Frank Adloff, Steffen Mau (Hg.)
Vom Geben und Nehmen Zur Soziologie der Reziprozität
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Frank Adloff, Steffen Mau (Hg.)
Vom Geben und Nehmen Zur Soziologie der Reziprozität
»Theorie und Gesellschaft« Herausgegeben von .Axel Honneth, Hans Joas, Claus Offe und Peter Wagner Band 55
Frank Adloff, Dr. phil., ist wissenschaftlicher Assistent am Institut für Soziologie in Göttingen. Steffen Mau, Dr. rer. pol., ist Juniorprofessor für Sozialpolitik an der Universität Bremen.
Frank Adloff, Steffen Mau (Hg.)
Vom .Geben und Nehmen '
Zur Soziologie der Reziprozität
Campus Verlag Frankfurt/New York
Bibliografische lnfonnation der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie. Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http:/ /dnb.ddb.de abrufbar. ISBN 3-593-37757-8
Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Vexwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Copyright© 2005 Campus Verlag GmbH, F.rankfurt/Main Umschlaggestaltung: Guido Klütsch, Köln Druck und Bindung: KM-Druck, Groß-Umstadt Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier. Printed in Germany Besuchen Sie uns im Internet www.campus.de
Inhalt
I. Einführung Zur Theorie der Gabe und Reziprozität..................._....~..················-················~················· 9 Frank Adlo.ffund Steifen Mall
ll. Klassiker der Ethnologie und Anthropologie Die Gabe............................................................................................................................. 61 Marcel Mauss Zur Soziologie des primitiven Tauschs ...................................................... 73 Marshall D. Sah/ins
ID. Soziologische Theorieansätze Exkurs über Treue und Dankbarkeit ........................................................ 95 Georg Simmel Etwas gegen nichts. Reziprozität und Asymmetrie ................................ 109 Alvin W. Gouldner Sozialer Austausch ..................................................................................• 125 Peter M. Blau Die Ökonomie der symbolischen Güter ................................................. 139 Pierre Bourdieu
Die doppelte Unbegreiflichkeit der reinen Gabe ..................................... 157 Alain Caille
IV. Anwendungsfelder Reziprozität in familialen Generationenbeziehungen .............................. 187 Betina Holistein
Diegift economy moderner Gesellschaften ................................................. 211 Zur Soziologie der Philanthropie Frank Adloff und Steffen Sigmund
Reziprozität und Anerkennung in Arbeitsbeziehungen ........................... 237 Stephan Voswinkel
Reziprozität und Wohlfahrtsstaat ............................................................ 257 Stephan Lessenich und Steffen Mau
Die Gabe der Entwicklung ....................................................................... 277 Nathalie Karagiannis
Autorenverzeichnis .................................................................................. 297 Sachregister ....................................................................................................................... .301 Personenregister............................................................................................................... 305
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Einführung
Zur Theorie der Gabe und Reziprozität Frank Adloffund Steffen Mau
Einleitung Reziprozität - die Logik des Gebens, Nehmens und Erwidems - ist für das Problem der sozialen Integration von entscheidender Bedeutung, jedoch hat Reziprozität in den Theoriegebäuden der Soziologie selten einen zentralen Stellenwert erlangt. Entweder wird die Norm der Reziprozität als so grundlegend für das soziale Leben und als so ubiquit:ät! angesehen, dass eine intensivere Beschäftigung mit diesem »Hintergrundphänomen« als nicht lohnend erscheint. Oder, was häufiger der Fall ist, man überlässt das Feld Anthropologen und Ethnologen, da Gabe und Reziprozität in archaischen Gesellschaften strukturbildend waren, in modernen aber nicht mehr - so die Vermutung. Zu komplex, zu institutionell oder zu systemisch vermittelt erscheinen mOderne soziale Beziehungen, als dass sie auf Reziprozitätsarrangements zurückzuführen wären. Es wird darauf verwiesen, dass mit dem Übergang zur Moderne eine Ausdifferenzierung des Gabenkonzeptes stattfand: Das, was früher verschmolzen iin der Gabe vorlag, ist nun ausdifferenziert in die Sphäre des wirtschaftlichen Tausches und des Vertrags einerseits, das private Schenken (zu Weihnachten oder zum Geburtstag) andererseits. So schreibt Luhmann (1997: 650) beispielsweise: »Die Anerkennung von Reziprozitätserfordernissen ist in segmentären Gesellschaften w,hlversell verbreitet.« Reziprozität ist für ihn ein Regulativ segmentärer Gesellschaften, von Reziprozität in modernen Gesellschaften ist in der Gesellschaft der Gesellsc4tift nirgendwo die Rede. Auch Werke, die sich explizit der soziologischen Rekonstruktion der anthropologischen Theorie d~ Gabentauschs widmen, verfallen in eine ähnliche Dichotomie. Zwar machte H~lmuth Berkings 1996 erschienener Band Schenken: Zur Anthropologie des Gebens die ~eutsche Soziologie nach Jahren der sträflichen Vernachlässigung auf die Bedeu~ des Themas aufmerksam, da er der Frage nach dem anthropologischen Ursprung des Gabentauschs nachgeht und zivilisationsgeschichtlich die Bedeutungswandlungen von der Gabe zum Geschenk im Übergang zur Moderne rekonstruiert. Jedoch bat Berking (1996: 214ff.) zufolge die Gabe heute nur noch im Bereich des privaten $chenkens ihren Ort, an den Rand gedrängt von Markt, Utilita1 rismus und Tausch. Mit dieser Einschätzung steht er nicht allein. Es finden sich ver-
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streut über die letzten Jahrzehnte einige Autoren, die eine Soziologie oder Sozialpsychologie des privaten Schenkens avisiert haben (vgl. Schwartz 1967; Cheal1987, 1988; Komter 1996). Dabei gibt es in neueren sozialwissenschaftliehen Diskussionen durchaus Konzepte, die an die Reziprozitätsthematik anschlussfähig sind, man denke nur an Robert Putnams viel beachtete Atbeiten zum Sozialkapital (Putnam 1995, 1996, 2000; auch Swain 2003). Der Begriff des Sozialkapitals bezieht sich bei Putnam auf zivile Assoziationen wie Vereine, informelle Netzwerke, Religionsgemeinschaften, Selbsthilfegruppen, soziale Bewegungen usw., denen ein besonderer Stellenwert als Unterbau einer funktionierenden Demokratie eingeräumt wird Ihnen wird eine wichtige Funktion für die Generierung von Reziprozitäts- und Vertrauensnormen zugeschrieben, durch die eine bessere gesellschaftliche Handlungskoordination ermöglicht wird. Putnam behauptet zudem, dass eine Gesellschaft, in welcher Reziprozität in generalisierter Form vorkommt, wirtschaftlich wie politisch effektiver ist, als eine Gesellschaft, in der Reziprozität nur in spezifischen Subgruppen vorfindbar ist erstere beruht auf einem brückenbildenden ~>hridgingbetween relation«, ebd: 170). Dieses Modell könnte man mithin als theoretische Alternative zu Parsons' Lösung des Hobbesschen Problems (Parsons 1968 [1937]) durch die Orientierung von Akteuren an gemeinsamen Werten und Normen ansehen.
3 Die Merkwürdigkeit dabei ist allerdings, dass die Unterwerfung unter die Macht des Staates wiederum als eine Gabe aufgefasst werden kann. Das natürliche Recht auf Selbstbestimmung wird aufgegeben und auf den Staat übertragen, ohne Garantie dafür. dass es eine Gegengabe geben wird. Die Freiheit wird zunächst gegenüber dem Souverän geopfert, ohne dass die individuellen Rechte und Interessen auf diese Weise vollkommen gesichert werden können (vgl Terpstta 2000: 200).
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Reziprozität, symbolische und ökonomische Reproduktion Mauss' Verständnis vormoderner Sozialformen ist auch maßgeblich in Karl Polanyis (1978 [1944]} berühmte Untersuchung The Great Transformation eingeflossen. Polanyi hat darauf hingewiesen, dass Marktwirtschaften auf voraussetzungsvollen Bedingungen beruhen und dass eine rein marktförmige Organisation von Wirtschaft historisch gesehen ein seltenes und sehr junges Phänomen ist. Vor dem 19. Jahrhundert war die Wirtschaft sozi21 noch nicht »entbettet«, das heißt, »daß die wirtschaftliche Tätigkeit des Menschen in der Regel in seine Sozialbeziehungen eingebettet« (ebd.: 75) war, während heute wngekehrt die sozialen Beziehungen in die Wirtschaft eingebettet seien. Dieser Gedanke lässt sich auch an Untersuchungen zur Moralökonomie Vot1 Gesellschaften anschließen (Mau 2005). E.P. Thompson (1979) zeigte etwa, wie traditionale Ökonomien auf Legitimationsvorstellungen beruhten, die sich aus. sozialen Nonnen und Reziprozitäten speisten, die breite Zustimmung erfuhren. 1Erst ein Verstoß gegen diese Nonnen führte zu Protest und nicht Not und Hun~er allein. Allerdings waren sie ebenso kompatibel mit sozialer Ungleichheit und P11-temalistischen Gemeinwohlvorstellungen. So hat dann auch Barrington Moore in seinem Buch Ungerechtigkeit (1982 [1978]) herausgearbeitet, wie Reziprozitätsarrangements einerseits bestimmte gesellschaftliche Ressourcen- und Statusverteilungen l~timieren können, wie aber auch andererseits ein Verstoß gegen etablierte Reziprozitätsnormen Protest.auslösen kann.4 Polanyi verweist auf zwei Prinzipien, die die archaische und vormoderne Wirtschaft konstituieren:,Redistnbution und Reziprozität. Bis zu diesem Punkt sind Polanyis Thesen auch heute noch »state of the art« und gelten als wichtige Bezugspunkte für aktuelle ~schaftssoziologische Ansätze (vgl. Granovetter 1985). Allerdings ist seine Auseinandersetzung mit Mauss, Malinowski und dem Kula-Handel auf den Trobriand-~nseln zumindest irreführend Denn Polanyi interpretiert den Kula-Handel, also den Gabentausch von Schmuckstücken, als wirtschaftliche Transaktion, »als e~orme organisatorische Leistung auf wirtschaftlichem Gebiet« (Polanyi 1978 [1944}: 81), und entwickelt anhand dessen die These, dass das Wtrt-
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4 Axel Honneth (199.2) hat diesen Gedanken anetkennungstheoretisch gewendet, dabei aber leider die Komponente der Reziprozität weitgehend aus den Augen verloren. Reziprozitätstheoretische Überlegungen finden sich im Übrigen in John Rawls' Gerechtigkeitstheorie. Soziale Kooperatioq muss sich als ein Reziprozitätszusammenhang darstellen lassen können: ))Faire Modalitäten 4er Kooperation bestimmen eine Idee der Reziprozität oder der Gegenseitigkeit: Alle, die gemäß den Forderungen der anerkannten Regeln ihren Beitrag leisten, sollen einem öffentlichen \md übereinstimmend bejahten Maßstab entsprechend ihren Nutzen genießen.« (Rawls 2003: 26) Die Gleichheit, formuliert in Rawls' Differenzprinzip, ruht grundlegend auf der Idee der Reziprozität, die moralisch gesehen zwischen Altruismus und dem gegenseitigen Vorteil ijegt (ebd.: 127).
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schaften in diesen Gesellschaften auf reziprokem Gabentausch beruhte. Diese wiederum stehe dem Tauschhandel diametral gegenüber: »ln einer solchen Gemeinschaft ist der Profitgedanke ausgeschlossen, Schachern und Feilschen sind verpönt, großzügiges Geben wird als Tugend betrachtet, die angebliche Neigung zu Tausch, Tauschhandel und Tauschgeschäften tritt nicht in Erscheinung.« (Ebd.: 79)
Diese These suggeriert, dass alle wirtschaftlichen Transaktionen zwischen den Bewohnern der Trobriand-Inseln diesem Muster zuzurechnen seien; dies ist jedoch nicht nur empirisch falsch, sondern auch nie von Mauss oder anderen Ethnologen in dieser Weise behauptet worden (vgl Mauss 1968 [1923/24]: 66). In aller Deutlichkeit betont beispielsweise Collins (1994) gegenüber Polanyi, dass die Gaben innerhalb des Kula-Rings die Funktion haben, eine symbolische Ordnung der Kooperation zunächst einmal herzustellen. Ist dies gelungen, setzt der eigentliche Warentausch alltäglicher Gebrauchsgegenstände und Nahrungsmittel zwischen den Inselbewohnern ein, der auf ganz gewöhnlichen Tauschakten beruht. Ist der Frieden zwischen den Stämmen durch rituelle Gaben gesichert, kann das Feilschen und die Haltung, am eigenen Vorteil orientiert zu sein, ihren Lauf nehmen: »a social tie must always be negotiated before the bargaining for social advantage can take place« (Collins 1994: 228).s Mauss beschreibt deshalb den Kula-Ring nicht als Gütertausch, sondern als eine Form des Potlatsches, der zwar keine deutlich agonalen Züge trägt, aber von den Trobriandem als ein Substitut des Krieges betrachtet wird Neuere Beiträge zur Moralökonomie haben an Polanyi die zu starke Entgegensetzung zwischen eingebetteten und autonomen Märkten kritisiert. William James Booth {1994) hat in seiner Diskussion des moral economy-Ansatzes auf den Fehler aufmerksam gemacht, von einer völlig entbetteten W.trtschaft in der Modeme auszugehen. Im Übergang zur Modeme verliert die Ökonomie zwar ihre Unterordnung unter die humanisierenden Aspekte der Gesellschaft Aber auch wenn dieser Übergang {»The Great Transformation«) unbestreitbar stattgefunden hat, so bleibt doch unklar, was »Entbettung« eigentlich genau bedeutet, ist doch die Ökonomie weiterhin kulturell und normativ in vielfältige Regeln und Regelungen eingebunden, nur eben in andere: »The embedded/disembedded conceptual framewotk obscures the character of market society by simultaneously understating the presence of recognizable and distinct economic behavior in archaic societies and insisting on too radical a detachment of the modern economy from its sustaining institutional and normative nexus.« (Booth 1994: 662)
Dagegen ist zu betonen, dass im historischen Vergleich gesehen alle Ökonomien Moralökonomien sind und es darauf ankommt, die feinen Unterschiede im institu5 Aus dem gleichen Grund betont Marcel Henaff (2002: 149ft:}, dass die zeremonielle Gabe, wie sie Mauss beschreibt, nicht mit einer ökonomischen Gabe, aber auch nicht mit einer altruistischen moralischen Gabe verwechselt werden dart:
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tionellen und kulturellen Gefüge herauszuatbeiten.6 Ein Beispiel bietet Marcel Henaffs (2002: 351ff., 2003) Auseinandersetzung mit Max Webers These vom protestantischen »Geist« des Kapitalismus. Henaff betont, dass der »katholische Geist« des Kapitalismus theologisch wie alltagspraktisch tatsächlich vom protestantischen unterscheidbat sei. Da in der katholischen Theologie eine Erwiderung der Menschen auf Gottes Gaben möglich ist (1m Gegensatz zu einer radikalisierteren protestantischen Vorstellung von göttlicher Gnade), indem man anderen aus dem Motiv der Caritas etwas gibt, steht das soziale Leben der Katholiken stärker unter dem Paradigma von Gabe und Gegengabe als das protestantische, welches die Trennung von Gott durch eine Radikalisierung des Marktgedankens beantwortet. Von hier aus entwickelt Henaff den provokanten Gedanken, dass die gleiche wirtschaftliche Tätigkeit Unterschiedliches bedeuten kann: Ein »protestantisches Prinzip des Kreditsch 1989: 26) J$s stellt sich die Frage, wie in der modernen, kapitalistisch geprägten Gesellschaft die beiden Transaktionsordnungen zueinander stehen. Pan:y und Bloch (ebd: 30) vermuten, dass das westliche Denken in so starkem Ausmaß die prinzipielle Trennung der zwei Ordnungen betont 1:\.at, dass wir kaum noch in der Lage sind, die Verbindungsstücke und Interaktionen zwischen il;men wahrzunehmen. Die neuere Diskussion z.B. um die so genannten »Varieties of Capitalismewiges Give and Take< betrachten~chatten der Zukunft«, sondern gerade auch der »Schatten der Vergangenheit« ist von Bedeutung. Ergebnisse werden also nicht nur durch die konsequentialistische Brille betrachtet - im Hinblick auf die (materiellen) Resultate -, sondern auch danach, wie sie zustande kommen (Güth/Kliemt/Napel 2003). Ökonomen unterstreichen, dass die in den Experimenten nachgewiesene Bereitschaft zu fairem Verhalten und zur sozialen Großzügigkeit nichts mit unbedingtem Altruismus zu tun hat, sondern als Fonn bedingter Kooperation· angesehen werden muss. Der Homo Redprocans ist bereit, zur Produktion kollektiver Güter beizutragen, wenn auch alle anderen Kooperationspartner ihren Beitrag leisten. Dabei ist es aber keine notwendige Voraussetzung, dass die Beiträge in gleichen Anteilen erbracht werden, entscheidend ist vielmehr, dass die Gebenden das Gefühl haben, dass alle anderen nach Maßgabe iJ:u:er Möglichkeiten beitragen und dass ihre Großzügigkeit nicht durch Trittbrettfahrer ausgenutzt wird (Bowles/Gintis 2000). Insbesondere Fragen der Unterstützung des Wohlfahrtsstaates oder die Steuennoral können mit Hilfe dieser Einsichten ~esser verstanden werden (siehe Lessenich/Mau in diesem Band). So impliziert die 1 Idee der reziproken Erwartungen, dass man umso eher bereit ist, seine Steuern Zu zahlen, je mehr man den Eindruck hat, dass auch die anderen ihren »fairenGift of Life< and Its Reciprocation, in: Bryan S. Turner (Hg.): The Takott Parsons Reader. Maiden, Mass.: Blackwell, 1~154. Polanyi, Karl (1978 [1944]): The Great Traniformation. Polilisme untl öhmomis&he Urpriinge von Gese/1sehaften untl Wirtsehafts!J!Iemen. Frankfurt am Main: Sul:ukamp. Putnam, Robert D. (1995): Bowling Alone: America's Declining Social Capital, in: Journal ofDem«· rtJ9, VoL 6, 65-78. Putnam, Robert D. (1996): The Strange Disappearance of Civic America, in: The Ameriran Prospect, Vol24, 34-48. Putnam, Robert D. (2000): BowlingA/one: The Co/Japse and Revival ofAmerican Community. New York: Sirnon & Schuster. Rawls, John (2003): Geret:htigkeit als Faimeß. Ein Nemntwurj Frankfurt am Main: Sul:ukamp. Ricoeur, Paul (1995): Love and Justice, in: ders.: Figuring the Satretl. Religion, Narrative, antl Imagination. Minneapolis: Fortress Press, 315-329. Ricoeur, Paul (1998): Da.r Rätsel der Vergangenheit. Erinnern- Vergessen- Verzeihen. Göttingen: Wallstein. Sahlins, Marshall (1972): The Spirit of the Gift, in: ders.: Stone Age E&onomics. Oücago: Aldine, 149-
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II Klassiker der Ethnologie und Anthropologie
Die Gabe* Marcel Mauss
Über die Gabe und insbesondere die Verpflichtung, Geschenke zu erwidern Hier einige Strophen aus dem Havama4 einer der alten Spruchdichtungen der skandinavischen Edda. Sie mögen dieser Arbeit als Motto dienen, denn sie versetzen den Leser unmittelbar in jenen Bereich von Vorstellungen und Tatsachen, in dem unsere Beweisführung sich bewegen wird1 39
So gastfrei ist keiner und zum Geben geneigt, dass er Geschenke verschmäht, auf Erwerb bedacht, oder so wenig dass er Gegengabe hasst2
* Aus: Marcel Mauss (1968): Die Gabe. Form und Funktion des AN!Iallsehs in arebaisehen Gesell!ehaften. Übertragung ins Deutsche von Eva Moldenhauer. Frankfurt am Main: Sul:ukamp, 15-26, 3639, 181-183. [Orig.: Essai sur k don. Forme et raison de fkhange dans ks soditis archaiqlles, in: L'Annee Sociol.ogique, seconde serie, 1923-1924]. Redaktionelle Bearbeitung durch die Herausgeber. · ' 1 Gustav Cassel hat uns auf die Spur dieses Textes gebracht: Theoretische Sozialökonomie, 3. Aufl., Erlangen-Leipzig 1923, Bd. ll, S. 336. Die skandinavischen Wissenschaftlet sind mit diesem Zug ihrer nationalen Vargeschichte verttauL 2 Die Strophe ist dunkel, vor allem wegen des fehlenden Adjektivs im vierten Vers, doch der Sinn ist klar, wenn man, wie es gewöhnlich geschieht, ein Wott mit det Bedeutung »gastfrei>dass er Geschenke verschmäht« (39), »Empfänger und Geber sind Frennde am längsten« (41), >>Gabe mit Gabe vergilt« (42), >>so erschließ ihm dein Herz nnd Geschenke tausche« (44), »der Geizige wird der Gaben nicht frohExpeditions maritimes en Melanesie«, Anthropologie, XXXIV, 1924)
DIE GABE
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Kontrahenten mit Geschenken miteinander wetteifern: so rivalisieren z.B. wir selbst bei unseren Weihnachtsgeschenken, Patties, Hochzeitsfeiern, Einladungen, und wir fühlen uns noch heute verpflichtet, uns zu »revanchieren«.' 4 Solche Zwischenformen haben wir in der antiken indoeuropäischen Welt, insbesondere bei den Tltrakern festgestellt.'s Verschiedene Motive -Regeln und Vorstellungen- sind in derartigen Systemen enthalten. Der wichtigste dieser geistigen Mechanismen ist ganz offensichtlich jener, der dazu zwingt, das empfangene Geschenk zu erwidern. Nirgends aber treten die moralischen und religiösen Ursachen für diese Verpflichtung deutlicher in Erscheinung als in Polynesien. Dieses Gebiet wollen wir nun näher untersuchen, und wir werden erkennen, welche Macht dazu treibt, eine empfangene Sache zu erwidern und, allgemeiner, Realverträge zu erfüllen.
(...)
Die Pflicht des Qebens und die Pflicht des Nehmens Um die Institutionen der totalen Leistung und des Potlatsch ganz zu verstehen, müssen wir nun noch die Erklärung für zwei weitere Momente suchen, die sie er-
gänzen; denn die totale Leistung bringt nicht nur die Verpflichtung mit sich, die empfangenen Geschenke zu erwidern; sie setzt auch zwei weitere, ebenso wichtige voraus: einerseits die Verpflichtung, Geschenke zu machen, und andererseits die, Geschenke anzunehmen. Die vollständige Theorie dieser drei Verpflichtungen, dieser drei Motive eines einzigen Komplexes, würde die befriedigende Klärung jener Form des Vertrags zwischen den polynesischen Oans liefern. Im Augenblick können wir nur andeuten, wie dieser Gegenstand zu behandeln wäre. Material, das die 'Pflicht des Nehmens betrifft, ist ohne Mühe in großer Anzahl zu finden. Ein Clan, eine Hausgemeinschaft oder ein Gast hat nicht die Freiheit, Gastfreundschaft nicht in Anspruch zu nehmen16, Geschenke nicht anzunehmen, 14 R. Thurnwald (Sala11HJ-lnse/n, Bel. ill, S. 8) gebraucht dieses Wort. 15 Revtlli des Billlies Grecqlllis, XXXN (1921). 16 An dieser Stelle müsste die Untetsuchung jener Vorstellungen stehen, die die Maori unter dem ausdrucksvollen Wort ))Verachtung des Tabu« klassifizieren. Das wichtigste Dokwnent findet sich bei Eisdon Best, ))Notes on Maori Mythology«, J.P.S., VIII (1899), 113. Tabu ist der ))Sinnbildliche« Nan\.e für die Nahrung im allgemeinen, ihre Personifizierung. Der Ausdruck kaHa e takahi i a Tabu, ))verachte nicht das Tabuprimitivpe. Reziprozität dagegen ist eine Außenbeziehung: Sie besteht aus Handlungen und Reaktionen zwischen zwei Parteien. Pooling ist daher die Ergänzung der sozialen Einheitlichkeit und, in Polanyis Terminologie, der >>Zenttalität«, während Reziprozität eine soziale Dualität und Symmetrie darstellt.' Beim Pooling besteht ein sozialer Mittelpunkt, wo Güter si~ treffen und von wo aus sie sich nach außen bewegen, und zugleich eine soziale Grenze, innerhalb welcher Personen (oder Untergruppen) kooperativ miteinander in Beziehung stehen. Reziprozität aber setzt zwei Seiten voraus, zwei unterschiedliche sozioökonomische Interessen. Reziprozität kann zwar solidarische Beziehungen herstellen, wenn die Güterbewegung Hilfe oder gegenseitigen Nutzen verspricht, aber der soziale Tatbestand der zwei Parteien ist unausweichlich. Berücksichtigt man die anerkannten Beiträge von Malinowski und Flrth, Gluckman, Richards und Polanyi zu diesem Thema, so kann ohne Übertreibung gesagt werden, dass wir die materiellen und sozialen Umstände des Pooling ziemlich gut kennen. Zu dem Wissen darüber passt das Argument, dass Pooling die materielle Seite von »Kollektivität>Gabentausch>Ganzheiten« zu untersuchen, in die Falle gegangen. Insbesondere hat Mauss es versäumt, die Unterschiede zwisc1ien1 zwei Typen von Normen in der Situation des Austausches von Geschenken zu unterscheiden. Da beide Normen am gesamten HandlrmgS!Jslem beteiligt sind, unterschied er nicht jene Normen, die Leute auffordern, großzügig zu sein und unter gewissen Umständen Geschenke »freie< herzugeben, von Reziprozitätsnormen, die das Geben von Gegenleistungen abhängig machen.
REZIPROZITÄT UNO AsYMMETRIE
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Vielleicht sollten wir diesen Abschnitt mit einer positiven Bemerkung über das Phänomen der Wohltätigkeit abschließen: Es gibt keinen sichereren Weg, einen unerträglich gewordenen Interaktionszyklus zu unterbrechen als den, dass eine Seite der anderen etwas gibt, ohne zu nehmen. Kein Geschenk wird eher die Aufmetksamkeit auf sich lenken als ein Geschenk, das angesichts unserer früheren Verschuldung, unserer zukünftigen Ambitionen und unserem gegenwärtigen Stand der Verpflichtungen nicht hätte gemacht werden müssen. Das Paradox liegt darin: Es gibt kein Geschenk, das einen größeren V orteil erbringt, als das freiwillige Geschenk - das Geschenk, an dem keine Fallstricke festgemacht sind Denn das, was die Menschen widdich freiwillig hergeben, vermag die Empfänger tief zu bewegen und belässt sie tief in der Schuld ihrer Wohltäter. Wenn Reziprozität letzten Endes die Alltagswelt zusammenhält, so ist es andererseits Wohltätigkeit, welche diese Welt zu transzendieren hilft und die Menschen Tränen der Versöhnung weinen lässt. Die Tatsache, dass solche Wunder der sozialen Interaktion höchst selten sind, ist nicht einem Mangel an Wtssen darüber geschuldet, wie solche Wunder herbeizuführen wären.
( ...)
Moralischer Absolutismus - jenseits der Wohltätigkeit Jeder der beiden bisher erörterten Aspekte - Reziprozität und Wohltätigkeit - kann als eine Möglichkeit angesehen werden, anderen Gratifikationen zu verschaffen, und jede enthält zumindest implizit eine Rechtfertigung für die Bereitstellung solcher Gratifikationen. Die Reziprozitätsnorm rechiferligt eine Verpflichtung, einem anderen deshalb zu helfen, weil er einem selbst geholfen hat oder helfen wird; die
Nur weil Wohl~eit und Reziprozität beides nonnative Orientierungen sind und die Übergabe von Wertvollem implizieren, bedeutet dies noch nicht, dass sie sonst völlig gleich sind Insbesondere hat Mauss nicht zwischen der Motivation zu wohltätigen Handlungen und ihren unerwarteten Folgen unterschieden. Er hat die Tatsache nicht gesehen, dass eine Handlung, die in Übereinstimmung mit der Wohltärigkeitsnonn initiiert witd, zu weiteren Interaktionen führen kann, die dann von der davon unterschiedenen Reziprozitätsnorm angeleitet werden. Während Mauss klar herausstellt, dass das Geben eines Geschenkes häufig genug in ein Muster reziproken Austausches mündet, sieht er dennoch nicht, dass dies nicht immer die Absicht des Gebers ist. Wenn der Geber bei seinem Geben zuf'allig von der Reziprozitätsnenn geleitet witd, werden die ,Absichten und Folgen seiner Handlung deutlicher zusammenfallen. Wenn sich jedoch der Gebende in seinem Handeln von der Wohltätigkeitsnonn leiten lässt, so kann dies tatsächlich dadurch motiviert sein, dass er einem anderen ein Geschenk machen möchte, ohne überhaupt eihe Gegenleistung vom Empfänger in Bettacht zu ziehen oder zu erwarten.
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ALVIN W. GOULONER
Wohltätigkeitsnorm rechtfertigt die Verpflichtung, einem anderen zu helfen, weil der andere dieser Hilfe bedarf. Unter diesen normativen Bedingungen ist es gerechtfertigt, anderen zu helfen, entweder weil sie dir geholfen haben oder in Zukunft helfen werden oder weil sie hilfsbedürftig sind Jedoch kann jede dieser Rechtfertigungen für sich genommen bestritten werden, selbst dann, wenn die verlangten Bedingungen zutreffen. Man könnte fragen: Worom sollte ich Leuten helfen, die mir geholfen haben, und warom sollte ich den Hilfsbedürftigen helfen? So gesehen, erhalten wir einen weiteren Hinweis dafür, dass noch eine weitere wichtige Komponente des Moralcodes eingeführt werden muss. Es muss eine Grundlage geben, auf der sich Wohltätigkeits- und Reziprozitätsnormen von allein rechtfertigen. Es muss eine moralische Komponente geben, die die Notwendigkeit weiterer Rechtfertigung aufhebt und die die Gefahr eines infiniten Regresses von Rechtfertigungen beseitigt. Der Moralcode muss eine wesentliche Komponente enthalten, die dafür verantwortlich ist, dass die Durchführung bestimmter Dienste und Handlungen für andere unabhängig davon betrachtet wird, was diese für einen selbst getan haben oder tun wenien, oder unabhängig von ilirer Hilfsbedürftigkeit. Dieses zentrale Merkmal nennen wir »moralischen AbsolutismuS«. Moralischer Absolutismus als Hauptbestandteil des Moralcodes verkörpert nicht bestimmte Statusverpflichtungen - wie zum Beispiel die elterliche Aufgabe, die Familie zu unterhalten und die Kinder zu ernähren -, sondern bezieht sich statt dessen eher auf die Art und Weise, wie derartige konkrete Statuspflichten oder andere allgemeine Normen definiert und gesehen werden. Moralischer Absolutismus ist damit eine grundlegende Dimension der moralischen Ordnung, die fesdegt, wie besondere Statusverpflichtungen und andere zentrale Elemente dieser Ordnung betrachtet werden müssen. Der moralische Absolutismus ist also das »Hauptgebot« eines jeden Moralcodes. Er formuliert eine allgemeine Regel, die fesdegt, wie andere moralische Regeln angewandt werden sollen. Als allgemeine Regel sagt sie nicht mehr aus als: »Der Code muss befolgt werden.« Insofern, als jeder Moralcode aus einem Satz von Handlungsvorschriften besteht, scheint es vernünftig, dass es darüber hinaus noch eine allgemeinere, auf einer höheren Ebene angesiedelte, nonnative Orientierung gibt die Vorschrift eines »moralischen Absolutismus« -, die feststellt, dass diese Vorschriften oder Regeln befolgt werden müssen. Der moralische Absolutismus ist eine Dimension der Moralcodes, da er zwn einen ein ständig variierendes Kontinuwn darstellt; zum zweiten ist er von den anderen Hauptbestandteilen unabhängig und deutlich unterschieden. »Unabhängig« freilich nicht in dem Sinne, dass er mit ihnen nicht korrelierte, sondern dass die Korrelation, in der er mit ihnen steht, kleiner als 1 sein müsste. Vor dem Hintergrund der obigen Erörterung der anderen Basisnormen und insbesondere der in ihnen
REZIPROZITÄT UND AsYMMETRIE
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eingebauten Verstärkungsmechanismen, die die Befolgung der Reziprozitätsnorm sicherstellen sollen- im Unterschied zur Fragilität der Wohltätigkeitsnorm -,sollte man erwarten können, dass Wohltätigkeit positiv mit der Norm des moralischen Absolutismm ko"eliert und dass darüber hlnaus diese beiden stärker miteinander korrelieren als Reziprozität und moralischer Absolutismus. Letzten Endes ist ein generalisierter moralischer Absolutismm ein Ersatz (vielleicht sogar eine Sublimierung) der übernatürlichen Absicherung der Wohltätigkeitsnorm. Sieht man sie als eine Dimension, so variiert die Norm des moralischen Absolutismus in Abhängigkeit vom Gehorsam, der anderen Nonnen entgegengebracht werden muss. An dem einen Extrempunkt, der hier besonders interessiert, liegt jene Zone, in der der moralische Absolutismus die vollständige und bedingungslose Befolgung der besonderen Statusverpflichtungen und anderer Nonnen verlangt. Dies ist der Bereich des moralischen Absolutismus suigeneris. Am entgegengesetzten Extrempunkt liegt ein Bereich des moralischen Relativismus, wo die Forderung nach Befolgung moralischer Vorschriften vollständig abhängig von konkreten Zeitpunkten, Orten, beteiligten Menschen und ihren einzigartigen und wechselnden Umständen erscheint. Das bedeutet aber auch, dass jeder Moralcode ein bestimmtes Maß an moralischem Absolutismus erforderlich macht, obwohl sein Ausmaß von Kultur zu Kultur variieren kann, und dass es immer einige -wenn auch nur wenige- konkrete Erwartungen und allgemeine Regeln gibt, denen gegenüber eine bedingungslose Befolgung erwartet wird. Aufgrund der Norm des moralischen Absolutismus gibt es immer einige Forderungen, die legi~eise an bestimmte Personen einfach deshalb gestellt werden können, weil sie Mitglieder der gleichen Gruppe sind oder deshalb, weil sie innerhalb der Gruppe bestimmte soziale Positionen innehaben. Der moralische Absolutismus verlangt, dass man seine »Pflicht« tut, auch dann, wenn andere ihre Pflicht nicht eifiillen, wenn andere niemandem geholfen haben oder sich andere nicht in Not bifinden: Die Norm des moralischen Absolutismus erzeugt unvermeidlich bestimmte ».Außenstände an Verpflichtungen«. Diese erfüllen höchst unterschiedliche Funktionen, die letztlich auf die Erhaltung des sozialen Systems gerichtet sind. 4 4 Noch genauer: der moralische Absolutismus erzeugt aufverschiedene Weisen Außenstände an Vetpflichtungen: (1) Er begünstigt die Vermutung, dass bestimmte Erwartungen gegenüber Statusinhabern legitim sind, weil ein bestimmter Status im allgemeinen mit bestimmten Erwartungen verbunden ist, von denen normal sozialisierte Gruppenmitglieder annehmen können, dass sie prima fade Legitimität besitzen. Daraus folgt, dass es nicht der Ansprucherhebende ist, der seine Forderung rechtfertigen muss, sondern der Widersprechende, der seine Weigerung begründen muss. (2) Der moralische Absolutismus fordert, dass bestimmte Dinge unter allen Umständen getan werden müssen - beispielsweise muss man seine Versprechen einhalten und immer die Wahrheit sagen. Da solche Anforderungen bedingungslos gelten, sind sie im Fluss sozialer
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Bisher haben wir uns vornehmlich mit den Funktionen des moralischen Absolutismus beschäftigt und unterliegen damit möglicherweise der Gefahr, seine Dysfunktionen zu vernachlässigen, die sowohl theoretisch wie praktisch von entscheidender Bedeutung sind. In der Soziologie verzeichnen wir eine lang anhaltende und theoretisch angreifbare Tradition, die vielleicht größtenteils von jenem ungetreuen Jünger Saint-Simons, nämlich Auguste Comte, herrührte, der dazu neigte, den funktionalen Beitrag zu überschätzen, den allgemein verbindliche moralische Systeme für den Zusammenhang und die Stabilität von Sozialsystemen leisten. Diese Tradition erreichte in Emile Durkheims Konzept der Anomie einen Höhepunkt, da ihm zufolge sooiale Desorganisation eine Folge von Normlosigkeit ist. Die Abwesenheit moralischer Normen wird als entscheidende Ursache für die Instabilität sozialer Systeme angesehen. Diese Sicht der Dinge ist auch noch in der Soziologie Talcott Parsons' bestimmend, der die Bedeutung der Konformität mit moralischen Normen und die Notwendigkeit gemeinsamer Werte als Voraussetzung für Systemstabilität überbetont. Durkheim und andere Funktionalisten haben es gemeinhin versäumt, darauf hinzuweisen, dass nicht die Verbindlichkeiten aller oder überhaupt irgendwelcher moralischer Normen zum sozialen Zusammenhang beiträgt, sondern dass einige dieser allgemein geteilten Normen dazu einen größeren Beitrag leisten als andere. Wie viele in seiner Nachfolge stehende Funktionalisten neigte Durkheim dazu, seine Analysen auf die Funktionen anerkannter Normen zu beschränken und ihre
Interaktionen beständig wirksam, und man kann ihnen nicht ein für allemal vollständig und endgültig entsprechen. Es ist gerade der bedingungslose Charakter des moralischen Absolutismus, der dazu führt, dass die Anzahl von Situationen, in denen Verpflichtungen aktiviert werden, irruner größer wird und damit die Zahl von ausstehenden Verpflichtungen sich ebenfalls vermehrt. (3) Da die Anzahl von Versäumnissen, einet moralischen V erpfl.ichtung zu entsprechen, wahrscheinlich von der Häufigkeit der Gelegenheiten abhängt, unter denen sie erfüllt werden müssen- vorausgesetzt natürlich, dass die absolute Zahl der Versäumnisse umso höhet ist, je häufiger etwas getan werden muss-, bedeutet das Handeln unter der Vorschrift derbedingungslosen Übereinstimmung mit einer Norm, dass das Ausmaß an ))moralischem Fehlvethalten« wachsen wird. Die Zahl von Ereignissen moralischen Fehlverhaltens wird wahrscheinlich auch durch die Norm des moralischen Absolutismus erhöht werden, da dies wegen der postulierten Unbedingtheit kein Hintertürchen offen lässt und auch keine legitimen Ausnahmen anerkennt. Das Auftreten von moralischem Fehlverhalten enthüllt, wer sich dem Prinzip der »kompensatorischen Konformität« verweigert; daraus entsteht dann eine Verpflichtung zweiten Ranges, das Versäumte nachzuholen. (4) Schließlich sammelt jemand, insoweit er mit den Verpflichtungen des moralischen Absolutismus konform handelt, Guthaben auf seinem Konto an, das er später, sollten die Umstände es erforderlich machen, umwandeln kann in ))Vetbindlichkeite.tlEigentumSkrieg< erworben« wird, wie Mauss (1968 (1923/24]: 85) notierte. Eine bedeutende Funktion des Gabenaustausches in einfachen Gesellschaften ist nach den Worten von Uvi-Strauss (1981 (1949]: 108), >>einen Rivalen an Freigebigkeit zu übertreffen und ihn womöglich mit einer Fülle von Gegenverpflichtungen zu erdrücken, denen er, so hofft man, nicht nachzukommen vermag, so dass man ihm Privilegien, Titel, Rang, Autorität und Prestige entreißen kann.«
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Auch in der modernen Gesellschaft dient das Gewähren von Vorteilen manchmal dem Ausdruck von Freundschaft und manchmal als Mittel, eine Überordnung zu etablieren. Eine Person, die anderen wertvolle Geschenke oder wichtige Hilfsleistungen zukommen lässt, beansprucht implizit einen übergeordneten Status, indem sie die anderen verpflichtet. Ein Wohltäter ist kein Gleichberechtigter, sondern ein Übergeordneter, von dem andere abhängen. Wenn diese ihre Verpflichtungen durch adäquate Gegenleistungen erfiillen; verneinen sie seinen Anspruch auf Überordnung; und wenn ihre Gegenleistungen die Verpflichtungen überetfüllen, erzeugen sie im Gegenzug einen Anspruch auf eine eigene Superiorität. Fortgesetzter gegenseitiger Austausch stärkt die Beziehung unter Gleichen. Aber sobald es dem einen nicht gelingt, eine Gegenleistung zu erbringen, die für den anderen einen vergleichbaren Wert entfaltet, bestätigt er den Anspruch des anderen auf einen übergeordneten Status. In einfachen Gesellschaften scheinen Statusunterschiede in der institutionalisierten Bedeutung von einseitigen Wohltaten verwurzelt zu sein, während sie in modernen Gesellschaften typischerweise aus der einseitigen Abhängigkeit vom Erfüller eines Bedarfes resultieren. Die verstetigte einseitige Versorgung mit wichtigen Gütern ist eine grundlegende Quelle von Macht. Ein Mensch, der Ressourcen zur Verfügung hat, die _es ihm erlauben, die Bediirfnisse anderer Menschen zu erfüllen, kann Macht über diese ausüben, vorausgesetzt, dass vier Bedingungen erfüllt sind, wie sie in einer etwas anderen Form von Emersen (1962) vorgeschlagen wurden. Erstens dürfen die Begünstigten über keine eigenen Ressourcen verfügen, derer der Wohltätige bedarf, da sie ansonsten in direktem Austausch erlangen könnten, was sie von ihm wollen. Zweitens dürfen sie .nicht in der Lage sein, ihren Bedarf aus einer anderen Quelle zu decken, die sie von dem Wohltäter unabhängig machen würde. Drittens dürfen sie nicht willens oder nicht in der Lage sein, sich das, wonach sie begehren, mit Gewalt anzueignen. Viertens dürfen sie keinen Interessenwandel durchlaufen, der es ihnen ermöglicht, ohne die ursprünglich benötigten Güter auszukommen. Wenn diese vier Voraussetzungen zusammentreffen, haben die Bedürftigen keine andere Wahl, als sich den Wünschen und der Macht des Wohltäters unterzuordnen, um die benötigten Güter zu erhalten. Die vier Bedingungen für Folgebereitschaft sind erschöpfend, sind sie erfüllt, generiert die Versorgung mit bedeutenden Hilfen unweigerlich Macht. Unter bestimmten Bedingungen führen Austauschprozesse somit zu einer Ausbildung von Machtungleichheit. Ein Mensch, der über Güter verfügt, die von anderen benötigt werden, der zugleich völlig unabhängig von den Gütern ist, die diese anbieten, und dessen Güter jene weder anderswo beziehen noch mit Gewalt ihm wegnehmen können, kann über sie Macht ausüben, indem er die Befriedigung ihres Bedürfnisses von der Erfiillung seiner Anweisung abhängig macht. Indem sie seinen
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Wünschen nachkommen, vergelten sie die Güter, die er bereitstellt. Die Ausgewogenheit des Austausches wird wieder hergestellt, indem einseitige Leistungen durch ein Ungleichgewicht an Macht kompensiert werden. Derjenige, der wiederholt anderen benötigte Güter bereitstellt, macht diese abhängig von ihm und verpflichtet diese; ihre angesammelten Verpflichtungen wiederum zwingen sie, seinen Wünschen Folge zu leisten, damit er die Bereitstellung der Güter nicht einstellt. Thr In-derSchuld-Stehen ihm gegenüber führt zu einer Zustimmungsbereitschaft, auf die er nach seinem Ermessen zugreifen kann, wann immer er daran interessiert ist, ihnen seinen Willen aufzuzwingen. Die Willfährigkeit gegenüber der Erfüllung der Wünsche des anderen und der daraus resultierenden Macht, mit der die empfangenen Leistungen vergolten werden, scheinen sich nicht von anderen sozialen Vorteilen, die in sozialen Transaktionen zur Geltung kommen, zu unterscheiden. Es gibt jedoch einen Unterschied zwischen der Ausbildung von Machtungleichheit und gegenseitigem sozialen Austausch, so wie ein grundlegender Unterschied zwischen sozialem und wirtschaftlichem Austausch besteht. Das unterscheidende Kriterium liegt in der Antwort auf die Frage, bei wem der Ermessensspielraum hinsichtlich der Rückzahlung liegt Beim wirtschaftlichen Austausch kann keine Seite ein Ermessen über die Ausgestaltung der Gegenleistung ausüben, da die genauen Bedingungen der Rückzahlung zum Zeitpunkt der ursprünglichen Transaktion festgelegt wurden. Beim gegenseitigen sozialen Austausch entscheidet derjenige über die Ausgestaltung und den Zeitpunkt der Gegenleistung, der diese vornimmt, also der Empfänger der ursprünglichen Wohltat In Machtbeziehungen hingegen erfolgt die Gegenleistung auf das Verlangen desjenigen, dem sie zusteht, also dem Bereitsteller der ursprünglichen Wohltat Angesammelte Verpflichtungen und einseitige Abhängigkeit verschieben das Ermessen über die Gegenleistung vom Schuldner zum Gläubiger und wandeln eine Austauschbeziehung zwischen Gleichberechtigten in eine Machtbeziehung zwischen Übergeordnetem und Untergeordnetem um.
SekluldärerJ\ustausch Das Studium komplexer sozialer Strukturen muss auch diejenigen emergierenden sozialen Kräfte mit einbeziehen, die nicht in direkten face-to:foce-Interaktionen beobachtbar sind Um es noch einmal klar zu stellen: Das Austauschkonzept nimmt Bezug auf die emergenten Eigenschaften sozialer Beziehungen, die sich nicht auf durch psychische Prozesse motiviertes individuelles Verhalten reduzieren lassen. Die Austauschtheorie behandelt die lnteraktionsprozesse, die dann entstehen, wenn Individuen V orteile aus sozialen Beziehungen zu ziehen trachten, ganz gleich, wel-
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ehe psychischen Einflüsse dazu geführt haben, bestinunte Vorteile erlangen zu wollen. Die Ausbildung von Machtdifferenzen in einem Kollektiv bewirkt andere soziale Prozesse in der komplexen Struktur, und diese könnten einen sekundären Austauschprozess begründen, der die ursprünglichen Charakteristika interpersonaler Beziehungen überligert. Macht ermöglicht es, seine Forderungen zu erzwingen, und diese Forderungen werden von den der Macht Unterworfenen in Bezug auf soziale Normen der Fairness beurteilt. Die faire Ausüb~g der Macht durch einen Herrscher oder eine herrschende Gruppe bewirkt gesellschaftliche Anerkennung, wohingegen ungerechte, als ausbeuterisch oder unterdrückend erlebte Forderungen gesellschaftliche Missbilligung hervorrufen. Demnach entsteht ein sekundärer Austauschprozess - Fairness in der Ausübung der Macht als Gegenleistung für die gesellschaftliche Anerkennung der Untergeordneten-, wenn sich Machtstrukturen innerhalb eines Kollektivs ausdifferenzieren. Die• gesellschaftlichen Kräfte, die durch diesen sekundären Austauschprozess erze..;tgt werden, führen einerseits zu Legitimation und Organisation und andererseits zu Widerstand und Umsturz. Kollektive Anerkennung von Macht legitimiert diese Macht. Wenn die Menschen von der Art und Weise, durch die sie regiert werden, profitieren, und sie die Forderungen, die an sie gerlehret werden, in Anbetracht der Vorteile der Herrschaft als vollständig gerechtfertigt ~eben, dann entsteht ein gemeinschaftliches Gefühl von Loyalität, da untereinander die Anerkennung der Herrschaft kommuniziert wird. Die kollektive Vetpflichtung gegenüber der Führung findet ihren Ausdruck in sozialen Normen, die die Befolgung der Anweisungen obligatorisch machen. Das Kollektiv der Untergeordneten zahlt denjenigen an der Macht die Vorteile, die sich aus der Führung herleiten, dadurch zurück, dass die Durchsetzung der Anweisungen der Herrschenden als Teil der Durchsetzung der eigenen sozialen Normen erfolgt; das heißt, die Autorität der Führung wird legitimiert. Ein ausgeprägtes Charakteristikum legitimierter Autorität ist, dass den Befehlen der Herrschenden nicht wegen der Möglichkeit der Sanktionierung, sondern wegen des unter den Untergeordneren selbst ausgeübten normativen Drucks Folge geleistet wird, ins~ondere, wenn diese normativen Auflagen institutionalisiert wurden. Autorität, im Gegenzug, befördert Organisation. Kollektive Missbilligung der Macht erzeugt Widerstand Menschen, die das Gefühl teilen, von den Herrschenden durch übennäßige Forderungen ausgebeutet und unterdrückt zu werden, sind geneigt, ihre Klagen untereinander zu kommunizieren. Der Wunsch nach Vergeltung durch den Sturz der Unterdrücker wird oft in Diskussionen entfacht,; in denen Menschen in ihrem aggressiven Empfinden soziale Unterstützung erfahren. Eine Ideologie des Widerstands könnte entstehen, die von nun an Angriffe arlf die bestehenden Machtstrukturen rechtfertigt und verstärkt. ' Aus dieser geteilten' Unzufriedenheit entstehen Widerstandsbewegungen, zum Bei-
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spiel die Bildung einer Gewerkschaft gegen den Arbeitgeber oder einer radikalen Partei gegen die Regierung. Dieser Widerstand ist ein bedeutender Katalysator grundlegenden sozialen Wandels. Einer der wichtigsten Bestirnmoogsfaktoren sozialen Handeins ist das institutionalisierte Wertesystem einer Gesellschaft: die besonderen Werte, die die Identität der Gruppe definieren; gemeinsame Standards von Moral und Leistung; die Werte, die die Regierungsgewalt und die Organisationsstrukturen legitimieren; und jene Ideologien, die hin und wieder den Widerstand gegen die Machthaber bewirken. Von diesen Werten gefiihrr, stellen Menschen oftmals eigene Interessen und Tauscherwägungen rurück; beispielsweise können die Grundsätze eines Berufes erfordern, Klienten zu helfen, unabhängig von der zu erwartenden Gegenleistung. Soziale Werte und Normen setzen dem Handeln weitgehend deutliche Grenzen, ohne jedoch Details vorzuschreiben. Innerhalb dieser Grenzen sind Menschen frei, ihre Interessen an sozialen Nutzen zu verfolgen und Erwägungen des Austausches treten auf. Während soziale Normen Lügen und Täuschen zur Erl.angung von Ratschlag verbieten, erlauben sie es, einen anderen zum Erteilen von Ratschlägen zu veranlassen, indem man ihm Respekt entgegenbringt oder durch andere unspezifizierte Mittel Soziale Handlungsweisen werden sowohl von gemeinsamen Werten als auch durch die Prinzipien des Austausches beeinflusst, und beide sollten in Untersuchungen nicht vernachlässigt werden. Von besonderer Bedeutung bei der Analyse des sozialen Lebens ist dabei der Einfluss, den soziale Werte auf die angestrebten Vorteile nehmen. Patriotische Ideale oder die des Widerstandes veranlassen Menschen oft zu großen materiellen Opfern, da diese Werte die Stärkung der gemeinsamen Sache für sie lohnender machen als materielle Gewinne. Die Austauschtheorie behandelt hauptsächlich unmittelbare Jace-toface-Beziehungen und muss folglich von anderen theoretischen Prinzipien ergänzt werden, die auf komplexe Strukturen mit institutionalisierten Werten fokussieren. Dennoch vermag die Austauschtheorie auch zur Studie komplexer Strukturen einiges beizutragen.
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Die Ökonomie der symbolischen Güter* Pierre ßourdieu
Gabe und do ut des Da ich nicht als bekannt voraussetzen kann, was ich in Sotjaler Sinn gesagt habe, will ich auf bestimmte Analysen dieses Buchs noch einmal ganz kurz eingehen und versuchen, einige allgemeine Prinzipien der symbolischen Ökonomie zu entwickeln. Beginnen will ich mit einer kurzen Darstellung der wesentlichen Merkmale des Gabentauschs. Mauss hat den Gabentausch als eine diskontinuierliche Folge von großmütigen Handlungen beschrieben; Uvi-Strauss hat ihn als eine die Tauschakte transzendierende, auf Gegenseitigkeit beruhende Struktur definiert, in der die Gabe eine Gegengabe erheischt. Ich selber habe darauf hingewiesen, dass in beic;len Analysen etwas fehlt, nämlich die entscheidende Rolle des zeitlichen Intervalls zwischen Gabe und Gegengabe, die Tatsache, dass in praktisch allen Gesellschaften stillschweigend davon ausgegangen wird, dass man die erhaltene Gabe nicht auf der Stelle erwidert - was einer Zurliekweisung gleichkäme. Ich habe dann nach der Funktion dieses Intervalls gefragt: Warum muss die Gegengabe aufgeschoben werden, warum muss sie aus etwas anderem bestehen als die Gabe? Und ich habe gezeigt, dass das Intervall die Funktion hatte, Gabe und Gegengabe gegeneinander abzuschirmen und zwei vollkommen symmetrische Handlungen als unverbundene Einzelhandlungen erscheinen zu lassen. Wenn ich meine Gabe als eine unbedingte, großmütige, keine Gegenleistung einfordernde Gabe erleben kann, dann in erster Linie deshalb, weil , wie minimal auch immer - ein Risiko besteht, dass die Gegenleistung ausbleibt (Undankbare gibt es immer), eine Spannung also, eine Ungewissheit, die das Intervall zwischen dem Augenblick, in dem man gibt, und dem Augenblick, in dem man 1bekommt, als solches überhaupt erst schafft. In Gesellschaften
*Quelle: Pierre Bourdieu (1998): Praktische Vernunft. Zur Theorie des Handelns. Frankfurt am Main: Suhrkamp, ~itel 6: Die Ökonomie der symbolischen Güter, 163-182. Aus dem Französischen von Hella; Beister. [Original: Raisons pratiques. Sur Ia theorie de l'action. Paris: Editions du Seuil, 1994]
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wie der kabylischen ist in Wirklichkeit der Zwang sehr groß und die Freiheit, die Gabe nicht zu erwidern, winzig klein. Die Möglichkeit aber besteht, und damit ist die Gewissheit nicht absolut. Alles spielt sich so ab, als ob das zeitliche Intervall, das den Gabentausch vom do ttf des unterscheidet, dazu da wäre, den Gebenden seine Gabe als Gabe ohne Gegengabe erleben zu lassen, und den die Gabe Erwidernden seine Gegengabe als unbedingt und von der ersten Gabe unabhängig. Diese von Levi-Strauss aufgedeckte strukturelle Wahrheit ist auch in der Realität nicht ganz unbekannt. Ich habe in der Kabylei eine ganze Anzahl von Sprichwörtern gesamrnelt,'in denen es mehr oder weniger heißt, ein Geschenk sei ein Unglück, weil man es am Ende erwidern müsse. (Dasselbe gilt für ein Ehrenwort oder eine Herausforderung.) In all diesen Fällen stellt die Initialhandlung einen Eingriff in die Freiheit des Empfangenden dar. Sie enthält eine Drohung: Sie verpflichtet zur Gegengabe, und zwar zu einer größeren; außerdem schafft sie Vexpflichtungen, sie ist eine Art, Menschen an sich zu binden, indem man sie sich vexpflichtet (Bourdieu
1987 [1980): 194-197). Aber diese strukturelle Wahrheit ist wie kollektiv verdrängt. Die Existenz des zeitlichen Intervalls ist nur zu verstehen, wenn man von der Hypothese ausgeht, dass der Gebende Wld der Emp&ngende, ohne es zu wissen, gemeinsam an einer Verschleierung arbeiten, die der Verneinung der Wahrheit des Tauschs dient, jenes do ut des, das die Vernichtung des Gabentauschs wäre. Damit sind wir bei einem sehr schwierigen Problem angelangt: Wenn sich die Soziologie an die objektivistische Beschreibung hält, reduziert sie den Gabentausch auf das do ut des und beraubt sich der Grundlage für eine Unterscheidung zwischen Gabentausch und Kreditgewährung. Also ist das Wichtige am Gabentausch eben diese Tatsache, dass beide am Tausch beteiligten Personen mit Hilfe des eingeschobenen zeitlichen Intervalls, ohne es zu wissen und ohne sich abzusprechen, an der Verschleierung oder Verdrängung der objektiven Wahrheit ihres Tuns arbeiten. Eine Wahrheit, die der Soziologe dann wieder aufdeckt, aber mit dem Risiko, dass er eine Handlung, die interessenfrei sein will und auch als solche genommen werden muss, also als die Wahrheit, als die sie erlebt wird Wld die vom theoretischen Modell ebenfalls zur Kenntnis genommen und erklärt werden muss, als zynischen Akt beschreibt. Damit haben wir ein erstes Merkmal der Ökonomie des symbolischen Tauschs: Hier handelt es sich um Praktiken, bei denen es stets zwei Wahrheiten gibt, die schwer zusammenzuhalten sind Diese Dualität muss man zur Kenntnis nehmen. Die Ökonomie der symbolischen Güter lässt sich, allgemeiner formuliert, nur begreifen, wenn man diese Ambivalenz ernst nimmt, die nicht im Forschenden, sondern in der Realität selbst begründet ist, diesen Widerspruch zwischen der subjektiven Wahrheit und der objektiven Realität (zu deren Erkenntnis die Soziologie durch die Statistik und der Ethnologe durch die strukturale Analyse gelangt). Möglich witd diese Dualität, und lebbar, durch eine Art se!f-deception, Selbsttäuschung. Der indivi-
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duellen se!f-deception aber liegt eine kollektive se!f-deception zugrunde, eine echte kollektive Verkennung (ebd.: 205), die in den objektiven Strukturen (in der Logik der Ehre, der alle Tauschakte- von Worten, Frauen, Morden usw. -unterliegen) und in den mentalen Strukturen (ebd: 334, zwn Ehrgefühl, nt!J verankert ist und die Möglichkeit, anders zu denken und zu handeln, ausschließt. So können die Akteure nur deshalb Täuschende- ihrer selbst und der anderenund Getäuschte zugleich sein, weil sie sich von Kindesbeinen an in einem Universum bewegen, in dem der Gabentausch sozial in den Dispositionen und in den Glaubensvorstelltmgen angelegt und aufgtund dessen nicht mit jenen Paradoxa zu fassen ist, die künstlich herauspräpariert werden, wenn man sich wie Jacques Derrida in einem neueren Buch, Passions, auf den Standpunkt der Bewusstseinslogik und der freien Entscheidung eines vereinzelten Individuums stellt. Sobald man vergisst, dass der Gebende wie der Nehmende durch die ganze Arbeit ihrer Sozialisation darauf eingestellt und dazu geneigt sind, sich ohne jede auf Profit gerichtete Absicht und Berechnung atif den großmütigen Tausch einzulassen, dessen Logik sich ihnen objektiv aufzwingt, kann man zu dem Schluss kommen, dass die unbedingte Gabe nicht existiert oder unmöglich ist, denn dann sind die beiden Akteure nur als berechnende Personen denkbar, die subjektiv den Vorsatz zu dem fassen, was sie nach Uvi-Strauss' Modell objektiv ausführen, nämlich einen der Logik der Gegenseitj.gkeit unterliegenden Tausch. Und damit kommen wir zu einem weiteren Merkmal der Ökonomie des symbolischen Tauschs: das Tabu der expliziten Formulierung (deren Form par excellence der Preis ist). Wer ausspricht, woran man ist, wer die Wahrheit des Tauschs oder, wie es manchmal heißt, »die Wahrheit der Preise« verkündet, macht den Tausch zunichte (wenn man ein Geschenk macht, entfernt man das Preisschild..). Beiläufig wird deutlich, dass :ein Verhalten wie dieses, mit dem Gabentausch als Paradigma, die Soziologie, die ja per definitionem zu expliziten Formulierungen gelangen muss, vor ein äußerst heikles Problem stellt: Muss sie doch etwas ausformulieren, das sich von selbst versteht hnd, will man es nicht als solches zerstören, implizit und unausgesprochen bleiben ~muss. Eine Verifizierung dieser Analysen und ein Beleg für das Tabu der expliziten Formulierung, das in der Ökonomie des symbolischen Tauschs verborgen ist, wären in einer Beschreibung der Wirkungen zu finden, die mit der Einführung des Preises eintreten. Genauso :wie man die Ökonomie des symbolischen Tauschs als Analysator für die Ökonomie des ökonomischen Tauschs benutzen kann, so kann man umgekehrt von der Ökonomie des ökonomischen Tauschs erwarten, dass sie sich als Analysator für die Ökonomie des symbolischen Tauschs benutzen lässt. So fungiert der Preis, der das ureigenste Merkmal der Ökonomie des ökonomischen Tauschs im Gegensatz zur Ök~nomie der symbolischen Güter darstellt, als der symbolische Ausdruck jener Übereinkunft über den Wechselkurs, die mit jedem ökonomischen
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Tauschakt impliziert ist. Diese Übereinkunft über den Wechselkurs ist auch in der Ökonomie des symbolischen Tauschs vorhanden, aber ihre Klauseln und Bedingungen werden im Impliziten belassen. Der Preis muss beim Gabentausch implizit bleiben (daher die Entfernung des Preisschilds): Ich will die Wahrheit der Preise nicht wissen, und ich will nicht, dass der andere sie weiß. Alles spielt sich so ab, als ob man sich in der Vermeidung der expliziten Einigung über den .re1ativen Wert der getauschten Sachen einig wäre, in der Ablehnung jeder vorherigen Fesdegung der Bedingungen des Tauschs, das heißt des Preises (was bei bestimmten Tauschakten, wie Vtviana Zelizer anmerkt, in dem Tabu des Gebrauchs von Geld zum Ausdruck kommt - man zahlt seiner Frau oder seinem Sohn keinen Lohn, und ein junger Kabyle, der von seinem Vater Lohn verlangte, wäre ein Skandal). Die Sprache, die ich benutze, hat finalistische Konnotationen und könnte so verstanden werden, als würden die Menschen bewusst ein Auge zudrücken; im Grunde müsste man sagen, »alles spielt sich so ab, als ob«. Die Logik des Preises abzulehnen ist eine Art und Weise, Berechnung und Berechenbarkeit abzulehnen. Erst die explizite Form, die die Übereinkunft über den Wechselkurs in Gestalt des Preises erhält, macht Berechenbarkeit und Vorhersehbru:keit möglich: Man weiß dann, woran man ist Sie ist aber auch der Ruin der ganzen Ökonomie des symbolischen Tauschs, der Ökonomie der Dinge, die keinen Preis haben, in doppeltem Sinne. (Redet man, wie es mitunter zum Zwecke der Analyse sein muss (vgl. Zelizer 1987), von einem Preis der Dinge, die keinen Preis haben, führt man natürlich eine
contradictio in at!jecto ein.) Das Schweigen über die Wahrheit des Tauschs ist ein geteiltes Schweigen. Die Ökonomen, die sich im Namen einer finalistisch-intellektualistischen Philosophie des Handeins kein anderes als ein rationales Handeln vorstellen können, sprechen von common knowledge: Eine Information ist common knowledge, wenn man sagen kann, dass jeder weiß, dass jeder weiß, dass jeder über diese Information verfügt, oder wenn sie, wie man so sagt, ein offenes Geheimnis ist Man könnte durchaus versucht sein zu sagen, die objektive Wahrheit des Gabenrauschs sei in gewissem Sinne common knowledge: Ich weiß, dass du weißt, dass du, wenn ich dir etwas gebe, mir etwas wiedergeben wirst, usw. Aber die explizite Formulierung dieses offenen Geheimnisses, soviel steht fest, ist tabu. All das muss implizit bleiben. Es gibt eine Unzahl von objektiven und in jedem Akteur inkorporierten sozialen Mechanismen, die bewirken, dass schon der Gedanke, dieses Geheimnis unter die Leute zu bringen (mdem man sagt Schluss mit der Komödie, hören wir auf, den wechselseitigen Tausch als großmütige Gaben hinzustellen, das ist Heuchelei, usw.), soziologisch undenkbar ist. Aber wenn man, wie ich gerade, von common kwwledge (oder se!f-deception) spricht, argumentiert man immer noch bewusstseinsphilosophisch und tut so, als ob es in jedem Akteur ein doppeltes Bewusstsein ga"be, ein zweigeteiltes, mit sich selbst zer-
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fallenes Bewusstsein, das eine ihm sonst bekannte Wahrheit bewusst unterdrückt (Das erfinde ich nicht Man lese nur Jon Elster, U!Jsses and the Sirens.) Das ganze Verhalten der Ökonomie des symbolischen Tauschs, das doppelt ist ohne doppeltes Spiel, kann man nur erklären, wenn man sich von jener Theorie des Handeins lossagt, die das Haßdein als das Produkt eines intentionalen Bewusstseins versteht, eines expliziten Vorsatzes, einer expliziten Intention, die sich auf einen explizit als solchen gesetzten Zweck richtet (msbesondere den Zweck, den die objektive Analyse des Tauschs ans Licht brin~). Die Handlungstheorie, die ich (mit dem Begriff Habitus) vorschlage, besagt letzten Endes, dass die meisten Handlungen der Menschen etwas ganz anderes als die Intention zum Prinzip haben, nämlich erworbene Dispositionen, die dafür verantwortlich sind, dass man das Handeln als zweckgerichtet interpretieren kann und muss, ohne deshalb von einer bewussten Zweckgerichtetheit als dem Prinzip dieses Handeins ausgehen zu können (hier ist das »alles spielt sich so ab, als ob>geistigen Ehrenpunkt« anspricht. Es gibt keine Gesellschaft, die dem keine Ehre erweist, der ihr Ehre erweist, indem er sich weigert, dem Gesetz des egoistischen Interesses zu folgen. Verlangt wird nicht, dass man absolut nur tut, was sich gehört, sondern, dass man zumindest Anzeichen dafür erkennen lässt, dass man sich bemüht, es zu tun. Erwartet wird von den sozialen Akteuren nicht, dass sie sich vollkommen an die Regeln halten, sondern dass sie sich an die Regeln zu halten versuchen, dass sie sichtbare Anzeichen dafür erkennen lassen, dass sie sich, wenn sie könnten, an die Regel halten würden (so verstehe ich das Wort von der Heuchelei als der »Huldigung des Lasters an die Tugendwelfarism~eder zählt als einer.«) Oder auch auf dem Prinzip: »jeder andere/ganz anders ist Gott«, »Gott ist jeder andere/ganz anders.« (Ebd: 83). Nun sieht man nicht mehr, in wessen Namen man mehr an diesen als an jenen geben müsste. ))Ich kann dem einen (oder dem Einem) nur antworten, indem ich ihm den anderen opfere. (...) Wie rechtfertigen Sie )ernals die Opferung aller Katzen der Welt für die eine, die Sie bei sich jeden Tag ernähren (...)? Wie rechtfertigen Sie es, dass Sie sich hier befinden, französisch sprechend, eher als dort, zu anderen eine andere Sprache sprechend (•..)?« (Ebd.: 70f.)
Es gibt keine Wahl, die nicht opfern würde. Aber angesichts der Unmöglichkeit, irgendein Opfer vernünftig zu begründen (und hier, angefangen bei dem mit dem Utilitarismus geteilten Postulat der grenzenlosen Ersetzbarkeit aller menschlichen Wesen, befindet man sich an den Antipoden des Utilitarismus), bleibt nicht mehr, als alles der Gabe selbst zu opfern. Indem Abraham seinen Sohn unter Vernachlässigung jeden Vernunftprinzips opfert, ist er zugleich der Ethischste und der am wenigsten Ethische der Menschen. Sein Beispiel illustriert, bis zum Paroxysmus, die Paradoxa, die im Raum zwischen Gabe und Interesse entstehen, um die sich unsere ganze Diskussion bis jetzt drehte. ))Von dem Augenblick an, wo sich die Gabe, so wohltätig sie se~ von dem Kalkül streifen lässt, wo sie mit der Kenntnis oder der Anerkennung rechnet, lässt sie sich von der Ökonomie einfangen: er tauscht, er gibt alles in allem Falschgeld« (Ebd.: 104)
Um sicher zu sein, von dem Kalkül nicht verunreinigt zu werden, muss man bis zum Holocaust all dessen gehen, was man besitzt und einem teurer ist als man selbst. Nur unter dieser Bedingung wird die Gabe rein. Aber merkwürdigerweise kann in diesem Moment, in einer paradoxalen Bewegung, die derjenigen nahe ist, welche Bourdieu über die Rentabilität der Tugend sprechend analysierte, Gott zurückgeben und souverän entscheiden, durch eine absolute Gabe zu geben, was stark an eine Belohnung erinnert (ebd: 91). Weil Abraham auf Lohn verzichtet hat, »indem er weder Antwort noch Belohnung erwartet, nichts, was ihm zurückgegeben würde, nichts, was zu ihm zurückkäme«, gewinnt er das Größte, was zu gewinnen möglich ist: die Liebe und den Bund Gottes (ebd.). Aber hier schaltet sich wieder der infernale Kreislauf ein, aus dem uns die Derndasche Radikalisierung herausbringen sollte. Denn entweder ruft man über die Geschichte nachdenkend aus, wie Derrida selbst schreibt: »Gut gespielt!«, da ja die absolute Gabe so in den Kreislauf eines um so transzendentaleren Kalküls wieder eingeschrieben ist, als es abwesend und unterdrückt ist Wie wenn auf die Demdasehe Sicherheit, dass es Gabe nur ohne Wissen geben kann, dass sie nur ohne Wissen des Gebers und des Empfii.ngers geschehen kann, die Schlussfolgerung antwortete, dass es ebenso nur ef~ientes Kalkül ohne jedes Wissen und unsichtbar geben kann. Oder alles schwebt in der Absurdität und im Entsetzen. Denn wenn Gott nicht zu-
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rückgeben würde - zu welch anderem Schluss könnten wir kommen, als dass Abraham wahnsinnig und Gott ungeheuerlich ist? Die Identifikation der Gabe mit der Agape und der reinen Liebe, wenn auch offensichtlich der Reduktion der Gabe auf das egoistische Kalkül gegenübergestellt, ist dieser im Grunde eng verbunden. Welche dieser zwei Arten, die Frage nach der Gabe aufzuwerfen, man den Vorzug geben möchte: Die Gabe erscheint unmöglich und unfassbar. Versuchen wir jetzt also, die Umrisse einer maßvollen Definition der Gabe zu zeichnen, die die Nachteile der Mauss'schen »Mittelmäßigkeit« hat, aber auch den Vorteil, den menschlichen Subjekten die Wohltätigkeit und einen gewissen Grad nicht rigoros verbotener Interesselosigkeit zuzugestehen.
Plädoyer für eine maßvolle Konzeption der Gabe Hoffen wir, dass aus den vorhergehenden Seiten nicht geschlussfolgert wird, wir hielten die Analysen und Diskurse, welche wir diskutiert haben, für falsch oder unbedeutend Wenn sie uns so lange beschäftigt haben, ist das im Gegenteil deshalb, weil sie leistungsfahig und in vielerlei Hinsicht unwiderlegbar sind Und übrigens, wie soll man nicht vorgeben, im ewigen Streit zwischen den Verfechtern des freien Willens und denen des versklavten Willens Schiedsrichter zu sein? Ist es nicht klar genug, dass beide Seiten Recht haben? Die Möglichkeit ist nichtsdestotrotz schwierig anzuerkennen, dass zwei gegensätzliche Annahmen zugleich wahr sind Aber wenn wir das anerkennen, bereitet uns das am meisten Probleme in der Übereinstimmung zwischen den zwei zugleich gegensätzlichen und identischen Seiten des berechnenden Egoismus und des außerhalb des Kalküls stehenden Altruismus, dass sie jedes Reststück oder jeden Entwurf eines ethischen und politischen Diskurses ebenso unmöglich werden lassen. Denn wenn die Gabe das Unmögliche ist, wenn niemand fähig ist zu geben, mit Wohltätigkeit und Interesselosigkeit belastet zu werden, dann ist alles möglich und nichts verdient besonderes Lob oder Zustimmung, vom unlauteren Geschäftsgebaren bis zur hochmütigen Askese, von der Achtung der Verpflichtung bis zum Verrat, von der Suche nach Freundschaft bis zu der nach Hass. Die entgegengesetztesten Verhaltensweisen fallen zugleich unter die Generalbeschuldigung der Niedertracht Und mehr noch, wenn behauptet wird, dass die Individuen nur im Unbewussten berechnen und nur egoistische Strategen sind und also in jedem Fall unrein sind, dann deshalb, weil, da alle gleichermaßen Sünder sind, alle ebenso verdammt und gerettet werden können, zu der Bedingung einer sehr seltsamen Gemeinschaft von (Un-)Heiligen wider Willen. Ohne hier ausführlicher wenlen zu können, halten wir in nahezu stenografischer Weise die Richtungen fest, in die man, glauben wir, die Überlegung zur Gabe, zur Wohltätigkeit,
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zum Interesse und zur Interesselosigkeit wenden müsste, damit sie nicht sofort in die Gleise vettallt, die wir gerade angedeutet haben. Die erste zu beachtende Regel könnte diejenige sein. dass es wichtig ist, am Anfang zu beginnen und nicht am Ende. Man müsste beginnen sich zu fragen, wie sich Gabe und Interesse in den Handlungen gewöhnlicher Menschen gegenseitig durchdringen, anstatt von dem übersteigerten Konzept einer gereinigten Gabe auszugehen, das nicht mehr dazu dient, die tatsächlichen Handlungen aufzuklären und zu führen, sondern sie einander gegenüber stellt. Tayloristische Zeitnehmer oder Stakhanovistische Unternehmenschefs isolierten noch vor kurzem die leistungstahigsten Arbeiter, um die von einem Einzigen erreichte und erreichbare Geschwindigkeit und Produktivität als eine allen aufzulegende Norm zu errichten. Ebenso wird in der Diskussion, der wir gerade gefolgt sind, eine Norm unbegrenzter Heiligkeit die Norm der Vlrtllosen, würde Max Weber sagen- gesucht, die es einem erlaubt, »indem er sich Schmerzen bereitet« (J. L. Cherlonneix), die ganze Menschheit zu beschämen. Versuchen wir also die Möglichkeit einer Gabe zu denken, die auf der Höhe der konkreten menschlichen Subjekte ist.
DieGabe Zuallererst scheint es legitim zu sein. von der Suche nach einer Definition der Gabe als Gabe auszugehen und logisch in diesem Sinne das herauszulösen, was ihr nicht spezifisch ist- das Interesse, der Tausch, die Verpflichtung und selbst das Vergnügen. Eine solche Vorgehensweise wirft allerdings mehrere Probleme auf. Sie scheint den Gedanken aufzudrängen, dass die Gabe ohne Interesse ist, abseits und unabhängig von diesem. Die Gabe wäre dann identisch mit der reinen Freiwilligkeit. Aber wenn es kein Interesse gibt, nichts, was man opfern könnte welche Gabe könnte es da wohl geben? Weil Derrida voraussetzt, dass die Gabe nur radikal außerhalb des Feldes des Interesses auftauchen kann, wird er zu der Schlussfolgerung gedrängt, dass, wenn es sie gibt, es sie also nicht gibt. Die Aporie verschwindet, sobald man behauptet, dass die Gabe nicht ohne, sondern gegen das Interesse definierbar ist. Die Gabe existiert und wirkt nur, weil sie als bedingte Gabe und nicht als Gabe an sich - als Gabe von etwas, und wenn es von nichts wäre immer widersprüchlich gebunden ist an anderes als sie selbst. Deshalb ist die Gabe zugleich, ohne sich darauf zu reduzieren, bedingter und unbedingter, eigennütziger und interesseloser Tausch. Sie kann eine Scheinwelt der Unbedingtheit nur bedeuten, weil sie zugleich die Möglichkeit bedeutet, jeden Moment in die reine und einfache Bedingtheit :und in das rohe Spiel des Interesses zurückzufallen. Verharren wir noch einen Momc:;nt bei dieser Frage des Interesses.
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Anzunehmen, dass die Gabe sich verflüchtigt, sobald eine Prise oder der Verdacht des Kalküls sich hinein mengt, ist eine reine petitio principii. Nehmen wir ein Individuum an. das sich in der Situation des Gefangenendilemmas befindet. & hat entweder die Möglichkeit, sich auf das vorsichtige egoistische Kalkül zu beschränken und die für ihn voraussehbaren Kosten zu minimieren, oder die Initiative zu ergreifen und zu vertrauen, ohne Gewissheit auf Rückgabe zu handeln und somit den Raum für zwei neue Möglichkeiten zu öffnen: dass er und der andere einen maximalen Gewinn erlangen - die Freiheit, oder auch, dass er allein mit der Maximalstrafe verurteilt wird, Es ist evident, dass die riskanteste Wahl zugleich Kalkül und Wohltätigkeit enthält. Hier bestehen Gabe des Vertrauens und Kalkül nebeneinander und man sieht nicht, weshalb man die eine oder andere Seite ausblenden sollte. Es ist falsch, dass allein der perfekte Idiot geben könne, derjenige, der nicht weiß, warum er gibt, der nicht berechnet und nichts voraussieht. Dieser gibt im äußersten Fall nicht, was auch immer er gibt. Und umgekehrt wäre es mit einem allwissenden Gott, der alles von allen Ursachen und allen Wirkungen wüsste. In einem gewissen Sinn könnte er ebenso wenig geben. Er könnte Quelle der Gabe sein, was etwas anderes ist, aber nicht Subjekt der Gabe. Statt anzunehmen, dass Gabe nur ohne Wissen bestehen kann, ohne Wissen des Gebers und des Beschenkten, statt zu sagen, dass die Gabe die Figur des Unmöglichen darstellt, stellen wir also die Überlegung an. dass es nur Gabe gibt, die sich als solche weiß und tahig ist, Verlust und Risiko einzuschätzen; deshalb ist die Gabe immer intelligent, die Intelligenz selbst. Was an die Verwirrung der Gabe und des Unbewusstseins reicht, enthält auch, dass, wenn der Geber weiß, dass er gibt, er hingegen nicht weiß, was er gibt, denn der Beschenkte aktualisiert den Wert der Gabe, und auch weil die Gabe, der mechanischen Aufreihung von Ursache und Wtrkung, von Kredit und Schuld enthoben, ein Feld der durch Hypothesen unbestimmten Möglichkeiten eröffnet.4
Das Interesse Der Gebrauch des Begriffes »Interesse« ist selbst einer der problematischsten. Man ·müsste seine Geschichte in Erinnerung rufen und sich fragen, ob es möglich ist, ihm eine transhistorische und interkulturelle Bedeutung zuzugestehen. Nehmen wir an. das sei der Fall. Um zu einem Minimum an Klarheit in der Diskussion zu gelangen, müsste man zwei sehr verschiedene Modalitäten des Interesses unterscheiden: erstens dasjenige, das man das Interesse an (l'interet ä), zweitens jenes, das man das Interesse flir (finteret pour) nennen könnte. Das erste ist eines der lnstrumentalität und Außerlichkeit in Bezug auf eine Tätigkeit. Man macht nicht etwas, liefert sich nicht 4 Vgl die zwei Artikel von Anne-Marie Fixot (1992, 1994).
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einer Tätigkeit aus, weil man dabei Vergnügen empfindet, man macht es, weil man
Interesse daran (intmt a) hat, es zu machen. Wenn man hingegen Interesse for (interet pour) jemanden oder für eine Tätigkeit verspürt, wird die Handlung für sich selbst ausgeübt. Sie hat in sich ihr eigenes Ziel. Der erste Interessentyp gehört zu den vermittelnden GÜtern, der zweite zu jenen, die von den Ökonomisten Finalgüter oder von Aristoteles unabhängige Güter genannt werden. Bevor der professionelle Spieler daraus seinen Broterwerb machte, hat er sich seinem Spiel zunächst aus Leidenschaft hingegeben, aus Interesse für. Es ist zweifelhaft, ob er ein guter Spieler bleibt, wenn er jeden Spaß am Spiel verliert (und selbst dann ...); aber er kann nut ein guter Profi werden, wenn er das Interesse for dem Interesse an unterordnet. Das System des ersten Boutdieu war dutch die systematische Reduktion des Interesses for auf das Interesse an charakterisiert. Das Interesse ftir erschien dort in Bezug auf das Interesse an illusorisch. Der zweite Boutdieu versteht es, dem Vorwurf des Ökonomismu~ zu entgehen (das heißt der Haltung, erstens das Interesse ftir auf das Interesse an zu reduzieren und zweitens das ökonomische Interesse an als allgemeines Äquivalent aller Interessen an anzusehen), indem er immer nut das Interesse for kennen will, das nun i/lusio oder Iibido getauft wird Er schreibt, dass man notwendigerweise,
um sich in das Spiel einzubringen, für dieses nicht ohne Interesse (desinteret) sein darf. Aber das lässt die Frage nach der Interesselosigkeit (desinteressement) noch unberührt. Ist,es möglich, in jenen Spielen, für die man Interesse empfindet, interesselos (de f~on desinreressee) zu spielen? Und allgemeiner: Ist so etwas wie eine interesselose Gabe überhaupt möglich? Die schizophrene Trennung zwischen Egoismus und Altruismus lässt eine Antwort nahezu unwahrscheinlich werden und führt uns zu dem Schluss, dass die authentische Interesselosigkeit nut in der extremsten mystischen Leidenschaft möglich ist. Aber eben diese Spaltung könnte uns genauso gut dazu anregen, umgekehrt die Hypothese aufzustellen, dass die authentische Gabe nut die Tat des Desinteresses (desinteret) sefn könne. Das bestätigen übrigens eine Anzahl von primitiven Religionen, für die die Schöpfung Tat eines ursprünglichen Gottes war, der als Jeus otiosus schon vor einfr Ewigkeit aufgehört hat, sich für die Fortsetzungen seiner anfänglichen Gabe zu interessieren. Fassen wir zusammen: Die Interesselosigkeit steht dem
Interesse an gel?ienüber (welches man vielleicht Beteiligung (interessemenf; nennen könnte), wie das ~esinteresse dem Interesse ftir gegenübersteht (welches vielleicht nichts anderes als Vet;gnügen ist). Was die Interesselosigkeit (desinteressetnent) als unmöglich oder nu~os ansehen lässt, ist unter anderem die Tatsache, dass man sie mit dem Desinteresse (desinreret) verwechselt und dass man kaum zwischen dem Opfer des Interesses an und dem V edust des Interesses for unterscheidet. Sobald man diese Verwechsl~n
Existenz
eine~
vermeidet, klären sich viele Rätsel auf. Nichts hindert uns, die authentischen Interesselosigkeit und Wohltätigkeit, die Realität einer
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Gabe anzuerkennen, sobald ein ökonomisches Interesse, oder allgemeiner ein instnunentelles Interesse, ein Interesse an, eine Beteiligung geopfert ist. Was die Diskussion hingegen komplex werden lässt, ist die Tatsache, dass Interesse an und Interesse flir nicht einander undurchsichtige und undurchdringliche W elten darstellen. Im Spiel beispielsweise ist die Tatsache, dass es einen finanziellen Einsatz gibt, einen dem Spieleinsatz externen Einsatz, die Tatsache, dass das Spiel gerade gewinnversprechend (interessee) ist - dieses ganze Instnunentarium ist dazu angelegt, das Vergnügen am Spiel zu vergrößern. Und entsprechend ist es klar, dass ein beträchtlicher Anteil dessen, was anscheinend der Sphäre des Nützlichen, Funktionellen, der Arbeit und des Instnunentellen, kurz: dem Interesse an entspringt, eigentlich in die Zuständigkeit des Interesses flir und des Vergnügens tallt. Außer wenn es sich um Verpflichtung oder Freiwilligkeit handelt »Man glaubt zunächst, man würde für sich arbeiten«, schreibt Auguste Detoeuf (1989: 85), »man vergegenwärtigt sich dann, dass man für seine Frau arbeirer- man ist später überzeugt, dass man für seine Kinder ru:beitct:; man nimmt schlussendlich wahr, dass man während der ganzen Zeit gearbeitet hat, um zu ru:beitcn.«
Die Komplexität wird noch größer, wenn man die Handlung nicht von nur zwei Motivationsserien ausgehen lässt- denen an das Interesse an (oder an die Beteiligung) und an das Interesse ftir (oder an das Vergnügen) gebundenen und denen an ihre Gegensätze, die Interesselosigkeit und das Desinteresse gebundenen -, sondern wenn man die zwei anderen Motivationstypen mit in Betracht zieht, die durch den Anfang des Essai sur Je don so überzeugend eddärt wurden, als Mauss das erste Mal die paradoxale Verpflichtung zu geben inszeniert, anders gesagt die Verpflichtung, freiwillig zu sein. Rechnen wir also der menschlichen und sozialen Handlung vier große mögliche Quellen zu: die der Verpflichtung oder die der Freiwilligkeit auf der einen Seite, die des Interesses (an) und die des Vergnügens (das Interesse für) auf der anderen Seite. Diese vier Quellen können einander nicht auflösen. Der so oft begangene Fehler besteht in der Absicht, die eine auf die andere zu reduzieren. In der Absicht zum Beispiel, wie der erste Bourdieu und ein guter Teil der in den Sozialwissenschaften vorherrschenden Theorien, die moralische Pflicht, das Vergnügen oder die Freiwilligkeit auf das alleinige Interesse an zu reduzieren. Zwischen jedem dieser Pole gibt es eine Unterbrechung. Und hypothetisch lässt sich auf konzeptionellem Niveau sagen, dass die Logik der einen Quelle in den Begriffen der Logik einer der drei anderen unverständlich ist. Die moralische Pflicht beispielsweise ist nicht denkbar in den Begriffen des instnunentellen Interesses, des Vergnügens oder der Freiwilligkeit, wie es Kam gezeigt hat, außer es handelt sich eben nicht um Pflicht. Das würde den Versuch a priori legitimieren, die Gabe unabhängig von Interesse und Pflicht zu de-
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finieren, wenn überhaupt gesichert ist, dass die Gabe mit dem Pol der Freiwilligkeit identifiziert werden kann - was keineswegs gesichert ist.
Gabe und Interesse Wenn einmal diese vier Pole der Handlung konzeptionell klar unterschieden sind, ist es möglich, sich nach ihrer wahrlich extremen VerschachteJung zu erkundigen. Ebenso, wie es - wir sagten es gerade - ein Vergnügen am Interesse, ein Interesse an und im Vergnügen geben kann, ebenso kann es sich tatsächlich als interessant erweisen,. moralisch oder freiwillig zu sein. Oder es kann auch möglich sein, freiwillig im Sinne seiner Interessen, der Moral oder des Spiels zu handeln. Die brahmanische Spekulation, die vier Pole der Handlung bezeichnet, die unseren sehr ähnlich sind, wenn sie von kama (Vergnügen) spricht, von artha {Interesse), von dharma (soziale und kosmische Verpflichtung) und von moksha (Befreiung, Zugang zur Freiwilligkeit), hat seit undenklichen Zeiten die Diskussion dieser Verflechtung unendlich verfeinert.s In diesem Gebiet ist es möglich, bis zu einem bemerkenswerten Detaillierungsgrad zu gelangen. Wenn man zum Beispiel in diesen Worten die Frage der Interesselosigkeit- des Opfers instrumenteller Interessen- reformuliert, erscheint sogleich, dass diese aus vier wohl unterschiedenen Ursprüngen entstehen können. Die Axiomatik des Interesses behauptet, dass das Opfer des instrumentellen Interesses nur ins Auge zu fassen ist, wenn es sich in den Begriffen desselben instrumentellen Interesses auszahlen kann. Man kann das Interesse an nur für das Interesse an opfern. Aber offensichtlich sind drei andere Figurenkonstellationen ebenfalls möglich. Das materielle Interesse kann der moralischen Verpflichtung, dem Vergnügen oder der Freiwilligkeit geopfert werden. Es erscheinen so drei sehr unterschiedliche Arten von Interesselosigkeit: die des Ritters der Moral, der Pflicht und/ oder der laizistischen oder transzendenten Religion; die des Spielers, des Verliebten, des Sportlers, des ehrlichen Künsders oder des Kriegers aus Vergnügen; schließlich die des Schöpfers oder des Mystikers, Vermitder einer schöpferischen Kraft, die ihn vollständig übersteigt. Diese vier Bestandteile der Handlung sind alle nötig zum Ablauf einer vernünftigen, »mittelmäßigen« und ausgewogenen menschlichen Existenz. Nichts ist erschreckender, unheimlicher, gefährlicher und ermüdender als die Fetischisten eines einzigen Gottes, als die, die nur auf die Pflicht schwören oder auf das Vergnügen, als die, die nur von Interesse reden oder die noch selteneren, die von der permanenten Inspiration heimgesucht werden oder glauben, sterben zu müssen, wenn es 5 Über diese Dial~ktik der »Ziele des Menschen« und ihrer Verflechtung vgl. Charles Malamoud (1989). Siehe ebenso, für eine Weiterführung des hier Gesagten, Caille (1989).
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so nicht ist. Melu: noch: Jeder dieser Momente erhält Sinn nur und reichert sich nur an, wenn er die Erfahrung der anderen gemacht hat. Wer nicht das Vergnügen, die Freiwilligkeit oder das materielle Interesse kennt, hat den anderen nicht viel zu opfern oder zu geben. Abraham muss sehr wohl einen Sohn haben, um ihn Jehova opfern zu können. Der hinduistische Entsagende, der arhat, muss sehr wohl dem hiesigen Leben geopfert haben, um ernsthaft nach dem Tod trachten zu können. Und Buddha, oder Sankt Franziskus von Assisi, hätten sie alles zu verlieren annehmen können, wenn sie nicht zunächst alles besessen hätten (hier befindet sich der vollkommen richtige Kern der Bourdieuschen Befragung)? Zwischen den vier Dimensionen der Handlung ist die Beziehung nicht funktionell, zweieindeutig, wie wenn alles auf das Gleiche hinausliefe. Sie ist eher spira!fdrmig. Die Bewegung des Lebens lässt die gleichen Momente, die gleichen Erfahrungen wiederholen. Aber diese gleichen Erfahrungen sind immer unterschiedlich, weil jeder der vier Momente der Handlung, da er die Erfahrung der anderen drei gemacht hat, jedesmal von dem unterschieden ist, was er zuvor war, und weil jeder durch die Tatsache erneuert ist, den anderen drei Ansprüchen ausgesetzt gewesen zu sein.
Gabe und Gebung (donation) Wenn man jeder dieser Dimensionen der Handlung eine privilegierte Erfahrung und einen bestimmten Beziehungstyp zu anderen zuerkennen würde, erhielte man walu:scheinlich etwas, das dem folgenden Überblick ähnelt. Am Pol des Interesses fände man die Arbeit und den Markt; an dem des Vergnügens die Rivalität von Wetteifer und Spiel (vielleicht); an dem der Verpflichtung die Pflicht und Teilung; an dem der Freiwilligkeit die Gebung und Gabe. Außer dem schizophrenen Zerreißen des modernen Denkens in die Sicherheit der Allgegenwart des Egoismus und die Suche nach Altruismus ist ein anderer Grund für die Schwierigkeit, die Gabe zu begreifen, der Tatsache geschuldet, dass das moderne Denken kaum zwischen Gabe und Gebung unterscheidet. Indem es die Gabe als antithetisch zum egoistischen berechnenden Interesse denken will, indem es behauptet, dass Gabe nur dort ist, wo Kalkül und Intention dahinschwinden, erlaubt es von Gabe zu sprechen nur dann, wenn etwas ohne Ursache, ohne Grund erscheint, was es vorher nicht gab, wie wenn es einer Quelle entspringt und sich aus sich selbst bewegt. Nun, dieses »aus sich selbst bewegen« oder eher dieses »einer Quelle entspringenwa.rum«, sie en;cheint wie wir, ohne von jemandem gegeben zu sein, Selbst-Gebung und Selbstdarstellung [im Original deutsch]. Das Leben wurde uns von unseren Erzeugern »gegeben«, aber es überschreitet unendlich diese Gabe. Und dieser Exzess ist derjenige der Gebung über die Gabe. Die Behandlung der Frage nach der Gabe von Derrida ist nur deshalb so unklar, weil er von der Gabe eine Charakterisierung gibt, die unendlich mehr für die Gebung gilt, oder eher noch, die nur für sie gilt. Nur die Gebung, nur das Leben, gibt und kann ohne Ursache geben, ohne Grund und ohne Kalkül. Die von den Menschen bereiteten Gaben hingegen, wenn sie danach streben, die Bewegung des Lebens selbst zu reproduzieren und sie in Gang zu setzen (wie die Initiationsriten die Geburt imitieren), gelangen zu dieser Reproduktion nur durch die Imitation der Gebung. Während das Leben nichts anderes zum Ziel hat als das Leben, erstrebt die Gabe nicht die biologische, sondern die soziologische Reproduktion, die Herstellung und Wiederherstellung der sozialen Beziehung. Hier ist es, am Ende dieses zu langen Weges, wo wir die gemäßigte Definition der Gabe wiederfinden, auf die Jacques Godbout und ich uns gestützt haben. Was als Gabe qualifiziert werden kann, ist jede geleistete Hilfe ohne Erwartung einer bestimmten Erwiderung und mit der Absicht, die soziale Beziehung zu nähren. Aber vielleicht ist es möglich, den Weg auszunutzen, den wir gerade zurückgelegt haben, um diese Definition zu präzisieren. Die Gabe, sagten wir, befindet sich konzeptuell auf der Seite der Freiwilligkeit. Von diesem Gesichtspunkt aus ist die Richtung grosso modo richtig, in die sich der Versuch der Derridaschen Konzeptualisierung bewegt. Sie versagt hingegen, legten wir nahe, weil sie die Tatsache nicht ins Auge fasst, dass die Gabe von irgend etwas konstituiert sein muss, dass sie nicht einfache selbstbezogene Selbstbestätigung sein kann, wenngleich die Frage, ob sie vom Interesse, vom Vergnügen oder von der Freiwilligkeit herrührt, der Demdasehen Konzeptionalisierung keineswegs gleichgültig ist, sondern im Gegenteil wesentlich. Aber sie versagt auch aus einem anderen, subtileren und zugleich stärkeren Grund Ist es eigentlich so sicher, dass diejenigen, die empfangen, von der empfangenen Gabe vollständig gedemütigt werden müssen, verschuldet bis dahin, sich nur an der Gabe erfreuen zu können, wenn sie jene nicht als solche erkennen? Ist es ebenfalls so sicher, dass diejenigen, die geben, sich bis an das Ende der Zeit analog schuldig fühlen müssen, die Verwirrung bis dahin gestoßen zu haben, sich einen Moment menschlicher, zu menschlicher Wohltätigkeit zuzugestehen? Zum Schluss ist man geneigt zu sagen, dass es Sache von Geber und Empfänger ist, ihre Anerkennungsprobleme zu lösen, zu bestim-
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men, ob die Gabe wirklich eine war und schlussendlich wer die Gabe macht- derjenige, der sie anbietet oder derjenige, der sie empfängt (der große Vorteil des Marktes besteht darin, eine objektive Antwort auf die Frage vorzuschlagen)! Aber das Wesentliche befindet sich ohne Zweifel nicht hier. Es besteht, glauben wir, in der Tatsache, dass das, was letztlich den Wert einer Gabe über ihre materielle Nützlichkeit, über ihren Zeichenwert und selbst über ihren Wert als Bindung hinaus ausmacht, die Tatsache ist, dass sie eine Dimension der Gebung symbolisiert, dass sie eine Beteiligung am Universum des »Ohne-Ursache«, des Unbedingten, des Lebens selbst bestätigt Es ist nicht sicher, dass man auf das Christentwn warten muss, damit die Bedingung der Gabe gegeben ist - die Güte selbst. Vtel sicherer ist die Vorstellung, dass die Gabe immer von der Gabe der Gebung, von der Gabe des Lebens beabsichtigt ist, aber dass sie sich darauf nicht reduziert und sie auch nicht erreichen kann. Zumindest kann man versuchen, die Bewegung des Lebens selbst zu imitieren oder es (wieder) zu spielen. Das Unmögliche ist nicht die Gabe; das Unmögliche ist die vollständige Gleichsetzung der Gabe mit der Gebung. Alle Fehler im Konzept der Gabe führen letztlich immer auf eine Verwechslung der Gabe mit der Gebung zurück.
Schlussfolgerung Wenn diese konzeptuellen Klarstellungen einmal erfolgt sind- wobei wir uns dessen bewusst sind, dass man sie noch sorgfaltig ausarbeiten müsste -, wird es möglich zu beginnen, die schwierigsten und konkretesten Fragen zu formulieren, die hinter diesen scheinbar ätherischen und rein metaphysischen Befragungen versteckt sind. Denn die eigentliche und wirklich fruchtbare Frage ist nicht die nach der Realität der Interesselosigkeit, nach der Reinheit oder Unreinheit der Gabe, noch diejenige, was wohl die menschlichen Individuen dahin bringen könnte, zu geben. In bestimmter Hinsicht ist es zu denken erlaubt, dass jeder, der auf die Stufe der Gebung zu gelangen oder so zu erscheinen wünscht, sich zu geben drängt oder so glauben macht6, und dass das Schwierigste oft nicht ist, jemanden zu geben anzuregen, sondern ihn davon abzuhalten. .. Nein, die eigentliche Frage ist nicht die nach der unbefleckten Gabe oder nach der reinen Liebe. Die eigentliche Frage lautet: Wem geben? Im Rahmen einer kleinen, symbolisch festen Gesellschaft, wo Rollen und Stellung klar aufgeteilt sind, im Rahmen dessen, was Bourdieu eine gut konstituierte Gesellschaft der Ehre nennt, und die wir eine Personengesellschaft nennen
6 Vgl. Herui Raynal (1%5), der bewundemswen diesen Eifer eines jeden zeigt, sich als Agent oder Vermittler der Gebung aufzuspielen.
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könnten, ist die Frage einigermaßen einfach entschieden. Sobald die Identität dieser kleinen Gesellschaft verwittert, explodiert die Frage nach den möglichen Empfängern der Gabe, aufwärts und abwärts der eingerichteten Rollen. Aufwärts: Diejenigen. die kaum von privilegierten Rollen begünstigt wurden, verstehen sich eher als Individuen denn hls Personen. Hier stellt sich die Frage des Egrismus. Abwärts: Die äußeren Grenzen der Vergesellschaftung verwittern so weit, dass die Frage auftaucht, ob es nötig sein wird, jetzt jenen zu geben, die gestern noch Fremde oder Feinde waren, und jene als Brüder zu betrachten, die man gerade erst auszulöschen trachtete. Die Personen entdecken nach und nach den Menschen im anderen, erkennen die anderen und sich selbst als menschliche Gemeinschaft wieder. Die aufgeworfene Frage ist also die nach der Verfassung eines neuen kollektiven Subjekts, das jetzt auf den Trümmern des Alten errichtet werden muss, dem man zu opfern gewohnt war. Diese Frage ist zunächst nicht moralisch, philosophisch oder religiös. Sie ist die politische Frage par excellence.
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IV Anwendungsfelder
Reziprozität in familialen Generationenbeziehungen* Betina Hollstei,n
Familienbeziehungen: Strukturelle oder nonnative Integration? Im Zuge gesellschaftlicher Moderoisierungsprozesse hat die Familie ihr Gesicht stark verändert: Mit dem Ausbau staatlicher Institutionen - vor allem des Bildungssystems und sozialstaatlicher Sicherungssysteme wie Arbeitslosen- und Rentenversicherung - hat sie viele Funktionen an diese abgegeben. Aufgrund demographischer und sozialer Veränderungen hat sich auch ihre Strukrur stark gewandelt (Stichworte sind: gestiegene Lebenserwartung, abnehmende Kinderzahlen, gestiegene Scheidungsziffem). Entgegen Parsons' Vennutung von der isolierten Kernfamilie zeigen jedoch neuere Forschungsergebnisse, dass zwischen Eltern und_ Kindem auch nach ~er Phase des Zusammenlebens in einem gemeinsamen Haushalt umfangreiche und vielfältige Austauschprozesse stattfinden: Dazu gehören Hilfeleistungen unterschiedlichster Art, Rat und tatkräftige Hilfe bei Reparaturen ebenso wie emotionale Unterstützung und erhebliche finanzielle Transfers; auch im Falle von Pflegebedürftigkeit sind es immer noch ganz überwiegend Kinder und Schwiegerkinder, die sich um die altemden Eltern kümmern (z. B. Kohli u.a. 2000; AttiasDonfut 1995; Bien 1994; Diewllld 1991; Rossi/Rossi 1990). Die Frage ist,, wie diese unterschiedlichen Transfers in Familien zu erklären sind und welche Roll~ Reziprozität dabei spielt. Diese Frage ist weder trivial noch von bloßem akademischen Interesse: Da auf Reziprozität gegründete Transfers an Vorleistungen gebunden und über soziale Verpflichtungen strukturell abgesichert sind, kann angenommen werden, dass sie verbindlicher und stabiler sind als Transfers, die sich allein auf abstrakte Verhaltensnonnen stützen (etwa die Norm, dass man
' * Für hilfreiche Kommenrare zu ersten Fassungen dieses Beitrags danke ich Jürgen Wolf, Wer1
ner Rammert sowie den Herausgebern dieses Bandes.
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seine Eltern achten und sie nach Kräften unterstützen sollte). Die Integrationskraft letzterer ist schwächer, weil sie anfälliger für soziale Veränderungen und Wertewandd sind Anders ausgedrückt: Wenn Reziprozität in Familienbeziehungen eine Rolle spielt, dann stehen die Chancen gut, dass es um die Zukunft der Familie nicht so schlecht bestellt ist, wie es öffentliche Befürchtungen über nachlassende familiale Solidarität und erodierende Unterstützungspotentiale nahe legen. Da recht unterschiedliche Vorstellungen und Begriffe von Reziprozität kursieren (beispielsweise wird gdegentlich bereits von reziprokem Tausch gesprochen, wenn zwischen zwei Akteuren wechselseitiger Austausch festgestellt wird), werde ich zunächst kurz die Hauptkennzeichen von Reziprozität skizzieren, wie sie bei den soziologischen Klassikern diskutiert werden. Im Anschluss gehe ich darauf ein, ob und inwieweit sich in modern~ Familien sowohl Formen direkter Reziprozität als auch verschiedene Formen indirekter Reziprozität, an der mehr als zwei Akteure beteiligt sind, aufweisen lassen. Dabei konzentriere ich mich auf Reziprozität in familialen Generationenbeziehungen, also vorzugsweise zwischen Eltern und Kindern.
Die Regeln der Reziprozität und Risiken von Zeit und Ressourcenverteilung Die Bedeutung von Reziprozität für das Funktionieren und die Stabilität von sozialen Beziehungen und sozialen Systemen wird von vielen Soziologen und Anthropologen betont, und die Analyse des Prinzips der Reziprozität kann man wohl als eine der elementaren Errungenschaften der Soziologie bezeichnen. Wie Marcel Mauss (1994 [1923/24]) in seinem berühmten Essay ausgeführt hat, besteht der Akt des Gebens zwischen Individuen oder Gruppen aus drei elementaren Bestandteilen oder Basispflichten: zu geben (a), die Gabe anzunehmen (b) und die Gabe mit einer Gegengabe zu erwidern (c). Wesentlich ist, dass mit einer Gabe immer Vetpflichtungenverbunden sind Dieses Verpflichtetsein ist es, was Simmel als »Dankbarkeit« bezeichnet (Simmel in diesem Band). Zu betonen ist, dass diese Verpflichtungen unabhängig von allen Intentionen und etwaigen Nutzenkalkülen der beteiligten Akteure bestehen (Bourdieu 1979). Jenseits der konkreten Motive und Beteuerungen der Akteure zwingt eine Gabe den Adressaten zu einer Reaktion. Nimmt er die Gabe an, wird der Empfanger der Gabe in spezifischer Weise an den Gebenden gebunden, und zwar solange bis er die Gabe erwidert beziehungsweise »zurückzahlt« (Gouldner 1960). Die gegebene Sache ist nicht nur Ding»an sich«. Ihr haftet die Erinnerung an die Person des Gebenden an, den Ernpfauger daran erinnernd, dass er in der Schuld des Gebers steht. Diese der Gabe inhärente Verpflichtung
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bezeichnet Mauss (1994 (1932/24D etwas mystifizierend als den »Geist der gegebenen SacheSachen«, >>Güter« etc. beziehen sich hier auf alles das, was ausgetauscht werden kann, scpmit auch Diensdeistungen, emotionale und kognitive Unterstützungsleistungen.
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der Akteur bei einem materiellen Gut einfach auf dessen Marktwert beziehen. Er kann aber auch situative Faktoren in Rechnung stellen. Gouldner folgend ist es eine empirische Frage, ob und wann man sich der Verpflichtung endedigt hat. 2 Festzuhalten ist, dass allein aus dem Vergleich der ausgetauschten Güter nicht abzuleiten ist, woran der Austausch orientiert ist. Das Interessante an der Norm der Reziprozität ist also, dass allein durch die bloße Gabe Verpflichtungen gestiftet werden, und zwar unabhängig davon, was die Geber mit der Gabe im Sinne hatten (Bourdieu 1979). Beispielsweise mag der Geber aus Wohltätigkeit handeln, die Gabe ruft trotzdem Verpflichtungen hervor, und sei es wenigstens die Verpflichtung dankbar zu sein (Simmel in diesem Band). Allerdings kann die Verpflichtung zur Reziprozität durch andere Normen, Rollendefinitionen oder Statusverpflichtungen außer Kraft gesetzt werden (auf diesen Punkt komme ich gleich noch genauer zu sprechen; für Eltern-Kind-Beziehungen spielt er eine besondere Rolle). Die Fragen, ob die Norm der Reziprozität tatsächlich am Werk ist und wann eine Gabe »zurückgezahlt« ist, lassen sich nur beantworten, wenn geklärt wird, ob und in welchem Maße sich die Empfänger durch die Gabe verpflichtet fühlen. Die erste Gabe verpflichtet jedoch nur, wenn sie auch angenommen wird. Und die Gabe anzunehmen bedeutet, nicht sofort und nicht die gleiche Sache zurückzugeben (Bourdieu 1979: 219). Wie die Leihgabe, bei der die Rückgabe vertraglich gesichert ist, stiftet auch die unmittelbare Rückgabe keine Reziprozitätsverpflichtung. Eine Gabe kann als Angebot für eine Beziehung gesehen werden, doch erst der Empfänger der Gabe definiert den Charakter der Beziehung (Simmel in diesem Band): neben der Entscheidung darüber, ob er die Gabe überhaupt annimmt, auch durch die Art der Gegengabe und die Zeit, die er zwischen Gabe und Gegengabe verstreichen lässt. Gibt er die gleiche Sache oder eine Sache mit exakt dem gleichen (Markt-)Wert zurück, definiert er den Tausch als reinen ökonomischen Akt.3 Gibt er sofort zurück, verweigert er den >>Geist der gegebenen Sache«, also die mit der Gabe verbundene Verpflichtung. Je mehr Zeit der Empfänger zwischen Gabe und Gegengabe vergehen lässt, um so mehr Verpflichtung akzeptiert er. Zugleich wird damit aber auch das Vertrauen des Gebers strapaziert. Die Zeit »dazwischen« ist bestimmt durch Unsicherheit; Vorleistungen müssen sich nicht auszahlen. Im Un-
2 Simmel (tn diesem Band) und Mauss (1994) betonen zwar, dass eine Gabe im Grunde nicht rückzahlbar ist, da der Gegengabe die Freiwilligkeit beziehungsweise >>der Geist der Freiheit« (Simmel) der etsten Gabe fehlt. Man kann die Berücksichtigung und Bewertung dieser Freiwilligkeit aber auch als Frage kultureller Standards und individueller Orientietungen auffassen -und diese können prinzipiell unterschiedlich ausfallen. 3 Hier liegt der Hauptunterschied zwischen ökonomischem Tausch und einem Tausch, det von det Norm der Reziprozität geleitet ist. Beim ökonomischen Tausch ist der Wert der Güter klar definiert und dieVerpflichtungzur Gegengabe ist vertraglich fixiert.
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terschied zu einem Vertrag liegt »im Zeitintervall zwischen Gabe und Gegengabe (...) ein Potential für soziale Strategien der Steigerung oder der Auslöschung von Verpflichtungen« (Wolf 1988: 20). So kann die Beziehung überhaupt beendet werden oder die Ressourcenausstattung der Akteure kann sich verändern. Die Zwischenzeit verpflichtet zwar den Empfanger, doch für den Gebenden ist sie riskanL4 Hiermit in Zusanunenhang steht die Frage, auf welche Weise Reziprozität in a!}IIJIIJetrischen Beziehungen wirkt. Gegengaben können zum Beispiel durch Macht ersetzt und dadurch aufgehoben werden. Oder der Empfanger hat nicht genug Ressourcen zur Rück- beziehungsweise Gegengabe. Dies kann vom Geber gerade kalkuliert worden sein, um sich statt materieller Gegengaben Dankbarkeit und Loyalität zu sichern. Die ungleiche Ressourcenverteilung kann aber auch dazu führen, dass erst gar nicht gegeben wird. Laut Gouldner mag die Reziprozitätsverpflichtung »lead individuals to estahlish relations only oc primarily with those who can reciprocate (...). [Ibe norm of reciprocity; BH] cannot apply with full force in relations with children, old people, oc with those who are mentally or physically handicapped.« (Gouldner 1%0: 178)
Gouldner war der Ansicht, dass Gaben für Kinder und für arme, ältere und behinderte Menschen, die aufgrund von gesundheitlichen Problemen oder Mangel an_ wertbesetzten Gütern noch nicht oder nicht mehr zu Gegengaben in der Lage sind, nur über die Zusatzannahme einer >>norm of beneficence« beziehungsweise eines »moral absolutism« erklärt werden können (Gouldner in diesem Band).5 Die Frage ist, ob das wirklich so ist: Wtrkt Reziprozität nicht in Beziehungen mit Kindem oder alten Menschen (von denen viele ja eigene Kinder haben)?
Direkte Reziprozität in Generationenbeziehungen Es gibt also gute Gründe anzunehmen, dass Reziprozität in Beziehungen zwischen Eltern und Kindern keine wesentliche Rolle spielt.6 Sowohl Normen und Statusverpflichtungen als auch unausgeglichene Ressourcenverteilung können mit der
4 Um nicht missverstanden zu werden: Mit dieser Formulierung soll nicht unterstellt werden, dass der Geber immer eine Rückgabe intendiert hatte. Es ist ja gerade das Besondere am Reziprozitätskonzept, dass eine Gabe Verpflichtungen stiftet, und zwar unabhängig von den Kalkülen und Erwartungen der Geber (Bourdieu 1979). 5 Ähnlich argumentieren Dowd (1984), der zur Erklärung der Unterstützung von älteren Menschen auf die ))natural rnorality« (Moore) zurückgreift, und Rosenmayr und Rosenmayr, die für eine ))Überbalancierung«, )>eine gezielte und verarbeitete Ungleichgewichtigkeit im psychosozialen Austausch>immer>dual utility function« auf. wird die Theorie tautologisch. Wenn jegliches Handeln der Nutzenmaximierung dient- wobei der Nutzen aus Einkommen, Ansehen, moralischer Integrität, altruistischem Selbstopfer oder was auch immer bestehen kann -, ist die Theorie nicht mehr in der Lage, falsifizierend zu unterscheiden, da sie immer wahr und gleichzeitig inhaltsleer ist (vgl. Etzioni 1988).5 Es bleibt zu fragen, ob das Geben, Spenden oder Stiften analytisch oder empirisch-konkret mit dem Rationalmodell beschreibbar ist. Dies ist zu bezweifeln, gtbt es doch bei all diesen Handlungsformen ein Residuum, das nicht ökonomisch erklärt werden kann. Die Akteure ziehen zumindest in einem ökonomischen Sinne keinen klaren und eindeutigen Nutzen aus dem gemeinnützigen Spenden und Stiften.6 Nimmt die ökonomische Theorie dagegen auch die Existenz von pro-sozi5 Ein intelligentes Ausweichmanöver gegenüber dieser Kritik besteht in der Auffassung, dass die Redeweise von Nutzen- und Zweckorientierung gar keine empirische Beschreibung menschlichen Handeins anstrebe, sondern als ein nonnativ~ches Modell zu verstehen ist (vgl. Beckert 1997: Tl). Ein solches Modell kann Akteure über die Erreichbarkeit von Zielen informieren und die besten Wege dorthin aufzeigen. Erst dort, wo das tatsächliche Handeln der Rationalitätsnorm nahe kommt, kann das nonnativ-analytische Modell auch empirisch angewandt werden. : 6 Inwieweit ökonormsehe Anreize - etwa durch Steuerabzugsmöglichkeiten - auch eine Rolle dafür spielen, Geld gemeinnützigen Zwecken zu spenden, ist in der Literatur noch umstritten (vgl. Steinberg 1990; Auten u.a. 2002). Dabei befinden sich aus ökonomischer Sicht Preis- und
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alen Motiven wie Fairness, Gerechtigkeit und Reziprozität oder negative »irrationale« Motive wie Rache und Vergeltung ernst, sollte dies aus wissenschaftstheoretischen Gründen in eine zweiwertige Logik der Theoriebildung eingepasst werden. Die aktuell reüssierende experimentelle Ökonomie untersucht spieltheoretisch die Existenz dieser Verhaltensweisen und sozialen Präferenzen in standardisierten Untersuchungssettings (vgl Fehr/Schmidt 2001). Zwar verlässt sie dabei das eigennutzorientierte Paradigma der neoklassischen Ökonomie (vgl. Kohn 2000), doch ist der theoretische Status der experimentellen Ökonomie wenig eindeutig, da die einwertige Nutzenfunktion in der Regel nicht zugunsten einer dualen Logik aufgegeben wird Darüber hinaus bleibt die Frage nach der Entstehung und dem Wandel von Präferenzen und Meta-Präferenzen (vgl. Taylor 1988) völlig offen. Präferenzen erscheinen in der ökonomischen Theorie bloß als Gegebenes, als revealed priferences. Diese Einwände legen einen Blick auf die soziologischen Erklärungsansätze nahe, die nicht dem Rational Choke-Paradigma folgen. Da Philanthropen mehr tun als es das Gesetz erfordert und sie unter Umständen ökonomische Opfer bringen, ist in den letzten Jahren das Konzept des Altruismus wieder entdeckt worden - ein Konzept, das lange Jahre in Vergessenheit lag. Die >>Selbstlosigkeit« des Altruisten bildet den Gegenpol zum »Eigennutz« des Egoisten. Begriff und Idee sind Mitte des 19. Jahrhunderts von Auguste Comte in die sich herausbildende Soziologie eingeführt und dann von Durkheim aufgegriffen worden. Danach verschwand der Begriff fast völlig aus dem soziologischen Diskurs, und erst seit den 1970er Jahren erlebt die Altruismusdiskussion eine Renaissance.7 Hier waren es vor allem zwei Themenkomplexe, die die »Wlederkehr« des Altruismus befOrderten: die Forschung zu den Motiven und sozialen Hintergründen von rescuers, also Menschen, die Juden vor dem Holocaust retteten (vgl Oliner/Oliner 1988) sowie die Forschung zur »reinen Gabe« in Form von freiwilligen Blutspenden an anonyme Dritte. Der letztgenannte Strang geht auf die von Richard M. Titmuss (1997 [1970D durchgeführten Untersuchungen über die Blutspendepraxen in Groß.. britannien und den USA zurück und ist für die Forschung zum Spenden und Stiften sowie zum Nonprofit-Sektor besonders einflussreich. Inzwischen nimmt der Gebrauch des Altruismuskonzepts zum Teil inflationäre Züge an. So behauptet Clohesy (2000), dass Nonprofit-Organisationen durch altruistisches Handeln gekennzeichnet sind und geradezu durch dieses definiert seien. Dabei wird Altruismus allerdings sehr vage und breit als »eoncem for the well-being for others transcending or transforming self-interest« verstanden (ebd.: 239f.). Verdrängungseffekte im Widerstreit miteinander. Aus einet steuerpolitischen Perspektive wäre die Gewährung einer Spendenabzugsfähigkeit nw: effizient, wenn nachgewiesen werden könnte, dass die Preiselastizität der Spenden nonnalerweise größer als 1,0 ist (Cordes 2001: 1). 7 Über die verschiedenen Forschungsstränge aus Soziologie, Psychologie und Soziobidogie gibt der Aufsatz von Pilliavin/Chamg (1990) einen guten Überblick.
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Ebenso breit verwendet Wright (2001) den Begriff des Altruismus und erklärt beispielsweise den Unterschied im Spendenverhalten zwischen Briten und Amerikanern mit kulturellen Unterschieden: Ihr kosmopolitischer Altruismus führe dazu, dass Briten viel stärker als Amerikaner universalistisch an Organisationen wie Oxfamspenden. Eine engere und brauchbarere Definition von Altruismus entwickelt Monroe (1994: 862): »I define altruism as behavior intended to benefit another, even when doing so may risk or entail some sacrifice to the welfare of the actor.>reines« altruistisches Geben erklärt werden kann, sondern auf einer Verschränkung von Freiheit und Verp~chtung beruht (Osteen 2002: 14; auch Caille in diesem Band). Nur ein Geschenk, das gleichsam ohne Intention, vollkommen spontan und zufällig
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geschenkt würde, wäre ein Geschenk, das der in Gang gesetzten Reziprozitätslogik entkäme - dies käme allerdings eher einem Zufall ohne Grund gleich, und dies bezeichnet zugleich die Aporie, in die Derrida mit seiner Konzeption der Gabe gerät (Derrida 1993). Die Vorstellung, dass nur eine Gabe, die sich völlig vom Interesse gelöst hat, eine wirkliche Gabe ist, hat natürlich schon christlich-religiöse Wurzeln8, doch wurde diese idealisierende Vorstellung erst unter modernen kapitalistischen Bedingungen ubiquitär (vgl Henaff 2002). Für unseren Zusammenhang bedeutet dies, dass die moderne Philanthropie auf ihren Gehalt an reziproken Beziehungen zu untersuchen ist, was nicht die Unterstellung impliziert, dass hier quasi-ökonomische Tauschprozesse vorliegen. Bei der Untersuchung philanthropischer Handlungen sollte man, so kann man schlussfolgern, das Motiv des Gebens und die Wirkung der Reziprozität zunächst auseinander halten, auch wenn beide faktisch ineinander verwoben sind. So kann es der subjektiven Wahrheit des Gebers entsprechen, dass er ohne die Erwartung einer Gegengabe gtbt. Doch kann er zugleich wissen, dass er objektiv einen Zyklus der Reziprozitätsverpflichtungen in Gang setzt (Gouldner in diesem Band). Oder aber: Die Beobachtern spontan erscheinende Spende wird vom Geber als Ausdruck von Dankbarkeit empfunden - einem Krankenhaus gegenüber, in dem er sich einmal befand oder gegenüber der Gesellschaft allgemein. 2. Ilana Silber (1998) hat mit Bezug auf die zeitgenössische Philanthropie herausgestellt, dass die moderne Gabe nicht selten eine Gabe an Fremde ist. Gerade bei der nicht-agonistischen, individuellen Spende an eine Hilfsorganisation besteht keine Beziehung zwischen Geber und Empfänger, und die Erwartung einer direkten Erwiderung wird damit hinfällig. Erfährt auch kein Dritter von der Gabe, kommt sie phänomenologisch der christlichen Vorstellung von Wohltätigkeit sehr nahe. Liegt keine Verschwiegenheit in diesem Punkt vor, können Reziprozitätsketten zwischen Gebern und Empfiingern (dies können Personen wie auch Organisationen sein) in Gang gesetzt werden. Oder auch: Nicht der Empfänger der Gabe, sondern ein Dritter erwidert die Gabe: etwa die peers innerhalb einer spendenden Elite. Man versucht sich in seiner Spenden- und Stiftungsbereitschaft zu übertreffen, um Prestige innerhalb der eigenen Bezugsgruppe zu erlangen- dies wäre eine Form der agonalen Gabe, wie sie Mauss für den Potlatsch beschrieb. Außerdem drückt die
8 Historisch-vergleichende Untersuchungen zu den religiösen Vo.rstellungen, die sich nüt der Gabe verbinden, stehen noch weitgehend aus. llana F. Silber (2000) hat eine erste Systernatisierung der möglichen Fragestellungen für Untersuchungen im Bereich der drei monotheistischen Religionen Oudentum, Christentum und Islam) votgenommen. Sie schlägt vor, zwischen Gaben an Gott, an religiöse Institutionen oder Spezialisten und Gaben an die Armen und Bedfuftigen zu unterscheiden. Schließlich solle man nicht vorab entscheiden, sondern empirisch erforschen, ob diese Gaben Reziprozität evozieren sollen oder frei von der Erwartung einer Gegengabe sind.
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Gabe nicht selten eine gesellschaftliche Stellung beziehungsweise Hierarchien aus und schützt diese. Randall Collins hat darauf hingewiesen, wie wichtig es in der amerikanischen Gesellschaft ist, regelmäßig philanthropisch aktiv zu werden, um zur »guten Gesellschaft« zu gehören. Nur auf diesem Wege kann sich der ökonomische Elitenstatus auch kulturell veredeln und sozial legitimieren. Man stelle sich einmal vor - so Collins (Collins/Hickman 1991: 8) -, die Reichen und Erfolgreichen träfen sich in ihrer feinsten Kleidung zu einem rauschenden und verschwende-
rischen Fest, um sich gegenseitig ihre gesellschaftliche Stellung vorzuführen - ohne eine Fundraisingaktion für gemeinnützige Zwecke wäre ein solcher Abend kaum legitimierbar. Die Gabe ist dennoch auch desinteressiert, nicht weil es keine Gegengabe gtbt, sondern weil diese nicht kaikulierbat ist; die Gabe setzt die Regel der Äquivalenz außer Kraft (Osteen 2002: 25). Es liegt ein Moment der Spontaneität, des Überflusses und des Nicht-Kontrollierbaren in der Gabe, weshalb sie auch, mit Simmel (m diesem Band) gesprochen, höchster Ausdruck von Freiheit ist. Dies macht es unter anderem so schwer, mit kontinuierlichen Spendenflüssen zu rechnen; Spenden sind kaum kalkulierbare Einnahmen, da sie sich weder auf die Logik der Verpflichtung noch auf die des Tauschesfesdegen lassen. Auch ein Diskurs um die Frage, wie die Gabe belohnt werden kann, etwa durch Steuervergünstigungen, könnte mithin ihre symbolische und normative Basis unterminieren. Mehr zu geben, weil es weniger kostet zu geben, gleicht die Gabe der ökonomischen Logik an und unterhöhlt unter zu spezifizierenden Umständen ihre nicht-utilitarischen Wurzeln. 3. Neben der mit dem Gabenparadigma verbundenen Reziprozität gtbt es noch den weiteren wichtigen Aspekt der Verschmelzung von Gabe und Identität. Die Gabe lässt sich schlechterdings nicht von der Identität des Gebenden abkoppeln, sie ist Ausdruck und Bekräftigung von Identität (Silber 1998: 139). Gaben sind immer auch Zeichensysteme und Träger von Identitäten. Selbst iin Medium des gespendeten Geldes sind Fragen der persönlichen Bindung und Identität aufgehoben. Vielleicht sind Fragen individueller Identität heutzutage stärker mit der Gabe verbunden als je zuvor: Die Gabe ist immer auch Ausdruck einer (dargestellten) Individualität und Personalisierung. Insbesondere für Eliten scheinen Gaben ein Vehikel ihrer Identität zu sein- ein Mittel zur Selbstdefinition und Expression (ebd.: 143). Wohl nicht zurallig stammen über 80 Prozent des amerikanischen Spendenaufkommens von Individuen und nicht von Unternehmen und Stiftungen. In diesem Sinne ist die Gabe auch heute - so wie es Mauss für vormoderne Gesellschaften beschrieb - ein totales soziales Phänomen: In ihr verschmelzen ökonomische, politische, moralische, religiöse, expressive und ästhetische Aspekte. In einer qualitativen Studie zur Kultur der Elitenphilanthropie in New Y ork City har Francie Osttower (1995) diese These bestätigt gefunden. Die von ihr interviewten Eliten beschrieben die Philanthropie als eine distinkte elitäre Kultur. Philanthro-
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pie ist - so Osttower - einerseits Ausdruck einer Elitenkultur und -identität, andererseits Mittel zur Integration der philanthropischen Eliten.9 Gleichsam immobilisierte Gaben in Form von ausgestellten Kunstwerken in Museen oder eingerichteten Lehrstühlen an Universitäten sind klare Beispiele für die damit verbundene Darstellung von kulturellen wie gruppenspezifischen ldentitätsbindungen. Die Gabe stiftet und formt soziale Beziehungen und ist zugleich auf diese angewiesen. Über die Gabe wird nicht nur ein materieller Wert weitergereicht, sie stellt vor allem soziale Beziehungen her und hat, mit Jacques Godbour (1998: 173) gesprochen, einen bontling-value. Mehrere empirische Untersuchungen von Paul G. Schervish (2000; Schervish/Havens 1997, 2002) verdeutlichen diesen zentralen Punkt. Schervishs Identifikationsmodell der Erklärung von charitab/e giving beruht auf der einfachen Einsicht, dass Spender und Stifter sich häufig mit anderen Menschen vernunden sehen. Entweder fühlen sie sich kognitiv-ideologisch bestimmten Gruppen verbunden und verpflichtet, oder aber sie sind praktisch in formelle und informelle Netzwerke eingebunden. Das Spendenverhalten ist aufs Engste sowohl mit der Partizipation in bürgerschaftliehen Netzwerken und - insbesondere religiösen - Organisationen als auch mit informellen Hilfsaktivitäten im privaten Bereich verknüpft (Schervish/Havens 1997: 247).10 Die Einbindung in assoziative Netzwerke bezeugt zum einen den Willen, sich zu engagieren, zum anderen erzeugt sie genau diese Verpflichtung zum Engagement: »[O]ur conclusion is that charitable giving derives from forging an associational and psychological connection between donors and recipients.« (Schervish 2000: 10) Aus dieser Perspektive betrachtet kann man schließen, dass sich Philanthropen über die reale wie gedachte Einbindung in assoziative Bezüge immer schon in Netzwerken des Gebens, Annehmensund Erwidems befinden. Anders ausgedrückt, die moderne Gabe (an Fremde) drückt immer auch aus, mit welcher imagined community (Anderson 1996 [1983D man sich relational verbunden fühlt. Ausrichtung und Umfang des Spendenverhaltens variieren also vor allem mit dem Grad der Ausdehnung der praktisch-realen wie gedachten Einbindungen von Stiftern und Spendern in verschiedene soziale Kreise beziehungsweise communities. 9 Schon in den 1950er Jahren wurde die These einer sozialen Kultur der Philanthropie entwickelt. Aileen D. Ross (1953) zeigte zum Beispiel in einer Fallstudie, dass in amerikanischen (Klein-)Städten offenbar ein starker sozialer Druck vothanden war, sich philanthropisch zu betätigen, der auf der Einbindung in spezifische soziale Netzwerke beruhte. Wollte man weiterhin Teil des Netzwerkes aus Freunden und Geschäftspartnern bleiben, war die Beteiligung an Spendenkampagnen unabdingbar. 10 Für die Vereinigten SJMten konnte nachgewiesen werden, dass diejenigen, die in einer freiwilligen Vereinigung aktiv sind, etwa 60 Prozent mehr spenden als Nicht-Engagierte (Oares 1995: 168). Starke religiöse Bindungen und regelmäßiger Kirchenbesuch sind darüber hinaus starke Prädiktoren sowohl für freiwilliges Engagement als auch für Spendenbereitschaft (vgL Putnam
2000: 67).
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Aus diesem Gedanken hat Joseph Michalski (2003) ein einfaches Modell der Erklärung von finanziellen Transferleistungen entwickelt. Ceteris paribus gilt, dass Spenden und andere Unterstützungsleistungen eher zu den sozialen Kreisen fließen, die emotional, kulturell und normativ gesehen weniger weit von den Spendern entfernt sind als andere Gruppen. Solch ein soziologischer »moralischer Minimalismus« verweist auf Exklusionseffekte und kommt zu dem Schluss, dass bestimmte soziale Gruppen eher vom Spenden- und Unterstützungsstrom abgeschnitten bleiben, nämlich diejenigen, die weniger integriert und vertraut, unkonventioneller, kulturell entfernter, anonymer und weniger respektabel erscheinen (ebd.: 355).
Organisierte Philanthropie: Institutionalisierung und Reziprozität Mit Blick auf die theoretische Systematisierung der gift economy gilt es nun zu zeigen, inwiefern das in Reziprozitätsarrangements eingebettete Geben nicht nur soziale Beziehungen initiiert, sondern, wenn Simmels (1992 [1908]: 550) Beobachtung zutrifft, dass es sich hierbei um diejenige Interaktionsform mit der »größten Fülle soziologischer Konstellationen« handelt, auch stabilisiert und in institutionalisierter und organisierter Form auftritt. Institutionen lassen sich mit Karl-Siegbert Rehberg (1995) als Sozialregulationen bezeichnen, in denen Prinzipien und Geltungsansprüche einer Ordnung, im Sinne einer dauerhaften Strukturierungsleistung sozialer Beziehungen, symbolisch zum Ausdruck gebracht werden. Diese Form der Stabilisierung von Orientierungen findet ihren Ausdruck in der Ausformulierung einer institutionellen Leitidee. Institutionen strukturieren somit soziales V erhalten, indem sie es auf spezifische Wertvorstellungen beziehen. Beruht die Gabe nun, wie wir gezeigt haben, primär auf der Annahme von Reziprozitätsbeziehungen als grundlegendem Handlungsmechanismus, dann stellt sich daran anschließend die institutionentheoretische Frage, auf welcher Grundlage, unabhängig von den spezifischen Interessen und Motivlagen der Akteure, Institutionen einen Geltungsraum konstituieren können, der auf Gegenseitigkeitsvorstellungen beruht. Amold Gehlen (1986 [1956]: 45ff.) begründet dies in anthropologischer Perspektive durch den Hinweis, dass »die Reziprozität des Verhaltens formal eine ganz grundlegende anthropologische Kategorie« ist, die sich mit »den allerverschiedensten Inhalten besetzenDie Gegenseitigkelt der Gabe ist (...) die äußere, greifbare Seite des Vet:pflichtetseins, und die Kontinuität des Gebens und Nehmens ist die In.rtiJ11tioniform, in der sich das Schon-Verständigtsein in den gegenseitigen Vet:pflichtungen am Dasein erhält.« (Ebd., unsere Hervomebung)
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Daneben bilden insbesondere Wertvorstellungen einen zentralen Referenzpunkt für die Ausbildung abgrenzbarer Geltungskontexte. Die Gründung von Institutionen hat nicht nur anthropologische oder soziale, sondern auch kulturelle Voraussetzungen. Institutionen sind von einer Gründungsidee getragen (Hauriou 1965 [1925]: 36f.) und mit Wertvorstellungen, Glaubensüberzeugungen oder Weltbildern verknüpft, die das Handeln unmittelbar und konkret orientieren. Erst Leitideen ermöglichen es, aus der Mannigfaltigkeit potentieller Orientierungsmöglichkeiten diejenigen kulturellen Vorstellungskomplexe zu extrahieren, die legitimierend und orientierend sind und im Prozess der Institutionalisierung einen eigenständigen Geltungsraum ausbilden. In diesem Sinne bedürfen Wertvorstellungen zu ihrer Realisierung sowohl spezifischer Rationalitätskriterien, das heißt »Handlungsmaxirnen mit Anspruch auf Gültigkeit« (Lepsius 1997: 58), die die Leitideen für bestimmte Situationen handlungsrelevant werden lassen, als auch besonderer Mittel wie etwa einer Satzung und einer Führungsmacht (Hauriou 1965: 35ff.) beziehungsweise- mit Weber gesprochen- einen Verwaltungsstab. Übetträgt man diese Überlegungen nun auf die Frage nach der institutionellen Infrastruktur der modernen gift economy, dann gehen wir von der These aus, dass insbesondere dem so genannten Dritten Sektor als einer institutionellen Alternative zur staatlichen oder einer profitorientierten Wohlfahrtsproduktion große Bedeutung zukommt. In institutionentheoretischer Hinsicht ist es bedeutsam darauf hinzuweisen, dass für diesen Bereich die Möglichkeit zu freiwilliger Vereinigung, die Eröffnung gesellschaftlicher Partizipationschancen, das Aufzeigen von Integrationsmöglichkeiten in ein Gemeinwesen sowie die Übernahme von Sozialisationsfunktionen und die Weitergabe von spezifischen Wertvorstellungen von grundlegender Bedeurung sind Motivational fundiert ist dies, wie Umfragen (etwa die Freiwilligensurveys von 1999 und 2004) zeigen, durch ein großes Potenzial an Gemeinsinn als normativem Bindeglied der Bürger an das Gemeinwesen, das in alle Entscheidungen zur Wahrung oder Förderung des Wohls der Gesellschaft einfließt und sich als besondere Form der Kooperation oder Solidarität manifestiert beziehungsweise in einem hohen Maß an bürgerschaftlichem Engagement niederschlägt. Die spezifische institutionelle Einbettung einzelner Organisationen hat dann weitreichende Auswirkungen auf die jeweiligen Formen, in denen gegeben wird, beziehungsweise auch auf das dadurch angestoßene reziproke Verhalten der Akteure. So zeigt etwa Kieran Healy, dass sowohl mit Blick auf das Blutspendeverhalten in der Europäischen Union (Healy 2000) wie auch auf Organspenden in den USA (Healy 2004) das institutionelle Setting von weitreichender Bedeutung für das konkrete Handeln ist: »The ability of organizations to produce contexts for giving explains a substantial amount of variation in rates of one-shot altruism.« (Ebd: 387) Die konkrete Gabe wird demzufolge in besonderem Maße beeinflusst, ermöglicht
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oder restringiert durch die jeweiligen institutionellen Rahmenbedingungen, die die durch das Geben angestoßene soziale Beziehung im Weiteren strukturieren. Drei Institutionalisierungsformen sollen im Folgenden kursorisch und exemplarisch vorgestellt werden: die Stiftung, das Fundraising und schließlich interorganisatorische Reziproziiätsbeziehungen. 1. Eine herausragende Organisationsform des institutionalisierten Gebens stellen Stiftungen dar. Das stifterische Geben umfasst eine Vielzahl möglicher motivationaler Voraussetzungen wie etwa den Wunsch, der Gesellschaft etwas zurückzugeben, was man selbst von ihr bekommen hat, die Dankbarkeit einer bestimmten Personengruppe gegenüber denjenigen, die einem geholfen haben, oder aber die symbolische und demonstrative Darstellung des eigenen Reichtums. Das Reziprozitätsprinzip ist demnach konstitutiv für das Stiften ·(Sigmund 2001: 225), denn es setzt Verkettungen der Dankbatkeit nicht nur voraus, sondern meist auch in Gang. Stiften ist deshalb auch keineswegs als ein einseitiger, rein solitärer Akt der Bigenturnsübertragung zu bestimmen, sondern es initiiert und verstetigt vielmehr soziale Beziehungen auf der Basis wert- und zweckrationaler Überzeugungen. Stiftungen konstituieren somit' einen zentralen Geltungsrahmen für Gaben und reziprokes Handeln. Das Gemeinwohl als zentrale Leitidee wird in Stiftungen über den konkreten Akt der Stiftungsgründung - ganz im Sinne von Hauriou - und der Festlegung des Stiftungszwecks normiert und verhaltenswirksam umgesetzt. Insbesondere die historisch sich durchsetzende Trennung der Rechts- und Interessensphäre der Mitglieder von der besonderen Rechtssphäre der Stiftung als eines autonomen Verbandes (Richter 2001) garantiert dessen Freiheit, Aufgaben zu übernehmen, die jenseits selbst bezogener Verdienst- und Vermögensinteressen liegen und stattdessen die Reziprozität der Handlungsakte in den Mittelpunkt stellen. Der Stiftungszweck löst sich im Prozess der Institutionalisierung somit nicht nur vom Eigensinn des Stifters und wird in eine gemeinnützige Organisationsform11 transformiert, sondern er strukturiert und legitimiert darüber hinaus auch die soziale Beziehung zwischen der gebenden Institution und den jeweiligen Empfangern. Stiftungen lassen sich als intermediäre Institutionen bestimmen, da sie weder unmittelbar den obersten Gewaiten im Rahmen der politischen Verfasstheit einer Gesellschaft unterworfen sind, n~h es den Stiftern möglich ist, den Stiftungszweck und die für dessen Umsetzung vorgesehene Organisationsform willkürlich zu bestimmen. Stiftungen agieren unter verfassungs- und verfahrensmäßig restriktiven Bedingungen; die ihnen zugeschriebene Handlungsautonomie schließt einen institutionellen Vertrauensvorschoss wif auch einen Vorschuss an Eigenständigkeit innerhalb des ihnen zugewiesenen Geltungsraumes ein. Die Leitidee der Gemeinwohlorientierung wird
11 Wenn dies vcm Stifter gewünscht wird; in Deutschland sind mehr als 95 Prozent aller Stiftungen als gemeinnützig anerkannt.
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in Stiftungen demnach primär über die Handlungsmaxime eines zunächst einseitigen Gebens - das sich idealtypisch aus den Erträgen eines Vermögens speist - konkretisiert, wobei der Stifter formal nicht mehr an diesem Prozess beteiligt ist. Innerhalb der gift economy fungieren Stiftungen insofern als Regulatoren, da sie sowohl auf individuelle als auch auf kollektive Akteure Bezug nehmen und mit Blick auf gesellschaftliche Teilbereiche wie auch auf die Gesamtgesellschaft wirksam werden können.12 Der Geltungsraum wie auch die Organisationale Struktur von Stiftungen werden im Zuge zivil- und steuerrechtlicher Vorgaben von der Gesellschaft her bestimmt, aber ein Großteil der tatsächlichen Funktionen und Wtrkungsmechanismen lässt sich allein hieraus nicht ableiten, sondern ergibt sich aus der eigendynamischen Konsistenz ihrer spezifischen Organisationsform, ihrer ein- und ausgeübten Verfahren wie auch ihrer Personalstruktur. Das heißt, rechtliche, organisatorisch-apparative, personelle und funktionale Kontinuität sind entscheidend für ihre Funktionalität.13 Stiftungen bürgerlichen Rechts sind rechtsförmige Organisationen, die bestimmte, durch ein Stiftungsgeschäft festgelegte Zwecke 1n der Regel mit Hilfe eines Vermögens14 verfolgen, das diesen Zwecken dauerhaft gewidmet ist. Sie sind mitgliederlos, das heißt, sie sind reine V erwaltungsorganisationen.t5 Diese Besonderheit legt es nahe, sie mit Max Weber als »Anstalten« zu bezeichnen, als gesellschaftliche Ordnungstypen, die gerade nicht dem wechselnden Willen von Mitgliedern unterliegen, sondern deren innere Organisation von externen oder für die Mitglieder nicht veränderbaren Vorgaben bestimmt ist.16 Als Stifter können dann sowohl eine oder mehrere Privatpersonen, Unternehmen, Vereine, der Staat oder ein gemischt staatlich-privater Kreis auftreten. Stiftungen nehmen also unter den Institutionen der gift economy aufgrund ihrer weitgehenden personellen und zeitlichen Autonomie eine hervorgehobene Stellung
12 Geltungsrahmen und Durchsetzungskraft des den Stiftungen inhärenten Solidaritätspotentials muss natürlich immer auch im Vergleich zu anderen institutionalisierten Handlungseinheiten der gift econo"!Y geprüft werden. Mögliche Vergleichsobjekte wären Vereine, Wohlfahrtsverbände oder aber Freiwilligendienste. Siehe etwa Enquete Kommission 2002: 233-256. 13 Vgl. zum Folgenden auch Adloff (2004) und Sigmund (2004). 14 In vielen Fällen ist die Existenz eines Vermögens, aus dessen Erträgen die Zweckverfolgung finanziert wird, nicht gegeben. Operative Stiftungen im Sozialbereich finanzieren ihre Tätigkeit zumeist über Einkünfte aus den Sozialversicherungen, Stiftungen öffentlichen Rechts bekommen häufig Zuwendungen aus den öffentlichen Haushalten, und viele kleine, zumeist unselbständige Stiftungen sind nichts anderes als Spendensammelorganisationen. 15 Unselbständige Stiftungen - beziehungsweise im angelsächsischen Raum »trusts>Gabe« keine so stark definierten »Gegengaben« von Seiten der NonprofitOrganisation (NPO) verlangte. Viele Geldgeber legen mitderweile sehr detailliert fest, für welche Projekte das gegebene Geld eingesetzt werden solL Häufig wird von den Organisationen im Vorfeld verlangt, zusätzliche Gelder zu akquirieren (über so genannte matehing funds), bevor die Unterstützung von der Stiftung gegeben wird. Die Aktivitäten der NPOs, so ist eindeutig der Trend, werden vermehrt über Evalu-
18 Hierbei zeigt sich eine interessante Parallele der Fundraisingorganisationen zu Vereinen. die ebenfalls durch den Einfluss ihrer Mitglieder immer wieder relativ schnell auf veränderte Umweltbedingungen J;eagieren können und die Vereinsziele entsprechend verändern und anpassen können. 19 Wolpert und Reiner (1984) geben einen immer noch interessanten Überblick über mögliche Typen von Gebern und eine Typologie unterschiedlicher Fundraisingstrategien, die an verschiedene Motivlagen von Spendern anzuknüpfen vermögen.
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ationen kontrolliert, sodass die Effektivität der eingesetzten Gelder fortwährend überprüft werden kann. Einige Geldgeber sind mittlerweile dazu übergegangen, ihre Expertise und Management-Erfahrungen anzubieten (Frumkin 2000: 44); sie sehen sich dabei immer häufiger als Consultants für die NPOs. Insbesondere das Schlagwort von der »Venture Philanthropy« hat in den letzten Jahren viel Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Hier wird Philanthropie in Anlehnung an den Wirtschaftssektor als »soziale Investition« verstanden; die getätigten Investitionen sollen einen sozialen Gewinn zeigen und sich gewissermaßen lohnen. Dies kann auf verschiedenen Wegen erreicht werden (Frumkin 2003): NPOs sollen zu einer bestimmten Größe und einem höheren Kapitalisierungsgrad geführt werden, um die organisationeile Leistungsfähigkeit zu erhöhen. Dabei werden mittlerweile durchaus auch längere Förderstrategien verfolgt: Fördererund Destinatär sollen in diesem Prozess in einen engen Dialog treten. Darin liegen große Chancen für die NPOs, Ressourcen und Kompetenzen aufzubauen, doch viele favorisieren nach wie vor das »Cut a check and run«-Konzept: Eine finanzielle Transaktion ohne daran geknüpfte Bedingungen erscheint ihnen als die beste Unterstützungsform (ebd.: 12). Schließlich ist die Evaluation der NPO-Projekte ein zentraler Punkt im Konzept der venfllre philanthropy: assessment, benchmarking und peiformance measurement sind hier die geläufigsten Schlagworte. Kritiker dieser neueren Entwicklung wie zum Beispiel Stanley Katz befürchten, dass damit eine Risikoaversität der Stiftungen einhergeht. Wenn die Empfänger der Gelder wie NPOs oder Forschungseinrichtungen unter derartig genaue Kontrollen und Effektivitätskriterien genonunen werden, kann es kaum Raum für riskantere und ungewisse Projekte und Investitionen geben, die aber unter Umständen gerade den größten »return on investment« bieten würden. Dies soll hier nicht weiter diskutiert werden, doch festzuhalten bleibt, dass es in der amerikanischen Philanthropie starke Tendenzen gibt, die NPOs von Seiten der Geldgeber einer stärkeren Kontrolle zu unterziehen und Gelder konditional von der Erfüllung klar definierter Auflagen abhängig zu machen. Eine Gabe ohne Reziprozitätserwartung liegt hier nicht vor, viel eher schon Tendenzen eines Tauschgeschäfts a Ia Jo 111 des. Hieran ist des Weiteren abzulesen, dass die Rationalitätskriterien philanthropischen Handeins historisch variabel ausdeutbar sind und dass momentan im amerikanischen Feld der Philanthropie ein interorganisatorischer Druck aufgebaut wird, die internen Leitideen der Empfängerorganisationen für die externen Rationalitätskriterien der individuellen wie organisierten Geber zu öffnen.
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Ziel des Beitrags war es, das Feld der Philanthropie für die soziologische Theoriebildung zu öffnen und dabei die unseres Erachtens unfruchtbare sozialtheoretische Dichotomie von eigennutzorientiertem und normativem Handeln zu überwinden. Es zeigt sich, dass der Mauss'sche (und über Mauss hinausgehende) Zyklus von Erbitten, Geben, Nehmen und Erwidern im »Normalfall« weder auf die eine noch auf die andere Seite der Dichotomie reduziert werden kann: »I.TJhere is no reason why not to expect philanthropic gifts (...) to range from mainly Strategie to purely altnüstic. expressive of an already existing identity or social relation, symbolic in establishing or constituting novel identities and relations, or agonistic, i.e. challenging entailed identities and relations. Or, in other words, to richly vary in the precise nature and degree of their >civili~.« (Silber 2001: 398 f.)
Altruistische wie auch strategische Geschenke schließt dies nicht aus, es ist aber eine prinzipiell empirische Frage, welche Art von (kollektiven) Identitätsbindungen in die philanthropische Gabe einfließen und ob ihr Charakter eher Ausdruck von Superiorität und Agon oder von Solidarität ist - soziale Beziehungen werden in all diesen Fällen gestiftet. Darüber hinaus eröffnet dieser theoretische Zugang die systematische Möglichkeit, den institutionalisierten Wegen philanthropischer Gaber:t nachzuspüren: Nicht nur um die Erzeugung von Motivlagen und verhaltenswirksamen Normierungen ~ diesem Feld besser zu verstehen, sondern auch um die Chance zu nutzen, anband der Untersuchung des Flusses philanthropischer Ressourcen eine soziale 'Landkarte von Bindungen, Emotionen, Solidaritäten, Status und Prestige und den damit verbundenen Reziprozitäten zu erstellen wie auch die organisatorische wie ~titutionelle Infrastruktur, die den Ressourcenfluss ermöglicht und strukturiert, zu analysieren.
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5 Entsprechend sehen manche Ökonomen hierin im Lichte ökonomischen Tauschs in kurzfristiger (und kurzsichtiger) Bettachtungsweise eine produktivitätswidrige Umverteilung, da eine Senioritätsendohnung »ältere Arbeitnehmer als überbezahlt und jüngere als unterbezahlt im Hinblick auf ihre aktuelle Produktivität ausweistc< (Knoll1997: 31). 6 Senioritätsregeln müssen schon deshalb institutionalisiert und regulatorisch befestigt werden, weil Vertrauen darauf, dass Vorleistungen in jüngeren Jahren im Alter ausgeglichen werden, nur entstehen kann, wenn gewährleistet erscheint, dass die Statusgewichtung der Seniorität auch in Zukunft sicher ist, und wenn man die Stabilität von »Normalbiographien« (Kohli 1986) und die Stabilität von Unternehmen voraussetzen kann.
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trags, sondern als Hoheitsakt auf Lebenszeit eingestellt, ihm obliegen Treuepllichten, er erhält kein Entgelt, sondern eine Besoldung, er wird nicht sozialversU-hert,
sondern ihm werden Beihilfen gewährt; und schließlich obliegt ihm ein angemessener Lebenswandel (Brose u.a. 1994: 258).7 Die Gegenleistung wurde nicht auf vertraglicher Grundlage im Sinne der Reziprozität, sondern als moralische Pflicht der Organisation oder der Gemeinschaft erwartet. Die zeitlich generalisierte Reziprozität des Senioritätsprinzips wird hier zum Laufbahnmodell radikalisiert (Wagner 2004: 223ff.).
Arbeit und Identität Bisher habe ich Arbeit als die eine Seite einer Tauschbeziehung betrachtet. In diesem Sinne setzen sich die Menschen zu ihr in ein instrumentelles Verhältnis, weil sie ihnen Mittel zum Zweck des Einkommenserwerbs ist. Darin geht die Bedeutung der Arbeit jedoch nicht auf. Vielmehr ist das soziale Prestige eines Menschen in modernen Gesellschaften ganz wesentlich auf Arbeit gegründet. Hierin unterscheiden sie sich ja gerade von anderen Gesellschaften, in denen es -wie Thorstein Veblen (1986 [1899]: 52) dies formuliert hat- gerade nicht die Arbeit, sondern der >xlemonstrative Müßiggang>eine von Deutungen, Symbolen und Affekten nicht minder als von Interessen angeleitete interaktive und kommunikative Praxis von gegenseitig abhängigen konkreten 'Personen« (Kotthoff 1994: 24), die von Herrschaft ebenso geprägt wird wie sie die Ausprägung und Legitimierung von Herrschaft bestimmt. Unterschiedliche betriebliche Sozialordnungen, so wird ·man Kotthoff verstehen dürfen, implizieren auch verschiedene Ausprägungen und Generalisierungsformen von Reziprozität. Wenn das Arbeitsverhältnis als ein Mitgliedschaftsverhältnis in einem Sozialgebilde konzipiert ist, dann resultiert hieraus die Legitimität einer sozial generalisierten Reziprozität. Wenn das Arbeitsverhältnis hingegen eher als eine individuelle Vertragsbeziehung verstanden wird, dann werden solche sozialen Generalisierungen eher als inkompatibel mit einem engen Verständnis der Reziprozität von Entgelt und Leistung gewertet. Sehen Management und Beschäftigte die Belegschaft als Kollektiv, aus deren Zusammenwirken Produktivitätseffekte resultieren, so sind sowohl Soziallohnbestandteile legitim als auch die Rücksichtnahme auf Leistungsminderungen einzelner Beschäftigter. In einer individualistischen Perspektive hingegen wird dies als Umverteilung zu Lasten der ))Leistungsträger« verstanden.
8 Immer noch wichtig, weil sie diesen Gesichtspunkt in den Mittelpunkt ihrer Analyse gestellt haben: Volrnergu.a. 1986.
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Anerkennung in Arbeit und Organisation In der Regel werden Reziprozitätsverhältnisse in Unterndunen thematisiert, wenn man über Leistung und Entgelt oder über Beschäftigungssicherung reflektiert. Dann stehen finanzielle oder andere »handfeste« Befriedigungen von Interessen im Mittelpunkt, also pragmatische Gegenleistungen. Die reziproke Gegenleistung kann jedoch auch in sozialer Anerkennung bestehen. Bilden Entgelt und Arbeitsplatzsicherung die pragmatische Seite der Gegenleistung des Unternehmens für den Einsatz der Beschäftigten, so kann Anerkennung als die expressive Seite angesehen werden.9 Pragmatische und expressive Dimensionen sind nicht alternativ, sondern ergänzen einander. Daher fungiert das Entgelt auch als Symbol der Anerkennung. Man darf Anerkennung also nicht nur als einen kommunikativen Vorgang verstehen, in dem sie zum Ausdmck gebracht wird Vielmehr »materialisiert« sie sich in Strukturen und in ökonomischen Austauschbeziehungen, wenngleich sie hierin nicht aufgeht. Sie ist auch eine kommunikative und emotionale Expression, die jedoch auf Dauer an Glaubwürdigkeit verliert, wenn ihr keine pragmatischen Leistungen entsprechen. Wenn man in der Welt von Arbeit und Organisation über Anerkennung spricht, thematisiert man stets auch das Verhältnis von Anerkennung und Ökonomie. Anerkennung in Wirtschaftsorganisationen steht unter dem Vorbehalt der Ökonomie, denn, um mit Hermann Kotthoff zu sprechen, >>>Autorität üben Personen aus, deren Anerkennung als besonders dringlich empfunden wird, als ausschlaggebend für die Gewissheit, überhaupt sozial angenommen, sozial ernst genommen zu werden.« (Popitz 1992: 114f.)
Asymmetrische Anerkennungsbeziehungen werden wahrscheinlicher, wenn eine Vielzahl von Akteuren eine Anerkennungsfiguration bildet, also eine Verschränkung der Anerkennungsbeziehungen einer Mehrzahl von Akteuren (Voswinkel 2001: 61ff.).t2 Denn nun zählt für den Einzelnen die Anerkennung dessen, der von vielen anerkannt wird, mehr, und damit wachsen dessen Anerkennung und Autorität.
11 Gleiches gilt auch für verwandtschaftliche Beziehungen. 12 Popitz (1992: 115ff:) hat auf den Mangel einer Anerkennungskonzeption hingewiesen, die nur die Beziehung zweier Akteure A und B in den Blick nimmt. Bereits dann, wenn ein Dritter C
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Der Vorteil der hierarchischen Autorität von Votgesetzten liegt nun darin, dass sie hierdurch in Grenzen unabhängig von der Anerkennung ihrer Untergebenen werden. Denn >xlie Autorität muss vor allem Unabhängigkeit und Selbständigkeit demonstrieren« (Sofsky/Paris 1994: 36f.). Thre Position als Vorgesetzte bietet die Chance, asymmetrische Anerkennungsbeziehungen zu etablieren, weil sie hierdurch eine zentrale Stelle in einer Anerkennungsfiguration einnehmen, sodass sich die Anerkennungsbedürfnisse der Beschäftigten an sie binden können.13 Die Autorität resultiert also nicht unbedingt aus der Anerkennung, vielmehr kann sie selbst Anerkennung und Anerkennungsbedürfnisse hervorrufen. Beziehungen von Anerkennung und Reziprozität sind für die Organisation ambivalent. Auf der einen Seite nämlich können sie die Mitarbeiter durch konsensuelle Arbeitsbeziehungen und den Ansporn des Lobs motivieren. Auf der anderen Seite stiften sie auch Verpflichtungen zwischen Vorgesetzten und Mitarbeitern und begründen Anrechte auf künftige Honorierungen. Auf diese Weise bindet sich die Organisation an die Vetgangenheit und schränkt künftige Entscheidungen und damit ihre Flexibilität ein. Flexibilität impliziert nämlich Enttäuschung von erfahrungsbegründeten Erwartungen. Die Nichtanerkennung von Leistungen ist daher eine Form organisational für notwendig erachteter Dernotivierung unerwünschter Orientierungen und Interessen der Beschäftigten.14 Aus diesem Grunde auch werden manche Aufstiegs- und Führungspositionen nicht intern, sondern extern besetzt, um gewachsene Reziprozitäts- und Anerkennungsbeziehungen zu zerschlagen und so die Strategie- und Innovationsfähigkeit der Organisation zu gewährleisten.
Die Dimensionen der Anerkennung Wenn sich die Anerkennung der Menschen in der bütgerlichen Gesellschaft wesentlich auf Arbeit gründet, so beinhaltet dies ein grundlegendes Problem. Denn nicht nur resultieren hieraus Anerkennungsprobleme derer, die keine Arbeit finden hinzutritt, beeinflusst dessen Anerkennung von A beziehungsweise B deren Anerkennungsbeziehung. Todorov (1996: 37) kritisiett deshalb auch Hegels He.tr-Knecht-Dilern.ma, weil sich das Problem, dass der Herr vom Knecht nut anerkannt wetden kann, wenn er auch den Knecht anerkennt, dann auflöst, wenn er von einem Dritten C wegen der Missachtung des Knechtes anerkannt wird Dann schließt auch gtenzenlose Unterwerfung des anderen die eigene Anerkennung nicht aus. 13 Richard Sennett (1990) hat gezeigt, dass hieraus eine Macht entsteht, die gerade dadutch wirken kann, dass die Autoritätsperson den Anerkennungsbedürftigen Anerkennung vorenthält. 14 Auch die Bedeutung des Taylorismus bestand wohl nicht zuletzt darin, dass er ein gewaltiges Programm zut Demotivation des Eigensinns und professionellen Arbeitswertverständnisses handwerklicher Facharbeit war.
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können, sondern auch die soziale Wertigkeit von Arbeiten und damit ihre Anerkennungschanc~n sind ungleich. Gerade im Feld der Arbeit werden daher immer wieder Kämpfe um Anerkennung und um die soziale Wertschätzung verschiedener Leistungen geführt. Wenn sich die Anerkennung als Wertschätzung des Beitrags für die Gesellschaft somit auf Leistung und Erfolg in der Arbeit stützt, so handelt es sich hierbei um eine kompetitive und differenzierende Form der Anerkennung. Insbesondere dann, wenn sich Anerkennung in hierarchischem Aufstieg oder der Übernahme attraktiver und angesehener Aufgaben ausdriickt, ist sie knapp. Sie ist nur für diejenigen erreichbar, die als besonders leistungsfiihig oder erfolgreich gelten. 15 Positionale Anerkennung bringt die Erfolgreichen darüber hinaus in eine Pole-Position für die effektvollere Demonstration von Leistung und Erfolg und damit für weitere Aufstiegschancen. Sie fungiert somit als Kapital. Von der WertschätZung für Leistung und Erfolg sind mit Axel Honneth (1994) jedoch andere Formen der Anerkennung zu unterscheiden, nämlich die Liebe und die rechdiche Anerkennung. Kennzeichen der Liebe ist ihre Unbedingtheit, gewissermaßen ihre Unbegründetheit. In der Welt von Arbeit und Organisation lässt sich dies reformulieren als Zuwendung im Sinne von ernst zu nehmender Aufmerksamkeit und Rücksichtnahme. Die rechdiche Anerkennung drückt sich in der Arbeitswelt in der Institutionalisierung eines Status als Arbeitsbürger, oder, wie Thomas H. Marshall (1992) dies genannt hat, eines industrial eilzenship aus, das sich je nach nationaler und branchenkultureller Ausprägung in unterschiedlichen Institutionen niederschlägt (Holtgrewe 200Q; Wagner 2004). Beide Formen der Anerkennung sind nur lose mit bestimmten Arbeiten und mit dem Grad von Leistung und Erfolg gekoppelt. lndustrial citizenship ist ein Bürgerrecht, Zuwendung bezieht sich auf gemeinsame Zugehörigkeit. Sie beinhaltet auch Rücksichtnahme auf die nicht arbeitsbezogenen Dimensionen der Pel'Son des Mitarbeiters: auf familiäre Verpflichtungen, auf Krankheiten, auf altersbedingte Leistungseinschränlrungen usw. Und im Hinblick auf die Interaktionsformen meint sie, dass die Mitarbeiter ernst genommen werden und ihnen Chancen auf Wertschätzung gegeben werden. Wenn in Betrieben das Bild der ))Familie« bemüht wird, dann ist hiermit die normative Erwartung von Anerkennung im Sinne von Zuwendung gemeint. Zuwendung und industrial citizenship sind nicht unmittelbar an Vor-Leistungen gebunden und bieten in:gewissen Grenzen eine Kompensation für die Erfahrungen ·geringer Anerkennung für diejenigen, die keine Wertschätzung für Leistung erwerben. Doch auch bei dieser Anerkennung sind noch zwei Formen zu unterscheiden,
·15 Von anderen Faktoren iwie Beziehungsnetzwerken und mikropolitischem Geschick sehe ich hier ab.
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die dem »Prestige« und der »Dankbarkeit« entsprechen. Prestige ist eine differenzierende Form der Anerkennung, sie erfährt nur derjenige, der mehr leistet. Dankbarkeit ist hingegen eine Form, die es ermöglicht, auch normale Arbeiten und erfolglose Bemühungen anzuerkennen. Prestige bezieht sich zwar auf einen geteilten Maßstab, ist aber an Ungleichheit gebunden. Dankbarkeit stiftet beziehungsweise bestätigt soziale Verbundenheit. Thr sprach Georg Simmel (in diesem Band) eine elementare Bedeutung für den Zusammenhalt der Gesellschaft zu, weil sie die rechtliche Verpflichtung zur Gegenleistung durch eine emotionale ergänzt. Sie honoriert Bemühungen und Opfer und kann als redProke Form der Anerkennung verstanden werden.t6 Sie re-produziert Zugehörigkeiten und verbindet sich so mit der Anerkennungsform der Zuwendung. Ich bezeichne sie als »WürdigungSubjektivierung der Arbeit« bezeichneten veränderten Leitbilder und Arbeitsnormen. 1. Beziehungen generalisierter Reziprozität müssen auf Strukturen der Langfristigkeit aufbauen. Nur wenn die Akteure damit rechnen, dass ihre Zugehörigkeit zwn Unternehmen dann noch besteht, wenn sie Gegenleistungen für ihre Beiträge erwarten, kann sie sich entwickeln. So stellt etwa die Karriere eine Form dar, in der Leistung und Gegenleistung durch Aufstiegsperspektiven zeitlich entkoppelt werden. Sozial generalisierte Reziprozität ist nur möglich, wo Belegschaften in ihrer Zusammensetzung eine gewisse Stabilität aufweisen. Auch sachlich generalisierte Reziprozität erfordert die Akkumulation unterschiedlicher Qualifikationen und erfah16 Diese Dimension von Leistung ist angesprochen, wenn Matcel Mauss formuliert: »Die gesamte französische Gesetzgebung der Sozialversicherung (•••) ist von dem Prinzip durchdrungen, dass der Arbeiter sein Leben und seine Arbeit teils der Gemeinschaft, teils seinem Arbeitgeber hingibt.« (Mauss 1989 (1923/24]: 125)
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rungsgesättigter Einsatzfähigkeiten. Verkürzt sich dieser Horizont, so liegt eine strengere Rechenhaftigkeit des Verhaltens für beide Seiten, Beschäftigte und Organisation, nahe. Dies muss nicht unbedingt zur Erosion von sozialer Reziprozität führen, aber es vermindert die Sicherheit der Geltung von Reziprozitätsnormen, die auf der gegenseitigen Vertrautheit und auf Institutionalisierungen wie Karriereparcours und Sozialleistungen fußt. Ohne diese Sicherheit ist das Vertrauen in die Realisierung von Reziprozität eine riskantere Investition, eine Vorleistung ohne Sicherheit einer Gegenleistung. An die Stelle dieses Vertrauens tritt oft die Altemativlosigkeit einer Situation, die zwar nicht garantiert, dass Vorleistungen sich lohnen, aber dass ohne sie mit Sicherheit kein Lohn winkt. Wer etwa in einem befristeten Arbeitsvertrag nicht erwartungsgemäß leistet, wird keinen dauerhaften Arbeitsvertrag erhalten; wer zur Erlangung eines Auftrags keine Arbeitsproben, Entwürfe, Projektanträge ohne Honorar zu entwickeln bereit ist, wird den Auftrag nicht erhalten. Aber wenn er den Arbeitsvertrag oder Auftrag nicht erhält, muss er seine Vorleistungen schlicht als Fehlinvestition abschreiben. Unter diesen Umständen besteht die Gegenleistung in einer Chance, die man ohne Vorleistung nicht hat. Nun gehen verbreitete Diagnosen davon aus, dass wir es heute mit der Erosion dauerhafter Untemelunensstrukturen, stabiler Beschäftigung und institutionalisierter Normalerwerbsbiographien zu tun haben. Organisationshandeln werde unmittelbarer an den Markt gekoppelt, sodass sich Untemelunen flexibilisieren müssten und diese Anforderungen an die Beschäftigten in Form kurzfristigerer Beschäftigungsverhältnisse weiterreichten. Kompakte und hierarchische Organisationen dezentralisierten sich, Outsourcing führe zur Ausdifferenzierung von Organisationen und ihrer Rekombination in Netzwerkstrukturen (für viele: Castells 2004: 270ff.; Sennett 1998). Hieraus resultiere ein Kurzfristdenken, das dem Aufbau generalisierter Reziprozitätsbeziehungen entgegenstehen würde. Empirische Befunde mahnen jedoch, derartige Entwicklungen nicht vorschnell zu verallgemeinem und ein unmittelbares Durchschlagen der Vermarktlichung von Organisationen auf die Beschäftigungsverhältnisse anzunehmen. So zeigen Auswertungen der IAB-Beschäftigtenstichprobe, dass die gesamtwirtschaftliche Fluktuationsrate sozialversicherungspflichtig beschäftigter Arbeitskräfte zumindest bis 2Wll Jahre 1995 nicht ~enommen hat und die Stabilität der Beschäftigungsverhältnisse sogar gewachsen ist (Erlinghagen 2004). Eine andere Untersuchung zeigt allerdings in der.zweiten Hälfte der neunziger Jahre17 auf der Basis von Daten des sozioökonomischen Panels eine Zunahme zwischenbetrieblicher Mobilität bei einem Rückgang innerbetriebücher Arbeitsplatzwechsel und konstatiert als
17 Für die Phase davor bestätigen die Daten die Stabilität der Beschäftigungsverhältnisse.
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>>eine der markantesten Veränderungen (...) das Wegbrechen bisher garantierter Chancen eines permanenten Aufstiegs endang innerbetrieblicher Senioritätsregeln und Karriereleitern auf Basis von Erwartungen aufgeschobener Reziprozität.« (Diewald/Sill2004: 59)
Hinter derartigen gesamtwirtschaftlichen Daten dürften sich prägnante Unterschiede zwischen Beschäftigungssektoren und Arbeitskräftegruppen verbergen, sodass man nicht von einem einheitlichen Trend des Wandels der Arbeit und der Beschäftigungsverhältnisse sprechen sollte. Generalisierte Reziprozität ist in verschiedenen Segmenten der Arbeitsbeziehungen unterschiedlich wirksam. Aber selbst dann, wenn sich der Wandel nicht. als Destabilisierung der Beschäftigung zeigt, bewirkt er doch »im lnnern« der Arbeitsbeziehung Veränderungen. Hybride Mischformen von Arbeits- und Werkverträgen entwickeln sich, wie sie etwa in Zielvereinbarungen oder in projektförmiger Arbeit erkennbar sind, bei denen das Ergebnis unabhängig von der Art und von dem Einsatz zählt, mit dem es erreicht wurde (K.alkowski 2002; Schmid 2002; Bode/Brose 1999). 2. Sicherlich aber können wir von einem Wandel der gesellschaftlichen Leitbilder und Arbeitsnormen sprechen. Erstens spielt das Pflichtethos der Arbeit nur mehr eine geringe Rolle.18 Es gilt nicht mehr als Ausweis positiver Arbeitseinstellung, jedwede Arbeit anzunehmen, weil diese Haltung nun eher auf Gleichgültigkeit schließen lässt. Damit verbunden ist der Ansehensverlust einfacher, >>normaler« Arbeit, die sich nicht als besondere, qualifizierte oder gar kreative Arbeit darstellen kann. Leistungen zeigen nunmehr nur die »l..eistungsträgerHartz« verbundenen Reform~ auf dem Atbeitsmatkt darauf zu zielen scheinen, diese zu reetablieren. 19 Die Subjektivierung von Arbeit ist nicht gebunden an die Destabilisierung von Beschäftigungsverhältnissen und die Fragmentierung von Organisationen, also auch nicht identisch mit der These vom Arbeitskraftunternehmer (Voß/Pongratz 1998), da die gewünschte und gefordene Arbeitsorientierung auch in dauerhaften Beschäftigungsverhältnissen in stabilen Organisationen gefordert und von sicherheitsbewussten Beschäftigten vertreten wird (vgl die in diesem Sinne interpretierbaren Ergebnisse von Pongratz/Voß 2003). 20 Diese Haltung kommt beispielhaft in folgender Äußerung zum Ausdruck: »Ich habe meinen Spaß gehabt. Also ich muss noch dazu sagen, ich habe komplett in meinem Berufsleben meinen Spaß gehabt. Ich habe seit Jahrzehnten eigentlich, seit meiner zweiten Ausbildung immer den Standpunkt gehabt: Ich mache nur Jobs, die mir Spaß machen. Ich muss auch dazu sagen, immer wo ich mich beworben habe (...) ging es bei mir in erster Linie darum, was bringt der
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stellt damit keine Leistung im Sinne eines Aufwands, eines Opfers dar, der mit einer Gegenleis~ honoriert und gewürdigt werden müsste. Sie entzieht sich somit der Reziprozität des Gabentauschs. Hinzu kommen die Knappheitsverhältnisse auf dem Arbeitsmarkt, die Arbeit zu einem wertvollen Gut machen. Sie muss nicht mehr belohnt werden, sondern ist selbst Belohnung. Subjektivierung und Knappheit von Arbeit ergänzen einander, mit der Gefahr einer (Selbst-)Überforderung der Beschäftigten (Kropf 2004: 256ff.). Wenn von Arbeitnehmern Flexibilität und Mobilität gefordert ist, dann hat das Jubiläum neuer Betriebszugehörigkeit schnell einen missachtenden Beiklang; als anetkennendes Ritual verliert es seine eindeutig positive Bedeutung. Wer Anerkennung für seine Erfahrung erwartet, kann schnell als Innovationshemmnis gelten. Vergangene Leistungen, so heißt es dann, versperren den Blick auf zukünftige Anforderungen. Auf diese Weise werden die normativen Grundlagen generalisierter Reziprozität unterhöhlt. Nunmehr zieht der »High-Performer« die Blicke der Bewunderung auf sich, deijenige, der sich als Innovator und Vermarkter seiner selbst darzustellen weiß. Die Vergangenheitslosigkeit dieser Anetkennungsform macht allerdings auch ihre Fragilität aus. Sie ist an den wiederkehrenden Erfolg gebunden und stiftet keine Bande der Reziprozität. Sie entspräche einem Übergang vom Status zum Vertrag (Streeclt 1988).
Fazit: Arbeit diesseits bis jenseits der Reziprozität Atbeitsbeziehungen werden wesentlich durch Reziprozitätsbeziehungen geprägt, befinden sich aber immer auch diesseits und jenseits der Reziprozität. Weil es sich Um eine Abhängigkeitsbeziehung handelt, werden Leistungen und Gegenleistungen gewissermaßen auf schiefer Ebene beziehungsweise zwischen oben und unten getauscht. In diesem Sinne handelt es sich nicht (nur) um eine Reziprozitäts-, sondern (auch) um eine Ausbeutungsbeziehung. Gleichwohl herrschen in Arbeitsbeziehungen Normen der Reziprozität. Aufgrund der Eingliederung der Beschäftigten in eine Organisation und in Kooperationsbeziehungen eines kollektiven Produzenten entwickeln sich Formen ihler zeitlichen, sachlichen und sozialen Generalisierung. Arbeit ist zudem nicht nur Gegenstand einer instrumentellen Beziehung zum Zwecke des Einkommenserwerbs, sondern wesentlich für die Ausbildung von Identität, sozialem Prestige und sozialer Anerkennung. In Arbeitsbeziehungen geht es daher 'hicht nur um Lohn und Leistung, sondern auch um Anerkennung (die selbst wie-
Job mit sich, was für einen Spaß bringt er mit sich, ist er interessant.« (zitiert in Pongratz/Voß 2003: 56)
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derum im Entgelt zum Ausdruck kommen kann). Organisationen brauchen einerseits Beziehungen der Anerkennung, lösen sie andererseits jedoch immer wieder auf. Reziprozität ist daher mit Anerkennungsbeziehungen verknüpft, ohne jedoch mit ihnen deckungsgleich zu sein. Die Formen der Anerkennung unterscheiden sich nach ihrem »Reziprozitätsgehalt~enseits der Reziprozität« zu befördern. Grad und Ausgestaltung von Reziprozitätsbeziehungen in der Arbeit sind also einem Wandel unterworfen und Gegenstand sozialer Auseinandersetzungen - gerade derzeit.
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Reziprozität und Wohlfahrtsstaat Stephan Lessenich und Steffen Mau
Gemeinschaftliche und gesellschaftliche Reziprozität Ein großer Teil der Reziprozitätstheorie aus den Disziplinen der Anthropologie und der Soziologie hat sich auf menschliche Interaktionen unmittelbarer Art bezogen. Die Gegenstände ihres Interesses sind Stammesgemeinschaften, Familien, Freundschaftsnetzwerke oder andere stabile lnteraktionsformen, die durch Jace-toface-Be-
ziehungen charakterisiert sind. Als zentral für die Entstehung und die Aufrechterhaltung von Reziprozitätsnormen wird häufig angesehen, dass diese in relativ kleinräumige und überschaubare Zusammenhänge eingebettet sind Solche Zusammenhänge verleihen dep in Reziprozitätsnormen eingelassenen Verpflichtungs- und Wechselseitigkeitserwartungen Nachdruck, weil sie durch Vertrautheit, soziale Kontrolle und Dauerhaftigkeit der Sozialbeziehungen abgesichert werden. Deshalb ist es auch nicht vetwunderlich, dass lokale Gemeinschaften mit stark ausgeprägten Netzwerkbeziehungeri häufig das Interesse der Forscher auf sich zogen. Insbesondere Formen von familialer1 Wohlfahrtsproduktion sind durch reziproke Austauschbeziehungen reguliert, man denke nur an das Verhältnis zwischen Eltern und Kindem oder Beziehungen zwischen Ehepartnern. In diesem Kontext wird die Entstehung einer »interpersonal morality« (Miller 1994) als besonders wahrscheinlich angenommen, weil Verwandtschaftsbeziehungen quasi-natürliche Verpflichtungsgefühle gegenüber anderen Mitgliedern und ihren Bedürfnissen aufkommen lassen. Reziproke Formen der Unterstützpng sind aber auch typisch für stammesgesellschaftlic~ oder bäuerliche Gemeinschaften, die den Unwägbarkeiten der Natur ausgesetzt sind und daher relativ komplexe Hilfesysteme der Wechselseitigkeit entwickelt haben, die das Überleben der gesamten Gemeinschaft sichern (Scott 1976).1 Ehenfalls auf Gegen-
1 Darüber hiti.aus ist allerdihgs gezeigt worden, dass auch geschichts- .und bindungsanne Gemeinschaften Systeme wechselseitiger Hilfe hervorbringen können. Thomas Stones (1996) Arbeit über die Alaska-Yukon-Goldgräber im späten 19. Jahrhundert bietet einen guten Einblick, wie unter Bedingungen nicht vorhandener familiärer Bindungen und gtoßer Mobilität Formen kollektiver Risikobea.tbeitung entstehen können. In Anbetracht gtoßer Kontingenzen klimatischer und saisonaler Art, extremer Härtebedingungen und der Launen des Glücks kam es zur Ausbildung einer Norm wechselseitiger Unterstützung (Kleidung, Essen, Unterkunft) unabhängig von
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seitigkeit beruhende Unterstützungssysteme waren die in der frühen Periode der Industrialisierung entstehenden »friendly societies«, die kollektive Selbsthilfeorganisationen der Arbeiterschaft darstellten. Ganz anders sieht es bezüglich sozialer Großinstirutionen aus, deren Reichweite über das Lokale hinausgeht und die häufig auf der nationalstaatliehen Ebene organisiert sind Für diese Instimtionen kann man nicht davon ausgehen, dass sie durch soziale Nähe sozialmoralisch unterfüttert werden, denn die durch sie instirutionalisierten Sozialbeziehungen sind häufig unpersönlich, bürokratisiert und verrechtlicht. Damit fehlt ihnen jene für den sozialen Austausch so eigentümliche Kombination aus Freiwilligkeit und normativer Erwartung, die in den meisten Arbeiten zum Gabentausch hervorgehoben witd (Mauss in diesem Band). Der Wohlfahrtsstaat beispielsweise ist ein nationalstaatlich organisiertes System wechselseitiger Hilfe, das Umverteilungen zugunsren von Personengruppen in spezifischen Bedürfnislagen vornimmt. Aber anders als familiale und gemeinschaftliche Formen der Wechselseitigkeit stützt er sich nicht auf unmittelbare Verpflichrungsgefühle, sondern operiert auf der Grundlage einer rechtlich und instirutionell fixierten Ordnung. Nicht persönliche Beziehungen und damit verbundene Motivlagen prägen die Transfers innerhalb der Systeme der sozialen Sicherheit, sondern unpersönliche Beziehungen zu anderen Mitgliedern eines politischen Gemeinwesens. Aufgrund seiner Verrechtlichung und Instirurionalisierung witd das wohlfahrtsstaatliche Verteilungssystem auch als Modus einer verstaatlichten und zwangsförmigen Solidarität verstanden, als »Zwangsverband, der die mitmenschlichen Unterstützungsleistungen der Mitglieder der nationalstaatliehen Gemeinschaft abgaben- \Uld steuerpolitisch erzwingt (tu1d) die lebensweltlichen Netze der privaten Hilfe durch ein bürokratisches System umfassender Zwangsmitgliedschaft \Uld gesetzlicher Umverteil\Ulg ersetzt.« (Kersting 1998: 422)
In Anbetracht dieser Eigenarten lässt sich sogar argumentieren, dass der Staat die Austauschform der reziproken Hilfeleismog unterminiert, denn monetäre Transfers werden durch staatliche und instirutionelle Vermittlung anonymisiert und von sozialen Beziehungen abgetrennt, während gleichzeitig soziale Diensdeistungen mehr und mehr von professionellen Agenturen übernommen werden, die auf die Existenz sozialer Bindungen zwischen Hilfeleistenden und Hilfeempfangenden nicht mehr angewiesen sind (Godbout 1998: 56ff.). Der wohlfahrtsstaatliche Versuch, ständisch-gemeinschaftliches »Sozialverttauen« in modernes lnstirurionen- beziehungsweise »Systemverttauen« zu transformieren (vgL Luhmann 1975; Göbel/Pankoke 1998; Huf 1998: 113ff.), ist in dieser Lesart auf lange Sicht wenig erfolgversprechend
den individuellen Bezieh\Ulgen \Uld Eigenschaften der Person, sodass man von einer »indiscriminate extension of interpersonal welfare entidements« (Stone 1996: 551) auf der Basis allgemeilier Reziprozität reden kann.
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Mit dem wohlfahrtsstaatliehen Instimt sozialer Rechte ist jedenfalls eine Form der Gewäh?eistung von Ansprüchen erreicht, die sich durch einen hohen Grad an Universalität auszeichnet. Die Bürger des Wohlfahrtsstaates sind Rechtsträger und keine Empfiinger von Wohltätigkeit oder altruistischer Hilfe, die Dankbarkeit oder Unterordnung nach sich zieht. In Thomas H. Marshalls (2000 (1949]) Dreierschema der sequentiellen Entwicklung von bürgerlichen Freiheitsrechten, polirischen Teilnahmerechten und sozialen Teilliaberechten gelten letztere als Errungenschaft des Modernisierungsprozesses mit dem Ziel, die materiellen Voraussetzungen der effektiven Teilliabe am politischen, sozialen und kulrurellen Leben zu schaffen. Soziale Rechte sichern dementsprechend den Zugang zu einem gesellschaftlich definierten Maß an ökonomischer Wohlfahrt, welches den Bürgern allein aufgrundihrer Mitgliedschaftsrolle zugestanden wird. Rechte verleihen einen unhintergebbaren Starus innerhalb eines polirischen Gemeinwesens, unterbinden willkürliche Herrschaft und betonen den Gedanken der substantiellen Erweiterung von persönlicher Freiheit und individuellen Handlungsspielräumen. Wie für das Wahlrecht oder das Recht auf freie Meinungsäußerung könnte man auch für soziale Teilhaberechte reklamieren, dass sie auf universeller und unbedingter Basis garantiert werden (sollten) (Van Parijs 1995). In der polirischen Philosophie und in der Rechtstheorie findet sich eine umfangreiche Kontroverse, inwieweit soziale Rechte auch ein Bestandteil verfassungsmäßig zugesicherter Rechte sein sollten (z.B. Holmes/Sunstein 1999; Epstein 1985). Damit unterscheidet sich die Idee sozialer Rechte vom traditionellen Armenrecht, weil darin nur jenen Hilfe angeboten wurde, die »ihre Niederlage erklärten und um Gnade bettelten« (Marshall 2000 (1949]: 60) und damit aufhörten, Bürger im umfassenden Sinne des Wortes zu sein. Die Gewährung von Hilfe ging häufig mit Zumutungen verschiedenster Art einher, so zum Beispiel mit der Internierung in Armenhäuser, Stigmarisierungen oder dem Verlust von Freiheitsrechten. Im Geltungsbereich der sozialen Rechte ist für derartige nach Gutdünken verfahrende Hilfegewährung kein Platz, da sie auf Statusgleichheit, nicht-arbiträrem Zugang und Rechtssicherheit aufbaut. Dies entspricht auch der von Max Weber (1947 (1920]) entworfenen Sichtweise auf den Prozess der Rationalisierung im Sinne der Durchsetzung formal rationalerer Lösungen, die durch Unpersönlichkeit und Berechenba:rkeit gekennzeichnet sind Bettachtet man die sozialen Sicherungssysteme unter diesem Gesichtspunkt formaler Rationalität, dann lässt sich durchaus behaupten, dass sie Arrangements der unpersönlichen Art sind, »die sich eher weg von der Familie, weg v:on moralischen Verpflichtungen, und hin zur Anonymität und zu normativ vergleichsweise endastenden Vertragsverhältnissen bewegen« fair reciprocity< necessarily require that we do the same thing for one another, at the samo time as one anotherwork-for-the-dole policies« konfrontiert sehen, für zahlreiche Personengruppen durchaus Leistungsangebote des Wohlfahrtsstaates von der Ausbildungsförderung bis zur Altersrente -, die zwar ebenfalls als Tauschgeschäfte und also auf Gegenleistungen angelegt sind, diese jedoch nicht zeitgleich mit dem Leistungsempfang und in einer autoritativ festgelegten, von der Tauschbewertung der Unterstützten absehenden Form einfordern. Immerhin hatten Rentner vor und haben Studenten nach dem Empfang öffentlicher Unterstützung jedenfalls formal die Möglichkeit, qua freier Berufswahl die Umstände der Vorauszahlung von Sozialbeiträgen beziehungsweise der Rückzahlung von Steuermitteln selbst (mit) zu bestimmen. Genau dies,aber gilt beim Tausch >>Stütze gegen Arbeit« nicht, weshalb Goodin denn auch die in allen fortgeschrittenen Wohlfahrtsstaaten zunehmenden Bemillumgen, aus erwerbslosen Hilfeempfängern aktive Reziprokatoren zu machen, eher einer wohlfahrtspolitischen Strategie des »humbling« denn des >>helping« zu6 Instruktiv ist in diesem 2;usarnmenhang auch die Kontroverse zwischen den Anhängern eines unbedingten Grundeinkommens und dessen Gegnern. Während die Befürwortet eines solchen Konzepts eine weite Ausdeutung von Reziprozität vornehmen oder sogar generell auf die Erfüllung der Reziprozitätsnodn verzichten wollen (Van Parijs 1997), postulieren die Skeptiker ein enges Konzept zeidich und inhaltlicher Detennination der reziproken Leistungen, welches mit der Idee eines Grundeinkommens unvereinbar erscheint (White 1997).
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rechnet: Wenn die Starken den Schwachen nur gegen sofortige und fremdbestimmte Gegenleistung helfen, dann wird die Hilfe der Starken zum Instrument der Erniedrigung und nicht nur situativen, sondern dauerhaften sozialen Unterordnung der Schwachen. »lt works by catching people when they are weak; and, by requiring them to repay immediately when they are hardly able to do so, it keeps them that way.« (Goodin 2002: 592). Der oben erwähnten, von Thomas H. Marshall systematisierten Konzeption sozialer Rechte im Wohlfahrtsstaat läuft eine derartige Reziprozitätsnorm offensichtlich diametral entgegen, weil asymmetrische Machtverhältnisse festgeschrieben und Individuen von Anspruchsinhabern zu Objekten patemalistischer Aktivierungsprogramme werden. Es gibt also viele verschiedene Formen, vermittels der Wechselseitigkeit von Rechten und Pflichten, von Leistungen und Gegenleistungen das »Soziale BandGoocl workfare< genuinely tries to help people out of their predicament, putting them into genuine jobs with genuine p.rospects. >Bad workfare< airns rnerely at humiliating and harassing the subordinate classes until they finally accept their inferior social starus and drop (o.r are dropped) off the welfare rolls. (...) In distinguishing >goock f.rom >bad workfarebad< whereas Scandinavia Iooks .relatively >good.Man kann sagen, dass er [der Dank] lüer im Tiefsten überhaupt nicht darin besteht. dass die Gabe erwidert wird, sondern in dem Bewusstsein, dass man sie nicht erwidern könne, dass lüer etwas v~ das die Seele des Empfangenden wie in einen gewissen Dauerzustand der andem gegenüber versetzt, eine Ahnung der inneren Unendlichkeit eines V emältnisses zum Bewusstsein bringt, das durch keine endliche Erweisung oder Bestätigung vollkommen erschöpft oder verwirlcli.cht werden kann.«S
Simmels Ansicht nach bleibt die Dankbarkeit auch nach der Erwiderung mit einem gleichwertigen oder höherwenigen Geschenk bestehen und wird aufrechterhalten. Peter M. Blau (1964: 106) stellt ferner darauf ab, dass der Austausch von Geschenken neben der Bildung von Freundschaft und Vertrauen auch dazu dient »[to] produce and fortify status differences between superiors and inferiors«. Außerdem zeigt er auf, dass das Dilemma stets beim Empfänger liegt ))A person who gives others valuable gifts or renders them important services makes a claim for superior status by obligating them to himseJ.L If they return benefits that adequately discharge their obligations, they deny lüs claim to superiority, and if theit returns are excessive, they make a counterclaim to superiority over him. If they fail to reciprocate with benefits rhat are at least as important to lüm as lüs are to them, they validate lüs claim to superior status.« {Ebd.: 108)
Das ist es, was Alvin W. Gouldner als den antithetischen Pol der Reziprozität bezeichnet: Ausbeutung. In seiner ideengeschichtlichen Analyse der Differenz zwischen diesen Polen des Gebens lokalisiert Gouldner Reziprozität in der Tradition von Comte und Durkheim, welche die Kohäsion in den Vordergrund stellt, während die Marxsche Tradition Ausbeutung thematisiert und Instabilität hervorhebt (Gouldner 1960: 167).
4 Eine ungleiche Gesellschaft ist potentiell gefährdet insofern, als die gemeinsame Welt im Extremfall (wenn die Ungleichheit groß ist) in sich zusammen fallen kann. Die Wendung der Entwicklungsbeziehungen hin zu wirtschaftlichem Austausch ist ein Schritt zur Destruktion einer ungleichen gemeinsamen Welt. die aber Ungleichheit nicht auszumerzen vermag (siehe auch den Ietzren Abschnitt dieses Kapitels). 5 Eine erneute Lektüre von Mauss würde diese Position bestreiten, da lüer unterstrichen wird, dass das Geben der Gabe gleichfalls eine Vetpflichtung darstellt. die aus der Hybris einer Überakkumulation von Gütern abgeleitet wird. Interessanterweise stellt keiner der klassischen Autoren der Anthropologie und der Soziologie auf die gesellschaftliche Instabilität und die revolutionären Anstöße ab, die aus drastischen Einkommensungleichheiten resultieren können. Ein weiterer Grund fül: den Potlatsch oder die Gabe kann also auch die Besänftigung der ärmeren Massen sein. S~e lüerzu Perikles' Begräbnisrede in Thukydides, Abschnitt 40,4, und Cicero, zitiert bei Gouldner 1960: 161.
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NATHALIE KARAGIANNIS
Diese Beobachtungen deuten auf die Dilemmata hin, welche Entwicklungsbeziehungen innewohnen. Und tatsächlich ist die gemeinsame Welt der Entwicklungsbeziehungen eine in hohem Maße ungleiche Welt. Zu unserer vorangegangenen These, dass die Kluft zwischen den Entwickelten und den Sich-Entwickelnden nicht das einzige Charakteristikum der Beziehungen zwischen beiden ist, können wir nun die These hinzufügen, dass paradoxerweise diese Kluft ebenfalls ihre gemeinsame Welt begründet. In dieser Perspektive wird eine gemeinsame Welt dadurch geschaffen, dass sehr unterschiedliche Länder, Personen und Gesellschaften anhand desselben Kriteriums (Entwicklung) beschrieben werden. Die Gleichheit dieses Kriteriums lässt ihre Unterteilung in unterschiedliche Grade (entwickeltsich entwickelnd) zu. Und jede dieser Unterteilungen bringt Verpflichtungen und Rechte mit sich.6 In dieser gemeinsamen Welt akzeptiert ein Teil der Länder, Völker oder Gesellschaften, »Hilfegeber« zu sein, und ein anderer Teil der Länder, Völker oder Gesellschaften die Position als »Hilfeempfänger«. Durch das Geben, das Mehr-Geben oder die Behauptung, mehr gegeben zu haben, werden Statusdifferenzierungen begründet und konsolidiert. In einer direkteren Sprache als sie von Anthropologen und Soziologen über die Gabe verwendet wird, lässt sich sagen: Die Gabe der Entwicklung strebt Gleichheit an und bestätigt und verfestigt gleichzeitig Ungleichheit. Offensichtlich ist die Kennzeichnung von Entwicklungsbeziehungen als konstitutiv für eine gemeinsame Welt mehrdeutig. Beginnend mit den normativen Konnotationen, die der Ausdruck haben kann, haben die »sich-entwickelnden Gesellschaften« die Bindungen mit den »entwickelten« in Frage gestellt: In dieser ungleichen gemeinsamen Welt, so eine Kritik, müssten die Sich-Entwickelnden den Diskurs von Mildtätigkeit und Almosen als Aufgabe der Entwickelten und ihr eigenes Selbstverständnis, nicht zurückgeben zu dürfen oder zu können, verwerfen. Sie sollten diese gemeinsame Welt verlassen und sich als Gleichgestellte betrachten.? Eine zweite Kritik fordert die Sich-Entwickelnden auf, die Prämissen des Austausches zu verändern, indem sie ihre Abhängigkeit von einem hegemonialen kapitalistischen Zentrum kappen, um nicht länger dessen Peripherie zu bleiben, sondern ihr eigenes Zentrum zu werden.s Eine dritte Kritik empfiehlt den Sich-Entwickelnden, die Prä-
6 Für die historische Erschaffung einer gemeinsamen Welt durch »Entwicklungsbeziehungen« zu argumentieren verweist auf Verpflichtungen, die weniger leicht erkennbar sind, wenn Differenz betont wird Alternativ kann mittels einer »historisch-kausalen ~«, die »verarmte« und >>bereicherte« Länder produziert habe, auf V erantwortlichkeiten verwiesen werden. Siehe Pate12002 7 Die Kritik verbindet sich verstohlen mit dem »Trade not aideontrol of technology constitutes the cornerstone of the international power structure at the present time. In the final analysis, the struggle against
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missen des Austausches zu verändern, indem den entwickelten Staaten aufgezeigt wird, dass diese ursprünglich in der Schuld der Sich-Entwickelnden stehen, und nicht umgekehrt. Die unterschiedlichen Aspekte des Gebens gestatten unterschiedliche Konzeptualisierungen der gemeinsamen Welt der Entwicklung, die von der Forderung nach ihrer ..Nuflösung bis zur Befürwortung einer differenten Wiedergeburt reichen. In diesen Konzeptualisierungen setzten sich einige Sttänge mit den Wttkungen des Entwicklungsdiskurses auseinander, aber diese knüpften nur ausnahmsweise an dem historischen Thema der Gabe an, wie es in den sozialwissenschaftliehen Disziplinen erarbeitet wurde.
Die Disziplin des Gebens »Ich ging zusanunen mit dem Kommandanten zum Rektot der Dangan-Schule, wo wir auf einen Cocktail eingeladen waren. Ich trug das Päckchen, das er Madame Salvain zu überreichen beabsichtigte. Es ist eine traditionelle Sitte auch der Europäer, ihren Gastgebern etwas mitzubringen.«
Oyono (1990 [1960D
Die ungleiche gemeinsame Welt, welche die Entwicklungsbeziehungen charakterisiert, wurde und wird sowohl von den Vorstellungen über Entwicklung als auch von ihrer Praxis geprägt. In der Tat sind diese beiden Elemente eng miteinander verwoben, nicht nur, weil die Entwicklungstheorie ursprünglich zur inhaltlichen Unterstützung der Entwicklungspolitik geschaffen wurde, sondern auch aufgrund ihrer historischen Verbindungen zur Anthropologie und zum Kolonialismus. Zuallererst sind es die Sozialwissenschaften, die sich als Disziplinen mit dem Geben beschäftigen und gleichzeitig durch ihre Beschäftigung mit der Welt diese disziplinieren - in eben dem Sinne, in dem sich das Geben als ~vilisierentP erweist. Wenn in der Entwicklungssoziologie eine funktionalistische oder diffusionistische Vorstellung geltend gemacht "*d, dann gibt diese nicht nur eine Beschreibung darüber ab, was zwischen Gesellschaften passiert, sondern sie »macht« aufgrund ihres Einflusses auf Politik diese Gesellschaften auch ungleich. Dies gilt auch in einer historischen Perspektive: Indem die klassische Anthropologie und Soziologie das Ritual als nichts anderes betracht~n als die Disziplinierung von Bedürfnissen, Wünschen und Gefühlen, vermitteln sie nicht nur Informationen über die Gesellschaften, die sie untersuchen, sondern sie disziplinieren sie zugleich. Zweitens kann eine grobe, aber dennoch eindeutige intellektuelle Linie von der ersten und zweiten Welle der ko-
dependence becomes ah effort to neutralize the effects of the technological monopoly held by the centtal countties (.. J) modern technology, the key ingredient of the accumulation process.« 9 Das heißt, indem es die Menschen zur Bürgerschaft (civitas) bringt.
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lonialen Entdeckung des »Wtlderu< im 16. und 19. Jahrhundert über das Aufkommen von Ethnologie und Anthropologie im frühen 20. Jahrhundert hin zur Institutionalisierung der Entwicklungsbeziehungen und der Entfaltung einer politikorientierten Soziologie, insbesondere der Modernisierungstheorie, in den sechziger Jahren des letztenJahrhunderts10 gezogen werden: Die Konzepte, die diese Disziplinen entwickelt haben. brachten allesamt die Ungleichheit der gemeinsamen Welt mit sich. Ohne diese Ungleichheit hätte zumindest die letzte dieser Wissenschaften über keine raison d'etre verfügt. Als Sahlins anmerkte, dass »[p]erhaps French and British anthropology is especially disposed to the anxiety of anarchy and a corollary respect for order and powen>Entwicklung« hinnehmen. Diese Phase der Überwachung ist die der Gabe. Später läuten Revolte (Hyde 1979) oder fehlendes Engagement die Phase des Marktaustausches, Austausch unter Gleichen, ein.
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Formen der Kalkulation sowie andererseits der »constant iq, utilitarian calculation>U!lconscious sociology« der Wtrtschafts- und Rechtshistoriker, die mit ihren modernen Ideen »forms apriori ideas of development and follows a so-called necessary logic« (ebd.: 78, 80, 81, 36, Hervorhebungen N.K.), wie auch gegen die Transitionssoziologie, die den Wandel von Tradition zu Modernität nachvollzieht. Umso mehr ist an Mauss' Misstrauen interessant, dass seine eigene, vermutlich »bewusste« Soziologie Durkheimscher Art später hauptsächlich von Anthropologen und nicht von Soziologen verwendet wurde. Ein dritter Weg, gleichzeitig auf Gemeinsamkeit und Ungleichheit in der Entwicklung abzustellen, ist die doppelte Annahme der notwendigen Logik und der erforderlichen Intervention in der Modemisierungstheorie. Obwohl das Thema des Gebens (oder seiner zentralen lmplikationen wie Reziprozität, Verpflichtung, Verschuldung) als ausdrückliches Objekt der theoretischen Erkundung insgesamt ziemlich selten in der Soziologie behandelt wird, war es als implizites, praktisches Thema eine wesentliche Konsequenz der Soziologie der Modernisierung, die in den sechziger Jahren in den Vereinigten Staaten entwickelt wurde. Die »Chronopolirik« der Modernisierungstheorie, um die Bezeichnung Fabians zu nutzen, war aber sehr verschieden. Sie war, wie Mauss festhielt, durch die Vorstellung von einer notwendigen Fortschrittslogik geprägt. Gesellschaften wurden anband einer Skala der Rückständigkeit (das gleiche wie Fortschrittlichkeit, aber entgegengesetzt) bemessen und von ihnen Wllrde erwartet, mit Hilfe von Interventionen zu den höheren Weihen der technologischen und wirtschaftlichen Modernität zu gelangen. Allerdings benötigten sie dafür auch eine helfende Hand Die lexikalische Konfusion zwischen der notwendigen Logik und der erforderlichen Intervention dehnte sich auf den eigentlichen Prozess und das Resultat aus, und beides waren Zeichen politischer Bequemlichkeit und philosophischer Absurdität. t3 Wte Albert Hirschman (1981) unterstrichen hat, waren die Beziehungen zwischen »EntwickeltenDevelopment