Wohlstand ohne Kinder?
Thusnelda Tivig€•Â€Golo Henseke€•Â€Matthias Czechl
Wohlstand ohne Kinder? Sozioökonomische Rahmenbedingungen und Geburtenentwicklung im internationalen Vergleich
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Prof. Dr. Thusnelda Tivig Lehrstuhl für Wachstum und Konjunktur Universität Rostock Ulmenstraße 69 18057 Rostock Deutschland
[email protected] Dipl. Vw. Matthias Czechl Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Fakultät Universität Rostock Ulmenstraße 69 18057 Rostock Deutschland
[email protected] Dipl. Vw. Golo Henseke Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Fakultät Universität Rostock Ulmenstraße 69 18057 Rostock Deutschland
[email protected] ISBN 978-3-642-14982-5â•…â•…â•…â•… e-ISBN 978-3-642-14983-2 DOI 10.1007/978-3-642-14983-2 Springer Heidelberg Dordrecht London New York Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011 Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werkes oder von Teilen dieses Werkes ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes der Bundesrepublik Deutschland vom 9. September 1965 in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechtsgesetzes. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Einbandentwurf: WMXDesign GmbH, Heidelberg Gedruckt auf säurefreiem Papier Springer ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media (www.springer.com)
Vorwort
In Deutschland wird die vorhandene Kinderzahl als zu gering erachtet; die Frage ist, warum. Damit ist nicht nur gemeint, warum so wenig Kinder geboren werden, sondern auch: In welcher Hinsicht sind es zu wenige? Können potenzielle Eltern aufgrund mangelnder Unterstützung durch die Gesellschaft ihre Kinderwünsche nicht realisieren? Oder sind es vielmehr gesellschaftliche Interessen, die nach mehr Kindern verlangen, weil sich bestimmte Ziele mit der gegenwärtigen Kinderzahl nicht verwirklichen lassen? Von den Antworten hängt die Begründung für bevölkerungswirksame Politik und idealerweise auch die Zusammenstellung eines Maßnahmenkatalogs ab. Die gestellten Fragen dürften selbst vielen Sozial- und Wirtschaftswissenschaftlern neu sein. In der volkswirtschaftlichen Literatur gibt es einen schmalen Bereich, der sich schon lange mit Fragen der gesellschaftlich gewünschten Bevölkerungsentwicklung (der gesellschaftlich „optimalen“ Bevölkerung) beschäftigt und in den letzten Jahren schnell anwächst. Das Thema wurde zunächst moralphilosophisch hinsichtlich der gewünschten Bevölkerungsgröße, später im wachstums- und wohlfahrtstheoretischen Zusammenhang auch bezogen auf die Wachstumsrate der Bevölkerung untersucht. In neuerer Zeit setzt sich zunehmend eine bevölkerungsökonomische Sicht durch, in der die Frage der Optimalität demografischer Prozesse unter Berücksichtigung der einzelnen demografischen Komponenten gestellt wird. Dabei werden das Geburtenverhalten, die Sterblichkeit und die Wanderungen als Ergebnis individuellen Verhaltens unter bestimmten sozioökonomischen Rahmenbedingungen untersucht. Über letztere bieten sich vielfältige Ansatzpunkte für politische Einflussnahme. Entsprechend gibt es Untersuchungen der optimalen Fertilität, die beispielsweise über Steuern und Transfers beeinflusst werden kann, sowie Studien zur endogenen Mortalität, in denen die Überlebenswahrscheinlichkeit von den Gesundheitsausgaben des Staates abhängt. Einige Betrachtungen sind dabei rein theoretischer Natur, etwa jene zum Handel mit Fertilitätszertifikaten bei regionaler Über- oder Unterbevölkerung. Andere wiederum bieten konkrete Orientierung für Politikmaßnahmen, etwa durch Herausarbeitung der Unterschiede zwischen der individuell und der gesellschaftlich optimalen Kinderzahl. Mit einigen dieser Fragen wollen wir uns hier aus volkswirtschaftlicher Sicht beschäftigen. Demografische Entwicklungen werden natürlich auch in der Demografie und Soziologie v
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Vorwort
untersucht. Überlegungen zu optimalen Bevölkerungsmerkmalen sowie deren Begründung sind diesen Disziplinen jedoch nicht eigen. Das vorliegende Buch entstand aus der Weiterentwicklung einer Studie, die 2007–2009 im Auftrag des Bundesministeriums für Wirtschaft und Technologie durchgeführt worden ist. Der Forschungsauftrag lautete, unter dem Titel „Wachstum und Demografie“ den Einfluss sozioökonomischer Rahmenbedingungen auf die Entwicklung der Geburtenziffern im internationalen Vergleich herauszuarbeiten. Dabei sollte auch skizziert werden, warum die Kinderzahl gesamtwirtschaftlich von Bedeutung ist. Sie ist es im Wesentlichen aus zwei Gründen: um die sozialen Sicherungssysteme aufrechtzuerhalten und um das Wirtschaftswachstum zu befördern. Beides zusammen trägt zum Wohlstand in einer Gesellschaft bei. In den letzten Jahren wurden, zum Teil parallel mit unserer Arbeit, mehrere volkswirtschaftliche Untersuchungen durchgeführt, die sinkende Kinderzahlen in den Zusammenhang von Demografie und Wirtschaftswachstum einbetten und nach fertilitätsfördernden Rahmenbedingungen fragen. Unsere Betrachtung weicht von diesen Arbeiten in Struktur, Inhalt und den Schlussfolgerungen ab; grundlegend geht sie auch insofern darüber hinaus, wie sie dem Vorhaben die Frage voranstellt, wie sich eine politische Einflussnahme auf demografische Entwicklungen begründen lässt, und welche die passenden Zielgrößen bevölkerungswirksamer Politik wären. Womit lässt sich eine politische Einflussnahme auf individuelle Entscheidungen für oder gegen Kinder rechtfertigen? Und ist die Kinderzahl überhaupt eine passende Zielgröße politischen Handelns? Manche Menschen wünschen sich Kinder, andere wünschen sich höherwertigen Konsum. Warum sollte der Staat die Erfüllung des einen, aber nicht des anderen Wunsches subventionieren? Unser Ziel ist es, aus volkswirtschaftlichen Erkenntnissen Antworten auf diese Fragen herzuleiten. Darauf aufbauend werden dann Empfehlungen an die Politik ausgesprochen, wie sich die – in bestimmten Hinsichten zu geringe – Kinderzahl erhöhen ließe. Das Buch ist in fünf Teile gegliedert. Kapitel€ 1 skizziert den demografischen Wandel als Hintergrund der genannten Fragen und führt in das Thema des möglichen Umgangs mit seinen Folgen ein. Dabei wird auch erörtert, wann es zweckmäßig ist, von Bevölkerungspolitik zu sprechen und wie sie sich von Familienpolitik abgrenzt. Anschließend wird die Frage, in welcher Hinsicht eine Kinderzahl zu gering sein mag, theoriegeleitet vertieft. Die Vorstellung, dass die Kinderzahl gesellschaftlich zu niedrig sein könnte, um damit allgemein angestrebte Ziele zu erreichen, wird anhand der Wechselwirkungen zwischen Demografie, Wirtschaftswachstum und Wohlstand veranschaulicht. Schlussfolgerungen über die Begründung von Bevölkerungspolitik und passende Zielvariablen für bevölkerungswirksame Maßnahmen runden die Betrachtung ab. Kapitel€2 stellt den Übergang von der gesellschaftlichen zur individuellen Sicht dar. In knapper Form werden die Fertilitätsentwicklung in sechs Ländern und die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, unter denen sie stattfindet, verglichen. Daraus werden erste Schlussfolgerungen über den Zusammenhang zwischen sozioökonomischen Rahmenbedingungen und Geburtenverhalten gezogen. Im nachfolgenden Kap.€3 steht dann die individuelle Sicht auf die gewünschte Kinderzahl im Vordergrund. Zu Beginn wird eine allgemeinverständliche Darstellung der Grundzüge mikroökonomischer Fertilitätstheo-
Vorwort
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rien und daraus ableitbarer Ansatzpunkte für eine erfolgreiche Familien- bzw. Bevölkerungspolitik geboten. Danach wird ein kritischer Überblick ökonometrischer Arbeiten zu den Determinanten von Fertilitätsentwicklungen in Deutschland und im internationalen Vergleich gegeben. Zum Schluss diskutieren wir Befragungsergebnisse, die Hinweise auf Kinderwünsche und fertilitätshemmende Rahmenbedingungen bieten. Dabei wird auch das Instrument der Befragungen einer kritischen Betrachtung unterzogen. In Kap.€4 leiten wir auf der Grundlage der theoretischen, empirischen und ökonometrischen Untersuchungen in den Kap.€1 bis 3 Antworten auf die eingangs gestellten Fragen her und formulieren Politikempfehlungen. Kapitel€5 schließlich fasst Erkenntnisse aus den Kap.€2 und 3 in Form standardisierter Länderprofile – für Frankreich, Großbritannien, Italien, Norwegen, die Tschechische Republik und Deutschland – zusammen. Diese Profile stehen am Ende des Buches, da sie auch getrennt von den restlichen Teilen gelesen werden können. Ihr Ziel ist es, einen kompakten Überblick zu gewähren, sowohl über die demografische Entwicklung und insbesondere die Fertilitätsentwicklung, als auch der Rahmenbedingungen, unter denen sie sich in den sechs Ländern entfaltet. In unserer Arbeit wurden wir vielfach unterstützt. Besonderer Dank gebührt Herrn Dr. Volker Hallwirth für wertvolle inhaltliche Kommentare in verschiedenen Phasen der Studie. Unser Dank geht ferner an die Teilnehmer dreier Workshops im Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie, vor allem an Herrn Dr. Klaus Müller, Herrn Dr. Wilhelm Koll und an Frau Prof. Dr. Heike Trappe, die uns hilfreiche Anregungen gaben. Virginia Knaack danken wir für die Forschungsassistenz in Kap.€ 3, Kathrin Jouma und Kathrin Böhm für die Mitarbeit an der Erstellung der Länderprofile in Kap.€5. Frau Katharina Wetzel-Vandei und Frau Keidel vom Springer Verlag sind wir für die unkomplizierte und angenehme Zusammenarbeit erkenntlich. im August 2010
Thusnelda Tivig Golo Henseke Matthias Czechl
Inhalt
1 B ewältigung der Folgen des demografischen Wandels �������������������������� ╇ 1 1.1â•…Ausprägungen und Folgen des demografischen Wandels ������������������ ╅╇ 1 1.2â•…Drei Strategien im Umgang mit den Folgen des demografischen Wandels ����������������������������������尓��������������������������� ╅╇ 6 1.2.1â•…Erhöhung der Kinderzahl ����������������������������������尓��������������������� ╅╇ 6 1.2.2â•…Permanente Immigration ����������������������������������尓���������������������� ╅╇ 8 1.2.3â•…Kompensation der Demografie durch Wirtschaftsund Sozialpolitik ����������������������������������尓���������������������������������� ╅╇ 9 1.2.4â•…Bevölkerungspolitik: Steuerung oder Einflussnahme? ���������� â•… 10 1.3â•…Wohlfahrtstheoretische Gründe für bevölkerungswirksame Politikmaßnahmen ����������������������������������尓������������������������������������尓�������� â•… 11 1.3.1â•…Effizienzaspekte: das Pareto-Kriterium ��������������������������������� â•… 12 1.3.2â•…Weitere Wohlfahrtsüberlegungen: Gerechtigkeit ������������������� â•… 15 1.3.3â•…Andere Gründe: der Wählerwille ����������������������������������尓��������� â•… 17 1.4â•…Demografie, Wirtschaftswachstum und Wohlstand ��������������������������� â•… 18 1.4.1â•…Grundlagen ����������������������������������尓������������������������������������尓������� â•… 18 1.4.2â•…Empirischer Ansatz: Demografische Dividenden ������������������ â•… 19 1.4.3â•…Einfluss der Demografie auf das Wirtschaftswachstum ��������� â•… 26 1.4.4â•…Wechselwirkungen zwischen Demografie und Wirtschaftswachstum ����������������������������������尓��������������������������� â•… 29 1.4.5â•…Wirtschaftswachstum und Wohlstand: Wo liegt der Unterschied? ����������������������������������尓������������������������������������尓����� â•… 30 1.5â•…Schlussfolgerungen ����������������������������������尓������������������������������������尓������ â•… 31 Literatur ����������������������������������尓������������������������������������尓��������������������������������� â•… 35 2 F ertilitätsentwicklung in ausgewählten Industrieländern �������������������� â•… 2.1â•…Einführung ����������������������������������尓������������������������������������尓�������������������� â•… 2.2â•…Vergleichende Länderstudie ����������������������������������尓����������������������������� â•… 2.2.1â•…Frankreich ����������������������������������尓������������������������������������尓�������� â•… 2.2.2â•…Großbritannien ����������������������������������尓������������������������������������尓� â•… 2.2.3â•…Italien ����������������������������������尓������������������������������������尓���������������� â•… 2.2.4â•…Norwegen ����������������������������������尓������������������������������������尓��������� â•…
39 39 41 41 43 44 47 ix
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Inhalt
2.2.5╅Tschechische Republik ����������������������������������尓������������������������� ╅ 2.2.6╅Deutschland ����������������������������������尓������������������������������������尓������ ╅ 2.3╅Schlussfolgerungen ����������������������������������尓������������������������������������尓������ ╅ Literatur ����������������������������������尓������������������������������������尓��������������������������������� ╅
48 50 52 53
3 D eterminanten der Fertilität in Deutschland ����������������������������������尓������� â•… 3.1â•…Einführung ����������������������������������尓������������������������������������尓�������������������� â•… 3.2â•…Ökonomische Theorien der Fertilität ����������������������������������尓��������������� â•… 3.2.1â•…Die Austauschbeziehung zwischen der Anzahl und Ausstattung der Kinder ����������������������������������尓������������������������ â•… 3.2.2â•…Weiterentwicklung des QQTO ����������������������������������尓������������� â•… 3.2.3â•…Präferenzänderungen ����������������������������������尓���������������������������� â•… 3.2.4â•…Ansatzpunkte für Politikmaßnahmen ����������������������������������尓��� â•… 3.3â•…Empirische Untersuchungen ����������������������������������尓���������������������������� â•… 3.3.1â•…Empirische Methoden ����������������������������������尓�������������������������� â•… 3.3.2â•…Datenanforderungen und Datensätze ����������������������������������尓��� â•… 3.4â•…Familienpolitik und Fertilität in Deutschland ����������������������������������尓�� â•… 3.4.1â•…Soziodemografische Determinanten und Wohlfahrtsregime ���� â•… 3.4.2â•…Ökonomische Unsicherheit ����������������������������������尓������������������ â•… 3.4.3â•…Erwerbstätigkeit und Opportunitätskosten ����������������������������� â•… 3.4.4â•…Kinderbetreuung ����������������������������������尓����������������������������������� â•… 3.4.5â•…Sozialversicherungen ����������������������������������尓��������������������������� â•… 3.4.6â•…Zusammenfassung und Schlussfolgerungen �������������������������� â•… 3.5â•…Befragungen ����������������������������������尓������������������������������������尓����������������� â•… 3.5.1â•…Konzepte und Indikatoren ����������������������������������尓�������������������� â•… 3.5.2â•…Kinderwünsche in Deutschland ����������������������������������尓������������ â•… 3.5.3â•…Kritische Beurteilung der Surveyergebnisse �������������������������� â•… 3.6â•…Anhang: Übersicht zu den empirischen Studien �������������������������������� â•… Literatur ����������������������������������尓������������������������������������尓��������������������������������� â•…
55 55 56 56 58 60 61 62 62 66 68 69 73 74 76 78 78 82 82 84 85 89 95
4 H andlungsempfehlungen ����������������������������������尓������������������������������������尓���� â•… 99 4.1â•…Antworten auf die Eingangsfragen ����������������������������������尓������������������� ╇╇ 99 4.2â•…Politikempfehlungen ����������������������������������尓������������������������������������尓���� ╇ 101 4.2.1â•…Grundlegende Politikempfehlungen ����������������������������������尓����� ╇ 101 4.2.2â•…Empfehlungen zu Einzelmaßnahmen ����������������������������������尓��� ╇ 104 5 S tandardisierte Länderprofile ����������������������������������尓������������������������������� ╇ 111 5.1â•…Fertilität und sozioökonomische Rahmenbedingungen ��������������������� ╇ 111 5.1.1â•…Länderprofil Frankreich ����������������������������������尓����������������������� ╇ 112 5.1.2â•…Länderprofil Großbritannien ����������������������������������尓���������������� ╇ 123 5.1.3â•…Länderprofil Italien ����������������������������������尓������������������������������ ╇ 134 5.1.4â•…Länderprofil Norwegen ����������������������������������尓������������������������ ╇ 145 5.1.5â•…Länderprofil Tschechische Republik ����������������������������������尓���� ╇ 156 5.1.6â•…Länderprofil Deutschland ����������������������������������尓��������������������� ╇ 168 Literatur ����������������������������������尓������������������������������������尓��������������������������������� ╇ 179
Kapitel 1
Bewältigung der Folgen des demografischen Wandels
Population is a controversial subject. It will always be one. Partha Dasgupta
1.1 A usprägungen und Folgen des demografischen Wandels Der demografische Wandel ist ein Phänomen, das in entwickelten Ländern auftritt und Entwicklungsländern bevorsteht; seine wesentlichen Merkmale sind das Altern der Bevölkerung und die Perspektive des Bevölkerungsrückgangs. Das gesellschaftliche Altern zeigt sich in einer Verschiebung der Altersverteilung hin zu höheren Altersstufen. Diese Entwicklung speist sich aus zwei Quellen: dem Anstieg der Lebenserwartung und den niedrigen Geburtenziffern. Die Alterung der Bevölkerung folgt daher in den einzelnen Ländern einer jeweils eigenen Dynamik, die zum Teil spezifische Chancen und Herausforderungen entstehen lässt. In Deutschland werden Chancen vor allem hinsichtlich neuer Produktmärkte und des ehrenamtlichen Engagements Älterer gesehen, während sich die wesentlichen Herausforderungen aus der Finanzierung der Sozialversicherungen und der Aufrechterhaltung des Wirtschaftswachstums ergeben.1 Der Bevölkerungsrückgang ist, anders als die Alterung, kein globaler Trend. Selbst in der EU bleibt er noch etliche Jahre auf nur wenige Länder und Regionen beschränkt, allen voran Deutschland. Hier ist es in Teilen des Landes bereits zu deutlich sichtbaren und generell negativ bewerteten Veränderungen gekommen.2 1╇ Einen vergleichenden Überblick des demografischen Wandels in der Europäischen Union und einiger seiner Folgen für die Wirtschaft bietet der „Demographic Risk Atlas“ (Tivig und Kühntopf 2009). Für kompakte Informationen und interdisziplinäres Wissen über die Ursachen und Konsequenzen des demografischen Wandels siehe u.€a. Tivig und Waldenberger (2010). 2╇ Die öffentliche Wahrnehmung konzentriert sich diesbezüglich in Deutschland auf die Neuen Bundesländer und in der EU auf die osteuropäischen Transformationsländer. Das ist insofern irreführend, wie die demografischen Veränderungen in diesen Regionen nicht allein den Prozess des demografischen Wandels widerspiegeln, sondern wesentlich durch den politischen Schock der Wiedervereinigung bzw. des Systemwechsels verursacht wurden.
T. Tivig et al., Wohlstand ohne Kinder?, DOI 10.1007/978-3-642-14983-2_1, ©Â€Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
1
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1 Bewältigung der Folgen des demografischen Wandels
Tab. 1.1↜渀 Nettoreproduktionsraten (NRR) weltweit. (Quelle: Tivig und Waldenberger 2011, in Anlehnung an Preston und Wang 2007; Datenquellen: UN 2008) Land NRR ohne Nettomigration NRR mit Nettomigration 1960–1965 2005–2010 2005–2010 Brasilien 2,41 0,89 0,89 China 2,10 0,77 0,76 Deutschland 1,06 0,64 0,69 Frankreich 1,34 0,91 0,99 Indien 1,85 1,17 1,17 Indonesien 1,78 1,02 1,01 Italien 1,13 0,66 0,87 Japan 0,92 0,61 0,62 Nigeria 1,89 1,84 1,83 Philippinen 2,65 1,46 1,39 Polen 1,20 0,61 0,60 Südkorea 2,18 0,57 0,57 Russland 1,18 0,64 0,65 Thailand 2,45 0,85 0,86 USA 1,56 1,01 1,18 Vereinigtes Königreich 1,34 0,89 1,05
Ein Schrumpfen der Bevölkerung tritt dann ein, wenn die Zahl der Sterbefälle jene der Geburten übersteigt und die Nettomigration das Defizit nicht ausgleicht. Dass nicht mehr Bevölkerungen bereits schrumpfen, ist vor allem auf die anhaltende Zunahme der Lebenserwartung und auf positive Migrationssalden zurückzuführen. Die jüngeren weiblichen Jahrgänge werden sich in vielen Ländern der Europäischen Union voraussichtlich nicht mehr reproduzieren, wodurch eine Schrumpfungstendenz der Bevölkerungen entsteht. Ein Maß für die Perspektive des Bevölkerungsrückgangs ist die Nettoreproduktionsrate. Sie gibt die zu erwartende Anzahl von Töchtern einer heute Neugeborenen für den Fall an, dass die gegenwärtigen altersspezifischen Fertilitäts-, Mortalitäts- und, falls berücksichtigt, Migrationsraten konstant blieben. In den letzten Dekaden ist die Nettoreproduktionsrate weltweit gesunken (Tab.€1.1). Aktuell erreicht sie in vielen Ländern Werte unter Eins, was auf die langfristige Schrumpfung der jeweiligen Bevölkerungen hindeutet (Preston und Wang 2007; UN 2008). Der Wert für Deutschland beträgt im Durchschnitt der Jahre 2005–2010 ohne Berücksichtigung der Migration lediglich 0,64. Jede Generation ist demnach um ein Drittel kleiner als die vorhergehende. Der Wert mit Migration liegt nur geringfügig darüber, bei 0,69. Eine besondere Tragweite hat aus volkswirtschaftlicher Sicht der starke Rückgang der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter (derzeit noch 15–64 Jahre), auch Erwerbsbevölkerung genannt. Mit seiner 2004 Prognose erwartet Eurostat, dass die Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter in der Europäischen Union – trotz Wachstums der Gesamtbevölkerung – bis 2030 um 6,7€% abnehmen wird. Auch in der Gruppe der OECD-Länder wird zwischen 2020 und 2025 der Rückgang der Erwerbsbevölkerung beginnen (Abb.€1.1). Vor allem in Kontinentaleuropa sowie Südkorea und Japan setzt bzw. setzte die Schrumpfung früher ein und ist insgesamt ausgeprägter.
1965
DEU
ITA UK
ESP
USA FRA
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1970
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1975
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1980
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CAN
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FRA ITA DEU UK
USA JPN ESP
CAN
KOR
MEX
1985 1990
CAN ITA FRA ESP USA JPN DEU UK
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JPN ITA
DEU
ESP UK FRA
CAN KOR
USA
MEX
1995 2000
DEU JPN FRA UK ITA
ESP
USA CAN
KOR
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2005
DEU JPN
ITA
UK FRA KOR
ESP CAN USA
MEX
2010
JPN
DEU
UK FRA ITA
CAN USA ESP KOR
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2015
JPN
FRA DEU ITA
USA CAN ESP KOR UK
MEX
2020
DEU JPN
FRA ITA KOR
USA ESP CAN UK
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2025
KOR DEU
JPN
ITA
USA UK CAN KOR FRA
MEX
2030
KOR DEU
ITA JPN
CAN UK ESP FRA
MEX USA
2035
ITA JPN KOR DEU
ESP
UK MEX FRA
USA CAN
2040
KOR JPN
ITA
DEU ESP
FRA MEX
USA CAN UK
Abb. 1.1↜渀 Wachstum der Erwerbsbevölkerung (15–64 Jahre) in der OECD in %. (Quelle: UN World Population Prospects 2008, eigene Darstellung)
–2%
–1%
0%
1%
2%
3%
4%
1.1 Ausprägungen und Folgen des demografischen Wandels 3
4
1 Bewältigung der Folgen des demografischen Wandels
In Deutschland beträgt der geschätzte Rückgang der Erwerbsbevölkerung bis 2030 rund 12€%. Zwischen 2025 und 2035 wird die jährliche Schrumpfungsrate mutmaßlich mehr als 1€% betragen. Der Rückgang der Bevölkerung ist dabei altersgruppenspezifisch. So schrumpfen die 10-Jahre Altersgruppen zwischen 15 und 44 Jahren im Zeitraum 2004–2030 durchschnittlichen mit zweistelligen Raten. Gleichzeitig wächst die Gruppe der Älteren mit Raten, die bei etwa 20€% für die 55–64-Jährigen und bei mehr als 60€% für die über 80-Jährigen liegen. Der Rückgang der Erwerbsbevölkerung ist in rund zwei Drittel der deutschen Regionen ausgeprägter als im europäischen Durchschnitt (Tivig und Kühntopf 2009). Allerdings muss man sich bei Bevölkerungsvorausrechnungen vergegenwärtigen, dass sie mit großer Unsicherheit behaftet sind. Das ist vor allem dem Umstand geschuldet, dass sich Binnen- und Auswanderungen nur schlecht vorhersagen lassen. Ausgeklügelte, stochastische Bevölkerungsprognosen formulieren ihr Ergebnis daher auch in der Art: „Die Bevölkerung Deutschlands wird 2050 mit einer Wahrscheinlichkeit von 60€% zwischen 71 und 91€Mio. Menschen umfassen“. Möchte man eine höhere Treffsicherheit, wird der Schwankungsbereich größer (Tivig und Hetze 2007, S.€13). Die Bewertung des demografischen Wandels fällt je nach Betrachtungsebene unterschiedlich aus. Auf individueller Ebene ist die Entwicklung ohne Zweifel erfreulich. Medizinischer Fortschritt und die soziale Absicherung ermöglichen die freie Entscheidung über die eigene Kinderzahl und ein längeres Leben bei guter Gesundheit. Für die USA wird geschätzt, dass die Summe individueller Erträge aus verbesserter Gesundheit und höherer Lebenserwartung zwischen 1970 und 2000 bei jährlich 3,2€Billionen US-$ lag und damit knapp der Hälfte der mittleren jährlichen US-amerikanischen Wirtschaftsleistung in diesem Zeitraum entsprach (Murphy und Topel 2006). Auf volkswirtschaftlicher Ebene ergeben sich jedoch Finanzierungsprobleme für die sozialen Sicherungssysteme und ein Gefährdungspotenzial für das Wirtschaftswachstum und damit den Wohlstand. Die gesellschaftlichen Folgen des demografischen Wandels entscheiden sich daher nicht zuletzt auf der Unternehmensebene. Hier gilt es einerseits, mit alternden Belegschaften produktiv und innovativ zu bleiben und andererseits, weitere Potenziale an Arbeits- und Fachkräften zu erschließen. Die Anpassung der Unternehmen an die Alterung und Schrumpfung der Erwerbsbevölkerung setzt die Bereitschaft voraus, Ältere weiterzubeschäftigen bzw. Ältere wiedereinzustellen und durch Fortbildung, Gesundheitsprogramme und adäquate Arbeitsbedingungen zum Erhalt ihrer Arbeitsfähigkeit beizutragen. Ihr Erfolg wird ferner durch die Art und Weise bestimmt, in der es gelingt, betriebliche Prozesse an die Vereinbarkeit von Beruf und Familie anzupassen. Eine ebenso wichtige Rolle spielen jedoch Einstellungen in der Gesellschaft, etwa zur Erwerbsbeteiligung von Müttern und Älteren oder zum Grad der Eigenverantwortung für den Erhalt der eigenen Beschäftigungsfähigkeit. Darüber hinaus können Politikmaßnahmen helfen, vorhandene Kompensationspotenziale zu erschließen, etwa durch die Bereitstellung adäquater Kinderbetreuungsmöglichkeiten, durch eine bessere Regulierung des Arbeitsmarktes oder die Beseitigung von Frühverrentungsanreizen. Die Kernfrage ist letztlich, ob und gegebenenfalls wie es bei individuell längerer Le-
1.1 Ausprägungen und Folgen des demografischen Wandels
5
benserwartung gesellschaftlich gelingen kann, mit einer schrumpfenden Kinderzahl den erreichten Wohlstand zu sichern. Die Informationen und das Wissen über die Ausprägungen und Folgen des demografischen Wandels nehmen in der Bevölkerung zu. Die Darstellung in den Medien und in öffentlichen Diskussionsrunden ist jedoch oft noch einseitig. Sie betrifft die Finanzierung der Sozialversicherungssysteme, weist gelegentlich auf einen drohenden Fachkräftemangel hin und erwähnt Ältere in letzter Zeit verstärkt als wachsende Konsumentengruppe. Wer wird unsere Renten zahlen, wenn uns die Kinder fehlen? Wer kann die Pflege der wachsenden Zahl an Hochbetagten übernehmen und wie soll sie finanziert werden? Brauchen Ältere andere Produkte? sind typische Fragen, mit denen viele Menschen bereits einigermaßen vertraut sein dürften. Können wir mit alternden Belegschaften die Innovationsleistung erbringen, die unseren Wohlstand begründet? Kann Deutschland mit einer stark schrumpfenden Erwerbsbevölkerung sein Exportniveau halten? Müssen sich die Lohnstrukturen ändern, um die Beschäftigungschancen Älterer zu erhöhen? sind hingegen Fragen, die den meisten weniger geläufig sein dürften. Unklar ist auch, ob man nur die Folgen der demografischen Entwicklung zu bewältigen suchen soll oder darüber hinaus eine Bevölkerungspolitik braucht, die ihre Ziele direkt oder indirekt an der Struktur und der Entwicklung der Bevölkerung definiert. Diese würde sich Fragen der Art stellen müssen: Wie viele Einwohner möchten wir in Deutschland sein und warum? Oder: Mit welcher Rate sollte eine Bevölkerung idealerweise wachsen? Welche Altersstruktur wäre für die deutsche Bevölkerung optimal? Und letztlich auch: Wie sähe eine optimale räumliche Verteilung der Bevölkerung aus?3 In angelsächsischen Ländern oder beispielsweise in den Niederlanden ist „Population Policy“ ein gestandener Begriff und es gibt gleichnamige Studiengänge, die den notwendigen Denkrahmen aufbauen, um diese Fragen zu untersuchen. Bei uns ist das, schon aus historischen Gründen, nicht der Fall. Es gibt, außer an der Universität Rostock, keine bevölkerungswissenschaftlichen Studiengänge und selbst hier keinen Lehrstuhl für Bevölkerungsökonomik. Auf politischer Ebene aber gibt es eine Familienpolitik, eine (länderspezifische) Bildungspolitik, eine Arbeitsmarktpolitik, eine Gesundheitspolitik, eine Rentenpolitik, aber keine konsistente Einbettung bevölkerungsbezogener Fragen in eine volkswirtschaftliche Strategie für die Sicherung von Wachstum und Wohlstand. Die Fragmentierung der Sichten und Zuständigkeiten erschwert es dem Einzelnen, sich als Privater oder als Politiker eine Übersicht über die Ausprägungen und Folgen des demografischen Wandels zu verschaffen und zu einer Gesamtbewertung der demografischen Entwicklung zu gelangen. Mit unserem Buch möchten wir dazu beitragen, dies zu erleichtern. Im Folgenden skizzieren wir zunächst drei Strategien im Umgang mit den Herausforderungen des demografischen Wandels (Kap.€ 1.2). Danach erläutern wir, Auf die Frage der räumlichen Verteilung der Bevölkerung wird im Folgenden nicht eingegangen. Diese ist Gegenstand der (Neuen) Wirtschaftsgeographie (Krugman 1998, aber auch Martin 1999) und der (Neuen) Stadt- und Regionalökonomik (Glaeser 2000). Ihre Berücksichtigung würde zu weit über das Kernthema dieses Buches hinausführen. 3╇
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1 Bewältigung der Folgen des demografischen Wandels
welche grundsätzlichen Rechtfertigungen es für eine staatliche Einflussnahme auf individuelle Entscheidungen für Kinder geben kann (Kap.€ 1.3). Die Vorstellung, dass die Kinderzahl gesellschaftlich zu niedrig sein könnte, um damit allgemein angestrebte Ziele zu erreichen, wird anschließend anhand der Wechselwirkungen zwischen Demografie, Wirtschaftswachstum und Wohlstand veranschaulicht (Kap.€ 1.4). Schlussfolgerungen runden die makroökonomische Betrachtung ab (Kap.€1.5).
1.2 D rei Strategien im Umgang mit den Folgen des demografischen Wandels Die Bewältigung der Herausforderungen des demografischen Wandels kann grundsätzlich am demografischen Wandel selbst oder an seinen erwarteten Folgen – unter Hinnahme der demografischen Entwicklung – ansetzen. Dementsprechend zeichnen sich für eine Gesellschaft und ihre politischen Akteure letztlich drei Strategien ab. Die ersten beiden zielen auf die demografische Entwicklung, die dritte auf kompensatorische wirtschafts- und sozialpolitische Politikmaßnahmen ab.
1.2.1 Erhöhung der Kinderzahl Eine naheliegende und verlässliche Strategie scheint, der Alterung und Schrumpfung der Bevölkerung durch eine Erhöhung der Kinderzahl entgegenzuwirken. Naheliegend deshalb, weil sich mit einer dauerhaft höheren Geburtenrate die Intensität des demografischen Wandels auch dann abschwächen lässt, wenn die Zunahme der Lebenserwartung anhält. Verlässlich zudem, weil sie nur auf inländische Entwicklungen setzt. Gleichzeitig kann auf eine reiche internationale Erfahrung mit der Beeinflussung von Geburtenraten zurückgegriffen werden. Weltweit zielt die direkte Steuerung der Geburtenrate meist auf deren Senkung ab.4 Die gewonnenen Erfahrungen bieten dennoch auch für den umgekehrten Fall der Erhöhung verwertbare Einsichten. Die wichtigste ist, dass die direkte Steuerung der Geburtenrate weit weniger bewirkt, als die Einflussnahme über Präferenzen und veränderte Rahmenbedingungen. Die direkte Steuerung findet dabei über die kostengünstige Bereitstellung von Verhütungsmitteln statt („Familienplanung“), 4╇ Eine Ausnahme war die Bevölkerungspolitik Rumäniens vor dem Systemzusammenbruch 1989. Mit dem Dekret 770 wurde 1966 erlassen, dass jede Frau mindestens vier Kinder zu gebären hätte. Die Durchsetzung erfolgte durch das Verbot von Abtreibungen, die zu der Zeit das gängige und einzige verfügbare Mittel der Geburtenregelung in Rumänien darstellten. Ärzten, die das Verbot nicht einhielten, drohte die Entziehung der Approbation und langjähriger Gefängnisaufenthalt. Dennoch gelang es vor allem gebildeten und erwerbsorientierten Frauen, das Verbot zu umgehen; die Folgen für Frauen und Kinder waren aber insgesamt verheerend. Siehe u.€a. Kulczycki et€al. (1996) und Pop-Eleches (2006).
1.2 Drei Strategien im Umgang mit den Folgen des demografischen Wandels
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während die indirekte Einflussnahme dann die größte Wirkung zeigt, wenn sie an der Bildung der Frauen ansetzt (Pritchett 1994). Im Umkehrschluss könnte man nun folgern, dass eine Verteuerung von Verhütungsmitteln zu einem Wiederanstieg der Geburten führen könnte; das wäre jedoch der falsche Weg. Zum einen sind Verhütungsmittel in Deutschland ohnehin nicht billig, zum anderen sind sie eine unabdingbare Voraussetzung für die Gleichstellung der Geschlechter in der Gesellschaft. Es wäre jedoch möglich, in den wenigen Fällen, in denen es notwendig ist, die Zeugung zu erleichtern. So unterscheiden sich in der Europäischen Union nicht nur die national zugelassenen Methoden künstlicher Zeugung sondern auch die Anzahl künstlicher Befruchtungsversuche, für welche die Krankenkassen aufkommen. Eine bevölkerungspolitische Option der direkten Steuerung wäre, die Kosten aller Versuche gesellschaftlich so lange zu tragen, wie die Geburtenrate den politisch gewünschten Wert unterschreitet. Ähnliche Gestaltungsmöglichkeiten gäbe es im Bereich der Adoption ausländischer Kinder. Die Erfahrungen mit der Familienplanung lenken den Blick ferner auf die Bildung der Frauen. Wie sich im weiteren Verlauf des Buches zeigen wird, ist die Bildung der Frauen auch im umgekehrten Fall des Versuchs, die Geburtenrate anzuheben, von besonderer Bedeutung. In der Wachstumsliteratur gibt es zahlreiche theoretische Ansätze die eine makroökonomische Fundierung für die wirtschaftspolitische Zielvariable „Fertilität“ liefern. Oft ist sie jedoch nicht von der Zielvariablen „Wachstumsrate der Bevölkerung“ zu unterscheiden, weil die Sterblichkeit als konstant angenommen und die Migration vernachlässigt wird. In der Realität gehen zudem nicht nur von der Höhe der Geburtenrate sondern auch von ihren Schwankungen Herausforderungen aus. Sie betreffen insbesondere das im Umlageverfahren organisierte Rentensystem und die Planung von Infrastrukturen. Folgen nämlich – wie mit den Babyboomern – auf kleine Kohorten große Kohorten, so ist einerseits die Ausweitung der jeweils genutzten Infrastrukturen nötig und andererseits, nach dem Eintritt der großen Kohorten in den Arbeitsmarkt, eine Anhebung der Renten für die vorangegangenen kleineren Kohorte möglich. Folgen dann auf die großen wieder kleinere Kohorten, so ist das Versorgungsniveau zurückzufahren, was mit erheblichen ökonomischen und politischen Anpassungskosten verbunden sein kann. Nun ist im Falle einer sinkenden Geburtenrate jede nachfolgende Generation kleiner als die vorhergehende. Gleiches gilt, wenn die Geburtenrate konstant unter dem Bestanderhaltungsniveau liegt. Es ist daher absehbar, dass die gegenwärtig zu beobachtenden Verteilungskonflikte um die Rente und um die Aufrechterhaltung regionaler Infrastrukturen zu einem Dauerthema schrumpfender Bevölkerungen werden.5 Die staatliche Einflussnahme auf die individuellen Entscheidungen für Kinder setzt neben dem gesellschaftlichen Interesse das Wissen oder die Überzeugung voraus, dass entweder der Wunsch nach mehr Kindern in der Gesellschaft und vor allem bei den (potenziellen) Eltern dauerhaft vorhanden ist, seine Erfüllung aber an 5╇ Es sei denn, permanente Produktivitätssteigerungen fallen so hoch aus, dass sie die geringere Versorgungsfähigkeit immer kleinerer Kohorten voll ausgleichen. Es ist aber gerade die Möglichkeit anhaltender Produktionszuwächse, die unter den Bedingungen des demografischen Wandels angezweifelt wird (siehe Kap.€2 des Buches).
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1 Bewältigung der Folgen des demografischen Wandels
den Rahmenbedingungen scheitert, oder dass sich der Kinderwunsch selbst steigern lässt. Die Strategie wirkt im Erfolgsfall ferner nur in der mittleren bis langen Frist und damit nur in dem Maße, in dem wichtige Folgen des demografischen Wandels erst in eben dieser Frist ihre volle Intensität erreichen. In der kurzen bis mittleren Sicht sind Kinder ökonomisch ein Kostenfaktor, wie aus der aktuellen Debatte um die Finanzierung der gesetzlich vorgesehenen Kinderbetreuungsplätze ersichtlich ist. Erst mit 20- bis 30-jähriger Verzögerung tragen Kinder durch ihre Ausbildung und Arbeitskraft zur Sicherung von wirtschaftlichem Wachstum und Wohlstand bei. Die Handlungsalternative einer politisch beförderten Erhöhung der Geburtenrate steht im Mittelpunkt dieses Buches; sie soll im weiteren Verlauf aus gesellschaftlicher und aus individueller Perspektive wissenschaftlich fundiert geprüft werden. Unberücksichtigt bleiben dabei globale Lösungen, wie die Möglichkeit eines internationalen Handels mit Fertilitätszertifikaten bei regionaler Über- oder Unterbevölkerung (Boulding 1964; De la Croix und Gosseries 2009).
1.2.2 Permanente Immigration Eine zweite Strategie wäre, die natürliche demografische Entwicklung bereits in der kurzen Frist und dann anhaltend durch Immigration zu kompensieren. Auch hierdurch ließen sich die Alterung und Schrumpfung in Deutschland verzögern, die Schrumpfung unter Umständen sogar ausgleichen. So kommt Lutz (2006) in einem Rechenbeispiel für die EU-15 zu dem Schluss, dass die Anhebung der zusammengefassten Geburtenziffer um 1 Kind je Frau die gleiche Wirkung auf den Wert des Unterstützungsquotienten Älterer im Jahr 2050 hätte, wie jährlich eine zusätzliche Million Einwanderer. Unberücksichtigt bleibt dabei, dass zur finanziellen Unterstützung nur die Erwerbstätigen beitragen. Berechnet man die Unterstützungsquotienten bezogen auf die Erwerbstätigen, fallen diese weit höher aus.6 Damit Einwanderung auch diese reduziert, müssten die Zuwanderer die passende Altersstruktur bzw. die passende Ausbildung vorweisen und aufgrund gelungener Integrationspolitik erwerbstätig werden. Genauer: Der Vergleich mit der Wirkung einer Erhöhung der Geburtenrate müsste die Unterschiede in der Erwerbsbeteiligung zwischen Einheimischen und Zuwanderern mit berücksichtigen.7 Deutschland ist seit Jahrzehnten ein Zuwanderungsland, der Nettomigrationssaldo weist jedoch starke Schwankungen und immer wieder auch negative Werte 6╇ Unterstützungsquotienten setzen die Anzahl Junger, Alter, oder Junger und Alter ins Verhältnis zur Erwerbsbevölkerung. Der Unterstützungsquotient für 2050 liegt in Deutschland aufgrund der der 12. koordinierten Bevölkerungsvorausberechnung (Variante 3-W1) bei 80. Das bedeutet, dass 100 Personen im Alter 15–64 für die Unterstützung von 80 jüngeren oder älteren Personen aufkommen müssten. Bezogen auf die Erwerbstätigen beträgt er das Doppelte: 165. Das bedeutet, dass 100 Erwerbstätige für 165 Nichterwerbstätige aufkommen müssten. 7╇ Laut einer Studie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung ist die Integration von Zuwanderern in den Arbeitsmarkt für alle Ausbildungsstufen geringer als für Deutsche (BrückKlingberg et€al. 2007).
1.2 Drei Strategien im Umgang mit den Folgen des demografischen Wandels
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auf. Dabei wird, anders als in den 1950er oder 1960er Jahren und auch anders als gegenwärtig in Spanien oder Italien, die Zuwanderung nach Deutschland weniger von wirtschaftlichen Entwicklungen im Inland als vielmehr von politischen Ereignissen im Ausland (wie der Balkankrieg in den 1990er Jahren) und gesetzlichen Regelungen im Inland (etwa zur Familienzusammenführung) bestimmt. Die Abwanderung aus Deutschland wird meist von privaten Motiven geleitet, zu denen grundsätzlich auch eine mangelnde Akzeptanz gesellschaftlicher Entwicklungen im eigenen Land gehören kann. Die Untersuchung, ob sich auf Basis der vorhandenen Literatur der Schluss ergibt, dass eine Strategie der direkten Steuerung oder indirekten Beeinflussung der Immigration in anderen Zeiten und Ländern erfolgsversprechend war, ist oder es theoretisch überhaupt je sein kann, sowie die Auswertung empirischer Arbeiten zu den Motiven und der Struktur deutscher Außenwanderungsströme, sind nicht Gegenstand dieses Buches. Dennoch möchten wir drei Aspekte nennen, die es im Zusammenhang mit einer Strategie permanenter Immigration zu bedenken gälte. Erstens könnte man ihre Verfolgung an den Nachweis deutlicher und anhaltender Erfolge in der Bildungs- und Arbeitsintegration der bereits im Lande ansässigen Personen mit Migrationshintergrund knüpfen. Zweitens wäre zu beachten, dass sich viele der Länder, aus denen heute die Immigranten mit passendem Bildungs- und beruflichen Hintergrund kommen, erfreulicherweise auch entwickeln (etwa osteuropäische Transformationsländer) und einen eigenen, steigenden Bedarf an Arbeits- und Fachkräften entfalten, der die Ausreisewilligkeit jüngerer Menschen in Zukunft reduzieren dürfte. Bis dahin bzw. solange wie das Exportland die Fachkräfte, die es hervorbringt, aufgrund sozioökonomischer Ungleichgewichte nicht adäquat beschäftigen kann, könnte der Import hochqualifizierter Kräfte für beide Länder wohlfahrtssteigend sein; vorausgesetzt, das Ursprungsland wird für seine Ausbildungsanstrengungen adäquat kompensiert. Drittens müsste dem Umstand Rechnung getragen werden, dass nicht nur Deutschland sondern die Mehrzahl der Länder der Europäischen Union die Folgen des demografischen Wandels zu bewältigen hat und dass nicht alle gleichzeitig auf permanente Immigration als Lösung setzen können – es sei denn, ihre Bereitschaft stiege, Zuwanderer aus kulturell sehr unterschiedlichen Ländern willkommen zu heißen und dauerhaft zu integrieren – womit der Kreis zum ersten der hier genannten Aspekte geschlossen wird.
1.2.3 K ompensation der Demografie durch Wirtschafts- und Sozialpolitik Eine dritte Möglichkeit ist, die verfügbaren Politikinstrumente nicht auf die demografische Entwicklung, sondern auf die Bewältigung einiger ihrer Folgen auszurichten. Beispiele sind das Hinausschieben des Rentenalters, die Ausweitung der Bildung und Weiterbildung auf andere soziale Schichten als die ohnehin bildungsnahen, sowie auf andere (jüngere und ältere) Altersgruppen, und das Zurückfahren des Umfangs aller Sozialversicherungen auf einen Kern von Leistungen, der durch
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1 Bewältigung der Folgen des demografischen Wandels
Vorsorge auf anderen Ebenen zu ergänzen ist: etwa durch individuelle Anstrengungen, eine verstärkte Solidarität auf Familienebene, Vorsorge durch den Arbeitgeber oder im Rahmen neuer Solidargemeinschaften. Dabei muss es sich nicht unbedingt um eine eigenständige Strategie handeln. Die angeführten Schritte könnten vielmehr auch als notwendiges, flankierendes Maßnahmenpaket für jede demografisch orientierte Strategie angesehen werden. Eine Kompensationsstrategie würde demografisch-ökonomische Zielvariablen ins Auge fassen, wie das Arbeitsangebot (gegebenenfalls in Effizienzeinheiten) oder einen Unterstützungsquotienten. Im Falle des Arbeitsangebots würde es jedoch nicht darum gehen, die private Fertilitätsentscheidung zu beeinflussen oder Immigrationspolitik zu betreiben, und dieses mit dem Ziel zu rechtfertigen, das spätere Arbeitsangebot sichern zu wollen; das wäre eine direkte Steuerung. Der Punkt wäre vielmehr, bei annahmegemäß gegebener Demografie, das zukünftige Arbeits- oder Fachkräfteangebot durch kompensierende Bildungs- Arbeitsmarkt- und Rentenpolitik im gewünschten Umfang und der angestrebten Qualität zu sichern. Von allen Wegen dürfte dieser zuweilen der schwierigste sein, weil er ein hohes Maß an Aufklärung und Konsequenz verlangt. Ein gutes Anschauungsmaterial bietet das politische Handeln in der Frage der Rentenanpassung an die demografische Entwicklung in Deutschland: lange vernachlässigt („Die Renten sind sicher“), dann endlich beschlossen (Nachhaltigkeitsfaktor), aber nicht konsequent umgesetzt (Rentengarantie, §Â€68a SGB VI). Hinzu kommt nun die Forderung, die Anhebung des Renteneintrittsalters auf 67 wieder rückgängig zu machen – gestellt, von jenen, die die Reform mitbegründet und –getragen haben, und geführt zu einem Zeitpunkt, da in der EU die Anhebung auf 70 Jahre besprochen wird.
1.2.4 Bevölkerungspolitik: Steuerung oder Einflussnahme? Eine Regierung kann auf die demografische Entwicklung im Land direkt oder indirekt einwirken, d.€h. sie steuern oder beeinflussen. Die Steuerung setzt voraus, dass die jeweiligen demografischen Prozesse exogen in Bezug auf das Wirtschafts- und Sozialsystem ablaufen. Eine Beeinflussung findet hingegen dann statt, wenn die Regierung durch den Einsatz von Wirtschafts- und Sozialpolitik Rahmenbedingungen ändert, um die demografischen Entwicklung ihren Vorstellungen anzupassen. Dabei wird berücksichtigt, dass Geburten, Wanderungen und auch die Überlebenswahrscheinlichkeit endogen in Bezug auf das Wirtschafts- und Sozialsystem sind und aus dem entsprechenden Verhalten von Individuen unter gegebenen Rahmenbedingungen erklärt werden können. In diesen Fällen wäre es vielleicht passender, von „bevölkerungswirksamer Politik“ statt von Bevölkerungspolitik zu sprechen. Im angelsächsischen Raum wird eine solche Unterscheidung nicht getroffen, sondern pauschal der Begriff „Population Policy“ verwendet. Theoretische Arbeiten weisen darauf hin, dass eine direkte Steuerung der Bevölkerungsentwicklung wohlstandsfördernd sein kann (Samuelson 1975). Für eine Steuerung spräche auch, dass demografische Variablen besser beobachtbar sind als
1.3 Wohlfahrtstheoretische Gründe für bevölkerungswirksame Politikmaßnahmen
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ökonomische. Ferner könnte es sehr lange dauern, bis man durch Änderungen in den ökonomischen Rahmenbedingungen Veränderungen im demografischen Verhalten erzielt (De la Croix et€al. 2009). In Deutschland ist kein politischer Wunsch erkennbar, eine breitere Diskussion über die Zweckmäßigkeit und Gestaltung von Bevölkerungspolitik in diesem engeren Sinne der Steuerung anzustoßen; lediglich zur Immigrationssteuerung gibt es Beiträge. In Bezug auf die Geburtenrate ist das insofern verständlich, wie die Möglichkeiten ihrer direkten Steuerung, wie unter 2.1 erläutert, sehr eng sind. Und die Überlebenswahrscheinlichkeit ist zwar mit den öffentlichen Gesundheits- und Pflegeausgaben korreliert, empirische Befunde über die Wirkungsrichtung sind jedoch nicht eindeutig (u.€a. Filmer und Pritchett 1999). Doch auch indirekte Einflussmöglichkeiten auf die demografische Entwicklung werden in Deutschland wenig thematisiert; stattdessen wird viel über Familienpolitik gesprochen. Diese greift in Bevölkerungsfragen allerdings zu kurz. Erstens lässt sie die Einflussnahme auf die Migration und die Überlebenswahrscheinlichkeit außer Acht. Zweitens zielt sie nicht auf die Kinderzahl, sondern auf die Lebensverhältnisse von Familien mit Kindern ab. Drittens wird Familienpolitik zu einem beträchtlichen Teil über Umverteilungspolitik realisiert. Der demografische Wandel verändert jedoch, wie in den nächsten beiden Kapiteln erläutert wird, auch die Produktionsmöglichkeiten eines Landes und damit den Umfang dessen, was verteilt werden kann. Solange man es vermeidet, über Bevölkerungspolitik zu sprechen und bei der familienpolitischen Diskussion verweilt, bleiben diese Zusammenhänge im Dunkeln.
1.3 W ohlfahrtstheoretische Gründe für bevölkerungswirksame Politikmaßnahmen Politikmaßnahmen lassen sich aus volkswirtschaftlicher Sicht nur mit Wohlfahrtsargumenten rechtfertigen.8 Die Beurteilung dessen, was für eine Gesellschaft wohlfahrtssteigernd ist, kann dabei entweder direkt, entsprechend einem übergeordneten ethischen Prinzip wie „Gleichheit“ erfolgen, oder indirekt, aus der Aggregation individueller Präferenzen über mögliche Zustände der Welt, resultieren. Wir beschränken uns hier, schon aus Gründen der Überschaubarkeit, auf die zweite dieser Möglichkeiten. Die Aggregation individueller Präferenzen stellt die Frage der Darstellung und interpersonellen Vergleichbarkeit individueller Präferenzen sowie jene der anzuwendenden Aggregationsregel. Entsprechend der Antworten auf diese Fragen bieten sich drei verschiedene Begründungen für bevölkerungswirksame 8╇ Das Thema der Wohlfahrtstheorie ist die Lebensqualität einer Gesellschaft bei unterschiedlichen Politikoptionen. Es handelt sich dabei um eine normative Theorie, die versucht, die gesellschaftlichen Zustände, die bei Anwendung unterschiedlicher Politikoptionen erreicht werden können, gemäß einer Wertvorstellung zu ordnen. Siehe u.€a. Acocella (1998). Ansätze positiver Theorie, die das Verhalten von Interessengruppen im politischen Kontext untersuchen, werden dem Public Choice Bereich oder der Neuen Politischen Ökonomie zugeordnet.
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1 Bewältigung der Folgen des demografischen Wandels
Politikmaßnahmen an, die wir nachfolgend unter Effizienzaspekte, weitere Wohlfahrtsüberlegungen und andere Gründe zusammenfassen.
1.3.1 Effizienzaspekte: das Pareto-Kriterium Ausgangspunkt unserer Überlegungen ist die Frage, ob die individuellen Entscheidungen, Kinder zu bekommen, zu einer gesellschaftlich gewünschten Geburtenrate führen können und wie diese aussähe. Die gleiche Frage kann man natürlich auch auf die Entscheidung, seinen Lebensmittelpunkt zu verlegen (zu „wandern“) und hinsichtlich der selbstverantworteten Überlebenswahrscheinlichkeit stellen, d.€ h. auf das gesamte demografische Verhalten anwenden. In Bezug auf rein wirtschaftliche Wahlhandlungen kann gezeigt werden, dass die Verfolgung des Eigeninteresses unter geeigneten Rahmenbedingungen: vollständige Konkurrenz und vollständige Märkte, ein gesellschaftlich günstiges, im Sinne von effizientes Ergebnis herbeiführen kann. Man spricht in diesem Zusammenhang in Anlehnung an Adam Smith von einer „unsichtbaren Hand“, die solches bewerkstellige. Das wirtschaftlich effiziente Ergebnis hat dabei auch die Eigenschaft, „Pareto-effizient“ zu sein. Paretoeffiziente Zustände zeichnen sich dadurch aus, dass es nach ihrem Erreichen nicht mehr möglich ist, durch weiteres Handeln ein Individuum besser zu stellen, ohne ein anderes zu benachteiligen. In dem Maße, in dem das demografische Verhalten an das wirtschaftliche Verhalten und ebendiese Rahmenbedingungen gekoppelt ist, kann die Frage der ParetoEffizienz auf das demografische Verhalten ausgeweitet werden. Der Bevölkerungsökonom Robert Willis schreibt dazu: It is quite natural for a modern economist to ask whether Smith’s invisible hand might be expected to operate in the context of population growth. Specifically, should we expect a socially desirable outcome to flow from the decentralized decisions of individuals to marry, bear children, and invest in the human and physical capital with which their children and their children’s children would work? Until quite recently, these questions have not been addressed explicitly, either in the purely theoretical sense of establishing conditions under which such a theorem would hold, or in the empirical sense of determining whether private demographic behavior either does or does not tend to lead to socially desirable outcomes (Willis 1987, S.€662).
Das Pareto-Kriterium ist eine Wertvorstellung, die individuelle Präferenzen als einzige Grundlage für gesellschaftliche Präferenzen postuliert: Was gesellschaftlich wünschenswert ist, sei ausschließlich aus dem abzuleiten, was Individuen für erstrebenswert („nutzenstiftend“) halten. Sein Pluspunkt ist, dass es auch dann anwendbar ist, wenn die individuellen Präferenzen nur ordinal messbar sind, d.€h. nur Aussagen der Art „besser oder schlechter als“ erlauben, aber keine der Art „dreimal besser oder schlechter als“, was einer kardinalen Messung entspräche. Es greift zudem selbst dann, wenn die Zufriedenheitszustände verschiedener Individuen überhaupt nicht vergleichbar sind – allerdings erlaubt es dann kein vollständiges Ranking möglicher Zustände, was eine große Einschränkung seiner Brauchbarkeit
1.3 Wohlfahrtstheoretische Gründe für bevölkerungswirksame Politikmaßnahmen
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darstellt und es als Minimalanforderung an einen gesellschaftlich wünschenswerten Zustand erscheinen lässt. Insbesondere unterscheidet es nicht nach der Verteilung der Ressourcen in der Bevölkerung. Ob also ein Individuum, dem es bereits gut ging, in einem Zustand besser gestellt wird als in einem anderen, oder eines, dem es schlecht ging, kann mit dem Pareto-Kriterium nicht weiter bewertet werden; die beiden Verbesserungen wären äquivalent. Das Pareto-Effizienzkriterium wurde für gegebene Bevölkerungen entwickelt und schien zunächst nicht auf wachsende oder schrumpfende Bevölkerungen anwendbar, weil es dann laufend andere Gruppen sind, deren Wohlergehen verglichen werden müsste. Wie sollte aber vorab, wenn es einige Individuen noch nicht gibt, oder mit Blick darauf, dass es sie später nicht geben wird, über eine mögliche Verbesserung des Wohlstands in der Bevölkerung geurteilt werden? Manche Ansätze nehmen einfach an, man könne diese Fragen beantworten und weiten das Konzept der Pareto-Effizienz geschickt aus, so dass es neben der heute lebenden Bevölkerung auch all jene umfasst, die später geboren werden könnten, unabhängig davon, ob sie dann auch tatsächlich geboren werden (z.€B. Golosov et€al. 2007). Andere schließen, dass eine Ordnung nach dem Pareto-Kriterium eben auch dahingehend unvollständig sei, dass man das Wohlergehen potenzieller Individuen nicht berücksichtigen könne. Dasgupta (1987) schreibt hierzu: Non-existence is not a state in which one can imagine oneself. It is not to be viewed on par with zero living standard. … There is no overall moral ordering of alternative worlds. … morality is person-relative (or generation-relative) … (S.€650–652).
Jeder Generation wäre damit das Recht eingeräumt, über die Existenz zukünftiger Generationen und der Ressourcenbasis, die ihr hinterlassen wird, nur nach dem Kriterium zu entscheiden, ob es ihr eigenes Wohlbefinden erhöht. Bei einer unendlichen Abfolge von Generation wird jedoch keine privilegiert, da jede ihrerseits „Gott spielen“ kann (Dasgupta 1987, S.€652).9 Externe Effekte╇ Einer der wichtigsten Umstände, unter denen das Ziel der Pareto-Effizienz verfehlt wird, ist bei Vorliegen Externer Effekte. Externe Effekte treten auf, wenn individuelles Handeln auch für Unbeteiligte Auswirkungen hat, für welche die Verursacher keinen Preis zahlen bzw. keine Erträge erhalten. Das bekannteste Beispiel stammt aus dem Bereich negativer Externer Effekte: Umweltschäden. Es gibt jedoch auch zahlreiche positive Externe Effekte, insbesondere im Zusammenhang mit der Wissensakkumulation. So profitieren vom individuellen Wissenszuwachs meist auch andere, ohne dafür einen Preis zahlen zu müssen. Gäbe es keine Externen Effekte und auch keine weiteren Gründe für Marktversagen (wie fehlende Märkte, private Information oder Öffentliche Güter), so wäre die selbstbestimmte Fertilität für die laufende Generation Pareto-optimal (u.€a. Nerlove et€al. 1986). Eine wachsende oder schrumpfende Bevölkerung erzeugt jedoch eine Reihe von Externen Effekten. Bei
9╇ Möglicherweise pflanzt sich jede Generation auch schon allein deshalb fort, weil sie nicht will, dass ihr als letzte Nachteile entstehen.
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1 Bewältigung der Folgen des demografischen Wandels
Bevölkerungswachstum werden knappe Ressourcen noch knapper,10 die Umweltverschmutzung nimmt zu, auf dem Arbeitsmarkt wirkt das höhere Angebot lohnsenkend; aber es wird auch mehr Wissen verbreitet, die Pro-Kopf Kosten für öffentliche Güter sinken, usw. Bei Schrumpfung der Bevölkerung verlaufen die Wirkungen in die umgekehrte Richtung. Einige der genannten Externen Effekte werden über die Fertilitätsentscheidung der Eltern „internalisiert“ oder „eingepreist“, so dass sie keine Quelle für Pareto-Ineffizienz darstellen und daher keine staatliche Einflussnahme auf die Geburtenrate erfordern. Beispielsweise bedarf es bei Vorhandensein erschöpfbarer Ressourcen keiner Senkung der Geburtenrate, wenn sich die Preise der Ressourcen frei an die Knappheitsverhältnisse anpassen können (Nerlove et€al. 1986). Für andere Externe Effekte gilt das nicht, so bei Umweltverschmutzung oder Wissens-„Spillover“ (kostenlose Wissensübertragung). In diesen Fällen ist eine Senkung bzw. Erhöhung der Bevölkerungszahl durchaus zu empfehlen, weil selbst Umweltsteuern, der Handel mit Umweltzertifikaten bzw. die Subventionierung des Wissenserwerbs nicht alle Externen Effekte ausgleichen können, die damit verbunden sind. Notwendig wären zusätzliche Steuern auf die Kinderzahl bzw. eine Subventionierung derselben. Bleiben wir für einen Augenblick bei dem Umweltproblem. Nehmen wir an, Umweltverschmutzung entsteht als Nebenprodukt der Güterproduktion. Ohne Umweltsteuern wird grundsätzlich zu viel produziert, das ist der übliche negative Externe Effekt. Bei steigender Bevölkerung wird zudem mehr produziert, weil die Bevölkerung größer ist. Diesen Effekt fängt die Umweltsteuer nicht ab; Eltern müssten daher zu seinem Ausgleich eine „Kindersteuer“ zahlen (Golosov et€al. 2007, S.€1064). Mit der Wissensproduktion ist es hingegen genau umgekehrt: Eltern, die ihren Kindern eine gute Ausbildung zukommen lassen, müssten für die Kosten, die sie tragen, eine Subvention erhalten – was in den meistens Ländern durch ein öffentliches Schulsystem, zumindest im Ansatz, auch realisiert wird. Darüber hinaus gibt es noch zahlreiche subtile Formen Externer Effekte, die von Kindern ausgehen und verhindern, dass die Gesellschaft von sich aus eine Pareto-optimale Geburtenrate erzielt. Sie ergeben sich dann, wenn das Wohlergehen der Kinder auch das Wohlergehen ihrer Eltern mitbestimmt. Viele davon betreffen Transfers zwischen Eltern und Kindern oder zwischen den eigenen Kindern in deren Erwachsenenalter. Beispielsweise begünstigt ein Transfer an das eigene Kind auch die Familie des Partners des Kindes, weil diese nun weniger Ressourcen aufwenden muss, um zum Wohlergehen des eigenen Kindes beizutragen (Nerlove et€al. 1986, S.€20€f). Der Transfer könnte dabei eine Erbschaft oder eine Investition in das Humankapital des eigenen Kindes sein, die sich später einkommenssteigernd auswirkt, wie die Finanzierung einer Bildungs- oder Weiterbildungsmaßnahme. Man sieht aus diesen Ausführungen, dass unter Zugrundelegung des Pareto-Kriteriums Externe Effekte, die im Zusammenhang mit Kindern auftreten, eine gute Genauer verläuft der Gedankengang wie folgt: Bei Vorhandensein fixer oder erschöpfbarer natürlicher Ressourcen hat die individuelle Entscheidung für ein Kind den Nebeneffekt, dass die durchschnittlich pro Kopf verfügbare Menge an diesen Ressourcen geringer wird. Dadurch sind die gesellschaftlichen Kosten eines Kindes höher als die privaten: ein negativer Externer Effekt tritt auf, dessen fehlende Berücksichtigung zu Überbevölkerung führt.
10╇
1.3 Wohlfahrtstheoretische Gründe für bevölkerungswirksame Politikmaßnahmen
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Begründung für die staatliche Einflussnahme auf individuelle Entscheidungen für Kinder abgeben. Die Vielfalt und Gegenläufigkeit dieser Externen Effekte lässt jedoch kaum hoffen, sie theoretisch oder in einem Maßnahmenkatalog alle adäquat zu erfassen. Es muss vielmehr ein weiteres Kriterium gefunden werden, dass es einem erlauben sollte, sich auf einen oder wenige dieser Externen Effekte zu konzentrieren. Theorie des Zweitbesten: Kinder und Alterssicherung╇ Eine ganz andere wohlfahrtstheoretische, auf dem Pareto-Kriterium beruhende Begründung für bevölkerungswirksame Maßnahmen bietet die „Alterssicherungshypothese“. Sie besagt, dass Menschen auch deswegen Kinder großziehen, weil sie sich von ihnen eine Unterstützung im Alter erhoffen (Neher 1971; Boldrin et€al. 2005). Mit der Einführung einer Rentenversicherung im Umlageverfahren eröffnen sich jedoch neue Wege der Alterssicherung, in denen jeder von den Kindern der anderen als spätere Einzahler in das System profitiert. Dieser positive Externe Effekt bedingt eine Abweichung vom Pareto-Optimum d.€h. auch eine Diskrepanz zwischen der individuell und gesellschaftlich optimalen Kinderzahl: Es gibt weniger Kinder, als ein Pareto-effizienter Zustand es erfordern würde. Wollte der Staat diese Verzerrung der Anreize beheben, ohne die ursprüngliche Maßnahme der Einführung der Rentenversicherung rückgängig zu machen, müsste er eine Politik der Subventionierung der Kinderzahl betreiben; man nennt das eine Strategie des Zweitbesten (Optimums).11 Mit der gleichen Logik ließe sich dann auch argumentieren, dass die Einführung und der Ausbau der Pflegeversicherung einen Rückgang der Fertilität bewirken und dass umgekehrt, mit dem Rückführen der Leistungen sozialer Sicherungssysteme, die Geburtenziffern auch ohne weitere Maßnahmen wieder ansteigen werden. Tatsächlich zeigen beispielsweise Billari und Galasso (2009), dass die Rentenreformen der 1990er Jahre in Italien, die zu einem Absinken des erwarteten Rentenniveaus führten, die Wahrscheinlichkeit der Elternschaft um über 10€% erhöhte. Dieses Ergebnis widerspricht im Übrigen dem unter 2.4 erwähnten Argument, dass bevölkerungswirksame Maßnahmen nur langsam Wirkung zeigten (De la Croix et€al. 2009).
1.3.2 Weitere Wohlfahrtsüberlegungen: Gerechtigkeit Bisher haben wir nur die Implikationen der Anwendung des Pareto-Kriteriums für die laufende Generation betrachtet. Es gibt jedoch auch stärkere Forderungen, beispielsweise nach Verteilungsgerechtigkeit zwischen den Generationen, gerade unter den Bedingungen des demografischen Wandels.12 Dafür müssen die individuellen 11╇ Das Argument wird unter anderem von Cigno (1993) vertreten. Andere Autoren zeigen hingegen, dass wenn Kinder nicht nur aus Alterssicherungsgründen, sondern auch aus einer Präferenz für Kinder heraus geboren werden, die Geburtenrate nicht zu sinken brauche, sondern unter Umständen sogar steigen könne (Nerlove et€al. 1986). 12╇ Gerechtigkeitsaspekte sind auch die Grundlage für jede Diskussion über Nachhaltigkeit. Siehe u.€a. Asheim et€al. (2001).
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1 Bewältigung der Folgen des demografischen Wandels
Nutzen vergleichbar sein, was nur durch die hier notwendige Annahme kardinaler Messbarkeit gesichert werden kann. Wie, also nach welcher Regel, die individuellen Nutzenfunktionen zu einer gesellschaftlichen Wohlfahrtsfunktion aggregiert werden, ergibt sich aus dem zugrundegelegten Gerechtigkeitskriterium. Das Maximum der gesellschaftlichen Wohlfahrtsfunktion stellt den gesellschaftlich wünschenswerten Zustand dar. Wird zum Beispiel Rawls (1971) folgend, als gerecht nur das definiert, was das schwächste Mitglied der Gesellschaft besserstellt, dann wird die gesellschaftliche Wohlfahrtsfunktion nur das Nutzenniveau dieses Individuums enthalten und das Ziel sein, dessen Nutzen zu maximieren. Die am häufigsten verwendete soziale Wohlfahrtsfunktion addiert die Wohlfahrt aller gegenwärtigen und künftigen Generationen; man bezeichnet sie als „utilitaristisch“ und führt sie auf die Arbeiten von Bentham (1948), Sidgwick (1874) und Pigou (1920) zurück.13 Zudem wird mit Pigou angenommen, dass die gesellschaftliche Wohlfahrtsfunktion einen sinkenden Grenznutzen aufweist. Damit ist beispielsweise die marginale Verbesserung der Einkommensposition eines reichen Individuums weniger wohlfahrtserhöhend als die Verbesserung der Einkommensposition eines ärmeren Individuums. Auf unterschiedliche Generationen angewandt bedeutet das, einen gleichmäßigen Konsumstrom einer Situation vorzuziehen, in der eine Generation hohe und eine andere geringe Konsummöglichkeiten hat. Wir ziehen es nach Pigou demnach vor, dass es unseren Kindern ähnlich gut geht wie uns, aber uns auch nicht wesentlich schlechter als ihnen. Um bei Anwendung des utilitaristischen Wohlfahrtskriteriums nicht wieder in die Probleme der Berücksichtigung „potenzieller“ Personen zu geraten, sei nun angenommen, dass die Geburtenrate endogen ist. Das bedeutet, sie ist das Ergebnis der Wahlhandlungen von Individuen, die eine Präferenz sowohl für den eigenen Konsum als auch für Kinder und deren Wohlergehen haben. Künftige Personen oder Generationen werden dabei nur über ihre real existierenden Eltern oder – bei längerer Zeitbetrachtung – ihren gegenwärtig lebenden Vorfahren in Zahl und Ausstattung mit bedacht. Dabei kann es durchaus sein, dass dem Wohlergehen verschiedener Individuen oder Generationen ein anderes Gewicht beigemessen wird.14 Eine Form der Gewichtung wäre auch, dass man den durchschnittlichen individuellen Nutzen berücksichtigt; diese Form utilitaristischer gesellschaftlicher Wohlfahrtsfunktionen wird auf Arbeiten von Mill (1848) und Edgeworth (1925) zurückgeführt.15 In Teilen der Literatur weist man darauf hin, dass die optimale Bevölkerung bei Anwendung des Kriteriums der Gesamtwohlfahrt zu einer größeren gesellschaftlich optimalen Kinder- und Bevölkerungszahl führt, als bei Anwendung des Kriteriums der durchHier zitiert nach Razin und Sadka (1995) sowie Acocella (1998). Damit die entsprechenden Funktionen auch bei sehr langfristiger Betrachtung (bei „unendlichem Zeithorizont“) maximiert werden können, wird die Wohlfahrt zukünftiger Generationen meist abdiskontiert; d.€h., sie geht mit einem geringeren Gewicht in die gesellschaftliche Wohlfahrtsfunktion ein. Siehe Frederick et€al. (2002) für einen kritischen Überblick über weitere Motivation, theoretische Modellierung und empirische Befunde zur Zeitdiskontrate. 15╇ Hier zitiert nach Razin und Sadka (1995) sowie Acocella (1998). 13╇ 14╇
1.3 Wohlfahrtstheoretische Gründe für bevölkerungswirksame Politikmaßnahmen
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schnittlichen Wohlfahrt;16 insgesamt sei aber unklar, in welcher Relation die gesellschaftlich optimale zur individuell optimalen Kinderzahl steht. Daher können auf Basis dieses Vergleichs auch nur wenige Aussagen über die Zweckmäßigkeit einer staatlichen Einflussnahme auf die individuellen Fertilitätsentscheidungen getroffen werden. Beispielsweise ist ein Kindergeld bei Anwendung des Kriteriums der gesamten Wohlfahrt für das Erreichen der gesellschaftlichen Wohlfahrt notwendig; bei Anwendung des Kriteriums durchschnittlicher Wohlfahrt kann darüber jedoch keine Aussage gemacht werden (Nerlove et€al. 1986).
1.3.3 Andere Gründe: der Wählerwille Die Festlegung eines Wohlfahrtskriteriums kann auch durch den Wählerwillen erfolgen. Bei gegebenen Institutionen mag sich die Politik beispielsweise am (erwarteten) Wählerverhalten des Medianwählers orientieren. Wenn dies geschieht, können dessen Präferenzen auch dann zu Maßnahmen gegen den Bevölkerungsrückgang führen, wenn keine der anderen wohlfahrtstheoretischen Argumente dafür sprechen. Sie können aber auch Maßnahmen verhindern, die nach anderen Kriterien wohlfahrtssteigend sind. So können Nationalstolz und Heimatverbundenheit den Wunsch entstehen lassen, eine möglichst große Bevölkerung zu werden oder zu bleiben. In internationalen Zusammenhängen könnte eine größere Bevölkerung für die Regierung auch tatsächlich von Vorteil sein, wenn sie die Durchsetzung nationaler (Wähler-) Interessen erleichtert. So weisen Münch und Wilkoszewski (2006) darauf hin, dass die Abstimmungsregeln des EU-Ministerrats ab 2014 das Prinzip der doppelten Mehrheit vorsehen, wonach Mehrheitsbeschlüsse von 55€% der Staaten, die mindestens 65€% der Bevölkerung repräsentieren, getroffen werden können. Wegen der Sperrminorität von vier Staaten, die mindestens 35€% der Bevölkerung repräsentieren, ist eine möglichst große Bevölkerung für die Einflusssicherung von Vorteil. Der Wählerwille kann in einer alternden Gesellschaft aber auch dazu führen, dass Verteilungsmaßnahmen eher zugunsten der Rentner statt von Kindern erfolgen, wodurch sich die Basis für den künftigen Wohlstand möglicherweise verringert.
16╇ Auf einen interessanten Zusammenhang weist Parfit (1984) hin. Würde man im Kontext des Bevölkerungswachstums auch das Wohl aller potenziellen Individuen berücksichtigen und die Position vertreten, dass geboren werden grundsätzlich besser ist, als nicht geboren werden, dann wären die Ungeborenen bei Anwendung des Gerechtigkeitskriteriums von Rawls (1971) die am schlechtesten gestellte Gruppe, deren Wohlfahrt es zu maximieren gälte. Die Folge wäre, dass die Bevölkerung ungebremst wächst und aufgrund endlicher Ressourcen ans Existenzminimum gerät. Der Gesamtwohlstand würde dennoch steigen, der durchschnittliche Wohlstand dabei aber gegen Null gehen. Das sei keine annehmbare Lösung; Parfit bezeichnete sie daher auch als „repugnant conclusion“. Dieser und ähnliche Gedankengänge veranlassten Dasgupta (1987) zu der in Kap.€2 dieses Buches zitierten Aussage, dass die Frage nach dem Wohlstand Ungeborener eine falsch gestellte Frage sei.
18
1 Bewältigung der Folgen des demografischen Wandels
1.4 Demografie, Wirtschaftswachstum und Wohlstand Wie im vorangegangenen Kapitel erläutert, gibt es mehrere Wege, auf denen demografische Faktoren die gesellschaftliche Wohlfahrt beeinflussen können. Von diesen stehen im Zusammenhang mit Wirtschaftswachstum und Wohlstand die Externen Effekte im Vordergrund. Es gibt nur wenige Modelle, in denen anhaltendes Wirtschaftswachstum ohne positive Externe Effekte der einen oder anderen Art erklärt werden kann. In den meisten Fällen werden Externe Effekte mit Wissen bzw. Humankapital oder mit dem Erfinden neuer Produkte, d.€ h. mit Innovation in Verbindung gebracht.17 Größere Bevölkerungen können mehr Talente hervorbringen, mehr Wissen akkumulieren und mehr Innovationen tätigen. Zudem erlauben sie die Bereitstellung von mehr öffentlichen Gütern. Allerdings gibt es auch Nachteile der Größe, etwa ökologischer Art, die eine Begrenzung der Bevölkerungsgröße nach oben hin empfehlen. Aus der Berücksichtigung von Vor- und Nachteilen der Größe lässt sich die Vorstellung einer optimalen Bevölkerungsgröße entwickeln (Dasgupta 1974; Razin und Sadka 1995). An dieser orientiert sich dann auch die Definition von „Über- oder Unterbevölkerung“.18 Allerdings gilt die Vorstellung einer optimalen Bevölkerungsgröße nur für den Fall einer konstanten Bevölkerung. Andernfalls ist die optimale Wachstumsrate der Bevölkerung ins Auge zu fassen. Um eine Vorstellung von den Wirkungszusammenhängen zu erzeugen, müssen wir kurz einige Grundlagen erläutern.
1.4.1 Grundlagen Wirtschaftswachstum wird als anhaltende Erhöhung der wirtschaftlichen Ausbringung definiert. Im Fokus der Öffentlichkeit und der Politik steht als Leistungs- und Einkommensmaß eines Landes das Bruttoinlandsprodukt (BIP). Sein Wachstum trägt über die daraus erzielten Steuereinnahmen wesentlich zur Abgrenzung der Spielräume für Politikmaßnahmen bei. Aus Sicht der Wachstumstheorie interessiert eher das BIP pro Kopf, da es sowohl für Vergleiche zwischen Volkswirtschaften mit sehr unterschiedlicher Bevölkerungsgröße taugt, als auch zur Beurteilung des demografischen Beitrags zur Einkommensentwicklung in ein und demselben Land herangezogen werden kann. Einen ausgezeichneten Literaturüberblick zum Thema Externe Effekte und Wirtschaftswachstum bieten Klenow und Rodríguez-Clare (2005). 18╇ Einige Arbeiten zur optimalen Bevölkerungsgröße präsentieren konkrete Ergebnisse von Modellrechnungen. Zimmermann (1989, S.€ 4) weist beispielsweise auf Arbeiten von Wicksell und Sauvy hin, in denen 3€Mio. für Schweden im Jahre 1924 bzw. 50–75€Mio. für Frankreich im Jahre 1956 als optimal berechnet wurden; Schweden hat heute eine Bevölkerung von rund 9€Mio. und Frankreich von rund 61€Mio. 17╇
1.4 Demografie, Wirtschaftswachstum und Wohlstand
19
Mit der theoretischen Modellierung von Wachstumsprozessen versucht man herauszufinden, welche die Determinanten des Wirtschaftswachstums sind und wie sich das Pro-Kopf-Einkommen entlang der möglichen Wachstumspfade entwickeln würde. Dabei unterscheidet man zwischen Gleichgewichtspfaden und Anpassungspfaden an ein Wachstumsgleichgewicht. Da Anpassungen aber Jahrzehnte dauern können, sind Aussagen über letztere genauso wichtig, wie zu ersteren; empirisch lassen sie sich ohnehin kaum auseinanderhalten. Die Kernfragen sind letztlich: Unter welchen Bedingungen ist permanentes Wachstum des Pro-Kopf-Einkommens möglich? Und kann der Staat durch wirtschaftspolitische Eingriffe die Wachstumsrate des Pro-Kopf Einkommens erhöhen? Ist die Antwort auf die erste Frage negativ, das heißt, wachsen das Einkommen und die Bevölkerung mit der gleichen Rate, so dass die Wachstumsrate des Pro-Kopf Einkommens Null ist, dann richtet sich das Augenmerk auf das Niveau des gleichgewichtigen Pro-Kopf Einkommens. Kann es durch staatliche Einflüsse erhöht werden, womit auch die Wachstumsrate im Übergangsprozess zu dem neuen Gleichgewicht ansteigen würde? Vor dem Hintergrund dieser Zusammenhänge sortieren wir nun einige Aussagen zu den Interaktionen von Demografie und Wirtschaftswachstum. Für einen Überblick siehe auch Czechl und Henseke (2007).
1.4.2 Empirischer Ansatz: Demografische Dividenden Das Wachstum des Pro-Kopf-Einkommens lässt sich, rein definitorisch, in mehrere Komponenten zerlegen: eine Arbeitsproduktivitätskomponente (BIP pro Beschäftigten), eine Beschäftigungskomponente (Beschäftigungsquote, entspricht dem Anteil Beschäftigter an den 15–64-Jährigen) und eine demografische Komponente (Anteil der 15–64- Jährigen an der Gesamtbevölkerung).19 Die Entwicklung letzterer wird Erste Demografische Dividende genannt. Diese Zerlegung zeigt, dass das Wachstum des Pro-Kopf Einkommens nur dann positiv ist, wenn die Summe aus den Wachstumsraten der Arbeitsproduktivität und der Beschäftigungsquote höher ist als die Differenz der Wachstumsraten von Erwerbs- und Gesamtbevölkerung. Oder anders formuliert, die negativen Folgen eines rückgängigen Anteils 15–64-Jähriger auf das Pro-Kopf-Einkommenswachstum – mithin einer negativen Demografischen Dividende – könnten durch beschleunigte Arbeitsproduktivitätsentwicklung und/oder einer ansteigenden Beschäftigungsquote kompensiert werden. Mathematische Herleitung: Das Pro-Kopf-Einkommen (Y/N) lässt sich als Produkt aus Arbeitsproduktivität (Y/L), Beschäftigungsquote (L/WA) und Anteil der Erwerbsbevölkerung an der Gesamtbevölkerung (WA/N) ausdrücken, wobei Y für das BIP, N für die Bevölkerung, L für die Beschäftigten und WA für die Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter (WA von Working-Age) stehen. Logarithmiert man die Gleichung und leitet nach der Zeit ab, ergibt sich ein additiver Zusammenhang der Wachstumsraten (g von growth): g(Y/N)â•›=â•›g(Y/L)â•›+â•›g(L/WA)â•›+â•›g(WA/N)â•›=â•›g(Y/L)â•›+â•›g(L/ WA)â•›+â•›(gWAâ•›−â•›gN). 19╇
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1 Bewältigung der Folgen des demografischen Wandels
Die Erste Demografische Dividende war für Deutschland positiv, als die Babyboomgeneration in den Arbeitsmarkt eintrat, schwächte sich dann ab, weil nach dem Babyboom kleinere Generationen nachwuchsen, und wird jetzt allmählich negativ, weil größere Generationen das erwerbsfähige Alter zu verlassen beginnen. Die stärksten negativen Einflüsse werden mittelfristig, beim Austritt der Babyboomer aus dem Erwerbsleben erwartet. Zwischen 2025 und 2035 könnte die Erste Demografische Dividende Werte von knapp −1€ % pro Jahr erreichen (Henseke 2010). Danach wird sie sich wahrscheinlich wieder stabilisieren, wenn auch auf einem tendenziell negativen Wert. Wegen der permanenten Alterung, als Merkmal des demografischen Wandels, ist das Wachstum der Wohnbevölkerung bei konstantem Renteneintrittsalter nämlich größer als das Wachstum der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter bzw. im Falle eines Bevölkerungsrückgangs, wie in Deutschland, schrumpft die Erwerbsbevölkerung stärker als die Gesamtbevölkerung. Die Erste Demografische Dividende wird daher wohl auch langfristig negativ bleiben. Ein OECD Vergleich ergab, dass das Pro-Kopf-Einkommen im Zeitraum 1998– 2008 in allen Ländern wuchs und dass dieser Anstieg vor allem Folge einer sich positiv entwickelnden Arbeitsproduktivität war (Abb.€1.2). Die großen Ausnahmen sind Spanien und Italien. Dort ging die Produktivität zurück. Grund für das steigende Pro-Kopf-Einkommen war in diesen Ländern eine deutliche und anhaltende Verbesserung der Beschäftigungsquote. Generell zeigt sich, dass die Beschäftigungsquote länderübergreifend einen positiven Betrag zur Einkommensentwicklung leistete, lediglich in der Türkei, USA und Tschechien sind die Werte leicht rückläufig. Die Erste Demografische Dividende hatte im Mittel nur einen moderaten Einfluss auf das Wachstum des Pro-Kopf Einkommens. Es gab allerdings Ausnahmen sowohl in positiver als auch in negativer Richtung. Von einer günstigen demografischen Entwicklung profitieren konnten Irland, die Slowakei und Mexiko. Deutlich negativ war sie hingegen in jenen Ländern, in denen die Alterung am stärksten fortgeschritten ist: Japan, Italien und Deutschland. Allerdings konnte in Deutschland und Italien die negative Dividende durch einen Anstieg der Beschäftigungsquote im betrachteten Zeitraum kompensiert werden. In Japan hingegen reduzierte der vergleichsweise rasche Rückgang des Anteils der Erwerbsbevölkerung von 0,6€% pro Jahr fast ungebremst die Wachstumsrate des Pro-Kopf-Einkommens; die Wachstumsrate der Arbeitsproduktivität fiel jedoch in Japan deutlich höher als in Deutschland oder Italien aus, so dass dennoch ein hohes Wachstum des Pro-KopfEinkommens möglich wurde. Regionale Untersuchungen zeigen, dass die Erste Demografische Dividende bis 2030 in nahezu allen Regionen der Europäischen Union negativ wird, unabhängig davon, ob die jeweilige Wohnbevölkerung noch wächst oder schon schrumpft. Nur wenige Regionen werden voraussichtlich eine Ausnahme bilden, vielleicht einige griechische Regionen, London oder der Nordosten Rumäniens. In den geburtenschwachen und von Abwanderung betroffenen Regionen sinkt die Erste Demografische Dividende hingegen besonders stark in den negativen Bereich ab (Tivig und Kühntopf 2009). Eine Zweite Demografische Dividende resultiert, wenn das Wachstum der Arbeitsproduktivität direkt oder indirekt von demografischen Variablen abhängt.
Wachstumsrate des ProKopfEinkommens
Belgien
BIP pro Beschäftigten
Beschäftigungsquote
Anteil 15-64
Erste Demografische Dividende
Abb. 1.2↜渀 Zerlegung des jährlichen Wachstums des Pro-Kopf Einkommens in der OECD, 1998–2008. (Quelle: Tivig und Waldenberger 2010)
–2%
–1%
0%
1%
2%
3%
4%
5%
6%
Spanien Italien Frankreich Neuseeland Portugal Australien Deutschland Kanada Schweiz Dänemark Mexico Niederlande Norwegen Österreich Vereinigtes Königreich Japan Vereinigte Staaten Schweden
Irland Finnland
Island Griechenland Luxemburg Ungarn Tschechische Republik
Polen Südkorea Türkei Slowakische Republik
1.4 Demografie, Wirtschaftswachstum und Wohlstand
21
22
1 Bewältigung der Folgen des demografischen Wandels
Die Arbeitsproduktivität wächst vor allem durch die Akkumulation von Sach- und Humankapital sowie durch technologischen Fortschritt, und sie ist abhängig von den institutionellen Gegebenheiten eines Landes. Die Sachkapitalakkumulation speist sich dabei vorwiegend aus der inländischen Ersparnisbildung, während der Humankapitalstock mit der Quantität und Qualität der Bildung und mit der Verbesserung der Gesundheitsversorgung wächst. Der technologische Fortschritt aber kann sowohl das Ergebnis von Forschung und Entwicklung, als auch von „learningby-doing“ sein. Demografische Veränderungen beeinflussen diese ökonomischen Entwicklungen. Beispielsweise könnte ein großer Anteil ökonomisch abhängiger Bevölkerungsgruppen die aggregierte Sparquote senken. Weiterhin könnte es eine geringe Kinderzahl erleichtern, allen Kindern eine gute Ausbildung zukommen zu lassen. Hingegen könnte ein Rückgang der Forscherpopulation infolge einer schrumpfenden Erwerbsbevölkerung die Forschungs- und Entwicklungsarbeiten erschweren. Im Länderquerschnitt zeigt sich, dass Länder mit niedriger Fertilität und folglich einem niedrigen Jungendquotienten tendenziell auch höhere Sparquote aufweisen. Tatsächlich zieht sich dieser negative Einfluss eines hohen Jugendquotienten bis zur Wachstumsrate der Arbeitsproduktivität durch (Kelley und Schmidt 2005). Beim Altenquotient scheinen hingegen Volkswirtschaften mit mittleren Werten im Schnitt die höchsten Sparquoten zu erzielen, während sehr niedrige und sehr hohe Werte mit eher geringen Sparquoten einhergehen. Der statistische Zusammenhang verläuft umgekehrt U-förmig (Abb.€1.3). Die OECD Länder haben typischerweise sowohl niedrige Jugendquotienten als auch international mit die höchsten Altenquotienten. Die im globalen Vergleich durchschnittlichen Sparquoten fügen sich demnach ins Bild. Ein besonders für entwickelte Industrieländer wichtiger Wachstumsmotor ist Humankapital. Humankapital beschreibt die wirtschaftlich relevanten Fertigkeiten und Fähigkeiten von Menschen (Keeley 2007). In diesem Sinne ist es eine Größe, die angibt, welche Ressourcen Menschen zur Verfügung stehen, um individuell und gesellschaftlich zur Wohlstandsmehrung beizutragen. Es vereinfacht die Anpassung an neue Gegebenheiten, die Adaption vorhandenen und die Entwicklungen neuen Wissens und steigert somit letztlich die Arbeitsproduktivität. Ein wichtiges, individuelles Fundament für die Aneignung von Fertigkeiten wird im Kindesalter gelegt. Dabei dürfte es aus Sicht der Familie und der Gesellschaft schwieriger sein, für eine größere Kinderzahl eine adäquate Gesundheitsversorgung bereitzustellen und ein hohes Ausbildungsniveau zu gewährleisten. Im Ländervergleich wird diese Argumentation unterstützt: Jugendliche aus Ländern mit hoher bis mittlerer Fertilität erreichten im Schnitt ein niedrigeres kognitives Leistungsniveau (Abb.€1.4). Der verwendete Indikator wurde von Hanushek und Wößmann (2009) konstruiert und auf seine Erklärungskraft für den länderspezifischen Wachstumsprozess getestet. Er basiert auf den Informationen aus internationale Schülertests aus verschiedenen Dekaden. Der Ergebnisse wurden standardisiert und aggregiert. Der Referenzwert ist 5, was dem Indikatormittel in einer ausgesuchten Gruppe von OECD Ländern entspricht. Die Standardabweichung wurde auf 1 normiert. Zwischen dieser Maßzahl und der Wachstumsrate des Pro-
0.8
1.0
1.2 –10
0.05
Sierra Leone
Uganda
0.15
Singapur
0.20
USA
Frankreich
Altenquotient, 1997-2007
0.10
Algerien
Abb. 1.3↜渀 Sparquote und Altersstruktur. (Quelle: World Development Indicators 2009, eigene Darstellung)
Jugendquotient, 1997-2007
0.6
10
0.00
0.4
Sierra Leone
Uganda
20
30
40
0.0
USA
Frankreich
Algerien
50
60
0
0.2
Deutschland
Japan
Singapur
Mittlere Sparquote, 1997-2007
0
10
20
30
40
50
–10
Mittlere Sparquote, 1997-2007
60
0.25
0.30
Deutschland
Japan
1.4 Demografie, Wirtschaftswachstum und Wohlstand 23
24
1 Bewältigung der Folgen des demografischen Wandels
Ø-Ergebnis internationaler Schülertests, 1960-2000
6.0 5.5
Singapur
Japan
5.0
USA
4.5
Malaysia
Italien
4.0
Deutschland
Ghana
3.5 Peru
3.0 2.5 2.0 1.5
2.5
3.5
4.5
5.5
6.5
TFR, 1960-2000
Abb. 1.4↜渀 Durchschnittliche Kinderzahl und Kognitive Leistung. (Quelle: UN World Population Prospects 2008; Hanushek und Wößmann 2009, eigene Darstellung)
Kopf-Einkommens besteht ein klar positiver Zusammenhang. OECD Länder können hier punkten. Sie haben zwar eine niedrige Fertilität, aber ein gut entwickeltes Ausbildungssystem und eine gute Gesundheitsversorgung. An dieser Stelle wird deutlich, wie eng Bildungs- und Familienpolitik wechselseitig verknüpft sind. Ein möglicher Anstieg der Kinderzahl kann nur dann positive Impulse für die Wohlstandsentwicklung setzen, wenn gleichzeitig gewährleistet ist, dass alle Kinder auch in den Genuss einer guten Ausbildung kommen. Neben Humankapital ist in modernen Volkswirtschaften die Erzeugung neuen Wissens von herausragender Bedeutung für die Entwicklung der Arbeitsproduktivität und damit für den Wachstumsprozess. Sehr vereinfacht ausgedrückt, ist die Wissensproduktion von der Anzahl der Forscher und dem bereits vorhandenem Wissensstock abhängig (Abb.€1.5). Wenn die Anzahl der Forscher proportional mit der Größe der Erwerbsbevölkerung variiert, d.€h. ihr Anteil konstant bleibt, müssten Länder mit schrumpfender Erwerbsbevölkerung einen Rückgang der Wissensproduktion hinnehmen. Da die Produktion neuen Wissens in einer Volkswirtschaft nicht direkt gemessen werden kann, muss sie für empirische Untersuchungen approximiert werden. Dabei gibt es vielfältige Möglichkeiten; eine davon ist die Approximierung durch die länderspezifische Anzahl der in Fachzeitschriften erschienen Artikel. Regressiert man diese Größe gleichzeitig auf die Erwerbsbevölkerung und das BIP pro Kopf
25
1.4 Demografie, Wirtschaftswachstum und Wohlstand Abb. 1.5↜渀 Schema der Wissensproduktion. (Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an Jones 1999)
:LVVHQVVWRFN
(UZHUEVEHY|ONHUXQJ
:LVVHQVSURGXNWLRQ
8QEHREDFKWHWH /lQGHUHIIHNWH
(als allgemeine Maßzahl für das bereits angehäufte Wissen), ergibt sich, dass beide Größen einen entscheidenden Einfluss auf die Wissensproduktion haben. Wächst die Erwerbsbevölkerung und damit annahmegemäß die Zahl der Forscher in einem Land, so beschleunigt sich die Wissensproduktion. Der Effekt liegt im Bereich zwischen 0,25€% und fast 1,6€%. Ein quantitativ ähnlicher Effekt geht von dem bereits angehäuften Wissensstock, hier verkörpert im erreichten Wohlstand (BIP pro Kopf) aus; auch sein Wachstum ist für die weitere Wissensproduktion von signifikanter Bedeutung.20 Der demografische Wandel kann demnach, für gegebene Werte des BIP pro Kopfs, negative Folgen für die Wissensproduktion haben. Die hier betrachteten Zusammenhänge skizzieren mögliche Wirkungskanäle der demografischen Entwicklung auf die Arbeitsproduktivität und sollen daher lediglich als krude Hinweise auf diese verstanden werden. In den Abb.€1.3 und 1.4 sind einfache univariate Beziehungen dargestellt; dritte Faktoren, wie der Offenheitsgrad einer Volkswirtschaft oder die Sozialversicherungssysteme, könnten jedoch wesentlich bedeutsamer sein und die Beobachtungen treiben. Der im vorangegangenen Absatz dargestellte Zusammenhang wurde dagegen um zeitkonstante, unbeobachtete Einflussfaktoren bereinigt. Doch der Schritt von einem publizierten Artikel zu einem tatsächlichen Anstieg der Arbeitsproduktivität bleibt weit. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass sich die bisherigen ökonomischen Konsequenzen der Alterung und Schrumpfung der Bevölkerung vor allem aus der Ersten Demografischen Dividende ergeben. Weil der Anteil der Erwerbsbevölkerung an der Gesamtbevölkerung schrumpft, wachsen die Pro-Kopf-Einkommen langsamer. Das Problem ist, wie erwähnt, erst einmal rein mechanisch: Das berechnete Bruttoinlandsprodukt wird von vergleichsweise weniger Köpfen erwirtschaftet und muss breiter verteilt werden. Erst wenn davon ausgegangen werden kann, dass die Größe, Wachstumsrate oder Altersstruktur der Bevölkerung Folgen Eigene KQ Schätzung des Zusammenhangs in 1. Differenzen zur Eliminierung zeitkonstanter Ländereffekte, robuste Standardfehler. Unterteilung in 2 Perioden: 1986–1995 und 1996–2005; Länderauswahl repräsentiert 85€% der Weltbevölkerung. BIP pro Kopf in kaufkraftbereinigten I$. Weitere Details sind auf Anfrage von Golo Henseke erhältlich.
20╇
26
1 Bewältigung der Folgen des demografischen Wandels
für die Produktion von Gütern und Dienstleistungen haben, gewinnen die demografischen Entwicklungen direkte ökonomische Relevanz. Der Umfang der Zweiten Demografischen Dividende lässt sich jedoch ungleich schwieriger prognostizieren, als der mechanische Effekt der Ersten Dividende. Für die EU-Länder insgesamt erscheint es aber wahrscheinlich, dass der demografische Wandel die Entwicklung der Arbeitsproduktivität langfristig ausbremsen wird, wenn auch national in unterschiedlichem Maße (Prskawetz und Lindh 2007). Die Finanzierbarkeit der gesetzlichen Sozialversicherungen ist hingegen ein Verteilungs- und kein allokatives Problem. Auch ist das Bestreben, sie mit allokativen Maßnahmen zu erleichtern, d.€h. mit Reformen zur Verbesserung der Effizienz, beispielsweise in der Gesundheitsversorgung, eine staatliche Aufgabe, die völlig unabhängig vom demografischen Wandel zu bewältigen ist. Durch den demografischen Wandel wurde jedoch der Druck, diese Aufgabe anzugehen, verstärkt. In jeder Volkswirtschaft werden Teile des erwirtschafteten Einkommens an abhängige Bevölkerungsgruppen transferiert, z.€B. in Form von Bildungs- und Gesundheitsausgaben, Renten oder Unterstützung zum Lebensunterhalt. Im demografischen Wandel nehmen diese Teile mit einem steigenden Prozentsatz abhängiger Bevölkerungsgruppen jedoch tendenziell zu, wodurch die Verschiebung der Altersstruktur eine neue ökonomische Relevanz gewinnt (Weil 1999). Im Folgenden wollen wir uns aber nicht auf diese Aspekte, sondern auf den Zusammenhang zwischen Demografie und Wirtschaftswachstum konzentrieren. Es gibt sowohl in der älteren als auch in der neueren Literatur zwei Arten von Erklärungsansätzen des Wirtschaftswachstums: mit gegebener („exogener“) und mit aus dem Modell heraus erklärter („endogener“) Bevölkerungsentwicklung. Theoretische Ansätze mit exogenen demografischen Variablen erlauben keine Aussagen über die Wirkungen ökonomischer Zusammenhänge beispielsweise auf das Geburtenverhalten der Individuen. Sie untersuchen nur Wirkungen in umgekehrter Richtung, von aggregierten Bevölkerungsvariablen auf das Wirtschaftswachstum. Fallen diese positiv aus, können sie eine Motivation für Versuche der politischen Steuerung der Bevölkerungsentwicklung bieten. Wirkungen in die umgekehrte Richtung und damit auch Wechselwirkungen zwischen demografischen und ökonomischen Entwicklungen können hingegen dann untersucht werden, wenn auch die demografischen Variablen als endogen betrachtet werden. Die Ergebnisse solcher Modelle können dann zur Empfehlung der staatlichen Einflussnahme auf das demografische Verhalten führen.
1.4.3 Einfluss der Demografie auf das Wirtschaftswachstum Im neoklassischen Modell von Solow (1956) und Swan (1956) spielt die Größe der Bevölkerung wegen der Annahme konstanter Skalenerträge keine Rolle, wohl aber die Wachstumsrate derselben. Die Wachstumsrate der Bevölkerung wird dabei als exogen und konstant angenommen, d.€h. man geht, wie schon Malthus (1798), von exponentiellem Bevölkerungswachstum aus. Der Engpass in diesem Modell
1.4 Demografie, Wirtschaftswachstum und Wohlstand
27
ist das Sachkapital, das nur durch Konsumverzicht akkumuliert werden kann und erstens, durch die nachwachsende Bevölkerung einer permanenten „Verdünnungstendenz“ unterliegt sowie zweitens, technologisch bedingt, sinkende Grenzerträge21 aufweist, d.€h. mit steigendem Kapitalstock geht der Investitionsanreiz zurück. Das Optimum und damit ein Wachstumsgleichgewicht sind dann erreicht, wenn es gelingt, eine konstante Pro-Kopf Ausstattung mit Kapitel (eine konstante „Kapitalintensität“) aufrecht zu erhalten. Eine Erhöhung der Wachstumsrate der Bevölkerung senkt die Kapitalintensität dauerhaft. Da Arbeits- und Wohnbevölkerung in diesem Modell annahmegemäß in einem festen Verhältnis zueinander stehen und keine Altersheterogenität der Arbeit berücksichtigt wird, gibt es keine Demografischen Dividenden. Die neoklassische Wachstumstheorie bietet daher nur eine Begründung für die Senkung der – allerdings meist als positiv angenommenen – Wachstumsrate der Bevölkerung. Die Bevölkerungsgröße hat dann einen Einfluss auf das Wirtschaftswachstum, wenn variable Skalenerträge vorliegen. In vielen neueren Wachstumsmodellen sind die gesamtwirtschaftlichen Skalenerträge steigend, bei konstanten oder steigenden Grenzerträgen des akkumulierbaren Faktors. Beides wird durch die Existenz positiver Externer Effekte ermöglicht, die von dem akkumulierbaren Faktor ausgehen. Der akkumulierbare Faktor ist das Real- oder Humankapital bzw. das Wissen oder technischer Fortschritt in Form von Produktinnovation.22 Wegen der Externen Effekte ist der private Ertrag in diesen Modellen geringer als der gesamtwirtschaftliche, so dass Raum für eine effizienzsteigernde, staatliche Subventionierung des Externe Effekte erzeugenden Akkumulationsprozesses entsteht, z.€B. der Bildung oder Forschung. Die Bevölkerung wird in diesen Modellen meist als konstant angenommen, so dass zum einen der Verdünnungseffekt des Bevölkerungswachstums entfällt und zum anderen der Investitionsanreiz mit der Größe der Bevölkerung steigt. Für einen Überblick siehe u.€a. Backus et€al. (1992). Dieser sogenannte Größeneffekt („scale effect“) legt auf erstem Blick nahe, die Bevölkerungsgröße als Skalenerträge und Grenzerträge (auch „Grenzprodukt“ genannt) der eingesetzten Produktionsfaktoren spielen eine wesentliche Rolle für den Wachstumsprozess. Sie widerspiegeln technologische Gegebenheiten. Die Skalenerträge geben an, wie sich der Output verändert, wenn die Mengen aller Inputs gleichmäßig verändert werden. Konstante Skalenerträge liegen z.€B. dann vor, wenn Produktionsprozesse beliebig teilbar und addierbar sind, wenn es also möglich wäre, die Brotproduktion ohne Effizienzverluste in einer großen oder in mehreren kleinen Bäckereien stattfinden zu lassen. Der Output verändert sich dann im Gleichschritt mit der Änderung aller Inputmengen. Bei steigenden Skalenerträgen hingegen fehlt die Teilbarkeit, es gibt also Größenvorteile und der Output erhöht sich überproportional zur Änderung aller Inputmengen. Grenzerträge geben stattdessen an, wie sich der Output verändert, wenn die Menge lediglich eines Inputs variiert. Sie können auch als Investitionsanreiz interpretiert werden. Solange der Grenzertrag konstant sind, schwächt sich auch der Anreiz nicht ab, weiter in die Akkumulation des betreffenden Faktors – also z.€B. in die Wissensproduktion – zu investieren. Als akkumulierbar wird ein Produktionsfaktor dann bezeichnet, wenn sein Bestand über das Investitionsverhalten der Wirtschaftsakteure vermehrt werden kann. 22╇ Siehe z.€B. die Sach- oder Humankapitalakkumulation bei Frankel (1962) und Romer (1986) (basierend auf Arrow 1962), oder bei Lucas (1988) bzw. die Produktinnovation bei Grossman und Helpman (1991). 21╇
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1 Bewältigung der Folgen des demografischen Wandels
Zielvariable ins Auge zu fassen. Allerdings ist in Modellen dieser Art mit der Bevölkerungsgröße stets die Größe der Arbeitsbevölkerung oder auch nur der Forschergemeinschaft gemeint (die ihrerseits mit der Bevölkerungsgröße ansteigen kann). Permanentes Wachstum kann nur durch anhaltende Akkumulation eines Produktionsfaktors erklärt werden. In den oben geschilderten Fällen wird in der Ökonomie annahmegemäß unendlich gelernt oder erfunden, bzw. Humankapital oder Wissen angehäuft. Wird die Möglichkeit dieser Akkumulation ohne Grenzen grundsätzlich angezweifelt Jones (1995), ergibt sich auch kein Größeneffekt der Bevölkerung bzw. er verlagert sich von der Wachstumsrate auf das Wohlstandsniveau (Jones 1999). Größere Volkswirtschaften können ein höheres Niveau des BIP pro Kopf erreichen. Jones (2005) weist zudem auf die endliche Lebenszeit eines Individuums hin. In beiden Fällen ist ein permanentes Wachstum des Pro-Kopf-Einkommens nicht ohne Wachstum der Arbeitsbevölkerung möglich, weil diese das Wachstum der Arbeitsproduktivität bedingt. Die Schrumpfung der Erwerbsbevölkerung würde dann eine negative Zweite Demografische Dividende bedeuten (siehe Abschn.€1.4.2). Bei variabler Bevölkerungsgröße steht die Wachstumsrate der Bevölkerung im Mittelpunkt des Interesses. Anders als in der neoklassischen Wachstumstheorie wirkt das Bevölkerungswachstum in Modellen der Neuen Wachstumstheorie, wie eben angedeutet, positiv auf das Wachstum des Einkommens pro Kopf.23 Das Bevölkerungswachstum aber wird bei Annahme fehlender Nettoimmigration durch Fertilität und Mortalität bestimmt. Während im obigen Modell nur die Änderung der Einwohner- bzw. Arbeitskräfte- oder Forscherzahl Berücksichtigung findet, betrachten andere Autoren auch die zugrundeliegenden demografischen Prozesse. Beispielsweise unterscheiden Boucekkine et€al. (2002) zwischen Sterblichkeit und Geburtenrate in einem Modell, in dem Individuen ihre Ausbildungsdauer und den Zeitpunkt ihrer Verrentung frei wählen können. Wird die Sterblichkeit konstant gehalten, ergibt sich für den Zusammenhang zwischen Fertilität und Pro-Kopf-Wachstum ein umgekehrt U-förmiger Verlauf. Grund dafür sind die bereits angesprochenen Jugend- und Alterslastquotienten. Bei geringer Fertilität ist der Altersquotient tendenziell hoch und steigende Geburtenzahlen senken diesen auf längere Sicht: Das Pro-Kopf-Einkommen steigt. Ist die Fertilität hingegen hoch, ist es der Jugendquotient tendenziell auch, und eine Senkung der Geburtenzahl wirkt ausgleichend. Es gibt in diesem Modell also eine Geburtenrate, die bei konstanter Sterblichkeit das Wachstum des Pro-Kopf-Einkommens maximiert. Wie hoch diese ist, hängt davon ab, wie hoch die Lebenserwartung, das Eintrittsalter in den Arbeitsmarkt und in die Rente und die Produktivitätsfortschritte im Bildungssektor sind. Damit liefern die Autoren eine theoretische Fundierung für eine bevölkerungspolitische Zielvariable „Fertilität“. Neuere Wachstumsmodelle mit exogenen Bevölkerungsvariablen bieten generell reiche Ansatzpunkte für Politikempfehlungen. In der Frage der Zielgröße unterstützen sie vor allem die Vorstellung einer politischen Steuerung der Geburtenrate, der Wachstumsrate der Arbeitsbevölkerung oder noch enger: jener der Forscher und Entwickler. Einen ausgezeichneten Überblick des Einflusses der Wachstumsrate oder Größe der Bevölkerung auf die Wachstumsrate des Pro-Kopf-Einkommens in Modellen der Neuen Wachstumstheorie bietet Jones (1999).
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1.4 Demografie, Wirtschaftswachstum und Wohlstand
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1.4.4 W echselwirkungen zwischen Demografie und Wirtschaftswachstum Werden demografische Variablen in ökonomischen Modellen endogenisiert, so zunächst mit dem Ziel, die ökonomischen Wirkungen auf die Demografie zu untersuchen. Daraus erwächst dann die Erkenntnis, dass die Beziehung zur Demografie von Wechselwirkungen geprägt ist. Zwei Beispiele der Interaktion werden in Kap.€3 besprochen: die bereits erwähnte Alterssicherungshypothese (kurz) und der Zielkonflikt zwischen der Anzahl und Qualität der Kinder (länger). Letzterer entwickelt sich dann, wenn Eltern sowohl durch die Anzahl der Kinder, als auch aus ihrer Ausstattung („Qualität“) Zufriedenheit entwickeln, die Kosten für die beiden Dimensionen der Elternschaft aber voneinander abhängen. Basierend auf einer Idee von Schultz (1964) fügen Galor und Weil (2000) dem zwei Überlegungen hinzu. Erstens, dass es bei einer hohen Rate des technischen Fortschritts schwieriger wird, sich Wissen ohne formale Bildung anzueignen. Es reicht nicht mehr aus, durch Beobachtung oder Versuch und Irrtum zu lernen. Zweitens, dass der technische Fortschritt skill biased ist, d.€h. vor allem den bereits hoch Gebildeten zugute kommt. Beides spricht dafür, dass sich Eltern, deren Nutzen sowohl durch die Kinderanzahl als auch durch den Lohn, den ihre Kinder einmal beziehen werden (ein Ausstattungsmerkmal), gestiftet wird, für weniger, aber besser ausgebildete Kinder entscheiden. Wird ferner hinsichtlich der Wechselwirkungen zwischen Demografie und Wirtschaftswachstum noch berücksichtigt, dass „Bildung“ im Erwachsenenalter sowohl in der Theorie als auch in der Realität als Ausbildung oder formale Bildung und Weiterbildung im Zuge der Erwerbstätigkeit („learning by doing“) auftritt und dass letztere an die Erwerbsbeteiligung gebunden ist (siehe dazu u.€a. Hetze 2004), dann ist unmittelbar plausible, dass Fertilitätspolitik, Bildungspolitik und Arbeitsmarktpolitik eng zusammenwirken werden. Die mikroökonomischen Wechselwirkungen zwischen Bildung und Anzahl der Kinder führen dazu, dass die Zweite Demografische Dividende (eine makroökonomische Größe) tendenziell steigt; zumindest geht, im Ländervergleich, eine geringe Kinderzahl typischerweise mit einer besseren Ausbildung (Abb.€1.4) und höherer Gesundheit der Kinder einher.24 Diese Befunde legen sogar die Vermutung nahe, dass der Rückgang in den Geburtenzahlen und die gestiegene Langlebigkeit überhaupt erst die Bildungsexpansion und den Übergang zu einer Wissensgesellschaft möglich gemacht haben. Ersteres haben wir schon erläutert, letzteres käme im Zusammenhang mit der Rendite der Bildung zum Tragen. Der Anreiz, sich eine höhere formale Bildung zuzulegen, steigt nämlich mit den erwarteten Erträgen derselben, die wiederum bei längerer Lebens(arbeits)zeit höher sind. Eine sinkende Kinderzahl bedeutet nicht notwendigerweise eine Schrumpfung der Erwerbsbevölkerung, insofern ist dies kein Widerspruch zur Aussage unter 4.3, dass eine Schrumpfung der Erwerbsbevölkerung zur Senkung der Zweiten Demografischen Dividende führt, wenn die gesellschaftlichen Möglichkeiten der Wissensakkumulation beschränkt sind.
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Könnte dann eine Geburtenförderung negative Auswirkungen auf das Wachstum haben? Die Antwort hängt von der Entwicklung der Bildung ab, für die, grob zusammengefasst, folgende Wechselwirkung gilt: Die Bildung der Kinder ist abhängig vom Einkommen der Eltern, das Einkommen der Kinder ist abhängig von ihrer Bildung. De la Croix und Doepke (2004, 2009) verdichten diesen Zusammenhang zu einer direkten Abhängigkeit des Humankapitals der Kinder von dem der Eltern25 und untersuchen unter dieser Annahme den Einfluss des Bildungssystems auf das Wachstum. Sie unterscheiden dabei zwischen einem Bildungssystem, das jedem Kind die gleiche Bildung zukommen lässt, unabhängig vom Einkommen der Eltern, und einem Bildungssystem, in dem Kinder so viel Bildung erhalten, wie die Eltern finanzieren können. Das Ergebnis lautet, dass bei einer hohen Ungleichheit in der Humankapitalausstattung ein System, das Bildung einkommensunabhängig gewährt, höhere Wachstumsraten des Pro-Kopf-Einkommens möglich macht. Daraus kann geschlossen werden, dass die naheliegende Zielvariable für bevölkerungswirksame Politik die Größe oder Wachstumsrate der gebildeten (Erwerbs-) Bevölkerung wäre.
1.4.5 W irtschaftswachstum und Wohlstand: Wo liegt der Unterschied? Bislang war nur von Wirtschaftswachstum die Rede, der Titel des Buches weist jedoch auf Wohlstand hin. Wo liegt der Unterschied? Theoretisch ist er klar definiert: Wirtschaftswachstum bedeutet eine anhaltende Erhöhung der wirtschaftlichen Ausbringung. Letztere wird, wie bereits erwähnt, meist anhand des realen Bruttoinlandsprodukts, absolut oder pro Kopf gemessen. Die individuelle oder gesellschaftliche Wohlfahrt hingegen wird anhand einer Nutzenfunktion bzw. einer Wohlfahrtsfunktion gemessen, in die neben einem Konsumbündel auch die Kinderzahl, deren Ausstattung oder deren Konsumniveau, sowie die Freizeit und möglicherweise andere Größen, wie die Umweltqualität, eingehen. In die Form der Nutzenfunktion kann ferner das Bedürfnis nach Sicherheit, der Grad an Altruismus seinen Vor- und Nachfahren gegenüber sowie die Präferenz für ein über die Zeit hinweg ausgewogenes Konsumprofil (und damit für Gleichheit) eingebaut werden. In dem Maße, in dem das Wirtschaftswachstum die Erzielung eines höheren Nutzen- bzw. Wohlfahrtsniveaus ermöglicht, weil mehr Freizeit genossen, mehr Konsum getätigt, mehr oder gesündere und klügere Kinder aufgezogen werden können; in diesem Maße folgt Dieser Zusammenhang ist empirisch gerade in Deutschland außerordentlich ausgeprägt, so dass man von „Bildungsdynastien“ sprechen kann; siehe z.€B. die Darstellung in Tivig und Waldenberger (2010). In der Zwischenzeit ist das Deutsche Studentenwerk, das diese Daten erhebt, dazu übergegangen, die entsprechenden „Bildungstrichter“ nicht mehr in Abhängigkeit der sozialen Herkunft der Eltern zu berechnen, sondern direkt in Abhängigkeit des Bildungsstands derselben (siehe Bundesministerium für Bildung und Forschung 2010).
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1.5 Schlussfolgerungen
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aus Wirtschaftswachstum auch eine Zunahme des Wohlstands. In allen Modellen mit endogener Bevölkerung, in denen nicht das Einkommen pro Kopf sondern die gesellschaftliche Wohlfahrt (wenn auch meist in der Form einer dynastischen Nutzenfunktion) maximiert wird, spiegelt das Ergebnis demnach die Entwicklung des Wohlstands. Die empirischen Vorbehalte gegenüber der Berechnung des realen BIP betreffen die Wachstumsmodelle nur zum Teil, beispielsweise dadurch, dass nicht alle Externen Effekte berücksichtigt werden können.26 Das Problem ist, dass theoretische Modelle nicht mehr handhabbar sind, wenn zu viele der genannten Aspekte in ein und demselben Modell berücksichtigt werden, also endogene Fertilität und Sterblichkeit, endogener Wissenszuwachs und permanente Innovation sowie die anfallenden Externen Effekte in diesen Bereichen sowie im Umweltbereich. Die Wirkungszusammenhänge werden unübersichtlich und eine analytische Lösung ist meist nicht mehr möglich. Der Weg geht jedoch dahin, immer mehr bevölkerungsbezogene Variablen in Wachstumsmodelle einzubeziehen und sie nur noch numerisch zu lösen. Dadurch können auch immer mehr Ansatzpunkte für bevölkerungspolitische Maßnahmen aufgezeigt werden. In empirischen Untersuchungen wird die Betrachtung ferner auf weitere oder andere Argumente der Nutzen- oder Wohlfahrtsfunktion gelenkt, wie die Lebenserwartung, die Alphabetisierungsquote, die Gesundheitsversorgung oder die Möglichkeit politischer Partizipation, von denen einige, aber nicht alle, positiv mit dem realen BIP pro Kopf korrelieren.27 In Modellen endogener Bevölkerung ist die Lebenserwartung jedoch häufig mit erfasst (u.€a. in De la Croix et€al. 2009), die Bildung über den Zielkonflikt zwischen Anzahl und Ausstattung der Kinder ebenfalls, und die Gesundheitsversorgung in einigen neueren Ansätzen auch (u.€a. Gómez und Currais 2001).
1.5 Schlussfolgerungen Es ist nicht selbstverständlich, dass der Staat bevölkerungswirksame Politik betreibt, auch nicht in der Form von Familienpolitik. Es gibt aber gute Gründe, die dafür sprechen, es zu tun; sie sind immer wohlfahrtstheoretischer Natur. Die üblichen Vorbehalte beziehen sich darauf, dass die Beseitigung von Umweltschäden positiv verbucht, nichtmarktliche Aktivitäten, wie die Hausarbeit oder ehrenamtliches Engagement, nicht berücksichtigt werden, und der Qualitätsentwicklung von Gütern und Dienstleitungen keine oder die falsche Rechnung getragen wird. Einen umfassenden, aktuellen Überblick über den Übergang von der Messung des produktionsbasierten Wirtschaftswachstums zur Messung von Wohlstand bieten Stiglitz et€al. (2009). 27╇ Im Ergebnis werden verschiedene Indikatoren der wirtschaftlichen Entwicklung (wie der Human Development Index, HDI) berechnet. Auf diese Zusammenhänge wird mit Bezug auf die entsprechenden empirischen Arbeiten in fast jedem modernen Lehrbuch der Wachstumstheorie hingewiesen; stellvertretend sei hier Acemoglu (2009) genannt, der ihnen besonders viel Platz einräumt. 26╇
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Die wohlfahrtstheoretische Betrachtung führt zu grundlegenden ethischen Fragen der Bevölkerungspolitik oder bevölkerungswirksamer Politikmaßnahmen, die hier nur grob skizziert werden konnten. Dasgupta (1987) zieht den überzeugenden Schluss, dass ein moralischer Universalitätsanspruch in Bevölkerungsfragen nicht weiterführt. Die Frage, wie viele man sein möchte und warum, wird sich jede Generation neu stellen dürfen und sie aus ihrem Kontext heraus beantworten. Legt man der Wohlfahrtsbetrachtung eine gesellschaftliche Wohlfahrtsfunktion, z.€ B. in der Form einer „dynastischen“ Nutzenfunktion eines repräsentativen Haushalts zugrunde, dann ist die individuelle Lösung so lange auch gesellschaftlich optimal, wie der Haushaltsvorstand so entscheidet, als würde sie die intertemporale Budgetrestriktion über alle Zeiten berücksichtigen – dies allerdings auch nur, wenn es keine Externen Effekte gibt. Andernfalls können Politikmaßnahmen die Wohlfahrt erhöhen. Knappe Ressourcen sind hingegen kein Grund für eine Begrenzung des Bevölkerungswachstums (Golosov et€al. 2007). Der Bevölkerungsrückgang in Deutschland könnte daher auch nicht als Beitrag zur Lösung einer auf Ressourcenknappheit gründenden Überbevölkerung in der Welt gesehen werden. Anders stellt es sich jedoch mit Umweltschäden und Wissenszuwächsen durch eine größere Bevölkerungen dar. Die gegenläufigen Wirkungen des Bevölkerungswachstums auf das Wirtschaftswachstum und den Wohlstand sind daher (auch politisch) abzuwägen. Im Rahmen wohlfahrtstheoretischer Begründungen für bevölkerungswirksame Politikmaßnahmen kann mit Verweis auf bestehende Marktunvollkommenheiten (Ineffizienzen) oder nach der Theorie des Zweitbesten gehandelt werden. Folgt man der neueren Wachstumstheorie, so sind Ineffizienzen aufgrund Externer Effekte nicht nur allgegenwärtig sondern auch eine Hauptquelle für das Wirtschaftswachstum (Klenow und Rodríguez-Clare 2005). Hier scheinen für Deutschland, als einem Land, dessen Wohlstand auf Innovationen gründet, vor allem jene Ansätze interessant, die auf die Rolle des Bevölkerungswachstums für die Wissensakkumulation hinweisen: Das Schrumpfen der (Erwerbs-) Bevölkerung wird in vielen dieser Ansätze als Wachstumsgrenze für eine wissensbasierte Volkswirtschaft hergeleitet. Gleichzeitig deuten zahlreiche empirische Ergebnisse darauf hin, dass ein möglicher Anstieg der Kinderzahl nur dann positive Impulse für die Wohlstandsentwicklung setzen kann, wenn auch gewährleisten ist, dass alle Kinder in den Genuss einer guten Ausbildung kommen und später in den Arbeitsmarkt eintreten. Andernfalls wäre die sogenannte Zweite Demografische Dividende negativ. An dieser Stelle wird besonders deutlich, wie eng Bildungs- und Familienpolitik, und beides mit der Arbeitsmarktpolitik verknüpft sind. Die Argumentation nach der Theorie des Zweitbesten betrifft die Alterssicherungshypothese. Sie besagt, dass wenn Kinder auch der Alterssicherung dienen, die Einführung der Rentenversicherung zu einer Senkung der Geburtenrate führt. Werden mehr Kinder aus anderen – beispielsweise aus Wachstumsgründen – doch wieder gebraucht, dann sind geburtenfördernde Politikmaßnahmen gerechtfertigt. Aus dem Sinken der Geburtenrate ist allerdings keine Unterstützung für die Hypothese abzuleiten, denn aufgrund sinkender Kindersterblichkeit und steigender Arbeitspro-
1.5 Schlussfolgerungen
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duktivität konnte sie auch unter Beibehaltung des Alterssicherungsmotivs zurückgehen – in den Zeiten hoher Produktivitätszuwächse möglicherweise auch auf weniger als zwei Kinder je Frau. Erst neuere empirische Ergebnisse, die auf die starke Reaktion der Geburtenrate auf rentenkürzende Reformen in Italien hinweisen (Billari und Galasso 2009), erhöhen die Plausibilität der Alterssicherungshypothese. Sie deuten an, dass eine wirtschafts- und sozialpolitische Kompensationsstrategie, hier in Form der Anpassung des Rentensystems an die demografische Entwicklung, die interessante Konsequenz haben kann, die Intensität den demografischen Wandels abzuschwächen. So gesehen, ist die Kompensationsstrategie hinsichtlich des Ziels einer höheren Geburtenrate unter Umständen doch eine Alternative zu den anderen beiden Strategien. Von den drei angeführten Strategien zur Bewältigung der Folgen des demografischen Wandels: 1) Erhöhung der Kinderzahl, 2) Kompensation der natürlichen demografischen Entwicklung durch Immigration und 3) Kompensation der demografischen Entwicklung durch Wirtschafts- und Sozialpolitik, konzentrieren wir uns in diesem Buch auf die erste Strategie. Neben der Geburtenrate kommen in diesem Fall auch andere demografische Zielvariablen, wie die Bevölkerungsgröße, die Wachstumsrate der Bevölkerung oder die Altersstruktur in Frage. Die auf Wohlfahrtsargumenten gründenden Betrachtungen der Wohlstandsmehrung durch Wirtschaftswachstum empfehlen eine Orientierung der Politik an der Größe oder der Wachstumsrate der Bevölkerung bzw. Größe oder Wachstumsrate der (ausgebildeten) Erwerbsbevölkerung. Sobald man die demografische Entwicklung aber in ihre Komponenten: Fertilität, Migration und Mortalität zerlegt, sprechen theoretische Argumente und auch praktische Überlegungen dafür, die Geburtenrate als Zielvariable zu wählen. Begründet man bevölkerungswirksame Politik nach der Theorie des Zweitbesten so folgt ebenfalls, dass eine direkte Orientierung an der Geburtenrate zu empfehlen ist. Selbstverständlich geht es dabei stets um anhaltende Änderungen im Geburtenverhalten bzw. um die Stabilisierung der Geburtenrate auf einem bestimmten Niveau. Eine konstante Altersstruktur der Bevölkerung hätte für die Planung von Infrastrukturen und die Gestaltung der Sozialversicherungssysteme gewisse Vorteile, so dass sich die Altersstruktur möglicherweise ebenfalls als Zielvariable für bevölkerungswirksame Politikmaßnahmen anbietet. Begründungen, die auf die Finanzierung von Sozialversicherungssystemen abstellen, hätten eine gewisse Ähnlichkeit mit jenen, die Unterstützungsquotienten ins Auge fassen. So legt die Altersstruktur in einem im Umlageverfahren finanzierten Rentenversicherungssystem die Basis für das Verhältnis von Beitragszahlern und Leistungsempfängern, auch wenn dieses über die Ausweitung der Erwerbsbeteiligung noch verändert werden kann. Die Finanzierung der Sozialversicherungssysteme ist jedoch keine spezifische Frage des demografischen Wandels. Da eine konstante Altersstruktur zudem sowohl mit einer wachsenden, als auch mit einer stagnierenden oder schrumpfenden Bevölkerung kompatibel ist, wären ferner nicht nur ihre Wechselwirkungen mit dem Wirtschaftswachstum sondern auch jene der Bevölkerungsentwicklung mit dem Wirtschaftswachstums zu berücksichtigen. Modelle
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des Wirtschaftswachstums mit expliziter (Jahrgangs-) Altersstruktur sind jedoch außerordentlich komplex (u.€ a. Boucekkine et€ al. 2004), so dass man hier erst am Anfang der Bemühungen steht. Im Wesentlichen wären drei Altersstruktureffekte zu berücksichtigen: das altersabhängige Sparverhalten,28 die im Lebenszyklus unterschiedliche Arbeitsproduktivität29 und die sich mit dem Alter verändernde produktive Kreativität.30 Weitere Argumente, die für das Anstreben einer bestimmten Altersstruktur sprechen könnten, wären politische Interessen, wie die Wehrfähigkeit einer Gesellschaft. Die theoretischen Ergebnisse, insbesondere der neueren Wachstumsliteratur legen nahe, dass unter den Bedingungen des demografischen Wandels eine geburtenfördernde Politik („Familienpolitik“) in enger Verbindung mit Bildungs- und Arbeitsmarktpolitik zu mehr Wachstum führen kann. Die Verbindung zwischen Fertilität, Bildung und Erwerbsbeteiligung ist die Basis des Zusammenhangs zwischen Wirtschaftswachstum und Demografie. In einer globalisierten Weltwirtschaft ist es nicht primär die Nachfrageseite, die demografische Entwicklungen für die Wirtschaft relevant werden lässt, sondern die Angebotsseite. Das gilt für den Exportmeister Deutschland in ganz besonderem Maße. Die Frage müsste daher vielleicht enger gestellt werden: Kann in Deutschland, heute, ohne mehr Kinder, der Wohlstand gehalten oder gar erhöht werden? Die theoriegeleitete Antwort auf diese Frage lautet: Nein, nicht ohne ausreichend vielen, gut ausgebildeten und erwerbsorientierten Kindern – eigenen, oder importierten. Der Fokus in diesem Buch liegt auf den eigenen Kindern. In den Folgenden beiden Teilen des Buches schauen wir auf die Kinderzahlen einiger Nachbarländer und versuchen zu verstehen, ob und wie sie durch politisches Handeln in den jeweiligen Ländern beeinflusst werden.
Inländische Ersparnisse bilden die Hauptquelle für Investitionen und damit für das Wirtschaftswachstum. Die individuellen Sparneigung schwankt mit dem Alter, bleibt aber auch nach Renteneintritt positiv. Entsprechend zeigt sich auch im Querschnitt der Länder, dass die Sparquote dort am höchsten ist, wo der Jungendquotient niedrig und der Altenquotient mittel bis hoch ist (siehe Abschn.€1.4.2 in diesem Buch). 29╇ Skirbekk (2003) findet empirisch eine Tendenz zum Absinken der individuellen Produktivität ab ungefähr 50 Jahren. Die Frage ist, wie gut man diesen Abfall kompensieren kann. 30╇ Die Altersabhängigkeit der Kreativität folgt scheinbar einem umgekehrt U-förmigen Verlauf, wobei das Alter höchster Kreativität sowohl individuell als auch über Disziplinen und Branchen variiert. Wie stark, zwangsläufig und unaufhaltsam das Nachlassen der Kreativität nach dem Gipfel ist, wird in der neuesten Forschung mit zuversichtlichem Tenor diskutiert (z.€B. Galenson 2005; Simonton 2007). 28╇
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Kapitel 2
Fertilitätsentwicklung in ausgewählten Industrieländern
2.1 Einführung Bei der Auslotung von Modalitäten und Spielräumen bevölkerungswirksamer Politikmaßnahmen empfiehlt sich auch ein Blick über die Grenzen. Die kulturellen und wirtschaftlichen Gemeinsamkeiten der meisten europäischen Länder sind einerseits ausreichend hoch, um aus ihren Erfahrungen lernen zu können. Die gesellschaftlichen Entwicklungen hinsichtlich der gelebten Gleichstellung der Geschlechter, der Bildungs- und Erwerbsorientierung der Frauen, aber insbesondere in Bezug auf den Sozialisierungsgrad der Kindererziehung sind andererseits so vielfältig, dass sie helfen können, sich ein eigenes Bild von der Gesellschaft zu machen, in der man in den nächsten Jahrzehnten leben möchte. In diesem Kap.€2 untersuchen wir die Fertilitätsentwicklung in sechs Ländern: Frankreich, Großbritannien, Italien, Norwegen, der Tschechische Republik und Deutschland. Dabei beschränken wir uns nicht auf die Analyse der Geburtenziffer und die Zusammenfassung familienpolitischer Maßnahmen (die im Übrigen eine so hohe Dynamik aufweisen, dass keine Studie wirklich je aktuell sein kann), sondern betten die Betrachtung breiter ein. So schauen wir parallel auf die Erwerbsbeteiligung der Frauen und nehmen Bezug auf die gesamte Bevölkerungsentwicklung eines Landes, um auf Konsequenzen unterschiedlicher Fertilität in der mittleren Frist hinzuweisen. Die Auswahl der Länder ist nach dem Gesichtspunkt erfolgt, für jeden Typ von Wohlfahrtsstaat ein Beispiel zu haben. Dabei berücksichtigen wir zwei Klassifikationen von Wohlfahrtsstaaten: eine, die auf Esping-Andersen (1990) aufbaut, und jene von Gauthier (1996). Erstere unterscheidet vier Typen wohlfahrtsstaatlicher Regimes, letztere vier familienpolitische Modelle, wobei es gewisse Überlappungen gibt. Frankreich wird als konservativer Wohlfahrtsstaat gesehen, mit einer profamilialen und pronatalistischen Politik. Großbritannien gehört zur Gruppe der liberalen Wohlfahrtsstaaten, mit einer profamilialen aber nicht interventionistischen Einstellung. Südeuropäische Wohlfahrtsstaaten (z.€B. Italien) werden als eine separate Gruppe behandelt; sie zeichnen sich durch hohe Wertschätzung der Familie aus, sehen Kinderbetreuung und soziale Absicherung aber als Sache des Familienverbandes an. Norwegen ist ein universalistischer Wohlfahrtsstaat, mit einer nach T. Tivig et al., Wohlstand ohne Kinder?, DOI 10.1007/978-3-642-14983-2_2, ©Â€Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
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2 Fertilitätsentwicklung in ausgewählten Industrieländern
Gauthier proegalitären Einstellung, deren Hauptziel die größere Gleichstellung von Mann und Frau ist. Regierungen übernehmen die volle Unterstützung der Familie, besonders bei arbeitenden Eltern. Tschechien gehört der von Andreß und Heien (2001) in Anlehnung an die Klassifikation von Esping-Andersen als osteuropäische Wohlfahrtsstaaten bezeichneten Gruppe an. Die Unterschiede in den beiden Klassifikationen kommen besonders bei der Einordnung Deutschlands und Frankreichs zum Tragen. Bei der auf Esping-Andersen basierenden gehören sie beide der Gruppe konservativer Wohlfahrtsstaaten an, bei Gauthier wird Frankreich als profamilial und pronatalistisch, Deutschland als protraditionalistisch gesehen. Im Folgenden fassen wir die verwendeten Fertilitätsmaße und anschließend die Erkenntnisse aus der Untersuchung der sechs Ländern zusammen; zunächst einzeln und dann vergleichend. Kapitel€5 des Buches enthält die standardisierten Länderprofile für diese sechs Länder, in welchen die hier betrachteten Zusammenhänge ergänzt und mit zahlreichen Grafiken veranschaulicht werden. Fertilitätsmaße╇ Die zusammengefasste Geburtenziffer (Total Fertility Rate; TFR) gibt die durchschnittliche Zahl der Kinder an, die eine Frau im Laufe ihres Lebens hätte, wenn die altersspezifischen Geburtenziffern des Berichtsjahres für die gesamte fertile Phase der Frau gelten würden. Sie ist damit eine hypothetische Zahl, mit einem erheblichem Nachteil: durch systematische Verschiebungen der Alter der Mütter zum Geburtszeitpunkt und der Geburtsabstände wird die TFR verzerrt, d.€h. sie schätzt die endgültige durchschnittliche Kinderzahl als zu hoch oder zu niedrig ein. Die tempostandardisierte TFR versucht den Nachteil der TFR zu beheben, in dem sie Verschiebungen im Gebäralter der Mütter berücksichtigt. Liegt die tempostandardisierte TFR über der zusammengesetzten Geburtenziffer, ist dies ein starkes Indiz für eine Verzerrung der TFR nach unten. Die Kohortenfertilität (CFR) bezeichnet die abgeschlossene Kinderzahl unterschiedlicher Jahrgänge. Dabei wird der Jahrgang angegeben, dessen abgeschlossene Fertilität betrachtet wird, also z.€B. „CFR des Geburtsjahrgangs 1965“. Der Nachteil der CFR ist, dass sie nur im Nachhinein für Geburtsjahrgänge angegeben werden kann, die ihre Fertilitätsphase schon abgeschlossen haben. Bei der verschobenen Kohortenfertilität wird ein Vergleich mit der TFR eines bestimmten Jahres angestrebt. Hierzu wird die zusammengefasste Geburtenziffer des Jahres x mit derjenigen CFR verglichen, die sich unter Subtraktion des durchschnittlichen Alters der Mütter bei Geburt eines Kindes im Jahre x von diesem Jahr ergibt. Wird beispielsweise ein Vergleich der TFR aus dem Jahr 1993 in Deutschland mit der verschobenen Kohortenfertilität angestrebt, wird die abgeschlossene Kinderzahl des Geburtsjahrgangs 1965 herangezogen, da 1993 das Alter der Mütter bei Geburt eines Kindes 28 Jahre betrug. Liegt die verschobene Kohortenfertilität über der TFR, ist dies ein starkes Indiz für eine Verzerrung der TFR nach unten.
2.2 Vergleichende Länderstudie
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2.2 Vergleichende Länderstudie 2.2.1 Frankreich Frankreich hat eine lange Tradition der Bevölkerungspolitik, die eindeutig pronatalistische Züge aufweist. In neuerer Zeit sieht die Politik ihre Aufgabe aber zunehmend in der Unterstützung der Integration von Müttern in den Arbeitsmarkt und der Herstellung von Chancengleichheit zwischen den Geschlechtern (Letablier 2003). Zu letzterer gehört auch, dass in Frankreich konsequenter als in allen anderen von uns untersuchten Ländern das Ziel der selbstbestimmten Fruchtbarkeit der Frau verfolgt wird. Die zusammengefasste Geburtenziffer (Total Fertility Rate, TFR) ist nach einigen Schwankungen auf das zuletzt Mitte der 1970er Jahre erreichte Bestanderhaltungsniveau zurückgekehrt. Die verschobene Kohortenfertilität (Cohort Fertility Rate, CFR) lag generell darüber, konvergierte aber in den letzten Jahren gegen das Niveau der TFR. Die tempostandardisierte TFR lag zuletzt über der zusammengefassten Geburtenziffer. Die regionalen Unterschiede in den Fertilitätsraten sind vergleichsweise gering, sie betrugen 2005 maximal 0,42 Kinder je Frau (was auch eine Folge der zentralistischen Politik in Frankreich sein dürfte). Ausländerinnen hatten im Jahr 2004 mit 3,3 Kindern je Frau eine weit höhere Fruchtbarkeit als Französinnen. 2006 wurden 12€% der Kinder von einer ausländischen Mutter geboren. Die im Eurobarometer 20061 ermittelte, persönlich als ideal empfundene Kinderzahl liegt in Frankreich noch weit über den Geburtenziffern; bei Frauen, je nach Alter, zwischen 2,47 und 2,67 und bei Männern etwas darunter (Testa 2006). Bemerkenswert ist dabei, dass jüngere Kohorten eine höhere ideale Kinderzahl angaben als ältere. Interessant ist die hohe Stabilität in den Paritäten. Seit der 1945er Kohorte liegt der Anteil der Mütter mit zwei Kindern bei rund 40€%, jener der Mütter mit einem oder drei Kindern bei rund 20€% und jener der Mütter mit keinem oder vier und mehr Kindern bei rund 10€% (Toulemon 2001). Von den leichten Verschiebungen, die seither noch stattfanden, ist der Anstieg der Anzahl von Müttern mit drei Kindern hervorzuheben, weil dieser eindeutig auf die Politik zurückzuführen ist, eine Reihe von Vergünstigungen für die Familie erst ab dem dritten Kind zu gewähren. Wie gut diese Politik angenommen wurde, ist unter anderem darin zu sehen, dass der entsprechende „famille nombreuse“ Berechtigungsausweis nicht etwa als „Karnickelpass“2 für sozial Schwache herabgesetzt, sondern auch von wohlhabenden Familien gerne gezeigt wird. 1╇ Der Eurobarometer ist eine regelmäßig stattfindende Befragung im Auftrag der Europäischen Kommission zur Evaluierung der öffentlichen Meinung in den EU-Staaten, deren Beitrittsländern und Beitrittskandidaten. Im Rahmen des Eurobarometer wurde im Jahr 2006 der Kinderwunsch von über 15-jährigen Männern und Frauen erfragt. Die Zahl der Befragten liegt bei ungefähr 1.000 Personen pro Land. 2╇ Als „Karnickelpass“ wurde in Deutschland der Berechtigungsausweis für Ermäßigungen bei der Bundesbahn bezeichnet. Mit dem Ausweis erhielten auch Kinder über 12 Jahre eine 50€%ige Ermäßigung, wenn sie aus Familien mit drei oder mehr Kindern stammten.
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Frankreich weist nach Norwegen die zweithöchste Arbeitsbeteiligung von Müttern auf. Bemerkenswert ist dabei, dass sich die Beschäftigungsquote von Kinderlosen und von Müttern von einem oder zwei Kindern nur geringfügig unterscheiden; sie liegt zwischen 71€% und 77€%. Erst ab drei Kindern fällt sie auf 50€% (UNECE 2009). Offenbar gibt es selbst bei den besten Kinderbetreuungsmöglichkeiten Grenzen der Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Darauf deuten auch die Fertilitätsunterschiede nach dem Ausbildungsgrad der Mütter hin. Frauen mit mittlerer und hoher Ausbildung, die vermutlich mehr Verantwortung tragen und eine höhere Flexibilität im Berufsleben aufweisen müssen, haben eine deutlich niedrigere Geburtenrate als Frauen mit geringer Qualifikation. Ferner weisen hochausgebildete Frauen die höchste Kinderlosigkeit auf, die zudem ab der 1957–1961er Kohorte steigend verläuft (Köppen et€al. 2007). Die staatlichen Leistungen für Eltern und Kinder sind in Frankreich sehr vielfältig. Sie umfassen steuerliche Erleichterungen, sowie Geld- und Dienstleistungen; alles zusammen machte 2005 3,8€% des BIP3 aus (OECD 2009a). Neben 16 Wochen Mutterschutz bei 100€ % Lohnfortzahlung sind 14 Tage Vaterschaftsurlaub möglich. Für einen Vergleich mit Deutschland sind drei Aspekte der staatlichen Leistungen für Familien besonders hervorzuheben. Erstens, die Unterstützung wird nur tatsächlichen, nicht potenziellen Eltern erteilt: Es gibt kein Ehegatten- sondern ein Familiensplitting. Letzteres bietet allerdings einen geringeren Anreiz für die Erwerbsbeteiligung von Müttern als die (z.€B. in Norwegen praktizierte) Individualbesteuerung. Zweitens, die Hilfen konzentrierten sich die längste Zeit auf kinderreiche Familien; sobald einige Vergünstigungen auch schon mit zwei Kindern erzielbar waren, sank die Übergangsrate vom zweiten zum dritten Kind, während jene vom ersten zum zweiten Kind anstieg (Breton und Prioux 2005). Drittens, die Elternzeit beläuft sich in der Regel auf ein Jahr, kann höchstens zwei Mal, bis zum dritten Geburtstag eines Kindes verlängert werden und wird nicht grundsätzlich vergütet. Insgesamt ist die verfolgte Bevölkerungspolitik als sehr erfolgreich zu bezeichnen. Die Bevölkerungszahl stieg zwischen 1970 und 2007 um insgesamt 22€%, wodurch Frankreich nun die nach Deutschland zweitgrößte Bevölkerung in Europa aufweist (1970 lag sie noch hinter Großbritannien). Die Erwerbsbevölkerung (im Alter 15–64) stieg sogar um 27,5€ %, so dass Frankreich lange Zeit eine (Erste) Demografische Dividende erzielte. Für die Zukunft ist der für Frankreich prognostizierte Unterstützungskoeffizient allerdings steigend und mit 68€% im Jahr 2030 der höchste unter den fünf untersuchten Ländern und nahezu gleich dem für Deutschland erwarteten (67€%). Eine Herausforderung für den französischen Staat dürfte in Zukunft sein, dem steigenden Trend der Kinderlosigkeit unter hoch ausgebildeten Frauen entgegenzuwirken. Für die Bevölkerungspolitik in Deutschland sind aus dem Beispiel Frankreichs mehrere Schlüsse zu ziehen. Erstens ist offensichtlich, dass die Verfolgung der einen Zielvariable (Bevölkerungsgröße oder Wachstumsrate der Bevölkerung; Geburtenrate) keineswegs auch das Erreichen eines gesellschaftlich vorteilhaften Wertes ande3╇ Der Anteil der Familienausgaben am BIP ist kein Maß für die (staatlichen) Investitionen in Kinder, sondern ein Indikator für staatliche Umverteilung an Familien.
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rer Zielvariablen (Unterstützungskoeffizient) sichert. Es ist daher wichtig, sich über die Zielvariable der Bevölkerungspolitik Klarheit zu verschaffen. Zweitens wird deutlich, dass weit höhere Geburtenzahlen für alle Bildungsgruppen bei gleichzeitig weit höherer Erwerbsbeteiligung von Müttern als in Deutschland möglich sind. Drittens scheint es jedoch für die Vereinbarkeit von Elternschaft und hochqualifizierter Berufstätigkeit selbst mit den adäquaten Kinderbetreuungsmöglichkeiten noch nicht getan. Möglicherweise sind auch Anpassungen in der Organisation von Arbeitsprozessen, d.€ h. weitere Maßnahmen auf Unternehmensseite von Nöten. Viertens ist schließlich interessant, dass staatliche Leistungen, die erst ab dem zweiten oder dritten Kind greifen, die Übergangsrate zum zweiten respektive dritten Kind erhöhen.
2.2.2 Großbritannien Großbritannien blickt nicht auf eine lange Tradition der Familienpolitik zurück; ein eigenständiges Ministerium für Kinder, Schule und Familie wurde beispielsweise erst 2007 gegründet. Die Einstellung des liberalen Wohlfahrtsstaates gegenüber Familien ist positiv und unterstützend, vermeidet aber möglichst Eingriffe in das familien- und sozialpolitische Geschehen (Steidle 2007). Die öffentliche Meinung und die Gesetzeslage zur selbstbestimmten Fruchtbarkeit der Frauen ist weit weniger liberal als in Frankreich, erfährt aber auch Veränderungen (WVS 2009a, b). Die Fertilitätsentwicklung verlief in Großbritannien in den letzten Jahren auf einem für Europa hohem Niveau. Die TFR lag im Jahr 2008 bei 1,96 Kindern je Frau und damit auf dem Niveau der abgeschlossenen Fertilität der 1960er Kohorte; die tempostandardisierte TFR lag mit 1,98 Kindern in der Periode 2003–2005 zuletzt leicht darüber. Anders als in Frankreich gibt es in Großbritannien sehr große regionale Unterschiede in der TFR, was darauf hindeutet, dass diese wesentlich durch andere Faktoren als die staatliche Unterstützung bestimmt wird, etwa durch Religion und regionale Wirtschaftsentwicklung. Im Jahr 2006 reichten die regionalen Fertilitätsunterschiede bis zu 1,5 Kinder je Frau. Die Fertilität von Müttern mit Migrationshintergrund ist hoch (2,5 Kinder je Frau) und trug 2006 mit 21€% zu den Geburten bei (Dunnell 2007). Eine stabil hohe Geburtenziffer ist insbesondere unter niedrig ausgebildeten und jungen Frauen (unter 30 Jahren) zu beobachten; die Fertilität Jugendlicher weist die höchsten Werte in Westeuropa auf (BMJ 2007). Die persönlich gewünschte Kinderzahl lag nach dem Eurobarometer 2006 für Frauen im Durchschnitt bei 2,52 Kindern je Frau (Testa 2006), also ähnlich weit von der TFR und der Kohortenfertilität entfernt, wie in Frankreich. Auch in Großbritannien ist die Stabilität in den Paritäten recht hoch. Mit 11€%, 20€% und 40€% ist der Anteil der Mütter mit vier und mehr, mit drei, und mit zwei Kindern ähnlich hoch wie in Frankreich und seit der 1945er Kohorte nur leicht gesunken. Entsprechend sind die Anteile der Mütter mit nur einem oder keinem Kind leicht gesunken; ersterer liegt mit 12€ % weit unter dem französischen Wert und letzterer mit 15–17€ % weit darüber. Ähnlich wie in Frankreich ist die Geburtenrate um so niedriger, je höher das Ausbildungsniveau der Frauen ist, wobei sich
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der Unterschied in Großbritannien im Zeitablauf zu rund 0,6 Kindern je Frau ausweitete und in Frankreich auf 0,6 reduzierte. Diese gegenläufige Bewegung wurde dadurch verursacht, dass in Großbritannien die endgültige Kinderzahl der Frauen mit niedriger und mittlerer Ausbildung stieg, während die der hoch ausgebildeten sank. In Frankreich dagegen sank die Fertilität für alle Frauen, allerdings weniger stark für die hoch ausgebildeten. Darüber hinaus unterscheidet sich die endgültige Kinderzahl der Frauen mit hoher Qualifikation: Während die Jahrgänge 1950–1959 in Frankreich eine Fertilitätsrate von 1,81–1,85 aufwiesen (Toulemon et€al. 2008), lag diese in Großbritannien für die 1950–1960er Kohorten zwischen 1,38 und 1,51 Kindern je Frau (Ratcliff und Smith 2006). Die Erwerbsorientierung der Frauen ist in Großbritannien im Durchschnitt um 10 Prozentpunkte höher als in Frankreich, bei Betrachtung nach Kinderzahl jedoch nur bei den kinderlosen Frauen höher. Die Beschäftigungsquote von Müttern ist leicht niedriger als in Frankreich, Frauen mit drei und mehr Kindern sind zu 47€% berufstätig (UNECE 2009). Die Vereinbarkeit von Beruf und Kindererziehung verbesserte sich in den letzten Jahren etwas, ist jedoch in Ermangelung passender staatlicher Betreuungsangebote immer noch schwierig. Die staatlichen Leistungen für Familien sind auch in Großbritannien gemessen am BIP hoch (3,6€% im Jahr 2005). Rund 2 Prozentpunkte werden dabei in Form von Geldleistungen erbracht (OECD 2009a). Dennoch ist die Kinderarmut im europäischen Vergleich, neben Italien, am höchsten, auch wenn in den letzten Jahren ein deutlicher Rückgang zu beobachten ist. Mutterschutz für alle Frauen und, unter bestimmten Bedingungen, eine (derzeit noch unbezahlte) Elternzeit von maximal 4 Wochen im Jahr bis zum fünften Geburtstag eines Kindes wurden erst in den 1990er Jahren in Umsetzung europäischer Richtlinien eingeführt; für Väter sind höchstens zwei Wochen vorgesehen. Die Bevölkerungszahl stieg in Großbritannien im Zeitraum 1970–2008 um insgesamt 10€ %, die Zahl der Personen im erwerbsfähigen Alter 15–64 wuchs von 1970 bis 2007 um 15€ % (Eurostat). Das Land erzielte demnach eine hohe Erste Demografische Dividende, die es in Zukunft allerdings nicht mehr erwarten kann. Der vorausberechnete gesamte Unterstützungskoeffizient wird steigen, liegt aber für 2030 bei nur 63€%, das ist unter den sechs betrachteten Ländern der zweitniedrigste Wert nach Norwegen. Der britische Weg in der Bevölkerungs- oder Familienpolitik legt nahe, dass Geldzuwendungen alleine möglicherweise die Fertilität in bestimmten Alters- und Bildungsgruppen auf hohem Niveau stabilisieren können, Frauen mit hoher Bildung hingegen ohne adäquate Betreuungsangebote nur geringe Geburtenziffern aufweisen.
2.2.3 Italien Italien weist konservativ-familialistische Züge in seiner Wohlfahrtspolitik und in der Einstellung zur Familie auf. Das Modell ist auf die Erhaltung von Statusunter-
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schieden und der traditionellen Familie hin ausgelegt, wobei zu letzterem auch die Kirche ihren Beitrag leistet. Es gibt kein Familienministerium (mehr) und auch wenig explizite Familienpolitik. Familie ist Sache der Familie. Die Fertilität war in Italien zeitweise so gering, dass Wissenschaftler dafür den Begriff „lowest-low fertility“ erfanden (Billari 2006). Ihren Tiefpunkt erreichte die TFR mit 1,19 Kindern je Frau in 1995, seither ist sie wieder gestiegen, 2008 auf 1,41. Die tempostandardisierte TFR und die verschobene Kohortenfertilität lagen von Ende der 70er bis Anfang der 90er nahe beisammen und über der TFR, sie zeigten aber den selben Trend wie diese. Die tempostandardisierte TFR der Jahre 2003–2005 war nur leicht höher als die TFR bei 1,48 (VID 2008) und damit immer noch weit unter Bestanderhaltungsniveau. Die regionalen Unterschiede lagen etwas über jenen in Frankreich, 2008 betrugen sie 0,48 Kinder je Frau, dabei ist ein gewisses Nord-Süd-Gefälle zu erkennen (im Norden ist die TFR höher). Wie in allen untersuchten Ländern außer in Tschechien ist die Fertilität auch in Italien vom Ausbildungsniveau abhängig. So wiesen in den Geburtskohorten 1951–1955 die Frauen mit der niedrigsten Qualifikation eine auf dem Bestanderhaltungsniveau liegende Fertilität von 2,1 Kindern je Frau auf, während Frauen der mittleren und der höchsten Ausbildungsgruppe im Durchschnitt nur 1,7 Kinder geboren hatten (UNECE 2000). Überraschenderweise liegt der im Eurobarometer 2006 erfragte persönliche ideale Kinderwunsch im Durchschnitt weit über den tatsächlichen Entwicklungen, und mit 2,05 bei den Männern bzw. 2,13 bei den Frauen auch nahe am Bestanderhaltungsniveau, wenngleich mit leicht sinkender Tendenz (Testa 2006). Der im Population Policy Acceptance Survey (PPAS)4 offenbarte Kinderwunsch ist im Durchschnitt etwas geringer (bei 1,9 Kindern sowohl für Männer als auch für Frauen), aber immer noch über den letzten Werten für die verschobene CFR und die tempostandardisierte TFR (BIB 2005). Die Kinderzahl nach Paritäten ist weniger stabil als in den anderen untersuchten Ländern. So sank der Anteil der Mütter mit vier und mehr Kindern drastisch; seit der 1945er Kohorte um genau die Hälfte auf 5€%. Der Anteil der Mütter mit drei Kindern sank hingegen nur leicht, ist mit 16€ % aber viel niedriger als in Frankreich, Großbritannien und Norwegen. Die Anteile der Frauen mit einem oder zwei Kindern sind hingegen gestiegen, erstere schwächer, letztere stärker. Mit 24€% lag der Anteil der Mütter mit nur einem Kind in Italien zuletzt so hoch, wie nur in Deutschland noch – und z.€B. doppelt so hoch wie in Großbritannien. Der Anteil der Kinderlosen liegt hingegen recht stabil bei 12€%, und damit ähnlich hoch wie in Frankreich, Großbritannien und Norwegen – und niedriger als in Deutschland (Frejka und Sardon 2004). Vergleicht man die aus dem PPAS für die Kohorten 1958–1983 ermittelte, gewünschte Familiengröße mit der endgültigen Kinderzahl der Kohorte 1955, dann 4╇ Der PPAS „ist ein international vergleichendes Forschungsprojekt, in dem die Einstellungen der Bevölkerung zum demographischen Wandel und zu bevölkerungsrelevanten Politiken erforscht werden“ (BIB 2005). Von den hier betrachteten Ländern nahmen Italien, Tschechien und Deutschland teil. In allen 14 teilnehmenden Ländern wurden von 2000 bis 2003 insgesamt 34.000 Personen im Alter 18–75 Jahre befragt. Fragen zum Kinderwunsch wurden nur Frauen bis 49 Jahre gestellt.
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ergibt sich folgendes Bild: Nur 7€% der Frauen (und 9€% der Männer) gaben im PPAS Kinderlosigkeit als ihren Wunsch an; das ist einer geringerer Prozentsatz als jener, der von der Kohorte 1955 tatsächlich kinderlos geblieben war.5 Mit 18€ % wünschten sich Frauen seltener genau ein Kind, als es in der 1955er Kohorte tatsächlich Mütter mit einem Kind gibt. Mit 53€% wünschten sie sich dafür öfter zwei Kinder, als Frauen in der 1955er Kohorte tatsächlich zwei Geburten realisierten. Für drei und mehr Kinder stimmen Wunsch (21€%) und Realität hingegen gut überein. Der Wunsch von Männern nach zwei Kindern ist mit einem Anteil von 57€% dabei stärker ausgeprägter als bei Frauen, der Wunsch nach einem bzw. drei oder mehr Kindern mit Anteilen von 17€ % hingegen etwas weniger (BIB 2005). Insgesamt fällt vor allem auf, dass Kinderlosigkeit und die Ein-Kind-Familie häufiger, und die Zwei-Kind-Familie seltener als von Männern und Frauen gewünscht realisiert wurden. Die Erwerbsbeteiligung der Frauen beträgt mit 47€% weit weniger als der OECD Durchschnitt von 58€% im Jahr 2007 (OECD 2009b), dabei sind die Unterschiede nach Kinderzahl sehr hoch. So gingen Frauen der Geburtskohorten 1941–1959 im Norden zu 20€% und im Süden zu 50€% nie einer bezahlten Beschäftigung nach (Kertzer et€al. 2009), und selbst kinderlose Frauen weisen im italienischen Durchschnitt nur eine Erwerbsquote von 66€% auf (UNECE 2009). Interessant ist, dass Emilia-Romagna, das die besten Betreuungsmöglichkeiten für Kinder von 0–6 Jahren bietet, auch die höchste Arbeitsbeteiligung von Frauen und die dritthöchste Fertilität unter den Regionen Italiens aufweist (Del Boca et€al. 2004). Das Ausmaß an staatlicher Unterstützung für Familien ist gering (unter 1,5€% des BIP im Jahr 2005); die Leistungen verteilen sich vor allem auf Geld- und Dienstleistungen; Steuererleichterungen spielen nur eine untergeordnete Rolle (OECD 2009a). Neben dem Mutterschutz von fünf Monaten gibt es bis zu 11 Monate Elternzeit, die bis zum 8. Lebensjahr des Kindes in Anspruch genommen werden kann; Männer können davon 7 Monate beantragen (Schröder 2005). Diese Regelung bringt Eltern große Erleichterungen, für Unternehmen aber große Planungsunsicherheit. Die Bevölkerung nahm in Italien zwischen 1970 und 2007 um 10€% zu; seit 1993 ist die natürliche Bevölkerungsentwicklung jedoch (mit Ausnahme zweier Jahre) negativ; Immigration spielt eine zunehmende Rolle. Die Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter wuchs im gleichen Zeitraum um 12€%. Italien war bereits 2004 die älteste Nation in der EU-27 und wird laut der 2004 Prognose von Eurostat diese Position voraussichtlich auch 2030 innehaben. Dennoch beläuft sich der für 2030 vorausberechnete Gesamtunterstützungskoeffizient auf nur 64€%.
5╇ Die aus dem PPAS für die Kohorten 1958–1983 ermittelte, gewünschte Familiengröße wird hier mit der endgültigen Kinderzahl der Kohorte 1955 verglichen, weil zum Zeitpunkt der Erstellung des Ländervergleichs dieser Geburtsjahrgang der aktuellste war, für den paritätenspezifische Daten vorlagen. Die Autoren sind sich dabei bewusst, dass der Vergleich von Wünschen der einen Kohorte mit der Realität einer anderen nicht ideal ist, halten diesen und die daraus gezogenen Schlüsse aber für zulässig, solange der gewünschten und der realisierten Kinderzahl eine gewisse Trägheit unterstellt werden kann.
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Am Beispiel Italiens zeigt sich, dass ein umfassendes Subsidiaritätsprinzip in Familienfragen weder die Erzielung einer höheren Fertilität, noch die Vereinbarkeit von Familie und Beruf gewährleisten kann.
2.2.4 Norwegen Norwegen wird als universalistischer Wohlfahrtsstaat bezeichnet, in dem der Staat in Bezug auf Kinderbetreuung und soziale Leistungen als eine Art Familienersatz fungiert. Staatliche Maßnahmen sind dabei auf die Chancengleichheit der Geschlechter und der Kinder ausgerichtet. Ersteres wird auch dadurch realisiert, dass es weder ein Ehegatten- noch ein Familiensplitting gibt, sondern die Besteuerung strikt nach dem Individualprinzip erfolgt. Letzteres wird unter anderem dadurch gefördert, dass alle Kindergärten mindestens 41 Stunden pro Woche Betreuung anbieten müssen und nur gelernte Kindererzieher beschäftigen dürfen. Das Land konnte seine Geburtenrate (TFR) zwischen 1983 und 1990 von 1,66 auf 1,93 erhöhen und dann in etwa auf diesem Niveau halten. Die verschobene Kohortenfertilität lag dabei stets höher und mit Werten um 2,02 in etwa auf Bestanderhaltungsniveau. Die tempostandardisierte TFR lag ebenfalls höher – mit Werten über 2,1 teilweise auf Bestanderhaltungsniveau –, zeigte aber zuletzt abnehmende Tendenz. Die regionalen Unterschiede waren 2007 mit höchsten 0,36 Kindern relativ niedrig verglichen mit den anderen hier betrachteten Ländern. Gleiches gilt für die Unterschiede nach dem Ausbildungsstand, die für die Kohorten 1950–1959 bei nur 0,3–0,4 Kindern je Frau lagen, wobei die Fertilität der hochqualifizierten Frauen einen permanenten leichten Anstieg aufweist. Eine ideale Kinderzahl wurde in Norwegen bislang nur als allgemeine Angabe erfragt, nicht bezogen auf die eigene Lebensplanung. Das mag dazu beitragen, dass die genannte Zahl zu hoch ausfällt, um den eigenen Kinderwunsch zu offenbaren; Frauen gaben zuletzt im Durchschnitt 2,6 Kinder als ideal an. Die hohe Fertilität widerspiegelt sich auch im Bild der Kinderzahlen nach Paritäten, insbesondere in den geringen Anteilen von Frauen mit weniger als zwei Kindern. Allerdings ist ein Anstieg, wenngleich noch auf niedrigem Niveau, im Anteil der Mütter mit nur einem Kind zu beobachten (auf 15€%), während sich der Anteil der Kinderlosen bei rund 10€% hält. Für die Kohorten nach 1945 ist ein Rückgang in der Anzahl der Mütter mit vier und mehr Kindern auf 8€% aller Mütter zu beobachten, was unter dem Wert für Frankreich und Großbritannien liegt. Dafür ist der Anteil der Mütter mit drei Kindern trotz eines leichten Rückgangs bei rund 23€% immer noch sehr hoch. Der Anteil der Mütter mit zwei Kindern schwankte im Zeitablauf und lag zuletzt bei 44€% und damit ähnlich hoch wie für die 1945er Kohorte (Frejka und Sardon 2004). Die Erwerbsorientierung norwegischer Frauen ist gemessen an der Beschäftigungsquote hoch. Sie liegt im Durchschnitt bei 72€% und unterscheidet sich – wie auch in Frankreich – für Kinderlose sowie Frauen mit einem oder zwei Kindern kaum, bewegt sich allerdings auf höherem Niveau (81–83€%). Dass selbst Mütter
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mit drei Kindern noch zu 74€ % berufstätig sind (UNECE 2009), deutet auf eine außergewöhnlich gute Vereinbarkeit von Elternschaft und Berufstätigkeit – auch von Frauen – hin.6 Dem entspricht, dass die meisten Leistungen jenseits des Mutterschutzes von der vorangegangenen und später der laufenden Erwerbsbeteiligung der Frauen abhängig sind. Wie stark diese auf Änderungen der Rahmenbedingungen anspricht, lässt sich an den Folgen der Einführung eines Kinderbetreuungsgeldes im Jahr 1998 beobachten. Generell zeigt sich, dass die Cash-for-Care Reform insbesondere von Frauen mit niedrigem Ausbildungsgrad angenommen wurde (Aasve und Lappegard 2008); die Aussagen zum Zeitpunkt des Wiedereinstiegs der Frauen in den Beruf sind hingegen nicht einheitlich. Insgesamt kann die bevölkerungswirksame Politik in Norwegen als sehr erfolgreich angesehen werden. Die Bevölkerung nahm im Zeitraum 1970–2007 um 21€% zu; die Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter sogar um 28€%, was dem Land eine hohe Erste Demografische Dividende einbrachte. Für 2030 wird erwartet, dass die norwegische Bevölkerung gemessen am Durchschnittsalter genauso jung sein wird, wie die voraussichtlich dann jüngste Bevölkerung in der Europäischen Union, die irische (Eurostat 2004). Der gesamte Unterstützungskoeffizient soll 2030 bei lediglich 60€% liegen (der niedrigste Wert unter den untersuchten Ländern) und zudem, im deutlichen Unterschied zu den anderen hier angesprochenen Ländern, fast zu gleichen Teilen auf den Jugend- und den Altenquotienten entfallen. Die norwegische Erfahrung hält für Deutschland zumindest drei Lehren bereit: Erstens, dass es möglich ist, die Fertilität und die Erwerbsbeteiligung von Frauen aller Bildungsgruppen zu erhöhen. Zweitens, dass ein Kinderbetreuungsgeld widersprüchliche Anreize setzt, so dass die Politik ihre Ziele genau kennen und im Auge behalten muss. Drittens, schließlich, dass die Verfolgung des Ziels der Chancengleichheit sowohl der Geschlechter als auch der Kinder unter Umständen die Fertilität wirksamer erhöht, als wenn man sich direkt ein Fertilitätsziel setzen würde.
2.2.5 Tschechische Republik Eine Analyse der Geburtenentwicklung in Tschechien bietet die Möglichkeit, der Entwicklung im „Westen“ auch einmal eine andere Entwicklung im „Osten“ entgegenzusetzen, als immer nur die Erfahrung der DDR. Tschechien war eines der ersten europäischen Länder mit einem rückläufigen Geburtentrend in der Nachkriegszeit. Dafür verlief die Geburtenentwicklung in den 1980ern bis zur Wende recht stabil und in Nähe des Bestanderhaltungsniveaus. Das Alter der Mütter bei Geburt des ersten oder eines Kindes veränderte sich bis Anfang der 1990er Jahre kaum, erhöhte sich dann aber rapide. Mit der Wende erfolgte ein ähnlicher, wenn auch nicht ganz so starker Einbruch in den Geburtenziffern, wie in den Neuen Bundesländern, auf 1,13 Kinder je Frau im Jahre 1999. Seither, und 6╇ Die 72€% beziehen sich dabei auf alle Frauen im Alter 15–64, die nachfolgenden Angaben auf Frauen im Alter 25–49 mit Kindern unter 16 Jahren.
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insbesondere nach dem EU Beitritt des Landes 2004, stieg die TFR rasch auf 1,49 Kinder je Frau im Jahr 2008 an (Eurostat). Die regionalen Unterschiede waren 2007 mit höchstens 0,26 Kindern je Frau unter den betrachteten Ländern am niedrigsten. Die tempostandardisierte Geburtenziffer liegt weit höher, was mit dem starken Anstieg im Gebäralter zusammenhängt. Die verschobene Kohortenfertilität lag für die siebziger Jahre unterhalb, für die 80er nahe der TFR. Bemerkenswert ist, dass die Kohortenfertilität für die Jahrgänge 1958–1962 kaum Unterschiede nach dem Bildungsniveau aufwies: Mit 1,99 Kindern je Frau war sie für Frauen mit hohem Ausbildungsstand nur 0,13 niedriger als für Frauen mit niedrigem Ausbildungsstand. Die persönlich als ideal empfundene Kinderzahl lag derweil bei 1,97 bis 2,16, je nach Geschlecht und Befragung, also sehr nah an der tatsächlichen Fertilität (BIB 2005; Testa 2006). Die Kinderzahlen nach Paritäten zeigen keine großen Unterschiede zwischen den 1945er und 1955er Kohorten. Der Anteil sowohl der Kinderlosen als auch der Mütter mit mehr als 4 Kindern liegt recht konstant bei 6€%. Der Anteil der Mütter mit drei Kindern oder mit nur einem Kind ist mit 19€% bzw. 14€% ähnlich hoch wie in Großbritannien; außergewöhnlich ist nur der sehr hohe Anteil von Müttern mit zwei Kindern; er lag zuletzt bei 55€%, Tendenz steigend (Frejka und Sardon 2004). Dazu mag beigetragen haben, dass vor 1990 erst ab dem zweiten Kind Elterngeld gezahlt wurde. Die hohe Übereinstimmung der gewünschten mit der tatsächlichen Familiengröße zeigt sich im PPAS auch im Kinderwunsch nach Paritäten. Kinderlos sein wollten demnach 7€% der Frauen und 6€% der Männer. Frauen wünschten sich zu 15€% ein Kind, zu 58€% zwei Kinder und zu 20€% drei oder mehr Kinder. Männer wünschten sich öfter genau ein oder mehr als zwei Kinder als Frauen (20€% bzw. 24€%), dafür mit 50€% seltener genau zwei (BIB 2005). Die hohe Übereinstimmung von Wunsch und Realität ist gerade für Tschechien mit Vorsicht zu genießen: die hier zum Vergleich mit den in 2002 ermittelten Wünschen herangezogene endgültige Kinderzahl der Kohorte 1955 hat ihre Kinder noch vor den politischen, gesellschaftlichen und sozialen Umbrüchen bekommen. Ob es den Generationen danach auch noch gelingt, ihre Kinderwünsche so umzusetzen, ist angesichts des Einbruchs in der TFR nach 1990 zweifelhaft. Die Erwerbstätigkeit der Frauen lag 2006 bei durchschnittlich 57€ % (OECD 2009b) und war um so niedriger, je mehr Kinder eine Frau hatte; von den Müttern mit drei und mehr Kindern arbeiteten nur noch rund 34€% (OECD 2007). Dazu trugen einerseits die geringen Kinderbetreuungsmöglichkeiten sowie deren steigende Kosten, und andererseits großzügige Elterngeldregelungen bei, die mit einer gewissen Abstufung bis zum 48. Lebensmonat eines Kindes bezogen werden können (MPSV 2009a). Insbesondere für weniger ausgebildete Frauen erweist sich ein Elterngeld, das weit über dem Mindestlohn liegt, als Anreiz, dem Arbeitsmarkt fern zu bleiben. Die Bevölkerung stieg in dem heutigen Tschechien zwischen 1970 und 2007 insgesamt um 5€% an. Die Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter wird bis 2030 um voraussichtlich 16€ % schrumpfen (Eurostat). Alterung und Schrumpfung werden den gesamten Unterstützungskoeffizienten drastisch ansteigen lassen: von 40 im Jahr 2007 auf 65 im Jahr 2030.
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Die Tschechische Erfahrung erlaubt mehrere Schlüsse, die für Deutschland interessant sein könnten. Erstens, tief verwurzelte Normen lassen sich selbst durch drastische Änderungen in den Rahmenbedingungen nicht rasch und nachhaltig ändern. In Tschechien mag das für die Familienverbundenheit gelten, in Italien wie auch in Teilen Deutschlands für das männliche Ernährermodell und die „Privatisierung“ der Kindererziehung. Zweitens, eine sehr schlechte Betreuungsinfrastruktur erlaubt selbst Müttern mit nur einem Kind keine hohe Erwerbsbeteiligung. Drittens, ein hohes Kinderbetreuungsgeld senkt den Anreiz zur Erwerbstätigkeit der Frauen.
2.2.6 Deutschland Deutschland gehört nach Esping-Andersen (1990) zur Gruppe konservativen Wohlfahrtsstaaten; bei Gauthier (1996) wird seine Familienpolitik als protraditionalistisch beschrieben. Mit der Wiedervereinigung kamen in Bevölkerungsfragen zwei völlig unterschiedliche Kulturen zusammen. Die Geburtenrate ist im weltweiten Vergleich sehr niedrig. Die TFR lag 1970 schon nur noch bei 2,02 Kindern je Frau, war bis 1973 bereits auf 1,54 gefallen, und lag in den folgenden Jahren im Durchschnitt bei rund 1,4. Nach der Wiedervereinigung brachen die Geburtenziffern in Ostdeutschland ein und erreichten mit 0,8 Kindern je Frau ihren Tiefstwert. Ab 1996 stieg die gesamtdeutsche TFR wieder an und betrug 2007 1,37 Kinder je Frau (Eurostat). Regional betrachtet war die TFR im Jahr 2007 in den Stadtstaaten und im Saarland am geringsten; der maximale Abstand zwischen den Regionen beläuft sich aber auf höchstens 0,16. Die TFR von Migrantinnen liegt je nach Herkunftsland über (Asien, Afrika, Türkei) oder unter (EU Länder) der TFR deutscher Frauen (Schmid und Kohls 2008). Die verschobene Kohortenfertilität lag bereits 1970 (für die Kohorte 1944) mit 1,78 weit unter den Werten in anderen Ländern, sank dann aber weniger stark als die TFR, auf 1,48 Kinder je Frau in 1994. Nach den neuesten Berechnungen des StBA brachte der Jahrgang 1958 durchschnittlich 1,7 Kinder zur Welt (StBA 2009). Die niedrigen Geburtenziffern spiegeln sich in drei Besonderheiten des Geburtenverhaltens in Deutschland. Die erste betrifft die Kinderzahl nach Paritäten. Lediglich 19€% der Mütter hatten in den Kohorten nach 1950 drei Kinder und mehr; das ist weniger noch als in Italien und weit unter den Werten für die anderen untersuchten Länder; Frankreich, Großbritannien und Norwegen wiesen zuletzt rund 30€%, Tschechien rund 25€% und Italien rund 20€% auf. Dafür ist der Anteil der Mütter mit nur einem Kind mit ca. 25€% so hoch wie sonst nur in Italien noch, und der Anteil kinderloser Frauen ist in Deutschland (zusammen mit Großbritannien) am höchsten (StBA 2009). Die zweite Besonderheit betrifft die hohe Kinderlosigkeit hoch ausgebildeter Frauen im Westen Deutschlands. Nach der neuesten Auswertung des Mikrozensus liegt sie hier mit rund 26€% beinahe dreimal so hoch wie im Osten des Landes (StBA 2009). Vergleicht man die Rahmenbedingungen in den
2.2 Vergleichende Länderstudie
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beiden Teilen Deutschlands so ist die wirtschaftliche Situation in den alten Bundesländern mit Sicherheit insgesamt als besser zu bezeichnen, die Kinderbetreuungsinfrastruktur in den neuen Bundesländern hingegen als unvergleichlich großzügiger. Die dritte Besonderheit betrifft schließlich die geäußerten Kinderwünsche: Nicht nur die tatsächliche sondern auch die gewünschte Kinderzahl ist in Deutschland nach drei von vier Befragungen niedrig und in der betrachteten Ländergruppe mit Abstand am niedrigsten. Im Durchschnitt nennen Frauen 1,75 und Männer 1,59 als gewünschte Kinderzahl (Höhn et€al. 2006). Nur noch Tschechien weist eine so hohe Übereinstimmung der gewünschten mit der tatsächlichen Kinderzahl auf – allerdings auf einem ganz anderen Niveau. Für die 2003 in der PPAS ermittelte gewünschte Familiengröße gaben 15€% der Frauen und 23€% der Männer an, dass sie kinderlos sein möchten. Vergleicht man dies mit den 21€% kinderlosen Frauen in der Kohorten 1964–1968,7 so scheint die Kinderlosigkeit von Frauen teilweise ungewollt zu sein und eventuell am fehlenden Kinderwunsch des Partners oder am fehlenden Partner zu scheitern. Beinahe die Hälfte der Frauen gaben 2003 an, sich zwei Kinder zu wünschen, in der Kohorte 1964–1968 hatten dagegen bis 2008 nur 37€ % der Frauen zwei Kinder. Männer wünschten sich zu 41€% zwei Kinder, deutlich seltener als Frauen. Sehr ähnlich sind dagegen die Anteile von Frauen und Männern, die sich genau ein Kind (18–19€%) oder drei und mehr Kinder (17€%) wünschen. Letzterer liegt auch erstaunlich nahe am Anteil der Frauen, die tatsächlich mindestens drei Kinder haben. Insgesamt ergibt sich also das Bild, dass für Frauen in Deutschland der Übergang zum ersten und vor allem zum zweiten Kind mehr Wunsch als Wirklichkeit ist. Trotz der geringen Kinderzahl ist die Beschäftigungsquote von Frauen nur in der Gruppe kinderloser Frauen hoch; hier liegt sie mit 80€% dennoch unter dem Wert für Großbritannien (85€%) und Norwegen (82€%). Sobald Kinder da sind, sinkt die Erwerbsbeteiligung von Frauen auf Werte vergleichbar mit Italien und Tschechien: 68€% (bei einem Kind), 58€% (bei zwei Kindern), 39€% (bei drei und mehr Kindern) (UNECE 2009). Deutschland ist eines der wenigen Länder, das explizit über ein Familienministerium verfügt. Die Familienleistungen des Staates entsprachen 2005 in etwa 3€% des BIP (OECD 2009a). Sie bestehen überwiegend aus finanziellen Transfers, die mit dem Ziel verbunden sind, einen Familienlasten- und Familienleistungsausgleich zu gewährleisten. Staatliche Betreuungsangebote gelten vornehmlich Kindern über drei Jahren und sind in den alten Bundesländern überwiegend Halbtagsangebote. Die Bevölkerung stieg zwischen 1970 und 2007 um 6€% an; das ist mit Tschechien der geringste Wert unter den hier untersuchten Ländern. Der Anteil der Erwerbsbevölkerung an der Gesamtbevölkerung lag 1970 bei 63€%, stieg bis 1987 auf 70€ % an und wird bis 2030 voraussichtlich auf 60€ % fallen (Eurostat). Der Altenquotient wird 2030 mit 46 ähnlich hoch liegen wie in Italien und Tschechien, 7╇ Frauen dieser Kohorten waren zum Datenerhebungszeitpunkt 40–44 Jahre alt. Da jedoch immer mehr Frauen in diesem Alter Kinder bekommen, können die Zahlen zur Fertilität dieser Kohorte nicht als endgültig angesehen werden.
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2 Fertilitätsentwicklung in ausgewählten Industrieländern
der gesamte Unterstützungskoeffizient wird mit rund 67 ähnlich hoch wie in Frankreich sein.
2.3 Schlussfolgerungen Ein Vergleich der Fertilitätsentwicklung und der sozioökonomischen Bedingungen, unter denen sie stattfindet, ist im Rahmen einer Literaturstudie nicht ganz einfach. Das liegt zum einen an der Datenlage: Nicht immer gibt es vergleichbare Daten, zu den gleichen Zeitspannen, den gleichen Kohorten, den gleichen Größen; erfreulicherweise verbessert sich die Datenlage laufend, was wiederum dazu führt, dass alle Aussagen vorläufiger Art sind und nicht auf Punkt und Komma sondern als grundsätzlich richtig angesehen werden müssen. Zum anderen liegt es daran, dass man keine vergleichenden ökonometrischen Studien zu der eigenen Länderauswahl findet, so dass die zusammengetragenen Aussagen unter Umständen aus Datensätzen unterschiedlicher Qualität stammen, sowie einem methodisch sehr unterschiedlichen Vorgehen entspringen; daher sind die kausalen Zusammenhänge nicht immer in der wünschenswerten Klarheit identifiziert (siehe dazu auch Kap.€3). Dennoch bieten Ländervergleiche ein (lehr-) reiches Anschauungsmaterial. Die Entwicklungen in den sechs von uns betrachteten Ländern legen folgende Schlussfolgerungen nahe. ╇ 1. Eine dauerhaft hohe Fertilität ist unter sehr unterschiedlichen Rahmenbedingungen möglich. ╇ 2. Unabhängig vom Ausbildungsstand scheint sich eine hohe Fertilität vor allem dann einzustellen, wenn Frauen nicht nur die Vereinbarkeit von Beruf und Mutterschaft ermöglicht, sondern auch eine weitgehende Gleichstellung der Geschlechter in der Gesellschaft angestrebt wird. ╇ 3. Länder mit hoher Geburtenrate weisen einen hohen Anteil an Müttern mit drei und mehr Kindern auf; Länder mit niedriger Geburtenrate einen hohen Anteil an Müttern mit nur einem Kind. ╇ 4. Die Kinderlosigkeit steigt nicht generell an; von den sechs untersuchten Ländern ist das lediglich in Großbritannien und Deutschland der Fall. ╇ 5. Substanzielle Vergünstigungen, die erst ab dem zweiten oder dritten Kind greifen, erhöhen die Übergangsrate vom 1. zum 2. bzw. vom 2. zum 3. Kind. ╇ 6. Hohe Geldzuwendungen erhöhen insbesondere die Geburtenrate niedrig ausgebildeter Frauen und scheinen ihren Anreiz zur Erwerbstätigkeit zu senken. ╇ 7. Ein umfassendes Netz an staatlichen Betreuungsangeboten kann durch den Familienverbund nicht ersetzt werden. ╇ 8. Ein Mix aus Steuervergünstigungen, Geld- und Dienstleistungen scheint einer hohen Fertilität eher zuträglich, als einseitig ausgerichtete Programme. ╇ 9. Generell bezeichnen Frauen und Männer in den Befragungen eine weit höhere Kinderzahl als ideal (für sie persönlich oder die Gesellschaft), als sie selbst hatten, haben, oder haben werden. Das deutet zunächst eher auf eine falsch gestellte Frage oder auf eine sehr hohe Trägheit in den sozialen Normen, als auf
Literatur
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unpassende Rahmenbedingungen hin. In Deutschland ist die Übereinstimmung zwischen realisierter und durchschnittlich gewünschter Kinderzahl allerdings verblüffend hoch, was als Hinweis auf ein Sinken der Normvorstellung interpretiert werden kann. Paritätenspezifisch scheint insbesondere der Übergang aus der Kinderlosigkeit zum ersten Kind und vom ersten zum zweiten Kind in Italien und Deutschland schwer zu gelingen. 10. Soziale Normen, die das Geburtenverhalten beeinflussen, wirken lange nach. Das dürfte auch für die Kinderlosigkeit gelten, sobald sie eine allgemein akzeptierte Norm geworden ist.
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2 Fertilitätsentwicklung in ausgewählten Industrieländern
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Kapitel 3
Determinanten der Fertilität in Deutschland
3.1 Einführung Wie bereits vielfach erwähnt, werden Entscheidungen über die Anzahl der Kinder nicht isoliert gefällt, sondern sind eingebettet in eine Abwägung verschiedener Interessen bei knappem Budget. Wie viele Kinder ein Haushalt haben wird, ist daher von verschiedenen Determinanten abhängig; aus ökonomischer Sicht sind dies vor allem die direkten und indirekten Kosten der Kindererziehung, die Präferenz für Kinder und die Präferenz für Konsum. Dabei wird nicht allein über die Anzahl von Kindern entschieden, sondern auch über die Ressourcen, welche in die Gesundheit und Ausbildung der Kinder investiert werden sowie über den Zeitpunkt, wann im Leben Kinderwünsche realisiert werden sollen. Wir beginnen im folgenden mit einer knappen Darstellung der Grundzüge mikroökonomischer Fertilitätstheorien und den Ansatzpunkten für erfolgreiche Bevölkerungspolitik (Kap.€3.2). Danach gehen wir in Kap.€3.3 auf einige methodische Fragen ein, die sich beim Versuch der Identifikation von Politikeffekten auf Fertilitätsentscheidungen ergeben und erläutern die dazugehörenden Datenanforderungen. Anschließend werden in Kap.€3.4 empirische Studien diskutiert, die sich entweder auf deutsche Daten beziehen oder Fertilitätsentscheidungen im internationalen Vergleich unter Einbezug Deutschlands schätzen. Hier wird analysiert a) inwieweit einzelne Familienpolitiken in Deutschland bisher Einfluss auf die Fertilität hatten und b) ob der institutionelle und politische Gesamtkontext in der Fertilitätsentscheidung von Bedeutung ist. Die gesichteten Studien zeigen, dass es auf der einen Seite schwierig ist, den Einfluss einzelner Politiken zu identifizieren, dass aber auf der anderen Seite klare Einflüsse des institutionellen und politischen Gesamtkontexts zu erkennen sind. Welche Probleme sich dabei in der Interpretation der Ergebnisse insbesondere in Bezug auf die Kinderbetreuung ergeben können, wird ebenfalls umrissen. Eine Zusammenfassung und Schlussfolgerungen runden diesen Teil der Betrachtung ab. In Kap.€3.5 werden dann Ergebnisse aus Befragungen zu Kinderwünschen, Gründen gegen Kinder und Einstellungen zu Politikmaßnahmen präsentiert. Abschließend wird das Instrument der Befragung selbst einer kritischen Betrachtung unterzogen.
T. Tivig et al., Wohlstand ohne Kinder?, DOI 10.1007/978-3-642-14983-2_3, ©Â€Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
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3 Determinanten der Fertilität in Deutschland
3.2 Ökonomische Theorien der Fertilität Ökonomische Fertilitätstheorien versuchen, die Fertilitätsentscheidungen von Haushalten zu erklären, die über unterschiedliche ökonomische Ausstattungen verfügen. Diese Frage ist für eine Reihe entwickelter Länder mit anhaltend niedriger Fertilität hochaktuell, aber sie ist nicht neu. So schrieb bereits Brentano (1924): „Was mit zunehmenden Wohlstand abgenommen hat, ist […] der Zeugungswille. Das aber, was die Abnahme des Zeugungswillens hervorgerufen hat, sind die Zunahme der Konkurrenz der Genüsse und eine Verfeinerung im Gefühle der Kinderliebe“ (S.€286€f). Und Brentano wiederum verweist auf andere, ältere Quellen, die sich teilweise schon in der Antike mit der Problematik beschäftigten (ebd., S.€287€f).
3.2.1 D ie Austauschbeziehung zwischen der Anzahl und Ausstattung der Kinder Vollends in den Fokus der Wirtschaftswissenschaften gelangte die Thematik der Fertilität durch die Arbeiten des Nobelpreisträgers Becker (1960). Ihr Kern ist die Austauschbeziehung zwischen der Anzahl und Ausstattung der Kinder, engl. Quantity-Quality-Trade-Off (QQTO). Der Zusammenhang wurde in Becker und Lewis (1973) mit dem Instrumentarium der neoklassischen Wirtschaftstheorie formalisiert. Zu diesem Instrumentarium gehören annahmegemäß konstante Präferenzen, ein begrenztes finanzielles Budget und ein beschränktes Zeitbudget. Das spezielle Interesse der ökonomischen Theorie ist es, die Auswirkungen von Änderungen des finanziellen Budgets auf die unter diesen Bedingungen „nachgefragte“ d.€h. theoretisch realisierte Anzahl und Ausstattung von Kindern zu erklären. Im theoretischen Modell des QQTO bildet ein repräsentativer Haushalt Präferenzen über Kinder und Konsum. Die Konsumwünsche werden mit einem Bündel an nachgefragten Gütern und Dienstleistungen abgebildet. Die Präferenzen über die Kinder umfassen nicht nur deren Anzahl, sondern auch gewünschte Eigenschaften. Eltern wünschen sich vor allem gesunde und kluge Nachkommen; Ökonomen subsumieren diese Eigenschaften unter dem Begriff „Qualität“ von Kindern. Becker und Lewis (1973) operationalisieren Qualität über die Kosten. Je höher die Ausgaben für jedes Kind, umso höher die Qualität. Dabei wird angenommen, dass allen Kindern des Haushalts die gleiche Qualität zukommt. In ihrem Wunsch nach Anzahl und Qualität der Kinder respektive nach Konsum sind Haushalte annahmegemäß unersättlich. Das heißt, eine Begrenzung der realisierten Kinderzahl und -qualität bzw. im Konsum wird nur durch die Beschränkungen des finanziellen und zeitlichen Budgets hervorgerufen. Die Annahme der Unersättlichkeit ist in Bezug auf die Präferenzen für Kinder gerade angesichts von Umfrageergebnissen zweifelhaft, für die Theorie allerdings notwendig, um die Auswirkungen der ökonomischen Sphäre zu isolieren. Diese wird über die Knappheit von Ressourcen abgebildet, hier wie bereits erwähnt über die Budget- und Zeitrestriktion sowie über relative Preise (Kosten).
3.2 Ökonomische Theorien der Fertilität
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Die Budgetrestriktion besagt im Kern, dass der Haushalt nicht mehr ausgeben kann als er einnimmt, und die Zeitrestriktion, dass der Haushalt nicht mehr Zeit hat, als der Tag lang ist. Dabei kann auch berücksichtigt werden, dass verschiedenen Aktivitäten zeitlich nicht parallel erfolgen können. Die Ausgaben setzen sich aus den Kosten für Konsum und den Kosten für Kinder zusammen. Die Kosten für Kinder wiederum werden weiter differenziert: Erstens existieren Kosten, die sowohl mit der Anzahl der Kinder als auch mit deren Qualität steigen. Da angenommen wird, dass alle Kinder gleich behandelt werden, fallen die allermeisten Kosten hierunter, die direkt und indirekt die Gesundheit oder Bildung der Nachkommen beeinflussen. Zweitens gibt es Kosten, die nur mit der Anzahl der Kinder variieren, aber unabhängig von deren Qualität sind. Dazu werden im Allgemeinen auch Kosten der alternativen Verwendung der knappen Zeit gezählt; deshalb spielt die Zeitrestriktion hier eine bedeutende Rolle. Die Beckersche Theorie geht davon aus, dass sich das Erziehen von Kindern – zumindest teilweise – nicht mit anderen Tätigkeiten vereinbaren lässt. Erst spätere Modelle berücksichtigen marktliche oder institutionelle Kinderbetreuung. Von großer Bedeutung dürfte in der Realität auch sein, dass nicht nur Erwerbstätigkeit, sondern auch die meisten Konsumtätigkeiten zeitintensiv sind und mit der Kindererziehungszeit konkurrieren (siehe z.€B. die Formulierung des QQTO von Willis 1973). Drittens existieren Kosten, die nur von der Qualität und nicht von der Kinderanzahl beeinflusst werden, weil die entsprechenden Ausstattungen von allen Kindern genutzt werden können. Ein Beispiel wäre die Bibliothek im Elternhaus. In diesem Rahmen wägt der Haushalt nun ab, welche Kombination von Kinderzahl, Ausstattung der Kinder und Konsum bei gegebenen Ressourcen seinen Präferenzen am ehesten entspricht. Dabei wird er nicht nur feststellen, dass mehr von dem Einen (z.€B. Konsum) bedeutet, dass weniger von den Anderen realisiert werden kann (Kinderzahl und -qualität); das gilt für jede Abwägung zwischen zwei oder mehr Gütern. Das Besondere des QQTO ist vielmehr, dass eine erhöhte Nachfrage nach Qualität, die Kosten für jede Einheit Quantität erhöht und umgekehrt. Möchte nämlich der Haushalt den Kindern zusätzliche Bildung finanzieren, wird es für ihn teurer, wenn diese zusätzliche Bildung drei statt zwei Kindern zukommen soll: Der Preis einer zusätzlichen Einheit Qualität ist höher, wenn die Kinderzahl höher ist. Ebenso gilt, dass wenn der Haushalt ein zusätzliches Kind möchte, dieses für ihn teurer wird, wenn er jedem seiner Kind beispielsweise ein Studium finanzieren möchte: Der Preis einer zusätzlichen Einheit Quantität ist höher, wenn die nachgefragte Qualität höher ist (immer unter der Annahme, dass alle Kindern des Haushaltes die gleiche Ausstattung bekommen). In diesem theoretischen Modell gibt es nun verschiedene Erklärungen für eine sinkende Fertilität. Der von Becker und Lewis (1973) mit Einkommenseffekt bezeichnete Zusammenhang geht von permanent steigenden Einkommen und von Einkommenselastizitäten aus, die für die Qualität höher sind als für die Kinderanzahl, eine Annahme, die Becker in späteren Arbeiten auf vielfältige Weise zu begründen versucht (z.€B. Becker und Tomes 1976). Sie besagt, dass Eltern zusätzliches Einkommen eher für mehr Bildung ihrer Kinder ausgeben möchten, als für weitere Kinder. Aufgrund der Wechselwirkung zwischen den Kosten pro Einheit Qualität
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3 Determinanten der Fertilität in Deutschland
und Einheit Quantität ist das gleichbedeutend mit einem Anstieg der Kosten für die Kinderzahl. Obwohl sich also der Haushalt im Zuge von Einkommenssteigerungen sowohl mehr Kinder als auch mehr Bildung für diese leisten könnte, werden wegen des Anstiegs der Kosten pro Kind tatsächlich weniger Kinder geboren und diese dafür (wesentlich) besser ausgebildet. Anhaltendes Wirtschaftswachstum und der daraus resultierende Anstieg des Pro-Kopf-Einkommens können auf diese Weise eine sinkende Fertilität auslösen. Ein anderer Wirkungszusammenhang entsteht über den Preiseffekt. Hier spielen die Kosten eine Rolle, die entweder von der Kinderzahl oder von deren Ausstattung abhängen; angenommen wird, dass beide Kostenarten konstant sind. Ein Beispiel für Kosten, die mit der Kinderzahl entstehen, sind die Opportunitätskosten der Kinderbetreuungszeit. Hiermit gemeint sind reine Kosten der alternativen Verwendung der Zeit, und eine solche Alternative ist Erwerbstätigkeit. Die Opportunitätskosten entsprechen dann den Lohneinbußen durch die Nichtaufnahme, Unterbrechung oder Beendigung der Erwerbstätigkeit des erziehenden Elternteils. In der Regel sind es die Frauen, die ihre Erwerbstätigkeit für ein Kind unterbrechen oder aufgeben, daher ist hier nicht das Haushaltseinkommen, sondern der Lohn der Frau relevant. Lohneinbußen entstehen dabei, wie erwähnt, nicht nur durch direkt entgangenen Lohn. Kehrt die Frau nach einer geburtsbedingten Unterbrechung an den Arbeitsmarkt zurück, erhält sie in der Regel weniger Lohn als eine Frau, die ihre Karriere ununterbrochen fortgesetzt hat. Dies liegt u.€a. daran, dass sie durch die Unterbrechung einen Wissensrückstand erleidet, der schon allein durch entgangene „learning-by-doing“-Effekte resultiert. Diese Kosten steigen mit dem Lohnniveau. Mit dem Lohn der Frau steigen folglich die Opportunitätskosten der Kindererziehung und damit der Preis der Kinderanzahl, so dass die Entscheidung für weitere Kinder negativ beeinflusst wird. Aufgrund der Wechselwirkung mit der Qualität steigen gleichzeitig die Ausgaben für Bildung und Gesundheit für die bereits vorhandenen Kinder. Ein allgemein steigendes (bzw. hohes) Lohnniveau (für Frauen) führt daher ohne staatliche Unterstützungsmaßnahmen aufgrund der Opportunitätskosten zu einer sinkenden (bzw. geringen) Fertilität. Dieser Zusammenhang wird umso schwächer sein, je geringer die Erwerbsorientierung der Frau ist und für Frauen völlig ohne arbeitsmarktliche Ambitionen nicht mehr wirksam sein. Da der Ausbildungsstand der Frau positiv mit ihrer Erwerbsorientierung und ihrem Lohnniveau korreliert, ist eine mit dem Ausbildungsniveau sinkende Fertilität zu erwarten.
3.2.2 Weiterentwicklung des QQTO Eine Weiterentwicklung des QQTO von Ermisch (1989) integriert Kinderbetreuungsmöglichkeiten in den oben skizzierten, theoretischen Rahmen. Es wird hierbei nicht unterschieden, ob diese Kinderbetreuung von privaten Dienstleistern oder
3.2 Ökonomische Theorien der Fertilität
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öffentlichen Institutionen angeboten wird. Kinderbetreuungszeit erhöht die Qualität des Kindes, unabhängig davon, wer sie leistet. Dabei geht das Modell davon aus, dass eine alleinige Betreuung durch Externe für die Herausbildung der qualitativen Eigenschaften im Sinne frühkindlicher Bildung des Kindes nicht optimal sein kann. So gibt es im Modell zum einen die Annahme eines Mindestmaßes an mütterlicher Betreuungszeit. Zum anderen nimmt der Beitrag externer Betreuung zur Qualität des Kindes mit jeder zusätzlichen Zeiteinheit permanent ab (bleibt aber positiv). Ob und wie viel Kinderbetreuung unter diesen Umständen durch den Haushalt nachgefragt wird, hängt im Modell von verschiedenen Parametern ab. Zum einen ist das Verhältnis von Kinderbetreuungskosten zum Lohn der Frau entscheidend: Sind die Kosten der externen Betreuung im Vergleich zum Lohn der Frau sehr hoch, wird der Haushalt die Kinder nur durch die Mutter betreuen lassen. Sind die Kosten dagegen relativ zum Lohn der Frau sehr gering, dann wird der Haushalt externe Kinderbetreuung in der maximal möglichen Zeit nachfragen. Die mütterliche Betreuungszeit sinkt dann auf das Mindestmaß. In Abhängigkeit des Preis-Lohn-Verhältnisses kann sich zwischen diesen Extrema die Situation ergeben, dass der Haushalt die Kinderbetreuungszeit zwischen externer und häuslicher Erziehung aufteilt, die Kinder vielleicht halbtags in externe Betreuung gibt. Das – von Gesellschaft oder Wissenschaft oder durch Öffnungszeiten der Kinderbetreuungseinrichtung vorgegebene – Mindestmaß an mütterlicher Betreuungszeit hat natürlich einen Einfluss auf die Nachfrage nach Kinderbetreuung: Wenn allgemein, als soziale Norm, oder individuell erachtet wird, dass Kinder länger von der Mutter betreut werden sollen, sinkt die Nachfrage nach externer Betreuung. Die Qualität der externen Betreuung beeinflusst die Nachfrage ebenfalls: Je höher die Betreuungsqualität ist, umso höher ist die Nachfrage des Haushalts nach externer Betreuung der Kinder, bis diese ihren maximalen Wert erreicht. Die Betreuungsqualität wird in diesem Modell durch den Beitrag der externen Betreuung zu der qualitativen Ausstattung des Kindes erfasst. Von Interesse für uns sind die Auswirkungen auf die Fertilität: Höhere Betreuungskosten wirken sich negativ auf die Kinderzahl aus; der Effekt ist umso stärker, je größer der Anteil der Betreuungskosten an den Gesamtkosten des Haushalts für Kinder ist. Die Wirkung eines höheren Lohnes der Frau auf die Familiengröße lässt sich in diesem Modell nicht eindeutig bestimmen. Die Beziehung dürfte allerdings nichtlinear sein. Bei niedrigen und mittleren Löhnen der Frau, wenn sich der Haushalt wenig externe Kinderbetreuung leisten kann, führt eine Erhöhung des Lohnes der Frau zu einer Erhöhung der Opportunitätskosten der Kindererziehungszeit und deswegen zu einer Senkung der optimalen Kinderzahl. Bei hohen Löhnen wird der Einfluss der Opportunitätskosten abgeschwächt, da die Kinder mehr Zeit in externer Betreuung verbringen und so das Zeitbudget der Frau weniger stark einschränken. Im Modell von Ermisch führt dann das höhere Budget auch zu einer höheren optimalen Familiengröße. So ergibt sich ein U-förmiger Verlauf des Zusammenhangs zwischen Lohn der Frau und Familiengröße (Ermisch 1989, S.€84). Hohe Kinderbetreuungskosten führen dazu, dass sich der Wendepunkt in der Korrelation nach hinten
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3 Determinanten der Fertilität in Deutschland
verschiebt und erst bei einem relativ hohen Lohn der Frau eintritt. Eine hohe Qualität der Kinderbetreuung verschiebt das Minimum dagegen in die andere Richtung. Hervorzuheben ist, dass sich, sowohl in diesem Modell als auch im QQTO Rahmen generell, bei mangelnder Erwerbsorientierung der Frau kein Zusammenhang zwischen Lohnhöhe der Frauen und Fertilität ergibt. Es kann verschiedene Gründe dafür geben, dass Erwerbstätigkeit nicht als Option wahrgenommen wird. Neben einer pessimistischen Einschätzung der Chancen am Arbeitsmarkt können Frauen (und auch Männer) durch die eigene Sozialisationserfahrung und Normen davon überzeugt sein, dass Mütter mit Kindern unter drei Jahren bzw. mit noch nicht eingeschulten Kindern die Kinder zu Hause betreuen sollten. Für solche Haushalte wäre die Verfügbarkeit von Krippen respektive Kindergartenplätzen keine relevante Entscheidungsvariable für die Fertilitätsentscheidung. Zusammenfassend lässt sich aus QQTO Modellen die Hypothese ableiten, dass eine Senkung der Kosten für die Kinderzahl positiv auf die Zahl realisierter Geburten wirkt. Direkte Kosten können durch Transfers gesenkt werden, die an das Ereignis Geburt anknüpfen. Opportunitätskosten können durch eine bessere Vereinbarkeit von Kinderbetreuung und Erwerbstätigkeit der Frauen reduziert werden. Aus dem Modell von Ermisch (1989) ist ferner zu erwarten, dass geringere Betreuungskosten und die höhere Qualität externer Kinderbetreuung die Fertilität positiv beeinflussen.
3.2.3 Präferenzänderungen In der Realität entstehen Präferenzen nicht unabhängig von dem soziokulturellen und wirtschaftlichen Kontext der Individuen, sondern werden von sozialen Normen und Institutionen, von Gewohnheiten und von Moden beeinflusst, so dass nicht nur das Verhalten sondern auch die Präferenzen endogen sind.1 Sie können daher auch vielfältig beeinflusst werden. Der QQTO thematisiert das Verhältnis von Qualität zu Kinderanzahl. Dabei wird üblicherweise davon ausgegangen, dass die Ausgabenanteile für Kinder insgesamt (Anzahl und Qualitätsdimension) und für Konsum konstant bleiben. Abweichend davon scheint die Überlegung einer im Zeitverlauf steigenden Konsumneigung plausibel; sie hätte zur Folge, dass die Einkommensanteile, die für Kinder ausgegeben werden, sinken und damit sowohl Kinderzahl als auch Qualität sinken bzw. in ihrem Wachstum begrenzt sein können. In der ökonomischen Literatur wird eine steigende Präferenz für Konsum etwa dadurch begründet, dass Konsumwünsche positiv von dem einmal erreichten Konsumniveau abhängen, wie in den „HabitFormation“ Modellen von Pollack (1970, 1976), oder dass Konsumwünsche positiv mit dem Abstand des eigenen Konsums zum durchschnittlichen Konsum korrelie1╇ Siehe u.€a. Bowles (1998, S.€79), der einen lesenswerten Überblick über die Ursprünge und Aussagen der Theorie endogener Präferenzen bietet. Dabei konzentriert er sich auf den Einfluss von Institutionen auf Präferenzen.
3.2 Ökonomische Theorien der Fertilität
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ren, wie in ‚Keeping up with the Joneses‘-Modellen, z.€B. von Abel (1990). Einen überzeugenden Ansatz, endogene Konsumpräferenzen in Erklärungen des Fertilitätsverhaltens einzubeziehen, liefert Easterlin (1973): Das Anspruchsniveau für Konsum wird hier durch die Erfahrungen in jungen Jahren im Elternhaus gebildet. Ein hohes erlebtes Konsumniveau der Eltern bedeutet ein hohes Anspruchsniveau der Nachfolgegeneration. Lutz et€al. (2006) greifen diesen Zusammenhang für ihre ‚Low-Fertility-Trap‘-Hypothese auf und erweitern sie auf die erlebte Familiengröße. In ihrer Analyse sind demnach nicht nur die Präferenzen für Konsum variabel, sondern auch die Präferenzen für Kinder verändern sich durch soziales Lernen und Sozialisation. Die Autoren vermuten, dass die ideale Familiengröße sinkt, wenn potenzielle Eltern in ihrem Umfeld oder in ihrer eigenen Kindheit nur wenige Kinder erleben. Als Folge dieser sozialen Mechanismen sehen die Autoren die Gefahr, dass die Fertilitätsraten auch in Zukunft weiter sinken oder sich auf sehr niedrigem Niveau stabilisieren werden, und nicht, wie in Bevölkerungsprognosen angenommen, auf einem höheren Niveau als dem gegenwärtigen. Letztlich ist dieser Zusammenhang umso mehr ein Argument für die Betreuung von Kindern in größeren Verbünden, als die Familie sie heute zu bieten vermag.
3.2.4 Ansatzpunkte für Politikmaßnahmen Familienpolitische Maßnahmen zielen europaweit nicht nur auf die Bildung, den Schutz und die Förderung von Familien, sondern auch auf Chancengleichheit der Kinder und der Geschlechter. Jenseits direkter Zuwendungen für Familien und gesetzlicher Regelungen wie Mutterschutz, Elternzeit und Berücksichtigung von Kindererziehungszeiten bei der Rentenbemessung, gibt es eine Reihe indirekter Maßnahmen aus dem Bereich der Arbeits- und Wirtschaftspolitik, die auf Fertilitätsentscheidungen wirken. Diese Maßnahmen können in bestimmten Zeiten oder für bestimmte Gruppen sogar wirksamer sein, als die direkten familienpolitischen Vorgaben. Grundsätzlich gilt jedoch, dass staatliche Leistungen nur dann als zusätzliche Determinanten der Fertilität wirken, wenn sie in den Entscheidungsprozess über eine Elternschaft eingehen. (Das wird in Kap.€3.4.5 am Beispiel der Wirkungen von Kinderbetreuungsmöglichkeiten noch ausführlich besprochen.) Ausgehend vom mikroökonomischen Modell der Fertilitätsentscheidung existieren zwei Ansatzpunkte für Familienpolitik: die Budgetrestriktion und die Präferenzen. Familienpolitik kann also erstens versuchen, über eine Lockerung der Budgetrestriktion Anreize für ein gewünschtes Verhalten zu setzen. Der wichtigste Aspekt, der dabei zu beachten ist, ist die Verknüpfung von Kosten und Zeit; jede Budgetrestriktion ist das Ergebnis von Erwartungen über Preise, Einkommen und verfügbare Zeit. Darüber hinaus besteht, zweitens, die theoretische Möglichkeit, auf die individuellen Präferenzen für Kinder staatlich Einfluss zu nehmen. Neben den politischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen müssen demnach auch das Entstehen und der Wandel soziokultureller Normen beachtet werden. Bereits mit der Themenwahl, dem Tenor der öffentlichen Diskussion um Kinder und auch mit der Auswahl von
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3 Determinanten der Fertilität in Deutschland
Maßnahmen zur Förderung der Fertilität wird auf die Präferenzen für Kinder Einfluss genommen. Als Beispiel sei hier das Ehegattensplitting genannt, welches das konservative Familienbild des „Männlichen Ernährer-Modells“ unterstützt.2 Der Aspekt der Zeitverwendung wird unter dem Begriff „Vereinbarkeit von Familie und Beruf“ behandelt. Mittel für den Übergang von Erwerbstätigkeit zu Kindererziehung sind der Mutterschutz und die Elternzeit. Kinderbetreuungsplätze hingegen ermöglichen eine bessere Vereinbarkeit von Kindererziehung und Beruf und wirken somit positiv auf den Wiedereintritt in die Erwerbstätigkeit. Finanzielle Mittel beeinflussen dagegen das verfügbare Einkommen und setzen häufig den Anreiz, weiter auf Erwerbstätigkeit zu verzichten. Insgesamt geht es primär darum, die individuellen Kosten der Kindererziehung (inklusive Opportunitätskosten) zu senken und/oder das gesamte Haushaltseinkommen zu erhöhen. In einigen Ländern ist dieses Ziel jedoch bereits in das breitere Ziel der Chancengleichheit für Kinder und die Gleichstellung der Geschlechter eingebettet.
3.3 Empirische Untersuchungen Wie oben erläutert, wird die Fertilitätsentscheidung auf der Ebene von Individuen bzw. Familien getroffen und ist abhängig von einer Vielzahl beobachteter und unbeobachteter Einflussfaktoren, wie z.€ B. den direkten Kosten für Kinder, dem verfügbaren Familieneinkommen, dem Einkommenspotenzial von Frauen und der Präferenz für Kinder. Dabei umfasst die Entscheidung nicht nur die Anzahl von Kindern, sondern auch den Zeitpunkt (Timing) und den Abstand (Spacing) von Geburten. Eine Reihe empirischer Studien untersuchen, welchen Effekt eine (mutmaßlich) exogene marginale Änderung in den „Preisen“ auf die Fertilitätsentscheidung hat, um daraus politikrelevante Schlussfolgerungen abzuleiten.
3.3.1 Empirische Methoden Zur Identifikation von Politikeffekten in mikroökonometrischen Analysen im Allgemeinen und Fertilitätsentscheidungen im Speziellen müssen gewisse Grundvoraussetzungen erfüllt sein. Die nachfolgende Methodendiskussion basiert vorrangig auf Hotz et€al. (1997). Erstens muss gewährleistet sein, dass die Variation in den erklärenden Variablen exogen ist. Erschwerend kommt hinzu, dass eine entscheidende Einflussgrö2╇ Eine aktuelle OECD Studie (2009) bestätigt, dass in Deutschland Ehen, in denen nur ein Partner eigenes Einkommen erzielt, gegenüber anderen Verdiener-Eheformen klar bevorteilt werden. So hatte ein verheiratetes Paar mit 2 Kindern eine durchschnittliche Steuerlast von 24,1€ %, wenn der eine Partner den Durchschnittslohn erzielte und der andere Partner keinen Erwerbsverdienst hatte. Ehen mit 2 Kindern und zwei verdienenden Partnern hatten dagegen durchschnittlich höhere Steuerlasten (von 30€% bis 34,5€%) zu tragen.
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ße – Präferenzen – nicht direkt beobachtet werden kann. Präferenzen für Kinder beeinflussen die Fertilitätsentscheidung und sind unter Umständen mit einzelnen Regressoren/Kovariaten korreliert. Man spricht in diesem Fall von unbeobachteter Heterogenität, deren Nicht-Berücksichtigung zu verzerrten Schätzergebnissen führt. Beispielsweise steigt mit höherer Präferenz für Kinder unter sonst gleichen Bedingungen die Anzahl der Geburten. Mit der Anzahl der Geburten steigt die Zeit außerhalb des Arbeitsmarkts. Eine relativ geringe Arbeitsmarktbeteiligung reduziert die Erträge von Humankapitalakkumulation und senkt somit die Anreize für Ausbildungsinvestitionen. Die Folge ist eine negative Scheinkorrelation zwischen Fertilität, Ausbildungsabschluss und damit dem Einkommenspotenzial. Mit anderen Worten, Frauen, die eine höhere Präferenz für Kinder haben, investieren weniger in ihre Ausbildung, haben demzufolge ein niedrigeres Einkommenspotenzial, aber mehr Kinder. Niedrige Qualifikation und geringer Lohn würden mit mehr Kindern korrespondieren, ohne dass es einen ursächlichen Zusammenhang zwischen den Variablen gibt. In den Studien mit deutschen Daten, auf die in Kap.€3.5 eingegangen wird, dient der Ausbildungsstand häufig nur als Kontrollvariable und ist nicht zentral für die Aussagen der Studien. Andere Variablen wie der Erwerbsstatus sind allerdings, wie z.€B. in Kreyenfeld (2010), als Maß für Unsicherheit definiert und damit Kernbestandteil der Untersuchung. Zweitens sind Geburten diskrete Ereignisse, die in einem bestimmten zeitlichen Kontext stehen und folglich Ausdruck von Entscheidungen über den Lebenszyklus darstellen. Die aktuelle Fertilitätsentscheidung ist nicht nur abhängig von den gegenwärtigen Variablenausprägungen, sondern auch von erwarteten und vergangenen Werten. Als Folge können Geburten bzw. Übergänge zur nächsthöheren Parität nicht als wiederholte Ereignisse interpretiert werden. Jeder Übergang zur nächsthöheren Parität ist ein im Lebenszyklus einmaliges Ereignis. Studien konzentrieren sich daher häufig entweder auf die Bestimmungsfaktoren für die Erstgeburt oder auf Einflussgrößen für Übergänge zu höheren Paritäten. Als Schätzer werden typischerweise Verweildauermodelle (synonym: Hazard-Raten Modelle, Ereignisdatenmodelle) eingesetzt. Mit der Berücksichtigung des Zeitraums, der vor Ereigniseintritt verstrichen ist, wird in diesen Modellen der Einfluss vergangener Preise auf die aktuelle Fertilitätsentscheidung mitberücksichtigt. Jedoch kann bei der Analyse von nur einem bestimmten Paritätsübergang a) unbeobachtete Heterogenität nur unter sehr restriktiven Annahmen berücksichtigt werden (Wooldridge 2002, S.€703) und b) sich eine dynamische Selektionsverzerrung ergeben, wenn Paritäten höherer Ordnung betrachtet werden, da naturgemäß nur Beobachtungen für Mütter und nicht für alle Frauen existieren. Die in Kap.€3.4 vorgestellten Studien, die deutsche Daten verwenden oder mit einbeziehen, gehen auf einige dieser Schwierigkeiten ein, allerdings immer auf Kosten anderer Problemfelder. Zum Beispiel wird bei der Analyse von Erstgeburtswahrscheinlichkeiten und damit Berücksichtigung von Timing- und SpacingAspekten von Geburten, auf unbeobachtete individuelle Heterogenität mehrheitlich nicht eingegangen. Die Betrachtung regionaler Kinderbetreuung ermöglicht zwar stochastische Regionaleffekte und damit Korrelation in den Residuen innerhalb einer Region, basiert aber auf der Annahme exogener Variation in den Kontextva-
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riablen. Unbeobachtete Heterogenität auf Individualebene wird meist nur berücksichtigt, wenn Geburten als wiederholte Ereignisse interpretiert werden. Ein interessanter Ansatz wird von Heckman und Walker (1987, 1990) beschrieben. Statt eines bestimmten Paritätsübergangs wird die gesamte Geburtsbiografie ökonometrisch modelliert. Hierfür entwickeln sie ein Ereignisdatenmodell, das die Übergänge zu allen Paritäten beschreibt. Dadurch kann unbeobachtete Heterogenität explizit berücksichtigt werden. Die Restriktion ist allerdings, dass sie auf alle Übergänge ähnlich wirkt, d.€h. grundsätzliche die gleichen unbeobachteten Präferenzen für die Erstgeburt und alle weiteren Geburten verantwortlich sind. Ein aktuelles Anwendungsbeispiel ist Bratti und Tatsiramos (2008). Alternativ könnte, bei gegebener Verfügbarkeit, auf natürliche Experimente zurückgegriffen werden wie z.€B. in Milligan (2005) oder Billari und Galasso (2009). In der ersten Studie wird der Effekt einer unangekündigten und zeitlich begrenzten pronatalistischen finanziellen Politikmaßnahme in Quebec auf die Fertilität getestet. Es zeigt sich ein deutlicher positiver Effekt dieser Maßnahmen auf die anschließende Geburtswahrscheinlichkeit. Die zweite Studie untersucht die Folgen zweier italienischer Rentenreformen auf die individuelle Kinderanzahl. Wiederum deuten die Daten auf einen klaren Einfluss politischer Maßnahmen auf individuelle Entscheidung hin: Der plötzliche Rückgang der zu erwartenden realen Rentenzahlungen erhöhte signifikant die Post-Reform-Geburtswahrscheinlichkeit und die durchschnittliche Kinderzahl der Haushalte in Italien. Auf natürlichen Experimenten basierenden Analysen für Deutschland in diesem Kontext sind uns nicht bekannt. Im Gegensatz zu Studien, die sich auf ein Land konzentrieren, haben Länderund/oder Periodenvergleiche den großen Vorteil zusätzlicher (exogener) Variation in den erklärenden Variablen (Preisen/Politiken), wie z.€B. des allgemeinen Wohlfahrtsregimes oder der öffentlichen Unterstützungsleistungen für Kinder. Vergleiche zwischen verschiedenen Ländern und/oder Perioden ermöglichen häufig erst den Einfluss von Variationen von fertilitätsrelevanten Marktpreisen bzw. Politikmaßnahmen zu identifizieren. Jedoch ist auch Variation in den erklärenden Variablen über Länder oder Perioden nicht notwendigerweise exogen. Unterschiede in fertilitätsrelevanten Politikmaßnahmen können z.€B. Wählerpräferenzen und damit auch die Präferenzen für Kinder widerspiegeln. Ebenso können gleichgewichtige Marktpreise von den aggregierten unbeobachteten Präferenzen für Kinder abhängen. In einem Teil der nachfolgend besprochenen Ländervergleiche werden die Regressionsmodelle basierend auf den gepoolten Daten inklusive Länder-/PeriodenDummys geschätzt. In anderen Studien hingegen wird für jeden „Markt“ eine separate Regression durchgeführt. Der Vorteil des erstgenannten Ansatzes ist die direkte Möglichkeit, auf Unterschiede zwischen Märkten zu testen und für eventuelle Korrelationen zwischen erklärenden Variablen und Länder-/Periodeneffekten zu kontrollieren. Die Annahmen sind allerdings, dass Länder-/Periodenunterschiede nur im Niveau der Fertilitätsentscheidung, nicht aber in den Anstiegsparametern bestehen, und dass Politik- oder Preisunterschiede mit dem Länder- und Periodendummys tatsächlich korreliert sind. Der zweite Ansatz hingegen ermöglicht marktspezifische Variation im Niveau- und in den Anstiegsparametern, allerdings kann diese Variation nur über Plausibilitätsüberlegungen mit Politikeffekten erklärt und Unterschiede in den Parametern nicht ohne weiteres statistisch getestet werden.
3.3 Empirische Untersuchungen
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Neben mikroökonometrischen Ansätzen und Daten werden in einer Reihe von Studien auch aggregierte Länderdaten zur Analyse von Politikwirkungen verwendet. Typischerweise bilden Makrodatensätze relativ wenige Querschnittseinheiten (z.€ B. OECD-Länder) ab, dafür aber über einen langen Zeitraum. Makrostudien haben den Nachteil, dass der Weg von marginalen Änderungen der Politikvariable über den Einzelentscheidungsprozess auf die realisierte Fertilität, beispielsweise aufgrund ausgeprägter inter-individueller Heterogenität, nur sehr eingeschränkt möglich ist. Andererseits sind gerade die aggregierte Größen für Politikentscheidungen von Bedeutung. Unababhängig von der Analysebene ist die sichere Identifikation von Fertilitätseffekten einzelner Politikmaßnahmen schwierig. Castles (2003) hebt dabei folgende Sachverhalte hervor: Bestimmte familienpolitische Maßnahmen werden erst in eine Volkswirtschaft implementiert, wenn die Fertilitätsrate bereits niedrig ist und die Politik sich durch Intervention eine Steigerung erhofft. Auf der anderen Seite ist es auch denkbar, dass die aggregierten Ausgaben für Familien- und Bildungspolitik in „jüngeren“ Volkswirtschaften höher sind, genauer „ … measures of aggregate spending on child benefits, maternity and parental leave, child care and other services to families will, all other things being equal, be higher where the population is most youthful; again making these measures, at least in part, outcomes rather than determinants of fertility“ (Castles 2003, S.€ 221). Das gilt natürlich auch auf der regionalen Ebene, z.€B. bei der Entscheidung über die Bereitstellung von Kinderversorgung (Rindfuss et€al. 2007). Mit anderen Worten: politische Maßnahmen und Entscheidungen sind endogen in Bezug auf die demografische Entwicklung. Des Weiteren sind familienpolitische Maßnahmen in den zu vergleichenden Ländern sehr heterogen gestaltet und müssen eigentlich immer im Gesamtkontext anderer Normen und Institutionen betrachtet werden (z.€B. kulturelle Hintergründe). Rindfuss und Brauner-Otto (2008) beispielsweise sehen als große Schwierigkeit bei der Evaluation von Politikmaßnahmen die analytische Trennung der Einzelmaßnahme vom institutionellen Hintergrund der jeweiligen Länder. Mitbestimmend für eine Politikmaßnahme sind nationale Gegebenheiten, also kulturelle und sozioökonomische Präferenzen, die zumeist historisch gewachsen sind. „This creates path dependence making it difficult to disentangle aspects of national character from the effects of a given institution” (Rindfuss und Brauner-Otto 2008, S.€61). Darüber hinaus sind individuelle Präferenzen von großer Bedeutung für die Wirksamkeit von familienpolitischen Maßnahmen. Ist Frauenerwerbstätigkeit z.€B. nicht normativ verankert, wird Kinderbetreuungsinfrastruktur auch keinen Beitrag zur Vereinbarkeit von Beruf und Familie leisten können (außer vielleicht langfristig durch Normenwandel). Die entscheidende Wirkung von Normen auf Geburtsentscheidungen wird besonders im Vergleich der frühen Nachkriegszeit mit der aktuellen Situation deutlich. Der damalige Anstieg der Fertilität war kein Ergebnis von Familienförderung, sondern „simply by virtue of a normatively enforced separation of the spheres of work and maternity“ (Castles 2003, S.€221). Die Schwierigkeit liegt demnach in der genauen Analyse von Ursache und Wirkung bei der Bestimmung der Determinanten des Fertilitätsverhaltens. Ein gutes Beispiel für diese Problematik ist die Abschätzung von Effekten öffentlicher Kinderbetreuung. Die meisten der einschlägigen Studien basieren auf
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3 Determinanten der Fertilität in Deutschland
der regionalen Verteilung von Kinderbetreuungsplätzen zu einem bestimmten Zeitpunkt, d.€h. auf Querschnittsinformationen. Wenn jetzt aber beispielsweise die Versorgungslage auf dem Land schlechter ist als in der Stadt, aber umgekehrt auf dem Land die Geburtenzahl höher und beides Ausdruck unbeobachteter Faktoren – Präferenzen – ist, kann im Ergebnis ein insignifikanter oder gar negativer Parameterwert der Kinderbetreuungsvariable stehen. Damit ist aber noch keine Aussage darüber getroffen, ob ein Anstieg öffentlicher Kinderbetreuung nicht doch einen Anstieg der Geburtenzahlen nach sich zieht (Rindfuss et€al. 2007). Insgesamt ist es nicht sicher, ob die verwendeten Identifikationsstrategien in den nachfolgend besprochenen Studien immer ausreichend sind, um die gewünschten Aussagen zur Wirkung exogener Variation in Politikvariablen abzuleiten. Es tauchen in ihnen alle weiter oben angesprochenen Schwierigkeiten auf.
3.3.2 Datenanforderungen und Datensätze Mikroökonometrische Analysen sind äußerst datenintensiv. Das betrifft die Anzahl der Beobachtungseinheiten, die erfassten Charakteristika und die zeitliche Genauigkeit eingetretener Ereignisse. Deswegen werden in empirischen Studien zur Fertilitätsentscheidung typischerweise Haushaltspaneldaten verwendet. Hauptziel von Haushaltspanels ist die Bereitstellung sozioökonomischer und demografischer Informationen über Individuen und Haushalte über einen möglichst langen Zeitraum. In Deutschland steht dazu seit 1984 der Sozioökonomische Panel (SOEP) zur Verfügung, für die USA die Panel Study of Income Dynamics (PSID) und auf europäischer Ebene der kürzere und bereits ausgelaufene European Community Household Panel (ECHP). Längsschnittdaten sind notwendig, um den Einfluss vergangener, zukünftiger und gegenwärtiger Merkmale (individuelle Charakteristika, Preise oder Politik) auf dynamische Entscheidungen abzubilden. Sie bieten die Möglichkeit, Ursachen für bestimmte Entscheidungen zu analysieren. Des Weiteren kann bei wiederholten Ereignissen unbeobachtete individuelle Heterogenität vergleichsweise einfach berücksichtigt werden. Im SOEP werden u.€a. Informationen zur Geburtsbiografie von Müttern und seit 2001 auch für neu aufgenommene Väter gesammelt. Durch die Einführung zusätzlicher Fragebögen werden seit 2003 auch detaillierte Angaben zu Schwangerschaft, Neugeborenen und ihrer Betreuung erfasst (Wagner et€ al. 2007). In vorherigen Befragungswellen wurden Informationen zur Betreuungssituation nur rudimentär erfasst. Die Benutzung international gebräuchlicher Klassifikationen im SOEP (Bildung: ISCED; Berufe: ISCO88; Regionen: NUTS) ermöglicht es, weitere aggregierte Attribute, wie beispielsweise das regionale Angebot an Kinderbetreuung, zuzuspielen. Die von uns besprochenen SOEP-basierten Studien konzentrieren sich bei der Auswertung zumeist auf Geburten im gesamtverfügbaren Beobachtungszeitraum (1984–2006) und nehmen dafür die z.€T. gröberen Variablenabgrenzungen in Kauf. Interessante Fragen, die mit den erweiterten Informationssets genauer beleuchtet werden könnten, wären z.€B. das Zusammenspiel von aggregiertem Ange-
3.3 Empirische Untersuchungen
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bot und individueller Nachfrage nach Kinderbetreuung auf Fertilitäts- und Arbeitsmarktentscheidung oder die Rolle und Reaktion von potentiellen Vätern auf die Fertilitätsentscheidung. Bisher beziehen sich die vorhandenen Daten von Männern im SOEP auf den Haushalt, d.€h. die Befragung der Männer erfolgte erst, nachdem sie in die Partnerschaft bzw. in den Haushalt eingezogen sind. Erst seit 2001 werden Neugeborene auch Männern zugeordnet, jedoch nur im aktuellsten Querschnitt (Sample F) und weiteren neugezogenen Männern. Durch die Änderung des Bevölkerungsstatistik- und Mikrozensus-Gesetzes im Jahr 2007 werden mit der Welle 2009 auch im Mikrozensus detaillierter Informationen zur Geburtsbiografie von Müttern abgefragt. Vorrangiges Ziel dieser Ergänzung ist es, genauer als bisher aus der amtlichen Statistik, Zahlen über die aggregierte Dynamik im Geburtsverhalten unterschiedlicher Frauenkohorten, die Höhe der erwarteten Fertilität, den Einfluss des sozioökonomischen Hintergrunds usw. zu gewinnen (Pötzsch 2007). Damit können erstmalig für Deutschland verlässliche, aggregierte Zahlen für das Fertilitätsverhalten geliefert werden. Allerdings wird für mikroökonometrische Analysen in Deutschland, aufgrund des fehlenden Links zur Erwerbs- und Partnerbiografie im Mikrozensus, der SOEP wohl weiterhin die erste Wahl bleiben. Der Einfluss von verschiedenen Politiken/Institutionen kann häufig nur durch Ländervergleiche identifiziert werden. Auf EU-Ebene stehen dafür Daten aus dem ECHP zur Verfügung. Ähnlich wie beim SOEP für Deutschland war das Ziel beim ECHP ein für die EU über Querschnitt und Längsschnitt repräsentatives Sample zu generieren (Peracchi 2002). Der Beobachtungszeitraum ist aber auf die Jahre 1994– 2001 beschränkt. Folgeprojekt sind die Statistics on Income and Living Conditions (EU-SILC). EU-SILC ist als rotierende Haushaltsstichprobe gestaltet, d.€h. jährlich wird ein Viertel der befragten Haushalte neu gezogen. Daher beträgt die längste Befragungsdauer eines Haushalts lediglich 4 Jahre (Ehling und Günther 2003). Ähnlich wie beim Mikrozensus sind damit Lebenszyklus-Analysen im Grunde ausgeschlossen. Eine andere, alternative Datenbasis zum ausgelaufenen ECHP ist das Cross-National Equivalent File (CNEF) der Cornell University, USA. CNEF ist der Versuch, nationale Haushaltspanels aus den USA, UK, Kanada, Deutschland, Australien und der Schweiz zu harmonisieren und somit für vergleichende Forschung zugänglich zu machen. Jedoch können sich bei Ländervergleichen besondere Probleme durch Dateninkompatibilitäten ergeben, die zu Fehlern in den Variablen und damit zu verzehrten Schätzern führen können. DiPrete et€al. (2003) kritisieren zum Beispiel die unterschiedlichen Definitionen von Paritäten in den Ländern, die zu Verzerrungen in den Untersuchungen führen. Insbesondere zählen Deutschland und Großbritannien nur Geburten in bestehenden Ehen (DiPrete et€al. 2003, S.€12). Ein weiteres Defizit existiert, laut Autoren, bei der Verfügbarkeit der durchschnittlichen Kosten für Kinderbetreuung. Während in den USA Daten für öffentliche und private Einrichtungen vorliegen, existieren für die meisten anderen Länder nur Kostendaten für öffentliche Einrichtungen. Ein Problem ist die Klassifikation von Ausbildungsabschlüssen. So sind die Informationen zur Ausbildung, z.€B. im ECHP, in drei Kategorien zusammengefasst: („less than second stage of secondary-level education“,
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3 Determinanten der Fertilität in Deutschland
„second-stage of secondary-level education“ und „third-level education“). Dadurch werden länderspezifische Besonderheiten verwischt, manchmal kommt es auch zu fragwürdigen Zusammenfassungen. Beispielsweise sind in der höchsten Kategorie („third-level education“) Fachhochschule, Universität und Fachschulausbildung zusammengefasst (Falk und Steiner 2000, S.€7).Trotz dieser Limitierungen stellen länderübergreifende Haushaltspanles aber sicher die besten Datenquelle für die systematische Evaluierung von familien- bzw. bevölkerungspolitischen Maßnahmen dar. Haushaltspanels haben nicht das primäre Ziel, so viele Daten wie möglich zu erfassen, sondern orientieren sich an wissenschaftlichen Fragestellungen und Konstrukten. Eine Erweiterung sollte sich deswegen vorrangig an neuen wissenschaftlichen Theorien oder gesellschaftlich relevanten Forschungsfragen ausrichten, die mit der verfügbaren Datenbasis nur unzureichend beantwortet werden können. Ein aktuelles Beispiel ist die Diskussion um die Wirkungen des Kinderbetreuungsangebots auf die Fertilität. Bisherige Studien für Deutschland konnten keinen oder nur einen sehr eingeschränkten statistischen Einfluss nachweisen. Neben dem bereits erwähnten Grund, dass soziale Normen dazu führen, dass eine Erwerbstätigkeit für viele Mütter keine Option ist, könnten zusätzliche Informationen zu den privaten und öffentlichen Kosten für Kinderbetreuung und Zahlen zu Qualitätsindikatoren, wie beispielsweise in Studien für die USA (Connelly 1992; Blau und Hagy 1998), helfen, diese Forschungsfrage genauer zu beleuchten.
3.4 Familienpolitik und Fertilität in Deutschland Im Folgenden werden aktuelle empirische Studien und ihre Ergebnisse hinsichtlich der Wirksamkeit von familienpolitischen Maßnahmen auf die Fertilität in Deutschland betrachtet. Die Auswahl der Studien erfolgte nach bestimmten Kriterien. Erstens, Inferenzen sollten auf Datensätzen basieren, die entweder ausschließlich auf Deutschland fokussiert sind oder es mit einschließen, wie z.€B. in Ländervergleichen. Dadurch bedarf es nicht der Diskussion inwieweit Erfahrungen anderer Länder auf Deutschland übertragbar sind. Zweitens, um einen möglichst aktuellen Überblick über Forschungsergebnisse in dem Bereich zu gewährleisten, sollten die betrachteten Studien in ihrem Erscheinungsdatum und in der Datenverwendung relativ zeitnah zu 2009 sein. Trotz der eng gesteckten Kriterien geht unsere Literaturauswahl über ähnliche Überblicksstudien zu den Determinanten der Fertilität und Wirkungen von Politikmaßnahmen, wie z.€ B. Meier (2005), hinaus. Neben der Wirkung monetärer Transfers und öffentlicher Kinderbetreuung, diskutieren wir im Folgenden die Auswirkungen ökonomischer Unsicherheit auf die Fertilitätsentscheidung, die Rolle variierender Opportunitätskosten und die Unterschiede in den Einflussgrößen bei Erstgeburt und Übergängen zu höheren Paritäten. Die Variation in den erklärenden Variablen kommt dabei zum einen durch die Heterogenität der Haushalte, zum anderen aber auch durch Perioden- und Ost-/ Westunterschiede zustande. Eine Möglichkeit, die Wirkung von Politikmaßnahmen
3.4 Familienpolitik und Fertilität in Deutschland
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und des gesamten politischen Rahmens auf die Fertilität zu analysieren besteht darin, Länder nach ihren jeweiligen institutionellen Rahmenbedingungen zu kategorisieren und diese dann als Begründung für eventuell unterschiedliche Wirkungen heranzuziehen. Implizit wird dadurch angenommen, dass Länderunterschiede Resultat des charakteristischen Wohlfahrtsregimes sind. Viele Studien bedienen sich dabei der bereits in Kap. 2 angesprochenen Unterscheidung von Esping-Andersen (1990) und ordnen Deutschland in den Typus des konservativen Wohlfahrtsregimes ein. Als Kennzeichen dieses Regimes wird vermerkt: „Nichterwerbstätige Frauen sind üblicherweise aus der Sozialversicherung ausgeschlossen, familienpolitische Leistungen ermutigen zur Mutterschaft. Kindertageseinrichtungen und ähnlich familienbezogene Dienste sind deutlich unterentwickelt, und das ‚Subsidiaritätsprinzip‘ ist Garant dafür, dass der Staat nur dann eingreift, wenn die Selbsthilfefähigkeit der Familie erschöpft ist“ (Esping-Andersen 1998, S.€44). Zum konservativen Wohlfahrtsregime gehören unter anderem auch Frankreich und Österreich. Daneben existieren noch die Kategorien liberaler Typ mit USA, Kanada, Australien, UK, Schweiz und der universalistische Typ mit Norwegen, Schweden und Finnland. Im Anhang zu Kap. 3 werden zu allen hier zitierten fertilitätsrelevanten Studien die Angaben über ökonometrische Methode, Datenmaterial, verwendete Variablen und zusammengefasste Ergebnis in einer Synopse dargestellt.
3.4.1 Soziodemografische Determinanten und Wohlfahrtsregime Eine Gruppe von Determinanten sind die soziodemografischen. Sie beeinflussen die Fertilitätsentscheidung vor allem über die einhergehenden Unterschiede in den Opportunitätskosten und dem Einkommenspotenzial. Abweichende Parameterwerte zwischen Ländern, d.€h. zwischen Wohlfahrtsregimen, drücken dann unter anderem die jeweils variierenden Opportunitätskosten aus: z.€B. können Beruf und Familie in einigen Ländern besser miteinander kombiniert werden als in anderen, weil ausreichend öffentliche Kinderbetreuung den Wiedereintritt ins Erwerbsleben erleichtert und somit die Opportunitätskosten senkt. Allerdings können, wenn unbeobachtete Heterogenität im empirischen Modell nicht berücksichtigt wird, Länderunterschiede immer auch Ausdruck verschieden verteilter Präferenz für Kinder sein. Das Alter der Frau ist eng mit der Fertilitätsentscheidung verknüpft. Mit steigendem Alter nimmt zwar die Prävalenz von Mutterschaft zu, allerdings sinkt die Inzidenz des Übergangs in Mutterschaft ab. Besonders im Alter 33–39 ist die Wahrscheinlichkeit noch ein erstes Kind zu bekommen, deutlich niedriger als im Alter 18–25 (Kreyenfeld 2010). Das trifft auf Frauen in ganz Europa zu, unabhängig davon, ob sie in oder außerhalb einer Partnerschaften leben. Eine Ausnahme ist Frankreich, hier nimmt die Erstgeburtswahrscheinlichkeit von Frauen in Partnerschaft mit dem Alter zu (González und Jurado-Guerrero 2006). Das Alter bei Erstgeburt ist vor allem dann politikrelevant, wenn es den Übergang zu höheren Paritäten beeinflusst. Insbesondere in Südeuropa (Griechenland, Spanien und Portugal) verzögert eine späte Erstgeburt den Übergang zum zweiten Kind, wohingegen in Frankreich
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und Dänemark ein Aufholeffekt beobachtet werden kann; bei späterer Erstgeburt verkürzt sich der Abstand zum zweiten Kind. In Deutschland hat das Alter bei Erstgeburt anscheinend keinen Effekt auf den Abstand zum zweiten Kind (Bratti und Tatsiramos 2008). Die Entscheidung über den Zeitpunkt, Abstand und die Gesamtkinderzahl variiert stark mit dem Ausbildungsstand der Frauen. Sowohl beim Übergang zu Mutterschaft (Erstgeburtsrisiko) als auch beim Übergang zu höheren Paritäten werden vielfach ausbildungsabhängige Verläufe gefunden (Bratti und Tatsiramos 2008). Allerdings gibt es markante Unterschieden in der Stärke und dem Wirkungsverlauf über die Ausbildungskategorien a) zwischen den Paritäten und b) zwischen verschiedenen Wohlfahrtsregimen (Schmitt 2008), und auch im innerdeutschen Vergleich (Kreyenfeld 2004). Während beispielsweise in Westdeutschland Frauen mit Abitur im Vergleich zu Frauen mit Realschulabschluss ein signifikant geringeres Erstgeburtsrisiko hatten, waren es in der ehemaligen DDR vor allem Frauen mit niedrigem Schulabschluss, deren Erstgeburtsrisiko im Vergleich zum mittleren Schulabschluss signifikant kleiner war (Kreyenfeld 2004). Ähnliches zeigt sich im europäischen Vergleich: Während in Gesamtdeutschland vor allem Frauen mit niedrigen Ausbildungsabschlüssen eine erhöhte Übergangsrate in Mutterschaft haben, sind es in Finnland (universalistischer Wohlfahrtsstaat) sowohl Frauen mit höherer als auch niedrigerer Ausbildung, die beschleunigt Mutter werden. In Frankreich hingegen (konservativer, pronatalistischer Wohlfahrtsstaat) hat der Ausbildungsstand bedingt auf Arbeitsmarktstatus und Einkommen keinen Einfluss, und auch in Großbritannien (liberaler Wohlfahrtsstaat) sind die Unterschiede zwischen den Ausbildungsstufen in Bezug auf Mutterschaft nur schwach ausgeprägt (Schmitt 2008). Die widersprüchlichen Ergebnisse könnten zum einen ein Hinweis darauf sein, dass der Ausbildungsstand keinen originären Einfluss auf die Fertilitätsentscheidung hat, sondern Fähigkeiten und unbeobachtete Präferenzen reflektiert, welche in den verschiedenen Ländern anders auf Ausbildungsstufen verteilt sind, und zum anderen ein Zeichen dafür sein, dass das jeweilige Wohlfahrtsregime den Zusammenhang zwischen Ausbildungsstand und Mutterschaft moderiert. In Deutschland scheint die verzögerte Erstgeburt bei Frauen mit höheren Ausbildungsabschlüssen anschließend wieder aufgeholt zu werden: Die Zweitgeburt erfolgt vergleichsweise rasch (Köppen 2006). In Frankreich sind die Unterschiede, wie schon beim Übergang zu Mutterschaft, weniger stark ausgeprägt; auch Frauen mit niedrigen Abschlüssen haben eine vergleichsweise hohe Zweitgeburtsrate. Zusammenfassend geht ein höherer Ausbildungsabschluss typischerweise mit späterer Mutterschaft einher, sobald aber das erste Kind vorhanden ist, folgt ein zweites vergleichsweise rasch. Gründe können mögliche Aufholeffekte bei höherem Ausbildungsniveau sein, um einen vergleichsweise späten Erstgeburtszeitpunkt zu kompensieren, und der Wunsch, durch eine möglichst zeitnahe Zweitgeburt Opportunitätskosten durch entgangenen Lohn und Wissensentwertung zu reduzieren. Ein weiteres zentrales und robustes Ergebnis ist die hoch signifikant negative Korrelation zwischen laufender Ausbildung (Studium oder Lehre) und Erstgeburtsrisiko – Ausbildung und Familie schließen sich anscheinend aus. Die Dimension des Zusammenhangs unterscheidet sich zwar von Land zu Land, und kann sich auch
3.4 Familienpolitik und Fertilität in Deutschland
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auf den Übergang zu Vaterschaft beziehen (Finnland), allerdings ist die verzögernde Wirkung laufender Ausbildung auf Elternschaft universell (Bratti und Tatsiramos 2008; González und Jurado-Guerrero 2006; Kreyenfeld 2004, 2010; Schmitt 2008). Unterschiede in der Wirkungsstärke könnte unter anderem ein Anzeichen dafür sein, dass die Vereinbarkeit von Familie und Ausbildung aufgrund der institutionellen Rahmenbedingungen, wie beispielsweise der Verfügbarkeit privater oder öffentlicher Kinderbetreuung, variiert. Der negative Effekt zieht sich in Deutschland auch auf den Übergang zum zweiten Kind durch. Anders jedoch in Frankreich; dort spielt laufende Ausbildung keine Rolle mehr für den Übergang zur zweiten Geburten (Köppen 2006). Neben dem Ausbildungsstand ist auch der Beschäftigungsstatus mit dem Übergang in Elternschaft assoziiert. Es zeigen sich hier wieder länderspezifische Unterschiede in der Stärke und dem Verlauf der Wirkungszusammenhänge. Ein besonders robustes Ergebnis im Ländervergleich Deutschland, Frankreich, Finnland und UK ist der deutlich negative Zusammenhang zwischen Arbeitsmarktpartizipation und dem Übergang zu Mutterschaft (Bratti und Tatsiramos 2008; Schmitt 2008). In all diesen Ländern scheint demnach eine gewisse Unvereinbarkeit von Beruf und Familie zu existieren und/oder Frauen scheinen sich je nach ihrer Präferenz für Kinder unterschiedlich stark auf dem Arbeitsmarkt zu engagieren. Allerdings sieht es so aus, als würden erwerbstätige Frauen, wenn sie sich für Kinder entscheiden, nach der Erstgeburt tendenziell rasch ein zweites bekommen (Bratti und Tatsiramos 2008). Überraschend in diesem Zusammenhang ist, dass es in der ehemaligen DDR wohl genau andersherum war. Dort hatten beschäftigte Frauen eine höhere Erstgeburtsrate (Kreyenfeld 2004). Der robust negative Zusammenhang zwischen Beschäftigung und Mutterschaft in Mikrodaten (Matysiak und Vignoli 2008) wurde in den letzten Jahren durch anscheinend paradoxe Makroergebnisse in Frage gestellt: Im OECD-Ländervergleich haben seit Mitte der 1980er Jahre Länder mit einer vergleichsweise hohen Frauenerwerbsquote auch mit die höchste durchschnittliche Geburtenzahl pro Frau (Ahn und Mira 2002). Der Unterschied ist hochgradig politikrelevant. Wären die Mikroergebnisse korrekt, würde ein Zielkonflikt zwischen Geburten und der Arbeitsmarktteilnahme von Frauen existieren. Stimmten die Makrobeobachtungen wäre dieser Zielkonflikt aufgelöst: stärkere Teilnahme könnte mit einer höheren Kinderzahl pro Frau einhergehen. Neuere Studien zeigen, dass wohl der erste Fall wahrscheinlicher ist: Ein Anstieg der Erwerbsquote geht innerhalb eines Landes im Schnitt mit einem Rückgang der Fertilität einher (Engelhardt und Prskawetz 2004, 2005), allerdings schwächt sich der Effekt zunehmend ab (Engelhardt und Prskawetz 2005). Generell gibt es länderspezifische Unterschiede: Der Rückgang der Geburtenzahl ist dort besonders ausgeprägt, wo die ursprüngliche und aktuelle Frauenerwerbsquote trotz Anstiegs noch vergleichsweise gering war bzw. noch immer ist (Engelhardt und Prskawetz 2004). Bei gegebenem Wert der Frauenerwerbsquote erreichen die Geburtenzahlen in konservativen Wohlfahrtsregimen ein nur unterdurchschnittliches Niveau; liberale Systeme hingegen weisen einen „Fertilitätsbonus“ auf. Neben der Arbeitsmarktpartizipation im Allgemeinen hat auch Arbeitslosigkeitserfahrung einen Einfluss auf die Fertilitätsentscheidung. In Finnland ist es vor allem
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kurze Arbeitslosigkeit, die den Übergang in Mutterschaft beschleunigt. Im Gegensatz dazu ist es in Deutschland und dem Vereinigten Königreich Langzeitarbeitslosigkeit, die mit einer höheren Erstgeburtsrate assoziiert ist. Besonders deutlich ist der Effekt für Frauen mit niedrigen Ausbildungsabschlüssen ausgeprägt (Schmitt 2008). Der Befund ist überraschend, da Arbeitslosigkeit häufig mit ökonomischer Unsicherheit gleichgesetzt wird und damit tendenziell gegen Kinder spricht. Und tatsächlich ist Arbeitslosigkeit in Spanien und Frankreich anscheinend auch mit einer niedrigen Erstgeburtsrate verknüpft (González und Jurado-Guerrero 2006). Generell scheint Mutterschaft aber in einigen Ländern und Kreisen eine Option zu sein, das eigene Leben neu zu strukturieren (Kreyenfeld 2010). Insgesamt muss berücksichtigt werden, dass der Beschäftigungsstatus sehr wahrscheinlich endogen in Bezug auf die Fertilitätsentscheidungen ist. Die gefundenen Unterschiede zum einen zwischen beschäftigten und nicht am Arbeitsmarkt teilnehmenden Frauen, zum anderen zwischen Beschäftigung und Arbeitslosigkeit könnten mehr ein Ergebnis unterschiedlicher Selbstselektionsprozesse in Folge unbeobachteter Präferenzen für Kinder darstellen; insbesondere in Wohlfahrtsstaaten mit vergleichsweise großzügigen Regelungen in Bezug auf Elternschaft und Arbeitslosigkeit. In den meisten Studien wird dies insoweit berücksichtigt, wie die individuellen Eigenschaften zum Zeitpunkt der Empfängnis betrachtet werden. Die Entscheidung für Kinder und Elternschaft fällt für gewöhnlich partnerschaftlich. Im Vergleich Italien, Spanien und Frankreich ist es vor allem die verzögerte Bildung eines gemeinsamen Haushalts, die in Italien und Spanien auch die Elternschaft in ein höheres Alter verlagert. In Deutschland hingegen hat die Bildung eines gemeinsamen Haushalts nicht die gleiche große Rolle (González und Jurado-Guerrero 2006; Schmitt 2008). Allerdings ist auch hier der Übergang in Mutterschaft ohne Partner stark verzögert (Kreyenfeld 2010). Neben der Bildung eines Haushalts sind auch die soziodemografischen Merkmale des Partners mit der Fertilitätsentscheidung verknüpft. Besonders das erzielte Einkommen bzw. das Einkommenspotential des Partners ist positiv mit dem Übergang in Elternschaft (Schmitt 2008) und auch dem Übergang zum zweiten Kind (Köppen 2006) korreliert. Trotz vieler Gemeinsamkeiten zeigen sich teils deutliche Unterschiede zwischen Ländern und verschiedenen Wohlfahrtsregimen. So ist in konservativ orientierten Regimen die Fertilität a) im internationalen Vergleich gering und b) innerhalb der Länder vor allem im Bereich der länger arbeitslosen und geringqualifizierten Frauen vergleichsweise hoch. Beschäftigung und höhere Ausbildungsabschlüsse gehen mit einem starken Aufschub der Erstgeburt einher. Gerade in Südeuropa hat dieser Aufschub der Erstgeburt auch negative Konsequenzen auf den Übergang zum zweiten Kind. Das kann zum einen der schweren Vereinbarkeit von Familie und Beruf, z.€B. aufgrund unterschiedlich ausgebauter öffentlicher Kinderbetreuung, und zum anderen der geringeren Flexibilität (bzw. Segmentierung) des Arbeitsmarkts geschuldet sein, die den Wiedereinstieg in das Erwerbsleben nach einer Geburt erschwert. Weiterhin sind auch kulturelle Unterschiede, beispielsweise eine Präferenz für das traditionelle Männliche-Ernährer-Modell, als Ursache für die beobachteten Unterschiede möglich (Bratti und Tatsiramos 2008).
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Wohlfahrtsregime sind durch ein Set funktional verknüpfter Institutionen gekennzeichnet. Diese verlinkten Institutionen entfalten in ihrer Kombination eine Wirkung auf die Fertilitätsentscheidung. Einige dieser Kombinationen sind hilfreicher als andere, wenn es um die Realisierung von Kinderwünschen geht. Regimes mit einem breiten öffentlichen Sektor und großzügigem, einkommensabhängigem Elterngeld sind durch eine vergleichsweise hohe Geburtenzahl gekennzeichnet. Aber auch Regime mit flexiblen Arbeitsmärkten, d.€h. mit guten Wiedereinstiegschancen nach einer Erwerbsunterbrechung, fördern die Fertilität. Systeme hingegen mit einem geringen Beschäftigtenanteil im öffentlichen Sektor, einem hohen Anteil befristeter Arbeitsverträge, insbesondere für Jüngere, eine geringe Teilzeitquote und hoher Arbeitslosigkeit aufgrund unflexibler Arbeitsmärkte, sind durch im Schnitt niedrigere Geburtenzahlen gekennzeichnet (Adserà 2004).
3.4.2 Ökonomische Unsicherheit Die Entscheidung für ein oder mehrere Kinder hat langfristige Konsequenzen. Unsicherheit in Bezug auf die erwartete Entwicklung wichtiger Determinanten sollte dann einen Einfluss auf die heutige Fertilitätsentscheidung haben. Auf Makroebene ist die Fertilität in OECD Ländern mit einem höheren Grad ökonomischer Unsicherheit im Schnitt niedriger. Gemessen werden kann Unsicherheit beispielsweise durch die Arbeitslosenquote, dem Anteil prekärer Beschäftigungsverhältnisse und der Selbständigenquote (Adserà 2004). Sicherheit bietet in vielen Ländern ein Arbeitsplatz im öffentlichen Dienst. Tatsächlich ist die Fertilität dort hoch, wo der Anteil Beschäftigter im öffentlich Dienst besonders hoch (universalistische Wohlfahrtsstaaten wie Dänemark oder Schweden) oder besonders niedrig ist (liberale Wohlfahrtsstaaten wie USA und UK). Des weiteren scheint Jobund Einkommenssicherheit, realisiert über Mutterschutz und Lohnersatzleistungen, positiv mit der Kinderzahl zu korrelierten: Je großzügiger die Regelungen in einem Land und über die Zeit, desto höher die Geburtenraten (Adserà 2004). Auf Mikroebene ist die Wirkung von Unsicherheit auf die Fertilität weniger deutlich. Bereits besprochen wurden die im Ländervergleich teils positiven Effekte von Arbeitslosigkeit u.€a. auch in Deutschland (Schmitt 2008). Allerdings ist der Zusammenhang nicht robust; Kreyenfeld (2010) findet beispielsweise keinen Einfluss von Arbeitslosigkeit auf die Wahrscheinlichkeit, in Deutschland Mutter zu werden. Spannenderweise scheint das subjektive Arbeitslosigkeitsrisiko von Frauen in Deutschland aber negativ mit der Entscheidung für Kinder assoziiert zu sein, vor allem in den Neuen Ländern. Die Beziehung bleibt auch nach Kontrolle für das Arbeitslosigkeitsrisikos des Partners bestehen (Bhaumik und Nugent 2005). Zwischen empfundener finanzieller Unsicherheit und dem Übergang zu Mutterschaft gibt es hingegen keinen statistisch messbaren Zusammenhang (Bhaumik und Nugent 2005; Kreyenfeld 2010). Der Ausbildungsabschluss (genauer: die dahinter liegenden Größen) ist in diesem Kontext von Bedeutung. Je nach erreichtem Abschluss variiert der Einfluss ökono-
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3 Determinanten der Fertilität in Deutschland
mischer Unsicherheit auf den Übergang zu Mutterschaft; mit anderen Worten: Ausbildung moderiert den Zusammenhang zwischen Unsicherheit und der Fertilitätsentscheidung. Auf der einen Seite steigern hohe subjektive Arbeitsplatzunsicherheit und auch tatsächliche Arbeitslosigkeit bei Frauen ohne Ausbildungsabschluss die Chance, Mutter zu werden. Auf der anderen Seite ist bei beschäftigten Frauen mit einem Ausbildungsabschluss, unabhängig davon, ob Lehre oder Studium, die Wahrscheinlichkeit ein erstes Kind zu bekommen bei gefühlter Arbeitsplatzsicherheit am höchsten (Kreyenfeld 2010). Ein ähnliches Muster zeigt sich im Vereinigten Königreich: Arbeitslose Frauen mit sehr niedrigen Bildungsabschlüssen (maximal mittlere Bildung) haben ein höheres Erstgeburtsrisiko. In Finnland dagegen sind es Frauen mit Berufsbildung (oder gleichwertig), die bei Arbeitslosigkeit zu Mutterschaft tendieren. In Frankreich können keine solchen Zusammenhänge beobachtet werden (Schmitt 2008). Ökonomische Unsicherheiten sollten folglich bei der Frage nach den Determinanten der Fertilität und den Möglichkeiten, diese politisch zu beeinflussen, nicht vernachlässigt werden. Insbesondere im Hinblick auf die steigende Arbeitsmarktpartizipation von Frauen, wird ihre Bedeutung in Zukunft eher noch zunehmen. Allerdings wäre es bei der Bewertung der Ergebnisse hilfreich, wenn unterschieden werden könnte zwischen freiwilliger Arbeitslosigkeit und Arbeitslosigkeit in Folge nicht antizipierter Entlassungen (wie beispielsweise in Del Bono et€al. 2008).
3.4.3 Erwerbstätigkeit und Opportunitätskosten Den größten Teil der Opportunitätskosten von Kindern macht das entgangene Arbeitseinkommen aus. Je länger Frauen (oder Männer) infolge einer Geburt daheim bleiben, desto höher ist der direkte Einkommensverlust. Doch auch die indirekten Folgekosten, durch Entwertung vorhandener und reduziertes Erlernen neuer Fertigkeiten sowie durch verpasste Aufstiegschancen, sind höher. Unterschiede in den Einkommensverlusten geburtsbedingter Auszeiten, ob zwischen Frauen innerhalb eines Landes oder über Länder hinweg, könnten dann die Variation in der Kinderzahl erklären. Natürlich trifft diese Argumentation nur zu, wenn Erwerbstätigkeit überhaupt eine Option neben der Kindererziehung ist. Generell führen Kleinkinder (0 bis 6 Jahre) im Haushalt im Allgemeinen und Geburten im Speziellen zu reduzierter Arbeitsmarktpartizipation von Frauen. Auch langfristig ist dieser Effekt noch messbar (Michaud und Tatsiramos 2009). In konservativen Wohlfahrtsregimen ist der Zusammenhang am stärksten ausgeprägt. Anscheinend ist es, aufgrund der institutionellen Gegebenheiten (unflexible Arbeitsmärkte, unzureichende öffentliche Kinderbetreuungsinfrastruktur), in diesem Regime besonders schwierig, Familie und Beruf zu vereinen (Matysiak und Vignoli 2008). Die reduzierte Erwerbstätigkeit von Frauen nach einer Geburt drückt sich natürlich auch im mittleren erzielten Arbeitseinkommen und ihren Beiträgen zum Haushaltseinkommen aus. Allerdings gibt es international große Unterschiede. Im
3.4 Familienpolitik und Fertilität in Deutschland
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Schnitt erwirtschaften sowohl westdeutsche als auch US-amerikanische Frauen vor der Geburt eines Kindes um die 40€% des Haushaltseinkommens. Ein Jahr nach Geburt des ersten Kindes ist der Beitrag deutscher Frauen auf nur noch 10€% abgesunken, während in Amerika Frauen weiterhin knapp 30€% des Haushaltseinkommens erwirtschaften. Der Rückgang schlägt sich auch im Lebensstandard der Haushalte nieder. In beiden Ländern ist der Lebensstandard nach Steuern (d.€h. nach Umverteilung) ein Jahr nach der Geburt im Vergleich zur Situation ohne Kind gesunken: in Westdeutschland um 22€%, in den USA um 15€%. Langfristig stabilisiert sich Lebensstandard wieder; vier Jahre nach einer Geburt beträgt die Differenz zur Ausgangslage nur noch 14€% (West-D.) respektive 10€% (USA). Die Kosten des ersten Kindes sind in Deutschland demnach höher (DiPrete et€al. 2003). Auch im europäischen Vergleich zeigt sich, dass der geburtsbedingte Rückgang des Lebensstandards in Deutschland besonders deutlich ausgeprägt ist. Ein Jahr nach Geburt ist der Lebensstandard um 21€% niedriger als zuvor (DK: −11€%, ITA: −10€%, UK: −14€%). Das schlechte Abschneiden Deutschlands wird hauptsächlich durch die starke Abnahme der weiblichen Erwerbsbeteiligung getrieben, das gute Abschneiden Dänemarks hingegen dadurch, dass die Frauenerwerbsquote kaum abnimmt. Italien schneidet gut ab, weil der Anteil des Fraueneinkommens zum Haushaltseinkommen schon im Basisjahr gering war. In Großbritannien dagegen war dieser Anteil im Basisjahr am höchsten (DiPetre et€al. 2003). Sowohl im Vergleich Deutschland Europa, als auch im Vergleich Deutschland USA zeigt sich, dass die Verluste im Lebensstandard besonders bei der Geburt des ersten Kindes auftreten. Ist bereits ein Kind im Haushalt sind die Kosten weiterer Kinder vergleichsweise niedrig. Ein genauerer Blick auf die Einkommensverluste von Frauen in Deutschland nach geburtsbedingten Auszeiten verdeutlicht, woher der Rückgang im Lebensstandard rührt. Es zeigt sich, dass die geburtsbedingten Lohneinbußen (im Vergleich zu einer durchgehend erwerbstätigen „Referenzfrau“) mit dem Ausbildungsstand und der Länger der Erwerbsunterbrechung ansteigen (Boll 2009). Wenn eine Frau ihre geburtsbedingte Auszeit auf ein Jahr beschränkt und anschließend zwei Jahre einer Teilzeitarbeit nachgeht (das Kind kommt dann in den Kindergarten), ist die verlorene Lohnsumme um ca. 33€% geringer als bei einer Mutter, die eine 3-jährige Auszeit nimmt und anschließend noch 3 Jahre Teilzeitarbeit ausübt (das Kind kommt dann in die Grundschule). Neben der Länge der Auszeit und dem Ausbildungsstand spielt auch der Geburtszeitpunkt eine, wenn auch geringe, Rolle. Für Frauen mit einem niedrigen oder mittleren Ausbildungsabschluss scheint sich der Aufschub der Erstgeburt tendenziell „zu lohnen“, weil sich dadurch die noch anfallenden Einkommensverluste über die kürzere Erwerbskarriere reduzieren. Bei hohem Ausbildungsabschluss sind die kumulierten Einkommensverluste mehr oder weniger unabhängig vom Alter bei Geburt (Boll 2009). Aus diesen Ergebnissen lässt sich festhalten, dass die Kosten einer Geburt, insbesondere der Erstgeburt, in Deutschland auch nach staatlicher Umverteilung besonders hoch sind. Der Grund ist hauptsächlich in der starken Abnahme der Frauenerwerbstätigkeit nach Geburt eines Kindes zu finden. Es scheint also vieles dafür zu
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3 Determinanten der Fertilität in Deutschland
sprechen, den Ausbau öffentlicher Kinderbetreuungsinfrastruktur voranzutreiben, um es Frauen zu ermöglichen nach Geburt eines Kindes, falls gewünscht, schneller in den Arbeitsmarkt zurückzukehren und so die Opportunitätskosten der Kindererziehung zu senken.
3.4.4 Kinderbetreuung Der Ausbau von Kinderbetreuungseinrichtungen ist in Deutschland ein aktuelles familienpolitisches Thema und wird gerade auch im Hinblick auf die zuvor besprochene Vereinbarkeit von Beruf und Familie diskutiert. Es stellt sich also die Frage ob mehr (und bessere) öffentliche Kinderbetreuung dazu beitragen kann, die indirekten Kosten der Elternschaft zu senken und somit die Kinderzahl zu erhöhen. Die überraschende Antwort war bisher: kaum. In den alten Bundesländern scheint das Angebot an Kindergartenplätzen weder mit der Wahrscheinlichkeit einer Erstgeburt noch mit der Übergangswahrscheinlichkeit zum 2. Kind zusammenzuhängen. Wesentlich wichtiger sind nach wie vor private Kinderbetreuungsarrangements: Ein soziale Netzwerk bzw. konkreter, die eigenen Eltern im selben Ort, gehen mit einer höheren Erstgeburtsrate einher. Auf die Übergangswahrscheinlichkeit zum zweiten Kind konnte aber, ebenso wie für Kindergartenplätze, kein statistisch signifikanter Effekt gefunden werden (Hank et€al. 2003; Hank und Kreyenfeld 2003). Anders jedoch in den neuen Bundesländern; die Entscheidung für ein erstes Kind fällt in Regionen mit einer besseren Versorgungsquote von Kindergärten und Horten früher. Das Angebot an Krippenplätzen hat hingegen keinen Einfluss, was durch die Inanspruchnahme der Elternzeit begründet werden könnte (Hank et€al. 2003). Die direkte Schlussfolgerung aus diesen Ergebnissen wäre eine skeptische Haltung gegenüber dem weiteren Ausbau von Kinderbetreuung (wie beispielsweise Meier 2005) einzunehmen, da weder die Entscheidung für Kinder erleichtert wird, noch ein Effekt auf Müttererwerbstätigkeit (Kreyenfeld und Hank 2000) oder dem späteren Bildungserfolg der Kinder gemessen werden konnte (Spiess et€al. 2003). Wir sind jedoch überzeugt, dass dieses Fazit zu kurz gegriffen ist. Daher gehen wir der Frage nach: Was treibt diese Ergebnisse? Theoretisch ist es eindeutig, dass qualitativ gute Kinderbetreuung hilft, die Vereinbarkeit von Beruf und Familie zu verbessern, auch wenn der Zusammenhang durch die normative Einstellung zur externen Kinderbetreuung moderiert wird (Ermisch 1989). Hank und Kreyenfeld (2003) argumentieren dementsprechend auch, dass die statistische Insignifikanz daher rührt, dass das Angebot an Einrichtungen für Kinder in Westdeutschland bisher nicht Bestandteil der Fertilitätsentscheidung der Frauen ist und somit auch keinen signifikanten Einfluss auf diesen Entscheidungsprozess nehmen kann. Der Grund liegt in den allgemeinen Präferenzen in Bezug auf Familienformen und Elternschaft – speziell hinsichtlich der Mutterrolle. Traditionell ist das Angebot vor allem an Kinderkrippen, Horten und Ganztagsbetreuung in Westdeutschland gering, entsprach aber den in der Vergangenheit vor-
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herrschenden Präferenzen in Bezug auf das Männliche-Ernährer-Modell und dem moralischen Bild der Mutter als bestmögliche Betreuungsperson (zur Rolle moralischer Abwägungen, siehe z.€ B. Duncan et€ al. 2003). Besonders im Bereich der Nachfrage nach Kinderkrippen ist laut Köppen (2006) zu sehen, dass viele westdeutsche Frauen der Auffassung waren, Kinder unter 3 Jahren benötigten die Erziehung und Pflege der Mutter, da sie bei Fremdbetreuung psychische Schäden davon tragen könnten; Köppen bezieht sich dabei auf Fagnani (2002). Seit den 1970er Jahren bis zur Mitte der 1990er Jahre in Westdeutschland waren, den allgemeinen Präferenzen entsprechend, auch politische Maßnahmen nicht darauf ausgerichtet, die Vereinbarkeit von Familie und Beruf für Mütter zu fördern (Hank und Kreyenfeld 2003). Das Ziel war vielmehr, die Entwicklung des Kindes durch öffentliche Betreuung und qualifizierte Förderung zu unterstützen. Folglich waren und sind Öffnungszeiten mehrheitlich nicht an den Bedürfnissen von erwerbstätigen Müttern respektive Vätern ausgerichtet. Heute nehmen Frauen den Mangel am Betreuungsangebot als Hürde für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf war (Höhn et€al. 2006). Im März 2008 lag die Betreuungsquote für 0- bis 3- Jährige bei im Schnitt 12€% in den alten Bundesländern und bei ca. 17,6€% im gesamten Bundesgebiet (Statistische Ämter des Bundes und der Länder 2009). Bis zum Jahr 2013 wird eine bundesweite Betreuungsquote von 35€% für Kinder unter 3 Jahren angestrebt. Hank und Kreyenfeld (2003) gehen davon aus, dass erst ein gewisser Schwellenwert an Einrichtungsplätzen überschritten werden muss, damit Kinderbetreuung in die Fertilitätsentscheidung mit einfließt. Die flächendeckende Verfügbarkeit kostengünstiger Kinderbetreuung ist aber nur eine Dimension. Die zweite Dimension von Kinderbetreuung betrifft die Qualität. Qualität im engeren Sinne subsumiert die inhaltliche Ausgestaltung des Betreuungsangebots, die Förderung kindlicher Entwicklung und die Qualifikation des Personals. Ohne hohe, gewährleistete Qualitätsstandards wird es kaum mehr Nachfrage nach Kindertagesbetreuung geben, denn: „ … to remove a child from an inferior early childhood placement cannot compensate for the previous loss of opportunity, while the continued use of an inferior service may actually harm the development of the child“ (OECD 2006, S.€ 37). Qualität im weiteren Sinne betrifft aber auch die Öffnungszeiten und Flexibilität des Angebots. Solange externe Kinderbetreuung bereits von den Öffnungszeiten her nicht zu den Anforderungen des Arbeitsmarktes kompatibel ist, kann sie keinen sinnvollen Beitrag zur besseren Vereinbarkeit von Familie und Beruf leisten und damit auch keine Wirkung auf die Fertilitätsentscheidung haben. Dass das öffentliche Kinderbetreuungsangebot positive Effekte auf Fertilität und Müttererwerbstätigkeit auch in ähnlichen Wohlfahrtsregimen wie Deutschland haben kann, verdeutlichen die Ergebnisse aus anderen Ländern. In Italien beispielsweise zeigen die Daten, dass in Regionen mit einer besseren Versorgung mit Kindergrippenplätzen unter sonst gleichen Bedingungen sowohl die Geburtswahrscheinlichkeit als auch die Müttererwerbstätigkeit höher waren (Del Boca 2002). Für Norwegen finden Rindfuss et€ al. (2007), dass der regionale Ausbau, also der Anstieg qualitativ hochwertiger und bezahlbarer öffentlicher Kinderbetreuung einen deutlich positiven Einfluss auf die Geburtsentscheidung hat.
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3 Determinanten der Fertilität in Deutschland
3.4.5 Sozialversicherungen Ein Zusammenhang zwischen Fertilität und Sozialversicherungssystemen erscheint auf den ersten Blick befremdlich, knüpft aber an die Frage an, aus welchen Motiven heraus Kinder geboren werden. Sollte das Investitionsmotiv, d.€h. Kinder als eine Art Absicherung gegen Krankheit, Langlebigkeit und Altersarmut, eine Rolle spielen, ist zu erwarten, dass der Grad sozialer Absicherung unter sonst gleichen Bedingungen einen negativen Einfluss auf die Kinderzahl hat. Über diesen Kanal hinaus entstehen selbst in Deutschland, wo den Kindererziehungszeiten durch vergleichsweise großzügige Rentenregelungen Rechnung getragen wird, Kosten durch geburtsbedingte Erwerbsunterbrechung in Form entgangener Rentenansprüche (Cigno et€al. 2003). Bei dieser Argumentation muss allerdings berücksichtigt werden, dass Kinder nicht die einzige Möglichkeit sind, sich privat abzusichern. Der Kapitalmarkt steht ebenso zur Verfügung. Zeitreihendaten für Deutschland zeigen, dass mit steigendem Grad sozialer Absicherung (Quotient aus Gesamtrentenzahlungen und Anzahl Personen über 65) die Gesamtfruchtbarkeitsziffer tatsächlich zurückging, wohingegen private Ersparnisse zunahmen. Eine Möglichkeit diesen negativen Fertilitätseffekt von staatlicher Seite aus zu kompensieren, ist direkte, finanzielle Familienförderung (Summe aus Kindergeld, Erziehungsgeld und Kinderfreibetrag pro Kind), und in der Tat wirken die staatlichen Leistungen signifikant positiv auf die Fertilität und auch leicht positiv auf die Sparquote. Allerdings sind die quantitativen Effekte im Vergleich zur Wirkung des durchschnittlichen Lohnsatzes niedrig, was durch die anteilig geringe Höhe dieser Transfers an den Gesamtkosten von Kindern begründet werden kann (Cigno et€al. 2003). Der negative Zusammenhang zwischen der Großzügigkeit des Sozialversicherungssystems und der Fertilität gilt nicht nur in Deutschland, sondern ist international vergleichsweise robust und kann so auch in Ungarn (Gábos et€al. 2009) sowie in Italien, dem Vereinigten Königreich und den USA (Cigno und Rosati 1996) nachgewiesen werden. Die Fertilitätswirkungen der unerwarteten Rentenreformen in Italien – beide Male wurde die Lohnersatzquote für zukünftige Rentenempfänger reduziert – unterstützen die Hpothese des negativen Zusammenhangs eindrücklich (Billari und Galasso 2009). Für Deutschland würden die Ergebnisse von Cigno et€al. (2003) bedeuten, dass ein Rückgang der (realen) durchschnittlichen Rentenhöhe zwar die Fertilität leicht erhöhen, aber eben auch die Sparquote reduzieren könnte. Eine Erhöhung der materiellen Unterstützung für Familien hingegen würde nach diesen Ergebnissen die Fertilität erhöhen, ohne negative Konsequenzen auf das Sparverhalten zu haben. Es wird spannend sein zu beobachten, ob die in Deutschland gesetzlich beschlossene Absenkung des Rentenniveaus tatsächlich Konsequenzen auf die Fertilität haben wird.
3.4.6 Zusammenfassung und Schlussfolgerungen Die betrachteten Studien beleuchten eine Auswahl der komplexen Zusammenhänge zwischen individuellen Merkmalen, dem institutionellen Rahmen, den Einfluss-
3.4 Familienpolitik und Fertilität in Deutschland
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möglichkeiten von Politikmaßnahmen und der Fertilitätsentscheidung. Im Folgenden fassen wir die Kernpunkte zusammen. 1. Insgesamt zeigen die verschiedenen Studien, dass die Fertilität in konservativ orientierten Wohlfahrtsregimen relativ niedrig ist. In konservativen Regimes zielen familienpolitische Maßnahmen vergleichsweise selten auf die Zeitrestriktion – und damit auf die Vereinbarkeit von Familie und Beruf – ab. Gefördert werden der Übertritt in die Mutterschaft aus der Erwerbstätigkeit und das Verbleiben in exklusiver Mutterschaft. Dieses Ergebnis hängt auch damit zusammen, dass konservative Politik vor allem ein Komplement traditioneller Rollenmuster wie die Einverdienerehe ist. Wenn in Deutschland hohe Wahrscheinlichkeiten für eine Geburt ausgemacht werden können, dann zumeist in Ehen, in denen der männliche Partner arbeitet und die Frau ökonomisch inaktiv ist. Je weiter der Zuspruch zu diesem Lebensentwurf in der Bevölkerung aber zurück geht, um so weniger wird eine Politik des bisherigen Zuschnitts in Bezug auf Geburtenförderung erreichen können. 2. Grundsätzlich gibt es eine Reihe von beobachtbaren Determinanten, die die Entscheidung für oder gegen ein Kind beeinflussen. Diese Determinanten variieren jedoch von Parität zu Parität. Die Entscheidung für ein erstes Kind ist nicht identisch mit der für ein zweites oder drittes. Überlegungen und Betrachtungen zu den möglichen Wirkungskanälen familienpolitscher Maßnahmen sollten demnach eine paritätsspezifische Dimension beinhalten. 3. Ein einflussreiches Individualmerkmal der Fertilitätsentscheidung ist der Ausbildungsabschluss. Frauen mit höherer Qualifikation haben in Deutschland typischerweise eine niedrigere Erstgeburtswahrscheinlichkeit als Frauen mit mittlerer oder niedrigerer Qualifikation. Bei hoch ausgebildeten Frauen findet die Erstgeburt, wenn überhaupt, bezogen auf das biologische Alter vergleichsweise spät statt. Allerdings folgt, sobald das erste Kind geboren wurde, relativ rasch ein zweites Kind. Als Resultat kann eine Polarisation zwischen einer Gruppe Kinderloser und einer Gruppe mit zwei und mehr Kindern beobachtet werden. Die Variable „Ausbildungsabschluss“ approximiert jedoch eine Reihe nicht beobachteter Eigenschaften wie die Erwerbsorientierung und das Einkommenspotenzial. Die Höhe des direkten Ausbildungseffekts ist unklar. Das zeigt sich in Ländervergleichen, die das deutsche Muster nicht reproduzieren. Allerdings werden internationale Vergleiche in diesem Kontext durch Unterschiede im Bildungssystem erschwert. 4. Neben dem Ausbildungsabschluss ist auch der Erwerbsstatus stark mit der Fertilitätsentscheidung korreliert. Auf Mikroebene gibt es einen klaren, negativen Zusammenhang zwischen Arbeitsmarktpartizipation und dem Übergang zu Mutterschaft. Auf der makroökonomischen Ebene kann seit Mitte der 1980er Jahren im Querschnitt der OECD-Länder beobachtet werden, dass Länder mit einer hohen Frauenerwerbsquote im Schnitt auch eine hohe Gesamtfruchtbarkeitsziffer haben. Diese Beziehung wird aber negativ, wenn man sich die Veränderung beider Maßzahlen im Längsschnitt betrachtet. Fertilität führt demnach generell zu einem Rückgang der Frauenerwerbstätigkeit, sowohl auf individueller
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als auch auf makroökonomischer Ebene. Allerdings schwächt sich der negative Zusammenhang über die Zeit allmählich ab. 5. Auch Unsicherheit spielt eine wichtige Rolle bei der Fertilitätsentscheidung von Frauen. Die Sorge um den eigenen Arbeitsplatz senkt die Fertilität signifikant, vor allem bei gut ausgebildeten Frauen und in Ostdeutschland. Ebenso steigt das Erstgeburtsrisiko in einer Periode tatsächlicher Arbeitslosigkeit für gering qualifizierte Frauen, während es bei Frauen mit hohem Ausbildungsabschluss sinkt. In Bezug auf Arbeitsmarktregelungen ergeben Ländervergleiche, dass Arbeitsplatzsicherheit (z.€B. im öffentlichen Sektor) in der OECD positiv und Unsicherheit (z.€B. durch Befristung) negativ mit der Fertilität korrelieren. 6. Aus theoretischer Sicht ist der Zusammenhang zwischen Arbeitsmarktpartizipation, Ausbildung und Fertilität vor allem über Opportunitätskosten zu erklären. Die Opportunitätskosten der Kindererziehung sind das entgangene Erwerbseinkommen. Sie variieren stark mit dem Ausbildungsabschluss und unterscheiden sich auch von Land zu Land. Höher Qualifizierte haben generell höhere Opportunitätskosten durch den direkten Lohnverlust und aufgrund der verlangsamten Wissensakkumulation während der Auszeit. International gesehen sind in Deutschland der Einschnitt und die Kosten nach einer Erstgeburt mit am stärksten ausgeprägt. Hauptgrund ist der starke Rückgang der Frauenerwerbsbeteiligung und die Länge der Auszeit nach der Geburt des ersten Kindes. So ist der Lebensstandard von Haushalten ein Jahr nach Erstgeburt in Deutschland circa um ein Drittel niedriger als in der Vergleichsgruppe ohne Geburt, während in den USA bei der gleichen Betrachtung die Differenz circa 22€% beträgt. Bei Zweitgeburten sind die Kosten generell niedriger und auch die internationalen Unterschiede geringer. Die im Ländervergleich hohen Opportunitätskosten in Deutschland deuten auf einen für Familiengründung ungünstigen institutionellen Rahmen hin. 7. Allgemein wirken finanzielle Leistungen, die auf die Budgetrestriktion zielen und damit die Kosten für Kinder (in jeglicher Form) senken, zwar positiv aber quantitativ nur im geringen Umfang auf die Fertilität. Ein Grund für die relativ kleinen Effekte könnte die geringe Größenordnung der Transfers verglichen mit sämtlichen Kosten eines Kindes sein. Dieses Argument dürfte vor allem für hoch ausgebildete und erwerbsorientierte Frauen gelten. Die hohen Kosten der Kindererziehung (inklusive Opportunitätskosten) in Deutschland können realistischerweise durch öffentliche Transfers nicht kompensiert werden. Allerdings gibt es Hinweise, dass es bei klug gestalteter Kombination finanzieller Leistungen mit anderen Politikmaßnahmen, die z.€ B. die Vereinbarkeit von Beruf und Familie oder die Arbeitsplatzsicherheit betreffen, durchaus deutlich positive Effekte geben kann. So zeigt sich, dass in europäischen Ländern die Fertilität im Schnitt dort am höchsten ist, wo die Kombination aus Lohnersatzleistung und Länge der Mutterschaftszeit großzügig ausfällt. 8. Die Motive, sich für Kinder zu entscheiden, können vielschichtig sein. Eine Möglichkeit ist auch, dass Kinder als eine Art Absicherung z.€B. gegen Altersarmut geboren werden. Wenn das der Fall wäre, kann argumentiert werden, dass der Ausbau der Sozialversicherungssysteme auch zum Geburtenrückgang
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beigetragen hat. Und tatsächlich zeigt sich über Länder hinweg ein negativer Zusammenhang zwischen der durchschnittlichen Rentenhöhe und der Fertilität. Allerdings scheinen Sozialversicherungen gleichzeitig ein Komplement privater Vorsorge über den Kapitelmarkt zu sein. Würde also das mittlere Rentenniveau fallen, würden eventuell mehr Kinder geboren werden, gleichzeitig ginge aber auch die private Ersparnisbildung zurück. 9. In der Politik wurden in den letzten Jahren bedeutende Anstrengungen unternommen, den Ausbau des Kinderbetreuungsangebots voranzutreiben. Aus theoretischer Sicht reduziert qualitativ gute und relativ günstige öffentliche Kinderbetreuung die Opportunitätskosten der Kindererziehung, d.€ h. die Vereinbarkeit von Beruf und Familie verbessert sich, und sollte so tendenziell positiv auf die Fertilitätsentscheidung wirken. Die hier betrachteten Studien zeigen aber, dass das öffentliche Kinderbetreuungsangebot in Westdeutschland keinen statistisch signifikanten Einfluss auf die Wahrscheinlichkeit einer Erst- oder Zweitgeburt hatte. Allerdings korreliert in den neuen Bundesländern die Versorgungsquote von Kindergärten und Horten positiv mit der Wahrscheinlichkeit einer Erstgeburt. Abschließend lässt sich festhalten, dass sich trotz etlicher statistischer und empirischer Schwierigkeiten eine Reihe potenzieller Kanäle für bevölkerungswirksame Maßnahmen ergeben. Erstens, scheinen finanzielle Anreize positiv zu wirken. Allerdings ergibt sich ein Zielkonflikt zwischen Geburtenförderung und Frauenerwerbstätigkeit, wenn (zusätzliche) Anreize für exklusive Mutterschaft (wie ein Betreuungsgeld) geschaffen werden. Gerade mittelfristig wäre ein Anstieg der Frauenerwerbstätigkeit volkswirtschaftlich wünschenswert, um die negativen Folgen der demografischen Entwicklung, genauer den Eintritt der Babybommer in den Ruhestand, auf das Wohlstandswachstum zu kompensieren. Zweitens, alternativ zur finanziellen Förderung kann die Politik versuchen, Rahmenbedingungen zu schaffen, um die Vereinbarkeit von Familie und Berufe zu erhöhen. Der Ausbau des Kinderbetreuungsangebots geht in diese Richtung. Die bisherigen empirischen Ergebnisse für Deutschland sollten hier nicht als Argument gegen eine weitern Ausbau gesehen werden, sondern vielmehr einen Ansporn darstellen, nicht nur die Quantität sondern auch die Qualität des Betreuungsangebots zu erhöhen. Drittens, durch die steigende Erwerbsbeteiligung von Frauen auf der einen Seite und die zunehmenden Unsicherheit von Beschäftigungsverhältnissen auf der anderen Seite, ergibt sich neuer politischer Handlungsbedarf. Prekäre Arbeitsverhältnisse haben insbesondere für Frauen mit einem hohen Ausbildungsabschluss und höherer Erwerbsneigung einen negativen Einfluss auf die Entscheidung für Kinder. Unsicherheit kann zum einen durch „geschützte“ Arbeitsverhältnisse abgefangen werden, wie sie typischerweise im öffentlichen Sektor vorhanden sind, oder aber, vielleicht kontraintuitiv, durch flexiblere Arbeitsmärkte. Flexible Arbeitsmärkte könnten helfen, Unsicherheit breiter zu streuen, als nur auf Berufsein- und -aussteiger. Sie ermöglichen einen raschen Wiedereinstieg in Beschäftigung, verkürzen somit Arbeitslosigkeitszeiten und folglich auch die einhergehende Entwertung von Fertigkeiten. Insgesamt scheint ein Dreiklang aus adäquater finanzieller Förderung, einem guten und bezahlbaren Kinderbetreuungsangebot und vor allem kompatibler
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3 Determinanten der Fertilität in Deutschland
Arbeitsmarktinstitutionen besonders positiv auf die individuelle Entscheidung für Kinder zu wirken.
3.5 Befragungen Neben der realisierten Kinderzahl ist bei einer Untersuchung der Determinanten von Fertilität auch die gewünschte Kinderzahl von Bedeutung. Typischerweise wird diese auf dem Wege von Befragungen ermittelt, die einen Überblick über ökonomische und soziologische Fragestellungen auf individueller Ebene geben sollen (Surveys). Dabei werden nicht nur soziodemografische und ökonomische Daten sondern auch Einstellungen, zum Beispiel eben der Kinderwunsch der Bevölkerung, erhoben und für die wissenschaftliche Untersuchung zur Verfügung gestellt. Kinderwunsch ist dabei nicht gleich Kinderwunsch. Zum einen existieren unterschiedliche Konzepte (Definitionen) des Kinderwunsches, zum anderen unterscheidet die Literatur verschiedene Indikatoren, anhand derer der Kinderwunsch operationalisiert werden kann. Diese sollen im Folgenden vorgestellt werden, bevor sich das Kapitel den Ergebnissen hinsichtlich des Kinderwunsches in Deutschland zuwendet. Schließen wird das Kapitel mit einigen kritischen inhaltlichen und methodischen Anmerkungen.
3.5.1 Konzepte und Indikatoren Zur Messung des Kinderwunsches stellen Bertrand et€al. (1994) vier Indikatoren vor. Einer von diesen ist der gewünschte Status früherer Geburten; er gibt an, wie viele der früheren Geburten nicht erwünscht waren. Ihm kommt aufgrund der weit verbreiteten Möglichkeiten der Verhütung und Abtreibung keine große Bedeutung zu. Von den anderen ist die gewünschte, durchschnittliche Familiengröße (oder ideale Kinderzahl) der bekannteste: es ist die durchschnittliche Anzahl von Kindern, die sich Frauen oder Paare im reproduktiven3 Alter wünschen (Bertrand et€al. 1994, S.€ 124). Der Wunsch nach zusätzlichen Kindern und die gewünschte TFR werden eher selten herangezogen. Ersterer wird an der Zahl oder dem Anteil der Frauen im gebärfähigen Alter, die sich noch weitere Kinder wünschen, festgemacht. Letztere wird, ähnlich der TFR, aus den altersspezifischen Kinderwünschen berechnet. Nicht in der Aufzählung von Bertrand et€al. (1994) enthalten ist ein Indikator, 3╇ Das reproduktive Alter der Frauen unterliegt Änderungen; so ist die Fertilität der 45-49-Jährigen von 1,3 Kinder je 1000 Frauen im Jahr 2001 auf 2,1 in 2008 gestiegen. Während der 1990er Jahre lag sie sehr stabil bei 1,1 Kinder je 100 Frauen. Die Weltgesundheitsorganisation WHO hat die Definition des gebärfähigen Alters auf 47 Jahre angehoben.
3.5 Befragungen
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der in Europa weite Anwendung findet, so auch beim Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung (BIB). Dieser Indikator wird meist erwartete Fertilität genannt. Zu dessen Generierung werden Antworten zu zwei Surveyfragen kombiniert: Zur Zahl der Kinder, die Frauen (oder Männer) im reproduktiven Alter tatsächlich haben, wird die Zahl der zusätzlich noch gewünschten Kinder addiert. Der Vorteil dieses Indikators liegt in der hohen Übereinstimmung von erwarteter Fertilität und tatsächlicher endgültiger Kinderzahl. In Deutschland werden Kinderwünsche durch den Eurobarometer-Survey4 und durch die vom BIB (mit) betreuten Family and Fertility Survey (FFS 1992), Population Policy Acceptance Survey (PPAS 2003) und Generations and Gender Survey (GGS 2005) erfragt. In allen vier Surveys werden die Indikatoren „erwartete Fertilität“, „Wunsch nach zusätzlichen Kindern“ und „gewünschte TFR“ erfragt; im Eurobarometer zusätzlich die „durchschnittliche gewünschte Kinderzahl“. Dabei werden im Eurobarometer 1.000 Personen je Land ab 15 Jahren befragt, im FFS 10.000 Personen im Alter 20 bis 39 Jahre, im PPAS 4.110 Personen zwischen 20 und 65 Jahren und im GGS ca. 10.000 Personen im Alter von 18 bis 75 Jahren befragt. Tabelle€3.1 bietet eine Übersicht der beschriebenen Indikatoren und der Surveys.
Tab. 3.1↜渀 Indikatoren zur Ermittlung des Kinderwunsches. (Quelle: Eigene Darstellung) Indikator Kurzbeschreibung Surveys in Deutschland Von Frauen zum Befragungszeitpunkt Eurobarometer Durchschnittliche durchschnittlich gewünschte Kinderzahl gewünschte Familiengröße Eurobarometer, FFS, Durchschnitt der Summe aus Anzahl der Erwartete FertiliPPAS, GGS tatsächlichen Geburten und zusätzlich tät, erwartete noch gewünschten Kindern Familiengröße Frauen mit Wunsch nach Anzahl oder Anteil von Frauen, die sich Eurobarometer, FFS, zusätzlichen Kindern noch Kinder wünschen PPAS, GGS Gewünschter Status Anzahl oder Anteil der tatsächlicher Gebur- – früherer Geburten ten, die (nicht) erwünscht waren Eurobarometer, FFS, Gewünschte TFR Anzahl der Kinder, die eine Frau im PPAS, GGS Laufe ihres Lebens bekäme, wenn das altersspezifische Geburtsverhalten dem altersspezifischen Kinderwunsch voll entspräche und konstant bliebe FFS Familiy and Fertility Survey; PPAS Population and Policy Acceptance Survey; GGS Gender and Generation Survey
Der Eurobarometer ist eine im Auftrag der Europäischen Kommission in den EU-Mitgliedsstaaten und Kandidatenländern durchgeführte Erhebung. Die geringe Zahl der Befragten kann die Genauigkeit der Aussagen einschränken. Zu beachten ist ferner, dass die Ergebnisse der Eurobarometerwellen vor 2001 mit denen ab 2001 nicht mehr vergleichbar sind, da sich der Wortlaut der Fragestellung verändert hat (Goldstein et€al. 2003). 4╇
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3 Determinanten der Fertilität in Deutschland
3.5.2 Kinderwünsche in Deutschland Für Deutschland lassen sich große Unterschiede in den Ergebnissen der Welle von 2001 zu denen von 2006 bzgl. der gewünschten Kinderzahl feststellen (alle Zahlen aus Testa 2006). So lag die persönlich gewünschte Kinderzahl von Frauen 2006 bei 2,24 (0,28 höher als 2001) und von Männern bei 2,17 Kindern (0,51 höher als 2001). Deutschland ist damit das Land im Eurobarometer- Survey, das zwischen 2001 und 2006 die höchste Zunahme in der gewünschten Kinderzahl erfuhr. Der Eurobarometer ist allerdings der einzige Survey, der in diesem Zeitraum eine Zunahme des Kinderwunsches findet, und zumindest Teile dieser Schwankung könnten rein zufällig sein. Auf weitere mögliche Ursachen wird in 3.5.3 noch eingegangen. Ungewöhnlich ist auch, dass die allgemein gewünschte Kinderzahl, entgegen den Erwartungen, nicht deutlich über der persönlich gewünschten Kinderzahl liegt; im Jahr 2006 liegt sie für Frauen sogar leicht darunter. Der Indikator der erwarteten Fertilität wurde im Eurobarometer 2006 nur an wenigen Frauen erhoben (169), die Zahl liegt mit 1,91 Kindern je Frau unter der persönlich idealen Kinderzahl, aber über den Zahlen aus dem GGS. Der vom BIB berechnete Indikator entspricht der erwarteten Fertilität. Für Frauen liegt der Indikator seit 1992 sehr stabil bei 1,75 Kindern und damit deutlich unter dem Bestanderhaltungsniveau, der Kinderwunsch für Männer liegt mit 1,59 Kindern (für 2003) noch darunter (Höhn et€al. 2006, S.€20). Insgesamt ist die laut PPAS gewünschte Kinderzahl in Deutschland im Vergleich zu den anderen 13 Ländern der Erhebung am niedrigsten. Dazu trägt bei, dass sich die Deutschen mit 15,4€% der Frauen und 22,5€% der Männer am häufigsten gegen Kinder entschieden (BIB 2005, S.€11). Dabei waren es hauptsächlich westdeutsche Männer, die zu 27€% keine Kinder wünschten. Vergleicht man diese Kinderwunschzahlen mit den Fertilitätszahlen, wird die oben angesprochene Eignung des Indikators „erwartete Fertilität“ für tatsächliches Fertilitätsverhalten deutlich. Die „tempostandardisierte TFR“, die Veränderungen des Geburtsalters der Frauen berücksichtigt, lag 2004 bei 1,59 Kindern je Frau, die Kohortenfertilität für die Kohorte 1958 bei 1,7 (StBA 2009a). Tabelle€3.2 fasst die besprochenen Befragungsergebnisse für Deutschland zusammen. In allen drei Surveys werden mit identischem Wortlaut auch Gründe gegen (weitere) Kinder erhoben. Der Wortlaut der Fragen ist untenstehender Tab.€3.3 zu entnehmen, wobei hier nur Fragen mit ökonomischem Einschlag abgebildet sind. Die Tab. 3.2↜渀 Kinderwünsche und tatsächlich erreichte Kinderzahlen von Frauen (und Männern) in Deutschland. (Quelle: Eigene Darstellung) Kinderwünsche Tatsächliche Fertilität Survey Indikator Jahr Alter
Eurobarometer Persönliche gewünschte Kinderzahl 2001 2006 Ab 15 1,96 (1,66) 2,24 (2,17)
FFS PPAS GGS Erwartete Fertilität* 2006 1992 25–39 1,91 1,75
2003 2005 20–39 1,74 (1,59) 1,75
Tempo-stand. TFR 2004 1,59
*Erwartete Fertilität: Die zusätzlich zu bereits geborenen Kindern gewünschte Kinderzahl
Mikrozensus CFR 2008 50 1,7
3.5 Befragungen
85
Tab. 3.3↜渀 Gründe gegen weitere Kinder, sortiert nach ihrer Relevanz. (Quelle: TNS Infratest 2005; eigene Darstellung) GGS, Männer und Frauen im Alter 18–50 Jahre 1 Ich mache mir zu viel Sorgen darüber, welche Zukunft meine Kinder erwartet 2 Ich möchte meinen jetzigen Lebensstandard beibehalten 3 Ein weiteres Kind würde zu hohe Kosten verursachen 4 Ich könnte mein Leben nicht mehr so genießen wie vorher 5 Es wäre mit meiner Berufstätigkeit nicht vereinbar 6 Ich müsste meine Freizeitinteressen aufgeben
Reihenfolge entspricht der Relevanz der verschiedenen Gründe für eine Entscheidung gegen (weitere) Kinder beim GGS aus dem Jahr 2005, gemessen daran, wie hoch der Anteil der Antworten „sehr wichtig“ war. Die Sorge um die Zukunft der Kinder war das wichtigste Argument gegen Kinder, auch bei den Surveys von 1992 und 2003. Mit einem Unterschied ist die gesamte Reihenfolge seit dem FFS von 1992 unverändert: die Unvereinbarkeit mit der Berufstätigkeit war 1992 der viert wichtigste Grund gegen Kinder. Ostdeutsche Befragte des PPAS (2003) maßen den Kosten für Kinder eine höhere Bedeutung zu als der Bewahrung des jetzigen Lebensstandards (Fokkema und Esveldt 2006). Im PPAS und im GGS wurden ferner die Einstellungen zu familienpolitischen Maßnahmen erhoben. Die höchste Zustimmung erhielt im PPAS die Flexibilisierung der Arbeitszeit für Eltern mit Kleinkindern, gefolgt von ausreichenden Kindertagesbetreuungsmöglichkeiten und mehr Teilzeitarbeitsangeboten (Dorbritz et€al. 2005, S.€41). Im GGS nannten die Befragten Teilzeitarbeitsmöglichkeiten an erster Stelle; flexible Arbeitszeiten und mehr Kindertagesbetreuung als wichtige politische Maßnahmen zur Ermöglichung des Kinderwunsches folgten (Höhn et€al. 2005, S.€32–33; 44). Die Bedeutung finanzieller Zuschüsse an Familien wurde erst an vierter Stelle genannt. Ähnlich wie im GGS wurden auch im Eurobarometer Gründe erfragt, die den Wunsch nach weiteren Kindern beeinflussen. Konkret wurde 15–39-jährigen Männern und Frauen die Frage gestellt: „Wie wichtig ist Ihrer Meinung nach jeder der folgenden Bereiche für die Entscheidung, ein Kind zu bekommen oder nicht?“ Die Tab.€3.4 gibt für verschiedene Bereiche mit ökonomischen Bezug die Häufigkeit der Antwort „sehr wichtig“ an. Ost-West-Unterschiede, die aus der Tabelle nicht ersichtlich sind, ergaben sich hinsichtlich der Bedeutung der Kinderbetreuungsangebote: Ostdeutsche Frauen stuften diese als bedeutendsten Bereich ein. Ostdeutsche Männer und Frauen messen den Wohnbedingungen weniger Bedeutung zu als Westdeutsche (Testa 2006).
3.5.3 Kritische Beurteilung der Surveyergebnisse Eine Kernfrage ist, ob die Methode der Befragung überhaupt tauglich ist, um Präferenzen oder Kinderwünsche zu ermitteln bzw. wie Antworten zu interpretieren
86
3 Determinanten der Fertilität in Deutschland
Tab. 3.4↜渀 Ökonomische Sachverhalte in der Fertilitätsentscheidung (Eurobarometer). (Quelle: Testa 2006; eigene Darstellung) Bereich Frauen Männer Arbeitssituation des Vaters 62 60 Finanzielle Situation 54 66 Angebot an Kinderbetreuungsmöglichkeiten 47 49 Wohnungsbedingungen 47 45 Mit Kindern verbundene Kosten 40 43 Möglichkeit, in Elternurlaub zu gehen 40 35 Arbeitssituation der Mutter 35 26 Alter der Befragten 15-39 Jahre; Anteile der Antworten „sehr wichtig“ in % auf die Frage: „Wie wichtig ist Ihrer Meinung nach jeder der folgenden Bereiche für die Entscheidung, ein Kind zu bekommen oder nicht?“
sind. Dabei muss berücksichtigt werden, dass Konzepte für den Kinderwunsch aus unterschiedlichen wissenschaftlichen Richtungen entwickelt worden sind. Ein Konzept wird unter anderem von Ökonomen vertreten. In Übereinstimmung mit der strikten Trennung von Präferenzen und Budgetrestriktionen in der traditionellen volkswirtschaftlichen Theorie wird der Kinderwunsch wie folgt definiert: „demand for children is usually taken to refer to the number of children parents would chose to have if there were no subjective or economic problems involved in regulating fertility“ (Bertrand et€al. 1994, S.€123). Im Gegensatz dazu definiert das vor allem von Demografen vertretene Konzept den Kinderwunsch als „the number of children a woman would choose to have at the time of the survey, based on her assessment of the costs and benefits of childbearing and with complete control over her fertility“ (Bongaarts 1990). Die beiden Konzepte unterscheiden sich im wesentlichen darin, dass in dem zweiten die Wahrnehmung von Kosten für Kinder – und damit ein Bestandteil der Budgetrestriktion – in die Messung des Kinderwunsches mit einfließt. Generell hegen wir begründete Bedenken, dass Befragte bei der Angabe von Kinderwünschen zwischen individuellen Präferenzen und sozio-ökonomischer Umwelt trennen können, so wie das in der mikroökonomischen Theorie fast durchgehend unterstellt wurde. Im Lichte dessen interpretieren wir die aus Surveys bekannt gewordenen Kinderwünsche als die Kinderzahl, die Männer und Frauen unter den gegebenen sozioökonomischen Umständen im gegebenen institutionellen Rahmen realisieren wollten. Das wirtschaftstheoretische Konzept hinter den Argumenten dieses Buches basiert zudem auf individuellen Nutzenfunktionen als Ausdruck zugrundeliegender exogener Präferenzen. Der Wunsch nach Kindern ist dabei nach oben hin nicht limitiert. Gleiches gilt hinsichtlich des Konsums: Annahmegemäß ist mehr besser. Um aussagekräftig zu sein, müsste die Frage nach den Präferenzen daher in der Art gestellt werden: Wenn Sie die Wahl zwischen einer Situation mit wenig Kindern (inklusive keinem) und einem hohen Konsumniveau, und einer Situation mit vielen Kindern und wenig Konsum hätten, welche würden Sie vorziehen? In der soziologischen Literatur ist die strikte Trennung von Präferenzen und Restriktionen selten zu finden, zumal in soziologischen Theorien der Fertilität vor allem Prä-
3.5 Befragungen
87
ferenzänderungen als Ursache für den Geburtenrückgang im Vordergrund stehen (Lesthaeghe und Surkyn 1988; Van de Kaa 2001). Ökonomen hingegen vermeiden es, Verhaltensänderungen auf exogene Präferenzänderungen zurückzuführen, weil sich damit nahezu alles erklären ließe, ohne dass man wirklich etwas verstanden hätte. Die Survey-Fragen basieren also auf dem soziologisch-demografischen Konzept.5 Es erübrigt sich daher, sie als Ausdruck reiner Kinderwünsche im beschrieben, wirtschaftstheoretischen Sinne zu hinterfragen. Pronatalistische, pro-egalitäre oder pro-traditionelle Familienpolitik wirkt in dieser Sicht nicht nur über die Änderung von sozioökonomischen und institutionellen Determinanten der Fertilität (den „Rahmenbedingungen“) sondern auch über Präferenzeinflüsse, die sich daraus ergeben. Was man aber zu beurteilen versuchen kann ist, welcher der verwendeten Indikatoren den höheren Vorhersagewert für die tatsächliche Anzahl von Kindern hat. Selbst dabei sind aber eine Reihe von Schwierigkeiten hinsichtlich der Konzeption der Fragebögen zu berücksichtigen, die nachstehend kurz umrissen werden. So verzerrt die Frage nach der sozialen Erwünschtheit die Antworten, weil die Befragten vor dem Interviewer nicht schlecht aussehen wollen. Diesen Einfluss versucht man im Eurobarometer zu eliminieren, indem allgemeine und persönlich ideale Kinderzahl getrennt erfragt werden. Andererseits tendieren Befragte dazu, Antworten zu geben, die mit vorigen Antworten konsistent sind. Das könnte ein Grund dafür sein, dass die persönlich ideale Kinderzahl im Eurobarometer so sehr der allgemein als ideal erachteten Kinderzahl gleicht: es wurde erst die allgemeine erfragt und gleich danach die persönlich ideale Kinderzahl. Dass die erwartete Fertilität im Eurobarometer höher ist als im GGS könnte ebenfalls an dieser Tendenz zur Konsistenz liegen: Auf die Eurobarometer-Frage, wie viele Kinder man sich zusätzlich zu den schon geborenen wünscht, wird konsistent zur idealen persönlichen Kinderzahl geantwortet. Im GGS dagegen wird nicht nach der idealen Kinderzahl gefragt. Aufgrund dieser Tendenz zur Konsistenz verändert die Reihenfolge von Fragen in Surveys die gegebenen Antworten. Ebenso können Erinnerungen und Assoziationen, die durch vorherige Fragen ausgelöst werden, auf die Beantwortung nachfolgender Fragen wirken (Bertrand und Mullainathan 2001, S.€ 67–68). Der Anstieg in der persönlichen idealen Kinderzahl vom Eurobarometer 2001-Wert auf den im Jahr 2006 gefundenen Wert, kann teilweise auf einen solchen Effekt zurückgeführt werden. So wurde 2001 unmittelbar vor den Fragen zur idealen Kinderzahl Fragen zum Thema Atommüll gestellt, ein Thema, das gerade in Deutschland sehr negative Assoziationen freisetzt. Im Jahr 2006 dagegen wurde in den Interviews vor den Fragen zu Kinderwünschen das Thema Verbraucherschutz abgefragt, welches weit weniger negativ assoziativ besetzt ist. Im Vergleich aller Eurobarometer-Teil5╇ Wollte man das soziologisch-demografische Konzept wirtschaftstheoretisch fundieren, müsste auf endogene Präferenzen zurückgegriffen werden. Bowles (1998) schreibt dazu: „If preferences are endogenous with respect to economic institutions it will be important to distinguish between the effects of the incentives and constraints of an institutional setup (along with given preferences) on behaviors, and the effect of the institution on preferences per se“ (S.€79). Beides ist sowohl theoretisch als auch empirisch mit großen Schwierigkeiten verbunden, auf die wir hier nicht eingehen können.
88
3 Determinanten der Fertilität in Deutschland
nehmerländer ist die ideale Kinderzahl in Deutschland und Belgien am stärksten gestiegen, damit in zwei Ländern, in denen kurz vorher der Ausstieg aus der Kernenergie von Regierungen mit Beteiligung von grünen Parteien beschlossen wurde. Zu diesem Thema passt auch, dass der Fragebogen im Jahr 2006 dahingehend verändert wurde, dass vor den Fragen zur idealen Kinderzahl die Meinung zu verschiedenen Maßnahmen, die einem möglichen Mangel an Arbeitskräften entgegenwirken, ermittelt wurde. Mit dieser Frage werden eventuelle soziale Kosten geringer Fertilität assoziiert und diese Assoziation kann dann zu einer höheren berichteten idealen Kinderzahl führen. Im GGS werden vor den Fragen zum Kinderwunsch Auskünfte zu Ehe, Partnerschaft, Elternhaus, Scheidung und Biografie (auch der Kinder) eingeholt. Prinzipiell können dadurch sowohl positive als auch negative Assoziationen ausgelöst werden. Bertrand und Mullainathan (2001, S.€67) beschreiben weiter, dass Experimente belegen, wie Wörter mit positiver oder negativer Konnotation in Fragen die Antworten beeinflussen. Das Wort „ideal“ in den Fragen des Eurobarometer zur gewünschten Kinderzahl hat – zumindest im Deutschen – die Konnotation von überhöht, von der Realität abgehoben. Die ideale Kinderzahl könnte deshalb nach oben verzerrt sein. Abschließend stellt sich also die Frage, ob trotz der genannten Schwierigkeiten aus den Befragungsergebnissen brauchbare Informationen für die Politikberatung gewonnen werden können. In welchem Umfang prognostiziert die gewünschte Kinderzahl die später realisierte Kinderzahl? Und daran anknüpfend: Werden die Effekte von Politkmaßnahmen in der Erwartungsbildung frühzeitig „eingepreist“, d.€h. berücksichtigt? Unsere Antwort ist: Die Ergebnisse taugen für keines der Ziele wirklich. Auf individueller Ebene liegt die gewünschte Kinderzahl systematisch über der realisierten Kinderzahl. Der Erwartungsfehler ist besonders in der kurzen Frist und bei jungen Frauen6 am deutlichsten zu beobachten. Auf Makroebene ist der Unterschied generell geringer, aber noch vorhanden (Van Hoorn und Keilman 1997). Vor allem junge Frauen scheinen bei der Beantwortung stark von ihrem familären Hintergrund und weniger von den eigenen Präferenzen und den tatsächlichen Lebensumständen beeinflusst zu sein (Heiland et€al. 2008). Die Diskrepanz zwischen gewünschter und realisierter Kinderzahl ist dabei für hoch qualifizierte und Vollzeit erwerbstätige Frauen im Schnitt am größten, nimmt aber mit zunehmenden Alter generell ab (Van Peer 2000). Angaben zur gewünschten Kinderzahl widerspiegeln also weniger zukünftige Erwartungen als vielmehr gegenwärtige Normen; man könnte sie als Lag-Indikatoren bezeichnen. Signifikante Länderunterschied oder eine Veränderung in der gewünschten Kinderzahl über die Zeit sind Ausdruck unterschiedlicher Normen in Bezug auf Familiengröße bzw. eines sich vollziehenden Normenwandels innerhalb eines Landes. Die Effekte einzelner Politikmaßnahmen aber lassen sich aus Befragungsergebnissen kaum abschätzen.
6╇ Was nicht heisst, dass junger Männer „realistischer“ wären. Die Literatur in diesem Bereich fokussiert sich vor allem auf Frauen.
ECHPg Belgien, Dänemark, Frankreich, Deutschland, Griechenland, Irland, Italien, Spanien, UK
1994–2001 Frauen im Alter 28–37 im Jahr 1994
Zeitrauma/Anz. Beob.b
Bratti und Tatsiramos (2008)
Datensatz
1992–2002 (Ost) 1984–2002 (West)
Länder
Ost- und West- SOEPf Bhaumik deutschland und Nugent (2005)
Autor
Zeitdiskretes Verweildauermodell unter Berücksichtigung unbeobachteter Heterogenität
Panel-Probit mit Random Effects
Methodik
3.6 Anhang: Übersicht zu den empirischen Studien Ergebnissee
Ein Aufschub der Erstgeburt wirkt je nach Land und Erwerbsstatus verschieden auf den Abstand zum zweiten Kind. Eine verzögerte Erstgeburt von inaktiven Frauen verzögert auch die Zweitgeburt insbesondere in Südeuropa. Aktive Frauen hingegen bekommen nach einer verzögerten Erstgeburt relativ rasch auch ein zweites Kind. Der Effekt ist besonders stark in Ländern mit flexiblen Arbeitsmärkten und guter Kinderbetreuungsinfrastruktur.
Unsicherheit über ArbeitsplatzFrau: bestand senkt WS für eine – Alter Geburt – erwachsene HH-Mitglieder – Anzahl Kinder im HH – Bildung – Wohnungsgröße – Sorge über finanzielle Lage – Sorge über finanz. Lage quadr. – Wahrscheinlichkeit Arbeitslosigkeit Mann – Bildung – Wahrscheinlichkeit der Arbeitslosigkeit
Erklärende Variablend
Rel. Risiko 1. Alter, in Ausbildung, Familienstand, Arbeitsmarkterfahrung, Geburt Ausbildungsabschluss, Übergang 2. Geschlecht des ersten Kinds Geburt
Wahrscheinlichkeit einer Geburt
Abhängige Variablenc
3.6 Anhang: Übersicht zu den empirischen Studien 89
DiPrete et€al. (2003)
US, Dänemark, Italien, W-Deutschland, UK
PSIDh SOEP PSID-GSOEP ECHP
1981–1997 1984–2000
1960–1995
keine Angaben
Cigno et€al. West-deutschland (2003)
Zeitrauma/Anz. Beob.b
2001–2005 insg.: 9531 indiv. Beob.
Datensatz
SOEP
Länder
Boll (2009) Deutschland
Autor
Abhängige Variablenc
1.╇deskriptive Analysen 2.╇Vergleich von Daten vor/nach „focal year“
VAR Modell, FehlerKorrektur-Modell (ECM)
Ergebnissee
Geburt eines Kindes (binär) 1. PPRi 2. Lebensstandard (Einkommen, Anteil am HH-EK)
Kosten für Kinder in Deutschland rel. hoch, senken den Lebensstandard, staatliche Transfers können EK-Verlust nicht kompensieren
Geringe positive Wirkung der Familientransfers auf die Fertilität. Betragsmäßig ähnlich hoher aber negativer Effekt der durchschnittlichen Rentenhöhe auf die Fertilität. Sparquote hängt positiv von der Rentenhöhe ab.
– Schulabschluss Geburtsbedingte Auszeit wirkt – Berufsabschluss negativ auf die Beschäfti– Erwerbserfahrung (Jahre, inkl. gungs-WS und den Lohn; reduzierte Auszeit senkt geburtsbedingte Auszeit) Lohneinbußen – Individuelle Kontrollvariablen
Erklärende Variablend
1. log. Fertili- – log. Kinderleistungen tätsrate – log. Deckung der 2. Sparquote Alterssicherung – log. Alterssicherungsdefizit – langfristige Zinsrate – log. Lohnrate Frauen – log. Lohnrate Männer
1.BeschäftiHeckman-Selektion gungsModell wahr1. ╇Stufe: Binäre Arbeitsmarktscheinpartizipation lichkeit (Probit-Schätzer) 2. log. reale 2.╇Stufe: MincerBruttoLohngleichung stundenmit Random bzw. lohn Fixed Effects mit Selektionskorrektur (1. Stufe)
Methodik
90 3 Determinanten der Fertilität in Deutschland
Hank et€al. Ost- und West- SOEP deutschland AKJstatm (2003) „statistik regional“
1996–2000 4.963 Beob. (West) 1.644 Beob. (Ost)
1994–2000 Kohorten: 1955–1982 33.477 bzw. 30.363 zens. Beob
ECHP
Zeitrauma/Anz. Beob.b
West-deutschGonzález land, und Frankreich, JuradoItalien, GuerSpanien rero (2006)
Datensatz
UNDYj, New 1960–2000 Cronos (Eurostat Database), Destatisk, CWDSl OECD LFS
Länder
Engelhardt 22 OECD Länder et€al. (2005)
Autor
Abhängige Variablenc
rel. Risiko 1. Geburt
rel. Risiko zeitdiskretes 1.Geburt logistisches Mehrebenenmodell (ähnlich umgesetzt wie Verweildauermodell bei zusätzlicher Berücksichtung von Einflüssen der Makroebene, hier regionale Kinderbetreuung, auf die Individualentscheidung)
Probit Schätzung mit Heckman Selektion
Prais-Winston OLS mit TFR panel-korrigierten Standardfehlern und AR(1)
Methodik
sozioök. Kontrollvariablen: – Alter – Bildungsgrad – Partnerschaftstatus – Nationalität – Religionszugehörigkeit Kontextvariablen: – Stadt-Land Indikator – Versorgungsquote Krippe – Versorgungsquote Kindergarten – Versorgungsquote Hort – Anteil Ganztagsplätze – Familiennetzwerk
Pos. signifikante Effekte der Kinderbetreuung auf die Fertilität in Ost-D, pos. Effekte des Familiennetzwerkes in West-Dtl. (Angebot an Kinderbetreuung keine Determinante)
Konservatives Wohlfahrtssystem senkt die Fertilität; rel. höchste Risiko bei deutschen „Brotverdiener-Ehen“, Frankreich bessere System
Alter, Bildung, Alter*Bildung Länderdummies Beschäftigungsdauer Arbeitsvertragstyp Beschäftigungsstatus Einkommensquartile log. Nettoeinkommen des Partners – Partnerschaftsform, Heiratsstatus
– – – – – – –
Konservative bzw. pro-traditionelle Wohlfahrtssysteme reduzieren TFR
Ergebnissee
– FLP – Länderdummies (für diverse Kategorien) – Zeitperioden – FLP*Länderdummies – FLP*Zeitperioden
Erklärende Variablend
3.6 Anhang: Übersicht zu den empirischen Studien 91
Kreyenfeld Ost- und West- FFS deutschland (2004)
Verweildauermodell Kohorte D: 1952–1972 Kohorte F: 1944–1973 Sample D: 1.293 Frauen Sample F: 2.059 Frauen Verweildauermodell Kohorte: 1952–1972 2.890 Frauen West 2.856 Frauen Ost
FFSn
West-deutschland, Frankreich
Köppen (2006)
Bildungsgrad – Beschäftigungsstatus – Alter – Zeitperioden – Geburtsortgröße – Geschwisteranzahl – Religionsstatus – Scheidungsstatus der Eltern
rel. Risiko 1. Geburt
Monate seit 1. Geburt Bildungsgrad rel. Alter bei 1. Geburt Bildungsgrad des Partners Beschäftigungsstatus Heiratsstatus Zeitperioden
Keine signifikant positiven Effekte der Politik in den Zeitperioden, Risiko nimmt in Ost-Dtl. bei gering gebildeten und arbeitslosen Frauen ab und bei Frauen in Ausbildung zu (i.Vgl. zu West-D): bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf
Verheiratete, nie beschäftigte Frauen haben höheres Risiko für 2. Geburt, Hochgebildete Frauen mit hochgebildeten Partnern haben erhöhtes Risiko für ein 2. Kind (Polarisations-theorie)
Keine signifikanten Effekte des Betreuungs-angebotes auf die Fertilität (Angebot an Kinderbetreuung keine Determinante)
sozioök. Kontrollvariablen: – Alter – Alter quadr. – Bildungsgrad – Nationalität Kinderbetreuungsvariablen: – Familiennetzwerk – Verfügbarkeit Kindergarten – – – – – – –
Ergebnissee
Erklärende Variablend
rel. Risiko 2. Geburt
rel. Risiko 1. Geburt rel. Risiko 2. Geburt
Zeitdiskretes Verweildauermodell
1984–1999 300 Kreise 13.357 (1.Geburt) 6.388 (2. Geburt) indiv. Beob
SOEP DJI regional
West-deutschland
Abhängige Variablenc
Methodik
Hank und Kreyenfeld (2003)
Zeitrauma/Anz. Beob.b
Datensatz
Länder
Autor
92 3 Determinanten der Fertilität in Deutschland
rel. Risiko 1. Geburt
Verweildauermodell
Schmitt (2008)
ECHP Frankreich, SOEP FinnBHPSo land, UK, Deutschland
Meta-Analyse
Kohorten: 1955–1983 Wellen: 1994–2001
Verweildauermodell, länder- und geschlechtsspezifische Analysen
rel. Risiko 1. Geburt
1. TFR 2. FLP
Abhängige Variablenc
Methodik
Metaanalyse 1990–2006 Veröffent-lichungs-zeitraum 59 Papiere: 60 Effekte TFR→FLP 55 Effekte FLP → TFR
Zeitrauma/Anz. Beob.b
Wohl-fahrtsMatysiak regimes und Vignoli (2008)
Datensatz
1984–2006 (West) 1990–2006 (Ost) 5.998 Frauen
Länder
Kreyenfeld Ost- und West- SOEP (2010) deutschland
Autor
– – – – – – –
ökonom. Aktivitätsstatus Beschäftigungsstatus Partner Arbeitslosendauer Bildungsgrad indiv. monatl. Einkommen Partnerschaftsstatus Einkommensverhältnis
Längere Arbeitslosigkeit, geringe Ausbildung, öffentliche Transfers wirken positiv auf Fertilität.
Negative Wirkung von TFR auf FLP bei konservativen Regimes am stärksten; negative Wirkung von FLP auf TFR bei Konservativen rel. hoch
Unsicherheiten wirken signifikant negativ auf die Fertilität; hohe Sorgen und hoher Bildungsgrad senken Risiko; arbeitslose und gering gebildete Frauen mit hoher Sorge rel. höchste Risiko
– Sorge über ökonom. Situation – Sorge um Arbeitsplatz – Beschäftigungsstatus – Bildungsgrad Kontrollvariablen: – Alter – Zeitperioden – Nationalität – Ost/West – Partnerschaftsstatus 1. FLP 2. TFR
Ergebnissee
Erklärende Variablend
3.6 Anhang: Übersicht zu den empirischen Studien 93
Länder
Datensatz
Zeitrauma/Anz. Beob.b
Methodik
Abhängige Variablenc
Erklärende Variablend
Ergebnissee
b
a
Beobachtungszeitraum für die Regression Anzahl zensierter individueller Beobachtungen, befragter Personen oder Effekte soweit angegeben c je Spezifikation d Soweit möglich differenziert nach Spezifikationen e Ergebnisse beziehen sich nur auf den thematisierten Zusammenhang f Sozio-ökonomische Panel g European Community Household Panel h Panel Study of Income Dynamics i parity progression ratio j United Nations Demographic Yearbook k Deutsche statistische Bundesamt l Comparative Welfare Data Set by Huber et€al. (1997): Huber, E., Ragin C. and J. D. Stephens. 1997. Comparative Welfare Data Set. Online: http://lisweb.ceps.lu/publications/ welfaredata/welfareaccess.htm. m Arbeitsstelle Kinder- und Jugendhilfestatistik n Family and Fertility Survey o British Household Panel Study
Autor
94 3 Determinanten der Fertilität in Deutschland
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95
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3 Determinanten der Fertilität in Deutschland
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Kapitel 4
Handlungsempfehlungen
4.1 Antworten auf die Eingangsfragen In welchem Sinne gibt es zu wenig Kinder?╇ Die vorhandene Literatur unterstützt eine wohlfahrtstheoretische Begründung für die Aussage, in Deutschland gäbe es zu wenig Kinder: Wir haben als Gesellschaft zu wenig Kinder, um mit ihnen unseren Wohlstand zu sichern. Das erklärt sich daraus, dass unser Wohlstand auf einen permanenten Innovationsprozess gründet, zu dessen Aufrechterhaltung erstens die ständige Erzeugung neuen Wissens und zweitens das Wachstum oder zumindest die Konstanz einer entsprechend ausgebildeten Arbeitsbevölkerung (des Humankapitals) notwendig sind. Wenn die Anzahl der Forscher- und Entwickler proportional zur Größe der Erwerbsbevölkerung variiert, dann müssen Länder mit einer schrumpfenden Erwerbsbevölkerung einen Rückgang der Wissensproduktion hinnehmen. Dieser Rückgang wirkt umso stärker auf das Wirtschaftswachstum, wie von der Wissensproduktion positive Externe Effekte ausgehen, auf die dann verzichtet werden muss. Der Rückgang der Forscher-, Entwickler- und Fachkräftepopulation lässt sich bei schrumpfender Bevölkerung auch unter besten Bildungs- und Ausbildungsbedingungen höchstens verzögern, aber nicht kompensieren. Die Lösung kann daher nur sein, mehr Kinder zu bekommen und sie möglichst gut auszubilden – oder die adäquat ausgebildeten Kinder anderer Länder zu importieren. Verlässlich ist auf längere Frist, aus vielerlei Gründen, nur die erste Strategie. Eine Diskussion möglicher Strategien und Zielgrößen bevölkerungswirksamer Politik empfiehlt sich, weil es keine „demografische unsichtbare Hand“ gibt, die persönliche Entscheidungen über die Anzahl der eigenen Kinder und deren Ausstattung mit gesellschaftlich erwünschten Ergebnissen koordinieren könnte. Welches das gesellschaftlich erwünschte Ergebnis konkret wäre, wird in Deutschland nicht diskutiert; auf der Politikebene scheint es aber einen Konsens darüber zu geben, dass dieses bei mehr als 1,4 bis 1,7 Kinder je Frau liegt. Wie ließe sich die Geburtenrate erhöhen?╇ Empirische Arbeiten zeigen, dass sich die Geburtenrate durch Politikmaßnahmen beeinflussen lässt. Dabei erweist sich das bisherige, konservative bzw. protraditionelle Wohlfahrtssystem Deutschlands T. Tivig et al., Wohlstand ohne Kinder?, DOI 10.1007/978-3-642-14983-2_4, ©Â€Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
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als anderen Systemen durchweg unterlegen: es wirkt schon längst nicht mehr fertilitätsfördernd; es behindert die Gleichstellung der Geschlechter; und es verstärkt die negativen Folgen des demografischen Wandels. Als erfolgreiche Systeme zeichnen sich ab: das gleichstellungsorientierte, skandinavische System, das hier am Beispiel Norwegens untersucht wurde; und das konservative, pronatalistische System Frankreichs, das die Chancengleichheit der Kinder ebenfalls im Auge hat und darüber hinaus zunehmend auf die Gleichstellung der Frauen in der Gesellschaft achtet. Welchen Weg Deutschland zwischen diesen beiden Alternativen einschlägt, hängt auch von seinen sozialen Normen ab: von der Trägheit vergangener Normen, etwa hinsichtlich des Rollenverständnisses der Geschlechter in Familie und Gesellschaft, und der Herausbildung neuer Normen, beispielsweise zur Kinderlosigkeit und zur Vereinbarung von Beruf und Familie. Die Politik kann einerseits versuchen, auf die Präferenzen für Kinder Einfluss zu nehmen und andererseits über veränderte Rahmenbedingungen einem annahmegemäß vorhandenen Kinderwunsch zur Realisierung zu verhelfen. Präferenzen werden durch soziokulturelle Normen geprägt und tragen ihrerseits zur Herausbildung neuer Normen bei. Ursache und Wirkung geraten da leicht durcheinander. Oft behindern Gesetze und (unterlassene) Politikmaßnahmen auch die Herausbildung neuer Normen. So mag das Männlicher-Ernäher-Modell den Präferenzen der Haushalte in den 50er und 60er Jahren entsprochen haben. Seine Verankerung in der Steuergesetzgebung (Ehegattensplitting) und die fehlende Bereitstellung staatlicher Betreuungsangebote für Kleinkinder verstärkten diese Präferenz jedoch in Richtung einer sozialen Norm mit hoher Trägheit. Für eine staatliche Einflussnahme auf das Fertilitätsverhalten scheint die Veränderung der Rahmenbedingungen der einfachere Weg. Die Politik kann versuchen, über eine Lockerung von Budgetrestriktion und Zeitrestriktion Anreize für mehr Kinder zu setzen. Im internationalen Vergleich zeigt sich, dass die Gesamtkosten für Kinder in Deutschland sehr hoch sind. Allerdings handelt es sich dabei hauptsächlich um Opportunitätskosten, die aus der starken Abnahme der Frauenerwerbsbeteiligung nach der Geburt eines Kindes resultieren. Kein Transfersystem vermag solche Folgen auszugleichen. Die Alternative kann daher nur sein, die Wiedereinstiegsmöglichkeiten von Frauen in den Beruf zu erleichtern, und damit, über die zugrundeliegende Zeitrestriktion, die Budgetrestriktion zu lockern. Das Stichwort lautet „Vereinbarkeit von Familie und Beruf“: Mutterschutz und die Elternzeit garantieren den Arbeitsplatz im Übergang von Erwerbstätigkeit zu Kindererziehung; Kinderbetreuungsplätze ermöglichen den Wiedereintritt in die Erwerbstätigkeit. Damit staatliche Leistungen als Determinanten der Fertilität wirken, müssen sie allerdings in den Entscheidungsprozess über eine Elternschaft eingehen. Daher greifen Maßnahmen zur verbesserten Vereinbarkeit von Berufstätigkeit und Elternschaft nur bei erwerbsorientierten Frauen. Bei nicht oder nur schwach erwerbsorientierten Frauen ist nicht zu erwarten, dass sie einen Mangel an Kinderbetreuungsmöglichkeiten als Hindernis für eine höhere Kinderzahl wahrnehmen; sie werden hingegen auf Finanztransfers reagieren. Empirische Arbeiten zeigen, dass großzügige Elternzeit- und Elterngeldregelungen, die an die vorhergehende Berufstätigkeit geknüpft sind, positiv auf das Geburtenverhalten der entsprechenden Gruppen wirken. Finan-
4.2 Politikempfehlungen
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zielle Mittel (wie ein Kinderbetreuungsgeld) wirken hingegen nur schwach und insbesondere im Falle von Frauen mit niedrigem Ausbildungsniveau; sie setzen zudem den Anreiz, weiter auf Erwerbstätigkeit zu verzichten.
4.2 Politikempfehlungen 4.2.1 Grundlegende Politikempfehlungen Im Ergebnis unserer Untersuchung lässt sich die Empfehlung aussprechen, eine Strategie der Geburtenförderung in Kombination mit Maßnahmen der Bildungsund Arbeitsmarktpolitik zu verfolgen. Nur so lässt sich das Ziel des Wohlstanderhalts und erst recht der Wohlstandsmehrung erreichen. Als positive Nebeneffekte können im Erfolgsfall auch eine höhere Chancengleichheit für Kinder und mehr gelebte Gleichstellung der Geschlechter erwartet werden. Die nachstehende Abb.€ 4.1 verdeutlicht die grundlegenden theoretischen und empirischen Zusammenhänge und zeigt, wie Geburtenförderung, Ausbildung (der Kinder und Eltern) und Erwerbsorientierung miteinander verwoben sind. Der zukünftige Wohlstand wird von den Erwerbstätigen der Zukunft erwirtschaftet. Die Gesellschaft hat demnach sowohl an der laufenden Kinderanzahl als auch an ihrer Ausbildung ein Interesse. Aus der Sicht der Eltern ist der Zusammenhang zwischen der Kinderanzahl und deren Ausbildungsniveau jedoch negativ, denn: je mehr Kinder sie haben, umso teurer wird es, ihnen einen hohen Ausbildungsstand zu sichern; und: je höher das angestrebte Ausbildungsniveau für die Kinder ist, umso teurer wird es, viele Kinder zu haben. Der laufende Wohlstand hängt von zukünftiger Wohlstand
pronatale Politik
Kinderzahl
(–)
(–)
(+)
Vereinbarkeitspolitik Erwerbsorientierung der Eltern
Ausbildung der Kinder
(+)
Ausbildung der Eltern
laufender Wohlstand
Abb. 4.1↜渀 Fertilität im Spannungsfeld zwischen Ausbildung und Beruf. (Quelle: Eigene Darstellung)
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4 Handlungsempfehlungen
der Ausbildung und der Erwerbsorientierung der Elterngeneration ab. Diese sind positiv miteinander verbunden, zum Beispiel über die höheren Chancen auf dem Arbeitsmarkt bei höherem Ausbildungsabschluss oder über den Wissenserwerb im Zuge der Erwerbsbeteiligung (learning-by-doing). Die Gesellschaft hat demnach sowohl an dem Ausbildungsstand als auch an der Erwerbstätigkeit der Elterngeneration ein Interesse. Die Ausbildung der Kinder aber hängt positiv vom Ausbildungsstand der Eltern ab; das gilt in Deutschland mit seinen Bildungsdynastien im besonderen Maße. Die Kinderzahl ist hingegen negativ mit der Erwerbsorientierung verbunden, und zwar in Deutschland weit stärker als in anderen Ländern. Politikmaßnahmen, die primär auf die Vereinbarkeit von Beruf und Familie abstellen, schwächen den negativen Zusammenhang zwischen Kinderzahl und Erwerbsorientierung ab. Dadurch kommt ein positiver Rückwirkungsmechanismus in Gang (Dreieck unten rechts in Abb.€4.1): Die Elterngeneration erhöht über die ermöglichte Berufstätigkeit ihren Ausbildungsstand, was die eigenen Anstrengungen für mehr Ausbildung der Kinder verstärkt. Je höher aber die Investition der Eltern in die Ausbildung ihrer Kinder ist, umso mehr (staatliche) Mittel können in die Ausbildung der Kinder aus bildungsferneren Schichten investiert werden. Insgesamt wird damit sowohl der laufende als auch der zukünftige Wohlstand befördert. Sind Politikmaßnahmen hingegen primär auf die Kinderzahl ausgerichtet, so kommt kein positiver Rückwirkungsmechanismus in Gang (Dreieck oben links in Abb.€4.1). Für die Anhebung des Ausbildungsniveaus der Kinder und damit die Beförderung zukünftigen Wohlstands sind in diesem Fall zusätzliche, staatliche Anstrengungen nötig; der laufende Wohlstand aber wird über die reduzierte Erwerbsbeteiligung der Elterngeneration und der ausbleibenden positiven Ausbildungswirkung, die mit ihr einhergeht, gemindert. Alternativ können die Zusammenhänge anhand der Abb.€4.2 wie folgt beleuchtet werden. Aus volkswirtschaftlicher Sicht sind Geburtenraten das Ergebnis von 6R]LDOH1RUPHQ
3UlIHUHQ]HQ 6WDDWOLFKH /HLVWXQJHQ
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7UDQVIHUV 'LUHNWH.RVWHQ
Abb. 4.2↜渀 Determinanten der Fertilitätsentscheidung. (Quelle: Eigene Darstellung)
4.2 Politikempfehlungen
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Individualentscheidungen, die auf Präferenzen und Rahmenbedingungen (Budgetrestriktionen des Einkommens und der Zeit) fußen. Alle drei Komponenten lassen sich durch Politikmaßnahmen beeinflussen. Bislang setzte die Politik in Deutschland primär auf die Beeinflussung der Einkommensrestriktion. Sie war dabei insofern erfolgreich, wie finanzielle Unsicherheit in beiden Teilen Deutschlands heute keinen signifikanten Einfluss auf die Fertilität zu haben scheint, diese also auch nicht behindert. Für einige Ausbildungs- und Einkommensgruppen lässt sich sogar ein (schwach) signifikant fertilitätsfördernder Einfluss monetärer Transfers nachweisen, nämlich bei länger arbeitslosen und geringqualifizierten Frauen. Dass keine stärkere Wirkung zu erkennen ist, erklärt sich mit der Größenordnung der Transfers verglichen mit jener der Kosten für die Kindererziehung; Geldleistungen können die Folgen der Entscheidung für Kinder für den Lebensstandard nur abfedern, nicht kompensieren. Die gerade in Deutschland ausnehmend hohen Kinderkosten entstehen nämlich durch die extrem starke Abnahme der Frauenerwerbsbeteiligung nach Geburt eines Kindes. Das lenkt den Blick auf die Verknüpfung zwischen Einkommens- und Zeitrestriktion. Ihr Rechnung zu tragen bedeutet, die Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu verbessern. Eine notwendige Bedingung hierfür ist die Bereitstellung adäquater Kinderbetreuungsmöglichkeiten. Theoretisch ist ein positiver Zusammenhang zwischen Fertilität und dem Angebot an externer Kinderbetreuung unumstritten. Ferner steigt die Nachfrage nach externer Betreuung mit deren Qualität. Die Ergebnisse empirischer Arbeiten zeigen jedoch (nur für Westdeutschland) einen statistisch insignifikanten Einfluss, sowohl auf die Wahrscheinlichkeit einer Erstgeburt als auch auf die Übergangswahrscheinlichkeit zu einem zweiten Kind. Der Grund hierfür dürfte sein, dass die Präferenzen in Bezug auf die Rolle der Mutter das Angebot an Betreuungseinrichtungen bisher überhaupt nicht in die Fertilitätsentscheidung der Frauen einfließen ließen. Damit sind wir im Bereich der sozialen Normen und ihrer Interaktion mit individuellen Präferenzen und etablierten Politikmaßnahmen. Individuelle Präferenzen entfalten sich vor dem Hintergrund vorhandener sozialer Normen und tragen zur Herausbildung neuer Normen bei; Gesetze und Politikmaßnahmen spiegeln sie wider, tragen aber auch zu ihrer Festigung bei. Präferenzen und Normen lassen sich allerdings schlecht aus Befragungsergebnissen ablesen. Erstens herrscht Uneinigkeit darüber, was sie widerspiegeln: schiere Wünsche, oder Wünsche unter gegebenen Rahmenbedingungen. Zweitens sind die Antworten offenbar stark davon abhängig, wie man fragt; selbst die Reihenfolge der Fragen kann große Unterschiede in den Antworten bedingen. Dennoch fällt auf, dass die Übereinstimmung zwischen Wünschen und tatsächlich realisierter Kinderzahl unter den fünf untersuchten westlichen Ländern lediglich in Deutschland sehr hoch ist. Ob die Politik über die öffentliche Diskussion, die sie zu demografischen Fragen führt oder anstößt, die Präferenzen (potenzieller) Eltern tatsächlich beeinflusst und mehr noch, wie sie über die Politikmaßnahmen, die sie trifft, zur Herausbildung von Präferenzen und Normen beiträgt, konnte hier nicht untersucht werden und bedarf auch noch weiterer Forschung. Unser Fokus lag auf den sozioökonomischen Rahmenbedingungen, unter denen sich das Geburtenverhalten entfaltet.
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4 Handlungsempfehlungen
Von allen Maßnahmen, die der Staat zur Geburtenförderung treffen kann, erachten wir, wie bereits erwähnt, die Bereitstellung adäquater Betreuungsangebote als die wichtigste. Jenseits staatlich gesetzter Rahmenbedingungen gibt es aber noch eine Reihe weiterer Einflussfaktoren der Vereinbarkeit von Beruf und Familie, die in der Arbeitsorganisation begründet sind. Beispiele sind die hohen Mobilitätsanforderungen und die meist nur einseitige Verwischung der privaten und der beruflichen Sphäre (zugunsten der Unternehmen). Daher dürften selbst adäquate Kinderbetreuungsmöglichkeiten für einige Berufsgruppen keine hinreichende Bedingung für die Vereinbarkeit von Beruf und Familie darstellen. Erforderlich wären darüber hinaus arbeitsorganisatorische Änderungen. Viele Unternehmen haben diese Zusammenhänge erkannt und mittels Zeitkonten, Teilzeitarrangements, flexiblen Kinderbetreuungsangeboten, Einrichtung von Arbeitsplätzen zuhause, Reduzierung der Reisetätigkeit durch verstärkten Rückgriff auf Telefonkonferenzen und ähnliche Maßnahmen die Vereinbarkeit von Beruf und Familie erhöht. Die Politik honoriert diese Anstrengungen durch Anerkennung und Unterstützung. Ihre Ausweitung auf mehr Unternehmen und weitere Modelle, wie beispielsweise das Jobsharing, ist aber unabdingbar. Interessanterweise handelt es sich dabei vielfach um Maßnahmen, die nicht nur Elternschaft, sondern auch die Erwerbstätigkeit Älterer erleichtern würden. Generell wird es nur durch eine Kombination politischer Maßnahmen und dann wohl auch nur mittel- bis langfristig gelingen können, die durchschnittliche Kinderzahl je Frau zu erhöhen. Vorrangiges Ziel müsste sein, die Müttererwerbstätigkeit zu steigern, dazu bedarf es neben den angesprochenen Instrumenten (Kinderbetreuungsinfrastruktur, Arbeitsverträge mit flexibler Zeitgestaltung) aber auch auf Seiten der Mütter des Wunsches (oder der Notwendigkeit), nach Geburt eines Kindes rasch wieder in das Erwerbsleben zurückzukehren. Die international sehr niedrige Müttererwerbstätigkeit in Deutschland wird nicht alleine Ausdruck bindender Restriktionen sein. Je kürzer aber die Auszeit, desto einfacher ist ein Wiederanstieg in den Arbeitsmarkt und umso niedriger fallen die indirekten Kosten einer Geburt aus. Gleichzeitig wären Frauen bzw. Mütter ökonomisch unabhängiger von ihrem Partner, und Kinder im Falle eine Trennung mutmaßlich seltener von Armut bedroht.
4.2.2 Empfehlungen zu Einzelmaßnahmen Auf Basis unserer Untersuchung skizzieren wir nachstehend zunächst einen Grundsatz und dann Empfehlungen zu Einzelmaßnahmen. Diese nummerieren wir durch, gruppieren sie aber entsprechend Abb.€4.2 in Maßnahmen, die direkte Kosten betreffen, Maßnahmen, die Opportunitätskosten senken und Maßnahmen, die die Präferenz für Kinder beeinflussen. Grundsatz:╇ Vergünstigungen sollten nur tatsächlichen Eltern während oder für die Kindererziehungszeit gewährt werden. Begründung:╇ In Deutschland werden mit dem Ehegattensplitting familienbezogene Leistungen nicht an die Existenz von Kindern geknüpft. Gleiches gilt für die kostenlose Mitversicherung von Ehegatten sowie Witwen- und Witwerrenten.
4.2 Politikempfehlungen
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Eine Interpretation könnte sein, dass mit den ehebezogenen Leistungen potenzielle Elternschaft belohnt werden soll – und zwar gegenwärtige, zukünftige aber auch vergangene potenzielle Elternschaft, denn das Ehegattensplitting wird über das fertile Alter hinaus angewandt. Mit den Erwägungen zur Ausweitung des Ehegattensplittings (und dann wohl aller ehebezogenen Leistungen) auf gleichgeschlechtliche Paare wird diese Interpretation allerdings entweder hinfällig oder sie verlangt nach der Ausweitung des Adoptionsrechts auf gleichgeschlechtliche Paare. Aus der hier eingenommen Sicht der Wohlstandssicherung durch Wirtschaftswachstum lassen sich keine Begründungen für die Honorierung bereits potenzieller statt nur tatsächlicher Elternschaft ableiten. Eine andere Interpretation ist, dass es beim Ehegattensplitting gar nicht um Vergünstigungen sondern um das Leistungsfähigkeitsprinzip in partnerschaftlichen Beziehungen geht. Hier ist die Frage nach der Rolle des Staates zu stellen. Ist die unterschiedliche Leistungsfähigkeit in der fehlenden Vereinbarkeit von Beruf und Familie begründet, dann obliegt es dem Staat aus Gleichstellungsgründen, die Vereinbarkeit durch Bereitstellung adäquater Kinderbetreuungsangebote zu gewährleisten. Ist die unterschiedliche Leistungsfähigkeit durch Unterschiede in der Ausbildung oder in der Erwerbsorientierung begründet, dann stehen ausreichend privatwirtschaftliche Ausgleichs- und Vorsorgeinstrumente zur Verfügung, um den Staat von diesen Aufgaben zu entlasten. Ehebezogene Leistungen stellen rund 40€% der gesamten Familienausgaben dar. Das jährliche Einsparpotenzial über ihre Streichung beliefe sich auf zweistellige Milliardenbeträge. 4.2.2.1 Maßnahmen, die direkte Kinderkosten betreffen 1. Stärkung der paritätsspezifischen Dimension von kinderbezogenen Leistungen Die Entscheidung für ein erstes Kind ist nicht identisch mit der Entscheidung für ein zweites oder drittes Kind. Familienpolitische Maßnahmen sollten daher eine paritätsspezifische Dimension beinhalten. Mütter haben in Deutschland im Durchschnitt zwei Kinder. Es ist die hohe Kinderlosigkeit, die die Geburtenziffer auf 1,4 (zusammengefasste Geburtenziffer) bis 1,6 (Kohortenfertilität) senkt und es ist der geringe Anteil an Dritt- und Mehrgeburten, der sie nicht kompensieren kann. Logisch ist es daher, das Augenmerk insbesondere auf die Erst- und Drittgeburtenrate zu richten. Daten des Mikrozensus zeigen, dass die Kinderlosigkeit in den alten Bundesländern insbesondere unter erwerbsorientierten Frauen und Frauen mit höherem Ausbildungsabschluss verbreitet ist, während die Drittgeburtenrate in ganz Deutschland nur noch in älteren Kohorten, bei Frauen mit niedrigerem Ausbildungsabschluss und unter Frauen mit geringer Erwerbsorientierung hoch ist. Die Aussicht auf Kindergeld oder entsprechende steuerliche Freibeträge dürften für die hauptsächlich von Kinderlosigkeit betroffene Gruppe nicht den wesentlichen Anreiz für die Entscheidung zu einem ersten Kind darstellen. Die entsprechenden Leistungen sollten für ein erstes Kind daher nicht erhöht werden. Maßnahmen, die auf die Opportunitätskosten der Kindererziehung wirken, sollten hier weit wirksamer sein. Wünscht man hingegen die Drittgeburtenrate zu
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4 Handlungsempfehlungen
erhöhen, so kommt dem Kindergeld eine größere Bedeutung zu; es sollte dann ab dem dritten Kind deutlich höher ausfallen als bisher. 2. Ökonomische Unsicherheit über den Arbeitsmarkt, nicht über Transfers senken Ökonometrische Untersuchungen zeigen, dass die Fertilität in OECD Ländern mit einem höheren Grad an ökonomischer Unsicherheit (gemessen an der Arbeitslosigkeit, am Anteil prekärer Arbeitsverhältnisse und an der Selbständigenquote) im Schnitt geringer ist. Auf Mikroebene ist die Wirkung von Unsicherheit auf die Fertilität weniger deutlich. Sie variiert in Deutschland und einigen anderen Ländern mit dem Ausbildungsabschluss der Mutter. In Deutschland sind es vor allem Frauen mit einem geringeren Ausbildungsabschluss, die bei hoher Arbeitsplatzunsicherheit oder in Arbeitslosigkeit eine höhere Chance aufweisen, Mutter zu werden. In Befragungen gehört die Beschäftigungssituation der Mutter allerdings nicht zu den wichtigen ökonomischen Sachverhalten in der Fertilitätsentscheidung; an erster Stelle stehen die Arbeitssituation der Väter und die finanzielle Situation. Auch in ökonometrischen Untersuchungen zeigt sich, dass wenn in Deutschland hohe Wahrscheinlichkeiten für eine Geburt ausgemacht werden können, dann zumeist in Ehen, in denen der männliche Partner arbeitet und die Frau ökonomisch inaktiv ist. Dieses Verhaltensmuster entspricht der konservativen Wohlfahrtspolitik, die den Übertritt in die Mutterschaft aus der Erwerbstätigkeit und das Verbleiben in exklusiver Mutterschaft fördert. Je weiter in der Bevölkerung der Zuspruch zu diesem Lebensentwurf in der Bevölkerung zurückgeht, um so weniger wird eine Politik des bisherigen Zuschnitts ihre Ziele in Bezug auf die Geburtenförderung erreichen können. Unter den Bedingungen des demografischen Wandels werden die Spielräume für Verteilungspolitik enger, weil das Wirtschaftswachstum gefährdet ist. Es ist daher besonders wichtig, keine Zielkonflikte zwischen Geburtenförderung und Frauenerwerbstätigkeit zu unterstützen oder neu entstehen zu lassen. Ökonomische Unsicherheit kann zum einen über „geschützte“ Arbeitsverhältnisse abgefangen werden, oder aber, vielleicht kontraintuitiv, durch flexiblere Arbeitsmärkte. Über letztere würde der Wiedereinstieg in den Beruf erleichtert und die Unsicherheit breiter gestreut als nur auf Berufsein- und -aussteiger. 3. Betreuungsgeld als Gebot der Gleichbehandlung? Bisherige theoretische und empirische Arbeiten bieten keine Grundlage für die Einführung eines Betreuungsgeldes für Eltern, die ihre Kinder nicht staatlichen Einrichtungen anvertrauen. In der monetären Form (↜cash-forâ•‚care) kann ein Betreuungsgeld daher nur mit dem Gebot der Gleichbehandlung der Eltern begründet werden; der Beförderung der Kinderzahl dient es nicht. Zu beachten ist zudem, dass in Norwegen beispielsweise das Betreuungsgeld strikt an die Nicht-Inanspruchnahme staatlich geförderter Einrichtungen gekoppelt ist und die finanzielle Entschädigung konsequenterweise dem staatlichen Zuschuss zur öffentlichen Betreuung entspricht. Das in Deutschland geplante Betreuungsgeld in Höhe von 150€ € erfüllt diese Forderung nicht, es müsste weit höher liegen. Die Erfahrungen in Thüringen mit einem Betreuungsgeld für 2- bis 3- Jährige ab der auf Bundesebene geplanten Höhe (gestaffelt nach Kinderzahl bis zu 300€€ im Monat für das vierte und wei-
4.2 Politikempfehlungen
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tere Kinder) bei gleichzeitigem Rechtsanspruchs auf einen Betreuungsplatz ab dem vollendeten 2. Lebensjahr zeigen bisher nur einen leichten Rückgang der Besuchsquote von Kindertagesstätten für diese Altersgruppe.1 Sollte ein Betreuungsgeld bundesweit eingeführt werden, wäre es zweckmäßig, Abstufungen vorzusehen, so dass flexible Kombinationen von Berufstätigkeit und häuslicher Kinderbetreuung möglich werden. Eine Ausgestaltung des Betreuungsgeldes in Form von Bildungsgutscheinen würde hingegen dem Gebot der Gleichbehandlung der Kinder folgen. Allerdings ist fraglich, ob es ausreichende öffentliche (nichtsubventionierte) Angebote und adäquate Leistungen für Kinder unter drei Jahren gibt, die sich allein mit den Bildungsgutscheinen finanzieren ließen. Zweckmäßiger wäre es, die für das Betreuungsgeld vorgesehenen Mittel in den weiter unten unter Punkt 5 behandelten Ausbau der Tageseinrichtungen zu investieren. Dann würden sowohl Eltern als auch Kinder in dem Sinne gleichbehandelt, dass sie gleiche Chancen auf Kinderbetreuungsplätze hätten; ob sie tatsächlich in Anspruch genommen würden oder nicht, bliebe eine private Entscheidung. Ein interessantes Beispiel für die Umsetzungen eines Bildungsgutscheins ist die Stuttgarter FamilienCard, mit der es möglich ist, bestimmte Einrichtungen unentgeltlich bzw. mit Rabatt zu nutzen und über die auch die Inanspruchnahme ermäßigter Kinderbetreuungsplätze geregelt wird. 4. Einführung der Individualbesteuerung Vergleichende Untersuchungen zeigen, dass eine konsequente Umsetzung der Gleichstellung der Geschlechter mit höherer Fertilität einhergeht. Dazu gehört die Anerkennung der gleichen Leistungsfähigkeit von Männern und Frauen und, darauf gründend, die Einführung einer Individualsteuerung anstelle des Ehegattensplittings. In Deutschland ist die Gleichstellung von Männern und Frauen in Bezug auf ihre Leistungsfähigkeit durch fehlende Möglichkeiten der Vereinbarkeit von Familie und Beruf behindert. Der zeitgemäße Ausweg wäre, das „Leistungsfähigkeitsprinzip“ zur Begründung des Ehegattensplittings durch Maßnahmen zur Vereinbarkeit von Beruf und Familie zu ersetzen. Das Familiensplitting nach französischem Modell könnte dabei nur im Übergang hin zu einem ausreichenden Maßnahmenpaket zur Vereinbarkeit von Beruf und Familie empfohlen werden. Da eine zweimalige Umstellung im Steuersystem aber nicht vorstellbar ist, sollte direkt die Individualbesteuerung ins Auge gefasst werden. 4.2.2.2 Maßnahmen, die Opportunitätskosten senken 1. Ausbau stattlicher Kinderbetreuungsplätzen für alle Altersgruppen Dass der Ausbau staatlicher Kinderbetreuungsangebote die Fertilität steigern kann, ist theoretisch unumstritten. Auch nahezu alle im Kap.€ 3 dieses Buches 1╇ Schlapp S (2009) Kindertagesbetreuung in Thüringen. Thüringer Landesamt für Statistik. http:// www.tls.thueringen.de/analysen/Aufsatz-01a-2009.pdf.
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4 Handlungsempfehlungen
besprochenen empirischen Studien betonen die Bedeutung der Vereinbarkeit von Familie und Beruf durch institutionelle Kinderbetreuung für Kinder aller Altersgruppen – auch wenn ein statistischer Zusammenhang schwierig zu messen ist. Die Öffnungszeiten sollten sich dabei an den üblichen Arbeitsstunden orientieren. Wie (regionale) Beispiele aus Italien und die Erfahrung in Norwegen belegen, kann hierdurch sowohl eine höherer Fertilität als auch eine höherer Arbeitsmarktpartizipation der Frauen erreicht werden. Diese Aufgabe stellt Länder und insbesondere Kommunen vor große Finanzierungsschwierigkeiten, die zu hohen Gebühren für Kindergarten- und Krippenplätzen führen. Nach der Theorie sind aber gerade geringe Kosten für Betreuungsangebote, möglichst Gebührenfreiheit, zu empfehlen. Eine stärkere Unterstützung der Kommunen scheint hier wichtig zu sein. Darüber hinaus korrespondiert der Ausbau der Betreuungsangebote mit zwei anderen wichtigen Zielen unserer Gesellschaft: der höheren Chancengleichheit durch Frühförderung für Kinder und der Gleichstellung der Geschlechter. Beides trägt zudem zur Sicherung des gegenwärtigen und zukünftigen Fachkräftepotenzials und damit zum Wohlstand heute und in der Zukunft bei. 2. Weitere Förderung betrieblicher Betreuungsangebote für alle Altersstufen Vom Ausbau der Kinderbetreuungsplätze profitieren über die höhere Erwerbsbeteiligung der Frauen auch die Arbeitgeber. So wie Unternehmen in der Zeit der industriellen Revolution um die knappen Fachkräfte mit der Einführung einer betrieblichen Alterssicherung warben, so wäre es heute zweckmäßig, dem im demografischen Wandel auftretenden Fachkräftemangel mit dem Angebot eigener Kinderbetreuungsplätze zu begegnen. Vorhandene EU-Fördermittel (aus dem 2008 eingeführten Programm „Betrieblich unterstützte Kinderbetreuung“) wurden jedoch nur zögerlich abgerufen. Man kann es als Zeichen dafür interpretieren, dass sich einerseits das Wissen um diese Zusammenhänge trotz entsprechender Werbemaßnahmen nur langsam verbreitet und zum anderen, dass die Lösung über den Import von Fachkräften für Unternehmen finanziell günstiger scheint. Das vorausschauende Verhalten der Politik und ihr langer Atem bei der Unterstützung von Unternehmen in dieser Frage sind daher unabdingbar. 3. Hohe Qualitätsstandards institutioneller Kinderbetreuung und Kommunikation dieser Qualität nach außen Theoretische Arbeiten lassen den Schluss zu, dass sich eine hohe Qualität angebotener Kinderbetreuungsmöglichkeiten positiv auf die Fertilität auswirkt. Die Entscheidung, ob vorschulische Kinderbetreuungsmöglichkeiten wahrgenommen werden oder nicht, liegt in Deutschland beim Haushalt. Deshalb ist es wichtig, erstens, eine hohe Qualität institutioneller Kinderbetreuung zu gewährleisten und zweitens, deren Wahrnehmung durch die Öffentlichkeit zu verbessern. Die Einführung von Qualitätsstandards wird auch für die Ausbildung zur Tagesmutter nachdrücklich empfohlen; die entsprechenden Plätze werden hoch subventioniert, für die Ausbildung zur Tagesmutter reicht unter Umständen aber auch ein Drei-Monateâ•‚Kurs ohne Vorbildungsanforderungen. 4. Förderung der Weiterbildung von Frauen während der Elternzeit Theoretische und empirische Arbeiten bestätigen, dass die hohen Opportunitätskosten der Kindererziehung auch durch den Verlust an Wissenszuwächsen
4.2 Politikempfehlungen
109
entstehen, die Frauen dadurch erfahren, dass sie geburtsbedingt und während der Elternzeit nicht am Erwerbsleben teilnehmen. Dementsprechend sind ihre Fähigkeiten bei Wiederaufnahme der Erwerbstätigkeit geringer, was zu Lohnund Positionseinbußen führt. Einem Teil dieser Einbußen könnte durch die gezielte Weiterbildung während der Auszeiten nach dem Muster bewährter Fernkurse entgegengewirkt werden. Eine Möglichkeit der Förderung wäre vielleicht, das vorgesehene Betreuungsgeld auch in Form von Gutscheinen für Weiterbildungsmaßnahmen des erziehenden Elternteils während der Elternzeit vorzusehen. Damit wären der Grundsatz der Gleichbehandlung der Eltern (siehe Punkt 3 weiter oben) mit jenem der Auszahlung des Betreuungsgeldes als Gutschein vereinbart. 5. Eine bessere Regulierung des Arbeitsmarktes kann potenziellen Eltern helfen, den richtigen Zeitpunkt für die Erstgeburt zu finden. Ökonometrische Studien für OECD Länder zeigen, dass die eigene Arbeitsplatzsicherheit und jene des Partners einen starken Einfluss auf die Fertilitätsentscheidung ausüben (siehe auch Punkt 2 weiter oben). Arbeitsplatzsicherheit kann dabei zwei Formen annehmen: jene der Arbeitsplatzsicherheit des öffentlichen Sektors oder jene einer hohen Wiedereinstiegschance in den Arbeitsmarkt nach einer Erwerbsunterbrechung, wie sie in hoch flexiblen Arbeitsmärkten gegeben ist. Hohe Arbeitslosigkeit in den fertilitätsrelevanten Altersgruppen hält hingegen von einem temporären Rückzug aus dem Arbeitsmarkt ab; auch ein hoher Anteil befristeter Arbeitsverträge insbesondere für Jüngere und eine geringe Teilzeitquote gehen mit einem Aufschub der Erstgeburt und einer deutlich geringeren Fertilität einher. 4.2.2.3 Maßnahmen, die auf die Präferenzen wirken 1. Verstetigung der Förderprogramme, Anerkennung für Leistungsträger und Verbreitung von Optimismus Demografische Prozesse entfalten ihre Wirkung nur langsam, dafür aber nachhaltig. Ersteres verleitet dazu, sie zu ignorieren, letzteres erfordert einen langen Atem bei dem Versuch, sie zu beeinflussen. Die Phase der Ignoranz ist in Deutschland auf der Ebene der Politik insofern überwunden, wie die notwendigen Informationen und das Wissen über die Bedeutung demografischer Prozesse für die Sicherung unseres Wohlstands vorhanden und grundsätzlich wahrgenommen werden. In der praktischen Umsetzung wird aber mit Blick auf bestimmte Wählergruppen immer wieder kurzfristigen Interessen der Vorrang gegeben. Auf der Ebene der Unternehmen setzen sich die Erkenntnisse über die Folgen des demografischen Wandels erst langsam durch. Auf der individuellen Ebene aber scheint es besonders schwer zu vermitteln, dass erstens, eine Arbeitsteilung in dem Sinne, dass einige Kinder bekommen und andere das Bruttoinlandsprodukt erwirtschaften, keine erfolgreiche Strategie ist und dass zweitens, ohne ausreichenden Nachwuchs der Wohlstand aller Voraussicht nach nicht gehalten werden kann. Daher ist die stetige Verbreitung von Wissen über die Konsequenzen niedriger Geburtenraten und die individuellen wie auch gesellschaftlichen Vorteile
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4 Handlungsempfehlungen
der Vereinbarung von Ausbildung, Beruf und Elternschaft weiter notwendig. Zu empfehlen sind daher auch primär Politikmaßnahmen, die ausbildungsund erwerbsorientierten Gruppen die Vereinbarkeit von Elternschaft und Beruf ermöglichen. Positive Nebeneffekte hiervon sind die Erhöhung der Chancengleichheit aller Kinder in der Gesellschaft und die Beförderung der Gleichstellung der Geschlechter. Die hohe gesellschaftliche Anerkennung von Elternschaft bleibt davon unberührt. In repräsentativen Befragungen wird in Deutschland als wichtigster Grund gegen (weitere) Kinder angegeben: „Ich mache mir zu viel Sorgen darüber, welche Zukunft meine Kinder erwartet.“ Dabei könnte man mit mehr Optimismus auch der Meinung sein, dass es uns in Deutschland eigentlich ganz gut und im weltweiten Vergleich geradezu außergewöhnlich gut geht. Es ist sehr erfreulich, dass manche Politiker dafür die passenden Worte finden. Wären es mehr, könnte man sich manche Fertilitätsprogramme vielleicht auch sparen.
Kapitel 5
Standardisierte Länderprofile
5.1 Fertilität und sozioökonomische Rahmenbedingungen Die demografische Entwicklung und insbesondere die Veränderungen der Fertilitätsmuster verliefen nicht einheitlich. Zwar sind in ganz Europa im Zuge der Industrialisierung die Geburtenziffern gesunken, aber in der jüngeren Geschichte, dem in den Länderprofilen betrachteten Zeitraum ab 1970, haben verschiedene Länder sehr unterschiedliche Erfahrungen gemacht. Der Anspruch für die rein deskriptiven Darstellungen – und damit auch Ansatzpunkt für die Auswahl der Länder – ist dabei nicht die möglichst breite Darstellung dieser Unterschiede, sondern ihrer Verbindung zu den differierenden sozioökonomischen Rahmenbedingungen. So sind in unserer Länderauswahl neben Deutschland jeweils ein Typ der oft angewandten Klassifikation der Wohlfahrtsstaaten nach Esping-Andersen (1990) zu finden, aber auch jeweils ein Vertreter der Kategorien von Familienpolitik nach Gauthier (1996). Die Reihenfolge der Länderprofile ist alphabetisch, mit Ausnahme des deutschen Profils, das den Schlusspunkt setzt. Die einzelnen Länderprofile starten mit der Einordnung des Staates in die genannten Klassifikationen. Anschließend wird die Bevölkerungsentwicklung nachgezeichnet, insbesondere auch der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter. Erst danach erfolgt eine Fertilitätsanalyse, wobei neben Veränderungen in den Geburtenziffern und im Alter bei Geburt und Heirat auch auf sozioökonomische Unterschiede in der Kinderzahl und Surveys zum Kinderwunsch eingegangen wird. Sozioökonomische Rahmenbedingungen werden danach anhand der staatlichen Leistungen an Eltern und der Vereinbarkeit von Beruf und Familie betrachtet. Am Schluss jedes Profils wird für das jeweilige Land ein Fazit gezogen, in dem auch auf Erfahrungen eingegangen wird, die für Deutschland lehrreich sein könnten. Damit die Fülle der dargestellten Zahlen den Leser nicht langweilt, wird die Erfassbarkeit der Ergebnisse durch zahlreiche Abbildungen unterstützt.
T. Tivig et al., Wohlstand ohne Kinder?, DOI 10.1007/978-3-642-14983-2_5, ©Â€Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
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5 Standardisierte Länderprofile
5.1.1 Länderprofil Frankreich Frankreich ist nach Esping-Andersen (1990) ein konservativer Wohlfahrtsstaat, der durch traditionelle Familienformen, verbunden mit staatlicher Unterstützung, gekennzeichnet ist. Bereits im späten 18. Jahrhundert begann der Rückgang der Fertilität (TFR) in Frankreich, was die lange Tradition der bevölkerungspolitischen Ausrichtung des Staates erklärt. So hat Frankreich als erstes Land die Einführung einer Familienpolitik schon vor dem 20. Jahrhundert vorangetrieben, welche eine zentrale Rolle einnahm (Frejka und Sardon 2004). Gauthier (1996) klassifiziert Frankreichs Familienpolitik, die einem eigenen Ministerium zugeordnet ist, als profamilial und pronatalistisch. In Frankreich gibt es zwischen den Regionen relativ bedeutsame Fertilitätsunterschiede von bis zu 0,42 Kindern pro Frau (s. Abb.€5.1).
5.1.1.1 Bevölkerungsentwicklung Frankreich verzeichnete zwischen 1970 und 2008 ein Bevölkerungswachstum von fast 22€%. Die jährliche Wachstumsrate war stets positiv, schwankte jedoch zwischen 0,31€% und 0,97€%. Die Bevölkerungszahl stieg in diesem Zeitraum von 50,5 auf 61,5€Mio. an. In allen Altersgruppen fanden in dieser Zeit Veränderungen statt. Auffällig ist der starke Rückgang des Bevölkerungsanteils von unter 25-Jährigen bei gleichzeitiger Zunahme jenes der 50- bis 60-Jährigen und über 70-Jährigen (s. Abb.€5.2). Frankreich hat weltweit einen der höchsten Anteile über 100-Jähriger an der Bevölkerung, zumeist Frauen.
Abb. 5.1↜渀 TFR nach Regionen in Frankreich
5.1 Fertilität und sozioökonomische Rahmenbedingungen
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Abb. 5.2↜渀 Altersstruktur in Frankreich
Die Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter von 15 bis 64 Jahren (s. Abb.€ 5.3) wuchs zwischen 1970 und 2007 um insgesamt 28€% und damit stärker als die Gesamtbevölkerung. Der Anteil der Erwerbsfähigen an der Gesamtbevölkerung stieg von 61€% im Jahr 1970 auf 65€% im Jahr 1985 an; in der Nachfolgezeit blieb der Wert unverändert. Frankreich erfreute sich von 1970 bis 1985 einer deutlichen Ersten Demografischen Dividende. Die Erwerbsbevölkerung ab 25 Jahren wird 2030 verglichen mit 1970 größer sein. Nur der „Nachwuchs“ im Alter von 15 bis 24 Jahren wird sich verringern. Das Durchschnittsalter der Bevölkerung stieg zwischen 1970 und 2007 von 34,8 auf 39,8 Jahre an. Die Alterung der erwerbsfähigen Bevölkerung belief sich hingegen nur auf zwei Jahre. Bis 2030 wird sich der Unterschied im Durchschnittsalter von Gesamtbevölkerung und Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter umgekehrt haben: Lag ersteres 1970 noch um drei Jahre unter letzterem, so wird die Erwerbsbevölkerung 2030 um
Abb. 5.3↜渀 Erwerbsbevölkerung in Frankreich
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5 Standardisierte Länderprofile
Abb. 5.4↜渀 Durchschnittsalter in Frankreich
3,4 Jahre jünger als die Gesamtbevölkerung sein (s. Abb.€5.4). Frankreich gehört im EU-weiten Vergleich im gesamten Zeitraum zu den jüngeren Nationen. Der Jugendquotient nahm von 1970 bis 2007 stark ab. Er fiel in diesem Zeitraum von 40 auf 28 und wird bis 2030 etwa auf dem Niveau von 2007 verbleiben (s. Abb.€5.5). Der Altenquotient hingegen steigt über den gesamten Zeitraum, erst schwach und dann stärker. Er hat sich zwischen 1970 und 2007 leicht von 21 auf 25 erhöht. Bis 2030 wird er sich mit einem Wert von 41 im Vergleich zu 1970 nahezu verdoppelt haben. Der Gesamtquotient beschreibt als Verhältnis der Jungen und Alten zu den Erwerbsfähigen die von letzteren pro Kopf finanziell zu Unterstützenden. Er nahm zwischen 1970 und 2007 von 61 auf 53 ab. Allerdings wird er zukünftig wieder ansteigen und 2030 merklich über dem Niveau von 1970 liegen: 100 Personen im Alter von 15 bis 64 Jahren werden dann für 68 jüngere und ältere Personen aufkommen müssen. Diese Berechnung ist insofern recht optimistisch, wie die 15-
Abb. 5.5↜渀 Unterstützungsquotienten in Frankreich
5.1 Fertilität und sozioökonomische Rahmenbedingungen
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bis 20-Jährigen häufig ebenfalls noch einer finanziellen Unterstützung bedürfen. Werden die Quotienten auf die 20- bis 64-jährige Erwerbsbevölkerung bezogen, so steigt der Gesamtquotient für 2007 auf 70. Im Jahr 2030 liegt sein Wert bei 86 statt 68.
5.1.1.2 Fertilitätsanalyse Geburtenziffern Die zusammengefasste Geburtenziffer (Total Fertility Rate, TFR) sank nach 1970 von 2,48 mit einigen Schwankungen auf 1,98 Kinder je Frau im Jahr 2008 – ein für Industrieländer sehr hoher Wert (s. Abb.€5.6). Ähnlich wie in Norwegen war das Bestanderhaltungsniveau dabei Mitte der 1970er Jahre unterschritten worden. Ihren Tiefpunkt erfuhr die Fertilitätsentwicklung mit 1,66 Kindern je Frau in den Jahren 1993 und 1994, also zehn Jahre später als in Norwegen. Im Jahr 2005 erreichte nur die geburtenärmste Region Korsika dieses Niveau. Die verschobene Kohortenfertilität CFR, bei der das mittlere Alter der Mutter bei Geburt Berücksichtigung findet, verlief weitaus stabiler und ging zunächst zwischen 1970 und 1980 von 2,26 auf 2,12 Kinder je Frau zurück. Seit Mitte der 1980er Jahre erfolgte ein weiterer Rückgang auf 2,0 Kinder je Frau im Jahr 1994 (Frejka und Sardon 2004). Die verschobene CFR verläuft, wie in anderen Industrieländern, auf einem höheren Niveau als die TFR. Das gilt auch für die tempostandardisierte Geburtenziffer, die unter Berücksichtigung der Veränderung des durchschnittlichen Gebäralters der Mütter ermittelt wird. Die TFR unterschätzt die durchschnittliche Kinderzahl je Frau bei Tempoeffekten durch aufgeschobene Geburten.
Abb. 5.6↜渀 Geburtenziffern in Frankreich
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5 Standardisierte Länderprofile
Abb. 5.7↜渀 Geburts- und Heiratsalter in Frankreich
Alter bei Geburt und Heirat Bereits 1946 begann ein Rückgang des durchschnittlichen Gebäralters der Frauen, von 28 auf 27 Jahre Mitte der 1970er Jahre (s. Abb.€5.7). Verursacht wurde dies durch einen Rückgang der Geburten höherer Paritäten bei gleichzeitiger Senkung des Erstgebäralters. Nach dem Babyboom zwischen 1966 und 1974 stieg das Gebäralter seit 1977 für alle Paritäten weiter an (Toulemon et€al. 2008). Auch das Erstheiratsalter erhöhte sich ab 1975, sowohl für Frauen als auch für Männer. Allein im Zeitraum 1994 bis 2006 stieg es um jeweils 2,6 auf 29,3 Jahre für Frauen und 31,3 Jahre für Männer (INSEE). Dabei nehmen die Heiratszahlen seit den 1970er Jahren auch in Frankreich ab. Mitte der 1980er Jahre begann nur eine von 10 Beziehungen direkt mit der Ehe, die anderen mit Kohabitation. Daher nahm die Anzahl der Frauen und Männer, die in Beziehungen leben, weit weniger stark ab, als es der Rückgang der Heiratszahlen vermuten lässt. Dass das Alter bei Erstgeburt ab Mitte der 1990er Jahre unter dem Erstheiratsalter liegt, hängt mit der gestiegenen Zahl an unehelichen Geburten zusammen (Toulemon et€al. 2008); im Jahr 2006 lag ihr Anteil erstmals bei mehr als 50€% (Pla 2008). Sozioökonomische Unterschiede in der Kinderzahl Die Erhöhung des Gebäralters sowie die Zunahme von alternativen Lebensformen führten in Frankreich nicht zu einer erhöhten Kinderlosigkeit. Frauen der Geburtskohorten 1935–1955 blieben lediglich zu 10€% bis 11€% kinderlos (s. Abb.€5.8). Die Familiengröße hat sich seit den 1930er Kohorten weg von der Großfamilie mit vier Kindern hin zur 2-Kind-Familie entwickelt. Einen Beitrag hierzu leisteten auch der Zugang zu medizinischen Verhütungsmitteln ab 1967, deren Kosten seit 1974 die Krankenversicherungen übernahmen, sowie die Legalisierung der Abtreibung im Jahr 1975 (UN 2001; Toulemon et€al. 2008); seit 2001 kann die Abtreibungspille
5.1 Fertilität und sozioökonomische Rahmenbedingungen
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Abb. 5.8↜渀 Kinderzahl nach Kohorten in Frankreich
RU 486 auch Minderjährigen verschrieben werden. Beratungsstellen (Planning familial) wurden bereits 1956 aufgebaut, mit dem Ziel der selbstbestimmten Fruchtbarkeit und damit der Gleichheit zwischen den Geschlechtern (Le Monde 2009). Eine Besonderheit in Frankreich ist der fast konstante Anteil von Frauen mit drei Kindern. Er beträgt ein Fünftel und liegt damit deutlich über dem mit nur einem. Das könnte an den zahlreichen monetären und anderen Vergünstigungen liegen, die erst ab dem dritten Kind greifen (Köppen et€al. 2007). Kinderlosigkeit und Kinderzahl differieren auch in Frankreich nach Bevölkerungsgruppen. Ausländerinnen hatten mit 3,3 Kindern je Frau im Jahr 2004 eine deutlich höhere Fertilitätsrate als französische Frauen mit 1,8 Kindern, tragen aber durch ihren geringen Anteil an der Bevölkerung im gebärfähigen Alter nur mit 0,1 Kindern zur TFR bei (Héran und Pison 2007). Die Kinderzahl unterscheidet sich ferner nach dem Ausbildungsgrad; bei den Frauen stärker als bei den Männern. So weisen Frauen der geringsten Ausbildungsstufe die meisten Kinder auf (s. Abb.€5.9). Bei einem Vergleich der Kinderzahlen
Abb. 5.9↜渀 Fertilität nach Bildung der Mutter in Frankreich
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5 Standardisierte Länderprofile
von mittel- und hochqualifizierten Frauen der Kohorten 1940–1944 und 1955–1959 zeigt sich, dass sich diese einander annähern (Toulemon et€al. 2008). Die Kinderlosigkeit ist bei Hochausgebildeten am höchsten und verläuft ab der 1957–1961er Kohorte steigend. Bis zur Kohorte 1962–1966 waren es, anders als bei den Frauen, die niedrig ausgebildeten Männer, die kinderlos blieben (Köppen et€al. 2007). Dieser Unterschied ist so interpretierbar, dass für viele Frauen die eigene hohe Ausbildung auf Kosten der Fertilität ging, während niedrig ausgebildete Männer ein geringes Einkommenspotential haben und sich damit nur bedingt als Ernährer profilieren können, was ihre Kinderzahl senkt. Surveys Befragungen auf Basis des Eurobarometers haben ergeben, dass die ideale durchschnittliche Kinderzahl der Frauen im EU-weiten Vergleich in Frankreich bei Jüngeren höher als bei Älteren ist. So sehen Männer unter 24 Jahren 2,5 Kinder und über 55 Jahren 2,47 Kinder als ideal an. Bei den Frauen der entsprechenden Altersgruppen verhält es sich ebenso, bei den unter 24-Jährigen werden 2,67 und bei den über 55-Jährigen 2,47 Kinder gewünscht. Außerdem empfinden Männer generell weniger Kinder als ideal. Ihre persönlich ideale Kinderzahl beläuft sich auf 2,4 und die der Frauen auf 2,49 Kinder (Testa 2006). Die World Values Surveys enthalten Fragen zu Abtreibungen. Antworteten 1981 64,3€% der Frauen, sie seien gegen Abtreibungen, wenn die Frau nicht verheiratet ist, so waren es 1999 nur noch 31,9€%. Wird von Ehepaaren kein Kind mehr gewünscht, befürworten 1999 62€% der Franzosen Abtreibungen (WVS 2009).
5.1.1.3 Sozioökonomische Rahmenbedingungen Staatliche Leistungen an Eltern Frankreich lag 2005 im internationalen Vergleich der staatlichen Ausgaben für Familien mit 3,8€ % des BIP auf Platz 1 der OECD- Länder (OECD 2009a). Dies ist im Einklang mit der langen Tradition der Familienpolitik in Frankreich, wobei im Unterschied zu den meisten anderen Ländern die steuerlichen Erleichterungen neben den Geld- und Dienstleistungen relativ hoch bemessen sind. Mutterschutz und Elternzeit╇ Im Jahr 1928 wurde für erwerbstätige Mütter im öffentlichen Sektor erstmals Mutterschutz eingeführt. Heute haben Frauen das Recht auf 16 Wochen Mutterschutz bei 100€ % Lohnfortzahlung, die sich auf 6 Wochen vor und 10 Wochen nach der Geburt aufteilen. Ab dem dritten Kind, bei Mehrlingsgeburten oder gesundheitlichen Problemen erfolgt eine Verlängerung auf 26 Wochen. Seit 2002 können Männer 14 Tage, anstatt zuvor 3 Tage, Vaterschaftsurlaub beantragen (Letablier 2003). Im Anschluss an den Mutter- bzw. Vaterschutz ist seit 1985 eine Elternzeit möglich. Sie beläuft sich auf ein Jahr, kann aber bis
5.1 Fertilität und sozioökonomische Rahmenbedingungen
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zu zweimal verlängert werden; maximal jedoch bis zum dritten Geburtstag des zu betreuenden Kindes. Ein weiteres Jahr Verlängerung ist im Falle einer Erkrankung oder Behinderung des Kindes gestattet (Letablier 2003). Elterngeld╇ Das Elterngeld ist nicht wie in den nordischen Ländern als Lohnersatz gedacht, sondern erfolgt als fixe Beihilfe. Die Elternzeit wird nicht generell vergütet, sondern je nach Verlauf der Erwerbstätigkeit, dem Familienstand und Einkommen können monetäre Hilfen beantragt werden. Sie werden hauptsächlich durch Mütter beantragt (Letablier 2003). Seit 1978 wurde das Elterngeld wiederholt zu Gunsten von Familien mit drei oder mehr Kindern, sowie Kindern unter drei Jahren reformiert. Jedoch wurden ab 1994 auch Zwei-Kind-Familien und ab 2004 EinKind-Familien berücksichtigt. Diese Reformen haben Breton und Prioux (2005) zur Untersuchung des Einflusses auf den Übergang zwischen den Paritäten vor und nach den Reformen bewegt. Die 1978 erfolgte Erhöhung der Zuschüsse für Familien mit 3 und mehr Kindern hat die Drittgeburtenrate positiv beeinflusst: Von 1978 bis 1981 stieg die Übergangsrate vom 2. zum 3. Kind um 12 Prozentpunkte. Von 1981 bis 1985 reduzierte die neue Regierung die zuvor eingeführten Zahlungen und die Progressionsraten sanken. Ein erneuter Anstieg fand 1985 nach Einführung des Erziehungsgeldes (allocation parentale d’education, APE) statt. Ab den 1990er Jahren, als die Ausweitung auf das zweite Kind stattfand, ging dieser wieder zurück. Der Übergang vom ersten zum zweiten Kind wurde dann jedoch positiv beeinflusst. Kinderbetreuungsgeld╇ Das APE wurde mittlerweile durch das „Prestation d’accueil du jeune enfant“ (PAJE), den Kleinkinderleistungen, ersetzt, gültig für Geburten ab dem 01.01.2004. Bestandteile dieser finanziellen Unterstützung sind eine einmalige Geburtsprämie von 868€€ im 7. Schwangerschaftsmonat und eine monatliche Kinderbeihilfe in Höhe von 173€€ von der Geburt bis zum dritten Geburtstag des Kindes. Berechtigt sind nur Eltern, die nachweisen, dass sie allen verpflichtenden Vorsorgeuntersuchungen nachgekommen sind. Beide Unterstützungen sind einkommensbezogen. Die Einkommensgrenze lag 2008 bei 32.328€€ für ein Kind und bei 42.722€€ für Alleinerziehende oder wenn Vater und Mutter arbeiten. Ein weiterer Bestandteil des PAJE ist eine nicht einkommensabhängige Erziehungsbeihilfe, bei der zur Wahl steht, die Berufstätigkeit aufzugeben oder sie in Teilzeit weiterzuführen. Hat die Familie kein Anrecht auf die Kinderbeihilfe, wird ihre Erziehungsbeihilfe um diese 173€€ erhöht. Mütter eines ersten Kindes sind nur für die ersten sechs Monate zum Bezug von Erziehungsbeihilfe berechtigt. Seit 2006 können Eltern von zwei oder mehr Kindern zwischen der einjährigen Variante bei vollständiger Aufgabe der Erwerbstätigkeit und einem Satz von 770€€ oder der dreijährigen Variante bei 538€€ wählen. Voraussetzung für den Antragsteller ist, dass beim ersten Kind beide vorangegangenen Jahre gearbeitet wurde, beim zweiten Kind zwei der letzten vier und beim dritten Kind 2 der letzten fünf Jahre. Der vierte Bestandteil des PAJE ist die Mitfinanzierung einer Kinderbetreuung für Kinder bis zu 6 Jahren durch eine anerkannte Tagesmutter zu Hause oder bei der Tagesmutter. Finanziert werden in Abhängigkeit vom Haushaltseinkommen und dem Alter des Kindes, ein Teil des Lohnes der Tagesmutter sowie ihre Sozialabgaben (CLEISS 2008; Toulemon et€al. 2008). Zusätzlich steht schwangeren
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5 Standardisierte Länderprofile
Frauen ohne Partner und Kindern ein Mindesteinkommen in Höhe von 566€€ monatlich zu. Für Alleinerziehende mit einem Kind beläuft es sich auf 755€€ monatlich und zusätzlich 188€€ für jedes weitere Kind. Auch kinderreiche Familien mit drei oder mehr Kindern erhalten besondere Unterstützung, die jedoch nicht mit der Kinderbeihilfe kombinierbar ist. Sie beläuft sich auf 157€€ monatlich, ist allerdings einkommensabhängig und kommt daher nur 80€% der Familien zugute (CLEISS 2008). Familien mit Kindern im schulpflichtigen Alter erhalten Unterstützung in Höhe von 268€€ pro Kind. Dabei handelt es sich um eine einkommensabhängige, jährliche Zahlung, die 50€% der Familien ausschließt (Toulemon et€al. 2008). Das Beispiel Frankreich zeigt, dass Länder mit einem größeren Anteil an Geburten der Parität drei und höher (in Frankreich: 23,6€%), eine insgesamt höhere Fertilität erzielen können als Länder wie Italien, in denen dieser Anteil bei nur 12,6€% liegt (Breton und Prioux 2005). Die Ausgestaltung der pronatalistischen Familienpolitik orientiert sich seit den Reformen der Jahre 1994 und 2004 neben der weiteren Bevorzugung kinderreicher Familien immer stärker auch in Richtung Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Indirekte Maßnahmen sollen insbesondere das Zusammenspiel von Mutterschaft und Erwerbstätigkeit unterstützen und damit der sich ändernden Rolle der Frau in der Gesellschaft Rechnung tragen (Letablier 2003). Staatliche Kinderbetreuung╇ Die Kinderbetreuung der unter 3-Jährigen wird zu 64€% von den Eltern, die staatliche Unterstützung erhalten, zu 18€% von lizensierten Kinderbetreuern (assistantes maternelles), zu 8€% von Kinderkrippen (créches) und zu 4€% von Großeltern übernommen. Die Eltern tragen zu 27€% die Kosten der lizensierten Kinderbetreuung, der Rest wird von den Departements und Familienkassen finanziert. Ab einem Alter von drei Jahren steht dem Kind rechtlich ein Platz in der Vorschule (école maternelle) zu, wobei in manchen Regionen bereits 2-jährige Kinder akzeptiert werden. So betrug die Quote der betreuten 2-Jährigen 2001–2002 35€% und die der 3- bis 5-Jährigen 100€% (OECD 2004). Diese Form der Kinderbetreuung ist staatlich geregelt. Sie wird als Teil des Schulsystems betrachtet und ist daher kostenfrei. Daneben gibt es Kindergärten (jardins d’enfants) für 3- bis 6-Jährige, jedoch mit variierenden Öffnungszeiten und Kostenbeteiligungen durch die Eltern. Für die Betreuung außerhalb der regulären Schulzeit stehen Freizeitzentren (garderie) zur Verfügung (OECD 2006). Rentenpunkte╇ Elternteile mit Altersrente, die mindestens drei Kinder vor deren 16. Geburtstag jeweils neun Jahre lang betreut haben, erhalten 10€% mehr Rente (CLEISS 2008). Kindergeld╇ Familien mit drei oder mehr Kindern erhielten seit 1946 rund 50€% mehr Kindergeld als Familien mit 2 Kindern. Der Höhepunkt wurde von 1979 bis 1980 unter der Präsidentschaft Giscard d’Estaings erreicht, als der Unterschied auf 83€% anstieg (Breton und Prioux 2005). Kindergeldberechtigt sind Eltern abhängiger, bis 20 Jahre alter Kinder, die 2008 ab dem zweiten Kind 121€€ Kindergeld pro Monat, ab dem dritten 276€€ und für weitere Kinder je 155€€ zusätzlich erhalten. Das Kindergeld ist altersgestaffelt: es wird zum 11. Lebensjahr um 34€€ und ab dem 16. Lebensjahr um 61€€ aufgestockt (CLEISS 2008).
5.1 Fertilität und sozioökonomische Rahmenbedingungen
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Steuererleichterungen╇ Die Besteuerung verläuft seit 1945 nach dem Familiensplitting, dem sog. „quotient familial“ (Thévenon 2008). Jedes Elternteil zählt als eine Einheit, Kinder als halbe; Familien mit drei oder mehr Kindern erhalten eine halbe Einheit zusätzlich, bei Alleinerziehenden zählt das erste Kind als ganze Einheit. Das Einkommen des Haushaltes wird durch die Anzahl der Einheiten dividiert und die Steuerlast auf dieses Ergebnis bezogen, was kinderreiche Familien entlastet (Letablier 2003).
Vereinbarkeit von Beruf und Familie Frauenerwerbstätigkeit╇ Die Frauenerwerbstätigkeit in Frankreich ist im Vergleich aller OECD-Länder durchschnittlich und hat sich seit den 1970er Jahren immer weiter jener der Männer angenähert. Im Jahr 1970 lagen der Geschlechterunterschied noch bei 36 Prozentpunkten und die Frauenbeschäftigungsquote bei 46€% (s. Abb.€5.10). Bis zum Jahr 2007 glichen sich die Geschlechterunterschiede in der Beschäftigung aufgrund gegenläufiger Trends bis auf 9 Prozentpunkte an. Dabei lag der Anteil erwerbstätiger Frauen im Jahr 2007 bei 59€%. Die Erwerbslosigkeit der Frauen war stets höher als jene der Männer, 1982 vier Prozentpunkte. Die Quoten haben sich im Zeitablauf etwas angenähert; so betrug die Erwerbslosenquote 2007 für Männer 7,8€% und jene der Frauen 8,9€%. Der OECD-Durchschnitt der Frauenerwerbslosigkeit lag mit 5,9€% jedoch niedriger (OECD 2009b). Mütter mit einem Kind unter 16 Jahren waren 2007 zu 77€ % berufstätig (s. Abb.€5.11). Bei zwei Kindern gingen noch 71€% der Frauen einer Erwerbstätigkeit nach, bei drei und mehr Kindern nur noch 50€%. Kinderlose Frauen waren zu 76€% beschäftigt. Damit weist Frankreich die zweithöchsten Beschäftigungsquoten für Mütter unter allen im Rahmen dieser Studie untersuchten Ländern auf. Einzig Norwegen hat höhere Werte, mit 83€% besonders bei Müttern mit zwei Kindern unter 16 Jahren (UNECE 2009).
Abb. 5.10↜渀 Arbeitsmarkt in Frankreich
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5 Standardisierte Länderprofile
Abb. 5.11↜渀 Beschäftigungsquoten von Frauen in Frankreich
Weitere Regelungen╇ Erziehungsberechtigte erhalten für die Pflege eines kranken Kindes unbezahlten Urlaub. Ist ein Kind unter 16 Jahren ernsthaft erkrankt, erhält ein Arbeitnehmer, der mindestens ein Jahr für denselben Arbeitgeber gearbeitet hat, das Recht auf bezahlte Freistellung oder Halbtagsarbeit. Das Gesetz zur Reduzierung der Arbeitszeit von 39 auf 35 Stunden pro Woche von 1998 und 2000 verbesserte das Zusammenspiel der Kinderbetreuung und Erwerbstätigkeit. Eltern gaben an, die gewonnene Zeit zu nutzen, um sich verstärkt mit ihren Kindern zu beschäftigen. Auch Väter scheinen mehr Zeit mit ihren Kindern zu verbringen (Letablier 2003). Zu beachten ist, dass der zeitliche Zugewinn von der Einstellung des Unternehmens abhängt. Die einheitliche Kürzung der Arbeitszeit hat nicht in allen Branchen die gleichen Folgen (Fagnani und Letablier 2004). 5.1.1.4 Fazit Die französische Familienpolitik ist in langer Tradition erfolgreich gewesen, die Fertilitätsraten der letzten Jahrzehnte über den Durchschnitt der Industrieländer zu halten. Dabei fällt ihre breite und ausgewogene Fächerung auf, die direkte Finanzhilfen und indirekte Hilfen in der Kinderbetreuung ebenso wie Steuererleichterungen vorsieht. Der Schwerpunkt liegt in der Stärkung kinderreicher und sozial benachteiligter Familien. Der Anteil der Geburten eines dritten Kindes der Kohorte von 1955 beträgt in Frankreich 22€% und damit 9 Prozentpunkte mehr als in Westdeutschland. Kinderreiche Familien haben ein positives Ansehen und werden nicht nur staatlich sondern auch gesellschaftlich unterstützt. Symptomatisch ist, dass der Besitz eines „famille nombreuse“-Ausweises, der Familien mit mindestens drei Kindern Vergünstigungen im Alltag gewährt, als Auszeichnung verstanden und nicht etwa als „Karnickelpass“ herabgesetzt wird, wie das in Deutschland mit der familienfreundlichen Regelung der Bundesbahn im Volksmund geschah. Die pronatalistische Ausrichtung der Familienpolitik wird insbesondere durch das Steuermodell des Familiensplittings unterstrichen. Durch die veränderte Stel-
5.1 Fertilität und sozioökonomische Rahmenbedingungen
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lung der Frau in der Gesellschaft hat sich jedoch auch die Familienpolitik vom lange verfolgten männlichen Ernährermodell immer weiter weg bewegt. Heute sieht sie ihre Aufgabe zunehmend in der Integration der Mütter in den Arbeitsmarkt und der Herstellung von Chancengleichheit beider Geschlechter (Letablier 2003). Dazu gehört, dass die Kinderbetreuung in Frankreich als eine Aufgabe des Staates gesehen wird und daher ab einem Alter von 2 bis 3 Jahren kostenlos ist. Ferner fällt darunter die Reform zur Reduzierung der Arbeitszeit, die Neugestaltung des Kleinkindergeldes 2004 und die steigende Quote der 2-Jährigen in „écoles maternelles“. Im Global Gender Gap Report 2008 konnte sich Frankreich von Platz 51 im Jahr 2007 auf Platz 15 verbessern. Die Gründe liegen in der gestiegenen politischen Partizipation der Frauen im Parlament und auf Ministerebene (Hausmann et€al. 2008).
5.1.2 Länderprofil Großbritannien Großbritannien lässt sich der Gruppe der liberalen Wohlfahrtsstaaten zuordnen (Esping-Andersen 1990). Diese zeichnet sich dadurch aus, dass eine positive, unterstützende Einstellung gegenüber Familien vorherrscht, von staatlicher Seite jedoch so wenig wie möglich in das familien- und sozialpolitische Geschehen eingegriffen wird (Steidle 2007). Ein eigenständiges Ministerium für Kinder, Schule und Familie wurde erst 2007 gegründet (DfCSF 2009). Gauthier (1996) definiert Großbritanniens Familienpolitik als pro-familial, nicht-interventionistisch und sie ist daher eindeutig als nicht pronatalistisch einzuordnen (Sigle-Rushton 2008). Die regionalen Fertilitätsunterschiede waren im Jahr 2006 mit bis zu 1,54 Kindern pro Frau die höchsten der hier betrachteten Länder (s. Abb.€5.12).
Abb. 5.12↜渀 TFR nach Regionen in Großbritannien
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5 Standardisierte Länderprofile
5.1.2.1 Bevölkerungsentwicklung Großbritannien wies zwischen 1970 und 2008 ein Bevölkerungswachstum von insgesamt 10€% auf, wobei die jährlichen Veränderungsraten zwischen −0,04€% und 0,65€% schwankten. Die Bevölkerungszahl wuchs in diesem Zeitraum von 55,5 auf 60,9€Mio. an. Die Nettomigration in Großbritannien ist positiv, wird aber zwischen 2008 und 2030 um 21€% sinken (Eurostat). Die Zahl der unter 25-Jährigen schrumpfte zwischen 1970 und 2007 um 12€%, jene der unter 10-Jährigen sogar um ein Viertel (s. Abb.€5.13). Zudem ging, anders als in den meisten Industrieländern, der Bevölkerungsanteil der 60- bis 70-jährigen Frauen zurück. An Stärke gewannen die 30- bis 45-Jährigen, die über 65-jährigen Männer und über 70-jährigen Frauen. Die Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter von 15 bis 64 Jahren (s. Abb.€5.14) wuchs zwischen 1970 und 2007 um insgesamt 15€% und nahm damit stärker als die Gesamtbevölkerung zu. In der Folge stieg der Anteil der Erwerbsfähigen an der Gesamtbevölkerung von 63€% im Jahr 1970 auf 66€% im Jahr 2007 an. Großbritannien erfreute sich demnach einer Ersten Demografischen Dividende, die es in Zukunft allerdings nicht mehr erzielen wird. Ab 2009 fällt der Anteil der Erwerbsfähigen und beträgt im Jahr 2030 voraussichtlich nur noch 61€%. Die Zahl der 55- bis 64-Jährigen nimmt stark zu und wird 2030 in etwa jener der Altersgruppen 25 bis 34 und 45 bis 54 Jahre entsprechen. Von 1970 bis 2007 stieg das Durchschnittsalter der gesamten Bevölkerung von 35,9 auf 39,7 Jahre an. Die erwerbsfähige Bevölkerung erlebte im selben Zeitraum nur einen leichten Altersanstieg von 39,1 auf 39,5 Jahre. Dieser setzt sich bis 2030 fort; das Durchschnittsalter der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter wird dann 40,8 Jahre betragen (s. Abb.€5.15) und die Bevölkerung Großbritanniens im EUVergleich weiterhin relativ jung sein. Der Jugendquotient nahm zwischen 1970 und 2007 von 37 auf 27 ab, d.€h. auf 100 Personen im erwerbsfähigen Alter (15 bis 64 Jahre) kamen im Jahr 2007 27
Abb. 5.13↜渀 Altersstruktur in Großbritannien
5.1 Fertilität und sozioökonomische Rahmenbedingungen
125
Abb. 5.14↜渀 Erwerbsbevölkerung in Großbritannien
Abb. 5.15↜渀 Durchschnittsalter in Großbritannien
unter 15-Jährige. Bis 2030 wird der Jugendquotient in etwa auf diesem Niveau verbleiben (s. Abb.€5.16). Der Altenquotient steigt hingegen im gesamten Betrachtungszeitraum und wird mit 37 im Jahr 2030 den Wert von 21 aus dem Jahr 1970 weit übersteigen. Die Gesamtbelastung der erwerbsfähigen Bevölkerung sank damit zwischen 1970 und 2007 von 58 auf 51 und wird sich bis 2015 nur leicht erhöhen. Im Jahr 2030 werden 100 Erwerbsfähige allerdings für die Unterstützung von 63 älteren und jüngeren Menschen aufkommen müssen. Was diese Berechnung sehr optimistisch erscheinen lässt, ist die Tatsache, dass viele 15- bis 20-Jährige finanzieller Unterstützung bedürfen. Werden stattdessen nur die 20- bis 64-Jährigen als Erwerbsfähige zur Berechnung der Quotienten herangezogen, steigt der Gesamtquotient im Jahr 2007 von 51 auf 68. Im Jahr 2030 wird der Gesamtquotient statt 63 den Wert 79 ausweisen. Dann werden 79 ältere und jüngere Menschen von 100 Personen der erwerbsfähigen Bevölkerung zu unterstützen sein.
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5 Standardisierte Länderprofile
Abb. 5.16↜渀 Unterstützungsquotienten in Großbritannien
5.1.2.2 Fertilitätsanalyse Geburtenziffern Die zusammengefasste Geburtenziffer (TFR) belief sich im Jahr 1970 auf 2,43 Kinder je Frau. Danach sank sie bis 1977 auf 1,68, stabilisierte sich aber in den 1980ern auf einem Niveau von 1,8 Kindern je Frau. Nach einem vorübergehenden Rückgang auf 1,63 im Jahr 2001, erreicht die TFR 2008 mit 1,96 Kindern den höchsten Wert seit 1980 (Europarat 2005; Eurostat; UK Statistics; s. Abb.€5.17). Im regionalen Vergleich lag die TFR 2006 in Schottland mit 1,67 weit unter dem landesweiten Durchschnitt von 1,84, insbesondere in den Städten; Nordirland wies mit 1,94 eine hohe Fertilität auf. Die verschobene Kohortenfertilität (CFR) berücksichtigt das mittlere Alter der Mütter bei Geburt und bewegte sich zwischen 1970 und 1973 über dem Bestander-
Abb. 5.17↜渀 Geburtenziffern in Großbritannien
5.1 Fertilität und sozioökonomische Rahmenbedingungen
127
haltungsniveau, sank dann aber mit Beginn der 1990er Jahre auf nur noch etwa 1,9 Kinder je Frau (Frejka und Sardon 2004). Rechnet man die Wirkungen von Veränderungen im Gebäralter der Mütter aus der TFR heraus, gelangt man zur tempostandardisierten TFR. Diese verlief in Großbritannien zwischen 1985 und 2000, wie auch die verschobene CFR, stets über dem Niveau der TFR. In der Periode 2003–2005 betrug die tempostandardisierte TFR 1,98 Kinder pro Frau.
Alter bei Geburt und Heirat Das durchschnittliche Alter der Mutter bei Erstgeburt stieg in Großbritannien seit 1971 kontinuierlich von 23,7 auf 26,9 Jahre im Jahr 2003 an (s. Abb.€5.18). Dieser Trend zeigt sich auch bezogen auf alle Geburten: das Durchschnittsalter der Mütter erhöhte sich bis auf 28,8 Jahre im Jahr 2003 (Europarat 2005). In den 1980er Jahren und bis 2001 fiel die Fertilität in der Gruppe der 20- bis 29-jährigen Frauen, während sie sich in jener der 30- bis 39-Jährigen erhöhte. Seit 2002 ist jedoch ein Wiederanstieg der Fertilität von Frauen der jüngeren Kohorte zu erkennen, ohne Klarheit über die Dauer dieses Trends (Dunnell 2007). Die Fertilität Jugendlicher weist die höchsten Werte in Westeuropa auf, obwohl sie in den letzten Jahren leicht rückläufig ist (BMJ 2007). Das Erstheiratsalter der Frauen ist zwischen 1970 und 2001 von 22,4 auf 27,7 Jahre angestiegen (Europarat 2005). Geburten außerhalb der Ehe spielen eine immer größere Rolle: Von 1970 bis 2006 erhöhte sich ihr Anteil von 8€% auf 43€% (Eurostat). Das spiegelt sich auch in der Entwicklung der Erstgebär- und Erstheiratsalter wider: Das Erstgebäralter lag zwischen 1971 und 1992 noch bis zu 1,9 Jahre über dem Erstheiratsalter, 2002 aber 1,2 Jahre darunter.
Abb. 5.18↜渀 Geburts- und Heiratsalter in Großbritannien
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5 Standardisierte Länderprofile
Abb. 5.19↜渀 Kinderzahl nach Kohorten in Großbritannien
Sozioökonomische Unterschiede in der Kinderzahl Die realisierte Kinderzahl der 1935 bis 1955 geborenen Frauen hat sich in England und Wales deutlich verändert. Der Anteil von Frauen mit zwei Kindern nahm insgesamt stark zu, wie auch der von Kinderlosen (s. Abb.€5.19). Im Jahrgang 1935 hatten noch 89€% der Frauen mindestens ein Kind, 1955 geborene Frauen nur noch zu 83€%. Großfamilien verloren an Bedeutung; der Anteil von Familien mit vier und mehr Kindern fiel in den Kohorten 1935–1955 von 20€% auf 11€% (Frejka und Sardon 2004). Im Jahr 2006 waren 21€% der Geburten von Müttern mit Migrationshintergrund. Die TFR betrug für in Großbritannien geborene Frauen 1,7, für Immigrantinnen 2,5 Kinder je Frau (Dunnell 2007). Die Entwicklung des Erstgebäralters vollzog sich auch in Großbritannien im Zusammenhang mit der zunehmenden Ausbildungsdauer und Erwerbsorientierung von Frauen. Das durchschnittliche Erstgebäralter lag 1950 für hoch ausgebildete Frauen bei 26,5 Jahren und damit keine zwei Jahre über jenem der niedrig Ausgebildeten; bis 1990 hatte sich dieser Abstand allerdings auf 5 Jahre erhöht. Vor allem der überproportionale Anstieg im Erstgebäralter seit den 1970er Jahren (in denen auch in Großbritannien eine Bildungsexpansion stattfand) deutet darauf hin, dass sich Frauen verstärkt auf Ausbildung und Berufsplanung konzentrieren, bevor die Familiengründung in Betracht gezogen wird (Gustafsson et€al. 2001). Die realisierte Fertilität hochqualifizierter Frauen der Kohorten 1954–1958 lag unter jener der Niedrigqualifizierten; der entsprechende Unterschied in der Kinderzahl weitete sich zwischen den Kohorten 1950 und 1965 von 0,4 auf 0,6 Kinder aus (s. Abb.€5.20). Zwar bekommen hochausgebildete Frauen ihr zweites Kind in kürzerem Abstand, was aber die Verzögerung der Erstgeburt nicht kompensieren kann. Hochausgebildete Frauen der Kohorte 1945 bekamen zu 60€% und in der von 1975 noch zu 20€% Kinder vor dem 30. Geburtstag. Zudem blieben sie häufiger kinderlos (Ratcliff und Smith 2006).
5.1 Fertilität und sozioökonomische Rahmenbedingungen
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Abb. 5.20↜渀 Fertilität nach Bildung der Mutter in Großbritannien
In England, Schottland und Wales gilt ein Abtreibungsgesetz von 1964; in Nordirland sind Abtreibungen nur dann legal, wenn Frauen schwangerschaftsbedingt schwere psychische Probleme bekommen. Seit 1991 wird auch in Großbritannien, als zweitem Land nach Frankreich, die Abtreibungspille RU 486 legal eingesetzt, allerdings unter strengen Auflagen (UN 2002).
Surveys Die Befragungen des Eurobarometers (2006) zeigen, dass die allgemeine ideale Kinderzahl der britischen Frauen und Männer über alle Altersstufen hinweg betrachtet mit 2,42 Kindern identisch ist (Testa 2006). Die im Durchschnitt persönlich als ideal empfundene Kinderzahl der Frauen aller Altersstufen liegt mit 2,52 Kindern höher, die der Männer dagegen mit 2,34 Kindern darunter. Werden die Geburtskohorten von 1947–1961 und 1962–1976 im Vergleich betrachtet, ist die gewünschte Kinderzahl der älteren Kohorten bei den Frauen höher und bei den Männern niedriger als bei den jüngeren Kohorten. Wird schließlich die persönliche ideale Kinderzahl der Geburtskohorten von 1947 bis 1961 von 2,44 Kindern je Frau mit ihren tatsächlich im Durchschnitt realisierten Geburten verglichen, liegt die CFR mit 1,96 bis 2,14 Kindern je Frau stets deutlich niedriger. Die World Values Surveys erlauben in verschiedenen Wellen (1981, 1990, 1999) einen Vergleich der Einstellung von Männern und Frauen bezüglich Abtreibungen. Im Jahr 1999 waren rund 56€% der Frauen und 48€% der Männer gegen Abtreibungen bei verheirateten Frauen, wenn das Paar keine Kinder mehr anstrebte; 1991 waren es noch 8,2 bzw. 12,7 Prozentpunkte mehr gewesen. Ferner unterstützten im Vergleich der Jahre 1999 mit 1981 immer mehr Frauen und Männer Abtreibungen bei unverheirateten Frauen; hier stiegen die Zustimmungswerte bei den Frauen von 34€% im Jahr 1981 auf 49€% im Jahr 1999. Bei den Männern stieg die Zustimmung dazu im gleichen Zeitraum von 30€% auf 53€% (WVS 2009).
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5 Standardisierte Länderprofile
5.1.2.3 Sozioökonomische Rahmenbedingungen Staatliche Leistungen an Eltern Großbritannien gab 2005 fast 3,6€ % seines BIP für monetäre, institutionelle und steuerliche Unterstützung der Familie aus und befand sich damit über dem OECDDurchschnitt von 2,3€% des BIP. Geldleistungen stellten mit mehr als 2,2€% den größten Teil der Zuwendungen dar. Dienstleistungen spielen eine kleine Rolle, Steuerbegünstigungen zur Unterstützung der Familien sind kaum verbreitet (OECD 2009a). Trotz der hohen Ausgaben ist Kinderarmut im europäischen Vergleich in Großbritannien, neben Italien, am höchsten. Seit 1998/1999 ist jedoch ein Rückgang der Kinderarmut von damals 25€% auf aktuell unter 15€% zu beobachten. Mutterschutz und Elternzeit╇ In Großbritannien wurde der Mutterschutz erst in den 1990er Jahren, in Umsetzung einer europäischen Richtlinie, für alle Frauen eingeführt. Zuvor gab es ihn (seit den 1970er Jahren) nur für Frauen, die mehr als 2 Jahre für den gleichen Arbeitgeber gearbeitet hatten bzw. bei Teilzeitstellen mehr als 5 Jahre; dies schloss einen Großteil der Frauen aus (Sigle-Rushton 2008). 2003 wurde dieser auf 26 Wochen ausgeweitet, wobei eine Arbeitsplatzgarantie gegeben ist. Im Jahr 2006 erfolgte eine erneute Ausweitung auf 52 Wochen, wovon 39 Wochen bezahlt sind. Voraussetzung ist, dass 26 aufeinander folgende Wochen bei mindestens 100€€ Bruttowochenlohn für den gleichen Arbeitgeber gearbeitet wurde. Väter können nach der Geburt bis zu 2 Wochen bezahlten Vaterschaftsurlaub beanspruchen (The Clearinghouse 2008). Seit 1999 gibt es darüber hinaus (und ebenfalls infolge einer EU-Direktive) eine Elternzeit von 13 Wochen pro Elternteil und Kind. Von diesen können bis zum Alter des Kindes von 5 Jahren maximal 4 Wochen pro Kalenderjahr in Anspruch genommen werden. Voraussetzung dafür ist, mindestens ein Jahr lang für den gleichen Arbeitgeber gearbeitet zu haben (DfCSF 2009). Elterngeld╇ Die Vergütung während des Mutterschutzes beläuft sich in den ersten 6 Wochen auf 90€% des durchschnittlichen Wochenlohnes. Für die restlichen 33 Wochen erfolgt die Zahlung in Form einer Standardrate von 130€€ pro Woche. Wer die Voraussetzungen für den Mutterschutz nicht erfüllt, erhält 39 Wochen lang Unterstützung durch eine Beihilfe von 130€€. Die Elternzeit ist in Großbritannien im Vergleich zu anderen europäischen Ländern relativ kurz. Zudem ist die Elternzeit unbezahlt, was ihre Inanspruchnahme vor allem für höher verdienende Mütter uninteressant werden lässt; ihre einzige Attraktivität liegt in der Arbeitsplatzsicherheit (Sigle-Rushton 2008). Der Arbeitgeber kann den Mutter- oder Vaterschutz für seine Mitarbeiter über den gesetzlichen Rahmen hinaus ausweiten. So gewährten 2004 84€% der öffentlichen Arbeitgeber vollbezahlten Mutter- bzw. Vaterschutz. Im privaten Sektor waren es nur 51€% der Unternehmen, die vollbezahlten Mutterschutz gewährten. Der Mutterschutz hatte eine durchschnittliche Länge von 16 vollbezahlten Wochen, der Vaterschutz durchschnittlich 8 vollbezahlte Tage (Kersley et€al. 2005). Bis zum Jahr 2010 sollte eine bezahlte Elternzeit von 12 Monaten eingeführt werden (OECD 2006), bis jetzt ist dies noch nicht geschehen.
5.1 Fertilität und sozioökonomische Rahmenbedingungen
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Kinderbetreuungsgeld╇ In Großbritannien gibt es kein eigentliches Kinderbetreuungsgeld wie in Frankreich oder Norwegen. Unterstützung erhalten besonders arme und sozial schwache Familien sowie Familien pflegebedürftiger Kinder. In den letzten Jahren wurden jedoch einige neue Reformen durchgesetzt. Ab 2009 werden schwangere Frauen einkommensunabhängig und steuerfrei einmalig 210€€ erhalten. Voraussetzung ist der Nachweis einer Gesundheitsunterweisung durch eine Hebamme oder einen Arzt. Kinder, die ab 2002 geboren wurden, erhalten eine Gutschrift zur Einrichtung eines Kontos (Child Trust Fund). Bei Geburt steuert der Staat 277€€ zu; für sozial schwache Familien den doppelten Betrag. Eine erneute Einzahlung der gleichen Summe erfolgt am 7. Geburtstag des Kindes; Eltern dürfen zusätzlich bis zu 1.330€€ jährlich einzahlen. Das Konto bleibt bis zum 18. Geburtstag des Kindes gesperrt. Einkommens- und sozial schwache Frauen erhalten ferner eine Einmalzahlung von 554€€ bei der Geburt eines jeden Kindes. Außerdem können sie während der Schwangerschaft sowie bis zum 4. Geburtstag des Kindes Gutscheine für Obst, Gemüse, Babymilch und Vitamine beziehen (DfCSF 2009). Staatliche Kinderbetreuung╇ In den letzten Jahren hat Großbritannien die Kinderbetreuung immer weiter ausgebaut. 2006 wurde der erste Gesetzestext verabschiedet, der speziell auf die Kleinkindererziehung und -förderung ausgerichtet ist. Ab dem 3. Geburtstag eines Kindes bis zur Einschulung mit 5 Jahren wird eine kostenlose Betreuung von 12,5 Stunden pro Woche angeboten. Sie wurde 2007 auf 15 Stunden ausgedehnt und soll 2010 20 Stunden umfassen. Der Prozentsatz der unter 3-Jährigen, die institutionell betreut werden, lag 2006 bei etwa 28€% (Europäische Kommission 2008). Zwischen 1970/1971 und 2005/2006 hat sich der Prozentsatz der 3- bis 4-Jährigen, die die Vorschule besuchten, von 20€% auf 64€% verdreifacht. 2005 und 2006 besuchten zudem 35€% der 3- bis 4- Jährigen andere Betreuungseinrichtungen wie beispielsweise Spielzentren. Dabei ist der Anteil der in Vorschulen betreuten Kinder in Nordengland größer als in Südengland; im Süden beträgt er bei den 3- bis 4-Jährigen 42€%, im Norden sind es mit 84€% doppelt so viele (UK Statistics). Kindergeld╇ Das Kindergeld wird ab dem ersten Kind bis zum 16. Lebensjahr gezahlt bzw. bis zum Alter 19 verlängert, falls sich das Kind in einer Ausbildung befindet. Dabei erhält eine Familie mit einem Kind 22€€ pro Woche, für jedes weitere Kind gibt es zusätzlich 14€€ pro Woche. Das Ende der 1970er Jahre eingeführte Kindergeld ist die einzige direkte familienpolitische Maßnahme, die es in Großbritannien bereits vor den 1990er Jahren gab. Im Jahr 1979 machte es 79€% der Unterstützung für Familien aus, 2003 nur noch 42€%. Die Konzentration auf das Kindergeld als Familienunterstützung nahm weiter ab; Steuerbegünstigungen spielen eine größere Rolle (Adam und Brewer 2004). Steuererleichterungen╇ Die Besteuerung verläuft in Großbritannien nach dem Individualprinzip; weder Ehepartner noch Kinder werden berücksichtigt. Es gibt jedoch die Möglichkeit der „Child Tax Credits“; 9 von 10 Familien sind Bezieher dieser staatlichen Steuergutschrift. Ihre Höhe ist von der Anzahl der betreuten Kinder, der Arbeitszeit der Eltern, der Betreuungsart der Kinder, einer möglichen
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5 Standardisierte Länderprofile
Behinderung sowie dem Einkommen der Eltern abhängig. Beispielsweise erhält ein Paar mit 3 Kindern, das zusammen 27.699€€ im Jahr verdient, 61€€ Steuergutschrift pro Woche (HM Revenue & Customs 2009). Rentenpunkte╇ Um eine volle Basisrente zu erhalten, müssen Frauen derzeit 39 Jahre Sozialversicherungsbeiträge gezahlt haben, ab 2010 nur noch 30 Jahre. Die Zeit, in der Kindergeld für unter 16-Jährige bezogen wurde, wird angerechnet, darf die Beitragszeit aber nicht auf unter 20 Jahre reduzieren (DirectGov 2009).
Vereinbarkeit von Beruf und Familie Frauenerwerbstätigkeit╇ In Großbritannien hat die Frauenerwerbstätigkeit seit den 1980er Jahren stark zugenommen. Die Beschäftigungsquote stieg von 55€% im Jahr 1984 auf 66€% in 2007. Der Unterschied zur Quote der Männer hat sich bis zum Jahr 2006 fast halbiert (s. Abb.€5.21), betrug aber immer noch 12 Prozentpunkte (OECD 2009b). Die Erwerbslosenquote der Männer und Frauen verlief seit 1982 stark schwankend. Nach einem deutlichen Rückgang bei beiden Geschlechtern bis Anfang der 1990er Jahre, stieg die Erwerbslosigkeit speziell der Männer bis 1993 kurzfristig stark an, fiel aber bis 2007 auf 5,6€ %, den niedrigsten Stand seit mindestens 20 Jahren. Während des gesamten Betrachtungszeitraumes lag die Erwerbslosenquote der Frauen unter jener der Männer. Mit 5€% befand sie sich 2007 unter dem OECDDurchschnitt von 5,9€% (OECD 2009b). Die Beschäftigungsquote von kinderlosen Frauen lag 2006 bei 85€ % (s. Abb.€5.22). Im gleichen Zeitraum waren Mütter mit einem Kind unter 16 Jahren zu 75€% erwerbstätig, während jene mit zwei Kindern zu 69€% und mit drei und mehr Kindern nur noch zu 47€% einer beruflichen Tätigkeit nachgingen (UNECE 2009).
Abb. 5.21↜渀 Arbeitsmarkt in Großbritannien
5.1 Fertilität und sozioökonomische Rahmenbedingungen
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Abb. 5.22↜渀 Beschäftigungsquoten von Frauen in Großbritannien
Alleinerziehende Mütter waren 2004 zu 55€ % berufstätig. Das bedeutet zwar eine Steigerung gegenüber den 44€% im Jahr 1996, ist aber immer noch die niedrigste Beschäftigungsquote für Alleinerziehende neben den Niederlanden. Weitere Regelungen╇ Werdende Mütter erhalten bezahlten Urlaub für Geburtsvorbereitungen, zu denen auch Arzttermine oder Seminare zählen. Während der Schwangerschaft ist die Frau gegen Diskriminierung am Arbeitsplatz geschützt. Nach der Elternzeit hat sie das Recht auf den gleichen oder einen gleichwertigen Arbeitsplatz (DirectGov 2009). Zudem kann sie flexible Arbeitszeiten vorschlagen, wenn das von ihr betreute Kind unter 6 Jahre alt ist. Den meisten dieser Anträge wird vom Arbeitgeber stattgegeben. Frauen bemühen sich besonders um eine Reduzierung ihrer Arbeitszeit. Obwohl die Frauenbeschäftigungsquoten in den letzten Jahren gestiegen sind, können Frauen Familie und Arbeit oft nur durch die Annahme von Teilzeitarbeit vereinbaren; zudem oftmals erst nachdem die Kinder ins schulpflichtige Alter kommen (Sigle-Rushton 2008).
5.1.2.4 Fazit Die Fertilitätsentwicklung verlief in Großbritannien in den letzten Jahren sehr stabil und auf einem für Europa hohen Niveau, obwohl demografische und soziale Veränderungen stattfanden und die institutionelle staatliche Unterstützung bis heute gering ausfällt. Vor 1997 war sie jedoch noch geringer ausgeprägt, was die liberale, individualistische Einstellung Großbritanniens gegenüber Familie und Sozialem unterstrich (Sigle-Rushton 2008). Doch auch wenn die laissez-faire Strategie für Großbritannien hinsichtlich der Fertilitätshöhe funktioniert zu haben scheint, ist die Kinderarmut hoch. Erst in den letzten Jahren gibt es eine zunehmende Unterstützung von Familien mit Kleinkindern durch Betreuungsangebote und finanzielle Hilfen. Dabei soll insbesondere Alleinerziehenden geholfen, Kinder in Problembe-
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5 Standardisierte Länderprofile
zirken gefördert und Kinderarmut stärker bekämpft werden. Tatsächlich zeigen sich positive Entwicklungen, die Kinderarmut sank und die Erwerbstätigkeit von Frauen stieg in den letzten Jahren ohne starken Rückgang der Fertilitätsraten an. Einen Beitrag zur Stabilität der Fertilitätsraten erbrachten insbesondere niedrig ausgebildete Frauen und Frauen unter 30 Jahren, deren Fertilitätsneigung sich im Vergleich zu anderen Ländern nicht oder nur sehr schwach änderte. Der Zusammenhang zwischen Fertilität und dem Ausbildungsniveau oder der Berufsgruppe der Mütter ist in Großbritannien stärker ausgeprägt als z.€B. in Frankreich. Da es schwierig ist, Beruf und Familie zu vereinbaren, bleiben besser ausgebildete Frauen eher kinderlos oder gründen nur kleine Familien. Die Regierung müsste daher die ökonomischen Kosten der Fertilität für alle Familien in den Mittelpunkt stellen, ansonsten könnte in den nächsten Jahren ein Rückgang der Fertilität erfolgen (Sigle-Rushton 2008). Die traditionelle Verteilung der Arbeitsrollen zwischen Mann und Frau blieb in Großbritannien insofern erhalten, wie Frauen verstärkt geringer bezahlter Teilzeitarbeit nachgehen. Folgerichtig stellt der Global Gender Gap Report daher Einkommensunterschiede (neben der geringen Politikbeteiligung der Frauen) als verbesserungswürdige Bereiche fest. Umso mehr erstaunt dann zunächst, dass Großbritannien im Bericht auf Platz 13 ist – verglichen etwa mit Platz 15 für Frankreich. Im Bereich Bildung und Gesundheitsversorgung für die Frauen schneidet Großbritannien aber sehr gut ab (Hausmann et€al. 2008).
5.1.3 Länderprofil Italien Italien gehört nach Esping-Andersen (1990) zu den konservativen Wohlfahrtsstaaten; Gauthier (1996) beschreibt die Familienpolitik als protraditionalistisch. Obwohl Traditionen und Familie eine ausgeprägte Wertschätzung erfahren, spielt der Staat bei der Unterstützung der Familie eine geringe Rolle. Die Verantwortung für Kinderbetreuung und soziale Absicherung ist traditionell Sache des Familienverbundes (Flaquer 2000) – eine Eigenschaft, die nach Flaquer und Leibfried (1993) südeuropäische Wohlfahrtsstaaten kennzeichnet. Es gibt wenig explizite Familienpolitik, die dem Ministerium für Gleichberechtigung zugeordnet ist (Schönau 2006). In Italien sind die regionalen Unterschiede in der Fertilität mit bis zu 0,48 Kindern pro Frau auf ähnlichem Niveau wie in Frankreich (s. Abb.€5.23).
5.1.3.1 Bevölkerungsentwicklung Italien verzeichnete von 1970 bis 2007 ein Bevölkerungswachstum von insgesamt 10€%; die Bevölkerungszahl stieg von 53,7 auf 59,1€Mio. an. Die jährlichen Wachstumsraten schwankten zwischen −1,8€ % und 1,0€ %. Seit 1993 ist die natürliche Bevölkerungsentwicklung (mit Ausnahme der Jahre 2004 und 2006) negativ und
5.1 Fertilität und sozioökonomische Rahmenbedingungen
135
Abb. 5.23↜渀 TFR nach Regionen in Italien
Migration spielt eine zunehmend bedeutende Rolle; von 2004 bis 2007 z.€B. lagen die tatsächlichen Immigrationszahlen weit über den Eurostat-Prognosen von 2004. Die Altersstruktur der Bevölkerung erfuhr 1970 bis 2007 extreme Veränderungen. Die Zahl der unter 20-Jährigen sank um ein Drittel, während alle anderen Altersgruppen an Stärke gewannen (s. Abb.€5.24). Das Wachstum der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter von 15 bis 64 Jahren (s. Abb.€ 5.25) belief sich zwischen 1970 und 2007 auf 12€ % und lag somit über dem Wachstum der Gesamtbevölkerung. Der Anteil der Erwerbsbevölkerung an der Gesamtbevölkerung machte 1970 rund 65€% aus, erreichte 1992 mit 69€% seinen maximalen Wert und betrug 2007 noch 66€%. Italien konnte zwischen den Jahren 1977 und 1992 von einer Ersten Demografische Dividende profitieren.
Abb. 5.24↜渀 Altersstruktur in Italien
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5 Standardisierte Länderprofile
Abb. 5.25↜渀 Erwerbsbevölkerung in Italien
Die Betrachtung der Erwerbsbevölkerung zwischen 1970 und 2030 nach Altersgruppen ergibt einen deutlichen Anstieg der Anzahl 55- bis 64-Jähriger. Nach dem „Durchaltern“ starker Kohorten sinkt die Größe aller anderen Altersgruppen rasch. Während die Gruppe der 45- bis 54-Jährigen dabei bis 2030 in etwa auf ihren 2007er Wert kommt, wird die Anzahl Jüngerer unter ihr gegenwärtiges Niveau fallen. Das Durchschnittsalter der Bevölkerung erhöhte sich von 1970 bis 2007 um 8,3 auf 42,8 Jahre. Das Alter der erwerbsfähigen Bevölkerung stieg ebenfalls, allerdings nur um 2,1 auf 40,5 Jahre. Bis 2030 wird sich der Unterschied im mittleren Alter der Gesamtbevölkerung verglichen mit der erwerbsfähigen Bevölkerung auf 5,1 Jahre ausweiten (s. Abb.€5.26). Die italienische Bevölkerung wird dann mit 47,8 Jahren die älteste Nation in der EU-27 sein. Der Jugendquotient schrumpfte bis 2007 auf fast die Hälfte des Wertes von 1970 und wird bis 2030 weiterhin leicht sinken. Dann werden einem Jugendlichen fünf Personen im Alter 15 bis 64 Jahren gegenüber stehen (s. Abb.€5.27). Der Altenquo-
Abb. 5.26↜渀 Durchschnittsalter in Italien
5.1 Fertilität und sozioökonomische Rahmenbedingungen
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Abb. 5.27↜渀 Unterstützungsquotienten in Italien
tient dagegen steigt über den gesamten Zeitraum von 1970 bis 2030 stark an; bis zum Jahr 2030 wird er auf mehr als das 2,5-fache zugenommen haben. Aufgrund der gegensätzlichen Entwicklung bei den Jungen und Alten lag der Gesamtquotient 2007 unter dem Niveau von 1970, das er erst 2015 wieder erreichen wird. Danach erfolgt ein deutlicher Anstieg, sodass im Jahr 2030 64 jüngere und ältere Personen durch 100 Personen im Alter von 15 bis 64 Jahren unterstützt werden müssen. Da 15- bis 20-Jährige häufig ebenfalls finanziell unterstützt werden müssen, ist diese Berechnung recht optimistisch. Werden stattdessen, wie durchaus üblich, die 20- bis 64- Jährigen zur Berechnung der Quotienten herangezogen, beläuft sich der Gesamtquotient bereits 2007 auf 64 und steigt bis 2030 auf 78. 5.1.3.2 Fertilitätsanalyse Geburtenziffern Zwischen 1964 und 1995 nahm die zusammengefasste Geburtenziffer (TFR) um 56€% ab, vor allem durch einen starken Rückgang bis Mitte der 1980er Jahre. Sobald die TFR unter 1,3 Kinder pro Frau sinkt, sprechen Demografen von „lowestlow fertility“, was in Italien von 1993 bis 2003 der Fall war. 1995 wurde mit 1,19 Kindern pro Frau der Tiefpunkt erreicht (Billari 2006); 2008 liegt die TFR allerdings wieder bei 1,41 (s. Abb.€5.28). Regional zeigt sich ein leichtes Nord-Süd-Gefälle in der Fertilität. Die verschobene Kohortenfertilität CFR macht den stetigen Rückgang der Fertilität in den einzelnen Geburtsjahrgängen seit 1970 deutlich. Zwischen 1970 und 1988 fiel sie von 2,14 auf 1,67. Das Bestanderhaltungsniveau von 2,1 Kindern je Frau wird seit 1972 nicht mehr erreicht. Die tempostandardisierte TFR approximiert die tatsächliche Geburtenentwicklung meist besser als die TFR. Eine Überschätzung der Fertilität, wie aufgrund vorgezogener Geburten im Babyboom der 1960er Jahre wird ebenso vermieden, wie
138
5 Standardisierte Länderprofile
Abb. 5.28↜渀 Geburtenziffern in Italien
die Unterschätzung ab Ende der 1970er Jahre, als Geburten hinausgezögert wurden. In der Periode 2003–2005 lag die tempostandardisierte TFR bei 1,48 Kindern je Frau und somit 0,15 über der TFR.
Alter bei Geburt und Heirat Das steigende Alter der Mutter bei Geburt kann auf das späte Verlassen des Elternhauses und das gestiegene Erstheiratsalter zurückgeführt werden. Letzteres erhöhte sich für Frauen zwischen 1970 und 2004 mit Schwankungen von 23,8 auf 29,5 Jahre (s. Abb.€5.29). Das durchschnittliche Alter bei Geburt verschob sich im Zeitraum bis 2005 von 28,3 auf 30,8 Jahre (ISTAT).
Abb. 5.29↜渀 Geburts- und Heiratsalter in Italien
5.1 Fertilität und sozioökonomische Rahmenbedingungen
139
Die Bedeutung des Erstheiratsalters für das Erstgebäralter kann in Italien an der noch geringen Zahl außerehelicher Geburten abgelesen werden: 1970 waren 2€% aller Lebendgeburten außerehelich, 2005 15€ % (Eurostat). Dies ist weit von den über 50€% an außerehelichen Geburten entfernt, die Norwegen 2006 verzeichnete. Männer heirateten 2004 mit durchschnittlich 32 Jahren und somit knapp drei Jahre später als Frauen. Männer der Geburtskohorte 1960 verließen ihr Elternhaus zu 35€% vor und zu 59€% im Zuge einer Heirat. Unter den Frauen waren es nur 19€%, die ihr Elternhaus vor und 72€%, die es mit der Heirat verlassen haben (Billari et€al. 2001). Als Grund hierfür wird neben der starken Bindung zu den Eltern die geringe staatliche Unterstützung junger Menschen genannt (Di Giulio und Rosina 2007). Sozioökonomische Unterschiede in der Kinderzahl Das Hinauszögern der Erstgeburt führt zum steigenden Risiko von Kinderlosigkeit. Norditalien weist seit der 1960er Kohorte eine höhere Kinderlosigkeit als Süditalien auf. Ein Grund für die in einigen Regionen steigende Zahl Kinderloser, aber auch für die starke Abnahme kinderreicher Familien liegt darin, dass Haushaltstätigkeiten fast ausschließlich den Frauen obliegt, selbst dann, wenn diese einer Vollzeitbeschäftigung nachgehen (Dalla Zuanna 2001). Ferner sind 25€ % der Väter von Kindern unter 5 Jahren in deren Betreuung eingebunden. Deshalb verlassen 60€% der Frauen und fast 20€% der Männer zwischen 40 und 44 Jahren ihren Beruf, um sich der Familie zu widmen (De Rose et€al. 2008). Zeitverwendungsstudien konnten außerdem zeigen, dass sich Frauen 5,3 und Männer knapp über 1,5 Stunden am Tag mit Hausarbeiten beschäftigen (Aliaga 2006). Beim Vergleich der Geburtskohorten von 1935 und 1955 hat die Zahl der Kinderlosen und Großfamilien abgenommen (s. Abb.€5.30). Am stärksten sank der Anteil von Frauen mit 4 und mehr Kindern von 17€% auf nur noch 5€%. Gleichzeitig nahm der Anteil der Mütter von 1 oder 2 Kindern kontinuierlich zu. Der Ausbildungsgrad spielt für die Kinderzahl, wie überall, eine Rolle. Die meisten Kinder hatten
Abb. 5.30↜渀 Kinderzahl nach Kohorten in Italien
140
5 Standardisierte Länderprofile
Abb. 5.31↜渀 Fertilität nach Bildung der Mutter in Italien
niedrig qualifizierte Frauen (s. Abb.€5.31). Die durchschnittliche Anzahl belief sich bei Frauen der Kohorte 1946–1950 auf 2,3 und bei der von 1951–1955 auf 2,1 Kinder. Die Frauen mit mittlerer Bildung aus der Kohorte 1946–1950 und 1951–1955 wiesen mit 1,8 und 1,7 relativ stabile Werte aus. Hochqualifizierte Frauen dieser Kohorten zeigten mit 1,5 bzw. 1,7 Kindern einen leicht gestiegenen Durchschnitt (UNECE 2000). Das Erstgebäralter von Frauen der Geburtskohorten 1946–1955 mit keiner oder nur geringer Qualifikation lag bei 23,2 Jahren und für mittel und hoch Ausgebildete bei 25,6 Jahren (Mencarini und Salvini 2002). Kirchlich verheiratete Mütter gehen schneller vom ersten zum zweiten Kind über. Sind Frauen erwerbstätig, vermindert sich die Wahrscheinlichkeit für eine kirchliche Ehe und einen schnellen Übergang zwischen den Geburten (Bernardi und Gabrielli 2006). Die aktive Familienplanung wurde durch die Legalisierung der Abtreibungen im Jahr 1978 erleichtert. In manchen Regionen Süditaliens jedoch verweigern aus religiösen Gründen über 90€% der Ärzte die Durchführung von Abtreibungen (UN 2001). Surveys Befragungen im Rahmen des Eurobarometers 2006 nach der persönlichen idealen Kinderzahl zeigen, dass zwischen der realisierten und der gewünschten Kinderzahl große Unterschiede bestehen. So wünschten sich, über alle Altersstufen hinweg betrachtet, Männer durchschnittlich 2,05 und Frauen 2,13 Kinder (Testa 2006); beides liegt weit über den TFR- Werten des Jahres 2006. Ein Vergleich mit der Befragung aus dem Jahr 2001 zeigt einen Rückgang der gewünschten Kinderzahl um 0,18 bei den Männern und 0,23 bei den Frauen. Abweichungen zwischen gewünschter und realisierter Kinderzahl können jedoch in der Art der Befragung begründet sein (Goldstein et€al. 2003). Der durchschnittliche Kinderwunsch, der innerhalb der Population Policy Acceptance Study (PPAS) 2002 von Frauen und Männern im Alter von 20 bis 40 Jah-
5.1 Fertilität und sozioökonomische Rahmenbedingungen
141
ren ermittelt wurde, betrug 1,92 respektive 1,86 Kinder (BIB 2005). Der Kinderwunsch aus der PPAS lag damit näher an der realisierten CFR, die seit den späten 1940er Kohorten unter 2 Kindern pro Frau liegt. Kinderlos bleiben wollten laut PPAS 7€% der Frauen und 9€% der Männer (BIB 2005). Die Wellen der World Values Surveys aus den Jahren 1981, 1990 und 1999 machen einen Vergleich der Einstellungen zwischen Männern und Frauen zu Abtreibungen möglich. Auf die Frage, ob Abtreibungen befürwortet werden, wenn keine Kinder mehr gewünscht sind, antworteten im Jahr 1981 72€% der Frauen und 68€% der Männer mit Nein. Bis zum Jahr 1999 stieg die Ablehnung bei Frauen um ein Prozentpunkt und sank bei Männern um drei. Abtreibungen wenn die Frau nicht verheiratet ist, werden 1999 von Frauen zu 66€% und von Männern zu 55€% abgelehnt. 1990 war die Ablehnung mit 79€% bei den Frauen und 75€% bei den Männern noch höher (WVS 2009). 5.1.3.3 Sozioökonomische Rahmenbedingungen Staatliche Leistungen an Eltern Italien liegt im internationalen Vergleich der staatlichen Ausgaben für Familien und Kinder mit unter 1,3€% des BIP in 2005 im hinteren Feld und weit unter dem OECD-Durchschnitt von 2,3€% (s. Abb.€5.32). Werden die europäischen OECDLänder betrachtet, schneidet nur Spanien schlechter ab. Geld- und Dienstleistungen sind zu etwa gleichen Teilen vorhanden, Steuerbegünstigungen spielen in Italien eine geringe Rolle (OECD 2009a). In Italien ist die Kinderarmut von unter 15€% Ende der 1980er auf nahezu 20€% Ende der 1990er Jahre angestiegen. Zum Vergleich: Norwegen schaffte es im selben Zeitraum, seine Kinderarmut von anfangs über 5€% zu halbieren (Chen und Corak 2005). Mutterschutz und Elternzeit╇ In Italien wurde der Mutterschutz erstmalig 1908 in Form eines einmonatigen Mutterschutzes für erwerbstätige Frauen mit Kindern eingeführt und stetig auf Mütter in der Agrarwirtschaft, Haushälterinnen und zuletzt Selbständige erweitert. Heute beträgt der Mutterschutz 5 Monate und ist verpflichtend. Er kann entweder für zwei Monate vor und drei Monate nach der Geburt, oder seit 2001 einen Monat vor und vier Monate nach der Geburt genommen werden. Die 1977 eingeführte Regelung einer 6-monatigen Elternzeit bis zum ersten Geburtstag des Kindes wurde 2001 auf 11 Monate erweitert. Nimmt der Vater mindestens drei Monate, erhält er einen Monat zusätzlich, jedoch maximal sieben Monate. Nimmt er diese voll wahr, erhält die Mutter nur noch bis zu vier anstelle der regulären sechs Monate. Nach der neuen Regelung kann die Elternzeit bis zum achten Geburtstag des Kindes in Anspruch genommen werden und soll auch Väter zur Elternzeit bewegen (Schröder 2005). Elterngeld╇ Während des Mutterschutzes wird 80€% des Lohnes fortgezahlt. Angestellte im öffentlichen Dienst erhalten 100€% Lohnfortzahlung, die je nach Tarif-
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vertrag auch Angestellten im privaten Sektor zufallen kann. Zur Hälfte wird das Elterngeld aus Arbeitgeberbeiträgen, zu 30€% vom Staat und zu 20€% von Beiträgen des Versicherten gezahlt. Während der Elternzeit kann Elterngeld in Höhe von 30€% des Lohneinkommens für maximal 6 Monate bezogen werden (Schröder 2005). Kinderbetreuungsgeld╇ Seit der Reform von 1999 erhalten Familien mit mindestens 3 Kindern unter 18 Jahren und niedrigem Einkommen finanzielle Unterstützung in Höhe von 103€€ monatlich (De Rose et€al. 2008). Diese finanziellen Beihilfen sind vor allem im Süden des Landes verbreitet, wo sie im Jahr 2000 von 64€% der berechtigten Familien bezogen wurden (Billari 2006). Haushalte, in denen ein Elternteil nicht erwerbsfähig ist, typischerweise die Mutter, erhalten 283€€ für 5 Monate. Diese Regelung wurde eingeführt, um Mütter zu unterstützen, die von den Zahlungen während des Mutterschutzes ausgeschlossen sind. Als Folge dieser Maßnahmen ließen sich ein Ansteigen der Wahrscheinlichkeit zum Übergang zu einem dritten Kind sowie eine Reduzierung der Schwangerschaftsabbrüche bei bezugsberechtigten Müttern mit zwei Kindern feststellen (Billari 2006). Staatliche Kinderbetreuung╇ Die staatliche Kinderbetreuung erfolgt für die 3- bis 6-Jährigen durch das Ministerium für Erziehung in sog. „scuole dell’infanzia“. Die drei Monate bis 2 Jahre alten Kinder werden in „nidi d’infanzia“ betreut, welche durch die Städte und Gemeinden bereitgestellt werden. Die Eltern müssen für die Kleinkinderbetreuung, abhängig von ihrem Einkommen, maximal 18€% der Kosten tragen. Die Betreuung der 3- bis 6-Jährigen ist im Gegensatz dazu kostenlos, lediglich Mahlzeiten und extra Aktivitäten werden berechnet (OECD 2007). Die Zahl der betreuten Kleinkinder ist im Vergleich zu den Kindergartenkindern sehr gering. So stieg die Bereitstellung an Plätzen zwischen 1992 und 2000 von 5,8€% auf 7,4€%. Die räumliche Verteilung ist unterschiedlich; im Norden Italiens werden häufiger Plätze angeboten als im Süden. Die Zahl der betreuten 3- bis 4-Jährigen ist mit 98€% sehr hoch, die 5- bis 6-Jährigen werden sogar zu 100€% betreut. Die Öffnungszeiten der „scuole dell’infanzia“ reichen von September bis Juni von 8:30 bis 16:30 Uhr; während der Sommermonate wird ein extra Programm angeboten. Daneben existieren Einrichtungen, die Betreuung und Erziehung für 0- bis 3-Jährige kombinieren: Zentren für Kinder und ihre Familien, Spielräume für Kinder von 18 bis 36 Monaten für maximal 5 Stunden am Tag und Erziehungszentren für Kleingruppen von Kindern unter 3 Jahren, entweder im Haus einer Familie oder im Haus des Erziehers. Als Vorzeigeregion gilt Emilia-Romagna, wo die Kinderbetreuung aller Altersstufen zu einem Erziehungssystem unter der Verantwortung der Region zusammengefasst ist (OECD 2007). Werden die Erwerbstätigkeit von Frauen und die Fertilität in den Regionen Italiens korreliert, so schneidet Emilia-Romagna mit der höchsten Arbeitsbeteiligung und der dritthöchsten Fertilität sehr gut ab (Del Boca et€al. 2004). Kindergeld╇ Das Kindergeld richtet sich seit 1999 nach dem Jahreseinkommen und nach der Anzahl der Kinder. Es gilt für Kinder bis 18 Jahren, bei Krankheit oder Behinderung der Kinder unbegrenzt. Eine Familie mit einem Kind und einem Ein-
5.1 Fertilität und sozioökonomische Rahmenbedingungen
143
kommen unter 12.712€ € erhält im Jahr 2008 137€ € Kindergeld monatlich; bei 2 Kindern sind es 258€€ und bei 3 Kindern 375€€ (INPS 2008). Steuererleichterungen╇ In Italien spielen in der Familienpolitik Steuererleichterungen nur eine geringe Rolle. Seit 1977 gilt die Einzelbesteuerung von Ehepartnern, wobei es zu einer Ungleichbehandlung von Allein- und Doppelverdienern kommt. Ist nur der Mann erwerbstätig, können größere Steuererleichterungen geltend gemacht werden. Das Alleinverdienermodell steht somit im Vordergrund (Schröder 2005). Rentenpunkte╇ Für die Rentenberechnung werden die Erziehungszeiten mit 170 Tagen pro Kind, das entspricht fast 6 Monaten, berücksichtigt (Schröder 2005). Nur 1€% der Frauen schafft es, 40 Jahre lang sozialversicherungspflichtig zu arbeiten, weshalb 76€% der Bezieher von Minimalpensionen Frauen sind (Santi 2007). Vereinbarkeit von Beruf und Familie Frauenerwerbstätigkeit╇ In Italien ist die Frauenerwerbstätigkeit im internationalen Vergleich sehr niedrig, auch wenn in den letzten Jahren der Abstand zu den Männern gesunken ist. Im Jahr 1970 war die Beschäftigungsquote der Frauen mit 27€% nur nahezu ein Drittel so hoch wie jene der Männer. 2007 lag sie mit 47€% weit unter dem OECD-Durchschnitt von 58€% (s. Abb. 5.32). Die Erwerbslosigkeit der Frauen ist in Italien höher als die der Männer. Eine leichte Annäherung an die Werte der Männer fand erst ab Ende der 1990er Jahre statt. Mit 7,9€% lag die Quote 2007 über dem OECD-Durchschnitt von 5,9€% (OECD 2009b). Dabei zeigt sich ein Nord-Süd-Gefälle des Landes. Laut Befragungen aus dem Jahr 1998 sind von den Frauen der Geburtskohorten 1941–1950 im Norden 20€% und im Süden 50€% nie einer bezahlten Beschäftigung nachgegangen (Kertzer et€al. 2008). Der stark regulierte Arbeitsmarkt produziert für Familien hohe indirekte Kosten der Fertilität. Junge Erwachsene finden aufgrund der strengen
Abb. 5.32↜渀 Arbeitsmarkt in Italien
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5 Standardisierte Länderprofile
Abb. 5.33↜渀 Beschäftigungsquoten von Frauen in Italien
Gesetze zu Entlassungen, der geringen Angebote an flexiblen Arbeitsarrangements und hohen Einstiegslöhnen schwer eine erste feste Arbeitsstelle. So leben sie länger in Abhängigkeit von ihrem Elternhaus (Del Boca et€al. 2004). Auch Mütter haben aufgrund der hohen Arbeitslosigkeit Schwierigkeiten, nach der Erziehungspause wieder in den Arbeitsmarkt einzutreten. Frauen mit einem Kind unter 16 Jahren gingen 2006 zu 60€ % einer Erwerbstätigkeit nach und mit zwei Kindern zu 53€% (s. Abb.€5.33). Mit drei oder mehr Kindern befinden sich die italienischen Mütter nur noch zu 40€% in Beschäftigung. Das entspricht in etwa dem Wert von deutschen Frauen, der sich auf 39€% belief. Kinderlose Frauen wiesen demgegenüber eine Beschäftigungsquote von 66€% auf (UNECE 2009). Darüber hinaus machen die geringen Möglichkeiten zur institutionellen Betreuung von unter 3-Jährigen bei Wiedereintritt der Frauen in den Arbeitsmarkt eine Betreuung durch das Familiennetzwerk unerlässlich (Del Boca et€al. 2004). Weitere Regelungen╇ Eine Regelung, die zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf beitragen soll, ist die Arbeitszeitreduzierung für Vollzeit erwerbstätige Mütter von 2 Stunden pro Tag im ersten Jahr nach der Geburt des Kindes. Zudem ist der Arbeitsplatz während des Mutterschutzes und der Elternzeit sicher. Bei Betreuung eines kranken Kindes besteht ebenfalls Arbeitsplatzsicherheit sowie eine Lohnfortzahlung in Höhe von 30€% (The Clearinghouse 2005).
5.1.3.4 Fazit Die italienische Sozialpolitik ist weit schwächer ausgeprägt als die skandinavische oder französische. Sie konzentriert sich erst in den letzten Jahren verstärkt auf Familien und damit eine explizite Familienpolitik. Die Notwendigkeit der Unterstützung in Form von direkten Leistungen, wie Kindergeld oder indirekten Leistungen, wie Kinderbetreuung, wurde erkannt, aber bislang nur teilweise umgesetzt. Hinderlich ist beispielsweise die Regelung der Kleinkinderbetreuung durch die Kommunen,
5.1 Fertilität und sozioökonomische Rahmenbedingungen
145
im Gegensatz zur zentral organisierten Betreuung der 3- bis 6-Jährige. Während Betreuungsangebote für Kinder im Alter ab 3 Jahren in ausreichendem Umfang vorhanden sind, fehlt es an Einrichtungen für die Kleinkinderbetreuung. Diese sind noch immer sehr selten und vor allem im Süden fast nicht vorhanden. Emilia-Romagna wird oft als Vorzeigeregion genannt, da sie es geschafft hat, die Betreuung der Kinder von 0–6 Jahren zusammengefasst zu regeln und auszubauen. Nicht zufällig gehören sowohl die Erwerbsquoten der Frauen als auch die Fertilitätsraten der Region zu den höchsten in Italien. Insgesamt schneidet der Norden bei vielen der hier untersuchten Aspekte besser ab. Die Frauen im Norden befinden sich häufiger in Erwerbstätigkeit. Sie leben öfter bereits vor der Heirat außerhalb des Elternhauses. Ihnen stehen mehr Kinderbetreuungsmöglichkeiten zur Verfügung und ihre Fertilität ist höher. Generell gilt jedoch, dass italienischen Frauen die Vereinbarkeit von Familie und Beruf immer noch stark erschwert wird. Die sozialen Normen entsprechen nach wie vor dem männlichen Ernährer-Modell. Die geringe staatliche Unterstützung für Mütter bietet keine ausreichende Absicherung, weder in finanzieller Hinsicht noch mit Blick auf das für die eigene Erwerbstätigkeit notwendige Zeitbudget. Es ist kein Wunder, dass die Fertilitätsraten in Italien gerade bei den erwerbsorientierten Frauen besonders niedrig sind. Nach der Geburt sind Frauen oft gezwungen, den Arbeitsmarkt zu verlassen (Schröder 2005). Die von der höheren Bildung und gestiegener Erwerbstätigkeit erlangte wirtschaftliche Unabhängigkeit wird durch die gesellschaftlichen Strukturen untergraben. Von Frauen wird erwartet, dass sie eine Doppelrolle einnehmen, die ohne weiterreichende, staatliche Unterstützung nicht gelingen kann. Am Beispiel Italien zeigt sich, dass eine Unterstützung junger Familien durch den Familienverbund allein weder die Erzielung einer höheren, gewünschten Fertilität noch die Vereinbarkeit für Frauen von Beruf und Familie und damit ihre Gleichstellung in der Gesellschaft gewährleisten kann. Der Global Gender Gap Report beurteilt die Stellung der Frau in den Bereichen Gesundheit und Wirtschaft als sehr ungünstig. Damit nimmt Italien den Rang 67 von den 128 untersuchten Ländern ein (Hausmann et€al. 2008). Unter den 6 in diesem Buch untersuchten Ländern belegt Italien den vorletzten Platz.
5.1.4 Länderprofil Norwegen Norwegen ist ein universalistischer Wohlfahrtsstaat (Esping-Andersen 1990). Seine Kennzeichen sind: 1) hohe Arbeitsmarktzentrierung, 2) Orientierung am Ziel der Gleichheit aller Individuen, 3) Individualisierung der sozialen Leistungen und 4) das Prinzip der sozialen Staatsbürgerschaft, das den Staat in Bezug auf soziale Absicherung und (auch) Kinderbetreuung sehr stark in die Verantwortung nimmt (Neyer et€al. 2006). Bei erfolgreicher Umsetzung von 1) kann 4) nur gelingen, wenn die implizierte Unterstützungslast für die Erwerbsfähigen tragbar bleibt. Gauthier (2006) ordnet die norwegische Familienpolitik als pro-egalitär ein. Die regionalen Fertilitätsunterschiede sind moderat (s. Abb.€5.34).
146
5 Standardisierte Länderprofile
Abb. 5.34↜渀 TFR nach Regionen in Norwegen
5.1.4.1 Bevölkerungsentwicklung Norwegen verzeichnete zwischen 1970 und 2007 ein Bevölkerungswachstum von durchschnittlich 0,52€% pro Jahr und 21€% insgesamt. So stieg die Bevölkerungszahl von 3,9€Mio. im Jahr 1970 auf 4,7€Mio. im Jahr 2008 an. Dazu trugen sowohl eine positive natürliche Bevölkerungsentwicklung als auch die positive Nettomigration bei. Allerdings gab es Verschiebungen zwischen den Altersgruppen. Die Zahl der Männer und Frauen bis 25 Jahren nahm stark ab, während die der etwa 25- bis 45-Jährigen sowie über 75-Jährigen deutlich zunahm (s. Abb.€5.35).
Abb. 5.35↜渀 Altersstruktur in Norwegen
5.1 Fertilität und sozioökonomische Rahmenbedingungen
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Abb. 5.36↜渀 Erwerbsbevölkerung in Norwegen
Das Wachstum der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter von 15 bis 64 Jahren (s. Abb.€ 5.36) fiel mit 0,66€ % p.€ a. und 28€ % insgesamt weit höher aus als das Bevölkerungswachstum. Folglich stieg der Anteil an der Gesamtbevölkerung von 62€% auf 67€% an. Norwegen konnte zwischen 1970–2030 durchwegs eine Erste Demografische Dividende erzielen. Im Gegensatz zu den anderen hier betrachteten Ländern wird die Erwerbsbevölkerung auch noch bis 2030 weiter anwachsen. Das mittlere Alter der Gesamtbevölkerung stieg zwischen 1970 und 2007 um 3,4 auf 38,9 Jahre, jenes der erwerbsfähigen Bevölkerung hingegen um lediglich 1,2 auf 39,8 Jahre an (s. Abb.€5.37). Zum Vergleich: 2007 betrugen die entsprechenden Durchschnitte in der EU 40,6 bzw. 39,7 Jahre. Das Alter der Gesamtbevölkerung wird 2030, wie in keinem der anderen untersuchten Länder, mit 1,2 Jahren nur leicht über dem der Erwerbsbevölkerung liegen. Norwegen wird 2030 eine Bevölkerung haben, die gemessen am Durchschnittsalter 3,8 Jahre jünger sein wird als die Bevölkerung der EU-27 insgesamt und genauso alt wie jene in Irland, die deren jüngste Bevölkerung sein wirdist.
Abb. 5.37↜渀 Durchschnittsalter in Norwegen
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5 Standardisierte Länderprofile
Abb. 5.38↜渀 Unterstützungsquotienten in Norwegen
Der Jugendquotient nahm von 1970 bis 2007 stark ab. Der Rückgang wird sich bis 2015 fortsetzen, 2030 wird der Jugendquotient allerdings mit einem Wert von 29 wieder das Niveau von 2007 erreichen (s. Abb.€5.38). Der Altenquotient stieg zwischen 1970 und 2007 nur leicht an. Bis 2015 wird ein starkes Wachstum von 22 auf 28 erwartet, das sich anschließend jedoch wieder abschwächen wird. Der Gesamtquotient liegt 2007 mit 51 deutlich unter dem Niveau von 1970 mit 59. Letzteres wird jedoch 2030 wieder ungefähr erreicht, wenn der Quotient einen Wert von 60 aufweisen wird. Dann müssen 100 Personen im erwerbsfähigen Alter für die Unterstützung von 60 jungen und alten Menschen aufkommen. Diese Art der Berechnung ist jedoch sehr optimistisch, da die 15- bis 20-Jährigen häufig finanzieller Unterstützung bedürfen. Werden die Altersgrenzen der erwerbsfähigen Bevölkerung bei 20 sowie 64 Jahren gezogen, dann beläuft sich der Gesamtquotient im Jahr 2007 auf 69 und im Jahr 2030 auf 77. Dabei ist allerdings nicht berücksichtigt, dass die Norweger selbst das erwerbsfähige Alter als bis 67 oder 73 Jahre reichend definieren.
5.1.4.2 Fertilitätsanalyse Geburtenziffern In den 1970er Jahren nahm die zusammengefasste Geburtenziffer (TFR) stark ab und erreichte 1983 mit 1,66 ihren Tiefpunkt. Danach setzte ein für diesen Zeitpunkt in Europa außergewöhnlicher Anstieg auf bis zu 1,93 im Jahr 1990 ein; 2008 lag die TFR bei 1,96 Kindern, den höchsten Wert seit 1975 (s. Abb.€5.39). Regional lassen sich Unterschiede erkennen; so ist die TFR 2007 an den Küsten höher als im Inland. Die verschobene Kohortenfertilität (CFR), die um das Durchschnittsalter der Mutter bei Geburt versetzt ist, fällt zunächst leicht zwischen 1970 und 1982 von
5.1 Fertilität und sozioökonomische Rahmenbedingungen
149
Abb. 5.39↜渀 Geburtenziffern in Norwegen
2,25 Kindern je Frau auf 2,05. Nach einem relativ stabilen Verlauf bis 1988, begann sie auf 2,02 Kinder je Frau im Jahr 1997 zu sinken. Die verschobene CFR zeigt damit eine höhere Stabilität der tatsächlichen Fertilität, die mit Werten über 2,02 praktisch auf Bestanderhaltungsniveau liegt. Die tempostandardisierte TFR approximiert die tatsächliche Fertilität besser als die TFR, da sie Verschiebungen im Durchschnittsalter der Mütter bei Geburt eines Kindes Rechnung trägt. Dennoch ist ihr Verlauf nicht so gleichmäßig, wie jener der verschobenen CFR, sondern sie verläuft ähnlich der TFR schwankend, liegt aber mit Werten zwischen 1,96 und 2,15 Kindern pro Frau über der TFR. Alter bei Geburt und Heirat Das gestiegene Alter bei Erstgeburt wird häufig auf das Erstheiratsalter zurückgeführt. Dieses ist in Norwegen seit den 1970ern um 8 Jahre auf knapp über 30 Jahre für Frauen und über 33 Jahre für Männer angestiegen (Statistics Norway, s. Abb.€5.40). Bei den Frauen zeichnet das den Anstieg des Alters bei ehelicher Erstgeburt tatsächlich gut nach. Dieses erhöhte sich von 23 Jahren 1975 auf 29,4 Jahre 2007. Das Durchschnittsalter der Mutter bei Erstgeburt stieg im Zeitraum 1987 bis 2007 von 25,1 auf 28,1 Jahre. Interessanterweise verläuft die Entwicklung des Alters der Mutter bei Geburt eines Kindes seit Mitte der 1980er Jahre nahezu parallel zu jener des Alters der Mutter bei ehelicher Erstgeburt. In Deutschland beispielsweise, nähern sich die beiden Kurven an, weil der Anteil der Erstgeburten an allen Geburten steigt. Dennoch kann davon ausgegangen werden, dass das Erstheiratsalter für das Erstgebäralter an Bedeutung verloren hat, da die meisten Geburten nicht mehr innerhalb einer Ehe realisiert werden. So erhöhte sich der Anteil nichtehelicher Geburten von niedrigen 4€% im Jahre 1960 auf 53€% in 2006. In Deutschland lag dieser 2006 bei 30€% (Eurostat).
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5 Standardisierte Länderprofile
Abb. 5.40↜渀 Geburts- und Heiratsalter in Norwegen
Sozioökonomische Unterschiede in der Kinderzahl Verzögerungen der Erstgeburt und Kinderlosigkeit sind nicht in allen Bildungsstufen gleich ausgeprägt, sondern stark durch die Ausbildungsdauer beeinflusst. So lag das Erstgebäralter von hoch und niedrig ausgebildeten Frauen für die 1967er Kohorte bei 30,7 bzw. 21,9 Jahren (Rønsen 2004). Jedoch tendieren hoch ausgebildete Frauen, sobald sie sich für Kinder entscheiden, zu höheren oder äquivalenten Fertilitätsraten, verglichen mit den geringer ausgebildeten Frauen (Neyer et€al. 2006). Die Fertilitätsrate 39-jähriger Frauen lag bei den gering Qualifizierten der Kohorte 1945–1949 mit 2,31 am höchsten und ging in der Kohorte 1960–1964 auf 2,16 zurück (s. Abb.€5.41). Eine gegensätzliche Entwicklung ist bei den Hochqualifizierten zu erkennen, deren Fertilitätsrate von 1,54 auf 1,78 anstieg (Kravdal und Rindfuss 2008). Dennoch lag der Prozentsatz kinderloser Frauen bei den Hochausgebildeten stets über jenem geringer Ausgebildeter, für die Kohorten 1954–1958
Abb. 5.41↜渀 Fertilität nach Bildung der Mutter in Norwegen
5.1 Fertilität und sozioökonomische Rahmenbedingungen
151
Abb. 5.42↜渀 Kinderzahl nach Kohorten in Norwegen
beispielsweise bei 19€% gegenüber 9€%. Allerdings nimmt lediglich in der Gruppe der am höchsten ausgebildeten Frauen die Kinderlosigkeit ab, während sie bei den niedriger qualifizierten Gruppen ansteigt bzw. stagniert, was zu einer Annäherung in den Niveaus der Kinderlosigkeit in den jüngeren Kohorten führt. Als Auslöser für diese Veränderung wird die reformierte Familienpolitik seit den 1980er Jahren gesehen (Rønsen 2004). In den weiblichen Kohorten 1935 bis 1955 erhöhte sich der Anteil von Zweikindfamilien im Vergleich zum Anteil von Einzelkindfamilien stärker (s. Abb.€ 5.42). Der Anteil für 3 Kinder ging für die Kohorte von 1955 auf 23€% zurück, der für mehr als drei sank ebenfalls (Frejka und Sardon 2004). Die höhere Konstanz in den Kinderanteilen der Männer vergleichbarer Kohorten deutet darauf hin, dass sich im Fertilitätsverhalten der Frauen die veränderten Lebensentwürfe widerspiegeln. Die Bedingungen für eine aktive Familienplanung verbesserten sich durch die Legalisierung der Abtreibung 1978 (Ministry of Health and Care Services 2000), bessere Verhütungsmöglichkeiten und die auf Bildung und Erwerbstätigkeit basierende, größere wirtschaftliche Unabhängigkeit der Frauen (Neyer et€al. 2006). So waren im Jahr 2007 60€% der Studierenden und 42€% der Promovierten weiblich. Die Sekundarstufe schlossen 70€% der Frauen mit 16 bzw. 19 Jahren ab, aber nur ca. 30€% wählten die zeitintensivere Universitätsausbildung (Statistics Norway). Surveys Die verschiedenen Wellen der World Values Surveys aus den Jahren 1982, 1990 und 1996 zeigen, dass Frauen die als ideal angegebene Kinderzahl nicht realisieren. Im Durchschnitt gaben Frauen 2,6 Kinder als ideal an, im Zeitverlauf ansteigend. Die ideale Kinderzahl der Männer nahm hingegen ab (WVS 2009). Ein Grund für Abweichungen zwischen der gewünschten und realisierten Kinderzahl kann in der Art der Befragung liegen (Goldstein et€al. 2003). Es ist zu beachten, dass für Norwegen nur Surveys zur Verfügung stehen, die Männer und Frauen ab 18
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5 Standardisierte Länderprofile
Jahren nach der idealen Familiengröße allgemein fragen, woraus eine Überschätzung der gewünschten Kinderzahl resultieren kann. In Eurobarometer Surveys für die EU-Länder wird stattdessen auch die individuell erwünschte Kinderzahl erfragt.
5.1.4.3 Sozioökonomische Rahmenbedingungen Staatliche Leistungen an Eltern Norwegen lag 2005 im internationalen Vergleich der staatlichen Ausgaben für Familien mit 3,0€% des BIP im vorderen Feld (OECD 2009a). Familienpolitik ist Sache des Ministeriums für Kinder und Gleichberechtigung (Ministry of Children and Equality, MCE 2007). Die staatlichen Ausgaben sind ausgewogen auf Geld- und Dienstleistungen verteilt, steuerliche Erleichterungen spielen nur eine geringe Rolle. Die Familien- und Arbeitsmarktpolitik der norwegischen Regierung kann in Anlehnung an Misra et€al. (2008) als „Gleichstellungsstrategie“ beschrieben werden. Elternzeit╇ Seit 1956 besteht ein Recht auf bezahlte Elternzeit. Diese betrug zunächst nur 12 Wochen und war mit einem sehr niedrigen Elterngeld verbunden. Seit 1978 wird die Elternzeit bei 100€% Lohnfortzahlung gewährt. Die Bezugszeiten wurden immer weiter ausgedehnt, 2006 beliefen sie sich auf 44 bzw. 54 Wochen (MPIDR 2006; MCE 2007). Zur Elternzeit berechtigt sind Eltern, die in sechs der letzten zehn Monate vor Geburt versicherungspflichtig beschäftigt waren. Seit 1989 können Eltern zwischen kürzerer Elternzeit bei 100€% oder längerer bei 80€% Lohnersatzleistung wählen. Erfüllt nur der Vater das Kriterium, wird die Elternzeit entsprechend dem gewählten Satz der Lohnersatzleistungen, auf 39 bzw. 29 Wochen verkürzt. Die Elternzeit ist weitgehend frei zwischen den Eltern aufteilbar, wobei 3 Wochen vor bzw. 6 Wochen nach der Geburt für die Mutter reserviert sind. Ferner gibt es seit 1993 eine Vaterzeit, die bei Nichtgebrauch verfällt. Sie war ursprünglich 4 Wochen lang und wurde erst auf 5, dann auf 6 Wochen erhöht. Voraussetzung für die Vaterzeit ist, dass sich beide Elternteile für die Elternzeit qualifiziert haben, wobei die Mutter mindestens halbtags tätig gewesen sein musste (MCE 2007). Elterngeld╇ Während der Elternzeit wird Elterngeld bezogen, dessen Höhe sich an dem Lohneinkommen des betreuenden Elternteils in den letzten vier Wochen vor Antritt der Elternzeit bemisst und maximal ca. 47.000€€ im Jahr beträgt. Die Zeiträume der Bezüge stiegen bis 2006 auf 44 bzw. 54 Wochen an (MCE 2007). In Norwegen scheint es mit dem Elterngeld bei 100€% Lohnersatzleistung, ebenso wie auch in anderen skandinavischen Ländern, gelungen zu sein, den Rückgang der Zweit- und Drittgeburtenrate entweder sofort oder leicht verzögert zu stoppen (Neyer et€al. 2006). Kinderbetreuungsgeld╇ Eltern können zudem Kinderbetreuungsgeld erhalten. Die 1998 eingeführte „Cash-for-Care“-Reform sieht eine finanzielle Entschädigung für Eltern vor, die ihre Kinder nicht den staatlichen Einrichtungen anvertrauen. Erst
5.1 Fertilität und sozioökonomische Rahmenbedingungen
153
galt sie nur für Kinder im Alter von 12 bis 24 Monaten, wurde 1999 jedoch auf die Zeit bis zum vollendeten 36. Lebensmonat ausgeweitet. Werden die Kinder Vollzeit, das heißt mehr als 32 Stunden pro Woche, nicht in einer staatlich geförderten Einrichtung betreut, erhalten die Eltern den vollen Satz von ca. 450€€ pro Monat. Das entspricht etwa den staatlichen Zuschüssen zur öffentlichen Betreuung. Um die Flexibilität zwischen der Verbindung von Berufswelt und Kinderbetreuung zu stärken, sind auch Abstufungen möglich; je nach häuslicher Betreuungszeit werden 80€%, 60€ %, 40€% oder 20€% des vollen Monatssatzes ausgezahlt. Zudem ist es Eltern möglich, davon andere, nicht staatliche Formen der Kinderbetreuung wie Au-Pair oder Babysitter zu finanzieren (Aasve und Lappegard 2008). Jedoch befürchten Gegner des Kinderbetreuungsgeldes den Rückgang des in einigen Regionen ohnehin ungenügenden staatlichen Angebots für die Kleinkinderbetreuung. Tatsächlich brachen die Zahlen der in Kindergärten betreuten 1- bis 2-Jährigen nach der Reform ein und stagnierten dann kurze Zeit, steigen aber seit 2003 wieder an (Statistics Norway). Parallel geht die Zahl der Eltern zurück, die die Reform nutzen, was laut Aasve und Lappegard (2008) mit der Zunahme an staatlichen Betreuungsangeboten für Kleinkinder seit 2002 einhergehen könnte. Negativ bewerten die Kritiker des Kinderbetreuungsgeldes zudem den Anreiz für Mütter, ihre Erwerbstätigkeit länger auszusetzen, was Väter dazu veranlassen könnte, ihr Engagement in der Kinderbetreuung wieder zu senken, denn 1999 bis 2001 waren 95€% der Bezieher Mütter (Schøne 2004). Zeitverwendungsstudien zeigen allerdings, dass Frauen immer weniger, Männer dafür mehr Zeit mit Haushaltstätigkeiten verbringen, auch wenn die Hausarbeit und Familienbetreuung immer noch hauptsächlich Frauen zufällt (Statistics Norway). Aasve und Lappegard (2008) weisen nach, dass die Reform auch den Zeitpunkt der nächsten Geburt beeinflusst. Dabei unterscheiden sie Frauen mit niedrigerem Ausbildungsgrad, die eher die Reform annehmen und Frauen mit hohem Bildungsgrad, die tendenziell seltener die Zahlungen beantragen. Sobald Mütter jedoch die Zahlungen nutzen, bekommen sie ihr zweites Kind schneller. Dem steht die Studie von Hardoy und Schøne (2003) entgegen, die zeigt, dass die Reform den Zeitpunkt der Zweitgeburt hinauszögert, da Frauen nach der Kinderbetreuung mindestens 6 Monate in den Arbeitsmarkt zurückkehren, um für das nächste Kind Elterngeld beantragen zu können. Rønsen (2001) zeigt, dass Frauen in Folge der „Cash-for-Care“-Reform insgesamt weniger in Vollzeit tätig sind; niedrig Ausgebildete auch weniger halbtags. Zudem nahm der Anteil der Frauen, die keiner Arbeit mehr nachgingen, in allen außer der höchsten Bildungsgruppe zu. Rønsen und Sundstrøm (2002) schlussfolgern, dass das Kinderbetreuungsgeld den Frauen half die Wirtschaftskrise der 1990er Jahre zu überbrücken, die beruflichen Wiedereinstiegschancen aber minderte. Staatliche Kinderbetreuung╇ Die staatliche Kinderbetreuung ist in Norwegen durch das Gesetz zur Kindertagesbetreuung aus dem Jahr 1975 begründet, dessen Revision 2006 in Kraft trat. Dieses Gesetz schreibt vor, dass nur gelernte Erzieher in Kindergärten tätig werden dürfen. Seit 1997 haben Kommunen die Pflicht, ausreichend Kindergartenplätze zur Verfügung zu stellen.
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Die Eltern müssen maximal einen Betrag von ca. 263€€ pro Monat tragen, was zwischen 22€% und 30€% der Kosten eines Kindergartenplatzes entspricht (Ministry of Education and Research 2007). Die Zahl der in Kindergärten betreuten 1- bis 5-jährigen Kinder ist seit 2000 stark angestiegen; ihr Gesamtanteil, der 2000 bei rund 62€% lag, belief sich 2007 auf knapp über 84€% (Statistics Norway). Neben den staatlich geführten gibt es auch private Kindergärten; alle müssen mindestens 41 Stunden pro Woche Betreuung anbieten. Zudem existieren sog. offene (private) Kindergärten für Kinder von 0 bis 2 Jahren, die meist zu Hause betrieben werden. Die Anzahl der betreuten Kinder ist hier gering und liegt bei 3 bis 5 Kindern pro Gruppe. Zusätzlich wurden Familientagesbetreuungsstätten eingerichtet, in denen Kinder betreut und ihre Eltern beraten werden, eine Institution, die besonders von Migrantenfamilien genutzt wird (MPIDR 2006). Kindergeld╇ In Norwegen gibt es Kindergeld seit 1946, das aktuelle Gesetz stammt aus dem Jahre 2004. Erziehungsberechtigte erhalten derzeit für Kinder bis zu 18 Jahren monatlich ca. 120€€ Kindergeld, wobei es regionale Zuschläge von bis zu ca. 40€€ gibt. Alleinerziehende erhalten den doppelten Betrag und zusätzlich für Kinder von 0 bis 3 Jahren ein Kleinkindergeld von ca. 85€€. Die Höhe des Kindergeldes wird jährlich vom norwegischen Parlament festgelegt (MCE 2007). Steuererleichterungen╇ Für Eltern sind Steuererleichterungen transparent gestaltet. Kindergeld und „Cash for Care“- Zahlungen sind steuerfrei, nachgewiesene Kinderbetreuungskosten für Kinder unter 12 Jahren steuerlich absetzbar. Für Letztere gibt es zudem einen jährlichen Steuerfreibetrag in Höhe von ca. 3.200€€, der sich für jedes weitere Kind um ca. 625€€ erhöht (MCE 2007). Rentenpunkte╇ Für nicht durch staatliche Mittel finanzierte Kindererziehungszeiten werden Rentenpunkte gewährt. Dem betreuenden Elternteil eines Kindes unter 7 Jahren werden drei Punkte angerechnet. Wird mehr als 30.375€€ Jahreseinkommen erzielt, sind die 3 Punkte allerdings irrelevant, da durch das Einkommen höhere Ansprüche geltend gemacht werden können (Skevik und Hatland 2008). Vereinbarkeit von Beruf und Familie Frauenerwerbstätigkeit╇ Im internationalen Vergleich ist die norwegische Frauenerwerbstätigkeit hoch und hat sich seit den 1970er Jahren weiter jener der Männer angenähert. Die Geschlechterlücke in den Beschäftigungsquoten der Männer und Frauen betrug 1972 noch 33 Prozentpunkte; 35 Jahre später lag sie bei lediglich 6 Prozentpunkten (s. Abb.€5.43). Während die OECD-Länder im Durchschnitt eine Frauenerwerbstätigkeit von 58€% im Jahr 2007 erreichten, lag diese in Norwegen bei 75€%. Seit Ende der 1980er Jahren ist die Erwerbslosigkeit bei Frauen niedriger als bei Männern und liegt mit 3,5€% im Jahr 2007 unter dem OECD-Durchschnitt von 5,9€% (OECD 2009b). Kinderlose Frauen waren 2006 zu 82€% in Beschäftigung
5.1 Fertilität und sozioökonomische Rahmenbedingungen
155
Abb. 5.43↜渀 Arbeitsmarkt in Norwegen
(s. Abb.€5.44). Mütter mit einem Kind unter 16 Jahren zeigten 2006 eine Beschäftigungsquote von 81€% und mit zwei Kindern steigt diese sogar auf 83€%. Mütter mit mehr als drei Kindern gehen noch zu 74€% einer Erwerbstätigkeit nach. Es sind insgesamt die höchsten Erwerbsquoten unter allen hier betrachteten Ländern. Weitere Regelungen╇ Bei Krankheit eines Kindes werden einem Elternteil zur Betreuung jährlich 10 Tage bezahlter Urlaub eingeräumt; bei drei und mehr Kindern sind es 15 Tage. Während der Schwangerschaft und in der Elternzeit schützt das Gesetz zur Gleichstellung der Geschlechter selbst in der Probezeit vor Kündigung und garantiert den alten oder einen gleichwertigen Arbeitsplatz. Zudem hat der Arbeitgeber die Aufgabe das Arbeitsvolumen der werdenden Mutter im Rahmen seiner Möglichkeiten anzupassen. Zurück am Arbeitsplatz haben Väter und Mütter das Recht auf kürzere Arbeitszeiten (MCE 2007).
Abb. 5.44↜渀 Beschäftigungsquoten von Frauen in Norwegen
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5.1.4.4 Fazit Die norwegische Familienpolitik erfüllt im hohen Maße die Vorstellungen, die mit einem universalistischen Wohlfahrtsstaat verbunden werden. Die staatlichen Leistungen sind breit gefächert. Das Maßnahmenpaket wurde in den letzten Jahren immer weiter reformiert und ausgeweitet. Es gilt nicht als pronatalistisch, sondern auf Gleichheit und Kindeswohl ausgelegt. Dabei geht es sowohl um die Gleichheit zwischen den Geschlechtern als auch um soziale Gleichheit der Kinder. Staatliche Kinderbetreuung wird weniger als Chance der Mütter auf mehr Arbeitszeit, sondern vielmehr als die Ermöglichung von Chancengleichheit durch Frühförderung der Kinder gesehen (d’Addio und d’Ercole 2005). Dennoch sticht aus der Gestaltung des gesamten Leistungspakets des Staates an Eltern die Ermöglichung, aber auch die gesellschaftliche Erwartung einer hohen Arbeitsmarktbeteiligung von Frauen als wichtigstes Gleichstellungsmerkmal der Geschlechter hervor. Diese ist ohne staatliche Angebote oder Unterstützung für die Kinderbetreuung nicht zu leisten. Die einzige familienpolitische Maßnahme, deren Folgen und daher Zielkonformität in der Literatur unterschiedlich bewertet wird, ist das Kinderbetreuungsgeld. Unbestritten ist nur, dass sie die Arbeitsbeteiligung von Frauen in allen Bildungsgruppen, außer der höchsten, senkte. Dieser Aspekt ist für jene Länder von besonderem Interesse, die – wie Deutschland – darauf hoffen, im demografischen Wandel den Rückgang der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter durch eine Erhöhung der Arbeitsmarktbeteiligung von Frauen zumindest teilweise zu kompensieren. Darüber hinaus wird mit dem Kinderbetreuungsgeld das Ziel der Chancengleichheit der Kinder durch Frühförderung gefährdet, weil es besonders von Familien mit schwächerem sozialen Hintergrund angenommen wird. Für einen Vergleich mit Deutschland ist schließlich hervorzuheben, dass die Familienpolitik im Steuerbereich nur wenige Grundregelungen enthält. Ein Ehegatten- sowie auch ein Familiensplitting fehlen in Norwegen völlig. Die strikte Individualbesteuerung ist eine konsequente Absage an das Versorgungsmodell und steht hohen Geburtenziffern offenbar in keiner Weise entgegen. Die norwegische Familienpolitik fördert die Eigenständigkeit von Frauen und damit die Gleichheit der Geschlechter, erwartet von Frauen aber auch einen eigenen Beitrag zur Gleichstellung in Form einer – mit Ausnahme gewisser Schutzzeiten – vergleichbaren Arbeitsmarktbeteiligung. Der Global Gender Gap Report, der die Stellung der Frau in den Bereichen Wirtschaftsleben, Bildung, Gesundheit und Politik in 160 Ländern untersucht, weist für Norwegen im Jahr 2008 den ersten Platz aus (Hausmann et€al. 2008).
5.1.5 Länderprofil Tschechische Republik Die Tschechische Republik entstand in seiner heutigen Form im Jahr 1993, eine Einordnung nach der Wohlfahrtsstaatstypisierung von Esping-Andersen (1990) ist daher nicht möglich. Andreß und Heien (2001) erweiterten den Ansatz jedoch um die ehemals sozialistischen Transformationsländer und bezeichneten sie als „Ost-
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157
Abb. 5.45↜渀 TFR nach Regionen in Tschechien
europäische Wohlfahrtsstaaten“. Das kann natürlich nur eine transitorische Einordnung sein. Anfang der 1990er wurde die Wohlfahrtspolitik oftmals als konservativ-liberal bezeichnet, jedoch mit dem gleichzeitigen Ziel, eine finanzielle Grundsicherung zu gewährleisten und Einkommensungleichheiten zu reduzieren (Fiala und Mareš 2008). Die Differenzen in der TFR des Jahres 2006 zwischen Regionen Tschechiens sind mit 0,26 Kindern pro Frau gering (s. Abb.€5.45).
5.1.5.1 Bevölkerungsentwicklung Die Bevölkerung stieg zwischen 1970 und 2008 von 9,9 auf 10,4€ Mio. an, was einem Wachstum von 5€% entspricht. Bemerkenswert an der vergleichenden Bevölkerungspyramide sind das starke Schrumpfen des Anteils unter 25-Jähriger und die geringen Veränderungen im Anteil der Männer im Alter 60 bis 70 (s. Abb.€5.46). Bereits von 1990 bis 2004 büßte das Land 1,5€% seiner Einwohnerzahl ein. Eurostat erwartet für den Zeitraum von 2007 bis 2030 weiterhin ein Negativwachstum von insgesamt 5,8€%. Besonders betroffen ist erneut die Altersgruppe der unter 25-Jährigen, deren Zahl sich voraussichtlich nahezu halbieren wird. Die Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter (s. Abb.€5.47) erfährt ebenfalls tiefgreifende Veränderungen; insbesondere schrumpft sie mit 16€% von 2008 bis 2030 weit stärker als die Gesamtbevölkerung. Dabei wird die Gruppe der 45- bis 54-Jährigen 2030 verglichen mit 1970 in ihrer Zahl stark, jene der 55- bis 64-Jährigen nur etwas ansteigen. Eine drastische Senkung erfährt die Zahl der 25- bis 34-Jährigen. Nur die mittlere Altersgruppe der 34- bis 45-Jährigen wird im Jahr 2030 ähnlich stark besetzt sein wie 1970. Dazwischen gibt es heftige Schwankungen in der Entwicklung der einzelnen Altersgruppen.
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5 Standardisierte Länderprofile
Abb. 5.46↜渀 Altersstruktur in Tschechien
Abb. 5.47↜渀 Erwerbsbevölkerung in Tschechien
Das Durchschnittsalter der Gesamtbevölkerung lag 1970 mit 35,7 Jahren unter dem der Erwerbsbevölkerung mit 38,1 Jahren. Danach stieg das Alter der Bevölkerung an und liegt seither dauerhaft über dem der Erwerbsbevölkerung. Die Differenz wird im Jahr 2030 mit 3,4 Jahren am größten sein (s. Abb.€5.48). Zwischen 2015 und 2030 wird die Gesamtbevölkerung um 3,5 Jahre, die Erwerbsbevölkerung um 1,5 Jahre altern. Mit 45,9 Jahren wird erstere 2030 in etwa im EU-Durchschnitt liegen, der sich dann auf 45,1 Jahre belaufen wird. Anders als in den EU-15-Ländern, weist die Alterung in Tschechien kaum regionale Unterschiede auf. Von 1970 bis 2007 ging der Jugendquotient um rund ein Drittel, von 32 auf 20, zurück. Bis 2030 wird er in etwa auf diesem Niveau verharren (s. Abb.€5.49). Damit zeigt er einen ähnlichen Verlauf wie in Frankreich im gleichen Zeitraum, nur auf niedrigerem Niveau. Der Altenquotient durchläuft eine umgekehrte Entwicklung: während sich dieser bis 2007 von 18 auf 20 nur wenig veränderte, wird er bis 2030 gegenüber 1970 auf das 2,5-fache ansteigen. Der Gesamtquotient, der 1970 nur etwas unter jenem in Italien lag, ist 2007 mit 40 außerordentlich niedrig, 2015 mit 47 im EU-weiten Vergleich immer noch günstig.
5.1 Fertilität und sozioökonomische Rahmenbedingungen
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Abb. 5.48↜渀 Durchschnittsalter in Tschechien
Abb. 5.49↜渀 Unterstützungsquotienten in Tschechien
Die Verwendung der Altersgruppe 15–64 Jahre zeigt jedoch Unterstützungsquotienten mit viel zu optimistischen Werten an. Der Grund liegt in der geringen Arbeitsbeteiligung der 15- bis 20-Jährigen. Die Berechnung auf Basis der Altersgruppe 20 bis 64 Jahre ist daher realistischer. Sowohl die Jugend- als auch die Altenquotienten steigen dann über den gesamten Zeitraum an. Im Jahr 2030 wäre ersterer um 10 Punkte und letzterer um 4 Punkte höher. Dementsprechend läge der Gesamtquotient im Jahr 2030 nicht mehr bei 65, sondern bei 78. 5.1.5.2 Fertilitätsanalyse Geburtenziffern Während nach dem Zweiten Weltkrieg die Geburten zunahmen, kehrte sich die Entwicklung Anfang der 1950er um. Tschechien war einer der ersten europäischen Staaten mit einem rückläufigen Geburtentrend. Nach Frejka (1980) lagen die Gründe
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Abb. 5.50↜渀 Geburtenziffern in Tschechien
dafür in einer hohen Frauenerwerbsquote, zunehmender Bildung der Frauen und geringen Kinderbetreuungsangeboten (Frejka 1980). Ende der 1960er stieg die zusammengefasste Geburtenziffer (TFR) erneut deutlich an, sank jedoch ab Mitte der 1970er Jahre wieder bis auf den im weltweiten Vergleich sehr niedrigen Wert von 1,13 im Jahr 1999. Diese Entwicklung wurde hauptsächlich ausgelöst durch die gesunkene Fertilität in der Gruppe der 20- bis 24-Jährigen (Rychtarikova 2001) und durch den weiteren Aufschub von Geburten. Seit der Jahrtausendwende und besonders nach dem EU-Beitritt Tschechiens 2004 kehrte sich der negative Trend um; die TFR lag 2008 bei 1,49 Kindern je Frau (s. Abb.€5.50). Die verschobene Kohortenfertilität (CFR) verlief weitaus stabiler und seit 1980 auf höherem Niveau als die TFR. Bis 1976 lag sie noch auf Bestanderhaltungsniveau, sank danach deutlich ab und betrug im Jahr 1996 nur noch 1,73 Kinder je Frau. Alter bei Geburt und Heirat Das Alter der Mutter bei Erstgeburt lag im Zeitraum 1970 bis 1994 zwischen 22,5 und 22,9 Jahren; danach kam es bis 2004 zu einem Anstieg auf 26,3 Jahre (s. Abb.€5.51). Hauptgrund für den Trend war der Anstieg im Erstheiratsalter, da Kinder in Tschechien überwiegend ehelich geboren wurden. In den 1970ern und 1980ern lag das Erstheiratsalter bei 21,6 bis 22 Jahren bei den Frauen und 24 bis 25 Jahren bei den Männern (Sobotka et€al. 2008). Seit Anfang der 1990er wurde zunehmend später geheiratet; 2004 lag das Durchschnittsalter der Frauen bei Erstheirat bei 26 Jahren (Europarat 2005). Das ist zwar im EU-Durchschnitt sehr niedrig, führte aber dennoch zu einem Anstieg des Durchschnittsalters bei Geburt, was sich generell ungünstig auf die Höhe der Geburtenrate auswirkt. Tschechien hat zudem eine der höchsten Scheidungszahlen in ganz Europa und erreichte im Jahr 1998 mit 32.363 Scheidungen den Höhepunkt. Das im gleichen Jahr erlassene neue Familiengesetz erschwerte diese, sodass die Zahl 1999 auf 23.657 sank (Europarat 2005).
5.1 Fertilität und sozioökonomische Rahmenbedingungen
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Abb. 5.51↜渀 Geburts- und Heiratsalter in Tschechien
Gleichzeitig nahm die Zahl der in Kohabitation lebenden Paare zu. Wurden vor 1990 ca. 9€% aller Kinder unehelich geboren, waren es 2006 schon 33€% (Sobotka et€al. 2008). Sozioökonomische Unterschiede in der Kinderzahl Das Fertilitätsverhalten war in Tschechien bis zur Wende bemerkenswert stabil. So zeigt eine Betrachtung der Geburtenparität, dass in den Geburtskohorten 1935 bis 1955 die vergleichsweise sehr niedrige Kinderlosigkeit mit 6 bis 8€% und der Anteil für drei Kinder mit 19 bis 21€% relativ konstant blieben (s. Abb.€5.52). Lediglich die Anteile der Frauen mit einem bzw. vier und mehr Kindern nahmen um rund ein Drittel ab. Von allen ehemals sozialistischen Ländern vollzog sich die Verschiebung der Erstgeburt in Tschechien nach der Wende am schnellsten. Das liegt an dem beson-
Abb. 5.52↜渀 Kinderzahl nach Kohorten in Tschechien
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Abb. 5.53↜渀 Fertilität nach Bildung der Mutter in Tschechien
ders niedrigen Startwert und zeigt eine Aufholtendenz zur Entwicklung in anderen europäischen Staaten, die ungefähr ab Mitte/Ende der 1980er alle einen Anstieg des Durchschnittsalters der Mütter bei Erstgeburt verzeichneten. Klasen und Launov (2003) fanden einen Zusammenhang zwischen der zunehmenden Bildung und dem Abschluss der Familienplanung nach dem ersten Kind, der während der sozialistischen Ära nicht nachweisbar war. Ein weiterer Zusammenhang existiert zwischen den nach der Wende schlechten Kinderbetreuungsmöglichkeiten und der Entscheidung für nur ein Kind (Klasen und Launov 2003). Die durchschnittliche Kinderzahl von Frauen der Kohorte 1953–1957 mit hoher Qualifikation belief sich 1997 auf 2,16 Kinder. Im Gegensatz dazu haben Mütter der gleichen Jahrgangsgruppe mit niedriger Ausbildung etwa 1,92 Kinder (s. Abb.€5.53). In der Kohorte 1958–1962 lag die Zahl noch bei 2,12 Kindern und die der Mütter mit hoher Bildung stieg auf 1,99 (UNECE 2001). Abtreibungen waren in Tschechien im Gegensatz zu Verhütungsmitteln kostenlos zugänglich und wurden hauptsächlich von verheirateten Frauen in Anspruch genommen. Ihre Zahl war derart hoch, dass sie Mitte der 1980er Jahre jener der Geburten entsprach. Aufgrund dieser Entwicklung wurden Kondome und die Pille im Jahr 1986 unentgeltlich zugänglich gemacht und Abtreibungen ohne medizinische Indikation mit einer Gebühr versehen. Bereits 1987 ging die Zahl der induzierten Abbrüche um 25€% zurück (vgl. UN 2001). Seit 1992 wird allgemein eine Gebühr von etwa 3.000€CZK (ca. 110€€) erhoben, medizinisch induzierte Abbrüche bleiben jedoch weiterhin kostenlos. Nach der Wende waren es zunehmend unverheiratete Frauen, die abtrieben, sodass sich die Zahl der Abbrüche von ledigen Frauen denen von verheirateten anglich (Sobotka et€al. 2008). Eine fertilitätsspezifische Besonderheit in Tschechien besteht in der hohen Fertilität in der Volksgruppe der Roma. Ihre Zahl wird im Land auf 200.000 bis 300.000 Personen geschätzt, was in etwa einem Anteil von 2 bis 3€ % der tschechischen Gesamtbevölkerung entspricht. Besonders in den jüngeren Kohorten liegt die TFR in der Gruppe der Roma um ein vielfaches höher als in der tschechischen Bevölkerung. So liegt die Kinderzahl in der Altersgruppe der 20- bis 24-Jährigen bei den
5.1 Fertilität und sozioökonomische Rahmenbedingungen
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Frauen der Roma bei 1,28 und bei den Tschechinnen nur bei 0,22 Kinder je Frau. Sobotka et€al. (2008) gaben als Gründe für die höhere Fertilität an, dass die Roma sehr früh eine Familie gründen und im Durchschnitt mehr als 2 Kinder bekommen. Jedoch ist in den jüngeren Altersgruppen ein zunehmender Trend hin zur ZweiKind-Familie festzustellen, wie er auch in der restlichen Bevölkerung vorherrscht (Sobotka et€al. 2008). Surveys Die Population Policy Acceptance Study (PPAS) ist ein Survey, in dem von 1999 bis 2003 in 14 EU-Ländern Daten zu den Schwerpunkten Politik und demografischer Wandel an ca. 34.000 Befragten erhoben wurden. BIB (2005) zeigten in ihrer Studie auf Basis der Daten der PPAS, dass die gewünschte TFR über der realisierten lag. Diese betrug 2006 in Tschechien 1,33 Kinder, während die gewünschte in der PPAS von den 20- bis 40-jährigen Befragten mit 1,97 (Frauen) bzw. 2,02 (Männer) angegeben wurden. Die Präferenz ging bei 58€% Frauen und 50€% Männer zur Zwei-Kind-Familie. Drei und mehr Kinder zogen 24€% der Männer und 20€% der Frauen vor, was ca. 4 Punkte über dem Einzelkindwunsch lag. Kinderlos wollten nur 6€% bis 7€% der Befragten bleiben. Die Übereinstimmung der Aussagen mit den tatsächlichen Verhältnissen für die 1950er Kohorte der Frauen ist verblüffend. Der Eurobarometer (EB) ist eine repräsentative Befragung an einer Stichprobe von ca. 1.000 Personen pro EU-27 Mitgliedsstaat ab 15 Jahren nach ihren Einstellungen zu politischen und sozialen Aspekten. Eine Frage gilt der durchschnittlich gewünschten Kinderzahl, die in Tschechien viel höher ist als die realisierte. Anders als bei der PPAS, wünschen sich die im EB befragten Frauen mit durchschnittlich 2,16 Kindern mehr Nachwuchs als die Männer mit 1,98. Während bei den Männern die präferierte Kinderzahl von den älteren zu den jüngeren Kohorten hin abnimmt, lässt sich bei den Frauen erkennen, dass in der jüngsten Altersgruppe der 15- bis 24-Jährigen mit 2,21 eine fast genauso hohe Kinderzahl gewünscht wird, wie bei den 40- bis 54-Jährigen. Letztere Gruppe liegt mit 2,25 sogar über den Wert von 2,15 der über 55- Jährigen. Im EB sind weiterhin Faktoren erfragt worden, die sich maßgeblich auf die Realisierung des Kinderwunsches auswirken. Sowohl für Männer als auch für Frauen hatte die Gesundheit der Mutter (87 bzw. 89€%) den höchsten Stellenwert, gefolgt von der Unterstützung durch den Partner (85 bzw. 82€%), der Wohnsituation (83 bzw. 81€%) und der Arbeit des Vaters (82 bzw. 79€%). Weniger relevant war die Arbeitssituation der Mutter (35 bzw. 41€%) (Testa 2006). Das ist insofern überraschend, wie tschechische Frauen eine relativ hohe Erwerbsbeteiligung aufweisen, besonders in der Vollzeitbeschäftigung. Der World Values Survey (WVS) (2009) beobachtet die sich weltweit ändernden Einstellungen, u.€a. gegenüber Abtreibung. Für Tschechien zeigte der WVS, dass 1991 ca. 69€% der knapp 2.100 Befragten eine Abtreibung ablehnten, wenn die Frau nicht verheiratet ist. Acht Jahre später waren es nur noch 34€% der ca. 1.700 befragten Personen. Die Frage, ob eine Abtreibung akzeptabel ist, wenn keine weiteren
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5 Standardisierte Länderprofile
Kinder mehr gewünscht sind, wurde 1991 noch zu 31€% und 1999 schon zu 66€% zustimmend beantwortet (WVS 2009).
5.1.5.3 Sozioökonomische Rahmenbedingungen Staatliche Leistungen an Eltern Die Sozialpolitik Tschechiens ist bis zum politischen Umbruch 1989 als autoritärpaternalistisch beschreibbar (Vecerník 2008), ihre Familienpolitik als pronatalistisch. Anfang der 1960er wurden von der damaligen sozialistischen Regierung die ersten Familien fördernden Maßnahmen verabschiedet. Seit dem Regimewechsel dienen staatliche Leistungen hauptsächlich dem Ziel der sozialen Absicherung. Die Familienausgaben im Jahr 2005 betrugen 2,2€% des BIP (OECD 2009a). Mutterschutz und Elternzeit╇ In der Tschechoslowakischen Republik wurde 1957 ein Mutterschutz eingeführt. Heute beträgt er 28 Wochen und entspricht seit Mitte der 1990er dem Doppelten des EU-Richtwertes von 14 Wochen. Seit 1995 können auch Mütter und Väter mit nur einem Kind Elternzeit beanspruchen, deren Bezugsdauer sich von 3 auf 4 Jahre erhöhte. Seit 1966 gab es zudem eine Elternzeit für Mütter. Inklusive dem Mutterschutz betrug diese zunächst ein Jahr, erhöhte sich 1970 auf zwei und 1989 auf drei Jahre (Sobotka et€al. 2008). Elterngeld╇ In der sozialistischen Ära lag das Elterngeld in etwa bei 69€% des letzten Lohnes; die Bezugszeit wurde 1968 von 18 auf 26 Wochen erweitert, wobei Alleinerziehenden sogar 35 Wochen zustanden. Weiterhin bezogen Mütter bei Arbeitsausfall durch eine Erkrankung ihres Kindes die volle Lohnhöhe (Frejka 1980). Bis 1989 fand eine sukzessive Ausdehnung auf drei Jahre statt. Ein Elterngeld gab es im Sozialismus allerdings erst ab dem zweiten Kind, woran die pronatale Ausrichtung der Maßnahme erkennbar ist. Nach der Wende gab es eine Reihe von Reformen. Im Jahr 2001 wurde z.€B. ein bezahltes Elterngeld für Väter eingeführt, wovon 2005 gerade einmal 1,4€% der Väter Gebrauch machten (Sobotka et€al. 2008). Die letzte Gesetzesnovellierung stammt aus dem Jahr 2008. Sie sieht vor, dass Elterngeld in drei Varianten bezogen werden kann. In der schnellen Variante werden dem betreuenden Elternteil bis zum 24. Lebensmonat des Kindes lohnunabhängig monatlich rund 490€€ gezahlt. Die Basisvariante sieht eine Zahlung von monatlich 270€€ bis zum 36. Monat vor. Die langsame Variante schließlich umfasst eine Auszahlung in Höhe des Betrags der Basisvariante bis zum 21. Lebensmonat und weiter einen Betrag von 136€€ bis zum 48. Monat. Letzterer Tarif ist der Regelsatz, der gezahlt wird, wenn keine Variante speziell beantragt wurde (MPSV 2009a). Staatliche Kinderbetreuung╇ Bis Anfang der 1960er Jahre war die Zahl an Kindergartenplätzen in Tschechien nicht ausreichend, insbesondere da gleichzeitig die Frauenerwerbsquote anstieg; als eine Folge sank die Fertilität. Um diese Entwicklung zu stoppen, wurden vom Staat Verbesserungsmaßnahmen umgesetzt (Frejka 1980).
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Nach der politischen Wende kam es jedoch erneut zu Verschlechterungen speziell in der Betreuung von Kindern unter drei Jahren. So besuchten im Jahr 2005 etwa 88€% der 3- bis 5-Jährigen einen Kindergarten in staatlicher Trägerschaft. Von den unter 3-Jährigen waren hingegen weit weniger in staatlicher Obhut, der Anteil der 2-Jährigen, die in einer Krippe untergebracht waren, betrug 2005 nur 26€ %. Dazu trugen die großzügige Elterngeldregelung sowie der Anstieg der Betreuungsgebühren bei, nachdem das Land sie in die Verantwortung der Städte und Gemeinden übergab (Sobotka et al. 2008). Kindergeld╇ Als ein weiteres pronatalistisches Instrument diente zu sozialistischen Zeiten das Kindergeld. Im Jahr 1970 belief es sich auf 90€CZK für das erste Kind und 340€CZK für das zweite. Für das dritte waren es 450€CZK, beim vierten und fünften Kind waren es nur noch 400 bzw. 240€CZK (Frejka 1980). Zwischen 1990 und 2007 gab es in Tschechien ein einkommensabhängiges Kindergeld, dessen Höhe anhand einer Bemessungsgrundlage festgelegt wurde, die dem Existenzminimum entsprach. Die Auszahlungen lagen bei 9€€ für Kinder bis 6 Jahre und 29€€ für Kinder zwischen 15 und 26 Jahren. Anfang 2008 wurde diese Regelung reformiert und der individuelle durch einen pauschalen Betrag ersetzt, der sich nach Altersklassen staffelt. Demnach stehen Eltern von Kindern unter 6 Jahren nun monatlich 18€€, für Kinder bis 15 Jahren 22€€ und bis 26 Jahren 25€€ zu (MPSV 2009b). Steuererleichterungen╇ Kinder finden in Tschechien eine steuerliche Berücksichtigung. Seit 2005 wird statt vorher abziehbarer Posten ein pauschaler Nachlass von 215€€ pro Kind gewährt. Wenn die Steuerpflicht unter der Höhe des Steuernachlasses liegt, wird diese Differenz als Steuerbonus ausgezahlt, jedoch höchstens 1.076€€ jährlich (CCS Consulting 2005). Rentenregelungen╇ Seit 1996 wird das Rentenalter jährlich um 4 Monate für Männer und 3 Monate für Frauen erhöht. Es betrug 2009 für Männer 62 Jahre. Für Frauen ist es von der Kinderzahl abhängig; bei drei oder vier Kindern sind es 57 Jahre und bei mehr Kindern 56. Mütter von 2 Kindern können mit 58, von 1 Kind mit 59 und Kinderlose mit 60 in Rente gehen (MPSV 2009c).
Vereinbarkeit von Beruf und Familie Frauenerwerbstätigkeit╇ Während der sozialistischen Ära gab es in Tschechien eine Arbeitsplatzgarantie. Wegen des damaligen hohen Arbeitskräftebedarfs war Frauenerwerbstätigkeit unabdingbar und die Beschäftigungsquote der Frauen entsprechend hoch. Diese Merkmale sind charakteristisch für die Arbeitsmärkte in den vormals sozialistischen Staaten, wobei die weiblichen Erwerbsmuster den politischen Umbruch überdauerten. So lag die Frauenbeschäftigungsquote im Jahr 1993 noch bei knapp 60€%; zwischen 1996 und 2004 ging sie leicht zurück. Im folgenden wirtschaftlichen Aufschwung mit einem jährlichen BIP-Wachstum von rund 6€% in den Jahren 2005/2006 stieg die Beschäftigungsquote der Frauen wieder leicht an, blieb aber weiterhin unter ihrem 1993er Niveau (Vecerník 2008). Insgesamt lag sie
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5 Standardisierte Länderprofile
Abb. 5.54↜渀 Arbeitsmarkt in Tschechien
seit 1993 permanent ca. 17 Prozentpunkte unter der Beschäftigungsquote der Männer (s. Abb.€5.54) und im Jahr 2006 entsprach sie mit 57€% der durchschnittlichen Beschäftigungsquote der Frauen in der EU (OECD 2009b). Eine Besonderheit in Tschechien, die mit anderen vormals sozialistischen Ländern geteilt wird, ist die sehr niedrige Quote an Teilzeitbeschäftigung der Frauen. Im Jahre 2006 lag sie bei nur 5,6€%, während in den Niederlanden 60€% der Frauen in Teilzeit beschäftigt waren (OECD 2007). Ob diese Situation mehr den Präferenzen der Frauen oder eher dem mangelnden Angebot an Teilzeitstellen geschuldet ist, kann aus der Quotenangabe nicht entnommen werden. Die Beschäftigungsquote für Mütter mit einem Kind unter 15 Jahren lag 2005 bei 57€% (s. Abb.€5.55). Frauen mit zwei Kindern gingen zu 53€% einer Beschäftigung nach und bei drei Kindern nur noch zu 34€% (OECD 2007). Die Arbeitslosigkeit in Tschechien nahm Anfang der 1990er zunächst leicht ab, stieg dann aber drastisch
Abb. 5.55↜渀 Beschäftigungsquoten von Frauen in Tschechien
5.1 Fertilität und sozioökonomische Rahmenbedingungen
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an und schwankt seit der Jahrtausendwende um EU-weit eher niedrige Werte von 4 bis 7€% für Männer und 7 bis 10€% für Frauen (OECD 2009b). Weitere Regelungen╇ Ein Mindestlohn wurde im Jahr 1995 eingeführt, um das Existenzminimum zu sichern. Seit 2006 beträgt er etwa 1,86€ € pro Stunde bzw. 310€€ monatlich bei einer 40-stündigen Arbeitswoche (Czech Republic 2009).
5.1.5.4 Fazit Tschechien hat im Jahr 1990 sein sozialistisches System in eine Demokratie mit marktwirtschaftlicher Basis umgewandelt. Das implizierte auch die Einführung eines vollkommen neuen Sozialsystems, das auf die tschechischen Spezifika eingestellt werden musste. Entsprechend steckte die Sozial- und damit auch die Familienpolitik in den 1990er Jahren noch in den Kinderschuhen. Seit 2005 schlug die Regierung offiziell einen Kurs ein, dessen Ziel in der Stärkung der Familie in der Gesellschaft liegt. So wurden im Jahr 2008 einige wichtige familienpolitische Gesetzesnovellierungen durchgesetzt, die eine verbesserte finanzielle Sicherung für Familien mit Kindern gewährleisten sollen. Dazu gehört auch ein Gesetz zur Vereinheitlichung und Erhöhung des Kindergeldes. Ein gewisser Aufholbedarf von Regierungsseite her besteht immer noch hinsichtlich Maßnahmen zur Vereinbarkeit von Mutterschaft und Beruf, insbesondere für hoch ausgebildete Frauen, für welche die an sich großzügige Elternzeitregelung keine attraktive Option sein dürfte. Auch mag für weniger ausgebildete Frauen ein Elterngeld, das 20€% über dem Mindestlohn liegt und bis zum dritten Lebensjahr eines Kindes bezogen werden kann, zwar finanziell attraktiv sein, aber nicht ihrer Erwerbsorientierung befördern. Die Wirkungen einer gezielt pronatalistischen Politik verbunden mit einer ebenso klaren Erwerbsbeteiligungspolitik lassen sich an der Fertilitätsentwicklung in den vormals sozialistischen Ländern besonders deutlich studieren. Ihre Übertragbarkeit auf die heutigen Verhältnisse in Tschechien oder anderen demokratischen Ländern mit marktwirtschaftlichem Wirtschaftssystem ist dabei als getrennte Forschungsaufgabe zu sehen. Insbesondere hätte diese auch die ggf. systemspezifische Normenbildung zu hinterfragen. Der Absturz der Geburtenziffer nach dem politischen Umbruch im Jahr 1989 war drastisch, erfolgte jedoch hauptsächlich durch eine starke Verschiebung der Geburtsalter. Wird dieser Rechnung getragen, so liegt die TFR in Tschechien nach wie vor in etwa auf Bestanderhaltungsniveau. Diese optimistische Prognose wird durch zahlreiche Befragungsergebnisse gestützt. Die tschechische Bevölkerung gilt als sehr familienverbunden und ihre Präferenzen liegen mehrheitlich bei der ZweiKind-Familie (Sobotka et€al. 2008). Im Global Gender Gap Index belegte Tschechien 2008 nur den 69. Rang und lag damit an letzter Stelle in diesem Buch betrachteten Ländern (Hausmann et€al. 2008).
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5 Standardisierte Länderprofile
5.1.6 Länderprofil Deutschland Nach Esping-Andersen (1990) ist Deutschland ein konservativer Wohlfahrtsstaat. Das Wohlfahrtssystem ist mit Selektivität (Regulierung der Lohnarbeit), Institutionalisierung (das Wohlfahrtssystem ist vornehmlich der Sozialstaat) und Kompensation (Hilfe in sozialen Notlagen) charakterisierbar (Hegelich und Meyer 2008). Nach der Einstufung von Gauthier (1996) ist die Familienpolitik protraditionalistisch. Eine Besonderheit Deutschlands liegt in der Vereinigung von zwei unterschiedlichen politischen Systemen im Jahr 1990. Bis heute überdauern regimespezifische Verhaltensweisen in den jeweiligen Teilen Deutschlands. Die Unterschiede in der Fertilität des Jahres 2007 zwischen den Bundesländern waren jedoch mit 0,16 Kindern pro Frau sehr gering (s. Abb.€5.56).
5.1.6.1 Bevölkerungsentwicklung Die Bevölkerungszahl in Deutschland stieg zwischen 1970 und 2008 von 78,3€Mio. auf 82,2€Mio. Personen an, was einem Wachstum von 5€% entsprach. Jedoch lassen sich in den einzelnen Altersgruppen weitreichende Veränderungen feststellen. So schrumpfte beispielsweise die Gesamtzahl der 0- bis 15-Jährigen zwischen 1970 und 2007 um 36€% (s. Abb.€5.57). Ähnlich wie Frankreich verfügt auch Deutschland über eine relativ hohe Anzahl an überwiegend weiblichen Personen im Alter 95+. Deutschland wies zudem über die Zeitspanne eine positive Nettomigration auf. Jedoch wird für diese zwischen 2007 und 2030 eine Schrumpfung um 13€% prognostiziert (Eurostat).
Abb. 5.56↜渀 TFR nach Bundesländern in Deutschland
5.1 Fertilität und sozioökonomische Rahmenbedingungen
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Abb. 5.57↜渀 Altersstruktur in Deutschland
Die Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter (s. Abb.€ 5.58) stieg zwischen 1970 und 2007 um 14€%. Dabei blieb der Anteil der ältesten Gruppe (55- bis 64-Jährige) fast konstant, danach aber erfährt er bis 2030 einen hohen Anstieg um 18€%. Die jüngste Gruppe (15 bis 24 Jahre) und die zweitjüngste (25 bis 34 Jahre) dagegen schrumpfen von 1970 bis 2030 stark: mit 30€% respektive 37€%. Auch der Anteil der Erwerbsbevölkerung an der Gesamtbevölkerung wird sich verringern. Während dieser im Jahr 1970 noch bei 63€% lag und wegen des Eintritts der Babyboomer in den Arbeitsmarkt bis 1987 auf 70€% anstieg, wird er bis 2030 auf 60€% gefallen sein. Das Durchschnittsalter der Bevölkerung und das der Erwerbsbevölkerung stieg zwischen 1970 und 2007 um 6,3 bzw. 1,4 Jahre an (s. Abb.€5.59). Dadurch ist bis 2007 die Gesamtbevölkerung älter als die Erwerbsbevölkerung geworden, vor allem weil es weniger unter 15- Jährige als über 64-Jährige gab.
Abb. 5.58↜渀 Erwerbsbevölkerung in Deutschland
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5 Standardisierte Länderprofile
Abb. 5.59↜渀 Durchschnittsalter in Deutschland
Die Eurostat-Prognosen gehen weiter von einer stärkeren Alterung der Gesamtbevölkerung aus, bis 2030 auf 46,9 Jahre. Die Erwerbsbevölkerung altert bis dahin auf 42,1 Jahre. Zwischen 1970 und 2007 ist der Jugendquotient von 37 auf 21 gesunken und wird in etwa auf diesem Wert bis 2030 verharren (s. Abb.€5.60). Damit zeigt Deutschland die gleiche Entwicklung wie in Frankreich in diesem Zeitraum, aber auf einem niedrigeren Niveau. Der Altenquotient stieg zwischen 1970 und 2007 von 21 auf 31. Im Jahr 2030 werden einer alten Person lediglich zwei Personen im erwerbsfähigem Alter gegenüberstehen. Der Grund dafür ist, dass die geburtenstarken Jahrgänge der 1960er Jahre das Rentenalter erreichen. Der Gesamtquotient wird sich in diesem Zeitraum von 52 auf 67 erhöhen. Die vorangegangene Berechnung des Unterstützungsquotienten unter Einbeziehung der Altersgruppe 15 bis 64 Jahre kann etwas zu optimistisch gewählt worden sein, da die Gruppe der 15- bis 20-Jährigen durch längere Ausbildungszeiten später
Abb. 5.60↜渀 Unterstützungsquotienten in Deutschland
5.1 Fertilität und sozioökonomische Rahmenbedingungen
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ins Erwerbsleben eintritt. Die Berechnung mit der Altersgruppe 20 bis 64 Jahre zeigt noch ungünstigere Werte an. Im Jahr 2030 liegt der Jugendquotient bei 31 statt 21 und der Altenquotient bei 50 statt 46. Damit erhöht sich auch der Gesamtquotient von 67 auf 81. Somit werden 100 Personen zwischen 20 und 64 Jahren 81 jüngere bzw. ältere Personen unterstützen müssen.
5.1.6.2 Fertilitätsanalyse Geburtenziffern Deutschland weist im weltweiten Vergleich eine sehr niedrige Fertilität auf. Die TFR lag im Jahr 1970 bei 2,02 Kindern je Frau und somit knapp unter dem Bestanderhaltungsniveau von 2,1 Kinder. Bis 1973 fiel sie sehr stark auf 1,54 Kinder pro Frau und lag in den folgenden Jahren bei durchschnittlich 1,4 Kindern (s. Abb.€5.61). Nach der politischen Wende brach die TFR in Ostdeutschland ein und erreichte den absoluten Tiefstwert von 0,8 Kindern pro Frau, was als Geburtenschock bezeichnet wird (Kreyenfeld und Konietzka 2004). Nach Erholung stieg 1996 die gesamtdeutsche TFR wieder an und betrug 2007 1,37 Kinder pro Frau. Regional betrachtet waren 2007 die TFR der Stadtstaaten und des Saarlandes am niedrigsten. Die um das mittlere Alter bei Geburt verschobene Kohortenfertilität CFR lag 1970 mit einem Wert von 1,78 unter dem Bestanderhaltungsniveau. Im Jahr 1972 befand sie sich erstmals auf höherem Niveau als die TFR, folgte aber deren negativen Trend. Die verschobene CFR betrug 1994 1,48 Kinder. Die tempostandardisierte TFR bildet die tatsächliche Kohortenfertilität genauer ab als die TFR, da sie Verschiebungen des Alters bei Geburt berücksichtigt. Ihr Wert lag 2004 bei 1,59 Kindern je Frau (VID 2008).
Abb. 5.61↜渀 Geburtenziffern in Deutschland
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5 Standardisierte Länderprofile
Abb. 5.62↜渀 Geburts- und Heiratsalter in Deutschland
Alter bei Geburt und Heirat In Deutschland lag das durchschnittliche Alter der Mutter bei Erstgeburt im Jahr 1970 bei 24 Jahren (s. Abb.€5.62). Danach stieg es bis 1980 um ein Jahr, in den nachfolgenden Jahrzehnten um 1,5 respektive 2 Jahre und lag im Jahr 2005 bei 29,1 Jahren (Europarat 2005). Das Alter bei Geburt lag 1970 mit 26,6 Jahren etwa 2,6 Jahre über dem ErstgebärÂ� alter. In den folgenden vier Jahren sank es und begann ab 1975 wieder zu steigen. Bis zum Jahr 2005 hat es sich mit 29,5 Jahren dem Alter bei Erstgeburt deutlich angenähert. Das Erstheiratsalter der Frauen stieg zwischen 1970 und 2004 um 6 Jahre auf 28,4 Jahre (Europarat 2005). Das Ausmaß der Deinstitutionalisierung der Ehe wird an der Zahl von gerade einmal 373.681 im Jahr 2006 geschlossenen Ehen deutlich. Das ist der niedrigste Wert im Zeitraum von 1950 bis 2006. Doch lediglich 30€% der Geburten fanden 2006 außerhalb der Ehe statt. In Westdeutschland waren es 24€% und im Osten anteilig mehr als doppelt so viele (60€%) (StBA 2007). Die Scheidungszahlen haben im Jahr 2003 den höchsten Stand seit 1946 erreicht, gingen aber seitdem zurück. Etwa 33€% der Männer und 25€% der Frauen im Alter 50 waren 2006 noch unverheiratet (Dorbritz 2008). Sozioökonomische Unterschiede in der Kinderzahl Steigende Kinderlosigkeit ist in Deutschland ein Hauptgrund für die sinkenden Geburtenraten. So waren 11€% der Frauen aus der Kohorte 1933–1938 kinderlos, bis zur Kohorte 1964–1968 verdoppelte sich dieser Anteil fast (s. Abb.€5.63). Die Großfamilie ist seltener geworden, hatten in der Kohorte 1933–1938 noch 32€% der Frauen drei Kinder und mehr, halbierte sich der Anteil bis zur Kohorte 1964–1968. Der Anteil von Frauen mit einem Kind war über die Kohorten bei 25€% und fast konstant, vor allem in Westdeutschland. Er betrug dort in der Kohorte 1933–1938
5.1 Fertilität und sozioökonomische Rahmenbedingungen
173
Abb. 5.63↜渀 Kinderzahl nach Kohorten in Deutschland
21€% (26€% im Osten) und stieg kaum (auf 23€% für die Kohorte 1964–1968). In den Neuen Bundesländern dagegen stieg er deutlich auf 37€% (StBA 2009a), wohl auch bedingt durch die politische Wende. In Deutschland lassen sich auch Unterschiede in der Kinderlosigkeit zwischen Ost und West feststellen. Der Anteil der ostdeutschen kinderlosen Frauen zwischen 40 und 75 Jahren lag 2008 bei 8€% und im Westen doppelt so hoch. Ein Vergleich zwischen hochausgebildeten Frauen dieses Alters zeigt, dass die westdeutschen zu 26€%, die ostdeutschen nur zu 9€% kinderlos blieben. Der Einfluss der Bildung der Frauen auf die Kinderlosigkeit ist in Westdeutschland sehr deutlich: Frauen mit mittlerer Ausbildung waren zu 16€% und mit geringer zu 11€% kinderlos. Im Osten waren es 7€% bzw. 9€%, hier ist kein Zusammenhang feststellbar (StBA 2009a). Der Fertilitätsrückgang betrifft Frauen aller Ausbildungsstufen, für Hochqualifizierte aber ist er von der Kohorte 1932–1941 (1,7 Kinder) bis zur Kohorte 1961–1972 (1,2 Kinder) am stärksten und kontinuierlichsten (StBA 2009b; s. Abb.€5.64).
Abb. 5.64↜渀 Fertilität nach Bildung der Mutter in Deutschland
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5 Standardisierte Länderprofile
Die TFR der Immigrantinnen aus Afrika, Asien und der Türkei lag zwischen 2002 und 2004 mit 1,9 bis 2,2 Kindern höher und die der zugewanderten EU-Bürgerinnen mit 1,0 bis 1,3 Kindern niedriger als die TFR der deutschen Frauen (Schmid und Kohls 2008). Abtreibungen sind in Deutschland strafbar, jedoch auf Wunsch der Schwangeren bis zur 12. Woche möglich, wenn zuvor eine Schwangerschaftskonfliktberatung durchgeführt wurde. Im Gegensatz dazu waren die Abtreibungsgesetze in der ehemaligen DDR sehr liberal. Ein Schwangerschaftsabbruch war seit 1972 generell bis zur 12. Woche möglich. Der verstärkte Geburtenrückgang in Folge dessen konnte durch vielfältige pronatale Maßnahmen umgekehrt werden (Borowsky 1998). Surveys Der Kinderwunsch wurde für Deutschland innerhalb der Eurobarometerwellen 2001 und 2006 ermittelt. Auch in der Population Policy Acceptance Study (PPAS) wurden 2003 die Kinderwünsche erfragt. Die persönlich ideale Kinderzahl des Eurobarometers 2006 wurde von Frauen mit 2,24 und von Männern mit 2,17 Kindern angegeben (Testa 2006). Gegenüber 2001 war das eine deutliche Zunahme, deren Ursache auch in der Gestaltung der Interviews liegt (siehe dazu Kap.€3.5.3). Auch der Kinderwunsch, wie er im Rahmen der PPAS ermittelt wurde, lag deutlich darunter. Frauen gaben ihn mit 1,75 und Männer mit 1,59 Kindern an, die geringsten Werte aller PPAS-Länder. Allerdings ist die Methode der PPAS eine andere als die des Eurobarometers, die tendentiell geringere Zahlen für den Kinderwunsch liefert, die dafür aber die tatsächliche Fertilität genauer prognostizieren. Die tempostandardisierte TFR liegt mit 1,59 Kindern je Frau erstaunlich nahe bei. Der World Values Survey (WVS) erfragt weltweit die Wertvorstellungen von Männern und Frauen, so auch zu Abtreibungen. In Deutschland erfolgte das in den Jahren 1990 und 1999. Wenn ein verheiratetes Paar keine Kinder mehr möchte, waren 1990 in Westdeutschland 68€% der Männer und 71€% der Frauen gegen eine Abtreibung. Neun Jahre später sind es nur noch 48€% der Männer und 51€% der Frauen, die sich dagegen aussprachen. Dennoch ist die Ablehnung in Ostdeutschland zu beiden Erhebungszeitpunkten geringer. Im Jahr 1990 waren 46€% der Männer und 54€% der Frauen in den Neuen Bundesländern dagegen. Neun Jahre später waren es bei den Männern nur noch 20€% und bei den Frauen 24€% (WVS 2009). 5.1.6.3 Sozioökonomische Rahmenbedingungen Staatliche Leistungen an Eltern Deutschland ist eines der wenigen Länder, das explizit über ein Familienministerium verfügt. Dennoch sind die familienbezogenen Maßnahmen nicht ausschließlich diesem Bereich zuzuordnen. Die familienpolitischen Leistungen des Staates
5.1 Fertilität und sozioökonomische Rahmenbedingungen
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bestehen überwiegend aus finanziellen Transfers, die mit dem Ziel verbunden sind, ein „Familienlasten- und Familienleistungsausgleich“ zu gewährleisten (Spieß 2006). Hinzu kommen Zeit- und Infrastrukturmaßnahmen, sodass es sich vielmehr um eine Verzahnung unterschiedlicher politischer Bereiche bei der Entwicklung und Umsetzung dieser Maßnahmen handelt. Im Jahr 2005 betrugen die Ausgaben für Familien 3€% des BIP und sind damit zwar geringer als die in Frankreich und Großbritannien aber immerhin anteilig so hoch wie in Norwegen (OECD 2009a). Als eine Besonderheit lassen sich bis in die heutige Zeit Rudimente der pronatalen Familienpolitik der ehemaligen DDR in Ostdeutschland feststellen, die sich u.€a. durch wesentlich mehr Kinderbetreuungsplätze in den Neuen Ländern widerspiegeln. Mutterschutz und Elternzeit╇ Das erste Mutterschutzgesetz wurde im Jahr 1878 unter Bismarck erlassen. Es schützte erwerbstätige Frauen bis zu 3 Wochen nach der Entbindung (Heinemann 2004). Heute beträgt der Mutterschutz insgesamt 14 Wochen; bis zu 6 Wochen vor der Geburt und 8 obligatorische Wochen nach der Geburt. Seit dem 01.01.2007 können aufgrund der Elternzeit beide Elternteile zur Betreuung ihres Kindes insgesamt drei Jahre lang in Absprache mit dem Arbeitgeber von der Arbeit freigestellt werden. Interessanterweise wird die Mutterschutzfrist von 8 Wochen nach der Entbindung mit der Elternzeit der Mutter verrechnet. Die Beantragung erfolgt bis zu 7 Wochen vor Ablauf des Mutterschutzes. Maximal 12 Monate der Elternzeit können bis zum vollendeten 8. Lebensjahr des Kindes aufgespart werden. Diese Regelung gilt für jedes weitere geborene Kind neu (BMFSFJ 2008a). Elterngeld╇ Im Jahr 1976 betrug der bezahlte Schwangerschaftsurlaub in der DDR 20 Wochen, für das erste Lebensjahr des Zweitgeborenen konnten sich Mütter bei vollem Gehalt von der Arbeit beurlauben lassen. Zehn Jahre später war das auch schon ab dem ersten Kind möglich. Zusätzlich gab es eine Geburtenbeihilfe, die von 500 auf 1.000 Mark erhöht worden ist (Borowsky 1998). Mutterschaftsgeld gab es in der BRD seit 1968 und mit dem Bundeserziehungsgeldgesetz von 1986 eine weitere finanzielle Unterstützung. Zum 01.01.2007 wurde das 3 Jahre lang gewährte Erziehungsgeld durch das Elterngeld ersetzt und beträgt nun 67€% des vorherigen Nettojahreseinkommens; maximal 1.800€€ bzw. mindestens 300€ € monatlich (BMFSFJ 2008a). Der hohe Maximalbetrag soll besonders Akademiker motivieren, sich für Kinder zu entscheiden. Väter haben auch Anspruch auf Elterngeld, womit die Geschlechtergleichstellung nach dem skandinavischen Vorbild gefördert werden soll. Jedoch werden monatlich 77€€ vom Elterngeld nicht selbständig Beschäftigter als Verrechnung mit der Werbungspauschale abgezogen. Die Auszahlung erfolgt in den ersten 12 bzw. bei Alleinerziehenden in den ersten 14 Lebensmonaten des Kindes (BMFSFJ 2008a). Dieser kurze Zeitraum soll einen Anreiz zum schnelleren Berufswiedereinstieg bieten. Auch ist das Mutterschaftsgeld auf das Elterngeld anrechenbar, sodass sich die Bezugsdauer um 2 Monate verkürzt. Im Jahr 2007 waren 16€% der Elterngeldbezieher Väter; bei dem Erziehungsgeld zuvor lediglich 3€%. Nur ein Prozent der Mütter, die Elterngeld bezogen, kehrten
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schon nach zwei Monaten wieder in den Beruf zurück, wohingegen es bei den Vätern 65€% waren. Jeder Dritte erhielt den Mindestsatz von 300€€. Durchschnittlich bekamen die Bezieher von Elterngeld 2007 monatlich 643€€. Unterteilt nach Geschlechtern erhielten Männer im Durchschnitt 973€€, Frauen nur 590€€ (StBA 2009c). Kindergeld╇ Im Jahr 1936 wurde erstmals Kindergeld in Deutschland ab dem fünften Kind eingeführt. In der DDR gab es ebenfalls ein Kindergeld, das ab 1987 auf 50 für das erste und 100 Mark für das zweite Kind erhöht wurde. In Westdeutschland ist das Kindergeld in den 1970ern auf das erste Kind ausgeweitet worden und wurde seitdem pauschal gezahlt. Am 01.01.2009 wurde das Kindergeld von 154 auf 164€€ für das erste und zweite Kind erhöht. Für das dritte erhalten Eltern 170 und 190€€ für weitere Kinder. Das Kindergeld wird bis zum 18. Lebensjahr des Kindes gewährt; wenn sich das Kind noch in Ausbildung befindet, bis zum 25. Lebensjahr (BMFSFJ 2008b). Staatliche Kinderbetreuung╇ In Deutschland haben Kinder ab drei Jahren seit 1996 ein Recht auf einen Kindergartenplatz, wobei es sich hauptsächlich um Halbtagsplätze handelt. So besuchten 2008 90,3€% aller Kinder zwischen drei und sechs Jahren eine Betreuungseinrichtung. Von allen tagesbetreuten Kindern befanden sich 97€% in Kindertagesstätten und die restlichen 3€% in Tagespflege. Eine Ost-WestDiskrepanz lässt sich in Deutschland in der Anzahl der Ganztagesbetreuungsplätze feststellen. In Ostdeutschland gibt es zudem ein viel höheres Angebot an Kinderkrippenplätzen. Im Jahr 2008 besuchten 38€% aller ostdeutschen Kinder unter drei Jahren eine Kinderkrippe, der Anteil der Westdeutschen betrug lediglich 10€%. Für die Ganztagsbetreuungsquote der unter 3-Jährigen ist der relative Unterschied noch deutlicher, nämlich im Osten (28€%) sieben Mal höher als im Westen (4€%). Für 3bis 6-Jährige sind die Unterschiede in der Betreuungsquote zwischen Ost- (98€%) und Westdeutschland (81€%) auf den ersten Blick nicht so ausgeprägt. Für Ganztagsplätze ist die Quote im Osten (62€%) wiederum drei Mal höher als im Westen (20€%) (StBA 2009d). Um die Betreuungssituation zu verbessern, wurde 2008 das Kinderförderungsgesetz (KiföG) beschlossen. Demnach soll bis 2013 einem Drittel der unter 3-Jährigen ein Betreuungsplatz gesichert werden (BMFSFJ 2009). Steuererleichterungen╇ Das Existenzminimum eines Kindes wird in Deutschland entweder durch das Kindergeld oder durch Steuerfreibeträge von der Steuer befreit. Der Steuerfreibetrag setzt sich aus dem Kinderfreibetrag von 1.824€€ und dem Freibetrag für Ausbildungs-, Betreuungs- und Erziehungsbedarf eines Kindes in Höhe von 1.080€€ pro Elternteil zusammen. Das ergibt einen Sammelfreibetrag von 5.808€€. Bei Alleinerziehenden ist er nochmals um monatlich 1.308€€ höher (Familienatlas 2008). Rentenpunkte╇ Im deutschen Rentensystem werden für die Kindererziehungszeiten Pflichtbeiträge angerechnet; die Finanzierung erfolgt über einen Zuschuss des Bundes an die Gesetzliche Rentenversicherung. Für Geburten vor 1992 werden für jedes Kind 12 Monate nach dem Geburtsmonat und für die danach Geborenen 36 Monate angerechnet. Die Beitragshöhe ergibt sich aus einem für die Kindererziehungszeit unterstellten durchschnittlichen Gehalt (DRV 2009).
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Vereinbarkeit von Beruf und Familie Frauenerwerbstätigkeit╇ Der vorhandene Unterschied zwischen West- und Ostdeutschland lässt sich sehr gut in der Frauenerwerbstätigkeit erkennen. In der ehemaligen DDR war die Frauenbeschäftigungsquote aufgrund des großen Arbeitskräftebedarfs viel höher als in der damaligen BRD. Nach der Wende ist dieser Unterschied bestehen geblieben, was auf die ungenügende Abdeckung mit Kinderbetreuungsmöglichkeiten in Westdeutschland und auf das besonders im Süden der Alten Bundesländer vorhandene männliche Ernährer-Modell zurückzuführen ist (Kreyenfeld und Konietzka 2004). Die gesamtdeutsche Frauenbeschäftigungsquote ist zwischen 1992 und 2007 um 7,5 Prozentpunkte gestiegen und lag mit 63€% etwa 4 Prozentpunkte über dem europäischen Durchschnitt (s. Abb.€5.65). Die Männerbeschäftigungsquote lag 1992 bei 76€% und ist bis 2007 auf gerade einmal 75€% zurückgegangen. Der europäische Durchschnitt lag 2007 bei 76€%. Die Erwerbslosigkeit in Deutschland ist im gleichen Zeitraum für beide Geschlechter gestiegen. Während sich die Erwerbslosenquote der Frauen um lediglich 0,4 Prozentpunkte auf 8,3€% erhöhte, stieg der Wert für Männer zwischen 1992 und 2006 von 5,1 auf 8,5€% an (OECD 2009b). Im Jahr 1972 waren in Westdeutschland 34€% der Mütter von Kindern unter 6 Jahren erwerbstätig; 1998 schon 47€%. In Ostdeutschland fallen die Beschäftigungsquoten für Mütter mit Kindern unter 6 Jahren weit höher aus, sanken aber zwischen 1991 und 1998 von 79€% auf 57€% (Büchel und Spieß 2002). In Gesamtdeutschland waren Frauen mit einem Kind unter 16 Jahren im Jahr 2007 zu 68€% berufstätig (s. Abb.€5.66). Bei zwei Kindern sank die Beschäftigungsquote auf 58€% und bei drei und mehr auf 39€%. Kinderlose Frauen waren hingegen zu 80€% berufstätig, was etwa der Beschäftigungsquote norwegischer kinderloser Frauen entsprach, die sich auf 82€ % belief (UNECE 2009). Jedoch lag die Quote der norwegischen Mütter über alle Paritäten ähnlich hoch, was zeigt, dass die Vereinbarkeit von Familie und Beruf für deutsche Mütter schwerer ist, ihnen aber durch entsprechend konzipierte
Abb. 5.65↜渀 Arbeitsmarkt in Deutschland
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Abb. 5.66↜渀 Beschäftigungsquoten von Frauen in Deutschland
und kostengünstige Kinderbetreuungsmöglichkeiten erleichtert werden könnte (BMFSFJ 2008c). Weitere Regelungen╇ Während der Elternzeit besteht ein besonderer Kündigungsschutz und ein Rechtsanspruch auf Teilzeitarbeit, die für beide Elternteile je bis zu 30 Stunden betragen darf (BMFSFJ 2008a).
5.1.6.4 Fazit Deutschland ist im weltweiten Vergleich ein Niedrigfertilitätsland. Von den untersuchten Ländern ist es, neben Großbritannien, das mit der höchsten Kinderlosigkeit. Der Rückgang der Fertilität seit Anfang der 1970er Jahre ist fast nur auf den Anstieg der Kinderlosigkeit zurückzuführen. Selbst wenn man berücksichtigt, dass die 1968 geborenen Frauen ihre fertile Phase noch nicht abgeschlossen haben: Kinderlosigkeit scheint in der deutschen Gesellschaft weitgehend akzeptiert. Zudem hat Deutschland den geringsten Anteil von Familien mit drei oder mehr Kindern unter den untersuchten Ländern. Staaten, die hier einen Anteil von über 30€% aufweisen (Frankreich, Großbritannien, Norwegen) zeigen auch eine deutlich höhere Fertilität als in Deutschland. Eine Besonderheit Deutschlands liegt darin, dass mit der Wende 1990 zwei unterschiedliche politische Regime vereinigt worden sind. Als Folge dessen ist in Ostdeutschland die Anzahl der Kinderbetreuungsplätze heute immer noch hoch. Dies gilt besonders für Ganztagsplätze in der Kinderbetreuung, am größten ist der Unterschied zwischen Westdeutschland und Ostdeutschland für die Betreuung von 0- bis 3-jährigen Kindern. Das ermöglicht eine höhere Frauenerwerbsquote in den Neuen Ländern. Die daraus resultierende größere Selbstständigkeit der Frauen spiegelt sich im höheren Anteil von Geburten außerhalb der Ehe wider und darin, dass in ostdeutschen Ländern die Bildung der Frau keinen Einfluss auf die Kinderzahl hatte. In Westdeutschland ist hingegen, traditionell bedingt und auch als eine Folge
Literatur
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der schlechten Vereinbarkeit von Beruf und Familie, das männliche Ernährer-Modell verbreitet. Der Ausbau von Kinderbetreuungsmöglichkeiten für 0- bis 3-Jährige wurde allerdings in Deutschland durch eine Reform angeschoben, bis 2013 soll für ein Drittel derer ein Platz geschaffen werden. Der Kinderwunsch scheint in Deutschland eher gering ausgeprägt. Auch die gesellschaftliche Akzeptanz gegenüber Kindern scheint gering zu sein. Hier seien die Kita-Klagewellen genannt, bei denen die Anwohner gegen deren Eröffnung oder Weiterführung vor Gericht zogen und durch die Berufung auf Lärmschutzbestimmungen deren Schließung erwirken konnten. In Frankreich z.€ B. herrscht ein kinderfreundlicheres Klima, bereits 1985 wurde eine Kampagne mit dem Titel „Ouvrons la France aux enfants“ (Lasst uns Frankreich für Kinder öffnen) gestartet. Im Zuge derer bauten verschiedene Akteure (Arbeitgeber, Gewerkschaften…) beispielsweise Kinderspielplätze (van de Kaa 1987). Deutschland nimmt im Global Gender Gap Index 2008 den 11. Platz ein (Hausmann et€al. 2008).
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