‐ ale so aufeinander bezogen und vor Ort konzentriert sein, dass zielgerichtet maximale Wirkungen erzeugt werden. Von zentraler Bedeutung ist dabei die Vermeidung von Pro‐ zessverlusten z. B. dadurch, dass die Mitglieder sich gegenseitig blockieren, ihre Leis‐ tungsmöglichkeiten nicht oder nur begrenzt ausschöpfen und nicht‐zielführende Einfluss‐ faktoren wirksam werden. In der gegenwärtigen Arbeitswelt, aber auch im alltäglichen Leben nehmen die Fälle zu, in denen Menschen aus unterschiedlichen Kulturen freiwillig oder gezwungen zusammenar‐ beiten, um ein angestrebtes Ziel zu erreichen. Schon die weit fortgeschrittene berufliche Spezialisierung bei einzelnen Mitarbeitern und die projektorientierte Arbeitsorganisation vor Ort erfordern Teamarbeit. Teamkompetenz ist eine allseits geforderte Schlüsselqualifi‐ kation bei Fach‐ und Führungskräften. Sie spielt bei der Stellenbesetzung und der Perso‐ nalqualifizierung eine wichtige Rolle und ist ein zentraler Baustein in jedem Auswahl‐ und Potenzialförder‐Assessment (Stumpf/Thomas, 2003). Man kann davon ausgehen, dass Mitarbeiter, die für einen Auslandseinsatz vorgesehen sind, im Verlauf ihrer beruflichen Ausbildung und Erfahrung oder im Rahmen betriebli‐ cher Personalfördermaßnahmen Teamkompetenz aufgebaut haben. Sie wissen, wie Teams zu führen sind und wie ihre Arbeit zu optimieren ist. Durch diese Erfahrungen am Ar‐ beitsplatz innerhalb der eigenen Kultur entstehen häufig im Umgang mit plurikulturellen Teams die Einsichten: „So richtig voran geht die Arbeit im Team nicht!“ und „Eine optima‐ le Teamarbeit sieht jedenfalls anders aus!“
1. Beispiel.: „Deutsch-französische Firmenkooperation“ Der Geschäftsführer eines deutschen mittelständischen Unternehmens (Herr Hauf) und eines französischen Familienunternehmens (Herr Miro) lernen sich auf der Hannover‐ Messe kennen. Sie stellen fest, dass es bei einer engen Kooperation zwischen ihren bei‐ den Unternehmen im Bereich der Teilefertigung und Materialbeschaffung erhebliche Synergiepotenziale geben könnte, die beiden im internationalen Wettbewerb zugute kämen. Sie kommen überein, dass es sich hier also um eine klassische Win‐win‐Situation handeln könnte. Sie informieren ihre Firmenleitungen und mit deren Zustimmung be‐ schließen sie, dass jeder zunächst für sich Überlegungen anstellt, wie eine solche Koope‐ ration aussehen könnte, um dann die Konzepte auszutauschen und zu diskutieren.
A. Thomas, Interkulturelle Handlungskompetenz, DOI 10.1007/978-3-8349-6880-7_4,
© Gabler Verlag | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Teamarbeit
Nach zwei Wochen schickt Herr Hauf sein Konzept an Herrn Miro. Es enthält mehrere grundlegende Gedanken, eine Auflistung der Vor‐ und Nachteile für beide Seiten, Vor‐ schläge für die weiteren Schritte und eine auf fünf Jahre angelegte vorläufige Budget‐ planung. Als er nach einem Monat von Herrn Miro noch keine Antwort erhalten hat, schreibt er eine E‐Mail mit der Bitte um Rückmeldung. Als er einen Monat später immer noch nichts von Herrn Miro gehört hat, macht er sich Sorgen, ob Herrn Miro das Kon‐ zept überhaupt erreicht hat oder ob ihm etwas zugestoßen ist. Zudem fragt seine Ge‐ schäftsleitung immer mal wieder nach, was denn aus dem Kooperationsprojekt inzwi‐ schen geworden ist und ob es vorangeht. Schließlich ruft Herr Hauf in Paris an, be‐ kommt aber Herrn Miro nicht ans Telefon, da er, wie seine Sekretärin mitteilt, zu be‐ schäftigt ist. Mal ist er auf Auslandsreise und mal im Urlaub. Herr Hauf versteht nicht, warum die Sache nicht vorangeht und Herr Miro sich ver‐ leugnen lässt. Er weiß auch nicht, was er noch unternehmen kann, um das Projekt vo‐ ranzubringen oder aber auch definitiv zu beenden. Schließlich sagt Herr Hauf dazu: „Herr Miro war bei unserem Gespräch in Hannover so aufgeschlossen. Der Vorschlag, Kooperationsmöglichkeiten zu erkunden, kam sogar von ihm, und als ich vorschlug, auf ein gemeinsames Konzept hinzuarbeiten, reagierte er so richtig euphorisch. Er hat mich mit seiner Begeisterung angestachelt und deshalb habe ich mich sofort hingesetzt, neben meiner Alltagsarbeit das Konzept als eine erste Arbeits‐ und Diskussionsgrundlage er‐ stellt und nun reagiert er überhaupt nicht mehr. Wenn ihm das alles nicht passt, kann er das doch sagen und die Sache ist erledigt, aber so, sich ständig verleugnen zu lassen, ist doch richtig beleidigend. Ich hatte zwar schon einmal gehört, dass Franzosen unzuver‐ lässig sind, glaubte aber, Herr Miro sei eine Ausnahme, denn im Gespräch machte er ei‐ nen seriösen Eindruck. Nun ist aber Schluss! So lasse ich mich nicht behandeln!“ Herr Miro sieht diese Angelegenheit aus einer völlig anderen Perspektive und würde Folgendes dazu sagen: „Ich dachte, wir treffen uns noch einige Male und sprechen über alles, tauschen unsere Meinungen aus und schauen, wie weit wir kommen. So hätten wir uns etwas mehr ken‐ nengelernt und hätten auch Details über unsere beiden Unternehmen austauschen kön‐ nen. Aber nun das! Da schickt mir doch der Herr Hauf ein fertiges Konzept, das ich wohl nur noch abzeichnen soll. Von Partnerschaft und Gruppenarbeit kann da ja wohl keine Rede sein. Jetzt soll ich auf die einzelnen Punkte bis hin zum Fünfjahresbudget reagieren. Meine eigenen Ansichten sind hier überhaupt nicht gefragt. Vielmehr soll ich seine Vor‐ schläge abarbeiten. Ich fühle mich überfahren und laufe Gefahr, in die Enge gedrängt zu werden. Der will mich dominieren oder einkaufen oder über den Tisch ziehen. Wenn ich ihn hängen und mich verleugnen lasse, wird er schon merken, dass er so mit mir nicht umgehen kann. Ich hatte zwar schon einmal gehört, dass Deutsche sehr dominant sind und schnell so von oben herab reagieren, aber ich dachte, Herr Hauf ist anders, wo er doch in Hanno‐ ver so kommunikativ und diskussionsfreudig reagiert hatte.“
Teamarbeit
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Herr Miro versteht nicht, wie man sich so verhalten kann, wenn man als Kooperations‐ partner im Rahmen einer sich anbahnenden Partnerschaft akzeptiert werden will. Obwohl Deutschland und Frankreich benachbarte Nationen sind, eine über Jahrhunderte hinweg enge wechselvolle gemeinsame Geschichte haben, gegenseitig die wichtigsten Handelspartner sind und in der Europäischen Union und überhaupt auf allen politischen Ebenen eng zusammenarbeiten, wirken sich dort kulturelle Unterschiede bereits in der ersten Begegnung und wie hier im Beispiel im Vorfeld einer geplanten und mit viel Begeis‐ terung begonnenen Teamarbeit so verheerend aus, dass beide nicht mehr weiterwissen. „Sachorientierung“ und „Direktheit“, zwei deutsche Kulturstandards bestimmen das Ver‐ halten von Herrn Hauf. Für ihn ist nach dem gemeinsamen Gespräch in Hannover sofort klar, was zu tun ist, dass ein detailreiches und professionelles Konzept für eine mögliche Zusammenarbeit zu erstellen ist und dass genau dies von ihm erwartet wird. Diese Arbeit traut er sich zu und ist auch etwas stolz darauf, dass er bereits in zwei Wochen Herrn Miro seine Ausarbeitungen zuschicken kann. Natürlich ist das ein Diskussionsvorschlag und kein endgültiges Konzept, aber Herr Hauf packt alles hinein, was ihm dazu einfällt und was er für angebracht hält, damit Herr Miro mit seinen Vorstellungen daran anknüpfen kann und nicht immer wieder wegen irgendwelcher Details bei ihm nachfragen muss. So spart man Zeit und schont seine Ressourcen. Mit Spannung wartet er nun auf dessen Kon‐ zept. „Indirekter Kommunikationsstil“, „Personorientierung“ und „Dynamischer Entschei‐ dungsprozess“ sind französische Kulturstandards, die das Verhalten von Herrn Miro im Interaktionsprozess mit Herrn Hauf bestimmen. Für ihn steht nicht ein durchstrukturiertes Konzept als Grundlage der geplanten Partnerschaft im Vordergrund, sondern ein näheres, gegenseitiges Kennenlernen, ein zunächst einmal unverbindliches Abwägen von Möglich‐ keiten, Chancen und Gefahren und der Einstieg in einen prozesshaften Dialog, in dessen Verlauf sich erste Entscheidungen, Vereinbarungen, Pläne und Konzepte abzeichnen könnten, die dann schließlich in ein Vertragswerk einmünden. Deren Ausarbeitung dann anderen Fachleuten, zum Beispiel den Hausjuristen, überantwortet wird. Was er von Herrn Hauf auf den Tisch bekommen hat, ist für ihn schon fast der endgültige Vertrags‐ entwurf, dem er wohl nur noch zuzustimmen hat. Zudem will Herr Miro zunächst einmal völlig frei und unvoreingenommen im eigenen Unternehmen alle relevanten Personen mit dem Gedanken an eine Zusammenarbeit mit einem deutschen Unternehmen vertraut machen. Das braucht seine Zeit. Zudem wird er auf diesem Wege mit vielen neuen Idee konfrontiert, könnte das Für und Wider erkunden, die Unterstützer und die Gegner sowie die Unentschiedenen im Unternehmen ausmachen sowie deren Argumente kennenlernen und so den Entscheidungsprozess vorbereiten. Mit Sicherheit hat Herr Miro mit diesen Schritten überhaupt noch nicht begonnen, und er erhält schon jetzt ein aus seiner Sicht fertiges Konzept von Herrn Hauf auf den Tisch. Er liest das Papier durch und aktiviert gleichzeitig die weit verbreitete ambivalente Einstellung der Franzosen zu Deutschen, die darin besteht, dass die Deutschen einerseits für ihre Schnelligkeit, Planungssicherheit fachlicher Kompetenz und Effektivität im Arbeitsprozess bewundert werden, andererseits aber abgelehnt werden: wegen der deutschen Art, einen sehr sachorientierten Umgang mit
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Teamarbeit
den Mitmenschen zu pflegen, wegen der Direktheit, mit der eigene Ideen und Meinungen präsentiert werden, und wegen des Formalismus. So kann man aus französischer Sicht nicht leben und arbeiten. Herr Miro ist deshalb gar nicht in der Lage und auch nicht ge‐ willt, das Konzept von Herrn Hauf als Diskussionsgrundlage zu betrachten. Er interpre‐ tiert es stattdessen als eine Art Diktat: „So ist das richtig! Nur so ist das machbar! So ma‐ chen ‚wir’ das am besten!“ Nur – für Herrn Miro existiert das „Wir“ noch gar nicht. Der „indirekte Kommunikationsstil“ verbietet es Herrn Miro, Herrn Hauf direkt mitzutei‐ len, dass noch Vorgespräche erforderlich sind, bis man zur Bearbeitung und Diskussion eines Kooperationskonzeptes à la Hauf kommen kann. Zudem hat Herr Hauf sich Mühe gegeben und mit einem solchen Schreiben würde er ihn doch nur vor den Kopf stoßen, was zudem nicht der französischen Etikette entsprechen würde. Also ignoriert er Herrn Haufs Schreiben und lässt sich verleugnen in der Hoffnung, dass so der Druck nachlässt, schon jetzt und damit verfrüht reagieren zu müssen. Er erwartet, dass Herr Hauf das „Sig‐ nal“ versteht. Dieser wird es aber nicht verstehen, sondern es als Ablehnung der Koopera‐ tionsidee und als Brüskierung seiner Person interpretieren. Herr Hauf ist tief enttäuscht und tröstet sich damit, dass auch andere Deutsche immer wieder die Unzuverlässigkeit der Franzosen beklagen. Viele dieser hier beschriebenen Prozesse sind für die handelnden Personen, also für Herrn Hauf ebenso wie für Herrn Miro, nicht bewusstseinspflichtig. Sie vollziehen sich völlig automatisch, so z. B. die Begründung (Attribution) für das eigene Verhalten und die eige‐ nen Entscheidungen sowie die des Partners. Auf diese Weise kommt es oft, wie in diesem Beispiel, zu massiven Kommunikations‐ und Kooperationskonflikten und eventuell gar nicht zu einer Teamarbeit.
2. Beispiel: „Deutsch-amerikanische Gruppenarbeit“ Herr Meier ist leitender Ingenieur in einem führenden deutschen Unternehmen der Mo‐ torenfertigung. Die Firmenleitung hat beschlossen, einen neuen energiesparenden Mo‐ tor für ihre Flotte zu konzipieren und bis zur Serienreife zu entwickeln. Sie betrauen Herrn Meier mit der Leitung eines entsprechenden deutsch‐amerikanischen Experten‐ teams. Die deutschen Teammitglieder sind Angestellte des deutschen Unternehmens und die amerikanischen Teammitglieder wurden von amerikanischen Firmen, die sich mit Antriebstechnologie befassen, als Experten für spezielle Entwicklungsdetails ange‐ worben. Die Teamarbeit ist auf drei Jahre angelegt. Das Team arbeitet unter optimalen Bedingungen, denn Herr Meier ist ein angesehener technischer Fachmann mit viel Erfahrung in Teamführung. Die deutschen und amerika‐ nischen Teammitglieder haben eine sehr ähnliche fachliche Ausbildung absolviert. Ver‐ kehrssprache ist Englisch, weil alle deutschen Firmenmitglieder sehr gut Englisch spre‐ chen. Die Deutschen kennen das Unternehmen und die Technologie der bisher produ‐ zierten Motoren sehr gut und die amerikanischen Kollegen kennen sich im Bereich mo‐ derner Antriebstechnologie sehr gut aus.
Teamarbeit
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In der zweiten Hälfte des ersten Projektjahres stellt nun Herr Meier fest, dass die Zu‐ sammenarbeit zwischen den deutschen und amerikanischen Firmenmitgliedern sich nur noch auf das Notwendigste beschränkt. Meist arbeiten beide Gruppen getrennt für sich, zwar nicht direkt gegeneinander, aber eben auch nicht miteinander. Mehrmalige Versu‐ che, dieses Thema auf gemeinsamen Teamsitzungen anzusprechen, scheiterten. Auch in Einzelgesprächen mit den deutschen wie auch mit den amerikanischen Teammitglie‐ dern erfährt Herr Meier immer nur, dass die Deutschen beziehungsweise die Amerika‐ ner sich zurückziehen und mit dem jeweils anderen Partner nicht recht zusammenarbei‐ ten können. Erst ein externer Coach schafft Klarheit. Die deutschen Teammitglieder sind es gewohnt und so praktizieren sie es auch, einen übernommenen Arbeitsauftrag selbstständig zu bearbeiten und erst zu einem viel späteren Zeitpunkt die dabei gewonnenen Erkenntnisse und Arbeitsweisen in einer eigens dazu einberufenen Arbeitsgruppensitzung vorzutragen und diskutieren zu lassen. Zwischen‐ zeitliche Berichterstattung, Anfragen, Rückmeldungen u. Ä. erscheinen den Deutschen eher als lästige Unterbrechung ihres übernommenen Arbeitsauftrags. Sie sind es gewohnt, dass die anstehenden Aufgaben im Team gründlich diskutiert, dann auf die einzelnen Firmenmitglieder verteilt und individuell abgearbeitet werden. Jeder hat eben seinen Ar‐ beitsauftrag bis zu einem vereinbarten Zeitpunkt zu erledigen. Danach trifft man sich wieder und diskutiert die Einzelresultate und den Fortschritt des Gesamtprojektes. Dann beginnen die Aufgabenverteilung und die individuelle Arbeit wieder von vorn. Demgegenüber sind die Amerikaner gewohnt, über ihre einzelnen Arbeitsschritte und ihre dabei gewonnenen Erkenntnisse und Zwischenergebnisse sowohl mit ihren Kollegen in der Arbeitsgruppe als auch mit ihrem Vorgesetzten intensiv zu diskutieren, dabei sachbe‐ zogene Informationen und Leistungsbewertungen abzuholen, um auf diese Weise Sicher‐ heit darüber zu bekommen, ob das, was sie tun, sozial akzeptiert, anerkannt und „richtig“ ist. Der deutsche Teamchef Herr Meier ist natürlich auch aufgrund seiner beruflichen Erfah‐ rungen nicht gewohnt, dass ein qualifizierter Mitarbeiter, der eigenverantwortlich handelt, ständig bei ihm nachfragt und sich bei ihm über die Richtigkeit seines Handelns vergewis‐ sert, denn dieser weiß ja, was zu tun ist, nachdem er den Arbeitsauftrag verstanden und übernommen hat. Häufiges Nachfragen stört ihn in seinem Arbeitsrhythmus und zeigt, dass der Mitarbeiter mit der Aufgabe offensichtlich überfordert ist. Die amerikanischen ebenso wie die deutschen Mitarbeiter in dieser Arbeitsgruppe brau‐ chen selbstverständlich die zustimmende und kritische Rückmeldung ihres Gruppenleiters und ihrer Kollegen aus der Gruppe. Beide werden Lob und Anerkennung durchaus be‐ grüßen, Ablehnung, Tadel und harsche Kritik fürchten. Das Problem in dieser Arbeits‐ gruppe liegt darin, dass Amerikaner eine andere Rückmeldefrequenz gewohnt sind und erwarten als die Deutschen. Im Unterschied zu den Deutschen sind für sie eine intensive, permanente Diskussion und gegenseitige Abstimmung in der Gruppe und mit dem Vor‐ gesetzten von zentraler Bedeutung zur Förderung ihrer Motivation, zur Befriedigung ihrer Bedürfnisse nach sozialem Vergleich, Leistungsbewertung, Selbstdarstellung und sozialer
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Anerkennung. Wenn einem Amerikaner eine andere Kultur keine Möglichkeit zur Befrie‐ digung dieser Bedürfnisse bietet, dann sinkt sein Interesse am Arbeitsauftrag, an der Gruppenarbeit und an der Kooperation mit den Kollegen und dem Vorgesetzten: Warum soll er sich anstrengen, wenn der Gruppenleiter selbst kein Interesse an seiner Arbeitsleis‐ tung zeigt? Die amerikanischen Teammitglieder sind gewohnt, ständig und zu jeder sich bietenden und für nötig erachteten Gelegenheit über ihre Fragen, Zwischenlösungen, Vermutungen und Problemlösungsideen miteinander zu diskutieren. Sie holen untereinander Informati‐ onen ein, beraten sich und, was ganz wichtig ist, sie geben sich gegenseitig positives sozia‐ les Feedback. Sie bestätigen sich gegenseitig in ihrer Arbeit. Diese positive soziale Rück‐ meldung erwarten sie auch von Herrn Meier, der aber keine Veranlassung sieht, auf diese Wünsche einzugehen. So haben sie nach den ersten Monaten der Zusammenarbeit den Eindruck gewonnen, dass die Deutschen sich eher gestört fühlen, wenn sie mit ihren Fra‐ gen, Ideen und Vorschlägen auf sie zugehen. Ein Dialog auf Augenhöhe kam überhaupt nicht zustande. Von einem anerkennenden Wort von Herrn Meier oder den deutschen Kollegen und von Symbolen sozialer Unterstützung war auch nichts zu sehen und zu hören. So fühlten sie sich ausgegrenzt, beiseitegeschoben und missachtet. Auch ihre Ar‐ beit, so schien es ihnen, wurde nicht gewürdigt. Hinweise darauf, dass aus ihrer Sicht die Zusammenarbeit nicht optimal funktioniert, wurden ignoriert. Die Deutschen hatten sich gewundert und auch geärgert, dass ihre amerikanischen Kolle‐ gen sie ständig in ihrer Arbeit unterbrachen, mit irgendwelchen obskuren Ideen ankamen, einen Smalltalk über irgendwelche Nebensächlichkeiten begannen und sie so von ihrer Arbeit abhielten. Dieses ständige Angesprochenwerden war zudem immer wieder ge‐ würzt mit Lobreden auf die Arbeitsleistung der deutschen Teammitglieder, wobei es aus deutscher Sicht überhaupt keinen Grund gab, sich zu diesen Zeitpunkten überhaupt lo‐ bend über die erbrachten Zwischenergebnisse zu äußern. Nach ihrer Sichtweise hat jeder seine Arbeit zu tun, so wie er es als Experte für richtig hält, und stellt dann sein Resultat zum gegebenen Zeitpunkt vor. Dazwischen gibt es nichts zu diskutieren und zu loben. Oft hatten sich die deutschen Teammitglieder gefragt, ob ihre amerikanischen Kollegen über‐ haupt arbeiten oder ob sie sich hier nur eine schöne Zeit machen wollen. Erst als die beiderseitigen Erwartungen an die Partner und die eigenen Verhaltensge‐ wohnheiten im Rahmen der Teamarbeit mithilfe des Coaches aufgedeckt, mitgeteilt und diskutiert worden waren, begannen beide Seiten damit, das Verhalten des anderen zu verstehen, zu akzeptieren und nach Wegen zu suchen, wie man daraus einen produktiven und praktikablen Weg der Zusammenarbeit entwickeln könnte. Allmählich stieg unter den Teammitgliedern die Zufriedenheit mit der Zusammenarbeit und auch die Teamleistung nahm zu. Dieses Beispiel zeigt deutlich, dass kulturbedingte Interaktionsprobleme nur schwer oder überhaupt nicht zu beheben sind, wenn die beteiligten Personen auf die Divergenzen in den kulturellen Orientierungssystemen und auf die aus einer Begegnungssituation resul‐ tierenden Konsequenzen nicht vorbereitet sind (Thomas, 2003). Die Partner selbst können
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günstigstenfalls mit der Vermeidung konfliktträchtiger Situationen, z. B. durch Reduzie‐ rung der Interaktion mit den ausländischen Kollegen, mit geduldigem Ertragen oder all‐ mählicher Gewöhnung an das ihnen fremde Verhalten reagieren. Der Fremdheitseindruck, die Quelle der Verärgerung, die Last der kritischen Auseinandersetzung bleiben aber er‐ halten. Für einen integrativen, produktiven Umgang mit dem fremdkulturellen Orientie‐ rungssystem fehlen die notwendigen Kenntnisse und Handlungsstrategien. Forschungen zur Arbeit in plurikulturell zusammengesetzten Teams haben gezeigt, dass schon viel erreicht ist, wenn ein hohes Maß an gegenseitiger Toleranz in der Arbeitsgruppe praktiziert wird und wenn der Fremde nicht mehr als minderwertig behandelt wird, son‐ dern Wertschätzung erfährt. Für die Zusammenarbeit in Teams und die Qualität des Er‐ gebnisses noch produktiver wäre es aber, wenn die kulturell bedingten Unterschiede im Erfassen und Bewerten von Zielen und Methoden der Arbeitserledigung, im Lösen von arbeits‐ und interaktionsbezogenen Problemen, in der zwischenmenschlichen Kommuni‐ kation, im Umgang mit Zeit und Raum, im Kontext von Situationsmanagement und im Verhalten insgesamt als wertvolles Potenzial zur Qualifizierung des Teams erarbeitet und als Teamleistung wahrgenommen und behandelt werden. Die Teammitglieder müssen dann von sich aus und unterstützt durch den Gruppenleiter in der Lage sein, ihre kultur‐ spezifischen Verhaltensmodalitäten so aufeinander abzustimmen, dass auf dem Wege der Arbeitsbewältigung Synergie‐Effekte entstehen können und zwar solche, die für die Grup‐ penarbeit selbst und für die Teamleistung produktiv sind. Also nicht das Minimieren kul‐ tureller Divergenzen durch Akkommodations‐ und Assimilationsleistungen der Teammit‐ glieder oder ein einseitiger Akkulturationszwang gegenüber kulturellen Minderheiten, die sich der Mehrheit anzupassen haben, sondern die effektive Nutzung der kulturellen Po‐ tenziale der Gruppe wären dann das Ziel der Teamführung. Eine weitere Quelle schwer zu lösender Probleme: In plurikulturell zusammengesetzten Teams ergibt sich aus der Tatsache, dass Menschen danach trachten, sich selbst, die Men‐ schen, die zu ihnen gehören und damit ihr eigenes Team möglichst positiv einzuschätzen und gegen Angriffe und Kritik von außen zu verteidigen (Eigengruppenfavorisierung). Die Theorie der Sozialen Identität (Tajfel, 1978; Turner/Giles, 1981; Mummendey/Otten, 2002) beschreibt ausführlich diese selbstwerterhöhenden sozialen Prozesse innerhalb und zwischen Gruppen. Angewandt auf plurikulturell zusammengesetzte Teams lassen sich aus diesen Forschungen einer Reihe bedeutsamer Konsequenzen für den Teamprozess und die Teamführung ableiten: Mitglieder plurikultureller Teams werden bestrebt sein, sich eine möglichst angesehene Position innerhalb ihrer Teams zu sichern. Dazu bietet sich die nationale Zugehörigkeit als Unterscheidungs‐ und Abgrenzungskriterium an. So werden die deutschen wie auch die amerikanischen Teammitglieder versuchen, die sich durch ihre nationale Zugehörigkeit anbietende Eigengruppenfavorisierung zu nutzen, um sich positiv von den Mitgliedern der Fremdgruppe abzusetzen. Sie werden ihre eigenen Leistungen eher überschätzen und die der anderen unterbewerten. Sie werden Fähigkeiten und Fertigkeiten, Einstellungen und Wertvorstellungen bei den Eigengruppenmitgliedern sehr genau zu differenzieren wissen und die Individualität jedes einzelnen Gruppenmitglieds betonen, jedoch gegen‐
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über den anderen Gruppenmitgliedern eher zur Homogenisierung und zur Depersonali‐ sierung neigen. Die Mitglieder des anderen Teams treten nicht so sehr als Einzelpersonen in Erscheinung, mit eigenständigen Zielen, Fähigkeiten, Fertigkeiten, Leistungen und Ver‐ antwortlichkeiten, sondern werden eher als Teil einer homogenen Fremdgruppe angese‐ hen und dementsprechend als weniger qualifiziert, fleißig, einsatzfreudig usw. bewertet und als typische Vertreter der Fremdgruppe etikettiert und disqualifiziert. Je weniger die soziale Identität des einzelnen Gruppenmitglieds in seiner Gruppe und die der eigenen Gruppe im sozialen Gefüge einer größeren Arbeitseinheit sowie des Unternehmens gesi‐ chert ist, und je stärker die soziale Identitätsbildung bedroht ist, umso mehr wächst die Tendenz zur Abgrenzung der Eigengruppe von der Fremdgruppe, zur Bevorzugung der Eigengruppe, zur Homogenisierung und Depersonalisierung der Fremdgruppe bis hin zur Fremdgruppendiskriminierung (Thomas, 1993). Diese Prozesse sind den Gruppenmitgliedern in aller Regel nicht bewusst. Erlebt werden allenfalls Kommunikations‐ und Interaktionsstörungen, deren Ursachen im Fehlverhalten der anderen Personen oder der anderen Gruppe gesucht werden. Die Mitglieder schreiben sich gegenseitig die Verantwortung für Störungen zu, ohne zu wissen und zu bedenken, dass die wechselseitigen Fehlwahrnehmungen und Fehlinterpretationen bedingt sind durch die kognitiven und emotionalen Folgen interpersonaler und intergruppenspezifi‐ scher Kategorisierungen und Stereotypisierungen, die in konflikthaften Interaktionssitua‐ tionen provoziert werden. Solche die Gruppenleistungen in erheblichem Maße beeinträch‐ tigenden Intergruppentendenzen können nur durch den Einsatz folgender Maßnahmen begrenzt werden: a. Das Bedürfnis nach Selbstwerterhöhung und Eigengruppenfavorisierung muss auf andere Weise befriedigt werden als dadurch, dass die Leistungen der Fremdgruppen‐ mitglieder im Vergleich zur Eigengruppe abgewertet werden. Ein stabiles Selbstwert‐ gefühl aller Teammitglieder macht den sozialen Vergleich und die Eigen‐ versus Fremdgruppenabgrenzung über die Klassifizierung der Teammitglieder nach nationa‐ len Zugehörigkeitskategorien überflüssig. b. Ein von allen Gruppenmitgliedern gleichermaßen hoch bewertetes Ziel muss formu‐ liert und von allen als etwas gemeinsam zu Erreichendes anerkannt werden. c. Es müssen Möglichkeiten zur Identifikation mit „überlappenden Kategorien“ (Thomas, 1993) geschaffen werden, d. h. Kategorien, die von allen Gruppenmitgliedern geschätzt werden und für alle bedeutungshaltig sind, wie zum Beispiel fachbezogene Zielset‐ zungen. Im Rahmen eines Forschungsprojekts zum Thema „Interkulturelle Synergie in Arbeits‐ gruppen“ und der Analyse von Expertenaussagen zur erfolgreichen Zusammenarbeit in plurikulturellen Teams wurden die folgenden als förderlich erwiesenen Bedingungen und Interventionen effektiver Zusammenarbeit in plurikulturellen Teams zusammengestellt:
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1. „Grundlagen und Rahmenbedingungen ‒ ‒ ‒
Positives Image des Partnerlandes in der Gesellschaft insgesamt, z. B. vermittelt über Medienberichterstattung. Verankerung des Ideals internationaler Kooperation in der Firmenpolitik und im Selbstverständnis des Unternehmens. Perspektive der Teamzusammenarbeit über den aktuellen Auftrag bzw. die Pro‐ jektdauer hinaus.
2. Außenkontakte ‒ ‒ ‒
Anerkennung des Teams durch das höhere Management, symbolisiert z. B. durch Teilnahme an Kickoff‐Workshops. Aufrechterhaltung des Kontakts zu Teammitgliedern im Ausland durch das betref‐ fende Mutterhaus. Interesse und positive Rückmeldung des gastgebenden Unternehmensumfeldes.
3. Teamorganisation ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒
Sorgfältige und frühzeitige Klärung der Aufgabenstellungen und Zielsetzungen. Breiter Raum für persönliches Kennenlernen und informelle Kontakte von Beginn an. Verfügbarkeit eines Mediators mit Hintergrundwissen über die beteiligten Kultu‐ ren. Ausgewogene Macht‐ und Einflussverhältnisse zwischen den Untergruppen im Team. Abwechseln der Teamleitung bzw. ‐moderation. Gemeinsame Ausarbeitung konkreter Regeln für die Teamzusammenarbeit.
4. Gruppendynamik ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒
Gegenseitige Anerkennung und Wertschätzung der fachlichen und sozialen Kom‐ petenz. Auseinandersetzungen statt Duldung und Rückzug: frühzeitiges Ansprechen laten‐ ter Konflikte. Freizeitkontakte mit Beziehungsmöglichkeit für Familienangehörige und Part‐ ner/innen. Klärung und Bedeutungserweiterung zentraler Arbeitsbegriffe durch Übersetzung und Rückübersetzung. Entdeckung, Erkundung und Wertschätzung ‚tieferer’ Gemeinsamkeiten, wie die Werthaltungen, Lebensgewohnheiten und Biografien. Pioniergeist. Motivationsschub durch tief empfundene Zufriedenheit mit dem Gruppenprozess‐ verlauf und den Arbeitsergebnissen.
5. Persönliche Merkmale ‒
Vertrautheit mit kultureller und geografischer Vielfalt, z. B. durch die Herkunfts‐ familie oder den Besuch internationaler Schulen.
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‒ ‒ ‒
Bewusstheit eigener Kulturstandards und bewusste Beibehaltung eigenkultureller Orientierungen. Gute Zuhörfähigkeit und Empathie. Lernbereitschaft und Neugier auf andersartige Sicht‐ und Verhaltensweisen“ (Zeutschel, 2003, S. 462‐463).
Weiterführende Literatur: Six, U./Gleich, U./Gimmler, R. (Hrsg.): Kommunikationspsychologie – Medienpsychologie, Weinheim, Basel. Stumpf, S. (2005): Interkulturelle Arbeitsgruppen, in: Thomas, A./Kinast E.‐U./Schroll‐Machl, S. (Hrsg.), Handbuch interkulturelle Kommunikation und Kooperation. Bd. 1: Grundlagen und Pra‐ xisfelder, 2. Aufl., Göttingen, S. 340‐353. Stumpf, S./Thomas, A. (Hrsg.) (2003): Teamarbeit und Teamentwicklung, Göttingen. Witte, E. H. (2007): Interpersonale Kommunikation, Beziehungen und Zusammenarbeit in Gruppen, in: Six, U./Gleich, U./Gimmler, R. (Hrsg.), Kommunikationspsychologie und Medienpsychologie, Weinheim, S. 178‐208.
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Verhandeln, Verhandlungen führen, etwas aushandeln sind zentrale Aufgaben von Fach‐ und Führungskräften im Arbeitsalltag. Wenn die mit der beruflichen Tätigkeit im Aus‐ landseinsatz verbundenen Aufgabenstellungen und Handlungsanforderungen sich nicht von selbst verstehen, also gleichsam regelgerecht automatisch ablaufen oder von außen unwiderruflich vorgegeben diktiert sind, sondern in irgendeiner Weise zur Disposition stehen, muss verhandelt werden. Verhandelt wird über Ziele, Methoden, Leistungsanfor‐ derungen, Bewertungsmaßstäbe, erwartete Resultate, Konflikte, Preise, Qualität, zu er‐ bringende Dienstleistungen etc. Verhandlungen werden langfristig vorbereitet und erstre‐ cken sich über einen längeren Zeitraum oder sie müssen kurzfristig und schnell erfolgen, um Arbeitsabläufe nicht zu unterbrechen. Eine, in der internationalen Forschung akzeptierte Definition von Verhandeln lautet: Unter Verhandeln versteht man den gemeinsamen Versuch von Partnern mit unterschied‐ lichen Interessen bezüglich der Bewertung von Sachverhalten, Gütern und sozialen Ereig‐ nissen, im Zuge eines Prozesses gegenseitiger Beeinflussung eine Neu‐ und Umbewertung dergestalt zu erreichen, dass eine Einigung zustande kommt. Somit ist Verhandlungsver‐ halten eine Form sozialer Interaktion zur Interessenabstimmung und Konfliktlösung. Ge‐ kennzeichnet ist diese Art der sozialen Interaktion dadurch, dass zwei oder mehrere Per‐ sonen verschiedene Strategien zur Verfügung haben, die Verhandlungen zum Erfolg zu bringen, dass sie die Folgen der Strategieanwendung kennen und entsprechend ihren Welt‐ und Menschenbildern sowie ihren bisherigen Erfahrungen in Verhandlungssituation bestimmte Strategien bevorzugen. Weiterhin sind zur Lösung der Interessenkonflikte auf dem Weg von Verhandlungen einige Bedingungen zu beachten: 1. Die Partner müssen überzeugt sein, dass eine getroffene Vereinbarung besser oder auf keinen Fall schlechter ist als gar keine Vereinbarung. 2. Die Partner müssen überzeugt sein, dass es überhaupt mög‐ lich ist, eine Übereinkunft zu erzielen. 3. Die Partner müssen bereit sein, ein gewisses Maß an Veränderungsbereitschaft in die Verhandlungen einzubringen. Das Verhandlungsverhalten ist zudem gekennzeichnet durch den gegenseitigen Aus‐ tausch von Vorschlägen und Forderungen, von Informationen über deren Konsequenzen, von Begründungen und Bewertungen der vorgetragenen Argumente. Zudem spielen In‐ formationen über die Lagebefindlichkeit der beteiligten Personen, Erklärungen und Be‐ gründungen, Drohungen, Versprechungen, Rechtfertigungen sowie der gegenseitige Aus‐ tausch von Informationen, die den Konflikt womöglich reduzieren können, eine zentrale Rolle. Schon aus diesen generellen Aussagen über Verhandeln, Verhandlungssituationen und Verhandlungsverhalten der Partner wird deutlich, wie stark dieses Handlungsfeld kultur‐ spezifisch geprägt ist und dass beim Verhandeln mit fremdkulturell geprägten Partnern mit kritischen Interaktionssituationen gehäuft zu rechnen ist. Alle vier genannten Aspekte und charakteristischen Merkmale vom Verhandeln als einer spezifischen Form der sozia‐
A. Thomas, Interkulturelle Handlungskompetenz, DOI 10.1007/978-3-8349-6880-7_5,
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len Interaktion werden in dem Prozessgeschehen der im Folgenden dargestellten Beispiele für kulturell bedingt kritische Verhandlungssituationen aus der Alltagspraxis von deut‐ schen Fach‐ und Führungskräften deutlich erkennbar.
1. Beispiel: „Das deutsch-chinesische Verhandlungsproblem“ Über den Manager eines großen deutschen Konzerns, der schon Erfahrungen im Chinage‐ schäft hat sammeln können, wird Folgendes berichtet: Der Manager eines deutschen Unternehmens ist innerhalb kurzer Zeit zum vierten Mal zu Joint‐Venture‐Vertragsverhandlungen nach China gereist. Die bisherigen Gespräche fanden in einer außerordentlich angenehmen Atmosphäre statt. Die Chinesen waren sehr interessiert an dem, was der deutsche Manager vorschlug. Doch so richtig vorwärts ging bei diesen Verhandlungen nichts. Inzwischen bekam der deutsche Firmenrepräsentant erhebliche Schwierigkeiten im eigenen Stammhaus. Die Zeit drängte; der Geschäftsführung des Unternehmens schienen die Verhandlungen nicht effektiv genug zu verlaufen, und man äußerte Missfallen über die wenig „glückli‐ che“ Verhandlungsführung des Beauftragten. Bei ihm stauten sich Frust und Verärgerung auf. Als auch in einer weiteren Verhand‐ lungsrunde keine Einigung zustande zu kommen schien, glaubte der Manager, die Tak‐ tik seiner chinesischen Verhandlungspartner endlich durchschaut zu haben. Die wollten ihn doch nur hinhalten, um möglichst viele Informationen aus ihm herauszupressen, mit denen sie dann sein Unternehmen gegen die Konkurrenz ausspielen könnten. Er war wütend und verärgert über seine Verhandlungspartner, hinzu kamen die Belas‐ tungen der zermürbenden Verhandlungswoche. Zu guter Letzt zeigte er eine Reaktion, die man hierzulande mit dem Ausdruck „denen mal ordentlich Bescheid sagen“ und „kräftig auf den Tisch hauen“ umschreiben würde. Völlig unvermittelt schrie der Manager seine chinesischen Verhandlungspartner an, er sei nicht mehr bereit, sich weiter hinhalten zu lassen, das „um den heißen Brei herumre‐ den“ müsse endlich aufhören, er wolle Klarheit und Verbindlichkeit, und überhaupt, seine Geduld sei nun am Ende. Für chinesische Verhältnisse wurden diese Beschwerden in einer schockierenden Di‐ rektheit und Lautstärke vorgetragen. Die chinesischen Verhandlungspartner wurden blass und schwiegen. Die Verhandlungen kamen nicht zum Abschluss. Nach seiner Rückkehr in die Heimat erfuhr der Manager von seinen Vorgesetzten, dass dies seine letzte Chinareise gewesen sei. Die Chinesen hätten zwar brieflich weiterhin Interesse an dem geplanten Joint Venture geäußert, ohne aber auf die von ihm geführten Verhandlungen auch nur mit einem Wort einzugehen. Man müsse wohl mehr oder we‐ niger wieder von vorne anfangen und dies mit einem anderen Firmenvertreter. Soweit das Fallbeispiel zum Verlauf einer Verhandlungssituation in China.
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a. Interkulturelle Problemanalyse des Verhandlungsverlaufs: Der deutsche Manager erwartet, dass klar und verständlich vorgetragene Vertrags‐ und Verhandlungsangebote aufgegriffen, nachgefragt, beantwortet und zügig zu einem zufrie‐ denstellenden Ergebnis und Abschluss geführt werden. Dies muss zudem in einem Zeit‐ raum geschehen, der zwar nicht genau festgelegt ist, der aber vertretbar und absehbar ist. Das Verlaufsprinzip bei Verhandlungen nach deutschen Vorstellungen folgt eher einem linearen Konzept nach dem Muster: Beginn – Entwicklung – Resultat. Wenn alles gut geht, entwickelt sich der Verhandlungsverlauf so, dass schließlich eine qualitativ höherwertige‐ re Position bezüglich des Verhandlungsgegenstandes erreicht wird als zu Anfang der Verhandlungen. Es kann allerdings auch zum Abbruch der Verhandlungen kommen, wenn keine Aussicht besteht, ein zufriedenstellendes Ergebnis zu erreichen. Die Chinesen in dem hier vorliegenden Beispiel wollen ein Produkt kaufen. Dazu müssen alle direkt und indirekt vom Verhandlungsresultat betroffenen Personen das Produkt kennenlernen. Die gegenseitige Information und Abstimmung sowohl auf der horizonta‐ len Ebene als auch auf den vielfältig verschachtelten vertikalen Organisationsebenen neh‐ men viel Zeit in Anspruch. Vieles wird wiederholt, erläutert und von unterschiedlichen Sichtweisen aus betrachtet. Je wichtiger das Produkt und je langfristiger die Konsequenzen aus einem Geschäft sind, umso mehr Zeit bedürfen Verhandlungsverlauf und Vorberei‐ tung des Vertragsabschlusses. Ein schneller Verhandlungsverlauf ist einem als bedeutsam anzusehendem Ergebnis nicht angemessen. Das Verlaufsprinzip bei Verhandlungen nach chinesischen Vorstellung folgt einem eher zyklischen Konzept: Viele Prozesse der Informa‐ tionsgewinnung und Informationsweitergabe, viele Erörterungen, Diskussionen etc. wie‐ derholen sich und umfassen im Verlauf der Verhandlungen immer größere Personenkrei‐ se, wobei die Verhandlungsresultate dichter, fester, stabiler und damit auch aus chinesi‐ scher Sicht qualitätsvoller werden. Aus Sicht des deutschen Managers und der Geschäftsführung des Unternehmens ziehen sich die Verhandlungen ungebührlich in die Länge, obwohl die Zeit drängt, und somit entsteht der Eindruck, dass sie nicht effektiv verlaufen. Was sich ohne erkennbaren Grund lange hinzieht, ist aus deutscher Sicht, aber auch nach internationalen Maßstäben nicht produktiv, ist kostenintensiv, passt nicht ins gewohnte Managementdenken und bedarf der Erklärung. Aus deutscher Sicht müssen ineffektiv verlaufende Verhandlungen reflek‐ tiert, einer Ursachenanalyse unterzogen und präzisiert werden. Gegenmaßnahmen sind zu ergreifen oder die Verhandlungen müssen als gescheitert betrachtet werden und so schnell wie möglich beendet werden. Aus chinesischer Sicht verlaufen die Verhandlungen, ob‐ wohl oder gerade weil sie sich lange hinziehen, sehr produktiv. Mit der Bemerkung, dass der Geschäftsführung des Unternehmens die Verhandlungen nicht effektiv genug verlaufen und ihr Repräsentant offensichtlich eine wenig glückliche Verhandlungsführung aufweist, ist ein uraltes Problem angesprochen: Die Vorgesetzten und Kollegen im Stammhaus, die die schwierigen und oft komplexen Probleme vor Ort nicht kennen, die mit den Regeln chinesischer Geschäftsverhandlungen wenig vertraut sind, keine Sensibilität und auch kein Einfühlungsvermögen für die in China vorherr‐ schenden Traditionen und Gepflogenheiten besitzen, werden misstrauisch gegenüber dem
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Verlauf und der Effektivität der Verhandlungen. Auch sie erwarten beim Abweichen vom Gewohnten zufriedenstellende Erklärungen. Da ihnen dazu nichts einfällt und auch von ihrem Repräsentant in China keine Informationen kommen, weil er selbst über keine aus‐ reichenden Informationen über den Verhandlungsverlauf bei den Chinesen verfügt, kommt es zu einer personspezifischen Ursachenzuschreibung (Attribuierung), die lautet: Die Schuld für die entstandenen Probleme liegt bei der wenig glücklichen Verhandlungs‐ führung des Firmenrepräsentanten in China. Der deutsche Manager gewinnt allmählich den Eindruck und schließlich die Überzeugung, dass die Verhandlungen nicht recht vom Fleck kommen, obwohl er sich so viel Mühe gibt. Er wird unsicher, er hat das Gefühl, die Verhandlungen und den Verhandlungsverlauf nicht mehr recht unter Kontrolle zu haben, und steht unter erheblicher Anspannung. Schon allein das Gefühl, die Orientierung und Kontrolle im Verlauf von Verhandlungen zu verlieren, ist für einen Manager, der es gewohnt ist und sich auch darum bemüht, alles immer unter Kontrolle zu haben, hochgradig bedrohlich. So konstruiert der deutsche Ma‐ nager in dem Fallbeispiel eine Begründung für das Verhalten der Chinesen: „Die wollen mich doch nur hinhalten, um möglichst viele Informationen aus mir herauszupressen, mit denen sie dann mich und mein Unternehmen gegen die Konkurrenz ausspielen können!“ Diese Konstruktion beruht auf reinen Vermutungen ohne realistischen Hintergrund und sie ist, wie das Ergebnis des Fallbeispiels zeigt, auch unbegründet. Allerdings kann der deutsche Manager so wieder eine klare Orientierung gewinnen, da er nun zu wissen glaubt, was der eigentliche Grund für das unerwartete Verhalten der chinesischen Partner ist. Mit dieser Interpretation des Verhaltens seiner chinesischen Verhandlungspartner werden für ihn alle bisherigen Unklarheiten beseitigt. Er überwindet damit seine Unsi‐ cherheit und gewinnt ein höheres Maß an Orientierung und Klarheit. Nun weiß er wieder, woran er mit seinen Partnern ist, und kann sich darauf einstellen. Zur kulturadäquaten Beurteilung seiner chinesischen Verhandlungspartner fehlen ihm allerdings kulturspezifi‐ sches Wissen und die erforderliche Sensibilität für die Kulturdivergenz des Verhaltens. Es fehlt ihm zudem die Fähigkeit, die eigentlich wirksamen Ursachen für die auftretenden Probleme im Verlauf des Verhandlungsprozesses zu erkennen, und es fehlt ihm offensicht‐ lich die Fähigkeit, dafür zu sorgen, zuverlässige Informationen über den Verhandlungs‐ verlauf auf chinesischer Seite zu gewinnen. Schließlich fühlt er sich dazu berechtigt und legitimiert, seine Wut und Verärgerung über den schleppenden Verhandlungsverlauf den chinesischen Partnern gegenüber deutlich und unmissverständlich zum Ausdruck zu bringen. Zudem macht er ihnen klar, dass man so mit ihm nicht umgehen kann und er sich nicht mehr von ihnen hinhalten lässt. Selbst wenn die chinesische Verhandlungsdelegation die physischen und psychischen Belastungen ihres deutschen Expatriates erkannt hätte, was eher unwahrscheinlich ist, da sie selbst mit ihren Verhandlungsproblemen vollauf beschäftigt ist, hätte sie die Reaktion des Deutschen doch nicht verstehen und akzeptieren können. Jemand, der sich so gehen lässt, verliert nach chinesischer Auffassung sein Gesicht. Er zerstört die zwischenmenschli‐ che Harmonie, indem er sich selbst und seine Partner in Verlegenheit bringt, und ist damit in den Augen von Chinesen kein zuverlässiger und verantwortungsvoller Verhandlungs‐
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und Kooperationspartner mehr. Er verliert seine Kompetenz und sein Renommee und zwar vollständig. Die Chinesen können gar nicht anders, als die Verhandlungen sofort abzubrechen. Da sie an einer Zusammenarbeit mit dem deutschen Unternehmen sehr interessiert sind, bitten sie um einen neuen Verhandlungspartner, der allerdings, und das erwarten sie, genau da wieder anfängt, wo der vorher gescheiterte Verhandlungspartner aufgehört hat. Im Unterschied zur Meinung der Geschäftsführung müssen sie mit den Verhandlungen also keineswegs wieder von vorne beginnen, sondern sie müssen mit einem sachkompetenten und über den Verhandlungsverlauf genau informierten neuen Partner weitergeführt werden. b. Welche Fehler sind dem deutschen Manager in den Verhandlungen unterlaufen? Er hat nicht beachtet, dass in China wie auch in anderen ostasiatischen Kulturen alle wich‐ tigen Entscheidungen unter den von der Entscheidung betroffenen Personen besprochen, diskutiert und auf gegenseitige Akzeptanz hin überprüft werden. Diese gegenseitige In‐ formation und Abstimmung kostet aber viel Zeit. Eine auf diese Weise getroffene Ent‐ scheidung ist dann allerdings auch relativ stabil und über lange Zeit hinweg krisenfest und widerstandsfähig. Er hat nicht beachtet, dass gerade dann, wenn die zu treffenden Entscheidungen von gro‐ ßer Bedeutung sind und weitreichende Folgen haben, aus chinesischer Sicht keine Eile geboten ist. Vielmehr bedarf es einer der Bedeutung des Verhandlungsgegenstandes an‐ gemessenen langen Zeit zur Vorbereitung der zu treffenden Entscheidungen und der Ver‐ handlungsführung. Hinzu kommen die notwendigen Rücksichtnahmen und die Einbezie‐ hung politischer und bürokratischer Entscheidungsträger, verbunden mit umständlichen und langwierigen Antrags‐ und Genehmigungsverfahren in China. Womöglich konnten seine Partner überhaupt nicht schneller verhandeln, selbst wenn sie es gewollt hätten. Er hat nicht beachtet, dass es für Chinesen völlig unüblich ist, Konflikte mit anderen Per‐ sonen und problematische Situationen dadurch zu bereinigen, dass man die Ursachen und die als problematisch erlebte Beziehung offen und direkt anspricht, um auf diese Weise Klarheit in die Beziehungsverhältnisse zu bringen und eine gegenseitig befriedigende Lösung anzustreben. Er hat nicht beachtet, dass Chinesen dazu neigen, über interpersonale Konflikte und Schwierigkeiten hinwegzusehen, sie zu ignorieren und sie allenfalls, wenn es nicht anders geht, auf indirektem Wege anzusprechen und zu klären. Er hat nicht beachtet, dass es in China unüblich ist, so unkontrolliert seine Gefühle zu äußern und den Partner zu maßregeln, mit dem man noch weiter verhandeln und eventu‐ ell einmal gut zusammenarbeiten möchte. Dies führt in China unweigerlich zu einem so nachhaltigen Gesichtsverlust, dass eine weitere Zusammenarbeit, speziell mit diesem deutschen Manager, für die chinesischen Verhandlungspartner unmöglich ist. Nur wenn die Person, die ihr Gesicht verloren hat, gegen einen neuen Verhandlungspartner ausge‐ tauscht wird, können die Verhandlungen wieder aufgenommen und zum Abschluss ge‐ bracht werden. Das gilt auch, wenn ein Chinese sein Gesicht verliert.
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Auf jeden Fall sind durch das aus deutscher Sicht durchaus verständliche und nachvoll‐ ziehbare Verhalten des deutschen Managers nicht nur erhebliche Kosten entstanden und die Verhandlungen wurden verzögert. Es entstand zudem ein erhebliches Risiko, dass diese Verhandlungen völlig scheiterten, kein erfolgreicher Abschluss zustande gekommen wäre und die angestrebten langfristigen ökonomischen Erfolge ausgeblieben wären. Of‐ fensichtlich war den Chinesen die Zusammenarbeit mit dem deutschen Unternehmen so wichtig, dass sie an ihren Plänen, trotz dieses Verhandlungsdesasters, festgehalten haben. c. Wie hätte sich der deutsche Manager in dieser Situation verhalten sollen? Nachdem die Verhandlungen Erfolg versprechend begonnen hatten, bereits viele Gesprä‐ che geführt worden waren, der deutsche Manager immer wieder neue Informationen nachgeschoben hatte sowie seine Bereitschaft zu Zugeständnissen und Konzessionen ge‐ zeigt hatte, schienen die Verhandlungen aus seiner Sicht auf ein für ihn positives Ergebnis zuzulaufen. Als er schließlich bemerkte, dass im Sinne des angestrebten Verhandlungser‐ gebnisses bisher noch nichts Substanzielles erreicht worden war, hätte er sich zunächst einmal gezielt um Informationen über den Verlauf der internen Diskussions‐ und Informa‐ tionsprozesse bei den Chinesen bemühen müssen. Dazu hätte er beispielsweise eine chinesische Vertrauensperson einschalten können, die über ihr persönliches Beziehungsnetz (Guanxi) Informationen darüber hätte einholen können, welche Teile des Verhandlungspakets unstrittig sind und welche Abstimmung, Entscheidungen, Genehmigungen usw. noch ausstanden. Falls ihm keine Mittelsperson für diese Aufgaben zur Verfügung gestanden hätte, wäre es ihm möglich gewesen, vorsichtig und auf indirekte Weise, den Leiter der chinesischen Verhandlungsdelegation darüber zu informieren, dass er seitens seiner deutschen Vorge‐ setzten immer wieder Anfragen bekommt, wie weit die Verhandlungen nun gediehen seien und wann man zum Abschluss kommen könne. Dabei hätte er seinen chinesischen Verhandlungspartnern zu verstehen geben können, dass er versucht, seine Vorgesetzten davon zu überzeugen, dass die Verhandlungen auf einem guten Wege sind, dass aber noch viele Details im Verhandlungspaket in China zu besprechen sind, und dass es bis zum Vertragsabschluss noch einige Zeit dauert. Er könnte zudem seine Partner darauf hinweisen, dass die deutschen Vorgesetzten nun eine Art Zwischenbescheid benötigen, damit sie den Fortschritt der begonnenen Verhand‐ lungen beurteilen können. Er könnte vorschlagen, mit dem chinesischen Partnern gemein‐ sam zu überlegen, mit welchen Informationen man seine Vorgesetzten in Deutschland überzeugen könnte, dass die Verhandlungen bisher gut verlaufen sind und dass man sich weiterhin um eine Einigung auf ein Verhandlungsergebnis bemüht. Auf diese Weise könnte der deutsche Manager in der geschilderten Situation vier für ihn wichtige Ziele erreichen: 1. Er signalisiert seinen chinesischen Partnern, dass er von einer positiven Verhandlungs‐ entwicklung ausgeht und dass er, damit das so bleibt, seine Kooperationsbereitschaft bei der Erstellung von Argumentationshilfen benötigt.
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2. Falls der chinesische Partner auf dieses Angebot eingeht, erhält er konkrete Informa‐ tionen über den Stand der Abstimmungsprozesse auf chinesischer Seite. Er gewinnt dadurch Klarheit und Orientierungssicherheit und weiß somit, woran er ist. 3. Falls der chinesische Partner ihm die erbetene Unterstützung gibt, gewinnt er wieder Kontrolle über die Situation. Er hat erreicht, dass der chinesische Partner ihn informiert und er kann mithilfe dieser Informationen gegenüber seinen Vorgesetzten seine eigene Leistungsfähigkeit in der Beherrschung der schwierigen Verhandlungssituation unter Beweis stellen. 4. Der deutsche Manager kann über diese zunächst harmlos erscheinende Bitte um Un‐ terstützung und Kooperation prüfen, ob es dem chinesischen Partner wirklich um Zu‐ sammenarbeit geht oder ob das Verhandlungsverhalten tatsächlich ein Resultat von Hinhaltetaktik, Informationsausbeutung und Ausspielen gegenüber Konkurrenten ist. 5. Falls dieser Versuch, auf indirektem Wege Informationen über den Entscheidungspro‐ zess auf chinesischer Seite zu bekommen, fehlschlagen sollte, bestünde für den deut‐ schen Manager immer noch die Möglichkeit, dem chinesischen Partner zu signalisie‐ ren, dass er wegen anderweitiger Verpflichtungen zunächst einmal für längere Zeit nach Deutschland zurückreisen müsse, dass er aber jederzeit für ihn als Gesprächs‐ partner zur Verfügung stünde, falls die Verhandlungen weitergeführt werden sollten. Er könnte sich so zunächst einmal von dem Druck befreien, der auf ihm lastet, die chi‐ nesischen Partner schnell zu einem Vertragsabschluss zu bringen. Die Gesprächs‐ und Verhandlungsinitiative läge nun bei den Chinesen, die – falls sie wirklich ein so hohes Interesse an dem angebotenen Produkt und dem geplanten Joint Venture haben – da‐ rauf über kurz oder lang eingehen werden. Für den deutschen Manager ist es von entscheidender Bedeutung, in der geschilderten Situation Handlungs‐ und Entscheidungsblockierungen aufgrund überstarker emotionaler Belastungen zu verhindern. Durch ein kulturadäquates Kommunikations‐ und Kooperati‐ onsverhalten (Gesicht wahren, Guanxi) kann er ein für beide Seiten produktives und zu‐ friedenstellendes Gesprächs‐ und Arbeitsklima schaffen. Dieses Verhalten bedeutet noch keineswegs, sich nur nach den chinesischen Kulturstan‐ dards zu richten, sich völlig anzupassen und alle eigenen Wertvorstellungen und Normen aufzugeben. Das geschilderte Lösungsverhalten zielt ab auf: 1. Informationssammlung und Situationsanalyse; 2. Angebot zur Kooperation zum gemeinsamen Vorteil; 3. eigene Vorstellungen und Wünsche sozial verträglich und mit Überzeugung vermitteln; 4. Kon‐ trolle über das Geschehen behalten und 5. alle sich bietenden, kulturspezifischen Hand‐ lungsmöglichkeiten zur Problemlösung nutzen unter Beachtung der kulturspezifischen Handlungsgrenzen.
2. Beispiel: „Das deutsch-französische Tagungsteam“ Von einem Team von Wissenschaftlern aus Deutschland und Frankreich soll eine gemein‐ same Tagung vorbereitet werden. Bei einem ersten Treffen in Paris geht es darum, die Tagungsstruktur und den Tagungsverlauf zu diskutieren und ein gemeinsam vertretbares
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Tagungskonzept zu entwerfen. Der deutsche Tagungsteilnehmer, ein international aner‐ kannter Forscher auf dem Gebiet, mit dem sich die geplante Tagung beschäftigt, berichtet über das Vorbereitungstreffen: „Ich war von einer deutsch‐französischen Organisation zur Förderung der Zusammen‐ arbeit zwischen beiden Völkern nach Paris eingeladen, um dort an einer Arbeitstagung zur Vorbereitung eines Konzepts für eine deutsch‐französische Wissenschaftlerkonfe‐ renz teilzunehmen. Ich hatte bislang keine persönlichen Erfahrungen mit der einladen‐ den Organisation und kannte weder die anderen zwei deutschen noch die anderen drei französischen Sitzungsteilnehmer. Die Sitzung sollte vereinbarungsgemäß um 9:30 Uhr beginnen und bis 18:00 Uhr dauern, was für mich bedeutete, einen Tag vorher anzurei‐ sen, um pünktlich zu sein. Wegen der mir unbekannten Ortsverhältnisse machte ich mich pünktlich auf den Weg und erreichte das Tagungsgebäude um 9:15 Uhr, meldete mich am Empfang und erfuhr dort, dass die Sitzung wohl erst gegen 10:00 Uhr beginnen werde. So hatte ich noch et‐ was Zeit, meine Ausarbeitungen für einen ersten Vorschlag für das Konferenzpro‐ gramm noch etwas zu überarbeiten. Pünktlich um 9:30 Uhr trafen die beiden deutschen Teilnehmer ein, um 10:05 Uhr der französische Kontaktpartner und gegen 10:30 Uhr schließlich der letzte französische Teilnehmer. Die Sitzung begann schließlich um 10:40 Uhr mit einer kurzen, aber für deutsche Verhältnisse keineswegs zu kurzen, persönli‐ chen Vorstellung der Anwesenden und einer Einführung in die Ziele der geplanten Wissenschaftlertagung durch den Vertreter der deutsch‐französischen Organisation. Danach wurde ich gebeten, mich als Erster zu der geplanten Tagungskonzeption zu äu‐ ßern. Anhand meiner vorbereiteten Folien mit einem ausgearbeiteten Tagungsprogramm (Re‐ ferenten, Themenstellung, Zeitplanung, aufgeteilt in Vortragszeit und Diskussionszeit sowie Pausen) legte ich meine Vorschläge auf den Tisch und begründete sie. Während meines Vortrags fiel mir auf, dass nur ein Teilnehmer sich hier und da einige Notizen machte, die anderen mir aufmerksam und mit einer Mischung aus Erstaunen und Be‐ wunderung zuhörten. Nach meinem etwa 40‐minütigen Vortrag forderte der Tagungs‐ leiter zur Diskussion auf. Nach einiger Verzögerung bat mich schließlich ein französi‐ scher Teilnehmer, meinen Kulturbegriff und meine Vorstellungen über interkulturelles Lernen zu erläutern, was mich schon erstaunte, da ich zu Beginn meines Vortrags genau darauf speziell eingegangen war. Nachdem ich nochmals kurz meinen Kulturbegriff und meine Definition von interkulturellem Lernen wiederholt hatte, entstand eine län‐ gere Pause, denn es meldete sich niemand mehr zu Wort, bis dann schließlich einer der französischen Tagungsteilnehmer die Frage stellte: ‚Wann gehen wir essen?’ Der Ta‐ gungsleiter fragte zurück: ‚Essen wir deutsch oder französisch?’ Auf meine etwas er‐ staunte Frage, was das zu bedeuten habe, wurde mir mitgeteilt, dass dies bei deutsch‐ französischen Arbeitstagungen eine durchaus übliche Frage sei, die bedeutete, wenn man deutsch essen geht, bestellt man belegte Brote, verzehrt sie am Tisch und arbeitet weiter; französisch essen zu gehen aber bedeutet, das nahe gelegene italienische Speise‐ restaurant aufzusuchen, das eine ausgezeichnete französisch‐italienische Küche bereit‐ hält. Es wurde beschlossen, um 12:00 Uhr ‚französisch’ essen zu gehen.
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Während des Essens wurden intensive Unterhaltungen gepflegt, die aber zu keiner Zeit einen Bezug zur Arbeitsthematik hatten. Um 15:00 Uhr schließlich wurde die Tagung fortgesetzt mit einer ausführlichen Diskussion darüber, wen man zu der geplanten Kon‐ ferenz einladen sollte. Die Diskussion fand weitgehend unter den französischen Teil‐ nehmern statt und wurde sehr lebhaft, aber auch kontrovers geführt. Nach einer Stunde einigten sich die französischen Tagungsteilnehmer auf die einzuladenden Personen. Die Tagungsorganisation wurde vertrauensvoll in die Hände der einladenden Organisation gelegt, bis dann schließlich gegen 16:30 Uhr ein französischer Tagungsteilnehmer be‐ merkte, dass er in 5 Minuten leider die Versammlung verlassen müsse, da er bei einer späteren Abreise zu lange im Pariser Feierabendstau steckenbliebe. In der noch verblei‐ benden Zeit wurde über einen akzeptablen Termin für ein neues Treffen und einige or‐ ganisatorische Details diskutiert. Jedenfalls, um 17:30 Uhr stand ich mitten in Paris an einer Metrostation und stellte mir die Frage, warum ich zwei Tage meiner Arbeitszeit für eine Arbeitstagung aufgewendet habe, bei der ich 40 Minuten lang auftragsgemäß ein von mir sorgfältig vorbereitetes Kongressprogramm vorstellt hatte, über das aber nicht diskutiert worden war und dem von französischer Seite auch kein Gegenvorschlag gegenübergestellt worden war. Auf dieser Tagung wurde überhaupt nur über Belanglo‐ sigkeiten diskutiert, die so gut wie nichts mit dem vereinbarten Ziel zu tun hatten. Hier war zweifelsohne eine Chance für eine produktive, sachliche Zusammenarbeit vertan worden. Ich war außerordentlich verärgert über die verlorene Zeit. Anschließend wurde zwischen den deutschen und den französischen Teilnehmern und unter den französi‐ schen Teilnehmern sehr viel hin und her telefoniert und dabei ein Konferenzprogramm für die Wissenschaftlertagung verabredet. Die Tagung jedenfalls war ein Erfolg.“ Die Verärgerung des deutschen Wissenschaftlers über den Verlauf der Tagung und insbe‐ sondere über die Reaktion der französischen Tagungsteilnehmer auf seinen Vortrag ist verständlich und gut nachvollziehbar. Aus dieser Verärgerung heraus hat er auf der Ta‐ gung bedauerlicherweise eine sehr passive Rolle gespielt und nicht mehr so richtig den Anschluss gefunden und seine Ideen auch nicht mehr im Gespräch während des Essens anbringen können. Ihm wäre viel Ärger erspart geblieben, wenn er Folgendes gewusst und beachtet hätte: 1. Über ein Zuspätkommen bei einem Arbeitstreffen regt sich in Frankreich niemand auf, wenn, wie in Paris, die Verkehrsverhältnisse für die anreisenden Teilnehmer nicht gut kalkulierbar sind. Unter diesen Umständen ist es wichtig, dass irgendwann alle anwe‐ send sind. 2. Für Franzosen ist es höchst ungewöhnlich, wenn man bei einer ersten Zusammenkunft, anstatt sich langsam kennenzulernen und näherzukommen, sofort mit einer rein sach‐ bezogenen Präsentation beginnt. 3. Bei einem solchen ersten Treffen erscheint man nicht mit einem fertigen Konzept, das systematisch bis ins Detail ausgearbeitet ist, sondern allenfalls mit einigen vagen Ideen, die man in die Diskussion einfließen lässt. Eine solche bis ins Detail ausgefeilte Präsen‐ tation wird als bedrohlich empfunden, weil sie keinen Raum mehr für Abweichungen und zur Diskussion lässt.
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Die französischen Teilnehmer sahen überhaupt keine Notwendigkeit und Möglichkeit, über das Vorgetragene zu diskutieren. Die für den Deutschen so irritierende Frage nach einer Definition zu einem Sachverhalt, der vorher schon definiert worden war, erfolgte aus Höflichkeit. Aus französischer Sicht war das eine durchaus gelungene Arbeitstagung, denn man hatte ausreichend Zeit, einander kennenzulernen, miteinander zu sprechen und Überzeugungen auszutauschen. Gerade während des ausgiebigen Essens ergaben sich viele Gelegenheiten, sich näher kennenzulernen und die Grundlagen für eine vertrauensvolle zukünftige Zusammenarbeit zu legen. Alles das, was der deutsche Teilnehmer auf der Tagung vermisst hatte, wurde anschlie‐ ßend ausgiebig und einvernehmlich über wechselseitige Telefonate geklärt. Der Verlauf der Wissenschaftlertagung entsprach zwar nicht hundertprozentig dem, was vereinbart worden war, und aus deutscher Sicht gab es viel zu kritisieren, aber das Ergeb‐ nis konnte sich durchaus sehen lassen.
3. Beispiel: „Verhandeln mit Mächtigen“ Herr Meyer, ein Experte für Forstwirtschaft, war für eine deutsche Entwicklung der Orga‐ nisation in Afghanistan tätig und berichtet: „Meine Aufgabe bestand darin, ein Wiederaufforstungsprojekt im Stammesgebiet der Paschtunen zu leiten. Die ehemals bewaldeten Hügel, die durch Raubbau an der Natur zu verkarstetem, baumlosem Ödland verkommen waren, sollten wieder aufgeforstet werden. Geologen und Experten für Renaturierung hatten nach ausführlichen Studien vor Ort im Gastland festgestellt, dass sich mit einer Wiederaufforstung in einigen Jahr‐ zehnten die Böden erholen würden und eventuell wieder für Ackerbau und für Vieh‐ zucht nutzbar zu machen wären. Zur Verwirklichung dieses durchaus sinnvollen Entwicklungsprojekts hatte ich es oft und zuvorderst mit Stammesführern in den für die Wiederaufforstung vorgesehenen Stammesgebieten zu tun. Ohne deren Zustimmung hätte, trotz der vorliegenden Ge‐ nehmigung durch das afghanische Landwirtschaftsministerium, die Wiederaufforstung überhaupt nicht durchgeführt werden können. Bei den Verhandlungen ging es immer um mehr, als nur eine generelle Zustimmung des Stammesführers zum Aufforstungs‐ projekt zu erreichen. Verhandelt werden musste z. B. über die Anzahl der zu rekrutie‐ renden Arbeiter aus den umliegenden Wohngebieten, über die Konditionen, sie im Pro‐ jekt zu beschäftigen, die Auswahlprozeduren und die Art der Bezahlung. Mehrere Ver‐ handlungsphasen, die sich über Wochen hingezogen, waren dazu erforderlich. Zu Anfang war ich sehr froh, wenn ich erfuhr, dass mein Verhandlungspartner über ei‐ ne höhere Ausbildung verfügte und englische Sprachkenntnisse besaß. Meine Kenntnis‐ se des Paschtu waren zu rudimentär, um mit den Stammesführern in ihrer Mutterspra‐
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che zu kommunizieren. So bot sich dann Englisch als Sprache an, zumal ja die englische Sprache nun für beide Verhandlungspartner eine Fremdsprache war und so keiner ein‐ seitig im Vorteil war. Das dachte ich, bis ich bemerkte, wie zäh und im Ergebnis unbe‐ friedigend sich die Verhandlungen gestalteten. Zwar wurde das, dem Gebot der afgha‐ nischen Gastfreundschaft entsprechende, Zeremoniell des Teetrinkens und ausgiebigen Essens immer mit vielen höflichen Worten eingehalten, aber wenn die Sachthemen zur Sprache kamen, schwiegen die Stammesführer oft an Stellen, wo ich eine Antwort drin‐ gend erwartete. Gerade dann, wenn ich nachfragte, ob mein Partner mich auch wirklich und richtig verstanden hätte, was immer bejaht wurde, oder wenn ich einfach nochmals das Gesagte wiederholte, schwiegen die Stammesführer beharrlich. Das irritierte mich so sehr, dass ich es schließlich aufgab, in Englisch zu verhandeln. Danach nahm ich immer einen Dolmetscher mit. Beide Partner konnten einfach in ihrer Muttersprache sprechen und zu meiner großen Überraschung verliefen jetzt die Gesprä‐ che sehr lebhaft, entspannt und wurden oft von Lachen und kleinen Scherzen unterbro‐ chen. Der Dolmetscher war immer ein Afghane und so waren wir in den Verhandlun‐ gen nie mehr zu zweit, sondern zu dritt mit den zu behandelnden Themen befasst. Zu‐ dem hatten so die afghanischen Verhandlungspartner noch einen Landsmann bei sich, der sie unterstützte und ihnen half, die zum Teil recht komplexen Zusammenhänge zu verstehen. Ich hatte auch den Eindruck, dass sie jetzt viel mehr Bereitschaft zeigten, auf meine Vorschläge einzugehen.“ Soweit der Bericht des Entwicklungsexperten. Die Erklärung von Herrn Meyer, warum die Verhandlungen über Dolmetscher besser verliefen, leuchtet auf den ersten Blick ein, geht aber von falschen Voraussetzungen aus. Ein Dolmetscher ist für einen Stammesführer eine relativ unbedeutende Person, die zwar eine wichtige Dienstleistung zu erbringen hat, aber keineswegs als Landsmann zur Unter‐ stützung in den Verhandlungen bedeutsam ist. Die Gründe für die nach dem Einsatz von Dolmetscher so entspannte Verhandlungsatmosphäre sind vielschichtig: 1. Die afghanischen Stammesführer verhandeln möglicherweise zum ersten Mal mit einem ausländischen Experten über eine so wichtige und für die Mitglieder des Stam‐ mes bedeutsame Angelegenheit. Dies erzeugt Unsicherheit und es entstehen Zweifel, ob man in der Lage ist, in den Verhandlungen wirklich die Interessen des Stammes vertreten und durchsetzen zu können. 2. Selbst wenn der Stammesführer in seiner Ausbildungszeit die englische Sprache erlernt hat, ist damit zu rechnen, dass er sie im Alltag nicht benötigt hat. Sich in Englisch zu verständigen, ist für ihn also keine Selbstverständlichkeit, sondern eine Art Sonder‐ und Grenzsituation, die für sich genommen weitere Unsicherheiten aktiviert. 3. Ausländer, ausländische Experten, deutsche Experten genießen ein hohes fachliches Ansehen und in diesem Zusammenhang ist nicht auszuschließen, dass die Stammes‐ führer, womöglich zu Recht, davon ausgehen, dass diese Experten besser Englisch sprechen und verstehen als sie selbst.
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4. Allein durch die Vermutung, dass die Experten über eine höhere Sprachkompetenz im Englischen verfügen als sie selbst, lässt zwischen dem Stammesführer und dem deut‐ schen Experten eine asymmetrische Machtstruktur entstehen. Der Stammesführer fühlt sich verunsichert und unterlegen und genau das entspricht nicht seinem Selbstwertge‐ fühl und auch nicht seiner Stellung in der Stammeshierarchie. Solche Machtasymmetrien, die durch vermutete unterschiedliche Fremdsprachenkompe‐ tenzen entstehen, können Verhandlungen in einem erheblichen Maße negativ beeinflussen. Die Verhandlungspartner bemerken zwar, dass irgendetwas nicht stimmt, aber ihnen ist der Grund dafür meist nicht bewusst. Bei dem Einsatz von Dolmetschern kommt im Vergleich zum direkten Gespräch noch hinzu, dass beide Verhandlungspartner während des Dolmetschens mehr Zeit haben, die Mimik und Gestik des Verhandlungspartners genau zu beobachten und sich entsprechend auf seine Reaktionen einzustellen. Schon aus den hier präsentierten und kommentierten drei Beispielen wird ersichtlich, dass Verhandeln und Verhandlungsführung hochkomplexe Vorgänge sind, die bis ins Detail kulturspezifischen Einflüssen unterliegen, was aber in der Regel den Verhandlungspart‐ nern nicht bewusst ist. Auch im Zuge langjähriger Auslandstätigkeit erwächst nicht auto‐ matisch ein Verständnis für die handlungsrelevanten kulturspezifischen Determinanten. So ist es höchst riskant, das folgende „Gute Konzept für den Gesprächsverlauf“, wie es ein Fachmann für Rhetorik und Verhandeln (Keller, 2003) in dem renommierten Werk „An‐ gewandte Sozialpsychologie. Das Praxishandbuch“ (Auhagen/Bierhoff, 2003) präsentiert, als ein von Profis erarbeitetes und empfohlenes Konzept auf alle möglichen Verhandlun‐ gen weltweit anzuwenden. Eher ist die Gültigkeit nur für Verhandlungen zwischen Deut‐ schen gewährleistet. Das Konzept schlägt folgende neun Punkte für einen guten und er‐ folgreichen, geschäftlichen Verhandlungsverlauf vor: 1. „Freundliche Begrüßung mit positivem Start: ‚Ich freue mich ...’ 2. Sofort zum Thema kommen: ‚Es geht ja um ...’ (Nur einen Satz!) 3. Offene Frage: ‚Wie sehen Sie die Sache?’, ‚Was schlagen Sie vor?’ 4. Zuhören und freundliches Interesse zeigen. 5. Zusammenfassen und zurückspiegeln: ‚Wenn ich Sie richtig verstanden habe, dann ...’ 6. Eigenen Standpunkte darstellen: ‚Meiner Meinung nach ...’, ‚Ich sehe das anders und zwar ...’, ‚Mir geht es um ...’ 7. Zug um Zug zur Lösung: ‚Wenn Sie ..., dann biete ich Ihnen ...’, ‚Was bieten Sie mir, wenn ich Ihnen ...?’, ‚Ich schlage vor ...’, ‚Gut, diese Forderung kann ich Ihnen erfüllen. Dafür bitte ich Sie um ...’ 8. Fazit: ‚Dann einigen wir uns also auf ...’, ‚Ich fasse noch mal zusammen ...’, ‚Dann ma‐ chen wir es also so ...’
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9. Positiver Abschluss: ‚Ich freue mich, dass wir damit zu einem guten Ergebnis gekom‐ men sind.’, ‚Sie haben es mir nicht leicht gemacht, aber auf dieser Basis können wir gut zusammenarbeiten.’, ‚Ich finde, so haben wir beide das Bestmögliche erreicht’“(S. 100). Aus interkultureller Sicht ist zu diesem Ablaufprozess zu bemerken: 1. In den meisten Ländern/Kulturen reicht eine freundliche Begrüßung nicht aus. Vor Verhandlungsbeginn muss es ausgiebig Gelegenheit zum gegenseitigen Kennenlernen und zum Vertrauensaufbau geben, z. B. durch intensiven Smalltalk, Essens‐ Einladungen, Besichtigungen. 2. Sofort zum Thema zu kommen ist schon deshalb nicht akzeptabel, weil erst einmal das soziale Umfeld, die soziale und strukturelle sowie hierarchische Einordnung der an den Verhandlungen beteiligten Partner geklärt werden müssen. Erst allmählich und manchmal nur indirekt kommt das eigentliche Verhandlungsthema ins Spiel. 3. Zu direkte, offene Fragen zu den zur Diskussion stehenden Sachverhalten und zu mög‐ lichen Problemlösungen sind zu vermeiden und auch sinnlos, da darauf keine, oder wenn doch, eher nur ausweichende nichtssagende Antworten gegeben werden. Vor Publikum, in der Öffentlichkeit, sagt keiner so direkt seine Meinung zu Sachverhalten und Problemlösemöglichkeiten, denn diese entwickeln sich erst im Verlauf der Ver‐ handlungen. 4. Zuhören und freundliches Interesse zeigen sind wichtig. 5. Zusammenfassen und zurückspiegeln ist sinnvoll, aber nicht eingeleitet mit: „Wenn ich richtig verstanden habe ...“, denn das könnte als Kritik am Partner aufgefasst werden im Sinne von: „Da Sie sich unverständlich ausgedrückt haben, fühle ich mich gezwun‐ gen, noch einmal nachzufragen!“ Vielmehr sollte die Anrede lauten: „Könnten wir eventuell Folgendes als Resultat unserer bisherigen Gespräche festhalten ...?“ 6. Den eigenen Standpunkt klarmachen ist sinnvoll und notwendig, aber zugleich ist zu signalisieren, dass man für Abweichungen aufgeschlossen ist und auch auf Verände‐ rungen flexibel reagieren kann. 7. Zug um Zug eine Vereinbarung anzustreben ist sicher sinnvoll, aber nur so, dass man immer noch Argumente in der Hinterhand hat, um Blockaden aufzulösen und Zusatz‐ angebote machen zu können. So wird das auf jedem „Basar“ erwartet. Wer zu schnell alle seine Karten auf den Tisch legt im Vertrauen darauf, dass der andere ihm folgen wird, hat schon verloren. 8. Eine Übereinstimmung im Sinne eines Fazits kann man mithilfe entsprechender Fragen herbeiführen und dann festhalten. 9. Der Vertragsabschluss wird nicht nur verbal dokumentiert, sondern mehr oder weni‐ ger festlich begangen und das unter Beteiligung möglichst aller Personen, die von den Konsequenzen aus dem Vertrag direkt betroffen sind. Das alles kann sich womöglich lange hinziehen.
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Bei allen vertragsbezogenen Gesprächen und Interaktionen sollte mehr noch als in dem oben dargestellten Konzept für die Erreichung eines guten Gesprächsverlaufs immer wie‐ der das „Wir“, also das gemeinsame Ziel, der gemeinsame Weg und der gemeinsame Nut‐ zen betont werden. Auf diese Weise vermeidet man schädliche Asymmetrien in Bezug auf Engagement für die Sache (Commitment), Macht, Ansehen, Einfluss und Gewinn. Für Verhandlungen unter interkulturellen Interaktionsbedingungen ist es wichtig zu wis‐ sen, welche Bedeutung der Partner einem Vertrag und den in ihm festgeschriebenen De‐ tails beimisst. Für deutsche Fach‐ und Führungskräfte sind Verträge absolut bindend und das bis in alle Details. Das Nicht‐Einhalten vertraglich festgelegter Verpflichtungen hat Strafzahlungen und eventuell sogar gerichtliche Auseinandersetzungen zur Folge. Für Partner aus anderen Kulturen sind vertragliche Vereinbarungen zwar auch bindend, aber nur solange, wie die gegebenen Verhältnisse und Bedingungen, die aber immer im Wandel begriffen sein können, das Einhalten der Vereinbarungen zulassen. Ändern sich die Bedin‐ gungen, so gehen die Partner davon aus, dass gemeinsam überlegt und versucht wird, die entstandenen Probleme zu lösen. Der Vertrag ist in ihren Augen mehr als nur eine Liste mit einzuhaltenden Verpflichtungen. Der geschlossene Vertrag ist zugleich eine gemein‐ sam akzeptierte und gemeinsam zu tragende Vereinbarung, zusammenzustehen und auf‐ tretende Probleme unter Aufbietung aller Kräfte und Ressourcen gemeinsam zu lösen. Dazu passt es nicht, einen Partner wegen nicht eingehaltener Verpflichtungen zu verkla‐ gen. Dolmetscher werden wie im dritten Beispielfall immer noch meist nur als Sprachüberset‐ zer eingesetzt, anstatt sie als Experten für das fremdkulturelle Orientierungssystem zu nutzen. Gerade Dolmetscher können als Kulturvermittler wirken, wenn sie die Kulturen beider Verhandlungspartner kennen und wenn sie zum Vermitteln fähig sind und dazu befugt werden. Gerade im Kontext von Verhandlungen ist die Kenntnis der eigenen deutschen Kultur‐ standards (Schroll‐Machl, 2007) und die in der jeweiligen Gastkultur handlungswirksam werdenden Kulturstandards von großem Nutzen zur Vorbereitung, Durchführung und Evaluation jeder Art von Verhandlungen (Thomas, ab 2001).
Weiterführende Literatur: Kammhuber, S. (2005): Interkulturelle Verhandlungsführung, in: Thomas, A./Kinast, E.‐U./Schroll‐ Machl, S. (Hrsg.), Handbuch interkulturelle Kommunikation und Kooperation, Bd. 1: Grundlagen und Praxisfelder, 2. Aufl., Göttingen, S. 287‐296. Kellner, H. (2003): Verhandeln, in: Auhagen, A. E./Bierhoff, H. W. (Hrsg.); Angewandte Sozialpsycho‐ logie. Das Praxishandbuch, Weinheim, Basel, Berlin, S. 88‐102.
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Unter Status versteht man das in einer Organisation und Gruppe bestehende Ansehen und die damit verbundenen Rechte, die offiziell oder inoffiziell einer Person zugestanden wer‐ den. Der Status einer Fach‐ oder Führungskraft ergibt sich aus ihrer Positionierung mit den Abstufungen von Qualifikation, Einkommen, Prestige und Machtbefugnissen. Ihr Status resultiert aus der relativen Position in Bezug auf die Gesamtgesellschaft und den Statuskri‐ terien. Bei etwa gleichem Statusniveau auf den Kriteriendimensionen ergibt sich eine Sta‐ tuskonsistenz, bei Diskrepanz stellt sich Statusinkonsistenz ein, z. B. wenn ein promovier‐ ter Akademiker als Taxifahrer arbeitet. In Bezug auf Veränderungen im Rahmen der Sta‐ tuskriterien kann es zu Statusgewinn und ‐verlust kommen. Zugeschriebener Status liegt vor, wenn einer Person aufgrund von Abstammung, Familien‐ oder sonstiger Gruppenzu‐ gehörigkeit unabhängig von eigenen Leistungen und Fähigkeiten ein bestimmter Status zugeschrieben wird. Davon zu unterscheiden ist der erworbene Status, der durch indivi‐ duelle Leistung, der damit erlangten sozialen Position und der damit verbundenen Wert‐ schätzung, z. B. durch Berufsstand und Branche, dokumentiert wird. Innerhalb sozialer Gebilde wie Gruppen wird derjenigen Person ein höherer Status zuge‐ sprochen, die am besten in der Lage ist, die Gruppe in ihrer Zielerreichung effizient zu unterstützen. „Der Status ist demnach eine bewertete Position innerhalb einer Gruppe; solche Personen, die zur Zielerreichung mehr beitragen, erhalten dafür einen höheren Status. Dieser Status wird aufgrund des Vorhandenseins bestimmter Merkmale attribuiert, die mehr oder weniger spezifisch oder diffus sein können, jedoch vom Gruppenmitglied als zielerreichungsrelevant angesehen werden“ (Fischer/Wiswede, 2002, S. 598). Dazu gehören vorrangig: 1. Erfolg in der Vergangenheit; 2. hoher Rang oder Dienststelle; 3. hohe persönliche Fähigkeit; 4. hohe spezifische Statusmerkmale; 4. hohe diffuse Statusmerkma‐ le; 5. hohe Selbstsicherheit; 6. ausgeprägte Gruppenorientierung; 7. häufige aktive Kom‐ munikation. Unter Rolle versteht man ein „Bündel von Erwartungen, die sich in einer gegebenen Ge‐ sellschaft an das Verhalten der Träger von Positionen knüpfen. (...) Insofern ist jede einzel‐ ne Rolle ein Komplex oder eine Gruppe von Erwartungen“. (Dahrendorf, 1965, S. 26) Die Rolle ist somit charakterisiert durch die Summe der von einem Individuum in einer be‐ stimmten Position versehen mit einem bestimmten Status erwarteten Verhaltensweisen, auf die das Verhalten anderer Gruppenmitglieder abgestimmt ist. Die Rolle hat die Funk‐ tion eines geordneten Modells von Verhaltensweisen relativ zu einer gewissen Position und Status des Individuums in einem aktiven Gefüge, also als ein Satz von Erwartungen (Rollenerwartungen) bezüglich des Inhabers einer Position. Rollenkonflikte entstehen dann, wenn Anforderungen aus unterschiedlichen Rollen an einem Rollenträger gestellt werden (Interrollenkonfikt) oder wenn innerhalb einer sozialen Rolle verschiedene Anfor‐ derungen entstehen und damit nicht alle Rollenerwartungen erfüllt werden können (Intrarollenkonflikt). Zudem ist zwischen formellen und informellen sozialen Rollen zu unterscheiden, verbunden mit verschiedenen Verbindlichkeitsgraden von Erwartungen.
A. Thomas, Interkulturelle Handlungskompetenz, DOI 10.1007/978-3-8349-6880-7_6,
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Schon aus den hier präsentierten Definitionen von Status und Rolle, die auf soziologischen und sozialpsychologischen Forschungen zu diesem Thema beruhen, ist zu erwarten, dass im Kontext interkultureller Kooperation von Fach‐ und Führungskräften im Auslandsein‐ satz Status und Rolle, ihre Zusammenhänge und Wirkungen weitgehend kulturspezifisch bestimmt sind. Als kritisch erlebte Interaktionssituationen und Verhaltensreaktionen der ausländischen Partner haben nicht selten ihre Ursache in einem sehr kulturspezifischen Verständnis von Status und Rolle und den damit traditionell verbundenen Verhaltenser‐ wartungen. Das trifft besonders für Kulturen mit stark ausgeprägten hierarchischen Struk‐ turen zu. Hofstede (1980) spricht von der universell verbreiteten Dimension der „Macht‐ distanz“. In den westlichen Industriegesellschaften beispielsweise herrscht eine niedrige Machtdistanz vor und in den asiatischen Gesellschaften demgegenüber eine hohe Macht‐ distanz. Am Beispiel von Werthaltungen hat Weidemann (1995) die sich daraus ergebenden Unter‐ schiede in Familie, Schule, Arbeitstätigkeit, Staat und Gesellschaft folgendermaßen be‐ schrieben:
Tabelle 6.1:
Vergleich von Werthaltungen in Gesellschaften mit niedriger und hoher Machtdistanz (nach Weidemann, 1995)
Gesellschaften mit niedriger Machtdistanz Gesellschaften mit hoher Machtdistanz In der Familie
‒ Kinder werden zur eigenen Willens‐ bildung erzogen ‒ Eltern werden eher wie Partner behandelt
‒ Kinder werden zum Gehorsam gegen‐ über den Eltern erzogen
In der Schule
‒ Schülerzentrierte Ausbildung (Eigen‐ initiative) ‒ Lernen heißt, einen Lerngegenstand kennenzulernen ‒ Kreative, erkenntnisbildende Lern‐ methoden
‒ Lehrerzentrierte Ausbildung (Ordnung) ‒ Lernen heißt, das persönliche Wissen des Lehrers zu übernehmen ‒ Reproduzierende Lernmethoden
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Gesellschaften mit niedriger Machtdistanz Gesellschaften mit hoher Machtdistanz Am Arbeitsplatz
‒ Hierarchie bedeutet Ungleichheit der Rollen aus funktionalen Gründen ‒ Mitarbeiter erwarten, dass sie in Ent‐ scheidungsprozesse einbezogen werden ‒ Tendenz zur Delegation von Aufgaben und Verantwortung ‒ Der ideale Chef ist ein fähiger Demokrat ‒ Mitbestimmung
‒ Hierarchie bedeutet existentielle Un‐ gleichheit ‒ Mitarbeiter erwarten Anweisungen und Vorschriften ‒ Tendenz zur Zentralisation von Ent‐ scheidungen und Verantwortung ‒ Der ideale Chef ist ein wohlwollender Autokrat (ein guter Vater) ‒ Autokratie
In Staat und Gesellschaft
‒ Machtgebrauch und Machteinsatz müs‐ sen legitimiert werden (Wahlen, Kompe‐ tenz) ‒ Gleiche Rechte für alle ‒ Regierungsform ist demokra‐ tisch/pluralistisch ‒ Ausgeprägte Parteienlandschaft, Partei‐ en der Mitte sind stark, extreme Links‐ und Rechtsparteien sind schwach ‒ Föderalismus
‒ Macht geht vor Recht, Macht ist vererb‐ bar, stützt sich z. T. auf Gruppen‐ oder Familienclans ‒ Mächtige genießen Privilegien ‒ Regierungsform ist autokratisch oder oligarchisch ‒ Parteienspektrum schwach ausgeprägt; starke Links‐ und Rechtsparteien, schwache ‒ Mitte
Die kulturell bedingten Schnittstellen, die nur mit einer hoch entwickelten interkulturellen Kompetenz adäquat bearbeitet werden können, sind z. B. für den Bereich Arbeitsplatz klar zu erkennen:
■ Mitarbeiter erwarten, bei Entscheidungsprozessen einbezogen zu werden – versus – Mitarbeiter erwarten Anweisungen und Vorgaben, und sonst nichts.
■ Aufgaben und Verantwortung werden delegiert – versus – Aufgaben und Verantwor‐ tung sind beim Chef zentralisiert.
Die handlungsrelevanten Konsequenzen für Fach‐ und Führungskräfte werden aus den folgenden Beispielen kritischer Interaktionssituationen deutlich und näher erläutert. Das 1. Beispiel „Die störrische Assistentin“ stammt aus einer Befragung deutscher Fach‐ und Führungskräfte in Indien über ihre Erfahrungen mit indischen Partnern. Das 2. Bei‐ spiel „Delegieren“ ist der Befragung deutscher Fachkräfte der Entwicklungszusammenar‐ beit in Indien über deren Erfahrungen im Umgang mit ihren indischen Partnern entnom‐ men. Diese Befragungen wurden zwar völlig getrennt voneinander im Rahmen unter‐ schiedlicher Forschungsprojekte durchgeführt, doch auf der Ebene von Kulturstandards
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wird in beiden Untersuchungen der Kulturstandard „Rollenkonformität“ als handlungsre‐ levant für eine Fülle von kritischen Interaktionssituationen definiert.
1. Beispiel „Die störrische Assistentin“ 1. Die kritische Interaktionssituation: „Herr Stockmeier ist Abteilungsleiter in einem großen Unternehmen in Indien. Er hat in seinem Büro eine Besprechung mit einem Geschäftskunden und bittet seine Assistentin Frau Sonam, ihnen einige Gläser für Wasser zu bringen. Sie erwidert darauf, das wäre kein Problem, gerade seien zwar keine Gläser greifbar, aber einer der Jungs wird sie aus der Küche holen, wenn er kommt. Herr Stockmeier will seinen Kunden aber nicht so lange warten lassen und bittet Frau Sonam daher, die Gläser selbst zu holen. Sie wirkt zwar etwas verunsichert, besteht dennoch darauf, dass der Laufbursche das macht, wenn er kommt. Herr Stockmeier wird ungeduldig. Er versteht nicht, warum sie die Gläser nicht holen will, und fragt sie, warum sie das nicht ausnahmsweise selbst ma‐ chen kann. Darauf wiederholt sie wieder den gleichen Satz. Herr Stockmeier ist genervt, bohrt aber nicht weiter nach.“ (Mitterer/Mimler/Thomas, 2006, S. 43) 2. Erläuterungen und Begründungen: „Frau Sonam verhält sich ihrer Position angemessen und erledigt nur Aufgaben, die ihrer Rolle als Assistentin entsprechen. Es ist in Indien sehr wichtig, dass jeder Mensch sich entsprechend seiner Rolle verhält und die Erwartungen erfüllt, die daran geknüpft sind. Um die gesellschaftlichen Hierarchiestrukturen nicht zu verletzen, muss jeder darauf ach‐ ten, nicht aus seiner Rolle zu fallen, da er sonst einen Gesichtsverlust riskiert. Es gehört nicht zu den Aufgaben einer Assistentin, die Gläser aus der Küche zu holen, denn für solche „niedrigen“ Arbeiten gibt es in indischen Firmen meist eine große Zahl an Laufbur‐ schen (so genannte Peons). Würde Frau Sonam nun dabei beobachtet werden, wie sie selbst die Gläser holt, wäre das vor den Kollegen sehr peinlich für sie. Obwohl ihr auch die Konfrontation mit ihrem Chef unangenehm ist, sieht sie in dieser Situation keine andere Möglichkeit, als sich seiner Anweisung zu widersetzen“ (S. 45‐46). 3. Lösungsstrategie: „In einer Situation wie dieser wäre es seitens des Vorgesetzten absolut falsch, die Assisten‐ tin zu dieser für ihre Stellung unangenehmen Aufgabe zu zwingen. Sie würde dabei nicht nur ihr Gesicht verlieren, es könnte ihr sogar passieren, dass die Laufburschen in Zukunft diese Arbeit nicht mehr erledigen, weil sie davon ausgehen, es sei ja scheinbar die Aufgabe der Assistentin. Herr Stockmeier müsste in einem solchen Fall damit rechnen, dass sein persönliches Verhältnis zu Frau Sonam dauerhaft gestört wäre. Es ist sogar denkbar, dass Frau Sonam kündigen würde, um auf diese Weise ihre Ehre wiederherzustellen. Wie in vielen asiatischen Kulturen ist es auch in Indien wichtig, dass man nicht ausschließlich darauf achtet, sein eigenes Gesicht zu wahren. Es wird auch erwartet, dass man ein Gespür dafür entwickelt, wie man andere Personen vor einem Gesichtsverlust bewahrt. Zwingt Herr Stockmeier seine Assistentin also, die Gläser zu holen, nimmt er ihr das Gesicht. Respektvolles und taktvolles Verhalten in einer solchen Situation wird einem Manager in
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Indien gedankt, indem die Mitarbeiter Vertrauen aufbauen und in kritischen Situationen bedingungslos hinter ihm stehen. Auch wenn Herr Stockmeier also das Verhalten nicht nachvollziehen kann, ist es die richtige Reaktion, sich zurückzuhalten und auf diejenige Person zu achten, die für die Aufgabe zuständig ist. Eine andere Möglichkeit wäre natür‐ lich, sich die Gläser selbst zu holen. Viele Expatriates versuchen, die starre Rollenvertei‐ lung aufzubrechen, indem sie vormachen, dass auch sie selbst im Notfall die ‚Schmutzar‐ beit’ erledigen. Sie hoffen dabei auf einen Nachahmungseffekt bei den Mitarbeitern. Nicht selten hört man aus dem Mund deutscher Führungskräfte Sätze wie: ‚Da hab ich dann selbst zum Besen gegriffen, damit sie sehen, dass man auch als Chef mal zupacken kann.’ Aus deutscher Sicht vermittelt eine solche Geste den durchweg positiven Eindruck eines ‚Krisenmanagers’, der den Zusammenhalt mit seinen Mitarbeiter stärken will und in Prob‐ lemsituationen selbst aktiv wird. Auf der anderen Seite ist es vorstellbar, dass bei einigen Mitarbeitern ein Umdenken erreicht werden kann, indem sie wahrnehmen, dass in inter‐ nationalen Firmen andere Regeln gelten. Vor allem junge Inder oder diejenigen, die im Westen studiert haben, orientieren sich ohnehin immer stärker an westlichen Arbeits‐ und Lebensformen. Hat man es andererseits bei seinen Mitarbeitern mit traditionellen Indern zu tun, riskiert man durch eine solche Aktion einen Gesichtsverlust, da man sich als Chef nicht seiner Rolle entsprechend verhalten hat. So kann es passieren, dass der Vorgesetzte durch sein unerwartetes Handeln bei seinen Mitarbeitern Respekt einbüßt und die hierar‐ chische Struktur ins Wanken gerät. Um das Verhalten eines Inders zu verstehen, sollte man sich also erst einmal darüber im Klaren werden, mit wem man es zu tun hat, aus welchen gesellschaftlichen und religiösen Schichten die Menschen kommen, was ihr Bildungshintergrund ist und welche Rolle sie damit in der Gesellschaft und in der Firma einnehmen“ (S. 46‐47).
2. Beispiel: „Delegieren“ 1. Die kritische Interaktionssituation: „Als Herr Lehmann seine Stelle als Leiter des indischen Büros einer Organisation antritt, fällt ihm eine Sache unangenehm auf: Die wissenschaftlichen Mitarbeiter delegieren vie‐ le Tätigkeiten, die sie auch selbst erledigen könnten, an die Sachbearbeiterinnen und diese schicken für jede Kleinigkeit die Hilfskräfte durch das Haus. Zum Beispiel wird eine Hilfskraft aus dem Erdgeschoss in den zweiten Stock gebeten, um ein Blatt Papier abzuholen, es in den ersten Stock zu tragen, eine Kopie zu machen und sie wieder im zweiten Stock abzuliefern. Für Herrn Lehmann ist das eine Verschwendung von Ar‐ beitskraft, denn nach seiner Ansicht könnte die Hilfskraft in dieser Zeit etwas Sinnvolle‐ res tun. Herr Lehmann fragt sich, warum die Hilfskräfte nur als Handlanger gesehen werden und keine eigenen Verantwortungsbereiche haben“ (Saure/Tillmanns/Thomas, 2006, S. 49). 2. Erläuterungen und Begründungen: „Durch das Delegieren von ‚niederen’ Arbeiten wird die Position des Ranghöheren ge‐ stärkt“ (S. 49).
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„‚Niedere’ Arbeiten bedeuten für Angehörige höherer Kasten eine rituelle Verunreinigung und dürfen daher nur von der Diener‐Kaste ausgeführt werden, der die Hilfskräfte ange‐ hören“ (S. 50). „Das Delegieren ‚niederer’ Tätigkeiten zeigt, dass es eine Person aufgrund ihres Status nicht nötig hat, diese Arbeiten selbst zu verrichten. Würde sie die Tätigkeiten selbst aus‐ führen, begäbe sie sich auf die Stufe des Rangniederen und könnte damit ihr Ansehen gefährden. Aus diesem Grund gehört es zum Beispiel für eine Familie zum guten Ton, sobald sie es sich leisten kann, ein Hausmädchen oder einen Bediensteten anzustellen“ (S. 50). „Höhere Angestellte kommen auch in der heutigen Gesellschaft meist aus höheren Kasten als Hilfskräfte. Angehörigen höherer Kasten ist es vorbehalten, Kopfarbeit zu leisten, wäh‐ rend Menschen aus unteren Kasten mit den Händen arbeiten müssen. Jeder Hindu hat seine ‚Kastenpflicht’ zu erfüllen, um gutes Karma für die nächste Erdenexistenz anzuhäu‐ fen. Der in der Kastenhierarchie Höherstehende würde sich mit dem Ausführen von nied‐ rigeren Tätigkeiten verunreinigen, während es für Niederkastige eine ‚gottgewollte’ Pflicht ist, dem Oberen zu dienen“ (S. 51). 3. Lösungsstrategie: „Herr Lehmann und die indischen Mitarbeiter denken und handeln nach völlig unter‐ schiedlichen Prinzipien: Für Herrn Lehmann stehen Zeit und Ökonomie im Vordergrund. Aus deutscher Sicht scheint es Wahnsinn zu sein, mehrere scheinbar unnötige Hilfskräfte zu beschäftigen. In einer deutschen Firma oder Organisation würden die Arbeitsplätze aus Kostengründen eingespart und die Hilfskräfte entlassen werden. Für die indischen Mitar‐ beiter ist status‐ und rollenadäquates Verhalten im Kontext des Kastenwesens oberstes Gebot. Eine Kündigung der Hilfskräfte würden sie als unsozial und unsensibel ansehen. Vor allem müssen sie die ungeliebten, unter ihrer Würde liegenden Arbeiten nun selbst verrichten. Das könnte ihren Status oder ihre rituelle Reinheit gefährden. Herr Lehmann würde dann als Vorgesetzter nur schwer akzeptiert werden. Für Herrn Lehmann gibt es verschiedene Verhaltensmöglichkeiten: Er könnte die Situation so akzeptieren, wie sie ist, und sich darüber freuen, dass er nicht selbst kopieren gehen muss und seinen Tee serviert bekommt. Arbeitskräfte sind in Indien nicht teuer, so dass ein paar zusätzliche Mitarbeiter der Organisation finanziell nicht schaden. Im „modernen Indien“, vor allem im städtischen Umfeld, ist es vielleicht einen Versuch wert, einen Wandel in der Organisationsstruktur herbeizuführen. Herr Lehmann könnte versuchen, mithilfe von Teambildungsworkshops den Wert und die Fähigkeiten jedes Mitarbeiters zu verdeutlichen. Er könnte die Hilfskräfte schulen und ihnen in Zusammen‐ arbeit mit den anderen Mitarbeitern Aufgaben mit mehr Verantwortung übergeben. Wenn diese Strukturveränderung funktioniert, erwächst daraus sicher eine große Bereicherung für die Organisation. Es ist aber auch möglich, dass die Hilfskräfte gar keine eigenen Ve‐ rantwortungsbereiche übernehmen wollen, weil sie diesen Zustand nicht kennen, sondern eher fürchten, ihr Dharma zu verletzen. Möglicherweise sind die Hilfskräfte auch Anal‐
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phabeten und wären anspruchsvolleren Aufgaben nicht gewachsen. Herr Lehmann sollte also vorsichtig vorgehen, da er sonst schnell als moderner Kolonialist gesehen werden kann, der den Indern die westliche Lebensweise aufzwingen will“ (S. 51‐52). 4. Kulturelle Verankerung des Kulturstandards „Rollenkonformität“: „An die Position eines Menschen ist eine Struktur von Erwartungen geknüpft, die seine Rolle in der gesellschaftlichen Hierarchie definieren. Jeder Mensch hat demnach verschie‐ dene Rollen – in der eigenen Familie oder im Arbeitsleben. Die Präsenz starker hierarchi‐ scher Strukturen in Indien bedingt auch die starren Rollendefinitionen. Erwartungs‐ und Verhaltensvorschriften, die mit einer Rolle verbunden sind, sind in Indien sehr klar abge‐ grenzt und werden strikt eingehalten. Dabei dienen Anpassung und Konformität als In‐ strumente der Aufrechterhaltung von Stabilität und harmonischer Ordnung in der Gesell‐ schaft. Rollengemäßes Verhalten garantiert Indern Anerkennung und Bestätigung ihres Status, das Verlassen der eigenen Rolle ist sozial nicht anerkannt und hat in vielfacher Hinsicht negative Konsequenzen: Die hierarchische Ordnung gerät aus dem Gleichge‐ wicht, was zu Rollenkonfusion und Disharmonie führt. Keiner weiß mehr so recht, wie er sich angesichts der veränderten Situation verhalten soll. Der Störenfried verliert dabei sein Gesicht und büßt sein soziales Ansehen ein. Im Arbeitsleben zeigt sich eine konformistische Haltung der Inder unter anderem in einer geringen Bereitschaft, Veränderung zu initiieren. Der Status quo wird selten in Frage ge‐ stellt, Verbesserungsvorschläge und neue Ideen müssen aus höheren Hierarchieebenen heraus angeregt werden. Doch auch dann macht die im Vergleich zu Deutschland sehr starre und unflexible Rollen‐ und Aufgabenverteilung strukturelle Veränderungen sehr schwer. Die Restrukturierung und Optimierung von Arbeitsabläufen zur Effizienz‐ und Produktivitätssteigerung ist daher oft problematisch. Ein Vorteil dieses Kulturstandards zeigt sich in der Aufrechterhaltung stabiler Strukturen und der klaren Verteilung von Zuständigkeiten. Dadurch herrscht ein hohes Maß an Ord‐ nung und harmonischem Miteinander und es kommt selten zu Rollenkonfusionen unter den Mitarbeitern. (...) Innerhalb der indischen Großfamilie hatte rollenkonformes Verhalten schon immer den Zweck, die Beziehungen zwischen den einzelnen Familienmitgliedern zu definieren, um auf diesem Weg für ein harmonisches Miteinander zu sorgen. Gehorsam und Anpassung an diese Rollenstruktur waren dabei Schlüsselelemente für das gemeinsame Leben mehre‐ rer Generationen unter einem Dach“ (Mitterer/Mimler/Thomas, 2006, S. 51‐53).
3. Beispiel: „Die Sitzordnung“ 1. Die kritische Interaktionssituation: „Nach drei Wochen anstrengender Verhandlungen fühlt sich Herr Konrad, Chef der deutschen Verhandlungsdelegation eines multinationalen Konzerns, verpflichtet, für seine chinesischen Partner ein Bankett zu veranstalten. Er bereitet dazu alles genau vor, stellt mit der Hotelleitung das Menü zusammen und legt auch durch Tischkärtchen die
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Sitzordnung fest. Er selbst hat großes Interesse, neben einem chinesischen Ingenieur zu sitzen, der ihm durch sein detailreiches Fachwissen besonders aufgefallen war und mit dem er ins Gespräch kommen möchte. Eine halbe Stunde vor Beginn des Bankettes erscheint der chinesische Dolmetscher, überprüft die Sitzordnung und verändert sie nach seinen eigenen Vorstellungen. Herr Konrad ist über dieses Vorgehen sehr befremdet und fühlt sich brüskiert. Als er den Dolmetscher wegen seines ihm eigenmächtig erscheinenden Handelns zur Rede stellt, erhält er zur Antwort: ‚Das ist bei uns so üblich!‘ Herr Konrad versteht das alles nicht.“ 2. Erläuterungen und Begründungen aus chinesischer Sicht: „Zur Erklärung der Situation aus chinesischer Sicht sind zwei Ebenen zu unterscheiden, nämlich die Bedeutung der Sitzordnung bei öffentlichen Anlässen und die Behandlung des ausländischen Gastes (in diesem Falle Herrn Konrad) in der Rolle des Gastgebers durch die chinesischen Gäste, vertreten durch den Dolmetscher. Chinesen haben eine sehr spezifische und traditionell verankerte Vorstellung, wie eine dem sozialen Rang und Status adäquate Sitzordnung bei einem Bankett auszusehen hat. Nach chinesischer Kulturtradition werden Sitz‐ und die Tischordnungen nicht nach indi‐ viduellen Vorlieben festgelegt, sondern nach der den Gästen gebührenden Rangordnung. Die bestehende Rangordnung innerhalb einer Gruppe, zwischen Gruppen und zwischen einzelnen Gruppenvertretern bedürfen der Bestätigung im Sinne einer Vergewisserung und der äußeren Dokumentation dadurch, dass sie bei öffentlichen und halb öffentlichen Anlässen durch entsprechende Sitz‐ und Tischordnung und für alle sichtbar in Erschei‐ nung treten. Eine Missachtung dieses, für die Schaffung und Festigung der sozialen Har‐ monie bedeutsamen, Ordnungsprinzips führt zu einem Gesichtsverlust aller an diesem öffentlichen Ereignis beteiligten Personen. Zunächst verliert der Gastgeber sein Gesicht dadurch, dass er die soziale Rangordnung seiner Gäste missachtet. Die unterhalb ihres Ranges platzierten Gäste verlieren ihr Gesicht, da sie nicht gebührend geehrt werden. Die über dem ihnen zustehenden Rang platzierten Gäste verlieren ihr Gesicht dadurch, dass sie sich ungebührlich stark in den Vordergrund stellen und ihnen nicht zustehende Plätze einnehmen. Und schließlich, alle, die dieses unwürdige, alle traditionellen Regeln des höflichen, gesitteten, anständigen und harmonischen Umgangs miteinander missachten‐ den Schauspiels anschauen müssen – auch wenn sie als Individuen direkt nicht davon betroffen sind –, fühlen sich beschämt und unwürdig behandelt. Da der Dolmetscher Herrn Konrad diesen Gesichtsverlust ersparen will, ändert er die Sitzordnung, selbst auf die Gefahr hin, von Herrn Konrad zurechtgewiesen und getadelt zu werden. Ein weiterer Punkt ist die angemessene Behandlung des ausländischen Gastgebers durch die chinesischen Gäste. Diesem Aspekt wird durch den Eingriff des Dolmetschers Rech‐ nung getragen, denn er hat nicht nur den Auftrag, dem Gastgeber einen Gesichtsverlust zu ersparen, vielmehr folgte er auch dem für Chinesen wichtigen Gebot der ‚Gastfreund‐ schaft’. Das Verhältnis zwischen Gästen und Gastgebern soll möglichst harmonisch und störungsfrei sein. Deshalb sind die Gäste gehalten, ‚dem Gastgeber Erleichterung zu ver‐ schaffen’. In der Bankettsituation sind die Chinesen die Gäste, insbesondere vertreten
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durch den Dolmetscher, der dafür zu sorgen hat, dass dem Gastgeber nach Möglichkeit keine Fehler unterlaufen, damit die sozialen Beziehungen zwischen Gästen und Gastgeber sich sozial verträglich und harmonisch entwickeln können.“ 3. Erläuterungen und Begründungen aus deutscher Sicht: „Der deutsche Manager, Herr Konrad, der zum Schluss seines Chinaaufenthalts seine chinesischen Gäste zu einem Bankett einladen will, organisiert die Interaktionssituation nach den ihm vorschwebenden Zielen sowie seinen Erfahrungen und Gewohnheiten mit ähnlichen gesellschaftlichen Veranstaltungen. Für Herrn Konrad ist das Bankett eine güns‐ tige Gelegenheit, sich einmal ausführlich mit dem von ihm so geschätzten chinesischen Ingenieur unterhalten zu können, um ihm auf diese Weise seine Wertschätzung zu vermit‐ teln und eventuell zu prüfen, ob er auf Dauer als verantwortungsvoller Mitarbeiter ge‐ wonnen werden kann. Er ist zudem daran interessiert, die Zeitdauer während des Ban‐ ketts mit interessanten und nützlichen Gesprächen zu füllen. Der deutsche Manager stellt seine persönlichen individuellen Interessen in den Vordergrund und erwartet, dass seine Gäste die Bankettsituation in ähnlicher Weise nutzen. Er organisiert das Bankett allein aus seiner Sicht. Dafür würde keiner der chinesischen Gäste Verständnis aufbringen, selbst dann, wenn der eine oder andere der chinesischen Gäste die Absicht von Herrn Konrad, ausgerechnet mit dem relativ unbedeutenden chinesischen Ingenieur zu sprechen, ver‐ stünde. Eine Sitzordnung der Bankett‐Teilnehmer nach den Vorstellungen von Herrn Konrad wäre für die chinesischen Gäste kein feierliches Abschiedsbankett, sondern eine einzige soziale Blamage für alle Beteiligten. Das Bankett‐Beispiel zeigt, dass die Schwierigkeiten des deutschen Managers im Umgang mit seinen chinesischen Partnern daher rühren, dass er sich ihnen gegenüber so verhalten hat, wie er es von zuhause, von Deutschland her, gewohnt war und wie es seinen eigenen Denk‐ und Deutungsmustern entspricht. In China gelten zur adäquaten Bewältigung der aus einer Einladung zu einem Bankett resultierenden zentralen Anforderungen andere Regeln und Normen als in Deutschland. Da offensichtlich beide Partner davon ausgehen, dass alle Menschen auf dieser Welt, zumindest aber Deutsche und Chinesen, diese Situati‐ on so organisieren und bewerten wie sie selbst, und da die Chinesen keine Kenntnisse über die typisch deutschen Organisations‐ und Bewertungsprinzipien besitzen und der deut‐ sche Manager über keine Kenntnisse der in China üblichen Organisations‐ und Bewer‐ tungsregeln verfügt, konnte der unausweichliche soziale Konflikt nur durch das schnelle und ‚rücksichtslose‘ Eingreifen des Dolmetschers verhindert werden.“ 4. Lösungsstrategie: „Stellen Sie Ihre chinesischen Mitarbeiter, die sich die Mühe machen, einen Tag lang Kreise zu malen, um die richtige Sitzordnung hinzubekommen, nicht als Drückeberger oder Lan‐ geweiler hin. Was Sie machen, ist Public Relations von höchster Qualität. Der mit der Tischordnung beauftragte Mitarbeiter sollte kompetent genug sein, die Bedeutung der Teilnehmer richtig einschätzen zu können, und vertraut genug mit ihnen sein, um Rück‐ fragen zu einzelnen teilnehmenden Personen zu stellen. Gehen Sie mit diesem Mitarbeiter sein Ergebnis durch und fragen Sie ihn, weshalb er gerade zu dieser Anordnung gekom‐ men ist. Sie werden dabei viel lernen können.
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Achten Sie darauf, dass die in der Hierarchiestufe etwa denjenigen der Chinesen entspre‐ chenden deutschen Führungspersonen am Kopf der Tafel sitzen. Generell machen Sie nichts falsch, wenn Sie sich an der höchsten präsenten Hierarchiestufe der Chinesen orien‐ tieren; jedoch können Sie an entscheidenden Punkten der Zusammenarbeit Ihrem Partner durch die Anwesenheit etwa der Vorstandsebene höheres Interesse und Achtung signali‐ sieren. Damit geben Sie diesem ‚Gesicht’. Leider kommt es immer wieder vor, auch bei im Chinageschäft erfahrenen Firmen, dass der ranghöchste deutsche Gastgeber die Tafel mit einer Entschuldigung (‚Die Termine!’) vorzeitig verlässt. Das ist eine grobe Ungeschick‐ lichkeit, denn es ist chinesische Tradition, dass derjenige, der die Tafel ausgerichtet hat, diese auch beendet. Die in Europa häufig anzutreffende Angewohnheit, dass jeder den Tisch verlässt, wann es ihm gerade passt, ist in China absolut undenkbar. Beendet ist das Bankett dann, wenn der Gastgeber dies, meist durch Aufstehen oder ein kurzes Schluss‐ wort, signalisiert, oft noch während Sie mit dem letzten Gang beschäftigt sind. Ein lang‐ samer Ausklang, ein gemütliches Bier oder Ähnliches im Anschluss sind unüblich. Sie werden sich nun fragen, wie man es einrichten kann, dass man während eines Banketts seine Partner persönlich kennenlernen kann. Doch das ist relativ einfach, denn die erste Orientierung bekommen Sie über die Positionierung der Sie interessierenden Personen. Daran können Sie schon ablesen, wie wichtig eine Person ist, ob Sie persönlich mit dieser Person Kontakt aufnehmen können oder ob Sie das an einen Ihrer Mitarbeiter delegieren oder besser einem Vorgesetzten überlassen sollten, der auf vergleichbarer Hierarchieebene steht. Für Chinesen ist die Position Ihrer Person innerhalb eines hierarchischen oder sozia‐ len Gefüges eine wichtige Information, die sie in ihrem weiteren Verhalten zu nutzen wis‐ sen. Lernen auch Sie, scheinbar unbedeutende Informationen (s. oben zu b) so zu interpre‐ tieren, damit Sie künftig Ihrer Stellung entsprechend agieren können. Stören Sie sich nicht an den für deutsche Ohren formelhaft und ritualisiert anmutenden Gesprächen, sondern nutzen Sie diese Gesprächsformen für sich selbst. Persönliches Kennenlernen in diesem geschäftlichen Rahmen heißt in China nicht, dass Sie Ihren Gesprächspartner besonders sympathisch finden müssen und Sie sich über aktuelle und private Themen geistreich austauschen sollten. Es mag Ihnen vielleicht indiskret erscheinen, nach Ehestand oder Frau und Kindern, nach der Marke und dem Preis Ihres Wagens oder Ähnlichem gefragt zu werden. Dabei geht es aber nicht darum, Sie persönlich auszufragen, sondern sich ein Bild von Ihrer gesellschaftlichen Stellung und Eingebundenheit zu machen. Es kommt auch nicht darauf an, zu jedem Punkt die ganze Wahrheit zu erzählen. Wenn Ihre Frau nicht mit nach China gereist ist, weil sie keine Lust dazu hatte, sollten Sie dies nicht so direkt aus‐ drücken, sondern nett umschreiben. Gestalten Sie die Unterhaltung ausgewogen, lassen Sie sich nicht zu Selbstdarstellungen hinreißen, hinter denen Ihr Gesprächspartner nur noch blass aussehen kann. Auch sollten Sie heftige Diskussionen etwa um politische Themen vermeiden. Vor allem bei öffentlichen Anlässen gibt es zu viele Zuhörer, als dass sich ein chinesischer Gesprächspartner dabei wohlfühlen könnte. Obendrein ist der beliebte deutsche Stil des argumentativen Schlagab‐ tauschs in China ungleich weniger beliebt, zumindest bei offiziellen Anlässen und im Umgang mit Ausländern“ (Thomas/Schenk/Heisel, 2008, S. 42‐44).
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5. Kulturstandard „Hierarchie“: „Es mag paradox klingen, aber die oft genannten hierarchischen Strukturen in China ha‐ ben in erster Linie nicht mit Unterordnung oder subjektiver, individueller Machtausübung zu tun. Die streng festgelegte Hierarchie, die sich in ausgefeilten Rangsystemen in der Beamtenschaft oder in Beziehungsstrukturen in der Familie manifestiert, bedeutet keine Unterscheidung der Menschen nach ihrem Wert, sondern ist eine rein formale Zuweisung des angemessenen Platzes im Ganzen. Die ausführlich beschriebenen Respekt‐ oder Unterwerfungsbezeugungen bedeuten somit keine Erniedrigung, sondern sind ein forma‐ ler Akt der Anerkennung der bestehenden sozialen Ordnung. Wie man in der Natur auch nicht eine kleine Pflanze als einer großen unterworfen ansehen würde, lässt sich eine sol‐ che Vorstellung auch nicht mit der traditionellen chinesischen Gesellschaftsordnung gleichsetzen. Denn letztendlich steht ein gemeinsames Gesetz über allem, wie die Naturge‐ setze über den natürlichen Erscheinungen. Durch die eigene Herabsetzung fühlt man sich nicht zweitklassig in seinem Wert als Mensch, sondern man fügt sich an seinem rechten Platz ein und erhält erst dadurch seinen Wert als menschlicher Teil im Ganzen. (...) Mit der Einbindung in die kosmische Ordnung durch die strikte Einhaltung der Etikette wird dies gewährleistet, und so wird die soziale Harmonie hergestellt. Der Fürst oder Kaiser an oberster Stelle einer solchen Hierarchie kann selbst auch nicht eigenmächtig oder willkürlich handeln, sondern muss sich möglichst so in den Regie‐ rungsablauf einbinden, dass man ihn gar nicht bemerkt. Er ist zwar das Zentrum absoluter Autorität, aber diese soll er nicht eigenmächtig ausüben, sondern den Untergebenden als (moralisch gute) Nährquelle dienen. Dieses Kaiserideal hat wesentliche Züge der daoistischen Lehre in sich aufgenommen. Der Daoismus fordert die absolute Einbindung des Einzelnen in die natürlichen Abläufe der Welt und des Kosmos. ‚Tue nichts, und alles wird getan’ ist der bekannteste Leitsatz der Daoisten, dem im Idealfall auch der Kaiser folgen soll. Denn jede Aktion bedeutet eine Einwirkung und Beeinflussung von Vorgän‐ gen, die selbst schon an sich gut und ideal sind, und kann insofern nur eine Verschlechte‐ rung des Status quo bedeuten. Das lässt sich nach chinesischer Auffassung auch auf die Regierungslehre übertragen. Wenn man den gesellschaftlichen Kräften ihren Lauf und ihre freie Entfaltung lässt, werden sie sich zu einem harmonischen Ganzen einbinden. Voraus‐ setzung hierfür ist aber, dass sich alle Kräfte an ihrem zugewiesenen Platz befinden und diesen behalten“ (Thomas/Schenk/Heisel, 2008, S. 44‐45). In diesem Beispiel wird die öffentliche Bedeutung von Status, Rang und Rolle und deren Sichtbarmachung vor Publikum erkennbar. Da Status und Rolle fragile soziale Merkmale sind, die Personen zugeschrieben werden und als soziale Konstrukte das Resultat einer kollektiven sozialen Bestimmungsleistung sind, müssen sie besonders in stark hierarchisch organisierten Gesellschaften immer wieder betont, bekräftigt, erhalten, dokumentiert und zur Schau gestellt werden. Für Fach‐ und Führungskräfte im Auslandseinsatz ist es des‐ halb wichtig zu wissen, wer oben und wer unten steht, was den Oberen und Unteren legi‐ timiert, diesen Status einzunehmen, welche Rollenerwartungen an den oben und den un‐ ten Stehenden gestellt werden und wie sie zu erfüllen sind und schließlich, wann die Gele‐ genheit gekommen ist respektive günstig ist, den oben Stehenden und unten Stehenden in
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seinem Status und seiner Rolle öffentlich zu bestätigen. Auch Rang‐ und Machtkonflikte lassen sich durch entsprechende Arrangements, gleichsam indirekt, ohne dass ein „böses“ Wort fällt, sondern nur durch Rangplatzierungen thematisieren und lösen. Wichtig ist dabei, die Zeichen zu erkennen und richtig deuten zu können. Das ist natürlich von Kultur zu Kultur unterschiedlich. Selbst in modernen Industrieländern wie z. B. Deutschland, den Niederlanden und Norwegen, in denen vielfach Hierarchien verflacht und Statusmerkma‐ le aufgelöst wurden, spielen sie immer noch, wenn auch versteckt, eine Rolle, obwohl ihre Existenz offiziell negiert wird. So konnte aus dem Befragungsergebnissen deutscher Ma‐ nager in Norwegen der Kulturstandard „Verdeckte Hierarchien“ (Pahlke/Thomas, 2009) und in den Niederlanden der Kulturstandard „Flache Hierarchie“ (Schlizio/Schürings/ Thomas, 2009) ermittelt werden. Zum Kulturstandard „Verdeckte Hierarchie“ in Norwe‐ gen heißt es: „Das stark egalitäre Ideal der norwegischen Gesellschaft fordert eine nicht‐ hierarchische Form der Unternehmensorganisation. So ergibt sich eine geringe Akzeptanz für sichtbare Rangunterschiede innerhalb der Gesellschaft. (...) formale Positionen oder Titel haben deswegen in Norwegen weniger Bedeutung als in Deutschland. (...) Das Orga‐ nigramm, in dem die organisatorischen Einheiten eines Unternehmens sowie deren Auf‐ gabenverteilung, Kompetenzen und Kommunikationsbeziehungen abgebildet sind, ist zum größten Teil nur eine Formalität ohne große Bedeutung. Stattdessen werden Ent‐ scheidungsbefugnisse häufig flexibel und direkt delegiert, zum Beispiel an eine Niederlas‐ sung oder innerhalb der Administration, ohne dass dies im Organigramm sichtbar wird. Das heißt jedoch nicht, dass die Vorgänge ungeregelt dem ‚Zufall’ überlassen sind, nur die Regelmechanismen sind nicht unmittelbar sichtbar. Um dem Ideal der Gleichheit und der flachen Hierarchien zu entsprechen, bedient man sich in Norwegen anderer Prinzipien zur Entscheidungsfindung als in Deutschland. Nor‐ wegen ist eine kleine Nation, so dass die Führungskräfte innerhalb der Betriebe sowie unternehmensübergreifend einen sehr persönlichen Umgang pflegen können. ‚Man kennt sich’ und die hohe Qualität der sozialen Beziehungen und die Übersichtlichkeit schaffen Vertrauen. Über dieses persönliche Kennen kann auf kurzen Wegen vieles geregelt werden und es besteht nicht die Notwendigkeit, mit Formalitäten zu operieren, Verantwortlichkei‐ ten schriftlich abzusichern und innerhalb der Hierarchie oder nach außen sichtbar seinen hierarchischen Rang zu kennzeichnen. Die Führungsebene ist plurifunktional, denn in einer so kleinen Gesellschaft muss man flexibel sein und unterschiedliche Führungsaufga‐ ben ausführen können (Generalistentum). Vieles wird in Form von Projektarbeit geleistet und die Vorgehensweise ist oft sehr pragmatisch. Wer mit der jeweiligen Angelegenheit vertraut ist, wird unabhängig von seiner Position in der Hierarchie mit einbezogen. Das schafft einen hohen Grad an Flexibilität und Spontaneität in den Abläufen. Durch gute und flexible Zusammenarbeit – so die Überzeugung – kommt man gemeinsam zu effektiven Ergebnissen. (...) zusätzlich zu den vorhandenen formalen und delegierten Verantwort‐ lichkeiten spielen die soziale Kompetenz, das Ansehen einer Person sowie die persönli‐ chen Netzwerke teilweise die wichtigste Rolle für die reale Machtverteilung innerhalb einer Gruppe. Der Einfluss ist stärker, je intensiver der persönliche Kontakt zwischen den Gruppenmitgliedern ist. Denn Voraussetzung für erfolgreiches Arbeiten ist neben den fachlichen Fähigkeiten des Mitarbeiters seine Kompetenz, einen eigenen Beitrag zur har‐ monischen Zusammenarbeit in der Gruppe zu leisten. Durch die Hierarchieabneigung
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wird das Rollenmuster der Norweger nicht dadurch bestimmt, dass man seinen Platz in der Hierarchie kennt und sich gemäß diese Rolle verhält, sondern es gilt, sich als gesamte Person im kommunikativen Prozess der Zusammenarbeit einzubringen. Aufgrund der geringen Bedeutung der formalen Hierarchie erhält man durch das Innehaben einer Posi‐ tion nicht automatisch auch Autorität, Einfluss und Macht. Eine Position im Kollektiv muss man sich durch Einsatz fachlicher und sozialer Fähigkeiten und Leistungen erst erarbeiten“ (S. 55‐57).
4. Beispiel: „Die enge Freundschaft“ 1. Die kritische Interaktionssituation: Herr Schmid ist seit einem Jahr für sein deutsches, weltweit tätiges Traditionsunter‐ nehmen aus der Elektroindustrie in China tätig. Er ist zusammen mit einem chinesi‐ schen Partner Leiter eines großen Werks für Elektromotoren, das aus einem Joint Ventu‐ re hervorgegangen ist. Da sein Auslandseinsatz für fünf Jahre geplant ist, hat er seine Frau mit nach China genommen. Beide bemühen sich darum, nicht nur Kontakte zu an‐ deren Deutschen und Ausländern in der Wohnkolonie zu pflegen, sondern auch mit Chinesen in Kontakt zu kommen. Alle so genannten Chinaexperten haben ihnen deut‐ lich gemacht, dass es keine engen persönlichen Kontakte zu Chinesen gibt. Freund‐ schaftliche Beziehungen im deutschen Sinne sind zwischen Ausländern und Chinesen schon deshalb nicht möglich, weil Chinesen solche Bemühungen nur unter dem Aspekt der Nützlichkeit für den eigenen Vorteil betrachten. So richtig konnten und wollten die Schmids das aber nicht glauben. An einem warmen Sommertag sind die Schmids nun im Sommerpalast in Peking auf ei‐ ner Parkbank tatsächlich mit einem chinesischen Ehepaar ins Gespräch gekommen, das etwa so alt war wie sie und auch eine akademische Ausbildung hatte. Sie tauschten Visi‐ tenkarten aus, luden sich gegenseitig ein und unternahmen schon nach kurzer Zeit ge‐ meinsame Ausflüge am Wochenende. Aus Sicht der Schmids hatten sie allmählich ein richtiges Freundschaftsverhältnis zu dem chinesischen Ehepaar aufgebaut und hatten damit zugleich die Bedenken ihrer Auskunftspersonen mit all ihren Chinaerfahrungen widerlegt. Das Freundschaftsverhältnis lief schon über ein gutes Jahr, bis an einem Samstagnach‐ mittag Herr Chang plötzlich von den Plänen seines Sohnes sprach, Medizin zu studie‐ ren. Sie diskutierten eine Zeit lang darüber, ob das eine sinnvolle Entscheidung sei, und das Ehepaar Schmid erfuhr, dass in China die Eltern bei Berufs‐ und Partnerwahl doch ein viel entscheidenderes Mitspracherecht haben als in Deutschland. Beim Verabschie‐ den fragte Herr Chang mehr nebenbei Herrn Schmid, ob sein Sohn wohl Medizin in Deutschland studieren könnte und was dazu erforderlich wäre. Herr Schmid erklärte ihm, dass dieses Studienfach einer strengen Aufnahmeregelung unterliege und es selbst für deutsche Bewerber nicht so einfach sei, einen Medizinstudienplatz zu bekommen. Beim nächsten Treffen wurde die allgemeine Studienproblematik in Deutschland noch etwas weiter vertieft.
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Einige Wochen später stellte Herr Chang an Herrn Schmid direkt die Bitte, die aber mehr als Frage geäußert wurde, ob er seinem Sohn einen Studienplatz für Medizin in Deutschland besorgen könnte. Herr Schmid antwortete: „Nein, das kann ich leider nicht! Auf die Aufnahmeregelungen und den Auswahlprozess habe ich keinerlei Ein‐ fluss, das weiß ich sicher.“ Herr und Frau Chang schwiegen und verabschiedeten sich schnell. Wieder ein paar Wochen später sprach Frau Chang das Thema der Studienwahl ihres Sohnes nochmals an und betonte, welch gute Noten ihr Sohn aus der Schule mit nach Hause gebracht habe, und erklärte dem Ehepaar Schmid anhand der mitgebrachten Zeugnisse ihres Sohnes das chinesische Schul‐ und Leistungsbeurteilungssystem. Dieses Gespräch endete mit dem Hinweis, wie gut es doch wäre, wenn ihr so begabter Sohn in Deutschland Medizin studieren könnte. Nun erläuterte Herr Schmid etwas ausführli‐ cher das deutsche Studiensystem mit seinen fächerspezifischen Aufnahme‐ und Aus‐ wahlpraktiken für die Zulassung zum Studium. Die Changs hörten aufmerksam zu und gaben dann zur Antwort: „Nun kennen wir uns doch schon so lange und wir verstehen uns so gut, wir sind zu Freunden geworden und deshalb bitten wir Euch, für unseren Sohn einen Medizinstudienplatz in Deutschland zu besorgen. Das ist unser Herzens‐ wunsch!“ Herr Schmid antwortete darauf: „Aber ich habe Euch doch schon vor Wochen gesagt, dass das nicht möglich ist, und heute habe ich Euch ausführliche Erläuterungen zum Aufnahmesystem an deutschen Hochschulen gegeben. Ihr seht doch, dass ich dies‐ bezüglich absolut nichts tun kann.“ Herr und Frau Chang schweigen und verabschieden sich bis in einer Woche. Für die beiden nächsten Treffen aber entschuldigen sich die Changs, weil sie private Verpflichtungen haben. Es ist das erste Mal, dass die Changs nicht wie verabredet zu den gemeinsamen Treffen kommen. Zwei Monate später nach einem erneuten gemeinsamen Wochenendausflug legte Frau Chang ein Sparbuch ihres Sohnes auf den Tisch mit einer für ihre Verhältnisse hohen Sparsumme mit der Bemerkung: „Ihr habt wohl die Befürchtung, dass unser Sohn den Studienaufenthalt nicht finanzieren kann, aber hier seht Ihr, wir haben seit vielen Jahren so fleißig gespart, dass die Kosten gedeckt sind. Es geht nur um den Studienplatz.“ Herr Schmid schwankte zwischen Verzweiflung und Verärgerung. Wollen oder können die das nicht verstehen? Schließlich antwortete er: „Ich würde gerne helfen, aber das geht nicht. Ich habe Euch ausführlich erklärt, warum ich hier keine Unterstützung leisten kann“. Das Ehepaar Chang schwieg, verabschiedete sich schnell und liess sich nicht mehr bli‐ cken. Sie sind und bleiben wie vom Erdboden verschluckt. Die Schmids haben nie mehr etwas von ihnen gehört. Die Schmids sind natürlich enttäuscht und verärgert, aber ver‐ standen haben sie das Verhalten der chinesischen „Freunde“ nicht. 2. Erläuterungen und Begründungen aus deutscher Sicht: Herr und Frau Schmid wollten den berufsbedingten Auslandseinsatz in China nutzen, um etwas von dem Gastland und seinen Bewohnern kennenzulernen. Sie wollten nicht, wie die meisten anderen Deutschen, nur mit Landsleuten oder anderen ausländischen Exper‐ ten im Ausländergetto verkehren, sondern auch mit Chinesen private Kontakte pflegen.
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Sie glaubten auch nicht, dass dies nur dann gelingen könnte, wenn man bereit ist, sich von den chinesischen „Freunden“ für deren Zwecke „ausnutzen“ zu lassen. Sie hielten diese Auffassung für ein unzutreffendes Vorurteil. Bestätigt fühlten sie sich in ihrer Meinung, als sie das Ehepaar Chang kennenlernten. Das waren so freundliche und zugängliche Chi‐ nesen, dass es eine Freude war, mit ihnen die Wochenenden und freien Stunden zu ver‐ bringen. Allmählich hatten die Schmids das Gefühl, wirkliche chinesische Freunde gefun‐ den zu haben. Da alle ihre deutschen Bekannten behauptet hatten, mit Chinesen könne man keine Freundschaft im engeren Sinne schließen, da solche Beziehungen von Chinesen nur zum eigenen Vorteil genutzt würden, fühlten sie sich darin bestätigt, dass sie eben mit ihrer ganz persönlichen Art der sozialen Kontaktpflege und mit ihrer Hochachtung vor der chinesischen Kultur doch in der Lage sind, unter Chinesen wirkliche Freunde zu finden. Das bestärkte und aktivierte ihr Selbstwertgefühl. Ihr Verhältnis zu China wurde im posi‐ tiven emotionalen Sinne verstärkt. Sie fühlten sich allmählich heimisch und den auf sie zukommenden Anforderungen beruflich wie privat bestens gewachsen. Sie schafften die Anpassung an die neue Situation nicht nur gut, sondern auch noch besser als die anderen. Die erste Diskussion über ein Medizinstudium in Deutschland betrachteten sie einfach als Diskussionsthema wie die bisherigen auch. Die Bemerkung, dass der Sohn von Familie Chang Medizin studieren wollte, war für die Schmids ein Thema, dass alle Eltern bewegt, und sie konnten dabei noch lernen, wie chinesische Eltern damit umgehen. Die direkte Bitte um Unterstützung bei der Beschaffung eines Studienplatzes in Deutschland war für sie ein verständliches Anliegen, weil alle Eltern alles für das Fortkommen ihrer Kinder unternehmen, nur konnten sie in diesem Fall nicht helfen. Erst als die Changs, trotz aus‐ führlicher Begründung der abschlägigen Antwort, nicht lockerließen und, ohne auf diese Argumente einzugehen und sie zu beachten, weiter um Unterstützung für einen Medizin‐ studienplatz in Deutschland baten, wurden sie unsicher. Wirkliche Freunde mussten doch bereit sein, ihnen zu vertrauen, dass sie die Wahrheit sagten und wirklich keine Hand‐ lungsmöglichkeiten zur Verfügung hatten. Aber offensichtlich glaubten die Changs ihren Worten nicht. Als sie dann schließlich nicht mehr erschienen und ohne Ankündigung und Begründung nichts mehr von sich hören ließen, wurde den Schmids klar, dass sie nur ausgenutzt worden waren und die so genannte Freundschaft nur ein Versuch war, über sie an einen Medizinstudienplatz in Deutschland heranzukommen. Irgendwie konnten sie das alles immer noch nicht verstehen. Wie konnte das Vertrauensverhältnis, das sich zwischen ihnen und den Changs entwickelt hatte und das über einen sehr langen Zeitraum, so schnell zu Bruch gehen? Warum glaubten die Changs ihnen nicht? Warum hatte es zu den vorgetragenen Begründungen für die notwendige Ablehnung des Wunsches keine Diskus‐ sion gegeben? Immer hatten die Changs nur geschwiegen! Das Ehepaar Schmid blieb enttäuscht und ratlos zurück. 3. Erläuterungen und Begründungen aus chinesischer Sicht: Es ist durchaus möglich, dass Herr und Frau Chang gezielt auf der Suche nach einem Ausländer waren, der für ihren Sohn einen Medizinstudienplatz im Ausland besorgen könnte, und froh waren, schließlich auf Herrn und Frau Schmid zu treffen, zu denen sie dann zunächst einmal ein vertrauensvolles Verhältnis aufbauten, damit ihre Bitte Gehör
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finden würde. Es kann aber auch sein, dass die Changs noch gar keine konkreten Pläne hatten, sondern einfach froh waren, im Sommerpalast auf die netten Schmids zutreffen, die bereit waren, sich so angeregt mit ihnen zu unterhalten. Die gemeinsamen Freizeitunter‐ nehmungen sahen sie als Ehre an, sie fühlten sich geschmeichelt und waren froh, auf so interessante und aufgeschlossene Personen getroffen zu sein, die auch noch aus dem rei‐ chen „Westen“ und dem so wichtigen Deutschland kamen. Von denen konnte man etwas über „die Welt draußen“ erfahren. Zudem war Herr Schmid ein so weit gereister Mann und in einer so verantwortungsvollen Position in Deutschland und in China, dass er viel zu erzählen hatte. Frau Schmid hatte zwei Kinder großgezogen, die nun schon studierten und sich auf Berufe in technischen Bereichen vorbereiteten. Herr und Frau Chang waren überglücklich, wenn sie mit den Schmids gemeinsam etwas unternehmen und über beide Paare interessierende Probleme miteinander sprechen konnten, auch wenn die Verständi‐ gung über eine für alle fremde Sprache, Englisch, erfolgen musste. Erst vor diesem Hinter‐ grund reifte dann möglicherweise der Gedanke, für ihren Sohn einen Medizinstudienplatz in Deutschland zu besorgen und dazu die Schmids um Unterstützung zu bitten. Aus Sicht der Changs könnten die Schmids diese Bitte eigentlich nicht ausschlagen, einmal wegen der engen freundschaftlichen Beziehungen und der bereits erfolgten „Sozialinvestitionen“, die sie getätigt hatten, und zum anderen, weil die Schmids ja sicher über weitreichende (Netzwerk‐)Beziehungen in Deutschland verfügten. Für sie sollte das Besorgen eines Me‐ dizinstudienplatzes sicher kein Problem sein. So kam es, dass sie das Studienplatzthema zunächst einmal allgemein ansprachen in der Erwartung, dass die Schmids dann ahnten, worum es ihnen ging, und von sich aus Unter‐ stützung anbieten würden. Als die erwarteten Reaktionen ausblieben, versuchten sie, das Thema direkt mit dem Studienplatzwunsch ihres Sohnes zu verbinden. Umso größer war für Herrn und Frau Chang das Erstaunen, wie direkt und abrupt ihre Bitte durch Herrn Schmid abgelehnt wurde. Sie erklärten sich das damit, dass die Dringlichkeit ihres Wun‐ sches noch nicht recht verstanden worden war. Aber selbst nachdem sie Herr Schmid sehr deutlich auf ihren Wunsch nach Unterstützung angesprochen hatten, lehnte er immer noch ab. Vielleicht stellte er die Qualifikation ihres Sohnes, ein Medizinstudium erfolgreich absolvieren zu können, in Frage. Also wurden die Zeugnisse vorgezeigt und erläutert, aber ohne Erfolg. Als die Changs schließlich mit der Präsentation des Sparbuchs klarzumachen versuchten, dass die Studienkosten auch gesichert sind, und doch wieder eine Absage von Herrn Schmid erhielten, waren sie ratlos. Wenn ein so angesehener Mann wie Herr Schmid, mit einem so hohen Status und so vielen Verbindungen, in einer so wichtigen beruflichen Position in China, sich weigert, ihnen, mit denen er doch so enge freundschaftliche Beziehungen pflegte, bei der Erfüllung des Studi‐ enwunsches ihres Sohnes zu helfen, dann war doch die Freundschaft nur vorgespielt. Die Schmids wollten sich nur auf Kosten der Changs ein paar schöne Wochen machen und über sie China näher kennenlernen, dachten aber im Traum nicht daran, sie bei einem so wichtigen Anliegen zu unterstützen. Das so harmonische Beziehungsverhältnis ist zerstört, die Schmids haben ihr Gesicht ver‐ loren und mit solchen Menschen kann man doch keinen Umgang pflegen.
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Den Changs fehlt zum Verständnis der Verhaltensweisen von Herrn und Frau Schmid das erforderliche Hintergrundwissen. Herr Schmid weiß, dass er keinerlei Möglichkeit hat, dem Sohn seiner chinesischen Freunde einen Medizinstudienplatz in Deutschland zu be‐ sorgen. Das sagte ihnen auch klipp und klar und begründet seine Entscheidung und damit ist für ihn der Fall abgeschlossen. Aber die Changs können nicht verstehen, dass ein so bedeutsamer Mann, der Leiter der Niederlassung eines weltweit bekannten deutschen Unternehmens in China ist, nicht fähig sein soll, einen Studienplatz in Deutschland zu beschaffen. In China wäre das doch auch kein Problem. 4. Lösungsstrategie: Für Herrn Schmid ist der Wunsch der Changs gut nachvollziehbar. Etwas Besseres könnte dem Sohn der Changs nicht passieren, als in Deutschland ein Medizinstudium zu absol‐ vieren. Dann wäre er in seinem Heimatland als Arzt hoch angesehen und könnte es zu etwas bringen. Auch die schulischen Leistungen des Sohnes und die finanziellen Grundla‐ gen der Familie Chang stimmen. Aber Herr Schmid weiß, dass er aus sachlichen Gründen dem Wunsch der Changs nicht entsprechen kann. Deshalb wäre es gerade ihnen, als seine neuen engen Freunden, gegenüber unredlich und verantwortungslos, ihnen vorzugaukeln, er könne sie unterstützen. Damit würde er doch nur Hoffnungen wecken, von denen er jetzt schon weiß, dass er sie nicht erfüllen kann. So denkt Herr Schmid und handelt ent‐ sprechend konsequent sachlich. Aus Gründen der Freundschaft und des Erhalts der freundschaftlichen Beziehungen wäre es sinnvoll gewesen, Herr Schmid hätte von Anfang an seine Hilfe angeboten, wenn auch mit dem Hinweis auf die Schwierigkeiten und seine begrenzten Handlungsmöglichkeiten. So hätte er auf Informationsmöglichkeiten bei der deutschen Botschaft in Beijing und beim Deutschen Akademischen Austauschdienst hinweisen oder auch ansprechende Informati‐ onen besorgen können. Auf der Basis dieser Informationen hätte er die Möglichkeit, einen Studienplatz in Deutschland zu bekommen, mit den Changs diskutieren können. Er hätte sich auch bemühen können herauszufinden, ob es ähnliche Fälle gegeben hat, die erfolg‐ reich verlaufen sind. So hätten die Changs gesehen, dass Herr Schmid sich einsetzt für ihr Anliegen und sich alle Mühe gibt, ihnen behilflich zu sein. Selbst wenn am Ende eines langen Prozesses des Recherchierens, Suchens und Probierens sich doch keine Studien‐ platzmöglichkeit ergeben hätte, wäre er in den Augen der Changs noch ein enger Freund geblieben, der alles getan hat, um ihren Wunsch zu erfüllen. Die Harmonie wäre erhalten geblieben und die freundschaftlichen Beziehungen wären womöglich noch enger gewor‐ den. Hier fehlte Herrn Schmid eine gehörige Portion Einfühlungsvermögen und Fantasie, eine Konfliktsituation für alle beteiligten Personen produktiv zu meistern.
Weiterführende Literatur: Rosenstil, L. v. (2009): Die Arbeitsgruppe, in: Rosenstil, L. v./Regnet, E./Domsch, M. E. (Hrsg.): Füh‐ rung von Mitarbeitern. Handbuch für erfolgreiches Personalmanagement, 6. Aufl., S. 317‐335, Stutt‐ gart. Sader, M. (2002): Psychologie der Gruppe, 8. Aufl., Weinheim.
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Soziale Wahrnehmung, also die Wahrnehmung des sozialen Bereichs oder die Wahrneh‐ mung von Ereignissen im sozialen Bereich, ist zweifellos eine alltäglich zu erbringende Leistung. Die dabei ablaufenden Prozesse sind aber hoch komplex und bestimmt vom Zusammenspiel wahrgenommener Signale und deren kognitiver Verarbeitung. Bei der Erfassung von Personen, sozialen Ereignissen, Gegenständen und Räumen spielen zu‐ nächst einmal Erwartungen, basierend auf bisherigen Erfahrungen eine zentrale Rolle; gefolgt von Merkmalszuordnungen (Attributionen) und Erklärungen für das Zustande‐ kommen von Ereignissen und Verhaltensweisen (Kausalattributionen). All diese Prozesse sind für sich genommen bei allen Menschen gleich. Sie gehören zur Grundausstattung menschlichen Lebens. Aber die Inhalte und Resultate der Wahrnehmungs‐ und Attribu‐ tionsvorgänge sind kulturspezifisch determiniert. Grundsätzlich dienen diese Prozesse sozialer Wahrnehmung dem Bestreben des Men‐ schen, seine Umwelt zu verstehen und zutreffende Vorhersagen über das Verhalten seiner Mitmenschen und sozialer Ereignissen treffen zu können. Dazu legt er sich Strukturen, speziell Wissensstrukturen, zurecht, die seinem Streben nach Verständnis und Vorhersage dienlich sein können, und überprüft ihre Wirksamkeit im Alltagsleben unter Berücksichti‐ gung der kulturell geprägten Normen, Werte und Regelsysteme. Die Funktion solcher Wissensstrukturen, die so etwas wie eine Theorie darstellen, besteht darin, schnell einen ganzheitlichen Eindruck von dem sozialen Umfeld zu gewinnen und zwar so, dass eine schnelle Antizipation des Verhaltens der Interaktionspartner möglich wird. Dazu werden Schemata ausgebildet, die die Aufmerksamkeit auf bestimmte, relevante Aspekte der sozi‐ ale Umwelt lenken und die Aufnahme kanalisieren. Auf diese Weise hat jeder ein Begrü‐ ßungsschema für bestimmte Personengruppen ausgebildet, das er sich im Verlauf seines individuellen Entwicklungsprozesses angeeignet hat und das von den in seiner Kultur geltenden Regeln und Etiketten bestimmt ist. Das „Begrüßungsschema“ legt auch fest, wie die aufgenommenen Informationen zu interpretieren sind, und erleichtert das Abrufen und Wiedererinnern von Informationen über die soziale Umwelt. „Der Eindruck, den sich eine Person von ihrem Interaktionspartner macht, (wird also) im Wesentlichen von dem Schema bestimmt, das im Beobachter aktiviert wurde. Welches Schema aktiviert wird, hängt davon ab, wie sehr das Wahrnehmungsobjekt den Personen ähnlich ist, die bisher das Schema aktiviert haben, es hängt von der Motivationslage des Beobachters ab und von den situativen Kontextbedingungen. Die Funktion der impliziten Persönlichkeitstheorie besteht für den Beobachter darin, von wahrgenommenen Persönlichkeitseigenschaften auf andere Merkmale der Person zu schließen. Er kann damit also seinen Informationsstand über die Eigenschaften der beobachteten Person erheblich erweitern und Zusammen‐ hangsstrukturen zwischen sonst unverbundenen Einzelinformationen herstellen“ (Tho‐ mas, 1991, S. 171‐172). Weiterhin ist zu berücksichtigen, dass motivationale und situative Faktoren die Aktivierung von Wissensstrukturen und die Art der eingesetzten Schemata bestimmen. So leiten Ziele und Motive die Suche nach Informationen und bestimmen den
Thomas, Interkulturelle Handlungskompetenz, DOI 10.1007/978-3-8349-6880-7_7, A. © Gabler Verlag | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Wahrnehmungs‐, Interpretations‐, Entscheidungs‐ und Handlungsverlauf. Unter dem Aspekt der situativen Einflussfaktoren spielt die zeitliche Reihenfolge der Informations‐ aufnahme eine wichtige Rolle. Die zuerst aufgenommenen Informationen bestimmen näm‐ lich das Bild einer zu beurteilenden Person nachhaltig, indem sie die weiteren Informatio‐ nen beeinflussen (Primacy Effect). Der im Verlauf eines Begegnungsprozesses zuletzt ent‐ stehende Eindruck (Recency Effect) bestimmt wesentlich das bleibende und wiedererin‐ nerte Bild einer Person. Weiterhin spielt die Zentralität von Merkmalen eine wichtige Rol‐ le, zum Beispiel ob eine Person eine eher zugängliche oder zurückhaltende Art hat. Beson‐ ders auffällige positive oder negative Faktoren prägen zusätzlich die Eindrucksbildung. Alle hier aufgeführten Besonderheiten im Prozess der sozialen Wahrnehmung und Ein‐ drucksbildung kommen in ihrer kulturspezifischen Bedeutung in den folgenden Beispielen zur Wirkung.
1. Beispiel: „Der Empfang“ 1. Die kritische Interaktionssituation: Kurz nach seiner Ankunft in dem deutsch‐chinesischen Joint‐Venture‐Unternehmen in Peking lädt der deutsche Geschäftsmann Müller seinen chinesischen Kollegen zum besse‐ ren Kennenlernen zu sich nach Hause ein. Nachdem Herr Chang am Couchtisch Platz genommen hat, entwickelt sich folgendes Gespräch: Herr Müller: „Herr Chang, darf ich Ihnen eine Tasse Kaffee anbieten?“ Herr Chang: „Nein danke, das ist nicht nötig!“ Herr Müller: „Ach, mein Gott, das habe ich völlig vergessen, Sie trinken ja hier in China gar keinen Kaffee, Sie trinken sicher lieber eine Tasse Tee.“ Herr Chang: „Nein, bitte, machen Sie sich keine Mühe! In China wird aber durchaus Kaffee getrunken.“ Herr Müller: „Ja, wissen Sie, in unserer Familie ist es ganz unüblich, Tee zu trinken. Aber ich werde sicherlich noch irgendwo etwas Tee auftreiben und meine Frau wird ihn dann für Sie zubereiten.“ Herr Chang: „Nein, bitte, machen Sie sich meinetwegen keine Mühe!“ Herr Müller: „Also, Sie wollen gar keinen Tee. Ja, was kann ich Ihnen denn sonst anbie‐ ten, vielleicht einen Orangensaft?“ Herr Chang: „Nein, bitte, ich möchte Ihnen keine Umstände bereiten.“ Herr Müller: „Ja, aber Sie müssen doch, denke ich, nach der langen Busfahrt hierhin und bei dieser Hitze, die draußen herrscht, durstig sein. Soll ich Ihnen vielleicht ein Glas Wasser reichen?“ Herr Chang: keine Antwort. Herr Müller: „Ja, das ist sicher das Beste gegen den Durst, ein Glas Wasser!“
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Herr Müller geht in die Küche und kommt mit einem Glas Wasser wieder. Herr Müller: „Es ist immer schwierig, in einem fremden Land mit für uns Deutsche so ungewöhnlichen Temperaturen herauszufinden, was man einem Gast zu trinken anbie‐ ten kann. Dass Sie keinen Kaffee trinken wollen, kann ich gut verstehen, denn als ich, nach unserer Ankunft am Flughafen, und dann noch einmal vor wenigen Tagen im Res‐ taurant einen Kaffee bestellt habe, ja, entschuldigen Sie, aber ich muss sagen, das ist ei‐ gentlich kein Kaffee, das ist mehr eine braune Brühe. Wir haben sicher gut daran getan, uns mit viel Kaffee aus Deutschland einzudecken. Wissen Sie, bei uns in Deutschland sind wir es gewohnt, hoch veredelten Bohnenkaffee zu trinken. Etwas anderes käme bei uns auch gar nicht auf den Tisch. Schade eigentlich, dass Sie gar keinen Kaffee trinken.“ Herr Müller hat das dumpfe Gefühl, dass hier irgendetwas schiefgelaufen ist. Aber was? 2. Erläuterungen und Begründungen aus deutscher Sicht: Herr Müller scheint Herrn Chang schon nach kurzer Zeit als einen sympathischen Kolle‐ gen einzuschätzen. Diese positive Beziehung möchte er durch eine Einladung zu sich nach Hause vertiefen. So kennt man das von Deutschen. Gerade wenn man die positiven zwi‐ schenmenschlichen Verbindungen vertiefen will, lädt man den Partner nicht irgendwo in ein Restaurant oder an einen sonstigen neutralen Platz ein, sondern zu sich nach Hause. Das ist ein Sympathiebeweis. Ob das auch von Herrn Chang so gesehen wird, erkundet Herr Müller gar nicht erst. Vielleicht wird man in China nur dann ins eigene Haus einge‐ laden, wenn man sparsam ist und nicht viel Geld ausgeben will, denn das kostet sicher weniger als eine Einladung in ein angesehenes Restaurant. Zudem lädt Herr Müller Herrn Chang alleine ein und nicht mit seiner Frau und seinen Freunden. Auch das könnte Herrn Chang irritiert haben. Darüber wird in der Situation aber nichts berichtet. Nun bemüht sich Herr Müller, seinen Gast Herrn Chang nach allen Regeln deutscher Eti‐ kette zu verwöhnen. Er geht sogar so weit, ihn bezüglich des deutschen und chinesischen Kaffeetrinkens ins Vertrauen zu ziehen und ihm zu signalisieren, dass er ihm natürlich den kostbar veredelten deutschen Kaffee anbieten würde, wenn er nur bereit wäre, Kaffee statt Tee zu trinken. Genau das aber gelingt nicht. So ganz befriedigend ist die Einladung aus Sicht von Herrn Müller nicht verlaufen, ir‐ gendwas hat gestört, was er aber nicht benennen kann, weil er die chinesischen Regeln der Gastfreundschaft und die zwischen Gastgeber und Gast zu beachtende chinesische Etikette nicht kennt. Ihm bleibt also nichts anderes übrig, als nach deutschen Regeln vorzugehen: a. Wenn man einem Gast nach einer beschwerlichen Anfahrt etwas zu trinken anbietet, erwartet man eine klare und eindeutige Antwort, aber nicht so eine unzureichende und unpassende, wie Herr Chang sie gegeben hat: „Nein, danke, das ist nicht nötig!“ oder „Machen Sie sich meinetwegen keine Mühe!“ b. Die Erläuterungen, die Herr Müller in einer für deutsche Verhältnisse recht vertrau‐ enserweckenden Weise zu dem ausführt, was eher gerade serviert oder nicht serviert, enthalten indirekte Vorwürfe oder stellen den Gast in ein ungünstiges Licht, wie: „Sie
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trinken ja hier in China keinen Kaffee!“ oder „Ich werde sicher noch etwas Tee auftrei‐ ben können.“ c. Das Einzige, was Herr Müller gut verstehen kann, ist die Tatsache, dass Herr Chang in seinem Land keinen Kaffee trinkt, weil er so schlecht oder gar ungenießbar ist. So ist es ein Glück, dass es auf der Welt noch etwas anderes gibt als diesen chinesischen Kaffee, nämlich veredelten Bohnenkaffee aus Deutschland. 3. Erläuterungen und Begründungen aus chinesischer Sicht: Herr Chang fühlt sich zunächst einmal geehrt, dass Herr Müller ihn einlädt. Aber so kurz nach der Ankunft in China, ohne dass eine längere Zeit zum gegenseitigen Kennenlernen vergangen ist, eingeladen zu werden, irritiert ihn. Führt Herr Müller etwas im Schilde, will er ihn für irgendetwas gewinnen oder einspannen? Auch die Tatsache, dass er nicht zum Essen in ein nobles Restaurant, das seinem Status entsprechen würde, eingeladen wird, irritiert ihn. Soll das etwa ein „geheimes Treffen“ sein oder hält Herr Müller ihn für nicht so wertvoll, dass er bereit ist, Geld für ein Essen auszugeben? Natürlich darf man ein Getränkeangebot nicht sofort annehmen. Bescheidenheit und Zu‐ rückhaltung ziemen sich als Gast. „Der Gast ist gehalten, es dem Gastgeber so leicht wie möglich zu machen!“, gebietet es die chinesische Etikette. So lehnt Herr Chang die Ange‐ bote ja auch nicht einfach nur ab, sondern immer mit der Begründung: „Machen Sie sich keine Mühe!“ Aber genau darauf geht Herr Müller nicht ein. Er fragt sich, wie es möglich ist, dass Herr Müller es dazu kommen lässt, dass er schließlich bei einem Glas Wasser landet. Herr Müller hat offensichtlich kein Einfühlungsvermögen und kein Gespür für die Bedürfnisse eines Gastes. Zudem erzählt er immer wieder, wie schlecht es in China ist und wie gut und hoch entwickelt sein Deutschland ist. Was soll man mit einem solchen Kolle‐ gen anfangen? Ich werde alles, was ich hier erlebt habe, vergessen müssen, denn er ist ja noch eine ganze Zeit lang mein Kollege und ich muss irgendwie mit ihm auskommen. Fachlich kann ich vielleicht etwas von ihm profitieren, aber Stil und Manieren hat er keine. 4. Lösungsstrategie: Das Beispiel zeigt, wie wichtig es ist, sich über die im Gastland üblichen Gebräuche bei geschäftlichen, halb geschäftlichen und privaten Einladungen zu informieren. Hätte Herr Müller gewusst, dass Chinesen so direkte Angebote aus Höflichkeit immer ablehnen müs‐ sen, wäre das Gespräch völlig anders verlaufen. Die Situation hätte sich leichter darge‐ stellt, wenn der dampfende Kaffee schon auf dem Tisch gestanden und Herr Müller be‐ gonnen hätte mit der Bemerkung: „Herr Chang, sollen wir gemeinsam mit einem Kaffee beginnen? Der Tee ist, wenn gewünscht, noch in der Zubereitung!“ Und dann langsam die Mimik von Herrn Chang beobachtend mit dem Einschenken begonnen hätte. Eventuell wäre danach die Zubereitung nicht nötig gewesen. Herr Müller hätte sich auch über die Tee‐Zubereitung oder die Kaffeetradition in China und Japan und die Tradition der chinesischen Küche unterhalten können. Auf diesem Wege wäre ihm vielleicht auch klargeworden, welche Hobbys Herr Chang pflegt und wofür er sich besonders interessiert. In diesem Fall wären bewertende Vergleiche zwischen
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chinesischen und deutschen Qualitäten von Getränken und Speisen vermieden worden, wie zum Beispiel: „Ich muss schon sagen, das hier ist eigentlich gar kein Kaffee, das ist mehr eine braune Brühe!“ Selbst wenn Herr Chang das auch so empfände, ist das aus seiner Sicht eine völlig inakzeptable Kritik. Wenn eine derart verunglückte persönliche Begegnungssituation aufgrund unterschiedli‐ cher Wissensstrukturen und kognitiver Schemata in Bezug auf (Erst)Begegnungs‐ situationen im privaten Kontext für Fach‐ und Führungskräfte auch nicht so dramatisch erscheinen mag, so darf einerseits die Wirkung des ersten Eindrucks nicht unterschätzt werden und andererseits die gravierenden Konsequenzen daraus, wenn nämlich solche Fehlwahrnehmungen, fehlerhaften Verhaltensinterpretationen und die daraus folgenden Handlungsvorgänge im „öffentlichen“ Raum stattfinden. Immer wieder sind Fach‐ und Führungskräfte gefordert, vor eigenem oder fremdem Publikum ihre Meinungen, ihre beruflichen Erfahrungen, ihre Ziele und Erwartungen an die Mitarbeiter, an Politiker und Repräsentanten der Gesellschaft darzulegen. Auch hier ist es wichtig, den richtigen Ton zu treffen, damit die zu vermittelnde „Botschaft“ verstanden und akzeptiert wird. Wie kom‐ plex sich diese Vorgänge im interkulturellen Kontext gestalten, zeigen die nachfolgenden Beispiele zum Thema Vortragseröffnung.
2. Beispiel: „Vortragseröffnungen“ Entsprechend dem ersten Eindruck (Primacy Effect), der die nachfolgenden Wahrneh‐ mungs‐ und Beurteilungsprozesse nachhaltig bestimmt, ist gerade der Vortragseröffnung besondere Aufmerksamkeit zu widmen. Hinzu kommt, dass hier jeder Redner versucht, die Zuhörer so zu beeinflussen, dass sie von ihm einen guten Eindruck bekommen und behalten. Diesem Prozess der Eindrucksgestaltung, des Impressionmanagements, ist be‐ sondere Aufmerksamkeit zu widmen. Sozialpsychologische Forschungen zum Impression‐ management haben gezeigt, dass allgemein von einem Selbstdarstellungsmotiv ausgegan‐ gen werden kann, das dazu führt, dass man bestrebt ist, seinen Selbstwert zu festigen und zu erhöhen und eine Übereinstimmung zwischen Selbstbild und sozialer Rückmeldung durch die Umwelt herzustellen. Insofern wird man bei dem Versuch, den Eindruck, den man bei anderen Personen hinterlässt, ausgeübt positiv zu beeinflussen, auch immer die beim Partner vermuteten Erwartungen berücksichtigen. Nach den weitgehend in den USA und Europa durchgeführten Forschungen zu Selbst‐ darstellungsformen lassen sich positive und negative Formen unterscheiden. Nach Fischer und Wiswede (2002) sind positive Selbstdarstellungsformen beispielsweise: auf eigene Vorzüge hinweisen; Selbstzuschreibungen von Leistungen und Titeln vornehmen; über‐ treiben; sich des Kontakts mit wichtigen Personen und Gruppen rühmen; die eigenen Kompetenzen und das eigene Expertentum herausstreichen; die eigene Bedeutung durch Kleidung und andere Symbole erhöhen; sich vorbildlich und glaubwürdig präsentieren; sich offen zeigen; sich einschmeicheln. Negative Selbstdarstellungsformen zielen, falls sie gezielt eingesetzt werden, darauf ab, durch übertriebenes Herabsetzen der eigenen Person beim Beobachter eine vorteilhafte Bewertung zu erreichen, also durch eine indirekte posi‐ tive Selbstdarstellung, wie: Man stellt sich als beeinträchtigt dar, übertreibt verbal, stellt sich als hilfsbedürftig dar, bedroht andere, schüchtert ein oder wertet andere direkt ab.
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Es liegt auf der Hand, dass sowohl negative wie positive Formen der Selbstdarstellung kulturspezifischen Regeln unterliegen und dass die hier aufgezeigten Verhaltensweisen keineswegs universell gültig sind. Die folgenden Beispiele zeigen, wie wichtig es für Fach‐ und Führungskräfte im Auslandseinsatz ist, über die in der jeweiligen Zielkultur vorherr‐ schenden Formen der Selbstdarstellung und der Partnererwartungen und ‐reaktionen informiert zu sein. Vom Publikum nicht akzeptierte Selbstdarstellungsformen bewirken unter Umständen genau das Gegenteil von dem, was die Fach‐ und Führungskraft zu erreichen versucht. 1. Die kritische Interaktionssituation: „Vortragseröffnung in Deutschland“ Eine deutsche Universität lädt den deutschen Professor Dr. phil. Josef Maier zum Gastvor‐ trag ein, zu dem über 100 Zuhörer gekommen sind. Herr Maier beginnt: „Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich werde Ihnen in der nächsten Stunde über die Ergebnisse meiner Forschungsarbeiten berichten. An der Universität Sauerland ver‐ trete ich die Fächer Sozialpsychologie und Organisationspsychologie. Seit einem Viertel‐ jahrhundert befasse ich mich wissenschaftlich mit dem Thema ‚Psychologie interkultu‐ rellen Handelns’. Unter diesem Themenkomplex sind alle meine Forschungsarbeiten einzuordnen. Bis heute habe ich in diesem Zusammenhang über 20 verschiedene einzelne Forschungspro‐ jekte durchgeführt, wie ich Ihnen auf dieser Folie präsentiere. Die dabei von mir erzielten wissenschaftlichen Befunde habe ich in zahlreichen Büchern und Zeitschriftenaufsätzen publiziert. Die früheren Arbeiten sind in der Publikations‐ reihe des ‚sozialwissenschaftlichen Studienkreises für internationale Probleme (SSIP)’ erschienen, in dem ich selbst über Jahrzehnte hinweg an maßgeblicher Stelle mitgewirkt habe. Neuerdings habe ich zudem in den renommierten deutschen Verlag Meister & Co. eine Publikationsreihe begründet zum Thema ‚Handlungskompetenz im Ausland’. Die ers‐ ten drei Bände von mir und meinen Mitarbeitern sind bereits erschienen; weitere Bände erfolgen in den nächsten Jahren. In meinem Vortrag werde ich nun über meine Forschungsergebnisse zur Handlungs‐ wirksamkeit von Kulturstandards berichten. Das Kulturstandardkonzept wurde vor 15 Jahren von mir entwickelt und seitdem in vielen von mir geleiteten wissenschaftlichen Arbeiten (Dissertationen und Diplomarbeiten) erprobt und weiter ausgebaut. Da ich diesen Vortrag schon mehrfach in ähnlicher Form, wenn auch mit anderen Schwer‐ punktsetzungen, gehalten habe, bin ich sicher, dass ich auch Ihnen einen interessanten Einblick in diese durchaus komplexe, aber auch hochaktuelle Thematik bieten kann.“ 2. Erläuterungen und Begründungen: Alles, was zu einem guten wissenschaftlichen Vortrag in Deutschland gehört, hat Herr Maier schon zu Vortragsbeginn dargelegt. Er hat seinen Zuhörern erklärt, was sie von ihm erwarten können, auf Basis welcher wissenschaftlicher Kompetenzen seine Ausführungen
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beruhen und welche Forschungsarbeiten und Publikationen seine Ergebnisse begründen. Die Darlegungen erfolgen in klarer, sachlicher Form und so weiß jeder seiner Zuhörer, auf was und auf wen er sich einzustellen hat. Sachbetonte und faktenbezogene Professionalität wird von ihm erwartet und diese Erwartungen bedient Herr Maier perfekt. Er erläutert seine eigenen Forschungsarbeitsleistungen, weist auf seine Publikationen hin, so dass sich die Zuhörer auch nach seinem Vortrag weiter informieren können und auf diese Weise einen zuverlässigen Eindruck von seiner Professionalität bekommen. Ein Vortragender muss allerdings darauf achten, dass seine einführenden Bemerkungen auf das Publikum nicht arrogant wirken und er eher als Angeber erscheint, der sich nur selbst lobt und zu sehr in den Vordergrund stellt. Der damit bei den Zuhörern erzeugte persönliche Eindruck würde sich negativ auf die Akzeptanz seiner wissenschaftlichen Ausführungen auswirken. Aber so weit lässt es Herr Maier in seinen einführenden Worten nicht kommen. 1. Die kritische Interaktionssituation: „Vortragseröffnung 1 in China“ Ein international hoch angesehener chinesischer Professor, der Deutsch spricht und sich in den deutsch‐chinesischen Beziehungen viele Verdienste erworben hat, beginnt seinen Vortrag folgendermaßen: „Ich freue mich, anlässlich der dritten Sitzung des Beirats des chinesisch‐deutschen Hochschulkollegs an der Tonji‐Universität zum Thema ‚Rückblick auf die Perspektive der deutsch‐chinesischen Beziehungen’ zu sprechen, ein Thema, das eine große Zeit‐ spanne umfasst und eine Fülle von geschichtlichen Ereignissen zum Inhalt hat. Einen so umfangreichen Vortrag zu halten, macht mich verlegen, besonders angesichts so vieler renommierter Professoren und kenntnisreicher Akademiker. Mir ist zumute, ‚wie einem Lehrling, der sich anmaßt, vor dem Meister mit den Äxten zu jonglieren’.“ 2. Erläuterungen und Begründungen: Der Professor drückt zunächst seine Freude darüber aus, dass er vor einem so hochrangi‐ gen Publikum einen Vortrag halten darf. Er weist auf die Komplexität und Reichhaltigkeit des Vortragsthemas hin, um dann seine Verlegenheit kundzutun, vor diesem hoch qualifi‐ zierten und so gut informierten Publikum das Thema entsprechend den Erwartungen umfangreich darlegen zu können. Um sich nun, im Sinne negativer Selbstdarstellungsfor‐ men nicht zu sehr in den Mittelpunkt zu stellen, greift er auf eine jedem gebildeten Chine‐ sen gut bekannte Redewendung zurück, mit der er auf indirekte Weise sich selbst als Lehr‐ ling und das Publikum als Meister bezeichnet, wohl wissend, dass dies nur bildlich und nicht wörtlich zu nehmen ist. Im Vortrag wird er dann deutlich werden lassen, wie viel er zum Thema zu sagen hat und dass die Zuhörer ihm nicht vergeblich zugehört haben. Die chinesische Etikette gebietet es aber, sich bescheiden zu geben, eigene Schwächen zu betonen, um so den Zuhörern viel Gesicht zu geben.
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Hier noch ein weiteres Beispiel aus China: 3. Die kritische Interaktionssituation: „Vortragseröffnung 2 in China“ „Herr Professor Wang, ein im In‐ und Ausland anerkannter und wohlbekannter Litera‐ turwissenschaftler, eröffnet seinen Vortrag vor Studenten an einer chinesischen Universität mit folgenden Worten: „Kommilitonen, ich begrüße Euch. Die Leitung der Fakultät für chinesische Sprache möchte, dass ich Euch allen etwas über Probleme im Bereich der klassischen Literatur‐ wissenschaft erzähle. Das beunruhigt mich sehr. Mein Niveau ist begrenzt, meine Kenntnisse sind dürftig. Aber ich bin schließlich Lehrer, und ich habe inzwischen auch einige Sachen geschrieben. Ich habe bei mir öfter junge Leute zu Besuch, die mich etwas fragen wollten. Dann habe ich denen immer etwas von meinen eigenen Erfahrungen er‐ zählt. Wenn sie auf Schwierigkeiten stoßen, gebe ich ihnen auch einen Rat. Heute werde ich einige Sachen, über die ich sonst auch schon mal gesprochen habe, hier mit Euch mal besprechen, die den Kommilitonen vielleicht ein paar Anregungen bieten könnten. Soll‐ te ich etwas Unrichtiges sagen, bitte ich Euch Kommilitonen, mich zu berichtigen.“ 4. Erläuterungen und Begründungen: Obwohl Status und Ansehen des Professors überhaupt nicht mit dem von Studenten ver‐ gleichbar sind, eröffnet er seinen Vortrag damit, dass er seine eigenen Leistungen schmä‐ lert. In China bedienen sich in der Rangordnung sehr hoch stehende Redner gern solch routinierter Sprachhandlungen, um bei den Zuhörern Aufmerksamkeit und Sympathie zu gewinnen. Bescheidenheit im Auftreten und in der Darstellung eigener Leistungen, das Zurücktreten hinter anderen als gewichtiger anzusehenden Persönlichkeiten und das Rela‐ tivieren der eigenen Aussagen, wie in diesem Beispiel geschehen, sind Voraussetzungen, um ein positives eigenes Image aufzubauen. Zudem bemüht sich der so berühmte interna‐ tional angesehene Literaturwissenschaftler, die Distanz zu den Studenten dadurch zu reduzieren, dass er ihnen seine Hilfe, wann immer sie benötigt wird, anbietet. Dabei ist allen klar, dass kein Student sich trauen würde, ihn um Rat zu fragen oder sogar ihn zu berichtigen, selbst wenn ihm im Vortrag offensichtlich ein Fehler unterlaufen ist. Das, was der Professor zu Beginn seines Vortrags sagte, ist also nicht wörtlich zu nehmen und es sind daraus auch keine Konsequenzen abzuleiten. Entscheidend ist allein die sym‐ bolische Bedeutung seiner Worte und die muss man herauszulesen verstehen, um den weiteren Verlauf seiner Ausführungen verstehen zu können. 1. Die kritische Interaktionssituationen: „Vortragseröffnung in den USA“ „Liebe Kolleginnen und Kollegen, meine Damen und Herren! Natürlich haben Sie mich längst als Texaner geortet, denn Sie sind, anders als wir Ame‐ rikaner, natürliche Sprachtalente. Als ich kürzlich mit einem englischen Farmer sprach und ihm eine Vorstellung davon geben wollte, wie meine Ranch in Texas ist, gab ich ihm folgendes Beispiel: ‚Wissen Sie, wenn ein texanischer Ranger mit seinem Traktor seinen Besitz abfährt, dann braucht er einen ganzen Tag.’ Darauf entgegnete mir der
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englische Farmer: ‚Ja, so einen Traktor hatte ich auch schon einmal.´ Sie sehen, kulturelle Missverständnisse sind nicht allein eine Frage akademischer Diskussion, sondern sie spielen sich im täglichen Leben ab. Ich hoffe, dass wir im Laufe dieser Tagung einen fruchtbaren Austausch von Gedanken, Konzepten und Projekten haben werden. Zu diesem Zweck habe ich eine Kurzfassung eines Vortrags vorbereitet und vervielfältigt, die Sie bitte nach dem Vortrag mitnehmen wollen. So brauchen Sie während meines Vortrags nichts aufzuschreiben, was ich sage, sondern können sich auf Ihre Einwände konzentrieren, die mir helfen können, ein wenig klüger zu werden. Da ich nun mal Amerikaner bin, versteht es sich von selbst, dass meine Ausführungen sozusagen per Mausklick zur Verfügung stehen; die entsprechen‐ den Adressen finden Sie in meiner Zusammenfassung. Was ich als Amerikaner an der Konzeption und dem methodischen Ansatz meines deutschen Kollegen so schätze, ist, dass er durch und durch pragmatisch ist, wenn es darum geht, Menschen aus unterschiedlichen Kulturkreisen beizubringen, miteinander auszukommen, indem man sie die Wirkungsweise von Kulturstandards erfahren lässt. Wie viele meiner amerikanischen Kollegen bin ich fest davon überzeugt, dass man viel in Form von Trainingsprogrammen lernen kann, was den so Trainierten in die Lage ver‐ setzt, in verschiedenen sozialen Kontexten angemessen zu funktionieren. Über die spe‐ ziellen Bedingungen und Grenzen dieses Verfahrens zu sprechen dürfte ihm Rahmen dieser Tagung wohl genügend Gelegenheit bestehen.“ 2. Erläuterungen: Für US‐Amerikaner ist es üblich, einen Vortrag mit zwei nicht direkt zum Thema gehö‐ renden Bemerkungen zu eröffnen. Einmal mit einer Bemerkung, die sich aus der aktuellen Vortragssituation ergibt, oder einer aus dem Rahmen, in dem der Vortrag stattfindet, abge‐ leiteten humoristischen Bemerkung, die das Publikum zum Schmunzeln bringt und da‐ durch die interpersonale Distanz zwischen Redner und Publikum minimiert, und zum anderen mit einem Kompliment an den Gastgeber und/oder die Zuhörer. Dabei spart der Redner nicht mit angemessenen Übertreibungen, um die Zuhörer für sich einzunehmen. Positives Feedback geben, erwarten und freudig entgegennehmen gehören für US‐ Amerikaner zu Selbstverständlichkeiten, auch ohne dass vorher eine lobenswerte Leistung erbracht wurde; loben, einfach nur so, weil es bei allen, den Gelobten und den Zuhörern, die Stimmung hebt und auf diese Art eine lockere, angstfreie, offene Atmosphäre geschaf‐ fen wird. Konsequenzen für Fach‐ und Führungskräfte: Je mehr die Art der Vortragseröffnung den kulturellen Traditionen der Zuhörer entspricht, je mehr sie sich durch ihnen vertraute Redewendungen angesprochen fühlen, umso auf‐ merksamer werden sie und umso kompetenter schätzen sie den Redner ein. Weicht die Vortragseröffnung zu sehr von dem ab, was der Zuhörer für akzeptabel hält, wie in den geschilderten Fällen der wissenschaftlichen Vorträge, dann setzt ein Prozess der personspezifischen Attribuierung ein. Der Zuhörer wird die Abweichung als eine profes‐ sionelle Schwäche des Redners interpretieren oder als Versuch des Redners ansehen, von
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seinen wissenschaftlichen Schwächen abzulenken. Deutsche Zuhörer fragen sich bei einem so selbstbescheidenen Auftreten chinesischer Redner, warum er denn überhaupt eingela‐ den wurde und einen wissenschaftlichen Vortrag anbietet, wenn er so inkompetent ist, wie er selbst behauptet. Sie werden die witzige Einlage, das starke Lob an den Gastgeber und die Zuhörer als Versuch interpretieren, Zeit zu schinden, da der Redner eigentlich nicht viel und nichts Wichtiges zu sagen hat. Zu beachten ist aber auch, dass ein Redner auch vor einem fremden kulturellen Publikum nicht versuchen sollte, so aufzutreten, wie es ein einheimischer Redner für gewöhnlich tut. Eine Kopie der kulturspezifischen Art der Vortragseröffnung kann niemand, der nicht aus der Kultur der Zuhörer stammt, überzeugend leisten. Zudem wird das auch nicht erwar‐ tet. Ein deutscher Professor, der vor chinesischem Publikum ständig bekennt, wie unerfah‐ ren er doch noch in der Behandlung der Thematik ist und wie sehr seine Zuhörer ihm wissenschaftlich überlegen sind, irritiert seine chinesischen Zuhörer und wirkt lächerlich. Allerdings kommen ein etwas bescheidenes, zurückhaltendes Auftreten und die Betonung des gemeinsamen Bemühens um die Analyse der angesprochenen Vortragsthematik bei chinesischen Zuhörern durchaus sehr gut an und wirken sympathisch. Es gibt kein Patentrezept für eine optimale Vortragseröffnung, da der Rahmen, in dem ein Vortrag stattfindet, die Vorkenntnisse und Erwartungen des Publikums sowie Ziel und Zweck des Vortrags immer unterschiedliche und sehr spezifische Merkmale aufweisen. Wichtig ist für Fach‐ und Führungskräfte, dass sie sich über die generellen Gewohnheiten und speziellen Erwartungen des Publikums informieren und sich bemühen, deren Ge‐ wohnheiten und Erwartungen so weit entgegenzukommen, dass keine irritierenden Dis‐ sonanzen beim Publikum entstehen, dass ihm Respekt entgegengebracht wird.
3. Beispiel: Geschenke und Eindrucksbildung Geschenke sind wohl überall auf der Welt ein beliebtes und erwartetes Mittel, einen posi‐ tiven Eindruck beim Gegenüber zu erzeugen. Kulturen haben nicht nur unterschiedliche Gewohnheiten in Bezug auf die Arten von Geschenken ausgebildet, sondern auch unter‐ schiedliche Handlungsweisen der Überreichung, der Akzeptanz sowie der Reaktionen auf Geschenke ausgebildet. Zudem unterliegt die Angemessenheit von Geschenken über die Zeit hinweg starken Veränderungen. Mit der Veränderung des Lebensstandards und der ökonomischen Bedingungen ändern sich meist auch die Werthaltigkeit und symbolische Bedeutung von Geschenken. Für Fach‐ und Führungskräfte ist es wichtig, sich bei orts‐ kundigen Personen frühzeitig zu erkundigen, welche Art von Geschenken für Partner mit welchem Status angemessen ist. Zu beachten ist auch, dass ein Geschenk als Belohnung für eine erbrachte Leistung, als Incentive für eine länger andauernde Zusammenarbeit oder als Anregung oder Bestätigung einer beabsichtigten Zusammenarbeit sowie als Bestätigung für eine persönliche Beziehung gedacht sein kann. Da Geschenke immer zu Gegenge‐ schenken auffordern, ist auf die Ausgewogenheit in Bezug auf die Möglichkeiten des Part‐ ners, ein Geschenk zu erwidern, zu achten. Ein sehr kostbares Geschenk, das nicht adäquat erwidert werden kann, erzeugt Macht‐ und Einflussasymmetrien, die kontraproduktive Wirkungen bezüglich der interpersonalen Beziehungen erzeugen können. Die kulturell
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bedingte Komplexität, die nicht nur mit der Auswahl angemessener Geschenke, mit der Reaktion auf die Geschenkübergabe und dem Versuch, sich den Geschenksitten des Part‐ ners anzupassen, verbunden sind, zeigen folgende Fallbeispiele: 1. Die kritischen Interaktionssituationen: Interaktionssituation 1: „Das ganz persönliche Geschenk“ Frau Meier hat bei ihrem beruflichen Einsatz in China eine sehr kompetente und enga‐ gierte chinesischen Teamkollegin kennengelernt. Nach einem Aufenthalt in Deutschland bringt Frau Meier dieser Kollegin ein, aus ihrer Sicht, ganz besonders ausgesuchtes Ge‐ schenk mit, nämlich einen Satz selbst gemachter Pralinen nach einem in ihrer Familie über Generationen hinweg vererbten Rezept. Ein solches Geschenk hatte sie in Deutsch‐ land nur an gute Bekannte und befreundete Personen überreicht und zwar als Zeichen besonderer persönlicher Wertschätzung und Verbundenheit und so war das Geschenk auch immer aufgenommen worden. Aber ihre Kollegin in China reagierte sehr irritiert. Ohne jede Regung und Anteilnahme nahm sie das Geschenk entgegen, brachte es kom‐ mentarlos in den Nachbarraum, und auf Hinweise, nach welchem traditionellen Rezept die Pralinen von Frau Meier hergestellt worden sind, reagierte ihre chinesische Team‐ kollegin mit Schweigen und unbewegter Miene. Ein Gespräch wie sonst üblich kam überhaupt nicht zustande. Nachdem sich nun Frau Meier viele Gedanken über die Gründe für das eigentümliche Verhalten gemacht hatte, die sie aber alle nicht recht be‐ friedigten, erfuhr sie mehr beiläufig, dass Chinesen selbst gemachte Geschenke eher als Beleidigung auffassen. Nach chinesischer Vorstellung signalisiert man damit, dass ei‐ nem der Partner nicht wertvoll genug erscheint, für ihn Geld auszugeben und ein Ge‐ schenk zu kaufen. Die Wertschätzung erfolgt über die „Kostbarkeit“ des Geschenks und nicht über das mit seiner Herstellung verbundene persönliche Engagement. Interaktionssituation 2: „Kein Wort des Dankes!“ Herr Kraus ist gerade dabei, sich in einen längeren Arbeitseinsatz in China einzuarbeiten, und berichtet: „In China habe ich gelernt, dass vieles, was ich als Selbstverständlichkeit im zwischen‐ menschlichen Umgang ansehe, hier nicht funktioniert. So bin ich über die Reaktionen der Chinesen beim Überreichen von Geschenken immer wieder irritiert. Wir sind es doch gewohnt, dass man sich für ein Geschenk, ob es einem gefällt und angemessen er‐ scheint oder nicht, bedankt. Mit Worten und Gesten geben wir dem Schenkenden deut‐ lich zu verstehen, wie sehr wir uns über das Geschenk selbst freuen und darüber, dass er so etwas Schönes und Wertvolles für uns ausgesucht hat. Eventuell gibt auch der Schenkende noch wichtige Informationen darüber, warum er gerade dieses und kein anderes Geschenk ausgesucht hat und was er sich dabei gedacht hat. Dieses Bedanken und freudig erregte Reagieren auf Geschenke geschieht sofort bei der Geschenküberga‐ be oder aber kurz danach, wenn z. B alle Gäste eingetroffen sind und sich eine günstige Gelegenheit bietet. Bleibt der angemessene Dank aus irgendwelchen Gründen aus, so muss er schriftlich oder mündlich, begleitet von entsprechenden Entschuldigungen,
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nachgeholt werden. Dieses Ritual ist bei uns Standard und unabhängig davon, ob einem das Geschenk gefällt oder nicht. Hier in China ist es auch Sitte, zu einer Einladung oder sonstigen Gelegenheit Geschenke zu überreichen. Aber hier werden sie kommentarlos entgegengenommen, ungeöffnet zur Seite gelegt und nie mehr erwähnt. Zu Anfang ha‐ be ich gedacht, der Gastgeber hat das Geschenk vergessen, und ich habe versucht, mit ihm darüber zu sprechen, zum Beispiel den Hintergrund meiner Auswahl zu erläutern, aber ohne Erfolg. Entweder er tat so, als hörte er mir nicht zu, schwieg, verschwand oder sprach mich auf ein völlig anderes Thema an, was mit dem Geschenk absolut nichts zu tun hatte. Ich fühlte mich missachtet und ausgegrenzt und empfand das Ver‐ halten des chinesischen Partners beleidigend. Ich war mir sicher, mit dem Geschenk wohl irgendetwas falsch gemacht zu haben, obwohl es nicht einmal ausgepackt worden war. Vielleicht, dachte ich, hat die Verpackung die falsche, womöglich unglückverhei‐ ßende Farbe. Erst meine chinaerfahrene Bekannte klärte mich auf, dass es in China nicht üblich ist, Geschenke auszupacken und verbal zu kommentieren. Hier spiele die Gefahr des Ge‐ sichtsverlustes gegenüber dem Schenkenden eine wichtige Rolle, so die verbreitete Er‐ klärung. Ob man mit seinem Geschenk die erhoffte positive Wirkung beim chinesischen Partner erzielt habe, erfahre man nicht von ihm mündlich, sondern durch die Art der materiellen und symbolischen Wertigkeit des Gegengeschenks. Erst im Zuge der Er‐ kundigungen, wie das Geschenk‐ und Gegengeschenksystem in China funktioniert und wie man ein Gespür dafür bekommt, ob ein Geschenk angekommen ist und vom Be‐ schenkten wie erhofft gewürdigt wird, ist mir klar geworden, wie komplex der Umgang mit Geschenken nicht nur in China, sondern auch bei uns ist. Vielleicht ist es sogar bes‐ ser und ehrlicher, Geschenke nicht zu kommentieren, als jedes Geschenk ganz gleich, ob man es für angemessen, zu niedrig oder zu hochwertig oder einfach scheußlich findet, überschwänglich zu loben und mit voller Begeisterung entgegenzunehmen.“ Nach einem weiteren Jahr in China erlebte Herr Kraus wieder einen für ihn erstaunli‐ chen Vorfall im Zusammenhang mit Geschenken. Er berichtet: „Ich hatte im Büro einen sehr qualifizierten Mitarbeiter, mit dem ich mich nicht nur fachlich, sondern auch privat gut verstand. Nach der Arbeit betrieben wir gemeinsam Sport und luden uns gegenseitig in wechselnden Lokalen zum Essen ein. Eine Firma hatte ihm zudem einen halbjährigen Aufenthalt in Deutschland finanziert, damit er un‐ ser dortiges Werk kennenlernen konnte, denn man hatte ihn in der Zentrale für die Übernahme weiterer Führungsaufgaben in China vorgesehen. Von seinem Deutsch‐ landaufenthalt war er begeistert, schwärmte von der vielfältigen Natur und von den netten Menschen, die er in Deutschland angetroffen hat. Von einer Geschäftsreise in die deutsche Zentrale brachte ich ihm ein Geschenk mit, ei‐ nen recht kostbaren Porzellanteller mit Motiven vom Münchener Oktoberfest, von dem er immer geschwärmt hatte. Als er mich unerwarteterweise zu sich nach Hause einlud, Chinesen laden einen ausländischen Gast für gewöhnlich in ein Restaurant ein, fand ich die Übergabe dieses Geschenks passend. Den Teller überreichte ich ihm in einer auf‐ wändigen Originalverpackung mit den Worten: ‚Hier habe ich Dir ein Geschenk aus
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Deutschland mitgebracht’, und erwartete, dass er es wie üblich unausgepackt und kommentarlos zur Seite legt. Aber diesmal war alles anders. Er drehte das Paket nach allen Seiten und suchte offensichtlich nach einer Öffnung. Schließlich riss er das äußere Papier mit Gewalt auseinander, raffte es zusammen und legte es in eine Sofaecke. Die Sicherheitsfolie und noch weitere Papiere, die das Geschenk umgaben, landeten eben‐ falls in der Sofaecke. So hatte sich schon ein recht beachtlicher Berg an Verpackungsma‐ terial angesammelt, als er den edlen, mit rotem Stoff ausgelegten Karton in der Hand hielt und den Deckel öffnete. Er betrachtete für circa zehn Sekunden den Teller, schloss dann den Deckel und legte das Paket auf den Papierhaufen obendrauf, sah mich schweigend an und fordert mich dann auf, doch von den Erdnüssen zu nehmen, die auf dem Tisch angerichtet waren. Ich war völlig sprachlos und er wohl auch. Wir schwiegen uns an, was sonst nicht vorkommt, und waren beide erleichtert, als seine Frau das Essen auf die runde drehbare Glasscheibe stellte und die Zusammensetzung der Speisen erläu‐ terte. Das Abfallpapier mit der Verpackung und dem kostbaren Teller oben drauf blie‐ ben den ganzen Abend unberührt liegen. Mehrfach sprachen wir im Laufe des Abends von Deutschland und vom Oktoberfest. Es boten sich also genügend Gelegenheiten, zu dem Geschenk etwas zu sagen, aber es wurde mit keinem Wort erwähnt. Bis heute habe ich nicht verstanden, was hier eigentlich passiert ist.“ 2. Erläuterungen: Der chinesische Kollege von Herrn Kraus hatte inzwischen so häufig erlebt, wie in Deutschland Geschenke überreicht, geöffnet und gewürdigt werden, dass er Herrn Kraus zeigen wollte, dass er nun auch in der Lage ist, nach deutscher Sitte mit Geschenken um‐ zugehen. Die vertraute häusliche Umgebung erleichterte es ihm sicher, diesen Versuch zu wagen. Schon der Umgang mit der Verpackung, die man nicht einfach auseinanderreißt, besonders nicht bei einem so edel verpackten Geschenk, sondern aufschneidet, hat ihn vielleicht schon verunsichert. Als er dann den Teller sieht, fallen ihm schlicht die jetzt erforderlichen adäquaten Worte nicht ein. Nicht der Wert oder die besondere Bedeutung des Geschenks verschlägt ihm die Sprache, sondern er weiß einfach nicht weiter, weil eine angemessene verbale Reaktion vor dem Schenkenden in seinem Verhaltensprogramm für die Annahme von Geschenken nicht vorgesehen ist. Er konnte zwar noch die erforderli‐ chen Handgriffe grob nachahmen, doch den viel wichtigeren verbalen Begleittext be‐ herrschte er (noch) nicht. Zur Vermeidung von Gesichtsverlust für beide Seiten griff er auf das zurück, was er aus seiner eigenen Kultur zur Bewältigung solcher Situationen gut kennt, „Schweigen“ und kein Wort über das Geschenk verlieren. An die für Deutsche, aber auch andere Ausländer so ungewöhnliche chinesische Art der Geschenkübernahme kann man sich gewöhnen, dennoch bleibt für viele Fach‐ und Füh‐ rungskräfte das schweigende Entgegennehmen von Geschenken immer irritierend und irgendwie schmerzhaft. Konsequenzen für Fach‐ und Führungskräfte: Die Beispiele für kulturspezifische Einflussfaktoren der sozialen Wahrnehmung und Ein‐ drucksbildung einschließlich gezielter Steuerung des Eindrucks, den man bei anderen Personen von sich selbst erzeugen will (Impressionmanagement), ließen sich beliebig fort‐
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setzen. Alle diese Prozesse gehören zum normalen Alltagsgeschehen im Auslandseinsatz. Eine Führungskraft muss auf den Eindruck achten, den seine Mitarbeiter von ihm gewin‐ nen oder gewinnen sollten. Führungskräfte müssen Mitarbeiter zuverlässig in Bezug auf ihre fachlichen Leistungen, ihre Zuverlässigkeit, ihre Arbeitsmotivation, ihre Vertrauens‐ würdigkeit u. Ä. beurteilen. Viele der zur Beurteilung erforderlichen Daten werden über den Weg der sozialen Eindrucksbildung gewonnen. Beurteilungen sind immer soziale Bestimmungsleistungen und nicht das Resultat eines wie auch immer gearteten objektiven Bestimmungsprozesses. Umso wichtiger ist es als Führungskraft, ein hohes Maß an Sensi‐ bilität für die kulturspezifischen Faktoren zu gewinnen, die den Wahrnehmungs‐ und Eindrucksbildungsprozess bestimmen und die zu Fehlbeurteilungen führen können. Dies ist z. B. dann der Fall, wenn als Bezugsmaßstab für den Wahrnehmungs‐, Eindrucksbil‐ dungs‐ und Beurteilungsprozess allein die aus der eigenen Kultur vertrauten Rahmenpro‐ gramme, Skripts, interaktiven Ablaufprozesse und die dabei genutzten Bezugsmaßstäbe zur Verfügung stehen und eingesetzt werden. Abweichungen im Verhalten des Partners und erwartungswidrige beziehungsweise kontroverse Reaktionen werden dann schnell als persönliche Defizite des fremdkulturell geprägten Partners interpretiert und dementspre‐ chend geahndet. Wie alle aufgeführten Beispiele zeigen, besteht die Lösung des Problems nicht darin, sich von den eigenen kulturellen Gewohnheiten zu verabschieden und ein allein auf die Zielkultur zentriertes Beobachtungs‐, Bewertungs‐ und Verhaltenstraining zu praktizieren, um so dem oft zitierten, aber irreführenden Ratschlag zu folgen: „Gehst Du zu den Römern, dann verhalte Dich wie die Römer!“ Niemandem gelingt es, seine Wahr‐ nehmungs‐, Denk‐, Urteils‐ und Verhaltensgewohnheiten völlig abzulegen und die in einer bislang fremden Kultur geltenden eins zu eins zu übernehmen. Eine erfolgreiche Problemlösung erfordert vier aufeinander abgestimmte Schritte: 1. Erkennen und reflektieren, wie die eigene kulturspezifische soziale Wahrnehmung und Eindrucksbildung funktioniert; 2. Sensibel werden für Schnittstellen im interaktiven Prozessgeschehen der sozialen Wahrnehmung und Eindrucksbildung, die aufgrund kulturspezifischer Divergenzen zu Fehlbeurteilungen führen können; 3. Das Deutungs‐ und Erklärungsrepertoire für Reaktionsweisen der fremdkulturellen Partner erweitern; 4. Erweitern des Verhaltens‐ und Reaktionsrepertoires so, dass sich für beide Seiten trag‐ bare und akzeptable Kompromisse im Beurteilen und interaktiven Verhalten entwi‐ ckeln lassen. Die Schwerpunkte liegen hier auf dem Entwicklungsaspekt und nicht auf der Anwendung standardisierter oder allein von Kompromissen getragener Verhaltens‐ und Beurteilungs‐ programme (Kammhuber, 2008; Mummendey, 2002).
Weiterführende Literatur: Hassbrauck, M./Küpper, B.(2002): Theorie der sozialen Attraktion, in: Frey, D./Irle, M. (Hrsg.), Theo‐ rien der Sozialpsychologie, Bd. 3: Gruppen‐, Interaktions‐ und Lerntheorien, 2. Aufl., Bern, S. 156‐177. Mummendey, H. D. (1995): Psychologie der Selbstdarstellung, 2. Aufl., Göttingen.
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Lob und Tadel
Lob und Anerkennung sowie Tadel und Kritik auszusprechen und entgegenzunehmen sind alltägliche Handlungen im beruflichen Leben von Fach‐ und Führungskräften. Oft werden diese Handlungen automatisch und ohne viel über Ursachen und Wirkungen zu reflektie‐ ren vollzogen. Dabei handelt es sich hier um höchst komplexe Vorgänge, wenn man die Vorgeschichte von Lob und Tadel, das Austeilen und Entgegennehmen von Lob und Tadel, die Berechtigung von Lob und Tadel und die Folgen dieser Handlungen bedenkt. Die meisten Menschen lernen den Umgang mit Lob und Anerkennung sowie Tadel und Kritik im Verlauf ihrer individuellen Sozialisation kennen, zunächst im Umgang mit ihren Eltern, Geschwistern und näheren Verwandten, dann im Kindergarten und im Zusam‐ menhang mit Lehrern und Klassenkameraden, zudem im Umgang mit Gleichaltrigen (so genannte Peergroups), im Sportverein, in der Musikschule, auf dem Spielplatz und auch auf der Straße und dann schließlich im Beruf, im Umgang mit Vorgesetzten, Kollegen, Mitarbeitern und Kunden und in der eigenen Ehe, Partnerschaft und Familie. Das Kennenlernen kulturspezifischer Ausprägungen von Lob und Anerkennung sowie Tadel und Kritik erfolgt in der Regel im Rahmen der Enkulturation, also dem Prozess des Hineinwachsens in die eigene Kultur. Dabei spielt nicht nur die Selbsterfahrung im Austei‐ len und Entgegennehmen von Lob und Tadel eine wichtige Rolle, sondern auch die Fremdbeobachtung, also die Erfahrung, wie mit diesen Handlungen in der sozialen Um‐ welt und in den medienvermittelten Ereignisabläufen umgegangen wird. Das Wort „Lob“ geht zurück auf das germanische Verb „loben“ und dies steht für „für lieb halten, lieb nennen, gutheißen“. „Tadel“ geht zurück auf das mittelhochdeutsche Wort „tadel“, was so viel bedeutet wie „Fehler, Mangel, Gebrechen“. Verwandt damit sind die Begriffe „Vorwurf, Verleumdung, Lästerung“, aber auch „verunglimpfen, vorwerfen“. „Kritik ist abgeleitet von dem französischen Wort „critique“, was so viel bedeutet wie „wissenschaftliche, künstlerische Beurteilung, kritische Besprechung, Tadel“. Lob und Tadel sind aller Lebenserfahrung nach sehr unterschiedlich verteilt. Es gibt Men‐ schen, die in ihren familiären und schulischen Erfahrungen so gut wie nie Lob, aber dafür umso mehr Tadel erfahren haben. Wenn eine Leistung und ein Verhalten einmal nicht kritisiert und getadelt wurden, konnten sie das vielleicht als Lob verstehen. Selbstunsi‐ cherheit, Mangel an Selbstwirksamkeit, also eine Verfestigung der Überzeugung, im Ver‐ gleich zu anderen Menschen nicht wirklich in der Lage zu sein, auf andere Menschen, Lebenssituationen und Lebensbedingungen Einfluss nehmen zu können, Entscheidungs‐ und Verantwortungsschwäche, depressive Züge, Mutlosigkeit und Mangel an Risikobe‐ reitschaft sowie Autoritätshörigkeit entwickeln sich als Folge davon zu verfestigten Per‐ sönlichkeitseigenschaften. Es gibt auch Menschen, die fast immer nur Lob und Anerken‐ nung erfahren haben und selten Kritik und Tadel. Die Reaktionen müssen nicht unbedingt immer ihren überragenden Leistungen entsprechen. Sie wurden einfach immer nur gelobt. Soziale Attraktivität, Aussehen, Herkunft und sozialer Status der Familie u. Ä. könnten
A. Thomas, Interkulturelle Handlungskompetenz, DOI 10.1007/978-3-8349-6880-7_8,
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dafür verantwortlich sein. Die Folge davon ist womöglich die Herausbildung einer verfes‐ tigten Persönlichkeit, die sich maßlos überschätzt, manische Züge aufweist, auf andere überheblich und arrogant wirkt und nur schwer Kritik und Tadel verträgt. Für Lob wie für Tadel gilt, dass sie einer Rechtfertigung bedürfen. Der Empfänger sollte erfahren, warum er gelobt bzw. getadelt wird und nach welchen Bezugsmaßstäben dies geschieht. So werden auch der Lobende und der Tadelnde gezwungen, über ihr Verhalten Rechenschaft zu geben und ein hohes Maß an Transparenz herzustellen. Nur so besteht eine gewisse Gewähr, dass Lob und Tadel auch akzeptiert werden. In der Zusammenarbeit mit fremdkulturell geprägten Partnern, Kollegen, Vorgesetzten und Mitarbeitern sind bezüglich des Austeilens und Entgegennehmens von Lob und An‐ erkennung sowie Tadel und Kritik eine Reihe von Schnittstellen zu beachten, an denen kulturspezifische Orientierungen wirksam werden: 1. Die Art der Kommunikation von Lob und Tadel: Lob und Tadel können verbal oder nonverbal kommuniziert werden. Normalerweise sind Mimik und Gestik bei der Verbalisierung von Lob und Tadel beteiligt: freundliches Lächeln beim Loben und ernster, strenger, eventuell mitleidiger Gesichtsausdruck beim Tadeln. Somit wird der verbal vermittelte Eindruck noch durch eine entsprechende Mimik verstärkt. 2. Lob und Tadel können auch indirekt zum Ausdruck gebracht werden, z. B. durch Ge‐ schenke, Zuwendungen, Vermittlung durch Dritte. 3. Entscheidend ist, nach welchen Kriterien in einer Kultur überhaupt gelobt und getadelt wird. 4. Wichtig ist auch, wie häufig Lob und Tadel ausgesprochen werden. Es gibt Kulturen, in denen viel gelobt wird, allein um eine positive zwischenmenschliche Atmosphäre zu schaffen, um einen guten Eindruck zu machen und die eigene sozialer Attraktivität zu steigern. Forschungen haben gezeigt, dass die Menschen als sympathisch empfunden werden, die eine Person loben. 5. Es gibt Kulturen, in denen nur dann gelobt wird, wenn es einen triftigen Grund dafür gibt, z. B. eine herausragende Leistung, eine besondere Anstrengung, ein unerwartet hohes Engagement bei der Erledigung eines Arbeitsauftrags, der Herbeiführung einer zufriedenstellenden Lösung in einer problematischen sozialen Situation. 6. Die Begründungen für Lob und Tadel sind sehr kulturspezifisch ausgeprägt. In einigen Kulturen reicht schon die alleinige Anwesenheit eines Menschen aus, ihm ein Lob aus‐ zusprechen, um eine gute zwischenmenschliche Atmosphäre zu schaffen. In anderen Kulturen muss man für ein soziales Lob etwas Besonderes, Ungewöhnliches und deut‐ lich über den Normen und den Erwartungen Liegendes, z. B. eine Leistung, erbringen. 7. Je detaillierter Arbeitsverrichtungen und Arbeitsnormen festgelegt sind, umso höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass im Arbeitsprozess Abweichungen und Störungen auftre‐ ten, was in der Regel Tadel zur Folge hat. Unter diesen Bedingungen wird versucht, Regelabweichungen und Fehler zu verheimlichen oder gleichsam unter der Hand pragmatisch zu beheben.
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Kulturspezifisch beeinflusst sind folgende Aspekte von Lob und Tadel: 1. Anlässe und Begründungen; 2. Art und Weise der Vermittlung von Lob und Tadel; 3. soziale Positionen und Rollen des Lobenden/Tadelnden und des Gelobten/Getadelten; 4. Kontextualisierungen: Lob und Tadel erfolgen individuell, privat oder vor Publikum und in der Öffentlichkeit; 5. Arten der Verarbeitung von Lob und Tadel; 6. kurzfristige und langfristige Konsequenzen, die auf Lob und Tadel folgen oder erwar‐ tet werden. Viele dieser kulturspezifischen Einflussfaktoren werden an den im Folgenden geschilder‐ ten Beispielfällen explizit und in ihrer Handlungswirksamkeit deutlich gemacht.
1. Beispiel: „Airconditioner in China“ 1. Die kritische Interaktionssituation: „Auf Baustellen geht immer etwas schief, ob in Deutschland, China oder sonst irgend‐ wo. Herr Braun behauptet von sich, gute Nerven zu haben; beim kürzlich abgeschlosse‐ nen Umbau der Büroräume seiner Repräsentanz glaubte er aber doch gelegentlich, an seinem Verstand zweifeln zu müssen: ‚Die Renovierung unserer Büroräume war fast abgeschlossen, aber ich konnte in mei‐ nem Büro keinen Airconditioner erkennen. Also fragte ich einen Angestellten, einen Bauleiter oder so, der betreffenden Firma, warum der Airconditioner hier nicht einge‐ baut worden sei oder was es damit auf sich habe. Daraufhin erzählte dieser mir freund‐ lich lächelnd, aber ohne es als Witz zu meinen, dass der Wasserhahn in der Toilette noch tropft und morgen, morgen würden sie das dann klären! Ich nickte und fragte noch mal, ob da nicht der Airconditioner eingebaut werden müsste. Nun erzählte er nichts vom tropfenden Wasserhahn, sondern meinte, dass nächste Woche das Treppengeländer ge‐ strichen werde und dass dann auch das Problem beseitigt sein werde. Als ich dann noch mal wiederholte, dass mich jetzt nicht das Treppengeländer interessieren würde, son‐ dern mein Airconditioner, da das gestrichene Geländer mein Büro auch nicht kühlen würde, merkte er langsam, dass ich mich nicht auf seine Ablenkungsmanöver einlassen würde. Es war klar: Die hatten den Airconditioner glatt vergessen! Aber statt dass der Mensch sich entschuldigt hätte oder gesagt hätte, dass morgen dieses Versehen behoben sein würde, wand er sich in aberwitzigen Ausflüchten herum, biss sich fast in die Unter‐ lippe vor Lächeln und flüchtete schließlich mit einem „Darum kümmern ...“. Am nächs‐ ten Tag hatten sie das dann gemacht, aber wie ...?!’“ (Thomas/Schenk/Heisel, 2008, S. 84‐85). Es stellt sich nun die Frage: Warum geht der chinesische Bauleiter nicht auf die Frage von Herrn Braun ein?
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2. Erläuterungen und Begründungen: Erläuterung a): „Der Baustelleleiter versucht, mit den Ausflüchten von der Frage abzulen‐ ken, weil es sich bei dem fehlenden Airconditioner um ein peinliches Versäumnis handelt, das er schon selbst bemerkt hatte und um das er sich auch kümmern wird. Aber dazu braucht der Deutsche ihn doch jetzt nicht derart bloßzustellen!“ (S. 85). Begründung zu a): „In Deutschland wäre das genau die richtige Antwort. Für die Erklä‐ rung aus chinesischer Sicht fehlt aber noch etwas sehr Entscheidendes, was auch die Be‐ wertung der Antworten als Ausflüchte relativiert. Es geht hier nicht mehr um das Vermei‐ den einer peinlichen Situation, die ist bereits da (um die Peinlichkeit zu mindern, wird gelächelt). Schlimmer als das Bloßstellen ist der durch die Wiederholung der Frage dro‐ hende Gesichtsverlust. Diese sture Nachbohren und Beharren läuft allen Grundprinzipien chinesischer Kommunikation zuwider. Der ironische Witz mit dem nicht kühlenden Trep‐ pengeländer ist eine glatte Beleidigung, hier kann von Humor aus chinesischer Sicht nicht die Rede sein. Und all das, obwohl der Baustellenleiter so geschickt mit dem Wasserhahn, um den man sich morgen kümmern werde, darauf hingewiesen hat, dass er verstanden habe, wo das Problem liegt. Aber auch den zweiten Hinweis, dass man das Problem dann morgen abgeschlossen haben werde, versteht Herr Braun nicht. Die Antworten sind durchaus Antworten und nicht dumme Ausflüchte, nur müssen sie erst umständlich ent‐ schlüsselt werden, was Herrn Braun nicht gelingt“ (S. 86‐87). Es ist aber noch eine weitere Erläuterung notwendig: Erläuterung b): „Der Chinese versucht, durch die Antworten einen Konflikt zu vermeiden, bei dem durch Gesichtsverlust die Harmonie bedroht werden würde“ (S. 86). Begründung zu b.): „Auseinandersetzungen, Streitgespräche, sachlich‐argumentativer Schlagabtausch, klärende Gespräche, Richtigstellungen und dergleichen, das sind Ge‐ sprächsformen, die in China nicht gerade populär sind und zum guten Umgangston gehö‐ ren. Allein die deutsche Wortprägung ‚sich auseinandersetzen’ sieht immer nur Ausflüch‐ te. Das unsensible Verhalten trägt natürlich nicht gerade zum Gesichtgewinnen für ihn bei; schwer wiegt jedoch, dass er ernsthaft versucht, dass Gesicht des chinesischen Baustellen‐ leiters zu verletzen, eigentlich nur, um von diesem zu hören zu bekommen, dass er recht hat, der Chinese im Unrecht ist und eine große Dummheit begangen hat. Der Airconditioner ist deshalb aber noch nicht eingebaut“ (S. 87‐88). 3. Lösungsstrategie: Nach chinesischer Ordnungsvorstellung steht es einem Untergebenen nicht zu, dem Vor‐ gesetzten zu widersprechen. Ein Widerspruch würde bereits als ein Verstoß gegen das Hierarchie‐ und Höflichkeitsprinzip gelten. Die ausweichenden Antworten und das Um‐ schwenken auf andere Themen signalisieren, dass hier eine Situation vorliegt, die für den Kritisierten einen Gesichtsverlust zur Folge haben kann und die Harmonie stören würde. Wenn dem Kritikübenden daran gelegen ist, mit diesem Mitarbeiter auch weiterhin koope‐ rieren zu können, sollte er tunlichst darauf achten, das sinnlose Nachfragen und Nachha‐ ken zu beenden, und versuchen, das Problem auf harmonische Art zu lösen.
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Ausgetauschte Argumente nehmen im chinesischen Diskurs im Allgemeinen nur dann aufeinander Bezug, wenn sie anknüpfen, überlappen oder gar übereinstimmen. Weicht man in der Meinung ab, wird ein neues Thema angeschnitten. Ziel und oberste Hand‐ lungsmaxime ist die Erhaltung der Harmonie. Harmonie wird dabei anders als im christli‐ chen Abendland mehr im Sinne der Aufrechterhaltung der Ordnung verstanden. Wenn im chinesischen Kontext auch Konfliktvermeidungsstrategien eine nicht hoch genug einzuschätzende Rolle spielen, so wäre es doch falsch, davon auszugehen, dass jede Aus‐ einandersetzung vermieden oder höflich harmonisiert umgangen werden würde. Bei Themen, die „wichtig“ sind, beispielsweise entscheidende materielle Vorteile bringen, wird mit Sicherheit hart gestritten, wobei auch laute Töne und unzweideutig ausgedrückte Forderungen und Meinungen vorgetragen werden. Dabei schwindet für den Europäer mitunter der Eindruck, dass man sich sachlich und höflich auseinandersetzt. Das Problem liegt nun darin zu erkennen, was wichtig ist, denn nicht immer sind die heftig umkämpf‐ ten Punkte auch die wichtigsten. Je nach Situation kann es sich dabei durchaus um takti‐ sche Schaukämpfe handeln. Vermieden wird jedoch jedwede „unnütze“ Diskussion, also eine, die keine konkreten Vorteile bringt. Außerdem wird jede Form einer Selbstdarstel‐ lung durch Präsentation einer elaborierten, differenzierten, ganz persönlichen Meinung mit dem Ziel des „Prestigegewinns“ vermieden, denn das ist für den chinesischen Ge‐ schäftspartner nicht nachvollziehbar. Statt zu kritisieren und Schuldzuweisungen vorzunehmen, sollten Sie feststellen, wo Män‐ gel sind, um welche es sich handelt und wie diese behoben werden können. Versuchen Sie, dies von Anfang an zusammen mit dem verantwortlichen Mitarbeiter zu tun, statt ihm eine Liste mit Mängeln und Aufgaben zu präsentieren. Schaffen Sie in ihm das Bewusst‐ sein, ein kompetenter Mitarbeiter zu sein, der Sachverstand zeigt und die richtigen Maß‐ nahmen ergreifen wird. Machen Sie sich immer wieder bewusst, dass Dinge, die Ihnen problematisch und unbegreiflich erscheinen, ihrem chinesischen Mitarbeiter nicht unbe‐ dingt auch so erscheinen müssen. Schaffen Sie eine gemeinsame Sprache durch gemeinsa‐ mes Entdecken, Benennen und Analysieren des Problems. Knüpfen Sie Kritik an Lob oder die Hervorhebung bisher erbrachter positiver Leistungen an. Kritisches oder Problematisches kommt, wenn es sich nicht vermeiden lässt, zum Schluss eines Gesprächs, nicht zu Beginn, wie dies bei uns üblich ist. Fast immer lässt sich die nötige Kritik verschlüsseln und zwischen den Zeilen verstecken“ (S. 88‐89). 4. Kulturstandard „Soziale Harmonie“: Dieser Kulturstandard steht für:
■ „Harmonie steht für soziale Ordnung. ■ Als Vorbild dafür wird die Natur oder der Kosmos gesehen. ■ Nicht lineare Ursache‐Wirkungs‐Zusammenhänge, sondern korrelatives Denken do‐ miniert.
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■ Logische Erklärungen sind daher wenig gefragt. ■ Auf den Zusammenbruch der Harmonie folgt das Chaos, was es natürlich unter Auf‐ bietung aller Kräfte zu verhindern gilt“ (S. 154).
5. Kulturelle Verankerung des Kulturstandard „Soziale Harmonie“: „Der Begriff ‚Soziale Harmonie’ rührt aus dem chinesischen Verständnis, dass die soziale Ordnung in gleicher Weise harmonisch wirken müsse wie die Natur. Ebenso wie es für Naturgesetze nach chinesischer Auffassung keine logische Grundlage von Ursache und Wirkung gibt, sind auch die sozialen Gesetze, die Etikette, ein eher willkürlich zusammen‐ gesetztes Regelwerk, das aus sich heraus soziale Harmonie sicherstellt. Die gedankliche Grundlage hierfür ist das korrelative Denken, das bedeutet, dass man Aspekte des kosmi‐ schen oder sozialen Lebens zueinander in Beziehung stellt oder zuordnet, ohne eine logi‐ sche Erklärung dafür anfügen zu müssen. ( ... ) Die Aufrechterhaltung der sozialen Har‐ monie ist somit direkt mit der Aufrechterhaltung der natürlichen, kosmischen Ordnung verbunden. Durch Verstöße gegen die soziale Harmonie wird eine der größten Gefahren für die politische Herrschaft, nämlich das Chaos (luan), hervorgerufen. In der politischen Konzeption wird das Chaos in der Gesellschaft, das vor allem in zahlrei‐ chen Bauernaufständen und Rebellionen sichtbar wird, durch das Fehlverhalten des Kai‐ sers hervorgerufen, der zentralen Verbindung zwischen der kosmischen Herrschaft des Himmels und der Herrschaft auf Erden. Die sozialen Unruhen werden als Zeichen des Himmels interpretiert, dass der derzeitige Himmelssohn nicht fähig ist, seinem Mandat entsprechend zu handeln, und dass ihm damit das Mandat entzogen wird, was in der politischen Praxis durch einen Dynastiewechsel geschieht. Hiermit erhält das Volk prak‐ tisch die Legitimation zur Rebellion, da es vom Himmel dazu beauftragt ist, die soziale und kosmische Harmonie wiederherzustellen. In der chinesischen Geschichte sind fast sämtliche Dynastiewechsel in solcher Weise erfolgt; man nennt dies den dynastischen Zyklus. Entscheidend ist dabei, dass die Rebellion und Entmachtung des Kaisers nie zu einer neuen Gesellschaftsordnung führen sollen, sondern das Ziel immer die Restauration der alten Ordnung im Sinne des früheren harmonischen Zustandes ist. Die philosophische Grundlage für dieses Konzept wurde bereits durch Mengzi im dritten Jahrhundert v. d. Z. gelegt“ (S. 100‐101).
2. Beispiel: „Der Filter fehlt!“ 1. Die kritische Interaktionssituation: Aus Spanien wird Folgendes berichtet: „Herr Hof ist Leiter einer fünfköpfigen Projektgruppe in Spanien, die aus hoch qualifi‐ zierten spanischen Ingenieuren besteht. Herr Hof ist ein erfahrener Projektleiter und hat schon mit Erfolg verschiedene Projekte im Hause geleitet. Er ist bekannt als exzellenter Fachmann mit viel Erfahrung und als jemand, der es immer verstanden hat, seine Mit‐ arbeiter im Projektteam zu motivieren und Konflikte untereinander relativ schnell zu lö‐ sen. Nun soll innerhalb von zwei Jahren eine Rauchglas‐Entschwefelungsanlage in ei‐ nem Kohlekraftwerk errichtet werden. Die ihm zugeordnete Projektgruppe besteht aus
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drei jungen, in der Projektarbeit eher unerfahrenen Ingenieuren, einem älteren Ingeni‐ eur, der wesentlich mehr Erfahrung in der Projektarbeit mitbringt, und einer Schreib‐ kraft. Bisher verläuft das Projekt nach aufgestelltem Netzplan, nur leichte Erhöhungen der Kosten und Verzögerungen im Zeitplan sind festzustellen. Doch dann stellt sich in der Montagephase heraus, dass ein Planungsrisiko nicht ausrei‐ chend beachtet wurde. Notwendige Materialien zum Bau der Entschwefelungsanlage sind von einem Mitarbeiter im Projekt, der nicht zum ersten Mal durch fehlerhaftes Verhalten aufgefallen ist, nicht rechtzeitig bestellt worden. Es handelt sich konkret um einen Filter, der nur in Kanada und den USA gefertigt wird, und genau dieser wurde nicht rechtzeitig bestellt. Herrn Hof ist sofort klar, was dies für den weiteren Projektab‐ lauf zu bedeuten hat: Die Lieferfristen für den fehlenden Filter sind nun so lang, dass die Anlage nicht mehr rechtzeitig fertiggestellt werden kann. Terminverzug und höhere Kosten sind die Folge. Den Bestellvorgang hat Herr Jorge, einer der jungen Ingenieure, zu verantworten. Herr Hof ist wütend und verzweifelt. Wie konnte dieser Fehler nur passieren? Er wird sich durch die Geschäftsführung einen strengen Rüffel einfangen, obwohl ihn selbst keine Schuld trifft. Sofort ist ihm klar, was nach seinen in Deutschland gemachten Er‐ fahrungen nun zu tun ist. Unverzüglich muss er die Mannschaft zu einer Krisensitzung zusammenrufen, den Vorgang schildern und noch einmal klarstellen, wer den Fehler verursacht hat. Er muss zudem während der Krisensitzung Herrn Jorge ausfragen, wie das passieren konnte, er muss ihm die Konsequenzen seines Verhaltens vor Augen füh‐ ren und ihn verpflichten, sofort innerhalb einer Woche, egal wie, für einen Filterersatz zu sorgen. Auf diese Weise lernen seine spanischen Mitarbeiter, wie man mit einem sol‐ chen Konflikt umgeht, wie man eine Ursachenanalyse betreibt, welche Folgen ein sol‐ ches Fehlverhalten nach sich zieht und was es heißt, Verantwortung für einen Auftrag zu übernehmen. Der Verlauf der Sitzung wird zudem protokolliert und zu den Akten genommen. Obwohl für Herrn Jorge nun eigentlich eine Abmahnung fällig wäre, will Herr Hof zunächst einmal davon absehen, denn er beabsichtigt, noch weiter mit dem Team zusammenzuarbeiten. Bevor die Krisensitzung stattfindet, hat Herr Hof Gelegenheit, sein Problem mit einem spanischen Freund zu besprechen, der ihm rät, die Sitzung doch nicht sofort mit Kritik, Tadel und der Benennung des Schuldigen zu beginnen, sondern stattdessen die Tatsa‐ chen zu schildern, die Konsequenzen für das Projekt zu beschreiben und dann die Teammitglieder nach ihrer Meinung zu fragen. Anschließend hätte er dann immer noch genug Zeit, so meinte sein Freund, seine Kritik anzubringen und den zweifelsohne be‐ rechtigten Tadel auszusprechen. Weil ihm die Arbeitsqualität dieses Teams am Herzen liegt, geht er, wenn auch etwas widerstrebend, auf den Vorschlag seines spanischen Freundes ein. Auf der Krisensit‐ zung schildert Herr Hof zunächst ruhig und sachlich die Tatsache, dass ein Filter nicht rechtzeitig bestellt wurde und welche Konsequenzen sich daraus für das Projekt erge‐ ben. Dann fragt er in die Runde: „Nun, was denken Sie, ist jetzt zu tun?“ Die Teammit‐ glieder sind blass geworden und zunächst sprachlos. Dann aber beginnt eine lebhafte
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Diskussion untereinander, die allein das Ziel hat herauszufinden, wie man so schnell wie möglich an einen passenden Filter kommt. Keiner nennt den Namen des Schuldigen oder fragt, wie es zu diesem Versäumnis hat kommen können. Alle kramen, bildlich ge‐ sprochen, in ihren zum Teil international geknüpften Netzwerken nach Personen, die um Hilfe angesprochen werden könnten. Einer der jungen Ingenieure hat kürzlich mit einem Mitarbeiter der Filter‐Lieferfirma in Kanada E‐Mails ausgetauscht und will versu‐ chen, auf diesem „kurzem Weg“ außerplanmäßig an einen Filter heranzukommen. Der ältere Ingenieur hat auf der letzten Hannovermesse mit dem Leiter der technischen Ab‐ teilung des in den USA angesiedelten Filterherstellers ein längeres Fachgespräch geführt und glaubt, dass dieser sich noch an ihn erinnert. Er ist sicher, dass es gelingen könnte, über diesen Draht schnell einen Filter zu besorgen. Herr Hof schöpft wieder Hoffnung, dass doch noch eine Lösung gefunden werden kann. Er ist begeistert von der Einsatzfreude seines Teams und notiert sich für den Fall, dass der Filter noch pünktlich beschafft wird, explizit das Team zu loben und eine Run‐ de zu spendieren. Herr Jorge ist in der Sitzung recht schweigsam, hört aber aufmerksam zu, wobei er zu Recht vermutet, dass alle Teammitglieder wissen, dass der Fehler von ihm verursacht wurde. Er ist glücklich, dass ihn niemand in dieser Sitzung darauf an‐ spricht. Da nun alles ganz schnell gehen muss, denn trotz Zeitverschiebung sind die Kollegen in Kanada und USA noch an ihren Arbeitsplätzen, wird die Sitzung sofort beendet, ohne dass Herr Hof überhaupt Gelegenheit hat, seine Strafpredigt anzubringen. Irgendwie hatte er die auch schon völlig vergessen!“ 2. Erläuterungen und Begründungen: Herr Hof hat das deutsche System der Reaktion auf Fehlermeldungen verinnerlicht. Ein Fehler wird bemerkt und sofort kommt die Frage auf: „Wer hat das verursacht?“ Es wird also erst einmal geklärt, wer denn der Schuldige ist. Als Nächstes muss die Frage beant‐ wortet werden: „Wie konnte das passieren?“ Es folgt die Fehleranalyse und das möglichst vor allen beteiligten Personen, denn nur so ist gewährleistet, dass alle aus dem Fehler etwas lernen und sich bemühen, zukünftig Fehler dieser Art zu vermeiden. Der Vorgesetz‐ te wird aus seinen Erfahrungen auch berichten oder anweisen, was getan werden muss, damit ein solcher Fehler nie mehr passiert. Im hier geschilderten Fall könnte er zum Bei‐ spiel vorschreiben, Bestelllisten anzulegen, anhand derer regelmäßig überprüft wird, ob die Bestellung aus dem Hause herausgegangen und beim Lieferanten eingegangen ist. Wenn so der Schuldige gefunden, die Fehleranalyse abgeschlossen und die Konsequenzen für alle daraus gezogen sind, wird in der Regel der Schuldige beauftragt, für die Behebung des Schadens aufzukommen, damit er seiner Verantwortung gerecht wird, ihm das alles eine Lehre ist, damit ihm so etwas nicht noch einmal passiert. Herr Hof lernt nun mit seinem spanischen Team eine ganz andere Variante der Problem‐ bearbeitung kennen. Alle wissen oder ahnen, wer den Fehler verursacht hat. Der genaue Vorgang ist schon schlimm genug und alle wissen oder ahnen auch, was die versäumte Bestellung des Filters für unangenehme Konsequenzen haben wird, und zwar für alle. Jetzt
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heißt es aber, keine rückwärtsgewandte Fehleranalyse zu betreiben, sondern alle Kräfte, auch die des Fehlerverursachers, zu bündeln, um möglichst mit eigenen Anstrengungen eine Problemlösung herbeizuführen, bevor der Schaden sich ausweitet und im ganzen Unternehmen bekannt wird. Nicht der Fehlerverursacher als „schwächstes Glied in der Kette“ steht im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit, sondern die Fehlerbehebung. Über den Fehler wissen sowieso alle Bescheid und es lohnt sich nicht, ein weiteres Wort darüber zu verlieren. 3. Spanische Kulturstandards „Soziale Beziehungspflege“ und „Indirektheit“: Die spanischen Kulturstandards „Soziale Beziehungspflege“ und „Indirektheit“ haben ihren Anteil daran, wie im zweiten Beispiel unter Vermeidung von Tadel und Kritik das Problem gelöst wird (Rehbein/Thomas/Steinhuber, 2009): Spanischer Kulturstandard „ Soziale Beziehungspflege“:
■ „Aufbau eines harmonischen Arbeitsklimas. ■ Solidarische Hilfe und Unterstützung innerhalb des persönlichen Beziehungsnetz‐ werks – auch durch Arbeitskollegen.
■ Etablieren und Bewahren von Vertrauen und Verbindlichkeit. ■ Pflege von sozialen Beziehungen außerhalb der eigenen vier Wände in Restaurants, Bars etc.
■ Betonung der Geselligkeit und Gastfreundschaft. ■ Bedeutung der perfekt zu erfüllenden Gastgeberrolle. ■ Investitionen personeller und materieller Art zur Erhaltung freundschaftlicher Bezie‐ hungen.
■ Aufbau, Erweiterung und Pflege seines persönlichen Beziehungsnetzwerks, um sich
gegenseitig Gefallen zu erweisen, die zur einfacheren und schnelleren Zielerreichung führen.
■ Hoher Zeitaufwand für soziale Interaktionen“ (S. 160). Spanischer Kulturstandard „Indirektheit“:
■ „Aufrechterhalten eines edlen und respektvollen Selbstkonzepts sowie der sozialen Beziehungen durch wohlwollende Kommunikation und positive Interaktion.
■ Schutz und Erhalt der persönlichen Ehre und des Ansehens. ■ Indirekter, eleganter Kommunikationsstil als Form der Höflichkeit. ■ Wahren der Harmonie in sozialen Beziehungen durch beharrliches Vermeiden von direkt geäußerter Ablehnung oder Kritik.
■ Positives Ausdrücken von negativen Sachverhalten durch wortreiche, erklärende Ver‐ hüllungen.
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■ Respektieren des Ritus des gegenseitigen Lobens. ■ Formulieren von Anregungen, Kritik und Verbesserungsvorschlägen in indirekter Form als Frage oder Wünsche.
■ Vermeiden von Verhaltensweisen, die Konflikte hervorrufen“ (S. 161). Diesem spanischen Kulturstandard stehen auf deutscher Seite die von Herrn Hof befolgten deutschen Kulturstandards „Sachorientierung“ und „Direktheit in der Kommunikation“ gegenüber (Schroll‐Machl, 2007): 4. Die deutschen Kulturstandards „Sachorientierung“ und „Direktheit“ in der Kommuni‐ kation“: Kulturstandard „Sachorientierung“: „Für die berufliche Zusammenarbeit ist unter Deutschen die Sache, um die es geht, die Rollen und die Fachkompetenz der Beteiligten ausschlaggebend. Die Motivation zum gemeinsamen Tun entspringt der Sachlage und den Sachzwängen. In geschäftlichen Be‐ sprechungen ‚kommt man zur Sache’. Ein ‚sachliches’ Verhalten ist es, was Deutsche als professionell schätzen: Deutsche zeigen sich zielorientiert und argumentieren mit Fakten. Man ist vorbereitet, oftmals schriftlich und sehr detailliert, um eine Basis für eine sachliche Diskussion zu haben und ein Kooperationsangebot machen zu können. Überhaupt wird Schriftliches hoch geschätzt, denn hier liegen die Dinge schwarz auf weiß vor und werden nicht durch ‚vages Geschwätz’ vernebelt. Wenn sich die handelnden Personen kennen oder (sehr) sympathisch finden, ist das ein angenehmer Nebeneffekt, doch das ist nicht primär relevant. Und darum bemüht man sich auch nicht besonders. Die Sache ist zu‐ nächst einmal der Dreh‐ und Angelpunkt, sie hat Priorität“ (S. 49). Kulturstandard „Direktheit in der Kommunikation“: „Auf eine klare Aussage gibt es einen klaren Kommentar – weiterhin ohne Schnörkel, ohne ‚Geschenkpapier’, ohne Umschweife. Das halten wir menschlich für ehrlich, richtig, au‐ thentisch und glaubwürdig, beruflich für professionell, da zielführend und zeitsparend, und es erspart Missverständnisse. Das sind für uns positive Werte! Möglich ist dieser Stil, weil der inhaltliche Fokus klar auf der Sachebene liegt. Wenn wir das Gefühl haben, unse‐ re Meinungsäußerung könnte kränken, dann schieben wir vielleicht voraus, dass die be‐ treffende Person unsere nun folgende Aussage ‚bitte nicht persönlich nehmen soll’ oder wir ‚jetzt nur zur Sache X Stellung nehmen’. Wünsche und Anweisungen werden ebenso lediglich durch den Konjunktiv oder ein ‚bitte’ abgeschwächt. Das alles sind Formen, mit denen wir uns als höflich und rücksichtsvoll erweisen und gleichzeitig unserer hoch ge‐ schätzten Ehrlichkeit und Wahrhaftigkeit nachkommen. Wir sagen nur sehr selten etwas zur Verbesserung der Atmosphäre oder aus übertriebener Höflichkeit, was wir gar nicht meinen! Das hat schnell den Geruch des Heuchlerischen und Falschen. Und eine Person, die nicht ehrlich und aufrichtig ist, behandeln wir vorsichtig und misstrauisch: Was will derjenige? Was ist seine eigentliche Absicht?“ (S. 174‐175).
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In Deutschland werden im beruflichen Alltag von Mitarbeitern auf allen Ebenen Sach‐ orientiertheit und Professionalität erwartet. Wer diesen Erwartungen entspricht, wird nicht getadelt, aber er erfährt auch kein Lob. Er bewegt sich in einem breiten Feld der Normalität und der selbstverständlichen Art und Weise der Arbeitserledigung. Ein Lob gibt es allenfalls für außergewöhnliche Leistungen, die deutlich über dem Normbereich liegen und vom Vorgesetzten in der Form nicht erwartet wurden. Grundsätzlich gibt es also bei einem normalen Arbeit‐ und Betriebsablauf nichts zu loben. Viele warten jahrelang auf ein Lob von ihrem Chef, obwohl sie der Meinung sind, dass hier und da mal ein Lob angebracht sein könnte, da sie doch immer fleißig und fehlerfrei arbeiten. Aber genau das ist noch lange kein Grund, gelobt zu werden. Demgegenüber ist man in Deutschland mit direktem und vor Publikum, Kollegen und Mitarbeitern ausgesprochenem Tadel schnell bei der Hand, wenn einmal nicht alles so läuft, wie es laufen soll. Unregelmäßigkeiten, Fehler, Versäumnisse, Unkonzentriertheit etc. dürfen nicht übersehen und bagatellisiert werden oder unerwähnt bleiben, da sie sich sonst häufen und zu Mängeln in der Arbeits‐ disziplin führen. Dieser sachorientierte, direkte und unpersönliche Umgang und Gebrauch von Lob und Tadel unterscheidet sich deutlich von dem, wie in anderen Kulturen mit Lob und Tadel umgegangen wird. Deutsche Führungskräfte im Auslandseinsatz sollten sehr genau und selbstkritisch reflektieren, wie sie mit Lob und Tadel bisher umgegangen sind, wie sie diese verteilt haben, wann sie Lob und Tadel als angebracht und gerechtfertigt angesehen haben und ob sie nicht häufiger ein Lob hätten aussprechen sollen, z. B. um die Mitarbeiter zu motivieren und bei der Stange zu halten. Grundsätzlich tun sie gut daran sich vorzunehmen, mehr als bisher zu loben und sich genau zu überlegen, ob es sinnvoll ist, einen Tadel auszusprechen oder auf anderem Wege mehr indirekt zu kommunizieren und zwar so, dass soziale Beziehungsverhältnisse möglichst nicht nachhaltig beschädigt werden.
3. Beispiel: „Der engagierte Kursteilnehmer“ 1. Die kritische Interaktionssituation: Aus Indonesien wird Folgendes berichtet: „In der Zweigniederlassung eines deutschen Pharma‐Unternehmens in Jakarta soll ein 14‐tägiges Fortbildungsprogramm für das leitende Personal durchgeführt werden. Frau Singer, die schon einige Male in Indonesien ähnliche Kurse abgehalten hat, wird gebe‐ ten, den Kurs zu übernehmen. Sie berichtet: ‚In diesem Kurs verhielten sich die Teilnehmer wie üblich in Indonesien sehr unauffäl‐ lig. Sie waren nicht richtig zur aktiven Mitarbeit zu bewegen, obwohl ich mich sehr be‐ mühte, von einem eher akademischen Vortragsstil abzuweichen und den Fortbildungs‐ kurs eher interaktiv zu gestalten. Die Teilnehmer sollten mehr als sonst üblich von ihren eigenen Erfahrungen mit der Einführung und dem Verkauf von Arzneimitteln in Indo‐ nesien berichten. Doch so richtig kam zunächst keine Diskussion zustande. Umso erfreuter war ich, als ich merkte, dass sich langsam einer aus der Teilnehmerrun‐ de, Herr Sajono, bemühte aktiv mitzuarbeiten. Er schrieb nicht nur wie üblich, was ich
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vortrug, einfach nur mit, sondern meldete sich häufig zu Wort, schilderte relativ frei und ungezwungen seine Erfahrungen und brachte sie in Verbindung mit den aktuellen Unterrichtsthemen. Ich merkte auch, dass er sich auf die einzelnen Themen gut vorbe‐ reitete und auch selbstständig anhand der angegebenen Literatur vorgearbeitet hatte, denn das konnte ich aus seinen Wortmeldungen heraus erschließen. Er entwickelte sich in der ersten Woche zu einem Teilnehmer, wie ich ihn mir immer gewünscht, aber in Indonesien nie vorgefunden hatte. Die anderen Teilnehmer machten immer nur das, was unbedingt sein musste. Er dagegen war ehrgeizig und zeigte, dass er so viel wie möglich lernen wollte. Natürlich habe ich Herrn Sajono dann auch öfter, wenn wieder keiner etwas sagte, ob‐ wohl ich um Anregungen bat, direkt angesprochen und ihn gebeten, seine Meinung zu äußern, was er dann auch bereitwillig tat. Manchmal habe ich ihn dafür auch direkt ge‐ lobt und selbstverständlich auch indirekt, indem ich seine Anregungen aufgriff und aus meiner Sicht weiterführte. Ich war sogar drauf und dran, ihn als vorbildlichen Teilneh‐ mer zu apostrophieren, um den anderen an diesem Beispiel zu zeigen, wie ich mir die Mitarbeit der Teilnehmer in einer solchen Fortbildungsveranstaltung nach modernen Lehr‐Lernmethoden vorstelle. Doch davon habe ich wohlweislich Abstand genommen, denn ich wusste, dass ein solches Herausstellen einer Person als Vorbild in Indonesien nicht üblich ist. So ging das Ganze ein paar Tage weiter, bis ich merkte, dass die Gruppenmitglieder immer dann, wenn mein ‚Vorzeigeteilnehmer’ etwas sagte, halblaut miteinander tu‐ schelten und immer lauter wurden, so dass ich ihn fast nicht mehr verstehen konnte. Schließlich meldete sich Herr Sajono von sich aus nicht mehr und reagierte nur, wenn ich ihn ansprach und das auch nur sehr kurz. Ich dachte schon, er wäre durch irgendet‐ was gekränkt, was ich nur nicht bemerkt hatte. Schließlich aber wurde er immer passi‐ ver und meldete sich gegen Kursende plötzlich krank. Von keinem der Kursteilnehmer konnte ich in Erfahrung bringen, was passiert war. Nun hatte ich einmal einen Teilneh‐ mer, der so mitzog, wie ich mir das wünschte, und dann das!“ 2. Erläuterungen: Frau Singer ist aus deutscher Sicht zu Recht geschockt. Endlich hat sie einmal einen akti‐ ven, kreativen, offenen und engagierten Indonesier in ihrer Fortbildungsgruppe, der sich so verhält, wie sie das von allen anderen auch erwartet, und nun scheint man ihm so zuge‐ setzt zu haben, dass er wegen Krankheit ausfällt. Sie kennt vermutlich noch aus ihrer Schulzeit ähnliche Situationen, wo Schüler, die als Streber und Einschmeichler verschrien waren, so lange gehänselt wurden, bis sie sich völlig zum Außenseiter in der Klasse entwi‐ ckelt hatten. Aber Herr Sajono zeigte weder Züge eines Einschmeichlers noch eines Stre‐ bers. Er war nur ein im Vergleich zu allen anderen vorbildhafter aktiver Kursteilnehmer. Für Frau Singer ist nicht sein Verhalten das Problem, sondern das der anderen Teilnehmer, weil sie diesem „Vorbild“ nicht folgen und sich von ihm nicht anregen lassen, sondern ihn systematisch ausgrenzen und diskriminieren. Aber warum?
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Herr Sajono zeigt in seinem Verhalten ein hohes Maß an Individualität. Er will etwas ler‐ nen und die sich nun bietenden Chancen optimal nutzen. Dabei erlebt er, dass Frau Singer ihn unterstützt. Er hat das Gefühl, dass sie sich über seine Kommentare, seine vor‐ und nachbereiteten Arbeiten freut und sein Engagement, selbst etwas zum Unterricht beizutra‐ gen, schätzt. Er freut sich über jedes Lob, das ihm von Frau Singer entgegengebracht wird. Das verstärkt noch sein Verhalten. Zugleich aber entfernt er sich von den anderen, den passiv bleibenden Kursteilnehmern. Genau hier liegt das Problem, denn für die gruppen‐ orientierten Indonesier ist Individualität etwas Beängstigendes. Entsprechend der indone‐ sischen Etikette ist es geboten, sich in die Gruppe einzuordnen und sich den in der Gruppe gepflegten Verhaltensnormen unterzuordnen. Genau diese Vorschriften hat Herr Sajono missachtet und dafür wird er auch noch von der von allen Kursteilnehmern hoch angese‐ henen Dozentin Frau Singer gelobt. Das will sich die Gruppe nicht gefallen lassen. „Indonesier sind Gruppenmenschen, man erlebt sie kaum allein. Durch die Erziehung wurde in starkem Maße festgelegt, dass die Gruppe, der man angehört, Schutz und Si‐ cherheit bietet. Individualität würde das Gruppengefüge aufbrechen und somit auch die Geborgenheit darin. Die Gruppe verpflichtet deshalb zu Loyalität und Einordnung. Keiner soll aus seiner Gruppe herausragen, weder negativ noch positiv. Nur was der Gruppe dient, ist gut. Besonders in einer gleichgestellten Gruppe darf keiner ausscheren, das ist ein ungeschriebenes Gesetz. So ist es beispielsweise unschicklich, sich selbst in den Vorder‐ grund zu drängen oder gar anzugeben; das stört die Gemeinschaft. Nicht der Erfolg des Einzelnen, sondern der der Gruppe ist gefordert. Wenn ein Mitglied der Gruppe deren Gesetze massiv verletzt hat und nicht mit der Strömung schwimmt, ist auch ein Konflikt mit ihm bis hin zum Ausschluss aus der Gruppe legitim. Auch wenn Konflikte normaler‐ weise tunlichst vermieden werden, halten dann alle zusammen, um sich an dieser Person zu rächen. Sie wird unterdrückt, es wird schlecht über sie gesprochen und alles, was sie macht, wird von den anderen negativ bewertet“ (Martin/Thomas, 2002, S. 51). Also gerade das, was Frau Singer so schätzt, was sie an Herrn Sajono so lobt, wenn auch mehr auf indirekte Art und Weise, ist im Kontext indonesischer Gruppen und indonesi‐ schen Gruppenverhaltens verpönt und wird so hart bestraft, dass der „Individualist“ die Gruppe zu verlassen hat. 3. Hinweise auf kulturadäquates Verhalten von Frau Singer: „Eine Lerngruppe versteht sich in Indonesien nicht als Wettbewerbsgruppe, in der Einzel‐ ne um bessere Ergebnisse konkurrieren. Die Orientierung richtet sich am Gruppendurch‐ schnitt aus. Es geht nicht um Konkurrenz, sondern um Solidarität und Konformität. [Frau Singer] sollte sich deshalb vor allem an der Gesamtgruppe und deren Lernfortschritt orien‐ tieren. Hierzu gehört es auch, Individualleistungen vor der Gruppe nicht besonders her‐ vorzuheben. Sie kann versuchen, das Verhalten des einen Kursteilnehmers in den Dienst der Gruppe zu stellen und seine Einwürfe mehr in Richtung Kooperation lenken. Sie sollte deutlich machen, dass alle die gleiche Aufgabe haben, das Lernziel zu erreichen. Diesem Ziel kann es sehr förderlich sein, wenn es jemanden gibt, der sehr gut ist, der ein bisschen weiter ist, den man auch einmal bitten könnte, etwas zu erklären.
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Dies gilt nicht nur für Unterrichtsituationen, sondern auch für das Verhalten von indonesi‐ schen Mitarbeitern in Unternehmen. Auch dort sind sie meist weniger motiviert, der Beste zu sein, sondern so gut wie der Durchschnitt ihrer Vergleichsgruppe. Im Gegensatz zu Deutschen, die eher die Angst hemmt, sie könnten versagen, hemmt indonesische Mitar‐ beiter die Angst, sie könnten zu erfolgreich sein und sich dadurch von ihrer Gruppe abhe‐ ben. Das Wohl der eigenen Gruppe zu mehren ist wichtiger als das Bedürfnis nach indivi‐ dueller Selbstentfaltung und Anerkennung. Schließlich wird man dafür mit Respekt, Loya‐ lität und Solidarität, letztlich mit sozialer Sicherheit belohnt. Auch wenn ein Mitarbeiter besonders gute Leistungen zeigt, sollte deshalb die Anerkennung möglichst der Gruppe ausgesprochen werden, auf keinen Fall einem Einzelnen vor der Gruppe. Der Schilderung von [Frau Singer] ist zu entnehmen, dass ihr das unauffällige und zu‐ rückhaltende Verhalten der Masse der Kursteilnehmer, wie anderen ausländischen Dozen‐ ten und Lehrern auch, das Leben schwermacht. Entsprechend ihrem eher diskursorientier‐ ten Lehrstil, wünschen sich westlich‐orientierte Lehrer Schüler wie den in der Situation beschriebenen. Sicher kann ein Änderungsprozess eingeleitet werden, aber schrittweise und mit viel Geduld. Es ist nicht ratsam, sich sofort so zu verhalten, wie es ein deutscher Lehrer vor deutschen Schülern täte. [Frau Singer] sollte sich bewusst sein, was von einem „normalen“ Lehrer in Indonesien erwartet wird. Wie eine Führungskraft in einem Unter‐ nehmen sollte sie sich formal, korrekt, distanziert, emotionslos, unnahbar, respektvoll und höflich verhalten. Sie muss sich nicht fachlich legitimieren, sondern Status und Position bestimmen das Verhalten der Schüler und Mitarbeiter ihr gegenüber. Da Hierarchien meist strikt akzeptiert werden, verunsichert kumpelhaftes Verhalten das Gegenüber eher. Zu große Lockerheit etwa würde den Respekt der Führungskraft gegenüber untergraben und Unzufriedenheit in der Gruppe bewirken. (...) Auf der Basis dieser Vorbedingungen kann die Lehrkraft versuchen, das Schülerverhalten schrittweise ihren Zielen entsprechend zu verändern. Mit gezielten Übungen, die die aktive Beteiligung der Teilnehmer im anstei‐ genden Schwierigkeitsgrad erfordern, kann [Frau Singer] versuchen, die aktive Haltung der Schüler zu fördern. Dabei sollte sie auf Gleichmäßigkeit achten und keinen aus der Gruppe übergehen. Dieses Vorgehen hat meist Erfolg, wenn es langsam, stetig, mit viel Geduld und vor allem dem Vermeiden von Peinlichkeiten geschieht. Diesbezüglich ist ein vorsichtiger Umgang mit Kritik besonders wichtig. Immer wieder sollte sie betonen, dass Fehler vorkommen können, wenn man lernt, dass sie einen weiterbringen und kein Grund zur Scham sind. Wenn ihre Schüler Fehler machen oder etwas Falsches sagen, sollte sie diese auf keinen Fall sofort unterbrechen, sie sollte sie ausreden lassen und nicht sofort widersprechen. Tadel vor anderen sollte auf jeden Fall vermieden werden. Die Lehrkraft sollte das Richtige hervorheben und ihre Korrektur eher subtil und indirekt anbringen. Auch bei der Herausgabe und Besprechung von Tests sollte sie darauf achten, Fehler und schlechte Ergebnisse zum Zweck der Demonstration nur anonym herauszustellen“ (S. 53‐55). 4. Die Handlungswirksamkeit von Kulturstandards: Die kritische Interaktionssituation ist also dadurch entstanden, dass Frau Singer dem deut‐ schen Kulturstandard „Individualismus“ folgt verbunden mit dem Ziel der Stärkung von Individualität, Selbstverwirklichung und individueller Potenzialförderung; alles Werte,
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die in den westlichen Industrieländern von großer Bedeutung sind. Bei den indonesischen Kursteilnehmern wird der indonesische Kulturstandard „Gruppenorientierung“ hand‐ lungswirksam und diese beiden Kulturstandards konfligieren. 5. Deutscher Kulturstandard „Individualismus“: „Individualismus fällt in vielerlei Hinsicht auf als die Betonung des einzelnen Menschen. Er drückt sich in einer relativen (emotionalen) Unabhängigkeit einer Person von Gruppen, Organisationen oder anderen Kollektiven aus. Persönliche Unabhängigkeit und Selbst‐ ständigkeit werden hoch bewertet. Die primäre Identitätskrise, die persönliche Identität des Individuums, das, was eine Person im Unterschied zu anderen Personen auszeichnet und charakterisiert. Als Leitmotiv könnte formuliert werden: Ich bin ich. Ich habe meine eigenen Ziele und Pläne, eine eigene Geschichte und meine Erfahrungen. Ich unterscheide mich daher auch von allen anderen Menschen. Ich entscheide über mein Leben weitge‐ hend selbst. Ich verfolge meine eigenen Ziele und Interessen, aber ich habe auch die Kon‐ sequenzen bei Fehlentscheidungen zu tragen. Ich kann das tun, was ich tun will und für richtig halte. Der Dreh‐ und Angelpunkt meines eigenen Lebens bin ich. Ich habe mit mei‐ nem Leben zufrieden zu sein, einer anderen Person steht darüber kein Urteil zu. Das Recht, ja die Verpflichtung des einzelnen Menschen, sein Leben selbst zu verantwor‐ ten, hat einen hohen Stellenwert. Das geht so weit, dass ein Mindestmaß an Abgrenzung und Eigenständigkeit eines Individuums gegenüber seiner Gruppe als Voraussetzung für ‚psychische Gesundheit’ gesehen wird. Individualismus bedeutet nicht Egoismus! Denn die eigenen Interessen sind sehr wohl mit denen der mich jeweils umgebenden Menschen (z. B. Partner, Kinder, Freunde, Gesell‐ schaft) abzuwägen. Die Grenze zwischen Egoismus und Individualismus verläuft dort, wo eine Person einen anderen (Individuen, Gruppen, Gesellschaft) durch sein Verhalten schä‐ digt. Diese Grenze ist in Deutschland vor allem durch Gesetze, Regelungen, Verträge, Vereinbarungen markiert, sie einzuhalten ist deshalb auch gleichbedeutend mit Fairness und Rücksichtnahme. (...) Der selbstständige, eigenverantwortlich handelnde Mitarbeiter ist auch für deutsche Un‐ ternehmen ein anzustrebendes Ziel. Er sollte sich überlegen, ob er die ihm angetragene Rolle ausfüllen und die Aufgabe übernehmen kann, und diese Entscheidung dann konse‐ quent umsetzen. Klare Arbeitsbeschreibungen und Zuständigkeitsbereiche sind in diesem Sinne als Ausdruck von Eigenständigkeit zu werten, weil innerhalb eines Spielraums jeder für seine Aufgabe die Verantwortung trägt. Wenn er sich über die Erwartungen an ihn nicht im Klaren ist, sollte er von sich aus um ein klärendes Gespräch bitten. Fragen zu stellen wird übrigens allgemein in Deutschland als Interessenbekundung betrachtet. (...). Da eine Person nur rudimentär aufgrund ihrer guten Zugehörigkeit zu charakterisieren ist, ist das, was sie sagt, ihre Einschätzung besonders wichtig. Es gilt nämlich, ihre Interessen, Einstellungen, Überzeugungen, Prinzipien, Werthaltungen herauszufinden. Das sind die wichtigsten Attribute einer Person! Somit ist das Äußern von Interesse und das Eintreten für Überzeugungen ein für ein Individuum wichtiges Kriterium, sich von anderen abzu‐
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grenzen und sich als eigene Person zu fühlen und zu identifizieren; und es ist die Mög‐ lichkeit, sich als Gesprächspartner ein Bild von dieser Person zu machen. Man kann sagen, Kommunikation dient in Deutschland in hohem Maße der Selbstdarstellung, um Kontakte auf der Basis eines gewissen individuellen, seelischen Gleichklangs anzubahnen oder zu bestärken, aber kaum der Schaffung und Aufrechterhaltung der Harmonie einer nicht freiwillig gewählten Gruppe. Für das Berufsleben bedeutet das: Durch Reden und Fragen zeigt man sein Engagement und seine Initiative. Deshalb darf auch die Kommunikation die Gefühle des Sprechers widerspiegeln (Ungeduld, Langeweile, Frustration, Ärger) – eine Person ist derart sichtbar engagiert und beteiligt. Ideen und Meinungen, Argumente und Gegenargumente dienen sowohl der Sache, weil eine sachlich gute Lösung gefunden werden soll, wie auch der Selbstbehauptung im Sinne des Beweises der eigenen Kompe‐ tenz als engagierter und leistungswilliger Mitarbeiter“ (Schroll‐Machl, 2007, S. 205‐214). 6. Indonesischer Kulturstandard „Gruppenorientierung“: „Der Einzelne ist in Indonesien von Geburt an ein untergeordneter Teil der Gemeinschaft. Die Erziehung zum harmoniegerechten Sich‐Einfügen in die Gruppe beginnt in der Fami‐ lie. In ihr ist das javanische Kind nie allein und von ständiger Fürsorge und liebevollem Körperkontakt umgeben. Richtiges Benehmen wird dem Kind durch beständige, doch immer sanfte Ermahnungen nahegebracht. Wenn es sich nicht richtig benimmt, tadelt und straft man nicht, sondern erzählt ihm von furchtbaren Gefahren, wie etwa Geistern, Tieren oder Fremden, die ihm von außerhalb der Familie drohen. Von der Familie selbst erfährt das Kind auf diese Weise nur Sicherheit und Geborgenheit. Es lernt, dass seine Existenz und sein Wohlbefinden von ihr abhängen. Das Verhalten, das die Einheit der Gemein‐ schaft erhält, ist somit gut und alles andere schlecht. Dieses Denken wird internalisiert und auf alle anderen Gruppen übertragen, denen das Kind in Zukunft angehören wird. Etwa ab dem fünften Lebensjahr wird dem Kind beigebracht, sich zu schämen, wenn es sich falsch verhält. Die gelernte Angst vor Gefahren von außen wird durch die Angst vor der Schande ersetzt, die wiederum von der Außenwelt ausgeht. Ein braves Kind lernt so, sich Fremden gegenüber immer mehr nach den Regeln der javanischen Etikette zu verhalten und weder sich selbst noch der Familie Schande zu machen. (...) Auch das Leben der Erwachsenen spielt sich hauptsächlich in Gruppen ab (z. B. Arbeits‐ gruppen, Sportgruppen, Nachbarschaftsgruppen und Zusammenschlüssen von Ehefrau‐ en). Sie bieten Schutz und fordern im Gegenzug Loyalität. Als Teil einer Gruppe erkannt zu werden, dazuzugehören, ist in Indonesien ein erstrebenswertes Ziel. Gern wird diese Zugehörigkeit durch Gruppenuniformen, Gruppenkurse und Gruppenaktivitäten hervor‐ gehoben und gefestigt.(...) aus dem ausgeprägten Denken in Gruppenzugehörigkeit folgt, dass sich alle Arten von Kontakten vorrangig zwischen Angehörigen einer Gruppe etablie‐ ren, also zwischen Menschen, die irgendeine Gemeinsamkeit verbindet, wie etwa die Her‐ kunft aus dem gleichen Kampung oder der Besuch der gleichen Schule. Partikularistisches In‐/Out‐Group‐Denken ist traditionell stark verankert“ (Martin/Thomas, 2002, S. 67‐68). Unter interkulturellen Handlungsbedingungen ist nicht nur beim Tadeln, sondern auch beim Loben von Verhalten, Einstellungen, Engagement und Leistungen darauf zu achten, welche Konsequenzen damit für den Gelobten und dessen soziale Umwelt verbunden
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sind. Frau Singer hat aus deutscher und aus „westlicher“ Sicht sowie aus der Sicht lern‐ psychologischer und pädagogischer, wissenschaftlicher Erkenntnisse alles richtig gemacht. Aus der Sicht indonesischer Kursteilnehmer aber hat sie alles falsch gemacht, weil sie die Gruppe in ihrem indonesischen Kontext nicht beachtet hat, und damit hat sie Herrn Sajono unbeabsichtigt daran gehindert, im Rahmen des indonesischen Gruppenkontextes zu lernen und sich weiterzuentwickeln.
Weiterführende Literatur: Thomas, A./Kammhuber, S. (2006): Globalisierung und Kommunikation, in: Bierhoff, H.‐W./Frey, D. (Hrsg.), Handbuch der Sozialpsychologie und Kommunikationspsychologie, Göttingen, S. 595‐601.
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Es ist sicher nicht übertrieben zu behaupten, dass für das Funktionieren zwischenmensch‐ licher Beziehungen und für das soziale Leben insgesamt, Vertrauen ebenso wichtig ist wie Energie für den reibungslosen Ablauf natürlicher Prozesse. Ein vertrauensvolles Verhält‐ nis zwischen Führungskraft und Mitarbeitern ist die Voraussetzung für ein gutes Betriebs‐ klima. Wenn Mitglieder einer Arbeitsgruppe einander vertrauen, reduziert das die Pro‐ zessverluste und sichert die Effizienz der in der Gruppe vorhandenen Leistungspotenziale. Führungskräfte, die sich gegenseitig vertrauen, sind Vorbilder für die Mitarbeiter und verbreiten Sicherheit und Zuversicht. Mit gefestigtem Vertrauen lassen sich nicht nur im privaten Bereich, sondern auch in sozialen Gebilden wie Unternehmen selbst schwerwie‐ gende Krisen bewältigen, die ohne Vertrauen zum Zusammenbruch führen würden. Vertrauen entsteht aber nicht von allein, sondern muss womöglich über einen langen Zeit‐ raum und unter Inkaufnahme von Rückschlägen aufgebaut, gefestigt und immer wieder erneuert werden. Der Vertrauensaufbau dauert meist lange, Vertrauensverlust und Miss‐ trauen entstehen und entwickeln sich aber oft sehr schnell. Sie bedürfen dann wiederum zu ihrer Beseitigung großer Anstrengungen. Umso wichtiger ist es, Vertrauensmanage‐ ment zu betreiben und zwar auf allen Ebenen und zu allen Funktionsträgern im Unter‐ nehmen. Wenn auch als gesichert gelten kann, dass Vertrauen ein universell verbreitetes Merkmal sozialer Gemeinschaften ist und damit Vertrauensmanagement eine universelle Heraus‐ forderung darstellt, so ist auch nicht zu bestreiten, dass Vertrauensaufbau, Vertrauensver‐ stärkung und die Art und Weise des Vertrauensmanagements kulturell determiniert sind. Allein schon die Verhaltensmerkmale bzw. die Kombination verschiedener Verhaltens‐ merkmale, die einen Menschen für andere als vertrauenswürdig erscheinen lassen oder nicht, sind selbst bei Mitgliedern geografisch benachbarter Nationen/Kulturen oft sehr unterschiedlich. Eine Führungskraft, die in einer ihr nicht vertrauten Kultur erfolgreich sein will, muss also wissen, was für die Menschen, mit denen sie dort zu tun hat, vertrau‐ ensrelevante Verhaltensmerkmale sind und wie sie überzeugend und wirksam in Szene gesetzt werden müssen. Die im weiteren Verlauf diskutierten Fallbeispiele geben einen Einblick in diese Zusammenhänge. Aus der Managementpraxis konnten eine Reihe von Aussagen zum Thema „Vertrauen“ gesammelt werden, die schon einen ersten Einblick in die Komplexität dieses Arbeitsfeldes liefern (Karls, 2005, S. 57): a. „Vertrauen ist immer eine Investition in Unsicherheit.“ b. „Das wichtigste Mittel, um Vertrauen zu gewinnen, ist eine jederzeit nachvollziehbare, klare und offene Kommunikation mit den Mitmenschen.“ c. „Mitarbeiter stellen ihren Unternehmen und ihrem Chef die Vertrauensfrage. Meist unbewusst, aber nachdrücklich. Reagiert untereinander Misstrauen, hat das fatale Fol‐ gen – menschlich und volkswirtschaftlich gesehen.“
A. Thomas, Interkulturelle Handlungskompetenz, DOI 10.1007/978-3-8349-6880-7_9, © Gabler Verlag | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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d. „Misstrauen erzeugt Misstrauen. Wenn Mitarbeiter einer Firma ihr Vertrauen entzie‐ hen, dann haben sie viele Möglichkeiten, zum Ruin der Firma beizutragen – und sei es, dass sie Dienst nach Vorschrift machen.“ e. „Fehlendes Vertrauen lähmt die Kommunikation. Die Mitarbeiter verspüren wenig Neigung, mit schlechten Nachrichten zum Boss zu kommen. Beispielsweise wenn ein Angestellter absieht, dass er einen Termin nicht einhalten kann, oder sein Budget über‐ schreitet und das verschweigt: Probleme, die der Vorgesetzte erfahren müsste, weil sonst die Produktion gefährdet ist.“ f. „Vertrauen und Glaubwürdigkeit stehen – so banal das zunächst klingen mag – ganz oben auf der Liste der Führungsqualitäten.“ g. „Nicht zufällig sind diese Begriffe auch diejenigen, die von Mitarbeitern als wichtigste Gründe für Zufriedenheit am Arbeitsplatz angegeben werden.“ h. Da Vertrauen eine so zentrale Rolle im menschlichen Leben spielt, haben sich auch viele wissenschaftliche Disziplinen schon lange mit dieser Thematik befasst, z. B. Philo‐ sophie, Theologie, Psychologie, Anthropologie, Pädagogik etc. Deshalb existiert bereits eine große Anzahl von Definitionen, die alle unterschiedliche Aspekte des Vertrau‐ ensmanagements thematisieren. Für Fach‐ und Führungskräfte im Auslandseinsatz bieten sich dabei folgende Definitionen an: i.
„Vertrauen basiert auf der Erwartung einer Person oder einer Gruppe, sich auf ein mündlich oder schriftlich gegebenes – positives oder negatives – Versprechen einer an‐ deren Person bzw. Gruppe verlassen zu können“ (Rotter, 1967, 1971).
j.
„Vertrauen bezieht sich auf zukünftige Handlungen anderer, die der eigenen Kontrolle entzogen sind und daher Ungewissheit und Risiko bergen“ (Schlenker, Helm, Tedeschi, 1973).
k. „Vertrauen reduziert die Komplexität menschlichen Handelns, erweitert zugleich die Möglichkeiten des Erlebens und Handelns und gibt Sicherheit“ (Luhmann, 1973). l.
„Menschliches Vertrauen bewirkt, dass man sich in einer riskanten Situation auf In‐ formationen einer anderen Person über schwer abschätzbare Tatbestände und deren Konsequenzen verlässt“ (Bierhoff/Buch, 1984).
Das Vertrauen in andere Personen hat Konsequenzen in zweifacher Weise. Es verstärkt einerseits die Beziehungen in quantitativer Hinsicht (Wunsch nach häufigen Kontakten) und in qualitativer Hinsicht (Vertiefung der Kontakte, Freundschaft, integratives Verhal‐ ten). Andererseits wird eine Sensitivität für Vertrauensbrüche und ihre Konsequenzen sowie für den Aufbau entsprechender Bewertungs‐ und Prüfmethoden zur Absicherung entwickelt. Wenn auch nicht alle der folgenden Aussagen zur Vertrauensthematik im Kontext inter‐ kulturellen Handelns wissenschaftlich gesichert sind, so kommt ihnen doch ein hohes Maß an erfahrungsbasierter Relevanz zu:
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a. Vertrauen erweckt und schafft derjenige, der dem eigenen/kulturspezifischen Orientie‐ rungssystem (Kulturstandards, Werte, Normen, Verhaltensregeln) entsprechend han‐ delt. Er erzeugt kein erwartungswidriges Verhalten, präsentiert das Übliche, zeigt normales Verhalten und wird mit Wohlwollen und sozialer Zuwendung belohnt. b. Fremde erzeugen erwartungswidriges Verhalten, bedürfen der besonderen Aufmerk‐ samkeit, Rücksichtnahme und der Achtung und sind generell unberechenbar in ihren Verhaltensweisen. Fremden misstraut man eher als Einheimischen. Fremde müssen sich das Vertrauen erst „verdienen“ und „erarbeiten“, indem sie sich den vorherr‐ schenden Normen und Regeln unterwerfen, sie anwenden und internalisieren. c. Vertrauen ist zwar eine universell verbreitete Grundkonstante im menschlichen Zu‐ sammenleben, aber verbale und nonverbale Zeichen und Symbole des Vertrauens, des Vertrauensaufbaus, der Vertrauensverstärkung und der Vertrauensfestigung sind kul‐ turspezifisch ausgeprägt. d. Es ist zu erwarten, dass in kollektiven Kulturen andere Regeln des Vertrauensaufbaus beachtet und andere Leistungen zur Vertrauensstärkung erbracht werden müssen so‐ wie Vertrauenssicherung und Vertrauensfestigung andere Arten von Investitionen er‐ fordern als in individualistischen Kulturen. e. Menschen aus Kulturen mit einem hohen Maß an Unsicherheitsvermeidung (Hofstede, 1980) werden von einem fremden Partner ein höheres Maß an Investitionen in den Ver‐ trauensaufbau erwarten als Personen aus Kulturen mit einem geringen Grad an Un‐ sicherheitsvermeidung. f. Die große Bedeutung, die Personen im Auslandseinsatz dem Thema Vertrauensaufbau in der Partnerkooperation beimessen, resultiert daraus, dass gerade unter fremdkultu‐ rellen Handlungsbedingungen die Unsicherheit bezüglich des richtigen, d. h. kultur‐ adäquaten Verhaltens wächst und dass ein hoher Grad an Orientierungsunklarheit, In‐ transparenz und Verunsicherung vorherrscht, was man durch die Betonung von Ver‐ trauen (Risikominimierung, Reduzierung von Komplexität, Herstellung von Informati‐ onsklarheit und Handlungssicherheit) zu bewältigen versucht. g. Es ist immer wieder zu beobachten, dass Personen, die fest davon überzeugt sind, dass erfolgreiches Handeln nur auf der Basis von Vertrauen möglich ist, und für die Aufbau und Sicherung von Vertrauen ein zentrales Thema ist, selbst nicht in der Lage sind, ge‐ nau zu sagen, worauf Vertrauen beruht, was sie im Einzelnen tun, um Vertrauen auf‐ zubauen und aufgrund welcher Verhaltensweisen sie die Vertrauenswürdigkeit ihrer Partner beurteilen. Dies hängt damit zusammen, dass spezifisches und generalisiertes Vertrauen nicht das Resultat rational geplanten Handelns mit einem hohen Maß an bewusstseinspflichtigen Komponenten ist, sondern die Folge vieler, mehr vorbewusst und gefühlsmäßig durchlebter und gelebter kommunikativer und interaktiver Akte in der Begegnung mit einzelnen Personen oder Gruppen. Viele Teilhandlungen (Beobach‐ tungen, Vermutungen, Probehandlungen, Risikoabschätzung, Vermutungen über Auftretenswahrscheinlichkeiten, motivationale Gestimmtheiten, Gefühle der Sicherheit und der Unsicherheit etc.) sind eben nicht bewusstseinspflichtig. Sie werden zwar emo‐
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tional erfahren, entziehen sich aber der Möglichkeit einer präzisen Kommunikation (z. B. im Interview) und sind somit als Teilaspekte eines rational geplanten Hand‐ lungsgeschehens nur schwer oder überhaupt nicht zu analysieren. h. Die Tatsache, dass in vielen Fällen ein Vertrauensbruch oder auch nur die Vermutung eines Vertrauensmissbrauchs abrupt zu einem oft nicht mehr zu behebenden Vertrau‐ ensverlust führt, resultiert höchstwahrscheinlich auch daraus, dass die vertrauensbil‐ denden, vertrauensstärkenden und vertrauenserhaltenden Elemente in der interperso‐ nalen Interaktion eben nicht allein das Resultat eines rational kalkulierten Handlungs‐ plans sind, sondern viele verhaltens‐ und erlebnisrelevante Prozesse sich der rationalen Steuerung und Kontrolle entziehen, obwohl sie in hohem Maße die sich bildende Ein‐ stellung und Überzeugung in Bezug auf die Vertrauenswürdigkeit des Partners deter‐ minieren. Wenn diese Hypothese zutrifft und viele der in den wissenschaftlichen Mo‐ dellen genannten psychischen Bedingungen, Verlaufsprozesse und Wirkungen, die mit dem Aufbau von Vertrauen zusammenhängen, von dieser schwer rational kalkulierba‐ ren, reflektierbaren und kommunizierbaren Qualität sind, dann wird die rationale In‐ transparenz noch verstärkt, wenn die um gegenseitiges Vertrauen ringenden Partner eine jeweils unterschiedliche kulturspezifische, individuelle Sozialisationsgeschichte und Enkulturation durchlaufen haben. i.
Interkulturelle Begegnung und Kooperation sind besonders im Anfangsstadium mit einem hohen Maß an Intransparenz, Verunsicherung, Orientierungsverlust, subjekti‐ vem Kontrollverlust etc. belastet, weil gehäuft erwartungswidrige Verhaltensreaktio‐ nen beim Partner und im sozialen Umfeld generell beobachtet und selbst erfahren werden. Zielhandlungen, gewohnte Abläufe, selbstverständliche und bislang keiner Beachtung mehr bedürfende Routineabläufe werden gestört, unterbrochen, behindert etc. Sie erfordern eine gesonderte Steuerung, Kontrolle, wiederholte Aufmerksamkeit, bewusste Planung und erneute Initiierung. Diese Zusatzleistungen sind zu erbringen, wenn überhaupt etwas vorangehen soll, ohne dass für den Handelnden einsichtige und akzeptable Gründe dafür zur Verfügung stehen. In dieser schwierigen und unüber‐ schaubaren, spannungsgeladenen Situation soll zugleich ein erfolgreicher Vertrauens‐ aufbau zum Partner, zu dessen sozialem Umfeld und zum eigenen Lebensumfeld ge‐ leistet werden. Im günstigsten Fall wird diese Arbeit mit Behutsamkeit, Vorsicht und einem hohen Maß an eigenkulturell geprägter sozialer Kompetenz angegangen. Der Handelnde bemüht sich, mit Sensibilität, Empathie und hoher Aufmerksamkeit sein eigenes Verhalten und das seines Partners zu steuern und zu kontrollieren, wozu er auf all das zurückgreift, was er gelernt hat, wie z. B. Methoden, Konzepte und Fertigkeiten, deren Modalitäten des Einsatzes aber kulturspezifisch determiniert sind.
Zum Thema „Vertrauen“ gibt es inzwischen eine umfangreiche wissenschaftliche Literatur sowohl aus US‐amerikanischen wie aus deutschen Quellen (z. B. Petermann, 1996; Schweer/ Thies, 2003; Thomas, 2003; Müncher, 2011; Lewicki/Bunker, 1996; McKnight/Cumming/ Chervany, 1998; Schoorman/Mayer/Davis, 2007) und das noch aufgrund unterschiedlicher wissenschaftlichen Disziplinen. Für die hier zu behandelnden Aspekte der Vertrauensthema‐ tik geben die Arbeiten von Petermann (1996) nützliche Anhaltspunkte. Er entwickelt ein Drei‐Phasen‐Modell des Vertrauensaufbaus, das aus folgenden Elementen besteht:
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„1. Phase: Herstellen einer verständnisvollen Kommunikation
■ Dem Partner Aufmerksamkeit zuwenden ■ Gezieltes Zuwenden (Verstehen durch Einfühlungsvermögen) 2. Phase: Abbau bedrohlicher Handlungen
■ Eigenes Handeln durch eindeutige und für den Partner berechenbare Handlungsvor‐ züge durchschaubar machen
■ Durch Rückmeldungen (Feedback) dem Partner eine Orientierung über sein Verhalten geben
3. Phase: Gezielter Aufbau von Vertrauen
■ Durch anspruchsvolle Aufgaben dem Partner Kompetenz übertragen ■ Wachsende Erfolge bei der Bewältigung von Anforderungen fördern das Selbstver‐ trauen (wie Selbstwirksamkeit) als Voraussetzung für Vertrauen“
(Petermann, 1996, nach Abbildung S. 117) Dieses Modell wird unterstützt durch wichtige Ergebnisse der Forschungsarbeiten von Butler (1991), der folgende Bedingungen für die Vertrauensförderung zwischen Mitarbei‐ tern in Organisationen auflistet: a. Erfüllung von Versprechungen b. Loyalität c. Ehrlichkeit d. Offenheit e. Diskreter Umgang mit Geheimnissen f. Ansprechbarkeit für Ideen und Meinungen g. Kooperatives Verhalten statt Wettbewerb h. Dauerhafte Beziehungen i.
Reichhaltige, anregende, wichtige Beziehungen
j.
Hohe soziale Identität
k. Respektvolles und anerkennendes Vorgesetztenverhalten l.
Respektvolles und wertschätzendes Gruppenklima
m. Wertschätzen interpersonaler Beziehung n. Entscheidungs‐, Handlungs‐ und Begründungstransparenz
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Als Ergänzung zu dem oben dargestellten Drei‐Phasen‐Modell des Vertrauensaufbaus entwickelt Petermann auch ein Drei‐Phasen‐Modell des Vertrauensverlustes: „1. Phase: Zerstören einer vertrauensvollen Kommunikation
■ Zu starke Selbstdarstellung und unzureichende Beachtung der Lage und Bedürfnisse des Partners
■ Bevormundung des Partners und zu starkes Einschränken von Entscheidungsfreiräu‐ men
2. Phase: Wahl bedrohlicher Handlungen
■ Schwer vorhersehbares, willkürliches Verhalten dem Partner gegenüber oder auch zu viele oder zu wenige Ratschläge und Hinweise
■ Keine oder nur einseitige Rückmeldung führt zur Desorientierung oder Bedrohung 3. Phase: Gezielter Vertrauensbruch
■ Zynismus und Abwertung der Kompetenzen des Partners ■ Wachsende Hilflosigkeit und Passivität, die einen Zerfall des Selbstvertrauens zur Folge haben“
(Petermann, 1996, nach Abbildung auf S. 121). In den folgenden Beispielfällen der Auseinandersetzung deutscher Fach‐ und Führungs‐ kräfte mit der Vertrauensthematik in der Zusammenarbeit mit ausländischen Partnern und Mitarbeitern werden viele der genannten Bedingungen und Merkmale des Vertrau‐ ensaufbaus und des Vertrauensverlustes in ihren handlungswirksamen Funktionen deut‐ lich sichtbar. Dabei ist zu beachten, dass so gut wie alle Ergebnisse der bisher vorliegenden wissenschaftlichen Vertrauensforschung aus „westlichen“, d. h. euro‐amerikanischen Quellen stammen. Es ist also nicht ausgeschlossen, dass in Kulturen außerhalb dieses „westlichen“ Kulturkreises noch andere, hier nicht genannte Merkmale von Bedeutung sind.
1. Beispiel: „Der um Vertrauen bemühte Chef!“ 1. Die kritische Interaktionssituation: Herr Siebert leitet seit Kurzem in Jakarta (Indonesien) eine Niederlassung eines deut‐ schen Unternehmens. Es werden an einer halbautomatischen Bahnstraße Metallteile für die deutsche Maschinenbauindustrie gefertigt. Er ist Chef der Niederlassung mit insge‐ samt 100 gut qualifizierten indonesischen Mitarbeitern. Er ist der einzige Deutsche in diesem Unternehmen. Herr Siebert berichtet: „Für mich war von Anfang an klar, dass ich alles daransetzen muss, das Vertrauen mei‐ ner indonesischen Mitarbeiter zu gewinnen. Schon in Deutschland hatte ich die Erfah‐ rung gemacht, dass ohne gegenseitiges Vertrauen so gut wie gar nichts läuft, denn bei
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der anspruchsvollen Arbeit kann man nicht alles zu jeder Zeit kontrollieren. Man muss sich darauf verlassen können, dass jeder Mitarbeiter eigenverantwortlich auf Qualität achtet und sofort Meldung macht, wenn irgendwo ein Fehler auftritt. So habe ich mich nach Kräften bemüht, meinen Mitarbeitern höflich, wohlwollend, sachbezogen und fachlich kompetent gegenüberzutreten. Ich habe die zu erreichenden Ziele, die von meinem Unternehmen, und mir als Vertreter des Unternehmens, erwarte‐ ten Leistungen und Qualitätsmaßstäbe klar und nachvollziehbar dargestellt und im Ein‐ zelnen begründet. Immer wieder habe ich in Einzel‐ und Gruppengesprächen betont, wie wichtig die Selbstständigkeit und Eigenverantwortlichkeit jedes einzelnen Mitarbei‐ ters an seinem Arbeitsplatz ist und dass alle und jeder an seinem Platz zum Wohle des Unternehmens beizutragen hat. Die einzelnen Arbeitsaufgaben und Funktionen sowie die damit verbundenen Rollen, Handlungsspielräume und Entscheidungsgrenzen habe ich aufgezeigt und dies nicht nur abstrakt, sondern auch an Beispielen, besonders wenn es zu Störungen im Betriebsablauf gekommen war. Aus meiner Sicht habe ich mich nach Kräften bemüht, in den vielen Gesprächen immer sachlich, rational und logisch zu ar‐ gumentieren, um ein hohes Maß an Klarheit und Transparenz in der Argumentation zu erreichen. Den Mitarbeitern habe ich immer aufmerksam zugehört, widersprochen hat mir keiner und es gab auch keine kontroversen Diskussionen. Ich gewann den Eindruck, dass sich so ein recht vertrauensvolles Miteinander am Arbeitsplatz eingestellt hatte und mein Vertrauensmanagement erfolgreich war. Nun arbeite ich seit acht Monaten hier in der Zweigniederlassung und gewinne immer mehr den Eindruck, dass mein Bemühen, eine vertrauensvolle Atmosphäre herzustellen, nicht recht funktioniert. Nur wenig läuft so, wie ich das erwartet habe. Meine Anwei‐ sungen werden zwar widerspruchslos entgegengenommen, aber nicht oder nur teilwei‐ se befolgt. Bei auftretenden Materialfehlern, Bearbeitungsfehlern, Reparaturnotwendig‐ keiten etc. werde ich viel zu spät und manchmal überhaupt nicht informiert. Ich bin deshalb gezwungen, mehr als geplant im Werk nach dem Rechten zu sehen, also so et‐ was wie eine Stichprobenkontrolle vornehmen zu müssen, damit größere Schäden ver‐ hindert werden. Wirklich verlassen kann ich mich nur auf wenige meiner Mitarbeiter und immer wieder muss ich mit bösen Überraschungen rechnen. Auch die Fluktuati‐ onsrate und der Krankenstand haben zugenommen. Irgendetwas stimmt hier nicht, aber ich weiß nicht, was. Ich weiß auch nicht, was ich jetzt machen soll. Bei vorsichtigen Ver‐ suchen, mit einzelnen, besonders aufgeschlossenen und qualifizierten Mitarbeitern über das Thema gegenseitigen Vertrauens in Gespräch zu kommen, stoße ich regelmäßig auf Verwunderung, Schweigen und Ablehnung.“ 2. Erläuterungen und Begründungen: Herr Siebert hat womöglich ein Training zum Vertrauensmanagement in Deutschland absolviert und dort die Erfahrung gemacht, dass förderndes Verhalten für erfolgreiches Führen nützlich ist. Vielleicht gehört der Aufbau von Vertrauen aber auch zu seinen gene‐ rellen Einstellungen in Bezug auf Führungsqualitäten. Jedenfalls ist er eine erstaunlich reflektierte, aber auch zielstrebige Führungskraft, die viel von dem, was Petermann als vertrauensfördernde Verhaltensweise in seinem Drei‐Phasen‐Modell darstellt, praktiziert:
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Aufmerksamkeit zuwenden; eigenes Verhalten durchschaubar machen sowie Rückmel‐ dung geben; und was Butler aufgrund seiner Forschungen als Bedingung für den Vertrau‐ ensaufbau formuliert: Offenheit; Ehrlichkeit; kooperatives Verhalten; respektvolles Verhal‐ ten und Transparenz. Unter Berücksichtigung der ihm zur Verfügung stehenden Handlungsmöglichkeiten und Einsichten in das konkrete Feld vertrauensfördernder Verhaltensweisen, hat er alles richtig gemacht, wenn man einmal voraussetzt, dass sein Bericht über sein eigenes Verhalten in etwa dem entspricht, was auch tatsächlich stattgefunden hat, und nicht geschönt ist. Solche Berichte über eigenes Führungsverhalten sind in der Regel in Richtung der Erfüllung sozi‐ al erwünschter und allgemein akzeptierter Normen und Werte gerecht werdenden Verhal‐ tens, also in Richtung einer Erhöhung des positiven Selbstwertes, verzerrt. Aber in Indonesien zeigt sich, alle seine Bemühungen um die Schaffung einer vertrauen‐ fördernden Atmosphäre bringen nicht den gewünschten Erfolg. Hat er etwas falsch ge‐ macht, fehlt etwas oder sind in Indonesien andere vertrauensrelevante Merkmale zu be‐ achten, die Herr Siebert aber nicht kennt? Eine genauere Analyse seines Selbstberichts zeigt, dass Herr Siebert sehr sachorientiert vorgegangen ist. Er hat vieles erklärt, begründet, als wichtig herausgestellt, transparent gemacht, hat Leistungs‐ und Qualitätsmaßstäbe nicht nur benannt, sondern auch näher erläutert und begründet, und er hat versucht, dass Wir‐Gefühl zu verstärken. Alles schön und gut, aber seine indonesischen Mitarbeiter und ihre Bedürfnisse, Erwartungen und Ansichten kommen in seinem Bericht überhaupt nicht vor. Er zeigt an keiner Stelle, dass er sich bemüht hat herauszufinden, was seine Mitarbeiter wünschen, empfinden und von ihm und seinen Bemühungen um Vertrauensbildung halten. Ein Dialog hat gar nicht statt‐ gefunden, stattdessen hat er als kompetenter Fachmann, als Chef, als Vertreter des „Wes‐ tens“ oder Deutschlands als Industrienation und als Vertreter seines international tätigen Unternehmens gesprochen und als solcher klargemacht, was erwartet wird und was zu tun ist. Für Widersprüche und das Äußern anderer Ansichten war da kein Raum. Erst als Herr Siebert mit seinen Bemühungen um Vertrauen am Ende ist und nicht mehr weiterweiß und sich dann vorsichtig an einige seiner indonesischen Mitarbeiter wendet, die er für aufgeschlossen und qualifiziert hält, um mit ihnen über Vertrauensbildung ins Gespräch zu kommen, macht er die Erfahrung, dass sie schweigen und mit Verwunderung und Ablehnung reagieren. Das hätte ihm zu denken geben müssen. Irgendwie, so kann man schlussfolgern, hat Herr Siebert bei all seinen Bemühungen es nicht geschafft, seine Mitarbeiter „mitzunehmen“. Das hat womöglich damit zu tun, dass hier unterschiedliche Kulturstandards handlungswirksam werden. 3. Kulturstandards aus deutscher Sicht: Auf der Basis von Forschungen von Schroll‐Machl zu deutschen Kulturstandards (2007) ist das Verhalten von Herrn Siebert ganz gut zu erklären. Im Verhalten von Herrn Siebert im Rahmen seiner Bemühungen um Vertrauensentwicklung sind offensichtlich die ihm ver‐ trauten deutschen Kulturstandards „Sachorientierung“, „Regelorientierte, internalisierte
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Kontrolle“ verbunden mit „Trennung von Persönlichkeits‐ und Lebensbereichen“ hand‐ lungswirksam geworden. Gerade in der beruflichen Kommunikation dominieren bei Deutschen und so auch bei Herrn Siebert Sachinhalte, die „objektive“ Darstellung von Fakten‐ und Begründungszu‐ sammenhängen. „Die ‚sachlichen’ Darstellungen der Deutschen können verletzend sein, das besonders dann, wenn Deutsche bei auftretenden Problemen gnadenlos die Schwach‐ stellen analysieren. Die weichen Faktoren, die ‚menschliche Empfindlichkeiten’ betreffen, bleiben oft unberücksichtigt und beigefügte Kränkungen womöglich unbemerkt – oder sie werden in Kauf genommen. (...) Wenn Deutsche für ein Ziel oder Ideen werben wollen (genau das ist ja das Anliegen von Herrn Siebert), dann bereiten sie die relevanten Punkte argumentativ auf, um andere überzeugen zu können. Das geschieht sehr faktenorientiert und zeigt Handlungsansätze, Voraussetzungen sowie Konsequenzen auf. Auf der Bezie‐ hungsebene (z. B. durch Humor oder persönliche Bemerkungen) werben sie um Zustim‐ mung erst, wenn die Fakten klar und in ihrer Logik dargelegt sind. Dann hat sich der Vor‐ tragende als fachkompetent erwiesen und wechselt unter Umständen die Ebene. Hinsicht‐ lich Entscheidungen und Handlungen, für die es Sachargumente, aber auch subjektive Affinitäten gibt, werden überwiegend Sachaspekte dargelegt. Es erschiene als Schwäche, Subjektivem ein zu hohes Gewicht beizumessen. Das sachlich Sinnvolle, Richtige und Notwendige hat den Ausschlag zu geben. Und wie man dazu persönlich steht, kann allen‐ falls durchschimmern“ (Schroll‐Machl, 2007, S. 55‐56). Eng verbunden mit dem Hang zur Sachorientierung steht die Vorliebe für „Regelorientier‐ te, internalisierte Kontrolle“: „Deutsche halten sich an die Regeln und haben generell eine starke Identifikation mit ihren Tätigkeiten, sie nehmen ihre Arbeit, ihre Rollen und Aufga‐ ben und die damit verbundene Verantwortung sehr ernst. Ja, sie können das, was sie ma‐ chen, gut machen und sind konzentriert bei der Sache. (...) Auf alle Beteiligten muss Ver‐ lass sein. Eine Sache ist organisiert und jetzt wird von allen erwartet, dass sie sich konkret an ihre Zuständigkeit halten und ihre Aufgabe erfüllen. Nur im Zusammenspiel aller funktioniert das System. Regelorientierte, internalisierte Kontrolle bedeutet, dass alle den im jeweiligen Kontext vorhandenen Regeln, Systemen, Strukturen Folge leisten, und dass das Verhalten an den abstrakten und allgemein gültigen Vereinbarungen, Übereinkünften und Vertragsbestandteilen zu orientieren ist, also an von konkreten Personen und Situati‐ onen unabhängigen Regelungen. Strukturen und Regel erhalten einen moralischen Wert: Sie einzuhalten, wird gleichgesetzt mit Zuverlässigkeit. Im Berufsleben ist übrigens auch der Chef weiterhin lediglich Repräsentant dieser Struktur“(S. 94‐95). Eingebettet ist das sach‐ und regelorientierte Verhalten von Herrn Siebert in eine strikte „Trennung von Persönlichkeits‐ und Lebensbereichen“: „Deutsche nehmen eine strikte Trennung der verschiedenen Bereiche ihres Lebens vor. Sie differenzieren ihr Verhalten sowohl deutlich danach, in welcher Sphäre sie mit einer anderen Person zu tun haben, wie auch danach, wie nahe sie einer anderen Person stehen. Dabei ist die Unterscheidung fol‐ gender Sphären wesentlich: beruflich – privat; rational – emotional; Rolle – Person; formell – informell“ (S. 143).
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In Bezug auf das, was in der Zusammenarbeit mit Indonesien wichtig ist, wie die folgen‐ den Analysen des Fallbeispiels zeigen werden, spielt die Wertigkeit von „rational – emoti‐ onal“ eine bedeutsame Rolle. „Deutsche bemühen sich, ihre Gefühle und die objektiven Fakten auseinanderzuhalten. Dabei ist Rationalität vor allem im Berufsleben angesagt, wo es als professionell gilt, sich sachlich zu zeigen (vergleiche Sachorientierung) und Gefühle in mancherlei Hinsicht fast als Schwäche zu deuten. Rationalität ist somit der Persönlich‐ keitsbereich, der beruflich aktiviert wird und die Basis für Sachorientierung darstellt. Emo‐ tionalität dominiert hingegen das Privatleben, wo es wichtig ist, Mitgefühl mit und Ver‐ ständnis für andere zu haben sowie sich seiner eigenen Gefühle bewusst zu sein und sie ausleben zu können. (...) Ein Umschalten vom Anspruch auf Rationalität und Objektivität auf emotionales Verhalten erfolgt, wie unter regelorientierter, internalisierter Kontrolle ge‐ zeigt, wenn sich Deutsche dazu legitimiert sehen, weil beispielsweise etwas nicht nach der (vereinbarten) Struktur funktioniert. (...) Fehlschläge im Beruf und berufliche Niederlagen schmerzen natürlich auch Deutsche sehr. Doch sie zwingen sich während der Arbeit zur Disziplinierung persönlicher Gefühle und zum Leben mit dem Misserfolg. Schwächen gilt es, nur dosiert zu zeigen und stattdessen Handlungsbereitschaft in den Vordergrund zu stellen. Beharrlichkeit und Weitermachen gilt als produktiv. Sachlich‐inhaltlich wird selbstverständlich in Krisensitzungen nach Ursachen gesucht“ (S. 147). Herr Siebert hat sich entsprechend der ihm vertrauten kulturellen Normen, Werte und Verhaltensregeln korrekt verhalten, ist aber damit bei seinen indonesischen Mitarbeitern nicht angekommen. Zum Aufbau von Vertrauen zwischen ihm und seinen indonesischen Mitarbeitern fehlt offensichtlich noch etwas. 4. Kulturstandards aus indonesischer Sicht: Auf der Basis der Forschungen von Martin und Thomas (2002) lässt sich zur Begründung des Verhaltens der indonesischen Mitarbeiter die Handlungswirksamkeit von drei Kultur‐ standards, nämlich „Harmoniestreben“, „Gruppenorientierung“ und „Gesicht“ anführen. Es wurde schon darauf hingewiesen, dass Herr Siebert es wohl nicht geschafft hat, seine indonesischen Mitarbeiter auf den Weg hin zum Aufbau eines vertrauensvollen Bezie‐ hungsverhältnisses „mitzunehmen“. Entsprechend dem Kulturstandard „Harmoniestre‐ ben“ gilt für Indonesier, dass Harmonie in allen zwischenmenschlichen Beziehungen einen hohen Stellenwert hat. Es wird alles getan, um Harmonie herzustellen, zu verstärken und zu erhalten. „Ein Wahren der bestehenden Harmonie ist demzufolge im Interesse aller. Dem Einzelnen bleibt dabei sinnvollerweise nicht mehr, als danach zu streben, in dieser Welt seinen Platz zu finden und einzunehmen und seine damit verbundenen Pflichten zu erfüllen, trägt er damit doch gleichzeitig zu seinem eigenen Wohl als auch zu dem der ganzen Gemeinschaft bei. Jegliche Art persönlicher Weltverbesserung hat in diesem Sys‐ tem keinen Platz, sie würde die bestehende Ordnung nur stören“ (Martin/Thomas, 2002, S. 43). „In allem, was man tut und sagt, gilt es die Position des Gegenübers zu berücksich‐ tigen. In einem Gespräch versucht man dem anderen alle Möglichkeiten offenzuhalten, das heißt, ihn nicht zu einer Stellungnahme zu zwingen, die später zu einem Konflikt führen könnte. Man vermeidet es, den anderen in eine Situation zu bringen, wo er nur mit Ja oder Nein antworten kann. Auf Fragen werden keine direkten Antworten gegeben. Eigene
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Aussagen werden gern durch Formeln wie ‚nach meinem Gefühl’ oder ‚vielleicht’ relati‐ viert. Man soll auch keine Antworten geben, die den Gesprächspartner enttäuschen könn‐ ten, dafür nimmt man selbst eine Lüge in Kauf. Der Javaner wird eine Antwort geben, von der er erwartet, dass sie dem Fragenden gefällt“ (S. 45). Eigentlich ist das, was hier über Harmonie angeführt wird, nicht weit von dem entfernt, was Herr Siebert mit seinen Bemühungen um Vertrauensaufbau erreichen wollte, aber er hat nicht deutlich genug gezeigt, dass ihm das Wohl der Mitarbeiter wirklich wichtig ist. Für seine indonesischen Mitarbeiter blieben seine Erläuterungen zur Vertrauensthematik im Bereich kalter, rationaler, objektiver Anweisungen und bargen nicht die Qualität einer warmherzigen, von gegenseitiger Wertschätzung und Zuneigung getragenen Absicht. Der Kulturstandard „Gruppenorientierung“ verstärkt noch diesen Eindruck. Nach dem für Indonesier so wichtigen Kulturstandard „steht in Indonesien im Gegensatz zu Deutschland, häufig bereits bei der Personalauswahl die Beziehungsorientierung vor der Aufgabenorientierung. Arbeitgeber und Arbeitnehmer gehen nicht nur ein Vertrags‐ oder Geschäftsverhältnis ein, sondern und zwar in erster Linie ein gegenseitiges, persönliches Verpflichtungsverhältnis. Bei privaten Sorgen und Problemen ist es üblich, den Vorgesetz‐ ten um Rat zu fragen, und es gehört zu seinen Pflichten, dem Mitarbeiter zu helfen“ (S. 70). Weiterhin ist zu beachten, dass Gemeinschaftssinn, Kompromissbereitschaft und Liebens‐ würdigkeit oft geringes Selbstvertrauen, Risikoscheu, Mangel an Entschlussfreudigkeit, an Eigeninitiative und Kreativität zur Folge (haben). Aus der geringen ausgeprägten Ich‐ Orientierung folgt die hohe Verbindlichkeit und auch die Abhängigkeit von traditionellen gesellschaftlichen Normen, die das Leben in hohem Maße regeln und bestimmen. (...) Die Werte und Normen javanischer Moral werden in Bezug auf Personen erlernt und man empfindet etwa Verantwortung und Pflichtgefühl nicht der Firma, aber dem Vorgesetzten persönlich gegenüber. In einer anonymen Großstadtmasse, also unbekannten und Perso‐ nen gegenüber, die nicht eingeordnet werden können, sowie gegenüber abstrakten sozia‐ len Einheiten wie etwa Unternehmen fehlen diesen Personen dann schlicht die Verhaltens‐ regeln“ (S. 71‐72). Dieses so wichtige persönliche Beziehungsverhältnis zum Vorgesetzten, das für Indonesier die Voraussetzung dafür ist, dass man (Eigen‐)Verantwortung übernimmt und seiner Pflicht nachkommt, ist zwischen Herrn Siebert und seinen Mitarbeitern gar nicht erst ent‐ standen, weil dazu mehr an positiver Rückmeldung, wertschätzenden Aktionen und Reak‐ tionen von Herrn Siebert hätten ausgehen müssen. Stattdessen hat er die Mitarbeiter „per‐ sönlich“ nicht nur nicht angesprochen, sondern sich eher vom Leibe gehalten, indem er sich als Repräsentanten des Mutterunternehmens präsentiert hat, der dafür sorgen muss, dass ein Vertrauensverhältnis entsteht, damit die Zusammenarbeit gut funktioniert. Der Kulturstandard „Gesicht“ hat in Indonesien eine ähnlich große Bedeutung wie der Kulturstandard „Sachorientierung“ in Deutschland. „Das eigene Gesicht wahren und dem Gegenüber Gesicht geben bedeutet in erster Linie, sich seiner Position und der des anderen entsprechend so nach den Regeln des Respekts und der Etikette zu verhalten, dass Pein‐ lichkeiten und Konflikte jeder Art vermieden werden. Durch das im Sinne der Harmonie‐
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orientierung und der Etikette korrekte Handeln wahrt und gibt man das Gesicht. Dabei liegt die Betonung darauf, dem anderen Gesicht zu geben, freilich im Vertrauen darauf, dass er das Gleiche tut. Dieser Vertrauensvorschuss, der wechselseitig gewährt und erwar‐ tet wird, erklärt, weshalb es Indonesiern so wichtig ist, vor allen Interaktionen erst einen Kreditrahmen an Vertrauen zu schaffen, innerhalb dessen das wechselseitige Gesichtgeben möglich ist und darauf vertraut werden kann. Verhaltensweisen, die bei uns üblich sind, um aktiv das eigene Gesicht zu wahren, etwa die positive Darstellung der eigenen Person, das individuelle Auftrumpfen, eher auf die Abgrenzung und Hervorhebung des eigenen als auf Integration ausgerichtet, sind eher unüblich. Vielmehr nimmt man sich selbst zu‐ rück, spricht, wenn über Eigenes, dann über die Familie oder Arbeitsgruppe. Der Ge‐ sprächspartner und sein Umfeld, wie seine Familie und sein Eigentum, aber werden um‐ worben, gelobt und hervorgehoben. In erster Linie wird vom Rangniederen dem Ranghö‐ heren, seinem Status und seinem Alter Tribut gezollt. Doch auch der Ranghöhere hat sei‐ nem Gegenüber Gesicht zu geben und darauf zu achten, dass dieser sein Gesicht nicht verliert“ (S. 137). 5. Lösungsstrategie: Herr Siebert glaubt aus gutem Grund, auf Basis seiner positiven Erfahrungen in Deutsch‐ land, mit klaren Ansagen, begründeten Forderungen und Appellen, eindeutigen und bere‐ chenbaren Verhaltensweisen und durch Zuwendung ein vertrauensvolles Klima schaffen zu können. Die indonesischen Mitarbeiter erwarten, dass er sich so einfühlsam, empha‐ tisch und wertschätzend ihnen gegenüber verhält, dass er ihnen Gesicht gibt, zur Harmo‐ nie im Zusammenleben und in der Zusammenarbeit beiträgt und für sie da ist, falls sie etwas benötigen. Sie haben aber die Erfahrung gemacht, dass sie an ihn als Person und als Mensch überhaupt nicht herankommen, sondern ihn nur als Vertreter und Vollzieher der Chefrolle erleben können und erleben dürfen. Als Person war er für sie nicht zugänglich. Immerhin gibt es in dem Drei‐Phasen‐Modell von Petermann in der zweiten und in der dritten Phase Hinweise auf das, was Herr Siebert vermissen ließ: „Eigenes Handeln durch eindeutige und berechenbare Handlungsvorzüge durchschaubar machen“; „durch Rück‐ meldung dem Partner Orientierung über sein Verhalten geben“ und dafür sorgen, dass über „wachsende Erfolge bei der Bewältigung von Aufgaben das Selbstvertrauen (Selbst‐ wirksamkeit) gefördert wird“. Hätte Herr Siebert versucht, eventuell mit Unterstützung eines mit der indonesischen Kultur vertrauten Beraters, über die Art und Weise des Um‐ gangs mit seinen Mitarbeitern diese vertrauenfördernden Merkmale in seinem Verhalten zu repräsentieren, wären die Erfolgschancen deutlich höher gewesen. Zurückhaltendes Auftreten, viel positives Feedback selbst zu Leistungen, die er aus seiner deutschen Erfah‐ rung als Selbstverständlichkeit und „nicht der Rede wert“ betrachten würde, und Teilhabe seiner Mitarbeiter an konkreten Erfolgen im Vollzug alltäglicher Arbeitsprozesse hätten ihn weniger als einen in allen Bereichen überlegenen Chef erscheinen lassen, an den nie‐ mand herankommt und der auch niemanden an sich heranlässt. Bemerkungen zur eigenen Person, zu eigenen Befindlichkeiten, eigenen Besorgnissen, Erwartungen und Hoffnungen bezüglich der Entwicklung seiner Mitarbeiter in fachlicher und persönlicher Hinsicht so‐ wie auch der Erfolge der indonesischen Zweigniederlassung auf dem internationalen
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Markt hätten bei den Mitarbeitern Sympathien geweckt und bedrohlich wirkende, aber nicht von ihm so gemeinte Handlungen abgebaut. All die von ihm so kühl, rational, objek‐ tiv und überzeugend begründeten, vertrauenerweckenden Ziele und Handlungen hätten gelebt werden müssen. Konkret heißt das, Herr Siebert und seine Mitarbeiter hätten einen Raum – ein interpersonales Gefüge, ein Gesprächs‐ und Interaktionsklima – schaffen müs‐ sen, den alle, jeder auf seine Weise, allmählich mit Vertrauen hätten auffüllen müssen. Man kann nun argumentieren, dass jeder, der in einer so fremden Kultur wie Indonesien beruflich tätig ist und Vertrauensmanagement betreiben will, mit erheblich mehr Schwie‐ rigkeiten zu rechnen hat als jemand, der im europäischen Ausland arbeitet. In den europä‐ ischen Ländern mit ihren gemeinsamen kulturellen, christlich‐antiken Wurzeln und einem über Jahrhunderte andauernden wechselseitigen Austausch, nicht nur von Gütern, son‐ dern auch von Ideen, Meinungen, Werten, Normen, Welt‐ und Menschenbildern (europäi‐ sche Wertegemeinschaft) müsste es leichter sein, eine vertrauensvolle Zusammenarbeit zu erreichen. Dazu gibt das folgende Beispiel „Der Konflikt“ (Schroll‐Machl/Nový, 2003) die Antwort.
2. Beispiel: „Der Konflikt“ 1. Die kritische Interaktionssituation: „Die Installationsfirma Maier, die ein Tochterunternehmen in Tschechien hat, hatte ei‐ nen Auftrag auf einer großen Baustelle in Tschechien, entsprechend wickelte sie den Auftrag fast ausschließlich über das tschechische Tochterunternehmen ab. Der (deut‐ sche) Bauherr war mit der Arbeit sehr zufrieden. Nur zum Schluss gab es Zeitprobleme mit der Fertigstellung, von der die deutsche Mutterfirma aber nichts erfuhr. Sie bekam vielmehr eines Tages ein Einschreiben, die Bauzeit sei nicht einzuhalten und die Firma Maier habe deshalb eine Verzugsstrafe zu erwarten. Am selben Vormittag meldete sich auch der tschechische Geschäftsführer bei Herrn Maier und teilte mit, er habe Zeitprob‐ leme. Er hatte denselben Brief des Bauherrn erhalten. Herr Maier war sehr verärgert: Warum nur hatte sich der tschechische Geschäftsführer nicht mehr bei ihm gemeldet, wo er doch aus einer Personalbesprechung wusste, dass bei der Mutterfirma in Deutschland seit einer Woche sogar ein paar Leute frei und ver‐ fügbar waren? Es hätte doch die Möglichkeit bestanden, ihm beizuspringen, so dass erst gar keine Probleme mit dem Kunden entstanden wären. Die Antwort lautete: ‚Ich wollte das alleine machen, ich wollte nicht wie ein kleines Kind um Hilfe bitten.’ Herr Maier reagierte sauer: ‚Das ist doch wohl eine Ausrede!’ Jetzt antwortete der Tscheche: ‚Ich wollte das Budget anderer Abteilungen verschonen und denen keine zusätzlichen Kos‐ ten verursachen.’ ‚Ach, lassen Sie doch die Ausreden! Sie wollen doch nur Ihren Fehler nicht eingestehen!’ Herr Maier war wirklich sauer und ärgerte sich noch mehr. Wie ist das Verhalten des tschechischen Geschäftsführers zu erklären?“ (S. 113‐114). 2. Erläuterungen und Begründungen: „Der tschechische Geschäftsführer versucht in dieser Geschichte, Konflikten überall aus dem Weg zu gehen. Deshalb rief er Herrn Maier nicht früher an und warnte ihn vor oder
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bat um Hilfe. Er wollte sein Image nicht beschädigen, und er wollte die Beziehung zu Herrn Maier nicht (in seinen Augen vorschnell und vielleicht unnötig) belasten. Wahr‐ scheinlich verschob er den Anruf Tag für Tag und hoffte auf ein (Improvisations‐)Wunder. Der Brief nahm ihm dann zunächst das schwere Telefonat ab. Sich jetzt im Gespräch mit Herrn Maier für seinen Fehler zu rechtfertigen, würde genau in dieser Wunde bohren und das vermeidet er mit ‚Ausreden’. Die Strategie, in einer einzelnen Situation einen Konflikt zu vermeiden, gilt in Tschechien als vernünftig und energieschonend. Dass genau dadurch sich der (Grund‐)Konflikt aufschaukeln und womöglich unlösbar wird, ignoriert man weithin: Tschechen hoffen einfach darauf, dass die Befürchtungen nicht eintreten“ (S. 115‐ 116). Das gezeigte Verhalten zerstört das zwischen Herrn Maier und seinem tschechischen Ge‐ schäftsführer bestehende Vertrauensverhältnis nachhaltig, weil Herr Maier nach diesem Vorfall die Überzeugung gewinnt, dass er seinem Geschäftsführer nicht trauen kann. Er‐ schwerend kommt hinzu, dass die deutsche Führungskraft niemanden hat, mit dem sie darüber reden kann. 3. Erläuterungen zur Vertrauensthematik: Wie das geschilderte Beispiel zeigt, wird die Vertrauensthematik häufig dann aktiviert und thematisiert, wenn etwas nicht so glatt und reibungslos am Arbeitsplatz verläuft, wie das von den beteiligten Personen erwartet wird, und wenn sich daraus eine interpersonale Konfliktsituation entwickelt. In diesem Fall hat sich Herr Maier eindeutig auf seinen Ge‐ schäftsführer verlassen und ist nun überzeugt, dass er ihm zu viel zugemutet hat. Die deutsche Führungskraft in Tschechien hat zwar vieles getan, um Vertrauen herzustel‐ len, was dem Drei‐Phasen‐Modell von Petermann entspricht. So hat sie sich um Transpa‐ renz, Verhaltenskonsistenz, Kompetenz‐ und Verantwortungsübertragung, Identifikation mit gemeinsamen Zielen, Orientierungsklarheit und Sicherheit bemüht. Aus Sicht des tschechischen Mitarbeiters hat aber vieles davon nicht zum Abbau, sondern eher zur Verstärkung bedrohlich wirkender Handlungsweisen geführt, ohne dass diese von der deutschen Führungskraft intendiert waren oder ihr bewusst geworden wären. Sie hat sachlich und logisch begründet kommuniziert, aber nicht so, dass für Tschechen Empa‐ thie und Wertschätzung in der Kommunikation spürbar geworden wären. Sie hat keine selbstexplorativen Äußerungen gezeigt und an keiner Stelle zu verstehen gegeben, dass sie zur Zielerreichung der Hilfe und Unterstützung sowie des Feedbacks der Tschechen be‐ darf. Sie hat zu wenig Wert auf den Aufbau und den Einsatz sympathieförderlicher Sym‐ bole gelegt. Aus tschechischer Sicht hat die deutsche Führungskraft die ihr zugewiesene Rolle ausge‐ füllt, sie hat sachbezogene Leistungen erbracht, und das auf hohem fachlichen Niveau. Sie hat sich aber selbst als Person, als Mensch nicht in das interaktive Geschehen eingebracht. So konnte keine zwischenmenschliche Sympathiebeziehung entstehen, was aber für Tsche‐ chen eine Grundvoraussetzung für den Vertrauensaufbau ist.
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Generell ist damit zu rechnen, dass im Verhältnis zwischen Vorgesetzten und Mitarbei‐ tern, älteren und jüngeren Mitarbeitern, Frauen und Männern in unterschiedlichen Kultu‐ ren völlig verschiedene Freiheitsgrade in Bezug auf Erfüllung der Aufgabe, „Bitte um Hilfe und Feedback“, „selbstexplorative Äußerungen“, „Begründungen des eigenen Verhaltens“ bestehen. Die Handlungsfreiheiten werden gewährt oder eingeschränkt durch Verbote, Gebote, Religion, Etikette, Sitte, Gesetz, Brauchtum und Tradition. Überschreitung und Missachtung der gewährten Handlungsspielräume führen unweigerlich zu Misstrauen. Vertrauensaufbau, Vertrauensstärkung und Sicherung des Vertrauens im Kontext interkul‐ tureller Begegnungen und Kooperationen sind nur möglich, wenn die Partner in der Lage sind, die für den jeweils anderen verständlichen, akzeptablen und seinen eigenen kulturel‐ len Gewohnheiten nahekommenden vertrauensrelevanten Handlungen durchzuführen und vertrauensrelevante Symbole zu präsentieren. Dazu bedarf es interkultureller Hand‐ lungskompetenz, d. h. der Fähigkeit, im Bewusstsein der eigenkulturellen Modalitäten des Aufbaus und des Erkennens vertrauensbildender Handlungen die fremdkulturellen Mo‐ dalitäten zu erkennen, als eigenständig und der Wertschätzung würdig anzuerkennen und auf dieser Basis vertrauensbildend und vertrauensinterpretierend den Interaktionsprozess zu gestalten. Dazu bedarf es zweifelsohne gezielter Ausbildung und spezieller Trainings (Thomas/Kinast/Schroll‐Machl, 2005; Kammhuber/Schroll‐Machl, 2007). Dies wiederum setzt wissenschaftlich gesicherte Erkenntnisse über die handlungsrelevanten kulturspezifi‐ schen Modalitäten im Vertrauensprozess voraus und zwar speziell im Kontext berufsspe‐ zifischen Vertrauensmanagements unter interkulturellen Handlungsbedingungen. Hier bestehen noch erhebliche Erkenntnislücken. 4. Handlungswirksamkeit von Kulturstandards: Es ist sicherlich kein Zufall, dass die beiden Beispielfälle sich in Bezug auf die Vertrauens‐ thematik sehr ähneln, obwohl zwischen der indonesischen und der tschechischen Kultur erhebliche Unterschiede bestehen und man davon ausgehen sollte, das deutsche Fach‐ und Führungskräfte in Tschechien eher in der Lage sind, ein vertrauensvolles Verhältnis zu ihren Mitarbeitern aufzubauen als in Indonesien. Die Schwierigkeiten für die beiden deut‐ schen Vorgesetzten entstehen dadurch, dass ihr Verhalten weitgehend von den deutschen Kulturstandards „Sachorientierung“, „Regelorientierte, internalisierte Kontrolle“ und „Trennung von Persönlichkeits‐ und Lebensbereichen“ gesteuert wird. Ein von diesen Kulturstandards geprägtes Verhalten zum Aufbau von Vertrauen muss zwangsläufig kollidieren mit den Kulturstandards der indonesischen Mitarbeiter „Harmonie“; „Grup‐ penorientierung“ und „Gesicht“ einerseits und der tschechischen Mitarbeiter „Person‐ orientierung“, „Abwertung von Strukturen und Improvisationsliebe“ und „Diffusion von Lebens‐ und Persönlichkeitsbereichen“ verbunden mit „Konfliktvermeidung“ anderer‐ seits. 5. Lösungsstrategie: „In dieser Situation ist es das Beste, sich nicht lange mit Schuldzuweisungen aufzuhalten, sondern möglichst schnell dazu überzugehen, nach Lösungen zu suchen, was vielleicht noch getan werden könnte und wie mit den Mitarbeitern noch zu reden sei. Wirksame
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Vertrauensmanagement
Lösungen, die eine derartige Entwicklung erst gar nicht entstehen lassen, müssen im Vor‐ feld erfolgen. Dazu jetzt ein paar Hinweise. Die Eckpfeiler für eine gute Kooperation mit Tschechien heißen: (1) Tschechen müssen überzeugt werden, dass der deutsche Partner unter Kooperation eine gemeinsame Bewäl‐ tigung der potenziellen Probleme und Konflikte versteht. Das muss durch Taten unter‐ mauert werden. (2) Die Lösung der tatsächlichen Probleme erfolgt dann ohne „Bestrafung“ (ohne Sanktionen, ohne Vorwürfe), sondern nur auf der sachlichen Ebene: Was kann/soll getan werden? Ist es tatsächlich notwendig, auf Hintergründe einzugehen, dann sind diese deshalb dergestalt zu analysieren, dass nur Zusammenhänge aufgezeigt werden: Das führte dazu, das hatte diese Konsequenz und so fort. (3) Die deutsche Seite sollte sich be‐ wusst bemühen, bei Problemen die gute Beziehungsebene nicht zu zerstören, sondern sie sollte sie sogar umso aktiver pflegen, je problematischer die Angelegenheit ist. Das ge‐ schieht dadurch, indem immer wieder explizit betont wird, wo und wie man den tschechi‐ schen Kollegen schätzt, welche Erfolge man gemeinsam vorzuweisen hat und dass es im vorliegenden Fall wirklich nur um die Sache geht. Am besten ist alles bereits zu Beginn der Kooperation zu besprechen und diese Haltung natürlich immer wieder während der Arbeit an den konkreten Problemen unter Beweis zu stellen. Am allerbesten ist es, ständig Kontakt zu halten, immer wieder Gespräche wegen gemeinsamer Projekte zu initiieren, so dass die tschechische Seite die Möglichkeit hat, frühzeitig sich anbahnenden Probleme anzudeuten, und die deutsche Seite die Möglichkeit hat, den Fortschritt des Projekts oder etwaige Barrieren nachzuvollziehen. Nur dann kann rechtzeitig gemeinsam reagiert werden, und es kommt gar nicht zu der Situation wie in diesem Beispiel, dass zum Schluss der große, bereits lange Zeit latent vorhandene Kon‐ flikt eskaliert“ (und das gegenseitige Vertrauen zerstört ist) (Schroll‐Machl/Nový, 2003, S. 116‐117). Die Ergebnisse eines Forschungsprojekts zum Thema „Erfolgreiche Personalführung in der deutsch‐tschechischen Zusammenarbeit“ (Bürger/Thomas, 2007) zeigen, worauf zu achten ist, wenn im interkulturellen Kontext Vertrauensmanagement erfolgreich praktiziert wer‐ den soll. Zwar beziehen sich die folgenden Ausführungen primär auf die deutsch‐ tschechische Zusammenarbeit, aber in den Grundzügen der vertrauenfördernden Verhal‐ tensweisen können die Ergebnisse auch auf die Zusammenarbeit zwischen deutschen und anderen ausländischen Partnern, wie z. B. Indonesiern, übertragen werden. 1. Für Deutsche wie für ihre ausländischen Partner ist eine erfolgreiche (Wirtschafts‐) Zusammenarbeit nur möglich, wenn ein Mindestmaß, womöglich ein hohes Maß an Vertrauen zwischen Vorgesetzten und Mitarbeitern, zwischen Kollegen und unter den Mitarbeitern aufgebaut und verfestigt ist. Für beide Seiten hat das Thema Vertrauens‐ management oberste Priorität. 2. Aus deutscher Sicht ist ein Vertrauensaufbau zu tschechischen Mitarbeitern deshalb schwierig weil sie dazu neigen, entsprechend dem tschechischen Kulturstandard der „Konfliktvermeidung“, auftretende Fehler und Probleme zu verschweigen und nicht frühzeitig zu kommunizieren. Stattdessen bevorzugen sie gemäß dem Kulturstandard
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„Abwertung von Strukturen und Improvisationsliebe“ flexible, innovative und prag‐ matische Ad‐hoc‐Lösungen, häufig ohne diese vorher anzukündigen oder zu diskutie‐ ren. Dadurch ergibt sich ein für Deutsche nicht akzeptabler, flexibler und von den ver‐ einbarten Regeln abweichender Umgang mit Abmachungen, Terminvereinbarungen und Qualitätsstandards. 3. Für tschechische Mitarbeiter und Führungskräfte ist der Aufbau einer vertrauensvollen Beziehung zu den deutschen Partnern deshalb schwierig, weil sie das Gefühl haben, nicht ernst genommen zu werden. Sie sind sehr sensibel gegenüber asymmetrischen Machtbeziehungen und unterstellen Deutschen ein grundsätzliches Misstrauen ihnen gegenüber. Außerdem entsprechen die deutschen Partner häufig nicht ihren Erwar‐ tungen hinsichtlich eines freundlichen Umgangs untereinander sowie der Loyalität und Hilfsbereitschaft einem Kollegen gegenüber, was nicht auf den beruflichen Aufga‐ benbereich beschränkt ist, sondern die Gesamtpersönlichkeit umfasst. 4. Ein produktives Vertrauensmanagement setzt voraus, dass beide Partner sich einerseits über ihre eigenen Kulturstandards und ihre kulturspezifischen impliziten Vertrauens‐ theorien bewusst sind und andererseits die Handlungswirksamkeit der Kulturstan‐ dards sowie die Vertrauensmerkmale ihres jeweiligen Partners kennen. Aus dieser Er‐ kenntnis heraus muss seitens der deutschen Expatriates und Mitarbeiter den tschechi‐ schen Partnern gegenüber ein höheres Maß an Wertschätzung, Anerkennung und Un‐ terstützung entgegengebracht werden, als sie das aus ihrem deutschkulturellen Kon‐ text gewohnt sind. Besonderes Augenmerk müssen Deutsche darauf legen, dass keine asymmetrischen Machtbeziehungen entstehen, da die tschechischen Partner Schwie‐ rigkeiten haben, einen offenen Dialog über Fehler, Probleme und Konflikte zu führen, und da sie eher dazu neigen, pragmatisch innovative Ad‐hoc‐Lösungen zu erfinden und sofort anzuwenden. Genau dies trifft auch für viele andere ausländische Partner, besonders für Kulturen zu, die nicht dem euro‐nordamerikanischen Kulturkontext zu‐ zurechnen sind. 5. Tschechische Vorgesetzte und Mitarbeiter müssen beachten, dass für Deutsche die Einhaltung von Vereinbarungen, die Orientierung am Regelsystem, Offenheit, Ehrlich‐ keit und Aufrichtigkeit und ein hohes Maß an Selbstverantwortlichkeit sowie Pünkt‐ lichkeit und Zuverlässigkeit zentrale Elemente der Vertrauensentwicklung sind. Wenn sich getroffene Vereinbarungen und Regeln als untauglich erweisen, muss dies mit den deutschen Partnern kommuniziert und diskutiert werden, um die Regeln zu ändern und neue Regeln einzuführen, um so wieder Orientierungsklarheit zu bekommen. Der Versuch, Probleme mit ad hoc entwickelten, durchaus innovativen Lösungsstrategien flexibel zu lösen, ohne darüber zu diskutieren, wird von den deutschen Partnern als ein Unterlaufen der getroffenen Vereinbarungen und als ein Umgehen der als sachlich ge‐ rechtfertigt angesehenen Regeln empfunden. Das wird als Zeichen dafür gewertet, dass der tschechische Partner unzuverlässig ist und ihm deshalb kein ausreichendes Ver‐ trauen entgegengebracht werden kann. Die Folge ist die Einführung einseitiger und verschärfter Kontrollsysteme, was wiederum auf tschechischer Seite das Misstrauen erhöht. Genau diese Zusammenhänge könnten durchaus auch beispielsweise für die deutsch‐indonesische Zusammenarbeit relevant werden und weiterhin auch für viele
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Kooperationen zwischen deutschen und ausländischen Mitarbeitern und Kollegen zu‐ treffen. 6. Generell ist festzustellen, dass ein produktives Vertrauensmanagement auf beiden Seiten nur möglich ist, wenn die deutschen und tschechischen Partner, die deutschen und die ausländischen Partner, deutlich mehr offen und ins Detail gehender miteinan‐ der kommunizieren. Sie müssen ihre Entscheidungen, ihre Bezugssysteme zur Beurtei‐ lung von Leistungsergebnissen, ihre Qualitätsstandards für Tüchtigkeit etc. intensiver thematisieren und kommunizieren. Dazu bedarf es einer Sensibilität dafür, unter wel‐ chen Umständen es angebracht ist, Sachverhalte ausführlicher zu kommunizieren und zu diskutieren und auf welchen Wegen eine solche Kommunikation kulturadäquat er‐ folgen kann, als dies unter monokulturellen Bedingungen erforderlich ist, weil sich vie‐ les von selbst versteht und nicht mehr bewusstseinspflichtig, also routinemäßig ab‐ läuft. Produktives Vertrauensmanagement, in deutsch‐tschechischen Gemeinschaftsunterneh‐ men und in der Zusammenarbeit zwischen deutschen und ausländischen Partnern bedarf einer partner‐ und aufgabenbezogenen interkulturellen Kompetenz und die muss in dazu geeigneten kulturspezifischen interkulturellen Trainings erworben werden, da sie sich nicht von alleine einstellt und auch nicht im Vollzug eines „learning by doing“ auf dem erforderlichen Niveau erworben werden kann.
Weiterführende Literatur: Bachmann, R./Lane, C. (Eds.) (1998): Trust within and between organizations. Conceptual issues and empirical applications, Oxford. Murniyati Tjaya, J./Ehret, A. (2008): Vertrauensaufbau durch interkulturellen Dialog, in: Thomas, A. (Hrsg.), Psychologie des interkulturellen Dialogs, Göttingen, S. 123‐134. Oswald, M. E. (2006): Vertrauen in Personen und Organisationen, in: Bierhoff, H.‐W./Frey, D. (Hrsg.), Handbuch der Sozialpsychologie und Kommunikationspsychologie, Göttingen, S. 710‐716. Schweer, M. K. W. (Hrsg.)(2010): Vertrauensforschung 2010: A state of the art, Frankfurt a. M.
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Sachorientierung/Person- und Beziehungsorientierung
Die in diesem Kapital behandelten Aspekte der Sachorientierung/Person‐ und Bezie‐ hungsorientierung sind keine Aufgaben, die deutsche Fach‐ und Führungskräfte im Aus‐ land zu meistern haben, wie in den bereits diskutierten Themen: Verhandeln, Teamarbeit oder Mitarbeiterführung. Sachorientierung ist aber ein zentrales Merkmal der Verhaltens‐ weisen bei deutschen Fach‐ und Führungskräften und Person‐ und Beziehungsorientie‐ rung ist ein zentrales Merkmal bei vielen ihrer Partner im Ausland. Deshalb sind beide Merkmale auch als Kulturstandards in dem bisherigen Kapitel bei der Analyse kulturell bedingt kritischer Interaktionssituationen aufgetaucht. Die zentrale Bedeutung dieser beiden verhaltenssteuernden Merkmale (Kulturstandards) in der Begegnung zwischen deutschen und ausländischen Fach‐ und Führungskräften hat sich aus einer Serie von über achthundert Interviews mit deutschen Fach‐ und Führungskräften über alltäglich erlebte kulturell bedingt kritische Interaktionssituationen gezeigt (Thomas, ab 2001). Die folgende Interaktionssituation ist ein typisches Beispiel für die Schwierigkeiten, die sich für deutsche Fach‐ und Führungskräfte aus der verhaltenssteuernden Wirkungen ihrer stark ausgeprägten „Sachorientierung“ auf die Zusammenarbeit mit Menschen aus Kulturen, in denen eine starke „Person‐ und Beziehungsorientierung“ vorherrscht, erge‐ ben. Die Schwierigkeiten resultieren daraus, dass beiden Partnern ihre kulturspezifisch unterschiedlichen Verhaltenssteuerungen nicht bewusst sind. Der deutsche Manager, Herr Fink, stellt fest, dass die Kommunikation in seinem Pro‐ jektteam nicht so verläuft, wie er sich das wünscht, wichtige Informationen, die für alle oder einige der Teammitglieder nützlich sind, werden überhaupt nicht oder nicht zügig genug weitergeleitet. Mangels wechselseitiger Information werden immer mehr Vor‐ gänge doppelt bearbeitet. Zudem erfährt er hier und da aus dem Team, dass es mit dem Gruppenklima nicht zum Besten steht. Wie das in Deutschland so üblich ist, müssen nun „alle Fakten auf den Tisch“ und in ei‐ ner gemeinsamen Teamsitzung diskutiert werden. In der von Herrn Fink einberufenen Sitzung zum Thema „Interne Kommunikation“ entwickelt sich nach einem zögerlichen Beginn sehr schnell eine heftige Diskussion darüber, wer, wie, wann gar keine oder zu wenige Informationen weitergegeben hat. Diese Diskussion wird immer lauter und hef‐ tiger und die Vorwürfe gehen hin und her. Schließlich wird es Herrn Fink zu viel und er sagt laut und deutlich und für alle vernehmbar: „Meine Herrn, wir wollen doch sachlich bleiben!“ Keiner sagt mehr ein Wort, alle blicken Herrn Fink an in der Erwartung, dass er sagt, wie es nun weitergehen soll.“ Wenn man die Aussage von Herrn Fink wörtlich nimmt, dann waren ja eigentlich alle „bei der Sache“ nämlich dabei, sich mit den Informationsdefiziten im Team auseinanderzuset‐ zen und sich gegenseitig vorzuwerfen, schuld an dem Desaster zu sein. Der Satz soll aber bewirken, dass die Diskussion wieder in „geordneten“ Bahnen weitergeführt wird, also
A. Thomas, Interkulturelle Handlungskompetenz, DOI 10.1007/978-3-8349-6880-7_10,
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Sachorientierung/Person- und Beziehungsorientierung
sich rational‐sachlich, emotionslos, objektiv, geordnet, systematisch, analysierend und faktenorientiert vollzieht. „Sachlich bleiben“ heißt nach deutscher Lesart, sich objektiv und nicht subjektiv, rational und nicht irrational, faktenorientiert und nicht spekulativ, emoti‐ onslos und nicht von Gefühlen geleitet mit einem Problem, einem Ereignis, einem Ablauf, einer Person, einem Gegenstand etc. zu befassen. Dabei muss alles, was gesagt und be‐ schlossen wird, logisch, nachvollziehbar, transparent, begründet und dem Objekt der Be‐ handlung angemessen, eben „sachgerecht“ sein. Genau so möchte Herr Fink die Diskussi‐ on geführt sehen, und das Erstaunliche ist, alle Teammitglieder folgen seiner Anweisung ohne Widerspruch, denn alle wissen, was mit „sachlich bleiben“ gemeint ist. Zudem sind alle fest davon überzeugt, dass man nur so zu einer Problemlösung kommen kann. Ausländische Fach‐ und Führungskräfte wundern sich immer wieder darüber, wie sach‐ orientiert sich die Deutschen verhalten, selbst in Situationen, in denen eigentlich persönli‐ che Interessen, Erwartungen und Empfindlichkeiten im Vordergrund stehen, wie in die‐ sem Beispiel. Deutsche Fach‐ und Führungskräfte wundern sich oft, wir sehr bei der Be‐ handlung, aus ihrer Sicht, rein sachlicher Belange person‐ und beziehungsorientiertes Verhalten die Oberhand gewinnt und die „sachlichen“ Aspekte in den Hintergrund treten. Die deutsche Sachorientierung gerät also mit der weltweit stärker als in Deutschland aus‐ geprägten Person‐ und Beziehungsorientierung in Konflikt. Man kann davon ausgehen, dass Sachorientierung zweifellos ein zentraler deutscher Kulturstandard ist, der das Ver‐ halten von Fach‐ und Führungskräften in der Interaktion untereinander und mit Menschen aus anderen Kulturen nachhaltig bestimmt. Bei jeder Begegnung zwischen Menschen, die füreinander bedeutsam sind, die miteinan‐ der kommunizieren und eventuell sogar kooperieren, geht es einerseits um Inhalte und Sachverhalte und andererseits um zwischenmenschliche Beziehungen. Diese mehr sachli‐ chen, objektiven und inhaltlichen Aspekte lassen sich in der Regel nicht von den mehr persönlichen Aspekten trennen, denn es ist schon ein Unterschied für den Verlauf der Diskussion, ob die Partner sich als sympathisch oder unsympathisch, ob sie einander als arrogant und unfreundlich oder zugänglich und freundlich erleben und ob sie das Gefühl haben, gleichberechtigt oder in einer unterlegenen oder überlegenen Position miteinander zu kommunizieren. Alle diese person‐/beziehungsorientierten Aspekte beeinflussen über den Prozess der sozialen Wahrnehmung und personalen Eindrucksbildung die inhaltlich‐ sachliche Ebene der Begegnung und den gesamten interaktiven Prozessverlauf.
1. Beispiel: „Das Interview“ 1. Die kritische Interaktionssituation: Ein deutscher Interviewer, Herr Müller, befragt einen chinesischen Manager, Herrn Feng, der in Deutschland studiert und promoviert hat und der für eine deutsche Firma in Shanghai arbeitet, über seine Erfahrungen und Beobachtungen unterschiedlichen Verhaltens zwischen Deutschen und Chinesen. Erfragt werden sollen Verhaltensweisen deutscher Manager in China, die für Chinesen unerwartet, ungewohnt und unverständ‐ lich sind. Die chinesischen Manager, die in deutsch‐chinesischen Joint Ventures tätig sind oder die einen Auslandsaufenthalt in Deutschland planen, sollen später auf die
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Bewältigung solcher Situationen vorbereitet werden. Dabei entwickelt sich das Inter‐ view selbst allmählich zu einer kulturell bedingten problematischen Interaktionssituati‐ on. (Die wörtlichen Zitate stammen aus der Interviewmitschrift.) Geschildert werden im Folgenden das Frage‐ und Antwortverhalten (linke Spalte) und die Kognitionen, Inten‐ tionen und Attributionen (rechte Spalte) des deutschen Interviewers, Herrn Müller, und des chinesischen Interviewten, Herrn Feng.
Tabelle 10.1:
Gegenüberstellung von Verhalten und zugehörigen Kognitionen in einem Interviewausschnitt
Verhalten (Frage‐ und Antwortverhalten)
Kognitionen (Intentionen, Attributionen etc.)
Deutscher: „Mich interessieren Ihre eige‐ nen Erlebnisse oder Beobachtungen im Umgang mit Deutschen, bei denen sich die Deutschen anders verhielten, als sie es erwarteten, und was für sie völlig unver‐ ständlich und nicht nachvollziehbar war.“
Deutscher: Ich spreche ihn als Experten für interkulturelle Probleme an. Er muss sie kennen, er wird sie mir schildern können.
Chinese: „In der Tat, es gibt da einen gro‐ ßen Unterschied zwischen der deutschen Mentalität und der chinesischen Menta‐ lität.“
Chinese: Probleme zwischen Deutschen und Chinesen auszubreiten, schickt sich nicht, ist unhöflich. Mich als so unwissend darzustellen, dass ich deutsches Verhalten nicht verstehe, will ich nicht und ist eine Zumutung. Eine allgemein gehaltene Zu‐ stimmung, dass es Unterschiede gibt, wird den Frager wohl schon zufriedenstellen, und das heikle Thema ist so erledigt.
Chinese: Also, ich soll ihm von meinen Problemen mit Deutschen erzählen.
Deutscher: Er ist für mich der richtige In‐ terviewpartner, nun geht er in die Details. Deutscher: „Fällt Ihnen da eine konkrete Situation ein? Irgendetwas, was Sie selbst erlebt oder beobachtet haben?“
Chinese: „Im Moment nicht, nur generell so.“
Deutscher: Jetzt geht es los! Chinese: Was soll die Frage? Der hat noch nicht verstanden, dass ich darauf im Detail nicht eingehen will und kann. Chinese: Das ist doch wohl deutlich ge‐ nug, aber nicht unhöflich. Deutscher: Der hat noch immer nicht rich‐ tig verstanden, auf was ich hinaus will. Da muss ich etwas deutlicher werden.
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Sachorientierung/Person- und Beziehungsorientierung
Verhalten (Frage‐ und Antwortverhalten)
Kognitionen (Intentionen, Attributionen etc.)
Deutscher: „Wenn Sie vielleicht an Ver‐ handlungen oder Besprechungen denken oder solche Bereiche.“
Chinese: Dem muss ich jetzt klarmachen, dass ich keine Probleme mit den Deut‐ schen habe, damit er mich positiv ein‐ schätzt und mit der persönlichen Fragerei aufhört. Aber ich muss ihn auch höflich behandeln.
Chinese: „Ja, für mich ist das natürlich Deutscher: Also, er kann doch von ande‐ ersichtlich, weil ich zwölf Jahre in Deutsch‐ ren etwas berichten, wenn er selbst keine land gewesen bin und die deutsche Menta‐ Probleme hat. Jetzt nachfassen! lität ein wenig kenne, und ich bin selbst Chinese und kenne auch die Chinesen. Für mich ist das offensichtlich, aber für manche Chinesen, die noch nie in Deutschland ge‐ wesen sind und sich nur über die Sprache mit den Deutschen verständigen können, aber nichts von dem sozialen Hintergrund wissen, da gibt es in der Tat Probleme.“ Chinese: Der Deutsche will einfach nicht Deutscher: „Haben Ihnen andere schon mal von solchen Problemen berichtet, oder verstehen. Jetzt wühlt er schon wieder in Problemen. was wäre für Sie eine Situation, wo es für Sie ersichtlich wäre, und für jemand, der die Deutschen nicht so gut kennt, schwie‐ rig zu verstehen?“ Chinese: „Ich kann Ihnen momentan kein Deutscher: Der weicht mir wieder aus; aber so einfach kommst Du mir nicht da‐ konkretes Beispiel nennen. Das fällt mir jetzt nicht ein. Es sind auch Kleinigkeiten, von! die im Alltag öfter passieren, das fällt auch nicht weiter auf. Denn was ist schon ein Missverständnis, ein Missverständnis ist der Schmierstoff des Lebens. Damit kann man durchaus leben.“
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Verhalten (Frage‐ und Antwortverhalten)
Kognitionen (Intentionen, Attributionen etc.)
Deutscher: „Aber es kann ja auch zu ernsthaften Missstimmungen kommen, wenn man etwas falsch versteht.“
Deutscher: Ich verstehe nicht, warum er meine konkreten Fragen nicht beantwortet. Warum weicht er immer aus? Versteht er immer noch nicht, worum es hier geht, will er es nicht verstehen, oder will er nicht mit der Sprache heraus? Das ganze Drum‐ herumgerede bringt nichts mehr. Ich wer‐ de das Interview wohl beenden müssen.
Chinese: „Mit Chinesen ist das nicht so leicht.“
Chinese: Wenn er schon nicht von der pein‐ lichen und primitiven Fragerei lassen will, dann wäre es erträglicher, wenn die Prob‐ leme deutscher Manager im Umgang mit Chinesen angesprochen werden könnten. Das Interviewthema verlagert sich nun mehr und mehr auf die möglichen Probleme deutscher Manager, mit der Lebens‐ und Arbeitssituation in China zurechtzukommen. 2. Erläuterungen und Begründungen: Der deutsche Interviewer hat einen klaren Forschungsauftrag, er soll herausfinden, wo Chinesen in der Zusammenarbeit mit ihren deutschen Partnern Probleme haben, die durch kulturelle Unterschiede bedingt sind. Er geht davon aus, dass es aus chinesischer Sicht ebenso Probleme gibt wie aus deutscher Sicht und dass eine genaue Kenntnis der chinesi‐ schen Sichtweise helfen könnte, für chinesische Manager, Fach‐ und Führungskräfte adä‐ quate Trainings zu entwickeln, um die Zusammenarbeit zu optimieren. Zudem könnten durch die Kenntnis der chinesischen Sichtweise der interaktiven Ablaufprozesse die Trai‐ nings für deutsche Manager bereichert werden. Entscheidend ist, dass Herr Müller als Interviewer die Reaktionsweisen von Herrn Feng kulturadäquat deutet, und dass Herr Feng als Interviewter die von Herrn Müller an ihn gerichteten Fragen versteht und über genügend spezifische Erfahrung und entsprechendes Wissen verfügt, sie sachgerecht zu beantworten. So beginnt er damit, ihn auf seine eigenen Erlebnisse und Erfahrungen im Umgang mit deutschen Managern während seines jahrelangen Aufenthalts in Deutschland und seiner Arbeit in der deutschen Firma in Shanghai anzusprechen. Herr Müller stellt sachgerechte Fragen, die klar formuliert sind und direkt auf die persönlichen Erfahrungen von Herrn Feng abzielen. Da Herr Feng in Deutschland studiert und promoviert hat, wird er wissen, dass Interviews eine anerkannte, häufig praktizierte und auch in diesem Fall wissenschaftlich passende Methode sind, an Informationen über individuelle Beobachtungen und Erfahrungen im Umgang mit fremdkulturell geprägten Partnern heranzukommen. Er wird wissen, dass es
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nicht darum geht, ihn auszufragen, ihn vorzuführen oder zu blamieren, wenn er von Prob‐ lemen berichtet, sondern dass seine Aussagen mit denen anderer Personen verglichen werden, um an verallgemeinerbare Erkenntnisse über kulturell bedingt problematische interaktive Prozesse heranzukommen. So wie Herr Müller das Interview führt, handelt es sich um einen wertneutralen, sachli‐ chen Vorgang, bei dem die Aussagen von Herrn Feng keine Rückwirkungen auf ihn, sein Ansehen und seine Leistungsfähigkeit haben, sondern allein der wissenschaftlichen Daten‐ sammlung dienen. Herr Müller wird Herrn Feng zu Beginn des Interviews auch versichert haben, dass seine auf Tonträger aufgezeichneten Äußerungen anonymisiert ausgewertet werden und nur zu wissenschaftlichen Erkenntniszwecken erhoben werden. Zudem ist davon auszugehen, dass Herr Feng sich freiwillig und nicht gezwungenermaßen am Inter‐ view beteiligt und vom wissenschaftlichen Sinn und Zweck der Befragungsaktion über‐ zeugt ist. Aber als er nun um Aussagen zu seinen Erfahrungen in Umgang mit Deutschen bezüglich unverständlicher und nicht nachvollziehbarer Reaktionen gebeten wird, schlägt seine Einstellung zum Interview um. Nun ist das, was zwischen ihm und Herrn Müller passiert, für ihn nicht mehr ein sachbezogener, neutraler Vorgang, sondern ein persönli‐ cher Affront, denn „Probleme zwischen Deutschen und Chinesen auszubreiten schickt sich nicht, ist unhöflich!“ Seiner Meinung nach sollte man eher die Gemeinsamkeiten betonen und nicht die Unterschiede. Die Benennung von Problemen und ihre dezidierte Diskussion verstärken noch die mit Problemen verbundenen Belastungen und tragen nichts zu deren Lösung bei. Sein Ausweichen in allgemeine Aussagen zu durchaus beobachtbaren Unter‐ schieden im Verhalten zwischen Deutschen und Chinesen und sein Ablenken von sich selbst „Dem muss ich klarmachen, dass ich keine Probleme mit den Deutschen habe ...!“ dienen dazu, das Feld der Konkretisierung von Problemen und die damit verbundenen Peinlichkeiten zu verlassen, um so zu verhindern, dass er in den Augen von Herrn Müller negativ bewertet wird und als Versager erscheint. Das Interview als eine sachlich begrün‐ dete, neutrale, wissenschaftlich legitimierte Methode der empirischer Sozialforschung zur Gewinnung von auswertbaren Daten verändert aus Sicht von Herrn Feng allmählich seine Qualität in Richtung einer unangenehmen und für sein eigenes Selbstwertgefühl und seine soziale Identität bedrohlich werdenden interpersonalen Interaktionssituation. Die bezie‐ hungsorientierten Elemente überlagern mehr und mehr die sachorientierten und damit entsteht, von beiden unbemerkt, allmählich eine kognitive Dissonanz hinsichtlich der Interpretation und Attributionen des interaktiven Geschehens. Herr Müller meint immer noch, Herr Feng versteht seine Frage nicht. Herr Feng glaubt nach wie vor, Herr Müller möchte seine Fehler und Versäumnisse im Umgang mit Deut‐ schen aufdecken und Leistungsschwächen und Unfähigkeiten der Chinesen im Umgang mit Deutschen thematisieren. Herr Müller gewinnt die Überzeugung, dass Herr Feng ihm bewusst etwas verschweigt, weil er so tut, als verstünde er seine Fragen nicht. Herr Feng versucht, die Situation für ihn erträglicher zu machen, indem er die Betrachtungsperspek‐ tive verändert und nur noch Aussagen darüber macht, welche Probleme Deutsche im Umgang mit chinesischen Partnern haben.
Sachorientierung/Person- und Beziehungsorientierung
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3. Lösungsstrategie: Für die hier geschilderte Interaktionssituation eine Lösung zu finden, ist nicht so einfach. Wenn eine interviewte Person nicht fähig oder nicht bereit ist, die ihr zugewiesene Rolle zu übernehmen, also sachlich, offen und ehrlich über das zu berichten, was sie gedacht, geplant und erwartet hat und welche Schlussfolgerungen sie daraus gezogen hat, und wenn sie stattdessen die Interviewsituation speziell unter Berücksichtigung persönlicher Interessen, Selbstwertdarstellungen, von Impressionmanagement‐Aspekten und sozialen sowie nationalen Repräsentationsverpflichtungen organisiert, dann ist sie aus Forscher‐ sicht für ein Interview ungeeignet. Um solche Diskrepanzen zu vermeiden, ist es nützlich, wenn sich der Interviewer immer bewusst ist, dass auch ein rein nach fachwissenschaftli‐ chen sachlich‐inhaltlichen Aspekten organisiertes Interview immer auch eine persönliche Begegnungs‐, Kommunikations‐ und Kooperationssituation ist, in der auf die wechselsei‐ tigen persönlichen Bedürfnisse der beteiligten Personen Rücksicht genommen werden muss. So ist in der Regel der Interviewte bemüht, vor dem Interviewer und der von ihm repräsentierten „wissenschaftlichen Welt“ sowie vor sich selbst einen guten Eindruck zu hinterlassen, indem er alle Fragen beantwortet, so spricht, dass er verstanden wird, und die aus seiner Sicht vermuteten Erwartungen des Interviews erfüllt. Der Interviewer ist bestrebt, eine harmonische, positive Gesprächsatmosphäre zu schaffen, in der sich der Interviewte wohlfühlt, aus sich herausgeht und seine Ansichten und Erfahrungen angst‐ frei, rein sachlich und frei von Einschränkungen jeder Art zum Ausdruck bringen kann. Eine Problemlösung könnte auch darin bestehen, dass man statt eines Einzelinterviews ein Gruppeninterview durchführt, in dem die kulturell bedingten Interaktionsprobleme un‐ tereinander zur Sprache kommen und nicht direkt individuell abgefragt werden. Auch die Erstellung schriftlicher Erfahrungsberichte könnte ein Weg sein, die Beeinflussung der Daten durch zu starkes beziehungsorientiertes Verhalten zu vermeiden oder zumindest zu reduzieren. 4. Kulturstandard „Sachorientierung“ „Für die berufliche Zusammenarbeit sind unter Deutschen die Sache, um die es geht, die Rolle und die Fachkompetenz der Beteiligten ausschlaggebend. Die Motivation zum ge‐ meinsamen Tun entspringt der Sachlage oder den Sachzwängen. In geschäftlichen Bespre‐ chungen ‚kommt man zur Sache’. Ein ‚sachliches’ Verhalten ist es, was Deutsche als pro‐ fessionell schätzen: Deutsche zeigen sich zielorientiert und argumentieren mit Fakten. Man ist vorbereitet, oftmals schriftlich und sehr detailliert, um eine Basis für eine sachliche Diskussion zu haben und ein Kooperationsangebot machen zu können. (...) Wenn sich die handelnden Personen kennen oder (sehr) sympathisch finden, ist das ein angenehmer Nebeneffekt, doch das ist nicht primär relevant. Und darum bemüht man sich auch nicht besonders. Die Sache ist zunächst einmal der Dreh‐ und Angelpunktes zu uns, sie hat Priorität“ (Schroll‐Machl, 2007, S. 49). „Besonders in der beruflichen Kommunikation dominieren Sachinhalte, und häufig die, die zum Gelingen der gemeinsamen Vorhaben innerhalb des vereinbarten strukturellen Rahmens beitragen (sollen). Dabei bemühen sich Deutsche um eine ‚objektive’ Darstellung
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der Fakten und Zusammenhänge. Manche deutsche Präsentation kann dadurch schon mal staubtrocken geraten. Der Kommunikationsstil kann so sehr die Sachebene betonen, dass die Beziehungsebene beeinträchtigt wird. Die ‚sachlichen’ Darlegungen der Deutschen können verletzend sein, ganz besonders dann, wenn Deutsche bei auftretenden Problemen gnadenlos die Schwachstellen analysieren. Die weichen Faktoren, die ‚menschliche Emp‐ findlichkeiten’ betreffen, bleiben oft berücksichtigt und beigefügte Kränkungen womöglich unbemerkt – oder sie werden in Kauf genommen (‚von einem Profi kann ich erwarten, dass er zu sachlichen Auseinandersetzungen fähig ist’)“ (S. 55). „Aber nicht nur im Arbeitsleben, sondern auch in der Alltagskommunikation des ‚öffentli‐ chen’ Raums genießen Sachthemen Priorität vor persönlichen Angelegenheiten und der Schilderung persönlicher Lebensumstände. Dabei können Gespräche durchaus eine kriti‐ sche Betrachtung der jeweiligen Sachthemen darstellen. (...) Sachinformationen geben auch Orientierung, so definiert sich der Einzelne maßgeblich über seine Leistungen und seine Aufgaben. Und auch in der Alltagskommunikation werden Emotionen häufig kontrolliert. Das ist der Grund, weswegen viele Menschen aus personorientierten Kulturen, wie etwa aus Indien oder auch Ungarn, Gespräche mit Deutschen oft langweilig finden. Sie vermis‐ sen eine persönliche Öffnung“ (S. 57).
2. Beispiel: „Neuorganisation“ 1. Die kritische Interaktionssituation: „Peter Westermann ist als ein externer Experte für den Technologietransfer in einer gro‐ ßen chilenischen Organisation zuständig. Als an seiner Arbeitsstelle eine Umorganisati‐ on geplant ist, wird er gefragt, wie er sich eine neue Organisation der Bibliothek vorstel‐ len könnte. Also arbeitet er dazu ein Konzept aus, recherchiert und nimmt Kontakt zu Bibliotheken anderer großer Organisationen in Santiago auf. Eine dieser Bibliotheken ist sehr gut organisiert und Herr Westermann kommt in Zusammenarbeit mit der dortigen Chefin auf die Idee, eine Fortbildungsmaßnahme mit der Bibliothekarin seiner Arbeits‐ stelle durchzuführen. Da das Ganze aber über einen Chef laufen muss, legt er seinen Vorschlag der Chefin der Administrations‐ und Finanzabteilung, Frau Amarales, die da‐ für zuständig ist, vor. Er weiß, dass der Vorschlag Hand und Fuß hat – das hat ihm die Chefin der anderen Bibliothek bestätigt. Nachdem er einige Zeit nichts von Frau Amarales gehört hat, fragt er nach. Daraufhin antwortete sie ihm, dass dies ein gutes Projekt sei und sie es sicher berücksichtigen würde, dass sie aber noch überlegen müsse. So geht das eine ganze Weile hin und her: ‚Ich habe immer wieder nachgefragt. Als es zum dritten oder vierten Mal aufgeschoben war, habe ich auch nicht mehr meine Zeit damit vergeudet. Ich wusste nicht, wieso. Aber ich konnte in diesem Moment auch nicht nachfragen, weil sie ja nicht direkt Nein gesagt hatte. Letztendlich wurde das Projekt auf die lange Bank geschoben und irgendwann merkt man – das hat ja keinen Sinn.’ Wie lässt sich das Verhalten der Vorgesetzten erklären?“ (Ellenrieder/Kammhuber, 2009, S. 28‐29).
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2. Erläuterungen und Begründungen: „Die Vorgesetzte steht dem Konzept ablehnend gegenüber. Sie möchte das aber Herrn Westermann aus Gründen der Höflichkeit nicht ins Gesicht sagen und lässt das Ganze einfach versanden. (...) Es gibt anscheinend Gründe für die Vorgesetzte, das Projekt der Neuorganisation nicht mit dem vorgelegten Konzept weiterzuverfolgen. Welche Gründe das sind, kann aus der Situation nicht erschlossen werden. Allerdings wäre es ein Akt der Unhöflichkeit, wenn die Vorgesetzte Herrn Westermann direkt mit einer Ablehnung kon‐ frontieren würde. Vielmehr hofft sie, ihm indirekt, aber dennoch deutlich zu signalisieren, dass sie das Konzept nicht weiterverfolgt. Herrn Westermann fehlt allerdings zu diesem Zeitpunkt noch die Sensibilität, diese indirekten Hinweise entsprechend zu interpretieren“ (S. 29‐31). Herr Westermann übernimmt einen Arbeitsauftrag, erledigt dies professionell, entwickelt daraus ein Konzept, von dem er überzeugt ist, dass es funktionieren kann, und legt es zur Genehmigung seiner Vorgesetzten Frau Amarales ordnungsgemäß vor. Er hat damit seine Arbeiten zunächst einmal sachgerecht erledigt und wartet nun darauf, dass etwas passiert, dass seine Chefin grünes Licht gibt oder das Konzept verwirft. Sollte sie Gründe haben, es nicht weiterzuverfolgen, erwartet er nicht, dass sie ihm die Gründe im Detail darlegt, aber er erwartet schon eine klare und eindeutige Antwort. Sollte sie sein Konzept ablehnen, ist das für ihn durchaus in Ordnung, obwohl er in einem modernen Unternehmen, in dem auf Partizipation und Transparenz Wert gelegt wird, von seiner Chefin ein paar Worte zur Begründung erwarten würde, um einschätzen zu können, ob sein Konzept fehlerhaft war oder externe Gründe für die Ablehnung verantwortlich sind. Alles dies gehört zu einem klaren, sachlich begründeten Vorgehen. Im Unterschied dazu bringt es Frau Amarales nicht fertig, ihm ihr, durch externe Umstände bedingtes, ablehnendes Urteil direkt mitzu‐ teilen und zu begründen. Aus Höflichkeit und Rücksichtnahme vor seiner persönlichen Befindlichkeit produziert Frau Amarales unbewusst bei Herrn Westermann Irritationen und ein nicht unerhebliches Maß an Verärgerung. In diesem Fall hat die starke Bezie‐ hungsorientierung die sachlich gute Arbeitsatmosphäre zumindest aus Sicht von Herrn Westermann negativ beeinflusst – mit unkalkulierbaren Folgen für die weitere Zusam‐ menarbeit der beiden. 3. Lösungsstrategie: „Herr Westermann ist für seine Beharrlichkeit zu bewundern. Beharrliches Nachhaken, ohne zu drängen, schadet in Chile sicherlich nicht, weil es die Bedeutung unterstreicht, die man einer Angelegenheit beimisst. Es wird sogar erwartet, dass einmal getroffene Verein‐ barungen rückbestätigt werden, um sie verbindlich werden zu lassen. Allerdings scheint sein Verhalten in der vorliegenden Situation nicht weiterzuhelfen. Die Vorgesetzte will das Vorgelegte offenkundig nicht umsetzen, dies aber nicht direkt äußern. Nun könnte Herr Westermann energisch ein eindeutiges Ja oder Nein einfordern, aber damit würde er seine Vorgesetzten nur in eine unangenehme Position bringen. Denn aus ihrer Sicht war sie schon mehr als deutlich. „Warum begreift er das nicht?“, wird sie sich denken und in Zu‐ kunft solchen Situationen mit dem Deutschen aus dem Wege gehen, was ihm auch nicht recht sein kann. Herrn Westermann bleiben aber noch andere Möglichkeiten. Die erste
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wäre zu verstehen, dass der Vorgesetzten eine direkte Ablehnung äußerst unangenehm ist, und in der Folge eine höhere Sensibilität für indirekte Kommunikation zu entwickeln. Indirekte Kommunikation bietet den Vorteil, dass die Antworten vielfältig interpretierbar sind, so dass Konflikte dadurch vermieden werden können. Dies ist aber gleichzeitig auch ihr Nachteil, denn eine endgültige Sicherheit, wo beispielsweise der Grund für die Ableh‐ nung des Konzepts liegt, liefert sie nicht. Herr Westermann muss also eine gewisse Tole‐ ranz dafür entwickeln, dass manche Angelegenheiten verschwommen und unklar bleiben. Eine weitere Möglichkeit wäre, in einer entspannteren Situation, zum Beispiel bei einem Mittagessen mit der Vorgesetzten oder in anderen von Alltagskonflikten unbelasteten Situationen, über die eigene Kultur zu sprechen und die Verhaltensweisen, die mit seiner Sozialisation verknüpft sind. Wenn Herr Westermann humorvoll einstreut, dass Indirektheit nicht seine Stärke ist, dann kann man auch gemeinsam über diese ‚Unzuläng‐ lichkeiten’ lachen und die Vorgesetzte wird in Zukunft vielleicht ein bisschen deutlicher und damit auch ‚für den Deutschen’ verständlicher formulieren“ (S. 32‐33). 4. Kulturstandard: „Person‐/Beziehungsorientierung“: „Die besondere Orientierung an der Person (und die besondere Betonung von interperso‐ naler Beziehung) beschreibt die grundlegende Einstellung und das Verhalten der Chilenen gegenüber ihren Mitmenschen. Im Mittelpunkt steht die persönliche Beziehung zum ande‐ ren. Das Gegenüber wird respektiert und wertgeschätzt. Häufig wird in diesem Zusam‐ menhang von „carino“, dem liebevollen Umgang der Chilenen untereinander, gesprochen. Dieser „carino“ beinhaltet Respekt vor der Person, die Achtung der Würde des anderen, Loyalität sowie Treue zu Angehörigen und Freunden und eine ausgeprägte Hilfsbereit‐ schaft. (...) Chilenen bemühen sich um Harmonie in interpersonalen Beziehungen, sie sind sensibel für Bedürfnisse und Gefühle anderer und versuchen, in sozialen Interaktionen Positives zu verstärken und Negatives zu vermeiden. Dies offenbart sich am deutlichsten in einem indirekten, beziehungsorientierten Kommunikationsstil. Ein direktes Nein wird man von einem Chilenen selten hören. (...) Eine direkte Ablehnung kann als Affront auf der persönlichen Beziehungsebene verstanden werden und da ist es höflicher, kurzfristig mit einer mehr oder weniger guten Begründung abzusagen, als die Möglichkeit einer ge‐ meinsamen Unternehmung oder die Einladung im Vorhinein auszuschlagen. In diesen Situationen geht es stets darum, die positiven Beziehungen zum Gegenüber aufrechtzuer‐ halten und sie nicht zu gefährden“ (S. 37‐38).
3. Beispiel: „Kostenoptimierung! 1. Die kritische Interaktionssituation: „Herrn Deml, leitender Angestellter einer deutschen Versicherungsgesellschaft in Stet‐ tin, gibt einem seiner polnischen Mitarbeiter, Herrn Rudzinski, den Arbeitsauftrag, eine Analyse darüber anzufertigen, wie viele Angestellte in den 16 Niederlassungen des Un‐ ternehmens innerhalb Polens arbeiten, welche Kosten sie verursachen und welchen Ge‐ winn sie erwirtschaften. Anhand dieser Daten erwartet Herr Deml eine Empfehlung, wie viele Niederlassungen im Sinne einer Kostenoptimierung am besten wären, und er‐
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hofft sich, darauf aufbauend ein Konzept erarbeiten zu können, das die Fusion einiger kleiner und die Schließung unrentabler Niederlassungen vorsieht. Als ihm Herr Rudzinski jedoch die Ergebnisse präsentiert, stellt sich heraus, dass er keinen Zugang zu den Personaldaten erhalten hat. Trotzdem hat er ein Konzept erarbeitet, in dem er vor‐ schlägt, zu expandieren und mit 35 anstelle der bisher 16 Niederlassungen zu operieren. Herr Deml ist überrascht, wie sehr dieser Vorschlag von seinen Erwartungen abweicht. Wie ist das Verhalten von Herrn Rudzinski zu erklären?“(Fischer/Dünstl/Thomas, 2007, S. 67‐68). 2. Erläuterungen und Begründungen: „Herr Rudzinski will nicht die Verantwortung für die Entlassung von Kollegen überneh‐ men und schlägt daher eine Expansion vor. (...) Herr Rudzinski kann in dieser Situation gar nicht anders handeln, als derartige Ergebnisse zu präsentieren, da er sich sonst bei seinen Kollegen unbeliebt machen würde. Käme es wegen seiner Ergebnisse zu Entlassun‐ gen, hätte er sich in den Augen seiner Kollegen geradezu wie ein Verräter verhalten. Die Arbeitsplatzverluste und die damit verbundenen menschlichen Schicksale würden Herrn Rudzinski persönlich angelastet werden. Er kann sich auch nicht darauf berufen, er habe nur seinen Job erledigt, denn in Polen stehen zwischenmenschliche Beziehungen über der Verpflichtung gegenüber dem Unternehmen. Für Herrn Rudzinski ist diese Situation äu‐ ßerst unangenehm, da er zwischen den Erwartungen seiner Kollegen und Herrn Demls Anordnung steht. Um seinem Vorgesetzten keinen Grund zu geben, ihn für arbeitsunwil‐ lig zu halten, entwickelt er als Kompromiss ein Konzept, das im Grunde Herrn Demls Vorgaben entspricht, aber niemandem schadet und sogar weitere Einstellungen vorsieht. So kann niemand behaupten, er habe sich gegen seine Kollegen unloyal verhalten“ (S. 68‐70). Die Rücksichtnahme auf die in Polen gepflegten sozialen Beziehungen als oberstes Gebot auch gegenüber streng sachlichen Argumenten führt auch in diesem Beispiel zu Irritatio‐ nen. Herr Deml versteht nicht, wieso sein so qualifizierter polnischer Mitarbeiter Herr Rudzinski seine doch so klaren und eindeutigen sachlichen Anweisungen nicht Folge leistet. Anstatt sorgfältig die Situation zu recherchieren, basiert sein Konzept auf ungeprüf‐ ten Annahmen, die den Wunschvorstellungen von Herrn Rudzinski und seinen polnischen Kollegen und Mitarbeitern eher entsprechen als der nüchternen wirtschaftlichen Realität. Herr Rudzinski befindet sich in einer klassischen Konfliktsituation, nämlich sich zwischen dem Auftrag von Herrn Deml und der sozialen Verpflichtung gegenüber seinen polni‐ schen Kollegen und Mitarbeitern entscheiden zu müssen. Wie für polnische Verhältnisse nicht anders zu erwarten, entscheidet er sich für die sozialen Belange der Belegschaft und gegen die ökonomische Vernunft und die sachlichen Notwendigkeiten, obwohl diese ihm durchaus vertraut sind. 3. Lösungsstrategie: „Grundsätzlich fällt es polnischen Mitarbeiter nicht leicht, Entscheidungen zu fällen, die gegen das Gebot der Menschlichkeit und Milde verstoßen. In diesem Fall sollte man über‐ legen, ob Herr Rudzinski von der Verantwortung für dieses Projekt entbunden werden könnte. Am einfachsten wäre es, Herr Deml würde die Kalkulation selber erstellen. Gerade
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Deutschen gesteht man zu, aus sachlichen Überlegungen heraus unangenehme Entschei‐ dungen zu fällen; mitunter wird dies sogar von ihnen erwartet. Es ist jedoch nicht immer möglich und scheint auch nicht erstrebenswert, dass alle Ent‐ scheidungen, die die Entlassung von Mitarbeitern nach sich ziehen könnten, von deut‐ schen Fach‐ und Führungskräften getroffen werden. In einem ausführlichen Gespräch im Vorfeld der Besprechungen könnte Herr Deml Herrn Rudzinski seine Erwartungen an das Projekt klar formulieren. Eine eindeutige Anordnung, ausgesprochen von einer hierar‐ chisch übergeordneten Person, wird als verpflichtender empfunden als ein allgemeiner Arbeitsauftrag ohne klare Ergebnisvorgaben. Es könnte allerdings sein, dass dadurch die Ergebnisse in eine bestimmte Richtung gelenkt werden und man nicht mehr von einer unabhängigen Kalkulation ausgehen kann. Eine andere Möglichkeit wäre, Herr Deml würde gemeinsam mit Herrn Rudzinski erste Schritte des Projekts erarbeiten und ihm die weitere Ausarbeitung selbstständig überlassen. Zum einen wird so deutlich, dass ein per‐ sönliches Interesse am Gelingen des Projekts besteht, zum anderen trägt Herr Rudzinski die Verantwortung für die Ergebnisse nicht allein. Von Zeit zu Zeit sollte man sich nach dem Stand der Dinge erkundigen, ohne jedoch übermäßig zu kontrollieren; das weckt Misstrauen und könnte sich negativ auf die Arbeitsmotivation auswirken. Es ist empfeh‐ lenswert, sich als Ratgeber anzubieten, kurzfristige Arbeitsziele zu setzen und eventuell einzelne unangenehme Entscheidungen selbst zu übernehmen. Trotzdem bleibt ein derar‐ tiger Auftrag für einen polnischen Kollegen weiterhin sehr heikel und kann nicht unter rein sachlichen Gesichtspunkten betrachtet werden“ (S. 71‐72). 4. Polnischer Kulturstandard „Beziehungsorientierung“: „Der Aufbau und die Pflege sozialer Beziehungen nehmen in Polen einen hohen Stellen‐ wert ein. In interpersonalen Begegnungen werden der Art und der Qualität von Beziehun‐ gen ein höheres Gewicht beigemessen als den sachlichen Zielen. Soziale Beziehungen werden in Polen in Form von Netzwerken zur sozialen Absicherung und zur Erreichung persönlicher Ziele genutzt. Sympathie und Antipathie entscheiden darüber, ob eine Bezie‐ hung aufgebaut wird oder nicht. In den ersten Begegnungen mit neuen Bekannten wird daher viel in den Aufbau von Vertrauen investiert. Man tauscht Höflichkeiten aus, bemüht sich um eine angenehme Gesprächsatmosphäre, erkundigt sich nach der Familie und sucht nach gemeinsamen Bekannten oder Erlebnissen, über die man sich unterhalten könnte. Es dauert einige Zeit, bis beurteilt werden kann, ob das Gegenüber ein guter Mensch ist und ob man ihm vertrauen kann. Ist dies der Fall, wird der Kontakt durch gegenseitige Einla‐ dungen und persönliche Treffen gepflegt und weiter vertieft. Schlägt der Aufbau einer positiven Beziehung allerdings fehl, verschließt sich der Interaktionspartner und meidet den weiteren Kontakt. Gleiches gilt für fremde Personen, bei denen sich noch keine Gele‐ genheit für einen Aufbau von Vertrauen ergeben hat, es sei denn, es handelt sich um einen Gast. Deutsche sind im beruflichen Alltag in der Lage, die persönliche Ebene von der sach‐ lichen zu trennen, und können auch mit Unbekannten oder ihnen unsympathischen Kolle‐ gen erfolgreich zusammenarbeiten. Es wird erwartet, dass die Arbeit im Vordergrund steht und persönliche Anti‐ oder Sympathien zurückgestellt werden. In Polen dagegen ist dies aufgrund der geringen Trennung zwischen Person und Sache nur schwer möglich.
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Eine erfolgreiche Zusammenarbeit setzt voraus, dass sich die Kollegen untereinander auch persönlich gut verstehen und sich vertrauen. Ein weiterer Aspekt des Kulturstandards „soziale Beziehungen“, der sich insbesondere im beruflichen Kontext zeigt, stellt die Be‐ vorzugung der mündlichen vor der schriftlichen Kommunikation dar. Einem Schriftstück kann man nicht ansehen, ob man den Informationen, die darin enthalten sind, oder der Person, die es geschrieben hat, trauen kann. Die persönliche Kontaktaufnahme über Tele‐ fon oder besser noch in Form eines Gesprächs ist in jedem Fall der erste Weg, um eine Geschäftsbeziehung aufzubauen. Viele polnische Mitarbeiter betrachten eine schriftliche Mitteilung eher als allgemeine Information und sehen keine verbindlichen Handlungsan‐ weisungen darin; würde es sich um etwas Wichtiges handeln, hätte sich die entsprechende Person ja persönlich gemeldet. Daher kann es passieren, dass auf schriftliche Anfragen keine Reaktion erfolgt und sie erst dann bearbeitet werden, wenn man sich persönlich mit den entsprechenden Mitarbeitern in Verbindung gesetzt hat“(S. 72‐73). 5. Kulturelle Verankerungen der Kulturstandards „Sachorientierung“: Die zentralen Kulturstandards wie „ Sachorientierung“ und „Person‐ und Beziehungsori‐ entierung“ entwickelten sich über lange Zeiträume hinweg und sind relativ veränderungs‐ resistent. Das wirft die Frage auf, warum gerade in Deutschland eine so starke Sachorien‐ tierung vorherrscht, auch im Vergleich zu den Bewohnern in benachbarten europäischen Ländern wie z. B. Frankreich, Ungarn und Polen, in denen eine stark ausgeprägte Person‐ und Beziehungsorientierung im interpersonalen Verhalten zu beobachten ist (Mayr/ Thomas, 2009; Sontag/Schroll‐Machl/Thomas, 2007; Fischer/Dünstl/Thomas, 2007). Immer‐ hin gibt es zwischen diesen Ländern und Deutschland einen sich über Jahrhunderte erstre‐ ckenden intensiven Kulturaustausch. Eine Antwort auf diese Frage zu finden ist nicht einfach, da erstens mit einer multifaktoriell bedingten Kulturentwicklung zu rechnen ist und zweitens nur schwer eine Ursache‐Wirkungs‐Beziehung zwischen diesen Kulturstan‐ dards und historischen Verlaufsprozessen herzustellen ist. Selbst Historiker, Kulturphilo‐ sophen und Kulturanthropologen können aus ihren Forschungen offensichtlich dazu we‐ nig beitragen. So ist der folgende Versuch der Psychologin Dr. Sylvia Schroll‐Machl (2007, S. 64‐67) das einzige Dokument, das zur Beantwortung der Frage herangezogen werden kann. Unter der Überschrift „Historische Hintergründe“ schreibt sie: „Grundsätzlich hat in den westlichen Ländern eine Orientierung auf die Sache Tradition, was (1) mit der jüdisch‐christlichen Tradition in Zusammenhang gebracht wird. (...) Der dieser Tradition entsprechende Monotheismus entgötterte die Welt und öffnete sie damit den technischen und wissenschaftlichen Interessen der Menschen. In einer monotheisti‐ schen Welt gibt es keine (halb)göttlichen Wesen, auf die Rücksicht zu nehmen wäre. Dem‐ nach kann man etwa getrost Mühlen bauen, weil keine Nymphen im Bach leben. Nur ein monotheistischer Schöpfergott, den es nicht anficht, kann sagen: ‚Macht euch die Erde untertan.’ Das Christentum motivierte dann zusätzlich mit seiner Erlösungslehre zu Leis‐ tungen und rationaler Lebensführung, die Theologie legitimierte diesen Ansatz und die Benediktiner setzten ihn um mit einem ‚Ora et labora’. (2) Die im Mittelalter trotzdem bedeutsamen irrationalen Elemente wurden durch die Epoche der Aufklärung massiv
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zurückgedrängt gemäß dem Anspruch einer rein intellektuellen Behandlung aller Lebens‐ probleme im Gegensatz zu historischen, autoritativen und irgendwie mystischen Mächten. (...) Die Epoche der Aufklärung stellt in Europa den Übergang zur Moderne dar und bildet seither die doch immer gültige Basis der ‚Sachorientierung’. Um jedoch die deutsche Vari‐ ante der ‚Sachorientierung’, die weltweit und damit auch innerhalb der westlichen Länder vermutlich besonders ausgeprägt ist, fassen zu können, sind darüber hinaus spezifisch deutsche Voraussetzungen und Entwicklungen zu bedenken. In Deutschland spielte innerhalb des Christentums der Protestantismus eine besondere Rolle. (In ihm kam es) zu einer Verdrängung von Momenten des Emotionalen und Irratio‐ nalen aus sakralen Handlungen. Dem Protestantismus fehlt ein kultisches Anliegen, etwa in Form der Anbetung oder spiritueller Opfer. Stattdessen verschob sich die Religiosität zunehmend auf die intellektuelle Ebene und das Verstehen, auf das Finden von Antworten für konkrete Probleme und auf Hilfe bei der Suche nach dem Absoluten. Somit wurde das Verhältnis der Menschen zur Religion weniger leidenschaftlich, sondern eher intellektuell und könnte über Grenzen hinweg zu einer Betonung von Sachlichkeit und Rationalität geführt haben. Die Theologen waren denn auch weiterhin für die moderne Lebenswelt in Deutschland prägend. Zudem sieht eine protestantische Haltung den Menschen von Gott auch im Berufsleben auf seinen Platz gestellt, den er, so gut es geht, auszufüllen hat. Diese Einstellung fördert nicht den vorrangigen Fokus auf Personen, sondern auf Inhalte. Ganz speziell das Luthertum verstärkte mit seiner Lehre von den zwei Welten eine Trennung von Lebensbereichen, die zu einer Aufgabenorientierung (Konzentration auf die Sache) und zu innerem Reichtum (im individuellen Seelenleben) führte. Ein anderer Argumentationsstrang betont die lange Periode deutscher Kleinstaaterei, was für viele Menschen langfristig mit einem weitgehend stabilen Sozialgefüge und relativer Immobilität einhergeht. Das bedeutete auch, dass Beziehungen nicht immer wieder neu ausgehandelt werden mussten. Dementsprechend war eine ausgeprägte Konzentration auf die (gemeinsame) Sache oder Aufgabe einfacher. Als in späteren Jahrhunderten der Abso‐ lutismus der Kleinstaaten die Bürokratie zur Blüte brachte, wurde einer Sachorientierung weiter Vorschub geleistet:
■ Zum einen ist Bürokratie ihrem Wesen nach generell nicht auf Individuen ausgerichtet, sondern auf die Regelung von Sachfragen. Dieses Muster konnte aufgrund der geogra‐ fischen, politischen und sozialen Enge der deutschen Kleinstaaten besonders gut ge‐ deihen.
■ Die sachbezogene und methodisch ausgerichtete Arbeit der Bürokratie zum Wohl des Staates und der Herrschenden wurde gleichermaßen Bestandteil des Pflichtenheftes von Militär und Bürgertum. Von hier strahlten dann die damit verbundenen Werte und Moralauffassungen in breiten Bevölkerungsschichten.
■ Nachdem es zur Gründung des Deutschen Reichs (1871) kam, wurde diese Entwick‐
lung nochmals forciert, weil mit dem militärischen Sieg unter preußischer Führung das dort besonders weit ausgebaute bürokratische System über die Grenzen Preußens hin‐ aus Anerkennung fand und im übrigen Deutschland nachgeahmt wurde. Darüber hin‐
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aus waren in Preußen nicht nur staatliche Institutionen in hohem Maße bürokratisiert, sondern auch effizient arbeitende Industriebetriebe, die ebenfalls Vorbildfunktion be‐ kamen. Bürokratie schien eine Erfolgsgeschichte zu sein und sie lehrte: „An welchem Platz der einzelne auch steht, er hat die Alltagsaufgaben unpersönlich, sachlich, kor‐ rekt, affektiv‐neutral zu erfüllen. Die Aufgabe war wichtiger als die Art der Arbeitsum‐ stände ...“ (Pross, 1982, S. 46).
■ Die Begründungen aus der neueren Geschichte setzen 1945 bei der so genannten Stun‐
de Null an, dem jüngsten Tiefpunkt existenzieller Erschütterungen. (...) Das Leben war weitgehend auf das Funktionsdienliche bezogen und die vorherrschenden Gefühle der Verlorenheit und Ohnmacht konnten somit in den Hintergrund gestellt werden. Die Zeit des Wiederaufbaus nach dem Zweiten Weltkrieg brachte die (vorläufig) letzte große Welle der Verstärkung deutscher ‚Sachorientierung’. Im westdeutschen Wirt‐ schaftswunderland wurde Marktwirtschaft dann stets auch so interpretiert, dass wie‐ derum die ‚Sache’ im Zentrum des Interesses stand: Das Herzstück der Marktwirt‐ schaft heißt Gewinnmaximierung unter den Bedingungen des ‚Survival of the fittest’ und hat zur Konsequenz, dass Personen sich den solchermaßen ausgemachten ‚Sachin‐ teressen’ weithin unterzuordnen haben, auch im Modell der ‚sozialen Marktwirtschaft’. Der angestrebte Wirtschaftsaufschwung gelang, wirtschaftliche Stabilität konnte weit‐ gehend erhalten werden und die weitläufige Orientierung an ‚der Sache’ ist für Deut‐ sche nach wie vor Teil ihres Erfolgsrezepts“ (S. 66‐67).
Man könnte nun vermuten, dass im Verlauf der in den letzten Jahrzehnten einsetzenden Internationalisierung und Globalisierung besonders im Rahmen der Wirtschaft und des internationalen Managements eine Konvergenz auf international gültige Normen stattge‐ funden hat und damit die kulturspezifisch deutsche Betonung der Sachlichkeit auf Kosten der Berücksichtigung von personalen und beziehungsorientierten Aspekten in der inter‐ personalen, wirtschaftlichen Zusammenarbeit aufgegeben wurde. Die oben erwähnten Forschungsergebnisse belegen, dass dies nicht der Fall ist, sondern im Gegenteil nach wie vor sachorientiertes Verhalten bei deutschen Fach‐ und Führungskräften vorherrscht. Wenn es um wirtschaftliche, technische und personalspezifische Inhalte und Ablaufpro‐ zesse geht, dann bestimmen nach wie vor „sachliche Erwägungen“ die Beurteilung, Ana‐ lyse und Behandlung der Themen. Immer sind dabei zwar Menschen beteiligt, aber sie stehen nicht im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Ihre Erwartungen, Gefühle, Motive und Intentionen sind zunächst einmal zweitrangig und haben hinter den sachlichen Erwägun‐ gen zurückzustehen. Mit diesem Verhalten sind deutsche Fach‐ und Führungskräfte oft sehr effektiv, weil es ihnen gelingt, schnell zur Sache zu kommen und einen Vorgang zü‐ gig, kostensparend und sachgerecht zu Ende zu bringen. Für viele ihrer Partner aber wer‐ den dabei die sozial‐emotionalen Bedürfnisse zu wenig oder überhaupt nicht berücksich‐ tigt mit der Konsequenz, dass ein hohes Maß an Unzufriedenheit mit der Art der Zusam‐ menarbeit zurückbleibt. 6. Kulturelle Verankerung des Kulturstandards „Person‐ und Beziehungsorientierung“: Wenn es deutsche Fach‐ und Führungskräfte irritiert, dass ihre ausländischen Partner den tugendhaften Weg der „Sachorientierung“ verlassen oder ignorieren und person‐ und
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beziehungsorientiert reagieren, und zwar genau in den Situationen, in denen aus ihrer Sicht die Behandlung der sachlicher Themen und Probleme ansteht, dann sind die dahinterliegenden kulturhistorischen Grundlagen sehr unterschiedlich. Jede Nation und Kultur hat ihre eigene Geschichte und jede geschichtliche Entwicklung hat ganz spezifi‐ sche Einflüsse auf das zwischenmenschliche Zusammenleben, die Art und Weise der Kommunikation, der Interaktion und Kooperation ausgeübt. Der Kulturstandard „Person‐ und Beziehungsorientierung“ wird erst dann zum Thema und eventuell zum Problem, wenn das dadurch gesteuerte Handeln, also die Intentionen, Erwartungen, Bewertungs‐ maßstäbe, interaktiven Ablaufprogramme, Motive etc., auf Personen trifft, die eine völlig andere Handlungsweise erwarten. Zum Vergleich werden im Folgenden zwei Entwick‐ lungslinien des Kulturstandards „Person‐ und Beziehungsorientierung“ aus sehr unter‐ schiedlichen Kulturen, nämlich Polen und China präsentiert, deren Material aus der Ana‐ lyse der Befragungsergebnisse deutscher Fach‐ und Führungskräfte in diesen Ländern stammt (Thomas, ab 2001). a. Kulturhistorische Entwicklung des Kulturstandards „Person‐ und Beziehungsorientie‐ rung“ in Polen (Fischer/Dünstl/Thomas, 2007): Polen sind in ein Netzwerk von Beziehungen eingebunden, das ein gewisses Maß an Si‐ cherheit verschafft auch und gerade in Zeiten der Not. Gegenseitige Hilfsbereitschaft und soziale Unterstützung werden als Selbstverständlichkeit betrachtet. Dies betrifft das priva‐ te, aber auch das öffentliche Leben. Die ausgeprägte Familienorientierung in Polen stützt den Kulturstandard „Person‐ und Beziehungsorientierung“, denn gerade die Familienmit‐ glieder und gute Freunde der Familie gehören zu den engsten Bezugspersonen. Zudem leben Familienmitglieder und Verwandte nah beieinander, damit die sozialen Kontakte intensiv gepflegt werden können. Der Aufbau sozialer Beziehungen über den engen Kreis der Familienmitglieder hinaus wird erschwert, wenn die sozialen Kontakte unharmonisch verlaufen und die persönlichen Beziehungen nicht so recht stimmen, wenn z. B. der Ein‐ druck entsteht, dass man sich auf den Partner nicht recht verlassen kann. Auch arrogantes Verhalten, Rücksichtslosigkeit, Überheblichkeit und Respektlosigkeit erschweren die sozi‐ alen Beziehungen oder lassen sie zerbrechen. Vertrauliche personale und soziale Bezie‐ hungen sind keine konstanten Größen, sondern dem Wandel unterworfen und bedürfen deshalb der ständigen Bestätigung und Verstärkung. Polen war in den vergangenen 200 Jahren ständig von ausländischen Mächten bedroht und besetzt mit dem Resultat, dass die Bevölkerung erheblichen Einschränkungen der freien Meinungsäußerung, der eigenen Willensbildung und der politischen Entschei‐ dungskompetenz ausgesetzt war. Die Unterdrückung der Bevölkerung durch die deutsche Besatzungsmacht im Zweiten Weltkrieg und durch die kommunistische Herrschaft in der Zeit des Kalten Krieges führte dazu, dass sich viele Aktivitäten in den Untergrund verla‐ gerten und nur im Geheimen möglich waren. Bespitzelung und Spionagetätigkeiten der Besatzungsmächte führten dazu, dass die Polen niemandem mehr trauten, den sie nicht persönlich gut kannten. In den Mangelzeiten, in denen es vieles nicht oder nur selten zu kaufen gab, waren enge soziale Beziehungen lebens‐ und überlebensnotwendig. Diese Erfahrungen sind bis heute für die kulturspezifische Ausprägung des Kulturstandards
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„Person‐ und Beziehungsorientierung“ in Polen handlungswirksam. Deutsche Fach‐ und Führungskräfte müssen in Polen bereit und in der Lage sein, ein vertrauensvolleres, per‐ sonales Beziehungsverhältnis zu ihren Kollegen und Mitarbeitern aufzubauen, wenn sie sich ihrer Kooperation sicher sein wollen. b. Kulturhistorische Entwicklung des Kulturstandards „Person‐ und Beziehungsorientie‐ rung“ in China (Thomas/Schenk/Heisel, 2008): „Jeder Chinese lebt und arbeitet in einer Reihe von sozialen Beziehungsnetzwerken, ange‐ fangen von dem umfangreichen Netzwerk der eigenen Familie, über die gemeinsame Herkunft (Dialekt, Schule) bis hin zur Militäreinheit und der eigenen Betriebsabteilung, der man angehört etc. Dieses Netzwerksystem sozialer Beziehungen wird ‚Guanxi‐System‘ genannt, das in China eine lange Tradition hat: Philosophisch wurde dieses Konzept der Himmelsphilosophie und Staatsphilosophie vor allem durch den Philosophen Dong Zhonshu in der Han‐Zeit (ca. 206 v. d. Z. – 220 n. d. Z.) ausgebildet. Diese Zeit wurde auch als das ‚Goldene Zeitalter Chinas’ betrachtet, da sich in ihr die wesentlichen philosophi‐ schen Richtungen und staatspolitischen Ideologien von Daoismus, Konfuzianismus und Legalismus ausbildeten. Mit der Einführung des maoistisch‐kommunistischen Gesell‐ schaftssystems sind dem traditionellen Guanxi‐System noch weitere Kategorien hinzuge‐ fügt worden wie der zeitgleiche Parteieintritt (der das Bestimmungselement in der Partei‐ hierarchie darstellt), der Besuch derselben Parteischule oder die ‚Waffenbrüderschaft’ im Befreiungskampf (gleiche Armeeeinheit). Auf diesen sehr zentralen Bestimmungskatego‐ rien beruhen die Beziehungen verschiedener Personen und verpflichten sie zur gegenseiti‐ gen Loyalität. Durch langjährige Freundschaften und natürlich auch durch Geschäftsbe‐ ziehungen können neue Guanxi aufgebaut werden, wobei sich diese Beziehungen oft auf der Basis der genannten Kategorien entwickeln und festigen“ (S. 117‐118). Deutsche Fach‐ und Führungskräfte müssen dieses für China so spezifische und typische Guanxi‐System kennen und in der Interaktion und Kooperation mit ihren chinesischen Partnern berücksichtigen. Sie müssen sich auch bemühen, selbst ein Guanxi‐System aufzu‐ bauen, wenn sie beruflich erfolgreich sein wollen.
Weiterführende Literatur: Bausinger, H. (2000): Typisch deutsch. Wie deutsch sind die Deutschen?, 2. Aufl., München. Craig, G. (1985): Über die Deutschen, München. Schroll‐Machl, S. (2007): Die Deutschen – Wir Deutsche. Fremdwahrnehmung und Selbstsicht im Berufsleben. 3. Aufl., Göttingen.
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Individuelle und kollektive Orientierung
In den vergangenen Jahrzehnten sind eine unüberschaubare Anzahl wissenschaftlicher Studien zur kulturvergleichenden und zur interkulturellen Thematik erschienen, die der Frage nachgehen, ob sich Menschen, die in ihrem Denken und Verhalten stark individua‐ listisch orientiert sind, anders verhalten als Menschen, die in Kulturen sozialisiert wurden, die einen starken Hang zur kollektivistischen Orientierung aufweisen. Oft konnte man dabei den Eindruck gewinnen, dass die Welt sich in Individualisten, die vorwiegend in westlichen Industrieländern der nördlichen Hemisphäre zu finden sind, und Kollektivis‐ ten, die in Asien, Afrika und Lateinamerika leben, einteilen lässt. Die Favorisierung der individualistisch‐kollektivistischen Thematik geht zurück auf die bereits in den 60er Jah‐ ren durchgeführten Forschungen des niederländischen Industriepsychologen Geert Hof‐ stede (1980). Er hatte Fach‐ und Führungskräfte in einem global agierenden Unternehmen über arbeitsbezogene Wertvorstellungen befragt und aus den Daten vier von ihm als uni‐ versell gültig bezeichnete Kulturdimensionen ermittelt: 1. Individualismus versus Kollek‐ tivismus, 2. Maskulinität versus Femininität, 3. Machtdistanz: hoch versus niedrig und 4. Unsicherheitsvermeidung: hoch versus niedrig. Bezüglich des qualitativ definierten Ausprägungsgrades der Dimensionen ließen sich die 53 Herkunftsländer der befragten Personen auf Skalen einordnen. Die höchsten Individualismuswerte erreichten Länder wie Großbritannien, die Niederlande, die USA, Kanada, Australien, Belgien und Dänemark. Die niedrigsten Individualismuswerte entfielen auf Länder wie Thailand, Pakistan, Indien, Guatemala und Peru. Deutschland erreichte in dieser Dimension einen mittleren Wert. Da es sich hier um eine zentrale Kulturdimensionen handelt, die alle Lebensbereiche der Men‐ schen weltweit bestimmt, ließen sich die unterschiedlichen Werthaltungen, die unter den Bedingungen kollektivistischer oder individualistischer Orientierung ausgeprägt werden, für verschiedene Lebensbereiche folgendermaßen beschreiben (nach Hofstede, 1980):
A. Thomas, Interkulturelle Handlungskompetenz, DOI 10.1007/978-3-8349-6880-7_11,
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Tabelle 11.1:
Individuelle und kollektive Orientierung
Vergleich von Werthaltungen in kollektivistischen und individualistischen Gesellschaften (nach Hofstede, 1980)
Kollektivistische Gesellschaften
Individualistische Gesellschaften
Lebensbereich Familie:
‒ Erziehung zum Gemeinschaftsbewusst‐ sein ‒ Entscheidend ist die Meinung der Gruppe ‒ Es bestehen Verpflichtungen primär gegenüber der Familie und der Her‐ kunftsgruppe ‒ Fremdbestimmtheit ‒ Gruppenidentität ‒ Privatleben wird von der Familie und der Herkunftsgruppe bestimmt ‒ Harmonie, Respekt, Scham
‒ Erziehung zur Selbstverwirklichung ‒ Individuelle Meinungen und Überzeu‐ gungen ‒ Selbstverpflichtung ‒ Selbstverwirklichung und Selbstbestim‐ mung ‒ Ausbildung einer ichbezogenen Identität ‒ Individuelles Privatleben und eigen‐ ständige Entwicklung ‒ Individuelle Schuldgefühle
Lebensbereich Schule:
‒ Gelernt wird nur in der Jugend ‒ Befolgen von Normen und Regeln ‒ Abschlüsse führen zur Berufsbefähigung
‒ Lebenslanges Lernen für jedes Indivi‐ duum ‒ Förderung der individuellen Bega‐ bungen ‒ Abschlüsse erhöhen den Selbstwert sowie Status und Macht
Lebensbereich Arbeitsplatz:
‒ Unterschiedliche Maßstäbe für den, der dazugehört und nicht dazugehört ‒ Gruppenzugehörigkeit bestimmt die Beurteilung ‒ Soziale Beziehungen sind wichtiger als Erledigung von Sachaufgaben ‒ Gruppenzugehörigkeit entscheidet über Einstellung und Beförderung ‒ Personales Beziehungsverhältnis zwi‐ schen Vorgesetztem und Mitarbeitern ‒ Management konzentriert sich auf die Führung von Gruppen ‒ Ziele der Gruppe bestimmen die Perso‐ nalentwicklung
‒ Gleichbehandlung aller Mitarbeiter ‒ Fähigkeiten und Leistungen bestimmen die Beurteilung ‒ Sachgerechte Aufgabenerledigung, Leis‐ tung und Erfolg sind entscheidend ‒ Leistungsbezogene Beurteilung ‒ Sachorientierte Beziehung zwischen Vorgesetztem und Mitarbeitern ‒ Management konzentriert sich auf die Führung des einzelnen Mitarbeiters ‒ Individuelle Karriereplanung dominiert die Personalentwicklung
Individuelle und kollektive Orientierung
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Kollektivistische Gesellschaften
Individualistische Gesellschaften
Lebensbereich Staat und Gesellschaft:
‒ Kommunikation ist hochgradig kontext‐ orientiert ‒ Partikularismus, z. B. Hilfe in Notfällen ‒ Kollektive Interessen dominieren ‒ Soziale Identität durch Gruppen und Zugehörigkeiten ‒ Staatliche Strukturen dominieren Ar‐ beits‐ und Wirtschaftsleben ‒ Herrschaftseliten und Interessengruppen üben politische Macht aus
‒ Kommunikation ist direkt und vom Kontext relativ unabhängig ‒ Universalismus, z. B. Hilfe in Notfällen ‒ Individuelle Interessen dominieren ‒ Soziale Identität durch gesellschaftliche und berufliche Einbindung ‒ Private Strukturen dominieren Arbeits‐ und Wirtschaftsleben ‒ Gewählte Politiker üben die politische Macht aus
Wie bereits erwähnt, haben die Forschungen von Geert Hofstede und seine aus den Be‐ funden generierten Kulturdimensionen, besonders die Kollektivismus‐ versus Individua‐ lismus‐Dimension, weltweit große Aufmerksamkeit gefunden. Dennoch sind sie zu Recht aus methodischen Gründen (Datenerhebung und Datenauswertung) und wegen ihrer angeblichen universellen Gültigkeit und ihrer Interpretation allein auf national‐staatliche kulturelle Merkmale hin kritisiert worden (Dreyer, 2011). Hier ist nicht der Platz, auf diese Kritik im Detail einzugehen. Die Forschungsergebnisse aber legen es nahe, eine Sensibilität für Verhaltensunterschiede zu entwickeln, die sich aus der individuellen Sozialisation in eher kollektivistisch orientierten, im Unterschied zu eher individualistisch orientierten Kulturen ergeben. Deutsche Fach‐ und Führungskräfte sind, wie auch die Arbeiten von Sylvia Schroll‐Machl (2007) zeigen, eher individualistisch orientiert, denn „Individualis‐ mus“ gehört zu den von ihr in der Publikation „Die Deutschen – Wir Deutsche“ behandel‐ ten Kulturstandards. Unter der Überschrift „Definition ‚Individualismus’“ schreibt sie: „Individualismus fällt in vielerlei Hinsicht auf als die Betonung des Einzelmenschen. Er drückt sich in einer relativen (emotionalen) Unabhängigkeit einer Person von Gruppen, Organisationen oder anderen Kollektiven aus. Persönliche Unabhängigkeit und Selbst‐ ständigkeit werden hoch bewertet. Die primäre Identität ist die persönliche Identität des Individuums, das, was eine Person im Unterschied zu anderen Personen auszeichnet und charakterisiert. Als Leitmotiv könnte formuliert werden: Ich bin Ich. Ich habe meine eige‐ nen Ziele und Pläne, meine eigene Geschichte und meine Erfahrungen. Ich unterscheide mich daher auch von allen anderen Menschen. Ich entscheide über mein Leben weitge‐ hend selbst. Ich verfolge meine eigenen Ziele und Interessen, aber ich habe auch die Kon‐ sequenzen bei Fehlentscheidungen zu tragen. Ich kann das tun, was ich tun will und für richtig halte. Der Dreh‐ und Angelpunkt meines eigenen Lebens bin ich. Ich habe mit mei‐ nem Leben zufrieden zu sein, einer anderen Person steht darüber kein Urteil zu. Das Recht und die Verpflichtung des einzelnen Menschen, sein Leben selbst zu verantwor‐ ten, haben einen hohen Stellenwert. Das geht so weit, dass ein Mindestmaß an Abgren‐ zung und Eigenständigkeit eines Individuums gegenüber seiner Gruppe als Vorausset‐ zung für ‚psychische Gesundheit’ gesehen wird“ (S. 204).
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Individuelle und kollektive Orientierung
Die Ausprägung der individualistischen Orientierung z. B. in der Interaktion zwischen deutschen und chinesischen Führungskräften geht so weit, dass bei einem Training für chinesische Manager zur Vorbereitung auf die Zusammenarbeit mit deutschen Partnern bei der Behandlung des Kulturstandards „Individualismus“ bei den chinesischen Trai‐ ningsteilnehmern die Überzeugung entstand und sich verfestigte, dass mit „Individualis‐ mus“ eigentlich doch nur „Egoismus“ gemeint sein kann. Wer so auf sich selbst, seine eigene Entwicklung und sein eigenes Fortkommen konzentriert sei, könne nur als Egoist bezeichnet werden. Es war aufgrund der starken kollektivistischen Orientierung der chi‐ nesischen Trainingsteilnehmer nicht einfach, sie von Folgendem zu überzeugen: „Individualismus heißt nicht Egoismus! Denn die eigenen Interessen sind sehr wohl mit denen der mich jeweils umgebenden Menschen (z. B. Partner, Kinder, Freunde, Gesell‐ schaft) abzuwägen. Die Grenze zwischen Egoismus und Individualismus verläuft dort, wo eine Person einen anderen (Individuen, Gruppen, Gesellschaft) durch sein Verhalten schä‐ digt. Die Grenze ist in Deutschland vor allem durch Gesetze, Regelungen, Verträge, Ver‐ einbarungen markiert, sie einzuhalten ist deshalb auch gleichbedeutend mit Fairness und Rücksichtnahme. Es hat also jeder seine Interessen und Rechte, wie auch die berechtigten Interesse und Rechten der anderen im Auge zu behalten. (...) Individualismus heißt sehr wohl die Freiheit, die eigenen Interessen nicht aufgeben zu müssen. Und so bedeutet Indi‐ vidualismus auch, dass es Ziel allen pädagogischen und unterstützenden Handelns ist, Menschen so früh, so viel und so lange wie möglich in die Lage zu versetzen, ihre eigenen Angelegenheiten in die eigenen Hände zu nehmen. Eine wesentliche Voraussetzung für das Funktionieren dieser Balance zwischen Individuum und Gesellschaft ist die Einstel‐ lung, dass alle Menschen gleich sind und dass jeder für sich selbst und seine Interessen Verantwortung tragen kann und muss“ (S. 204‐205). Im Vergleich dazu lässt sich die kollektive Orientierung am Beispiel des mexikanischen Kulturstandards „Kollektivismus“ (Colectivismo), wie er aus kritischen Interaktionssitua‐ tionen deutscher Fach‐ und Führungskräfte in der Zusammenarbeit mit mexikanischen Partnern gewonnen werden konnte (Ferres/Meyer‐Belitz/Röhrs/Thomas, 2005), folgender‐ maßen beschreiben: „In kollektivistischen Gesellschaften wie der mexikanischen ist der Mensch von Geburt an in starke, geschlossene Wir‐Gruppen integriert, die ihn ein Leben lang schützen und dafür bedingungslose Loyalität von ihm verlangen. Individuelle Ziele sind den Gruppenzielen untergeordnet. Das Verhalten von Personen lässt sich am besten über Normen, wahrge‐ nommene Pflichten und Obligationen vorhersagen. Für Kollektivisten haben persönliche Beziehungen höchste Priorität und werden auch aufrechterhalten, wenn die Kosten den Nutzen übersteigen. So ist beispielsweise in Mexiko die Ingroup definiert über die erwei‐ terte Familie. Die Familie ist das Fundament und die wichtigste Institution der mexikani‐ schen Gesellschaft und der Mittelpunkt des sozialen Lebens. Gleichzeitig hat sie auch einen sehr viel höheren Stellenwert im Leben eines Mexikaners als die Arbeit, die eigent‐ lich nur Mittel ist, um den Lebensunterhalt zu verdienen. Die Familie bildet ein soziales Netzwerk, das in jeder Lebenslage wirtschaftliche und emotionale Funktionen erfüllt und soziale Not ausgleicht. Wird ein Familienangehöriger krank oder arbeitslos, so kann er sich
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auf die Versorgung und Hilfe durch andere (in der Regel weibliche) Familienangehörige verlassen. Das hat zur Folge, dass in Mexiko auch alte Menschen und Kinder selbstver‐ ständlich überall mit einbezogen werden. (...) Die mexikanische Familie an sich ist recht selbstgenügsam und deckt eigentlich alle sozialen Bedürfnisse ab. Deshalb ist es für Frem‐ de oftmals schwierig, enge Freundschaftsbeziehungen zu Mexikanern aufzubauen. Die Funktionen, die in Deutschland beispielsweise Freundschaften übernehmen, werden in Mexiko von der Familie wahrgenommen. Der Freundeskreis setzt sich aus Schul‐ und Studienkollegen zusammen und es besteht selten das Bedürfnis, diesen auszuweiten“ (S. 64‐65). Die folgenden Beispiele zeigen, wie die individualistische und die kollektivistische Orien‐ tierung in der internationalen Zusammenarbeit handlungswirksam werden und welche Konsequenzen sich daraus ergeben.
1. Beispiel: „Die gute Absicht“ 1. Die kritische Interaktionssituation: „Gisa ist sehr zufrieden mit ihrer mexikanischen Mitarbeiterin Rosa, die im Kundenser‐ vice ihres Unternehmens arbeitet. In ihren Augen hat Rosa gute Anlagen, lernt schnell und fügt sich sehr gut ein. Gisa möchte sie fordern, damit sie in naher Zukunft einen gehobenen Posten bekleiden kann, schließlich ist Rosa noch jung und hat bisher keine familiären Verpflichtungen, die sie ablenken könnten. Gisa gibt sich viel Mühe und bit‐ tet sie oft zu sich, um ihr Verbesserungsvorschläge an die Hand zu geben und ihr ihre Einschätzung der Vorgänge im Kundenservice mitzuteilen. Rosa reagiert darauf gereizt: „Warum kritisierst Du mich immer, warum immer mich, warum winkst Du mich immer rein? Warum sagst Du mir jeden Fehler? Warum sagst Du das nicht den anderen?“ Gisa erklärt Rosa, dass sie das positiv sehen müsse, denn sie würde dadurch ihr Interesse zeigen, Rosa wegen ihrer guten Anlagen zu fördern. Ihr sei daran gelegen, dass Rosa wachse, dass sie lerne, wie Dinge verbessert werden können. Kurze Zeit später kündigt die mexikanische Mitarbeiterin, sehr zu Gisas Verwunderung“ (Ferres/Meyer‐Belitz/ Röhrs/Thomas, 2005, S. 60‐61). Wie ist das Verhalten von Rosa zu erklären? 2. Erläuterungen und Begründungen: „Rosa fühlt sich benachteiligt, weil Gisa immer nur sie beobachtet. Sie möchte behandelt werden wie die anderen und nicht herausstechen. (...) Tatsächlich ist es den meisten Mexi‐ kanern tendenziell unangenehm aufzufallen. Sie streben eher an, ein gleichberechtigter Teil der Gruppe zu sein. Für Rosa ist Gisas Verhalten unverständlich und sie erlebt es offensichtlich als sehr unangenehm und provozierend. Auch nach der Erklärung kann Rosa nicht die wirklichen Absichten von Gisa erkennen und kündigt demnach aufgrund der dauernden Belästigungen, die sie nicht länger ertragen will. (...) Rosa interpretiert Gisas Verhalten anders, als dies von Gisa beabsichtigt war. Auch im persönlichen Ge‐ spräch ist Gisa nicht in der Lage, Rosa von ihren guten Absichten und ihrer positiven Mei‐ nung zu Rosas Arbeit und Fähigkeiten zu überzeugen. Während es in Deutschland in der
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Individuelle und kollektive Orientierung
Regel als positiv erlebt wird, wenn die Vorgesetzten ihre Mitarbeiter fordern und dadurch ihre Entwicklung fördern möchten, so wird dies in Mexiko eher als Kritik an der eigenen Person und der Arbeitsleistung aufgenommen. Die mexikanische Gesellschaft ist eine kollektivistische Gesellschaft, in der die Mitglieder sich sehr viel wohler fühlen, wenn sie einen Teil der Gruppe darstellen, und selten Anstrengungen unternehmen, um sich durch herausragende Leistungen vom Rest der Gruppe abzuheben“ (S. 61‐63). 3. Lösungsstrategie: „Es wäre in dieser Situation sinnvoller, Rosa nicht zu sehr zu fordern, sondern sie weiter‐ hin zu beobachten und als ersten Schritt bei einer guten Gelegenheit, in einem ruhigen Gespräch die persönlichen Absichten offenzulegen. Dann kann Rosa sich unbelasteter auf die Forderungen einlassen, als wenn sie sich schon seit längerem ungerecht behandelt und überfordert fühlt. In der geschilderten Situation wurde dieses Gespräch zu spät geführt, zu einem Zeitpunkt, zu dem Rosa ihre Arbeitssituation schon als sehr belastend und unbe‐ friedigend erlebte. Es ist sehr wichtig, dass Rosa sich vor allem als Person wertgeschätzt fühlt und ein gutes Verhältnis zu ihrer Chefin aufbaut. Um als deutscher Expatriate erfolg‐ reich zu sein und solche schwerwiegenden Missverständnisse zu vermeiden, ist es sehr wichtig, sich immer der Unterschiede zwischen kollektivistischen und individualistischen Gesellschaften bewusst zu sein“ (S. 63‐64). 4. Mexikanischer Kulturstandard „Kollektivismus“: Der hier zum Tragen kommende und in der Interaktion zwischen deutschen Fach‐ und Führungskräften und ihren mexikanischen Partnern handlungswirksam werdende Kultur‐ standard heißt Kollektivismus (Colectivismo). In der mexikanischen Gesellschaft bestim‐ men starke geschlossene Wir‐Gruppen das gesamte soziale Geschehen und beeinflussen dementsprechend das individuelle Verhalten. Die Ziele der Gemeinschaft bestimmen übe‐ rindividuelle Ziele, und das Interesse des Einzelnen ist bestimmt vom Wohlergehen der Gemeinschaft, für die er Verantwortung trägt. Er hat für das Gemeinwohl zu sorgen und sorgt dabei auch für sich, denn er ist existenziell in die Gemeinschaft eingebunden. Spezi‐ ell in Mexiko dient die Familie als soziales Netzwerk, das alle sozial‐emotionalen Bedürf‐ nisse des Individuums befriedigt. Dafür verlangt die soziale Gemeinschaft absolute Loyali‐ tät, Arbeitseinsatz und die Verfügbarkeit über alle individuellen Ressourcen. 5. Kulturelle Verankerung: „Dieser Kulturstandard beschreibt die Ausrichtung der Gesellschaft an der Gruppe. In kollektivistischen Gesellschaften wie der mexikanischen ist der Mensch von Geburt an in starke, geschlossene Wir‐Gruppen integriert, die ihn ein Leben lang schützen und dafür bedingungslose Loyalität von ihm verlangen. Individuelle Ziele sind den Gruppenzielen untergeordnet. Das Verhalten von Personen lässt sich am besten über Normen, wahrge‐ nommene Pflichten und Obligationen vorhersagen. Für Kollektivisten haben persönliche Beziehungen höchste Priorität und werden auch aufrechterhalten, wenn die Kosten den Nutzen übersteigen. So ist beispielsweise in Mexiko die Ingroup definiert über die erwei‐ terte Familie. Die Familie ist das Fundament und die wichtigste Institution der mexikani‐ schen Gesellschaft und der Mittelpunkt des sozialen Lebens. Gleichzeitig hat sie auch
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einen sehr viel höheren Stellenwert im Leben eines Mexikaners als die Arbeit, die eigent‐ lich nur Mittel ist, um den Unterhalt zu verdienen. Die Familie bildet ein soziales Netzwerk, das in jeder Lebenslage wirtschaftliche und emo‐ tionale Funktionen erfüllt und soziale Not ausgleicht. Wird ein Familienangehöriger krank oder arbeitslos, kann er sich auf die Versorgung und Hilfe durch andere (in der Regel weibliche) Familienangehörige verlassen. Das hat zur Folge, dass in Mexiko auch alte Menschen und Kinder selbstverständlich überall miteinbezogen werden. Die mexikanische Großfamilie an sich ist recht selbst genügsam und deckt eigentlich alle sozialen Bedürfnisse ab. Deshalb ist es für Fremde oftmals schwierig, enge Freundschafts‐ beziehungen zu Mexikanern aufzubauen. Die Funktionen, die in Deutschland beispiels‐ weise Freundschaften übernehmen, werden in Mexiko von der Familie wahrgenommen. Der Freundeskreis setzt sich aus Schul‐ oder Studienkollegen zusammen und es besteht selten das Bedürfnis, diesen auszuweiten“ (S. 64‐65).
2. Beispiel: „Die Unterschlagung“ 1. Die kritische Interaktionssituation: Herr Müller ist in Nigeria Leiter eines Beratungsbüros für die Abwicklung von Projek‐ ten im Rahmen der deutschen Entwicklungshilfe. Er arbeitet seit einigen Jahren eng mit einem nigerianischen Partner zusammen, der in Deutschland Betriebswirtschaft studiert hat und nun auf nigerianischer Seite für die Projektrealisierung verantwortlich ist. Zwi‐ schen Herrn Müller und seinem Partner besteht ein vertrauensvolles Arbeitsverhältnis. Er schätzt den einheimischen Kollegen wegen seiner Fachkenntnisse und seines Arbeits‐ einsatzes. Zudem kann er sich problemlos in Deutsch mit ihm verständigen. Auch inter‐ kulturell gibt es keine Reibungen, da sein nigerianischer Partner ja die Mentalität der Deutschen und die deutsche Kultur kennt. Nun erfährt Herr Müller, dass die Innenrevision in der deutschen Zentrale festgestellt hat, dass sein nigerianischer Partner vor zwei Jahren damit begonnen hat, Geld aus den Budgetmitteln abzuzweigen und wohl für private Zwecke unterschlagen hat. Herr Mül‐ ler kann das überhaupt nicht glauben, denn immer wieder hat er bei jeder sich bieten‐ den Gelegenheit, wenn es um Korruption und Misswirtschaft ging, erklärt, so etwas könne bei seinem Projekt nicht vorkommen, da er ein enges Vertrauensverhältnis zu seinem nigerianischen Partner pflegt, der ja zudem in Deutschland studiert habe. Herr Müller hat zwar vor einiger Zeit erfahren, dass die Tochter seines Partners in den USA studiert, und er hat sich gewundert, dass sich dieser die dafür anfallenden Kosten von seinem Gehalt leisten kann, dann aber vermutet, dass die Tochter von irgendwo her ein Stipendium bezieht. Nun teilt die deutsche Zentrale Herrn Müller mit, dass er die Beziehung zu seinem nige‐ rianischen Partner zu beenden habe, da dieser wegen Unterschlagung entlassen werde und man sich nun nach einem anderen qualifizierten einheimischen Partner umsehen müsse. Er wird zudem gefragt, wo er bei der Suche nach einem Nachfolger helfen könnte.
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Herr Müller ist wie vor den Kopf gestoßen und fragt sich, warum ihn sein Partner so hintergangen hat. 2. Erläuterungen und Begründungen: Zunächst hat Herr Müller vermutet, dass es sich hierbei um einen Irrtum handelt, musste sich dann aber überzeugen lassen, dass sein Partner tatsächlich die Unterschlagungen begangen hat. Ihm fällt auch eine Reihe von möglichen Erklärungen ein:
■ Das vertrauensstiftende Verhalten seines nigerianischen Partners war womöglich nur
vorgetäuscht. Er hatte von Anfang an den Betrug beabsichtigt und wollte Herrn Müller nur in Sicherheit wiegen.
■ Sein nigerianischer Partner hat womöglich so viele Schulden angehäuft, dass er er‐
presst wurde und keinen Ausweg mehr wusste, außer diese Unterschlagung vorzu‐ nehmen, um sein Leben zu retten.
■ Womöglich war für ihn die Versuchung zu groß, an Geld heranzukommen, nachdem er den Reichtum in Deutschland erlebt hatte und ihn mit seinem vergleichsweise be‐ scheidenen Lohn und den erbärmlichen Lebensverhältnissen verglich.
All diese und noch mehr Gründe waren Herrn Müller eingefallen, aber kein Grund befrie‐ digte ihn so recht. Schließlich zog er einen guten Freund, Herrn Bonk, ins Vertrauen, den er als christlichen Missionar kennengelernt hatte und der jahrelang in Nigeria tätig gewesen war. Von ihm erfuhr er, dass er bei allen seinen Überlegungen und Erklärungsversuchen immer nur seinen Partner und sein persönliches Verhältnis zu ihm im Auge gehabt hatte. Nie hatte er das soziale Umfeld, in das sein Partner eingebettet ist, in Betracht gezogen. Herr Bonk vermutete, dass die gesamte Großfamilie mit einer großen Anzahl an Personen zunächst einmal Geld zusammengelegt hatte, um seinen Partner in Deutschland studieren zu lassen, nachdem dieser sich in der Schule als für ein solches Studium geeignet erwiesen hatte. Nun hatte er eine gute Stelle im Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit und Zugang zu Finanzmitteln. Jetzt erwartet die Familie, und er war seiner Familie gegenüber auch entsprechend verpflichtet, dass er für sie sorgt. Die aus dieser sozialen Verpflichtung er‐ wachsenen Ansprüche stiegen immer weiter an, bis er nicht anders konnte, als nach Zu‐ satzmitteln Ausschau zu halten. Vielleicht, so meint der Herr Bonk, hätte er noch vorge‐ habt, zukünftig die unterschlagenen Mittel wieder zurückzugeben. Auch das Studium seiner Tochter in den USA ist wohl eine Reaktion auf diese unabweisbare Verpflichtung gegenüber seiner Familie und seinem primären sozialen Umfeld. Für den nigerianischen Partner von Herrn Müller hat sich zunächst einmal ein für ihn nicht lösbarer Konflikt er‐ geben: Einerseits ist er seiner Familie gegenüber in der Pflicht und andererseits seinem Arbeitgeber gegenüber. Obwohl er sicher weiß, dass er seinen Arbeitgeber betrügt und damit auch Herrn Müller hintergeht und vielleicht ahnt, dass die Unterschlagung irgend‐ wann auffällt, entscheidet er den Konflikt zugunsten seiner Familie. Die Loyalität seiner Familie gegenüber geht über alles!
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Herr Bonk hält die von der deutschen Zentrale angeordnete Entlassung zudem für falsch, denn ein neuer Partner gerät womöglich bald in eine ähnliche Konfliktlage. 3. Lösungsstrategie: Zunächst einmal hat Herr Müller durchaus sinnvoll gehandelt, indem er sich nicht einfach mit dem Bescheid der Zentrale in Deutschland zufriedengegeben hat und der Entlassung einfach zustimmte, sondern nach Gründen suchte. Auch wenn es zunächst einmal mehre‐ re, durchaus einleuchtende Gründe für das Partnerverhalten gab und ihm seine Überle‐ gungen nicht so recht Klarheit verschafften, lässt er nicht locker. Er fragt eine ihm vertrau‐ te Person, die über die Mentalität und Kultur der Nigerianer gut Bescheid weiß, um Rat. Dabei wird ihm klar, welche existenzielle Bedeutung das soziale Umfeld für Nigerianer hat. Nicht das einzelne Individuum entscheidet, handelt und ist autonom verantwortlich für das, was es tut, sondern es ist in allem und immer erst einmal Mitglied, Repräsentant und Verantwortlicher für seine Familie, seine Sippe, seinen Clan und seinen Stamm. Für deren Wohlergehen, Schutz, Sicherheit, Fortentwicklung und Ehre hat er vorrangig zu sorgen. Aus dieser Perspektive betrachtet versteht Herr Müller das Verhalten seines Partners bes‐ ser, nämlich als Versuch, mithilfe des Geldes, an das er herankam und das er auf sein eige‐ nes Konto leiten konnte, den Verantwortungskonflikt zugunsten seiner Familie zu lösen. Herr Müller muss nun überlegen, wie er sicherstellt, dass diese Erklärung im vorliegenden Fall tatsächlich zutrifft, und welche Handlungs‐ und Problemlöseralternativen es außer der vorgesehenen Entlassung noch gibt, z. B. Rückzahlung in Raten, Lohnkürzungen, Darlehen zu niedrigen Zinsen, Rückzahlplan etc. Dabei geht es nicht allein darum, dem nigerianischen Partner eine Brücke zu bauen, um ihn aus der misslichen Lage zu befreien. Es geht auch darum, ihm zu erläutern, wie sein Verhalten auf Herrn Müller gewirkt hat und wie die deutsche Zentrale auf die Unterschlagung reagierte und warum. Zudem sollte er ausloten, ob nach dieser Krisenbewältigung ein vertrauensvolles Arbeitsverhältnis wie‐ der hergestellt werden kann. Alle Lösungswege, außerhalb des Vollzugs der Entlassung, sollten nach Möglichkeit nicht einseitig als Diktat mit einem strafenden Unterton seitens Herrn Müller oder der deut‐ schen Zentrale erfolgen, sondern im Dialog gemeinsam entwickelt und Schritt für Schritt verwirklicht werden. So bliebe Herrn Müller der qualifizierte nigerianischer Partner erhal‐ ten, das mit der Einstellung eines Nachfolgers immer verbundene Risiko wäre vermieden und eventuell könnte eine durch gemeinsame Krisenbewältigung noch weiter gefestigte vertrauensvolle Zusammenarbeit erreicht werden. 4. Nigerianischer Kulturstandard „Kollektive Orientierung“: Der Kulturstandard „Kollektive Orientierung“ hat enge Bezüge zu den bereits in den an‐ deren Kapiteln des Buches näher behandelten Kulturstandards „Beziehungsorientierung“, „Personenorienentierung“, „Familienorientierung“, „Gruppenorientierung“, „Soziale Harmonie“ und „Guanxi“. Alle diese Kulturstandards steuern Denk‐, Urteils‐ und Verhal‐ tensweisen, die mit der hier diskutierten kollektiven Orientierung in enger Verbindung
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stehen, also in der konkreten interpersonalen Interaktionssituation der Kollektivverpflich‐ tung dienen und sie verstärken. In allen Kulturen, so ist gegenwärtig weltweit und in Bezug auf die historische Entwick‐ lung zu beobachten, in denen eine von Ackerbau und Viehzucht oder Nomadentum be‐ stimmte Lebensweise vorherrscht oder in der Menschen unter besonders harten Naturbe‐ dingungen überleben müssen, wie z. B. Wüsten, Schnee und Eis, Hochgebirge, häufige Naturkatastrophen, sind die kollektiven Orientierungen an die Familie (einschließlich Ahnen), die Sippe, den Clan und den Stamm oder an Glaubensgemeinschaften, regional‐ geografische Zugehörigkeitsgruppen und Herkunftsgruppen stark ausgeprägt. Das trifft auch für soziale Gemeinschaften zu, die längere Zeit unter rigider Zwangsherrschaft, Be‐ satzungsmächten, Okkupation und Terror, verbunden mit Willkürherrschaft und Man‐ gelwirtschaft oder als Minderheitengruppen unter gewalttätigen Mehrheitsgruppen zu überleben versucht haben. Unter diesen Bedingungen sind ein Überleben und der Erhalt eines Minimums an Lebensstandard nur möglich, wenn alle ohne Ausnahme zusammen‐ halten und ihre Potenziale und Ressourcen zum Wohle aller bündeln. Selbst dann, wenn solche Bedrohungslagen gemildert sind oder wie in vielen ehemaligen Kolonialländern, Schwellenländern und in der industriellen Entwicklung begriffenen Ländern schon zum Teil einem höheren Lebensstandard gewichen sind, bleibt die Tradition der kollektiven Orientierung noch lange erhalten, wie die Beispiele China, Singapur, Indien, Brasilien, Mexiko, Russland, aber auch die osteuropäischen und südosteuropäischen Staaten zeigen.
3. Beispiel: „Der Hilfsbedürftige“ 1. Die kritische Interaktionssituation: Frau Frisch, eine deutsche Arzthelferin, arbeitet als freiwillige Fachkraft seit zwei Jahren für eine christliche Organisation in Mumbai (Indien) in einem Sterbehaus für Menschen aus den untersten Schichten, also für die Ärmsten der Armen. Auf dem Weg zur Arbeit findet sie immer wieder einmal Bettler und alte Menschen, die völlig verdreckt und z. T. blutend auf den Gehwegen liegen. Alle Passanten steigen über sie hinweg oder gehen ihnen aus dem Weg, ohne sich um sie zu kümmern. Sie vermutet, dass viele dieser Hilfsbedürftigen über Stunden so im Straßendreck liegen bleiben. Frau Frisch spricht sie an, und wenn sie merkt, dass sie nicht mehr von selbst aufstehen können, nimmt sie sie in einem Taxi mit ins Sterbehaus, in dem sie arbeitet, und versorgt sie notdürftig, wenn sie nicht sofort zum Sterben dort bleiben. Bei ihrer Arbeit wird sie ab und zu von einem vorbeikommenden Inder gefragt, ob sie den Hilfsbedürftigen kennt, den sie gerade ins Taxi befördert. Wenn sie das verneint, gehen die Passanten kopfschüttelnd weiter. Frau Frisch kann auch nach zwei Jahren immer noch nicht verstehen, warum Inder ihre Mitbürger einfach im Rinnstein verrecken lassen, ohne ihnen zu helfen. Auch ist nie‐ mand ihrem Beispiel gefolgt und hat ihr beim Einladen eines Hilfsbedürftigen ins Taxi geholfen. Stattdessen machen auch in dieser Situation alle Inder einen Bogen um sie.
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2. Erläuterungen und Begründungen: Ein offensichtlich hilfsbedürftiger Mensch, den man nicht kennt, der in keiner sozialen Verbindung zu einem steht, verpflichtet in Indien niemanden zur Hilfeleistung. Unterlas‐ sene Hilfeleistung ist in Deutschland ein Straftatbestand und kann angezeigt werden. In Indien gibt es kein solches Gebot, jedem Hilfsbedürftigen zu helfen, gleichgültig in wel‐ chem Bezug man zu ihm steht, welches Alter und Geschlecht derjenige hat und welcher Rasse oder Religion er angehört. Hinzu kommt: „Das hinduistische Reinheitskonzept be‐ stimmt noch heute weite Bereiche des indischen Alltags. Es handelt sich hierbei um eine rituelle Reinheit und nicht in erster Linie um hygienische Gesichtspunkte. Je nach Kaste, in die ein Inder hineingeboren wird, besitzt er einen rituellen Reinheitsstatus. Dabei werden höhere Kasten reiner eingestuft als untere Kasten. Verunreinigung ist ,ansteckend` und kann nicht nur den individuellen Körper verunreinigen, sondern unter Umständen auch den ganzen Familienverbund. Wichtig ist also, dass die Berührung eines (Hilfsbedürftigen) eine individuelle Entscheidung für einen Inder bedeutet. Verunreinigung ist auch keine persönliche Empfindung (beispielsweise des Ekels), sondern stellt vor allem eine Verlet‐ zung von Normen eines Familienverbundes dar und kann zur Folge haben, dass das ge‐ samte familiäre Kollektiv in der Gesellschaft herabgestuft wird. Verstöße gegen das Rein‐ heitsgebot können zudem die Stellung des einzelnen in seiner Familie negativ beeinflus‐ sen. (...) Die Passanten empfinden wahrscheinlich keinen Konflikt und stufen ihr Verhalten nicht als rücksichtslos und negativ ein. Nach ihren Glaubensvorstellungen und Erfahrun‐ gen spricht vieles dafür, die (Hilfsbedürftigen) ihrem Schicksal zu überlassen. Die Lehre vom Karma und vor allem die kollektivistische Einstellung der Inder bildet die Grundlage für dieses Verhalten. (Inder) haben während ihrer Sozialisation gelernt, dass es eine der wichtigsten Pflichten des Individuums ist, dem Wohle der Familie zu dienen und sich ihren Normen unterzuordnen. Hinzu kommt, dass im Krankheitsfall (und in anderen Notfällen) nur die eigene Familie zuständig ist und man nicht erwartet, dass Fremde oder der Staat helfen“ (Saure/Tillmanns/Thomas, 2006, S. 93). 3. Lösungsstrategie: Frau Frisch sollte sich klarmachen, dass Inder zwar auch hilfsbereit sind, dass aber auf‐ grund ihrer in der Mehrzahl hinduistischen Glaubensorientierung die Hilfsbedürftigen für ihr Schicksal selbst verantwortlich sind und es keine generelle Verpflichtung gibt, ihnen zu helfen, nur weil sie hilfsbedürftig sind. Wenn Familienangehörige oder Personen, zu de‐ nen man in einem engen sozialen Beziehungsverhältnis steht, Hilfe benötigen, ist jeder Inder sofort verpflichtet und auch bereit, alles in seiner Macht Stehende zu tun, um die Notlage zu beseitigen. Für jeden, der aus der christlich‐humanistisch‐abendländisch ge‐ prägten Kultur stammt, sind solche Erlebnisse, wie sie Frau Frisch häufig begegnen, sehr belastend. Frau Frisch sollte zunächst einmal versuchen, einerseits das Verhalten der indi‐ schen Passanten zu akzeptieren, aber andererseits ihren Prinzipien genereller Hilfeleistung treu zu bleiben. Sie könnte Inder direkt ansprechen, ihr beim Tragen der Hilfsbedürftigen zu helfen, oder sie wendet sich an Personen, zu denen sich aus der jeweiligen Situation heraus ein Bezug zum Hilfsbedürftigen gleichsam von selbst aufgebaut hat, z. B. Ladenbe‐ sitzer, Obstverkäufer, Taxifahrer etc. Eventuell könnte Frau Frisch auch Hilfe aus dem Sterbehaus holen, falls es nicht so weit entfernt ist. Für ein zusätzliches Trinkgeld wäre
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vermutlich auch der Taxifahrer bereit anzufassen. Auf jeden Fall sollte Frau Frisch ihre Wut und Enttäuschung über das Verhalten der Inder nicht zeigen, sondern stattdessen beharrlich versuchen, weiterhin die Hilfsbedürftigen, die sie findet, zu unterstützen. 4. Indischer Kulturstandard „Kollektive Orientierung“: „Die kollektivistische Orientierung der indischen Gesellschaft hängt eng mit den Struktu‐ ren und Regeln von Familie und Kastensystem zusammen. Die Familie, die in vielen tradi‐ tionellen Gemeinschaften von Bedeutung ist, stellt die elementare gesellschaftliche Einheit Indiens dar. Sie kann mehrere Generationen und mehrere Zweige des Familienstamm‐ baums umfassen, ihren Mitgliedern leistet sie einerseits lebenswichtige Unterstützung, legt ihnen aber auch viele soziale Aufgaben und Pflichten auf. Der Familienverbund dient als Sozial‐ und Krankenversicherung und kümmert sich auch um die Pflege im Alter. Seine Mitglieder sind verpflichtet, sich in jeder Notlage gegenseitig zu unterstützen, da der Staat für diese Aufgaben bisher kein äquivalentes, flächendeckendes und gut funktionierendes System entwickelt hat. (...) Andere Kollektive, die sich aus mehreren Großfamilien über Jahrhunderte gebildet haben, sind die Subkasten (Jatis). Auch in diesem sozialen Netz ist ein großer Zusammenhalt zu spüren und die gegenseitige Unterstützung der Mitglieder untereinander wird erwartet. Die Jatis beeinflussen die Normen, Werte und das Verhalten ihrer Mitglieder in hohem Maße. (...) Die meisten Inder definieren folglich ihre Identitäten über die Zugehörigkeit zu Familie und Jati. Historisch gesehen ist die kollektivistische Orientierung also schon mindestens so alt wie das Kastensystem, das über mehrere Jahr‐ tausende stabil geblieben ist und viele Wechselfälle der Geschichte überstanden hat. Die hinduistische Überzeugung, dass jede Person beziehungsweise jede Gruppe ihren Platz in der Welt hat, ermöglicht zudem die friedvolle Toleranz und Akzeptanz der Jatis und ihrer unterschiedlichen Wertesysteme untereinander. Ein Aspekt, den das Kastensystem in Wechselwirkung mit den kollektivistischen Motiven mit sich bringt, ist folglich die strikte Abgrenzung der Gruppen untereinander. Jede Fami‐ lie und Jati ist bemüht, sich von den anderen abzugrenzen oder wenn möglich abzuheben. Die Familie oder eine Jati kann nur als geschlossenes Kollektiv den Aufstieg innerhalb des Kastensystems schaffen. Einem einzelnen Menschen gelingt dies nicht. Eine wichtige Norm, die die Abgrenzung von Mitgliedern anderer Gruppen und gesamten Familienverbünden begünstigt, ist das Streben nach ritueller Reinheit. Dieses Konzept entspricht einem kollektivistischen Prinzip, das hauptsächlich durch die Interaktion zwi‐ schen Familienverbänden bestimmt ist. Die konkreten Verhaltensnormen sind nicht für alle Hindus verbindlich, sondern werden vom jeweiligen Familienkollektiv festgelegt. Jede Familie bzw. Jati hat folglich ihre eigenen Regeln“ (S. 106‐109). Inder sind es auch im Arbeitsleben gewohnt, sich gleichzeitig mit vielen verschiedenen Aspekten zu befassen und ihre Aufmerksamkeit auf alles zu lenken, was in ihrem Umfeld vor sich geht. Dies führt bei deutschen Fach‐ und Führungskräften häufig zu dem Ein‐ druck, dass Inder leicht abgelenkt sind und sich nicht genügend auf die Sachaufgaben konzentrieren. Es kommt oft vor, dass beim Zusammentreffen verschiedener Arbeitsgrup‐ pen sich nur die Leiter der Teams begrüßen und gegenseitig vorstellen, nicht aber die
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einzelnen Teammitglieder. Aus indischer Sicht sind durch die gegenseitige Vorstellung der Leiter die Teammitglieder selbstverständlich mit eingeschlossen, denn sie werden von den Leitern repräsentiert. Auch bei der Leistungsentlohnung wird statt einer individuellen Entlohnung häufig eine Gruppenentlohnung vorgenommen, wobei dann die Gruppenmit‐ glieder die Mittel untereinander gleichmäßig aufteilen, unabhängig vom eventuell sehr unterschiedlichen individuellen Leistungsbeitrag. 5. Konsequenzen für deutsche Fach‐ und Führungskräfte: Für deutsche Fach‐ und Führungskräfte ist im Rahmen der Thematik „individualistische und kollektivistische Orientierung“ von Bedeutung, dass sie in der Zusammenarbeit mit ausländischen Partnern stärker, als sie das gewohnt sind, den sozialen Kontext, in dem ihre Partner eingebettet sind, und die sich daraus ergebenden Verhaltensvarianten berück‐ sichtigen. Zugleich haben sie ihre eigenen kulturellen Orientierungen zu beachten, die besonders in den letzten Jahrzehnten sehr stark geprägt sind von einer zunehmenden Individualisierung des gesellschaftlichen und privaten Lebens. Das zentrale, allseits aner‐ kannte und alles pädagogische Handeln leitende Erziehungsziel lautet: „Selbstverwirkli‐ chung“, und das um jeden Preis. Jeder Mensch sollte die Chance haben, seine individuel‐ len Fähigkeiten und Potenziale zu entwickeln und zur Entfaltung zu bringen, und in die‐ sem Streben soll er unterstützt werden. Eine „Gemeinschaftsorientierung“, die das Indivi‐ duum verpflichtet, primär zum Wohle der Gemeinschaft (Familie, Freunde, Nachbar‐ schaftsgruppen, Glaubensgemeinschaften, religiöse oder gesellschaftliche Gruppierungen etc.) tätig zu sein und seine eigenen Interessen nur im Dienste dieser Gemeinschaftsarbeit zu verwirklichen, hat hier keinen Platz. Gruppen, Netzwerke, soziale Bindungen jeglicher Art haben keine, die eigene Existenz begründende und stärkende Funktion, sondern sind nur kurzfristig, funktional und zweckgebunden. Sie sind jederzeit aufkündbar, wenn sie keinen erkennbaren Nutzen erbringen. Die zunehmende Urbanisierung und die Tenden‐ zen zur Kleinfamilie haben diese Entwicklungen zweifelsohne begünstig. Während in unserer Gesellschaft das Individuum mit seinen Erwartungen, Potenzialen, Leistungen und Eigenarten im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit steht, ist auch in anderen Kulturen zwar zunächst einmal nur der Einzelne, das Individuum als Kontaktpartner sichtbar und wird dann auch so behandelt, wie das in unserer Kultur üblich ist. Tatsächlich aber ist er aufgrund seiner mehr kollektiv‐ und gruppenbezogenen Orientierung auch und vor allem Repräsentant, Sprachrohr, Vertreter und Verantwortlicher für eine große Anzahl von Per‐ sonen, Gruppen und sozialen Gemeinschaften, deren Ansprüche und Erwartungen von ihm vertreten werden, ohne dass dies in irgendeiner Weise kommuniziert und für den deutschen Partner sichtbar wird. Sicher ist schon viel Vertrauen verspielt worden, sind viele gut gemeinte Kooperationsprojekte zu Bruch gegangen, sind Erwartungen enttäuscht worden und Menschen ungerecht beurteilt und behandelt worden, weil Menschen aus individualistisch orientierten Kulturen die Bedeutung der kollektivistischen Kontextbe‐ dingungen, unter denen ihre Kooperationspartner handeln, nicht kannten und nicht be‐ rücksichtigten. Welche Konsequenzen sich aus der für die deutsche Kultur typischen individualistischen Orientierung besonders in der Zusammenarbeit mit Personen aus anderen Kulturen erge‐ ben, wird nochmals in folgendem Text zum Kulturstandard „Individualismus“ deutlich:
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„Anhand dieses Individualismus lassen sich viele Eigenarten des Kommunikationsverhal‐ tens Deutscher zusätzlich erklären: Da eine Person nur rudimentär aufgrund ihrer Grup‐ penzugehörigkeit zu charakterisieren ist, ist das, was sie sagt, für ihre Einschätzung be‐ sonders wichtig. Es gilt nämlich ihre Interessen, Einstellungen, Überzeugungen, Prinzi‐ pien, Werthaltungen herauszufinden. Das sind die wichtigsten Attribute einer Person! Somit ist das Äußern von Interesse und das Eintreten für Überzeugungen ein für ein Indi‐ viduum wichtiges Kriterium, sich von anderen abzugrenzen und sich als eigene Person zu fühlen und zu identifizieren; und es ist die Möglichkeit, sich als Gesprächspartner ein Bild von dieser Person zu machen. Man kann sagen, Kommunikation dient in Deutschland in hohem Maße der Selbstdarstellung, um Kontakte auf der Basis eines gewissen individuel‐ len, seelischen Gleichklangs anzubahnen oder zu bestärken, aber kaum der Schaffung und Aufrechterhaltung der Harmonie einer nicht freiwillig gewählten Gruppe. Für das Berufs‐ leben bedeutet das: Durch Reden und Fragen zeigt man sein Engagement und seine Initia‐ tive. Deshalb darf auch die Kommunikation die Gefühle des Sprechers widerspiegeln (Ungeduld, Langeweile, Frustration, Ärger) – eine Person ist derart sichtbar engagiert und beteiligt. Ideen und Meinungen, Argumente und Gegenargumente dienen sowohl der Sache, weil eine sachlich gute Lösung gefunden werden soll, wie auch der Selbstbehaup‐ tung im Sinne des Beweises der eigenen Kompetenz als engagierter und leistungswilliger Mitarbeiter“ (Schroll‐Machl, 2007, S. 213‐214).
Weiterführende Literatur: Deller, J./Kusch, R. I. (2007): Internationale Personal‐ und Organisationsentwicklung, in: Straub, J./Weidemann, A./Weidemann, D. (Hrsg.), Handbuch interkulturelle Kommunikation und Koopera‐ tion. Grundbegriffe – Theorien – Anwendungsfelder, Stuttgart, S. 565‐576. Kim, U. C./Triandis, H. C./Kağitçibaşi, C./Choi, S. C./Yoon, F. (Eds.) (1994): Individualism and Collec‐ tivism: Theory, method and applications, Thousand Oaks. Müller, S./Gelberich, K.(2004): Interkulturelles Marketing, München.
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Individuelle und kollektive Orientierung
Regelorientierung und Regelrelativierung/Pragmatismus
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Regelorientierung und Regelrelativierung/Pragmatismus
Ein britischer Wissenschaftler, der ein Jahr an einem deutschen Forschungsinstitut gearbei‐ tet hatte und dann gebeten wurde, einmal seine besonders markanten Eindrücke vom Verhalten der Deutschen, so wie er sie gewonnen hatte, aufzuschreiben, bemerkt: „Ich habe schon zu Beginn des Jahres festgestellt, dass sich die Deutschen ganz streng an Regeln halten. Hier ein immer wieder beobachteter Vorgang: In der Stadt an der Ampel habe ich oft gesehen, wie alle bei Rot stehen geblieben sind, egal ob man Autos sehen konnte oder nicht. Am Anfang habe ich ganz einfach die Straße überquert, und Autofahrer in der nächsten Straße haben manchmal auf die Hupe gedrückt und zwar nicht deswegen, weil meine Tat lebensgefährlich war, sondern weil ich die Regeln nicht eingehalten hatte. Ein anderes Beispiel waren die Geschäfte, die ganz pünktlich zu einer bestimmten Zeit schlossen, auch wenn Kunden noch da waren und etwas kaufen moch‐ ten. Die Leute wurden oft einfach herausgeschmissen. Diese Phänomene habe ich da‐ mals so interpretiert: Deutsche haben für alles eine Regel, und wenn sie einmal in eine Situation geraten, für die sie keine Regeln haben, dann wissen sie nicht so recht, was sie tun sollen. Einmal habe ich im Dozentenwohnheim nach einem Handbesen gefragt. Ich wollte ei‐ nen ausleihen. Die Leute da haben aber gesagt, dass sie keinen hätten. Ein Deutscher hat mich dann gefragt, wie lange ich in Deutschland bleiben wollte. Ein Jahr habe ich ge‐ sagt. Er hat dann gemeint, ganz unfreundlich, ich sollte mir selbst einen Besen besorgen. Mit anderen Worten, ich sollte deshalb nicht bei ihm anfragen. Das konnte ich nicht ver‐ stehen. Wieso einen kaufen, wenn andere das Ding schon haben und das meist nicht be‐ nutzen? Ganz allgemein würde ich aber sagen, dass die Deutschen mir weniger offen und freundlich erschienen sind als zum Beispiel die meisten Engländer oder Amerika‐ ner. Sowohl in der Universität als auch in den Geschäften wurden oft Formalität und Distanziertheit vorgezogen.“ Das sind Erfahrungen eines Einzelnen, doch wenn man mit diesen Aussagen im Kopf durch deutsche Straßen geht, fallen einem plötzlich Beispiele auf wie die folgenden: a. Die Grünabfälle: An einem Waldweg ist ein Platz zur Ablage von Grünabfällen einge‐ richtet worden (4 x 3 m²) und daneben steht ein Schild (2 x 2 m²) mit folgendem Text: „Es dürfen nur kompostierfähige Grünabfälle von Hecken, Sträuchern, Grasschnitt, Baumabschnitte (maximal 10 cm Durchmesser) sowie loses Laub (keine Säcke) abgela‐ gert werden. Bitte werfen Sie auf kein Fall Plastiktüten, Flaschen, Dosen, Schnüre, Müll etc. auf diesen Platz. Es ist nur die Anlieferung aus dem Stadtgebiet und zwar werk‐ tags von 8.00‐20.00 Uhr mit Pkw oder Kleingeräten gestattet. Größere Fahrzeuge wie Lkw, Traktoren mit Hänger usw. müssen grundsätzlich beim Kompostwerk Regens‐ burg in der Kremser Straße anliefern! Unterschrift: Stadt Regensburg, Amt für Abfall‐ entsorgung.“
A. Thomas, Interkulturelle Handlungskompetenz, DOI 10.1007/978-3-8349-6880-7_12,
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Regelorientierung und Regelrelativierung/Pragmatismus
b. Die Tiefgarage: Am Eingang zu einer Tiefgarage in München steht ein Schild (1,50 x 1 m²) mit folgendem von einem Diplom‐Kaufmann abgezeichneten Text mit 16 feuerpolizei‐ lichen Hinweisen und Auflagen: „1. Die Tiefgarage dient ausschließlich zur Unterbringung von Kraftfahrzeugen! 2. Die Unterbringung von brennbaren Gegenständen, gleich welcher Art, ist verboten! 3. Pro Stellplatz darf nur eine Wechselgarnitur Reifen abgestellt werden! 4. Es ist verboten, in der Tiefgarage Fahrzeuge abzustellen, die Öl oder Treibstoff verlieren! 5. Es ist verbo‐ ten, in der Tiefgarage gasbetriebene Fahrzeuge einzufahren oder abzustellen! 6. Es ist verboten, in der Tiefgarage Behältnisse abzustellen, die brennbare Inhalte enthalten! (Öl, Benzin, Reinigungsflüssigkeiten usw.) 7. Es ist verboten, in der Tiefgarage irgend‐ welche Schränke aufzustellen, auch Metallschränke! 8. Es ist verboten, auf Stellplätzen Möbel oder Möbelteile, Kühlschränke u. Ä. zu lagern! 9. Es ist verboten, in der Tiefga‐ rage Reifen zu wechseln! 10. Es ist verboten, in der Tiefgarage irgendwelche Repara‐ turarbeiten an Kraftfahrzeugen durchzuführen! 11. Es ist verboten, in der Tiefgarage Ölwechsel an Kraftfahrzeugen durchzuführen! 12. Es ist verboten, irgendwelche Ab‐ fallstoffe wie Öl, Altöl, Treibstoffflüssigkeiten, Reinigungsflüssigkeiten in die Kanalisa‐ tion einzubringen! 13. Es ist verboten, in der Tiefgarage mit offenem Feuer zu hantie‐ ren! 14. Es ist verboten, auf Stellplätzen Autobatterien abzustellen! 15. Es ist verboten, auf Stellplätzen Getränketräger abzustellen! 16. Es ist verboten, auf Stellplätzen Fahr‐ zeuge abzustellen, die nicht betriebsbereit sind! (Schrottautos usw.) Wir weisen aus‐ drücklich darauf hin, dass durch die Branddirektion München immer wieder Kontroll‐ gänge durchgeführt werden! Verstöße gegen die Vorschriften können eine Strafanzeige nach sich ziehen!“ Hinzu kommen noch Vorschriften und Regeln, die regeln, wie die Regeln sichtbar ange‐ bracht werden müssen und welche Texte in welcher Größe verfasst sein müssen. Deut‐ schen fallen solche ausgefeilten Regelwerke auch gar nicht mehr auf. Nur wenige werden die Regeln alle lesen und auswendig lernen. Noch weniger werden sich kritisch fragen, ob die Zurschaustellung der Regel überhaupt nötig ist. Aber viele Deutsche würden, wenn man sie danach befragte, die Regeln sicher für wichtig und richtig halten, für den Fall, dass etwas passiert, oder um zu verhindern, dass etwas passiert. Kulturvergleichende Studien über die Art und Weise, wie man sich in die Benutzung von Handys einarbeitet, zeigen, dass im Vergleich zu befragten Personen aus anderen Natio‐ nen nur Deutsche zu fast 50 Prozent „Anleitungen lesen“, wohingegen Inder zu über 50 Prozent „Freunde fragen“ , Chinesen nur zu 14 Prozent „Anleitungen lesen“ aber zu über 50 Prozent „Versuch und Irrtum“ und „Nachahmung“ bevorzugen und Italiener zu 23 Prozent „Anleitungen lesen“ aber zu 54 Prozent nach „,Versuch und Irrtum“` vorgehen. Weltweit bekannt ist die Vorliebe der Deutschen, für alles mögliche Regeln, Vorschriften und Gesetze zu erlassen und bei Missachtung und Verletzung der Regeln gerne den Kla‐ geweg vor Gericht zu beschreiten. Auf der anderen Seite ist politisch in Deutschland nichts so schwer durchzusetzen wie Verwaltungsvereinfachungen und Bürokratieabbau, auch das ein Zeichen für die „Wertschätzung von Strukturen und Regeln“, wie Sylvia Schroll‐ Machl (2007) einen für Deutsche sehr handlungswirksamen Kulturstandard bezeichnet:
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„In Deutschland gibt es unzählige Regeln, Vorschriften, Verordnungen und Gesetze. Ihre Vielzahl und starre Auslegung, ihre strikte Einhaltung und rigide Zurechtweisung oder Bestrafung bei Verstößen sind im Kontrast zu anderen Kulturen, in denen selbstverständ‐ lich ebenfalls Regeln das Zusammenleben organisieren, das Besondere. Es bestehen impli‐ zite Regel (wie z. B. die Forderung nach Pünktlichkeit), auf einen bestimmten Wirkungs‐ kreis beschränkte Vorschriften (z. B. Haus‐ oder Benutzungsordnungen), Verordnungen, die das öffentliche Leben regeln (von der Entsorgung bis zur Straßenverkehrsordnung), Normen im beruflichen Leben (wie Anordnungen, Standardisierung, Verfahren, Vorschrif‐ ten), Klassifizierungen und Systematisierung im geistigen Bereich usw. (...) Derartige Strukturen kommen in allen Lebensbereichen zum Tragen und werden wenig hinterfragt. Ihre Einhaltung wird für selbstverständlich erachtet und Verletzungen werden geahndet, mitunter sogar von völlig unbeteiligten Personen“ (S. 71). Die folgenden Beispiele zeigen, wie die für deutsche Fach‐ und Führungskräfte selbstver‐ ständliche Orientierung an Strukturen und Regeln in Konflikt gerät, wenn sie mit auslän‐ dischen Partnern zusammenarbeiten, die, anstatt sich an festgelegten Regeln zu orientie‐ ren, einen zeit‐ und kontextabhängigen Pragmatismus und eine Regelrelativierung bevor‐ zugen.
1. Beispiel: „Die Kundenberatung“ 1. Die kritische Interaktionssituation: Herr Kohl arbeitet seit zwei Jahren für eine deutsche Bank in Polen. Seine Kunden sind Firmen, die ihre Geldgeschäfte über seine Bank abwickeln wollen. Er führt die ersten Akquisegespräche und betreut die Kunden dann noch einige Zeit weiter. In seiner Bank gibt es auch polnische Kollegen, die vorwiegend polnische Kunden betreuen. Bevor Herr Kohl mit einem potenziellen Kunden ein Erstgespräch führt, erkundigt er sich nach der Firma und auch nach dem Firmenvertreter, mit dem er es zu tun hat. Alle erreichba‐ ren Informationen holt er ein, prüft sie und erarbeitet daraufhin einen Gesprächs‐ und Beratungsplan. Das hat er so gelernt und in Deutschland immer erfolgreich angewandt. Unvorbereitet und planlos in ein so wichtiges Gespräch zu gehen, käme ihm überhaupt nicht in den Sinn. Das wäre aus seiner Sicht auch unprofessionell. Nun beobachtet er bei seinen polnischen Kollegen, dass sie sofort und ohne Vorberei‐ tung Kundentermine ansetzen und dann lange und ausgiebige Gespräche mit den Kun‐ den führen. Im Nachhinein stellt sich dann oft heraus, dass sie die Erwartungen der Kunden nicht erfüllen können oder vom Kunden missverstanden wurden. Herr Kohl versteht nicht, wie man als ausgebildeter Bankfachmann überhaupt so vorge‐ hen kann, denn immerhin geht es hier nicht um irgendwelche Verabredungen, sondern um Geldgeschäfte. 2. Erläuterungen und Begründungen: Die polnischen Kundenberater wollen erst einmal im Gespräch erkunden, ob eine Zusam‐ menarbeit überhaupt sinnvoll ist, und das erwarten auch die polnischen Kunden. Beide
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Regelorientierung und Regelrelativierung/Pragmatismus
Seiten sind überzeugt, dass sich im Verlauf von Gesprächen ergibt, ob man zusammenar‐ beiten will und kann. Eine gezielte Vorbereitung mit Informationssammlung und ‐analyse sowie eine vorherige Festlegung und Abarbeitung einer Gesprächs‐ und Beratungsstrate‐ gie würden als unehrlich und nicht vertrauensfördernd angesehen. Ein deutscher Kunde demgegenüber würde es als ein Zeichen von Desinteresse an seiner Person und am Ge‐ schäft bewerten, wenn der Kundenberater der Bank sich nicht vorbereitet hat, keine Opti‐ onen für eine mögliche Kooperation anzubieten hat, sondern einfach mal so drauflos plau‐ dert, womöglich noch über Gott und die Welt, und ohne sachlichen Bezug. Vertrauen würde solch ein Verhalten nicht erwecken. 3. Lösungsstrategie: Wenn Herr Kohl in Polen geschäftlich erfolgreich sein will, wird er sich auf Gespräche mit polnischen Geschäftspartnern im Erstkontakt zwar wie gewohnt auch gut vorbereiten, doch sollte er sie das nicht spüren lassen, sondern eher ihrem Wunsch nach einer lockeren, formlosen Gesprächsatmosphäre entgegenkommen. Er sollte dann, wenn seine polnischen Geschäftspartner auf geschäftliche Themen zu sprechen kommen, darauf Acht geben, wann und wie sich im Gespräch Ansätze für eine Zusammenarbeit herauskristallisieren. Systematisch und im deutschen Sinne professionell kann er dann im weiteren Verlauf der Kooperation agieren, wenn schon ein gewisses Vertrauen vorhanden ist. 4. Kulturstandards „Regelorientierung“ und „Regelrelativierung/Pragmatismus“: In diesem Beispiel zeigt sich, wie wirksam die bei Herrn Kohl verinnerlichte „Regelorien‐ tierung“ sein Verhandlungsverhalten gegenüber den Kunden bestimmt. Er würde es als unprofessionell ansehen, fachlich und kundenspezifisch unvorbereitet ein Kundenge‐ spräch aufzunehmen. Zur Vorbereitung gehören eine systematische, also regelgeleitete Informationssammlung und ‐analyse. Das dazu angewandte Regelsystem ist entweder berufsspezifisch oder firmenspezifisch verankert. Auch gehört es zu seinem beruflichen Selbstverständnis, einer spezifischen Systematik zu folgen, die dazu noch firmenspezifi‐ sche Varianten aufweist und in der Praxis noch von den im Verlauf vieler Kundengesprä‐ che vom Berater gemachten Erfahrungen beeinflusst ist. Einem solchen durchaus auch flexibel einsetzbaren Regelsystem zu folgen, ist Bestandteil der Vorbereitung der Ge‐ sprächsführung und der Nachbereitung, mit Schritten wie z. B. Protokollierung, Doku‐ mentation, Auswertung, Entscheidungsfindung und ‐begründung etc. Das alles gehört zu Herrn Kohls Professionalität, das erwartet sein Unternehmen und das erwarten seine (deutschen) Kunden. Das Verhalten der polnischen Kollegen ist demgegenüber von dem Kulturstandard „Re‐ gelrelativierung und Pragmatismus“ bestimmt. Sie bereiten sich offensichtlich nicht syste‐ matisch auf das Kundengespräch vor, sondern überlassen es dem Verlauf, der von ihnen und dem Kunden in gleicher Weise bestimmt wird, ob und wann sich eine geschäftlich verwertbare Idee ergibt. Ob sie mit ihrer, nach Meinung von Herrn Kohl, völlig unprofes‐ sionellen Vorgehensweise geschäftlich erfolglos sind, sei dahingestellt. Sicher würden sie die Erwartungen deutscher Kunden nicht erfüllen, aber womöglich polnischer. Professio‐ nalität macht sich an kulturell bestimmten, unterschiedlichen Verhaltensmerkmalen fest und wirkt dann erfolgreich, wenn sie den Erwartungen der Interaktionspartner entspricht.
Regelorientierung und Regelrelativierung/Pragmatismus
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Zum deutschen Kulturstandard „Regelorientierung“: „Wenn wir also zunächst einmal planen, organisieren, strukturieren, dann tun wir das nicht zum Vergnügen, sondern aus der Überzeugung heraus, dass so die Aufgaben am besten bewältigt werden können. Dass diese Strukturen in die Tat umgesetzt werden, hat eine zentrale Voraussetzung, die exakt der Inhalt des Kulturstandards ‚Regelorientierte, internalisierte Kontrolle’ ist: Auf alle Beteiligten muss Verlass sein. Eine Sache ist organi‐ siert und jetzt wird von allen erwartet, dass sie sich korrekt an ihre Zuständigkeit halten und ihre Aufgaben erfüllen. Nur im Zusammenspiel aller funktioniert das System. Regel‐ orientierte, internalisierte Kontrolle bedeutet, dass alle den im jeweiligen Kontext vorhan‐ denen Regeln, Systemen und Strukturen Folge leisten und dass das Verhalten an den abs‐ trakten und allgemeingültigen Vereinbarung, Übereinkünften und Vertragsbestandteil zu orientieren ist, also an von konkreten Personen und Situationen unabhängigen Regelun‐ gen. Strukturen und Regeln erhalten einen moralischen Wert: Sie einzuhalten, wird gleich‐ gesetzt mit Zuverlässigkeit. Im Berufsleben ist übrigens auch der Chef weithin lediglich der Repräsentant dieser Struktur“ (Schroll‐Machl, 2007, S. 94‐95). Zum polnischen Kulturstandard „Regelrelativierung/Pragmatismus“: Eine vorausschauende Planung zukünftiger Handlungen ist in Polen, sowohl im privaten als auch im beruflichen Bereich, weniger ausgeprägt. Die Zukunft erscheint ungewiss, daher muss man erst abwarten, wie sich alles entwickelt, um angemessen reagieren zu können. Bei der Entwicklung von Projekten legt man sich lieber nicht auf eine bestimmte Verhaltensstrategie fest, sondern behält mehrere Handlungsoptionen im Auge, um gege‐ benenfalls die beste auswählen zu können. Die deutsche Gewohnheit, sich schrittweise und linear an die Lösung eines Problems heranzuarbeiten, ist für viele Polen ungewohnt und scheint der komplexen Realität nicht gerecht zu werden. Weicht das tatsächliche Er‐ gebnis einer Handlung von dem geplanten ab, wird dies in Polen bis zu einem bestimmten Maß akzeptiert und in gewisser Weise sogar erwartet. Nach polnischem Verständnis gibt es einen Unterschied zwischen dem, was gemacht werden soll, und dem, was tatsächlich gemacht werden kann. Pläne sind zwar gut, aber nur wenige Polen teilen die Ansicht, dass sie wirklich eins zu eins umgesetzt werden können. Großzügigkeit und Toleranz bei der Kontrolle von Arbeitszielen und bei der Überwachung von Projekten sind zudem auch kennzeichnend für einen guten und anständigen Menschen. (...) Nach polnischem Ver‐ ständnis ist der flexible Umgang mit Regelsystemen ein Zeichen für Lebenstüchtigkeit und hat nichts mit Sprunghaftigkeit zu tun, wie es für Deutsche den Anschein haben mag. Aufgrund der über lange Zeit instabilen und unsicheren Rahmenbedingungen in Polen war diese Art von Handlungsplanung lebensnotwendig“ (Fischer/Dünstl/Thomas, 2007, S. 115‐117).
2. Beispiel: „Die Störfallmeldung“ 1. Die kritische Interaktionssituation: „Herr Franz ist seit 20 Jahren in einem deutschen mittelständischen Traditionsunter‐ nehmen tätig, das seit fast 100 Jahren Spezialpumpen für die deutsche Wasserwirtschaft
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herstellt. Die Pumpen wurden früher komplett im Werk hergestellt. Seit 15 Jahren hat das Unternehmen damit begonnen, immer mehr Komponenten von Zulieferern einzu‐ kaufen und dann im Werk zu montieren. Die Montage erfolgte von Hand an miteinan‐ der verkoppelten Montagebändern. In den vergangenen Jahren kamen immer mehr Kunden aus dem europäischen Ausland und aus Übersee hinzu. Das Unternehmen ex‐ pandierte zunehmend. Im Zuge der Osterweiterung der EU ist nun Herr Franz vor eini‐ ger Zeit zum Werksleiter in einem tschechischen Zweigwerk nahe Prag berufen worden. In diesem Montagewerk werden zwar schon Teile der Komponenten von Automaten gefertigt, aber noch die Mehrzahl wird von Hand montiert. Die beschäftigten tschechi‐ schen Mitarbeiter sind alles Maschinenbauer, gut ausgebildet und in Deutschland ge‐ schult worden. Für den Montageablauf gibt es klare Regeln für die Montage per Hand, die Bedienung der Automaten und die Übergänge von Automatenfertigung zur Handarbeit. Die Re‐ geln müssen strikt eingehalten werden, da sonst fehlerhafte Teile produziert werden. Die von Zulieferern kommenden Komponenten werden zu Beginn einer Qualitätskon‐ trolle unterzogen, um sicherzustellen, dass sie fehlerfrei sind. Trotzdem kommt es im‐ mer wieder vor, dass sich fehlerhafte Teilkomponenten einschleichen. Für den Fall einer Störung müssen dann sofort alle Bänder angehalten werden, bis das dafür speziell aus‐ gebildete Reparaturteam seine Arbeit beendet hat. Genau hier beobachtet Herr Franz immer wieder dieselben Probleme: Fällt einem tsche‐ chischen Mitarbeiter eine Störung auf oder bekommt er ein fehlerhaftes Komponenten‐ teil zu Gesicht, dann informiert er nicht, wie vorgeschrieben, sofort den Schichtleiter, um die Produktion zu stoppen, sondern versucht, irgendwie den Fehler selbst zu behe‐ ben. Er unterbricht seine Arbeit und bespricht mit seinen Kollegen, was zu tun ist, und macht sich dann irgendwie an den Komponententeilen oder an seinem Teil der Band‐ straße zu schaffen. Erst hat Herr Franz gedacht, die tschechischen Mitarbeiter haben Angst vor Bestrafung, wenn sie dem Vorgesetzten einen Fehler melden müssen. Er hat dann immer wieder be‐ tont, Fehler kämen immer mal vor, das sei nichts Besonderes, aber wenn sie auftreten, dann wäre sofort der Schichtleiter zu informieren und keine Selbsthilfeaktion in Gang zu setzen. Aber immer wieder kommt es vor, dass Störungen zu spät gemeldet werden und somit viele Komponenten kostspielig nachzuarbeiten sind oder Teile der Produkti‐ on verschrottet werden müssen. Herr Franz versteht einfach nicht, warum das Regelwerk für Notfälle von dem tschechi‐ schen Mitarbeiter nicht beachtet wird. 2. Erläuterungen und Begründungen: Für Herrn Franz ist alles geklärt. Er ist ein Experte für die Fertigung der Pumpen und er hat die Entwicklung von den per Hand zu bedienenden Montagebändern bis zum Einsatz von Automaten mitgemacht. Er kennt die Vorteile dieser neuen Anlage und die Schwach‐ stellen und er hat vorgesorgt. Die notwendigen und gut begründeten Regeln für den Not‐ fall sind zigmal erprobt worden und haben sich bewährt. Sie müssen nun aber auch be‐
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folgt werden und genau das, glaubt Herr Franz, müsste für seine tschechischen Fachkräfte eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein. Jedem, so meint er, muss doch einleuchten, dass eine Missachtung der Regeln zu kostspieligen weiteren Schäden führt. Die tschechischen Arbeiter sind gut ausgebildete Fachkräfte. Sie sind auch speziell für die Handhabung dieser teilautomatisierten Bandstraße geschult worden. Aber sie verabscheu‐ en die starre Einhaltung von Strukturen und Regeln und lieben es zu improvisieren. „Während für Deutsche eine Form von Struktur‐Plan hilfreich ist, weil er Zeit und Inhalte (Sache) organisiert, erleben Tschechen einen Plan als Einschränkung: Er organisiert in ihren Augen nicht den Gegenstand, sondern die beteiligten Personen (!) und wird deshalb tendenziell abgelehnt. Formalismen beispielsweise erwecken Misstrauen und Zweifel, Befehle führen zu großer Reserviertheit, zu klare Handlungsvorgaben wirken freiheitsein‐ schränkend und bevormundend und provozieren geradezu die Nichteinhaltung. Taucht das Gefühl der Unfreiheit auf, dann ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass eben diese Vor‐ gaben zu umgehen versucht werden. An der Mitgestaltung von Arbeitsprozessen, Ar‐ beitsweisen und der beruflichen Rolle nicht beteiligt zu werden, sondern diese Prozedur nur ausführen oder umsetzen zu müssen, wird als degradierend empfunden“ (Schroll‐ Machl/Nový, 2003, S. 43). Hinzu kommen noch die bei Tschechen verbreitete Improvisationsliebe (Pragmatismus) und der Stolz, über ein hohes Maß an Kreativität und Einfallsreichtum zu verfügen: „Tschechen lieben es zu improvisieren. Sie halten es für eine ihrer charakteristischen Ei‐ genschaften, flexibel, geschmeidig, findig zu sein. Diese Eigenschaft erfüllt sie mit Stolz: kreativ sein, gestalten, spielen – das bevorzugen sie allemal. Das ist – so sind sie weithin überzeugt – auch der Boden, auf dem neue und gute Ideen gedeihen können. Wird es einmal knifflig, hat es schon fast Sportcharakter, dass jemandem auf Anhieb eine gute Lösung für ein Problem einfällt. Was Tschechen mit großer Freude und mit Stolz erfüllt, ist, wenn sie einen positiven Überraschungseffekt erzielen können – ganz besonders ge‐ genüber Deutschen“ (Schroll‐Machl/Nový, 2003, S. 45). 3. Lösungsstrategie: Herr Franz wird mit einem weiteren Pochen auf die Einhaltung der Regeln oder mit Ab‐ mahnungen bei Regelverletzungen nichts erreichen können. Er müsste versuchen, auf mehreren Ebenen zu intervenieren. Zunächst einmal ist es sinnvoll, mit einer gewissen Beharrlichkeit immer wieder darauf hinzuweisen, dass die Regeln zur Behebung von Stö‐ rungen nicht willkürlich eingeführt wurden, sondern im Verlauf vielfältiger Praxiserpro‐ bung so und nicht anders entwickelt wurden. Auch der Zusammenhang zwischen Regel‐ befolgung und Arbeitsqualität respektive Regelverletzung und ökonomischem Schaden sollten klar und transparent dargestellt werden. Eventuell könnte Herr Franz auch die Mitarbeiter an der Entwicklung neuer, noch funktionsfähigerer Regeln beteiligen, also ihre Improvisationsgabe und Kreativität für eine Neuauflage des Regelwerks nutzen, um ihnen so zugleich eine Anerkennung für ihren Einfallsreichtum und ihre Improvisationsliebe zuteil werden zu lassen. Er könnte weiterhin darauf achten, dass da, wo Improvisations‐ liebe und Pragmatismus zielführend sind, den Mitarbeitern explizit Betätigungsräume
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eröffnet werden. Es sollte allen verständlich gemacht werden, wann Pragmatismus und Improvisationsliebe hinter der strikten Einhaltung von Regeln zurückzustecken haben. Wenn Herr Franz dann noch ein gutes persönliches Verhältnis zu seinen tschechischen Mitarbeitern herzustellen vermag und zwar so, dass sie ihn nicht nur als Fachmann, son‐ dern auch als Person mögen und schätzen, dann wird er zukünftig keine ernsthaften Stö‐ rungen im Produktionsablauf mehr haben, die auf Regelverletzungen zurückzuführen sind. 4. Kulturstandards „Regelorientierung“ und „Pragmatismus/Regelrelativierung“: Der Kulturstandard „Regelorientierung“ ist hier von zentraler Bedeutung, denn ohne strikte Einhaltung der für Störfälle im Produktionsprozess erlassenen Verhaltensregeln entstehen zusätzliche Produktionsausfälle und damit vermeidbare Kosten. Die tschechischen Mitarbeiter von Herrn Franz sind aber in einer Kultur sozialisiert wor‐ den, in der sie gelernt und verinnerlich haben, dass Regeln zwar in gewisser Weise nütz‐ lich und notwendig, aber nicht lebensbestimmend sind. Für sie ist der Kulturstandard „Pragmatismus“ oder auch „Regelrelativismus“ handlungsbestimmend. Bei Schroll‐Machl und Nový (2003, S. 46‐47) finden sich zu diesem Kulturstandard folgen‐ de Erläuterungen: „Die Abwertung von Strukturen hat zur Voraussetzung, dass es solche gibt und man sie kennt. Das bislang beschriebene Verhalten funktioniert nur dann, wenn irgendjemand Strukturen vorgibt (egal ob es sich dabei um einen ausländischen Investor oder einen in der jeweiligen Situation mächtigeren Tschechen handelt). Das Gefühl, organisiert zu wer‐ den, setzt ein und in der Folge das Spielen mit der Struktur. Auf der individuellen Ebene heißt das, dass jemand nicht darin geübt ist, sein Verhalten von sich aus aktiv zu planen, Verantwortung zu übernehmen, sich seine Bedingungen selbst zu gestalten und zu setzen, sondern sich auch viel mehr hier anpasst an tatsächliche oder vermeintliche, nicht zu ändernde äußere Bedingungen. (...) Tschechen sind zufrieden, wenn sie eine eigentlich verlorene, aussichtslose Situation ‚retten’ können, indem sie ihr wenigstens irgendetwas Positives, manchmal bloß einen Nebeneffekt, abgewinnen oder indem sie ein Mindestmaß der Zielerreichung arrangieren können. Auf der Ebene der beruflichen Zusammenarbeit besteht aber noch folgende Möglichkeit: Wenn ein starker Partner seinen tschechischen Partner von seinen guten Absichten über‐ zeugen kann und davon, dass er die Bedingungen (Strukturen) über längere Zeit garantie‐ ren kann, dann wird sich das Verhalten völlig ändern: Tschechen werden dann nicht nur Pläne, Normen und Strukturen respektieren und beibehalten, sondern sogar an ihrer Per‐ fektionierung konstruktiv mitarbeiten. Das ist eine der Ursachen für die vielen Erfolgsge‐ schichten, die es in der deutsch‐tschechischen Kooperation auch gibt. (...) Die Vorteile des Kulturstandards (‚Regelrelativismus und Pragmatismus‘) liegen in der tschechischen Im‐ provisationsfähigkeit: Manchmal schaffen Tschechen etwas, was unter strenger Berück‐ sichtigung der Strukturen nicht möglich wäre. Aus dem gleichen Grund sind Tschechen manchmal auch schneller als erwartet. Oder manchmal warten Tschechen mit positiven
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Überraschungen auf, in dem Sinne, dass sie mehr tun, als eigentlich erwartet werden wür‐ de. Der innere Gewinn liegt dabei in der Aufwertung der eigenen Person als schlau, findig, pfiffig, kreativ und verursacht das zufriedene Gefühl, ‚intelligenter als die Deutschen’ zu sein. Die Nachteile des Kulturstandards liegen immer wieder in der Güte der Arbeitsergebnisse: die Qualität einer Sache, eines Vorgangs, eines Produkts kann leiden oder sogar Schaden nehmen, ein Ergebnis kann suboptimal bleiben, ein Ergebnis wird eventuell nicht rechtzei‐ tig vorliegen.“ 5. Kulturhistorische Verankerung des Kulturstandards „Regelrelativismus und Pragma‐ tismus“: Wie bereits erwähnt, entstehen verhaltenssteuernde kulturspezifische Merkmale in sozia‐ len Gemeinschaften im Verlauf kulturhistorischer Entwicklungen. Die in der Zusammen‐ arbeit zwischen deutschen Fach‐ und Führungskräften und tschechischen Mitarbeitern beobachteten regelrelativistischen Reaktionsweisen verbunden mit einer starken Abwer‐ tung von Strukturen und Regeln einerseits und einer ausgeprägten Improvisationsliebe und pragmatischen Orientierung andererseits, haben ebenfalls kulturhistorische Wurzeln, die Schroll‐Machl und Nový (2007, S. 42) so beschreiben: „Tschechien war, von kurzen Epochen abgesehen (1918‐1938; seit 1989), stets in größere, von anderen dominierte Herrschaftszusammenhänge eingebunden: Bis 1866 gehörten Böhmen und Mähren zum Deutschen Reich (ab 1526 innerhalb der österreichischen Mo‐ narchie), dann waren Böhmen und Mähren Teil dieser Monarchie; 1938‐1945 wurden sie zum „Protektorat Böhmen und Mähren“; zwischen 1948 und 1989 Teil des Ostblocks. Seit der „nationalen Erweckung“ im 19. Jahrhundert, aber bereits auch immer wieder zuvor (z. B. Hussitismus, Schlacht am Weißen Berg 1620), wurde diese Geschichte als eine Ge‐ schichte permanenter Fremdherrschaft empfunden. Um sich dagegen aufzulehnen, war das Volk zu klein. So hatte man sich mit etlichen Niederlagen schlicht abzufinden und sich andere Überlebensstrategien zu überlegen. Sowohl das Faktum relativ geringer Macht wie auch das Erleben dieser Umstände als identitätsbedrohend prägten die tschechische Men‐ talität nachhaltig. Besonders einflussreich war die Zeit des Zusammenschlusses mit dem habsburgischen Königshaus (1526‐1918). Die Rechtslage räumte den Tschechen zwar ursprünglich ein, eine eigenständige Nation im juristischen Sinne zu sein, obwohl das Oberhaupt der Habsburger auf dem Wiener Thron saß; die Realität wurde dann aber zunehmend eine absolutistische. Somit befanden sich die Tschechen in einer permanenten Gratwanderung zwischen dem Aufrechterhalten der gefühlten und (ursprünglich) gestatteten Eigenständigkeit und dem Sich‐Einfügen in die zentrale Wiener Macht und dann zunehmend unter dem Anspruch, die eigene Identität gegen den Akkulturationsdruck zu behaupten. Das führte früh zu einer Entfremdung von Regierungsstrukturen: Man widersetzte sich dem Staat und seinen Gesetzen, um dem aus eigenem Antrieb und Interesse Gewollten immer wieder zum Durchbruch zu verhelfen. Das Leben in einem sozialistischen Staat verstärkte diese Menta‐ lität weiter und steht für die jüngste Epoche des Misstrauens gegenüber dem Staat und
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seinen Strukturen. (In dem hier diskutierten Zusammenhang bleibt) festzuhalten: Die Abwertung von staatlichen Strukturen war seit dem 16. Jahrhundert eine psychologische Überlebensnotwendigkeit der Tschechen, wollte man nicht seine Existenz als eigenes Volk aufgeben und völlig assimiliert werden.“
3. Beispiel: „Die Entscheidungsfindung“ 1. Die kritische Interaktionssituation: „Herr Klein war erst seit kurzem bei der kanadischen Partnerfirma seines Heimatunter‐ nehmens tätig. Diese stellte Automaten für verschiedene Getränke und Süßigkeiten her. Einer ihrer Kunden informierte sie, dass er in Kürze von Flaschen auf Dosen umstellen würde. In einem ersten Treffen mit den zuständigen Managern und Ingenieuren ging es nun darum, ob der Auftrag besser durch eine Umstellung der bestehenden Automaten oder durch komplett neue Automaten erledigt werden sollte. Es herrschte eine gute At‐ mosphäre, und es wurde viel darüber geredet, wie gut die Zusammenarbeit mit diesem Kunden klappte und wie gut man in der Zusammenarbeit mit ihm schon verdient hätte. Dann wurde noch ein wenig darüber geplaudert, wie nun diese Herausforderung am besten bewerkstelligt werden könnte, bis dann plötzlich kurzerhand entschieden wurde, neue Automaten für die Dosen zu bauen. Herr Klein war damit nicht einverstanden. Schließlich war das Problem noch gar nicht genauer analysiert worden. Die Lösung war auch mehr nur so dahingesagt als genau durchdacht und begründet“ (Thomas/ Scheuermeyer, 2006, S. 25). Warum wurde hier so plötzlich eine Entscheidung getroffen, fragte sich Herr Klein? 2. Erläuterungen und Begründungen: Alles ist den beteiligten Personen gut bekannt: der Kunde, die Abfüllanlage und die Kom‐ petenz der kanadischen Techniker. Eine alte Anlage umzurüsten spart zwar im Augen‐ blick Kosten, hat aber den Nachteil, dass die alte Technik beibehalten wird, obwohl eine neue Anlage womöglich reibungsloser und kostengünstiger zu betreiben ist. Keiner der Anwesenden widerspricht der Anschaffung neuer Automaten. Also kann auch sofort entschieden werden. Weitere langatmige Recherche und Diskussionen sind völlig über‐ flüssig. Die Kanadier sehen hier auch keine Notwendigkeit eine Begründung oder Legiti‐ mation für die Entscheidung zur Arbeit. Das, was in der Gesprächsrunde Konsens war, wird gemacht. Für Herrn Klein fehlt die sorgfältige Planung, das Abwägen des Für und Wider, das Be‐ denken der Konsequenzen technischer und finanzieller Art und die fundierte Begründung dafür, dass statt der Umstellung der alten Anlage völlig neue Automaten angeschafft werden.
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4. Beispiel: „Die deutsch-amerikanische Projektarbeit“ 1. Die kritische Interaktionssituation: Ein deutsch‐amerikanisches Team arbeitet an der Entwicklung eines mikroelektronischen Chips. Das Projekt hat vor zwei Jahren damit begonnen, dass eine kleine Gruppe von Amerikanern, die man als Know‐how‐Träger nach Deutschland geholt hatte, einen zeitlich und inhaltlich festgelegten Plan erstellte, nach dem das Ingenieurteam dann vorgehen sollte. Das geschah dann auch – sehr zum Ärger der involvierten deutschen Ingenieure. Ein deutscher Ingenieur berichtet aus der Zusammenarbeit: „Es war also am Anfang des Projekts ein Konzept vorhanden, das die amerikanischen Kollegen entwickelt haben. Aber dieses Konzept war so nicht realisierbar. Die Arbeit nach diesem Konzept warf an vielen Stellen Schwierigkeiten auf, die, weil sie so gravie‐ rend waren, eigentlich unserem Dafürhalten nach zum Umwerfen des Konzepts hätten führen müssen. Aber das geschah nicht. Man hat diesen Weg der Amerikaner stur be‐ schritten. Das Management beschloss es so. Wir Deutsche haben uns darüber schon maßlos aufgeregt. Die amerikanischen Kollegen aber finden den Weg gut. Eine Schwie‐ rigkeit ist eben in ihren Augen ‚no problem’. Es fällt ihnen schon was ein. Und ich muss auch zugeben, welche Wissensmengen der eine Kollege in seinem Kopf behält und wie erfindungsreich er damit jongliert, das ist schon toll. Wir finden aber, dass unser Bau‐ stein nun ein einziges Flickwerk ist, und das macht uns unzufrieden. Die Amerikaner sagen uns immer, wir sollten doch sehen, was er (der Chip) alles kann und was wir schon erreicht hätten! Und das, was fehlt, kriegen wir auch noch. Ich bin zurzeit richtig verärgert. Diese Durchwurschtelei, dieses Flicken und Nachbes‐ sern nervt mich sehr! Da geben die Amerikaner einen Plan vor und wir müssen uns nun auf Biegen und Brechen in diesen Plan fügen. Das verursacht eine Menge technischer Probleme, die wir normalerweise im Team weder diskutieren und fundiert durchden‐ ken, geschweige denn auf unsere Art lösen dürfen. Denn das würde bedeuten, wir schmeißen diesen verfluchten Plan um, aber genau das sollen wir ja nicht. Na ja, dann streiten wir eben wieder mit den amerikanischen Kollegen. Ich kann Ihnen sagen, das Klima zwischen uns ist nicht gut. Jeder wirft dem anderen vor, dass mit ihm keine Zu‐ sammenarbeit möglich ist. Ich meine, dass all diese Schwierigkeiten unter Umständen vorhersehbar gewesen wä‐ ren, wenn man zu Beginn gründlich gearbeitet hätte. Erfahrene Kollegen behaupten das fest, denn ihnen gelang es immer wieder, Problematiken zu erkennen und anzuspre‐ chen, die sich erst ergaben, nachdem man in der Entwicklung schon wieder bedeutend weiter war. Es gab also unter Deutschen ein Denken, das wirklich strukturierter ist, durchaus methodischer ist, das diese Problemfälle ansatzweise frühzeitig erkennen und damit dieses Troubleshooting vermeiden kann. Diese Kollegen machten auch Vorschlä‐ ge für einen grundlegend anderen Weg, die verblüffend plausibel und simpel, weil auf wirklichen Prinzipien beruhend, klangen. Doch das amerikanische Konzept wurde bei‐ behalten und somit konnte dieser methodische Ansatz nur partiell wirksam werden. Normalerweise haben wir an den Problemstellen einen Umweg oder eine Kurve ge‐
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macht, eben ein Pflaster für das Problem verwendet. Diese Umwege, die haben uns sehr viel Zeit, Energie und Geld gekostet. Ich behaupte mal, die Amerikaner hatten kein aus‐ gereiftes Konzept, d. h., es war nicht getragen von einer breiten Diskussionsbasis und den prinzipiellen Überlegungen, sondern von der Idee eines, wie sich herausstellte, stei‐ nigen Weges. Die Deutschen machten, sobald man ihnen dazu Zeit ließ, eine gründliche Analyse und erkannten viele Probleme im Vorfeld. Unsere Schlussfolgerung: Wäre diese Analyse am Anfang gestanden, dann wäre eben vieles bereits durchdacht gewesen. Dann hätte man für vieles prinzipielle Lösungen gehabt, dann wären viele überflüssige Probleme gar nicht aufgetaucht. Wir sind uns alle sicher, dass durch methodischeres Denken auf diesem deutschen Weg unter Umständen Ausreißer, wie sie faktisch aufge‐ treten sind und wie wir sie jetzt haben, hätten vermieden werden können. Wir hätten sozusagen die Qualität hineinentwickelt und nicht hineinrevidiert. Das gelang uns näm‐ lich dann für Teilstücke immer, wenn wir einmal auf unsere Art etwas entwickeln durf‐ ten. Unsere Art heißt: Wir diskutieren hin und her, mit Vorteilen und Nachteilen, mit Voraussetzungen und Konsequenzen, die Theorien und Erfahrungen usw. und daraus extrahieren wir unseren Weg, der dann auf einer echten Grundlage basiert. Versuchen Sie mal eine solche Diskussion mit Amerikanern. Die hauen einfach ab!“ Ein amerikanischer Ingenieur berichtet aus der Zusammenarbeit: „In Deutschland sind die Ziele nicht gut definiert. Was ich meine, ist: Es ist zu viel für einen Ingenieur, wenn das Ziel z. B. in meinem Fall jetzt ist, dass ein Chip funktioniert. Ich meine, das ist kein Ziel für mich, weil es zig Leute gibt, mit denen ich arbeiten muss und die genau das gleiche Hauptziel haben, dass der Chip funktioniert. Man braucht doch irgendwie ein kurzfristiges Ziel, für ein Jahr oder für eine Woche, meinetwegen. Das kann man erreichen und dann macht man weiter. Doch in Deutschland, finde ich, gibt es kein echtes kurzfristiges Ziel. Jeder weiß, wir müssen einen Chip produzieren, aber wie ich täglich die Richtung halte, so dass ich tatsächlich etwas schaffe und errei‐ chen kann, das ist nicht klar hier. Und deshalb finde ich es gut, dass wir in diesem Pro‐ jekt einen Plan besitzen, den Amerikaner gemacht haben. So kann man arbeiten! An die‐ sen Plan kann man sich halten! Doch die Deutschen kritisieren ständig diesen Plan. Gerade komme ich aus einer Be‐ sprechung, in der wir ein paar kleinere Probleme zum Thema hatten. Die Deutschen verbohrten sich wie immer in die Details und diskutierten lange irgendwelche Aspekte der Probleme und betonten selbstverständlich zum x‐ten Male, dass das im amerikani‐ schen Plan übersehen worden wäre. Ich sage, als sich die Diskussion schon wieder ewig ausdehnte, wir sollten in der Besprechung heute nur entscheiden, in welche Richtung wir als Nächstes gehen werden und dann können wir doch die Details später ausarbei‐ ten, aber eben nicht in der Besprechung! Natürlich habe ich keinen Erfolg gehabt. Die haben gesagt, was das soll, wenn wir wieder einen der „berühmten amerikanischen Plä‐ ne“ machten. Wir könnten ihn ja sowieso nicht einhalten, sondern müssten ihn wieder ändern und ergänzen. Dann habe ich gesagt, dass ich das auch müsste, aber dass wir dann zumindest ein Ergebnis erreicht und erarbeitet hätten und dann neu entscheiden und weitergehen könnten. Aber sie wollten nicht. Ich habe es schließlich aufgegeben, die
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Leute zu überzeugen, dass es das Beste wäre, nach dem amerikanischen Plan vorzuge‐ hen. Ich habe gedacht, o. k., die können weiterarbeiten, wie sie wollen, und ich arbeite auf meine Weise. Ich setze mir meine Ziele selber. Insgesamt müssen sie sich ja, Gott sei Dank, an unseren Plan halten und manchmal müssen ein paar Deutsche mit mir arbei‐ ten, weil ich diese Position als Dienststellenleiter habe. Wenn ich dann festlege, ich brauche zwei Personen, um etwas bis nächste Woche zu schaffen, dann kriege ich die Leute und dann machen die mit und arbeiten so, wie ich ihnen das sage. Ich bin richtig kaputt und angespannt. Wir redeten wieder mal volle vier Stunden über alle möglichen Details, breit und ausführlich. (...) Werner legte also dar, worum es ging. Noch während er sprach, ergriffen die anderen das Wort: einer vom Marketing, dann einer von der Produktion, einer von der Zentrale usw. und jeder sagte etwas zu dem Thema. Aber nicht, dass sie denken, jemand würde eine Lösung anbieten! Nein, jeder erklärte, weswegen das Problem besteht. Was seine Sicht der Dinge ist. Damit werden ständig neue Themen angeschnitten und jeder hält fünf oder zehn Minuten einen Mono‐ log. Wenn einer fertig ist, fängt der Nächste an usw. Schließlich knüpft mein Kollege wieder da an, wo er aufgehört hat, und alles dreht sich im Kreis. Na ja, ich bekam wirk‐ lich ein gutes Bild von dem gesamten Problem: Von den technischen Problemen, von den Schwierigkeiten in der Logistik, von den Schwierigkeiten im Marketing und von Problemen bei der Produktion, von den Schwierigkeiten der kaufmännischen Seite. Ent‐ scheidend ist aber: Bis man damit fertig ist, sind zwei Stunden vergangen und man hat immer noch keine Entscheidung getroffen. Das ist ja auch verständlich: Wo soll man denn bei so vielen Ansatzpunkten und Problemen auch anpacken? Als Amerikaner langweile ich mich inzwischen und die Konzentration lässt nach. In den USA würde das nicht passieren. Wir hätten einfach keine Zeit, zwei Stunden da rumzusitzen und ein Thema so wahnsinnig ausgiebig und recht beliebig zu besprechen, bis dann auch Werner das genaue Problem verstanden hat. Das ist einfach nicht nötig. Lieber versucht man, schnell etwas zu tun, als zu viel über etwas zu sprechen! Unglaub‐ lich für mich ist auch, dass unser Chef dabei sitzt und das alles geschehen lässt. Als Amerikaner denke ich, wer leitet denn diese Besprechung? Wer ist hier der Chef? Wer kann entscheiden und sagen: ‚Schluss damit, jetzt machen wir das so und so ...!’ Solche Worte habe ich in Deutschland nie gehört. Aber das ist doch Aufgabe eines Chefs! Es fehlt also eine Conclusion! Dass man sagt, o. k., das müssen wir machen. Und damit wä‐ re das Thema dann für die Besprechung auch schon erledigt. Das wäre besser, als das Thema hundertprozentig zu erörtern. Mich kostet das sehr viel Energie. Denn wenn ich etwas sage, bin ich auch gezwungen, einen riesigen Monolog zu halten. Man wurde ja bisher nicht nur zu einer Sache gefragt, sondern zu einem Komplex von Details, ein ganzes Szenario. Wenn ich also an dem Ge‐ spräch teilnehmen will, dann muss ich auf alle bisher angesprochenen Aspekte aus mei‐ ner Sicht auch reagieren, sonst habe ich die Frage gar nicht beantwortet. So viel Geduld hab ich aber eigentlich nicht. Also habe ich wieder einmal nach einiger Zeit versucht, die Besprechung zu beeinflussen, d. h. sie so zu steuern, wie man halt eine gute Bespre‐ chung macht. Ich wollte Ziele, ich wollte einen Plan, ich wollte eine klare Conclusion, wer bis wann was macht. Aber das klappte nicht. Ich bin nur ein kleiner Fisch und auf
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mich hört man nicht. Ja, ich muss schon sagen, in USA wird eine Besprechung wesent‐ lich professioneller gemacht.“ 2. Erläuterungen und Begründungen: Einige Aspekte zu den Erläuterungen und Begründungen ergeben sich schon aus folgen‐ den abschließenden Bemerkungen eines amerikanischen Teammitgliedes: „Ich glaube, in Amerika würden wir nicht so viel diskutieren. Wir würden mehr bei der Hauptsache, der Arbeit, dem Ziel bleiben und uns fragen, was wir am besten machen, und dann loslegen. Wir nehmen da schon mal ein Risiko auf uns. Und hier in Deutschland diskutieren sie alle verschiedenen Möglichkeiten: Sollten wir das machen, sollten wir nicht usw. Zu einer schnellen Entscheidung zu kommen, das ist unmöglich. Dass die Deutschen so sind, das kann ich mir nur so erklären: In Deutschland sind die Leute nicht so besorgt, dass sie ihren Job verlieren, also können sie sich mehr Zeit nehmen und sich mehr Gedan‐ ken machen. Einer sagte mir mal, sie machen halt einen ‚systematischen’ Ansatz und dazu sind ‚Grundsatzdiskussionen’ notwendig. Ich finde das überflüssig, man sollte lieber einen Plan machen und dann schneller die Probleme lösen. Aber, es ist unglaublich, im Endef‐ fekt kommt dasselbe raus! Das ist und bleibt mir immer ein großes Rätsel, was ich über‐ haupt nicht verstehe, dass die Deutschen irgendwie die Ziele erreichen. Wir haben es auch beim letzten Entwicklungsprojekt, bei dem ich dabei war, geschafft. Wir haben unser Ziel erreicht, aber ich verstehe bis heute nicht wie. Es ist mir total unklar, wie wir das schafften. –Und jetzt geht es mir schon wieder so, dass ich die deutsche Arbeitsweise nicht begreife.“ In diesem Beispiel geht es nicht darum, dass deutsche Fach‐ und Führungskräfte eine kul‐ turell bedingte Situation erleben und ratlos vor den unerwarteten Reaktionen eines Part‐ ners stehen. Hier berichten deutsche und amerikanische Ingenieure über die Schwierigkei‐ ten in der Zusammenarbeit miteinander. Die deutschen Ingenieure kritisieren, dass es ihnen nicht gelingt, zusammen mit den ame‐ rikanischen Experten einen bis ins Detail entwickelten und diskutierten Arbeits‐ und Ent‐ wicklungsplan zu haben, den sie Stück für Stück abarbeiten können. Die Amerikaner ha‐ ben zwar einen Plan entworfen, doch der ist, nach Ansicht der deutschen Ingenieure, nicht realisierbar, weil er nicht durchdacht ist, weil er zu lückenhaft ist, Schwachstellen aufweist und weil keine sorgfältige professionelle Bearbeitung der Fakten und Details vorangegan‐ gen ist. Immer wieder sind Planänderungen erforderlich, die bei entsprechender Vorarbeit nicht erst aufgetreten wären. So bleibt alles Stückwerk und Flickschusterei. Die Amerikaner sind genervt, dass die Deutschen alles bis ins Detail schon am Anfang ausgiebig diskutieren und jeder seinen (unmaßgeblichen) Beitrag zu allem und jedem leistet, ohne dass kurzfristige und realisierbare Ziele verbindlich festgelegt und vereinbart werden. Ein grober Rahmenplan reicht nach ihrer Meinung aus. Entscheidend ist, dass endlich einmal angefangen wird. Alles andere findet sich im Verlauf der Zusammenarbeit im Team und zwar durch „Trial‐and‐Error“‐, „Learning‐by‐Doing“‐, „Test‐Operate‐Test‐ Exite“‐Strategie.
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Aber genau damit können die Deutschen nichts anfangen. Für sie muss alles schon am Anfang ausgiebig analysiert, diskutiert, dokumentiert und in einen Plan eingearbeitet werden, der dann einfach nur noch abgearbeitet werden muss, und wehe, es geht dabei etwas schief. Korrekturen und Nachbesserungen eines Plans, in den man so viel Zeit und Arbeit investiert hat, sind eigentlich überflüssig. Wenn sie aber unumgänglich werden, ist das ein Zeichen dafür, dass der Plan fehlerhaft erarbeitet wurde, ihm also die notwendige Professionalität fehlt. Amerikaner wissen durchaus, dass sie nur einen Rahmenplan haben, der entsprechend der Projektentwicklung weiter detailliert werden muss und sich durchaus ändern kann. Sie sind zu jeder Zeit bereit, bei auftretenden neuen Erkenntnissen, situativen Veränderungen, technischen Neuerungen, neuen unternehmensspezifischen Vorgaben, ihren Plan zu revi‐ dieren und eventuell zu erneuern. Genau diese Flexibilität vermissen sie bei ihren deut‐ schen Partnern. Die Amerikaner im 4. Beispiel und die Kanadier im 3. Beispiel halten die immensen Zeit‐ investitionen in die Entwicklung eines so qualifizierten, geistreichen, gut durchdachten Plans für Verschwendung, weil niemand genau wissen kann, was die Zukunft innerhalb und außerhalb des Projektes noch an Neuerungen und Veränderungen bringen wird. Vieles ergibt sich erst im Verlauf der Arbeit und der Zusammenarbeit, was zu Beginn noch gar nicht abzusehen war, und erst, wenn es auftritt, der Klärung und Lösung bedarf. 3. Lösungsstrategie: Die Schlussbemerkungen des amerikanischen Teammitglieds sind in mehrfacher Hinsicht aufschlussreich. Immerhin, nach mehrjähriger Zusammenarbeit mit deutschen Kollegen, bekennt er, dass ihm die deutsche Vorgehensweise bei der Chipherstellung immer noch ein Rätsel ist. Er begreift die deutsche Arbeitsweise nicht, und es ist anzunehmen, dass die Deutschen die amerikanische Arbeitsweise ebenfalls nicht begreifen und sie auch nicht verstehen, wie die Amerikaner es fertiggebracht haben, mit dieser lückenhaften und unan‐ gemessenen Vorgehensweise technische Spitzenleistungen zu erreichen. Die Deutschen und die amerikanischen Teammitglieder durchlaufen einen Leidensweg, nehmen die Unterschiede und Widersprüche beider Vorgehensweisen wahr, erreichen schließlich doch ihr Ziel, nämlich einen brauchbaren Chip zu entwickeln, aber verstehen trotzdem nicht, wie ihnen das gelingen konnte. Sie hatten kein vorbereitendes interkulturelles Training, das sie für kulturspezifische Un‐ terschiede sensibilisiert hätte. Sie wussten nicht, dass deutsche Ingenieure lange und aus‐ giebig den Arbeitsauftrag diskutieren, und bis ins Detail zu verstehen versuchen, welche Anforderungen der Arbeitsauftrag stellt, was zur Bewältigung der Aufgaben an fachli‐ chem Know‐how benötigt wird und wie man die im Team vorhandenen Leistungspoten‐ ziale zusammenbringt. Erst wenn alles dies geklärt und in einen Arbeitsplan eingearbeitet ist, von dem alle überzeugt sind, dass man so erfolgreich sein kann, beginnt die eigentliche Arbeit. Deutsche Ingenieure können ein Produkt erst entwickeln, wenn sie den Kern des Problemkomplexes verstanden haben, und bis zu diesem Verständnis vergeht viel Zeit.
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Amerikanische Ingenieure geben sich am Anfang mit weniger zufrieden und fangen ein‐ fach mal an, immer im Vertrauen darauf, dass sie die im Verlauf der Arbeit am Produkt sich einstellenden Probleme lösen werden. Wenn die Teammitglieder vor Beginn des Entwicklungsprojekts auf diese kulturbedingten Unterschiede und die Handlungswirksamkeit der dahinterliegenden Kulturstandards „Regelorientierung“ und „Pragmatismus“ vorbereitet gewesen wären, also ein Mindest‐ maß an interkultureller Handlungskompetenz aufgebaut hätten, dann wäre es vielleicht gelungen, Formen interkultureller Synergie im Team zu entwickeln (siehe Kapitel 4 Team‐ arbeit). Die Leistungsstärken der deutschen und amerikanischen Ingenieure hätten dann vielleicht optimal zur Wirkung gebracht werden können und der Stress in der Zusammen‐ arbeit wäre deutlich reduziert worden. 4. Die Kulturstandards „Regelorientierung“ und „Pragmatismus“: Bei den deutschen Ingenieuren bewirkt der Kulturstandard „Regelorientierung“, dass sie eine relativ klare Vorstellung davon haben, was zu tun ist, um einen seriösen, professionel‐ len Projektentwicklungsplan hinzubekommen. Da aber das Team nach der amerikanischen Planvorgabe arbeiten soll, sind ihre Möglichkeiten zur Bearbeitung und Durchführung eines solchen Arbeitsplans stark eingeschränkt, was ihre Motivation reduziert, Verunsiche‐ rung hervorruft und Stress erzeugt. Zweifellos arbeiten die deutschen Ingenieure im Team deutlich unter ihrem Leistungsoptimum. Die amerikanischen Kollegen sind mit der Teamarbeit unzufrieden, weil sie die deutschen Kollegen nicht vom Nutzen ihres Rahmenplans überzeugen können, weil sie die Deut‐ schen nicht mit ins Boot kriegen und weil diese nur unzufrieden sind und kritisieren. Die amerikanischen Ingenieure gehen eher pragmatisch vor oder wie Slate und Schroll‐Machl (2009) das in ihrem Buch „Beruflich in den USA“ mit dem Kulturstandard „Handlungsori‐ entierung“ benennen: „Amerikaner sind sehr aktive und energievolle Menschen, das gilt für den beruflichen und auch den privaten Bereich. (...) Bei allen Tätigkeiten sind schnelle Ergebnisse und Resulta‐ te, Effektivität und Effizienz entscheidend. (...) Es geht im Geschäftsleben darum, Geld zu verdienen. Bezogen auf die Produkte gilt entsprechend eine Markt‐ und keine Technik‐ Orientierung. Der Fokus ist an Kundenwünschen und Marktmöglichkeiten ausgerichtet, es kommt nicht so sehr darauf an, dass ein Produkt technisch qualitativ hochwertig ist. Die Anforderungen des Kunden haben auch stets Vorrang vor firmeninternen Erfordernissen. Äußert ein Kunde einen Wunsch, versucht man ihn zu erfüllen. (...) Das Tempo im Ar‐ beitsleben ist in den USA höher als in Deutschland. Die Leute sind in Bewegung, sie sind daran interessiert, etwas schnell zu erledigen – je schneller, desto besser. Ein Gefühl von Dringlichkeit ist allgegenwärtig: Es könnte für kurze Zeit ein ‚window of opportunity‘ geben, kommt man zu spät, ist es geschlossen. Die Zukunft ist jetzt, es gilt Entscheidungen schnell zu treffen, Chancen wahrzunehmen und nicht erst nach ausführlichen Erörterun‐ gen zu entscheiden“ (S. 59‐63)
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Die Kanadier im 3. Beispiel zeichnen „sich durch Entscheidungen und Verhaltensweisen aus, die vornehmlich am praktischen Nutzen orientiert sind. So wird in Kanada im Ver‐ gleich zu Deutschland weniger Wert auf ausgezeichnetes, theoretisches und gut begründe‐ tes planerisches und vorausschauendes Denken gelegt, sondern mehr auf eine rasche an‐ wendungsbezogene und ergebnisorientierte Durchführung. Entscheidungen werden schnell gefällt, denn aus kanadischer Sicht wird durch lange Diskussionen die vorliegende Situation eher problematisiert und verkompliziert. Eine genaue Prüfung aller Einzelheiten mit Vor‐ und Nachteilen findet nicht statt. Stattdessen werden schnelle pragmatische Lö‐ sungen bevorzugt, die sich an Erfahrungen mit bewährten konkreten Handlungsregeln orientieren. Wenige Daten reichen aus, um auf Grundlage bisheriger Erfahrungen eine Entscheidung zu treffen, die intuitiv, nach gesundem Menschenverstand und Common Sense gefällt wird. (...) Kanadier können ein wesentlich höheres Maß an Unsicherheit aus‐ halten und sind eher als Deutsche bereit, das damit verbundene Risiko des Scheiterns in Kauf zu nehmen. Da sie der Überzeugung sind, das Endergebnis nie schon im Voraus erkennen zu können, sind sie darauf eingestellt, Lösungsmöglichkeiten zu erproben. Un‐ terstützt wird dies durch ihre ausgezeichnet entwickelte Improvisationsgabe. So reagieren sie auf unerwartete Abweichungen und Probleme im Handlungsplan viel gelassener als Deutsche, da sie sich nicht auf exakte Pläne und Handlungsschritte festgelegt haben. Flexi‐ bel, ohne intensive Analyse der Ursachen werden Probleme behoben. Auftauchende Fehler werden dann eben nachträglich ausgeglichen“ (Thomas/Scheuermeyer, 2006, S. 31). 5. Kulturhistorische Verankerung der Kulturstandards: a. Hinweise in Bezug auf den kanadischen „Pragmatismus“: „Es können mehrere Faktoren genannt werden, die dazu beigetragen haben, dass sich die Kanadier so stark durch pragmatisches Handeln und Entscheiden aus‐ zeichnen. Zweifellos spielt dabei das politische Erbe eine Rolle. Das zeigt sich zum einen daran, dass die Einwanderer aus den Ländern Großbritanniens den Französischstämmigen seit Langem zahlenmäßig überlegen sind. (...) Zu dieser Dominanz kommt zum anderen der Einfluss, den Großbritannien über lange Zeit auf Kanada ausübte. Sowohl politische als auch gesellschaftliche Macht und Ein‐ wirkung des kolonialen Mutterlandes blieben bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts im intakt gebliebenen British Character der kanadischen Gesellschaft und Traditio‐ nen ersichtlich. Aus diesem Grund ist es nicht verwunderlich, dass sich spezielle Merkmale der Briten in der kanadischen Kultur wiederfinden. Die Existenzbedingungen in klimatisch rauen Ländern fördern Eigenschaften wie Pragmatismus. Die Kolonial‐ und Pionierzeit in Kanada ist noch nicht sehr lange her, und das tägliche Überleben war in dieser Zeit von unvorhersehbaren Ereignis‐ sen geprägt. In diesem unendlichen weiten Land mit geringer Bevölkerungsdichte sahen sich die neuen Bewohner immer wieder mit Herausforderungen konfrontiert, die sie von ihren Heimatländern nicht kannten. Das konnten große Ereignisse sein wie ein Blizzard oder auch kleine wie ein Radbruch in unwegsamem Gelände, fern‐ ab von der nächsten Siedlung. Solche Situationen erforderten immer unmittelbare, rasche Lösungen zur Überlebenssicherung“ (S. 34‐36).
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b. In Bezug auf die Wirksamkeit des Kulturstandards „Handlungsorientierung“ der amerikanischen Ingenieure im 4. Beispiel lassen sich folgende kulturhistorische Gründe anführen: „Handlungsorientierung war für die Einwanderer und Pioniere das Überlebens‐ modell schlechthin: Mithilfe der Arbeitskraft jedes Einzelnen konnten Tag für Tag und Abenteuer für Abenteuer überstanden werden. Die Wildnis wurde in kurzer Zeit kultiviert und aus Wald wurden Felder, Städte entstanden aus dem Nichts. Ein Großteil dieser Einwanderer waren ohnehin Handwerker, Kaufleute, Bauern, Tage‐ löhner, die nicht nur an Arbeit gewöhnt waren, sondern für die auch ‚handfeste’ Qualitäten zählten: Fleiß, Kraft, Geschick. Intellektuelle, ästhetische oder künstleri‐ sche Tätigkeiten waren diesen Schichten eher fremd. Unter den Lebensbedingun‐ gen der Pioniere war harte Arbeit die tägliche Notwendigkeit und eine moralische Anforderung für den Aufbau einer Gesellschaft. Wer hart arbeitete, fand Beachtung und hatte Erfolg. Die hohe Mobilität ließ diese Eigenschaft immer mehr zu einer selbstverständlichen Gewohnheit und zu einer Grundvoraussetzung werden. Da‐ rüber hinaus glorifizierte der Puritanismus Arbeit religiös, denn es war für Purita‐ ner eine selbstverständliche Pflicht, ihr Leben aktiv zu gestalten. (...) Optimismus zieht sich wie ein roter Faden durch die amerikanische Geschichte und bestätigt die Amerikaner darin, vieles in einem positiven Licht, ohne Probleme, sondern in erster Linie als Herausforderung zu sehen: Aktivität und Mobilität wurden zunehmend gleichbedeutend mit Chance, Verlockung und Erfolg. (...) Insgesamt schien jedes Ziel erreichbar, wenn nur genügend Wille und Tatendrang vorhanden waren. Auf diese Art waren breite Bevölkerungskreise zu einem sozialen Aufstieg fähig“ (Sla‐ te/Schroll‐Machl, 2009, S. 64‐65).
Weiterführende Literatur: Maletzke, G. (1996): Interkulturelle Kommunikation. Zur Interaktion zwischen Menschen verschiede‐ ner Kulturen, Opladen. Nauck, D. K./Nauck, B. (2007): Vergleichende Länderstudien: Potenziale und Grenzen, in: Straub, J./Weidemann, A./Weidemann, D. (Hrsg.), Handbuch interkulturelle Kommunikation und Kompe‐ tenz. Grundbegriffe – Theorien – Anwendungsfelder, Stuttgart, S. 293‐304.
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Forscher, die sich mit kulturvergleichenden Varianten zwischenmenschlichen Verhaltens beschäftigt haben, stellen immer wieder fest, dass es erhebliche Unterschiede in der Art und Weise gibt, wie kommuniziert und wie die interpersonale Zuwendung organisiert wird. Schon der amerikanische Anthropologe Edward Hall (1990) stellte fest, dass Men‐ schen in relativ vielen Kulturen im Rahmen kommunikativer Prozesse den situativen und personalen Kontext berücksichtigen, wohingegen in anderen Kulturen wie zum Beispiel Deutschland nur ein schwacher Kontextbezug festzustellen ist. Hall spricht in seinen Publikationen von der Kulturdimension „Kontextorientierung“ und versteht darunter, dass in Kommunikationssituationen eine bestimmte Menge an Informa‐ tionen übermittelt werden muss, damit der Empfänger die Botschaft des Absenders auch versteht. Idealtypisch identifiziert er so genannte „High‐context‐Kulturen“ und so genann‐ te „Low‐context‐Kulturen“. In „High‐context‐Kulturen“ ist ein sehr geringer Teil an In‐ formationen in der codierten, explizit formulierten Botschaft enthalten; dagegen ist ein sehr hoher Anteil an Informationen bereits implizit den interagierenden Personen bewusst beziehungsweise in deren Beziehungen vorhanden. In diesen Kulturen sind die Individu‐ en in ein dichtes Beziehungsnetz eingebunden, was dazu führt, dass konkrete Botschaften nicht explizit und ausführlich erläutert werden müssen. Dabei teilen Individuen aus „High‐context‐Kulturen“ ihr Leben in der Regel auch nicht in unterschiedliche Lebensbe‐ reiche beziehungsweise Lebenswelten ein; vielmehr verschwimmen bei ihnen die unter‐ schiedlichen Lebensbereiche und Lebenswelten miteinander. In „Low‐context‐Kulturen“ haben Beziehungen entweder eine geringe Bedeutung oder die handelnden Personen sowie die Beziehungsinhalte zwischen ihnen wechseln aufgrund unterschiedlicher Gruppenzugehörigkeiten und Rollen sehr häufig. Insofern müssen Bot‐ schaften in „Low‐context‐Kulturen“ ein höheres Maß an unmittelbar verbal übermittelten Informationen enthalten, um den Sinn der Botschaft zu vermitteln und zu verstehen. Und genau auf den Sinn von Botschaften kommt es schließlich bei jeder Kommunikation an, wobei in der Regel nicht nur auf das gesprochene oder geschriebene Wort zu achten ist, sondern auch auf das, was mit dem Wort gemeint und intendiert ist. Hall bezeichnete die asiatischen, arabischen und mediterranen Kulturen als „High‐context‐Kulturen“ und die US‐Amerikaner, Mittel‐ und Nordeuropäer als eher „Low‐context‐Kulturen“. Wenn die Einteilung von Kulturen in diese beiden Dimensionen auch viel Kritik auf sich gezogen hat, so wurden doch auch in sehr unterschiedlichen Studien die damit verbundenen Ver‐ haltenstendenzen in Bezug auf die Art und Weise der interpersonalen Kommunikation bestätigt. In vielen Kulturen wird häufig mit Symbolen, Andeutungen und verdeckten Hinweisen gearbeitet, besonders wenn es um problematische zwischenmenschliche Probleme geht. Deutsche neigen demgegenüber eher dazu, alles mit Worten zu kommunizieren und ihre Gedanken und Gefühle dabei deutlich zum Ausdruck zu bringen. Deutsche Fach‐ und Führungskräfte, die lange in China oder Indonesien gearbeitet haben, kommen mit der
A. Thomas, Interkulturelle Handlungskompetenz, DOI 10.1007/978-3-8349-6880-7_13,
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Erfahrung zurück, dass in diesen Ländern eher eine „Schweige‐Kultur“ vorherrscht, wäh‐ rend in Deutschland eher eine „Rede‐Kultur“ verbreitet ist, und sie betonen immer wieder, wie schwer es ist, das ‚Schweigen“ richtig zu deuten. Die folgenden Beispiele kulturell bedingt kritischer Interaktionssituationen geben einen Einblick in diese Problematik.
1. Beispiel: „Die Vertragsunterschrift“ 1. Die kritische Interaktionssituation: Frau Specht ist als Projektleiterin in einem deutschen Versicherungskonzern tätig. Das Unternehmen expandiert und plant nun seit Längerem eine Zusammenarbeit mit einem indonesischen Versicherungsunternehmen. Die Vertragsverhandlungen sind schon weit fortgeschritten. Nun geht es darum, probeweise mit einer Kooperation zu beginnen, wozu Frau Specht ein deutsch‐indonesisches Projektteam gebildet hat. Was nun noch fehlt, ist die Unterschrift des indonesischen Partners unter den gemeinsam erstellten Projektvertrag. Die Indonesier haben gebeten, dass Frau Specht als Projektleiterin persönlich zur Ver‐ tragsunterschrift nach Jakarta kommt. Für die Reise plant Frau Specht drei Tage ein. Sie war noch nie in Indonesien und freut sich über den herzlichen Empfang, der ihr von den zukünftigen Partnern bereits am Flughafen bereitet wurde. Nach der Ankunft im Hotel und nach einer Ruhephase findet eine Betriebsbesichtigung statt, gefolgt von einem opulenten Abendessen, das stundenlang dauert. Für den zweiten Tag ist ein Ausflug mit Booten zu den 1000 Inseln im Meer bei Jakarta angesetzt und am dritten Tag soll der berühmte botanische Garten in Bogor besichtigt werden. Immer wieder fragt Frau Specht, wann es denn zur Vertragsunterschrift kommt, erhält aber keine klare Antwort. Am Morgen vor ihrer Abreise zum botanischen Garten spricht Frau Hecht beim ge‐ meinsamen Frühstück das Thema Vertragsunterschrift nochmals an und erklärt für alle hörbar, laut und deutlich, dass sie sich über den herzlichen Empfang und das bisherige Programm sehr gefreut habe, aber sie sei nun einmal nicht zur Besichtigung von Se‐ henswürdigkeiten nach Jakarta gekommen, sondern zur Vertragsunterschrift. Nun sei dies heute ihr letzter Tag, denn sie habe für den Abend die Maschine nach Frankfurt fest gebucht, wie sie das ja auch schon vorher schriftlich mitgeteilt habe. Sie wolle nun defi‐ nitiv wissen, wann heute der Vertrag unterschrieben würde, damit nun auch alles seine Richtigkeit habe. Alle anwesenden Indonesier werden blass, schauen sich ratlos an und wirken etwas be‐ treten. Schließlich sagt der indonesische Chef: „Sie haben doch sicher noch einige Tage für den Aufenthalt hier in Jakarta eingeplant. Die Unterschrift hat noch Zeit und muss ja auch noch vorbereitet werden.“ Frau Specht glaubt, sie hört nicht recht und der Chef hat sie wohl immer noch nicht richtig verstanden. Sie erklärt ihm nun noch einmal, dass sie definitiv die Abendmaschine nehmen müsste, weil sie am darauffolgenden Tag einen Geschäftstermin in London wahrzunehmen habe, der definitiv nicht verschoben werden könne. Für Indonesien seien eben nur drei Tage eingeplant und das habe sie ja auch
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frühzeitig genug mitgeteilt. Alle Indonesier wirken wie versteinert, dann verlässt der Chef den Raum und allmählich folgen ihm alle anderen. Ein Assistent der Firma begleitet Frau Specht nun zum botanischen Garten nach Bogor und dann zum Flughafen. Den Vertrag hat sie nicht unterschreiben können. Die Koope‐ ration kommt zwar zustande und ist auch erfolgreich, aber das geplante, vorbereitende Kooperationsprojekt kommt nicht zustande und über den Aufenthalt von Frau Specht in Jakarta wird kein Wort mehr verloren. 2. Erläuterungen und Begründungen: Aus der Sicht von Frau Specht wurde die Reise nach Jakarta perfekt vorbereitet, denn allen war klar, es ging um eine Unterschrift, wohl verbunden mit einem kleinen Stehempfang und einem ersten Kennenlernen der wichtigsten Partner im indonesischen Partnerunter‐ nehmen. Drei Tage sollten dafür voll und ganz ausreichen und waren ja auch eingeplant. Für die Indonesier ist der Besuch von Frau Specht die Möglichkeit, sie als wichtigen Re‐ präsentanten des zukünftigen deutschen Partners intensiv kennenzulernen. Zudem ergibt sich so die Gelegenheit, sich von der besten Seite zu zeigen. Natürlich wissen die Indonesi‐ er, dass Frau Specht drei Tage für die Reise vorgesehen hat, aber jeder erwartet, dass sie so viel Flexibilität hat, die Willkommensaktivitäten der Gastgeber ausgiebig zu genießen. Sie können einfach nicht verstehen, wie sie so direkt, wie aus heiterem Himmel, auf ihren Termin pochen kann. Die Unterschrift ist doch im Vergleich mit dem persönlichen Ken‐ nenlernen, dem, was an vertrauensbildenden gemeinsamen Aktivitäten geplant ist, völlig unwichtig. Die indonesischen Partner fühlen sich vor den Kopf gestoßen. Ihre Bemühun‐ gen, Frau Specht den Aufenthalt so angenehm wie möglich zu gestalten, werden nicht gebührend gewürdigt, denn sonst würde sie ihren Abflug um einige Tage verschieben. Alles dies aber fassen sie nicht in Worte und diskutieren das nicht mit Frau Specht. Die indonesischen Partner schweigen und handeln: Keine Unterschrift, keine große und ihrem Rang im Unternehmen gebührende Begleitung und Verabschiedung am Flughafen, kein Abschiedsessen, nur ein Assistent begleitet sie zum Abflug, kein Beschwerdebrief an die deutsche Zentrale, aber auch keine Aufnahme des geplanten Projekts, und der Besuch von Frau Specht wird so behandelt, als habe er gar nicht stattgefunden. Frau Specht hat von all dem nicht viel mitbekommen. Aus ihrer Sicht hat sie alles gesagt, was zu sagen war, und das Schweigen der Indonesier hat sie als eine Mischung aus Scham, Schuldeingeständnis und Ignoranz gegenüber ihrer Person interpretiert. So wird sie in Deutschland, falls sie nach ihren Erfahrungen in Indonesien gefragt wird, sicher so etwas sagen wie: „Die waren völlig unvorbereitet, unzuverlässig, inaktiv und irgendwie hab ich das alles nicht verstanden. Ich fliege zur Unterschrift da hin, komme ohne Unterschrift zurück und irgendwie ist wohl alles schiefgelaufen! Warum haben die denn nicht mal was gesagt?“ Frau Specht hat schlicht die vielen Signale der Wertschätzung, wie die Art des Empfangs am Flughafen, das Besichtigungsprogramm, die Essenseinladungen, die Betriebsbesichti‐ gung, die Vorbereitung der Unterschriftszeremonie und eine dem Ereignis angemessene Dauer ihres Aufenthalts in Jakarta, nicht wahrgenommen. Das Schweigen der Indonesier
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hat sie ratlos zurückgelassen. Die Indonesier haben tatsächlich viel „gesagt“, aber nicht mit Worten, sondern in Form von Symbolen, deren Bedeutung Frau Specht aber nicht ent‐ schlüsseln konnte. 3. Lösungsstrategie: Frau Specht hat sich auf ihre Reise nach Indonesien zu wenig oder überhaupt nicht vorbe‐ reitet. Wenn sie zu einem so wichtigen Ereignis wie einer Vertragsunterschrift für ein Pi‐ lotprojekt der deutsch‐indonesischen Zusammenarbeit beider Unternehmen nach Indone‐ sien reist, kann sie wohl von sich aus drei Tage einplanen, muss aber so viel Flexibilität vorsehen, dass sie auch auf fünf bis sieben Tage verlängern kann, wenn sie das für not‐ wendig erachtet. Eine solche Verlängerung wäre von den Gastgebern als große Ehre und Anerkennung ihrer Bemühungen um Vertrauens‐ und Sympathieaufbau interpretiert worden. Die Einladungen zur Bootsfahrt zu den 1000 Inseln, zum botanischen Garten nach Bogor und zu den festlichen Essen sind aus indonesischer Sicht nicht als Ausfüllung der Wartezeit bis zur Vertragsunterschrift oder als Freizeitbeschäftigung geplant, sondern dienen dazu, den Gast zu ehren und ihn gebührend anzuerkennen. Ein Blick in geeignete Trainingsmaterialien, wie zum Beispiel Martin, M., und Thomas, A. (2002). „Beruflich in Indonesien. Trainingsprogramm für Manager, Fach‐ und Führungskräfte“, hätte Frau Specht sicher geholfen, mit den Unterschieden in Bezug auf den eigenen gewohnten, rela‐ tiv direkten kontextfreien Kommunikationsstil und den indonesischen kontextgebundenen Kommunikationsstil besser zurechtzukommen. 4. Kulturstandards: Sylvia Schroll‐Machl (2007) hat „Schwacher Kontext als Kommunikationsstil“ als Kultur‐ standard für deutsche Fach‐ und Führungskräfte bezeichnet und dazu folgende Definition vorgelegt: „Der Fachbegriff ‚Kontext’ beschreibt das Phänomen, dass nie alle Informationen, die zur Orientierung in einer Situation erforderlich sind, mit Worten gesagt werden, sondern dass stets ein bestimmter Anteil unausgesprochen bleibt. Der Anteil des explizit und eindeutig Gesagten im Verhältnis zur Gesamtinformation, die in einer Situation vorhanden ist, vari‐ iert. Ist der Anteil der nicht‐sprachlichen Botschaft hoch, dann handelt es sich um einen ‚starken’ oder ‚Hoch‐Kontext’. Ist der Anteil des verbal Formulierten und Nicht‐ interpretationsbedürftigen hoch und damit der Kontextanteil gering, dann spricht man von einem ‚schwachen’ oder ‚Niedrig‐Kontext’. Der deutsche Kommunikationsstil ist andererseits bekannt für seine große Explizitheit und Direktheit: Deutsche formulieren das, was ihnen wichtig ist, mit Worten und benennen die Sachverhalte dabei klar und eindeutig. Die charakteristischen Elemente dieses Stils sind: 1. Das Was steht im Vordergrund, das Wie ist sekundär. Der Fokus ist vor allem auf die Sacheebene gerichtet. Deutschen kommt es auf den Inhalt des Gesagten an. 2. Daher reden Deutsche direkt, undiplomatisch, ohne Hintersinn, aber ehrlich und aufrichtig, ganz so, wie sie etwas sehen. Sie äußern ihre Meinung klar. Sie kommen ohne Umschweife und Umwege auf den Punkt.
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3. Deutsche denken nicht daran, auf mögliche Empfindlichkeiten Anwesender beson‐ dere Rücksicht zu nehmen. So können ihre Aussagen verletzend wirken, obwohl das so nicht gemeint und beabsichtigt war. Deutsche können sich schlecht heraus‐ reden, weil sie die Ehrlichkeit als einen elementaren Baustein vertrauensvoller menschlicher Beziehungen ansehen. 4. Interpretationsspielraum zu lassen, ist kein Bestandteil dieses Stils. Deutsche wol‐ len sich präzise, klar und unmissverständlich ausdrücken und daher formulieren sie das, was sie mitteilen wollen. Sie meinen das, was sie sagen; und sie sagen das, was sie meinen. Ergänzende Informationen müssen nur in einem sehr geringen Maße hinzukommen, zusätzlich wahrgenommen oder aus dem Kontext des Gesag‐ ten entschlüsselt werden, um die Botschaft zu verstehen. – Dieses Stils muss sich auch derjenige bedienen, der etwas will: Er muss es explizit sagen! Anspielungen oder Andeutungen werden schlicht nicht wahrgenommen. 5. Umgekehrt wird von Deutschen in die Dekodierung nur mit einbezogen, was aus‐ drücklich gesagt wird. Sie denken nicht daran, dass das, was ihnen gesagt wird, nur ein Teil der Botschaft sein könnte, der um weitere Signale ergänzt werden sollte, damit er verstanden werden kann. Sie hören explizit gesprochene Worte, halten das für den Inhalt, den man transportieren will, und haben keine Ahnung, dass noch anderes zur zuverlässigen Entschlüsselung und Interpretation des Gesagten hinzu‐ genommen werden muss. 6. Im Zusammenhang mit ihrer Zeitplanung und der Bevorzugung von formalen Struk‐ turen zum Informationsaustausch denken sie zudem nicht daran, dass man ihnen Informationen eventuell an diversen Orten und zu diversen Zeitpunkten informell, nebenbei, in Form eines Smalltalks gegeben hat, und sie diese wie ein Puzzle selbst zusammensetzen müssen. Sie selbst streuen ihre Informationen nämlich nicht, son‐ dern bringen sie gebündelt zum entsprechenden Tagesordnungspunkt der Bespre‐ chung oder verteilen sie zusammengefasst per Arbeitspapier. Entsprechend fühlen sie sich ganz häufig nicht oder mangelhaft informiert“ (S. 172‐173). Im Zusammenhang mit dem oben geschilderten Beispiel steht der für deutsche Fach‐ und Führungskräfte relevante indonesische Kulturstandard „Harmoniestreben“. Dazu finden sich bei Martin und Thomas (2002) folgende Ausführungen: „In allem, was man tut und sagt, gilt es, die Position des Gegenübers zu berücksichtigen. In einem Gespräch versucht man, dem anderen alle Möglichkeiten offenzulassen, das heißt, ihn nicht zu einer Stel‐ lungnahme zu zwingen, die später zu einem Konflikt führen könnte. Man vermeidet es, den anderen in eine Situation zu bringen, wo er nur mit Ja oder Nein antworten kann. Auf Fragen werden keine direkten Antworten gegeben. Eigene Aussagen werden gern durch Formeln wie ‚nach meinem Gefühl’ oder ‚vielleicht’ relativiert. Man sollte auch keine Ant‐ wort geben, die den Gesprächspartner enttäuschen könnte, dafür nimmt man selbst eine Lüge in Kauf. Der Javaner wird eine Antwort geben, von der er erwartet, dass sie dem Fragenden gefällt. Fragen und Wünsche werden häufig so indirekt geäußert, dass der andere eine Ausfluchtmöglichkeit hat, etwa so zu tun, als habe er es nicht gehört oder verstanden, und so nicht direkt ablehnend antworten muss. Wünsche oder Angebote wer‐ den nicht direkt abgelehnt. Die angebrachte Antwort wird in jedem Fall ein höfliches Ja, keine direktes Nein sein. Eine Variante höflicher Ablehnung ist es, das, was man selbst zu
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bieten hat, als schlecht oder unpassend darzustellen. Es gibt so viele Arten, mit äußerer Zustimmung indirekten Widerspruch und Kritik auszudrücken, dass das Nein aus dem Gebrauch gekommen ist. In Indonesien gilt es deshalb, Handlungen interpretieren zu lernen, Wünsche und Fragen zu erspüren und somit auch zu lernen, ob ein Ja eine Zusage, eine höfliche Zurkenntnisnahme ohne weitere Verpflichtungen oder eben ein Nein bedeu‐ tet. Einem Nein am nächsten kommt dabei das Noch‐nicht (belum). Eine offene Ausspra‐ che und Klärung im Sinne unserer Form der Konfliktlösung wird so meistens vermieden. Bricht trotz all dieser Maßnahmen ein Konflikt aus, wird er durch Nichtstun, Einander‐ aus‐dem‐Weg‐Gehen und durch Mittelsmänner gelöst“ (S.45).
2. Beispiel: „Der gelbe Pullover“ 1. Die kritische Interaktionssituation: Frau Monika Hecht ist seit drei Monaten Mitglied einer deutsch‐amerikanischen Ar‐ beitsgruppe in einem deutsch‐amerikanischen Serviceunternehmen im Hotelgewerbe, das in Boston angesiedelt ist. Die Arbeitsgruppe ist für die Ausstattung umgebauter Ho‐ tels mit den erforderlichen Einrichtungsgegenständen zuständig. Außer einem Mann, der für die Haustechnik, und einem anderen, der für den Küchenbereich zuständig ist, besteht die Gruppe aus vier Amerikanerrinnen und Frau Hecht. Jeden Morgen findet eine Gruppebesprechung statt. Eines Tages, an dem die beiden Männer nicht zum Be‐ sprechungstermin erscheinen können, sind zu Beginn erst vier Frauen anwesend. Mary hat sich etwas verspätet und kommt, nachdem die Besprechung schon begonnen hat, stellt sich in die Türe, strahlt und sagte: „ Hallo Mädels, schaut mal her, ist das nicht ein schöner Pullover?! Den habe ich gerade ganz preiswert erstanden. Ich bin so froh! Was sagt Ihr dazu?!“ Alle Amerikanerinnen brechen sofort in helle Begeisterungsstürme aus und überschla‐ gen sich in Lob und Anerkennung über diesen knallgelben Pullover. Sie betonen immer wieder, wie gut er ihr steht und von welch ausgezeichneter Qualität er sei. Frau Hecht findet das Stück schlicht und einfach scheußlich. Das Knallgelb passt nicht zu ihrer Haarfarbe und auch nicht zu ihrem Teint. Nachdem sich nach einiger Zeit der Begeiste‐ rungssturm gelegt hat, fällt den anderen auf, dass sie sich noch nicht geäußert hat und sie wird aufgefordert, auch ihre Meinung kundzutun: „Also, Monika, sag doch auch mal was dazu!“, fordert sie Clare auf. So direkt nach ihrer Meinung gefragt, denkt sie noch schnell, wie sie nun reagieren soll. Aber da sie alle gut kennt und auch zu Mary ein sehr gutes, schon bald freundschaftliches Verhältnis hat, antwortet sie: „Also, wenn Ihr mich schon fragt, ich finde den Pullover scheußlich! Entschuldige bitte, aber er steht Dir nicht, denn weder passt er zu Deiner Haarfarbe noch zu Deinem Teint. Wer hat Dir den denn nur angedreht?“ Die amerikanischen Kolleginnen sind geschockt und bis ins Mark er‐ schüttert. Sie werden blass und schweigen, ebenso wie Mary, die aber nach kurzer Zeit in Tränen ausbricht, den Raum verlässt und dann, nach einiger Zeit, mit einem anderen Pullover bekleidet zurückkehrt. Die amerikanischen Kolleginnen beginnen nun, wie wild aufeinander einzureden, um die anstehenden Arbeitsprobleme zu besprechen. Das Verhältnis zu Frau Hecht ist nach diesem Ereignis etwas abgekühlt und wird erst all‐ mählich und nach Wochen wieder so gut wie vor dem Ereignis.
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Warum reagieren die amerikanischen Kolleginnen so irritiert auf die ehrliche Aussage von Frau Hecht? 2. Erläuterungen und Begründungen: Frau Hecht wurde direkt um ihre Meinung gefragt, nachdem sie vorher lange geschwiegen hatte. Sie mag Mary und alle ihre amerikanischen Kolleginnen und glaubt, dass es ihre Pflicht ist, ihre Meinung klar und unmissverständlich zum Ausdruck zu bringen. Die amerikanischen Kolleginnen tun alles, um Mary zu signalisieren, wie sehr sie sich mit ihr über diesen „schönen“ Pullover freuen. Für sie steht nicht der Pullover mit seiner knallgelben Farbe, und auch nicht der Eindruck, ob er zur Haarfarbe und zum Teint von Mary passt, zur Debatte, es zählt allein die soziale Verstärkung von Marys Begeisterung. Einer Frau, die selbst so begeistert von ihrem neu erworbenen Kleidungsstück ist, kann man doch die Stimmung nicht verderben! So schaffen sie eine gute Stimmung und harmo‐ nische Atmosphäre. Alles andere ist in diesem Augenblick unwichtig. Wenn sie das alles so Frau Hecht sagen würden, was sie natürlich nicht tun, um Mary nicht zu beschädigen, hätte Frau Hecht ihnen vermutlich geantwortet: „Was soll das denn? Ihr fragt mich nach meiner Meinung und erwartet doch wohl eine ehrliche, offene und sachgerechte Antwort und die kann nur lauten: Der Pullover steht Ihr nicht! Das seht Ihr doch selber, Ihr seid nur zu feige, es so klar zu äußern. Stattdessen lobt Ihr Mary über den grünen Klee, denkt und empfindet aber etwas ganz anderes. Und genau das ist unehrlich und so etwas gehört sich unter Kolleginnen nicht! Was denkt Ihr euch eigentlich dabei?“ 3. Lösungsstrategie: Mit ein wenig Einfühlungsvermögen hätte Frau Hecht merken müssen, dass es den ameri‐ kanischen Kolleginnen überhaupt nicht um den Pullover ging, sondern darum, Marys Freude über ihren schönen Pullover zu unterstützen. Frau Hecht hätte ja nicht unbedingt in den Freudentaumel ihrer Kolleginnen mit einstimmen müssen. Aber doch vielleicht so etwas sagen können wie: „Ich freue mich auch sehr, dass er Dir so gut gefällt. Das war sicher ein guter Kauf, der Dir viel Freude bereitet hat.“ Bei einer nachträglichen sorgfältigen und detaillierten Analyse der Gesamtsituation wäre Frau Hecht vermutlich selbst darauf gekommen, wie sehr hier der Kontext, in dem das Gespräch stattfand, das Verhalten beeinflusste. Marys Begeisterung über ihren neuen Pullover und die Tatsache, dass sie gerade die soziale Unterstützung ihrer Kolleginnen für ihren Pulloverkauf herausforderte, bestimmte das Verhalten der Kolleginnen. Wenn Frau Hecht es dabei nicht belassen will, weil sie Sorge hat, Mary könnte sich mit dem Pullover blamieren, könnte sie später einmal fragen, ob sie immer noch mit dem Pullover so zufrie‐ den ist wie am Anfang, und mit ihr über die Wirkung von Kleiderfarben in Verbindung mit Haarfarbe und Persönlichkeit „philosophieren“ und mit ihr darüber sprechen, wie schwierig es ist, Modetrends mit persönlichen Vorlieben in Verbindung zu bringen.
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4. Kulturstandards: In diesem Beispiel prallen „Direktheit“ und „Schwacher Kontext in der Kommunikation“ auf deutscher Seite mit „Sozialer Anerkennung“ auf amerikanischer Seite aufeinander. Dazu bemerkt Schroll‐Machl (2007): „Deutsche schrecken vor Kritik nicht zurück, sondern äußern Kritik relativ offen und auf‐ richtig. Sie sprechen direkt an, was ihnen nicht gefällt und womit sie unzufrieden sind. Ihr Kritikverhalten sehen sie dabei unter sachlichen Aspekten: Sie sind überzeugt, dass sie mit einer ‚konstruktiven Kritik’ lediglich eine Verfehlung kritisieren oder auf einen Missstand aufmerksam machen, aber nicht die Person treffen wollen, die diesen Fehler begangen hat. Eine Rücksichtnahme auf soziale Faktoren (wie persönliche Empfindlichkeiten, Alter, Geschlecht oder darauf, ob jemand an einer Rückmeldung interessiert ist) erscheint aus dieser Perspektive geradezu als unwichtig. Daher kommt ihnen auch eine betont positive Einleitung zu einem Kritikgespräch eher heuchlerisch als nützlich vor. Zudem gilt in Deutschland oft der Spruch: Nichts gesagt ist genug gelobt. Das bedeutet, dass man ten‐ denziell davon ausgeht, dass jeder normalerweise sein Bestes tut, so dass es auch gar nicht hervorgehoben werden muss, sondern nur die Schwachstellen zu benennen sind, damit sie nachgebessert werden und auf diese Weise für ein nächstes Mal klargestellt ist, wie das Ergebnis perfekt auszusehen hat. Demzufolge ist das, was nicht erwähnt wird, in Ordnung und so gesehen auch ein Feedback. Natürlich freut sich auch jeder Deutsche über eine ausdrückliche positive Anerkennung und dieser Stil wird auch in Managementseminaren gelehrt. Aber ‚Lobhudelei’ gehört nun mal nicht zum deutschen Kulturgut. Da kann es manchmal helfen, sich selbst ins rechte Licht zu rücken. (...) Etwas kritisch zu sehen, wird sogar oft als Zeichen von Intelligenz und Sachverstand betrachtet. Wer keine skeptischen Anmerkungen oder kritischen Fragen hat, ist sich wohl der Problematik einer Sache nicht ganz bewusst. Denn nichts ist nur positiv, und eine reine Begeisterung ist einfach nur naiv und eine solche Person gilt als unreflektiert – so eine weit verbreitete Überzeugung in Deutschland“ (S. 184‐185). Aus amerikanischer Sicht wurde der Kulturstandard „Soziale Anerkennung“ aktiviert, denn darauf wartet Mary und ihrem Wunsch wollen die amerikanischen Kolleginnen entsprechen. Slate und Schroll‐Machl (2009) merken dazu an: „Ein Amerikaner ist stets bemüht, ein ‚nice guy’ zu sein. Er will bei seinen Mitmenschen ankommen, möchte gut mit anderen auskommen und gemocht werden, er möchte Zeichen der Freundschaft senden und bekommen. Positive soziale Rückmeldungen sind für das Selbstbild und die Selbsteinschätzung von hoher Bedeutung. Man gibt den anderen, er‐ wartet aber auch selbst entsprechende Rückmeldungen der Wertschätzung. Die amerika‐ nische Auffassung von Höflichkeit heißt: Freundlichkeit, Verbreitung guter Laune und anderen gegenüber aufmerksam sein, ‚korrekte Etikette’ hingegen gibt es nicht. Die obliga‐ torische Frage von Deutschen, ob die Freundlichkeit von Amerikanern ehrlich gemeint sei, kann in folgender Hinsicht mit einem Ja beantwortet werden: Sie sind überzeugt davon, dass sie selbst und ihr Gegenüber sich wohler fühlen, wenn die Atmosphäre nett, ange‐
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nehm und freundlich ist – so ihre Intention. Freundlichkeit ist jedoch kein Signal für eine sich anbahnende Freundschaft (im deutschen Sinne). Ein indirekter, schonender Kommu‐ nikationsstil ist auch bei der Absage oder der Ablehnung von Angeboten angezeigt. Auf Absagen reagieren Amerikaner empfindlich, negativen Reaktionen und Stimmungen misst man viel Gewicht bei. Deshalb können Zusagen und Versprechungen der guten Atmo‐ sphäre wegen gegeben werden, ohne sie als verbindlich zu verstehen. Außerdem ist der Ausdruck von Ärger und Wut in der Öffentlichkeit tabu, man hat sich freundlich und gefasst zu verhalten“ (S. 184).
3. Beispiel: „Die Handwerkerleistung“ 1. Die kritische Interaktionssituation: „Frau Foreman ist nun zum wiederholten Mal für ein deutsches Unternehmen in Indo‐ nesien tätig. Sie ist vor einigen Wochen angekommen und nun dabei, ihre Küche einzu‐ richten, macht aber die Erfahrung, dass es nicht einfach ist, qualifizierte Handwerker für die erforderlichen Sanitäranlagen zu bekommen. Das Vorhaben, in ihrer Küche ein Waschbecken zu installieren, stellt sich als schwierig heraus. Schließlich hat sie jeman‐ den gefunden, der ihr versichert, die Arbeit problemlos verrichten zu können. Nun hat sie alles mit ihm abgesprochen und ihn sogar darauf hingewiesen, dass er darauf achten solle, die Wand gerade zu mauern. Er hat ihr versprochen, alles nach ihrer Anweisung ordentlich fertigzustellen. Nachdem er ein Stück gemauert hat, stellt Frau Foreman fest, dass die Wand krumm ist. Sehr vorsichtig spricht sie ihn auf dieses Problem an, denn sie weiß aus Erfahrung, wie schwierig es ist, Indonesier direkt zu kritisieren. Man muss bei ihnen, so hat sie gelernt, immer um den heißen Brei herumreden und kann die Dinge nie direkt ansprechen. Der Handwerker meint, dass, nachdem er die Wand verputzt hat, würde sie sicher gerade aussehen. Daraufhin nimmt er seine Arbeit wieder auf und kommt nun an die Stelle, an der die Waschmaschine zu stehen kommen soll. Anstatt nun die Waschmaschine anzu‐ schließen, fängt er an, eine weitere Mauer zu errichten, was Frau Foreman noch gerade verhindern kann. Den Platz für die Waschmaschine hatte er schlicht vergessen, wie er ihr bekennt. So macht er diesen Fehler wieder rückgängig, beschädigte dabei aber die Wand und auch einige Bodenfliesen. Eine ähnliche Situation ereignet sich beim Waschbecken: An dieser Stelle musste ein Loch ausgespart werden. Er mauerte zwar den oberen Teil, aber ohne Loch. Auf eine entsprechende Bemerkung von Frau Foreman erklärt er, dass er das Waschbecken ver‐ gessen habe. Frau Foreman wird allmählich ärgerlich, aber auch nach diesem Vorfall hat sie noch nichts gesagt, sondern versucht ruhig zu bleiben. Schließlich installiert er noch einen Schrank mit Seitenverblendung, in dem er die schöne Seite einfach anbohrt und sie falsch auf das vorgesehene Brett aufschraubt. Nun kann Frau Foreman sich nicht mehr zurückhalten und sagt ihm ganz offen, dass sie von seiner schlechten Arbeit sehr ent‐ täuscht sei. Das müsste sie ihm jetzt einfach mal sagen.
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Es wäre aber besser gewesen, wenn sie dies nicht getan hätte, denn sie sieht, wie sich sei‐ ne Miene verändert. Dann fängt er an zu lachen, was in Indonesien die normale Reaktion auf solche peinlichen Situationen ist. Plötzlich wird die Arbeitsatmosphäre zum schnei‐ den. Alle Hausangestellten versuchen, sich so schnell wie möglich aus dem Staub zu ma‐ chen. Der Handwerker selbst scheint verloren und unter starkem Stress zu stehen. Ur‐ plötzlich ist er verschwunden, ohne dass Frau Foreman ihn jemals wiedergesehen hätte. Was ist bei alldem schiefgelaufen?“ 2. Erläuterungen und Begründungen: In diesem Fall werden die Erklärungsmöglichkeiten einmal aus indonesischer Perspektive, sowohl für den indonesischen Handwerker wie für die deutsche Führungskraft, und dann zum anderen aus deutscher Perspektive, ebenfalls für das Verhalten des indonesischen Handwerkers und der deutschen Führungskraft, dargestellt: 1. Erklärungen aus indonesischer Perspektive a. für das Verhalten des Indonesiers: — Der Handwerker hat zu Beginn der Arbeit Zweifel, ob er die Arbeit, den Ansprüchen genügend, erledigen kann. Aus folgenden Gründen erwähnte er die Zweifel jedoch nicht: Er wollte nicht, dass Frau Foreman enttäuscht wird, es beschämt ihn, seine Zweifel einzugestehen; er wollte die Aufgabe probieren und etwas dazulernen; er wollte das Jobangebot nicht verlieren. — Während des Arbeitsprozesses erkennt der Handwerker, dass die Ansprü‐ che seine Fähigkeiten übertreffen. In der Position des Arbeitnehmers konn‐ te er dies Frau Foreman allerdings nicht erklären und hielt das auch nicht für notwendig. Frau Forman konnte sich selbst aufgrund seiner Fehler und seiner nonverbalen Reaktionen davon überzeugen. — Für den Handwerker ist nicht seine Fähigkeit entscheidend, sondern der Wille, der Frau zu helfen. Zunächst muss Frau Foreman diese Tatsache an‐ erkennen und ihn die Arbeit auf seine Weise erledigen lassen. So wie sie sich verhält, wird er nervös und ärgerlich und die Qualität nimmt ab. — Für den Handwerker ist entscheidend, dass Frau Foreman einen höheren sozialen Status hat als er selbst. Das gibt ihm ein Gefühl der Unsicherheit und Minderwertigkeit. Er hat Angst, Fehler zu begehen, und kann nicht angemessen arbeiten. — Der Handwerker hatte bereits verstanden, dass Frau Foreman mit seiner Leistung nicht zufrieden ist. Da sie allerdings das Arbeitsverhältnis aufrechterhält, geht er von einem „gegenseitigen Verstehen“ aus und be‐ müht sich, die unrealistische Aufgabe zu erfüllen. — Der Handwerker respektiert Frau Foremans Bemühungen, ihm nicht mit Verachtung zu begegnen, als Zeichen des Vertrauens. — Nach dem Wutausbruch von Frau Foreman ist der Handwerker betroffen, da er sich hintergangen fühlt, das gegenseitige Verstehen instabil scheint, und da er verlegen ist, befürchtet er, von anderen Personen verachtet zu werden.
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b. für das Verhalten der deutschen Führungskraft: — Frau Foreman betrachtet das Arbeitsverhältnis zwischen ihr und dem in‐ donesischen Handwerker als einen reibungslosen Prozess. Sie vertraut ihm und seinen Fähigkeiten. Sie vergisst allerdings, auf seinen indirekten Stil zu achten. — Frau Foreman ist enttäuscht über die Erfahrung, dass der Handwerker sei‐ ne Arbeit nicht so gut erledigen kann, wie er das zu Beginn versprochen hatte. — Frau Foreman erkennt nicht, dass für den Handwerker die Arbeit nicht im Mittelpunkt steht. Die menschliche Beziehung ist für ihn genauso wichtig. — Frau Foreman erkennt nicht, dass die Situation und ihre nonverbalen Signa‐ le den Handwerker einschüchtern und verärgern. Sie scheint unfähig, eine unterstützende Atmosphäre aufbauen zu können. — Frau Foreman erkennt nicht, dass hier eine Begegnung zwischen zwei sozi‐ alen Klassen stattfindet. — Frau Foreman übt sich in Geduld, erhält aber die hohen Ansprüche auf‐ recht. — Frau Foreman will die zwischenmenschliche Beziehung zwischen beiden nicht zerstören, da sie weiß, dass auch ihre eigene Arbeit damit zerstört werden würde. — Frau Foreman ist enttäuscht, da sie sich hintergangen fühlt und den Ein‐ druck hat, als nehme der Handwerker ihre Geduld und ihr Verständnis als selbstverständlich an. 2. Erläuterungen aus deutscher Perspektive a. für das Verhalten des indonesischen Handwerkers: — Der Handwerker, der einen ganz anderen Qualitätsanspruch hat, kann die Maßstäbe der Deutschen, bei denen alles akkurat und perfekt sein muss, überhaupt nicht verstehen. — Der Handwerker ist beschämt, da er den Ansprüchen der momentan sehr hoch im Kurs stehenden westlichen Kultur nicht gerecht werden kann. — Die Kolonialzeit ist noch nicht vergessen. Der Handwerker kann nicht er‐ tragen, von einer Europäerin kritisiert zu werden. — Der Handwerker ist es gewohnt, von seinen Arbeitgebern verbessert und kontrolliert zu werden. Indonesier sind mit einem niedrigen Standard zu‐ frieden. — Der indonesische Handwerker konnte es nicht ertragen, von einer Frau vor anderen Frauen (Hauspersonal) kritisiert zu werden. Das verträgt sich nicht mit seiner Rolle als Mann in einem muslimischen Staat. b. für das Verhalten der deutschen Führungskraft: — Frau Foreman weiß aus Erfahrung, wie empfindlich Indonesier sind, und ist deshalb sehr vorsichtig mit ihrer Kritik. — Frau Foreman hat sich mit ihrer berechtigten Kritik wirklich lange genug zurückgehalten. Sie hatte recht damit, ihren Unmut schließlich darzulegen.
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— Frau Foreman wollte die deutsche Gründlichkeit auch im Ausland durch‐ setzen. Der Handwerker konnte allerdings die Ansprüche seiner Auftrag‐ geberin nicht nachvollziehen, da für ihn Perfektion kein zentrales Orientie‐ rungsraster ist. — Indonesier und besonders indonesische Handwerker brauchen mehr Füh‐ rung, als dies in Deutschland üblich ist. Frau Foreman war in ihrer Rolle als Auftraggeberin zu unbestimmt. Diese Erläuterungen zeigen, wie kompliziert das Beziehungsverhältnis zwischen Frau Foreman und dem indonesischen Handwerker sich im Laufe der Zeit gestaltet und wie viele unterschiedliche Perspektiven beachtet werden müssen, wenn man den gesamten Komplex wirklich und im Kern verstehen will. Frau Foreman bemüht sich zwar, jedenfalls aus deutscher Sicht betrachtet, vorsichtig und einfühlsam mit dem Handwerker umzuge‐ hen, verliert aber schließlich aufgrund seiner Inkompetenz und der vielen Fehler, die da‐ raus resultieren, die Geduld. Diese dann doch, für indonesische Verhältnisse, sehr harte und harsche Kritik an seiner Arbeit lässt dem Handwerker keine andere Möglichkeit mehr, als komplett „aus dem Feld zu gehen“, also auf Nimmerwiedersehen zu verschwinden. Für eine kritische Diskussion der verschiedenen Ereignisse und Sichtweisen mit Frau Fo‐ reman würde ihm sowieso einerseits die Sprache fehlen, denn er könnte das, was er emp‐ findet, gar nicht alles verbalisieren und schon gar nicht so, dass Frau Foreman es verstehen würde. Zudem würde es ihm die indonesische Etikette verbieten, ein solches kritisches Gespräch mit der im sozialen Status hoch stehenden Frau Foreman zu führen. Er müsste weiterhin befürchten, dass sich durch ein solches Gespräch seine Situation und die soziale Beziehung zu Frau Foreman nicht verbessern, sondern eher noch verkomplizieren würde. So ist aus seiner Sicht betrachtet sein lautloses Verschwinden die einzig mögliche Lösung. Wenn man nun der Frage nachgeht, was beide aus diesen Interaktionsprozessen gelernt haben und welche nachhaltigen Wirkungen dies auf ihr Verhalten haben könnte, dann wird man zu sehr enttäuschenden Ergebnissen kommen. Frau Foreman wird sich darin bestätigt fühlen, dass indonesische Handwerker unsauber arbeiten, meist mit den westli‐ chen Anforderungen überfordert sind und man mit ihnen selbst über offen zutage liegen‐ de Arbeitsfehler nicht sprechen kann. Der indonesische Handwerker wird sich hüten, nochmals von einem Europäer oder von einem Westler einen Auftrag entgegenzunehmen, weil er überzeugt ist, dass sie Qualitätsanforderungen stellen, die niemals zu erfüllen sind, dass sie nie mit dem zufrieden sein werden, was ein indonesischer Handwerker ihnen bietet, und ständig nur Kritik üben, was einen schließlich zermürbt. Zudem haben die Westler überhaupt keine Geduld und zeigen auch keine Bereitschaft, sich mit weniger zufriedenzugeben. Mit anderen Worten, aus kulturell bedingt kritischen Interaktionserfahrungen kann man zwar etwas über den fremdkulturellen Partner lernen, damit ist aber noch keineswegs garantiert, dass man dadurch in die Lage versetzt wird, sein Verhalten besser zu verste‐ hen, zutreffende Verhaltensvoraussagen machen zu können, und fähig ist, bei zukünftigen Ereignissen ähnlicher Art angemessener und stressfreier zu reagieren.
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3. Lösungsstrategie: Frau Foreman ist schon mit Indonesien etwas vertraut und deshalb hätte sie sich vorher etwas ausgiebiger nach den handwerklichen Qualitäten ihres indonesischen Installateurs erkundigen können. Wenn sie dabei erfahren hätte, dass der Handwerker im Kern über handwerkliche Kompetenz verfügt und motiviert ist, aber noch keine Erfahrungen im Umgang mit westlichen, europäischen Auftraggebern hat, wäre sie schon ein gutes Stück schlauer gewesen. Sie hätte sich dann nach einem qualifizierteren respektive erfahreneren Handwerker umsehen können oder stärker in die Planung der einzelnen Arbeitsschritte eingreifen müssen. Sie hätte ihn durchaus mit Wertschätzung behandeln können und da, wo es sachlich gerechtfertigt gewesen wäre, „an die Hand nehmen“ können und Schritt für Schritt die einzelnen Arbeitsabläufe erklärt. Gerade auf das von ihr erwartete unverlangte Qualitätsniveau in der Ausführung der Installationsarbeiten, das ihm völlig unvertraut war, hätte sie ihn besser vorbereiten müssen. Allerdings gab der Handwerker aus seiner Sicht genug, aber für Frau Foreman zu wenig wahrnehmbares Feedback über seine Befind‐ lichkeiten im Rahmen der fachlichen Übungsforderungen und seiner Erwartungen. 4. Kulturstandards: Es sind keine Kulturstandards mit den Begriffen „Direktheit“ und „Indirektheit“ definiert. Die direkte und indirekte Art der Kommunikation und Interaktion sind aber Verhaltens‐ weisen, die benötigt werden, um Kulturstandards erst zur erwarteten Wirkung zu bringen. Menschen aus Kulturen, in denen Kulturstandards wie „Soziale Harmonie“ oder „Person‐/ Beziehungsorientierung“ von zentraler Bedeutung für den Umgang untereinander sind, favorisieren indirekte und hoch‐kontextualisierte Formen der Kommunikation und Inter‐ aktion. Demgegenüber werden Menschen aus Kulturen, in denen direkte Formen der Kommunikation gebräuchlich sind und in denen kein großer Wert auf Kontextbedingun‐ gen gelegt wird, Kulturstandards wie „Sachorientierung“ und „Individualismus“ zur Regelung der interpersonalen Beziehungen bevorzugen. Sylvia Schroll‐Machl (2007), die speziell für die Kommunikation in Deutschland den Kul‐ turstandard „Schwacher Kontext als Kommunikationsstil“ thematisiert, schreibt zu dem in den hier dargestellten Beispielen bestimmenden Thema: „Wenn es Probleme zu lösen gibt, sind Deutsche davon überzeugt, dass nur durch eine schonungslose Problemanalyse und das gnadenlose Ansprechen von Schwachstellen eine Optimierung von Produkten und Vorgängen möglich ist: Erst wenn die Probleme erkannt sind, kann man an eine Fehlerbehebung gehen. Der Umgang mit Fehlern erstaunt viele. Im Sinne der regelorientierten, internalisierten Kontrolle ist es einerseits wichtig, dass jemand um seinen Fehler weiß und ihn akzeptiert; aber andererseits ist es wichtig, nicht als unorgani‐ siert, unzuverlässig, schlampig dazustehen. Deshalb wird sich so jemand rechtfertigen und seine Gedanken und die Prozesse, die zu diesem Fehler geführt haben, darlegen. Das dient natürlich der Gesichtswahrung und der Schuldentlastung, das dient aber auch so und so oft tatsächlich dazu, die ursächlichen Fehlerquellen – bei wem oder woran immer sie lie‐ gen – aufzuspüren. Diese gesamte Problemanalyse kann wiederum ein Lehrstück dafür sein, Fehlerquellen für die Zukunft auszuschließen. Sie ist so gesehen keineswegs nur, wie
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viele das meinen, ein sich Herausreden oder ein Den‐anderen‐bloßstellen‐Wollen, obwohl beides natürlich vorkommen kann“ (S. 185‐186). In Bezug auf den Umgang mit Problemen und Fehlern gelten für Deutsche folgende Re‐ geln: 1. „Dem Auftreten des Problems ist vorzubeugen: Wenn eine Vereinbarung oder ein Termin nicht eingehalten werden kann, dann erwarten Deutsche, dass der dafür Verantwortliche das von sich aus sagt und ankündigt. Das mag einen Konflikt her‐ aufbeschwören. Doch dieser wird als konstruktiv betrachtet, weil er im Dienst der gemeinsamen Sache steht. 2. Wenn ein Fehler bereits passiert ist, muss dem genau nachgegangen werden: Auf‐ grund der klaren Kompetenzen und Normen wird zunächst einmal geprüft, woran der Fehler lag und wer ihn verursacht hat. Probleme werden dann in ihren sachli‐ chen Aspekten erfasst, analysiert und diskutiert. Dazu wird so lange nachgefragt, bis das, was zur Klärung nötig ist, auf dem Tisch liegt. Dass das für die Betroffenen unangenehm sein kann, wird zugunsten der Sache in Kauf genommen. Wenn in diesem Prozess Fehler selbstkritisch eingestanden werden können, dann gilt das als Beitrag zu einer optimalen, schnellen und kostengünstigen Fehlerbeseitigung, weil nicht erst Vertuschtes aufgespürt werden muss. Wer hierbei ohne Ansehen der ei‐ genen Person besonders aktiv ist, gilt als engagiert, weil er/sie zugunsten der Sache auf Gesichtswahrung verzichtet. 3. Weiterhin muss der Fehler so gut wie möglich ausgebessert und schließlich 4. muss durch die Initiierung entsprechender Maßnahmen ein solcher Fehler künftig verhindert werden. In vielen Teamsitzungen geht es vornehmlich um derartige Analysen und Abhilfemöglich‐ keiten für größere und kleinere Probleme. Involvierte Kollegen besprechen bereits auch dann berufliche Probleme, wenn sie sich nicht gut kennen, wenn kaum eine Beziehungsba‐ sis besteht. Das ist ein Zeichen von Professionalität“ (S. 186‐187). Wer mit diesem Regelwerk zur Fehlerbehebung gut zurechtkommt und gute Erfahrungen gemacht hat, kommt mit anderen, indirekten und kontextorientierten Formen des Prob‐ lemmanagements wie z. B. verschweigen, übergehen, „unter den Teppich kehren“, andere Personen einschalten, Symbole der Zuneigung und Wertschätzung einsetzen etc. nicht oder nur schwer zurecht. 5. Schlussfolgerungen für deutsche Fach‐ und Führungskräfte: Die Thematik Direktheit und Indirektheit ist für deutsche Fach‐ und Führungskräfte nicht deshalb interessant, weil es unterschiedlich starke Ausprägungen bezüglich der Kontex‐ tualisierung der zwischenmenschlichen Kommunikation gibt. Also, dass in einigen sozia‐ len Gemeinschaften, Nationen, Gesellschaften der soziale und personale Kontext, in der die konkrete Kommunikation stattfindet, große Bedeutung findet, wohingegen in anderen sozialen Gemeinschaften allein das gesprochene Wort, der Inhalt des Arguments und die konkrete Aussage Beachtung findet. Es geht hier auch nicht allein um das gesprochene Wort und seine Bedeutung. Es geht um das Verhalten, um die Interaktion des Sprechers
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und die Erwartungen des Zuhörers sowie um die Antizipation der weitreichenden Folgen des gegenseitigen Informationsaustausches und der interpersonalen Begegnung generell. Personen, die es gelernt haben, die es gewohnt sind und die nichts anderes kennen als das, mit dem etwas gesagt wird, immer auch das, wie es gemeint wird, zu wem es gesagt wird, welche Wirkungen das Gesagte haben könnte und ob es angebracht ist, unter den gegebe‐ nen Umständen überhaupt etwas zu sagen, mit zu berücksichtigen, werden unter be‐ stimmten Umständen eher als andere schweigen. Sie sagen dann zwar nichts, aber für alle, die ähnlich High‐context‐ und indirekt orientiert sind, ist gerade das Nichts‐Sagen in die‐ ser Situation hochrangig informativ. Wenn beispielsweise in einem deutsch‐chinesischen Unternehmen sich über längere Zeit immer wieder Produktionsfehler einschleichen, weil einige Arbeiter nicht konzentriert genug arbeiten und dem deutschen Werksleiter schließ‐ lich „der Kragen platzt“ und er die Schuldigen vor versammelter Mannschaft herunter‐ putzt, dann ist die immer wieder zu beobachtende Reaktion: „Die Chinesen werden blass und schweigen!“ Und der deutsche Chef wird in einer solchen Situation nicht mehr in der Lage sein, auch nur ein Wort aus den chinesischen Mitarbeitern herauszuholen: Kein Wi‐ derspruch, keine Zustimmung, keine Rechtfertigung, keine Begründung, kein Versprechen einer Besserung – einfach nur „Nichts“. Jedenfalls geht ein solcher Chef immer mit leeren Händen aus der Situation, er hat nichts erreicht und wohl auch nichts verstanden. Für Chinesen ist das ein hochgradig informatives und nachhaltig wirkendes Ereignis. Es wird im Anschluss, im vertrauten Kreis und untereinander viel und ausgiebig darüber diskutiert und zwar über folgende Fragen:
■ Warum hat der deutsche Chef eine solche für alle peinliche Situation heraufbeschwo‐ ren?
■ Warum hat er uns alle mit abgestraft? ■ Warum hat er nicht andere Wege gesucht, die Schwachstellen zu beseitigen und zwar geräuschlos, unauffällig, auf indirektem Wege?
■ Warum hatte sich so provozieren lassen? ■ Warum hat er sich so gehen lassen? ■ Warum hat er sich vor uns von seiner unangenehmen, emotionsgeladenen Seite ge‐ zeigt?
■ Was wollte er mit dieser Aktion denn bewirken? ■ Wie verhalten wir uns zukünftig ihm gegenüber? ■ Wie wird er sich zukünftig uns gegenüber verhalten? Jedenfalls hätte, aus chinesischer Sicht, in dieser Situation, vor Publikum, also in einem „öffentlichen“ Raum, jede Reaktion der Mitarbeiter auf die Vorhaltungen des Chefs zu einer weiteren Eskalation und noch zu einer tiefergehenden Beschädigung der Harmonie geführt.
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Der deutsche Werksleiter wird wohl mit einem gewissen Gefühl der Selbstgefälligkeit und innerlich gestärkt aus der Situation herausgehen, weil er denen man endlich klaren Wein eingeschenkt hat und sich so etwas nicht gefallen lässt. Es hat vermutlich immer wieder Hinweise auf die Fehlerquellen gegeben und so im Hintergrund wurde auch viel gemun‐ kelt. Gerade das immer wieder „Um‐den‐heißen‐Brei‐Herumreden“ ist der deutsche Werksleiter leid. Hier musste mal Tacheles geredet werden. Dadurch, dass die chinesischen Mitarbeiter blass wurden und schwiegen, fühlte er sich darin bestärkt, dass seine Aussage Wirkung gezeigt hat, denn sonst hätten sie ja etwas gesagt, widersprochen, sich gerechtfertigt oder entschuldigt. Für den Werksleiter gilt: Wenn du gefragt wirst, hast du zu antworten. Schweigen wird als Beleidigung des Fra‐ genden ausgelegt oder als Schwäche und Dummheit seitens des Befragten, weil er vermut‐ lich die Frage nicht beantworten kann. Wenn du gefragt wirst, hast du ehrlich und aufrich‐ tig zu antworten, nur das schafft Sympathie und Vertrauen und alles andere ist eine Lüge oder ein Hintergehen des Fragenden. Wenn du merkst, dass in einer Diskussion Argumen‐ te fallen, die deiner Überzeugungen völlig zuwiderlaufen, solltest du den Mut haben, zu dem zu stehen, was du für richtig hältst und was deinem Gewissen entspricht. Du sollst auch kein falsches Zeugnis abgeben, nur weil es dir gerade opportun erscheint. Solche Regeln und Verhaltensnormen sind bei deutschen Fach‐ und Führungskräften so weit internalisiert, dass sie ihnen selbst und in ihrer verhaltensrelevanten Wirkung gar nicht mehr bewusst sind. Es sind Selbstverständlichkeiten richtigen Handelns, wenn sie auch manchmal nicht befolgt werden. Es wird aber auch deutlich, dass sie in der interpersonalen Begegnung mit Menschen in High‐context‐Kulturen, indirekt orientierten Kulturen zu Missverständnissen führen müs‐ sen. So fasste Sir Robert Hart, der vier Jahrzehnte im Reich der Mitte lebte und im chinesischen Zolldienst tätig war, seine Erfahrungen im Umgang mit Chinesen so zusammen: „China ist wirklich ein schwer zu verstehendes Land. Vor ein paar Jahren glaubte ich, endlich so weit gekommen zu sein, etwas von seinen Angelegenheiten zu wissen, und ich suchte meine Ansichten darüber zu Papier zu bringen. Heute komme ich mir wieder wie ein vollkom‐ mener Neuling vor. Wenn ich jetzt aufgefordert würde, drei oder vier Seiten über China zu schreiben, würde ich nicht recht wissen, wie ich dies anfangen sollte. Nur eins habe ich gelernt: In meinem Vaterlande heißt es gewöhnlich: Lass dich nicht biegen, und wenn es dabei auch zum Bruch kommt! In China dagegen gerade umgekehrt: Lass dich biegen, aber lass es nicht zum Bruch kommen!“(Smith, 1900, Vorwort, S. III). Sun Tsu, ein geheimnisvoller chinesischer Krieger‐Philosoph, der vermutlich um 400 v. Chr. gelebt hat, schrieb in seinem Buch „Die Kunst des Krieges“ (deutsch 1997): „Der wahre Sieger kämpft nicht!“ Gemeint ist, dass der wahre Sieger gewillt und in der Lage ist, sich die nötigen Ressourcen zu verschaffen, kriegerische Konflikte im Vorfeld zu erahnen, zu er‐ kennen, um dann die Kontextbedingungen so zu steuern, dass es gar nicht erst zum Kampf kommt. Der deutsche Werksleiter im oben geschilderten Beispiel hätte sicher auch mehr erreichen können, wenn er nicht so gekämpft hätte, sondern erst einmal nach den
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Gründen für die mangelhafte Konzentration seiner Mitarbeiter gesucht hätte. Möglicher‐ weise waren sie überfordert, sie waren vielleicht auch schlecht ausgebildet, mangelhaft qualifiziert oder sie hatten neben dem Job in seinem deutsch‐chinesischen Unternehmen noch einen zweiten Job und waren deshalb müde und physisch überfordert. Die Gründe hätte er sicher nicht selbst durch eine direkte Befragung der Mitarbeiter herausbekommen können, denn dafür ist er als Chef in der Hierarchie zu hoch angesiedelt. Allein ein ver‐ trauensvoller Mittelsmann wäre in der Lage gewesen, die Ursachen zu erkennen und eventuell auch für ihre Beseitigung zu sorgen.
Weiterführende Literatur: Miller, R./Babioch, A.(2007): Sozialpsychologische Ansätze, in: Straub, J./Weidemann, A./Weidemann, D. (Hrsg.), Handbuch interkulturelle Kommunikation und Kompetenz. Grundbegriffe – Theorien – Anwendungsfelder, Stuttgart, S. 215‐225. Ward, C. (2004): Psychological theories of culture contact and their implications of intercultural train‐ ing and interventions, in: Landis, D./Bennett, J. M./Bennett, M. J. (Eds.), Handbook of intercultural training, Vol.3, Thousand Oaks, London, New Delhi, pp. 185‐216.
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Deutsche Fach‐ und Führungskräfte begegnen im Auslandseinsatz unterschiedlichen For‐ men und Ausdrucksweisen von Hierarchien. Hier interessieren Hierarchien dann, wenn sie das Verhalten der ausländischen Partner in einer für Deutsche nur schwer nachvoll‐ ziehbaren Weise beeinflussen oder deutsche Fach‐ und Führungskräfte überhaupt nicht bemerken, wie Hierarchien auf das interaktive Verhalten wirken. Hierarchiemanagement bezeichnet in diesem Zusammenhang alle Bemühungen, Verhaltensweisen, Handlungsin‐ tentionen, Handlungspläne und Ausführungsstrategien, die sich auf den Umgang mit Hierarchien beziehen, wie hierarchieorientiertes Verhalten, Hierarchien veränderndes Verhalten, Nutzung von Hierarchien zur Zielerreichung etc. Sozialpsychologische und soziologische Untersuchungen haben schon vor Längerem ge‐ zeigt, dass es keine hierarchiefreien sozialen Gruppierungen und Organisationen gibt. Selbst unter laborexperimentellen Bedingungen, die so angelegt waren, dass sich unbe‐ kannte Personen zur Lösung einer komplexen Aufgabe trafen und dabei keinerlei direkte oder indirekte hierarchische Ordnung vorgegeben war, bildeten sich sehr schnell Personen heraus, die leitende und organisierende bzw. machtausübende Attitüden entwickelten und denen andere Personen zuarbeiteten. So bildete sich schnell eine auf die Ausbildung von Hierarchien abzielende Rollendifferenzierung heraus, verbunden mit einer Tendenz zur ungleichen Verteilung von Macht und sozialem Einfluss. In der Arbeitswelt von Fach‐ und Führungskräften sind Hierarchien meist vorgegeben, traditionell verankert und ein wichtiger Teil der Unternehmenskultur. In Deutschland hat in den vergangenen 50 Jahren eine starke Veränderung in Bezug auf die Akzeptanz orga‐ nisationaler Hierarchien stattgefunden. Unter dem Begriff „Lean Management“ sind in den meisten Betrieben und Organisationen in Deutschland und den westlichen Industrie‐ ländern Hierarchien abgebaut und verschlankt worden. Ausgangspunkt für diese Bewe‐ gung waren die Produktionsvorteile japanischer Unternehmen durch den Einsatz flexibler und eigenverantwortlicher Arbeitsgruppen, eine Verringerung der Managementebenen und einen Abbau der damit zusammenhängenden Bürokratie. Das Management umfasst nur noch wenige Hierarchieebenen und Personen pro Ebene. Die Arbeitsorganisation und Verantwortlichkeiten werden produktiv tätigen Mitarbeitern übertragen, Fehleranalysen und Verbesserungen sollen von allen permanent vorgenommen werden. Die Verantwort‐ lichkeit des Managements bezieht sich mehr auf strategische Aufgaben des Gesamtunter‐ nehmens. In vielen Ländern und Kulturen herrschen aber noch traditionell gewachsene hierarchische Strukturen und Positionen vor und die sie besetzenden und stützenden Personen und Gruppen sind in mannigfacher Hinsicht tonangebend. So kann eine deutsche Fachkraft in einem ausländischen Unternehmen oder in einem deutschen Tochterunternehmen mit einheimischen Mitarbeitern durchaus Schwierigkeiten bekommen, wenn sie von ihren Mitarbeitern ein hohes Maß an Partizipation und Eigenverantwortlichkeit verlangt, was diese aber nicht erwarten, nicht gewohnt sind und auch ablehnen. Das 1. Beispiel „Der
A. Thomas, Interkulturelle Handlungskompetenz, DOI 10.1007/978-3-8349-6880-7_14, © Gabler Verlag | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Bericht“ in Kapitel 3 „Mitarbeiterführung“ hatte das am Fall des US‐amerikanischen Chefs und des griechischen Mitarbeiters illustriert. Hierarchieorientierung mit all ihren Konsequenzen, wie sie sich in der interpersonalen Interaktion zeigt und in einigen Kulturen aus Sicht deutscher Fach‐ und Führungskräfte die Funktion eines Kulturstandards einnimmt, ist sozial und gesellschaftlich verankert, eventuell religiös motiviert und legitimiert (z. B. das Kastenwesen in Indien) sowie außer‐ ordentlich resistent gegenüber Veränderungen durch sozialen, gesellschaftlichen und ökonomischen Wandel.
1. Beispiel: „Der passive Verkäufer“ 1. Die kritische Interaktionssituation: „Herr Ludwig arbeitet seit einem Jahr als Leiter der Verkaufsabteilung bei einer deut‐ schen Firma in Indien. Er arbeitet mit Herrn Gupta, einem sehr guten und zuverlässigen Verkäufer zusammen. Als er ihn einmal zu einem Kundengespräch begleitet, in dem es darum geht, für ein aktuelles Geschäft neue Preise abzustimmen, erwartet er, dass Herr Gupta die Initiative ergreift und sich für das Ziel einsetzt, damit das Geschäft schnell unter Dach und Fach kommt. Während der gesamten Besprechung fällt ihm jedoch auf, dass sich Herr Gupta überhaupt nicht engagiert zeigt, den Leiter irgendwie davon zu überzeugen, die geforderten Preise zu akzeptieren. Die Verhandlungen führen letztend‐ lich nicht zu einer Einigung, das Geschäft wird nicht abgeschlossen. Herr Ludwig kann sich nicht erklären, warum Herr Gupta sich so wenig eingesetzt hat, obwohl er sonst ein sehr engagierter und zuverlässiger Verkäufer ist“ (Mitterer/Mimler/Thomas, 2006, S. 21). Warum beteiligt sich Herr Gupta nicht an dem Verkaufsgespräch? 2. Erläuterungen und Begründungen: In Indien hat der Vorgesetzte die Verkaufsgespräche zu führen. „Indien ist eine stark hie‐ rarchisch strukturierte Gesellschaft. So ist es selbstverständlich, dass ein Mitarbeiter sei‐ nem Chef die Verhandlungsführung überlässt. Er zeigt dadurch den nötigen Respekt und erkennt die Autorität seines Vorgesetzten an. Es wäre dem Mitarbeiter gerade in der ge‐ schilderten Situation völlig unmöglich, das Wort zu ergreifen, denn damit würde er signa‐ lisieren, dass er die Verhandlungen genauso gut oder sogar besser führen könnte als sein Chef. Durch dieses respektlose Verhalten würde er nicht nur sein eigenes Gesicht verlie‐ ren, sondern auch das Ansehen seines Chefs vor dem Kunden gefährden. Auch der Kunde wäre peinlich berührt, das mit ansehen zu müssen. Der Vorgesetzte gilt außerdem als allwissend und wird daher in alle zu treffende Entscheidungen mit einbezogen. Seine Position wird von den Mitarbeitern akzeptiert und respektiert. Wenn er bei Verhand‐ lungsgesprächen anwesend ist, ist es daher seine Aufgabe, das Gespräch zu führen“ (S. 24). 3. Lösungsstrategie: Herr Ludwig geht davon aus, dass Herr Gupta so wie er selbst das Interesse der Firma im Kundengespräch engagiert vertritt. Ja, er erwartet, dass Herr Gupta sich besonders enga‐
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giert, da der Kunde ja auch Inder ist. Zudem könnte er im Beisein von Herrn Ludwig ein‐ mal zeigen, welche Qualitäten er als Verkäufer besitzt. Keine seiner Erwartungen wurde erfüllt. Im Gegenteil, Herr Gupta verhält sich völlig passiv, weil er seinen Chef nicht be‐ schädigen will, schon gar nicht vor den Augen des indischen Kunden. Wegen der in Indien stark verbreiteten hierarchischen Strukturen „wird es ein deutscher Chef kaum schaffen, diese Denkweise in einem einzigen Gespräch grundlegend zu verän‐ dern. So tief im Bewusstsein verankerte Einstellungen ändern zu wollen, erscheint nahezu unmöglich. Innerhalb einer Firma ist es zwar möglich, dass die Mitarbeiter ihre Arbeits‐ weise an die Wünsche ihres Vorgesetzten anpassen. Dazu ist jedoch viel Geduld notwen‐ dig und man muss intensiv kommunizieren, was genau von den Mitarbeitern erwartet wird. Vom Vorgesetzten muss für diese Entwicklung schon im Vorfeld intensive Bezie‐ hungsarbeit geleistet werden, so dass die Mitarbeiter Vertrauen zu ihm aufbauen. Erst wenn sie die Sicherheit haben, dass selbstständiges Handeln keine negativen Konsequen‐ zen für sie hat, können sie sich auf die neuen Anforderungen einlassen. In diesem Fall kann es sein, dass die Veränderung der eigenen Arbeitsweise von den Mitarbeitern als persönlicher Gefallen für den Chef betrachtet wird. Ihm zuliebe versuchen sie dann bei‐ spielsweise, selbst mehr Verantwortung zu übernehmen und eigenständig Entscheidungen zu treffen. Problematisch bei dieser Vorgehensweise ist jedoch die Motivation, die hinter der Änderung des Verhaltens steht: Sie kommt nicht durch Einsicht und Überzeugung zustande und ist daher nicht innerlich gefestigt, sondern abhängig von speziellen Perso‐ nen. In einigen großen, internationalen Firmen in Indien ist es trotzdem gelungen, eine Unter‐ nehmenskultur zu etablieren, in der auch Mitarbeiter auf niedrigeren Hierarchiestufen Verantwortung übernehmen und ein ausgeglicheneres Verhältnis zwischen Mitarbeitern und Vorgesetzten herrscht. Eine klare Kommunikation der Richtlinien und Zuständigkei‐ ten gibt den Mitarbeitern die Sicherheit zu wissen, wie weit ihr Kompetenzbereich geht. Dieser Prozess kann durch Personalentwicklungsmaßnahmen unterstützt werden, bei denen die allgemeinen Rollenverständnisse innerhalb des Unternehmens thematisiert und kulturelle Unterschiede dargestellt werden. Außerhalb der eigenen Firma sollte man hin‐ sichtlich einer solchen Offenheit vorsichtig sein. Was ein Deutscher als ‚konstruktives, ehrliches Gespräch’ deutet, kann in Indien leicht einen Gesichtsverlust zur Folge haben, da man hier bestrebt ist, konflikthafte Situationen möglichst zu vermeiden“ (S. 25‐26). 4. Indischer Kulturstandard „Starke hierarchische Strukturen“ „Die indische Gesellschaft ist von strengen, hierarchischen Strukturen geprägt, die sich in allen Lebens‐ und Arbeitsbereichen zeigen. Innerhalb dieser Bereiche sind Macht und Autorität auf wenige Personen verteilt. Ob Familienoberhaupt, Lehrer oder Vorgesetzter – diese Personen haben in ihrem Umfeld ein Autoritätsmonopol. In geschäftlicher Hinsicht bedeutet das, dass der Vorgesetzte die alleinige Entscheidungsmacht hat. Die Mitarbeiter der unteren Hierarchiestufen befolgen kritiklos seine Anweisungen und respektieren seine Autorität. Er trägt im Gegenzug für alles, was um ihn herum geschieht, die alleinige Ver‐ antwortung. Das so genannte „Check with the boss“‐Prinzip bedeutet, dass der Vorgesetz‐ te in alle Arbeitsabläufe einbezogen wird, die Mitarbeiter halten stets Rücksprache mit ihm
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und er trägt die Verantwortung für alle Entscheidungen. Auch die Kommunikationswege laufen in indischen Unternehmen getreu der hierarchischen Struktur vertikal, also von den oberen Hierarchiestufen hin zu den unteren. Der Chef gilt als allwissend und gibt Informa‐ tionen an seine Mitarbeiter weiter. Dabei darf keine Hierarchiestufe übersprungen werden. Auf diesen langen Kommunikationswegen kann es oft zu Schwierigkeiten kommen, da Informationen verändert weitergegeben werden oder verloren gehen. In die andere Rich‐ tung läuft die Kommunikation nicht automatisch. Will der Vorgesetzte über den Fortgang eines Projekts informiert werden, so liegt die Holschuld bei ihm. In Deutschland herrscht im Gegensatz dazu eine Bringschuld. Der deutsche Mitarbeiter ist demnach dazu ver‐ pflichtet, wichtige Informationen unaufgefordert an seinen Vorgesetzten weiterzugeben. Analog dazu erfolgen in Indien Feedbackprozesse und das Äußern von Kritik ausschließ‐ lich in der Hierarchie abwärts. Ein Mitarbeiter darf also niemals seinen Vorgesetzten kriti‐ sieren. 5. Kulturelle Verankerung des Kulturstandards „Starke hierarchische Strukturen“: Die Herausbildung dieser strengen hierarchischen Gesellschaftsordnung hat ihre Wurzeln weit in der Vergangenheit. Der Einfall der Indogermanen in Indien markierte vor 4000 Jahren den Beginn immer wiederkehrender Eroberungen Indiens. Die Entwicklung einer ständisch orientierten Klassengesellschaft, die den Grundstein für eine rassisch begründete Differenzierung legte, schuf die Voraussetzung zur Ausbildung des Kastenwesens, das zumindest in den Köpfen der Menschen noch heute existiert. Diese religiös begründete Kategorisierung und Strukturierung der indischen Gesellschaft machte sich später die Kolonialmacht England zunutze, um in den 300 Jahren der britischen Vormachtstellung die Kontrolle über den riesigen Subkontinent zu gewinnen und ihr Abhängigkeits‐ und Ausbeutungssystem bis zum Ende ihrer Herrschaft und dem Beginn der Unabhängigkeit Indiens 1947 zu festigen. Auf diese Zeit geht auch das restriktive indische Ausbildungssys‐ tem zurück, das auf der bloßen Reproduktion von Lehrstoffen basiert, kaum Freiräume für Initiativen des Einzelnen zulässt und somit schon früh Verhaltensweisen fördert, die selbstständigem und eigenverantwortlichem Arbeiten entgegenstehen. Die daraus resultie‐ rende Passivität vieler indischer Mitarbeiter wird von Deutschen oft als Hindernis für Innovation und Leistungssteigerung bemängelt“ (S. 39‐40).
2. Beispiel: „Erhöhung der Wettbewerbsfähigkeit“ 1. Die kritische Interaktionssituation: „Herr Meister ist Mitarbeiter in einer deutschen Unternehmensberatung. Er wurde von einem chilenischen Unternehmen der Textilindustrie in Santiago als Berater angefordert. Es ging darum, Veränderungsprozesse zu ermitteln, zu beschließen, einzuleiten und zu begleiten, mit denen die Wettbewerbsfähigkeit des chilenischen Unternehmens erhöht werden sollte. Herr Meister analysierte mit einigen chilenischen Kollegen den Ist‐ Zustand und entwickelte dann im Team Vorschläge, wie eine neue Marketingstrategie aussehen könnte und was zu ihrer Implementierung erforderlich wäre.
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In einer Sitzung mit den Vorstandsmitgliedern des chilenischen Unternehmens präsen‐ tierte Herr Meister die Vorschläge des Projektteams. Dabei betonte er zwar auch alles, was an positiven Entwicklungen bisher schon geleistet worden war, um dann sehr vor‐ sichtig und behutsam die erforderlichen Änderungen bezüglich der Struktur und des Managements im Unternehmen anzusprechen. Es war schon klar, dass von diesen Neu‐ erungen auch der Vorstand betroffen sein würde, also die Personen, die hier bei der Prä‐ sentation anwesend waren. Der Vorstand hörte bei der Vorstellung der Vorschläge auf‐ merksam zu, stellte anschließend aber keine Rückfragen und die Sitzung wurde sehr schnell nach der Präsentation geschlossen. Wenige Tage später erfuhr Herr Meister, dass die Veränderungsvorschläge vom Vor‐ stand nicht weiterverfolgt würden, also keine Implementierung vorgesehen sei. Herr Meister bekam nicht direkt, aber immer wieder indirekt durch Nebenbemerkungen zu hören, dass ein Deutscher wohl doch die chilenische Mentalität und die spezifische chi‐ lenische Unternehmensstruktur nicht so recht verstehen kann. Herr Meister fragt sich, warum der Vorstand seine Expertise und seine Vorschläge zwar anfordert, aber sie nun weder kritisiert noch umsetzt, sondern einfach nur ignoriert.“ 2. Erläuterungen und Begründungen: Der Vorstand des chilenischen Unternehmens ist an Vorschlägen zur Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit schon interessiert, hat aber womöglich nicht damit gerechnet, dass er selbst auch von den Veränderungen betroffen sein könnte. Herr Meister hat zwar vor‐ sichtig, aber auch klar und deutlich, und eben auch vielleicht zu deutlich, ausgeführt, dass alle und so auch die Unternehmensleitung nicht mehr so weitermachen können wie bisher, sondern Änderungen in Kauf nehmen müssen. Das ist eine mehr oder weniger versteckte Kritik am bisherigen Verhalten der Vorgesetzten, der Hierarchen, die zudem noch gut begründet ist und verbunden wird mit Hinweisen auf Veränderungsnotwendigkeiten, wenn die Wettbewerbsfähigkeit erhöht werden soll. Kritik an Vorgesetzten, an der Unternehmensleitung ist aufgrund der in Chile üblichen, starken Distanz zwischen den Hierarchieebenen nicht statthaft. Herr Meister hat, ohne es zu ahnen, doch eine erhebliche Normverletzung begangen. Zudem wurde die Kritik am Vorstand, wenn auch verpackt in ein ganzheitliches Changemanagement‐Konzept, nicht im engen Kreis der Vorstandsmitglieder, sondern in Anwesenheit auch der chilenischen Projektmitarbeiter, also vor Publikum in einem öffentlichen Raum, vorgetragen. Hinzu kommt noch, dass Herr Meister als Deutscher, also als Fremder, diese Veränderungen vorträgt und begründet; also jemand, der mit den chilenischen Gepflogenheiten nicht recht vertraut sein kann, so jedenfalls aus Sicht der Chilenen. Der chilenische Vorstand hat zwar bewusst eine deutsche Unternehmensberatungsfirma um die Analyse und die erforderli‐ chen Veränderungsvorschläge gebeten und Herr Meister leitet nun auch sicher mit Zu‐ stimmung des Vorstands das Projektteam. Das chilenische Unternehmen versprach sich von diesem Schritt womöglich sogar einen Prestigegewinn: Eine international angesehene deutsche Unternehmensberatungsfirma und Herrn Meister als einen international erfahre‐ nen Experten für Changemanagement haben wir engagiert! Aber der Vorstand konnte
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aufgrund seiner kulturellen Orientierung in Bezug auf den Umgang mit Hierarchie eine solche Präsentation nicht verkraften. 3. Lösungsstrategie: Vorschläge zur Veränderung gegebener, eingefahrener, vertrauter Strukturen und Prozes‐ se enthalten notgedrungen immer kritische Argumente gegenüber dem Bestehenden und dem, was die verantwortlichen Personen bisher getan haben. Auch in Deutschland hat schon manch gut begründeter Vorschlag zu Veränderungen kein Gehör gefunden, weil die Zielpersonen, besonders Vorgesetzte und die Unternehmensleitung, glaubten, zu Unrecht kritisiert zu werden. Während in solchen Fällen in Deutschland mit stichhaltigen und überzeugenden Argumenten und Begründungen eine Änderung zu erreichen ist, zieht das in Chile nicht, denn jegliche Kritik an den Vorgesetzten kommt einem Tabubruch gleich. Herr Meister hätte zunächst einmal direkt mit den Vorstandsmitgliedern im kleinen Kreis verhandeln müssen. Vielleicht wäre es noch besser gewesen, er hätte mit einem für Verän‐ derungen eher aufgeschlossenen Vorstandsmitglied ein Vorgespräch unter vier Augen geführt und ihn so gebrieft, dass er die Änderungen selbst hätte seinen Kollegen vortragen können. Während es für Herrn Meister völlig egal ist wo, wann und wie er seine Arbeits‐ ergebnisse präsentiert – Hauptsache sie sind stichhaltig, gut begründet und professionell erarbeitet –, ist es für Chilenen sehr wohl ausschlaggebend, dass dabei keiner in seinem Status, Ansehen und seiner Würde beschädigt wird. 4. Chilenische Kulturstandards „Hierarchieorientierung“ und „Klassen‐ und Statusorien‐ tierung“: „Die chilenische Gesellschaft wird von einem tief verwurzelten Klassendenken und von der Frage nach der sozialen Schichtzugehörigkeit bestimmt. Chilenen teilen ihre Umwelt in ‚unseresgleichen’ und den Rest ein. Innerhalb des sozialen Gefüges ist genau markiert, welche Schichten es gibt und welche Verhaltensweisen und Umgebungen dazugehören. Jede Schicht hat ihren Platz, ihre zugehörigen Verhaltensweisen, Möglichkeiten und Zu‐ kunftsaussichten; mit anderen Schichten kommt sie jedoch nicht in Berührung. Die Le‐ benswelten der Chilenen unterschiedlicher Schichtzugehörigkeit haben tatsächlich kaum Berührungspunkte: Geburt, Ausbildung, Berufsalltag, Freizeit‐ und Konsumverhalten, selbst Krankheit und Tod laufen weitgehend getrennt ab. In allen größeren Städten leben die Chilenen unterschiedlicher Klassen in ihren jeweiligen Vierteln mit entsprechenden Schulen, Einkaufs‐ und Freizeitmöglichkeiten“ (Ellenrieder/Kammhuber, 2009, S. 77‐78). Eine Ausrichtung nach sozialer Schichtzugehörigkeit und Status bedingt gleichermaßen ein hierarchisches Denken. Berufliche Arbeitsfelder weisen in Chile meist eine ausgeprägte Hierarchiestruktur auf. Der Chef besitzt durch seine Stellung und seine überwiegend hö‐ here Ausbildung automatisch einen höheren Status und wird von seinen Untergebenen respektiert. Er trifft die Entscheidungen und setzt die Prioritäten. Untergeordnete Stellen haben kaum Entscheidungsspielraum und handeln vorwiegend nach Anweisung von oben. Dies ist wichtig, da der Chef die Organisation oder Firma nach außen hin repräsen‐ tiert und damit die gesamte Verantwortung trägt. Und obendrein ist es nicht üblich, Kritik
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gegenüber dem Vorgesetzten zu äußern. Sie ist nur auf sehr indirekte Art und Weise sowie auf der Basis einer guten Beziehung möglich“ (S. 80‐81). 5. Kulturelle Verankerung der Kulturstandards „Hierarchieorientierung“ und „Klassen‐ und Statusorientierung“: Das beschriebene schicht‐, status‐ und ethnisch orientierte Denken geht auf die Zeit der „Conquista“, der spanischen Eroberung sowie Kolonialherrschaft, zurück. Damals herrschte eine klare, rigide Gesellschaftshierarchie, insbesondere nach ethnischen Merkma‐ len. Der spanischblütigen weißen Oberschicht stand die indianisch geprägte Unterschicht gegenüber. Innerhalb der Oberschicht wurde wiederum zwischen den eigentlichen Spani‐ ern und den spanischblütigen, aber im Lande geborenen Kreolen unterschieden. Die Spa‐ nier hatten während der Kolonialzeiten die politische Macht inne und blieben meist nur begrenzte Zeit im Land, während die Kreolen die eigentliche Oligarchie Chiles bildeten. Diese Oligarchie bestand aus feudalen Großgrundbesitzern und Kaufleuten, den Leitern von Großunternehmen, Handelsgesellschaften und Handelsflotten. Die Großgrundbesit‐ zer, die so genannten „Patrones“, ließen auf ihren Ländereien zunächst die Indios für sich arbeiten. Diese erwiesen sich jedoch für sie als keine guten Arbeitskräfte und es etablierte sich eine ganz eigene Art der Volksvermehrung: Je mehr uneheliche Kinder ein „Patron“ mit den indianischen Frauen seines Lehensystems hatte, desto mehr zuverlässige und ihm ergebene Arbeiter standen ihm zur Verfügung. Darüber hinaus tat sich der Großteil der spanischen Kolonialherren mit indianischen Frauen zusammen, da dies aufgrund des Mangels an weißen Frauen in der chilenischen Kolonie ihre einzige Möglichkeit war, Nachkommen zu zeugen. Aus diesen beiden Verbindungen entstand hauptsächlich das Mestizentum (abgeleitet aus dem spanischen „se amestizar“ = sich anfreunden). Mestizen und die indigene Bevölkerung gehörten in der Kolonialzeit der sozialen Unterschicht an. Da die Indios sich jedoch wenig für die Landarbeit und das verarbeitende Gewerbe eigne‐ ten, wurden die Mestizen bald zum unentbehrlichen Arbeiter der chilenischen Wirtschaft. Sie übernahmen neben den ländlichen Tätigkeiten vor allem die Handwerkerberufe sowie den Bergbau und leiteten darüber hinaus Webereien und Schiffswerften. Nichtsdestotrotz wurden sie in der damaligen Kolonialgesellschaft sozial wenig geachtet und Berufe mit höherem Status blieben ihnen verwehrt. Nach der Unabhängigkeit änderte sich das gesellschaftliche Gefüge zunächst kaum. Die politische und wirtschaftliche Macht verteilte sich auf einen kleinen Kreis konservativer kreolischer Familien. Zu dieser Oberschicht gesellte sich die Klasse der europäischen Zu‐ wanderer, die es zu Vermögen und Ansehen gebracht hatten. Im Verlauf des wirtschaftli‐ chen Wachstums und der Industrialisierung bildete sich jedoch auch ein breiter Mittel‐ stand heraus. Dieser orientiert sich allerdings stark an der heutigen chilenischen Ober‐ schicht, die wiederum sehr europäisch beeinflusst und durchsetzt ist“ (S. 82‐83).
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3. Beispiel: „Die Arbeitsverteilung“ 1. Die kritische Interaktionssituation: Herr Oswald arbeitet seit zwei Jahren als Softwareentwickler für einen großen deut‐ schen Elektrokonzern in Frankreich. Im Laufe der Zeit ist sein Aufgabengebiet so groß geworden, dass er es alleine nicht mehr bewältigen kann. Er spricht mit seinem franzö‐ sischen Chef darüber und erzielt mit ihm eine Vereinbarung, dass ein weiterer Kollege einen Teil seiner Aufgaben mit übernehmen soll. Der französische Chef von Herrn Os‐ wald diskutiert mit ihm in drei separaten Besprechungen verschiedene Möglichkeiten, die Arbeit mit seinem Kollegen aufzuteilen. Bei jeder dieser Besprechungen bringt sein Chef immer wieder neue Ideen ins Spiel, die dann aber schließlich doch verworfen wer‐ den, und man kommt zu dem ursprünglich diskutierten Schema der Aufteilung zurück. Nachdem ein neuer Mitarbeiter mit seiner Arbeit begonnen hat, stellt Herr Oswald fest, dass nun das Aufgabengebiet, für das dieser zuständig ist, doch ein vollkommen ande‐ res ist, als er es mit seinem französischen Chef vereinbart hatte. Herr Oswald versteht nicht, warum sein Chef nach den vielen gemeinsamen Diskussio‐ nen zum Schluss das Aufgabengebiet doch anders festlegt hat und das, ohne ihn darü‐ ber zu informieren. 2. Erläuterungen und Begründungen: Die Schilderung in diesem Beispiel erweckt den Eindruck, als habe Herr Oswald mehr oder weniger auf gleicher Augenhöhe mit seinem französischen Chef über die Arbeitsver‐ teilung konferiert. Immerhin haben sie sich dreimal getroffen und alle denkbaren Auftei‐ lungsmöglichkeiten besprochen. Zudem hat der französische Chef bei diesen Besprechun‐ gen ständig neue Ideen eingebracht. Auf diese Weise hat er, so denkt Herr Oswald, ge‐ zeigt, wie sehr er ihn und seine Vorschläge schätzt, und er hat auch modernes, auf Partizi‐ pation der Mitarbeiter hin orientiertes Führungsverhalten präsentiert und dokumentiert. Als dann aber die konkrete Arbeitsverteilung ansteht, will der französische Chef, weil er nun mal der Ranghöhere, eben der Chef ist, zeigen, wer hier des letzte Wort hat bzw. wer bestimmt, was letztlich konkret umgesetzt wird. Auch während der drei Besprechungen hat der französische Chef Herrn Oswald ständig demonstriert, dass er das Sagen hat, denn er kam jedes Mal mit neuen Ideen in die Sitzungen, hat sie präsentiert und als Diskussi‐ onsgegenstände angeboten. Damit hat er vor sich selbst und vor Herrn Oswald seine Krea‐ tivität und seine visionären Fähigkeiten als Chef unter Beweis gestellt. Gerade die Tatsa‐ che, dass er die endgültige, nun in die Tat umzusetzende Variante der Arbeitsverteilung nicht mit Herrn Oswald abstimmt und ihn auch nicht informiert, zeigt, dass hier der Hier‐ archieunterschied den Ausschlag gibt. In Frankreich trifft der Chef immer die letzte Entscheidung und die muss er weder be‐ gründen noch seinen Untergebenen mitteilen. Die werden schon bald merken, was der Chef beschlossen hat. Eine gesonderte Mitteilung würde bedeuten, dass er sich auf das Niveau seiner Mitarbeiter herablässt, indem er ihren Wünschen nach Information entge‐ genkommt. Das aber hat ein französischer Chef gar nicht nötig.
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3. Lösungsstrategie: Herr Oswald tut gut daran, die somit ohne ihn, allein vom französischen Chef getroffene Entscheidung über die Arbeitsverteilung erst einmal zu akzeptieren. Unter der Hand kann er versuchen, die Regelung so aufzuweichen, dass er damit leben kann. Er kann auch zu einem späteren Zeitpunkt versuchen, Veränderungen in seinem Sinne herbeizuführen. Ganz falsch wäre es aber, wenn Herr Oswald seinen französischen Chef zur Rede stellen oder um eine Begründung nachsuchen würde. Das könnte von seinem französischen Chef als Beleidigung und Untergrabung seiner ihm zustehenden Autorität empfunden und entsprechend geahndet werden. 4. Französische Kulturstandards „Hierarchieorientierung“ und „Autoritätsorientierung“: In der Arbeit von Stefan Mayr und Alexander Thomas (2009) „Beruflich in Frankreich“ finden sich zu diesem Kulturstandards folgende Bemerkungen: „Die Unternehmensstruktur in Frankreich ist durch einen vertikalen, streng hierarchischen Aufbau gekennzeichnet. Dies führt dazu, dass die Führungsspitze in französischen Unter‐ nehmen als ferne und damit als äußerliche Autorität erlebt wird. Macht wird also grund‐ sätzlich als eine Instanz empfunden, die dem Individuum gegenübersteht, was sich wie folgt ausdrückt: Zum einen wird dem Chef bzw. dem Vorgesetzten in Frankreich alleine aufgrund seiner Stellung in der Hierarchie großer Respekt entgegengebracht, denn er verkörpert die Autorität. Auch seitens der Führungsverantwortlichen wird darauf geach‐ tet, den Status und die Distanz im Kontakt mit den Mitarbeitern zu wahren. Somit ergibt sich eine starke Trennung der verschiedenen hierarchischen Ebenen. Zum anderen nehmen Franzosen Autorität nur dann ernst und achten sie, wenn sie durch eine Person mit der entsprechenden hierarchischen Position auch tatsächlich im Hier und Jetzt repräsentiert und ausgeübt wird. Da Autorität in Frankreich vorwiegend als external erlebt wird, gibt es keinen besonderen Anlass, allgemeine Regeln oder Vorschriften einzu‐ halten. Vielmehr das Gegenteil ist zu beobachten. Bei der Zielerreichung werden derartige Bestimmungen eher als Einschränkungen und Hindernisse empfunden, die es möglichst elegant zu umgehen gilt. Die meisten französischen Unternehmen verfügen unabhängig von der Größe (...) über klare vertikale sowie starke hierarchische Strukturen. Der Aufbau der Unternehmensorga‐ nisation gleicht in der Form einer Pyramide, an deren Spitze der Generaldirektor steht. Von zentraler Bedeutung ist hierbei, dass die Entscheidungsmacht stark in dieser Füh‐ rungsspitze zentriert ist. Aufgrund seiner herausragenden Stellung wird der Generaldirek‐ tor oft als ‚Patron’ bezeichnet. Aus dem Selbstverständnis und der Erwartung an ihn als Führerpersönlichkeit, die eigene Visionen hat und diese umsetzen will, entscheidet er allein und selbstverantwortlich über die Unternehmensgeschicke. Aufgrund dieser hierar‐ chischen Struktur in französischen Betrieben müssen die meisten Entscheidungen erst die Führungsspitze durchlaufen, um in einem langen „Top‐down“‐Prozess zur Durchführung zu gelangen. Für den Generaldirektor ist es zudem wegen seiner autoritären Stellung selbstverständlich, direkt auf allen Unternehmensebenen einzugreifen.
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Um jederzeit bestens informiert und ständig auf dem Laufenden zu sein sowie entspre‐ chend fundierte und kompetente Entscheidungen treffen zu können, stützt er sich auf ein weit verzweigtes informelles Informations‐ und Beziehungsnetz, das er ständig pflegt. Dieses Verhalten ist ebenso auf den verschiedenen Ebenen der Unternehmenshierarchie anzutreffen. Meetings und Besprechungen werden in diesem Zusammenhang als Erweite‐ rung der informellen Kommunikation gesehen und dienen dem Sammeln von Informatio‐ nen, aber nicht notwendigerweise der Entscheidungsfindung. Entscheidungen werden vom französischen Chef beziehungsweise Vorgesetzten allein getroffen, und somit bleibt auch die Verantwortung bei ihnen“ (S. 87‐88). 5. Kulturelle Verankerung der Kulturstandards: „Eine zentrale Rolle kommt der Vereinheitlichung und Zentralisierung in Frankreich zu. Frankreich entwickelte sich bereits früh zum Nationalstaat mit starker zentralistischer Ausrichtung. Der Prozess der Einheitlichkeit vollzog sich vom Zentrum aus und vertiefte sich unabhängig von den jeweils herrschenden politischen Regimen, wobei auch der Zent‐ ralismus kontinuierlich verstärkt wurde. Zudem sei auf die besondere Stellung des höfi‐ schen Systems hingewiesen. Der absolutistische Königshof bildete das Zentrum dieser höflichen Gesellschaft, in der jeder Höfling aufgrund eines fehlerhaften Verhaltens gegen‐ über einem Ehrenträger der Staatsmacht seinen Rang in der Hierarchie verlieren konnte und somit völlig abhängig war. (...) Entsprechend der administrativ‐zentralistischen Elite im französischen Staat haben in französischen Unternehmen der Generaldirektor und die Vorgesetzten sämtliche Entscheidungsbefugnisse inne und entscheiden über den Gemein‐ willen. Daher liegt es in der Verantwortung dieser Elite beziehungsweise des Patron und nicht des Einzelnen, einen Konsens zwischen den Interessen der verschiedenen Individuen und Gruppen zu finden. Der Einzelne gibt die Verantwortung nach oben in die Hierarchie ab. Die Legitimität der Machtausübung sowie die damit verbundene Entscheidungsgewalt durch die französischen Manager (bzw. im Staate durch die Beamten) werden dabei durch ihre weitgehende Herkunft aus den Grandes Ecoles verstärkt. Trotz einiger Kritik findet die Elitebildung durch die Grandes Ecoles in der französischen Bevölkerung breite Akzep‐ tanz, da sie dem Prinzip der „Raison“ entspricht und durch einen höchst rationalen Selek‐ tionsmechanismus die zur Führung erforderliche Elite ausfiltert. Als weiterer Einflussfaktor für die Herausbildung der Autoritätsorientierung in Frankreich ist der Katholizismus zu nennen. (...) Durch die Prädestinationslehre der katholischen Kirche, in der jeder in der Gemeinschaft seinen ihm von Gott zugewiesenen Platz ein‐ nimmt, stürzte sie das System der höfischen Gesellschaft und bot somit eine Legitimati‐ onsgrundlage für die bestehende hierarchische Ordnung. Obwohl im Rahmen der franzö‐ sischen Aufklärung die Kirche als Stütze der königlichen Herrschaft als Erste angegriffen wurde und außerdem Kirche und Staat streng voneinander getrennt wurden, manifestier‐ ten sich die Werte des katholischen Traditionalismus in der französischen Bevölkerung weiterhin. (...) Der katholische Traditionalismus setzte sich in der französischen Gesell‐ schaft fest und wirkt bis in die Gegenwart hinein. Er stützt nicht nur die hierarchische Ordnung, sondern auch die ökonomische Passivität der Bürger und bildet somit die Basis für ein ausgeprägtes Autoritätsbewusstsein“ (S. 90‐91).
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4. Beispiel: „Die Zusage“ 1. Die kritische Interaktionssituation: Herr Schenk ist Projektleiter in einem deutsch‐indonesischen Joint Venture in Jakarta. Er berichtet, dass er einen Kunden hat, der regelmäßig mit Waren beliefert wird, deren Produktion durch den Firmenzusammenschluss nur unwesentlich verändert wurde. Da die indonesische Firma bereits vor dem Zusammenschluss gute Qualität produzierte, wurden auch nur wenige neue Maschinen aus Deutschland mitgebracht. Von einem in‐ donesischen Mitarbeiter bekam er nun die feste Zusage für einen bestimmten Lieferter‐ min für diese Waren und diesen gab er an den Kunden weiter. Leider war die Lieferung zum vereinbarten Termin aber nicht fertig. Das Gleiche passierte ihm ein zweites und ein drittes Mal. Mit der Zeit musste er lernen, dass mit 99 Prozent Sicherheit davon aus‐ zugehen ist, dass Zusagen seitens seiner Mitarbeiter nicht eingehalten wurden. Um Ent‐ schuldigungen waren die Mitarbeiter nie verlegen, entweder hat die Produktion nicht richtig funktioniert, weil sie mit den Neuerungen noch nicht richtig vertraut sind oder weil eine bestimmte Qualität vorgegebenen wurde, die sie nicht zu erreichen im Stande waren, sortierten sie die produzierte Ware so aus, dass die Effizienz hinterher nur noch bei 20 Prozent lag. Was Herr Schenk auch immer anstellte, ob er sie um eine realistische Zeiteinschätzung bis zur Fertigstellung der Lieferung bat oder ihnen mehr Zeit zur Er‐ ledigung der Aufträge ließ, immer gaben sie ihm eine positive Antwort, später aber tra‐ ten mit großer Regelmäßigkeit Lieferprobleme auf. Herr Schenk fragt sich, warum die indonesischen Mitarbeiter von ihnen gemachte Zu‐ sagen nicht einhalten. 2. Erläuterungen und Begründungen: Die indonesischen Mitarbeiter wissen genau, was ihre Maschinen leisten und welche Zei‐ ten benötigt werden, um bestimmte Waren in bestimmten Mengen herzustellen. Da Herr Schenk in seiner Funktion als deutscher Projektleiter ihnen aber Termine vorgibt, um die Kundenwünsche zu befriedigen, oder weil sie, wenn Herr Schenk sie nach Terminvor‐ schlägen fragt, genau wissen, in welchen Zeiträumen ihr Chef plant, stimmen sie allem zu, was er wünscht, um ihn zufriedenzustellen. „Traditionellerweise hängen indonesische Arbeiter in sehr umfassender Weise von ihrem Vorgesetzten und seinem Wohlwollen ihnen gegenüber ab. Nur das tun, was den Chef (bapak) glücklich macht (asal bapak senang), ist deshalb das oberste Prinzip indonesischer Angestellter gegenüber ihrem Vorgesetzten. Diese Haltung entspringt allein dem Wunsch, den Vorgesetzten nicht zu enttäuschen. Arbeits‐ und Terminzusagen erfolgen häufig, weil es unhöflich wäre, diese Zusagen einem Vorgesetzten gegenüber nicht zu geben. Generell gilt: Alles Unerfreuliche, Sorgen und Probleme werden möglichst nicht an ihn herangetra‐ gen“ (Martin/Thomas, 2002, S. 119). 3. Lösungsstrategie: „Um die Verlässlichkeit von Aussagen zu erhöhen, hat Herr Schenk mehrere Möglichkei‐ ten. Vor allem für ungelernte Arbeiter ist es wichtig, sich an konkreten praktischen Ar‐
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beitsanweisungen orientieren zu können. Dem sollte Herr Schenk entsprechen und auch den kleinsten Schritt haargenau erklären. Wenn nötig, sollten die Arbeitsgänge auch vor‐ geführt und das Erklärte noch einmal in schriftlicher Form zum Nachlesen hinterlassen werden. Um sicherzugehen, dass er verstanden wurde, sollte er die auszuführenden Ar‐ beiten immer wieder kontrollieren, ob sie richtig und ob sie überhaupt ausgeführt wurden. Arbeitsanweisungen und Erklärungen von ausländischen Führungskräften werden meist in englischer Sprache gegeben und häufig sprechen sie schnell oder mit Akzent und besser als der indonesische Partner, mit der Konsequenz, dass der Indonesier den Erklärungen nicht folgen kann. Dieser wird aber nicht darum bitten, langsamer zu sprechen, oder zu‐ geben, dass er nichts verstanden hat. (...) Herr Schenk sollte deshalb langsam, deutlich und mit ruhiger Stimme sprechen, in manchen Fällen in einfachen Worten. Der Vorgesetzte kann die Motivation und damit die Wahrscheinlichkeit, dass eine Aufga‐ be auch rechtzeitig erledigt wird, erhöhen, wenn er betont, wie wichtig ihm persönlich diese Sache ist. Tut er dies nicht, ist dies ein Signal, dass diese Arbeit nicht so dringlich ist, und sie bleibt liegen. Das adäquate Mittel, um wichtigen Angelegenheiten Bedeutung und Nachdruck zu verleihen und ihre Erledigung voranzutreiben und sicherzustellen, sind auch hier häufige persönliche Nachfragen und Kontrolle. Sie sollten in freundschaftlicher Art und Weise erfolgen, so dass sie nicht negativ erlebt, sondern als Interesse an der Arbeit gedeutet werden, was auch die Motivation erhöht. Auch die Belohnung, und das bedeutet für den Mitarbeiter auch die Wahrnehmung von Leistung durch sowohl materielle als auch immaterielle Anerkennung, ist in diesem Zusammenhang wichtig. Wenn Herr Schenk seine Mitarbeiter dazu bringen möchte, dass sie ihm auch „schlechte“ Nachrichten weiterleiten, ist dies wahrscheinlich ein langwieriger, aber keineswegs aus‐ sichtsloser Prozess. Er sollte seine Vorstellungen allen Mitarbeitern erklären und das er‐ forderliche Vertrauen dafür aufbauen. Günstig ist es, seine Tür offenzuhalten und seinen Mitarbeitern gegenüber freundliche Gesprächsbereitschaft zu signalisieren. Aufgrund der Indirektheit indonesischer Kommunikation und dem Bestreben, unter allen Umständen die Harmonie zu wahren, muss er dabei beachten, dass schlechte Botschaften, wie etwa Probleme und Schwierigkeiten, häufig sehr geschickt zwischen positive Nachrichten ver‐ packt werden. Auch in diesem Fall ist es möglich, dass ihm auf die eine oder andere Weise vielleicht schon mitgeteilt wurde, dass es Probleme in der Produktion gibt, er dies aber nicht verstanden hat. Weil ihm als Vorgesetzten, zumindest offiziell, nur positive Nachrichten zugetragen wer‐ den, ist es in einem indonesischen Unternehmen sehr wichtig, auch die informellen Kanäle zu kennen und auf diesem Weg an Informationen zu gelangen. (...) Die stark hierarchisch geprägten Umgangsformen in indonesischen Unternehmen verstär‐ ken zusätzlich das Problem von Informationsblockaden. Die hohe Statusorientierung und dadurch bedingtes förmliches Verhalten verhindern vielfach eine vertrauensvolle und enge Zusammenarbeit. Die Folge sind oft schwerfällige und ineffektive Kommunikations‐ prozesse. Zwischen unterschiedlichen Hierarchieebenen finden kaum Diskussionen statt. Anweisungen der höheren Ebene werden fraglos ausgeführt. Dies etwas abzuschwächen
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ist sicher von Vorteil, sollte aber nicht übertrieben werden; mit einem allzu kumpelhaften Vorgesetzten können die Mitarbeiter meist auch nicht umgehen. Sich in die Rolle eines guten wohlwollenden und verständnisvollen Vaters hineinzuversetzen, kann hierbei sinn‐ voll sein. Schließlich gibt es auch die Möglichkeit, mit Vermittlern zu arbeiten. Häufig sind sie das sicherste Informationssystem des Betriebs und wissen so meist auch als Erste, wenn es irgendwo Probleme gibt“ (S. 120‐122). 4. Indonesischer Kulturstandard „Paternalismus“: „In nach westlichem Muster aufgebauten Organisationen sind Macht, Entscheidungsbe‐ fugnis und Kompetenz durch eine weitreichende Dezentralisation und Delegation auf viele Personen verteilt. Personenunabhängige Strukturen, Grundsätze und Regeln be‐ stimmen das Unternehmensgeschehen. Im Gegensatz dazu ist Macht in Indonesien sehr stark personenbezogen. Das Image einer starken Führungspersönlichkeit kann das einer bekannten Firma in den Schatten stellen. Analog der hierarchisch gegliederten, am Fami‐ lienprinzip orientierten indonesischen Gesellschaft gleicht auch der Aufbau eines indone‐ sischen Unternehmens einer Pyramide. Wie das Verhältnis des Bürgers zum Staat, ist das Verhältnis des Arbeitnehmers zum Arbeitgeber. Der Vorgesetzte ist in Personalunion Patriarch mit der ausschließlichen Entscheidungsbefugnis und guter Vater, der für seine Angestellten sorgt. Die Position des Angestellten in der Hierarchie der Mitarbeiter ähnelt in diesem System dem Kind in der Familie. Nach diesem Konzept wird von den Unter‐ nehmern erwartet, dass sie ihre Beschäftigten nicht als bloße Arbeitskräfte behandeln, sondern sich in umfassender Weise für sie verantwortlich zeigen. Sie übernehmen Fürsor‐ geleistungen, die nach westlichem Verständnis durchaus auch den privaten Lebensbereich der Beschäftigten betreffen“ (S. 123). 5. Konsequenzen für deutsche Fach‐ und Führungskräfte: Die vier hier geschilderten kulturell bedingt kritischen Interaktionssituationen im Kontext von „Hierarchiemanagement“ haben gezeigt, wie vielschichtig das Themenspektrum ist. Klassen‐ und Statusstrukturen, Autoritätsorientierung und Paternalismus sind nur einige, hier durch Beispiele belegte Varianten des Hierarchiemanagements. Auffallend ist auch, dass nicht nur in „traditionellen“ Kulturen wie Indonesien und Chile, sondern auch in europäischen Industriekulturen, wie am Beispiel Frankreich gezeigt, Hierarchiemanage‐ ment eine so wichtige Rolle spielt, dass deutsche Fach‐ und Führungskräfte im Arbeitsall‐ tag mit ihren Folgen zu tun haben. In jüngster Zeit wird das, was in den hier analysierten vier Beispielen unter der Thematik Hierarchiemanagement abgehandelt wird, unter dem viel weiter gefassten Begriff „Soziale Dominanz“ behandelt (Zick/Küpper, 2006). Soziale Dominanz wird dabei definiert als das Ausmaß, in dem Individuen an der Herrschaft durch überlegene Gruppen gegenüber unterlegenen Gruppen interessiert sind und dieses Ungleichgewicht an Macht stützen. „Gesellschaften bilden hierarchisch geordnete Statussysteme aus, die festlegen, welche Gruppen dominant und welche untergeordnet sind. Diese Statuspositionen entscheiden über Einfluss, Handlungsmöglichkeiten, materielle und soziale Ressourcen einer Gruppe. Das südafrikanische Apartheidsystem, das indische Kastensystem, Klassensysteme wie in
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Großbritannien und die Unterscheidung zwischen einheimischen und Ausländern sind Beispiele gesellschaftlich verankerter Statussysteme. Solche gruppenbasierten Hierarchien sind die Quelle von Macht und Herrschaft, Ausgrenzung und Konflikt“ (Zick/Küpper 2006, S. 75). Inzwischen wurde eine Theorie der sozialen Dominanz entwickelt, die davon ausgeht, dass es in allen Gesellschaften drei verschiedene Schichtsysteme gibt, in denen gruppenba‐ sierte soziale Hierarchien ausgebildet werden: 1. Altersgruppierungen, 2. Geschlechter‐ gruppierungen und 3. Gesellschaftliche Gruppierungen. Welche soziale Dominanzorien‐ tierung eine Person favorisiert, hängt ab vom Geschlecht, der im Verlauf der individuellen Biografie erfahrenen Sozialisation, deren Gruppenstatus und von individuellen Merkma‐ len. Zur Rechtfertigung bestehender Status‐ und Hierarchieunterschiede bilden die einzel‐ nen Gesellschaften im Laufe ihrer geschichtlichen Entwicklung so genannte legitimierende Mythen aus. So bestimmen legitimierende Mythen beispielsweise, dass eine Person nur die Position in einer Hierarchie einnimmt, die ihr zusteht, und bieten damit gleichzeitig die Legitimation für gleiche und ungleiche Ressourcen‐ und Machtverteilungen. Personen mit einem hohen Maß an sozialer Dominanzorientierung befürworten solche hierarchiestär‐ kenden Mythen, wohingegen Personen mit niedriger sozialer Dominanzorientierung hier‐ archieschwächende Mythen bevorzugen. Auch im Rahmen von Unternehmenskulturen werden solche Mythen ausgebildet, z. B. wenn festgelegt wird, dass nur derjenige etwas zu sagen hat, der einen akademischen Grad besitzt, der messbare, geldwerte Leistungen vor‐ zuweisen hat, der über langjährige Praxiserfahrung verfügt oder der schon viele Unter‐ nehmenskrisen erfolgreich gemeistert hat etc. Solche, Statusunterschiede legitimierende, Mythen, können sowohl von statushöheren wie auch von statusniedrigen Personen und Personengruppen akzeptiert und gestützt werden. Vergleicht man die unterschiedlichen kulturellen Verankerungen der in den oben dargestellten Beispielen handlungswirksam werdenden Kulturstandards, dann wird deutlich, dass Statusunterschiede legitimierende Mythen in sehr unterschiedlicher Weise in den jeweiligen Kulturen ausgebildet werden und damit das interaktive interpersonale Handeln nachhaltig beeinflussen. Der Umgang mit sozialer Dominanz auf der Grundlage unterschiedlicher Hierarchieebenen und der sie stützenden legitimen Mythen erfordert von deutschen Fach‐ und Führungskräften im Auslandseinsatz relativ genaue Kenntnisse darüber, welches Ausmaß an sozialer Domi‐ nanz für das Verhalten ihrer ausländischen Partner ausschlaggebend ist und wie soziale Dominanz im Verhalten wirksam wird. Schon die Wahl der Sprache, in der Verhandlungspartner miteinander kommunizieren, kann unerwünschte Dominanzunterschiede hervorbringen, ohne dass sich die Verhand‐ lungspartner dessen bewusst sind. Wenn beispielsweise in Geschäftsverhandlungen Wert darauf gelegt wird, dass der deutsche und der ausländische Verhandlungspartner auf gleicher Augenhöhe verhandeln, also ein möglichst ausgeglichenes Macht‐ und sozialen Einfluss ausübendes interpersonales Gefüge zustande kommt, dann ist Folgendes zu be‐ achten: Wenn beide Partner neben ihrer Muttersprache über Kenntnisse der englischen Sprache verfügen, dann wäre es durchaus vernünftig, in der inzwischen zur Lingua Franca entwickelten englischen Sprache zu kommunizieren. Es könnte aber sein, dass einer der Partner, z. B. der asiatische Geschäftspartner, glaubt, sein deutscher Verhandlungspartner
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verfüge über bessere Englischkenntnisse als er, dann wird er sich ihm zwar zunächst ein‐ mal sprachlich, aber womöglich auch darüber hinaus unterlegen fühlen und den Deut‐ schen von vorneherein als ihm überlegen ansehen. Damit ist nicht über die tatsächlich vorhandene Fremdsprachenkompetenz, sondern allein über die reinen Vermutungen über die Fremdsprachenkompetenz des Partners eine Macht‐ und soziale Einflussasymmetrie entstanden, obwohl genau dies vermieden werden sollte. Die Kommunikation mithilfe eines kompetenten Dolmetschers kann in einem solchen Fall hilfreich sein, um dem Wunsch nach Verhandlungen auf gleicher Augenhöhe entsprechen zu können. Dabei ist aber nicht ausgeschlossen, dass der asiatische Geschäftspartner seinen deutschen Verhand‐ lungspartner auch schon allein aufgrund seiner Herkunft, nämlich klassifiziert als Westler, Europäer, aus einem hoch industrialisierten Land stammend und über unbegrenzte finan‐ zielle Ressourcen und Know‐how verfügend, als ihm überlegen einschätzt. Damit sind dann gleichsam automatisch bestimmte Vorsichtsmaßnahmen, ein gewisses Maß an Re‐ serviertheit, Unsicherheit, Minderwertigkeit etc. oder genau das Gegenteil, nämlich Über‐ heblichkeit, Arroganz, Aggressivität, Dominanz etc. verbunden. Von entscheidender Bedeutung für deutsche Fach‐ und Führungskräfte im Auslandsein‐ satz im Zusammenhang mit Hierarchiemanagement sind gute Kenntnisse über die in der jeweiligen Zielkultur vorherrschenden handlungswirksamen Hierarchien, die Ausprägung sozialer Dominanz auf den verschiedenen Hierarchieebenen sowie die Wirksamkeit legi‐ timierender Mythen. Weiterhin sind die kulturspezifischen Faktoren zu beachten, die daran beteiligt sind, dass meist unbemerkt asymmetrische Macht‐ und soziale Einfluss‐ Beziehungen entstehen.
Weiterführende Literatur: Müller, S./Gelbrich, K. (2003): Kultur als Einflussfaktor internationaler Managemententscheidungen. Das sozio‐kulturelle Profil Indiens, in: Bergemann, N./Sourisseaux, A. L. J. (Hrsg.), Interkulturelles Management, 3. Aufl., Berlin, S. 467‐490. Witte, E. H. (2006): Macht, in: Bierhoff, H.‐W. (Hrsg.), Handbuch der Sozialpsychologie und Kommu‐ nikationspsychologie, Göttingen, S. 629‐637. Yukl, G. (2005): Leadership in organizations, 6th ed., Upper Saddle River, NJ.
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Während von außen betrachtet für viele Menschen aus anderen Kulturen Europa und besonders Deutschland vom Christentum geprägt ist und Deutschland für sie als Zentrum der Glaubensspaltung in Katholizismus und Protestantismus bekannt ist, sind hierzulande Glaube und Religion kein Thema des öffentlichen Diskurses mehr, sondern intime Privat‐ sache jedes Einzelnen. Über Sex, ein Thema, das in vielen Kulturen mit Tabus belegt ist, unterhält man sich offener und ungehemmter als über eigene religiöse Orientierungen und Standpunkte. Das gilt, von den theologischen Fakultäten deutscher Hochschulen abgese‐ hen, auch für die Wissenschaften und deren Vertreter. So blickt beispielsweise die Religi‐ onspsychologie als Teilgebiet der Angewandten Psychologie auf eine über 100 Jahre lange Tradition zurück, doch spielt sie eher in Verbindung mit der Pastoraltheologie eine Rolle, nicht aber in der Psychologie. So findet sich in Deutschland kein einziger Lehrstuhl zu Religionspsychologie und in den meisten Lehrbüchern der Psychologie taucht der Begrif Religion oder religiöse Orientierung nicht einmal im Stichwortverzeichnis auf. In den Bereichen Wirtschaft, Recht und Politik wird zwar viel über Ethik und Moral, gute Unter‐ nehmens‐ und Staatsführung (Good Government) etc. diskutiert, selten aber über die ih‐ nen zugrunde liegenden christlich‐religiösen Wurzeln. In der kulturvergleichenden und interkulturellen Forschung ebenso wie in der einschlägigen internationalen Trainingslite‐ ratur wird der Begriff Religion überhaupt nicht erwähnt und noch weniger als relevantes Thema behandelt. Dabei sind religiöse Orientierungen immer und überall auf der Welt Teil der Kultur und damit ein Teil der spezifischen kulturellen Orientierungssysteme, die das Wahrnehmen, Denken, Empfinden und Handeln der Menschen bestimmen. Eine Aus‐ nahme bildet die drei Bände umfassende Publikation „Kulturvergleichende Psychologie“ in der Reihe „Enzyklopädie der Psychologie“ (Trommsdorff/Kornadt, 2007), die im Band 1 „Theorien und Methoden der kulturvergleichenden Psychologie“ einen Beitrag „Zur kul‐ turpsychologischen Relevanz von Religionen und Weltanschauungen“ und zu „Religiosi‐ tät und Spiritualität im Kulturvergleich“ (Bucher/Oser/Reich, 2007; Chakkarath, 2007) enthält. Ein anschauliches Beispiel der Handlungsrelevanz religiöser Orientierung liefert die fol‐ gende Zeitungsnotiz vom 13.08.2003 (FAZ, S. 7), die man in dieser oder ähnlicher Formu‐ lierung immer wieder einmal findet: „Nach herrschendem Aberglauben muss sich der thailändische Verkehrsminister über Unglück auf allen Wegen künftig keine Gedanken mehr machen. Für umgerechnet 84400 Euro ersteigerte Suriya Jungrungreangkit bei einer staatlichen Internetauktion ein Autokennzeichen mit der Nummer ‚9999’, die als Glücksbringer gilt. Gleich danach sei‐ en die Nummern ‚5555’ und ‚8888’ bei den Bietern am begehrtesten gewesen, meldet ‚The Nation’ am Dienstag. Beide fanden jeweils für rund 42000 Euro einen neuen Besit‐ zer. Das Geld geht an eine Stiftung für Verkehrssicherheit. (dpa)“ Vielen bekannt, da oft als Kuriosität berichtet, ist auch die Tatsache, dass in Ostasien Wohnhäuser, aber auch moderne Hochausbauten nach Feng‐Shui‐Regeln gebaut und
A. Thomas, Interkulturelle Handlungskompetenz, DOI 10.1007/978-3-8349-6880-7_15,
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wieder abgerissen werden, wenn sie die erhoffte Sicherheit und Wohlbefindlichkeit nicht gewährleisten. In vielen afrikanischen Ländern ist es durchaus üblich, dass Patienten, die in Missionskrankenhäusern nach westlichen medizinischen Standards behandelt werden, sich auch noch der Hilfe einheimischer Schamanen und Geistheiler bedienen, um so mehr Sicherheit und Unterstützung für den Heilungsprozess zu haben. Auch unabhängig von der zunehmenden Bedeutung, die dem Islam in den vergangenen Jahrzehnten aus sehr unterschiedlichen, hier nicht näher zu behandelnden Gründen ent‐ gegengebracht wurde und wird, spielen religiöse Orientierungen für die überwiegende Mehrzahl der Menschen auf dieser Welt eine wichtige Rolle, um beschützt und in Sicher‐ heit glücklich leben zu können. Unter diesen Gesichtspunkten ist es nicht abwegig, interreligiöse Kompetenz als einen wichtigen Teil der interkulturellen Kompetenz anzusehen. Fach‐ und Führungskräfte, die über die Handlungswirksamkeit der religiösen Orientierungen ihrer Partner nicht infor‐ miert sind, sie ignorieren oder glauben, im Geschäftsleben spielten sie keine Rolle, laufen Gefahr, wichtige kulturelle Erfolgsfaktoren in der Kooperation zu übersehen.
1. Beispiel: „Das Wiederaufforstungsprogramm“ 1. Die kritische Interaktionssituation: Herr Müller war als Experte für eine deutsche Entwicklungshilfeorganisation seit Jahren mit der Wiederaufforstung vormals bewaldeter, nunmehr seit Jahrzehnten verkarsteter und brachliegender Flächen in Afghanistan beschäftigt. Er berichtet: Technisch ist die Wiederaufforstung kein Problem. Man gräbt ein Loch, setzt einen Setz‐ ling ein, häuft die Erde an, bewässert, solange bis die Wurzeln gegriffen haben, und überlässt den Rest dem natürlichen Wachstum. Nach 30 bis 40 Jahren hat man je nach Baumart schon einen ansehnlichen Wald. Da in diesem Gebiet die Stammesführer das Sagen haben und nicht die Zentralregierung, muss jedes Aufforstungsprogramm von ihnen genehmigt werden, einschließlich der Anforderung von Arbeitskräften. Das ist zwar aufwändig, aber eine unbedingte Voraussetzung, damit das Projekt gelingt. Was ich aber nicht verstehe, ist, warum es immer wieder vorkommt, dass nach kurzer Zeit viele der inzwischen herangewachsenen kleinen Stämme einfach abgesägt, als Brenn‐ holz auf dem einheimischen Markt verkauft werden. Und damit alles zunichte gemacht wird. Wir können doch nicht jede neue Anpflanzung einzäunen! 2. Erläuterungen und Begründungen: 1. Die Menschen in den umliegenden Dörfern verstehen die Zusammenhänge zwi‐ schen Wiederaufforstung, Klimaveränderung sowie Bodennutzung nicht. Für sie ist die Aufforstung nur so lange sinnvoll, wie sie an dem Projekt mitarbeiten und da‐ für bezahlt werden, aber langfristig macht das Ganze für sie keinen Sinn. 2. Die Bevölkerung ist so arm, dass sie das kostenlos gewonnene Holz zum Kochen verwendet. So kann sie Geld sparen.
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3. In einer traditionellen Stammesgesellschaft stoßen von außen initiierte Verände‐ rungen immer auf Widerstand. 4. Menschen aus den umliegenden Dörfern, die nicht als Arbeiter an dem Wiederauf‐ forstungsprogramm verdienen konnten, holen sich auf diese Weise ihren Anteil am Gewinn. 5. All diese Begründungen haben eine gewisse Berechtigung und verstärken sich womöglich gegenseitig. Wer kann es sich schon unter den erbärmlichen Lebensbe‐ dingungen der Landbevölkerung leisten, 30 bis 40 Jahre zu warten, bis die Auffors‐ tung einen Gewinn bringt, der zudem noch unsicher ist? Gibt es überhaupt einen Weg, der garantiert, dass das Entwicklungshilfeprojekt Erfolg haben kann? Wie könnte ein solcher Weg aussehen und was müsste dazu getan werden? 3. Erläuterungen und Begründungen: Die Lebensverhältnisse einerseits und das Aufforstungsprogramm andererseits sind so beschaffen, dass mit Aufklärung der lokalen Bevölkerung über Zusammenhänge zwischen Aufforstung, Bewaldung, Wetterveränderungen, erhöhten Niederschlagsmengen, Boden‐ haftung und der Vermeidung von Bodenerosion sowie der Gewinnung von Agrarland in 30 bis 40 Jahren nichts zu erreichen ist. Auch mit Verboten oder Strafen für das Abholzen der Stämme, selbst dann, wenn die Stammesführer Herrn Müller dabei unterstützten, würde die Anpflanzung auf Dauer nicht zu retten sein. In den Augen der Einwohner ist der kurzfristig gesicherte Gewinn immer höherwertiger als der eventuell langfristige Nutzen. Nun ist aber die afghanische Kultur geprägt von einem traditionellen Islam, der alle As‐ pekte des Lebens der Gläubigen umfasst und beeinflusst. Herr Müller könnte also erkun‐ den, ob es im Koran Hinweise darauf gibt, dass es Allahs Wille ist, die Natur zu schützen und, falls sie beschädigt wurde, wiederherzustellen. Er würde dann auf folgende Quellen stoßen:
■ Koran Sure Nr. 6, Vers 20: „Habt ihr denn nicht gesehen, dass Allah euch alles dienst‐
bar gemacht hat, was in dem Himmel und was auf der Erde ist, (das Er) seine Wohlta‐ ten reichlich über euch ergossen hatte – in sichtbarer und unsichtbarer Weise? Und doch gibt es unter den Menschen so manchen, der ohne Kenntnis und ohne Führung und ohne ein erleuchtendes Buch (zu besitzen) über Allah streitet.“
■ Koran Sure Nr. 6, Vers 99: „ Und Er ist es, Der aus dem Himmel, Wasser nieder sendet,
damit bringen wir alle Arten von Pflanzen hervor; mit diesen bringen die dann Grünes hervor, woraus wir Korn in Reihen sprießen lassen und aus der Dattelpalme, aus ihren Blütendolden, (sprießen) niederhängende Datteltrauben und Gärten mit Beeren und Oliven‐ und Granatapfel‐(Bäume) – einander ähnlich oder nicht ähnlich. Betrachtet ihre Frucht, wenn sie Früchte tragen und ihr Reifen. Wahrlich, hierin sind Zeichen für Leu‐ te, die glauben.“
■ Koran Sure Nr. 16, Vers 10‐11: „Er ist es, Der Wasser aus den Wolken hernieder sendet; davon habt ihr zu trinken und davon wachsen die Büsche, an denen Er (euer Vieh) weiden lässt. Damit lässt Er für euch Korn sprießen und den Ölbaum und die Dattel‐ palme und die Trauben und Früchte aller Art. Wahrlich, darin liegt ein Zeichen für nachdenkende Leute.“
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Hinzu kommen noch Aussprüche und Taten des Propheten Mohammed, die Hadid ge‐ nannt werden. Zudem wird ein im Islam verbreitetes Hima‐ und Harim‐System, besonders im Zusammenhang mit der Schaffung von Schutzgebieten für die Umwelt, von wichtigen Islamgelehrten diskutiert. Nach diesem System ist Raubbau wider die Natur und gegen Allahs Wille und deshalb verwerflich. Für Herrn Müller wäre es also durchaus möglich, mithilfe der örtlichen Geistlichkeit und natürlich der Stammesältesten auf der Basis der Aussagen im Koran ein solches Harim‐ System einzuführen. Er müsste darauf achten, dass die örtliche Geistlichkeit von seinem Wiederaufforstungsprogramm überzeugt ist und darin so etwas wie Allahs Wille wieder‐ erkennen kann. Über sie könnte er dann erreichen, dass die Bevölkerung die Anpflanzun‐ gen unter ihren Schutz nimmt und als Allahs Wille betrachtet. Damit wäre das Projekt kein Eingriff von außen mehr, mit dem so recht niemand etwas anfangen kann, sondern die Erfüllung des Willens der überirdischen Macht, an die die Bevölkerung glaubt. Niemand würde es mehr wagen, sich den entsprechenden Anordnungen zu widersetzen. Die Einbe‐ ziehung dieses Entwicklungsprojekts in die religiösen Orientierungen der afghanischen Bevölkerung könnte seinen langfristigen Bestand und zugleich die bedingungslose Zu‐ stimmung aller Beteiligten an dem Projekt garantieren. Dazu bedarf es aber seitens der in der Entwicklungszusammenarbeit tätigen Fach‐ und Führungskräfte eines hohen Maßes an Kenntnis und Sensibilität für die im Zielland vorherrschenden religiösen Orientierungen.
2. Beispiel: „Fertigungshalle in Thailand“ 1. Die kritische Interaktionssituation: Das Management eines mittelständischen deutschen Unternehmens hat sich entschlos‐ sen, einen Produktionsstandort in Thailand zu eröffnen. Durch einen thailändischen Mittelsmann wird dem Unternehmen ein Grundstück etwa 50 Kilometer außerhalb Bangkoks an einer sechsspurigen Autobahntrasse, die den Flughafen mit der Innenstadt verbindet, zum Kauf angeboten. Die Firma erwirbt das Grundstück und beabsichtigt, dort eine Produktionshalle von 1000 Quadatmetern zu errichten. Wegen der besonders schweren Maschinen, die zudem noch vibrationsfrei installiert werden müssen, sind umfangreiche Erd‐ und Fundamentierungsarbeiten erforderlich. Der deutsche Manager, der die zu beginnenden Bauarbeiten begleiten und leiten soll, hat an einem interkulturellen Sensibilisierungstraining teilgenommen, in dem ihm die Bedeutung von kulturbedingten Einflussfaktoren auf das Denken, Empfinden und Handeln der Menschen und insbesondere die Problematik interkultureller Zusammen‐ arbeit vermittelt wurde. Anhand einschlägiger Literatur über die Geschichte, Kultur und Religion (Therawada‐Buddhismus) hat er sich auf seinen Auslandseinsatz in Thai‐ land vorbereitet. Er weiß, dass die Thais ein sehr enges Verhältnis zur Natur pflegen und in einer kosmologischen Gesamtschau sich selbst als Teil der Natur empfinden. Die Natur ist nicht leblos, sondern beseelt von guten und bösen Geistern, die in Bäumen, Flüssen, Bergen, Hügeln, Wäldern, Steinen usw. wohnen, denen man opfern muss, um sie zu besänftigen und ihr Wohlwollen zu erlangen, und die man auf keinen Fall in ih‐ ren jeweiligen Zuständen unnötig stören darf. Der deutsche Manager weiß, dass durch
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den Bau der Fabrikationshalle und durch die umfangreichen Fundamentierungen nach Auffassung der Thais die Wohnungen der Erdgeister zerstört werden, und sie, falls man ihnen keine adäquate Ersatzwohnung anbietet, schädliche Einflüsse auf das Bauvorha‐ ben und das Leben der daran beteiligten Menschen ausüben können und werden. Aus diesem Wissen heraus sucht er, bevor der erste Spatenstich erfolgt, den Rat eines orts‐ kundigen Priesters, um zu erfahren, wie er vorgehen sollte, um keine bösen Überra‐ schungen zu erleben. Schließlich errichtet er am Rande des Grundstücks in einer dafür geeigneten Ecke unter schattenspendenden Bäumen ein traditionelles thailändisches Geisterhaus, in dem vom Augenblick der ersten Baumaßnahme an täglich Opfergaben dargebracht werden, fri‐ sches Wasser hingestellt wird und alles nach traditionellen Regeln darangesetzt wird, die Erdgeister zu bewegen, dort Platz zu nehmen und sich häuslich einzurichten. Nachdem er mit den Bauleuten Richtfest nach deutscher Tradition gefeiert hat, erfährt er, dass die thailändischen Handwerker und Bauunternehmer, die das Gebäude errich‐ tet haben, überrascht und überglücklich darüber waren, dass der deutsche Manager mit der Errichtung des Geisterhauses so sehr für das Wohlergehen seiner thailändischen Mitarbeiter gesorgt hat, dass sie mit besonderer Freude und Motivation auf dieser Bau‐ stelle gearbeitet haben. Die entsprechenden thailändischen Subunternehmer waren selbst überrascht von dem Arbeitseinsatz ihrer Mitarbeiter. Niemand der bisherigen ausländischen Bauherren, so wurde ihm berichtet, habe auch nur einen einzigen Gedan‐ ken darauf verschwendet, dieser thailändischen Tradition der Geisterverehrung Folge zu leisten. Selbst vorsichtige Hinweise seitens der Bauunternehmer wären nur auf Un‐ verständnis und Ablehnung gestoßen. Man habe immer mit Widerwillen, aber noch vielmehr mit Angst vor den Folgen, die von den aus ihrer Ruhe gebrachten Erdgeistern ausgehen könnten, auf den Baustellen von Ausländern gearbeitet. Der deutsche Firmenvertreter freut sich über diese positive Reaktion und nimmt sich vor, zukünftig bei allen Auslandseinsätzen sich nicht nur um die materiellen Aspekte, sondern auch um die spirituellen Aspekte, die sein Handeln in einer fremden Kultur be‐ rührt, zu achten. 2. Erläuterungen und Begründungen: Der deutsche Manager hat nicht nur ein kulturspezifisches Training in Bezug auf Thailand absolviert und sich im Zuge der Aneignung landeskundlichen Wissens mit dem Theravada‐Buddhismus und den naturreligiösen Vorstellungen der Thais befasst, sondern daraus auch für das Bauvorhaben die notwendigen Konsequenzen gezogen. Das sind keineswegs Selbstverständlichkeiten, denn immerhin kosten die Erstellung und ein dauer‐ hafter Unterhalt des Geisterhauses Geld. Für den Atheisten ist das Geldverschwendung, für den Christen ist es Aberglaube gespeist aus vermeintlichen Abhängigkeiten von Geis‐ tern, denen keine objektive Gegebenheiten zugrunde liegen. Allenfalls das Gebot der christlichen Nächstenliebe könnte es gerechtfertigt erscheinen lassen, zum Wohlergehen der Bauleute und der zukünftigen Bewohner und ihrer Familien ein Geisterhaus zu errich‐ ten. Aber eigentlich müsste alles daran gesetzt werden, durch „Aufklärung“ die Thais von diesen Zwängen zu befreien.
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An keiner Stelle wird in diesem Beispiel erwähnt, ob der deutsche Manager der katholi‐ schen oder protestantischen Glaubensgemeinschaft angehört und ob er überhaupt ein gläubiger Christ ist. Seine Sensibilität für die religiösen Orientierungen seiner thailändi‐ schen Partner ist entstanden aus dem Bemühen, die kulturellen und das bedeutet auch die religiösen Orientierungen seiner Kooperationspartner zu verstehen, zu würdigen und schließlich einer Wertschätzung zu unterziehen. Dies alles zusammen hat dann zu den für alle beteiligten Personen so erfolgreichen und zufriedenstellenden Schritten geführt (Grotzke/Kleff/Thomas, 2008).
3. Beispiel: Prioritätensetzung 1. Kritische Interaktionssituation: Herr Kunert ist als Journalist zuständig für die gesamte südostasiatische Region. Er macht die Erfahrung, dass das Angewiesensein auf indonesische Mitarbeiter, allein durch deren völlig anderen Lebensrhythmus, zum Problem werden kann. Er berichtet: „Der Arbeitsrhythmus ist unterbrochen von Gebeten mehrmals am Tag, dann kommen der Ramadan und die vielen religiösen Feiertage. Wenn es dann manchmal wichtig wä‐ re, eine dringende Arbeit noch zu erledigen, müssen sie gerade dann zum Gebet oder bei der Familie bleiben und können nicht arbeiten. Am Freitag vor einer Woche zum Beispiel ging es darum, eine wichtige Meldung herauszugeben und schneller zu sein als die britische oder französische Konkurrenz. Wir wollten uns um 1.00 Uhr treffen, aber es wurde 1.30 Uhr, dann kam ein Lächeln und eine Entschuldigung, sie müssten zum Ge‐ bet, und das war es dann. Ihre religiösen Verpflichtungen gingen wieder einmal vor. Dagegen kommt man nicht an. Die einheimischen Mitarbeiter hatten überhaupt kein Verständnis dafür, wie wichtig es für uns war, dass diese Arbeit auch erledigt wird. Was für uns wichtig erscheint, ist für die Leute hier teilweise völlig unwichtig“ (Mar‐ tin/Thomas, 2002, S. 21‐22). 2. Erläuterungen und Begründungen: In Indonesien hat die Religion auch im alltäglichen Verhalten absoluten Vorrang. „Die sichtbare Welt ist nur Ausdruck der dahinter liegenden, alles verursachenden göttlichen Welt. Der Mensch wie alles Geschaffene ist ein Teil des Göttlichen, das sich für einen kur‐ zen Zeitraum materialisiert hat. Diese Vorstellung ist weit verbreitet, religionsübergreifend und im Denken allgegenwärtig. Im Leben sehr vieler Indonesier hat die Religion deshalb höchste Priorität, und den religiösen Verpflichtungen wird in den allermeisten Fällen nachgegangen. Sie bleibt dabei kein abgegrenzter Bereich im Leben, sondern betrifft alle Bereiche des täglichen Lebens, somit auch den Berufsalltag. (...) Obgleich alle großen Welt‐ religionen vertreten sind, wirkt die Ausübung der religiösen Pflichten des Islam besonders augenfällig in den Geschäftsalltag hinein. Die Mehrzahl der Indonesier gehört dem Islam an. Moslems beten etwa fünfmal am Tag. Dann können keine Arbeiten verrichtet werden, das ist moslemischen Kollegen gesetzlich verbrieft. Insbesondere am Freitagmittag kann es vorkommen, dass das Büro leer ist. Freitag ist der heilige Tag, an dem jeder männliche Muslim seine Gebete in einer Moschee verrichteten soll „ (S. 23‐24).
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3. Lösungsstrategie: „Idealerweise hätte Herr Kunert schon bei der Zeit‐ und Personalplanung beachten sollen, dass Muslime in Indonesien während der Gebetszeiten nicht verfügbar sind. Wenn, wie in seinem Pressebüro, regelmäßig außerplanmäßig und unregelmäßig gearbeitet werden muss, sollte er sich bereits bei der Vergabe der Position überlegen, ob und wie die Aus‐ übung der religiösen Pflichten der betreffenden Personen mit den Anforderungen der Stelle zu vereinbaren sind. Da dies in diesem Fall versäumt wurde, besteht nun die Mög‐ lichkeit, die Zeiterfordernisse der betreffenden Stelle mit den Mitarbeitern zu besprechen und gemeinsam nach einer Lösung zu suchen. Diese könnte so aussehen, dass in beson‐ ders wichtigen Situationen die betreffenden Mitarbeiter an einem besonderen Ort in der Firma beten können, anstatt in die Moschee zu gehen. Denkbar ist auch eine firmeninterne Versetzung der moslemischen Kollegen auf eine weniger zeitflexible Stelle und eine Neu‐ besetzung der betreffenden Stelle. Fällt ein dahingehendes Gespräch mit den Indonesiern schwer, was aufgrund der anderen Kommunikationsgewohnheiten gut möglich ist, wäre es in diesem Fall vorteilhaft, einen vertrauenswürdigen Indonesier als Mittlerperson her‐ anzuziehen. Wenn diese Frage geklärt ist, ist es wichtig, für ein gutes Arbeitsklima zu sorgen, in dem eine hohe Verpflichtung des Mitarbeiters gegenüber dem Vorgesetzten besteht, dann sind Indonesier auch bereit, außerplanmäßig zu arbeiten. In die langfristige Arbeitsplanung sollte man neben den täglichen Gebetszeiten sinnvollerweise auch den Fastenmonat Ra‐ madan und die anschließenden Festtage Lebaran einbeziehen. Auch sie haben erhebliche Auswirkungen auf dem betrieblichen Arbeitsablauf. Die Gläubigen stehen in dieser Zeit sehr früh auf und essen den ganzen Tag über nichts, sie werden also schnell müde und sind generell nicht so belastbar. Während des Lebaran fahren sie meist zu ihren Familien aufs Land und beanspruchen in dieser Zeit Urlaub“ (S. 24 ‐25). 4. Indonesischer Kulturstandard „Religiöse Orientierung“: Dieser Kulturstandard wird in der Zusammenarbeit deutscher Fach‐ und Führungskräfte mit ausländischen Mitarbeitern immer wieder dann relevant, wenn er Arbeitsabläufe und das Geschäftsleben insgesamt beeinträchtigt. Religiöse Orientierungen spielen auch im deutschen Alltagsleben eine wichtige Rolle wie zum Beispiel der Sonntag als Ruhetag, die christlichen Festtage wie Weihnachten, Ostern und Pfingsten mit jeweils zwei Feiertagen oder freie Arbeitstage bei wichtigen familiären Ereignissen wie Hochzeit, Beerdigungen oder bei der Einweihung von Bauwerken, Fabrikhallen, Krankenhäusern, Schulen etc. Im Konfliktfall zwischen religiösen Geboten und beruflichen Verpflichtungen wird in Deutschland flexibel und pragmatisch meist zugunsten der beruflichen Verpflichtungen entschieden, besonders wenn es bei Ausnahmen bleibt oder eine Vergünstigung damit verbunden ist. In vielen anderen Kulturen, wie hier in der indonesischen Kultur, hat aber die strikte Einhaltung der religiösen Vorschriften absoluten Vorrang vor den beruflichen Erfordernissen, weil sonst die Gebote missachtet werden mit der Konsequenz, dass Unheil droht und unvorhersehbare Ereignisse eintreten können.
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5. Kulturelle Verankerung des Kulturstandards „Religiöse Orientierung“: Islam, Hinduismus und Christentum haben zwar in Indonesien über Jahrhunderte hinweg an Einfluss auf das Leben der Menschen gewonnen, „sie haben aber durch die Tradition der einheimischen Stammesreligionen ihre spezifische indonesische Ausprägung erhalten. Besonders dem Javanismus ist es immer wieder gelungen, die fremden Einflüsse aufzu‐ nehmen, ohne seine eigene Identität zu verlieren. Die klassischen indischen Epen „Ramayana“ und „Mahabharata“, die bis heute vor allem auf Java und Bali im Schatten‐ spiel (wayang) lebendig sind, wurden ebenso javanisiert wie das religiöse Gedankengut des Islam und des Christentums. Alle Objekte und Lebewesen in der sichtbaren Welt sind nur Ausdruck der sie verursachenden göttlichen Welt. Diese allgegenwärtige Überzeu‐ gung ist (...) durch die völlige Abhängigkeit von der Natur gewachsen, in der die javani‐ schen Bauern über Jahrhunderte hinweg lebten. In ihrer überschwänglichen Fruchtbarkeit einerseits und ihrer Unberechenbarkeit etwa bei Vulkanausbrüchen oder Überschwem‐ mungen andererseits, brachte die Natur Leben als auch Tod. In ihrer gesamten Existenz sahen sich die Menschen so abhängig von geheimnisvollen Kräften. In ihnen erkannten sie den Ausdruck des Göttlichen, das hinter allem steht, alles verursacht und in dem auch jeder Mensch, unter der Annahme einer harmonischen Ordnung, seinen ganz bestimmten Platz hat. Um sich sicher und geborgen fühlen zu können, trachteten sie deshalb danach, diese Ordnung zu erkennen und sich demütig in die kosmische Harmonie einzuordnen. Die göttlichen Kräfte wurden personalisierten Mächten und Geistern zugeschrieben. Wall‐ fahrten, Geisteropfer und Talismane, Gesetze und Tabus, die strikt beachtet werden müs‐ sen, und komplizierte Berechnungen für den richtigen Zeitpunkt wichtiger Vorhaben wurden zu Mitteln, die göttliches Wohlwollen erringen und sichern sollten. (...) Trotz Javanisierung werden von den Mitgliedern der verschiedenen in Indonesien nebeneinan‐ der existierenden Religionen natürlich auch die der jeweiligen Religion spezifisch angehö‐ renden Rituale und Gebräuche gelebt. Dabei ist es bei einem so engen Zusammenleben der verschiedenen Religionen und Ethnien mit ihren Verschiedenheiten und Differenzen bis zu einem gewissen Grad natürlich, dass es immer wieder zu Spannungen, Problemen und Vorurteilen kommt. So ist Religion auch ein sehr empfindliches Thema in Indonesien. (...) So ist es in javanischen Familien durchaus nicht unüblich, dass mehrere Religionen inner‐ halb einer Familie vereint sind, und die einzelnen Familienmitglieder auch an den religiö‐ sen Festen und Riten des jeweils anders religiösen Mitglieds aktiv teilhaben. Auf manchen Festen kann eine tiefe Einheit zwischen den Angehörigen verschiedener Religionsgemein‐ schaften erfahren werden, die sich im gemeinsamen Gebet an den einen Gott wenden. Diese Einheit bewegt sich jenseits aller Religion. Das ist unter anderem deshalb möglich, weil der Javaner Pragmatiker ist. Religion und Weltanschauung ist ihm Mittel und Weg. Ziel ist die Vereinigung mit Gott und nicht zuletzt das Gelingen des jetzigen Lebens, er‐ kennbar an einem Zustand innerer Ruhe, Gelassenheit und Ausgeglichenheit und harmo‐ nischen Beziehungen zu seinen Mitmenschen. Es ist jedem selbst überlassen, wie er dies am besten erreicht“ (S. 31‐33).
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4. Beispiel : „Der richtige Zeitpunkt“ 1. Kritische Interaktionssituation: „Herr Franz ist nach wochenlangen Gesprächen mit seinem chinesischen Partner in Hongkong, Herrn Tang, mit dem er über mehrere Jahre hinweg schon in Deutschland gut zusammengearbeitet hat, übereingekommen, dass nun alles verhandelt ist und der Handelsvertrag unterschrieben werden kann. Über den Tag, an dem dies passieren soll, ist aber noch keine Einigung erzielt worden. Herr Franz hat mehrere Termine vorge‐ schlagen und Herr Tang hat diese zwar nicht abgelehnt, aber auch nicht definitiv bestä‐ tigt. Immer wieder heißt es, noch weitere Informationen müssen eingeholt werden. Aus früheren Erfahrungen weiß Herr Franz, dass in China immer viele Personen an einer solchen Entscheidung beteiligt sind. Auch jetzt hatte er nicht allein mit Herrn Tang im Beisein seines Dolmetschers und eines chinesischen und deutschen Protokollanten ver‐ handelt, sondern mit vielen Personen, die ihm aber im Einzelnen nicht bekannt waren und deren Status und Einfluss er nicht einschätzen konnte. Aber das ist nun mal in Chi‐ na so üblich und verwunderte ihn nicht weiter. Aber nun fehlt nur noch die Unterschrift und die lässt auf sich warten. Das irritiert ihn schon sehr, zumal er schon zweimal mit Herrn Tang nach ähnlichen Verhandlungen schnell zum Abschluss gekommen ist. So recht versteht Herr Franz nicht, was hier vor‐ geht, und möchte Aufklärung. So wartet Herr Franz auf eine sich bietende Gelegenheit, Herrn Tang direkt auf die Verzögerungen anzusprechen. Er teilt ihm schließlich mehr nebenbei mit, dass er dringend zu Gesprächen ins Stammhaus nach Deutschland zurück muss und oder ob er wohl schon einmal für in fünf Tagen einen Flug nach Deutschland buchen sollte. Den unterschriebenen Vertrag würde er dann gerne mitnehmen und sei‐ ner Geschäftsleitung persönlich überreichen. Herr Tang wirkt etwas verunsichert und unschlüssig und wechselt dann das Thema, ohne die Frage beantwortet zu haben. Über Umwege erfährt Herr Franz mehr gerüchtweise, dass Herr Tang wegen des Termins für den Vertragsabschluss mehrere Astrologen nach einem günstigen Zeitpunkt gefragt hat, von diesen aber widersprüchliche Angaben erhielt. Ein weiterer, sehr erfahrener, aber deshalb auch viel beschäftigter Astrologe soll nun noch konsultiert werden, um den Tag zu bestimmen, an dem die kosmischen Konstellationen für den Vertragsabschluss opti‐ mal sind, damit alles ein glückliches Ende nimmt. Herr Franz ist über diese Entwicklung sehr verwundert und fragt sich, was an der Geschichte wohl dran ist.“ 2. Erläuterungen und Begründungen: Da zwischen Herrn Franz und Herrn Tang schon lange ein von Vertrauen bestimmtes Beziehungsverhältnis besteht, weiß Herr Franz, dass es unwahrscheinlich ist, dass Herr Tang das ganze Verhandlungspaket nochmals aufschnüren will, um bessere Konditionen herauszuhandeln. Nach Kenntnis von Herrn Franz ist sein Partner ein in Hongkong bis hin in die höchsten Kreise der Stadtverwaltung hoch angesehener Geschäftsmann, dem man kurz vor Abschluss eines Auslandsgeschäfts sicher nicht noch Steine in den Weg legen und so den Abschluss verzögern will. Da Herr Franz Herrn Tang aus Deutschland schon sehr gut kennt und aus der bisherigen Zusammenarbeit nie in Erfahrung gebracht hat, dass er sich astrologischer Ratschläge bedient, versteht er nicht, was das Ganze soll.
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Herr Franz sollte sich darüber im Klaren sein, dass Herr Tang nicht mehr in Deutschland lebt und arbeitet, sondern inzwischen erfolgreich in Hongkong, und dass er sich nach einer gewissen Zeit der Akkulturation dort wieder zuhause fühlt. Deshalb wird er sich bei ei‐ nem so wichtigen Ereignis wie dem bevorstehenden Geschäftsabschluss aller Mittel und Wege bedienen, die ihm sinnvoll erscheinen, den Handelsvertrag zu einem guten Ende zu bringen. Zudem ist für Herrn Tang mit der Vertragsunterschrift keineswegs alles zu Ende, sondern nun beginnt erst die eigentliche Zusammenarbeit und die soll für beide Seiten erfolgreich und zufriedenstellend verlaufen. Er weiß, dass Verträge dieser Größenordnung hochgradig mit Risiko behaftet sind und es deshalb gut ist, Risiko zu minimieren. Er weiß aufgrund seiner Kulturtradition, dass es dazu astrologischer Unterstützung bedarf, denn für ihn ist sicher, dass man nicht an jedem Tag und zu jeder Uhrzeit Verträge dieser Grö‐ ßenordnung abschließen sollte. Es gibt schließlich bestimmte Glück verheißende Tage und Zeiten, die zwar keine hundertprozentige Garantie für einen glücklichen Vertragsab‐ schluss gewährleisten, aber die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass die Zusammenarbeit von Erfolg gekrönt sein wird. Herrn Franz gegenüber wird er sich dazu aber nicht äußern. Er weiß, dass sein Verhalten bei ihm auf Unverständnis stoßen wird, denn dafür sind die Deutschen aufgrund ihrer Kulturtradition zumindest in solchen Angelegenheiten wie Vertragsabschlüssen viel zu rational und sachorientiert. Er würde sich schämen, sich blamiert fühlen und müsste einen Gesichtsverlust befürchten, wenn er Herrn Franz direkt über sein Vorgehen informiert. Im Stillen hofft er vielleicht, dass Herr Franz – wie geschehen – hinten herum erfährt, warum er jetzt noch keine Unterschrift leisten kann. 3. Lösungsstrategie: Herr Franz ist zwar irritiert, aber auch erfahren genug, um zu wissen, dass er seinen Part‐ ner nun nicht zum Vertragsabschluss drängen darf, sondern Geduld haben muss, weil sonst das gesamte Projekt gefährdet ist und zukünftige Pannen und Störungen in der Zu‐ sammenarbeit sicher immer wieder dem verpassten optimalen Zeitpunkt und damit sei‐ nem Drängen zugeschrieben werden. Herr Franz ist gut beraten abzuwarten, bis sein Partner für den Vertragsabschluss den Glück verheißenden Tag gefunden hat, zumal, wie bereits erwähnt, für Chinesen Verträge nicht einfach nur ein Stück Papier sind, auf dem in gerichtsverwertbarer Weise Sachverhal‐ te beschrieben und Vereinbarungen festgelegt sind, die dann buchstabengetreu abgearbei‐ tet werden und deren Nichteinhaltung notfalls gerichtlich eingeklagt werden können. Verträge sind primär Vereinbarungen darüber, wie die zukünftige Zusammenarbeit funk‐ tionieren soll, und sie verpflichten beide Partner, für ihre Erfüllung zum gegenseitigen Nutzen Sorge zu tragen, besonders auch dann, wenn unerwartete Ereignisse eintreten und Vertragsabweichungen unausweichlich werden. Alles dies ist bei der Planung einer Lö‐ sungsstrategie zu beachten. Die hier dargelegten Beispiele umfassen keineswegs alle Bereiche, in denen deutsche Fach‐ und Führungskräfte mit religiösen Orientierungen in ihren beruflichen Tätigkeiten kon‐ frontiert werden. Sie zeigen aber, wie wichtig es ist, religiöse Orientierungen zu berück‐
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sichtigen. Eine differenzierte Vorbereitung auf das, was an religiösen Orientierungen im beruflichen und im Lebensalltag im Gastland wirksam wird beziehungsweise werden kann, ist deshalb wichtig, weil sie die Wahrnehmung, das Denken, die Emotionen, die Motivation und das Handeln nachhaltig bestimmt. Ein ausreichendes Maß an Einfüh‐ lungsvermögen (Empathie) in die religiös geprägten Befindlichkeiten der Gastlandbewoh‐ ner, verbunden mit Geduld, Flexibilität und Pragmatismus sind Garanten für den erfolg‐ reichen Umgang mit religiösen Orientierungen und den Aufbau interkultureller Kompe‐ tenz, die auch diesen Problembereich mit einschließt.
Weiterführende Literatur: Stögbauer, E. M./Müller, H.‐M. (2008): Interreligiöse Kompetenz im interkulturellen Dialog, in: Tho‐ mas, A. (Hrsg.), Psychologie des interkulturellen Dialogs, Göttingen, S. 68‐79. Thomas, A./Stögbauer, E. M./Müller, H.‐M. (2006): Interreligiöse Kompetenz als fundamentaler As‐ pekt internationaler Handlungskompetenz, Nordhausen.
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Schlussbemerkungen
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Schlussbemerkungen
Im Zusammenhang mit der in jüngster Zeit intensiv diskutierten Diversitythematik ist eine deutliche Zunahme der Sensibilität für kulturell bedingte Unterschiede zu konstatieren. Das zeigt sich sicher darin, dass überall Fach‐ und Führungskräfte nicht mehr nur im Hei‐ matland der Unternehmen und Organisationen gesucht werden, sondern europa‐ und weltweit. Englisch als Lingua Franca und die Zunahme an ausreichend bis guten Eng‐ lischkenntnissen im Bereich von Fach‐ und Führungskräften beschleunigen diesen Trend. Es zählen primär die fachlichen Qualifikationen, zu dem einschlägige Berufserfahrungen und Kompetenzen im Sinne von Schlüsselqualifikationen wie Organisationskompetenz, Teamkompetenz, Sozialkompetenz, kommunikative Kompetenz sowie psycho‐soziale Belastbarkeit, Auslandserfahrungen und Ähnliches gehören. Nun sind in diesem Buch 13 Themenfelder im internationalen Management behandelt worden, die sich in der internationalen Kooperation als stark kulturell abhängig erwiesen haben; aber das ist nicht einmal die Hälfte der im Eingangskapitel aufgelisteten 29 The‐ menfelder interkultureller Kooperation. Zudem sind die Themenfeldbezeichnungen auch nicht deckungsgleich. Wer sich bis hierhin die Texte dieses Buches erarbeitet hat, dem stehen nun mehrere Mög‐ lichkeiten der Weiterqualifizierung zur Verfügung: 1. Selbststudium: Der Leser kann versuchen, auf der Grundlage des hier Gelernten selbstständig weitere Themen zu bearbeiten. So könnte er sich in einschlägigen Nach‐ schlagewerken zum Beispiel mit dem so wichtigen Thema „Delegieren‐Können“ gene‐ rell vertraut machen und dabei erfahren, wann und wo Delegieren wichtig und nütz‐ lich ist und wann nicht. Er wird etwas über verschiedene Methoden des Delegierens er‐ fahren und welche Gefahren bestehen, wenn Delegieren nur mit dem Weitergeben un‐ angenehmer und lästiger Aufgaben verbunden wird. Nach dieser ersten allgemeinen Informationsgewinnung kommt dann die Einarbeitung in die interkulturellen Aspekte des Themas „Delegieren‐Können“. Dazu gibt es eventuell schon einige eigene Erfah‐ rungen oder Kollegen und Freunde mit Auslandserfahrungen können berichten, wie es z. B. in den USA, in Korea oder in Brasilien mit dem Delegieren als Management‐ Instrument bestellt ist. Dabei werden sicher Aspekte angesprochen, wie: „Delegieren‐Können“ ist nicht nur eine erlernbare Management‐Fähigkeit, sondern ein Interaktionsprozess, der auf Seiten der Mitarbeiter die Fähigkeit zur eigenständigen Übernahme von Aufgaben, deren Erledigung und Ergebniskontrolle voraussetzt. Dele‐ gieren bedarf der engen, vertrauten und gleichberechtigten, egalitären Kooperation zwischen Führungskraft und Mitarbeitern usw. Diese kulturspezifischen Informationen gemeinsam mit den Grundkenntnissen zum Thema „Delegieren‐Können“ können dazu dienen, selbstständig typische kulturell be‐ dingt kritische Interaktionssituationen zu generieren und nach unterschiedlichen Ge‐ sichtspunkten zu bearbeiten. So kann im Selbststudium eine Liste abgearbeitet werden
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und mit Hilfe von interkulturellen Erfahrungen während der arbeitsbedingten Aus‐ landseinsätze können diese themenspezifischen Kenntnisse vertieft werden. Alles, was aufgrund von Eigeninitiative und eigenständigen Erfahrungen erarbeitet wird, bewirkt nachweislich den höchsten und nachhaltigsten Lerneffekt. So könnte der Leser aufgrund der Erfahrungen mit den im Buch präsentierten Fallbeispielen sowie den zugehörigen Erklärungen, Begründungen und Lösungsstrategien sich selbst ein regelrechtes „interkulturelles Arbeitsbuch“ anlegen, in das er seine bereits gemachten oder durch Hörensagen erfahrenen kulturell bedingt kritischen Interaktionssituationen einträgt und dazu seine eigenen Erklärungen, Begründungen und Lösungsstrategien sowie noch offenen Fragen vermerkt. So könnte er sich ein Quellenmaterial erarbeiten, mit dessen Hilfe er ein berufsspezifisches und alltagsbezogenes lebenslanges interkul‐ turelles Lernen aufbaut. 2. Interkulturelles Gruppentraining: Der Leser kann anhand der Themenliste prüfen, in welchen der hier aufgeführten Managementbereichen er eventuell Nachhol‐ bzw. Ver‐ tiefungsbedarf hat. Er könnte an interkulturellen Trainings teilnehmen, die auf die ent‐ sprechenden Managementthemen unter interkulturellen Aspekten eingehen. Die Trai‐ ningsgruppen könnten zudem vielfältige Erfahrungen zur Thematik beisteuern, z. B. zur Behandlung der kulturellen Bedingungen, der kulturellen Verlaufsprozesse und der kulturell bedingten Wirkungen von einer so zentralen Thematik wie „Initiative fördern“. 3. Interkulturelles Einzeltraining und Coaching: Je nach Komplexität und Wertigkeit des Arbeitseinsatzes im Ausland lohnt sich auch ein Einzeltraining oder ein Einzelcoa‐ ching für den ausreisenden Experten und evt. dessen mitausreisende Familie. Ein sol‐ ches Einzelcoaching kann sehr differenziert an die bereits vorhandenen interkulturel‐ len Erfahrungen und Kenntnisse anknüpfen und auf die noch bestehenden Defizite eingehen. Je genauer dabei die personalen und sozialen Ausgangsbedingungen be‐ rücksichtigt werden und die zu erwartenden Arbeitsbedingungen im Gastland defi‐ niert und analysiert werden, um so effizienter kann das Individualtraining oder Coa‐ ching in der Vorbereitungsphase für einen gelungenen Arbeitseinsatz im Zielland ge‐ nutzt werden. 4. Arbeitseinsatzbegleitende Supervision/Coaching: Ein Lernender kann durchaus nach der Bearbeitung des in diesem Buch zusammengestellten Materials den Auslandsein‐ satz beginnen, obwohl ein zusätzliches systematisches interkulturelles Training zur Vorbereitung auf die Zielkultur eine sinnvolle Ergänzung darstellt. Für den Leser, der nicht für längere Zeit nur in einem Land tätig ist, sondern kurzfristig parallel in vielen Ländern und damit wechselnden kulturellen Einflüssen ausgesetzt ist, wird eine den Arbeitseinsatz begleitende Supervision oder ein entsprechendes Coaching sinnvoll sein. So können konkrete Problemlagen vor Ort, die als kulturell bedingt interpretiert werden, mit Experten diskutiert und im Hinblick auf kulturadäquate Lösungen hin be‐ arbeitet werden. Auch lassen sich mit Unterstützung durch Experten neue Verhaltens‐ weisen einüben und deren Wirkungen gezielt auf ihre kulturelle Kompatibilität und Ef‐ fizienz hin kontrollieren.
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Interkulturelles Management ist in diesem Buch aus individueller Sicht behandelt worden. Das ist auch gerechtfertigt, denn im Kern sind es immer Menschen, die für die technischen, wirtschaftlichen, administrativen und sozialen Leistungen verantwortlich sind. Aber kei‐ ner erbringt die Leistungen für sich allein, sondern immer mehr oder weniger im Kontext vorgegebener, meist tradierter organisationaler und sozialer Strukturen. Ein Unternehmen, ein Betrieb, eine Behörde, eine Bildungseinrichtung, eine kommunale Versorgungseinrich‐ tung etc. tragen einen Namen, haben einen Auftrag, eine Geschichte, eine Kultur, ein sozia‐ les Ansehen nach innen und nach außen und besitzen einen Wert in der Gesellschaft. Un‐ terschiedliche Gesellschaften haben auch unterschiedliche Organisationen geschaffen, die alle eine kulturell bedingt unterschiedliche Wertigkeit besitzen. So wurde in Deutschland den Universitäten und den in ihnen tätigen Professoren und Studenten, aber auch den Schulen in früheren Zeiten eine viel höhere Wertigkeit zuerkannt als heute. Produktions‐ unternehmen werden im Vergleich zu Dienstleistungsunternehmen kulturspezifisch un‐ terschiedliche Wertigkeiten zugesprochen. Auch innerhalb von Unternehmen wird den hierarchischen, funktionsabhängigen und traditionsgebundenen Strukturen unterschiedli‐ che Bedeutung zugemessen. Alles dies sind ernstzunehmende Rahmenbedingungen für das, was im interkulturellen Management von Fach‐ und Führungskräften an Aufgaben zu bewältigen ist. Auch in diesem Bereich ist mit einer zunehmenden Diversität zu rechnen, was zugleich die Komplexität der Aufgabenstellungen erhöht. Feststeht jedenfalls, dass ein hohes Maß an Sensibilität für die kulturellen Bedingtheiten menschlichen Handelns, verbunden mit einem hohen Maß an Einfühlungsvermögen in die kulturspezifischen Orientierungssysteme fremder Partner, die Zusammenarbeit erleichtert, die fachliche und berufliche Leistungsfähigkeit erhöht, den durch kulturelle Missver‐ ständnisse erzeugten Stress verringert und insgesamt die Zufriedenheit im Rahmen der Zusammenarbeit mit fremdkulturellen Partnern im privaten Lebensbereich und am Ar‐ beitsplatz steigert. Zur weiteren Entwicklung der erforderlichen interkulturellen Handlungskompetenz im internationalen Management bietet das in diesem Buch zusammengetragene theoretische und praxisnahe Material eine fundierte Grundlage. Handlungswirksam und effizient für die internationale Zusammenarbeit am Arbeitsplatz und für das Alltagsleben unter plurikulturellen Bedingungen wird das gewonnene Wissen, die Einsichten und Erkennt‐ nisse dann, wenn sie vom Leser eigenständig erarbeitet wurden und mit eigenen interkul‐ turellen Erfahrungen angereichert unter gegebenen Bedingungen aktiviert und zur Verhal‐ tenssteuerung und Verhaltenkontrolle eingesetzt werden können.
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Der Autor
Der Autor Alexander Thomas, Dr. phil., Diplompsychologe, ist emeritierter Professor für Sozial‐ und Organisationspsychologie an der Univer‐ sität Regensburg. Seit über 30 Jahren beschäftigt er sich in For‐ schung und Lehre mit der Psychologie interkulturellen Handelns. Er ist Mitbegründer des Instituts für Kooperationsmanagement (IKO). Dieses Institut verbindet wissenschaftliche Forschung mit praktischer Anwendung in den Bereichen:
■ Interkulturelles Handeln ■ Rhetorik und Kommunikation ■ Führung und Teamarbeit ■ Personalentwicklungssysteme und ‐verfahren ■ Lernen in Organisationen Alexander Thomas ist Autor und Herausgeber mehrerer Werke zur internationalen Kom‐ petenz. So hat er u. a. eine 35 Nationen weltweit umfassende Reihe an Trainingsmateria‐ lien zur Handlungskompetenz im Ausland publiziert. Schwerpunkte seiner Forschungs‐ ergebnisse sind: Psychologische Aspekte der Qualifizierung internationalen Managements, Ausbildung und Förderung von Auslandspersonal (interkulturelles Training und Bera‐ tung), Teamarbeit und Teamentwicklung und die Wirksamkeit international zusammen‐ gesetzter Projekt‐ und Arbeitsgruppen. Hinweise:
■ Für die Formatierungsarbeiten am Manuskript und die erforderlichen Textkorrekturen gilt ein besonderer Dank Frau Diplom‐Psychologin Ulrike de Ponte, Regensburg.
■ Die Illustrationen auf den Seiten 78, 96, 150, 168, 184 und 220 sind entnommen der im
Verlag Vandenhoeck & Ruprecht (Göttingen) erschienenen Reihe von Alexander Tho‐ mas ( Hrsg.) (ab 2001) „Handlungskompetenz im Ausland“ mit 36 Bänden, gemeinsam mit weiteren Autoren unter dem Titel „Beruflich in ...“. Hier aus den Werken: Martin, M. & Thomas, A. (2002) „Beruflich in Indonesien“; Petzold, I., Ringel, N. & Thomas, A. (2005) „Beruflich in Japan“; Fischer, K., Dünstl, S. & Thomas, A. (2007) „Beruflich in Po‐ len“; Neudecker, E., Siegl, A. & Thomas, A. (2007) „Beruflich in Italien“; Ferres, R., Meyer‐Belitz, F., Röhrs, B. & Thomas, A. (2005) „Beruflich in Mexiko“.
A. Thomas, Interkulturelle Handlungskompetenz, DOI 10.1007/978-3-8349-6880-7, © Gabler Verlag | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011