Springer-Lehrbuch
Hermann Faller Hermann Lang
Medizinische Psychologie und Soziologie Unter Mitarbeit von Stefan Brunnhuber, Matthias Jelitte, Karin Meng, Silke Neuderth, Andrea Reusch, Matthias Richard, Marion Schowalter, Rolf Verres, Heiner Vogel, Tewes Wischmann
2., vollständig neu bearbeitete Auflage Mit 28 Abbildungen und 13 Tabellen
123
Professor Dr. Dr. Hermann Faller Professor Dr. Dr. Hermann Lang Universität Würzburg Institut für Psychotherapie und Medizinische Psychologie Klinikstraße 3 97070 Würzburg
[email protected] Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Interner über http://dnb.ddb.de abrufbar.
ISBN-10 3-540-29995-5 ISBN-13 978-3-540-29995-0 Springer Medizin Verlag Heidelberg Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werkes oder von Teilen dieses Werkes ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes der Bundesrepublik Deutschland vom 9. September 1965 in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechtsgesetzes. Springer Medizin Verlag. Ein Unternehmen von Springer Science+Business Media springer.de © Springer Medizin Verlag Heidelberg 2006 Printed in Germany Produkthaftung: Für Angaben über Dosierungsanweisungen und Applikationsformen kann vom Verlag keine Gewähr übernommen werden. Derartige Angaben müssen vom jeweiligen Anwender im Einzelfall anhand anderer Literaturstellen auf ihre Richtigkeit überprüft werden. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutzgesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürfen. Planung: Martina Siedler, Heidelberg Projektmanagement: Rose-Marie Doyon, Heidelberg Umschlaggestaltung & Design: deblik Berlin Titelbild: Sciencephotos.com SPIN 10843581 Satz: Fotosatz-Service Köhler GmbH, Würzburg Druck- und Bindearbeiten: Stürtz, Würzburg Gedruckt auf säurefreiem Papier.
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Vorwort zur 2. Auflage Das Fach Medizinische Psychologie und Soziologie vermittelt den angehenden Ärztinnen und Ärzten das Wissen, das sie für den Umgang mit ihren Patienten brauchen. Körperlich Kranke wollen natürlich in erster Linie wieder gesund werden. Aber sie haben auch noch darüber hinausgehende Bedürfnisse: Sie wollen Informationen über ihre Krankheit. Sie wollen immer häufiger bei medizinischen Entscheidungen beteiligt werden. Und sie benötigen in manchen Fällen auch psychische Unterstützung, um ihre Krankheit emotional zu bewältigen. Um diese Bedürfnisse zu erfüllen, brauchen Ärzte und Ärztinnen Kenntnisse und Kompetenzen aus der Medizinischen Psychologie und Soziologie. Das Fach, von dem dieses Lehrbuch handelt, ist also von unmittelbar praktischem Nutzen. Weitere wichtige Themenfelder der Medizinischen Psychologie und Soziologie betreffen die Mitarbeit des Patienten bei der medizinischen Behandlung, die Verarbeitung eingreifender Therapiemaßnahmen wie z.B. einer Transplantation, die Motivation zu einem gesundheitsförderlichen Lebensstil bei Gesunden wie auch chronisch Kranken oder die Wirkungsweise unterschiedlicher Formen der Psychotherapie. Sie spielt sowohl in der Prävention wie auch der Akutmedizin und Rehabilitation eine wichtige Rolle. Ziel unseres Buches ist es, die klinischen Bezüge der Medizinischen Psychologie herauszustellen. Die vorliegende 2. Auflage des Lehrbuchs Medizinische Psychologie und Soziologie wurde völlig neu geschrieben. Dies ist zum einen eine Konsequenz der Neufassung des Gegenstandskatalogs (GK), in der viele neue Themen aufgenommen und die alten Themen neu gewichtet wurden. Zum zweiten ist dies eine angemessene Reaktion auf den Fortschritt der Wissenschaft, der viele neue Erkenntnisse, z.B. im Bereich der neuronalen und genetischen Grundlagen menschlichen Erlebens und Verhaltens, erbracht hat. Alle Themen, die im GK definiert sind, wurden deshalb neu recherchiert. Das vorliegende Lehrbuch befindet sich damit auf dem aktuellen Stand des Wissens. Auch die 2. Auflage folgt in Aufbau und Inhalt streng dem GK. Alles Wesentliche wird behandelt, und zwar genau so ausführlich, wie es für das Verständnis notwendig ist. Alles Unwesentliche und zu Spezielle wurde weggelassen, um den Umfang des Lehrbuchs überschaubar zu halten. Für den spezieller Interessierten wird jeweils kommentierte weiterführende Literatur angegeben. Orientierung am GK und an den Prüfungsfragen des IMPP gewährleisten eine optimale Prüfungsvorbereitung. Das Buch richtet sich ausdrücklich an Einsteiger in die Medizinische Psychologie und Soziologie. Es verwendet eine klare und einfache Sprache. Nichts wird vorausgesetzt. Jeder neue Begriff wird sofort erläutert, sobald er zum ersten Mal auftaucht, wenn möglich auch mit einem Beispiel. Das Buch ist zudem besonders leserfreundlich gestaltet. Eine klare Gliederung mit vielen Hervorhebungen und Merksätzen erlaubt es, den Stoff »häppchenweise« zu konsumieren, und erleichtert die spätere Wiederholung oder das Nachschlagen. Wir haben auch die 2. Auflage unseres Lehrbuchs wieder mit vielen Beispielen aus dem ärztlichen Alltag angereichert, die die klinische Relevanz der vorgestellten psychologischen Inhalte illustrieren. Das Buch ist voll von Tipps für den praktischen Umgang mit Patienten, z.B. Formulierungsvorschlägen für das ärztliche Gespräch. Es wurde von Experten verfasst, die nicht nur eine jahrelange Erfahrung im Unterricht
VI
Vorwort zur 2. Auflage
in Medizinischer Psychologie und Soziologie mitbringen, sondern auch über praktische, klinische Erfahrung als Arzt, Psychologe und Psychotherapeut im Umgang mit Patienten verfügen. Dieser doppelte Erfahrungshintergrund stellt sicher, dass das Lehrbuch Medizinische Psychologie und Soziologie für die spätere Ärztin und den späteren Arzt im beruflichen Alltag in Praxis oder Klinik einen Nutzen hat. Es wendet sich ebenfalls an den bereits ausgebildeten Arzt und andere Berufsgruppen, die im medizinischen und sozialen Feld wichtige Funktionen übernehmen, wie Psychologen, Sozialarbeiter, Pflegekräfte usw. Dies ist ein Buch »aus einem Guss“. Da die meisten Kapitel von den beiden Autoren geschrieben wurden und auch die durch die wenigen hinzugezogenen Koautoren verfassten Abschnitte sorgfältig redigiert wurden, ist Einheitlichkeit in Aufbau, Inhalt und Stil sichergestellt. Überschneidungen wurden so weit wie möglich vermieden, die einzelnen Unterkapitel sind aufeinander abgestimmt. Wir danken den Koautorinnen und Koautoren, die Beiträge zu denjenigen Themen (mit)verfasst haben, für die sie eine hervorragende Expertise besitzen: Dr. Dr. Stefan Brunnhuber (Kap. 2.5.2), Dipl.-Psych. Matthias Jelitte (Kap. 3.2.3), Dr. Karin Meng (Kap. 2.3.1), Dr. Silke Neuderth (Kap. 2.3.3, 2.5.3 und 2.6.4), Dipl.-Psych. Andrea Reusch (Kap. 3.1.3), Dr. Matthias Richard (Kap. 2.3.4, 2.3.5 und 2.4.3), Dr. Marion Schowalter (Kap. 1.4.7 und 1.4.8), Prof. Dr. Rolf Verres (Kap. 2.5.8 und 3.2.2), Dr. Heiner Vogel (Kap. 2.1.1, 2.3.3, 3.1.5, 3.1.6 und 3.2.3), PD Dr. Tewes Wischmann (Kap. 2.5.6) oder Kapitel kritisch durchgesehen haben (Dipl.-Psych. Wilmar Igl, Kap. 1.3; Dipl.-Psych. Andrea Reusch, Kap. 3.1.1, 3.1.2 und 3.2.1). Dank auch an unsere Sekretärin Frau Hellena Lehmann, die die erste Version des Manuskripts geschrieben hat. Unser Dank gilt weiterhin den Studierenden der Medizin an der Universität Würzburg, die über viele Jahre an unseren Lehrveranstaltungen am Institut für Psychotherapie und Medizinische Psychologie teilgenommen und uns viele Anregungen gegeben haben. Schließlich danken wir Frau Martina Siedler und Frau Rose-Marie Doyon-Trust vom Springer-Verlag für die angenehme Zusammenarbeit. Wir wünschen allen Leserinnen und Lesern der 2. Auflage des Lehrbuchs Medizinische Psychologie und Soziologie viel Spaß beim Lesen und viel Erfolg im Studium. Verbesserungsvorschläge sind uns jederzeit sehr willkommen, wird werden sie bei der nächsten Auflage berücksichtigen. Hermann Faller Hermann Lang
VII
Biographie Faller, Hermann. Prof. Dr. med. Dr. phil. Dipl.-Psych. Studium der Medizin und Psychologie in Heidelberg. Promotion in Medizin in Heidelberg, in Psychologie in Freiburg. Habilitation in Würzburg. Klinische Tätigkeit in Innerer Medizin, Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie. Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Psychoanalytiker (DGPT). Seit 2000 Stiftungsprofessur für Rehabilitationswissenschaften. Seit 2004 Vorstand (komm.) des Instituts für Psychotherapie und Medizinische Psychologie der Universität Würzburg. 2. Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Medizinische Psychologie. Erhielt für seine psychoonkologischen Forschungen den im Jahr 2003 erstmals verliehenen Julius-Springer-Psychotherapie-Preis.
Lang, Hermann. Prof. Dr. med. Dr. phil. Studium der Medizin, Psychologie und Philosophie in Heidelberg und Paris. 1972 und 1976 Promotion zum Dr. phil. und Dr. med. Ausbildung zum Psychiater, Facharzt für Psychotherapeutische Medizin und Psychoanalytiker (DGPT) in Heidelberg, Paris und Straßburg. 1979 Habilitation. Von 1980 bis 1989 Ärztlicher Direktor der Abteilung Psychotherapie und Medizinische Psychologie an der Psychosomatischen Klinik der Universität Heidelberg. Von 1990 bis 2004 Vorstand des Instituts für Psychotherapie und Medizinischen Psychologie der Universität Würzburg.
Einleitung: kurzer Einstieg ins Thema
Leitsystem: Orientierung über die Kapitel und Anhang
1
Exkurs: Interessante Hintergrundinfos aus Klinik und Praxis
26
Kapitel 1 · Entstehung und Verlauf von Krankheiten
1.2
Gesundheits- und Krankheitsmodelle
> > Einleitung
Inhaltliche Struktur: klare Gliederung durch alle Kapitel
Im folgenden Kapitel werden unterschiedliche theoretische Modelle von Gesundheit und Krankheit vorgestellt: Verhaltensmodelle, biopsychologische Modelle, psychodynamische Modelle, sozialpsychologische Modelle und soziologische Modelle. Diese Einteilung reflektiert die bis in die jüngste Vergangenheit und zum Teil auch heute noch vorherrschende Zersplitterung der Wissenschaft.
1.2.1
Verhaltensmodelle
Das menschliche Verhalten spielt eine wichtige Rolle bei der Entstehung und Bewältigung von Krankheiten. Diejenigen Verhaltensweisen, die sich auf die menschliche Gesundheit auswirken, werden Gesundheitsverhalten genannt. Ein Beispiel für ein günstiges Gesundheitsverhalten ist körperliche Aktivität. Sie schützt vor der Entstehung von Herzerkrankungen und Krebs. Beispiele für ungünstiges.
Exkurs Sympathikusaktivierung und äHerz-Kreislauf-Risiko. Körperlich gesunde Menschen, die an einer Depression leiden, haben im Vergleich zu Nichtdepressiven ein zweimal so hohes Risiko für die Entwicklung einer koronaren Herzkrankheit. Bei Menschen, die schon einen Herzinfarkt erlitten haben, besteht bei Vorliegen einer Depression ebenso ein ca. doppelt so hohes Risiko, an einem erneuten Infarkt zu versterben. Wenngleich es noch nicht völlig geklärt ist, ob Depression einen kausalen Risikofaktor darstellt oder lediglich einen Risikoindikator.
Wohlbefinden. Ein wichtiges Kennzeichen von Ge-
sundheit (health) aus der Sicht der betroffenen Person ist das Wohlbefinden. Viele Menschen machen Kranksein (illness) aber zudem an einer Einschränkung ihres Handlungsvermögens fest. Mit einem leichten Schnupfen gehe ich noch in die Uni. Die zunehmende Beeinträchtigung von Handlungsvermögen vom Schnupfen über den grippalen Infekt mit Hals- und Kopfschmerzen bis zur richtigen Grippe mit hohem Fieber ist ein Beispiel für das Kontinuum von gesund bis krank.
Klinik
Klinik: Zahlreiche Fallbeispiele stellen den Bezug zur Klinik her
Prüfungsrelevante Klinikbegriffe nach GK1 werden durch den blauen Äskulapstab markiert. Sie sind im Sachverzeichnis hervorgehoben
Depressive Störung Ein 20-jähriger Student kommt in die Sprechstunde. Er sitzt vornüber gebeugt auf dem Stuhl, den Blick zum Boden gerichtet, und spricht mit leiser, monotoner Stimme: »Ich bin völlig niedergeschlagen und ohne Energie. Nichts macht mir mehr Freude. Sogar mich mit meinen Freunden zu treffen, habe ich keine Lust mehr. Morgens ist es am Schlimmsten: Der Tag kommt mir dann wie ein
äAntizipatorische
Übelkeit bei Chemotherapie.
Die Chemotherapie mit Zytostatika ist ein bewährtes Verfahren zur Behandlung von Krebskrankheiten. Zytostatika töten schnellwachsende Krebszellen ab. Sie werden nicht nur bei fortgeschrittenen Tumoren eingesetzt, die schon Metastasen gebildet haben (7 Abb. 1.1).
Verweise im Text lenken den Blick auf Abbildungen und Tabellen
riesiger Berg vor, den ich nicht bewältigen kann. Schon der Gedanke, aufzustehen und mich anzuziehen, ist mir zu viel. Am liebsten würde ich im Bett bleiben. Ich fühle mich als völliger Versager. Manchmal hatte ich auch schon den Gedanken, gar nicht mehr auf der Welt sein zu wollen. Alles ist grau in grau, und nichts wird sich jemals daran ändern.«
Merke
Resilienz. »Elastizität«, »Widerstandsfähigkeit«. Psychologischer Schutzfaktor, der bewirkt, dass trotz ungünstiger Lebensbedingungen keine psychische Störung auftritt. Wodurch Resilienz entsteht, ist noch weitgehend ungeklärt.
Merke: das Wichtigste auf den Punkt gebracht
Farbige Abbildungen veranschaulichen komplexe Sachverhalte
Navigation: Seitenzahl und Kapitelnummer für die schnelle Orientierung
1
27
1.2 · Gesundheits- und Krankheitsmodelle
. Abb 1.3. Einteilung der Schlafstadien (nach Birbaumer u. Schmidt 2005)
. Tabelle 1.1. Stadien der psychosexuellen Entwicklung (n. Freud, Erikson) Lebensalter in Jahren
Psychosexuelle Phasen
Umkreis der Beziehungspersonen
Psychosoziale Modalitäten
Psychosoziale Krisen
bis 1½
Oral-sensorische Phase
Mutter (Vater)
Empfangen und (sich-) einverleiben, atmosphärisches Fühlen, Hören, Sehen, Riechen
Urvertrauen vs. Urmisstrauen
1½ bis 3
Anal-muskuläre Phase
Eltern
Festhalten und hergeben, Trotz – Fügsamkeit
Autonomie vs. Scham und Zweifel
3 bis 5 (6)
Phallisch-ödipale Phase
Familie
Vergleichen und konkurrieren, Geschlechtsrollenfindung
Initiative vs. Schuldgefühl
6 bis 10
Latenzphase
Wohngegend, Schule
Etwas »Richtiges« machen, etwas mit anderen zusammen machen
Leistung vs. Minderwertigkeitsgefühl
Lerntheoretische und kognitionstheoretische Grundlagen Verhaltensmodelle basieren auf der Lerntheorie. Zunächst dominierte hier der Behaviorismus, der nur beobachtbares Verhalten als Gegenstand der Psychologie akzeptierte und die Betrachtung von inneren Prozessen (Introspektion) als unwissenschaftlich ablehnte. Die menschliche Psyche wurde als »black box« betrachtet, in die man nicht hineinsehen kann. Verhalten wurde allein durch Umweltbedingungen zu erklären versucht. Während diese radikale Perspektive damals einen Fortschritt.
Schlüsselbegriffe sind fett hervorgehoben
i Vertiefen Ehlert U (Hrsg) (2003) Verhaltensmedizin. Springer, Berlin (Überblick über Anwendungsgebiete der Verhaltenstherapie in der Medizin) Lefrancois G (1998) Psychologie des Lernens. 3. Aufl. Springer, Berlin (klassisches Lehrbuch) Margraf J (Hrsg) (2000) Lehrbuch der Verhaltenstherapie. 2. Aufl. Springer, Berlin (hervorragende, praxisorientierte Darstellung) Plomin R, DeFries JC, McClearn GE, McGuffin P (2001) Behavioral Genetics. 4th ed. Freeman, New York (didaktisch gut aufgebautes Lehrbuch) Stockhorst U, Klosterhalfen S (2005) Lernpsychologische Aspekte in der Psychoneuroimmunologie (PNI).
Weiterführende Literatur zum Vertiefen; vom Autor kommentiert
Tabelle: klare Übersicht der wichtigsten Fakten
XI
Inhaltsverzeichnis 1 1.1 1.1.1 1.1.2 1.1.3
1.1.4 1.2 1.2.1 1.2.2 1.2.3 1.2.4 1.2.5 1.3 1.3.1 1.3.2 1.3.3 1.3.4 1.3.5 1.3.6 1.3.7 1.4 1.4.1 1.4.2
Entstehung und Verlauf von Krankheiten . . . . . . . . . . . . . . Bezugssyteme von Gesundheit und Krankheit . . . . . . . . . . . . . . . . . Begriffsklärungen . . . . . . . . . . . . . . . H. Faller Die betroffene Person . . . . . . . . . . . . H. Faller Die Medizin als Wissens- und Handlungssystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . H. Faller Die Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . H. Faller Gesundheits- und Krankheitsmodelle . . Verhaltensmodelle . . . . . . . . . . . . . . H. Faller Biopsychologische Modelle . . . . . . . . H. Faller Psychodynamische Modelle . . . . . . . . H. Lang, H. Faller Sozialpsychologische Modelle . . . . . . . H. Faller Soziologische Modelle . . . . . . . . . . . H. Faller Methodische Grundlagen . . . . . . . . . Hypothesenbildung . . . . . . . . . . . . . H. Faller Operationalisierung . . . . . . . . . . . . . H. Faller Untersuchungskriterien . . . . . . . . . . . H. Faller Untersuchungsplanung . . . . . . . . . . . H. Faller Methoden der Datengewinnung . . . . . H. Faller Datenauswertung und –interpretation . H. Faller Ergebnisbewertung . . . . . . . . . . . . . H. Faller Theoretische Grundlagen . . . . . . . . . Biologische Grundlagen . . . . . . . . . . H. Faller Lernen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . H. Faller
1.4.3 1 2 2 3
6 8 10 10 18 30 36
Kognition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . H. Faller 1.4.4 Emotion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . H. Faller 1.4.5 Motivation . . . . . . . . . . . . . . . . . . H. Faller 1.4.6 Persönlichkeit und Verhaltensstile . . . H. Faller 1.4.7 Entwicklung und primäre Sozialisation (Kindheit) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . M. Schowalter 1.4.8 Entwicklung und Sozialisation im Lebenslauf (Adoleszenz, mittleres Erwachsenenalter, Senium) und sekundäre Sozialisation . . . . . . . . . . M. Schowalter 1.4.9 Soziodemographische Determinanten des Lebenslaufs . . . . . . . . . . . . . . . H. Faller 1.4.10 Sozialstrukturelle Determinanten des Lebenslaufs . . . . . . . . . . . . . . . H. Faller
.
89
.
97
.
109
.
119
.
128
.
136
.
143
.
150
40
2
Ärztliches Handeln . . . . . . . . . . . .
155
45 45
2.1 2.1.1
. . . .
156 156
50
2.1.2
. .
159
54
2.1.3
. .
162
58
2.1.4
. .
164
66
2.1.5
Arzt-Patient-Beziehung . . . . . . . . . Professionalisierung des Arztberufes H. Vogel, H. Faller Arztrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . H. Faller Krankenrolle . . . . . . . . . . . . . . . . H. Faller Kommunikation und Interaktion . . . H. Faller Besonderheiten der Kommunikation und Kooperation . . . . . . . . . . . . . H. Faller Untersuchung und Gespräch . . . . . Erstkontakt . . . . . . . . . . . . . . . . . H. Faller Exploration und Anamnese . . . . . . H. Faller Körperliche Untersuchung . . . . . . . H. Faller Urteilsbildung und Entscheidung . .
. .
172
. . . .
177 177
. .
180
. .
184
. .
186
69 74 79 79
2.2 2.2.1 2.2.2 2.2.3
85 2.3
XII
Inhaltsverzeichnis
2.3.1
Arten der diagnostischen Entscheidung . . . . . . . . . . . . . . . K. Meng Grundlagen der Entscheidung . . . . H. Faller Urteilsqualität und Qualitätskontrolle S. Neuderth, H. Vogel Entscheidungskonflikte . . . . . . . . . M. Richard Entscheidungsfehler . . . . . . . . . . . M. Richard Interventionsformen . . . . . . . . . . Ärztliche Beratung . . . . . . . . . . . . H. Faller Patientenschulung . . . . . . . . . . . . H. Faller Psychotherapie . . . . . . . . . . . . . . M. Richard Besondere medizinische Situationen Intensivmedizin . . . . . . . . . . . . . . H. Faller Notfallmedizin . . . . . . . . . . . . . . S. Brunnhuber Transplantationsmedizin . . . . . . . . S. Neuderth Onkologie . . . . . . . . . . . . . . . . . H. Faller Humangenetische Beratung . . . . . . H. Faller Reproduktionsmedizin . . . . . . . . . T. Wischmann Sexualmedizin . . . . . . . . . . . . . . . H. Lang, H. Faller Tod und Sterben, Trauer . . . . . . . . . R. Verres Patient und Gesundheitssystem . . . Stadien des Hilfesuchens . . . . . . . . H. Faller
2.3.2 2.3.3 2.3.4 2.3.5 2.4 2.4.1 2.4.2 2.4.3 2.5 2.5.1 2.5.2 2.5.3 2.5.4 2.5.5 2.5.6 2.5.7 2.5.8 2.6 2.6.1
2.6.2
Bedarf und Nachfrage . . . . . . . . . . . . H. Faller Patientenkarrieren im Versorgungssystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . H. Faller Qualitätsmanagement im Gesundheitswesen . . . . . . . . . . . . S. Neuderth
. .
186
. .
187
. .
189
. .
192
. .
194
3
Förderung und Erhaltung von Gesundheit . . . . . . . . . . . . . . .
. . . .
196 196
3.1 3.1.1
. .
198
3.1.2
. .
202
3.1.3
. . . .
214 214
3.1.4
. .
216
. .
218
. .
222
. .
226
. .
228
. .
231
Prävention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Präventionsbegriff . . . . . . . . . . . . . . H. Faller Primäre Prävention . . . . . . . . . . . . . . H. Faller Sekundäre Prävention . . . . . . . . . . . . H. Faller, A. Reusch Tertiäre Prävention/ Rehabilitation . . . . H. Faller Formen psychosozialer Hilfen . . . . . . . H. Vogel, H. Faller Sozialberatung . . . . . . . . . . . . . . . . H. Vogel Maßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gesundheitserziehung und Gesundheitsförderung . . . . . . . . . . . H. Faller Verhaltensänderung . . . . . . . . . . . . . R. Verres Rehabilitation, Soziotherapie, Selbsthilfe und Pflege . . . . . . . . . . . . . . . . . . . H. Vogel, M. Jelitte, H. Faller
. .
239
. . . .
246 246
2.6.3
2.6.4
3.1.5 3.1.6 3.2 3.2.1
3.2.2 3.2.3
252
256
257
263 264 264 265 270 278 285 287 289 289 297
300
Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
307
A1 A2 A3
308 309 316
Quellenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . .
1 1 Entstehung und Verlauf von Krankheiten 1.1
Bezugssysteme von Gesundheit und Krankheit
1.1.1 1.1.2 1.1.3 1.1.4
Begriffsklärungen – 2 Die betroffene Person – 3 Die Medizin als Wissens- und Handlungssystem – 6 Die Gesellschaft – 8
1.2
Gesundheits- und Krankheitsmodelle – 10
1.2.1 1.2.2 1.2.3 1.2.4 1.2.5
Verhaltensmodelle – 10 Biopsychologische Modelle – 18 Psychodynamische Modelle – 30 Sozialpsychologische Modelle – 36 Soziologische Modelle – 40
–2
1.3
Methodische Grundlagen – 45
1.3.1 1.3.2 1.3.3 1.3.4 1.3.5 1.3.6 1.3.7
Hypothesenbildung – 45 Operationalisierung – 50 Untersuchungskriterien – 54 Untersuchungsplanung – 58 Methoden der Datengewinnung – 66 Datenauswertung und -interpretation – 69 Ergebnisbewertung – 74
1.4
Theoretische Grundlagen – 79
1.4.1 1.4.2 1.4.3 1.4.4 1.4.5 1.4.6 1.4.7 1.4.8 1.4.9 1.4.10
Biologische Grundlagen – 79 Lernen – 85 Kognition – 89 Emotion – 97 Motivation – 109 Persönlichkeit und Verhaltensstile – 119 Entwicklung und primäre Sozialisation in der Kindheit – 128 Entwicklung und Sozialisation im Lebenslauf – 136 Soziodemographische Determinanten des Lebenslaufs – 143 Sozialstrukturelle Determinanten des Lebenslaufs – 150
1
2
Kapitel 1 · Entstehung und Verlauf von Krankheiten
1.1
Bezugssysteme von Gesundheit und Krankheit
> > Einleitung Je nach Bezugssystem können Gesundheit und Krankheit unterschiedliche Bedeutungen besitzen. Die betroffene Person bemerkt an Störungen ihres Wohlbefindens und an Beschwerden, dass sie krank ist. In der Medizin ist es das Ziel, eine Diagnose zu stellen, die Grundlage der Behandlung ist. Für die Gesellschaft stellt Krankheit eine Abweichung von sozialen Normen dar. Ein Kranker kann bestimmte Rollen nicht mehr erfüllen, er ist beispielsweise arbeitsunfähig.
1.1.1
Begriffsklärungen
Gesundheit und Krankheit als Dichotomie vs. Kontinuum Wenn ein Patient mit bestimmten Beschwerden in die Sprechstunde kommt, ist es das Ziel des Arztes, eine Diagnose zu stellen. Er muss herausfinden, woran der Patient leidet. Erst dann kann er ihn angemessen behandeln. Die Diagnosestellung ist eine dichotome Entscheidung: eine Krankheit liegt vor oder sie liegt nicht vor. Festgelegte diagnostische Kriterien, z.B. bestimmte organische Befunde, helfen dem Arzt, diese Entscheidung zu treffen. Für den Patienten stellt sich Kranksein eher als Kontinuum dar: Er kann sich mehr oder weniger wohl, leichter oder schwerer krank fühlen. Doch auch in der Medizin sind dichotome Entscheidungen nicht immer einfach zu fällen. Insbesondere bei psychischen Störungen ist Krankheit oft nicht etwas qualitativ anderes als Gesundheit, sondern eher die extreme Ausprägung einer quantitativen Dimension: Menschen können je nach ihrer Persönlichkeit beispielsweise mehr oder weniger ängstlich sein; ab einer bestimmten Anzahl und Intensität der Symptome handelt es sich aber nicht mehr um »normale« Ängstlichkeit, sondern eine »krankhafte« Angststörung.
Exkurs WHO-Definition. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat Gesundheit »als Zustand des vollkommenen körperlichen, seelischen und sozialen Wohlbefindens und nicht einfach die Abwesenheit von Krankheit« definiert. Diese Definition ist zwar gut gemeint: Sie will darauf hinweisen, dass Gesundheit nicht nur eine körperliche Dimension aufweist. Aber sie ist utopisch und auch empirisch nicht haltbar: Gesundheit heißt keineswegs völliges Wohlbefinden oder auch nur Abwesenheit von Beschwerden. Viele epidemiologische Untersuchungen haben gezeigt, dass mehr als 80% der befragten Mitglieder der gesunden Allgemeinbevölkerung in der vorausgegangenen Woche mindestens ein belastendes körperliches Symptom, wie z.B. Rückenschmerzen oder Kopfschmerzen, hatten. Körperliche Beschwerden sind auch bei Gesunden häufig. Sie sind meist harmlos und gehen von alleine wieder vorbei, ohne dass sich die betroffene Person deshalb als krank definiert oder einen Arzt aufsucht.
Normbegriffe Was »normal« ist und was nicht, hängt von der Definition von Normalität ab. Hier gibt es verschiedene Ansätze: Idealnorm. Ein Sollwert, der wünschenswert er-
scheint (z.B. die obige WHO-Definition der Gesundheit). Funktionale Norm. Zustand, der mit Funktionsfähigkeit einhergeht. Beispiel: In Klassifikationssystemen für psychische Störungen wird ein Symptom dann als krankhaft bewertet, wenn es die Fähigkeit der betroffenen Person, ihren Alltag zu bewältigen, beeinträchtigt (7 Kap. 1.1.3). Statistische Norm. Wenn ein individueller Wert so extrem ausfällt, dass er nur selten vorkommt (z.B. nur bei 5% der untersuchten Patienten), wird er als pathologisch gewertet. Nachteile: Alle Krankheiten haben dieselbe Häufigkeit (hier: 5%). Wenn man nur ausreichend viele Untersuchungen durchführt, findet man auf jeden Fall einen pathologischen Wert.
3
1.1 · Bezugssysteme von Gesundheit und Krankheit
1
Diagnostische Norm. Ein diagnostischer Test kann
Chronifizierung. Übergang in eine chronische (lang
normal ausfallen (»negativ«) oder nicht (»positiv«). Hier wird als Kriterium angelegt, dass mit einer hohen Wahrscheinlichkeit die gesuchte Krankheit vorliegt, wenn der Test positiv ausfällt. Wie diese Wahrscheinlichkeit berechnet wird, zeigt Kap. 3.2.1.
dauernde) Krankheit. Beispiel: chronische Rückenschmerzen. Im Unterschied zu akuten Schmerzen lassen sich meist keine organischen Ursachen finden. Psychische Faktoren (Depression) tragen zur Chronifizierung bei.
Therapeutische Norm. Normale Werte erfordern keine Behandlung, nicht normale Werte schon. Blutdruckwerte werden beispielsweise dann nicht mehr als normal bewertet, wenn durch eine Therapie das erhöhte Risiko für Folgeerkrankungen wie Herzinfarkt und Schlaganfall vermindert werden kann. Studien zeigten, dass dies schon bei Werten der Fall ist, die früher noch als normal galten; deshalb wurden die Obergrenzen für normalen Blutdruck in den letzten Jahrzehnten immer weiter gesenkt.
Rezidiv. Rückfall im Heilungsprozess. Beispiel: Rezidiv (Wiederauftreten) einer Krebserkrankung viele Monate nach der erfolgreichen Primärbehandlung.
Entstehung und Verlauf von Krankheiten
Merke
Rehabilitation. Medizinische Rehabilitation soll Menschen mit chronischen Erkrankungen oder Behinderungen helfen, möglichst weitgehend am normalen Leben in Familie, Beruf und Gesellschaft teilzunehmen (7 Kap. 3.1.4). Sie fördert die Krankheitsbewältigung und mildert die Folgen chronischer Krankheiten ab (tertiäre Prävention).
Im GK werden einige wichtige Begriffe aufgezählt, die die Entstehung und den Verlauf von Krankheiten betreffen. 1.1.2
Die betroffene Person
Ätiologie. Lehre von den Krankheitsursachen. Bei-
spiel: Bluthochdruck (Hypertonie) ist eine der Krankheitsursachen des Herzinfarkts. Pathogenese. Lehre von der Krankheitsentstehung.
Vereinfachtes Beispiel: Bluthochdruck führt zu Verengung (Arteriosklerose) der Herzkranzgefäße (koronare Herzkrankheit). Beim vollständigen Verschluss eines verengten Herzkranzgefäßes durch einen Thrombus (Blutgerinnsel) kommt es zum Herzinfarkt. Protektive Faktoren. Schutzfaktoren, die der Krank-
heitsentstehung entgegenwirken. Beispiel: Körperliche Aktivität und gesunde Ernährung vermindern das Risiko eines Herzinfarkts. Merke
Resilienz. »Elastizität«, »Widerstandsfähigkeit«. Psychologischer Schutzfaktor, der bewirkt, dass trotz ungünstiger Lebensbedingungen keine psychische Störung auftritt. Wodurch Resilienz entsteht, ist noch weitgehend ungeklärt.
Subjektives Befinden und Erleben Wohlbefinden. Ein wichtiges Kennzeichen von Ge-
sundheit (health) aus der Sicht der betroffenen Person ist das Wohlbefinden. Sich krank fühlen heißt, sich nicht wohl fühlen. Viele Menschen machen Kranksein (illness) aber zudem an einer Einschränkung ihres Handlungsvermögens fest: Wenn die Beschwerden so stark sind, dass ich nicht zur Arbeit gehen kann, dann definiere ich mich als krank. Mit einem leichten Schnupfen gehe ich noch in die Uni, mit Fieber aber nicht mehr. Die zunehmende Beeinträchtigung von Wohlbefinden und Handlungsvermögen vom Schnupfen über den grippalen Infekt mit Hals- und Kopfschmerzen bis zur richtigen Grippe mit hohem Fieber ist ein Beispiel für das Kontinuum von gesund bis krank (7 Kap. 1.1.1). Symptomwahrnehmung. Menschen unterscheiden
sich darin, wie leicht sie Störungen ihres Wohlbefindens wahrnehmen, eine Körperempfindung als Beschwerdesymptomatik oder Krankheitszeichen erleben. Hierbei spielen emotionale und kognitive Einflüsse eine Rolle. Als »Kognitionen« werden Ge-
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Kapitel 1 · Entstehung und Verlauf von Krankheiten
danken im weitesten Sinne bezeichnet: Interpretationen, Bewertungen, Ursachenvorstellungen etc. Erst durch die bewusste Wahrnehmung einer körperlichen Empfindung und ihre Interpretation als mögliches Zeichen einer Krankheit entsteht für die betroffene Person ein Anlass, zum Arzt zu gehen. Vergleicht man Menschen, die wegen bestimmter körperlicher Beschwerden zum Arzt gegangen sind (Patienten), mit Menschen, die die gleichen Beschwerden haben, aber deswegen keinen Arzt aufsuchten, so finden sich zwei Unterschiede: 1. Die Patienten sind psychisch stärker belastet (ängstlich, depressiv). 2. Die Patienten interpretieren ihre Beschwerden häufiger als Anzeichen einer schweren Krankheit (z.B. Krebs). Emotionale (Angst, Depressivität) und kognitive (Krankheitsinterpretation) Einflüsse tragen also dazu bei, ob eine Person Symptome wahrnimmt, sich als krank erlebt und zum Arzt geht.
Körperwahrnehmung Merke
5 Interozeption: Wahrnehmung von Vorgängen und Zuständen innerhalb des eigenen Körpers (Oberbegriff ). 5 Propriozeption: Lage- und Bewegungswahrnehmung des Körpers im Raum. Die Propriozeption erfolgt meist unbewusst. Sie stellt über Reflexe und unbewusste Ausgleichsbewegungen sicher, dass wir bei Änderungen der Körperhaltung nicht das Gleichgewicht verlieren (7 Lehrbücher Physiologie). 5 Viszerozeption: Wahrnehmung der inneren Organe. Menschen sind nicht besonders gut in der Wahrnehmung ihrer inneren Körperfunktionen. Beispiel: Subjektiv eingeschätzter und objektiv gemessener Blutdruck stimmen nicht überein. 5 Nozizeption: Schmerzwahrnehmung (7 Kap. 1.2.2).
Exkurs Subjektive Symptome. äHypochondrie ist eine psychische Störung, bei der die betroffene Person fest davon überzeugt ist, an einer bestimmten Krankheit (z.B. Krebs oder AIDS) zu leiden, auch wenn sich dafür keine Anzeichen finden lassen. Eine äDepression geht mit erhöhter Wahrnehmung körperlicher Beschwerden unterschiedlicher Lokalisation einher. Zugleich interpretieren die Betroffenen ihre psychischen Beschwerden wie Niedergeschlagenheit, Energiemangel und Verlust der Lebensfreude (Anhedonie) oft nicht als Zeichen einer Krankheit, die man behandeln kann, sondern stellen an sich den Anspruch, es alleine zu schaffen. Der Arzt muss deshalb zunächst ein Verständnis für die Krankheit Depression schaffen. Schmerz ist das Paradebeispiel für ein subjektives Symptom, das einem Außenstehenden nicht zugänglich ist (7 Kap. 1.2.2). Die Somatisierungsstörung wird in Kap. 1.1.3 behandelt.
Gesundheitsbezogene Lebensqualität Unter der gesundheitsbezogenen Lebensqualität wird die subjektive Einschätzung des eigenen Gesundheitszustands (subjektive Gesundheit) verstanden. Die Verbesserung der Lebensqualität des Patienten ist ein wichtiges Ziel der medizinischen Behandlung. Deshalb wird die gesundheitsbezogene Lebensqualität in jüngster Zeit zunehmend als Kriterium des Therapieerfolgs herangezogen, zusätzlich zu biomedizinischen Kriterien wie Normalisierung pathologischer Befunde oder Überlebenszeit. Objektive Befunde und subjektives Erleben stehen nicht notwendigerweise in einem engen Zusammenhang. Umso wichtiger ist es, die subjektive Sicht der betroffenen Person zu berücksichtigen. Dies gilt insbesondere bei chronischen Krankheiten, wo das Behandlungsziel meist nicht die Heilung sein kann, sondern der Betroffene mit seiner Krankheit leben lernen muss. Gerade chronische Krankheiten bringen eine Reihe von Einschränkungen der Lebensqualität mit sich. Dazu gehören andauernde körperliche Beschwerden, Einschränkungen von Alltagsaktivitäten (z.B. Gehen, Treppensteigen, Heben und Tragen), emotionale Belastungen
1.1 · Bezugssysteme von Gesundheit und Krankheit
(Depression, Angst) und verminderte berufliche Leistungsfähigkeit. Merke
Die gesundheitsbezogene Lebensqualität setzt sich aus mehreren Dimensionen zusammen. Die vier zentralen Dimensionen sind: 5 körperliche Beschwerden (z.B. Schmerz), 5 psychisches Befinden (z.B. Depression, Angst), 5 Funktionszustand (z.B. Fähigkeit, Treppen zu steigen), 5 soziale Rollen (z.B. berufliche Leistungsfähigkeit).
Messinstrumente. Obwohl die Beurteilung des eigenen Gesundheitszustands etwas sehr Subjektives ist, lässt sich das Ergebnis dieser Beurteilung objektiv erfassen. Es existieren Fragebögen, mit denen die Beeinträchtigung der Lebensqualität gemessen werden kann. Ein internationales Standardinstrument zur Messung der gesundheitsbezogenen Lebensqualität ist die Short Form 36 (SF-36). Der SF-36 ist ein generischer (krankheitsübergreifender) Fragebogen. Er ist so allgemein angelegt, dass er bei den unterschiedlichsten Krankheitsbildern und auch bei Gesunden eingesetzt werden kann. Daneben gibt es eine große Zahl von krankheitsspezifischen Fragebögen, die nur jeweils bei einer bestimmten Krankheit verwendet werden. Während generische Fragebögen einen Vergleich der Lebensqualität zwischen verschiedenen Krankheiten ermöglichen, sind krankheitsspezifische meist detaillierter und genauer auf die konkrete Situation bei einer bestimmten Krankheit zugeschnitten und deshalb oft besser in der Lage, Veränderungen im Verlauf der Krankheit oder der Behandlung abzubilden (Änderungssensitivität).
Subjektive Krankheitstheorien Nicht nur der Arzt, der eine Diagnose stellt, auch die Patienten selbst entwickeln Vorstellungen von ihrer Krankheit. Diese Vorstellungen nennt man subjektive Krankheitstheorien: subjektiv, weil es sich um persönliche Modelle handelt, im Unterschied zu den objektiven Modellen der Wissenschaft; Theorien, weil sie durchaus komplex sein
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können, wenn auch nicht so widerspruchsfrei und konsistent wie wissenschaftliche Theorien. Oft werden sie vom Patienten auch nicht direkt ausgesprochen, sind also implizit und müssen vom Arzt erfragt werden. Auch sind sie von Emotionen sowie den Bedürfnissen in der jeweiligen Situation beeinflusst und können sich dementsprechend schnell ändern. Subjektive Krankheitstheorien spielen, wie schon weiter oben erwähnt, bei der Interpretation von Beschwerden eine Rolle: »Was bedeutet dieses Ziehen im Brustkorb? Könnte es das Anzeichen eines Herzinfarkts sein?« Sie betreffen folgende Bereiche: 4 Ursachen: »Woher kommt meine Erkrankung?« Die Ursachenzuschreibung wird auch Kausalattribution oder Laienätiologie genannt. 4 Krankheitsbild: »Woran leide ich eigentlich?« 4 Verlauf: »Ist diese Krankheit akut oder chronisch?« 4 Behandlung: »Was wird mir am besten helfen?« (7 Kontrollüberzeugung, Kap. 1.2.4). 4 Auswirkungen: »Wird diese Krankheit bleibende Schäden hinterlassen?« »Werde ich wieder in meinen Beruf zurückkehren können?« Obwohl subjektive Krankheitstheorien oft nicht mit den wissenschaftlichen Theorien der Medizin übereinstimmen, sind sie dennoch wichtig für die medizinische Behandlung und die Arzt-Patient-Beziehung: 4 Sie beeinflussen die Mitarbeit bei der Behandlung (Compliance, 7 Kap. 2.1.3), weil ein Patient nur dann den Empfehlungen des Arztes folgt, wenn sie auch aus seiner eigenen Sicht plausibel sind. 4 Sie beeinflussen das emotionale Befinden: Krebskranke, die eine psychosomatische Krankheitstheorie haben und sich selbst eine Mitschuld an der Entstehung des Tumors zuschreiben, sind depressiver als diejenigen, die das nicht tun. 4 Sie sagen die berufliche Wiedereingliederung voraus. Die vom Patienten abgegebene prognostische Einschätzung, ob er nach Abschluss der Rehabilitation in der Lage sein werde, seine Arbeit wieder aufzunehmen oder nicht, sagt die tatsächliche Wiederaufnahme der beruflichen
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Kapitel 1 · Entstehung und Verlauf von Krankheiten
Tätigkeit am besten vorher, und zwar unabhängig von der Krankheitsschwere (die ebenfalls prognostisch bedeutsam ist).
1.1.3
Die Medizin als Wissensund Handlungssystem
Medizinische Befunderhebung und Diagnose Informationsquellen. Wenn ein Patient zum ersten Mal in die Sprechstunde kommt, muss der Arzt Befunde erheben und eine Diagnose stellen. Hierfür hat er mehrere Informationsquellen zur Verfügung: Er befragt den Patienten nach seinen Beschwerden (Exploration) und erhebt die Vorgeschichte der Krankheit (Anamnese; zur Gesprächsführung 7 Kap. 2.2.2). Gleichzeitig achtet er auf das Verhalten des Patienten, beobachtet z.B., ob ein Patient mit chronischen Rückenschmerzen den Schmerz eher nüchtern oder dramatisch schildert (Verhaltensbeobachtung). Anschließend führt er eine körperliche Untersuchung durch. Er prüft z.B. bei einem Rückenschmerzpatienten die Reflexe am Bein, um festzustellen, ob neurologische Ausfälle vorhanden sind, die eine gezielte Therapie erfordern. In den meisten Fällen lässt sich eine Diagnose allein auf der Basis von Befragung, Anamneseerhebung und körperlicher Untersuchung stellen. Manchmal sind aber weitere medizinisch-technische Untersuchungen (z.B. Laborwerte) notwendig. Insbesondere bildgebende Verfahren haben in den letzten Jahren eine immer größere Bedeutung gewonnen, weil sie sehr detaillierte Informationen über Organstrukturen und -funktionen liefern. Beispiele sind Computertomographie (CT), Kernspintomographie (MagnetResonanz-Tomographie, MRT) und PositronenEmissions-Tomographie (PET). Während CT und MRT Körperstrukturen abbilden, geben PET und funktionales MRT (fMRT) auch über Körperfunktionen Auskunft. Sie erlauben z.B. die Darstellung von Hirnregionen, die bei psychischen Prozessen aktiv sind. Klassifikationssysteme. Zur Diagnosestellung benutzt der Arzt ein Klassifikationssystem, in dem alle verfügbaren Diagnosen zusammengestellt sind. Zwei Klassifikationssysteme sind gebräuchlich:
Merke
5 Die äICD-10 (Internationale Klassifikation der Krankheiten, 10. Version; International Classification of Diseases, herausgegeben von der WHO). 5 Das äDSM-IV (Diagnostisches und Statistisches Manual Psychischer Störungen, 4. Version; Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders, herausgegeben von der American Psychiatric Association).
Die ICD-10 erfasst in 21 Kapiteln körperliche und psychische (Kapitel F) Krankheiten. Sie ist in Deutschland für die Dokumentation von Diagnosen verbindlich. Das DSM-IV wurde für psychische Störungen entwickelt und wird vor allem in wissenschaftlichen Untersuchungen eingesetzt. Beide Diagnosesysteme stimmen bei der Einteilung psychischer Störungen allerdings weitgehend überein. Das DSM-IV ist multiaxial angelegt und erlaubt neben der Diagnose einer psychischen Störung (z.B. Angststörung) auf einer zweiten Diagnoseachse auch die Kodierung einer eventuell zusätzlich vorliegenden Persönlichkeitsstörung (z.B. vermeidendselbstunsichere Persönlichkeitsstörung). Drei weitere Achsen dienen der Verschlüsselung medizinischer Einflussfaktoren (z.B. Erkrankungen des Kreislaufsystems), von psychosozialen Problemen im Umfeld (z.B. berufliche Probleme) sowie des Funktionsniveaus des Patienten (Leistungsfähigkeit im Alltag). Operationale, kriterienorientierte Diagnostik. In
diesen Systemen werden Diagnosen operational definiert, d.h., es ist sehr genau festgelegt, welche Kriterien erfüllt sein müssen, damit eine Diagnose vergeben werden kann. Die Kriterien betreffen die Dauer (z.B. »mindestens 2 Wochen«), Häufigkeit (z.B. »fast jeden Tag«), Intensität (»so stark, dass Funktionsbereiche im Alltagsleben beeinträchtigt sind«) und Anzahl (z.B. »von den folgenden 8 Symptomen müssen mindestens 5 vorhanden sein«) der Symptome. Mit dieser kriterienorientierten Diagnostik lässt sich eine bessere Übereinstimmung unterschiedlicher Beurteiler (höhere Interrater-Reliabilität) erzielen als mit der traditionellen, »intuitiven« klinischen Diagnostik.
1.1 · Bezugssysteme von Gesundheit und Krankheit
Vorteile von Klassifikationssystemen. Klassifikationssysteme erleichtern die Therapieplanung, insofern für viele Diagnosen Therapieempfehlungen (Leitlinien) existieren, die auf dem aktuellen Stand der Forschung basieren (evidenzbasierte Medizin, 7 Kap. 1.3.7). Da sie eine Verschlüsselung (Kodierung) der Diagnosen erlauben, erleichtern sie die Dokumentation. Eine klare, eindeutige Diagnose ist auch für die Kommunikation zwischen den in den Behandlungsprozess einbezogenen Ärzten (z.B. Allgemeinarzt und Facharzt) unbedingt notwendig. Diagnosesysteme müssen jedoch kontinuierlich weiterentwickelt werden, wenn sich neue Ergebnisse der Forschung zeigen. Deshalb liegen sie in inzwischen mehrfach revidierten Versionen vor.
Konvergenz und Divergenz von subjektivem Befinden und medizinischem Befund Subjektives Befinden (illness) und objektiver Befund (disease) stimmen manchmal nicht überein. Menschen mit Bluthochdruck haben meist keine Beschwerden; sie fühlen sich gesund, obwohl sie aus medizinischer Sicht krank sind (»gesunde Kranke«). Umgekehrt kann ein Mensch körperliche Beschwerden haben, ohne dass ein pathologischer Befund vorliegt (»kranke Gesunde«).
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Das unten in der Klinikbox dargestellte Beschwerdebild erfüllt die diagnostischen Kriterien für eine äSomatisierungsstörung nach ICD-10: 1. mindestens 2 Jahre anhaltende multiple und unterschiedliche körperliche Symptome, für die keine ausreichende somatische Erklärung gefunden wurde; 2. hartnäckige Weigerung, die Versicherung anzunehmen, dass keine körperliche Erklärung zu finden ist; 3. Beeinträchtigung familiärer und sozialer Funktionen durch die Symptome. Die Somatisierungsstörung gehört in die Oberkategorie der somatoformen Störungen. »Somatoform« werden diese Störungen genannt, weil sie wie eine somatische Erkrankung aussehen können, ohne dass sich aber eine organische Ursache finden lässt. Typisch für die Somatisierungsstörung sind viele und wechselnde Symptome sowie ein chronischer Verlauf mit Arztwechseln und wiederholten Untersuchungen, die keinen organischen Befund ergeben. Die Patienten sind in ihrer Lebensqualität stark beeinträchtigt, häufig arbeitsunfähig und werden teilweise frühberentet. Manchmal findet sich infolge der vielen Untersuchungen auch einmal per Zufall ein auffälliger Wert, der die Beschwerden aber nicht wirklich erklären kann. Man muss sich dann davor
Klinik
Somatisierungsstörung (somatoforme Störung) Eine 28-jährige Sekretärin kommt mit seit mehreren Wochen bestehenden Oberbauchbeschwerden in die Sprechstunde. Sie klagt über Übelkeit, Aufstoßen, Völlegefühl und Magenschmerzen. Zeitweise kommen auch Blähungen sowie Durchfall und Verstopfung im Wechsel hinzu. Anamnestisch berichtet sie über Herzschmerzen, Herzrasen und anfallsweise Atemnot vor 2 Jahren. Sie leide auch seit vielen Jahren an Kopf- und Rückenschmerzen sowie Menstruationsbeschwerden wechselnder Stärke. Die Patientin fühlt sich durch ihre Beschwerden im Alltag sehr beeinträchtigt und war schon häufig arbeitsunfähig. In jüngster Zeit macht sie sich auch Sorgen, ob hinter den Beschwerden nicht eine schwere Krankheit steht. Auf Befragen gibt sie an,
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oft ängstlich und niedergeschlagen zu sein. Sie leide darunter, dass sie von ihrem Chef nicht die Anerkennung erhalte, die ihr zustehe. Vor zwei Jahren, als die Herzbeschwerden auftraten, habe sie eine schwere Partnerschaftskrise durchlebt, die zur Trennung führte. Zusammenhänge zwischen ihrer Lebenssituation und den Beschwerden weist die Patientin zurück. Die körperliche Untersuchung und die sicherheitshalber durchgeführte Gastroskopie (Magenspiegelung) erbringen keinen pathologischen Befund (wie auch schon entsprechende Untersuchungen in der Vergangenheit). Obwohl der Arzt versucht, der Patientin den negativen Befund vorsichtig nahe zu bringen, reagiert sie ärgerlich und weigert sich, seine Beruhigung zu akzeptieren.
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Kapitel 1 · Entstehung und Verlauf von Krankheiten
hüten, den Patienten, die sehr von einer organischen Verursachung ihrer Beschwerden überzeugt sind, eine Pseudodiagnose zu geben, weil dadurch ihre organbezogene subjektive Krankheitstheorie noch verstärkt würde (iatrogene Fixierung). Hilfreich ist es hingegen, die Patienten regelmäßig zum Gespräch einzubestellen und Schritt für Schritt ein psychosomatisches Krankheitsverständnis zu wecken. Auf diese Weise können die Patienten einen Zusammenhang zwischen ihrer Lebenssituation, belastenden Emotionen und den körperlichen Beschwerden entdecken. Dabei könnte man etwa folgende Frage stellen: »Manchmal haben Menschen solche Beschwerden oder Probleme, weil sie sich wegen irgend etwas Sorgen machen. Ist in der letzten Zeit irgendetwas vorgefallen, was Ihnen Sorgen bereitet?«
1.1.4
Die Gesellschaft
Aus medizinsoziologischer Sicht ist Kranksein (sickness) eine Abweichung von der Norm des Gesundseins (Devianz). Ein Kranker kann die an einen Gesunden gerichteten Rollenerwartungen nicht erfüllen. Er ist nicht in der Lage, seine Arbeit auszuüben. Damit Kranke keine negativen Sanktionen wegen dieser Rollenabweichung erfahren, gibt es rechtliche Regelungen, die ihren Zustand legitimieren: Wenn ein Mensch akut erkrankt ist, kann die Arbeitsunfähigkeit vom Arzt bescheinigt werden (»Krankschreibung«). Als Kranker muss er dann nicht zur Arbeit gehen und erhält Lohnfortzahlung vom Arbeitgeber und später Krankengeld von der Krankenkasse (zur Krankenrolle 7 Kap. 2.1.3). Wenn ein Mensch dauerhaft krankheitsbedingt erwerbsunfähig ist, kann er auf der Basis eines sozialmedizinischen Gutachtens frühberentet werden. Zuvor sollten jedoch die Möglichkeiten der medizinischen Rehabilitation ausgeschöpft werden (»Reha vor Rente«; 7 Kap. 3.1.4). Für die Festlegung des Grades der Pflegebedürftigkeit (Pflegestufen) im Rahmen der Pflegeversicherung ist ebenfalls ein ärztliches Gutachten erforderlich (7 Kap. 3.2.3). Auch die Kosten für eine medizinische Rehabilitationsmaßnahme oder eine Psychotherapie werden erst nach einem ärztlichen Gutachten übernommen.
Soziokulturelle Bewertungen. Gesellschaftliche
Wertvorstellungen beeinflussen auf subtile Weise Kranksein und Krankheit. Einige Beispiele: Essstörungen wie Anorexia nervosa (Magersucht) und Bulimie werden in jüngster Zeit immer häufiger diagnostiziert. Ob es sich dabei um eine reale Zunahme dieser Störungsbilder handelt oder eher um eine größere Aufmerksamkeit bei Betroffenen und Ärzten (»Modekrankheiten«), ist noch unklar. Schlank und fit zu sein sind gegenwärtig zentrale Idealvorstellungen junger Frauen, Diäten und das Essverhalten nehmen in Zeitschriften für Frauen viel Raum ein. Die Mehrzahl der Schülerinnen hat deshalb schon einmal eine Diät ausprobiert. Die Gewichtsabnahme nach einer Diät stellt aber den wichtigsten Auslöser für eine Essstörung dar. Ein weiteres Beispiel für soziale Einflüsse sind neue Krankheitsbilder, die weniger durch ihre Symptome selbst als vielmehr durch die Überzeugung der Betroffenen in Bezug auf die Ursachen der Symptome gekennzeichnet sind. Hierzu gehört die Multiple Chemical Sensitivity, bei der die Betroffenen ihre Beschwerden auf eine Überempfindlichkeit gegen Chemie in der Umwelt zurückführen, ohne dass sich erhöhte Werte spezifischer Substanzen feststellen lassen. Die Beschwerden sind bei diesem ätiologisch unklaren Syndrom vielgestaltig und unspezifisch, so dass sie an eine Somatisierungsstörung denken lassen, und bei einer Teilgruppe der Patienten finden sich auch psychische Auffälligkeiten wie Angst und Depression. Geschlechtsspezifische Unterschiede. Geschlechtsspezifische Unterschiede bestehen nicht nur bei den Essstörungen, die fast ausschließlich bei Frauen vorkommen, sondern auch bei anderen psychischen Störungen: Eine Depression ist bei Frauen doppelt so häufig wie bei Männern. Dazu trägt bei, dass es die Frauenrolle eher erlaubt, seelische Probleme wahrzunehmen, auszusprechen und Unterstützung bei anderen Menschen zu suchen, während Männer dazu neigen, allein mit ihren Problemen fertig werden zu wollen. Auch Somatisierungsstörungen kommen bei Frauen häufiger vor als bei Männern. Bei Männern wiederum sind Persönlichkeitsstörungen häufiger. Ein Beispiel für eine organische Krankheit ist der Herzinfarkt: Er tritt bei Frauen vor dem Klimak-
1.1 · Bezugssysteme von Gesundheit und Krankheit
terium deutlich seltener auf als bei Männern (Schutzwirkung des Östrogens), was dazu führen kann, dass er übersehen wird, weil ein Arzt nicht damit rechnet – zumal die Beschwerden bei Frauen oft untypisch sind. Sie spüren Schmerzen z.B. oft im Bauch und nicht wie die Männer hinter dem Brustbein. Stigmatisierung. Das Verhalten von Menschen mit schweren psychischen Störungen wie einer akuten Psychose, bei der die Realitätsprüfung außer Kraft gesetzt ist, wird von anderen Menschen manchmal als unberechenbar und bedrohlich erlebt. Wenn ein Kranker während des akuten Schubs einer paranoidhalluzinatorischen Schizophrenie Stimmen hört, die sein Handeln kommentieren und ihm Befehle erteilen, oder den Wahn entwickelt, vom Geheimdienst verfolgt zu werden, können seine Handlungen von der Umgebung oft nicht mehr nachvollzogen werden. Möglicherweise verkennt er sein Gegenüber als Geheimagent und greift ihn unvermittelt an. Obwohl es sich bei den bizarren Gewalttaten, über die in den Medien berichtet wird, um Einzelfälle handelt und Gewaltverbrechen bei psychisch Kranken nicht wesentlich häufiger vorkommen als bei Gesunden, verzerren sie doch das Bild des psychisch Kranken in der Öffentlichkeit. Es wird mit einem negativen Stereotyp (Vorurteil) verknüpft. Ein Stigma ist entstanden: »Psychisch Kranke sind gefährlich!« Zwar lassen sich solche Gewalttaten oft nicht vorhersehen, sie wären aber meist zu verhindern, wenn der Betroffene angemessen psychiatrisch behandelt würde. Die Stigmatisierung betrifft nicht nur die Kranken selbst, sondern auch die Institutionen, in denen
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sie behandelt werden. In vielen Filmen werden psychiatrische Kliniken noch immer wie die Irrenanstalten der Vergangenheit dargestellt, in denen die Kranken verwahrt wurden. Die großen psychiatrischen Landeskrankenhäuser »auf der grünen Wiese« haben ihre Bettenzahlen in den letzten Jahrzehnten jedoch drastisch reduziert und umfangreiche therapeutische Angebote eingeführt. Insbesondere die medikamentöse Therapie (Neuroleptika), mit der psychotische Symptome wie Wahn und Halluzinationen unterdrückt werden können, hat die Abkehr von der Verwahrpsychiatrie ermöglicht. Hinzu kommen neuere Ansätze wie wohnortnahe ambulante Therapieangebote, betreute Wohngemeinschaften, Tageskliniken und psychiatrische Abteilungen an allgemeinen Krankenhäusern, die der Stigmatisierung psychisch Kranker entgegenzuwirken versuchen. Antistigma-Programme wie z.B. das Kompetenznetz Schizophrenie oder das Kompetenznetz Depression (7 Kap. 3.2.1) versuchen, durch Öffentlichkeitsarbeit Vorurteilen in der Laienbevölkerung entgegenzuwirken. Diskriminierung. Psychisch Kranke stoßen noch immer auf gesellschaftliche Ablehnung und Benachteiligung. Sie können Schwierigkeiten haben, einen Arbeitsplatz oder eine Wohnung zu finden. In milderer Form kommen Stigmatisierung und Diskriminierung auch bei psychischen Störungen wie einer Depression vor, die einen Gesunden nicht so fremdartig anmuten wie eine Psychose. Aus Angst vor Stigmatisierung wenden sich die Betroffenen zu spät an einen Arzt oder Psychotherapeuten, oder sie präsentieren statt ihrer psychischen Probleme zunächst körperliche Beschwerden, was es dem Arzt er-
Exkurs Labeling-Ansatz. Der Labeling-Ansatz (label = Etikett) versuchte, die Entstehung und Aufrechterhaltung psychischer Störungen damit zu erklären, dass die Etikettierung als »psychisch krank« die Störung erst erzeuge. Sein Verdienst besteht darin, auf Stigmatisierungsprozesse hinzuweisen, die zu einer Verfestigung und Chronifizierung beitragen können (sekundäre Devianz; 7 Kap. 3.1.4). In seinen Thesen in den 70er-Jahren überzieht er sein Argument jedoch, insofern er biologische Bedingungen psychischer Störungen und das Leiden
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der Betroffenen nicht ausreichend berücksichtigt. In seiner modifizierten Form behauptet der Etikettierungsansatz heute nur noch, dass Stigmatisierung den Verlauf einer psychischen Störung ungünstig beeinflusst, vor allem wenn die Betroffenen das Stigma selbst übernehmen. Aus Scham und Schuldgefühlen heraus versuchen sie, die Erkrankung geheim zu halten, ziehen sich von anderen Menschen zurück und entziehen sich dadurch der Möglichkeit, Hilfe und Unterstützung in Anspruch zu nehmen.
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Kapitel 1 · Entstehung und Verlauf von Krankheiten
schwert, die korrekte Diagnose zu stellen. Psychische Störungen wie Depression und Angststörung werden deshalb in der Primärversorgung nur in der Hälfte der Fälle erkannt. Die oben erwähnten Kompetenznetze versuchen, diese Defizite auszugleichen. Eines ihrer Ziele ist es, Wissen und Kompetenz bei den Ärzten in der Primärversorgung zu verbessern, damit psychische Störungen in höherem Maße erkannt und angemessen behandelt werden (7 Kap. 3.2.1). i Vertiefen Flick U (Hrsg) (1998) Wann fühlen wir uns gesund? Subjektive Vorstellungen von Gesundheit und Krankheit. Juventa, Weinheim (Sammelband mit interessanten Beiträgen zum Gesundheitserleben aus Sicht der Patienten) Myrtek M (1998) Gesunde Kranke – kranke Gesunde. Psychophysiologie des Krankheitsverhaltens. Bern, Huber (Einführung in die Konzepte Krankheitsverhalten, Somatisierung, Interozeption) Sackett DL, Haynes RB, Guyatt GH, Tugwell P (1991) Clinical epidemiology. A basic science for clinical medicine. 2. Aufl. Boston, Little, Brown & Co. (grundlegendes Buch über die Prinzipien wissenschaftlich fundierten ärztlichen Handelns)
1.2
Gesundheits- und Krankheitsmodelle
> > Einleitung Im folgenden Kapitel werden unterschiedliche theoretische Modelle von Gesundheit und Krankheit vorgestellt: Verhaltensmodelle, biopsychologische Modelle, psychodynamische Modelle, sozialpsychologische Modelle und soziologische Modelle. Diese Einteilung reflektiert die bis in die jüngste Vergangenheit und zum Teil auch heute noch vorherrschende Zersplitterung der Wissenschaft. Sie ist aber nur noch aus didaktischen Gründen zu rechtfertigen. Gesundheit und Krankheit sind so komplexe Phänomene, dass es nicht angemessen ist, sie nur unter dem Blickwinkel eines einzelnen Modells zu betrachten. Die Ergebnisse der verschiedenen Perspektiven werden heutzutage in zunehmendem Maße miteinander verknüpft. In Studien, die sich auf dem aktuellen Stand der Wissenschaft befinden, werden biologische und psychologische Einflüsse gleich-
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zeitig analysiert. Dies geschieht z.B. in verhaltensgenetischen Untersuchungen, in denen sowohl die Gene wie auch elterliches Verhalten erfasst werden, um das Zusammenwirken von Anlage und Umwelt bei der Persönlichkeitsentwicklung aufzuklären.
1.2.1
Verhaltensmodelle
Das menschliche Verhalten spielt eine wichtige Rolle bei der Entstehung und Bewältigung von Krankheiten. Diejenigen Verhaltensweisen, die sich auf die menschliche Gesundheit auswirken, werden Gesundheitsverhalten genannt. Ein Beispiel für ein günstiges Gesundheitsverhalten ist körperliche Aktivität. Sie schützt vor der Entstehung von Herzerkrankungen und Krebs. Beispiele für ungünstiges, riskantes Gesundheitsverhalten sind Bewegungsmangel, ungesunde Ernährung und Zigarettenrauchen. Diese Verhaltensweisen sind Risikofaktoren für die Entstehung von Herzkrankheiten und Krebs. Das Verhalten eines Menschen, der schon an einer Krankheit leidet, wird als Krankheitsverhalten bezeichnet. Ein Beispiel für ein günstiges Krankheitsverhalten ist die Mitarbeit bei der medizinischen Therapie, z.B. regelmäßige Medikamenteneinnahme (Compliance, 7 Kap. 2.1.3). Hier bestehen allerdings große Defizite: Nur ca. 50% der Patienten befolgen die ärztlichen Ratschläge. Aus den Verhaltensmodellen, die im Folgenden vorgestellt werden, lassen sich Strategien ableiten, wie man das Gesundheits- und Krankheitsverhalten in eine günstige Richtung lenken kann.
Lerntheoretische und kognitionstheoretische Grundlagen Verhaltensmodelle basieren auf der Lerntheorie. Zunächst dominierte hier der Behaviorismus, der nur beobachtbares Verhalten als Gegenstand der Psychologie akzeptierte und die Betrachtung von inneren Prozessen (Introspektion) als unwissenschaftlich ablehnte. Die menschliche Psyche wurde als »black box« betrachtet, in die man nicht hineinsehen kann. Verhalten wurde allein durch Umweltbedingungen zu erklären versucht. Während diese radikale Perspektive damals einen Fortschritt gegenüber einer rein spekulativen Psychologie darstellte und viele (tier-)experimentelle Untersuchun-
11 1.2 · Gesundheits- und Krankheitsmodelle
gen anregte, schoss sie doch über das Ziel hinaus und schränkte die Erkenntnismöglichkeiten der Psychologie unnötig ein. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hat deshalb die sog. »kognitive Wende« stattgefunden. Kognitionen, d.h. Gedanken, Bewertungen, Erwartungen, Ziele etc., werden heute als wichtige verhaltenssteuernde Faktoren angesehen. Die Lerntheorie hat gerade den weiteren Schritt vollzogen, auch unbewusste Lernprozesse anzuerkennen, so dass möglicherweise in nicht allzu ferner Zukunft lerntheoretische und psychodynamische Modelle miteinander kombiniert werden. In diesem Abschnitt werden die Lerntheorien kurz im Überblick dargestellt (7 Kap. 1.4.2). Merke
Die Lerntheorien werden unterschieden in 5 respondentes Modell (klassische Konditionierung), 5 operantes Modell (operante Konditionierung), 5 kognitives Modell (Lernen durch Eigensteuerung, Lernen durch Einsicht).
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unkonditionierten Reiz (unconditioned stimulus, UCS) und einer unkonditionierten Reaktion (UCR): Futter (UCS) löst Speichel (UCR) aus. Nimmt man nun einen neutralen Reiz wie einen Glockenton (der zunächst nur eine Orientierungsreaktion, z.B. ein neugieriges Ohrenaufstellen, provoziert) und setzt ihn mehrfach kurz vor der Futtergabe ein (Koppelung mit dem UCS), so wird der neutrale Reiz zum konditionierten Reiz (CS). Er wirkt wie ein Signal für den darauf folgenden UCS und ist schließlich auch alleine in der Lage, Speichelfluss auszulösen, selbst wenn danach gar kein Futter gegeben wird. Eine konditionierte Reaktion (CR) ist entstanden. Merke
Das Modell der klassischen Konditionierung sieht kurzgefasst so aus: 1. unkonditionierter Reiz (Futter) → unkonditionierte Reaktion (Speichel) 2. neutraler Reiz (Glocke) → Orientierungsreaktion (z.B. Aufstellen der Ohren) 3. konditionierter Reiz (Glocke) nach mehrfacher Koppelung mit unkonditioniertem Reiz (Futter) → konditionierte Reaktion (Speichel)
Respondentes Modell Das respondente Modell betrifft Verhalten, das durch einen Reiz ausgelöst wird. Daher der Name: Das Verhalten stellt die Antwort (response) auf diesen Reiz dar. Synonym ist der Begriff klassische Konditionierung. Begründer dieses Modells ist der russische Physiologe Iwan Pawlow. Im Rahmen seiner Experimente zum Speichelfluss bei Hunden stellte er eher beiläufig fest, dass bei den Versuchstieren schon dann Speichelfluss auftrat, wenn sie den Tierpfleger sahen, der ihnen das Futter brachte, oder ihn auch nur kommen hörten. Der Klang seiner Schritte war zu einem Signal dafür geworden, dass es bald Futter gab. Pawlow führte eine Serie von Experimenten durch, in denen als Signalreiz beispielsweise ein Glockenton verwandt wurde: Regelmäßig kurz vor der Fütterung wurde eine Glocke geläutet. Nach einigen Versuchsdurchgängen löste alleine der Glockenton Speichelfluss aus. Grundlage der klassischen Konditionierung ist ein angeborener Reflex. Dieser besteht aus einem
Bei der klassischen Konditionierung wird eine Assoziation zwischen UCS (Futter) und CS (Glocke) gelernt. Das Individuum entwickelt die Erwartung, dass nach dem CS der UCS eintreten wird. Geschieht dies nicht mehr, d.h. tritt CS auf Dauer nur noch ohne UCS auf, wird die konditionierte Reaktion wieder gelöscht (Extinktion). Dabei verschwindet die Verbindung von UCS und CS aber nicht vollständig. Gelöschte Reaktionen können später erneut auftreten (spontane Erholung). Manche Forscher nehmen an, dass konditionierte Furcht unauslöschlich ist und lediglich gehemmt werden kann. Entstehung einer Phobie. Berühmt geworden ist ein (aus heutiger Sicht ethisch fragwürdiges) Experiment des amerikanischen Begründers des Behaviorimus John B. Watson aus dem Jahr 1920: Einem kleinen Jungen (»der kleine Albert«) wurde eine Ratte gezeigt. Immer wenn er seine Hand nach ihr
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Kapitel 1 · Entstehung und Verlauf von Krankheiten
ausstreckte, schlugen die Experimentatoren hinter seinem Rücken auf eine Eisenstange und erzeugten dadurch lauten Lärm. Albert zuckte zurück und weinte. Nach fünf Durchgängen genügte schon der Anblick der Ratte, Angst auszulösen, ohne dass erneut Lärm gemacht wurde. Lärm ist für Kinder ein unkonditionierter Angstreiz. Durch die Koppelung mit der Ratte wurde eine konditionierte Angstreaktion auf die Ratte erzeugt: Eine Rattenphobie war entstanden. Um die Reaktion wieder zu löschen, müsste der kleine Albert sich mit der Ratte konfrontieren, ohne dass Lärm erschallt, so dass er die Erfahrung machen kann, dass nichts Schlimmes passiert, wenn er die Ratte sieht. Versuche anderer Forscher in den folgenden Jahren, diese Studie zu wiederholen, schlugen allerdings fehl. Heute wird die klassische Konditionierung eines zuvor neutralen Reizes deshalb von manchen Forschern nicht mehr als notwendige Entstehungsbedingung einer Phobie betrachtet. Die meisten Menschen, die eine Phobie entwickeln, haben keine traumatischen Erfahrungen mit dem Objekt ihrer Furcht gemacht. Was als Furchtobjekt ausgewählt wird, hängt vielmehr von einer biologischen Bereitschaft des Reizes ab (preparedness). Dadurch erklärt sich, dass es zwar viele Schlangenphobiker, aber keine Steckdosenphobiker gibt. Watson hat in seinem Experiment mit dem kleinen Albert unabsichtlich einen biologisch vorbereiteten Reiz als CS gewählt (ein kleines behaartes Tier). Möglicherweise sind die Replikationsversuche deshalb fehlgeschlagen, weil die Forscher andere, biologisch sinnlose Reize als CS auswählten. äAntizipatorische
Übelkeit bei Chemotherapie.
Die Chemotherapie mit Zytostatika ist ein bewährtes Verfahren zur Behandlung von Krebskrankheiten. Zytostatika töten schnellwachsende Krebszellen ab. Sie werden nicht nur bei fortgeschrittenen Tumoren eingesetzt, die schon Metastasen gebildet haben, sondern auch als zusätzliche (adjuvante) Maßnahme, z.B. nach einer Operation bei Brustkrebs, um die Gefahr eines Rezidivs zu verringern. Meist erfolgt die Chemotherapie in mehreren Zyklen, zwischen denen die Patienten nach Hause entlassen werden. Viele gebräuchliche Zytostatika haben als Nebenwirkung starke Übelkeit, die direkt im Gehirn ausgelöst wird. Chemotherapeutisch behan-
delte Patienten entwickeln diese Übelkeit im Laufe der Zeit manchmal schon beim Anblick der Klinik oder dem Geruch der Station, wenn sie zu einem erneuten Zyklus aufgenommen werden. Selbst die Farbe der Zytostatikalösung oder die Erwartung (Antizipation), am nächsten Tag wieder in die Klinik gehen zu müssen, können Übelkeit auslösen. Diese antizipatorische Übelkeit (Nausea) lässt sich mit der klassischen Konditionierung erklären: All diejenigen Bedingungen, die während der Chemotherapie zugegen waren, können zum konditionierten Stimulus werden. Mittels Entspannungsverfahren (7 Kap. 2.4.3) lässt sich die konditionierte Übelkeit abmildern. Immunkonditionierung. Zytostatika töten nicht nur
Krebszellen ab. Sie beeinträchtigen auch die Immunabwehr (deshalb werden sie auch bei Transplantationen eingesetzt, um Abstoßungsreaktionen zu verhindern). Ganz analog zur konditionierten Übelkeit hat man bei Chemotherapiepatienten auch eine konditionierte Abschwächung der Immunabwehr festgestellt. Immunkonditionierung wurde experimentell in Tierversuchen ausführlich untersucht: Ratten, die zunächst ein Zytostatikum gemeinsam mit einer Zuckerlösung zugeführt bekamen, zeigten nach mehrfacher Koppelung schließlich auch allein auf die Gabe der Zuckerlösung eine Verminderung von Immunzellen. In einem Experiment mit Menschen hat man die klassische Konditionierung genutzt, um die Immunabwehr zu stärken. Die Versuchspersonen erhielten Adrenalin, das einen kurzfristigen Anstieg der Immunabwehr bewirkt, gemeinsam mit einem Brausebonbon. Nach mehrmaliger gekoppelter Gabe war auch das Brausebonbon für sich genommen in der Lage, den Effekt auszulösen. Allerdings war der Effekt nicht sehr groß und nur kurzfristig vorhanden, so dass unklar bleibt, ob er klinisch von Bedeutung ist. Denkbar, wenn auch bisher nur im Tierexperiment untersucht, ist auch, Konditionierung einzusetzen, um die Abstoßungsreaktion gegenüber Transplantaten abzuschwächen oder Autoimmunerkrankungen wie die rheumatoide Arthritis günstig zu beeinflussen.
Operantes Modell Das Modell der operanten Konditionierung wurde von dem amerikanischen Psychologen Burrhus
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F. Skinner begründet. Er untersuchte die Konsequenzen, die auf ein Verhalten folgen, also von diesem bewirkt werden (daher der Name: operantes Verhalten), und stellte fest, dass die Wahrscheinlichkeit eines Verhaltens steigt (Verstärkung), wenn auf das Verhalten eine angenehme Konsequenz folgt. Tauben, Skinners Versuchstiere, picken auf eine Scheibe, oder Ratten drücken einen Hebel, wenn sie danach eine Futterpille erhalten. Die Wahrscheinlichkeit eines Verhaltens steigt aber nicht nur, wenn es durch eine angenehme Konsequenz belohnt wird (positive Verstärkung), sondern auch dann, wenn dadurch etwas Unangenehmes beseitigt wird (negative Verstärkung). Merke
Negative Verstärkung muss klar von Bestrafung unterschieden werden. Bestrafung verringert die Wahrscheinlichkeit eines Verhaltens, negative Verstärkung erhöht sie.
Vermeidungsverhalten. Negative Verstärkung spielt bei der Aufrechterhaltung einer Phobie eine wichtige Rolle. Eine Person, die an einer Agoraphobie (7 S. 15) leidet, befürchtet z.B., dass sie auf der Straße ohnmächtig werden könnte. Sie verlässt deshalb ihr Haus nicht mehr ohne Begleitung. Dieses Vermeidungsverhalten führt dazu, dass sie die Angst nicht mehr spürt (eine unangenehme Konsequenz bleibt aus), und wird dadurch aufrechterhalten (negative Verstärkung). Der Preis, den sie dafür zahlt, ist aber eine starke Einengung ihres Bewegungsspielraums. Um die Angst zu löschen, wäre es erforderlich, dass sie sich der angstauslösenden
Situation aussetzt (Reizkonfrontation, Exposition), so dass sie die Erfahrung machen kann, dass das befürchtete Ereignis, ohnmächtig zu werden, gar nicht eintritt (7 Kap. 2.4.3).
Kognitives Modell Das kognitive Modell schreibt Kognitionen (Gedanken, Erwartungen, Interpretationen) eine große Bedeutung für die Erklärung des Verhaltens zu. Kognitionen spielen bei der Depression eine wichtige Rolle. Merke
Welche der im Folgenden aufgezählten typischen Symptome einer äDepression finden Sie im untenstehenden Fallbeispiel? 5 niedergeschlagene Stimmung 5 Verlust von Antrieb und Energie 5 Verlust von Lebensfreude und Interessen 5 körperliche Beschwerden: Konzentrationsstörung, motorische Hemmung, Müdigkeit, Schlafstörung, Appetitlosigkeit, Gewichtsabnahme, Schmerzen unterschiedlicher Lokalisation 5 kognitive Symptome: negatives Bild von sich selbst, der Welt und der Zukunft (kognitive Triade), Pessimismus, Sinnlosigkeitsgefühle, Schuldgefühle, Selbstmordgedanken (Suizidalität)
Kognitive Verhaltenstherapie. Das kognitive Modell nimmt an, dass irrationale, automatisch ablaufende Gedanken die depressive Stimmung aufrechterhalten. Daraus folgt, dass man in der Psychotherapie diese Gedanken verändern muss.
Klinik
Depressive Störung Ein 20-jähriger Student kommt in die Sprechstunde. Er sitzt vornüber gebeugt auf dem Stuhl, den Blick zum Boden gerichtet, und spricht mit leiser, monotoner Stimme: »Ich bin völlig niedergeschlagen und ohne Energie. Nichts macht mir mehr Freude. Sogar mich mit meinen Freunden zu treffen, habe ich keine Lust mehr. Morgens ist es am Schlimmsten: Der Tag kommt mir dann wie ein
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riesiger Berg vor, den ich nicht bewältigen kann. Schon der Gedanke, aufzustehen und mich anzuziehen, ist mir zu viel. Am liebsten würde ich im Bett bleiben. Ich fühle mich als völliger Versager. Manchmal hatte ich auch schon den Gedanken, gar nicht mehr auf der Welt sein zu wollen. Alles ist grau in grau, und nichts wird sich jemals daran ändern.«
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Kapitel 1 · Entstehung und Verlauf von Krankheiten
Merke
Die kognitive Verhaltenstherapie einer Depression besteht aus folgenden drei Komponenten: 5 Infragestellung verzerrter, irrationaler Kognitionen im Dialog zwischen Patient und Therapeut (z.B. »Ich werde es nie schaffen, eine Freundin zu finden«); 5 schrittweiser Aufbau angenehmer Aktivitäten, um den Verstärkerverlust zu kompensieren (z.B. Anregung, wieder einmal auszugehen); 5 Training sozialer Kompetenzen im Rollenspiel (z.B. Wie spreche ich im Café jemanden an, der mir gefällt?).
Verhaltensanalytisches Genesemodell Entstehung und Aufrechterhaltung. In einer Ver-
haltensanalyse werden diejenigen Bedingungen beschrieben, die für die Entstehung und Aufrechterhaltung eines Verhaltens verantwortlich sind. Psychische Probleme wie z.B. eine Depression werden dabei als depressives Verhalten aufgefasst. Rückzug von anderen Menschen ist ein Beispiel für eine solche bei depressiven Menschen häufig auftretende Verhaltensweise. Diejenigen Faktoren, die bei der Entstehung des depressiven Verhaltens eine Rolle spielten, müssen nicht unbedingt dieselben sein wie diejenigen, die aktuell dafür sorgen, dass die Depression aufrechterhalten wird. Für die Entstehung kann beispielsweise ein Verlusterlebnis wie die Trennung vom Beziehungspartner verantwortlich sein. Für die gegenwärtige Aufrechterhaltung der Störung spielen aber möglicherweise rückzugsförderliche Kognitionen (»Es wird mir sowieso keine Freude machen, neue Kontakte aufzunehmen.«) eine Rolle. Zusätzlich können noch Bedingungen unterschieden werden, die dazu beitragen, dass ein Individuum besonders anfällig dafür ist, eine Depression zu entwickeln, wie genetische Faktoren oder die individuelle Lerngeschichte, die sich in bestimmten Einstellungen und Wertvorstellungen niederschlägt (»Wenn es einem schlecht geht, ist es am besten, man zieht sich zurück. Hilfe kann man eh keine erwarten.«). Wenn eine derartige Prädisposition besteht, ist das Risiko erhöht, unter belastenden Lebensbedingungen mit einer Depression zu reagieren. Diese
Hintergrundbedingungen werden in der vertikalen Verhaltensanalyse erfasst, in Ergänzung zur horizontalen Verhaltensanalyse, die die aktuell wirksamen aufrechterhaltenden Bedingungen beschreibt. SORKC-Modell. Für die horizontale Verhaltensanalyse benutzt man das SORKC-Modell (Verhaltensgleichung). Das Wort »SORKC« setzt sich aus den Anfangsbuchstaben von Stimulus, Organismus, Reaktion, Konsequenz und Contingenz zusammen. Auf diesen 5 Ebenen werden das problematische Verhalten und die Bedingungen, die es steuern, beschrieben. Als Beispiel soll ein Patient mit ächronischen Rückenschmerzen dienen: 4 Stimulus (S): Die Schmerzen treten immer dann auf, wenn der Patient eine Auseinandersetzung mit einem Arbeitskollegen hat (auslösender Reiz). Besonders stark werden die Schmerzen erlebt, wenn seine Ehefrau anwesend ist (diskriminativer Reiz, SD). 4 Organismus (O): Die Rückenschmerzen treten vor allem dann auf, wenn der Patient schon vorher innerlich angespannt ist, was sich auch in einer Muskelverspannung äußert. Die Schmerzen werden durch katastrophisierende Gedanken gefördert (»Meine Beschwerden werden immer schlimmer! Gegen meinen Kollegen komme ich niemals an! Schlussendlich verliere ich noch meinen Arbeitsplatz!«). Nicht nur körperliche, sondern auch kognitive Einflüsse werden zu den Organismusvariablen gerechnet. 4 Reaktion (R): Unter Reaktion wird die Schmerzsymptomatik selbst beschrieben, und zwar auf sensorischer, vegetativer, emotionaler, kognitiver und motorischer Ebene (7 Kap. 1.2.2). 4 Konsequenz (K): Wenn der Patient seine Schmerzen seiner Frau gegenüber zum Ausdruck bringt, tröstet sie ihn (positive Konsequenz). Sein Arzt schreibt ihn krank, so dass er nicht zur Arbeit gehen muss und dadurch auch nicht mit dem schwierigen Kollegen konfrontiert wird (Wegfall einer negativen Konsequenz). Kurzfristig hat der Schmerz für den Patienten also angenehme Konsequenzen. Langfristig aber führt die körperliche Schonung zu einem Verlust an Fitness (Dekonditionierung, Muskelabbau), die ihn schmerzanfälliger macht. 4 Kontingenz (C): Unter Kontingenz versteht man das Koppelungsverhältnis von Reaktion
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und Konsequenz. Die Ehefrau tröstet den Patienten jedes Mal, wenn er seine Schmerzen äußert (kontinuierliche Verstärkung). Der Hausarzt schreibt ihn jedoch nicht immer krank, ohne dass der Patient genau weiß, wovon dies abhängt (intermittierende Verstärkung). Das SORKC-Modell ist ein einfaches Schema, das der ersten Orientierung dienen kann. In der modernen Verhaltenstherapie bezieht man auch komplexere Wechselwirkungen und Rückkopplungen ein, die über das lineare SORKC-Modell hinausgehen. Entstehung von äPanikstörungen. Eine Panikstörung ist durch plötzliche, auf den ersten Blick ohne äußeren Anlass auftretende Angstanfälle (Panikattacken) gekennzeichnet. Die Anfälle gehen mit sehr intensiv erlebten körperlichen Beschwerden einher: Herzklopfen oder Herzrasen, Schwindel oder Benommenheit, Atemnot, aber auch Schweißausbrüche, Brustschmerzen, Übelkeit, Zittern, Hitze- und Kältegefühl, Taubheitsgefühle u.a. Die Betroffenen befürchten, ohnmächtig oder hilflos zu werden oder gar zu sterben. Auch zwischen den Anfällen sind sie ständig in Sorge vor neuen Anfällen (»Angst vor der Angst«) und deren Folgen, befürchten z.B., infolge der Angst einen Herzinfarkt zu erleiden. Wenn die Anfälle schon einmal in der Öffentlichkeit aufgetreten sind, versuchen sie, öffentliche Orte zu vermeiden. Dann liegt zusätzlich zur Panikstörung eine Agoraphobie (Angst vor öffentlichen Orten) vor. Panikpatienten nehmen ihre Körperempfindungen besonders stark war, »bemerken« z.B. einen starken Pulsanstieg, auch wenn der Puls objektiv nur wenig schneller ist, und interpretieren die Empfindung in übertriebener Weise als bedrohlich. Es kommt dann zu einem Teufelskreis, in dem sich kognitive Faktoren (Interpretation von Körperempfindungen als bedrohlich) und physiologische Faktoren (Herzklopfen als körperliche Begleiterscheinung der Angst; 7 Aktivierung, Kap. 1.2.2) gegenseitig aufschaukeln (. Abb. 1.1).
Verhaltenstherapie, Verhaltensmedizin Verhaltenstherapie. Verhaltenstherapie ist diejenige Psychotherapieform, die auf den Lerntheorien beruht (7 Kap. 2.4.3). Sie analysiert die funktionellen Zusammenhänge eines Verhaltens mit den unmittel-
. Abb 1.1. Teufelskreis der Angst (aus Margraf u. Schneider 2000)
bar vorausgehenden und nachfolgenden Bedingungen, also den auslösenden Reizen und den Konsequenzen (SORKC-Modell). Die kognitive Verhaltenstherapie der Depression haben wir schon kennen gelernt. Die kognitive Verhaltenstherapie bei einer Panikstörung hat drei Komponenten: 4 Informationsvermittlung: Gemeinsam mit dem Patienten wird herausgearbeitet, welche Rolle seine Wahrnehmungen und Kognitionen beim Angstanfall spielen. Das Teufelskreismodell von . Abb. 1.1 wird auf diese Weise individuell auf den Patienten zugeschnitten. 4 Kognitive Therapie: Der Patient lernt im Dialog mit dem Therapeuten, seine Fehlinterpretationen körperlicher Empfindungen als Anzeichen einer bedrohlichen Krankheit infrage zu stellen und aufzugeben. 4 Konfrontation mit angstauslösenden Reizen: Durch »Verhaltensexperimente«, wie z.B. schnelles Treppensteigen oder absichtliches Hyperventilieren, setzen sich die Patienten den körperlichen Symptomen (Herzklopfen, Atemnot) aus und machen dabei die Erfahrung, dass nichts Schlimmes passiert. Stressmanagement. Kognitive Faktoren spielen auch bei der Stressbewältigung eine wichtige Rolle.
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Kapitel 1 · Entstehung und Verlauf von Krankheiten
In Programmen zum Stressmanagement, wie dem Stressimpfungstraining von Meichenbaum, lernen die Patienten, dysfunktionale automatische Gedanken, die die Belastung noch vergrößern (»Niemals werde ich das schaffen!«), infrage zu stellen und durch förderliche Selbstinstruktionen zu ersetzen (kognitive Umstrukturierung). Anstatt zu denken »Die Ereignisse überschwemmen mich!«, sagen sie zu sich selbst: »Immer mit der Ruhe! Eins nach dem anderen!« Wenn man die Situation als Herausforderung betrachtet, die man Schritt für Schritt bewältigen kann, sind Überforderungsgefühle weniger wahrscheinlich. Die Patienten werden zudem angeleitet, Strategien der systematischen Problemlösung einzusetzen, Handlungsalternativen abzuwägen, die beste Lösung auszuwählen und ihre Wirksamkeit zu überprüfen. Verhaltensmedizin. Wenn man verhaltenstherapeutische Strategien in der Medizin anwendet, nennt man dies Verhaltensmedizin (7 Kap. 3.2.2). Gesundheits- und Krankheitsverhalten lassen sich am besten verändern, wenn man die individuell wirksamen Faktoren analysiert, die das Verhalten steuern (individuelle Verhaltensanalyse). Auf diese Weise lässt sich beispielsweise die Motivation fördern, mit dem Rauchen aufzuhören und körperlich aktiver zu werden. Der Aufbau neuer Verhaltensweisen muss dabei schrittweise erfolgen, damit keine Überforderung eintritt und Misserfolgserlebnisse vorprogrammiert sind. Schon kleine Erfolge sollten gelobt (verstärkt) werden. Hindernisse hingegen, die dem neuen Verhalten entgegenstehen, sollten angesprochen werden, um Wege zu finden, sie beiseite zu räumen. Verhaltensmedizinische Ansätze spielen auch bei der Patientenschulung (7 Kap. 2.4.2) und der Schmerzbewältigung (7 Kap. 1.2.2) eine wichtige Rolle.
Verhaltensgenetik Die Verhaltensgenetik untersucht genetische Einflüsse auf das Verhalten. Dabei benutzt sie Korrelationen zwischen Personen unterschiedlichen Verwandtschaftsgrads und damit unterschiedlicher genetischer Ähnlichkeit (z.B. sind eineiige Zwillinge 100% genetisch ähnlich, zweieiige Zwillinge/Geschwister 50%, Adoptivgeschwister 0%). Eine Zwillingsstudie erlaubt es, aus der größeren psychischen
Ähnlichkeit eineiiger im Vergleich zu zweieiigen Zwillingen die Erblichkeit zu schätzen. Besonders interessant sind auch Korrelationen zwischen getrennt aufgewachsenen eineiigen Zwillingen, deren Ähnlichkeit nicht auf gemeinsame Umwelterfahrungen zurückgehen kann. Getrennt aufgewachsene Zwillinge korrelieren in Persönlichkeitsmerkmalen genauso hoch miteinander wie gemeinsam aufgewachsene, was für eine geringe Bedeutung der gemeinsamen Umwelt spricht. In einer Adoptionsstudie vergleicht man die Ähnlichkeit von leiblichen und Adoptivgeschwistern, die in derselben Umwelt aufgewachsen, genetisch einander aber nicht ähnlich sind. Adoptivgeschwister korrelieren in Persönlichkeitsmerkmalen nicht miteinander, wohl aber mit ihren biologischen Eltern, was ebenfalls für die geringe Bedeutung der gemeinsamen Umwelt spricht. Die besten Schätzungen der einzelnen Anteile von Anlage und Umwelt erbringen Kombinationsstudien, in denen Menschen unterschiedlicher genetischer Ähnlichkeit und unterschiedlicher Umwelt gemeinsam analysiert werden. Einflussfaktoren. In der Verhaltensgenetik werden folgende Einflussfaktoren unterschieden: 4 genetische Faktoren, 4 gemeinsame (geteilte) und 4 individuelle (nichtgeteilte) Umwelteinflüsse.
Während die gemeinsame Umwelt zu einer größeren Ähnlichkeit zwischen den Mitgliedern einer Familie beiträgt, bewirken individuelle, nichtgeteilte Umwelteinflüsse, dass die Mitglieder einer Familie einander unähnlich werden. Nichtgeteilte Umwelteinflüsse kommen häufig dadurch zustande, dass ein und dasselbe Ereignis von den Mitgliedern einer Familie unterschiedlich verarbeitet wird. Unter nichtgeteilter Umwelt werden jedoch nicht nur psychosoziale Einflüsse gefasst, sondern auch Einflüsse der physikalischen Umwelt (z.B. während der Schwangerschaft) und des Messfehlers (Abweichungen durch ungenaue Messungen des psychischen Merkmals). Gen-Umwelt-Interaktion. Von Gen-Umwelt-Interaktion spricht man, wenn die Wirkung eines Gens davon abhängt, ob eine spezifische Umweltbedin-
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Merke
Die Verhaltensgenetik hat für alle bisher untersuchten psychischen Merkmale mehr oder minder starke genetische Einflüsse gefunden. Für psychische Störungen gilt: 5 starker Einfluss der Gene bei Autismus, Schizophrenie (7 Kap. 1.4.1) und bipolarer affektiver Störung (manisch-depressive Erkrankung), 5 mittelgroßer Einfluss der Gene bei Depression, Angststörungen und Substanzmissbrauch/-abhängigkeit.
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oder zwei kurze Allele dieses Gens (mit geringerer Transkriptionseffizienz) trugen, hatten nach belastenden Lebensereignissen mehr depressive Symptome, waren stärker suizidgefährdet und entwickelten häufiger eine ausgeprägte Depression als Menschen mit zwei langen Allelen, die gegenüber den negativen Auswirkungen der Lebensereignisse geschützt waren. Bildgebende Verfahren deuten darauf hin, dass bei Menschen, die das kurze Allel aufweisen, das Angstzentrum im Gehirn (Amygdala) stärker auf bedrohliche Reize aus der Umgebung anspricht (7 Kap. 1.4.1, 1.4.4). Merke
Gene wirken aber nicht nur bei psychischen Störungen, sondern auch bei normalen Persönlichkeitsmerkmalen, deren Ausprägung quantitativ variiert (7 Kap. 1.4.6).
gung vorliegt oder nicht. Oder umgekehrt, wenn eine schädliche Umweltbedingung nur dann wirksam wird, wenn auch eine genetische Disposition (Vulnerabilität) besteht. So konnten Adoptionsstudien zeigen, dass die Häufigkeit antisozialen Verhaltens bei nach der Geburt von ihren Müttern getrennten und in Adoptivfamilien aufgenommen Kindern nur dann erhöht war, wenn sowohl ein biologisches Risiko (antisoziales Verhalten der leiblichen Mutter) als auch ein Umweltrisiko (Probleme in der Adoptivfamilie) bestanden, nicht aber, wenn nur einer der beiden Risikofaktoren vorlag. Eine molekulargenetische Untersuchung konnte demonstrieren, dass das Risiko antisozialen Verhaltens im Erwachsenenalter bei Menschen, die in ihrer Kindheit misshandelt worden waren, dann stark erhöht war, wenn sie eine wenig effiziente Form des Monoaminoxidase-AGens trugen. Die Aufgabe des vom MAOA-Gens kodierten Enzyms besteht darin, Neurotransmitter wie Noradrenalin, Serotonin und Dopamin zu metabolisieren und deren Funktion zu regulieren. Ein voll funktionsfähiges Gen stellte einen Schutzfaktor gegenüber der Entwicklung antisozialen Verhaltens dar. In einer ähnlichen Studie zeigte sich, dass der Einfluss belastender Lebensereignisse auf die Entstehung einer Depression vom Serotonin-Transporter-Gen abhing (7 Kap. 1.4.1). Menschen, die ein
Gene und Umwelterfahrungen wirken bei der Entstehung psychischer Störungen zusammen.
Gen-Umwelt-Korrelation. Gen-Umwelt-Korrelation bedeutet gemeinsames Auftreten bestimmter Gene und bestimmter Umweltfaktoren. Sie kann auf dreierlei Weise zustande kommen: 4 aktiv, d.h. selbst hergestellt oder ausgewählt. Menschen suchen sich ihre Umwelt aus, gestalten und verändern sie. Sie tun dies auch auf der Basis genetisch verankerter Persönlichkeitsmerkmale und Vorlieben. Beispiel: Ein Kind sucht sich die Spielgefährten, die zu seinem Temperament passen. Dies führt zu einer Stabilisierung der Persönlichkeitsentwicklung im Laufe des Lebens; 4 evokativ oder reaktiv, d.h. vom Kind ausgelöst. Die Umwelt reagiert auf genetisch beeinflusste Persönlichkeitsmerkmale. Beispiel: Das Verhalten des Kindes löst ein komplementäres elterliches Verhalten aus; liebenswürdige Kinder erfahren mehr Wärme und Zuwendung, schwierige Kinder mehr negative Reaktionen; 4 passiv, d.h. von außen bewirkt. Eine passive Korrelation kommt ohne Zutun des Genträgers und ohne Reaktion der Umwelt zustande, sondern einfach deshalb, weil Eltern und ihre Kinder zum Teil dieselben Gene haben. Beispiel: Intelligente Eltern schaffen für ihre Kinder eine anregende Lernumwelt und haben zugleich eher (genetisch vermittelt) intelligente Kinder. Deshalb korreliert die Zahl der Bücher in einem Haushalt auch dann mit der Intelligenz der Kin-
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Kapitel 1 · Entstehung und Verlauf von Krankheiten
der, wenn diese Bücher überhaupt nicht gelesen werden. Aus einer Korrelation zwischen Umweltfaktoren und Verhaltensweisen darf deshalb nicht vorschnell auf einen kausalen Einfluss der Umwelt geschlossen werden, wie es in der Entwicklungspsychologie und Sozialisationsforschung früher häufig getan wurde. Vielmehr kann diese Korrelation genetisch vermittelt sein. i Vertiefen Ehlert U (Hrsg) (2003) Verhaltensmedizin. Springer, Berlin (Überblick über Anwendungsgebiete der Verhaltenstherapie in der Medizin) Lefrancois G (1998) Psychologie des Lernens. 3. Aufl. Springer, Berlin (klassisches Lehrbuch) Margraf J (Hrsg) (2000) Lehrbuch der Verhaltenstherapie. 2. Aufl. Springer, Berlin (hervorragende, praxisorientierte Darstellung) Plomin R, DeFries JC, McClearn GE, McGuffin P (2001) Behavioral Genetics. 4th ed. Freeman, New York (didaktisch gut aufgebautes Lehrbuch) Stockhorst U, Klosterhalfen S (2005) Lernpsychologische Aspekte in der Psychoneuroimmunologie (PNI). Psychother Psych Med 55: 5–19 (aktuelle Forschungsübersicht)
1.2.2
Biopsychologische Modelle
Informationsverarbeitung und Aufmerksamkeit Bewusste und unbewusste Informationsverarbeitung. Das menschliche Sinnessystem ist jede Se-
kunde mit ca. 11 Mio. Reizen (allein 10 Mio. visueller Art) konfrontiert. Nur ein Bruchteil davon dringt bis zur bewussten Wahrnehmung vor. Wichtig daran ist nun, dass diejenige Information, die nicht ins Bewusstsein vordringt, keinesfalls einfach ungeprüft ausgefiltert, sondern zuvor einer unbewussten Analyse unterzogen wird. Wie eine Internet-Suchmaschine, die Millionen von Dateien scannt, entscheidet diese Analyse darüber, ob ein Reiz weitergeleitet wird oder nicht. Nur Information, die neu ist oder einen besonderen Handlungsplan erfordert, wird in den Fokus der Aufmerksamkeit gerückt. Und nur diese Information, auf die unsere Aufmerksamkeit gelenkt wurde, kann bewusst wahrgenommen und weiterverarbeitet werden. Die Information wird aus dem sensorischen Speicher, der
zwar viel Information enthält, sie aber nur für ganz kurze Zeit zur Verfügung hat, ins Kurzzeitgedächtnis (Arbeitsgedächtnis) übernommen. Dort kann eine bewusste, willentliche Analyse erfolgen, die mehr Ressourcen benötig. Während die unbewusste Analyse schnell, »online«, im Hier und Jetzt, automatisch, aber auch etwas rigide und grob abläuft, ist die bewusste Analyse eher langsam, »offline« und in die Zukunft gerichtet; sie erfordert Anstrengung, ist aber dafür auch genauer, detaillierter und flexibler. Subliminale Wahrnehmung. Auch diejenige Infor-
mation, die lediglich unbewusst analysiert wurde, beeinflusst Gefühle und Verhalten. Nicht nur in Gefahrsituationen, in denen Effizienz und Geschwindigkeit besonders wichtig sind, auch im Alltag nehmen wir kontinuierlich unbewusste Bewertungen der Situationen vor, in der wir uns befinden, und diese Bewertungen steuern unser Handeln. Dieses adaptive Unbewusste kann man mit der AutopilotFunktion eines Flugzeugs vergleichen. Es ermöglicht uns, effektiv die eingehende Information zu analysieren und unser Verhalten entsprechend anzupassen, ohne dass hierfür bewusste Überlegungen notwendig wären. Die Wirkung der subliminalen (unterschwelligen) Wahrnehmung lässt sich auch experimentell nachweisen. Emotional bedeutsame Inhalte, die so kurz (tachistoskopisch, 1–5 ms) dargeboten werden, dass sie nicht bewusst wahrgenommen werden können, haben dennoch Auswirkungen. Ein Beispiel: Wenn den Versuchpersonen eines Experiments tachistoskopisch Begriffe wie »unfreundlich« oder »feindselig« präsentiert wurden (priming), bewerteten sie nachher das Verhalten anderer Personen negativer, ohne dass sie sich der Beeinflussung durch das unterschwellig präsentierte Wort bewusst waren. Dass sich in Werbespots versteckte subliminale Botschaften auf das Kaufverhalten auswirken, konnte bisher allerdings nicht nachgewiesen werden. Primat des Affekts. Gefühle treten häufig schon vor
der bewussten Wahrnehmung einer Situation auf. In einer Schrecksituation, wenn mir z.B. auf der Autobahn im Bereich einer Baustelle auf meiner Spur ein anderes Fahrzeug entgegenkommt, handele ich so-
19 1.2 · Gesundheits- und Krankheitsmodelle
fort und ziehe das Lenkrad nach rechts, möglichst ohne mit dem auf der rechten Spur fahrenden LKW zu kollidieren; erst nachher wird mir bewusst, in welcher Gefahr ich mich befand. Dieses Prinzip »erst handeln, dann denken« ist evolutionär sinnvoll, weil eine bewusste Analyse in dieser Situation zu lange dauern würde, als dass eine rechtzeitige Antwort auf die Gefahr möglich wäre. Sinnesreize werden deshalb schnell und direkt an Gehirnzentren weitergeleitet, die für die emotionale Bewertung zuständig sind (Amygdala: Mandelkern) und kommen auf einem langsameren Weg erst etwas später im Großhirn an, wo die bewusste Verarbeitung stattfindet. Die Hirnzentren, die die emotionale Verarbeitung steuern, sind evolutionsgeschichtlich älter als diejenigen Zentren, die die kognitive Analyse durchführen (7 Kap. 1.4.4). Sie stellen ein »Frühwarnsystem« dar, das sofort vegetative und verhaltensmäßige Reaktionen auslöst, um Kampf oder Flucht zu ermöglichen (fight/flight). Obwohl die meisten Gefahrensituationen aus der Frühzeit des Menschen, wie Angriffe wilder Tiere, in der modernen Zivilisation nicht mehr vorkommen, hat sich doch dieses Frühwarnsystem erhalten. Wird es kontinuierlich aktiviert, wie unter chronischem Stress oder bei einer Depression, kann es schädliche körperliche Effekte haben und zur Entstehung von Krankheiten beitragen.
Emotion, Stress und Krankheit Merke
Stress. Stress ist die Reaktion eines Individuums auf eine belastende Situation. Der Belastungsfaktor, der diese Stressreaktion auslöst, wird Stressor genannt. Stress tritt auf, wenn die Anforderungen der Umwelt die Bewältigungsmöglichkeiten des Individuums übersteigen.
Dann geht das harmonische Gleichgewicht zwischen Individuum und Umwelt (Homöostase) verloren. Der Begriff Homöostase geht auf Walter Cannon zurück, der Begriff Stress auf Hans Selye. Er beschrieb Stress als unspezifische Antwort des Organismus auf eine Störung der Homöostase (allgemeines Adaptationssyndrom), die in 3 Phasen verläuft:
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Merke
Allgemeines Adaptationssyndrom 5 Alarmphase: Stimulierung des sympathischen Nervensystems. Mobilisierung von adrenocorticotropem Hormon (ACTH) in der Hypophyse 5 Widerstandsphase: Cortisolausschüttung als Folge der ACTH-Ausschüttung 5 Erschöpfungsphase: Dekompensation der Stressreaktion bei chronischem Stress
Spezifische Reaktionen. Allerdings müssen nach heutigem Kenntnisstand unterschiedliche Stressoren keineswegs immer zu den gleichen Reaktionen führen. Im Stressmodell von Henry werden spezifische Reaktionen je nach Stresssituation beschrieben: Furcht (Fluchtsituation) geht mit Adrenalinanstieg, Ärger (Kampf) mit Noradrenalin- und Testosteronanstieg, Depression (Kontrollverlust, Unterordnung) mit Cortisolanstieg und Testosteronabfall einher (stimulusspezifische Reaktion). Umgekehrt besitzt ungefähr ein Drittel der Menschen die Neigung, auf unterschiedliche Stressoren immer auf die gleiche Art und Weise zu reagieren (individualspezifische Reaktion). Allostase. Im Unterschied zu homöostatischen Sys-
temen des inneren Milieus (z.B. ph-Wert des Bluts), die einen festen Sollwert haben und in engen Grenzen reguliert werden, erlauben allostatische Systeme der Umweltanpassung eine Sollwertverschiebung und damit eine Regulation innerhalb eines breiteren Korridors und dadurch eine bessere Anpassung (Homöostase-Allostase-Modell). Aktive Gegenregulationen setzen ein, um das durch Stress gestörte Gleichgewicht wiederherzustellen. Reaktionen, die ursprünglich zur Bewältigung von Stress dienten, können jedoch überschießen oder chronisch werden. Dann ist es nicht der Stress selbst, sondern der gegenregulatorische Mechanismus, der eine Schädigung bewirkt (allostatische Belastung). Akuter Stress ist nicht generell schädlich. Erst eine Stressreaktion, die zu lange oder zu häufig (chronische Stressoren) sowie ohne physiologische Notwendigkeit (psychosoziale Stressoren) auftritt, kann pathogen wirken. Es kann dann zu einer Fehlregulation allostatischer Systeme kommen (z.B. chronische Überproduktion von Stressbotenstoffen wie Cortisol und Noradrena-
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Kapitel 1 · Entstehung und Verlauf von Krankheiten
lin und Herunterregulation ihrer Rezeptoren), die zu Krankheiten führen können (z. B. Bluthochdruck als Risikofaktor für koronare Herzkrankheit und Schlaganfall).
Hypothalamus-Hypophysen-NebennierenrindenAchse. Der Hypothalamus, der Eingangssignale
Situation zum Stressor wird, hängt maßgeblich von der subjektiven Bewertung und den Bewältigungsmöglichkeiten des Individuums ab (7 Kap. 1.4.6). Ein und dieselbe Situation kann von einem Menschen als Herausforderung, die er sich zu bewältigen zutraut, von einem anderen Menschen hingegen als Bedrohung, der er hilflos ausgeliefert ist, interpretiert werden. Nur im zweiten Fall entsteht Stress. Ob Stress schließlich zu Krankheit führt, hängt darüber hinaus von der Disposition des Individuums ab (Stress-Vulnerabilitäts-Modell; syn. Stress-Diathese-Modell; Beispiel: Zusammenwirken von belas-
vom Mandelkern (Amygdala) im limbischen System erhält (Angstzentrum), bewirkt durch Abgabe von Corticotropin-Releasing-Hormon (CRH) die Sekretion von adrenocorticotropem Hormon (ACTH) aus der Hypophyse ins Blut, das wiederum die Nebennierenrinde zur Bildung von Cortisol anregt. Cortisol dient ebenfalls der Bereitstellung von Glucose, es hemmt die Fettsynthese sowie Entzündungsprozesse, aber auch die Immunabwehr. Corticoide werden bei Organtransplantationen gegeben, um eine Immunsuppression zu bewirken und dadurch eine Abstoßung des transplantierten Organs zu verhindern. Cortisol spielt auch bei der Steuerung von Emotionen eine Rolle. Hohe Dosen bewirken eine Depression.
tenden Lebensereignissen und der genetischen Anlage bei der Entstehung einer Depression, 7 Kap. 1.2.1).
Psychoneuroimmunologie. Dieses Forschungsge-
Subjektive Bewertung und Disposition. Ob eine
Physiologische Pfade. Die Stressreaktion stellt eine
ehemals evolutionär sinnvolle Reaktion auf Bedrohung dar, indem sie die physiologischen Voraussetzungen für Kampf oder Flucht schafft. Dies geschieht über zwei Wege: 4 das Hypothalamus-Sympathikus-Nebennierenmark-System, 4 die Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse. Hypothalamus-Sympathikus-NebennierenmarkSystem. Der Sympathikus ist eines der beiden Haupt-
bestandteile des vegetativen Nervensystems. Er steuert diejenigen Prozesse, die eine Aktivierung (s.u.) des Organismus bewirken. (Der andere Hauptbestandteil ist der Parasympathikus oder Vagus, der Erholungsprozesse steuert.) Aktivierung bedeutet psychophysische Erregung und Bereitstellung von Energie. Die Wirkungen des Sympathikus auf den Organismus werden durch Adrenalin und Noradrenalin (Katecholamine) vermittelt, die im Nebennierenmark gebildet werden: Herzfrequenz und Blutdruck steigen an, die Muskeldurchblutung wird gefördert, als Energiequelle wird Glucose bereitgestellt. Diese Reaktion geschieht sehr schnell (innerhalb von Sekunden), die nachfolgend dargestellte zweite Achse braucht länger (mehrere Minuten) bis zur Aktivierung.
biet untersucht Zusammenhänge zwischen Stress und Emotionen, dem Gehirn und dem Immunsystem. In den letzten 30 Jahren wurden mehr als 300 Studien zu dieser Thematik durchgeführt. Das Immunsystem setzt sich aus der zellulären unspezifischen Immunabwehr (z.B. natürliche Killerzellen) und der zellulären spezifischen Immunabwehr (T-Lymphozyten: T-Helfer-Zellen, T-Suppressor-Zellen, zytotoxische T-Zellen) sowie der unspezifischen (z.B. Komplementsystem) und spezifischen (Antikörper) humoralen Immunabwehr zusammen. Die anatomischen und zellbiologischen Voraussetzungen der Zusammenhänge zwischen Psyche bzw. Gehirn und Immunsystem sind dadurch gegeben, dass lymphatische Organe innerviert sind und Lymphozyten Rezeptoren für Neurotransmitter tragen. Umgekehrt produzieren Immunzellen Botenstoffe, die Zytokine (Interleukine, Interferone und Tumornekrosefaktoren), die nicht nur die Kommunikation innerhalb des Immunsystems bewerkstelligen, sondern auch psychische Effekte haben. Eine Aktivierung des Immunsystems macht sich in Veränderungen des Befindens deutlich, die sich als Krankheitsverhalten wie z.B. bei einem Infekt äußern: reduzierte Aktivität, sozialer Rückzug, vermehrte Schmerzempfindlichkeit, Appetitlosigkeit und Depressivität.
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Exkurs Beeinträchtigung der Gedächtnisbildung. Lang dauernde Cortisolüberproduktion führt zu einer Atrophie des Hippocampus, einer für die Gedächtnisbildung wichtigen Hirnstruktur im limbischen System. Dies ließ sich im Tierexperiment zeigen. Der Befund fand sich auch bei Vietnam-Veteranen, die an einem äposttraumatischen Belastungssyndrom (posttraumatic stress disorder, PTSD) litten, einer psychischen Störung, bei der sich noch lange nach einem traumatischen Erlebnis intensive Bilder der traumatischen Situation aufdrängen (flashbacks), obwohl (oder wahrscheinlich: gerade weil) die Patienten versuchen, alle Gedanken oder Situationen zu vermeiden, die sie
an die erlebte Situation erinnern. Die Betroffenen fühlen sich einerseits emotional abgestumpft, andererseits leiden sie an vegetativen Stresssymptomen. Nach neueren Untersuchungen ist es allerdings unklar, ob das verminderte Hippocampusvolumen tatsächlich eine Folge der posttraumatischen Belastungsstörung ist. Vergleicht man traumatisierte Vietnamveteranen mit ihren eineiigen Zwillingen, die zu Hause geblieben waren und nicht traumatisiert wurden, so zeigen diese ebenfalls einen kleineren Hippocampus. Dies spricht dafür, dass die Verkleinerung schon vorher bestand und lediglich das Risiko erhöht, eine PTSD zu entwickeln.
Merke
Merke
Generell verbessert akuter Stress die Immunantwort, während chronischer Stress sie hemmt.
Chronische Stressoren, die als unkontrollierbar erlebt werden, wie die Betreuung eines an M. Alzheimer erkrankten Angehörigen, sind mit einer globalen Immunsuppression verbunden.
Der Anstieg der unspezifischen Immunantwort bei akutem Stress ist evolutionär sinnvoll, weil dadurch die Heilung einer Wunde, z.B. bei einem Angriff, gefördert würde. Bei akuten, zeitlich begrenzten Laborstressoren, wie z.B. eine öffentliche Rede halten, steigt die Zahl der natürlichen Killerzellen an. Prüfungsstress geht mit einer Verschiebung von der zellulären hin zur humoralen Immunantwort und einer verlängerten Wundheilung einher. Verlusterlebnisse wie der Verlust des Partners führen zu einer verminderten Zahl von natürlichen Killerzellen.
Die schädliche Wirkung von chronischen Stressoren auf das Immunsystem wird wahrscheinlich über eine zu lange anhaltende Sekretion von Cortisol vermittelt, die zu einer Herunterregulation von zellulären Cortisolrezeptoren führt. Dadurch wird die Fähigkeit der Zelle eingeschränkt, auf entzündungsfördernde Zytokine (z.B. Interleukin 6) zu reagieren. Alte Menschen und Kranke sind anfälliger für die Wirkungen von Stress auf das Immunsystem. Umge-
Exkurs Sympathikusaktivierung und äHerz-Kreislauf-Risiko. Körperlich gesunde Menschen, die an einer Depression leiden, haben im Vergleich zu Nichtdepressiven ein zweimal so hohes Risiko für die Entwicklung einer koronaren Herzkrankheit. Bei Menschen, die schon einen Herzinfarkt erlitten haben, besteht bei Vorliegen einer Depression ebenso ein ca. doppelt so hohes Risiko, an einem erneuten Infarkt zu versterben. Wenngleich es noch nicht völlig geklärt ist, ob Depression einen kausalen Risikofaktor dar-
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stellt oder lediglich einen Risikoindikator, der zwar das Eintreffen eines Krankheitsereignisses voraussagen lässt, es aber nicht ursächlich beeinflusst, so sind doch mehrere biologische Mechanismen plausibel, die den Einfluss einer Depression auf die koronare Herzkrankheit vermitteln könnten: Sympathikusaktivierung. Bei einer Depression ist das sympathoadrenerge System überaktiv, mit Zunahme von Herzfrequenz, Blutdruck und Kontraktilität (erhöhte kardiovaskuläre Reaktivität), was
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Kapitel 1 · Entstehung und Verlauf von Krankheiten
wiederum Endothelschädigungen und Atherosklerose (Arteriosklerose) begünstigt. Aktivierung des Hypothalamus-HypophysenNebennierenrinden-Systems. Depression und Stress gehen mit einer erhöhten Sekretion von Cortisol einher. Cortisol ist wiederum ein Risikofaktor für Hypertonus, Hyperlipidämie und Atherosklerose. Verminderte Herzfrequenzvariabilität. Diese ist Ausdruck des erhöhten sympathischen und des reduzierten vagalen Tonus und stellt einen Risikofaktor für Herzrhythmusstörungen und den plötzlichen Herztod dar. Stressbedingte Ischämie. Stress kann durch die Steigerung von Herzfrequenz und Kontraktilität unmittelbar einen Sauerstoffmangel (Ischämie) im Herzmuskel bewirken. Dieser Mechanismus ist vermutlich für die erhöhte Herzinfarktrate während aufregenden Fußballspielen verantwortlich. Blutgerinnung und Plättchenaggregation. Stress und Depression gehen mit einer Aktivierung der Blutgerinnung und der Thrombozyten, die Serotoninrezeptoren tragen, einher. Dies fördert die Bildung von Thromben in verengten Herzkranzgefäßen, mit der Folge eines Herzinfarkts.
kehrt können Optimismus, eine gute Bewältigungsfähigkeit und emotionale Unterstützung durch andere Menschen die schädliche Wirkung abschwächen (7 Kap. 1.2.4).
Aktivations- und Bewusstseinszustände In der Psychophysiologie geht es darum, physiologische Begleiterscheinungen (Korrelate) psychischer Zustände zu identifizieren. Polygraph. Ein Gerät, das diese Indikatoren misst, nennt man Polygraph. In den USA wird er als »Lügendetektor« eingesetzt. Da man über Indikatoren der unspezifischen Aktivation jedoch nur die Aufregung eines Menschen, nicht den Wahrheitsgehalt seiner Aussagen zu fassen bekommt, hängt die Aussagekraft eines Lügendetektortests im Wesentlichen von der geschickten Fragetechnik ab.
Immunsystem und Entzündung. Bei einer Depression werden entzündungsfördernde (proinflammatorische) Zytokine (Interleukine) gebildet, die sowohl bei der Entstehung einer Depression als auch bei der koronaren Herzkrankheit eine Rolle spielen können. Menschen, die mit Interferon behandelt werden, haben ein erhöhtes Depressionsrisiko. Auch das C-reaktive Protein, das eine Entzündung anzeigt, ist bei einer Depression erhöht. Endotheliale Dysfunktion. Die Gefäßdilatation infolge Sauerstoffmangel ist bei Depression gestört. Dies stellt wiederum einen Risikofaktor für die Atherosklerose dar. Gesundheitsverhalten und Compliance. Zusätzlich zu den biologischen Mechanismen kann eine Depression auf der Ebene des Verhaltens zur Entwicklung bzw. Verschlimmerung einer koronaren Herzkrankheit beitragen. Depressive Menschen weisen häufiger die klassischen Risikofaktoren einer koronaren Herzkrankheit, wie Bewegungsmangel und Übergewicht, auf. Sie setzen Empfehlungen zum Gesundheitsverhalten, z.B. körperlich aktiver zu werden, seltener in die Tat um und halten sich weniger an die verordnete Medikation (geringere Compliance).
Merke
Das Ausmaß der psychischen Erregung oder Anspannung (Aktivation) lässt sich mit folgenden physiologischen Indikatoren feststellen: 5 Anstieg der Herzfrequenz, 5 Anstieg der Atemfrequenz, 5 vermindertes Fingerpulsvolumen, 5 verminderter Hautwiderstand, Anstieg der Hautleitfähigkeit (psychogalvanische Reaktion), 5 Zunahme der Spontanfluktuation der Hautleitfähigkeit, 5 Anstieg der Muskelspannung, 5 Anstieg der Lidschlagfrequenz, 5 β-Wellen im Elektroenzephalogramm (α-Blockade, EEG-Desynchronisation).
23 1.2 · Gesundheits- und Krankheitsmodelle
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Delta
Theta
Alpha 50 mV Beta
Augen auf
zu
1s . Abb 1.2. Beispiele für die häufigsten Arten rhythmischer Aktivität im Spontan-EEG (nach Schandry 2003)
Yerkes-Dodson-Regel. Die Yerkes-Dodson-Regel beschreibt den Zusammenhang zwischen Aktivierung und Leistung. Sie sagt aus, dass die Leistung bei einem mittleren Aktivierungsniveau optimal ist. Bei zu niedriger, aber auch zu hoher Aktivierung fällt die Leistung wieder ab. Der Zusammenhang ist also kurvilinear, der Graph sieht aus wie ein auf dem Kopf stehendes »U« (umgekehrt u-förmige Kurve). Der optimale Aktivierungsgrad verschiebt sich allerdings je nach Aufgabenschwierigkeit: Bei schwierigen Aufgaben ist eine geringere Aktivierung besser, bei leichteren eine höhere. Bewusstseinsgrad. Anhand der EEG-Frequenz lässt
sich der Bewusstseinsgrad beurteilen. Je höher die Frequenz, desto höher der Wachheitsgrad (. Abb. 1.2): 4 Alpha- (α-)Wellen (8–12 Hz): entspannter Wachzustand, 4 Beta- (β-)Wellen (13–30 Hz): Aufmerksamkeit, Aktivation, 4 Theta- (θ-)Wellen (4–7 Hz): Ermüdung, Einschlafen, 4 Delta- (δ-)Wellen (0,5–3 Hz): Tiefschlaf, Bewusstlosigkeit.
Merke
Orientierungsreaktion. Eine Orientierungsreaktion tritt auf, wenn ein neuer, unerwarteter Reiz ins Wahrnehmungsfeld kommt (»Was ist das?«).
Sie besteht aus Veränderungen in den Sinnesorganen (Erniedrigung der Reizschwelle für die entsprechende Sinnesmodalität, Erhöhung der Reizschwelle für andere Sinnesmodalitäten), der Muskulatur (Anstieg des Tonus, Hinwendebewegung), im ZNS (β-EEG; α-Blockade) und vegetativen Nervensystem (Zunahme der Hautleitfähigkeit; Vasokonstriktion in der Peripherie, Vasodilatation im Kopf; sofort Herzfrequenzabfall, danach Herzfrequenzanstieg). Ihre Intensität ist proportional zum Ausmaß der Neuheit des Reizes, also seiner Nichtübereinstimmung mit den erwarteten, gespeicherten Mustern. Nach Wiederholung des neuen Reizes nimmt ihre Intensität ab und bleibt schließlich aus (Habituation). Habituation wird von Adaptation (Erhöhung der Reizschwelle) abgehoben. Die Orientierungsreaktion wird von der Defensivreaktion (z.B. Wegziehen der Hand von einer heißen Herdplatte) und dem
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Kapitel 1 · Entstehung und Verlauf von Krankheiten
Schreckreflex (Startle-Reflex, Blinkreflex; Blinzeln bei plötzlichen lauten Geräuschen) unterschieden. Chronobiologie. Der Schlaf-Wach-Rhythmus ist einer von vielen zirkadianen Rhythmen (zirkadian = »ungefähr ein Tag«), die von der Chronobiologie untersucht werden: Gene werden zu bestimmten Zeiten an- und abgeschaltet, Enzyme aktiviert oder deaktiviert; endokrine Systeme wie z.B. die Cortisolsekretion unterliegen ebenso einem Tagesrhythmus wie die Leistungsfähigkeit (Minimum der Aufmerksamkeit am Nachmittag: Siesta!), Schmerzempfinden, Körpertemperatur oder Medikamentenwirkungen. Das zentrale Steuerungszentrum für diese zirkadianen Rhythmen, die »biologische Uhr«, befindet sich im Nucleus suprachiasmaticus. Er erhält über die Sehnerven Lichtinformation und passt den inneren Rhythmus an den äußeren Zeitgeber an. Ohne äußeren Zeitgeber, z.B. in Isolationsexperimenten, werden die Rhythmen meist länger. Die zeitlichen Körpervorgänge werden u.a. durch den Signalstoff Melatonin gesteuert, der in der Epiphyse (Zirbeldrüse) gebildet wird, einem evolutionären Relikt, das bei niederen Wirbeltieren als drittes Auge Helligkeitsunterschiede wahrnimmt. Weiterhin spielt die Formatio reticularis (insbesondere der Locus
coeruleus) eine wichtige Rolle bei der Regulation der Wachheit. Als Neurotransmitter sind Noradrenalin, Acetylcholin und Serotonin beteiligt. Schlafprobleme im Alter oder bei einer Depression können durch eine Störung dieser Steuerung erklärt werden. Merke
Regelmäßiger Schlaf ist für Immun- und endokrines System wichtig. Schicht- und Nachtarbeit, Jetlag oder früher Schulbeginn am Morgen bewirken eine Desynchronisation von innerem und sozialem Rhythmus, vermindern die Leistungsfähigkeit und erhöhen die Infekt- und Krankheitsanfälligkeit.
Schlaf. Zwei Formen des Schlafs werden unterschie-
den, der REM-Schlaf und der Non-REM-Schlaf. Die Tiefe des Non-REM-Schlafs wird durch die Schlafstadien beschrieben, deren Einteilung anhand des EEG vorgenommen wird (. Abb. 1.3). 4 Stadium 1: Einschlafphase. Niedrig-amplitudiges EEG, nur noch einzelne α- und β-Wellen. Theta-Wellen; 4 Stadium 2: Theta-Wellen. Schlafspindeln. K-Komplexe;
. Abb 1.3. Einteilung der Schlafstadien (nach Birbaumer u. Schmidt 2005)
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4 Stadium 3: zusätzlich Delta-Wellen; 4 Stadium 4: mehr als 50% Delta-Wellen mit hoher Amplitude. Stadium 3 und 4 werden als Tiefschlaf oder slow-wave sleep zusammengefasst. REM-Schlaf. Der REM-Schlaf hat seinen Namen von
den dabei auftretenden raschen Augenbewegungen (rapid eye movements). Das EEG ist relativ hochfrequent, niedrig-amplitudig, desynchron und ähnelt Schlafstadium 1. Die Muskulatur ist jedoch vollständig entspannt (atonisch). Wegen der Diskrepanz zwischen relativ »wachem« EEG einerseits, aber hoher Weckschwelle und tief entspannter Muskulatur andererseits wird er auch paradoxer Schlaf genannt. Vereinzelt kommt es zu Muskelzuckungen. Auch Herz- und Atemfrequenz steigen zeitweise an und sind sehr wechselhaft. Erektionen beim Mann bzw. eine vermehrte vaginale Durchblutung bei der Frau treten – unabhängig vom Trauminhalt – auf. Weckt man einen Menschen während des REMSchlafs, berichtet er meist einen sehr bildhaften Traum. Auch in den anderen Schlafphasen kommen jedoch Träume vor. Dass diese oft nicht so lebhaft und bizarr sind wie REM-Träume, liegt möglicherweise daran, dass sie kürzer sind und nicht so gut erinnert werden. Noch immer gibt es keine klare Theorie über die neurologischen Grundlagen des Träumens. Manche Wissenschaftler glauben, dass der REM-Schlaf eine besondere Art des Bewusstseins darstellt, die sich evolutionsgeschichtlich aus einer Zeit erhalten hat, bevor sich das rational arbeitende Wachbewusstsein herausgebildet hat. Zeitliche Abfolge. Jede Nacht wird die charakteris-
tische Abfolge von Stadium 1 bis Stadium 4, dann wieder zurück über Stadium 1 in die REM-Phase (oder ein kurzes Erwachen) und von der wieder abwärts in den Tiefschlaf etwa 5-mal durchlaufen. Gegen Morgen wird das Tiefschlafstadium allerdings seltener erreicht und die REM-Phasen werden länger. Die Schlafdauer und der Anteil des REMSchlafs nehmen im Laufe des Lebens ab. Der REMSchlaf macht beim Erwachsenen etwa 20% des Schlafes einer Nacht aus (Säuglinge: mehr als 50%). Wie viel Schlaf ein Mensch braucht, ist individuell sehr unterschiedlich. 7 bis 8 Stunden sind Durchschnitt.
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Funktion des Schlafs. Während man früher die
Funktion des Schlafs allein in der Erholung wichtiger Körperfunktionen sah (was allerdings nicht den Umstand erklärt, dass man dabei das Bewusstsein verliert), sieht man heute die Konsolidierung von Lernerfahrungen als wichtige Funktion. Die Überarbeitung und Speicherung von deklarativem Wissen (Faktenwissen) erfolgt wahrscheinlich im Tiefschlaf, diejenige von prozeduralem Wissen (Handlungsabfolgen) im REM-Schlaf. Möglicherweise werden zu diesem Zweck die tagsüber in der Großhirnrinde gespeicherten Informationen in den Hippocampus überspielt, der sie noch einmal »abspielt« und dabei überarbeitet. Zur endgültigen Speicherung werden sie danach erneut in der Großhirnrinde »abgelegt«. Wären wir währenddessen wach, würden wir dieses Abspielen wahrscheinlich als Halluzination erleben. Die Weiterverarbeitung von Gelerntem im Schlaf erklärt, warum einem manchmal die Lösung von Problemen »über Nacht« einfällt. Nach intensivem Nachdenken über ein Problem oder Lernen von neuem Stoff sollte man deshalb erst einmal »darüber schlafen«, um seine Leistung am nächsten Tag zu verbessern. Schlafentzug. Ein selektiver REM-Schlaf-Entzug
führt zu Hyperaktivität und Reizbarkeit. In den Nächten nach einem selektiven REM-Entzug tritt eine kompensatorische REM-Erhöhung auf (REMrebound). Non-REM-Schlaf lässt sich nicht selektiv entziehen, weil REM-Schlaf »pur« nicht zu haben ist. Non-REM-Schlaf muss immer zuerst durchlaufen werden, bevor man wieder aus dem Tiefschlaf in den REM-Schlaf »auftaucht«. Totaler Schlafentzug führt zunächst zu Konzentrations- und Aufmerksamkeitsstörungen (Unfallgefahr!) und bei längerer Dauer zum »Durchsickern« von Mikroschlafepisoden in das Wachbewusstsein, die als Sinnestäuschungen erlebt werden. Bei einer Depression kann Schlafentzug allerdings eine (wenn auch meist kurzfristige) Besserung der Symptomatik bewirken. Im Erholungsschlaf nach Schlafentzug wird zunächst der Tiefschlaf, erst danach der REM-Schlaf nachgeholt, beides jedoch nicht proportional zur Dauer des Entzugs, sondern sehr viel kürzer. Schlafstörungen. Schlafstörungen sind häufig. Etwa 25 % der Erwachsenen leiden daran. Das Ausmaß
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Kapitel 1 · Entstehung und Verlauf von Krankheiten
einer Schlafstörung wird nicht nach der Qualität des Schlafs in der Nacht, sondern nach den Folgen eines nicht erholsamen Schlafs für die Leistungsfähigkeit am Tag bewertet. Nächtliche Schlaflosigkeit, Einund Durchschlafstörungen oder vorzeitiges morgendliches Erwachen werden als äInsomnie bezeichnet. Eine Schlafstörung kommt häufig durch körperliche Anspannung und übertriebene Anstrengungen einzuschlafen zustande, verbunden mit der Sorge, dass zu wenig Schlaf die Leistung am folgenden Tag beeinträchtigt (psychophysiologische Insomnie). Manche Patienten haben die feste Überzeugung, nachts wach zu liegen, obwohl dies gar nicht der Fall ist (Fehlbeurteilung des Schlafzustandes). Schlafstörungen können auch die Folge von anderen körperlichen oder psychischen Erkrankungen (z.B. Depression) sein (sekundäre Insomnien). Hinzu kommen Atmungsstörungen, die den Schlaf beeinträchtigen (äSchlafapnoe). Hypersomnie ist dagegen ein erhöhtes Schlafbedürfnis oder eine übermäßige Schläfrigkeit am Tage. Zu den Hypersomnien gehört die äNarkolepsie, die durch eine exzessive Tagesschläfrigkeit und plötzlichen Tonusverlust der Streckmuskulatur mit Sturzgefahr (Kataplexie) charakterisiert ist. Als Parasomnien fasst man Schlafwandeln, Um-sichschlagen, Kopfschlagen, Zähneknirschen, Reden, Schreien und gewisse Formen des Einnässens zusammen. Bei der Anamneseerhebung prüft man, ob der nicht erholsame Schlaf durch das Verhalten des Betroffenen (mangelnde Schlafhygiene), eine fehlende Anpassung an den zirkadianen Rhythmus oder Einnahme von schlafstörenden Substanzen (Alkohol) bedingt oder aber Symptom einer anderen Erkrankung ist, die behandelt werden muss. Nur bei einem geringen Anteil liegen jedoch spezifische schlafmedizinische Erkrankungen vor, und nur selten ist eine Untersuchung im Schlaflabor erforderlich. Zur Therapie können kurzfristig und vorübergehend schlafinduzierende Substanzen (z.B. Benzodiazepine) verwandt werden, wegen der Abhängigkeitsgefahr aber nicht länger als 3–4 Wochen. Wirksam ist auch eine kognitive Verhaltenstherapie von 4 bis 6 Sitzungen (7 Kap. 3.2.2).
Gehirn und Verhalten Bildgebende Verfahren. Psychische Funktionen wie
Fühlen, Denken und Handeln basieren auf der Aktivität des Gehirns. Die Struktur und Funktion des Gehirns kann durch bildgebende Verfahren dargestellt werden. Am meisten verbreitet ist die Kernspintomographie (syn. Magnetresonanztomographie MRT; magnetic resonance imaging, MRI, nuclear magnetic resonance, NMR). Die Hirnaktivität, die sich während psychologischer Prozesse abspielt, lässt sich u.a. mit dem funktionellen Kernspintomogramm (fMRT) und dem Positronen-Emissions-Tomogramm (PET) darstellen. Auch psychische Störungen wurden in einer großen Zahl von Studien erforscht. So konnte man beispielsweise zeigen, dass bei einem Schizophrenen, der Stimmen halluziniert, dieselben Hirnregionen aktiv sind, die auch beim Hören realer, äußerer Stimmen aktiv sind (linker Temporallappen). Formale Denkstörungen wie die Zerfahrenheit (Auflösung des logischen Zusammenhangs) gehen mit einer Minderaktivierung im Wernicke-Sprachareal einher. Hier finden sich auch strukturelle Defizite. Gedächtnisstörungen sind mit einer verminderten Aktivität und Struktur des Hippocampus verknüpft. Mit den Folgen von Hirnläsionen durch Unfälle oder Krankheiten befasst sich die Neuropsychologie (7 Kap. 1.4.1). Bildgebende Verfahren werden auch zunehmend in Forschungsstudien dazu genutzt, den Behandlungserfolg von medikamentöser Therapie oder Psychotherapie bei psychischen Störungen (Depression, Angststörung, Zwangsstörung) zu dokumentieren. Elektroenzephalogramm. Auch mit dem Elektroenzephalogramm (EEG) lässt sich die Gehirnaktivität darstellen. Hierbei wird mit einer großen Zahl von Elektroden, die auf der Kopfhaut angebracht werden, die Aktivität großer Netzwerke gemessen. Aktivitätsänderungen können in Echtzeit, d.h. Sekundenbruchteilen, registriert werden, aber die räumliche Auflösung ist sehr schlecht, weil sich elektrische Potentiale im Gehirn ungehindert ausbreiten, so dass man nicht mehr nachvollziehen kann, woher ein Signal kommt. Das von äußeren Reizen unbeeinflusste EEG wird Spontan-EEG genannt. Es zeigt den Wachheitsgrad an.
27 1.2 · Gesundheits- und Krankheitsmodelle
Merke
Präsentiert man einer Person akustische, visuelle oder taktile Reize, so treten spezifische evozierte Potentiale (ereigniskorrelierte Potentiale) auf, die sich aus dem Spontan-EEG herausfiltern lassen. Sie spiegeln die kortikale Verarbeitung der wahrgenommenen Reize wider.
Durch angstrelevante Reize (z.B. das Bild einer medizinischen Notfallsituation) bei Patienten mit Panikstörung evozierte Potentiale zeigen beispielsweise, dass diese Bilder im Vergleich zu Gesunden besonders intensiv erlebt und unter Beanspruchung vieler kortikaler Ressourcen verarbeitet werden. Langsame Hirnpotentiale. Langsame Hirnpoten-
tiale treten auf, wenn eine Versuchsperson aufmerksam einen Reiz erwartet, auf den sie in bestimmter Weise reagieren soll, z.B. auf ein angekündigtes akustisches Signal hin einen Knopf drücken (kontingente negative Variation, Erwartungswelle). Auch vor einer Willenshandlung tritt ein Bereitschaftspotential auf. Dieses ist schon etwa eine halbe Sekunde früher messbar, bevor die betreffende Person den bewussten Entschluss zur Handlung fasst. Aus diesem Befund haben Hirnforscher die Schlussfolgerung gezogen, dass die Empfindung eines bewussten Willens eine Illusion ist: Aus der regelmäßigen Abfolge von bewusster Handlungsabsicht und Handlung schließen wir darauf, dass die Absicht die Handlung verursache. Eventuell sind aber sowohl Absicht als auch Handlung Folgen eines zuvor ablaufenden unbewussten Prozesses. Bevor eine Handlung zur Ausführung freigegeben wird, erfolgt ein Probedurchlauf des Handlungsprogramms auf der Ebene der Basalganglien (Handlungsablauf-Gedächtnis) unter Einbezug des limbischen Systems (emotionale Erfahrungen). Kommen von dort keine Einwände, so wird das Bereitschaftspotential verstärkt, bis es sowohl die Handlung selbst als auch das subjektive Gefühl, die Handlung zu wollen, auslöst. Das Gefühl des freien Willens wäre demnach lediglich die Zustimmung zu einer auf unbewusstem Weg vorbereiteten Handlung, die einen Probelauf absolviert hat und vor dem Hintergrund der bisherigen Lebenserfahrungen als
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sinnvoll bewertet wurde. Die Gedanken, die wir subjektiv als die Ursachen unserer Handlung wahrnehmen, wären dann eher als eine Art von »Preview« zu verstehen, eine Vorschau darauf, was wir demnächst tun werden. Sie ist für uns aber ein untrügliches Kennzeichen dafür, dass wir selbst Autor der Handlung sind, so dass wir die Verantwortung für diese übernehmen, sei es im Sinne von Stolz auf eine Leistung oder auch der moralischen Verantwortung.
Schmerz Akuter und chronischer Schmerz. Schmerz ist die einzige Sinnesempfindung, die fast immer mit einem negativen Affekt einhergeht: Schmerz wird vom Betroffenen als quälend oder angsterregend erlebt. Die physiologische Grundlage des Schmerzes ist das nozizeptive System. Mit Nozizeption wird die Aktivität dieses Systems beschrieben. Merke
Akuter Schmerz weist meist auf eine Gewebeschädigung durch einen noxischen Reiz hin (Schutzfunktion des Schmerzes). Bei ächronischem Schmerz gilt das nicht mehr. Hier lässt sich oft keine Gewebeschädigung feststellen. Chronische Schmerzen ohne organische Krankheit können zu einem eigenständigen Störungsbild werden (somatoforme Schmerzstörung) und stellen ein großes Problem in der medizinischen Versorgung dar.
Komponenten des Schmerzes. Auf dem Weg von
der Nozizeption zum Schmerzerleben kommen weitere Komponenten des Schmerzes hinzu. Fünf Komponenten werden unterschieden (7 Merke-Box). Schmerzmessung. In der experimentellen Schmerzforschung werden Schmerzschwellen bestimmt. Die Wahrnehmungsschwelle ist diejenige Reizintensität, bei der der Proband angibt, dass ein Reiz (z.B. kaltes Wasser) schmerzhaft sei. Die Toleranzschwelle ist diejenige Reizintensität, bei der der Schmerz unerträglich wird (und der Proband seine Hand aus dem kalten Wasser zieht). Die Einschätzung des Schmerzes durch den Betroffenen nennt man subjektive Algesimetrie (subjektive Schmerzmessung). Hierfür gibt es Fragebögen. Für die Beurteilung der
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Kapitel 1 · Entstehung und Verlauf von Krankheiten
Merke
Komponenten des Schmerzes 5 sensorische Komponente: Wahrnehmung des Schmerzes, seiner Qualität (z.B. »stechend«, »brennend«), Lokalisation (z.B. »oberflächlich«, »tief«) und Stärke 5 affektive Komponente: emotionale Färbung (»quälend«, »fürchterlich«, »unerträglich«) 5 kognitive Komponente: gedankliche Interpretation (»Das Herz kann es nicht sein, weil …«) 5 vegetative Komponente: körperliche Begleiterscheinungen (z.B. Übelkeit; Herzfrequenzanstieg) 5 motorische Komponente: Gesichtsausdruck, Schonverhalten
Schmerzstärke wird häufig eine visuelle Analogskala verwandt. Dies ist eine 10 cm lange Linie, deren Endpunkte mit Worten beschrieben sind: Am linken Ende steht »kein Schmerz«, am rechten Ende »stärkster vorstellbarer Schmerz«. Der Betroffene soll nun sein aktuelles Schmerzempfinden auf diesem Kontinuum einordnen und ein Kreuz an der entsprechenden Stelle machen. Die Schmerzstärke kann dann einfach quantifiziert werden, indem man die Strecke vom linken Ende bis zum Kreuz abmisst. Gate-Control-Modell. Schmerz wird nicht einfach von der Peripherie ins Gehirn geleitet, sondern zugleich von absteigenden Fasern moduliert. Grundannahme der Gate-Control-Theorie ist, dass schon auf der Ebene des Rückenmarks efferente Regulationsmechanismen (eine Art von »Türsteher«) existieren, die darüber entscheiden, ob Schmerzsignale ins Gehirn weitergeleitet werden oder nicht. Ein absteigendes Schmerzhemmsystem kann das Tor im Rückenmark öffnen oder schließen. Diese Grundannahme hat sich empirisch bestätigt, auch wenn Details des Modells heute nicht mehr gültig sind. Eine aktive Schmerzhemmung wird auch durch endogene Opiate (Endorphine) bewirkt, die an Opiatrezeptoren binden, wo sie die Freisetzung von schmerzfördernden Neurotransmittern unterdrücken. Angst und Depression verstärken die Schmerzwahrnehmung, Ablenkung und eine optimistische Einstellung vermindern sie.
Empathie. Wenn man Schmerzen erlebt, sind im
Gehirn bestimmte neuronale Netze aktiviert (die sog. Schmerzmatrix, u.a. im insularen Cortex). Bei einem Menschen, der beobachtet, wie eine nahestehende Person Schmerzen erleidet, und sich in deren Erleben einfühlt (Empathie), sind die selben Netzwerke aktiviert, so als würde er den Schmerz selbst spüren. Interessant ist nun, dass nicht das ganze Netzwerk aktiv ist, sondern nur ein Teil davon, und zwar derjenige Anteil, der den emotionalen Aspekt des Schmerzerlebens vermittelt. Um sich in einen anderen Menschen hineinversetzen zu können, ist offenbar der affektive Gehalt des Schmerzes wichtiger als der sensorische. Dabei fand sich sogar ein direkter Zusammenhang zwischen der Stärke der Aktivierung der entsprechenden Hirnregionen und den interindividuellen Unterschieden in der Empathie. Menschen, die als Persönlichkeitsmerkmal ein größeres Einfühlungsvermögen aufwiesen, zeigten auch eine stärkere Aktivität. Empathie hat sich also vermutlich aus einem System entwickelt, das unsere inneren körperlichen Zustände und Gefühle repräsentiert. Ähnlich ist es auch bei der Wahrnehmung von Gefühlen bei anderen Menschen. Wenn wir den emotionalen Gesichtsausdruck eines anderen Menschen (z.B. Freude oder Trauer) sehen, werden die dem jeweiligen Gefühl zugrunde liegenden Hirnregionen auch bei uns selbst aktiviert, mit den entsprechenden vegetativen und körperlichen Begleiterscheinungen (7 Kap. 1.4.4). Diese »emotionale Ansteckung« geschieht ganz automatisch, ohne dass eine bewusste Absicht oder Anstrengung dafür erforderlich wäre. Schmerzgedächtnis. Starke Schmerzen, die nicht
ausreichend behandelt werden, können Spuren im Zentralnervensystem (v.a. im Rückenmark) hinterlassen. Sie machen nozizeptive Nervenzellen empfindlicher für Schmerzreize. Dann lösen auch harmlose, normalerweise nicht schmerzhafte Reize Schmerzen aus. Auf diese Weise entstehen chronische Schmerzen, die im Unterschied zu akuten Schmerzen kein Signal für eine Gewebeschädigung sind. Der zugrunde liegende Mechanismus wird Langzeitpotenzierung genannt. Die synaptische Übertragung wird dabei verstärkt (potenziert). Die synaptischen Veränderungen gleichen denjenigen,
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die man bei der Gedächtnisbildung im Hippocampus findet (deshalb »Schmerzgedächtnis«). Normalerweise beugt die körpereigene Schmerzabwehr (endogene Opiate, Endorphine) der Entstehung des Schmerzgedächtnisses vor. Reicht dies nicht aus, so kann man durch präventive Schmerzausschaltung (Analgesie) z.B. mit Leitungsblockaden eine Langzeitpotenzierung verhindern. Ein schon entstandenes Schmerzgedächtnis lässt sich pharmakologisch nicht löschen. Was teilweise hilft, sind Gegenstimulationsverfahren (transkutane elektrische Nervenstimulation, TENS; Elektroakupunktur) und psychologische Verfahren. Die Sensibilisierung der Schmerzwahrnehmung bei Schmerzkranken lässt sich physiologisch durch evozierte Potentiale und bildgebende Verfahren nachweisen. Auch der Einfluss von Lernvorgängen lässt sich objektivieren: Wenn der Partner anwesend ist, der den Kranken üblicherweise tröstet, sinkt die Schmerzschwelle, der Gesichtsausdruck wird gequälter, die evozierten Potentiale zeigen eine intensivere Reaktion an, die aktivierten Hirnareale sind in bildgebenden Verfahren ausgedehnter (und zwar lange vor der bewussten Schmerzwahrnehmung). Bei der operanten Verhaltenstherapie lernen die Partner deshalb, auf Schmerzen nicht mehr mit Zuwendung zu reagieren. Auch der Plazeboeffekt, d.h. die Schmerzlinderung allein infolge der Erwartung, dass ein Mittel hilft, auch wenn es pharmakologisch unwirksam ist, lässt sich objektivieren. Diese Erwartung aktiviert das körpereigene Opioidsystem (endogene Opiate). Umgekehrt lässt sich der Plazeboeffekt aufheben, wenn man das Opioidsystem mit dem Opiatantagonisten Naloxon blockiert. Bei plazebobedingter Schmerzlinderung finden sich in bildgebenden Verfahren auch entsprechende Hirnaktivitätsänderungen, die auf eine veränderte Schmerzinterpretation hindeuten. Allerdings ist nur ein Teil der Schmerzpatienten für Plazeboeffekte empfänglich (7 Kap. 2.2.2). äPhantomschmerzen. Phantomschmerzen sind auf die Reorganisation von Hirnarealen zurückzuführen. Die kortikalen Projektionsgebiete des amputierten Glieds, die keinen Input mehr erhalten, werden von anderen Projektionen sozusagen mitbenutzt. Da der kortikale Ort aber festlegt, wo die Reize räumlich wahrgenommen werden, empfindet
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der Betroffene die Schmerzen als aus dem Glied kommend, das gar nicht mehr vorhanden ist. Phantomschmerzen lassen sich durch konsequente Analgesie vor der Amputation verhindern oder abschwächen. Eine Prothese, die den Stumpf elektrisch stimuliert, macht die kortikale Reorganisation wieder rückgängig und vermindert die Phantomschmerzen. äChronische Schmerzen. Als chronische Schmerzen werden Schmerzen mit einer Dauer von mehr als 6 Monaten bezeichnet. Hier findet sich häufig keine organische Ursache, die die Schmerzen erklären könnte. Die häufigsten chronischen Schmerzen sind chronische Rückenschmerzen sowie Kopfschmerzen (Migräne und Spannungskopfschmerz). Eine ausschließlich medikamentöse Behandlung stößt hier an eine Grenze, zumal Schmerzmittel auf Dauer selbst schmerzauslösend wirken können. Deshalb ist ein multimodales Vorgehen angezeigt, in dem auch psychologische, verhaltensmedizinische Behandlungsverfahren ihren Platz haben. Spielen chronische Muskelverspannungen eine ursächliche Rolle, wie beim Rückenschmerz (s.u.) und beim Spannungskopfschmerz, lernen Patienten, ihre Muskeln zu entspannen, wenn man ihnen den mit dem Elektromyogramm gemessenen Spannungszustand auf einem Bildschirm visuell zurückmeldet (Biofeedback, 7 Kap. 2.4.3). Die schmerzevozierten Potentiale (und damit die Schmerzwahrnehmung) lassen sich auch direkt durch Biofeedback beeinflussen. Auch bei Migräne kann Biofeedback eingesetzt werden. Die Patienten lernen dabei, die Blutgefäße des Gehirns, die im Migräneanfall erweitert sind, wieder zu verengen, entweder direkt über einen Sensor, der über der Schläfenarterie angebracht ist, oder indirekt, indem sie eine Erwärmung der Hand erzeugen, die eine Verengung der Kopfgefäße nach sich zieht. Hierzu wird ihnen über einen Temperaturfühler die Hauttemperatur der Hand zurückgemeldet. Weitere verhaltensmedizinische Therapiebausteine sind Stressbewältigungstrainings (7 Kap. 1.2.1), Entspannungsmethoden (7 Kap. 2.4.3) sowie Schmerzbewältigungsstrategien. Dabei lernen die Patienten, ihre Aufmerksamkeit von den Schmerzen abzulenken oder sich in Gedanken an einen besonders schönen Ort zu versetzen, wo sie sich früher
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Kapitel 1 · Entstehung und Verlauf von Krankheiten
einmal sehr wohl fühlten (geleitete Imagination). Auch dadurch vermindert sich die Schmerzwahrnehmung. äChronische Rückenschmerzen. Chronische Rückenschmerzen sind die häufigste Ursache von Arbeitsunfähigkeit, stationärer Krankenhausbehandlung, medizinischer Rehabilitation und Frühberentung. Meist findet man keine organischen Veränderungen an der Wirbelsäule, die die Schmerzen erklären würden. Menschen, die chronische Rückenschmerzen entwickeln, reagieren in Stresssituationen bevorzugt mit einer Verkrampfung der Rückenmuskulatur (individualspezifische Reaktion). Infolge der eintretenden Schmerzen verkrampft sich die Muskulatur zusätzlich, so dass ein Teufelskreis entsteht. Die Betroffenen schonen sich immer mehr und vermeiden körperliche Anstrengungen, was zwar kurzfristig zur Entlastung führt (negative Verstärkung des Vermeidungsverhaltens), langfristig aber zu einer Zunahme der Schmerzen. Wenn sie sich einmal körperlich anstrengen und dabei Schmerzen verspüren, entwickeln sie oft starke Befürchtungen, dass sich ihr Gesundheitszustand immer mehr verschlechtern wird (»katastrophisierende Gedanken«). Kommt noch eine Depression hinzu, ist die Chronifizierung der Rückenschmerzen noch wahrscheinlicher. Die wichtigste Therapie besteht in körperlicher Aktivität trotz Schmerzen. Dies gilt auch bei akuten Rückenschmerzen, bei denen Bettruhe auf das absolut Notwendige begrenzt werden sollte. In der Rehabilitation kommen ein gezieltes Funktionstraining (functional restoration), Üben arbeitsplatzbezogener Tätigkeiten (work hardening) und verhaltensmedizinische Verfahren wie Stressbewältigungstraining und Patientenschulungen zum Einsatz. TENS hingegen ist einer Metaanalyse zufolge, in der die Ergebnisse mehrerer Einzelstudien zusammengefasst wurden, bei chronischen Rückenschmerzen nicht wirksamer als Plazebo.
Merke
Trotz Schmerzen sollte bei Rückenschmerzen nicht auf körperliche Aktivitäten verzichtet und Bettruhe nur bei absoluter Notwendigkeit eingehalten werden!
i Vertiefen Birbaumer N, Schmidt RF (2005) Biologische Psychologie, 6. Aufl. Springer, Berlin Heidelberg New York (grundlegendes Werk) Schandry R (2003) Biologische Psychologie. Beltz, Weinheim (gut verständliche Einführung) Segerstrom SC, Miller GE (2004) Psychological stress and the human immune system: A meta-analytic study of 30 years of inquiry. Psychological Bulletin 130:601–630 (umfassende Übersicht über die Forschung)
1.2.3
Psychodynamische Modelle
Stadien der psychosexuellen Entwicklung Das psychodynamische Entwicklungsmodell geht auf Sigmund Freud, den Begründer der Psychoanalyse zurück. Erik H. Erikson erweiterte das Modell über die Kindheit hinaus in das Erwachsenenalter. Die Information über die kindliche Entwicklung gewann Freud aus den Erinnerungen seiner Patienten. Merke
Die Psychoanalyse nimmt an, dass unbewusste Konflikte, die ihre Wurzeln bereits in der Kindheit haben können, psychischen Störungen zugrunde liegen.
Im Stadienmodell der psychosexuellen Entwicklung werden typische Phasen beschrieben, die, wenn sie gestört werden, zu einer späteren neurotischen Erkrankung disponieren können. Diese Phasen sind nach den Organsystemen bezeichnet, die in der jeweiligen Zeit eine wichtige Rolle spielen. In den Bezeichnungen der Phasen kommt zum Ausdruck, dass die psychische und sexuelle Entwicklung in engem Zusammenhang mit der körperlichen Entwicklung stehen. Einen Überblick über die Stadien der psychosexuellen Entwicklung gibt . Tabelle 1.1. Oral-sensorische Phase. Das Neugeborene ist angewiesen auf Wärme, Hautkontakt und Nahrungsaufnahme. In der Bezeichnung dieser Phase kommt zum Ausdruck, dass der Mund und die Haut wichtige Medien der frühen Umweltkommunikation des Säuglings sind. Gestillt und gefüttert werden, getragen und gehalten werden führen zu einem Urgefühl
31 1.2 · Gesundheits- und Krankheitsmodelle
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. Tabelle 1.1. Stadien der psychosexuellen Entwicklung (n. Freud, Erikson) Lebensalter in Jahren
Psychosexuelle Phasen
Umkreis der Beziehungspersonen
Psychosoziale Modalitäten
Psychosoziale Krisen
bis 1½
Oral-sensorische Phase
Mutter (Vater)
Empfangen und (sich-) einverleiben, atmosphärisches Fühlen, Hören, Sehen, Riechen
Urvertrauen vs. Urmisstrauen
1½ bis 3
Anal-muskuläre Phase
Eltern
Festhalten und hergeben, Trotz – Fügsamkeit
Autonomie vs. Scham und Zweifel
3 bis 5 (6)
Phallisch-ödipale Phase
Familie
Vergleichen und konkurrieren, Geschlechtsrollenfindung
Initiative vs. Schuldgefühl
6 bis 10
Latenzphase
Wohngegend, Schule
Etwas »Richtiges« machen, etwas mit anderen zusammen machen
Leistung vs. Minderwertigkeitsgefühl
10 bis 18 (20)
Pubertät und Adoleszenz
»Eigene« Gruppen, »die Anderen«, Führer – Vorbilder
Wer bin ich? (Wer bin ich nicht?); das Ich in der Gemeinschaft
Identität vs. Identitätsdiffusion
20 bis 40
Frühes Erwachsenenalter – Genitalität
Freunde, sexuelle Partner, Rivalen, Mitarbeiter
Sich im anderen verlieren und finden
Intimität vs. Isolierung
40 bis 60
Mittleres Erwachsenenalter
Gemeinsame Arbeit, Zusammenleben in der Ehe
Schaffen, Versorgen
Generativität vs. Stagnation
über 60
Spätes Erwachsenenalter
»Die Menschheit«, »Menschen meiner Art«
Sein, was man geworden ist; wissen, dass man einmal nicht mehr sein wird
Integrität vs. Verzweiflung
von Geborgensein und Versorgung, das als Urvertrauen bezeichnet wird. Bildet sich dieses Gefühl der Sicherheit nicht angemessen aus, können z.B. Dispositionen für eine spätere Depression oder auch eine Störung des zwischenmenschlichen Kontakts resultieren. Anal-muskuläre Phase. Diese Phase hat ihren Namen daher, dass nun Reinlichkeitserziehung und motorische Expansion bedeutsam werden. Zum einen gewinnt das Kind Kontrolle über die Ausscheidungsfunktionen, zum zweiten kann es sich von seinen Eltern weg bewegen und dadurch Autonomie erlangen. Zugleich aber können Scham und Zweifel auftreten, weil die ersten Versuche der Verselbständigung wortwörtlich »in die Hose gehen« können. Übermäßige Einschränkungen der autonomen Regungen des Kindes durch die Eltern können mit Trotz und Rebellion beantwortet werden.
grund. Freud hat zwar auch die bisherigen Phasen als psychosexuelle Stadien verstanden, dabei aber den Begriff der Sexualität weit über die übliche Definition hinaus auf jegliche lustvolle Empfindung ausgedehnt. In der ödipalen Phase verspürt der kleine Junge eine heftige Zuneigung zu seiner Mutter, das kleine Mädchen zu seinem Vater (»Wenn ich groß bin, heirate ich dich!«). Das jeweils gleichgeschlechtliche Elternteil wird dadurch zum Rivalen, den man verdrängen möchte. Dies führt zu einem inneren Konflikt, weil der kleine Junge den Vater (analog das kleine Mädchen seine Mutter) nicht nur loswerden will, sondern ihn (bzw. sie) zugleich auch gerne hat. Konkurrenzerleben und Phantasien der Rivalität verursachen Schuldgefühle. Sexualstörungen z.B., wie Verlust des Interesses an der Sexualität oder erektile Dysfunktion, können hier eine Wurzel haben. Latenzphase. Nach der ödipalen Phase ist nach
Phallisch-ödipale Phase. In der ödipalen Phase tre-
ten die eigentlichen Sexualorgane in den Vorder-
Freud die frühkindliche Sexualentwicklung abgeschlossen, und das Sexuelle tritt in die Latenz zu-
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Kapitel 1 · Entstehung und Verlauf von Krankheiten
rück. Nun werden Gleichaltrige (die peer group) wichtiger. In der Schule geht es um Leistung und Kompetenz. Auf der anderen Seite können Minderwertigkeitsgefühle auftreten, wenn sich ein Kind den Leistungsanforderungen nicht gewachsen fühlt. Pubertät und Adoleszenz. In der Pubertät werden
durch die körperliche Entwicklung (hormonelle Veränderungen, Auftreten der sekundären Geschlechtsmerkmale) zum einen die ödipalen Strebungen der Kindheit wiederbelebt, zum anderen geht es um eine Ablösung aus dem familiären Kontext und die Hinwendung zu anderen Menschen. Die eigene Identität im Vergleich zu anderen bildet sich aus. Dass diese Anforderungen nicht von allen Heranwachsenden gleich gut bewältigt werden, zeigen Störungen wie die Pubertätsmagersucht, bei der die Annahme der weiblichen Identität einschließlich der Körpermerkmale ein wichtiges Thema sein kann. Kritik. Kritisch zur psychosexuellen Stadienlehre ist
anzumerken, dass sie das Konflikthafte und potenziell Pathologische in den Vordergrund stellt, weil sie ja auf der Basis von Patientenberichten gewonnen wurde. Außerdem weiß man heute aufgrund von Längsschnittuntersuchungen, dass die Erinnerungen Erwachsener an ihre Kindheit nur sehr schwach mit damals tatsächlich vorgefallenen Ereignissen zusammenhängen. Die beschriebenen Phasen sollte man auch nicht allzu streng voneinander abgrenzen, sondern eher als Entwicklungsthemen betrachten, die mehr oder weniger stark während der gesamten Biographie eine Rolle spielen können. äSexueller Kindesmissbrauch. Sexueller Missbrauch von Kindern durch Erwachsene, von dem Mädchen häufiger betroffen sind als Jungen, wirkt für das Kind traumatisierend und kann schwerwiegende Langzeitfolgen mit sich bringen. In Bevölkerungsuntersuchungen mittels Selbsteinschätzungsfragebögen liegt die Prävalenz bei Frauen zwischen 8 und 32%, bei Männern zwischen 1 und 16%. Da Missbrauch das Risiko erhöht, eine psychische Störung zu entwickeln, findet man bei Inanspruchnahmepopulationen noch höhere Häufigkeiten. Sexueller Missbrauch in der Kindheit ist ein Risikofaktor für viele psychische und körperliche
Störungen wie Persönlichkeits- und Essstörungen, Depression, Suizidversuche, chronischer Schmerz, körperliche Beschwerden ohne medizinische Ursache, aber auch organische Krankheiten, riskantes Gesundheitsverhalten und hohe Inanspruchnahme medizinischer Dienste. Das erhöhte Risiko für psychische Störungen lässt sich nicht auf die generell gestörte Familienumwelt oder genetische Faktoren zurückführen, sondern besteht unabhängig davon, wie Studien mit Zwillingspaaren zeigen, von denen nur ein Zwilling Missbrauch ausgesetzt war. Sexueller Missbrauch lässt sich nicht durch eine vermeintliche Einwilligung des Kindes rechtfertigen, da in jeder Beziehung zwischen Erwachsenem und Kind ein Machtgefälle besteht, das vom Täter ausgenutzt wird. Die psychologische Begutachtung von Tätern und Opfern stellt eine schwierige Aufgabe dar, die eine hohe Qualifikation voraussetzt, um Fehlbeschuldigungen auszuschließen. Im Rahmen von Psychotherapien ist es nicht selten zu vom Therapeuten suggerierten falschen Erinnerungen gekommen. Da es sich hier um ein emotional hoch besetztes Thema handelt, sind Voreingenommenheiten und Fehleinschätzungen in beiden Richtungen nicht selten. Mit der Behandlung von Traumaopfern befasst sich das neue Spezialgebiet der Psychotraumatologie.
Drei-Instanzen-Modell, Triebmodell Das psychoanalytische Strukturmodell der Persönlichkeit unterscheidet drei Instanzen: Es, Ich und Über-Ich. Das Es. Das Es ist die Quelle der Wünsche, Antriebe und Begierden. Diese unbewussten Impulse, die unwillkürlich aus der Tiefe (deshalb Tiefenpsychologie) auftauchen, wurden früher als »Triebe« bezeichnet. Die Psychoanalyse hat sich vor allem mit dem Sexualtrieb und dem Aggressionstrieb beschäftigt. Diese Triebe drängen auf Befriedigung, stoßen aber auch auf Widerstand und Verbote. Das Über-Ich. Das Über-Ich vertritt die verinner-
lichten Normen der sozialen Umwelt und deren moralische Forderungen. Es ist eine warnende Instanz, die wir als die »Stimme des Gewissens« kennen. Während ursprünglich die elterlichen Verbote und Gebote die triebhaften Bedürfnisse einschränkten,
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wird diese Aufgabe im Laufe der Entwicklung zunehmend von der inneren moralischen Instanz des Über-Ichs übernommen. Das Über-Ich umfasst auch eine ideale Vorstellung von sich selbst, der man nachstrebt (Ich-Ideal). Das Ich. Das Ich vermittelt zwischen Es und ÜberIch. Es berücksichtigt die Forderungen der Realität und versucht einen Kompromiss zu erzielen zwischen den Triebbedürfnissen des Es auf der einen Seite und den moralischen Ver- und Geboten des Über-Ichs auf der anderen Seite. Es kann entweder einen Triebimpuls akzeptieren und seine Befriedigung ermöglichen und dies lustvoll genießen, aber auch auf die Erfüllung eines Triebwunsches bewusst verzichten oder ihn schließlich unbewusst abwehren (s.u.). Das Ich vertritt das Realitätsprinzip, während das Es vom Lustprinzip regiert wird. Da das Ich in einem Spannungsverhältnis zwischen unterschiedlich wirkenden Kräften aus dem Es und dem ÜberIch steht und es zu entsprechenden Konflikten zwischen Über-Ich und Es kommen kann, spricht man von Psychodynamik. Topographisches Modell. Neben dem Instanzenmodell gibt es noch das topographische Modell. Es unterscheidet drei Bereiche, die sich mit den drei Instanzen überschneiden: 4 das Bewusste, 4 das Vorbewusste, 4 das Unbewusste.
Diejenigen psychischen Inhalte, zu denen wir im aktuellen Erleben Zugang haben, werden als das Bewusste bezeichnet. Das Vorbewusste ist uns zwar aktuell nicht bewusst, kann aber ohne größeren Aufwand bewusst gemacht werden; es ist bewusstseinsfähig. Das Unbewusste, das nach Freud den größten Teil des Seeelenlebens ausmacht, wird hingegen nur sehr selten bewusst. Es setzt dem Bewusstwerden oft sogar einen Widerstand entgegen. Die Bewusstmachung erfordert deshalb bestimmte therapeutische Techniken wie die freie Assoziation (7 Kap. 2.4.3). Während das Es vollständig dem Unbewussten zugeordnet wird, haben Ich und Über-Ich sowohl bewusste als auch vor- und unbewusste Anteile. Die Abwehr als eine Funktion des Ichs erfolgt beispielsweise gleichwohl unbewusst (s.u.).
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Das Geniale an Freuds Theorie ist die große Bedeutung, die dem Unbewussten für das Erleben und Verhalten des Menschen zugeschrieben wird. Diese Entdeckung wurde durch die neuen Ergebnisse der Hirnforschung voll bestätigt. Neurowissenschaftler bezeichnen heute wie schon damals Freud das bewusste Erleben im Alltag als die »Spitze des Eisbergs«, unter der die allermeisten kognitiven und Wahrnehmungsprozesse unbewusst ablaufen. Allerdings ist das Unbewusste, wie es von den Neurowissenschaften beschrieben wird, nicht aus neurotischen Motiven verdrängt worden, sondern stellt ein sehr adaptives Verhaltenssteuerungssystem dar (7 Kap. 1.2.2).
Abwehrmechanismen merke Merke
Eine Möglichkeit des Ichs, mit unbewussten Triebregungen, inneren Konflikten oder unerträglichen Gefühlen umzugehen, ist die Abwehr. Abwehrvorgänge halten diese unangenehmen Zustände vom bewussten Erleben fern, und der Mensch weiß in der Regel gar nicht, dass er sich solcher Mechanismen bedient, weil auch die Abwehr selbst unbewusst erfolgt.
Abwehrvorgänge können bei der Entstehung psychischer Symptome eine Rolle spielen. Sie sind jedoch nicht per se pathologisch, sondern kommen auch im normalen Alltagsleben (sog. Freudsche Fehlleistungen wie Versprecher) oder bei der psychischen Bewältigung schwerer körperlicher Erkrankungen vor. Man unterscheidet eine ganze Reihe von Abwehrmechanismen je nach der Art und Weise, wie unerwünschte Motive oder Gefühle verarbeitet werden (. Tabelle 1.2). Verdrängung. Verdrängung ist der Prototyp eines
Abwehrmechanismus. Verdrängen heißt Vergessen aufgrund unbewusster Motive. Beispiel: »Das habe ich getan, sagt mein Gedächtnis. Das kann ich nicht getan haben, sagt mein Stolz. Und bleibt unerbittlich. Endlich gibt das Gedächtnis nach« (Nietzsche). Verschiebung. Eine Emotion, die zu äußern einem
Angst macht, wie z.B. Wut auf den Chef, der einen
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Kapitel 1 · Entstehung und Verlauf von Krankheiten
. Tabelle 1.2. Abwehrmechanismen Verdrängung
Ausschaltung bestimmter verpönter Motive und Konflikte aus dem bewussten Erleben
Verschiebung
Verlagerung einer Emotion (z.B. Angst, Wut) von einem bedrohlichen auf ein ungefährliches Objekt (»Prügelknabe«, ein Objekt als Ersatz für ein anderes Objekt)
Verleugnung
Abwehr der Realität von traumatisierenden Wahrnehmungen – der Gegenstand einer bedrohlichen Wahrnehmung wird als nicht existent angesehen (»Kopf-in-den-Sand-Stecken«)
Projektion
Verlagerung eigener abgewehrter Wünsche, Impulse, Ängste, Schwächen und Schuldgefühle in den anderen (»Sündenbock« = Adressat einer Projektion, dient zur Entlastung von Selbstvorwürfen)
Spaltung
Widersprüchliche Aspekte bzw. Gefühlszustände – z.B. Wahrnehmen von Gut und Böse bei sich oder beim anderen – werden so auseinander gehalten, als beträfen sie verschiedene Personen
Identifikation
Unbewusste Übernahme von Einstellungen, Verhaltensweisen und Wertmaßstäben einer anderen Person oder Gruppe
Reaktionsbildung
Aktivierung des entgegengesetzten Impulses (statt Hass übertriebene Freundlichkeit; Überkompensation)
Rationalisierung
Falsche Begründung eines bestimmten Sachverhalts (»Pseudoerklärung«)
Isolierung
Künstliches Abtrennen der Gefühle vom gedanklichen Inhalt
Ungeschehenmachen
Vorausgegangenes nichtakzeptables Handeln soll durch nachfolgendes Handeln aufgehoben werden
Sublimierung
Ablenkung sexueller Triebenergie auf ein nichtsexuelles, kulturell oder sozial wertvolles Ziel
gerade kritisiert hat, gegen den man sich aber nicht zur Wehr setzen kann, wird auf ein weniger gefährliches Objekt, wie z.B. die eigene Frau, die sich das eher gefallen lässt, verschoben. Verleugnung. Verleugnung bedeutet das NichtWahrhaben-Wollen einer bedrohlichen Wahrnehmung. Sie findet sich häufig nach der Mitteilung einer schwerwiegenden Diagnose. Beispiel: Ein Patient, der gerade von seinem Stationsarzt erfahren hat, dass er an einer unheilbaren Krebskrankheit leidet, beschwert sich kurze Zeit später gegenüber der Stationsschwester: »In diesem Krankenhaus bekommt man ja eh nicht gesagt, was man hat.« Verleugnung richtet sich also eher nach außen, gegen die bedrohliche Realität, Verdrängung mehr nach innen, gegen unbewusste Triebwünsche. Verleugnung ist kein Alles-oder-Nichts-Phänomen. Auch wenn ein Kranker in einem Augenblick sich so verhält, als wisse er überhaupt nicht, dass er an Krebs erkrankt ist, kann er in einer anderen Situation, in der er sich emotional unterstützt fühlt, durchaus die Information aus dem Unbewussten »hervorholen«. Verleugnung kann als eine Art Notfall- oder Schutzmechanismus verstanden werden,
der verhindert, dass der Betroffene von Angst oder Verzweiflung überschwemmt wird. In einer sichereren Situation kann er die Verleugnung dann schrittweise wieder zurücknehmen und sich mit der bedrohlichen Realität auseinandersetzen. Kurzfristig kann Verleugnung deshalb ganz hilfreich sein. Langfristig kann sie aber dazu führen, dass die Patienten notwendige diagnostische und therapeutische Maßnahmen unterlassen und sich dadurch selbst gefährden. Merke
Verleugnungsprozessen kann man als Ärztin oder Arzt am besten vorbeugen, indem man Informationen schrittweise vermittelt und sich am Informationsbedürfnis des Patienten und seinen Verarbeitungsmöglichkeiten orientiert, um ihn nicht emotional zu überfordern.
Projektion. Eigene Wünsche, Impulse oder Affekte, die ich mir selbst nicht eingestehen kann, werden anderen zugeschrieben. Man sieht »den Splitter im Auge des anderen, aber nicht den Balken im eigenen Auge«. Der andere fungiert als »Sündenbock« für
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die eigenen uneingestandenen Schwächen. Beispiel: Eine Patientin, die voll uneingestandener Wut auf ihre Arbeitskollegen ist, beklagt sich, von ihnen gemobbt zu werden. Sie nimmt ihre eigene Aggressivität nicht wahr, ist aber sehr empfindlich für vermeintliche Aggressivität der anderen. Spaltung. Bei der Spaltung werden widersprüchli-
che Impulse, die eigentlich miteinander unvereinbar sein müssten, abwechselnd ausgelebt. Die Umwelt (oder auch die eigene Person) wird entweder schwarz oder weiß wahrgenommen, nicht aber im realistischeren Grauton. Zwei Beispiele: Eine Patientin mit Borderline-Persönlichkeitsstörung, die ihren Partner bis gestern noch für ihre letzte Hoffnung und den einzigen Retter aus ihrem Elend wahrgenommen hat, ist aufgrund einer geringfügigen Enttäuschung nun der festen Meinung, dass er von Grund auf böse und schuld an ihrem Unglück sei. – Ein Patient mit einer narzisstischen Persönlichkeitsstruktur schwankt vom einen Augenblick zum anderen zwischen Größenideen (»Ich bin der Größte!«) und Minderwertigkeitsgefühlen (»Ich bin ein Nichts!«). Spaltungsvorgänge findet man auch bei Patienten, die das Behandlungsteam in die Guten und die Bösen aufteilen, beispielsweise den Stationsarzt idealisieren und die Stationsschwester verteufeln. Identifikation. Um Gefühle von Minderwertigkeit abzuwehren, kann man versuchen, sich mit einer berühmten Person zu identifizieren und so sein zu wollen wie diese. Beispiel: Jugendliche, die sich in einer Identitätskrise befinden und sich kleiden wie ihr bewunderter Star. Als Identifikation mit dem Aggressor bezeichnet man eine Abwehrform, bei der man sich aus der Rolle des Opfers in die Rolle des Täters begibt. Dann ist man nicht länger hilflos ausgeliefert, sondern selbst derjenige, der andere angreift. Auf diese Weise versuchen Kinder manchmal, Kränkungen zu verarbeiten, indem sie das, was sie erlebt haben, nun ihren Geschwistern oder Stofftieren zufügen. Reaktionsbildung. Bei der Reaktionsbildung wird eine Gegenreaktion aktiviert. Anstelle von Aggressivität, die nicht erlaubt ist, zeigt der Betroffene übertriebene Friedfertigkeit. Die dadurch abgewehrte
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Aggressivität wird jedoch für die Umgebung gleichwohl untergründig spürbar, die Freundlichkeit wirkt gezwungen und unecht. Rationalisierung. Diese Abwehrform ist in den All-
tagssprachgebrauch übergegangen. Man versteht darunter eine Pseudoerklärung, die anstelle der wahren Motive andere vorschiebt. Beispiel: Ein Patient mit Lungenkrebs, der an einem Rezidiv leidet, macht andere, weniger bedrohliche Gründe für seinen Husten verantwortlich, z.B. einen grippalen Infekt. Isolierung. Hier werden die mit einem Gedankeninhalt normalerweise einhergehenden Gefühle nicht wahrgenommen. Man spricht deshalb auch von Isolierung vom Affekt. Beispiel: Ein lebensbedrohlich Erkrankter redet ohne jede gefühlsmäßige Beteiligung über seine Krankheit, so als ginge es um eine andere Person, nicht aber um ihn selbst. Ungeschehenmachen. Es werden Handlungen un-
ternommen, die eine frühere, aber inakzeptable Handlung unwirksam und rückgängig machen sollen. Beispiele: Ein Patient mit einer Zwangsneurose entwickelt einen Waschzwang, um sich von unbewussten Schuldgefühlen rein zu waschen. Ein Patient nach Herzinfarkt unternimmt Kraftproben, um sich zu beweisen, dass er noch »ganz der Alte« ist. Sublimierung. Hierunter verstand Freud, dass sexuelle Triebenergie in einen anderen »Aggregatszustand« überführt und beispielsweise in wissenschaftliche oder künstlerische Leistungen umgesetzt wird. Solche Leistungen kann man selbstverständlich auch aus anderen Gründen als Abwehrprozessen erbringen. Konversion. Unter Konversion verstand Freud die
Umwandlung von psychischen Vorgängen in körperliche Innervationen. Unter einer Konversionsneurose wurde demnach eine Störung verstanden, bei der körperliche Beschwerden auftreten, die als symbolischer Ausdruck eines unbewussten Konflikts erklärbar sind. Zwei Beispiele: Ein Dirigent hat den unbewussten Impuls, seinen Rivalen anzugreifen. Da dieser Impuls inakzeptabel ist, entwickelt er stattdessen eine Lähmung des rechten Arms. – Ein Angestellter,
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Kapitel 1 · Entstehung und Verlauf von Krankheiten
der auf eine höhere Position befördert wurde, der er sich unbewusst nicht gewachsen fühlt, entwickelt Schwindelgefühle und Standunsicherheit. Konversionssymptome treten meist in den Bereichen der Motorik, Sensibilität und Sinneswahrnehmung auf: funktionelle Lähmungen, psychogene Anfälle, die klar von epileptischen Anfällen unterschieden werden können, Sensibilitätsstörungen oder psychogene Sehstörungen. Dabei findet man keinen organischen Befund, der die subjektiven Ausfälle erklären könnte. Heutzutage wird der Begriff äKonversionsstörung auf somatoforme (funktionelle) Störungen im Bereich der Neurologie angewendet, ohne dass man die ursprüngliche Theorie einer Umwandlung unbewusster Phantasien in symbolische körperliche Beschwerden aufrechterhält. Im ICD-10 werden Konversionsstörungen auch als ädissoziative Störungen bezeichnet. Im Begriff Dissoziation kommt zum Ausdruck, dass die Betroffenen kein Wissen davon haben, dass sie ihre Beschwerden durch unbewusste Wahrnehmungsprozesse selbst erzeugen. Eine dissoziative Störung muss von einer Simulation, d.h. dem bewussten Vortäuschen der Beschwerden, abgegrenzt werden.
Primärer und sekundärer Krankheitsgewinn Primärer Krankheitsgewinn. Mit Hilfe von Abwehrmechanismen gelingt es dem Ich, Vorstellungen, Gefühle und Triebimpulse, die den moralischen Forderungen des Über-Ichs und den Anforderungen der Realität zuwider laufen, aus dem bewussten Erleben fern zu halten. Damit haben sie aber ihre Dynamik nicht verloren. Das Abgewehrte gibt keine Ruhe, sondern versucht, sich über das Ich zu realisieren, und entfaltet eine Aktivität, die sich auf das bewusste Denken und Handeln auswirken kann. Eine solche »Wiederkehr des Verdrängten« kann nun ein psychisches oder körperliches Symptom sein. Symptome sind in psychoanalytischer Sicht Kompromisse zwischen einem Impuls auf der einen Seite und Abwehrversuchen auf der anderen Seite.
Beispiel: Der oben als Beispiel für eine Konversionsstörung erwähnte Dirigent muss nun nicht mehr befürchten, seinen Rivalen anzugreifen, da er ja gelähmt ist. Merke
Sekundärer Krankheitsgewinn. Ein zusätzlicher Gewinn aus der Störung liegt vor, wenn der Kranke einen (unter Umständen sogar bewussten) Vorteil aus seiner Symptomatik zieht. Dies wird als sekundärer Krankheitsgewinn bezeichnet.
Beispiel: Unser Dirigent muss aufgrund seiner Lähmung nicht zur Arbeit gehen und sich damit auch der Rivalität am Arbeitsplatz nicht mehr aussetzen. Weitere Formen des sekundären Krankheitsgewinns sind Zuwendung durch den Ehepartner (7 Kap. 1.2.2, chronische Rückenschmerzen) sowie Entlastung von Verpflichtungen zu Hause oder bei der Arbeit (Krankschreibung, Frühberentung). Bei manchen Kranken kann der Wunsch, für einen Unfall entschädigt zu werden oder wegen einer chronischen Krankheit in Rente zu gehen (äRentenbegehren) so übermächtig werden, dass alle Behandlungsversuche fehlschlagen. Dies ist eine der unerwünschten Nebenwirkungen (moral hazards) unseres Sozialversicherungssystems. i Vertiefen Erikson EH (1971) Identität und Lebenszyklus. Frankfurt, Suhrkamp (klassisches Werk zur psychosexuellen Entwicklung) Freud A (1977) Das Ich und die Abwehrmechanismen. Kindler, München (begründet die Klassifikation der Abwehrmechanismen) Mertens W (2004) Psychoanalyse. Beck, München (gut verständliche Einführung einschließlich neuerer Entwicklungen)
1.2.4
Sozialpsychologische Modelle
Merke
Hat sich einmal ein Symptom gebildet, so vermindert sich dadurch die Konfliktspannung, und das Ich ist entlastet. Dies bezeichnet man als primären Krankheitsgewinn.
Psychosoziale Einflüsse auf Gesundheit und Krankheit Soziale Rollen, Normen und Einstellungen können – vermittelt über das Gesundheitsverhalten – die Gesundheit beeinflussen.
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Soziale Rolle. Unter einer sozialen Rolle versteht
man die Gesamtheit der Verhaltenserwartungen, die an den Inhaber einer bestimmten Position im Netzwerk der sozialen Beziehungen gerichtet werden. Soziale Rollen führen zu einer gewissen Berechenbarkeit des Verhaltens von Menschen in sozialen Situationen. So kann sich ein Patient normalerweise darauf verlassen, dass er vom Arzt eine Diagnose mitgeteilt bekommt. Jeder Mensch ist Inhaber mehrerer Rollen, mit denen er unterschiedlich stark identifiziert ist (Rollenidentifikation) oder zu denen er auch Distanz hält (Rollendistanz). Rollen legen das Verhalten nicht hundertprozentig fest, sondern lassen einen Spielraum für flexibles Verhalten in unterschiedlichen Situationen. Dies kann bis zu einem Konflikt zwischen unterschiedlichen Rollenerwartungen gehen. Bestehen unterschiedliche Erwartungen innerhalb einer Rolle, spricht man von einem Intrarollenkonflikt. Beispiel: Ein Arzt möchte einerseits seinem Patienten die optimale und notfalls auch kostspielige Therapie zukommen lassen, andererseits sieht er sich durch die Krankenkassen unter Kostendruck gesetzt und möchte deshalb möglichst preiswerte Medikamente verordnen. Wenn konflikthafte Erwartungen zwischen verschiedenen Rollen bestehen, die ein und dieselbe Person innehat, spricht man von einem Interrollenkonflikt. Beispiel: Eine Krankenhausärztin, die zugleich Mutter eines kleinen Kindes ist, sieht auf der einen Seite die Erwartung an sich gerichtet, auf der Station Überstunden zu machen, um neu aufgenommene Patienten zu versorgen, und muss andererseits ihre Tochter vom Kindergarten abholen. Der Konflikt resultiert hier also aus schwer zu vereinbarenden Anforderungen aus der Rolle als Ärztin und der Rolle als Mutter. Der Verlust einer sozialen Rolle, z.B. durch Arbeitslosigkeit, die ja nicht nur finanzielle Einbußen mit sich bringt, sondern auch den Verlust der wichtigsten Quelle sozialer Anerkennung, den Verlust einer sinnvollen Tätigkeit und eines strukturierten Tagesablaufs, kann als gesundheitlicher Risikofaktor angesehen werden. Soziale Normen. Soziale Normen sind Regeln, die
sich auf das Verhalten aller Menschen in der Gesellschaft beziehen. Verhalten, das von der Norm ab-
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weicht, wird negativ sanktioniert, um der Norm Geltung zu verschaffen. Normen unterscheiden sich im Grad ihrer Formalisierung und im Ausmaß der Sanktionen. Normen können auch das Gesundheitsverhalten betreffen. Beispiel: Mit der »Safer-Sex«Kampagne im Rahmen der HIV-Prävention wird versucht, eine Verhaltensnorm zu verändern. Es wird angestrebt, dass die Benutzung eines Kondoms zur Norm beim Geschlechtsverkehr wird. Durch die Änderung der Einstellungen in der Öffentlichkeit sollen solche Verhaltensänderungen bewirkt werden. Einstellungen. Unter einer Einstellung versteht man
die Bewertung eines konkreten Objekts, z.B. eines bestimmten Gesundheits- oder Sexualverhaltens. Die Psychologie versucht seit langem herauszufinden, auf welche Weise Einstellungen und Verhalten am besten verändert werden können. Ein wesentliches Ergebnis ist, dass die Änderung von Einstellungen oft nicht ausreicht, auch das Verhalten zu verändern. Zwischen Einstellungen und Verhalten besteht nur ein schwacher Zusammenhang. Die effektivste Methode einer Einstellungsänderung ist ironischerweise, zunächst das Verhalten zu ändern. Die Einstellungsänderung folgt dann der Verhaltensänderung nach (7 Kap. 3.1.3).
Psychische Risiko- und Schutzfaktoren In sozialpsychologischen Modellen werden psychische Risiko- und Schutzfaktoren im Hinblick auf die Krankheitsentstehung untersucht. Als Risikofaktoren gelten beispielsweise belastende Lebensereignisse, insbesondere Verlusterlebnisse, mangelnde soziale Integration, erlernte Hilflosigkeit und Depression (7 Kap. 1.2.1 und 1.4.4). Daneben hat die Gesundheitspsychologie unter unterschiedlichen Bezeichnungen eine Reihe ähnlicher Konzepte als sog. Schutzfaktoren beschrieben, die der Entstehung von Krankheiten entgegenwirken sollen: 4 Internale Kontrollüberzeugung: Überzeugung, durch das eigene Verhalten den Gesundheitszustand positiv beeinflussen zu können. 4 Selbstwirksamkeit: Überzeugung, ein bestimmtes gesundheitsförderliches Verhalten auch unter widrigen Umständen ausführen zu können (Kompetenzerwartung).
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Kapitel 1 · Entstehung und Verlauf von Krankheiten
4 Dispositioneller Optimismus: Zuversicht, Probleme bewältigen zu können, im Sinne eines Persönlichkeitsmerkmals. 4 Hardiness (Robustheit): das Gefühl, seine Umwelt kontrollieren zu können; Veränderungen als Chance sehen. 4 Sense of coherence (Kohärenzsinn): Gefühl, dass die Ereignisse des Lebens erklärbar sind (Bewältigbarkeit), bewältigt werden können (Handhabbarkeit) und sich die Bewältigung auch lohnt (Sinnhaftigkeit) (s.u.). Kritik. Bei diesen sog. Schutzfaktoren stellt sich zu-
nächst die Frage, ob es sich jeweils um eigenständige Konstrukte handelt oder diese Eigenschaften nicht vielmehr einen breiten Überlappungsbereich aufweisen. Zum zweiten stellt sich die Frage, ob es sich um unabhängige Faktoren handelt, die die Gesundheit beeinflussen, oder nicht vielmehr um Bestandteile der Gesundheit. Dies ist insbesondere dann nicht zu klären, wenn im Rahmen einer Querschnittsstudie zu ein und demselben Messzeitpunkt ein Zusammenhang zwischen einem sog. Schutzfaktor und bei-
spielsweise der psychischen Gesundheit festgestellt wird. Dann lässt sich nicht feststellen, was Ursache und was Folge ist, ob Optimismus zu Wohlbefinden führt oder Wohlbefinden zu Optimismus oder beides Teilkomponenten psychischer Gesundheit sind. Günstiger als beim Konzept der Salutogenese sieht die Forschungslage bei internaler Kontrollüberzeugung, dispositionellem Optimismus und Selbstwirksamkeit aus. Hier existieren Längsschnittuntersuchungen, die zeigen, dass eine hohe Ausprägung auf den genannten Variablen günstig für eine aktive Krankheitsbewältigung und das Gesundheitsverhalten ist. Teilweise ließen sich sogar positive Effekte in Bezug auf den körperlichen Krankheitsverlauf, z.B. die Rekonvaleszenz nach Operationen, nachweisen.
Soziale Unterstützung Soziale Unterstützung (syn. sozialer Rückhalt) ist die hilfreiche Interaktion mit einem anderen Menschen bei der Bewältigung eines Problems. Oft wird nur die vom Betroffenen wahrgenommene Unterstützung erforscht, also sein persönliches Erleben, wie gut er sich von anderen Menschen
Exkurs Salutogenese. Das Modell der Salutogenese geht auf den amerikanisch-israelischen Medizinsoziologen Aaron Antonovsky zurück. Er sieht Krankheit und Gesundheit als zwei Pole einer Dimension und versucht, Faktoren zu identifizieren, die ein Individuum in Richtung auf den Pol Gesundheit bewegen, d.h. der Gesundheitsförderung (statt der Vermeidung von Krankheit) dienen. Als gesundheitsförderlichen Faktor hat Antonovsky das sog. Kohärenzgefühl (sense of coherence), d.h. ein Gefühl von Stimmigkeit, beschrieben. Es setzt sich aus drei Komponenten zusammen: 5 dem Gefühl, dass die Anforderungen des Lebens nicht willkürlich und zufällig, sondern vorhersehbar und erklärbar sind (Verstehbarkeit); 5 dem Gefühl, dass ausreichende Ressourcen zur Verfügung stehen, diesen Anforderungen gerecht zu werden und die Schwierigkeiten zu lösen (Bewältigbarkeit); 5 dem Gefühl, dass es sich auch lohnt, sich zu engagieren und Energie zu investieren (Sinnhaftigkeit).
In den vorliegenden Studien fanden sich positive Korrelationen mit psychischer Gesundheit sowie negative Zusammenhänge mit Ängstlichkeit und Depressivität oder Stress. Aber diese Zusammenhänge gehen lediglich auf Querschnittsstudien zurück, so dass die Frage von Ursache oder Folge offen bleiben muss. Mit körperlichen Erkrankungen oder auch dem Gesundheitsverhalten konnten bisher nur wenige und zudem inkonsistente Zusammenhänge gefunden werden. Deshalb muss das Modell gegenwärtig als noch nicht ausreichend überprüft angesehen werden, so dass vor unrealistischen Erwartungen gewarnt wird. Gegenwärtig scheint es keinen Vorteil gegenüber den etablierten Konzepten, wie Ängstlichkeit und Depression, aufzuweisen. Das Konzept wird allerdings oft in einem ideologischen, gesundheitspolitischen Kontext verwendet, um Maßnahmen zur Gesundheitsförderung zu begründen.
39 1.2 · Gesundheits- und Krankheitsmodelle
Merke
Soziale Unterstützung besteht aus den Komponenten: 5 emotionale Unterstützung: verständnisvolle Zuwendung, Trost, Ermutigung; 5 instrumentelle Unterstützung: praktische Hilfe, finanzielle Unterstützung, Hilfe bei täglichen Arbeiten; 5 informationelle Unterstützung: Informationsvermittlung, Rat, Anleitung; 5 Bewertungsunterstützung: Übereinstimmung in Wertvorstellungen und Meinungen.
unterstützt fühlt, nicht die tatsächlich erhaltene Unterstützung. Wahrgenommene Unterstützung ist aber auch von der Bewertung durch die jeweilige Person abhängig. Bei depressiven Menschen ist beispielsweise das Gefühl, gemocht zu werden, geringer ausgeprägt als bei Gesunden. Wahrgenommene Unterstützung ist eine relativ stabile Erwartung, ein Persönlichkeitsmerkmal. Wahrgenommene und erhaltene Unterstützung überlappen sich kaum. Soziale Integration. Von der funktionellen sozialen
Unterstützung lässt sich die soziale Integration abgrenzen, d.h. die Integration in ein Netzwerk von sozialen Beziehungen (strukturelle Unterstützung). Sie hat eine Verhaltenskomponente – das aktive Engagement in einem breiten Spektrum sozialer Aktivitäten und Beziehungen – und eine kognitive Komponente – ein Gefühl der Zugehörigkeit und Identifikation mit sozialen Rollen. Gegenpol ist die soziale Isolation. Geschlechtsunterschiede. Schon kleine Mädchen haben mehr Freundinnen als Jungen Freunde. Frauen haben zeitlebens engere und größere soziale Netzwerke. Sie bieten anderen mehr Unterstützung an und erhalten auch selbst mehr Hilfe. Sowohl Frauen als auch Männer profitieren mehr von weiblicher Unterstützung als von männlicher. Frauen zeigen ihre emotionale Zuwendung mehr als Männer. Möglicherweise trägt die bessere Verfügbarkeit des Hormons Oxytocin zur besseren sozialen Einbindung von Frauen bei. Oxytocin hat die Funktion, die Mutter-Kind-Beziehung zu fördern
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(7 Kap. 1.4.4 und 1.4.5). In der Evolution hat sich dies als förderlich dafür erwiesen, dass Mütter ihren Nachwuchs besser vor Gefahren schützen können. Die Mutter-Kind-Beziehung ist aber das Modell für andere enge zwischenmenschliche Beziehungen, die aus ihr hervorgehen. Gesundheitsförderliche Effekte. Soziale Unterstützung und soziale Integration wirken gesundheitsförderlich und schützen vor Krankheit. Auch bei schon bestehender Krankheit fördern sie einen günstigen Verlauf. So hatten beispielsweise Herzinfarktpatienten nach einer Bypass-Operation einen schnelleren Genesungsverlauf, wenn sie soziale Unterstützung erfuhren (Besuche vom Ehepartner). Soziale Unterstützung fördert die Immunabwehr und die Wundheilung. Das Mortalitätsrisiko bei einer koronaren Herzkrankheit ist geringer bei gut unterstützten Patienten. Hier können zwei Wirkmechanismen unterschieden werden: das Stress-Puffer-Modell und das Haupteffekt-Modell. Merke
Stress-Puffer-Modell. Das Stress-Puffer-Modell sagt aus, dass die Wirkungen von Stress durch soziale Unterstützung abgemildert (abgepuffert) werden.
Stress ist nicht mehr so schlimm, wenn man überzeugt ist, dass es jemanden gibt, der einen bei der Bewältigung der Belastung hilft. Die belastende Situation erscheint weniger schwierig zu bewältigen, emotionale und physiologische Reaktionen sind abgeschwächt. Beispiel: In einer Längsschnittuntersuchung mit gesunden schwedischen Männern im Alter von 50 Jahren oder älter besaßen diejenigen Studienteilnehmer, die im Jahr zuvor viele belastende Lebensereignisse erlitten hatten, in der Folgezeit ein höheres Risiko zu versterben. Dieses Risiko war jedoch bei denjenigen Männern abgeschwächt, die nach eigener Einschätzung ein hohes Maß an emotionaler Unterstützung zur Verfügung hatten. Hier handelt es sich um einen typischen Interaktionseffekt (7 Kap. 1.3.2): Der Zusammenhang zwischen Stress und Krankheit wird durch das Vorhandensein eines dritten Faktors, nämlich die soziale Unterstützung, abgeschwächt.
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Kapitel 1 · Entstehung und Verlauf von Krankheiten
Der Stress-Puffer-Effekt wird möglicherweise über verminderte negative Emotionen vermittelt. Negative Emotionen wie Angst und Depression werden durch emotionale Zuwendung abgeschwächt. Dadurch vermindern sich entzündungsfördernde Stoffe (inflammatorische Zytokine), während günstige Peptidhormone wie Oxytocin und Endorphine ansteigen. Merke
Haupteffektmodell. Das Haupteffektmodell besagt, dass soziale Unterstützung generell günstig ist, unabhängig davon, ob jemand sich in Stress befindet oder nicht.
Dieses Modell scheint insbesondere für die soziale Integration zu gelten. Eine große Zahl von Studien hat in konsistenter Weise den Zusammenhang zwischen guter sozialer Integration und Gesundheit bestätigt. Gesunde Erwachsene, die sozial besser integriert sind, d.h. verheiratet sind, in Familien leben oder viele Freunde haben, haben eine geringere Sterblichkeit. Dies gilt auch in Bezug auf die Sterblichkeit in Folge spezifischer Erkrankungen, wie Herzerkrankungen und Krebs, des Weiteren für die Anfälligkeit für virale Infekte oder auch den kognitiven Abbau im Alter. Dabei spielt nicht so sehr die Größe des sozialen Netzwerks eine Rolle als vielmehr die Qualität der Verbundenheit. Wie lässt sich der gesundheitsförderliche Effekt sozialer Integration erklären? Menschen, die in einem sozialen Netzwerk verbunden sind, stehen unter stärkerer sozialer Kontrolle im Hinblick auf normgerechtes Gesundheitsverhalten: Sie sind körperlich aktiver, ernähren sich gesünder, rauchen weniger. Sie entwickeln ein Gefühl der Verantwortung für andere und sich selbst. Umgekehrt sind Verlusterlebnisse, Einsamkeit oder konflikthafte soziale Beziehungen mit einem erhöhten Krankheitsrisiko verbunden. Geringe soziale Unterstützung und Integration begünstigen die Entwicklung einer Depression. Diese ist selbst wiederum ein Risikofaktor für die koronare Herzkrankheit (7 Kap. 1.2.2). Interventionsstudien. Wenn soziale Integration
demnach gesundheitsfördernd ist, wäre es sinnvoll, sie gezielt zu verstärken. Dies scheint aber nicht so
einfach zu sein. Mehrere Interventionsstudien mit Herzinfarktpatienten oder Brustkrebspatientinnen, die das Ziel hatten, die soziale Integration zu verbessern, konnten keinen Effekt im Hinblick auf eine verlängerte Überlebenszeit finden. In einer Studie mit Brustkrebspatientinnen wirkte sich eine psychoedukative Intervention (Patientenschulung) günstig auf das emotionale Befinden aus, nicht jedoch emotionale Unterstützung durch Mitpatientinnen (peers). Ganz im Gegenteil, Frauen, die schon ein gut funktionierendes Netzwerk besaßen und ausreichend emotional unterstützt wurden, ging es sogar schlechter, wenn sie an der Peer-support-Gruppe teilnahmen. Erfolgreicher waren Paarprogramme, in denen krebskranke Frauen und ihre Partner lernten, auf hilfreiche Weise miteinander zu kommunizieren und sich gegenseitig emotional zu unterstützen. Als Folge davon verbesserten sich nicht nur die Partnerbeziehung, sondern auch das emotionale Befinden und die Krankheitsbewältigung. Vielleicht lässt sich das Ausmaß sozialer Unterstützung und Integration auch deshalb nur begrenzt von außen verändern, weil es teilweise von der Persönlichkeit abhängt und damit auch genetisch bedingt ist. Wie Zwillingsstudien zeigen, finden sich für sämtliche Dimensionen der Unterstützung und Integration substanzielle genetische Einflüsse. i Vertiefen Cohen S (2004) Social relationships and health. American Psychologist 59: 676–684 (Übersicht über den Stand des Wissens durch einen maßgeblichen Forscher) Knoll N, Scholz U, Rieckmann N (2005) Einführung in die Gesundheitspsychologie. Reinhardt, München (guter Einstieg in die Thematik)
1.2.5
Soziologische Modelle
Einflüsse der gesellschaftlichen Opportunitätsstruktur Soziologische Modelle befassen sich mit dem Einfluss von Merkmalen der Sozialstruktur auf Gesundheit und Krankheit. Innerhalb einer Gesellschaft sind die Chancen z.B. für Bildung als Voraussetzung des Gesundheitsverhaltens ungleich verteilt. Der Zugang zu den gesellschaftlichen Ressourcen, wie Bildung, Arbeit und soziale Integration, wird als
41 1.2 · Gesundheits- und Krankheitsmodelle
soziale Opportunitätsstruktur bezeichnet. Der wichtigste zusammenfassende Indikator der Opportunitätsstruktur ist die soziale Schichtung. Merke
Die soziale Schichtung wird anhand der sog. meritokratischen Triade bestimmt: 5 Bildung 5 Beruf 5 Einkommen
Im Begriff »meritokratisch« wird zum Ausdruck gebracht, dass der soziale Status durch Leistung verdient wurde. Gesundheitliche Ungleichheit. Der sozioökonomische Status steht mit der Sterblichkeit (Mortalität) und der Krankheitshäufigkeit (Morbidität) in Zusammenhang. Beispiele: Erwachsene ohne Abitur haben eine kürzere Lebenserwartung als Erwachsene mit Abitur. Die Differenz beträgt bei Männern 3,3 Jahre und bei Frauen 3,9 Jahre. Säuglings- und Kindersterblichkeit sind in der Unterschicht höher, stationäre Behandlungen wegen Infektionskrankheiten dauern bei Unterschichtkindern länger, ihr Zahnstatus ist schlechter. Menschen mit Haupt- oder Realschulabschluss erleiden häufiger einen Herzinfarkt als Abiturienten. Auch psychische Störungen, wie Angststörungen, Depression, Substanzmissbrauch und Persönlichkeitsstörungen, sind bei Personen mit niedrigerem sozialen Status häufiger. Meist findet sich ein sozialer Gradient mit abgestuften Häufigkeiten je nach den Schichtstufen. Selbst ein überwiegend genetisch beeinflusstes Merkmal, wie die Körpergröße, zeigt einen Schichtgradienten. Männer der Unterschicht sind 5 cm kleiner als Männer der Oberschicht. Bei Frauen beträgt der Unterschied 3,5 cm. Eine der wenigen Ausnahmen von diesem Muster sind Allergien und Neurodermitis, die in unteren Schichten seltener vorkommen. Erklärungsmodelle. In der Soziologie werden haupt-
sächlich zwei Erklärungsmodelle diskutiert: soziale Verursachung (schlagwortartig formuliert: »Armut macht krank.«) und sozialer Abstieg (schlagwortartig: »Krankheit macht arm.«). Für das Modell des sozialen Abstiegs, auch Drift-Hypothese genannt,
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finden sich Hinweise bei psychischen Störungen, wie der Schizophrenie. Schon mehrere Jahre vor dem Auftreten massiv auffälliger Symptome, wie Wahn und Halluzination, kann hier infolge von kognitiven Einschränkungen ein Leistungsknick eintreten, so dass das Niveau der schulischen Bildung nicht gehalten werden kann (7 Kap. 1.4.10). Merke
Häufiger wird jedoch das Modell der sozialen Verursachung für wichtig erachtet. Als Einflussfaktoren werden sowohl materielle Lebensbedingungen als auch kulturelle Faktoren genannt, die in den unteren sozialen Schichten ungünstiger sind: 5 unhygienische Wohnverhältnisse, Lärm, Luftverschmutzung; 5 physische und psychische Arbeitsbelastungen: schwere körperliche Arbeit, Lärm, Eintönigkeit, geringe Möglichkeit des Mitentscheidens, weniger Anerkennung (7 Anforderungskontrollmodell, Gratifikationskrisenmodell, Kap. 1.4.8.); 5 ungünstiges Gesundheitsverhalten: Zigarettenrauchen, ungesunde Ernährung, geringere körperliche Aktivität, deshalb größere Verbreitung der Risikofaktoren für Krankheiten; 5 ungünstiges Krankheitsverhalten: geringeres Wissen, seltenere Teilnahme an Früherkennungsuntersuchungen, geringere Inanspruchnahme medizinischer Leistungen.
Starkes Übergewicht (Adipositas) kommt bei Menschen mit geringerer Bildung häufiger vor (7 Kap. 1.4.10). Auch das Zigarettenrauchen ist in den unteren Schichten deutlich stärker verbreitet. Rauchen wiederum ist der wichtigste einzelne Risikofaktor für die Entstehung einer Vielzahl von Krankheiten, insbesondere von Herz-KreislaufKrankheiten (Herzinfarkt, Schlaganfall) und Krebserkrankungen (Lungenkrebs, viele andere Tumorarten). Gesundheitspolitische Maßnahmen versuchen, gesundheitliche Chancengleichheit herbeizuführen. Sie sind bisher jedoch nicht sehr erfolgreich gewesen (7 Kap. 3.1.2 und 3.1.3).
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Kapitel 1 · Entstehung und Verlauf von Krankheiten
Einflüsse ökonomischer und ökologischer Umweltfaktoren Soziologische Modelle betrachten nicht nur die soziale Ungleichheit innerhalb einer Gesellschaft, sondern vergleichen auch unterschiedliche Gesellschaften miteinander, um Hinweise auf ökonomische und ökologische Umwelteinflüsse zu erhalten. Gesellschaften unterscheiden sich im Hinblick auf das Ausmaß der Industrialisierung (Industrie- vs. Entwicklungsländer), Urbanisierung (Anteil der Bevölkerung, der in Städten vs. auf dem Land lebt) und der Teilnahme an den Welthandelsbeziehungen (Globalisierung). Industrialisierung. Sowohl innerhalb der Industrie-
länder als auch weltweit lässt sich in den letzten Jahrzehnten eine Zunahme des Wohlstands konstatieren. So hat sich im 20. Jahrhundert der durchschnittliche Lebensstandard in Westeuropa zumindest verzehnfacht. In der Bundesrepublik Deutschland als Beispiel für ein Industrieland kann dies daran illustriert werden, wie lange ein Arbeiter im produzierenden Gewerbe durchschnittlich arbeiten muss, um ein bestimmtes Produkt erwerben zu können. Um eine Waschmaschine zu kaufen, musste ein Arbeiter im Jahr 2000 60 Stunden arbeiten, im Jahr 1960 waren dazu noch 793 Stunden erforderlich. Analog erforderten die Anschaffungskosten für ein Fernsehgerät im Jahr 2000 24 Stunden Arbeit, 1960 noch 289 Stunden. Auch die Kosten für Nahrungsmittel sanken relativ: Für einen Liter Milch waren im Jahr 2000 2,4 Minuten Arbeitszeit aufzuwenden (1960 15 Minuten), für ein Kilogramm Brot 5 Minuten (1960 17 Minuten). Sehr stark sanken auch die Kosten für Mobilität (z.B. Flugreise) oder Kommunikation (z.B. Telefongespräch). Die Zunahme des Wohlstands hat eine größere individuelle Freiheit mit sich gebracht. Dies zeigt sich in folgenden Punkten: 4 Eigener Haushalt. Menschen leben seltener in einer Großfamilie zusammen. Sie entziehen sich dadurch der sozialen Kontrolle und der Notwendigkeit, auf andere Rücksicht zu nehmen. Dies geht nur, weil das günstigere Wirtschaften, das eine Großfamilie erlaubt, nicht mehr ins Gewicht fällt. 4 Arbeitszeitverkürzung. Die effektive Jahresarbeitszeit hat sich in den letzten 100 Jahren hal-
biert. Dadurch bleibt mehr Zeit für die individuelle Lebensgestaltung. 4 Wahl des Wohnorts. Individuelle Mobilität und Freiheit bei der Wahl des Wohnorts haben zugenommen (zu nachteiligen Folgen der Mobilität auf die Familiengründung 7 Kap. 1.4.9). 4 Emanzipation der Frau. Die Freiheiten von Frauen hinsichtlich Berufstätigkeit, Wahl des Partners, Reversibilität der Partnerwahl (Scheidung) als Folge der finanziellen Unabhängigkeit haben zugenommen. Zeitbudget. Generell kann eine Zunahme der Frei-
zeit konstatiert werden, die sich von 1900 bis heute verdoppelt hat, und dies auch noch vor dem Hintergrund einer Zunahme der Lebenszeit um mehr als die Hälfte. Während der Anteil der Arbeitszeit von 34% auf 9% zurückging und der Anteil für die Befriedigung der Grundbedürfnisse (Essen, Schlafen) mit 41% bzw. 40% konstant blieb, stieg der Anteil der Freizeit von 25% auf 51% an. Extreme Armut. Als extreme Armut wird ein Ein-
kommen von weniger als 1 Dollar pro Tag und Kopf bezeichnet. Im Jahr 2001 lebten 1,1 Mrd. Menschen, d.h. rund ein Sechstel der Erdbevölkerung, in extremer Armut. 1981 waren es noch 1,5 Mrd. gewesen. 93% der extrem Armen leben in Ostasien, Südasien und Afrika südlich der Sahara. In Süd- und Ostasien hat die extreme Armut in absoluten Zahlen abgenommen, in Schwarzafrika zugenommen. Der prozentuale Anteil der Bevölkerung mit extremer Armut ist in Afrika leicht angestiegen, in Ost- und Südasien deutlich zurückgegangen. Vor der industriellen Revolution kämpften die Menschen weltweit mit Armut und Hunger. Ob Länder ihren Wohlstand in den letzten 200 Jahren vervielfachen konnten, wie in den westlichen Industrienationen, oder in der Wohlstandsentwicklung zurückblieben, ist eine Folge des durchschnittlichen Wirtschaftswachstums über viele Jahre. Einer der Gründe, weshalb die armen Länder kein ausreichendes Wirtschaftswachstum erzielen, sondern teilweise nicht einmal die unterste Stufe der Leiter zu wirtschaftlicher Entwicklung und technischem Fortschritt erklimmen können, sind Infektionskrankheiten, wie Malaria und Aids. Diese könnten mit etwas mehr Hilfe durch die entwickelten Länder
43 1.2 · Gesundheits- und Krankheitsmodelle
erfolgreich bekämpft werden. Weitere Gründe von Armut sind geographische Nachteile (z.B. fehlende Häfen), fehlende Infrastruktur (z.B. Trinkwasser, Elektrizität, Straßen), politische Fehlentwicklungen (z.B. Korruption), Handelsschranken, Überschuldung, zu wenig Finanzmittel (z.B. für den Kauf von Kunstdünger), eine zu hohe Geburtenziffer (demographische Falle), fehlende Schulbildungsangebote, fehlende Gesundheitsversorgung, Diskriminierung der Frauen oder ethnischer Minderheiten, Kriege und Bürgerkriege. Jeffrey Sachs (2005) legt in seinem Buch »Das Ende der Armut« anhand vieler Fallbeispiele konkret und detailliert dar, wie die Armut in der Welt beseitigt werden könnte. Urbanisierung. Während in den Industrieländern
die Kernstädte schon wieder schrumpfen, nimmt in den Entwicklungsländern die Migration vom Land in die großen Städte immer mehr zu. Megastädte entstehen, der Anteil der Weltbevölkerung, der in Städten lebt, wächst. Menschen flüchten vom Land wegen zu geringer Erträge der Landwirtschaft, Umweltzerstörung oder vor Bürgerkriegen. Sie erhoffen sich vom Leben in der Stadt bessere Arbeitsmöglichkeiten, Zugang zu Bildung, Wohnung und Gesundheitsversorgung und bessere Infrastruktur. Diese Hoffnungen erfüllen sich nicht für alle. In Schwarzafrika, Mittel- und Südasien leben 50% der Stadtbewohner in Slums, in Südamerika 30%. Pilotprojekte streben an, die Wohnungssituation zu verbessern. Slumbewohner erhalten Grundeigentum als Anreiz, angemessene Wohnungen zu bauen. Zugleich soll eine funktionierende Infrastruktur geschaffen werden. Insgesamt geht Urbanisierung mit wirtschaftlicher Entwicklung, Zunahme des durchschnittlichen Pro-Kopf-Einkommens und Abnahme der Geburtenrate einher (7 Kap. 1.4.9). Globalisierung. Als Ursache des zunehmenden Wohlstands wird die Steigerung der Produktivität in Folge von internationaler Arbeitsteilung angesehen. Länder können sich auf diejenigen Produkte spezialisieren, die sie besonders gut und kostengünstig herstellen können. Beide Partner eines Handelsaustausches profitieren davon. Für Industrieländer bedeutet dies die Chance, sach- und humankapitalintensive Produkte zu exportieren und lohnintensiv hergestellte Produkte billiger zu erwerben, die in
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ehemaligen Entwicklungsländern kostengünstiger hergestellt werden können. Damit einher geht jedoch auch das Risiko, dass ineffiziente Arbeitsplätze, bei denen die Lohnkosten die Produktivität übersteigen, verloren gehen. Für die Entwicklungsländer bedeutet Globalisierung vor allem Abbau der Handelsbeschränkungen, Öffnung der Märkte der Industrienationen für die Produkte der Entwicklungsländer und Investitionen internationaler Unternehmen, die vor Ort Arbeitsplätze schaffen. Für alle Nationen bedeutet Globalisierung potentiell die Förderung von Demokratie und der universellen Geltung der Menschenrechte. Es lässt sich empirisch zeigen, dass der Wohlstand eines Landes, gemessen am Bruttoinlandsprodukt pro Person, umso größer ist, je größer die wirtschaftliche Freiheit in diesem Land ist, gemessen an Indikatoren wie dem geringen Einfluss des Staates auf die Wirtschaft, freien Außenhandelsbeziehungen, einer stabilen Währung, Rechtssicherheit, Schutz des Eigentums und einer niedrigen Regulierungsdichte, z.B. am Arbeitsmarkt. Entwicklung hat auch psychologische Auswirkungen. Je höher der Entwicklungsstand einer Gesellschaft, gemessen an Lebensstandard, Bildungsniveau und Lebenserwartung, desto zufriedener und glücklicher sind die Menschen und desto geringer ist die Selbstmordrate. Damit muss die weit verbreitete These, dass die Modernisierung der Gesellschaft nur Unglück und Unzufriedenheit mit sich bringt, in Frage gestellt werden. Folgende Merkmale von gesellschaftlichen Strukturen werden als weitere Einflussfaktoren auf die Gesundheit diskutiert: 4 das Ausmaß der Einkommensunterschiede innerhalb der Gesellschaft (je geringer, desto günstiger); 4 das Ausmaß der gegenseitigen Verbundenheit der Mitglieder einer Gesellschaft (soziale Kohäsion) und 4 das Ausmaß des Vertrauens, das man seiner gesellschaftlichen Umwelt entgegenbringt (soziales Kapital). Lebenserwartung. Infolge der Verbesserung der Le-
bens- und Ernährungsbedingungen (ausreichende Ernährung, sauberes Trinkwasser, hygienische Wohnungen) ist es in den letzten Jahrzehnten zu einer
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Kapitel 1 · Entstehung und Verlauf von Krankheiten
kontinuierlichen Zunahme der Lebenserwartung gekommen (7 Kap. 1.4.9). Noch immer besteht jedoch eine starke Diskrepanz zwischen der Lebenserwartung in Industrieländern und in Entwicklungsländern. Auch die Körpergröße, ein stark genetisch bedingtes Merkmal, nahm in den vergangenen Jahrzehnten kontinuierlich zu, wahrscheinlich als Folge verbesserter Ernährungsbedingungen. Selbst in einem so kurzen Zeitraum wie zehn Jahren konnte ein derartiger Effekt nachgewiesen werden: Rekruten aus der ehemaligen DDR erreichten binnen zehn Jahre nach der Wende die Größe ihrer westdeutschen Altersgenossen, denen sie zuvor körpergrößenmäßig um 2 cm unterlegen waren. Wohlstandskrankheiten. Mit der Industrialisierung
und den damit einhergehenden verbesserten Lebensbedingungen nahmen insbesondere Infektionskrankheiten stark ab. Die Industrialisierung hat jedoch ihren Preis: die sog. Wohlstandskrankheiten, die durch das Gesundheitsverhalten mitbedingt sind. Hier sind vor allem Herz-Kreislauf-Erkrankungen anzuführen. Risikofaktoren der koronaren Herzkrankheit und des Schlaganfalls sind Zigarettenrauchen, arterielle Hypertonie (Bluthochdruck), Hypercholesterinämie (erhöhte Blutfettwerte), Hyperglykämie (Diabetes mellitus) und Hyperurikämie (erhöhte Blutharnstoffwerte). Diese Risikofaktoren sind ganz überwiegend vom Verhalten abhängig (Zigarettenrauchen, zu wenig körperliche Aktivität, Überernährung). Dass Übergewicht eine Folge des Lebensstils ist, lässt sich anhand einer Studie mit Immigranten zeigen. Einwanderer in die USA im ersten Jahr nach der Einwanderung waren zu 8% übergewichtig, im Unterschied zu 22% der Amerikaner. Aber nach 15 Jahren waren die Einwanderer inzwischen fast genauso häufig übergewichtig (19%) wie die Einheimischen. Soziale Instabilität. Eine soziologische Theorie besagt, dass soziale Instabilität (Anomie) die Suizidrate fördert (Emile Durkheim). Ein Beispiel ist der Verlauf der Suizidrate des russischen Bevölkerungsanteils in Estland während des Selbstständigkeitsprozesses. Während die russischen Einwohner Estlands zu Zeiten der Sowjetunion, als sie noch privilegiert waren, eine niedrigere Suizidrate aufwiesen als die Esten, stieg die Suizidrate während des Ver-
lusts ihrer privilegierten Position auf Werte über diejenige der Esten (und der Russen in Russland). Soziale Veränderungen sind jedoch nicht per se negativ. So konnte in den neuen Bundesländern, wo sich nach der Wende erhebliche soziale Veränderungen – zwar meist positiver, aber z.T. auch negativer Art, wie Anstieg der Arbeitslosigkeit – vollzogen, eine Abnahme der Suizidrate festgestellt werden. Suizide erfolgen oft im Rahmen einer psychischen Störung, insbesondere einer Depression. Durch die bessere Erkennung und Behandlung einer Depression kann dementsprechend die Suizidrate gesenkt werden. Dies ist wahrscheinlich der Grund dafür, dass in der ehemaligen DDR nach der Wende die Suizidrate abnahm und auf das niedrigere Niveau der alten Bundesrepublik fiel. In der DDR durfte zuvor über Depression und Suizid nicht gesprochen werden, weil es nicht mit der sozialistischen Ideologie vereinbar war. Nachdem dieses Tabu aufgebrochen worden war, konnten entsprechende diagnostische und therapeutische Maßnahmen eingeleitet werden, mit dem Ergebnis einer besseren Behandlung der Depression und einer niedrigeren Suizidrate. Gegenwärtig ist die Prävalenz psychischer Störungen in Ost- und Westdeutschland gleich hoch. Dies spricht gegen starke regionale oder gesellschaftliche Einflüsse auf psychische Störungen. Die Schizophrenie tritt beispielsweise weltweit in allen untersuchten Ländern mit einer ungefähr gleich hohen Lebenszeitprävalenz von 1% auf, was gegen einen starken ökonomischen oder ökologischen Einfluss spricht. i Vertiefen Mielck A (2000) Soziale Ungleichheit und Gesundheit. Huber, Bern (zusammenfassende Darstellung der empirischen Befunde zur Schichtabhängigkeit von Gesundheitsindikatoren) Schwartz FW, Badura B, Busse R, Leidl R, Raspe H, Siegrist J, Walter U (Hrsg) (2003) Das Public Health-Buch. Gesundheit und Gesundheitswesen. 2. Aufl. Urban & Fischer, München (umfassendes Handbuch) Siegrist J (2005) Medizinische Soziologie, 6. Aufl. Urban & Fischer, München (viele Beispiele zu sozialer Ungleichheit und Krankheit)
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1.3 · Methodische Grundlagen
1.3
Methodische Grundlagen
> > Einleitung Medizin und Psychologie gewinnen ihre Erkenntnisse durch empirische Forschung, d.h. durch systematische Untersuchung des jeweiligen Forschungsgegenstands (empirisch = auf Erfahrung beruhend). Damit empirische Untersuchungen aussagekräftig sind, müssen sie eine Reihe von Regeln befolgen. Von der Formulierung der Fragestellung und Hypothesen über die Auswahl des Untersuchungsplans (Forschungsdesigns) und der Messinstrumente, die Durchführung der Studie und die statistische Auswertung der Daten müssen an vielen Punkten wichtige Entscheidungen getroffen werden, die festlegen, welche Schlussfolgerungen aus den Ergebnissen einer Studie gezogen werden können. Das folgende Kapitel soll einen ersten Einstieg in die Forschungsmethodik ermöglichen. Nicht nur, wenn Sie selbst eine Untersuchung planen, z.B. im Rahmen einer Doktorarbeit, sondern auch wenn Sie den Bericht über eine Studie in einer wissenschaftlichen Zeitschrift lesen, benötigen Sie grundlegende Kenntnisse der Forschungsmethodik, um die Aussagekraft der Studie beurteilen zu können.
1.3.1
Hypothesenbildung
Theorie, Hypothese, Konstrukt Theorie und Hypothese. Wenn man ein Forschungs-
projekt plant, legt man zunächst die Fragestellung fest und formuliert die Forschungshypothese. Hierzu ist es erforderlich, die bisherige Forschung möglichst vollständig zur Kenntnis zu nehmen. In vielen Bereichen der Medizin und Psychologie gibt es schon einen umfangreichen Forschungsbestand, auf dessen Grundlage Theorien über den Sachverhalt, der erforscht werden soll, entwickelt wurden. Theorien haben die Funktion, Sachverhalte zu beschreiben, zu erklären und vorherzusagen. Sie bestehen aus einzelnen Bausteinen sowie aus Aussagen über deren Zusammenhänge. Beispiel: Das Risikofaktorenmodell der koronaren Herzkrankheit (KHK) sagt voraus, dass die Wahrscheinlichkeit, dass sich eine KHK entwickelt, erhöht ist, wenn bestimmte Risikofaktoren vorliegen, wie arterielle Hypertonie, Diabe-
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tes mellitus, Hypercholesterinämie und Zigarettenrauchen. Aus einer Theorie lassen sich Hypothesen für zukünftige Forschungen ableiten. Eine Hypothese ist eine Erwartung, deren Wahrheitsgehalt in der geplanten Studie überprüft werden soll. Hypothesen müssen deshalb so formuliert werden, dass sie prinzipiell prüfbar sind. Eine denkbare Hypothese, die aus dem Risikofaktorenmodell abgeleitet werden könnte, wäre: Eine Intervention zur Veränderung des Lebensstils vermindert die Rezidivrate eines Herzinfarkts. In diese Hypothese fließt Wissen aus dem Risikofaktorenmodell ein: Wenn verhaltensabhängige Risikofaktoren die Entstehung einer koronaren Herzkrankheit fördern, so fördern diese möglicherweise auch das Risiko für einen erneuten Herzinfarkt (Reinfarkt, Infarktrezidiv) bei schon bestehender KHK. Wenn dies der Fall wäre, so müsste sich durch eine Intervention, die diese Risikofaktoren vermindert, die Häufigkeit von Herzinfarktrezidiven vermindern lassen. Diese Hypothese kann dann in einer empirischen Studie überprüft werden. Konstrukt. Die Bausteine einer Theorie – in unserem Beispiel das Vorliegen von Risikofaktoren und der Eintritt eines Herzinfarkts – sind in der Medizin meist relativ leicht zu fassen. Anders ist es in der Psychologie. Dort sind die Bausteine der Theorie oft weniger gut greifbar, sondern theoretische (hypothetische) Konstrukte. Merke
Ein Konstrukt ist ein theoretisches Konzept, das selbst nicht direkt beobachtet werden kann, sondern aus seinen Indikatoren erschlossen wird. Indikatoren wiederum sind Merkmale, die der Beobachtung oder Messung zugänglich sind.
Das klassische Beispiel für ein Konstrukt ist die Intelligenz. Sie lässt sich nicht direkt beobachten, sondern wird aus der Leistung einer Person im Intelligenztest erschlossen. Man muss sich deshalb davor hüten, von Konstrukten so zu sprechen, als handle es sich um real existierende Dinge. Was sich hinter dem Namen eines Konstrukts verbirgt, wird erst deutlich,
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Kapitel 1 · Entstehung und Verlauf von Krankheiten
wenn man berücksichtigt, auf welche Weise es erfasst wird (Operationalisierung, 7 Kap. 1.3.2). Deterministische Hypothese. Man unterscheidet
deterministische von probabilistischen Hypothesen. Deterministische Hypothesen, wie sie in der Physik formuliert werden können, behaupten einen Zusammenhang zwischen zwei Merkmalen, der in allen Fällen gilt, also mit hundertprozentiger Sicherheit vorkommt. Beispiel: Wenn ein reiner Spiegel einen Lichtstrahl reflektiert, dann ist der Einfallswinkel gleich dem Ausfallswinkel. In Medizin und Psychologie kann man häufig keine deterministischen Zusammenhänge behaupten. Das liegt daran, dass die Prozesse der Krankheitsentstehung sehr komplex sind, d.h. eine große Zahl von Ursachenfaktoren (multifaktorielle Verursachung) und auch der Zufall eine Rolle spielen. Dementsprechend sind die Hypothesen hier nicht deterministisch, sondern probabilistisch. Probabilistische Hypothese. Eine probabilistische Hypothese hat den Charakter einer Wahrscheinlichkeitsaussage. Sie behauptet beispielsweise: Wenn der Risikofaktor Hypertonie vorliegt, dann ist die Wahrscheinlichkeit für das Eintreten eines Herzinfarkts erhöht. Um wie viel das Risiko im Vergleich zu einer Person ohne Hypertonie erhöht ist, kann zwar quantifiziert werden, aber nur für die Gesamtgruppe der Menschen mit hohem Blutdruck. Für das einzelne Individuum ist keine sichere Aussage möglich. Ein Mensch mit Hypertonie trägt zwar generell ein erhöhtes Risiko; ob er im Einzelfall aber erkrankt oder gesund bleibt, kann man nicht sicher vorhersagen. Umgekehrt kann auch ein Mensch mit normalem Blutdruck einen Herzinfarkt bekommen.
Statistische Hypothesenprüfung Null- und Alternativhypothese. Die Hypothese, in
der das erwartete Ergebnis einer Studie formuliert wird, nennt man Forschungshypothese. In einer Forschungshypothese wird meist ein Zusammenhang zwischen zwei Sachverhalten bzw. der Effekt einer Intervention behauptet. Beispiel: »Eine Intervention zur Lebensstiländerung bei koronarer Herzkrankheit senkt das Risiko eines Infarktrezidivs.« Die Forschungshypothese wird auch als Alternativhypothese (H1) bezeichnet. In ihr wird eine Annah-
me formuliert, die einen Zusammenhang oder den Effekt einer Intervention betrifft, der neu ist, den bisherigen Kenntnisstand erweitern würde und in einer Studie geprüft werden soll. Zu jeder Alternativhypothese lässt sich eine komplementäre Nullhypothese (H0) formulieren, die den bisherigen Wissensstand (kein Zusammenhang, kein Effekt) wiedergibt. Die Nullhypothese behauptet also das Gegenteil der Forschungshypothese. Beispiel: »Eine Intervention zur Lebensstiländerung bei koronarer Herzkrankheit senkt das Risiko eines Infarktrezidivs nicht.« Nullhypothese und Alternativhypothese decken alle möglichen Fälle ab, dazwischen gibt es nichts. Die Alternativhypothese formuliert, dass ein Effekt vorhanden ist, während die Nullhypothese behauptet, dass dies nicht der Fall ist. Statistische Hypothesenprüfung. Das Hypothesen-
paar von Null- und Alternativhypothese ist das wichtigste Werkzeug, um das Ergebnis einer Studie gegen den Zufall zu prüfen. Die statistische Prüfung erlaubt zu entscheiden, ob am Ergebnis einer Studie »etwas dran ist« oder nicht. Dabei geht man folgendermaßen vor: Die inhaltlichen Hypothesen H1 und H0 werden in statistische Hypothesen H1 und H0 umgewandelt, in denen klar festgelegt wird, wie man das Zutreffen der Alternativhypothese beurteilen will (z.B. Festlegung der Stichprobenkennwerte, wie Häufigkeit eines Infarktrezidivs, und der statistischen Tests). Stichprobenkennwerte und Populationsparameter. Für die statistische Prüfung ist die Unterschei-
dung zwischen Stichprobenkennwerten und Populationskennwerten (Populationsparametern) zentral. Stichprobenkennwerte beziehen sich lediglich auf die untersuchte Stichprobe, d.h. die jeweilige Patientengruppe (z.B. die KHK-Patienten einer Klinik), Populationsparameter auf die Population (Grundgesamtheit), aus der die Stichprobe stammt (z.B. alle KHK-Patienten in Deutschland). Kurz gesagt: Die Population ist die eigentliche Wirklichkeit, die »Welt draußen«, die Stichprobe ein kleiner Ausschnitt daraus, den ich untersuche. Stichprobenkennwerte weichen immer mehr oder weniger stark vom »wahren« Wert ab, wie er in der Population gilt. Der »Trick« bei der statistischen Hypothesenprüfung ist nun folgen-
1.3 · Methodische Grundlagen
der: Man muss die Population gar nicht kennen, aus der die Stichprobe stammt, die man untersucht hat. Man kann trotzdem mittels der Wahrscheinlichkeitstheorie genau bestimmen, mit welcher Wahrscheinlichkeit bestimmte Stichprobenkennwerte auftreten, wenn diese Stichproben zufällig aus einer Population gezogen werden, in der ein bestimmter »wahrer« Wert gilt. Statistischer Test und p-Wert. Zurück zu unserem
Beispiel mit der Lebensstilintervention. Als Untersuchungsplan haben wir eine kontrollierte Studie gewählt (7 Kap. 1.3.4). In der Interventionsgruppe wurde die Intervention durchgeführt, in der Kontrollgruppe nicht. Wir nehmen nun zunächst probehalber an, dass die Nullhypothese gilt, also die zu prüfende Intervention keinen Effekt im Hinblick auf eine Senkung des Infarktrisikos besitzt. Unter dieser Annahme entstammen beide Stichproben auch nach der Intervention aus derselben Population mit identischem Infarktrisiko (die Intervention bringt ja nichts, so die H0). Doch auch wenn beide Stichproben aus derselben Population stammen, kann es durch die Zufälligkeiten der Stichprobenauswahl (sog. Stichprobenfehler) zu Abweichungen in den Stichprobenkennwerten, also in unserem Beispiel der Infarkthäufigkeiten, kommen. Zieht man aus einer Population theoretisch unendlich viele gleich große Stichproben und berechnet für jede Stichprobe einen Kennwert (z.B. die Häufigkeit eines Ereignisses), so verteilen sich diese Stichprobenkennwerte in bekannter Weise um den zugehörigen Populationsparameter. Eine solche theoretische (d.h. mathematisch ableitbare) Stichprobenkennwerteverteilung aller möglichen Stichprobenergebnisse ermöglicht es, die Wahrscheinlichkeit für ein einzelnes Stichprobenergebnis einzuschätzen. Geringe Abweichungen des Einzelergebnisses vom Populationsparameter sind relativ häufig zu erwarten, größere Abweichungen seltener. Ein statistischer Test macht nun Folgendes: Er berechnet die Wahrscheinlichkeit, mit der das Ergebnis (Infarkthäufigkeit) in der Interventionsgruppe auftreten kann, wenn in der gesamten Population der Wert der Kontrollgruppe gilt (H0 = kein Effekt). Mit anderen Worten: Er berechnet, mit welcher Wahrscheinlichkeit der Unterschied zwischen der Interventions- und der Kontrollgruppe
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auch durch Zufall zustande kommen kann, ohne dass die Intervention einen Effekt hatte (H0). Der statistische Test gibt einen Wert p (probability) an. Dieser p-Wert ist die Wahrscheinlichkeit des Kennwerts (Infarkthäufigkeit) unserer Interventionsgruppe, unter der Annahme, dass die Nullhypothese zutrifft. Angenommen, der p-Wert sei in unserem Beispiel 2%. Hier kommt nun eine wissenschaftliche Konvention ins Spiel: Die Wissenschaft hat sich darauf verständigt, die Nullhypothese aufzugeben, wenn diese Wahrscheinlichkeit p kleiner als 5% ist. Wenn ein Ergebnis bei Gültigkeit der Nullhypothese also eine relativ kleine Wahrscheinlichkeit hat, hält man es für gerechtfertigt, die Nullhypothese aufzugeben und folgerichtig die Alternativhypothese anzunehmen. Dies ist eine Entscheidung des Forschers. Er ist sozusagen bereit, ein gewisses Restrisiko, nämlich die Irrtumswahrscheinlichkeit von 5%, in Kauf zu nehmen, wenn er bei p Einleitung Psychische Funktionen, wie Lernen, Kognition, Emotion und Motivation, sowie Strukturen, wie die menschliche Persönlichkeit und deren Entwicklung im Lebenslauf, sind Gegenstand des folgenden Kapitels. Biologische, psychologische und soziale Faktoren wirken hier meist zusammen. Nur einen einzelnen Faktor zu betrachten, ergäbe ein unvollständiges Bild.
1.4.1
Biologische Grundlagen
Untersuchungsmethoden. Psychische Funktionen
lassen sich aufgrund der rasanten Entwicklung der Hirnforschung inzwischen relativ genau der Aktivität bestimmter Hirnregionen zuordnen. Hierzu wesentlich beigetragen haben die funktionellen bildgebenden Verfahren: die funktionelle Kernspintomographie (fMRT), die Positronen-EmissionsTomographie (PET) und die Single-PhotonEmissions-Tomographie (SPECT). Die Verfahren basieren auf dem gesteigerten Stoffwechsel der Hirnzellen, der mit einer erhöhten Hirnaktivität einhergeht: Die funktionelle Kernspintomographie, die heute am häufigsten angewandt wird, benutzt als Signal sauerstoffgebundenes Hämoglobin (keine Radioaktivität erforderlich!), PET verwendet radioaktiv markierte Substanzen (Glucose, Wasser, Sauerstoff), SPECT Radioisotope. Die bildgebenden Verfahren besitzen eine gute räumliche, jedoch schlechte zeitliche Auflösung (Sekunden bis Minuten). Umgekehrt ist es beim Elektroenzephalogramm (EEG): Es kann psychische Funktionen im Millisekundenbereich darstellen; die räumliche Zuordnung ist aber ungenau, zumal nur oberflächliche Potentiale abgegriffen werden. Eine weitere nichtinvasive Technik zur Erfassung der elektrischen Aktivität des Gehirns ist die Magnetenzephalographie. Sie misst magnetische Felder, die vom aktiven Gehirn erzeugt werden. Wegen der unterschiedlichen Vor- und Nachteile der genannten Methoden ist es sinnvoll, mehrere Verfahren miteinander zu kombinieren, wenn man die Repräsentation psychischer Funktionen im Gehirn untersucht.
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Neuronaler Code. Sowohl auf molekularer und zellulärer Ebene (z.B. Neurotransmitter, Synapsen) als auch auf der Ebene der beteiligten Hirnstrukturen lassen sich viele psychischen Funktionen inzwischen beschreiben. Noch ungeklärt ist aber der neuronale Code, der den im Gehirn verarbeiteten Informationen zugrunde liegt. Dies gilt insbesondere für das sog. Bindungsproblem: Psychische Funktionen wie Wahrnehmung und Handlungsplanung basieren auf dem Zusammenspiel mehrerer parallel ablaufender Prozesse. Auf welche Weise diese integriert werden, ist noch unklar. Die zeitliche Synchronisation entsprechender Aktivitätsmuster könnte hierfür bedeutsam sein.
Repräsentation psychischer Funktionen im Gehirn Merke
Beim Zustandekommen psychischer Funktionen wie Denken, Fühlen und Handeln wirken meist mehrere Hirnregionen zusammen. Psychische Funktionen basieren auf der Aktivität von mehreren Schaltkreisen, die wiederum zu größeren neuronalen Netzwerken organisiert sind.
Beispielhaft wird dies im Folgenden für die Entstehung einer Handlung beschrieben. Eine lesenswerte Einführung in den Stand der Hirnforschung und die Konsequenzen für das Menschenbild gibt Gerhard Roth (»Aus der Sicht des Gehirns«), an dem sich die folgende Darstellung orientiert. Limbisches System, Großhirnrinde und Basalganglien spielen bei der neuronalen Planung und Ausführung einer Handlung eine wichtige Rolle. Das limbische System ist zentral an der Verarbeitung von Emotionen beteiligt. Es liegt am inneren Rand der Großhirnrinde und umschließt wie ein Saum den Hirnstamm (limbus, lat. Saum). Es unterzieht unsere Wahrnehmungen einer emotionalen Analyse, generiert Wünsche und Bedürfnisse und hat die emotionale Bewertung der Folgen unseres Handelns zur Aufgabe: Es beurteilt, was wir tun, nach »gut« oder »schlecht« und steuert demgemäß unser Verhalten, ohne dass uns das bewusst wird. Letztlich entscheidet es darüber, was getan wird und was nicht.
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Kapitel 1 · Entstehung und Verlauf von Krankheiten
Die bewusste Handlungsplanung und Handlungsvorbereitung geschieht im präfrontalen Cortex. Die Überprüfung der längerfristigen Folgen unseres Handelns, die Berücksichtigung sozialer Erwartungen und Regeln und die Kontrolle impulsivegoistischen Verhaltens finden im orbitalen Teil des präfrontalen Cortex statt. Dessen Feinstruktur wird erst in der Pubertät ausgebildet. Erst dann lernen Kinder, ihr impulsives Verhalten zu zügeln, also ruhig zu bleiben, wo das limbische System spontan »Draufhauen!« oder »Abhauen!« sagen würde. Hier schlägt sich die Wirkung von Erziehung und Sozialisation nieder (7 Kap. 1.4.7). Unser Handeln wird also dadurch »vernünftig«, dass die Großhirnrinde eingreift. Handlungsplanungen werden aber erst dann ausgeführt, wenn auch das limbische System seine Zustimmung gegeben hat, d.h. wenn sie auch emotional akzeptabel sind. Bewegungen müssen vor ihrer Ausführung mehrere Schleifen durch die Basalganglien durchlaufen, damit sich ein ausreichend starkes Bereitschaftspotential aufbaut (7 Kap. 1.2.1). Die endgültige Freischaltung von Bewegungsmustern in den Basalganglien geschieht durch den Neurotransmitter Dopamin. Die Ausschüttung von Dopamin wird wiederum vom limbischen System kontrolliert. Amygdala und Hippocampus, zwei Zentren des limbischen Systems, prüfen, welche Vorerfahrungen mit einer Handlung vorliegen. Sind diese positiv, wird Dopamin ausgeschüttet. Im Verlauf von mehreren Probedurchläufen wird das Bereitschaftspotential immer größer, bis es zur Auslösung der Handlung ausreicht. Der bewusste Willensentschluss wird erst deutlich nach dem Beginn des Bereitschaftspotentials erlebt (nach 300 bis 500 ms). Währenddessen wurde die Handlung schon unbewusst vorbereitet. Exkurs äParkinson-Syndrom. Ein Mangel an Dopamin liegt dem Morbus Parkinson zugrunde. Parkinson-Patienten gelingt es nicht, Bewegungen von innen heraus zu starten, auch wenn sie dies noch so sehr wollen. Ihre Bereitschaftspotentiale sind wegen des Dopaminmangels zu schwach. Dieses Defizit kann durch L-DopaGabe ausgeglichen werden.
Lokalisation. Die folgende Übersicht gibt eine grobe
Orientierung über die Lokalisation psychischer Funktionen im Gehirn. Dabei ist die Anmerkung vom Beginn des Kapitels wichtig, dass psychische Funktionen nicht in einer einzigen Region zu lokalisieren sind, sondern auf dem Zusammenwirken mehrerer Netzwerke basieren. Umgekehrt können dieselben Netzwerke bei mehreren unterschiedlichen Funktionen beteiligt sein. Beispiel: Dieselben Hirnstrukturen im prämotorischen Cortex, die bei der Vorbereitung einer Handlung aktiv sind, sind auch aktiv, wenn man sich eine Handlung nur vorstellt, ohne sie ausführen zu wollen, ja, sogar, wenn man diese Handlung bei einem anderen Menschen beobachtet (»Spiegelneurone«). Die Spiegelneurone bilden die neuronale Grundlage der Einfühlung in einen anderen Menschen (Empathie). Für detailliertere Darstellungen wird auf die Lehrbücher der Anatomie und Physiologie verwiesen. 4 Hypothalamus: Modulation des autonomen Nervensystems und der körperinternen Homöostase, durch enge Verbindungen mit dem limbischen System auch an der Steuerung von Lernen, Emotion und nichthomöostatischen Motiven (Sexualität, Aggression) beteiligt, Steuerung hormoneller Funktionen (über die Hypophyse); 4 Thalamus: Weiterleitung sensorischer Afferenzen zur Großhirnrinde (»Tor zum Cortex«), Steuerung der Aufmerksamkeit, über Verbindungen zu Basalganglien und limbischem System an der Handlungsplanung beteiligt; 4 limbisches System: an der Steuerung aller Verhaltens- und Denkprozesse beteiligt. Amygdala: emotionale Bewertung von Informationen (insbesondere Gesichtswahrnehmung) und Handlungen; Emotionsverarbeitung. Hippocampus: Organisator des Gedächtnisses, Vergleich ankommender mit gespeicherter Information, Speichern neuer Erfahrungen, Konsolidierung; kontextuelles Lernen; 4 Basalganglien: Bewegungsplanung und -ausführung, Motivation und Antrieb, Aufmerksamkeit, Gedächtnis (für Handlungen); 4 Kleinhirn: Gleichgewicht, Steuerung der Feinmotorik. Lernen, Gedächtnis; 4 Großhirnrinde: bewusstes Erleben. Primärsensorischer Cortex: Sinneswahrnehmung.
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1.4 · Theoretische Grundlagen
Motorischer Cortex: Bewegungssteuerung. Assoziativer Cortex: polysensorische Informationsverarbeitung, Speichern von Wissen und Fertigkeiten. Frontallappen: Handlungssteuerung, Handlungsplanung, Antizipation von Handlungsfolgen, Sprechen (Broca-Areal). Temporallappen: Hören, Verstehen akustischer Information, Sprachverständnis, Sprachproduktion (Wernicke-Areal), visuelles Erkennen (Störung: Agnosie); weitere Funktionen 7 Hippocampus (Gedächtnis), Amygdala (Emotionen). Parietallappen: sensorische Repräsentation des Körpers, räumliche Funktionen (Wahrnehmung und Bewegung; Störung von Handlungsabfolgen: Apraxie); Aufmerksamkeit. Okzipitallappen: visuelle Informationsverarbeitung.
Lateralisation, Hemisphärendominanz Psychische Funktionen werden von den beiden Hirnhälften meist nicht symmetrisch bearbeitet, die beiden Hemisphären haben sich vielmehr schwerpunktmäßig spezialisiert (Lateralisation). Dies ist auch anatomisch nachweisbar. Da die Sprache in der linken Hirnhälfte lokalisiert ist und die meisten Menschen Rechtshänder sind, wurde früher die linke Hemisphäre (die ja die rechte Körperhälfte steuert) als die überlegene betrachtet (Hemisphärendominanz). Aber auch die rechte Hirnhälfte hat außer der Steuerung der linken Körperhälfte ihre speziellen Aufgaben. Bei manchen Menschen ist der linke präfrontale Cortex stärker aktiviert; sie erleben mehr positive Gefühle, setzen sich Annäherungsziele. Bei anderen
Merke
5 linkes Gehirn: Sprache, sprachlich-sequenzielles Denken, neutrale und positive Emotionen, Welt- und Allgemeinwissen; 5 rechtes Gehirn: räumliche Wahrnehmung, visuell-räumliches Denken, musikalische Leistungen, Gesichter erkennen; Wahrnehmung und Verarbeitung von Emotionen (v.a. negative Stimmungen wie Depression). Episodisches, affektgeladenes Gedächtnis.
ist der rechte präfrontale Cortex stärker aktiv; sie empfinden mehr negative Gefühle, sind zur Depression prädisponiert und versuchen eher, unangenehme Situationen zu vermeiden (Vermeidungsziele). Dieser Unterschied ist ein stabiles Persönlichkeitsmerkmal. Durch Psychotherapie oder Pharmakotherapie lassen sich die Überaktivitäten bei einer Depression vermindern. Exkurs Linkshändigkeit. Auch bei Linkshändern ist die Sprache meist links lokalisiert. Linkshändigkeit, sofern sie genetisch bedingt ist (im Unterschied zu kompensatorischer Linkshändigkeit bei perinatalen Schädigungen der linken Hemisphäre), geht mit einer größeren musikalischen und künstlerischen Begabung (Lokalisation in der rechten Hemisphäre!), aber auch einer Anfälligkeit für immunologische Störungen (Allergien) einher. Intelligenzunterschiede bestehen nicht.
Exkurs Split brain. Die isolierte Arbeitsweise einer Hemisphäre lässt sich gut bei Split-brain-Patienten studieren. Bei diesen wurde der Balken, die Verbindung zwischen den beiden Hirnhälften, durchtrennt (Kommissurektomie), meist deshalb, weil nur auf diese Weise eine schwere Epilepsie in den Griff zu bekommen war. Infolge der teilweisen Kreuzung der Sehnerven gelangen visuelle Reize, die man dem rechten Gesichtsfeld präsentiert, in die linke Gehirnhälfte (und umgekehrt); die rechte Hälfte weiß bei Split-brain-Patienten jedoch nicht, was die
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linke sieht (und umgekehrt), weil die Verbindung ja durchtrennt ist. Zeigt man nun dem linken Gesichtsfeld, d.h. der rechten Gehirnhälfte ein Objekt, so kann das Individuum nicht sagen, was es gesehen hat, weil das Sprachzentrum ja links sitzt; es reagiert aber auf der Handlungsebene auf das Gesehene, kann beispielsweise auf Aufforderung ein ähnliches Objekt auswählen. In einem Experiment wurde einem Split-brainPatienten im linken Gesichtsfeld (also der rechten Hirnhälfte) eine Schneeszene präsentiert. Obwohl
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Kapitel 1 · Entstehung und Verlauf von Krankheiten
der Proband nicht angeben konnte, was er gesehen hatte, gelang es ihm ohne weiteres, mit der linken Hand (die ja von der rechten Gehirnhälfte gesteuert wird) aus vier Kärtchen (Schaufel, Schraubenzieher, Dosenöffner, Säge) das passende Gerät (Schaufel, zum Schneeschippen) auszuwählen. Interessant wurde es, als man dem rechten und dem linken Hirn unterschiedliche Dinge präsentierte: Das rechte Hirn bekam wieder die Schneeszene gezeigt, das linke eine Hühnerkralle. Daraufhin wählte der Proband mit der rechten Hand das zu einer Hühnerkralle passende Huhn aus, und mit der linken wieder die Schneeschaufel. So weit, so gut. Danach gefragt, warum er die Schneeschaufel ausgewählt habe, antwortete er jedoch: »Um den Hühnerstall sauberzumachen!« Er war also um eine Begründung nicht verlegen und hatte nicht den geringsten Zweifel, dass dies auch die zutreffende Erklärung seines Verhaltens war.
Neuronale Plastizität, Regeneration Merke
Unter neuronaler Plastizität versteht man die Fähigkeit des Gehirns zu strukturellen Veränderungen, insbesondere die Neubildung von Verbindungen (Synapsen) zwischen Nervenzellen. Neuronale Plastizität ist eine Grundlage von Lernen und Gedächtnis.
Gedächtnisinhalte (Engramme) entstehen zunächst durch kreisende Erregungen miteinander verbundener Zellen (reverberatorischer Kreisverband). Bei der Konsolidierung der Gedächtnisinhalte kommt es kurzfristig zur funktionellen Verstärkung vorhandener Verbindungen, indem Auflageflächen vergrößert und zusätzliche Rezeptormoleküle eingebaut werden, sowie zur Aktivierung vorher stiller Synapsen und schließlich zu synaptischen Neubildungen und synaptischem Wachstum (sprouting; Sprossung). So weisen professionelle Violinspieler, die schon als Kind Geigespielen gelernt haben, eine Vergrößerung derjenigen Hirnregionen auf, die für die Finger der linken Hand verantwortlich sind. Londo-
Eine derartige erfundene, aber nicht zutreffende Erklärung, von deren Wahrheitsgehalt der Betroffene jedoch überzeugt ist, nennt man eine Konfabulation. Man findet sie regelmäßig bei Gedächtnisstörungen, wenn sich die Betroffenen nicht mehr an die wirklichen Ursachen erinnern (Korsakoff-Syndrom). Aber auch im Alltag »konfabulieren« wir wohl häufig eine Erklärung für unser Verhalten, wenn uns die wahren Motive unbekannt sind. Dies gilt insbesondere für Emotionen, die subkortikal generiert werden und sich in beide Hemisphären auswirken. Zeigt man Split-brain-Patienten emotional bedeutungsvolle Wörter so, dass diese nur von der rechten Hemisphäre wahrgenommen werden können, so kann die linke Hemisphäre dennoch eine emotionale Bewertung des Reizes nach »gut« oder »schlecht« abgeben, obwohl sie den Inhalt der Wörter nicht angeben kann. Der emotionale Gehalt hat sich subkortikal von rechts nach links ausgebreitet.
ner Taxifahrer haben vergrößerte Hirnstrukturen (Hippocampus), die für das Gedächtnis in Bezug auf die räumliche Repräsentation der Umwelt zuständig sind. Die Steuerung der Genaktivität durch Umwelterfahrungen nennt man Epigenetik. Auch die Regeneration von Hirnfunktionen, die aufgrund von Krankheiten oder Verletzungen verlorengegangen sind, basiert auf neuronaler Plastizität. Nach dem Tod einer Nervenzelle kommt es entlang des degenerierten Axons zu einem kollateralen Sprossen, das mit der Erholung einer Verhaltensfunktion einhergeht. Selbst die Bildung neuer Neurone, die früher als ausgeschlossen galt, wird heute für möglich gehalten. Diese Erkenntnisse macht man sich in der Rehabilitation zunutze. Das Training eines nach einem Schlaganfall gelähmten Arms unter gleichzeitiger Immobilisierung des gesunden Arms führt zu einer Reorganisation des kortikalen Repräsentationsareals des gelähmten Arms (allerdings nur dann, wenn noch eine Restbeweglichkeit vorhanden war). Plastizität besteht allerdings vornehmlich in Kindheit und Jugend bis zur Pubertät. So können blind geborene Kinder, deren Hornhauttrübung erst im Erwachsenenalter operativ beseitigt wird, kein
1.4 · Theoretische Grundlagen
vollständiges Sehvermögen mehr erlangen, weil die dafür notwendigen Hirnstrukturen sich mangels Stimulation nicht adäquat entwickeln konnten. Merke
Die Plastizität nimmt im späteren Alter deutlich ab. Deshalb ist es wichtig, die frühen Entwicklungsjahre so intensiv wie möglich für das Lernen und die Entwicklung von Begabungen zu nutzen.
Neurotransmitter und Verhalten Merke
Bei der Steuerung des Verhaltens spielen Signalübertragungsstoffe, die sog. Neurotransmitter, eine wichtige Rolle. Im Gehirn finden sich ausgedehnte Transmitternetze. Ein Transmitter kann bei vielen unterschiedlichen Funktionen beteiligt sein.
So wirkt Serotonin bei der Regulation der Stimmung, des Schlafs, des Schmerzempfindens und des Essverhaltens wie auch bei psychischen Störungen wie Depression, Angststörung, Zwangsstörung und Essstörung mit. Zudem kann ein Transmitter je nach Rezeptortyp unterschiedliche Wirkungen an einer Nervenzelle ausüben. Es ist deshalb nicht möglich, eine psychische Funktion oder Störung auf nur einen einzigen Transmitter zurückzuführen. Gleichwohl bieten einzelne Transmitter wegen ihrer hervorgehobenen Rolle bei einer Störung therapeutische Ansatzpunkte. Serotonin und Depression. Serotonin (5-Hydroxy-
Tryptamin, 5-HT) gehört wie Adrenalin, Noradrenalin und Dopamin zu den Monoaminen. Es entsteht aus der Aminosäure L-Tryptophan. Eine tryptophanarme Diät löst bei disponierten Personen depressive Symptome aus. Gebildet wird Serotonin in den Raphekernen des Hirnstamms. Serotonerge Axone erstrecken sich aber über das gesamte Gehirn und erreichen u.a. den Hypothalamus, das limbische System, den Neocortex und insbesondere das Frontalhirn. Es existieren zahlreiche Serotonin-Rezeptortypen mit komplexen Wirkungen. Generell fördert
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Serotonin das Wohlbefinden, dämpft Stress und Aggression. Bei einer Depression liegt häufig ein Serotonin-Defizit vor, unabhängig von der Auslösung durch äußere Lebensumstände oder innere somatische Faktoren. Hier setzt die medikamentöse Behandlung an. Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmer (Serotonin-Reuptake-Inhibitoren, SSRI) hemmen die Wiederaufnahme von Serotonin in die präsynaptische Endigung, so dass es länger im synaptischen Spalt bleibt und dort seine Wirkung entfalten kann. Allerdings setzt die Wirkung erst nach frühestens ca. 2 Wochen ein. Während dieser Zeit muss man den Patienten kontinuierlich motivieren, damit er die Therapie nicht vorzeitig abbricht. Dopamin und äSchizophrenie. Eine Überfunktion des Neurotransmitters Dopamin spielt wahrscheinlich bei der Schizophrenie eine Rolle. Die Schizophrenie ist eine schwere psychische Störung (Psychose), die während einer akuten Episode mit Einschränkung des Realitätsbezugs, Sinnestäuschungen und Wahnvorstellungen einhergeht. Dopaminagonisten wie Kokain und Amphetamine können auch beim Gesunden schizophrenieartige Symptome auslösen. Die bei einer Schizophrenie wirksamen Medikamente, Neuroleptika genannt, sind Dopaminantagonisten. Sie blockieren den D2-Dopaminrezeptor. Dadurch ergeben sich aber auch motorische Nebenwirkungen, wie Bewegungsstörungen (Dyskinesien), Zittern (Tremor) und Muskelstarre (Rigor), die einem Parkinson-Syndrom ähneln. Weitere Neurotransmitter. Ungefähr 40 unter-
schiedliche Neurotransmitter wurden bisher identifiziert. GABA, eine Aminosäure (Gamma-AminoButtersäure), spielt neben Serotonin eine Rolle bei der Panikstörung. GABA ist der wichtigste inhibitorische Transmitter. Bei einem Panikanfall ist seine dämpfende Aktivität zu gering ausgeprägt. Benzodiazepine, die zur kurzfristigen Angstlösung eingesetzt werden (Anxiolytika), wirken über GABARezeptoren (bei Langzeitgabe Vorsicht: Abhängigkeitsgefahr!). Ein GABA-Mangel liegt auch bei der Chorea Huntington vor, einer erblichen neurologischen Erkrankung, die durch unkontrollierte Bewegungen gekennzeichnet ist. Acetylcholin, das meist erregend wirkt, hat eine wichtige Bedeutung für kognitive Funktionen wie Lernen, Gedächtnis, Auf-
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Kapitel 1 · Entstehung und Verlauf von Krankheiten
merksamkeit und Bewusstsein. Bei einer Demenz (Alzheimer-Erkrankung) besteht ein AcetylcholinDefizit. Von den Neurotransmittern grenzt man Neuromodulatoren ab, die die Wirkung der Transmitter regeln. Ungefähr 100 Neuromodulatoren sind bekannt. Meist handelt es sich um Peptide. Beispiele sind die Endorphine (Schmerz, Sucht) oder Oxytocin (Bindungsverhalten).
Genetische Einflüsse auf Verhalten Die Verhaltensgenetik hat für alle bisher untersuchten psychischen Eigenschaften Einflüsse der Gene festgestellt (7 Kap. 1.2.1). Bei der äSchizophrenie sinkt das Erkrankungsrisiko mit abnehmendem Verwandtschaftsgrad linear ab, und dies unabhängig davon, ob ein Individuum in seiner Herkunftsfamilie oder in einer Adoptivfamilie aufwächst. Schon daraus kann man schließen, dass genetische Einflüsse von großer Bedeutung sind. Umfangreiche Forschung hat erbracht, dass 80% der Varianz (Unterschiedlichkeit) der Menschen hinsichtlich des Auftretens einer Schizophrenie sich durch den Einfluss von Genen erklären lässt. Dabei ist es unwahrscheinlich, dass ein einzelnes Gen für die Krankheit verantwortlich ist; vielmehr wirken vermutlich mehrere Gene sowie prä-, peri- und postnatale Umwelteinflüsse zusammen. Es wird jedoch nur die Vulnerabilität für die Erkrankung vererbt, nicht die Erkrankung selbst. Die Krankheit selbst hat eine Prävalenz von 1% in allen untersuchten Populationen, die Disposition ist aber möglicherweise bei 10% der Bevölkerung vorhanden. Sie besteht wahrscheinlich in einer Störung der Aufmerksamkeitssteuerung und Informationsverarbeitung. Diese kann durch ereigniskorrelierte Potentiale (Amplitudenverminderung und Latenzverzögerung der P300-Komponente) objektiviert werden (zu funktionellen und strukturellen Veränderungen im Gehirn 7 Kap. 1.2.2). Ob diese Disposition jemals manifest wird, hängt wiederum von Umweltfaktoren, z.B. belastenden Lebensereignissen, ab (Diathese-Stress-Modell). Ein Risikofaktor für ein Rezidiv der Erkrankung liegt in der Familienumwelt: Ein überfürsorgliches Verhalten mit viel emotionaler Einmischung und Kritik (expressed emotion) erhöht die Rückfallgefahr. Auch für die Alkoholabhängigkeit, und zwar bei Männern mehr als bei Frauen, spielen Gene eine Rolle, wenn auch nicht so stark wie bei der Schizo-
phrenie. Möglicherweise spielen ein Gen für den Dopaminrezeptor D4 und ein GABA-Rezeptor-Gen als Risikofaktoren eine Rolle. Merke
Multifaktorielle Krankheitsentstehung. Genwirkungen auf Verhalten sind nicht deterministisch; d.h. dass jemand, der ein bestimmtes Gen besitzt, nicht unausweichlich das entsprechende psychische Merkmal oder eine psychische Störung entwickeln muss. Die meisten Genwirkungen sind probabilistisch und multifaktoriell: Das Vorhandensein eines Gens erhöht lediglich die Wahrscheinlichkeit, ein bestimmtes Merkmal zu entwickeln. Meist sind darüber hinaus sehr viele Gene beteiligt, so dass der Einfluss eines einzelnen Gens für sich genommen nur gering ist.
Es gibt auch keinen festen Wert der Erblichkeit für ein psychisches Merkmal; die Höhe der Erblichkeit hängt vielmehr von der untersuchten Population und deren Umweltbedingungen ab. Ein Beispiel dafür ist die Erblichkeit des Tabakkonsums von Frauen: In der Vergangenheit, als die Umwelt noch restriktiver hinsichtlich des Rauchens bei Frauen war, spielte die Erblichkeit keine große Rolle, sondern eher die Umwelt, d.h. der Zugang zu Zigaretten. Heutzutage sind Zigaretten für Frauen frei zugänglich, so dass die Umwelt keinen Unterschied mehr macht und dafür die Gene einen größeren Einfluss darauf ausüben, ob eine Frau raucht oder nicht. Eine hohe Erblichkeit bedeutet auch keineswegs, dass Umweltinterventionen nutzlos sind (Beispiel: Diät bei Phenylketonurie). Gentherapie ist auf der anderen Seite schwierig, weil praktisch alle Menschen Risikogene in sich tragen. Dadurch sind auch einem Screening auf diese Gene Grenzen gesetzt. Molekulargenetik. Die Verhaltensgenetik ist zwar in
der Lage festzustellen, ob ein psychisches Merkmal genetische Einflüsse zeigt und wie stark diese Einflüsse sind. Welche Gene konkret beteiligt sind und auf welche Weise sie ihren Einfluss ausüben, musste dabei bislang meist offen bleiben. Infolge der großen Fortschritte bei der Entzifferung des menschlichen Genoms ergeben sich zukünftig nun neue Perspek-
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1.4 · Theoretische Grundlagen
tiven für die Entdeckung einzelner Gene. Erste Erfolge betreffen die Identifizierung des SerotoninTransporter-Gens bei Depression (7 Kap. 1.2.1) und des Dopamin-Rezeptor-D4-Gens beim Persönlichkeitsmerkmal novelty seeking (»Streben nach Neuigkeit«), das häufig mit einer Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitäts-Störung verbunden ist, sowie des Dysbindin-Gens und des Neuregulin-1-Gens bei Schizophrenie. Es wird sich zeigen müssen, ob sich diese Entdeckungen bestätigen. Aufgabe der molekulargenetischen Grundlagenforschung ist es weiterhin, diejenigen Stoffwechselprozesse aufzuklären, die der Genwirkung zugrunde liegen. Psychologische Sozialisationsforschung andererseits sollte neben Umwelteinflüssen auch genetische Einflüsse einbeziehen, um der komplexen Interaktion von Genen und Umwelt Rechnung zu tragen. Dadurch kann die fruchtlose Anlage-Umwelt-Kontroverse (nature vs. nurture) aufgelöst werden. i Vertiefen Birbaumer N, Schmidt RF (2005) Biologische Psychologie, 6. Aufl. Springer, Berlin Heidelberg New York (dokumentiert den Stand des Wissens in umfassender Weise) Plomin R, DeFries JC, McClearn GE, McGuffin P (2001) Behavioral Genetics. 4th ed. Freeman, New York (gut geschriebene, verständliche Einführung) Roth G (2003) Aus Sicht des Gehirns. Suhrkamp, Frankfurt (stellt die aktuelle Hirnforschung vor und zieht Konsequenzen für unser Menschenbild) Roth G (2001) Fühlen, Denken, Handeln. Wie das Gehirn unser Verhalten steuert. Suhrkamp, Frankfurt (ausführliche Darstellung der Ergebnisse der Hirnforschung einschließlich anatomischer Grundlagen) Schandry R (2003) Biologische Psychologie. Beltz, Weinheim (leicht verständliche, didaktisch gut aufbereitete Einführung, die sich auf das Wesentliche beschränkt)
1.4.2
Lernen
Merke
Lernen ist definiert als Erwerb von Wissen und Fertigkeiten. Einfache Inhalte und zwischenmenschliches, emotionales Verhalten werden meist unbewusst gelernt. Schwierigere Aufgaben, wie die komplexe Bedeutung eines Satzes zu erkennen oder komplizierte Bewegungsab-
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läufe einzustudieren, erfordern Aufmerksamkeit und Bewusstsein. Emotionales Lernen geschieht meist nicht aufgrund einmaliger Erlebnisse, sondern infolge wiederholter Erfahrungen. Einmalige Erlebnisse sind nur dann wirksam, wenn sie emotional sehr intensiv sind, also traumatische Erlebnisse wie z.B. ein schwerer Unfall oder eine Vergewaltigung.
Assoziatives und nichtassoziatives Lernen Assoziatives Lernen. Assoziatives Lernen basiert auf
der Verknüpfung (Assoziation) von Reizen oder Ereignissen. Zwei einfache Formen des assoziativen Lernens sind die klassische Konditionierung und die operante Konditionierung (7 Kap. 1.2.1). Bei der klassischen Konditionierung werden zunächst zwei Reize miteinander verknüpft: der unkonditionierte Reiz (UCS; z.B. Futter) und der konditionierte Reiz (CS; z.B. Glocke). Durch mehrmalige Koppelung des unkonditionierten und des konditionierten Reizes wird der konditionierte Reiz (CS) in die Lage versetzt, auch alleine eine Reaktion auszulösen (konditionierte Reaktion, CR). Bei der operanten Konditionierung werden ein Verhalten und eine Verhaltenskonsequenz (Belohung, Verstärker) miteinander verknüpft. Nichtassoziatives Lernen. Nichtassoziatives Lernen geschieht ohne solche Verknüpfungen. Formen nichtassoziativen Lernens sind Habituation, Dishabituation und Sensitivierung. Merke
5 Habituation: Reaktion wird bei wiederholter Darbietung eines Reizes immer schwächer. 5 Dishabituation: Wenn der Habituationsvorgang durch einen Fremdreiz (neuer Reiz) unterbrochen wird, steigt die Reaktion auf den ursprünglichen Reiz wieder etwas an. 5 Sensitivierung: Durch die Darbietung eines Störreizes, der unangenehm (aversiv) oder schädigend (noxisch) ist, nimmt die Reaktion auf einen schon mehrfach präsentierten Reiz wieder zu, und zwar über das Ausgangsniveau hinaus.
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Kapitel 1 · Entstehung und Verlauf von Krankheiten
Biologische Grundlagen. Lernen erfolgt auf der Basis von Strukturveränderungen im Gehirn (7 Kap. 1.4.1). Obwohl die generelle Architektur des Gehirns genetisch vorgegeben ist, führen Lernerfahrungen (insbesondere während Kindheit und Jugend) zur Verstärkung der synaptischen Verbindungen zwischen den Nervenzellen. Vorgegebene Verbindungen können in Abhängigkeit von Lernprozessen stabilisiert oder aber auch aufgegeben werden. Hardware und Software lassen sich deshalb im Gehirn nicht streng voneinander trennen. Generell werden kurzeitige Effekte durch membranphysiologische Mechanismen, langfristige Effekte durch morphologische Umbauprozesse auf der Basis von Proteinsynthese bewirkt (synaptische Veränderungen). Neurophysiologische Grundlage des Lernens ist die Langzeitpotenzierung: Infolge einer wiederholten hochfrequenten, intensiven Aktivierung von Nervenzellen kommt es zu einer funktionellen Verstärkung der synaptischen Verbindungen durch die Aktivierung von Rezeptoren und schließlich zu strukturellen Veränderungen wie Vergrößerung der Kontaktfläche von Synapsen oder Synapsenneubildung. Im Hippocampus, wo die Speicherung organisiert wird, und im Cortex, wo das Gelernte »abgelegt« wird, werden synaptische Verbindungen zunächst aktiviert, z.B. durch Veränderung der Rezeptormoleküle, und schließlich neue Verbindungen hergestellt. Dadurch können Lernergebnisse langfristig gespeichert werden. Bei jedem Lernprozess werden vermutlich Tausende von Synapsen an bestimmten Stellen entweder verstärkt oder abgeschwächt.
Lerntheorien Merke
Folgende Theorien des Lernens können unterschieden werden: 5 klassische Konditionierung, 5 operante Konditionierung, 5 Lernen durch Beobachtung (syn. Modelllernen; Imitationslernen), 5 Lernen durch Eigensteuerung, 5 Lernen durch Einsicht.
Klassische Konditionierung Die Theorie der klassischen Konditionierung wurden unter der Überschrift »Respondentes Modell« schon in Kap. 1.2.1 dargestellt (Beispiele: Pawlowscher Hund, der kleine Albert). Als medizinische Anwendungen wurden die Entstehung einer Phobie, die antizipatorische Übelkeit bei einer Chemotherapie und die Konditionierung von Immunfunktionen beschrieben. Hier sollen noch einige Details ergänzt werden. Mit Reizgeneralisierung bezeichnet man das Phänomen, dass eine klassisch konditionierte Reaktion auch durch ähnliche, nicht völlig identische Reize ausgelöst werden kann (z.B. Töne unterschiedlicher Höhe). Werden die Reize jedoch zu unähnlich, funktioniert die konditionierte Reaktion nicht mehr (Reizdiskrimination). Wenn ein sprachlicher Begriff zum konditionierten Stimulus wird, nennt man dies semantische Konditionierung. Beispiel: Eine Patientin mit einer Rosenallergie bekommt allergische Symptome, wenn sie nur das Wort »Rose« hört. Man kann auch an einen schon konditionierten Reiz einen zweiten, neutralen Reiz anknüpfen, der dann ebenfalls zum konditionierten Reiz wird (Konditionierung höherer Ordnung).
Operante Konditionierung Die Theorie der operanten Konditionierung wurde als »operantes Modell« ebenfalls schon in Kap. 1.2.1 dargestellt. Synonyme für operante Konditionierung sind instrumentelle Konditionierung und Lernen am Erfolg. Grundgedanke der operanten Konditionierung ist, dass die Häufigkeit eines Verhaltens zunimmt (Verstärkung), wenn dem Verhalten eine angenehme Konsequenz nachfolgt (Effektgesetz des Lernens). Daher kommen auch die verschiedenen Bezeichnungen für dieses Modell: Das Verhalten übt eine Wirkung aus (operantes Verhalten), es ist ein Werkzeug (Instrument), um einen angenehmen Folgezustand (Erfolg) herzustellen. Merke
Negative Verstärkung. Negative Verstärkung ist ebenfalls Häufigkeitszunahme eines Verhaltens (Verstärkung), aber nicht durch die Gabe einer angenehmen Konsequenz, sondern durch
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1.4 · Theoretische Grundlagen
die Wegnahme einer unangenehmen Konsequenz (manchmal auch als Entfernung eines unangenehmen Reizes bezeichnet).
Die Verhaltenskonsequenzen bei der operanten Konditionierung werden oft ebenfalls Reize genannt; diese »Verstärkerreize« dürfen nicht mit den Auslösereizen in der klassischen Konditionierung verwechselt werden. Merke
Negative Verstärkung ist die Grundlage des Vermeidungslernens: Vermeidungsverhalten wird dadurch negativ verstärkt, dass eine aversive Situation, in der man sich unwohl fühlen würde, gar nicht erst aufgesucht wird.
Beispiel: Ein Agoraphobiker (Angst vor offenen Plätzen und Straßen) geht nicht auf die Straße, um die angsterregende Situation zu vermeiden. Infolge dieses operant konditionierten Vermeidungsverhaltens kann der Patient aber nicht die Erfahrung machen, dass nichts Schlimmes passieren würde, wenn er auf die Straße ginge. Seine klassisch konditionierte Angst kann deshalb nicht gelöscht werden. Hierzu wäre erforderlich, dass er sich mit der angstauslösenden Situation konfrontiert, sich ihr exponiert (Konfrontationstherapie bzw. Expositionstherapie: systematische Desensibilisierung und Reizüberflutung; 7 Kap. 2.4.3). Negativ verstärkt wird auch die Einnahme von Schmerzmitteln, weil durch die Schmerzmitteleinnahme der Schmerz, ein aversiver, negativ erlebter Zustand, beendet wird. Wichtige Begriffe. Wenn ein Organismus bei der
operanten Konditionierung lernt, dass ein Verhalten nur in einer ganz bestimmten Situation belohnt wird, nicht jedoch in einer anderen, nennt man dies Reizdiskrimination. Der Hinweisreiz, der anzeigt, dass ein Verstärker zu erwarten ist, heißt diskriminativer Reiz (nicht zu verwechseln mit dem auslösenden Reiz in der klassischen Konditionierung). Reizgeneralisation bedeutet entsprechend, dass das Verhalten auch in anderen als der ursprünglichen
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Situation ausgeführt wird. Primäre Verstärker befriedigen elementare Bedürfnisse (z.B. Nahrung); sekundäre Verstärker haben ihre Verstärkerqualität durch Koppelung mit primären Verstärkern gewonnen (z.B. Geld, soziale Anerkennung). Tokens sind Gutscheine oder Wertmarken, die beispielsweise bei Kindern als Verstärker eingesetzt werden. Time-out (Auszeit) wird die Strategie genannt, unerwünschtes Verhalten dadurch zu löschen, dass man es nicht beachtet. Beispiel: Ein hyperaktiver Junge, der häufig mit seinen Klassenkameraden streitet, wird vom Lehrer jeweils kurzzeitig in einen anderen Raum geschickt, sobald er einen Streit anfängt. Verstärkerpläne. Der Aufbau eines Verhaltens ge-
schieht am schnellsten mit regelmäßiger, kontinuierlicher Verstärkung. Intermittierende Verstärkung bedeutet hingegen, dass ein Verhalten nicht jedes Mal verstärkt wird, sondern nur unregelmäßig. Damit wird ein besonderes stabiles, löschungsresistentes Verhalten erzielt. Schnell und dauerhaft lernt man also durch eine Kombination von beiden Verstärkerplänen: zuerst kontinuierliche, dann intermittierende Verstärkung. Man kann ein erwünschtes Verhalten (z.B. Zimmer aufräumen bei einem Kind) auch dadurch verstärken, dass man es an ein häufig vorkommendes Verhalten (z.B. Fernsehen) koppelt (regelmäßig vor dem Fernsehen zuerst das Zimmer aufräumen); dies nennt man Premack-Prinzip. Ein anderes Beispiel: Ein depressiver Patient gibt sich jeden Morgen, wenn er in den Spiegel schaut, eine positive Selbstinstruktion: »Kopf hoch!« Um komplexe Verhaltensweisen aufzubauen, haben sich folgende Strategien bewährt: Merke
5 Chaining: zunächst einfache Elemente verstärken und diese dann zu Ketten aneinanderfügen 5 Shaping: Verhalten verstärken, auch wenn es zunächst nur in die Richtung des gewünschten Verhaltens geht, so dass es stufenweise dem Zielverhalten immer ähnlicher wird 5 Prompting: Verhalten von außen anstoßen (z.B. die Hand führen)
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Kapitel 1 · Entstehung und Verlauf von Krankheiten
Neurobiologische Grundlage der Verstärkung. Die
Verstärkung von Verhalten hat ihre neurobiologische Grundlage in Belohnungssystemen im Gehirn (z.B. mediales Vorderhirnbündel). Diese Zentren vermitteln über die Ausschüttung von Dopamin positive Gefühle. Sie werden aktiv, wenn ein Organismus eine positive Konsequenz erwartet. Bringt man bei Versuchstieren in die entsprechenden Regionen Mikroelektroden ein, so stimulieren sie sich selbst (intrakranielle Selbststimulation). Die Fähigkeit, auf kurzfristige Verstärkung zu verzichten, sei es, weil egoistisches Verhalten die Rechte anderer Menschen beeinträchtigen würde, sei es wegen übergeordneter eigener langfristiger Ziele (Verstärkeraufschub), ist im Frontalhirn (orbitofrontaler Cortex) lokalisiert. Menschen mit antisozialer Persönlichkeitsstörung weisen in bildgebenden Untersuchungen hier geringere Aktivität auf. Exkurs Kortikales Biofeedback. Durch die visuelle Rückmeldung der EEG-Aktivität auf einem Bildschirm können Menschen lernen, ihre EEG-Aktivität zu verändern. Sie können lernen, einen bestimmten EEG-Rhythmus herzustellen oder ein bestimmtes Potential zu positivieren. Diese Fähigkeit macht man sich bei Patienten mit medikamentös schwer einstellbarer Epilepsie zunutze, die auf diese Weise anfallsförderliche EEGFrequenzen vermindern können. Ein anderes Anwendungsfeld sind Patienten, die aufgrund einer Hirnstammläsion vollständig gelähmt sind und dadurch auch die Möglichkeit zu kommunizieren verloren haben (Locked-in-Syndrom). Diese Patienten können lernen, über operant beeinflusste Hirnpotentiale am Bildschirm Buchstaben auszuwählen, Wörter und Sätze zu bilden und so wieder mit ihrer Umwelt in Kontakt zu treten.
Lernen durch Beobachtung, Modelllernen Lernen durch Beobachtung bedeutet, dass man ein Verhalten dadurch lernen kann, dass man einen anderen Menschen beobachtet und dessen Verhalten übernimmt (imitiert; syn. Imitationslernen). Der andere, den man beobachtet, fungiert als Modell (syn. Lernen am Modell, Modelllernen). Beobach-
tungslernen spielt bei der Übernahme des zwischenmenschlichen und emotionalen Verhaltens zeitlebens eine große Rolle (Theorie des sozialen Lernens, Begründer: Albert Bandura): Kinder lernen von ihren Eltern, Jugendliche von Gleichaltrigen (peers), Assistenzärzte von Oberärzten etc. Experimentell ließ sich das Modelllernen z.B. in einer Studie demonstrieren, in der Kinder, die einen Film sahen, in dem ein Kind sich aggressiv gegenüber einer Spielzeugpuppe verhielt, später selbst aggressiver mit ihren Spielsachen umgingen. Das imitierte Verhalten muss nicht selbst verstärkt werden, es genügt, wenn das Modell vom Lernenden positiv bewertet (z.B. ein Jugendidol) oder das Modell für sein Verhalten belohnt wird (stellvertretende Verstärkung). Viele gesundheitsschädigende Verhaltensweisen werden von Modellen übernommen: z.B. Zigarettenrauchen bei Jugendlichen, die sich an den beliebtesten Mitgliedern ihrer peer group orientieren. Hier setzen Präventionsprogramme an, in denen gesundheitsförderliches Verhalten von Modellen mit hohem Prestige (z.B. Medienstars) propagiert wird. In der Medizin ist ein Zigaretten rauchender Arzt sicher kein gutes Modell in einem Raucherentwöhnungskurs. In der Verhaltenstherapie wird Modelllernen beim Rollenspiel z.B. im Rahmen der kognitiven Therapie einer Depression oder bei einem Selbstsicherheitstraining eingesetzt. Der Therapeut fungiert dabei als Modell. Er macht dem Patienten vor, wie man sich in einer bestimmten Situation sicher und kompetent verhält, und der Patient führt dann dieses Verhalten selbst aus, zunächst in der Therapiesituation, danach in der äußeren Realität. Preparedness. Allerdings lässt sich durch Beobach-
tung nicht jedes beliebige Verhalten erlernen; es muss vielmehr eine biologische Bereitschaft dafür bestehen (preparedness). So zeigten Rhesusaffen, die im Zoo aufwuchsen und noch nie in ihrem Leben mit einer Schlange konfrontiert waren, ängstliches Verhalten angesichts einer Schlange, nachdem sie ein Video gesehen hatten, in dem ein Artgenosse Angst vor einer Schlange zeigte. Wenn man in diesem Video die Schlange durch einen Hasen ersetzte, so dass es so aussah, als würde das Modell Angst vor dem Hasen haben, so führte dies beim Beobachter nicht zum Erlernen von Hasenangst. Für Angst vor
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1.4 · Theoretische Grundlagen
Schlangen hat sich in der Evolution ein Verhaltensprogramm herausgebildet, das nur noch aktiviert werden musste, für Angst vor Hasen hingegen nicht.
Lernen durch Eigensteuerung In den einfachen Lernmodellen wie klassischer und operanter Konditionierung und auch, wenngleich schon etwas weniger, beim Lernen durch Beobachtung spielt die Umwelt die wichtigste Rolle als Agent der Verhaltenssteuerung. Demgegenüber betont das Lernen durch Eigensteuerung die Fähigkeit des Menschen, sein Verhalten selbst zu steuern, indem er sich ein Ziel setzt und sich selbst belohnt, wenn er das Ziel erreicht hat. Diese Selbstverstärkung kann eine materielle Belohnung sein, wie Süßigkeiten, ins Kino gehen etc., die man sich gönnt, wenn man beispielsweise beim Lernen das Pensum eines Tages geschafft hat; es kann aber auch einfach das angenehme Gefühl der Zufriedenheit sein. Da innere, kognitive Prozesse wie Ziele, Erwartungen und Bewertungen hierbei eine große Rolle spielen, kann dieses Lernmodell den kognitiven Modellen zugerechnet werden. In Kap. 1.2.1 waren als Anwendungsbeispiele die kognitive Verhaltenstherapie der Panikstörung und der Depression skizziert worden. Lernen durch Eigensteuerung findet auch in verhaltensmedizinischen Schulungsprogrammen statt, in denen Patienten lernen, eigenverantwortlich mit ihrer chronischen Krankheit umzugehen (Selbstmanagement; 7 Kap. 2.4.2).
Lernen durch Einsicht Lernen durch Einsicht gehört ebenfalls zu den kognitiven Modellen. Hier geht es darum, die innere Struktur eines Problems zu erkennen und durch Nachdenken die Lösung zu finden, die sich dann mit einem »Aha-Erlebnis« einstellt. Lernen durch Einsicht ist Anwendung der fluiden Intelligenz (7 Kap. 1.4.3). Eine neue, komplexe Situation erfordert eine sinnvolle Lösung, die nicht allein durch einfache Strategien wie Versuch und Irrtum zu finden ist. Vielmehr ist ein Erkenntnisprozess notwendig, der eine neue Qualität des Verstehens mit sich bringt: Verständnis des Sinns statt bloßem Auswendiglernen. Dieser Suchprozess wird durch rigide Routinen eher behindert. Als negativer Transfer wird die Anwendung einer früher bewährten Prob-
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lemlösungsstrategie auf eine neue Situation bezeichnet, für die sie nicht geeignet ist. i Vertiefen Lefrancois G (1998) Psychologie des Lernens. 3. Aufl. Springer, Berlin (klassische Einführung) Margraf J (Hrsg) (2000) Lehrbuch der Verhaltenstherapie. 2. Aufl. Springer, Berlin (stellt die Anwendung der Lernpsychologie auf die Psychotherapie dar)
1.4.3
Kognition
Merke
Kognition heißt, vereinfacht gesagt, Denken. Unter »Kognition« werden unterschiedliche gedankliche Informationsverarbeitungsprozesse zusammengefasst, wie Wahrnehmungen, Bewertungen, Interpretationen, Gedächtnis und andere intellektuelle Leistungen.
Aufmerksamkeit und Informationsverarbeitung Aufmerksamkeit. Wie schon in Kap. 1.2.2 beschrie-
ben, läuft der größte Teil der Wahrnehmung und Informationsverarbeitung ohne Mitwirkung des Bewusstseins ab. Schon im sensorischen Speicher (s.u.) erfolgt die Mustererkennung der ankommenden Reize. Passt das Muster zu einem schon vorhandenen Schema, wird eine entsprechende Reaktion automatisch ausgelöst. Eine erste unbewusste emotionale Bewertung der Information wird vom limbischen System durchgeführt. Bewusste Informationsverarbeitung baut immer auf vorbewusster Informationsverarbeitung auf. Sie setzt erst dann ein, wenn neue oder komplexe Information auftritt, die neue oder komplexe Handlungspläne erfordert. Dann wird auf die ankommende Information kontrollierte Aufmerksamkeit gerichtet (im Gegensatz zur schon vorher vorhandenen automatischen Aufmerksamkeit). Das bewusste Aufmerksamkeitssystem erfordert Ressourcen, deren Kapazität begrenzt ist (limitiertes Kapazitäts-Kontroll-System, LCCS). Dieses System der Aufmerksamkeit ist sowohl für die Daueraufmerksamkeit (Vigilanz) wie auch für die nur auf bestimmte Reize gerichtete, selektive Aufmerksamkeit verantwortlich. Die bewusste Informationsverarbeitung erfolgt im Arbeitsgedächtnis (Kurz-
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Kapitel 1 · Entstehung und Verlauf von Krankheiten
Exkurs
Wahrnehmung
äHemineglekt. Eine Störung der räumlichen
Aktiver Prozess. Die Wahrnehmung ist ein aktiver
Aufmerksamkeit liegt wahrscheinlich einem Phänomen zugrunde, das man bei manchen Schlaganfallpatienten findet: Sie ignorieren die gelähmte Körperhälfte vollständig, so als wäre sie nicht mehr vorhanden. Da sich die Aufmerksamkeit nicht von der gesunden Körperseite löst und auf die gelähmte Seite richtet, wird diese auch nicht bewusst wahrgenommen. Ein solcher kontralateraler Neglekt tritt vor allem nach Läsionen des rechten unteren Parietallappens auf.
Prozess, keine bloße Widerspiegelung der Dinge in der Außenwelt. Die Zahl der Verbindungen der 1011 Hirnzellen untereinander ist 100.000-mal größer als die Zahl der Eingänge von außen. Dies deutet darauf hin, dass die Informationsvermittlung innerhalb des Gehirns eine viel größere Rolle spielt als der von den Sinneszellen geleistete Input. Die Ergebnisse des Wahrnehmungsprozesses stellen ausschnitthafte, vom Gehirn bearbeitete Repräsentationen der Welt dar: Der Wahrnehmungsprozess greift dasjenige heraus, was für das Überleben wichtig ist. Wahrnehmung muss nicht die Wirklichkeit objektiv wiedergeben; sie ist vielmehr dann »zutreffend«, wenn das aus ihr folgende Verhalten gegenüber der Umwelt angemessen ist. Weil sie sich über lange Zeit im Verlauf der Evolution herausgebildet hat, arbeitet sie so zuverlässig. Wahrnehmungsergebnisse sind also nicht direkte Folge der physikalischen Reize der Umgebung, sondern Ergebnis von Berechnungen in neuronalen Netzwerken. Da diese in verlässlicher Weise immer wieder zustande kommen, werden sie von uns jedoch für Eigenschaften der äußeren Wirklichkeit gehalten.
zeitgedächtnis; s.u.). Zudem erfolgen ständig Vergleiche mit den im Langzeitgedächtnis gespeicherten Erfahrungen. Die Instanzen, die über die Lenkung der Aufmerksamkeit entscheiden, liegen im präfrontalen Cortex und im Gyrus cinguli. Diese Hirnstrukturen erhalten Information aus dem inferior-parietalen Assoziationscortex, wo der Vergleich der ankommen Information mit schon vorhandenen Schemata erfolgt, und aus dem limbischen System, wo die ankommenden Reize nach ihrer emotionalen und motivationalen Bedeutung bewertet werden. Exkurs äAufmerksamkeitsdefizit-HyperaktivitätsStörung (ADHS). Diese Störung tritt vor allem bei Jungen im Grundschulalter auf. Symptome sind: 5 mangelnde Aufmerksamkeit: Die Kinder sind unkonzentriert, machen viele Flüchtigkeitsfehler, bleiben nicht bei der Sache, hören nicht zu; 5 Hyperaktivität und Impulsivität: Sie zappeln herum, können nicht sitzen bleiben, laufen umher, sind immer auf Achse; sie platzen mit ihren Antworten heraus, unterbrechen andere und können nicht warten, bis sie an der Reihe sind.
Wegen ihrer Lernschwierigkeiten brechen diese Kinder häufig die Schule ab. Schon im Säuglingsalter fielen sie oft als schwierige Babys
(»Schreibabys«) auf. Die AHDS ist ein Risikofaktor für eine antisoziale Persönlichkeitsstörung im Erwachsenenalter. Oft schikanieren die Kinder ihre Umwelt und werden später gewalttätig. Genetische Faktoren sowie vorgeburtliche (Alkohol, Nikotin, Drogengebrauch der Mutter) und geburtliche Schädigungen werden als Ursache angesehen, aber auch das Erziehungsverhalten der Eltern spielt eine Rolle (7 Kap. 1.4.7). Wahrscheinlich liegt eine Funktionsstörung in denjenigen Hirnregionen zugrunde, die für die Handlungskontrolle zuständig sind. Dort besteht eine Störung des Dopaminund Serotoninstoffwechsels. Ein Überschuss an Dopamin ist für die Hyperaktivität verantwortlich, ein Mangel an Serotonin für die geringe Frustrationstoleranz und die Unfähigkeit, sich beruhigen zu lassen.
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1.4 · Theoretische Grundlagen
Hypothesenprüfung. Wahrnehmung ist kein direktes Abbild der Wirklichkeit, sondern Hypothesenprüfung und Interpretation, die meist nicht bewusst verlaufen und willkürlich wenig veränderbar sind. Beispiel: Wir nehmen die Farbe einer Rose immer in gleicher Weise als »rot« wahr, obwohl die jeweiligen Wellenlängen ja nach der Helligkeit der Umgebung (z.B. im Tageslicht oder in der Abenddämmerung) sehr unterschiedlich sein können. Bewusste Wahrnehmung entsteht, wenn Wahrnehmungsinformation, die außerhalb der Großhirnrinde vorbereitet wurde, in den assoziativen Arealen des Cortex mit Informationen des deklarativen Gedächtnisses verglichen und daraus ein sinnvoller Wahrnehmungsinhalt konstruiert wird. Anschließend werden Wahrnehmungsdetails hinzugenommen, ein Prozess, der verhältnismäßig lange dauert (300 ms bis zu 1 s bei komplexen Wahrnehmungen) und viel Energie braucht. Da sich Wahrnehmungsprozesse im individuellen Leben schon sehr früh ausbilden und verfestigen, sind sie wenig veränderbar. Aufmerksamkeit. Voraussetzung bewusster Wahr-
nehmung ist, dass Aufmerksamkeit auf den entsprechenden Gegenstand gelenkt wird. Das deklarative Gedächtnis lenkt die Aufmerksamkeit und legt dadurch fest, was bewusst wahrgenommen wird. Dabei steht der Hippocampus unter dem Einfluss des limbischen Systems, d.h., er wird auch von Emotionen beeinflusst.
Sprache Die neuroanatomischen Grundlagen der Sprache haben sich vor etwa 100.000 Jahren herausgebildet. Schon bei Geburt ist der menschliche Organismus optimal darauf vorbereitet, Sprache zu erkennen. Säuglinge können z.B. schon früh Laute unterscheiden. Beim Spracherwerb wird die Grammatik nicht als Regelwerk gelernt, sondern vermittelt sich beiläufig. Da die Grundstrukturen aller (etwa 5000) Sprachen gleich sind (»Universalgrammatik«), liegt es nahe, dass ein kulturübergreifendes Programm zum Erwerb der Sprache existiert, das nur noch mit der jeweiligen Information gefüttert werden muss. Dieses Programm ist neuronal verankert und ermöglicht es dem Kind, sich Sprache automatisiert anzueignen. Sprachliche Kommunikation ist sequentiell, sie besteht in der Verwendung einer Folge von Zeichen.
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Dies unterscheidet sie von den Prozessen der Sinneswahrnehmung, bei denen viele Informationen (Form, Farbe, Bewegung, Intensität, Rhythmik etc.) gleichzeitig parallel verarbeitet werden. Deshalb gelingt es oft nicht, mit Sprache Wahrnehmungs- und emotionale Inhalte ganzheitlich wiederzugeben. Sprachliche Kommunikation kann zu einer Verarmung der Ausdrucksmöglichkeiten führen. Sprachstörungen. Wenngleich es Hirnregionen gibt, die für manche Sprachfunktionen besonders wichtig sind, so wirken doch bei der Sprache wie auch bei anderen psychischen Funktionen mehrere Module zusammen. Die Sprachzentren sind bei den allermeisten Menschen in der linken Hemisphäre angesiedelt (7 Kap. 1.4.1). Das Broca-Areal im Frontallappen ist für die Sprachproduktion, das Wernicke-Areal im oberen Temporallappen für das Sprachverständnis wichtig. Bei Läsionen dieser Regionen, am häufigsten durch einen Schlagfall im Versorgungsgebiet der A. cerebri media bedingt, treten Sprachstörungen (äAphasien) auf: Merke
5 Broca-Aphasie: Die Sprachproduktion ist gestört – kaum spontane Sprache, auf Aufforderung langsame, angestrengte Sprache, kurze Sätze, einfacher Satzbau. Phonematische Paraphasien (Auslassen oder Umstellen von Lauten, z.B. Beilstift statt Bleistift). Störung der Aussprache (Dysarthrie). Verständnis komplexer Sätze ist ebenfalls gestört 5 Wernicke-Aphasie: reichliche, unkontrollierte Sprachproduktion (Unterschied zur Broca-Aphasie!). Spontansprache flüssig, aber unverständlich infolge vieler phonematischer und semantischer Paraphasien (Verwendung eines zwar bedeutungsverwandten, im jeweiligen Kontext aber falschen Wortes, z.B. Mutter statt Frau) und Neologismen (Wortneubildungen). Satzbau ist gestört, Sprachverständnis erheblich beeinträchtigt 5 globale Aphasie: schwere, kombinierte Störung. Kaum Sprachproduktion, erheblich gestörtes Sprachverständnis
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Kapitel 1 · Entstehung und Verlauf von Krankheiten
Eine leichtere Form der Sprachstörung ist die amnestische Aphasie, die durch Wortfindungsstörungen gekennzeichnet ist. Eine Aphasie wird meist von entsprechenden Störungen des Lesens (Alexie) und Schreibens (Agraphie) begleitet. Apraxie ist die Unfähigkeit, eine bestimmte Handlung auszuführen. Perseveration wird ein Symptom genannt, bei dem der Betroffene ein Wort oder eine Bewegung immer wieder wiederholt. Agnosie ist die Störung des Erkennens vertrauter Objekte, Prosopagnosie des Erkennens von Gesichtern. Die genaue Diagnostik der genannten kognitiven Funktionsstörungen mit Hilfe von Testbatterien ist Aufgabe der Neuropsychologie. Ein neuropsychologisches Training, durch das diese Störungen verbessert werden können, ist wichtiger Bestandteil der neurologischen Rehabilitation nach einem Schlaganfall oder einer Hirnverletzung (7 Kap. 2.4.3).
Gedächtnis Gedächtnis ist definiert als Speicherung von Gelerntem, um es wieder verwenden zu können. Nach der Dauer des Behaltens (Retention) unterscheidet man drei Speicher: Merke
5 sensorisches Gedächtnis: speichert Sinnesinhalte für sehr kurze Zeit (Enkodierung). Visuelle Information: ikonisches Gedächtnis (80 Jahre), die als Hauptverdiener einen Haushalt bestreiten, betroffen. Diese Zahl ist doppelt so hoch wie diejenige des nationalen Durchschnitts. Hochbetagte Männer in ähnlicher Situation leiden dagegen nur selten unter finanzieller Not. In keiner Altersgruppe gibt es eine so geringe Dichte an Sozialhilfeempfängern wie im Alter. Allerdings nimmt ein großer Teil der älteren Menschen diese wohl auch trotz Bedarf nicht in Anspruch. i Vertiefen Oerter R, Montada L (1998) Entwicklungspsychologie. 5. Auflage. Beltz, Weinheim (umfangreiches und detailliertes Standardwerk über die Entwicklung von Kindheit, Jugend, Erwachsenenalter und Senium) Wahl H-W, Resch-Römer C (2000) Angewandte Gerontologie in Schlüsselbegriffen. Kohlhammer, Stuttgart (gute Übersicht über die Grundbegriffe und Inhalte der Gerontologie)
1.4.9
Soziodemographische Determinanten des Lebenslaufs
Demographisches Altern Demographie ist die Lehre von der Bevölkerung. Aufbau und Entwicklung der Bevölkerung hängen von der Zahl der Geburten und der Sterbefälle (Geburtenüberschuss oder -defizit) sowie der Zahl der Ein- und Auswanderungen ab. Die Zahl der Geburten und Sterbefälle bestimmt die natürliche Bevölkerungsentwicklung.
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Kapitel 1 · Entstehung und Verlauf von Krankheiten
Merke
Die beiden wichtigsten Faktoren, die den Bevölkerungsaufbau in Deutschland bestimmen, sind eine Abnahme der Geburtenzahl und eine Zunahme der Überlebenszeit. Beides zusammengenommen führt zum demographischen Altern.
Zunahme der Lebenserwartung. Die Lebenserwartung ist der wichtigste Indikator für die Lebensbedingungen und die Gesundheitsversorgung eines Landes. In den Industrieländern nahm die durchschnittliche Lebenserwartung bei Geburt seit dem Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert zu. Bei Frauen beträgt die durchschnittliche Lebenserwartung derzeit 81 Jahre. Bei Männern liegt sie genetisch bedingt etwas niedriger bei 74 Jahren. Seit längerem steigt die Lebenserwartung jedes Jahr um etwa drei Monate. Bei Fortsetzung dieses Trends wird eine Frau im Alter von heute ungefähr 20 Jahren, die gerade am Beginn ihres Studiums steht, voraussichtlich ihren 100. Geburtstag erleben. Auch in den Entwicklungsländern nimmt die Lebenserwartung zu, sie liegt jedoch noch deutlich hinter den Industrieländern zurück (Frauen 64 Jahre, Männer 61 Jahre). Rektangularisierung der Überlebenskurve. Trägt
man die Überlebenswahrscheinlichkeit gegen das Lebensalter auf, so ähnelt die Kurve mit zunehmender Lebenserwartung immer mehr einem Rechteck. Die Überlebenswahrscheinlichkeit bleibt über viele Lebensjahre konstant hoch und fällt im höheren Alter relativ plötzlich ab. Dies liegt daran, dass sich trotz zunehmender Lebenserwartung das maximale biologische Alter nicht wesentlich nach oben verschoben hat. Merke
Kompression der Morbidität. Nicht nur die Lebenserwartung steigt, sondern auch die Lebenszeit, die wir bei Gesundheit verbringen (behinderungskorrigierte Lebenszeit; DALY: disability-adjusted life years). Krankheiten werden ins höhere Alter »verschoben« (Kompression der Morbidität).
Der größte Anteil an Gesundheitskosten entsteht erst im letzten Lebensjahr. Der relative Anteil der Menschen einer Altergruppe, die an einer chronischen Krankheit leiden, sank in den letzten Jahrzehnten, zusammen mit den Risikofaktoren (Rauchen, Bluthochdruck). (Dass trotzdem die absolute Zahl chronisch Kranker zunimmt, kommt durch die immer größere Zahl alter Menschen zustande.) Die zunehmende Lebenserwartung kann insgesamt als eine Errungenschaft der modernen Zivilisation bewertet werden, in der sich die besseren Lebensbedingungen, individuelles Gesundheitsverhalten und die Erfolge der Medizin widerspiegeln.
Generatives Verhalten Zum Problem wurde die zunehmende Lebenserwartung erst dadurch, dass sich das generative Verhalten der Menschen geändert hat. In den Industrieländern generell und in Deutschland ganz besonders werden nämlich weniger Kinder geboren, als zur Reproduktion der Bevölkerung nötig wären. Die Geburtenziffer beträgt in Deutschland derzeit 1,3 (statt der notwendigen 2,0). Durch den Wegfall der Nachkommen wird der Anteil der über 60-Jährigen von derzeit 24% auf 38% im Jahr 2050 angestiegen sein, derjenige der über 80-Jährigen von derzeit 4% auf 12%. Diese Entwicklung würde auch bei Änderungen im generativen Verhalten oder in der Zuwanderung kurzfristig nicht wesentlich beeinflusst werden. Eine wichtige Kennziffer ist der Altenquotient, d.h. das Verhältnis der Menschen im Rentenalter (über 60 bzw. 65 Jahre) zu den Erwerbstätigen (20- bis 60bzw. 65-Jährige). Zählt man zu den Menschen im Rentenalter die noch nicht erwerbstätigen (unter 20 Jahre) hinzu, erhält man den Belastungs- oder Altersabhängigkeitsquotienten. Beide Quotienten steigen immer mehr an, was gravierende sozialpolitische und gesundheitspolitische Folgen hat. Sozialpolitische Folgen. Da die Rentenversicherung bisher im Umlageverfahren erfolgte (im Unterschied zu einem kapitalgedeckten Verfahren), müssen immer weniger Berufstätige immer mehr Rentner versorgen. Dass die aktuell Erwerbstätigen die aktuellen Rentner finanzieren, wird etwas euphemistisch als Generationenvertrag bezeichnet. Um die finanzielle Lücke auszugleichen, gibt es prinzipiell drei Möglichkeiten: eine längere Lebensarbeitszeit, eine Reduzie-
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1.4 · Theoretische Grundlagen
rung der Leistungen für Rentner oder höhere Sozialabgaben für jüngere Erwerbstätige. Höhere Sozialabgaben verteuern jedoch die international sowieso schon zu hohen Arbeitskosten, was zu einer Verlagerung von Arbeitsplätzen ins Ausland und steigender Arbeitslosigkeit führt, mit der Folge sowohl noch geringerer Einnahmen als auch noch größerer Ausgaben für die Sozialversicherungssysteme. Merke
Gesundheitspolitische Folgen. Eine Folge des demographischen Alterns ist die Zunahme von Menschen mit chronischen Krankheiten. Zurzeit werden 80% der Gesundheitsausgaben für chronische Krankheiten aufgewendet. Chronische Krankheiten sind heute auch die häufigsten Todesursachen (Herz-Kreislauf-Krankheiten ca. 33%, Krebserkrankungen ca. 20%), nicht mehr wie früher (und heute noch in Entwicklungsländern) Infektionskrankheiten. Die Medizin ist jedoch noch immer viel zu stark auf die Behandlung von akuten Krankheiten ausgerichtet.
Bei chronischen Krankheiten kann üblicherweise keine Heilung erzielt werden, sondern die Betroffenen müssen lernen, mit ihrer Krankheit zu leben. Sie sind auf kontinuierliche Behandlung bzw. Rehabilitation angewiesen (7 Kap. 3.1.4). Aber auch der Lebensstil der Betroffenen hat einen großen Einfluss auf den Verlauf. So ließ sich zeigen, dass auch noch bei älteren Menschen durch entsprechende Ernährung, körperliche Aktivität, mäßigen Alkoholgenuss und Verzicht auf Nikotin die Mortalität auf ein Drittel gesenkt werden kann. Eine weitere medizinische Folge des demographischen Alterns besteht darin, dass ältere Menschen meist an mehreren Krankheiten gleichzeitig leiden (Multimorbidität).
Demographische Grundbegriffe Die folgenden Kennziffern können jeweils allgemein, d.h. auf die ganze Bevölkerung bezogen, oder spezifisch, d.h. getrennt nach dem Geschlecht oder nach Altersgruppen, formuliert werden. 4 Nuptialität: Anzahl der verheirateten Paare. 4 Allgemeine Fruchtbarkeitsziffer (Fertilität): Zahl der Geburten im Verhältnis zu Frauen im gebärfähigen Alter (15 bis unter 45 Jahre).
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4 Allgemeine Geburtenziffer (Natalität): Zahl der Geburten auf 1000 Einwohner in einem Jahr. 4 Zusammengefasste Geburtenziffer: Anzahl von Kindern pro Frau. Sie liegt in Deutschland derzeit zwischen 1,2 und 1,4. Notwendig für die Reproduktion sind in entwickelten Ländern wegen der niedrigen Sterblichkeit 2 Kinder pro Frau. 4 Nettoreproduktionsziffer: Zahl der geborenen Mädchen im Verhältnis zur Zahl der Frauen im gebärfähigen Alter. Sie muss 1 betragen, wenn sich eine Bevölkerung reproduzieren soll. Derzeit liegt sie in Deutschland bei 0,6. In der Weltbevölkerung nahm sie in den letzten 50 Jahren von 1,65 auf 1,19 ab. Bis 2050 wird ein Abfall auf 0,93 erwartet. 4 Altersspezifische Geburtenziffer: Zahl der Geburten bei Frauen einer bestimmten Altersgruppe. Ihr Maximum hat sich immer weiter nach hinten verschoben und liegt derzeit bei 27– 29 Jahren. 4 Geschlechtsspezifische Geburtenziffer: Zahl der neugeborenen Mädchen bzw. Jungen pro 1000 Einwohner. Zwar werden etwas mehr Jungen als Mädchen geboren, allerdings gleicht sich das Verhältnis wegen der etwas höheren Sterblichkeit von Jungen bis zum Erwachsenwerden wieder aus (Geschlechterproportion). Merke
Säuglingssterblichkeit: Anzahl der im ersten Lebensjahr verstorbenen Säuglinge bezogen auf die Zahl der Geburten. Sie nahm in den letzten Jahrzehnten in Deutschland kontinuierlich ab und beträgt gegenwärtig 6 pro 1000 Geburten. Die Säuglingssterblichkeit ist ein aussagekräftiger Indikator für die allgemeinen Lebensverhältnisse und die Qualität der medizinischen Versorgung. Sie ist in Entwicklungsländern höher (67 pro 1000), wenngleich wegen der Fortschritte bei der Seuchenbekämpfung lange nicht so hoch wie in Europa vor der Industrialisierung.
4 Mortalität: allgemeine Sterbeziffer. 4 Letalität: Zahl der Todesfälle an einer bestimmten Krankheit.
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Kapitel 1 · Entstehung und Verlauf von Krankheiten
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. Abb 1.17. Altersaufbau der Bevölkerung in Deutschland zu vier Zeitpunkten (nach Statistisches Bundesamt 2003)
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1.4 · Theoretische Grundlagen
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närer, nicht wachsender Bevölkerung. Deutschland 1950. 4 Pilz bzw. Urne: demographisches Altern infolge sinkender Geburtenrate bei hoher Lebenserwartung. Schrumpfende Bevölkerung. Deutschland im Jahre 2010 und noch deutlicher im Jahr 2050. Vorausberechnungen, die auf den aktuellen Trends basieren, können zwar nur näherungsweise Gültigkeit beanspruchen, waren allerdings bisher meist relativ präzise.
Schema der demographischen Transformation
. Abb 1.18. Phasen des ersten und zweiten demographischen Übergangs (aus Birg 2004)
Altersaufbau. Der Altersaufbau der Bevölkerung
kann graphisch dargestellt werden. Je nach Geburten- und Sterbehäufigkeiten ergeben sich dabei unterschiedliche Formen (. Abb. 1.17). 4 Pyramide bzw. Pagode: breite Basis durch hohe Geburtenrate, schmale Spitze infolge geringer Lebenserwartung, wachsende Bevölkerung. Typisch für Entwicklungsländer bzw. Deutschland im Jahr 1910. 4 Glocke: Übergangsstadium moderner Gesellschaften mit sinkender Geburtenrate und statio-
Als demographische Transformation (Transition, Übergang) wird die Änderung der Bevölkerungsstruktur im Verlauf der Industrialisierung einer Gesellschaft beschrieben. Das Modell umfasst ursprünglich fünf Phasen, in denen sich Geburten- und Sterberaten und infolgedessen das Bevölkerungswachstum ändern (. Tabelle 1.11). Die allgemeine Entwicklung geht von hohen Geburten- und Sterberaten hin zu niedrigen Geburten- und Sterberaten. Der Abfall der Sterblichkeit geht dabei dem Abfall der Geburten voraus, weshalb es vorübergehend zu einer »Bevölkerungsexplosion« kommt (. Abb. 1.18). 4 In der 1. Phase wächst die Bevölkerung nur langsam, weil die hohe Geburtenrate durch die hohe Säuglingssterblichkeit wieder ausgeglichen wird. 4 In der 2. Phase sinkt die Säuglingssterblichkeit infolge besserer Ernährung, Hygiene und Bildung, während die Geburtenrate unverändert hoch bleibt, so dass die Bevölkerung immer schneller wächst. 4 In der 3. Phase, der Umschwungphase, ist die Geburtenrate zunächst noch hoch, sinkt dann
. Tabelle 1.11. Schema der ersten demographischen Transformation Geburtenrate
Sterberate
Bevölkerungswachstum
1. prätransformatorische (vorindustrielle) Phase
hoch
hoch
langsam
2. frühtransformatorische (frühindustrielle) Phase
hoch
sinkend
zunehmend
3. Transformationsphase (Umschwungphase)
erst hoch, später sinkend
niedrig
Höhepunkt
4. spättransformatorische Phase
sinkend
niedrig
abnehmend
5. Posttransformationsphase
niedrig
niedrig
stationär bzw. sinkend
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Kapitel 1 · Entstehung und Verlauf von Krankheiten
aber; das Wachstum überschreitet seinen Höhepunkt. 4 Infolge der sinkenden Geburtenrate fällt das Wachstum zunächst schnell (4. Phase), 4 dann langsamer ab (5. Phase), bis es auf niedrigem Niveau stabil bleibt. 4 Als zweiten demographischen Übergang bezeichnet man eine 6. Phase, in der in den Industrieländern die Zahl der Geburten langfristig unter das für die Bestandserhaltung notwendige Mindestniveau abfällt, so dass die Bevölkerung ohne Zuwanderung schrumpfen würde. Der Abfall der Geburtenrate vollzog sich in Deutschland schon seit Beginn des 20. Jahrhunderts, lange bevor die modernen Möglichkeiten der Antikonzeption zur Verfügung standen. Seit Anfang der 70er Jahre des 20. Jahrhunderts liegt die Zahl der Geburten in Deutschland unter derjenigen der Sterbefälle. Infolgedessen würde die Bevölkerung schrumpfen, wenn das Defizit nicht durch Zuwanderungen ausgeglichen würde. Deutschland hat seit langem mehr Zuwanderungen pro Jahr als Geburten. Stärker als in anderen Industrieländern werden fehlende Geburten durch Einwanderungen ersetzt. Auch in den Entwicklungsländern vollzieht sich ein demographischer Übergang mit Abfall der Geburtenrate und gesellschaftlichem Altern, und zwar als Folge des zunehmenden wirtschaftlichen Wohlstands viel schneller als in den Industrieländern.
Determinanten des generativen Verhaltens Wie lässt sich die niedrige Kinderzahl in den Industrienationen erklären? Kinder zu haben ist in modernen Gesellschaften keine Selbstverständlichkeit mehr, sondern Ergebnis einer biographischen Entscheidung. Dabei berücksichtigen Frauen bzw. Paare auch, worauf sie verzichten müssen, wenn sie sich dafür entscheiden, ein Kind zu bekommen. Eine Familie zu gründen, bedeutet zum einen, sich langfristig festzulegen. Dies steht in Widerspruch zu Mobilität und Flexibilität der Zukunftsplanung. Zum zweiten bedeutet es für die Frauen Unterbrechung oder gar Abbruch der beruflichen Karriere und Verzicht auf Einkommen, weil sie sich zunächst um die Kinder kümmern (Männer machen dies noch immer sehr selten »hauptberuflich«). Je größere Bil-
dungs- und Einkommenschancen Frauen haben, umso mehr müssen sie aufgeben, wenn sie sich für Kinder entscheiden. Daraus ergibt sich die paradoxe Situation, dass Gesellschaften mit hohem Wohlstands- und Bildungsniveau, die sich eigentlich Kinder am meisten leisten könnten, die geringste Geburtenrate aufweisen. Weil der Verzicht auf Alternativen in der Biographie im jungen Erwachsenenalter, d.h. während der Ausbildung und am Anfang der Berufstätigkeit, schwerer wiegt als später, verschieben immer mehr Frauen den Zeitpunkt der Geburt des ersten Kindes auf spätere Lebensphasen, um sich berufliche Optionen offen zu halten. Etwa ein Drittel bleibt zeitlebens kinderlos. Versuche in der ehemaligen DDR, eine geburtenfreundliche Politik durchzuführen, waren nur vorübergehend erfolgreich. Bereits Jahre vor der Wiedervereinigung glich sich die Kinderzahl wieder dem niedrigen Niveau im Westen Deutschlands an. Die Geburtenrate fiel nach der Wiedervereinigung in den Neuen Ländern auf ein Minimum von 0,8 und nähert sich seitdem wieder von unten dem westlichen Niveau. Durch die Wiedervereinigung vervielfachten sich die realen Pro-Kopf-Einkommen in den neuen Bundesländern, was viele Frauen dazu bewog, auf Kinder zu verzichten, um erwerbstätig sein zu können. Dennoch steht für fast 90% der Deutschen die Gründung einer Familie an erster Stelle ihrer persönlichen Prioritäten. Für über 85% der Eltern bedeuten Kinder positive Aspekte, wie Gebrauchtwerden, Freude, Lieben und Geliebtwerden. Umfragen zur gewünschten Kinderzahl erbringen immer wieder 2 Kinder als ideal. Dies entspricht auch der notwendigen Kinderzahl für eine stationäre (weder wachsende noch schrumpfende) Bevölkerung, in der die Lasten zwischen Jungen und Alten am besten verteilt sind. Dass man für Kinder auch Opfer bringen muss, wird seltener bewusst gesehen. Befragt man Frauen, die keine Kinder haben, nach ihren Gründen für die Kinderlosigkeit, so wird an erster Stelle das Fehlen eines geeigneten Partners genannt. Die aus Sicht der Familienpolitik wichtigen Gründe, wie Fehlen von Kinderbetreuung, stehen dabei nicht im Vordergrund, eher noch die befürchteten höheren Lebenshaltungskosten oder die Sorge um den Arbeitsplatz.
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1.4 · Theoretische Grundlagen
Änderung des Familienzyklus. Mit Familienzyklus wird die zeitliche Gliederung des Lebenslaufs bezeichnet: Heirat, Elternschaft, Wiederaufnahme der Erwerbstätigkeit, Großelternschaft, Verwitwung. Die Veränderung des generativen Verhaltens hat hier gravierende Auswirkungen: Die Familienphase (Pflege und Versorgung der Kinder) ist kürzer geworden, weil einerseits immer weniger Kinder da sind und sich andererseits das Leben insgesamt verlängert hat. Nur noch ein Viertel der Lebenszeit einer Frau fällt auf die Familienphase, vor 100 Jahren war es noch die Hälfte. Zeitlich ausgedehnt hat sich hingegen die nachelterliche Phase (Spätphase), wenn die Kinder aus dem Haus sind. Umso wichtiger ist es für eine Frau, dann wieder in ihren Beruf zurückkehren zu können.
Migration und Akkulturation Soziodemographisch bedeutsam sind horizontale Wanderungen (Wechsel des Aufenthaltsorts), im Unterschied zu vertikaler Migration (sozialer Aufoder Abstieg, 7 Kap. 1.4.10). Die häufigsten Ursachen der Wanderung sind unzureichende, disparate Lebensbedingungen wie Armut, Hunger, Umweltzerstörung, schlechte Arbeitsplatzchancen, politische Unfreiheit, Kriege oder auch das Nachholen der Familie. Den Prozess des Einlebens in die Kultur des aufnehmenden Landes nennt man Akkulturation. Von Integration spricht man, wenn gute Beziehungen zur Kultur des aufnehmenden Landes entwickelt werden, aber auch die Kultur der ehemaligen Heimat erhalten bleibt, von Assimilation, wenn eine vollständige Anpassung unter Aufgabe der eigenen kulturellen Identität angestrebt wird. In den vergangenen Jahren hat die Zuwanderung in Deutschland eine große Bedeutung erreicht (Arbeitsimmigranten, Spätaussiedler, Asylsuchende). Für den Arzt bzw. die Ärztin bedeutet dies nicht nur, dass er oder sie mit Patienten konfrontiert wird, die eine andere Sprache sprechen, sondern auch einer fremden Kultur entstammen, in denen Kranksein eine andere Bedeutung haben kann. In vielen Kulturen wird eine Krankheit ganzheitlich erlebt. Sie befällt den ganzen Körper. Entsprechend werden Symptome dramatisch und körpernah geschildert (»Schmerzen im ganzen Körper!«). Derartige Symptompräsentationen können beim ausschließlich naturwissenschaftlich orientierten Arzt auf Unver-
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ständnis stoßen und das Risiko für Fehlbehandlungen erhöhen.
Entwicklung der Weltbevölkerung Im Jahr 2004 lebten 6,4 Milliarden Menschen auf der Erde. Die Weltbevölkerung ist in den vergangenen Jahrzehnten immer schneller gewachsen. Der prozentuale Zuwachs erreichte in den 70er Jahren ein Maximum, nimmt seitdem jedoch ständig ab und beträgt gegenwärtig noch rund 1,2% pro Jahr. Wahrscheinlich wird das Weltbevölkerungswachstum nach Vorausberechnungen der UN in der 2. Hälfte des 21. Jahrhunderts seinen Höhepunkt mit 9– 10 Mrd. Menschen erreichen. Danach wird die Weltbevölkerung wieder abnehmen. Der Hauptgrund dafür ist der Rückgang der Geburtenrate, der seit 1950 von 5 Geburten pro Frau im Weltdurchschnitt auf jetzt 2,8 abnahm, und zwar nicht nur in den Industrieländern (derzeit 1,6), sondern auch in den Entwicklungsländern (derzeit 3,1). Je höher Stand und Tempo der sozioökonomischen Entwicklung in einem Land sind, desto niedriger ist die Geburtenrate. Nach einer Prognose der UN wird sich die Geburtenrate bis zum Jahr 2050 auf 2,0 im Weltdurchschnitt einpendeln. Merke
Determinanten. Auch in den Entwicklungsländern sind wirtschaftliche Entwicklung und Steigerung des Wohlstands die wichtigsten Einflussfaktoren für die Senkung der Geburtenrate. Denn dann ist man für die Altersvorsorge nicht mehr auf möglichst viele Kinder angewiesen, sondern persönliche Vorsorge und Vorsorge durch staatliche Wohlfahrtsinstitutionen treten an ihre Stelle. Auch die Emanzipation der Frau, die sich vor allem in einer Berufsausbildung (und späterem Heiratsalter) manifestiert, trägt maßgeblich zum Geburtenrückgang bei.
Weitere Einflussmöglichkeiten bestehen in der Senkung der Säuglingssterblichkeit durch verbesserte Ernährung, Hygiene und medizinische Versorgung sowie Aufklärung über Antikonzeption und Familienplanung. Wo diese mit religiösen Normen in Konflikt gerät, ist das von der UN proklamierte »Recht auf demographische Selbstbestimmung« zu achten.
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1
Kapitel 1 · Entstehung und Verlauf von Krankheiten
Ernährungsproblem. Das sog. Malthus-Gesetz, das besagt, dass die Bevölkerung exponentiell, die Nahrung aber nur linear wächst, hat sich nicht bewahrheitet. Im Gegenteil, die Nahrungsproduktion wächst, auch in den Entwicklungsländern, schneller als die Bevölkerung. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nahm deshalb die Zahl der Hungernden trotz Bevölkerungswachstum nicht nur relativ, sondern auch absolut ab. Auch Afrika könnte seine wachsende Bevölkerung problemlos ernähren, wenn die natürlichen Ressourcen angemessen genutzt und die Produkte sinnvoll verteilt würden. Das Ernährungsproblem erscheint also prinzipiell lösbar.
Bloße Expertenmeinungen werden nicht mehr als ausreichend angesehen, medizinische Maßnahmen zu legitimieren. In der Hierarchie der wissenschaftlichen Evidenz für Behandlungsmaßnahmen sind sie auf dem untersten Niveau angesiedelt. Stattdessen werden systematische wissenschaftliche Überprüfungen der Wirksamkeit von Interventionen gefordert (evidenzbasierte Medizin, 7 Kap. 1.3.7).
Ressourcenproblem. In den 70er Jahren des 20. Jahr-
Individualisierung. Die Abnahme traditionaler Bindungen zeigt sich auch in der zunehmenden Unabhängigkeit individuellen menschlichen Handelns von traditionellen Normen der Herkunftsfamilie, der sozialen Schicht oder Region. Die Individualisierung geht mit einem Wertewandel einher: Traditionelle Werte wie Pflichtgefühl und Akzeptanz (»Was werden die Nachbarn sagen?«) verlieren an Bedeutung zugunsten einer Pluralisierung der Werte und der Selbstverwirklichung. Diese zunehmende Individualisierung wird einerseits als Befreiung von traditionellen Einschränkungen erlebt, kann aber andererseits auch vermehrte Unsicherheit mit sich bringen. Lebensläufe sind weniger als früher planbar und vorhersehbar. Statt einer »Normalbiographie« steht eine Fülle von Optionen zur Verfügung, aus denen der Einzelne auswählen kann (und muss). Sozialer Aufstieg ist nicht mehr garantiert, wenn man bestimmte Bildungsstandards absolviert hat. In der Biographie werden Selbstverständlichkeiten und gesellschaftliche Verbindlichkeiten durch individuelle Entscheidungen ersetzt, z.B. bei der Entscheidung einer Frau, Kinder zu bekommen oder nicht (7 Kap. 1.4.9) oder beim Eingehen von Partnerbeziehungen (7 Kap. 1.4.7). Insbesondere für Frauen haben sich in modernen Gesellschaften wegen ihrer zunehmenden wirtschaftlichen Unabhängigkeit vom Partner die Entscheidungsspielräume erweitert (7 Kap. 1.2.5). Neue Abhängigkeiten, z.B. vom Arbeitsmarkt und der jeweiligen Finanzlage der sozialen Sicherungssysteme, kommen jedoch hinzu.
hunderts prophezeite der Club of Rome eine dramatische Verknappung der Rohstoffe, insbesondere des Erdöls. Inzwischen haben die entdeckten Ressourcen jedoch zugenommen, und sie scheinen auf absehbare Zeit auszureichen. Hinzu kommen neue Energiequellen (z.B. Sonnenenergie), deren Nutzung lediglich noch effizienter werden muss. In jüngster Zeit wurde das Umweltproblem als wichtigstes Bevölkerungsproblem angesehen. Dieses Problem ist jedoch durch den Einsatz moderner Technologien ebenfalls prinzipiell lösbar. i Vertiefen Birg H (2004) Die Weltbevölkerung. Beck, München (knappe, allgemeinverständliche Einführung in die Problematik)
1.4.10
Sozialstrukturelle Determinanten des Lebenslaufs
Modernisierungsprozess von Gesellschaften Merke
Zweckrationales Handeln. Im Zuge des Modernisierungsprozesses der Gesellschaft wurde zweckrationales Handeln zum Ideal. Dies gilt auch für die Medizin: Handeln soll nicht einfach nur mit der Tradition begründet werden (»Das haben wir immer schon so gemacht!«), sondern mit seiner wissenschaftliche Fundierung.
Affektkontrolle. Der Prozess der Zivilisation ist au-
ßerdem durch eine zunehmende Kontrolle von Emotionen und spontanen (insbesondere aggressiven) Handlungen geprägt, infolge sozialer Normen wie auch größerer Selbstkontrolle.
151
1.4 · Theoretische Grundlagen
Analoge Prozesse des Wandels ereignen sich im Bereich der Zugehörigkeit zu sozialen Gruppen. Traditionelle Bindungen werden durch selbstgeknüpfte soziale Netzwerke ersetzt. Zunehmende Rationalisierung und Individualisierung lassen auf der anderen Seite auch Bedürfnisse nach emotionaler Anteilnahme und Zusammengehörigkeit entstehen, die z.B. in charismatischen Beziehungen zu einem Idol ihren Ausdruck finden können. Wegen der Fragilität derjenigen Beziehungen, die nur für eine bestimmte Lebensphase eingegangen werden, gewinnt auch die Herkunftsfamilie mit ihren stabileren Bindungen wieder an Bedeutung.
1
ersten beiden Sektoren an Bedeutung, während die Zahl der im dritten Sektor Beschäftigten zunimmt, weil er nicht so leicht technisierbar ist. Die Medizin gehört zum Dienstleistungssektor. Sie stellt einen Wachstumsmarkt mit hohem Potential dar, das jedoch wegen der Finanzierung durch Sozialversicherungssysteme nicht ausgeschöpft werden kann. Deshalb gibt es Bestrebungen, Marktmechanismen in der Medizin zu stärken. Vom dritten Sektor lässt sich als vierter Sektor der Bereich Kommunikation von Wissen und Information abgrenzen. Erwerbsquote. Mit Erwerbsquote wird der Anteil
Informationsgesellschaft. In der modernen Gesell-
schaft ist Wissen der wichtigste Produktionsfaktor. Gerade auch in der Medizin vermehrt sich das Wissen explosionsartig, Lehrbücher sind schon zum Zeitpunkt ihres Erscheinens veraltet. Der aktuelle Wissensstand kann nur mittels ebenso aktueller Informationsmedien verbreitet (disseminiert) werden. Zugleich wird medizinische Information durch die modernen Kommunikationstechnologien, insbesondere das Internet, sehr viel leichter als früher für die breite Bevölkerung zugänglich. Dies hat Auswirkungen auf die Arzt-Patient-Beziehung (7 Kap. 2.1.5). Patienten kommen oft schon gut informiert in die Arztpraxis. Moderne Technologien, wie z.B. molekulargenetische Untersuchungen, um Krankheitsrisiken zu identifizieren (prädiktive Diagnostik), die teilweise ebenfalls über das Internet angeboten werden, werfen aber auch ethische Fragen auf: An wen darf die Information weitergegeben werden? Haben z.B. auch Versicherungsgesellschaften ein Recht darauf, über die bei ihren Antragstellern vorliegenden Risiken informiert zu werden?
Änderungen der Erwerbsstruktur Merke
Man unterscheidet drei Erwerbssektoren: 5 primärer Sektor: Landwirtschaft, 5 sekundärer Sektor: Industrie, 5 tertiärer Sektor: Dienstleistung, Handel.
Tertiarisierung. Nach der Hypothese von Fourastié
verlieren infolge des technischen Fortschrittes die
der Erwerbstätigen an der Bevölkerung bezeichnet. Infolge Arbeitslosigkeit sinkt die Erwerbsquote. Strukturelle Arbeitslosigkeit (im Unterschied zu konjunkturell bedingter Arbeitslosigkeit) hat in den letzten Jahrzehnten immer mehr zugenommen. Sie ist durch Merkmale der Wirtschaftsstruktur bedingt: hohe Arbeitskosten (Löhne, Lohnnebenkosten), insbesondere bei gering qualifizierter Arbeit und zu geringe Flexibilität des Arbeitsmarkts. Infolgedessen werden Arbeitsplätze ins Ausland verlagert. Kapitalintensive Arbeitsplätze für Hochqualifizierte bleiben eher erhalten. Strukturelle Arbeitslosigkeit soll zum einen durch arbeitsmarktpolitische Reformen, zum anderen durch eine verbesserte Ausbildung vermindert werden. Arbeitslosigkeit ist ein Risikofaktor für Krankheit, z.B. koronare Herzkrankheit.
Soziale Differenzierung Soziale Schicht. Moderne Gesellschaften weisen eine Binnendifferenzierung auf. Das geläufigste Modell zur Beschreibung der sozialen Differenzierung ist das Schichtmodell. Die soziale Schicht (syn. sozioökonomischer Status) wird meist anhand dreier Kriterien bestimmt: Ausbildung, Beruf und Einkommen. Diese drei Kriterien werden auch meritokratische Triade genannt, weil man davon ausgeht, dass sozialer Status durch Leistung erworben wird (erworbener Status). Die Höhe der Belohnung, die mit einer gesellschaftlichen Position verbunden ist, hängt idealerweise von ihrer Wichtigkeit ab. In vormodernen Gesellschaften hingegen wurde der soziale Status von der Herkunftsfamilie oder dem Stand festgelegt (zugeschriebener Status).
152
1
Kapitel 1 · Entstehung und Verlauf von Krankheiten
Die Schichtungsstruktur moderner Gesellschaften ist nicht eindimensional hierarchisch. Zwischen den einzelnen Schichten gibt es viele Übergänge. Deshalb hat man andere Möglichkeiten herangezogen, soziale Differenzierung zu beschreiben: soziale Lage/Lebenslage, die noch zusätzliche Kriterien wie z.B. die Wohnung heranzieht, und Lebensstil, der quer zu den Schichten liegt. Innerhalb einer Schicht kann es sehr unterschiedliche Lebensstile geben, und Personen unterschiedlicher Schicht können denselben Lebensstil aufweisen. Das Kriterium Lebensstil ist wegen seiner höheren Verhaltensorientierung auch besser geeignet, Gesundheitsverhalten und Präventionsstrategien zu beschreiben (7 Kap. 3.1.2 und 3.1.3). Statusinkonsistenz. Wenn eine Person auf allen drei Kriterien (Bildung, Beruf, Einkommen) eine ähnliche Position aufweist, spricht man von Statuskristallisation, wenn nicht, von Statusinkonsistenz. Beispiel: Dr. phil., der nach dem Studium als Taxifahrer arbeitet. Exkurs Neue soziale Ungleichheit. In jüngster Zeit sind neue Ungleichheiten in den Blick gekommen: zunehmende Einkommensunterschiede innerhalb der Gesellschaft (Einkommensdisparität), regionale Unterschiede zwischen alten und neuen Bundesländern oder Nord- und Süddeutschland, Geschlechtsunterschiede oder Unterschiede zwischen ethnischen Gruppen. Soziale Randgruppen, wie z.B. Obdachlose, unterliegen einem hohen Diskriminierungsrisiko.
Soziale Mobilität Hier interessiert die vertikale Mobilität (d.h. Aufstiegs- und Abstiegsbewegungen), im Unterschied zur horizontalen Mobilität (regionale Wanderungen, 7 Kap. 1.4.9). Moderne Gesellschaften sind durch relativ große vertikale Mobilität gekennzeichnet. Diese findet allerdings in der Mehrzahl zwischen den mittleren Schichten statt, während sie am oberen und unteren Ende der Hierarchie geringer ausgeprägt ist. Die wichtigsten Einflussfaktoren sind Intelligenz und Bildung (Schulbildung, Ausbildung). Doch auch die
Merke
5 Intragenerationenmobilität: sozialer Aufoder Abstieg innerhalb einer Generation, d.h. während des Lebens eines Individuums. Beispiel: Eine Person mit Hauptschulabschluss und Lehre erwirbt auf dem zweiten Bildungsweg die Hochschulreife und wird Arzt. 5 Intergenerationenmobilität: sozialer Aufoder Abstieg zwischen zwei Generationen. Beispiel: Vater Arbeiter, Sohn Arzt.
Familie übt immer noch eine gewisse Platzierungsfunktion aus. Chronische Krankheiten können einen sozialen Abstieg zur Folge haben. Ein Beispiel ist der soziale Abstieg bei äSchizophrenie. Dieser setzt oft schon Jahre früher ein, bevor die auffälligen Symptome wie Wahnvorstellungen oder Halluzinationen zum ersten Mal auftreten. Eine Schizophrenie äußert sich nämlich zuerst auf sehr diskrete Art und Weise, so dass sie nicht als solche diagnostiziert wird. Diese Vorläuferphase dauert im Mittel 5 Jahre. Sie ist durch depressive Stimmung, Antriebsmangel, Gleichgültigkeit, sozialen Rückzug und verminderte kognitive Leistungsfähigkeit geprägt. Die Betroffenen brechen mit ihren Leistungen ein, verlassen die Schule, verlieren ihren Arbeitsplatz. Beziehungen gehen in die Brüche. Da dieser soziale Abstieg der manifesten Erkrankung vorauszugehen scheint, hielt man früher ungünstige soziale Bedingungen für die Ursache der Schizophrenie. Infolge genauerer Diagnostik weiß man aber heute, dass in den sozialen Problemen schon die ersten Anfänge der Psychose zum Ausdruck kommen. Man versucht deshalb, die Schizophrenie möglichst früh zu diagnostizieren, um rechtzeitig mit der Behandlung beginnen zu können, bevor der soziale Abstieg zementiert wird.
Einfluss von Bildung auf Lebensstil und Gesundheit Der wichtigste Einflussfaktor auf Lebensstil und Gesundheit ist das Bildungsniveau. Mit der Schichtzugehörigkeit sind bestimmte Einstellungen und Werte verbunden. Als mittelschichtspezifische Werte gelten:
153
1.4 · Theoretische Grundlagen
4 Zukunftsorientierung, 4 Bedürfnisaufschub, 4 Autonomie, Selbstbestimmung, individuelle Verantwortung, 4 hohes Anspruchsniveau, Erfolgsorientierung, Aufstiegsorientierung, 4 Vertrauen in die Veränderbarkeit der eigenen Lage. Zukunftsorientierung des Handelns, also Ziele zu verfolgen, die noch weit in der Zukunft liegen, ist eine wichtige Voraussetzung sowohl für Bildung als auch für gesundheitsförderliches Verhalten. Mittelschichtangehörige schreiben dem Gut Gesundheit einen hohen Wert zu, während Unterschichtangehörige eine eher instrumentelle Orientierung gegenüber dem eigenen Körper haben: Der Körper muss
1
funktionieren, Gesundheit wird aufgebraucht. Unterschichtangehörige besitzen auch eine geringere Symptomaufmerksamkeit und zögern länger, bis sie einen Arzt aufsuchen. Sie zeigen häufiger ein ungünstiges Gesundheitsverhalten (Zigarettenrauchen, Bewegungsmangel, falsche Ernährung, Übergewicht, 7 Kap. 1.2.5). Dies trägt neben sozialen Belastungen zum Schichtgradienten bei Morbiditäts- und Mortalitätsrisiken bei (7 Kap. 1.2.5). i Vertiefen Schwartz FW, Badura B, Busse R, Leidl R, Raspe H, Siegrist J, Walter U (Hrsg) (2003) Das Public Health-Buch. Gesundheit und Gesundheitswesen. 2. Aufl. Urban u. Fischer, München (umfassende, handbuchartige Übersicht) Siegrist J (2005) Medizinische Soziologie, 6. Aufl. Urban & Fischer, München (klassisches Lehrbuch)
2 2 Ärztliches Handeln 2.1
Arzt-Patient-Beziehung – 156
2.1.1 2.1.2 2.1.3 2.1.4 2.1.5
Professionalisierung des Arztberufs – 156 Arztrolle – 159 Krankenrolle – 162 Kommunikation und Interaktion – 164 Besonderheiten der Kommunikation und Kooperation
2.2
Untersuchung und Gespräch – 177
2.2.1 Erstkontakt – 177 2.2.2 Exploration und Anamnese – 180 2.2.3 Körperliche Untersuchung – 184
2.3
Urteilsbildung und Entscheidung
2.3.1 2.3.2 2.3.3 2.3.4 2.3.5
Arten der diagnostischen Entscheidung – 186 Grundlagen der Entscheidung – 187 Urteilsqualität und Qualitätskontrolle – 189 Entscheidungskonflikte – 192 Entscheidungsfehler – 194
– 186
2.4
Interventionsformen
– 196
2.4.1 Ärztliche Beratung – 196 2.4.2 Patientenschulung – 198 2.4.3 Psychotherapie – 202
2.5
Besondere medizinische Situationen – 214
2.5.1 2.5.2 2.5.3 2.5.4 2.5.5 2.5.6 2.5.7 2.5.8
Intensivmedizin – 214 Notfallmedizin – 216 Transplantationsmedizin – 218 Onkologie – 222 Humangenetische Beratung – 226 Reproduktionsmedizin – 228 Sexualmedizin – 231 Sterben, Tod und Trauer – 239
2.6
Patient und Gesundheitssystem – 246
2.6.1 2.6.2 2.6.3 2.6.4
Stadien des Hilfesuchens – 246 Bedarf und Nachfrage – 252 Patientenkarrieren im Versorgungssystem – 256 Qualitätsmanagement im Gesundheitswesen – 257
– 172
2
156
Kapitel 2 · Ärztliches Handeln
2.1
Arzt-Patient-Beziehung
> > Einleitung Arzt zu sein, wird oft nicht nur als Beruf, sondern als Berufung bezeichnet. Mit den hohen Anforderungen an die Arztrolle sind aber auch Belastungen verbunden, die bewältigt werden müssen. Die Kommunikation zwischen Arzt und Patient hat sich zudem in den letzten Jahrzehnten verändert. Während früher die Einflussmöglichkeiten innerhalb der Arzt-Patient-Beziehung ziemlich einseitig verteilt waren, wird heute eine partnerschaftliche Arzt-Patient-Beziehung angestrebt. Hierzu benötigt der Arzt grundlegende Kompetenzen der Gesprächsführung.
2.1.1
Professionalisierung des Arztberufs
Der Beruf Arzt gilt als die Profession schlechthin. Die folgenden Merkmale einer Profession haben sich im Verlauf der Medizingeschichte herausgebildet. 4 Berufsspezifische Kompetenzen: Der Arzt ist zuständig für die Bewältigung von Störungen der Gesundheit. Er erbringt in diesem klar definierten Aufgabenbereich personenbezogene Dienstleistungen. Auch innerhalb des Arztberufs gibt es viele Differenzierungen, z.B. Primärarzt (Hausarzt), Gebietsarzt (Facharzt) und weiter nach Fachgebieten und Berufsfeldern (s.u.). Die jeweiligen spezifischen Handlungsempfehlungen werden in zunehmendem Maße in Leitlinien festgelegt (7 Kap. 1.3.7). 4 Staatlich geregelte Berufszulassung: Die staatliche Approbation ist Voraussetzung der ärztlichen Berufsausübung. 4 Akademische Ausbildung: Zum Arztberuf qualifiziert ein Hochschulstudium gemäß der Approbationsordnung. Es wird durch ein Staatsexamen abgeschlossen. 4 Berufliche Selbstverwaltung: Die gesetzlich geregelte ärztliche Berufsvertretung (»Standesorganisation«), die Ärztekammern, regeln mit staatlicher Legitimation relativ autonom die ärztliche Tätigkeit. Landesärztekammern erlas-
sen Fortbildungs- und Weiterbildungsordnungen und regeln damit die ärztliche Fort- und Weiterbildung. 4 Ärztliche Berufsethik: Ärzte haben sich schon sehr früh allgemeine Handlungsnormen gegeben (Hippokratischer Eid, Ärztegelöbnis). Die ärztliche Schweigepflicht ist ein hohes juristisches Gut. Bei fachlichen oder persönlichen Verstößen gegen die von den Landesärztekammern beschlossene ärztliche Berufsordnung (z.B. Kunstfehler, Drogenabhängigkeit) treten Sanktionen in Kraft, die bis zum Entzug der Approbation gehen können. Tendenzen der Entprofessionalisierung. Die Pro-
fessionalisierung hat dem Arztberuf eine hohe gesellschaftliche Anerkennung verschafft. Gegenwärtig sind jedoch auch Tendenzen der Entprofessionalisierung zu beobachten. Einheitlichkeit und »Einzigartigkeit« des ärztlichen Berufsbildes haben sich aufgrund verschiedener Bedingungen nachhaltig geändert. Der hohe Grad an Spezifität sowie die zunehmende Komplexität der Problemstellungen ärztlicher Tätigkeit bei gleichzeitiger Arbeitsteilung mit anderen Berufsgruppen und vielfältiger Vernetzung mit wirtschaftlichen und ethischen Fragestellungen haben dazu geführt, dass ursprünglich innerärztlich diskutierte Sacherhalte nunmehr öffentlich beraten werden und der Arztberuf damit viel von seiner früheren Sonderstellung verliert bzw. verloren hat. Stichworte, die in diesem Rahmen diskutiert werden, sind beispielsweise die öffentlich geführten Debatten über Sterbehilfe, Lockerung des Werbungsverbots für Ärzte und auch das zunehmende Misstrauen gegenüber ärztlichem Handeln. Selbst die aus verschiedenen anderen Gründen wünschenswerte Entwicklung, medizinische Entscheidungen gemeinsam mit dem Patienten zu treffen (shared decision-making, 7 Kap. 2.1.4), verändert die einstige Exklusivität des ärztlichen Berufes.
Spezialisierung vs. Integration in der Medizin Ausdifferenzierung des Wissens und der Ausbildung. Die rasante Weiterentwicklung des Wissens in
der Medizin (wie in vielen anderen Fächern) und die Zunahme von Spezialkompetenzen in ihren Teilbereichen hat die Notwendigkeit von Spezialisierungen
2.1 · Arzt-Patient-Beziehung
mit sich gebracht, sowohl in der ärztlichen Ausbildung als auch in den Gesundheitsversorgungseinrichtungen. Die ärztliche Ausbildung wurde durch die zunehmende Wissensvermehrung in den vergangenen Jahrzehnten immer umfangreicher, so dass das vermittelte Wissen für die Studenten immer unübersichtlicher und die fallbezogene Integration immer schwieriger wurde. Die Approbationsordnung von 2002 und der darauf bezogene neue Gegenstandskatalog waren mit der Zielsetzung neu formuliert worden, den Zusammenhalt des Faches und die Integration von Kompetenzen aus verschiedenen Fachgebieten patientenbezogen zu vermitteln. Spezialisierung in der ärztlichen Weiterbildung.
Auch im Anschluss an die Approbation im Rahmen der Weiterbildung ergab sich in den vergangenen Jahrzehnten eine zunehmende Spezialisierung und Differenzierung, die sich in den Weiterbildungsordnungen widerspiegelt. Der fachliche Bedarf nach »Spezialisten« erklärt sich damit, dass die Behandlungsqualität bei Spezialkompetenzen (inkl. diagnostischer Fertigkeiten) nur gewährleistet werden kann, wenn eine hinreichende Zahl entsprechender Maßnahmen durchgeführt wird. Auch die sachgerechte Spezialausstattung (Technologien, Personal etc. – sog. Strukturqualität, 7 Kap. 2.6.4) ist nur wirtschaftlich zu erbringen, wenn sie vom Spezialisten bzw. in einer Einrichtung hinreichend häufig genutzt werden. Probleme der Spezialisierung. Mit der Differenzie-
rung des Faches in unterschiedliche Spezial-/Teilgebiete entsteht die Gefahr, die »Ganzheitlichkeit«, d.h. die multifaktoriellen Aspekte von Krankheiten in Diagnostik und Therapie aus dem Auge zu verlieren und den Patienten auf seine Krankheit/Symptomatik in einem speziellen Organsystem zu reduzieren. Auch gesundheitsökonomische Gründe sprechen für eine Begrenzung der Spezialisierung, denn Spezialdiagnostik und -behandlungen sind in der Regel relativ kostenträchtig. Somit erscheint es zweckmäßig, die spezialisierten Behandlungseinrichtungen um solche zu ergänzen, die im ersten Zugang (Primärversorgung) und auf einem allgemeineren Niveau für Patienten mit Krankheiten zuständig sind, die einer Spezialbehandlung (noch) nicht bedürfen. Sie sollten zum
157
2
einen in der Lage sein, eine orientierende erste Diagnostik und allgemeine Standardbehandlungen bei den wichtigsten Erkrankungen durchzuführen. Ferner sollten sie den Bedarf für spezialisierte Behandlungen erkennen und den Patienten entsprechend weiterverweisen. Schließlich sollten sie die Ergebnisse von unterschiedlichen Spezialisten zusammenführen und für den Patienten integrieren. Dies ist die Aufgabe der sog. Primärärzte, im deutschen Gesundheitssystem der Hausärzte, zumeist mit der Gebietsqualifikation Allgemeinmedizin. Andere Gesundheitsberufe. Der Trend zur Spezialisierung betrifft nicht nur die Differenzierung innerhalb der Medizin bzw. unter den Ärzten, sondern geht auch über den ärztlichen Bereich hinaus. Zahlreiche weitere Berufe im Gesundheitswesen haben sich in den letzten Jahrzehnten entsprechend einem wachsenden Bedarf von Fachkompetenzen entwickelt. Sie lassen sich teilweise als Assistenzberufe (Pflegekräfte, Arzthelferinnen) oder Fachberufe im Gesundheitswesen (Physiotherapeuten, Logopäden u.v.a.) kennzeichnen und sind jeweils über gesetzliche Grundlagen und Ausbildungswege definiert. Einige dieser Berufe werden auch – entsprechend dem jeweiligen Bedarf an Kanonisierung und Ausdifferenzierung – zunehmend »akademisiert«, z.B. über Fachhochschulausbildungen. Eine besondere Konstellation hat sich im Jahr 1999 mit den im Psychotherapeutengesetz geschaffenen Berufsgruppen der Psychologischen Psychotherapeuten sowie der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten ergeben. Hier handelt es sich um zwei Berufe, bei denen auf der Grundlage eines abgeschlossenen Studiums (Psychologie bzw. Sozialpädagogik) eine gesetzlich definierte Zweitausbildung absolviert wurde. Diese entspricht im Umfang in etwa den Anforderungen, die im Rahmen der Gebietsarztweiterbildung für ärztliche Psychotherapeuten verlangt werden. Bei der Zulassung zur vertragsärztlichen Versorgung und bei ihrem zugelassenen Leistungsspektrum sind diese drei Berufe dementsprechend gleichgestellt.
Merkmale und Wandel von Organisationen, in denen der Arztberuf ausgeübt wird Ärzte sind etwa zur Hälfte in stationären Behandlungseinrichtungen beschäftigt, zumeist in Kran-
158
2
Kapitel 2 · Ärztliches Handeln
tungen aufzubauen. Der Gesetzgeber hat diese Regelung nachvollzogen und beginnt, wie erwähnt, erst in den letzten Jahren schrittweise und vorsichtig, veränderte Strukturen zu ermöglichen. Zu den von den KVen zu treffenden Regelungen gehören die sachgerechte Planung und regionale sowie fachgebietsbezogene Verteilung der so genannten Vertragsarztsitze sowie die Zulassung von Ärzten für diese Sitze (an der die regionalen Krankenkassen mitwirken), ferner die sachgerechte Verteilung der von den Kassen zur Verfügung gestellten Finanzmittel (»Globalbudget«) entsprechend dem »Honorarverteilungsmaßstab« (HVM) auf die Fachgebiete und entsprechend eines Schlüssels für die Einzelleistungen (einheitlicher Bewertungsmaßstab, EBM) auf die einzelne Praxis, schließlich auch die Regelung von Behandlungsstandards und Verantwortlichkeiten innerhalb und zwischen Vertragsarztpraxen.
kenhäusern, aber auch in Rehabilitationskliniken oder vergleichbaren Einrichtungen. Etwa ebenso viele Ärzte sind ambulant tätig, also in der Regel als freiberuflich niedergelassene so genannte »Vertragsärzte«. Diese für Deutschland (auf etwas andere Versorgungsstrukturen in der früheren DDR kann hier nicht eingegangen werden) traditionell übliche Verteilung beginnt, sich im Zuge aktueller Entwicklungen des Gesundheitssystems allmählich zu verändern. Unter dem Anspruch »ambulant vor stationär« sollen so viele Behandlungen wie möglich ambulant durchgeführt werden. Gleichzeitig sollen unvermeidbare stationäre Behandlungen so kurz wie möglich erfolgen. Mit den Gesundheitsreformen der letzten Jahre wurden zahlreiche gesetzliche Regelungen eingeführt, die für die Ärzte bzw. Behandlungseinrichtungen wirtschaftliche Anreize in dieser Richtung bedeuten, z.B. fallpauschalisierte Vergütungsformen im Krankenhaus auf der Basis von so genannten Diagnosis-Related Groups (DRGs, 7 Kap. 2.6.4), Möglichkeiten zu ambulanten Operationen oder »Öffnung« der Krankenhäuser für die ambulante Leistungserbringung. Bei Vergütung durch Fallpauschalen wird nicht mehr nach den einzelnen erbrachten Leistungen und den Behandlungstagen abgerechnet, sondern es wird eine pauschale Gesamtsumme für die Behandlung einer bestimmten Krankheit bezahlt. Die klassische Leistungserbringung im ambulanten Sektor erfolgte bisher und erfolgt auch heute noch im Rahmen der Vertragsarztpraxis eines niedergelassenen Arztes. Zuständig für die Regelungen im Bereich der Vertragsärzte sind die regional organisierten Kassenärztlichen Vereinigungen (KVen) als Selbstverwaltungsorganisationen der Vertragsärzte (frühere Bezeichnung Kassenärzte).
handelt es sich um umfassende leitlinienorientierte Behandlungskonzepte, die von Krankenkassen für bestimmte Gruppen von chronisch Kranken entwickelt wurden und im Detail festlegen, welche Diagnostik zu verwenden und welche Behandlungsformen (u.a. Patientenschulungen, 7 Kap. 2.4.2) bei welchen Befunden in welchem Umfang einzusetzen sind. Wenn Versicherte sich bei den Krankenkassen für diese Programme »einschreiben«, so können sie einen »Bonus« der Krankenkasse erhalten, sind dafür aber verpflichtet, sich im Gegenzug nur von bestimmten, von der Krankenkasse für gerade dieses DMP zugelassenen Ärzten behandeln zu lassen und die übrigen Regelungen der DMPs zu befolgen.
Sicherstellungsauftrag der KVen. Als Ergebnis eines historischen Kompromisses aus der Endphase der Weimarer Republik (als Folge eines lange währenden »Ärztestreiks«) obliegt den KVen der so genannte »Sicherstellungsauftrag« für den ambulanten Bereich, d.h. die gesetzliche Verpflichtung, ambulante Leistungserbringung bedarfsgerecht zur Verfügung zu stellen. Im Gegenzug hatten die gesetzlichen Krankenkassen ihnen das Behandlungsmonopol für die ambulante Leistungserbringung überlassen und sich verpflichtet, keine eigenen Behandlungseinrich-
Integrierte Versorgung (IV). Danach ist es den Krankenkassen möglich, einzeln oder gemeinsam mit Leistungserbringern (z.B. Ärzten, Apothekern, Krankenhäusern) Regelungen über pauschalisierte Vergütungen für bestimmte Patientengruppen zu beschließen. Die Leistungserbringer, die möglichst zu verschiedenen Sektoren (z.B. ambulante oder stationäre Krankenversorgung) gehören sollen, verpflichten sich im Gegenzug zu einer sachgerechten Behandlung entsprechend vorher vereinbarter Standards, zur sorgfältigen Dokumentation der Verläufe
Neue Versorgungsmodelle Disease-Management-Programme (DMP). Hierbei
159
2.1 · Arzt-Patient-Beziehung
und der internen Verteilung des Honorars auf die Beteiligten. Hausarztmodelle. Die Krankenkassen können ihren Patienten Versorgungskonzepte anbieten, innerhalb derer sie Fach-/Gebietsärzte nur noch nach Überweisung durch einen Hausarzt aufsuchen können. Die Krankenkassen können den Patienten für die Einschreibung in ein solches Modell Boni, z.B. Nachlässe bei den Mitgliedsbeiträgen oder andere Vergünstigungen, bieten. Medizinische Versorgungszentren (MVZ). Vertrags-
ärzte unterschiedlicher Fachrichtungen können sich zu Medizinischen Versorgungszentren zusammenschließen, die – orientiert am traditionellen Leitbild von Polikliniken (wie sie in der ehemaligen DDR den Standard der ambulanten Versorgung darstellten) – die Patienten zukünftig gemeinsam und ggf. auch unter Einbeziehung weiterer, angestellter Fachkräfte behandeln. Tagesklinische oder teilstationäre Behandlungsformen. Diese Konzepte, die speziell im psychiatri-
schen Bereich schon seit längerem bekannt sind, gewinnen zunehmend an Bedeutung, beispielsweise in der medizinischen Rehabilitation oder in der Geriatrie. Sie ermöglichen eine deutlich intensivere Behandlung als die reine ambulante Behandlung, die sich auf einzelne Behandlungseinheiten pro Woche beschränkt, ermöglicht dem Patienten aber im Unterschied zur stationären Behandlung einen Verbleib in der eigenen Wohnung. Dies ist zumeist mit einer Kostenersparnis verbunden und erlaubt eine höhere Alltagsnähe der Behandlung.
2.1.2
Arztrolle
Organisatorische und ökonomische Determinanten des ärztlichen Handelns Der Arztberuf ist ein freier Beruf. Als Inhaber einer Praxis ist der Arzt freier Unternehmer. Zugleich ist er in die ökonomischen Rahmenbedingungen des Sozialversicherungssystems eingebunden. 90% seiner Patienten sind Mitglieder einer gesetzlichen Krankenkasse, nur 10% sind privat versichert. Damit unterliegt der Arzt dem Honorarsystem der gesetz-
2
lichen Krankenversicherung. Dieses ist derzeit als Einzelleistungsvergütung organisiert, d.h. der Arzt erhält für jede durchgeführte Leistung einen Punktwert, der am Ende des Quartals in einen Geldwert umgerechnet wird. Dieses Vergütungssystem kann dazu verführen, möglichst viele Leistungen zu erbringen, z.B. auch diagnostische Untersuchungen durchzuführen, die nicht zwingend erforderlich wären. Auf der anderen Seite sind die Kosten durch ein Budget begrenzt. Dies hat zur Folge, dass sich das Honorar pro Einzelleistung vermindert, je mehr Einzelleistungen erbracht werden. Durch das Sozialgesetzbuch wird der Arzt explizit auf die Notwendigkeit, Wirtschaftlichkeit und Zweckmäßigkeit seiner Maßnahmen verpflichtet. Er soll seine Behandlung möglichst kostengünstig erbringen (Effizienz, 7 Kap. 1.3.7).
Normen der Arztrolle Der amerikanische Soziologe Talcott Parsons beschrieb die folgenden Erwartungen an ärztliches Verhalten (Arztrolle): 4 Funktionale Spezifität. Der Arzt soll sich auf seinen ärztlichen Auftrag konzentrieren, Krankheiten zu behandeln. Seine fachliche Kompetenz kann sich sogar nur auf ein spezifisches Teilgebiet der Medizin erstrecken. Beispiel: Ein Facharzt soll nicht auf einem ihm fremden Gebiet tätig werden, sondern einen Patienten ggf. überweisen. 4 Affektive Neutralität. Ein Arzt darf sich nicht von seiner Sympathie oder Antipathie gegenüber einem Patienten leiten lassen. Affektive Neutralität heißt aber nicht, emotional gleichgültig zu sein. Vielmehr soll der Arzt sich empathisch in die Sorgen der Patienten hineinversetzen können. 4 Universalismus. Der Arzt soll allen Menschen gleichermaßen helfen, unabhängig von ihren persönlichen Merkmalen. Er soll niemanden bevorzugen, z.B. weil er derselben sozialen Schicht wie der Arzt angehört. 4 Kollektivitätsorientierung. Der Arzt soll sich am Wohl der Gemeinschaft orientieren. Er soll uneigennützig handeln, d.h. diagnostische oder therapeutische Maßnahmen nicht ausschließlich zur Steigerung des eigenen Gewinns durchführen.
160
Kapitel 2 · Ärztliches Handeln
Motivation zum Arztberuf
2
Bei Studienanfängern der Medizin steht das Motiv, anderen Menschen helfen zu wollen (Altruismus), im Vordergrund. Daneben kommen aber auch andere Motive, wie naturwissenschaftliches Interesse, Freude am Umgang mit Menschen, einen herausfordernden Beruf ergreifen zu wollen etc., zum Tragen. Im Laufe des Studiums und der beruflichen Weiterbildung (berufliche Sozialisation) verändert sich die Motivstruktur: Altruismus nimmt ab, sachlichtechnisches Interesse nimmt zu (Professionalismus). Doch auch nach Abschluss des Studiums bleibt für viele angehende Ärzte der Arztberuf noch immer in höherem Maße eine Berufung als für andere Hochschulabsolvierende, wie eine aktuelle Befragung zeigte. Im Vergleich zu Studienabsolventen anderer Fächer wurden bei den beruflichen Werthaltungen von Medizinern Kollegialität untereinander und die Betreuung sowie Unterstützung anderer Menschen besonders hoch gewichtet. In der Bedeutung von Prestigeorientierung, Autonomie oder Fortschrittsorientierung gab es keine Unterschiede zu anderen Studienabsolventen. Auch nach Abschluss des Studiums wurde Altruismus noch immer relativ hoch bewertet, aber auch Leistung als Lebensziel genannt. Erst in den ersten Berufsjahren erlitt das beziehungsorientierte Ideal ärztlicher Tätigkeit einen deutlichen Dämpfer. Kollegialität und Helfenwollen wurden – allerdings auf hohem Niveau – etwas weniger wichtig. Prestige- und Aufstiegsorientierung gewinnen an Bedeutung. Im Vergleich zu anderen Akademikern klagten Ärzte nach den ersten Berufsjahren stärker über geringen Handlungsspielraum, negative Beziehungen am Arbeitsplatz, eine besonders hierarchische Führung und eine insgesamt niedrigere Arbeitszufriedenheit. In der Assistenzarztzeit steigen sowohl berufliches Engagement als auch Belastungserleben weiter an. Die Ärztinnen und Ärzte beschreiben sich als »gestresst, aber zufrieden«. Ärztinnen jedoch sind eher entmutigt als Ärzte. Während zum Studienabschluss noch kaum Unterschiede zwischen Frauen und Männern bestanden, wurden diese in der Assistenzarztzeit zunehmend deutlicher. Nahezu 20% der Ärztinnen waren inzwischen Mütter und betreuten ihre Kinder, ohne eine anschließende Arbeitsplatz-
garantie zu haben. Frauen, die als Ärztinnen tätig sind, schätzen ihre Aufstiegschancen deutlich niedriger ein als Männer, was auch mit den objektiven Verhältnissen übereinstimmt (viele weibliche Medizinstudenten, wenige Professorinnen oder Chefärztinnen). Ihr berufliches Selbstvertrauen sinkt. Dieser Trend lässt sich bei anderen Akademikerinnen nicht feststellen. Insgesamt ist die erste Berufstätigkeit offensichtlich durch Ernüchterung gekennzeichnet. Nach einer anderen Befragung an sieben Universitäten fühlte sich nur ein Drittel der Studienabsolventen gut auf den klinischen Alltag vorbereitet. Insbesondere wird bedauert, dass zu wenig psychosoziale Kompetenz im Umgang mit den Patienten vermittelt wurde. Als Berufsziel gab die Mehrheit die eigene Niederlassung an, sei es als Facharzt (36%) oder Hausarzt (12%). Ein gutes Drittel möchte an einer Klinik bleiben. Über 90% streben eine Facharztausbildung an. An der Spitze der Fächer liegen Innere Medizin und Allgemeinmedizin, gefolgt von Chirurgie und Kinderheilkunde.
Ethische Entscheidungskonflikte ärztlichen Handelns Ganz im Vordergrund der ethischen Normen ärztlichen Handelns steht die Verpflichtung, Leben zu erhalten. Mit dieser Verpflichtung können Ärzte in bestimmten Situationen in Konflikt geraten. Beispiele: wenn eine Patientin einen Schwangerschaftsabbruch durchführen möchte; wenn ein schwerkranker, unheilbarer Patient das Bedürfnis nach Sterbehilfe äußert oder wenn die Angehörigen eines Komapatienten die Einstellung lebensverlängernder Maßnahmen fordern. Um hier die Ärzte von Entscheidungsdruck zu entlasten und ihnen Orientierungen zu bieten, werden in letzter Zeit vermehrt Anstrengungen des Gesetzgebers unternommen (z.B. Patientenverfügung; 7 Kap. 2.5.8). Merke
Wenn Patienten den Wunsch nach Sterbehilfe äußern, ist zu bedenken, dass dahinter häufig ein medizinisches Problem steht, das prinzipiell lösbar ist, z.B. eine Depression oder nicht ausreichend behandelte Schmerzen. Wenn man diese Probleme angemessen behandelt, lässt der Sterbewunsch meist nach.
2.1 · Arzt-Patient-Beziehung
Psychische Belastungen des Arztberufes Nach verschiedenen Umfragen äußern sich 3/4 der Ärzte resignativ oder unzufrieden über ihren Beruf. 58% würden nicht mehr als Vertragsarzt (Kassenarzt) arbeiten wollen, 37% würden den Beruf heute nicht mehr ergreifen. Mehr als 90% der niedergelassenen Ärzte belastet das Ausmaß der Gesetzgebung im Gesundheitswesen und die Einflussnahme der Krankenkassen. Immer mehr Vorschriften, Kontrollmechanismen und Qualitätssicherungsmaßnahmen erodieren die ärztliche Freiheit. Derartige Klagen über Regulierungen und Bürokratisierungen stehen an der Spitze der Faktoren, die Ärzte mit ihrem Beruf unzufrieden machen. In den Kliniken kommen die starre Hierarchie und lange Arbeitszeiten wegen Bereitschafts- und Nachtdiensten dazu. Aber auch niedergelassene Ärzte arbeiten laut einer Befragung im Durchschnitt 60 Stunden pro Woche. Wegen der belastenden Arbeitsbedingungen in deutschen Krankenhäusern begannen in den letzten Jahren immer weniger Ärzte nach dem Studium mit einer Tätigkeit im Krankenhaus und immer mehr suchten sich stattdessen eine Stelle in Wirtschaft oder Verwaltung oder absolvierten ihre Facharztweiterbildung im europäischen Ausland, wo Arbeitsbedingungen und Bezahlung besser sind. Dies hat in vielen Kliniken zu einem Ärztemangel geführt. Im Vergleich zu anderen Berufen ist bei Ärzten das Morbiditäts-, Mortalitäts-, Sucht- und Suizidrisiko erhöht. Hierzu mögen die hohen Anforderungen des Arztberufes beitragen, wie tägliche Konfrontation mit Krankheit, Leiden und Tod, lange und
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ungünstige Arbeitszeiten, Nacht- und Notdienste, der Zwang, lebenswichtige Entscheidungen zu treffen, und die Einschränkungen des Freiheitsspielraums durch die ökonomischen und organisatorischen Rahmenbedingungen. Das Missverhältnis zwischen Anstrengung und Erholung kann zu psychischer Belastung führen, bis hin zu einem Gefühl, erschöpft und ausgebrannt zu sein (Burn-outSyndrom). Ein Risikofaktor stellt auch das sog. Helfersyndrom dar. Damit meint man ein übermäßiges Bedürfnis, anderen helfen zu wollen, um dadurch selbst ein Gefühl von Unabhängigkeit und Stärke aufrechtzuerhalten. Dahinter verbirgt sich beim Helfer aber oft ein Gefühl von eigener Hilfsbedürftigkeit. Dieses wird jedoch nicht akzeptiert und lediglich sozusagen stellvertretend beim Patienten wahrgenommen, dem man in altruistischer Weise Zuwendung und Sorge zukommen lässt. Rollenkonflikte. Ärzte stehen im Spannungsfeld von
Patienten, Angehörigen, Kollegen, Leistungsträgern u.a. Hieraus können unterschiedliche Erwartungen an ärztliches Handeln resultieren, die im Konflikt miteinander stehen. Beispiel: Der Patient möchte ein teures »Originalmedikament« verschrieben bekommen, die Krankenkasse erstattet nur ein billigeres »Nachahmerpräparat«. Wenn der Arzt ihm dennoch das teurere Medikament verschreibt, um ihn nicht an einen Konkurrenten zu verlieren, läuft er Gefahr, das Mittel aus der eigenen Tasche bezahlen zu müssen. Da sich diese konflikthaften Erwartungen innerhalb der Arztrolle abspielen, spricht man von einem Intrarollenkonflikt.
Exkurs äBurn-out-Syndrom. Als Burn-out-Syndrom wird ein Erschöpfungszustand bezeichnet, der entsteht, wenn Ärzte sich von der stressreichen Arbeitssituation nicht mehr ausreichend erholen können. Er umfasst Zeichen emotionaler und körperlicher Erschöpfung, Verlust an Energie, sozialen Rückzug, psychosomatische Beschwerden, Nervosität, Depressivität und Gereiztheit bis hin zu Alkoholmissbrauch und anderen Süchten. Begünstigt wird die Entstehung eines Burn-outSyndroms durch Perfektionismus und Idealismus,
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den Wunsch, alles selbst zu machen, und eine zu geringe Möglichkeit, sich von seiner Arbeit zu distanzieren und auf die persönlichen Bedürfnisse zu achten. Der Begriff »Burn-out-Syndrom« entstammt der Arbeitspsychologie. Trotz der Bezeichnung »Syndrom« handelt es sich dabei nicht um ein klinisch definiertes Syndrom oder gar eine eigenständige Diagnose. Manchmal wird »Burn-out-Syndrom« auch als beschönigende Umschreibung für eine Depression verwandt.
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Kapitel 2 · Ärztliches Handeln
Beim Interrollenkonflikt gerät die Arztrolle mit anderen Rollenerwartungen in Konflikt, z.B. mit der Mutterrolle bei einer jungen Ärztin, die sowohl die Anforderungen des Berufs (lange Arbeitszeit) und des Mutterseins (für ihr Kind Zeit haben) unter einen Hut bringen will. Belastende Situationen. Besonders belastende Situationen sind die Arbeit auf einer Intensivstation (7 Kap. 2.5.1) und in der Onkologie (Abteilung für Krebserkrankungen; 7 Kap. 2.5.4 und 2.5.8). Auf der Intensivstation ist die Arbeit sehr technisiert, oft kann mit den Patienten nur sehr eingeschränkt kommuniziert werden. Das Personal ist täglich mit Tod und Sterben konfrontiert. Manchmal stellt sich die Entscheidung, ob lebensverlängernde Maßnahmen aufrechterhalten werden sollen oder nicht. Auch in der Onkologie sind Tod und Sterben und das Gefühl eigener Hilflosigkeit immer präsent. Die medizinischen Betreuer werden vom Patienten zudem nicht nur in ihrer technischen Kompetenz, sondern auch emotional stark gefordert. Als Maßnahmen gegen diese Belastung schlugen befragte Ärztinnen, Ärzte und Pflegekräfte die Einstellung von zusätzlichem Personal vor, um mehr Zeit für die eigentliche Berufsaufgabe zu haben, damit verbunden die Reduktion des Arbeitsumfangs bzw. von Bereitschaftsdiensten, eine optimierte Arbeitsorganisation, z.B. Einführung von Zimmerpflege, stärkere Berücksichtigung psychosozialer Behandlungsaspekte und eine Kommunikationsverbesserung im Team, z.B. durch eine Supervision. Diese kann im Rahmen einer Balintgruppe unter der Leitung eines Psychotherapeuten geleistet werden (7 Kap. 2.1.4). Wenn es gelingt, die psychosoziale Kompetenz der medizinischen Betreuer zu verbessern, kann dadurch auch einem Burn-out-Syndrom vorgebeugt werden.
2.1.3
Krankenrolle
Der amerikanische Soziologe Talcott Parsons, der schon die Arztrolle definierte (7 Kap. 2.1.2), hat auch die vier Dimensionen der Krankenrolle herausgearbeitet, die sowohl Verpflichtungen als auch Entlastungen umfasst. Seine idealtypische Beschreibung steht jedoch oft mit der Wirklichkeit in Kontrast.
4 Entlastung von Rollenverpflichtungen. Kranke müssen ihre sozialen Rollen in Beruf und Familie nicht ausüben. Die ärztliche Diagnose einer Krankheit hat hier eine wichtige soziale Funktion: Sie führt zur Bescheinigung von Arbeitsunfähigkeit (Krankschreibung; 7 Kap. 1.1.4). Diese soziale Entlastung kann jedoch auch missbraucht werden. Beispiele: Der Krankenstand ist an Montagen und Freitagen höher als an den übrigen Tagen der Woche. – Die hohe Prävalenz von Rückenschmerzen in Deutschland im Vergleich zu anderen Ländern wird auf Regelungen der Sozialversicherung zurückgeführt (Anlass für Arbeitsunfähigkeit und Berentung). 4 Entlastung von der Verantwortung für die Krankheit. Kranke werden für ihre Situation nicht verantwortlich gemacht. Dies erleichtert ihnen, ohne Angst vor Stigmatisierung über ihre Krankheit zu sprechen und Hilfe in Anspruch zu nehmen. Dem steht jedoch entgegen, dass viele Zivilisationskrankheiten durch ein ungünstiges Gesundheitsverhalten, wie Überernährung, Bewegungsmangel und Rauchen, gefördert werden. 4 Verpflichtung, gesund werden zu wollen. Krankheit gilt als normabweichendes Verhalten. Deshalb sollen sich Kranke darum bemühen, möglichst schnell wieder gesund zu werden. Für manche Kranken kann die Krankenrolle jedoch attraktiv sein, weil sie einen Ausweg aus schwierigen Lebenssituationen bietet (»Flucht in die Krankheit«). 4 Verpflichtung, ärztliche Hilfe in Anspruch zu nehmen und mit dem Arzt zu kooperieren. Die Mitarbeit bei der ärztlichen Behandlung wird Compliance (7 Kap. 2.1.5) genannt. Empirische Studien zeigen, dass die Compliance nicht stark ausgeprägt ist. Beispielsweise nehmen im Durchschnitt nur 50% der Patienten die vom Arzt verordneten Medikamente regelmäßig ein.
Krankheitsbewältigung (Krankheitsverarbeitung; Coping) Psychosoziale Belastungen. Schwer und chronisch Kranke sind mit einer Reihe von psychosozialen Belastungen konfrontiert (7 Kap. 2.5.4), die bewältigt werden müssen:
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2.1 · Arzt-Patient-Beziehung
4 eingeschränkte Leistungs- und Funktionsfähigkeit, 4 Aufgabe von Alltagsaktivitäten, 4 unsicherer Verlauf, Lebensbedrohlichkeit, 4 körperliche Beschwerden, 4 psychische Belastung (Depression, Angst), 4 Infragestellung sozialer Rollen in Beruf und Familie, 4 Einschränkung der sozialen Beziehungen, 4 Abhängigkeit von kontinuierlicher Therapie, 4 Notwendigkeit von Lebensstiländerungen. Krankheitsbewältigung (Coping). Krankheitsbewältigung ist definiert als das Bestreben, Belastungen, die infolge einer Erkrankung auftreten, psychisch zu verarbeiten und auszugleichen. Verarbeitungsprozesse finden auf drei Ebenen statt: der kognitiven, emotionalen und Handlungsebene (. Abb. 2.1). 4 Kognitive Ebene: Kranke versuchen, sich auf ihre Beschwerden einen Reim zu machen: Was ist das? Wo kommt das her (Kausalattribution)? Was kann mir am besten helfen? Sie entwickeln eine subjektive Krankheitstheorie (7 Kap. 1.1.2). 4 Emotionale Ebene: Kranksein kann Angst, Depression oder Ärger auslösen. Diese emotionale Belastung kann in ihrer Intensität jedoch unterschiedlich stark sein und von vorübergehenden Gefühlen von Trauer, Ängstlichkeit und Verletzlichkeit bis hin zum Vollbild einer psychischen Störung, z.B. einer Depression, reichen. Die Prävalenz einer Depression beträgt beispielsweise bei Brustkrebs im Durchschnitt 20%. Bei einem Herzinfarkt ist sie ebenso hoch. . Abb 2.1. Ebenen der Krankheitsbewältigung
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4 Handlungsebene: Das mit der Krankenrolle einhergehende Verhalten nennt man Krankheitsverhalten. Von der ersten Wahrnehmung körperlicher Beschwerden bis zur Inanspruchnahme medizinischer Hilfe werden mehrere Stadien des Hilfesuchens unterschieden (7 Kap. 2.6.1). Bevor sie einen Arzt aufsuchen, versuchen viele Kranke, ihre Beschwerden zunächst mit eigenen Mitteln in den Griff zu bekommen. Sie verwenden beispielsweise Medikamente, die sie zu Hause haben oder nehmen die Hilfe ihrer Angehörigen in Anspruch (Laiensystem). Merke
Informationsbedürfnis. Es kann als gesichert gelten, dass Patienten ein großes Informationsbedürfnis besitzen. Eine große Zahl von Untersuchungen mit Krebskranken hat beispielsweise gezeigt, dass zwischen 80 und 95% der Patienten über ihre Erkrankung, deren Behandlung und Prognose möglichst vollständig informiert werden wollen.
Bedürfnis nach Mitentscheidung. Der Wunsch, an
medizinischen Entscheidungen beteiligt zu sein und dadurch auch Verantwortung zu übernehmen, ist jedoch nicht in gleicher Weise durchgängig stark ausgeprägt, so dass nicht davon ausgegangen werden kann, dass alle Patienten am Entscheidungsprozess über ihre Behandlung einbezogen werden wollen. Als Einflussfaktoren auf den Wunsch zur Partizipation werden u.a. Persönlichkeitseigenschaften, bisherige Erfahrungen und soziodemographische
Ebenen der Krankheitsbewältigung kognitive Ebene subjektive Krankheitstheorie Beschwerden
emotionale Ebene Krankheitserleben Handlungsebene Krankheitsverhalten
Krankheitsbewältigung
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Kapitel 2 · Ärztliches Handeln
Merkmale diskutiert. Ältere Patienten und Patienten mit niedrigerem Einkommen und Bildungsgrad scheinen eine geringere Bereitschaft zur Partizipation zu besitzen. Auch der gegenwärtige Krankheitszustand und der Schweregrad der Erkrankung scheinen eine Rolle zu spielen. Während Patienten mit Diabetes mellitus oder chronischen Atemwegserkrankungen häufiger bereit sind, selbst Entscheidungen zu treffen, scheint dies bei Krebskranken weniger häufig der Fall zu sein. Den Wunsch, bei Entscheidungen mitzuwirken, äußern in dieser Population je nach Studie zwischen 35 und 85% der Befragten. Selbst Patienten, die ursprünglich die Präferenz geäußert hatten, bei Entscheidungen mitzuwirken, wichen in der konkreten Situation oftmals wieder davor zurück. Die Aufforderung, bei existentiellen Entscheidungen Verantwortung zu übernehmen, kann bei manchen Krebskranken die Angst auslösen, sich falsch zu entscheiden und damit möglicherweise Schuld auf sich zu laden. Sie fühlen sich u.U. überfordert und von ihrem Arzt alleingelassen. In der Praxis kann eine fehlende Übereinstimmung zwischen Wunsch und Realisierung einer kooperativen Mitwirkung an Entscheidungen in beiden Richtungen vorkommen: In einer Studie mit Brustkrebspatientinnen gaben 25% der befragten Frauen an, an der Behandlungsentscheidung weniger aktiv beteiligt gewesen zu sein, als sie es sich gewünscht hätten, 26% hingegen hatten eine aktivere Rolle einnehmen müssen, als es eigentlich ihrem Wunsch entsprochen hätte.
Wirtschaftliche, rechtliche und familiäre Einflüsse Bei chronisch Kranken, die verschiedene Sektoren des Gesundheitssystems durchlaufen, spricht man von Patientenkarrieren (7 Kap. 3.1.4). Als sekundären Krankheitsgewinn bezeichnet man positive Folgen einer Erkrankung, wie z.B. Entlastung von Pflichten in der Familie oder im Beruf (Krankschreibung, Frühberentung), die das Krankheitsverhalten positiv verstärken (7 Kap. 1.2.3). Als Aggravation wird die Tendenz beschrieben, Beschwerden übertrieben darzustellen, um damit einen Vorteil zu erzielen. Simulation ist die bewusste Vortäuschung von Beschwerden. Dissimulation ist das Gegenteil: Herunterspielen von Beschwerden, wenn diese einen Nachteil mit sich bringen würden,
z.B. bei einem Einstellungsgespräch. Diese Aspekte des Krankheitsverhaltens weisen auf die Bedeutung wirtschaftlicher, rechtlicher und familiärer Einflüsse auf die Krankenrolle hin. Ein prägnantes Beispiel ist die in den vergangenen Jahrzehnten herrschende Tendenz, ältere Arbeitnehmer wegen ihres Gesundheitszustands frühzuberenten, um Personal abzubauen. Sozialversicherung, Arbeitsmarktpolitik und Betriebe arbeiteten hier Hand in Hand, ohne die nachteiligen Folgen für die Betroffenen wie auch für den Arbeitsmarkt zu sehen: Den Betrieben gingen wertvolles Erfahrungswissen und Kompetenzen verloren. Die Lohnnebenkosten stiegen an, weil die Frühpensionierungen finanziert werden mussten, was zu einem zusätzlichen Arbeitsplatzabbau anstelle des erwarteten Gewinns an Arbeitsplätzen führte. Auf der anderen Seite sinkt in Zeiten hoher Arbeitslosigkeit der Krankenstand, sei es, weil Menschen bei Bagatellerkrankungen davor zurückschrecken, sich krankschreiben zu lassen, sei es, dass Menschen auch dann zur Arbeit gehen, wenn sie besser zu Hause bleiben würden, aus Angst, sonst gekündigt zu werden.
2.1.4
Kommunikation und Interaktion
Funktionen der Kommunikation Merke
Die Kommunikation mit dem Patienten ist das wichtigste Handwerkszeug des Arztes. 50% aller Diagnosen können allein auf Grund derjenigen Information gestellt werden, die der Arzt bei der Erhebung der Anamnese gewinnt. 80% der Diagnosen stehen schließlich nach Anamneseerhebung und körperlicher Untersuchung fest.
Obwohl die Arzt-Patienten-Kommunikation demnach entscheidend dazu beiträgt, dass eine Diagnose gestellt und eine angemessene Behandlung in die Wege geleitet wird, haben Patienten während der »Sprechstunde« oft viel zu wenig Zeit, ihr Anliegen vorzubringen. Nach einer Studie in den Vereinigten Staaten dürfen Patienten zu Beginn des Kontakts gerade einmal 20 Sekunden reden, bevor sie vom Arzt
2.1 · Arzt-Patient-Beziehung
unterbrochen werden. Möglicherweise haben Ärzte Angst, dass Patienten unendlich lange weiterreden würden, wenn man sie nicht unterbräche. Diese Befürchtung ist jedoch unbegründet. In einer aktuellen Untersuchung in der Schweiz dauerte es im Mittel anderthalb Minuten, bis Patienten mit ihrer Geschichte zu Ende kamen. 80% hatten ihren spontanen Bericht innerhalb von zwei Minuten abgeschlossen. Da die Patienten während dieser Zeit wichtige Informationen vorbringen, sollten sie nicht unterbrochen werden. Aus dem Bericht der Patienten gewinnt der Arzt eine erste Orientierung über dessen Problem. Er erhebt einerseits Information vom Patienten (Exploration und Anamnese, 7 Kap. 2.2.2), gibt aber andererseits dem Patienten auch selbst Information über die vorliegende Erkrankung (Diagnose) und die mögliche Behandlung (7 Kap. 2.4.1). Eine ausgewogene Darstellung der Vor- und Nachteile einer Behandlungsmaßnahme ist die Voraussetzung dafür, dass der Patient in die Behandlung einwilligen kann (informierte Einwilligung, informed consent). Merke
Eine unzureichende Aufklärung über die Risiken z.B. einer Operation ist häufiger Anlass für einen Kunstfehlerprozess. Juristisch gesehen stellt eine Behandlungsmaßnahme, in die der Patient aufgrund unzureichender Information nicht rechtsgültig einwilligte, eine Körperverletzung dar.
Um zu gewährleisten, dass die Behandlungsempfehlung des Arztes vom Patienten auch umgesetzt wird, ist der Aufbau einer vertrauensvollen Kooperation erforderlich. Nur wenn der Patient aufgrund seiner eigenen Krankheitsvorstellungen nachvollziehen kann, dass eine Behandlungsmaßnahme sinnvoll ist, wird er diese auch im Alltag verwirklichen. Die Mitarbeit bei der medizinischen Behandlung bezeichnet man als Compliance (7 Kap. 2.1.5). Nicht nur medikamentöse Behandlungsempfehlungen, sondern auch Empfehlungen, den Lebensstil zu verändern, werden jedoch häufig nicht befolgt. Wie man die Motivation von Patienten, ihr Verhalten zu ändern, verbessern kann, wird in Kap. 3.1.3 dargestellt.
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Formen der Kommunikation Kommunikation kann verbal, d.h. durch Sprache vermittelt, oder nonverbal, d.h. mittels Mimik, Gestik, Blickkontakt und Körperhaltung, erfolgen. Als paraverbale Kommunikation bezeichnet man die Begleiterscheinungen der Sprache, wie z.B. Sprachmelodie, Lautstärke oder Tonhöhe. Sprachliche Kommunikation sollte möglichst klar, prägnant und präzise sein, aber auch zur Erhöhung der Anschaulichkeit Beispiele verwenden. Menschen denken oft in Bildern und Vorstellungen, die sprachlich nur schwer auszudrücken sind. Deshalb unterläuft bei sprachlicher Kommunikation immer auch ein Informationsverlust. Dies gilt insbesondere für den Ausdruck von Gefühlen, die sich besser nonverbal vermitteln. Der Gefühlsausdruck ist zudem unserer willkürlichen Kontrolle teilweise entzogen. Dies kann dazu führen, dass sich verbal und nonverbal unterschiedliche Botschaften mitteilen. Persönliche Kommunikation geschieht von Angesicht zu Angesicht, mediale unter Benutzung von Medien, wie Telefon, Brief oder E-Mail. Mediale Kommunikation wird von vielen Menschen als schwieriger empfunden, weil die nonverbalen Signale fehlen, die für die Beziehungsgestaltung wichtig sind. Persönliche Kommunikation ist meist mündlich (im Unterschied zu schriftlich, wie z.B. ein Arztbrief). Direkte Kommunikation spricht die gewünschten Ziele und Absichten offen und ausdrücklich (explizit) an, indirekte Kommunikation tut dies in verdeckter, verschlüsselter (impliziter) Weise. Kranke sind sehr sensibel für indirekte Mitteilungen, wie aus der folgenden Äußerung eines Krebskranken hervorgeht: »Als der Arzt sich zu mir auf die Bettkante setzte, wusste ich, dass es Krebs ist«. Die Unterscheidung von direkt und indirekt darf nicht mit derjenigen von direktiv und non-direktiv verwechselt werden. Bei der direktiven Kommunikation bestimmt der Arzt den Gang des Gesprächs, bei der nondirektiven überlässt er dies dem Patienten (7 Kap. 2.2.2). Inhalts- und Beziehungsebene. Bei einem kommu-
nikativen Akt lassen sich die Ebene des Sachinhalts (»Worum geht es?«) und diejenige der Beziehung (»Wie stehen wir zueinander?«) unterscheiden: Während durch verbale Kommunikation vom Sender ein expliziter, bewusster Inhalt an den Empfän-
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Kapitel 2 · Ärztliches Handeln
ger vermittelt wird, kommentiert er zugleich in unbewusster Weise durch nonverbale Kommunikation die Beziehung, die er zum Empfänger besitzt. Er vermittelt, was er von seinem Gegenüber hält, gibt auch etwas über sich selbst preis (Selbstoffenbarung) und versucht mehr oder minder offen, den anderen zu einer bestimmten Handlung zu bewegen (Appell). Eine Nachricht kann also viele verschiedene Botschaften gleichzeitig enthalten. Exkurs Double bind. Inhalts- und Beziehungsebene können in Widerspruch zueinander geraten: Ein bewusster Wunsch wird explizit ausgesprochen, ein unbewusster gegenteiliger Wunsch drückt sich im nonverbalen Verhalten aus. Solche inkongruenten kommunikativen Akte werden als double bind bezeichnet. Beispiel: Eine Mutter antwortet ihrem heranwachsenden Sohn, der ihr gerade eröffnet hat, dass er zum Studium in eine andere Stadt gehen wird, in traurigem Tonfall und mit einem Zittern in der Stimme: »Es macht mir überhaupt nichts aus, wenn Du ausziehen willst. Ich komme damit schon klar!« Bewusst will sie ihm vermitteln, dass sie seine Selbständigkeitsbestrebungen unterstützt. Unbewusst macht sie ihm aber deutlich, dass er sie damit traurig macht. Zu einer Double-bindSituation gehört weiterhin, dass der Empfänger wegen seiner großen Abhängigkeit vom Sender den Widerspruch nicht explizit ansprechen darf (Verbot der Metakommunikation). Für den Empfänger ist es dann schwierig zu entscheiden, worauf er reagieren soll: auf den positiven verbalen oder den negativen nonverbalen Inhalt? Egal, was er tut, er macht es falsch. Die Hypothese, dass Double-bind-Kommunikation die Entstehung einer Schizophrenie fördert, hat sich allerdings nicht bestätigt.
hilfesuchenden Patienten, ist die Kommunikation asymmetrisch. Untersuchungen zum ärztlichen Gesprächsverhalten während der Visite haben ergeben, dass Ärzte häufig bestimmte Strategien verwenden, die die Asymmetrie der Beziehung aufrechterhalten: 4 Übergehen von Fragen oder Einwänden, Nichtbeachten von Patienteninitiativen: Der Arzt ignoriert eine Frage einfach, so als hätte er sie nicht gehört. 4 Adressaten- oder Themenwechsel: Auf die Frage des Patienten wendet sich der Arzt an die Krankenschwester oder schneidet ein anderes Thema an, anstatt gleich eine Antwort zu geben. 4 Beziehungskommentar: Statt die inhaltliche Frage des Patienten zu beantworten, betreibt der Arzt Metakommunikation, z.B.: »Sie dürfen nicht so ungeduldig sein!« 4 Mitteilung funktionaler Unsicherheit: Der Arzt weicht auf die Frage des Patienten aus und gibt vor, noch keine ausreichende Information zu besitzen, um sie beantworten zu können. Wie die Analyse von Visitengesprächen gezeigt hat, gehen zwei Drittel der Gesprächsdauer auf die medizinischen Betreuer, nur ein Drittel auf den Patienten zurück.
Gemeinsame Entscheidungsfindung Die Werte und Vorstellungen der Patienten müssen in medizinische Entscheidungen einbezogen werden, wenn diese dem Patienten nutzen sollen. Dies kann am besten dadurch erfolgen, dass Patienten bei Entscheidungen in gleichberechtigter Weise mitwirken (shared decision-making). Für die meisten Patienten ist dies gegenwärtig noch nicht selbstverständlich; hierfür müssen häufig erst die Voraussetzungen geschaffen werden. Empowerment. Patienten dazu zu befähigen, bei
Strukturen der Kommunikation Symmetrische/asymmetrische Kommunikation.
Kommunikation ist symmetrisch, wenn die beiden Gesprächspartner die gleiche Stellung oder Macht besitzen. Besteht ein Machtgefälle zwischen den Partnern, z.B. zwischen dem mit funktionaler Autorität ausgestatteten ärztlichen Experten und dem
medizinischen Entscheidungen als gleichberechtigte Partner aktiv zu partizipieren, wird als Empowerment bezeichnet. Patienten sollen zu Experten für ihre Krankheit werden. Sie sollen in die Lage versetzt werden, die Bewältigung ihrer Krankheit in die eigene Regie zu übernehmen und selbst zu entscheiden, wann sie professionelle Hilfe benötigen. Chronisch
2.1 · Arzt-Patient-Beziehung
Kranke sollen die nötigen Kompetenzen und Fertigkeiten erwerben, um eigenverantwortlich mit der Erkrankung umzugehen (Selbstmanagement) und informierte Entscheidungen (informed choice) über ihre Lebensführung treffen zu können. Verwirklichung in der Praxis. Lässt sich dieses Idealmodell auch in der Praxis realisieren? Zum Interesse der Ärzte an einer größeren Partizipation der Patienten gibt es bisher noch kaum Studien. Dass in der Onkologie tätige Ärzte in der großen Mehrzahl ein angemessenes Verständnis davon besitzen, was shared decision-making beinhaltet, konnte jüngst gezeigt werden. Ärzte unterschätzen aber häufig das Informationsbedürfnis ihrer Patienten. Auch kann man sich denken, dass Ärzte durch das Empowerment der Patienten verunsichert werden (»schwierige Patienten«) und dass sie sich durch die Notwendigkeit, emotionale Aspekte anzusprechen, überfordert fühlen, weil sie vielleicht die hierfür nötige Kompetenz nicht besitzen. Insbesondere die adäquate Vermittlung der Unsicherheit eines Behandlungsergebnisses ist nicht einfach (7 Kap. 3.1.3). Merke
Patienten können laut empirischen Studien im ärztlichen Gespräch eher selten ihr Anliegen vorbringen: Ungefähr 50% der Patientenprobleme werden entweder nicht geäußert oder nicht vom Arzt aufgegriffen. Auch scheint es Ärzten manchmal schwer zu fallen einzuschätzen, wie stark Patienten bei Entscheidungen mitwirken wollen. Manche Kranke werden deshalb stärker, andere hingegen weniger stark in den Entscheidungsprozess einbezogen, als sie selbst es wollen. Deshalb ist es wichtig, den Patienten immer zuerst danach zu fragen, wie sehr er beteiligt werden will.
Modelle der Arzt-Patient-Beziehung Gemeinsame Entscheidungsfindung und Empowerment setzen eine bestimmte Form der Beziehung zwischen Arzt und Patient voraus. Die folgenden Modelle können unterschieden werden: 4 das paternalistische Modell, 4 das Konsumentenmodell, 4 das partnerschaftliche Modell.
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Paternalistisches Modell. Im paternalistischen Modell, das der traditionellen Sichtweise der ArztPatient-Beziehung entspricht, entscheidet der Arzt im wohlverstandenen Interesse des Patienten. Der Patient verhält sich passiv. Angesichts der vielfältigen Informationsmöglichkeiten, die Patienten heute besitzen, wirkt dieses Modell nicht mehr zeitgemäß, insbesondere weil es die Patientenautonomie nicht ausreichend respektiert. Berechtigung kann es aber in Situationen haben, in denen die Fähigkeit des Patienten, autonome Entscheidungen zu treffen, stark eingeschränkt ist (Notfall, akute Psychose) oder er sich angesichts der schwer überschaubaren Tragweite einer Entscheidung überfordert fühlt. Konsumentenmodell. In Gegensatz hierzu geht das
informative Modell oder Konsumentenmodell davon aus, dass der Patient seine Ziele schon gut kennt und vom Arzt lediglich noch einige Informationen benötigt, um seine Entscheidungen souverän zu treffen. Die Rolle des Arztes beschränkt sich darauf, dem Patienten diese Informationen zu geben und schließlich die vom Patienten getroffenen Entscheidungen auszuführen. Dieses Modell legitimiert sich dadurch, dass nach vielen empirischen Studien das Informationsbedürfnis der Patienten sehr groß ist. Darüber hinaus stehen häufig mehrere relativ gleichwertige Therapieoptionen zur Verfügung, so dass eine Auswahl je nach der Patientenpräferenz gerechtfertigt ist. Die Annahme feststehender Werte angesichts schwerwiegender oder lebensbedrohlicher Erkrankungen muss jedoch in Frage gestellt werden. Patienten benötigen die Hilfe ihres Arztes, um ihre Werte und Ziele herauszuarbeiten. Kranke erwarten von ihrem Arzt darüber hinaus meist nicht nur technische Expertise, sondern auch emotionale Anteilnahme. Partnerschaftliches Modell. Heutzutage gilt das partnerschaftliche Modell als das beste. Arzt und Patient diskutieren gemeinsam das Problem und ihre Ziele. Der Patient teilt seine Präferenzen mit, der Arzt die vorliegende medizinische Evidenz; darüber hinaus soll der Arzt aber durchaus auch seine eigenen Empfehlungen abgeben. Der Patient soll dadurch im Sinne von Empowerment in die Lage ver-
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Kapitel 2 · Ärztliches Handeln
setzt werden, zwischen alternativen Behandlungsmöglichkeiten auszuwählen. Damit der Patient seine Wertvorstellungen, Ziele, Erwartungen und Befürchtungen äußern kann, ist es erforderlich, dass eine Gesprächsatmosphäre geschaffen wird, die ihm die Wichtigkeit seiner eigenen Sichtweise vermittelt und ihn ermutigt, seine subjektiven Krankheitstheorien und Präferenzen zu äußern. Hierbei muss der Arzt auch die vom Patienten gewünschte Rolle bei der Entscheidungsfindung explorieren. Denn nicht alle Patienten wollen in die Entscheidungsfindung einbezogen werden. Auch der Prozess der Abwägung und Diskussion möglicher Behandlungsoptionen ist als interaktiver Prozess zu gestalten. Aufgabe des Experten ist es, dem Patienten auf der Basis der von ihm gesichteten empirischen Evidenz die möglichen Behandlungsoptionen vorzustellen. Aufgabe des Patienten ist es, seine eigenen Präferenzen mit den präsentierten Behandlungsoptionen abzugleichen. In dem darauf folgenden Verhandlungsprozess darf der Experte zwar durchaus den Patienten zu überzeugen versuchen; er muss jedoch auch akzeptieren können, wenn der Patient sich anders entscheidet, als der Experte es für optimal erachtet. Beide Partner treffen dann gemeinsam eine Entscheidung, für die sie sich verantwortlich fühlen, auch wenn sie für den einzelnen möglicherweise nicht das jeweils denkbare Optimum darstellt. Nachdem eine gemeinsame Entscheidung getroffen wurde, wird ein Handlungsplan erarbeitet, für dessen Einhaltung beide Partner einstehen. Auswirkungen. Da der Patient die getroffene Ent-
scheidung mitgetragen hat, nimmt man an, dass dadurch seine Compliance verbessert und der Alltagstransfer erleichtert werden. Wie empirische Studien zeigen, entwickeln Patienten ein stärkeres Gefühl der Kontrolle über die Behandlung und eine höhere Zufriedenheit, wenn sie unterschiedliche Behandlungsoptionen diskutieren konnten. Auch viele Jahre nach Abschluss der Primärbehandlung wegen Brustkrebs war die Lebensqualität bei denjenigen Frauen höher, die angaben, bei der Auswahl der Behandlungsoptionen beteiligt gewesen zu sein. Ob durch die Verbesserung von Kontrollerleben, Zufriedenheit und Compliance auch die erwünschten Behandlungsergebnisse erreicht werden, muss beim gegen-
wärtigen Stand der Forschung noch offen bleiben. Allerdings gibt es durchaus Hinweise, dass dies der Fall sein könnte. Indirekte Hinweise auf günstige Auswirkungen von Empowerment und gemeinsamer Entscheidungsfindung können aus Studien zur ärztlichen Gesprächsführung gewonnen werden. Merke
Ein Gesprächsverhalten, das es dem Patienten erleichtert, seine Fragen, Erwartungen und Befürchtungen zu äußern und sowohl die gewünschte Information als auch emotionale Unterstützung zu erhalten, hat günstige Auswirkungen in vielen Bereichen. Es führt zur Verbesserung des Gesundheitszustandes, Symptomverminderung, Schmerzkontrolle, besserem Funktionszustand und besseren physiologischen Ergebnissen wie Blutdruck- und Blutzuckereinstellung.
Voraussetzungen. Welche Barrieren können einer
partnerschaftlichen Arzt-Patient-Beziehung entgegenstehen? Aus ärztlicher Sicht wird vor allem der höhere Zeitaufwand genannt. Dabei ist aber zu bedenken, dass sich die zunächst investierte Zeit möglicherweise im weiteren Verlauf wieder amortisiert, weil die nachfolgenden Gespräche auf der Basis größerer Informiertheit des Patienten effizienter sein können. Mehr Partizipation bedeutet für die Patienten mehr Eigenverantwortung für die Risiken der von ihnen getroffenen Entscheidungen, die durch entsprechende Anreize gesteuert werden kann (z.B. mehr Wahlfreiheit bei der Krankenversicherung, unterschiedliche finanzielle Selbstbeteiligungen). Lassen sich Empowerment und partizipative Entscheidungsfindung auch gezielt fördern? Insgesamt ist die empirische Basis hierzu zwar noch schmal, aber vielversprechend. Bei Brustkrebspatientinnen reduzierte ein Training zur Vorbereitung auf die ärztliche Konsultation die wahrgenommenen Kommunikationsbarrieren und verbesserte die Zufriedenheit mit der Konsultation, und zwar sowohl bei Patientinnen als auch bei Ärzten. Bei Diabetes mellitus konnte gezeigt werden, dass Patienten, die ein derartiges Schulungsprogramm durchlaufen hatten, sich gegenüber ihren Ärzten aktiver verhiel-
2.1 · Arzt-Patient-Beziehung
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ten, mehr Fragen stellten und mehr Information bekamen. Zur Förderung von shared decision-making werden auch Instrumente erprobt wie patientengerechte Informationsmaterialien (decision aids) oder interaktive computergestützte Programme.
men. Beispiel: Ein Arzt, der unter großem Zeitdruck steht, wird kaum in der Lage sein, sich seinem Patienten für ein längeres Gespräch geduldig und einfühlsam zuzuwenden (mangelnde Kongruenz).
Basismerkmale hilfreicher Gesprächsführung. Eine hilfreiche patientenzentrierte Gesprächsführung sollte die folgenden drei Basismerkmale verwirklichen, die auf die klientenzentrierte Gesprächspsychotherapie nach Carl Rogers zurückgehen (7 Kap. 2.4.3): 4 Empathie: sich in die Gefühle des Patienten hineinversetzen und diese in Worte fassen. 4 Wertschätzung: dem Patienten vermitteln, dass man ihn so, wie er ist, schätzt und akzeptiert. 4 Echtheit/Kongruenz: Das Gesprächsverhalten sollte mit der inneren Einstellung übereinstim-
Diese Einstellungen und Gesprächstechniken liegen auch dem sog. »aktiven Zuhören« zugrunde, das im medizinpsychologischen Unterricht geübt werden kann (7 Kap. 2.2.2). Transparenz. Ärzte sollten bei der Anamneseerhebung den Hintergrund ihrer Fragen plausibel machen und den Sinn diagnostischer Untersuchungen in nachvollziehbarer Weise erklären. Dies mindert beim Patienten Angst und Unsicherheit und fördert seine Mitwirkungsbereitschaft.
Exkurs Gesprächsverhalten und Kunstfehleranklagen. In den USA werden Ärzte oft von Patienten wegen eines Kunstfehler belangt. Wovon hängt es ab, ob ein Arzt einen Kunstfehlerprozess bekommt? Dass in der Behandlung des Patienten etwas schief gelaufen ist, kann nicht die einzige Ursache sein: Nur eine kleine Minderheit derjenigen Patienten, die einen Behandlungsfehler erlitten haben, verklagt ihren Arzt. Zudem unterscheidet sich die (von Kollegen beurteilte) Behandlungsqualität offensichtlich nicht zwischen Ärzten, die häufig in Kunstfehlerprozesse verstrickt waren, und solchen, die nie davon betroffen waren. Erst wenn Patienten ein schlechtes Behandlungsergebnis erleiden und zusätzlich auch noch unzufrieden mit der Betreuung durch ihren Arzt sind, steigt die Wahrscheinlichkeit für eine Kunstfehlerklage. Unzufriedenheit und Ärger entstehen dann, wenn der Arzt sich aus Sicht der Betroffenen nicht gut genug um sie gekümmert hat: Patienten fühlten sich unter Zeitdruck gesetzt oder missachtet, erhielten nicht ausreichend Erklärungen oder Ratschläge. Um herauszufinden, ob das kommunikative Verhalten mit der Wahrscheinlichkeit in Zusammenhang steht, eines Kunstfehlers bezichtigt zu werden, wurde eine Studie mit Hausärzten durch-
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geführt (Levinson et al. 1997). Zehn Routinegespräche wurden auf Tonband aufgenommen und nach einem Gesprächsanalysesystem ausgewertet. Danach verglichen die Forscher das Gesprächsverhalten von Ärzten, die noch nie von einer Kunstfehlerklage betroffen waren, mit dem Verhalten derjenigen, die schon zweimal oder häufiger davon betroffen waren. Die Ergebnisse waren frappierend. Die nicht betroffenen Ärzte benutzten mehr gesprächserleichternde Äußerungen, wie: »Erzählen Sie mir mehr davon«. Sie fragten die Patienten häufiger nach deren eigener Meinung: »Was glauben Sie, was die Beschwerden verursacht hat?« Oder: »Was meinen Sie dazu, diese Medikamente zu nehmen?« So ermunterten sie den Patienten zum Sprechen und brachten ihr Interesse an seiner Meinung zum Ausdruck. Darüber hinaus gaben die nicht betroffenen Ärzte mehr orientierende Kommentare ab, in denen sie den Patienten erklärten, was sie nun tun würden: »Zunächst werde ich Sie untersuchen, und danach sprechen wir das ganze Problem durch.« Oder: »Ich werde Ihnen später noch Zeit lassen für Fragen.« Dadurch erleichterten sie es dem Patienten, angemessene Erwartungen über den weiteren Gang des Arzt-Patienten-Kontakts zu entwickeln, und informierten ihn darüber, wann er seine eigenen Sorgen vorbringen kann. Außerdem
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Kapitel 2 · Ärztliches Handeln
machten die nicht betroffenen Ärzte häufiger humorvolle Bemerkungen und lachten häufiger, was auf eine wärmere persönliche Beziehung zwischen Arzt und Patient schließen lässt. Die Arzt-PatientenKontakte dauerten im Schnitt auch etwas länger. In einer anderen Studie wurden sehr kurze, nur zehn Sekunden dauernde Ausschnitte aus Patientengesprächen von Chirurgen hinsichtlich des Tons ihrer Stimme untersucht (Abmadi et al. 2002). Pro Arzt wurden vier solche Zehn-Sekunden-Schnipsel
Übertragung und Gegenübertragung Mit Übertragung, einem Begriff, der aus der Psychoanalyse stammt, bezeichnet man das Phänomen, dass Erlebens- und Verhaltensmuster, die aus früheren Erfahrungen mit wichtigen Bezugspersonen stammen, das aktuelle Erleben und Verhalten beeinflussen. Beispiele: Ein Patient, der sich wegen einer schweren Erkrankung hilflos und unsicher fühlt, erlebt die Ärztin als Sicherheit vermittelnde Helferfigur, so wie er früher seine Mutter erlebt hat (positive Übertragung). Ein anderer Patient, der seinem Vater nie etwas recht machen konnte, erlebt eine Wiederholung dieser Situation gegenüber seinem Arzt, der mit ihm unzufrieden ist, weil er es nicht schafft, das Rauchen aufzugeben (negative Übertragung). Ein dritter Patient, der eine zwiespältige Beziehung zu seinem Vater hatte, gerät mit Ärzten, die für ihn Autoritätsfiguren sind, regelmäßig in Konflikte: Er sucht zwar ihren Rat, nimmt ihre Empfehlungen dann aber nicht an (ambivalente Übertragung). Wenn man solche Übertragungsphänomene kennt, erleichtert dies den Umgang mit den Patienten. Man muss sich dann auch nicht so sehr persönlich betroffen fühlen, wenn man weiß, dass Muster, die aus der Vergangenheit des Patienten stammen, in der Gegenwart aktualisiert werden. Sind einem diese Muster jedoch nicht bewusst, kann es passieren, dass man als Arzt oder Ärztin mit Gegenübertragung reagiert. Man nimmt dann unbewusst das Rollenangebot an, das der Patient einem macht, verhält sich also genauso wie z.B. früher der Vater, so dass die Situation eskalieren kann. Das Ganze wird dadurch noch komplizierter, dass auch der Arzt auf den Patienten Übertragungen entwickelt, wenn ihn dieser
analysiert, zwei am Beginn eines Gesprächs und zwei am Ende. Die Inhalte, um die es jeweils ging, wurden durch eine Filtermethode entfernt. Wieder fanden sich Unterschiede zwischen Chirurgen mit Kunstfehleranklagen und solchen ohne. Erstere brachten mehr Dominanz und weniger Sorge in ihrer Stimme zum Ausdruck. Für Arzt-PatientenGespräche und die Patientenzufriedenheit (oder die Unzufriedenheit, mit der Folge von Kunstfehleranklagen) gilt also: »Der Ton macht die Musik«.
beispielsweise an den eigenen schwerkranken Vater erinnert. Exkurs Balintgruppe. Derartige Beziehungsprozesse zwischen Arzt und Patient können in einer sog. Balintgruppe bearbeitet werden. In einer Balintgruppe treffen sich Ärzte und berichten über ihre schwierigen Patienten. Die Gruppenmitglieder hören zu und tragen dann ihre eigenen Ideen bei, sei es aus ähnlichen Erfahrungen mit anderen Patienten oder aus ihren Überlegungen dazu, was sich in der Arzt-Patient-Interaktion wohl abspielt. Auf diese Weise werden viele Mosaiksteinchen zusammengetragen, und es entsteht ein neues Bild von der problematischen Arzt-Patient-Interaktion, so dass sich Lösungsmöglichkeiten abzeichnen. Balintgruppen, die meist von einem Psychotherapeuten geleitet werden, haben ihren Namen von dem ungarischen Psychoanalytiker Michael Balint, der solche Seminare für Hausärzte einführte. Inzwischen spielen sie in der Facharztweiterbildung vieler medizinischer Disziplinen eine wichtige Rolle.
Vertrauen/Misstrauen. Ziel der Arzt-Patient-Kom-
munikation ist der Aufbau einer vertrauensvollen Beziehung. Dies gelingt nicht immer. Wenn der Arzt Hinweise darauf hat, dass sein Patient ihm misstraut, ist es sinnvoll, dies anzusprechen (Meta-Kommunikation). Der Patient fühlt sich möglicherweise erleichtert, wenn er seine Zweifel äußern kann, und es können Wege gesucht werden, diese auszuräumen.
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2.1 · Arzt-Patient-Beziehung
Kollusion. Als Kollusion (gemeinsame Illusion) wird
eine Verstrickung zweier Interaktionspartner bezeichnet, die den Beteiligten nicht bewusst ist. Beispiel: Ein todkranker Patient setzt all seine Hoffnung in den Arzt und weckt in diesem die unbewusste Phantasie, ihn retten zu können, obwohl medizinisch keine Aussicht besteht. Wenn diese Verstrickung nicht aufgelöst werden kann, können sich die beiden Interaktionspartner nicht realistisch mit der Situation auseinandersetzen. Dies kann dazu führen, dass letztendlich beide enttäuscht sind, wenn sie feststellen müssen, dass ihre gemeinsame Hoffnung trügerisch war.
Organisatorisch-institutionelle Rahmenbedingungen Einzel- vs. Gruppengespräche. Üblicherweise fin-
den Arzt-Patienten-Gespräche als Einzelgespräche statt. In manchen Fällen kann es jedoch wichtig sein, auch die Angehörigen einzubeziehen, dies aber immer nur mit Einverständnis des Patienten. Gruppengespräche spielen v.a. bei Patientenschulungen (Beratung, Edukation) eine Rolle (7 Kap. 2.4.2). Paargespräche können bei der Beratung eines Herzinfarktpatienten zur Ernährungsumstellung (meist kocht die Ehefrau!) oder auch im Rahmen einer Psychotherapie wichtig sein, z.B. bei einem Partnerkonflikt oder einer sexuellen Funktionsstörung. Familiengespräche sind in der Familientherapie üblich (7 Kap. 2.4.3). Der Grundgedanke hierbei ist, dass Veränderungen bei einem Familienmitglied auch Veränderungen des gesamten Familiensystems, d.h. der Beziehungen zwischen den Familienmitgliedern, nach sich ziehen (systemische Perspektive). Auch im Rahmen der Krankheitsverarbeitung bei körperlich Schwerkranken kann es sinnvoll sein, die Familie beizuziehen, um Möglichkeiten der emotionalen Unterstützung auszuloten. Ambulante vs. stationäre Versorgung. Patienten
haben in der ambulanten Versorgung meist mit ihrem Hausarzt, den sie viele Jahre kennen, oder auf Überweisung auch mit einem Facharzt zu tun. Eine Besonderheit der ambulanten Versorgung sind Hausbesuche, bei denen der Arzt Einblick in das private Umfeld des Patienten nimmt. Diese Information kann ihm helfen, mögliche Barrieren, aber auch Ressourcen der Behandlung zu entdecken. Im Un-
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terschied dazu ist die stationäre Versorgung meist anonymer. Die Patienten kennen die betreuenden Ärzte nicht, oft wechseln auch Stationsärzte je nach Schicht. Die Krankenhausumgebung ist ungewohnt, eigene Handlungsspielräume sind eingeschränkt. Eine Krankenhausaufnahme kann deshalb Gefühle von Unsicherheit, Angst und Hilflosigkeit mit sich bringen.
Soziokultureller Rahmen der Kommunikation Sprachstile. Im Austausch mit Kollegen benutzen
Ärzte ihre medizinische Fachsprache. Gegenüber Patienten sollten sie medizinische Begriffe in die Alltagssprache übersetzen. Wenn der Arzt dem Patienten einen Sachverhalt erläutert hat, sollte er sich vergewissern, dass der Patient dies auch verstanden hat. Dies kann zum Beispiel dadurch erfolgen, dass er ihn bittet, die aufgenommene Information noch einmal in eigenen Worten kurz zusammenzufassen (7 Kap. 2.1.5). Dadurch können Missverständnisse vermieden werden. Darüber hinaus sollte er sich am Sprachcode des Patienten orientieren (elaborierter vs. restringierter Code, 7 Kap. 1.4.7). Besonders schwierig wird die Kommunikation mit fremdsprachigen Kranken, wenn der Arzt deren Sprache nicht beherrscht. Möglicherweise können Angehörige dolmetschen, die aber u.U. ihre eigene Sichtweise einfließen lassen, ansonsten müssen professionelle Dolmetscher herangezogen werden. Allerdings gibt es inzwischen auch immer mehr Ärzte aus der zweiten Einwanderergeneration der größten ethnischen Minderheiten, die in den jeweiligen Sprachen kompetent sind. Auch Informations- und Schulungsbroschüren stehen häufig in mehreren Fremdsprachen zur Verfügung. i Vertiefen Faller H (2003) Shared Decision Making: Ein Ansatz zur Stärkung der Partizipation des Patienten in der Rehabilitation. Rehabilitation 42:129–135 (Übersicht über Modelle der Arzt-Patient-Beziehung) Schulz von Thun F (1989) Miteinander reden. Störungen und Klärungen. Rowohlt, Hamburg (leicht verständliche Einführung in die Grundlagen der Kommunikation mit vielen praktischen Übungen)
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Kapitel 2 · Ärztliches Handeln
2.1.5
Besonderheiten der Kommunikation und Kooperation
Formen der Kooperation von Kranken und Ärzten Passiv/aktiv. Aktiv kooperierende Patienten sind
selbst daran interessiert, sich möglichst vollständig über die Erkrankung und die Behandlungsmöglichkeiten zu informieren. Sie wirken bei Entscheidungen über medizinische Maßnahmen mit (gemeinsame Entscheidungsfindung; 7 Kap. 2.1.4) und setzen die getroffenen Entscheidungen in ihrem Alltagsleben um. Passiv-kooperierende Patienten hingegen führen nur das aus, was der Arzt ihnen sagt, übernehmen die Behandlung jedoch nicht in ihre eigene Regie und Verantwortung. Autonom/heteronom. Autonom kooperierende Patienten tun dies selbständig und freiwillig, entsprechend dem Konsumentenmodell oder dem partnerschaftlichen Modell der Arzt-Patient-Beziehung (7 Kap. 2.1.4). Heteronom kooperierende Patienten arbeiten nur deshalb mit, weil sie vom Arzt oder den Angehörigen unter Druck gesetzt wurden. Ihr Handeln ist fremdbestimmt. Formen der Kooperation bei Ärzten. Auch Ärzte
kooperieren immer häufiger miteinander. Bei einer technikorientierten Kooperation nutzen mehrere Ärzte gemeinsam ein teures Gerät, z.B. in einer radiologischen Praxisgemeinschaft. Bei der patientenorientierten Kooperation bringen mehrere Ärzte ihr berufsspezifisches Wissen bei der Behandlung ein und desselben Patienten ein, beispielsweise bei einer Fallkonferenz im Rahmen der Schmerzambulanz, in der z.B. ein Anästhesist, ein Internist und ein Psychotherapeut zusammenarbeiten.
häufig auch die Begriffe adherence und concordance. Merke
Die Compliance beträgt im Durchschnitt 50%, d.h., nur 50% der Patienten nehmen ihre Medikamente wie vom Arzt verordnet ein oder folgen den Empfehlungen zur Änderung des Lebensstils.
Allerdings ist die Bandbreite sehr groß. Compliance wird auch von der Art der Erkrankung beeinflusst. Bei Hypertonie, die keine Symptome verursacht, liegt sie bei ungefähr 50%, bei Asthma bronchiale jedoch bei 80%. Studien aus der Rehabilitation zeigen jedoch, dass durch intensive, umfassende Schulungsmaßnahmen, einschließlich Erinnerungsschreiben und Selbstbeobachtung (z.B. Tagebücher), die Compliance erhöht werden kann. Beispiele: Compliance mit körperlichem Training ein Jahr nach Herzinfarkt 50%; Compliance mit antihypertensiver Medikation 64%; Compliance mit lipidsenkender Medikation 82%. In einer Studie, in der der Transfer eines körperlichen Trainingsprogramms in den Alltag geplant und supervidiert wurde, konnte sogar eine Compliance von 92% erzielt werden, im Vergleich zu 76% in der Kontrollgruppe. In anderen Studien waren die Effekte jedoch sehr viel bescheidener. Noch geringer ist die Compliance unter Alltagsbedingungen. Empfehlungen, Gewicht abzunehmen oder mit dem Rauchen aufzuhören, werden langfristig nur von 10% der Patienten befolgt. Geringe Compliance reduziert den Nutzwert einer Maßnahme (Nutzwert = Wirksamkeit × Compliance). Wenn ein Medikament nur von der Hälfte derjenigen Patienten eingenommen wird, denen es verordnet wurde, halbiert sich sein Nutzwert.
Compliance Der Begriff compliance (Nachgiebigkeit) hatte ursprünglich einen paternalistischen Beigeschmack. Er beinhaltete, dass Patienten die Anordnungen ihres Arztes passiv befolgen. Heutzutage versteht man Compliance jedoch in einem weiteren Sinne, nämlich als Mitarbeit bei der Behandlung, so dass dieser Begriff auch mit einem partnerschaftlichen Arzt-Patienten-Modell kompatibel ist. In der englischsprachigen Literatur findet man anstelle von compliance
Formen der Non-Compliance. Non-Compliance
kann unterschiedliche Formen annehmen. Manche Patienten nehmen kontinuierlich eine geringere Dosis ein als verordnet, andere nehmen lieber ein bisschen mehr. Manche Patienten nehmen die Medikamente so lange, bis eine Wirkung eintritt, und setzen sie anschließend vollständig ab. Dies ist insbesondere bei der Antibiotikatherapie gefährlich, weil sich durch eine zu kurzfristige Einnahme resistente Kei-
2.1 · Arzt-Patient-Beziehung
me entwickeln können. Manche Patienten nehmen ein als Dauermedikation vorgesehenes Mittel, z.B. bei Asthma bronchiale zur Anfallsprophylaxe, nur bei akuten Atemnotanfällen ein. Andere Patienten setzen ihre Medikamente zwischendurch immer wieder für eine bestimmte Zeit ab. Wieder andere nehmen die reguläre Medikation erst unmittelbar vor einem bevorstehenden Arztbesuch wieder auf. Als »intelligente« Non-Compliance bezeichnet man Non-Compliance aus vernünftigen Gründen. Beispiel: Ein Patient setzt ein Medikament wieder ab, weil er von schweren Nebenwirkungen betroffen ist. Dies ist aber nicht immer wirklich »intelligent«. Oft sind subjektiv störende Nebenwirkungen harmlos und verschwinden von selbst wieder. Deshalb wäre es besser, wenn der Patient sich mit seinem Arzt bespricht, bevor er eigenmächtig ein Mittel absetzt. Die voreilige Absetzung von Medikamenten wegen Nebenwirkungen findet man auch häufig bei Antidepressiva. Sowohl die klassischen trizyklischen Antidepressiva als auch die modernen Serotoninwiederaufnahmehemmer (SSRI) haben nämlich einen verzögerten Wirkungseintritt. Erst nach mindestens zwei, manchmal auch vier oder mehr Wochen treten die antidepressiven Effekte ein, wogegen Nebenwirkungen schon früher auftreten können. Deshalb ist es sehr wichtig, die Patienten während dieser ersten Wochen regelmäßig einzubestellen, um sie zur weiteren Einnahme der Medikamente zu motivieren, auch wenn noch keine Wirkung da ist. Einflussfaktoren. Die Einflussfaktoren auf die Compliance können folgenden Kategorien zugeordnet werden: 4 Merkmale der Erkrankung, z.B. akute vs. chronische Erkrankung, Symptome vs. keine Symptome. Geringere Compliance bei psychischer Störung. 4 Merkmale der Behandlung: Hoher Aufwand oder lange Dauer der Behandlung und ein komplizierter Behandlungsplan führen zu niedriger Compliance. 4 Bedingungen des Behandlungssettings: Lange Wartezeiten bei Arztterminen und Zeitdruck während der Untersuchungen vermindern die Compliance. 4 Arzt-Patient-Beziehung, z.B. unverständliche Erklärung, gestörtes Vertrauensverhältnis, un-
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zureichende Einbeziehung des Patienten, mangelnde Information. 4 Merkmale des Patienten, z.B. ungünstige subjektive Krankheitstheorien, irrationale Behandlungsängste. Beispiele: Viele depressive Patienten befürchten unzutreffenderweise, von Antidepressiva abhängig werden zu können. Manche Asthma-Patienten haben übertriebene Ängste vor den Nebenwirkungen von Cortison in Dosieraerosolen. Alter, Geschlecht, Intelligenz und Ausbildung spielen hingegen keine große Rolle. 4 Einflüsse des sozialen Umfelds, z.B. mangelnde soziale Unterstützung. Non-Compliance erkennen. Wenn eine Behandlung
bei einem Patienten nicht anzusprechen scheint, sollte man den Patienten an erster Stelle danach fragen, ob er das Medikament wie verordnet eingenommen hat, bevor man an der Indikation zweifelt, die Dosis erhöht oder ein anderes Medikament verordnet. Es genügt die Frage: »Haben Sie in der letzten Woche ein oder mehrere Male Ihre Medikamente nicht eingenommen?«, ohne dass man damit dem Patienten einen Vorwurf macht oder ihn unter Druck setzt. Aufwendigere Verfahren zur Kontrolle der Compliance wie das Zählen von Pillen, Medikamentencontainer, die die Entnahme einer Pille aufzeichnen, Dosieraerosole, die elektronisch jeden Hub registrieren, oder Blutspiegelmessungen sind lediglich in wissenschaftlichen Untersuchungen, nicht aber in der Praxis machbar. Ein wichtiger Hinweis auf mangelnde Compliance kann auch sein, wenn ein Patient Behandlungstermine nicht regelmäßig wahrnimmt. Compliance fördern. Um die Patienten-Compliance zu fördern, sollte sich der Arzt folgende Fragen stellen: Ist das notwendige Wissen beim Patienten vorhanden? Wenn nicht, ist entsprechende Information erforderlich. Ist das notwendige Können beim Patienten vorhanden? Wenn nicht, sind Verhaltensübungen oder Patientenschulungen angezeigt. Ist ausreichende Motivation beim Patienten vorhanden? Wenn nicht, muss die Motivation gefördert werden, z.B. durch kognitive Therapietechniken (7 Kap. 3.1.3 und 3.2.2). Weiterhin sollte man das eigene Behandlungsregime überdenken und nach Vereinfachungsmög-
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Kapitel 2 · Ärztliches Handeln
lichkeiten suchen. Genaue Instruktionen, möglicherweise mit einem schriftlichen Informationsblatt, Erinnerungen oder Tagebücher für die Selbstbeobachtung können versucht werden. In einer Metaanalyse, in der unterschiedliche Strategien zur Verbesserung der Compliance untersucht wurden, hat sich eine Strategie als besonders wirksam herausgestellt: finanzielle Anreize für regelmäßige Medikamenteneinnahme.
Besondere kommunikative Anforderungen Mitteilung von ungünstigen Diagnosen. Das Ge-
spräch mit Schwerkranken und Sterbenden stellt besondere Anforderungen. Eine häufige Situation, die für den Arzt schwierig sein kann, ist das sog. Aufklärungsgespräch, d.h. die Mitteilung ungünstiger Diagnosen. Noch vor wenigen Jahrzehnten war es unüblich, Krebspatienten über ihre Diagnose zu informieren. Diesem Vorgehen lag die Annahme zugrunde, dass es Patienten zu sehr belasten würde, wenn man ihnen die Wahrheit sagt. Dies hat sich jedoch als unzutreffend herausgestellt. Nicht nur wollen Patienten so viel wie möglich über ihre Krankheit wissen (üblicherweise mehr, als die Ärzte ihnen sagen), sondern Offenheit hat auch positive Auswirkungen auf das emotionale Befinden und die Krankheitsbewältigung. Unsicherheit über die Diagnose hingegen verstärkt die emotionale Belastung. Merke
Inzwischen wird es als Recht des Patienten angesehen, über seine Krankheit informiert zu werden. Nur wenn er möglichst vollständig Bescheid weiß, kann er sich mit den Konsequenzen seiner Erkrankung auseinandersetzen. Mangelnde Offenheit hingegen unterminiert das Vertrauen in der Arzt-Patient-Beziehung, verhindert die Beteiligung des Patienten an Therapieentscheidungen und erhöht die Gefahr von Non-Compliance. Deshalb gilt es inzwischen als Standard, Patienten soweit wie möglich über ihre Krankheit zu informieren.
Allerdings sollte man auch dabei keine paternalistische Haltung einnehmen, sondern die Informationsgabe an den Bedürfnissen der Patienten orien-
tieren. Eine Minderheit der Patienten möchte nicht vollständig über die Krankheit informiert werden oder benutzt Verleugnung als Bewältigungsstrategie. Die Informationsvermittlung sollte deshalb nach Ausmaß und Geschwindigkeit auf den individuellen Patienten zugeschnitten sein. Wichtig ist, dass dieser Prozess Zeit braucht, weil Patienten nicht alle Information auf einmal aufnehmen können. Ein einziges Aufklärungsgespräch wird deshalb oft nicht ausreichen. Laut Studien behalten Krebskranke im Durchschnitt 50% der wichtigen Informationen, die ihnen vermittelt wurden. Deshalb ist es notwendig, die Informationsgabe kontinuierlich fortzusetzen. Praktisches Vorgehen. Zunächst einmal ist es wich-
tig, dass man für diese Gesprächssituation ausreichend Zeit und eine geeignete Umgebung vorsieht, d.h. ein ruhiger Raum, in dem man nicht gestört wird. Fragen Sie den Patienten, ob er jemanden als Begleitung beim Aufklärungsgespräch mit dabei haben möchte. Merke
Das wichtigste Prinzip des Aufklärungsgesprächs ist es, nicht »mit der Tür ins Haus zu fallen«. Die Informationsvermittlung sollte vielmehr schrittweise und im Dialog erfolgen. Man orientiert sich dabei an der Aufnahmebereitschaft des Patienten, und zwar sowohl in intellektueller Hinsicht: »Hat er die mitgeteilte Information überhaupt verstanden?« als auch in emotionaler Hinsicht: »Hat er die Tragweite der Information gefühlsmäßig an sich herankommen lassen?«
Wenn man Patienten mit zuviel belastenden Informationen auf einmal konfrontiert, läuft man Gefahr, dass sie die Information verleugnen. Man muss sich dann nicht wundern, wenn sie sich so verhalten, als wären sie nie aufgeklärt worden. Patienten oszillieren in ihrem bewussten Erleben oft zwischen einer weitgehenden Akzeptanz der Erkrankung einerseits und einem Nicht-wahrhaben-Wollen andererseits hin und her. Wenn sie sich aber emotional unterstützt fühlen, können sie sich immer mehr mit den belastenden Informationen auseinandersetzen.
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2.1 · Arzt-Patient-Beziehung
Exkurs Leitlinien für das Aufklärungsgespräch Folgende Leitlinien können eine Orientierung dafür bieten, wie man bei der Mitteilung ungünstiger Diagnosen vorgeht: 5 Informationsbedürfnis erfragen. Fragen Sie zuerst, ob der Patient überhaupt Genaueres über Diagnose und Prognose wissen möchte, z.B.: »Möchten Sie, dass ich Ihnen mitteile, wie die Krankheit bei den meisten Patienten mit gleicher Diagnose verläuft?« Orientieren Sie sich an den Präferenzen, die der Patient äußert, welche Informationen er mitgeteilt bekommen möchte und welche nicht. 5 Informationsstand erfragen. Damit man beim Aufklärungsgespräch weiß, wo man ansetzen soll, ist es sinnvoll, den Patienten danach zu fragen, was sein aktueller Wissensstand ist: »Bevor ich Ihnen sage, was bei den Untersuchungen herausgekommen ist, würde ich gerne wissen, was man Ihnen bisher schon mitgeteilt hat. Dann weiß ich besser, womit ich anfangen soll.« 5 Einfach und offen informieren. Teilen Sie die Information einfach und ehrlich, unter Benutzung von Alltagssprache und ohne den Gebrauch von Schönfärberei mit. Benutzen Sie ggf. unterschiedliche Medien, z.B. Statistiken und Grafiken. Sprechen Sie heikle oder peinliche Themen direkt, aber feinfühlig an. 5 Sicherstellen, dass der Patient die Information verstanden hat. Sprechen Sie in einfachen Worten. Fragen Sie nach, ob der Patient verstanden hat, was Sie ihm sagen wollten. Bitten Sie ihn ggf., die Information noch einmal in eigenen Worten zusammenzufassen, oder geben Sie selbst eine Zusammenfassung. 5 Raum für Rückfragen lassen. Halten Sie nach jeder Information kurz inne, damit der Patient nachfragen kann. Ermutigen Sie ihn, aktiv nachzufragen, wenn er etwas nicht verstanden hat. 5 Einen breiten prognostischen Zeitrahmen verwenden. Bei der Prognosemitteilung keine konkrete Zeit nennen, weil dies im Einzelfall meist nicht möglich ist, sondern einen breiten realistischen Zeitrahmen vermitteln, der dem
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Patienten ermöglicht, seine persönlichen Angelegenheiten zu regeln. Erklären Sie, dass eine genaue Vorhersage darüber, wie ein Individuum auf die Krankheit und deren Behandlung reagiert, nicht möglich ist. Mitentscheiden lassen. Stellen Sie dem Patienten die Behandlungsmöglichkeiten vor und vermitteln Sie ihm, dass er bei der Entscheidung über die Behandlung beteiligt werden kann, wenn er dies will. Hoffnung vermitteln. Kommen Sie zuerst auf die Heilungschancen und erst danach auf die Wahrscheinlichkeit eines Rückfalls zu sprechen. Bei palliativer Behandlung, die nicht mehr das Ziel der Heilung anstrebt, die Äußerung vermeiden, »dass nichts mehr getan werden kann«. Stattdessen vermitteln, dass Sie alles tun werden, um eine möglichst gute Lebensqualität aufrecht zu erhalten, auch wenn keine Heilung mehr erreicht werden kann. Menge und Tempo der Information anpassen. Geben Sie dem Patienten nur so viel Information auf einmal, wie er intellektuell und emotional verarbeiten kann. Halten Sie kurz inne und fragen Sie nach, ob es erst mal genug ist oder ob er noch weitere Information haben möchte. Ermöglichen Sie ihm durch Pausen und Nachfragen, das Gespräch zu beenden, falls er sich im Augenblick überfordert fühlt, noch weitere Information aufzunehmen. Gefühle ansprechen. Ermutigen Sie den Patienten, seine Gefühle zu äußern. Vermitteln Sie ihm, dass seine Gefühle normal sind, und reagieren Sie einfühlsam. Informieren Sie den Patienten über psychosoziale Unterstützungsmöglichkeiten. Ausreichend Zeit zur Verarbeitung lassen. Informationsvermittlung ist kein Alles- oder Nichts-Phänomen, sondern braucht Zeit zur emotionalen Verarbeitung. Signalisieren Sie dem Patienten, dass Sie auch später für Rückfragen und Gespräche zur Verfügung stehen. Arrangieren Sie einen Termin für die Nachbesprechung, ggf. gemeinsam mit einem Angehörigen.
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Kapitel 2 · Ärztliches Handeln
Kommunikation mit Kindern. Bei Kindern ist die
Ablehnende Kranke. Wenn Patienten die Empfeh-
intellektuelle und emotionale Verarbeitungskapazität im Vergleich zu Erwachsenen eingeschränkt. Deshalb muss sich die Kommunikation in hohem Maße auf den sprachlichen und kognitiven Entwicklungsstand eines Kindes einstellen und bei kleineren Kindern immer die Eltern einbeziehen.
lungen des Arztes zurückweisen, erfordert es professionelle Kompetenz, um nicht mit eigener Aggression zu reagieren. Hilfreich ist, das Motiv der Ablehnung herauszufinden, statt mit Gegendruck zu arbeiten. In manchen Fällen wird es gleichwohl nicht gelingen, den Patienten zu überzeugen, z.B. mit dem Rauchen aufzuhören oder seinen Lebensstil zu ändern. Dies muss man als Arzt oder Ärztin akzeptieren können. Andere Kranke konfrontieren den Arzt mit festen Vorstellungen davon, wie die Krankheit am besten zu behandeln ist, und setzen ihn unter Druck, diese Behandlungsmaßnahmen auszuführen. Dies kann beim Arzt zu einem Widerstand führen, weil er sich in seinem eigenen Handlungsspielraum, seiner Therapiefreiheit, eingeschränkt fühlt. Diesen Widerstand gegen Freiheitseinschränkungen nennt man Reaktanz. Reaktanz kann andererseits auch beim Patienten auftreten, wenn er sich von ärztlichen Empfehlungen eingeengt fühlt.
Störungen der Kommunikation und Kooperation Organisatorisch-rechtliche Bedingungen. Die wichtigste Störungsquelle der Kooperation im Krankenhaus ist der Zeitdruck, dem Ärzte ausgesetzt sind. Die organisatorischen Anforderungen wie Dokumentation, Qualitätssicherung, Berichtswesen, Abrechnungen nehmen immer mehr zu. Für Gespräche mit den Patienten bleibt immer weniger Zeit. Dementsprechend kurz verläuft oft die Visite. Für den niedergelassenen Arzt stellt die Gebührenordnung eine wichtige Rahmenbedingung dar. Das Gespräch mit dem Patienten wird leider nur gering honoriert. Demgegenüber lässt sich mit apparativen Untersuchungen deutlich mehr Geld verdienen. Fehlerquellen und Beurteilungsfehler. Fehlerquel-
len der Kommunikation können auch in der Person von Arzt und Patient liegen. Als Beurteilungsfehler werden systematische Verzerrungen der Wahrnehmung einer anderen Person bezeichnet (7 Kap. 2.2.2). Beim Halo-Effekt (Überstrahlungsfehler) wird die Wahrnehmung durch ein hervorstechendes Merkmal beeinflusst, das auf andere Merkmale der Person ausstrahlt. Beispiel: Das gepflegte Äußere und freundliche Verhalten eines Patienten verleitet den Arzt zu der (möglicherweise unzutreffenden) Annahme, er werde sich auch an seine Empfehlungen halten. Hier wird vom Auftreten des Patienten auf seine Compliance geschlossen. Beim Abwehrmechanismus der Projektion (7 Kap. 1.2.3) werden unbewusste Gefühle oder Eigenschaften, die man bei sich selbst nicht wahrhaben will, stattdessen beim anderen wahrgenommen. Beispiel: Ein Arzt, der sich selbst immer nur als stark und kompetent wahrnimmt und eigene Gefühle von Hilflosigkeit abwehrt, nimmt an seinen Patienten bevorzugt deren Hilflosigkeit und Schwäche wahr.
Erwartungsenttäuschung. Wenn Kranke zu große
Hoffnungen in die medizinische Behandlung setzen, kann es zu Erwartungsenttäuschungen kommen. Dies ist beispielsweise häufig bei Patienten mit kleinzelligem Lungenkrebs der Fall. Zwar sprechen die kleinzelligen Bronchialkarzinome meist auf die Chemotherapie an, und der Tumor bildet sich zurück. In der Regel kehrt jedoch nach wenigen Wochen oder Monaten der Tumor wieder und kann dann nicht mehr kurativ behandelt werden. Die Patienten versterben dann bald, die Überlebenszeit beträgt im Median 1 bis 1½ Jahre. Um der Erwartungsenttäuschung vorzubeugen, weisen die behandelnden Ärzte schon im Aufklärungsgespräch nachdrücklich darauf hin, dass es noch keine endgültige Heilung bedeutet, wenn der Tumor nach der Chemotherapie zunächst nicht mehr nachweisbar sein wird. Die Patienten wollen dies aber oft gar nicht hören. Sie setzen all ihre Hoffnung darauf, geheilt zu werden. Umso enttäuschter sind sie dann, wenn trotz anfänglicher Remission das Rezidiv auftritt.
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2.2 · Untersuchung und Gespräch
i Vertiefen Petermann F (2003) Compliance. In: Jerusalem M, Weber H (Hrsg) Psychologische Gesundheitsförderung. Hogrefe, Göttingen, S 695–706 (gute Übersicht über Einflussfaktoren auf die Compliance und Möglichkeiten ihrer Förderung) Girgis A, Sanson-Fisher RW (1995) Breaking bad news: Consensus guidelines for medical practitioners. J Clin Oncol 8: 2449–2456 (praktische Empfehlungen zur Gesprächsführung bei der Diagnosemitteilung) Koch U, Lang K, Mehnert A, Schmeling-Kludas C (2006) Die Begleitung schwer kranker und sterbender Menschen. Schattauer, Stuttgart (sehr empfehlenswertes Textbuch und Fortbildungsmanual mit vielen praktischen Anregungen)
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Er erlebt den Arzt als kompetent. Beide arbeiten auf das gleiche Ziel hin. 4 Definition des Problems: Ziele und Wünsche des Patienten werden geklärt. 4 Entscheidungsfindung: Was soll getan werden? Diagnostische Strategien und Behandlungsmöglichkeiten werden besprochen und eingeleitet. Die Compliance wird sichergestellt (7 Kap. 2.1.5). 4 Beratung über Diagnose, Prognose und Behandlung: Der Patient erhält Information über die Krankheit, ihren voraussichtlichen Verlauf und den Behandlungserfolg (7 Kap. 2.4.1).
Patientenperspektive 2.2
Untersuchung und Gespräch
> > Einleitung Patienten kommen meist mit bestimmten Erwartungen zum Arzt. Sie möchten wissen, woran sie leiden, erhoffen sich Entlastung von ihren Befürchtungen, wollen ein bestimmtes Medikament verschrieben bekommen und vieles mehr. Sie sprechen diese Erwartungen jedoch meist nicht offen aus. Ärzte lassen sich oft von ihren Vermutungen darüber leiten, was die Patienten wohl erwarten. Das reicht aber nicht aus. Die Erwartungen müssen vielmehr offen angesprochen werden. Auch bei der Exploration der Beschwerden und der Erhebung der Krankheitsvorgeschichte ist eine kompetente Gesprächsführung grundlegend. Durch eine korrekte Anamneseerhebung gewinnt der Arzt die nötige Information, um die richtige Diagnose zu stellen. Bei der körperlichen Untersuchung ist schließlich einfühlsames Verhalten gefordert, weil der Arzt dem Patienten in einer Weise körperlich nahe kommt, die Scham auslösen kann.
2.2.1
Erstkontakt
Ziele des Erstkontakts Wenn ein Patient zum ersten Mal mit einer neuen Beschwerdesymptomatik zum Arzt kommt, spricht man von einem Erstkontakt. Am Ende des Erstkontakts sollten folgende Ziele erreicht sein: 4 Aufbau einer therapeutischen Beziehung: Der Patient fühlt sich verstanden und angenommen.
Bevor ein Mensch mit seinen Beschwerden zum Arzt geht, hat er meist schon eine ganze Zeit lang alleine versucht, mit den Symptomen zurechtzukommen (Stadien des Hilfesuchens, 7 Kap. 2.6.1). Weil ihm dies nicht gelungen ist oder weil er sich große Sorgen wegen der Symptome macht, beschließt er schließlich, professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen. Er erhofft sich vom Arztbesuch Abklärung der Situation, Beruhigung und die Beseitigung der Beschwerden. Aber zuerst musste er die innerliche Hürde überwinden, zum Arzt zu gehen. Ein Arztbesuch kann nämlich zunächst einmal selbst Verunsicherung mit sich bringen: »Was wird auf mich zukommen? Werde ich ernst genommen? Oder hält der Arzt meine Sorgen vielleicht für übertrieben?« Die Bedürfnisse des Patienten sind, herauszufinden, was die körperlichen Beschwerden bedeuten, ob man sie ernst nehmen muss oder nicht, ob man etwas dagegen tun kann und wie man damit umgehen soll. Er erhofft sich Entlastung, Unterstützung und Verständnis. Diese Wünsche bringt er jedoch meist nicht explizit zum Ausdruck. Ärzte fragen auf der anderen Seite meist nicht danach, welche Erwartungen Patienten mit sich bringen, sondern erschließen diese aus deren Äußerungen. Erwartungen an den Arztbesuch. Nach empirischen Untersuchungen in Arztpraxen und Ambulanzen kommen fast alle Patienten mit einer bestimmten Erwartung in die Praxis: Sie wollen ihre Diagnose wissen, wollen wissen, wie lange die Symptome dauern werden, wollen ein Medikament verschrieben bekommen, erwarten eine diagnostische
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Kapitel 2 · Ärztliches Handeln
Untersuchung oder eine Überweisung. In einer Studie wünschten die Patienten zu ungefähr gleichen Teilen ein neues Medikament, eine diagnostische Untersuchung oder eine Überweisung. Sie erhielten diese jeweils jedoch nur in der Hälfte der Fälle. Merke
Unerfüllte Erwartungen betreffen am häufigsten diagnostische und prognostische Information. Wenn Patienten hingegen diese Information erhalten, reagieren sie mit Milderung der Symptome und verbessertem Funktionszustand. Generell gilt, dass Patienten, deren Erwartungen erfüllt werden, weniger Sorgen und größere Zufriedenheit zum Ausdruck bringen.
Krankheits- und Kontrollüberzeugungen. Patien-
ten kommen mit bestimmten Vorstellungen in die Praxis, was die Ursachen ihrer Beschwerden sein könnten (Kausalattribution). Sie bringen mehr oder weniger feste Krankheitsüberzeugungen mit (subjektive Krankheitstheorie, 7 Kap. 1.1.2) und haben Vorstellungen, auf welche Weise ihre Beschwerden beeinflusst werden könnten (Kontrollüberzeugungen). Bei den Kontrollüberzeugungen unterscheidet man drei Dimensionen: 4 Internale Kontrollüberzeugung: Ich selbst kann meine Beschwerden bzw. die Erkrankung beeinflussen. 4 Sozial-externale Kontrollüberzeugung: Andere Menschen, z.B. die Ärzte, können meine Beschwerden bzw. die Erkrankung beeinflussen. 4 External-fatalistische Kontrollüberzeugung: Schicksal oder Zufall beeinflussen meine Beschwerden bzw. Erkrankung. Eine internale Kontrollüberzeugung gilt als günstiger Einflussfaktor für Krankheitsbewältigung und Heilung (7 Kap. 1.2.4). Sie motiviert die Betroffenen, durch ihr Gesundheitsverhalten, z.B. körperliche Aktivität, zur Gesundung beizutragen. Beispiel: In einer Studie hatten chirurgische Patienten mit starker internaler Kontrollüberzeugung einen schnelleren Heilungsverlauf. Auch eine sozial-externale Kontrollüberzeugung kann sinnvoll sein, v.a. in Situationen, wo der Patient selbst eine eher geringe Einflussmöglichkeit besitzt (z.B. Chemotherapie) oder
in denen es darauf ankommt, den Empfehlungen der Ärzte zu vertrauen (z.B. Notfall). Eine external-fatalistische Kontrollüberzeugung gilt hingegen als ungünstig. Sie geht oft mit Gefühlen der Hilf- und Hoffnungslosigkeit und einem depressiven Befinden einher. Vorerfahrungen und Vorkenntnisse. Patienten ha-
ben meist schon Erfahrungen mit Ärzten gemacht, die ihr aktuelles Verhalten prägen. Bei einer guten Vorerfahrung werden sie in den aktuellen Kontakt einen Vertrauensvorschuss einbringen, bei einer schlechten Vorerfahrung eher misstrauisch sein. Patienten informieren sich meist auch über ihre Erkrankung, z.B. aus Zeitschriften, die oft medizinische Kolumnen enthalten, oder aus dem Internet. Sie bereiten sich manchmal richtiggehend auf den Erstkontakt vor, ohne dies ihrem Arzt aber offen mitzuteilen. Vorinformation hat Vorteile: Patienten können die vom Arzt mitgeteilten Informationen besser einordnen, bei medizinischen Entscheidungen mitwirken und sich autonomer und gleichberechtigter wahrnehmen (7 Kap. 2.1.4). Die große Informationsflut bringt jedoch auch Nachteile mit sich: Oft sind die Informationen, die in den Medien zu finden sind, entweder falsch oder einseitig oder verwirrend. Unsicherheit und Angst nehmen dann zu, und die Patienten brauchen emotionale Unterstützung und Sicherheit von ihrem Arzt. Er muss ihnen helfen, die jeweilige Information zu bewerten.
Arztperspektive Beurteilung der Angemessenheit des Beratungsanlasses. Die Erwartungen der Patienten beeinflus-
sen das Verhalten des Arztes. Patienten, die eine Medikamentenverordnung, Untersuchung oder Überweisung wollen, erhalten eine solche auch häufiger als Patienten, die keine derartige Erwartung hegen. In mehreren Studien hat sich gezeigt, dass noch stärker als die tatsächlichen Erwartungen der Patienten die vom Arzt wahrgenommenen Erwartungen dessen Verhalten beeinflussten, also was er glaubt, was der Patient will. Beispiel: Wenn ein Patient die Erwartung hegt, ein Medikament verschrieben zu bekommen, erhält er eines mit dreimal so hoher Wahrscheinlichkeit, als wenn er diese Erwartung nicht mitbringt. Aber wenn der Arzt glaubt, dass der Patient ein Medikament will, verschreibt er
2.2 · Untersuchung und Gespräch
ein solches mit zehnmal so hoher Wahrscheinlichkeit. Medikamente sollen aber natürlich primär nach der medizinischen Notwendigkeit, d.h. rational, verordnet werden und nicht nach den (möglicherweise unbegründeten) Wünschen des Patienten. In einer anderen Studie war der stärkste Einflussfaktor auf das Verhalten des Arztes dementsprechend die wahrgenommene medizinische Notwendigkeit einer Maßnahme. Bei einer substantiellen Minderheit der Patienten verordneten die Ärzte jedoch Maßnahmen, obwohl sie diese nicht für medizinisch gerechtfertigt hielten: 15% der körperlichen Untersuchungen, 19% der Verschreibungen, 22% der Überweisungen und 46% der diagnostischen Abklärungen waren aus Sicht der Ärzte nicht unbedingt nötig. In dieser Studie war der vom Patienten ausgeübte Druck, den die Ärzte empfanden, ein starker Einflussfaktor auf ihr Verhalten. In einer anderen Studie jedoch sank die Wahrscheinlichkeit einer Verschreibung, wenn sich die Ärzte unter Druck gesetzt fühlten (Reaktanz; 7 Kap. 2.1.5). Eine Untersuchung anzuordnen oder ein Medikament zu verschreiben, kann für den Patienten die Bedeutung besitzen, dass der Arzt etwas für ihn tut. So gibt es bei Krebspatienten das Phänomen, dass diejenigen Patienten, die eine objektiv belastende Chemotherapie erhalten, um den Tumor »aggressiv« zu behandeln, paradoxerweise eine bessere Lebensqualität angeben als diejenigen, bei denen zunächst abgewartet wird, wie der Tumor sich entwickelt. Obwohl viele diagnostische Untersuchungen wenig zusätzliche Sicherheit bringen oder manche Medikamentenverordnungen nur wenigen Patienten nützen, während die Mehrzahl nichts davon hat (hohe number needed to treat, 7 Kap. 3.1.3), empfinden die Merke
Besonders schädlich sind übermäßige Verordnungen bei Patienten mit körperlichen Beschwerden ohne organische Ursache (Somatisierung). Führt der Arzt bei diesen Patienten auch nach ausreichender Abklärung immer wieder diagnostische Tests durch, so vermittelt er damit ungewollt dem Patienten den Eindruck, dass er sich seiner Sache nicht sicher ist und vielleicht doch eine organische Krankheit hinter den Beschwerden steckt.
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Patienten subjektiv mehr Sicherheit und Ernstgenommenwerden. Verordnet er dem Patienten dann auch noch ein Medikament, und sei es ein pflanzliches Mittel ohne gravierende Nebenwirkungen, auf dessen Beipackzettel jedoch als Indikation »Herzkrankheiten« aufgedruckt ist, verstärkt er die Überzeugung des Patienten, an einer organischen Krankheit zu leiden (iatrogene Fixierung). Bei Patienten mit somatoformen Störungen wäre es deshalb gerade angezeigt, wiederholte diagnostische Tests zu verweigern, kein unnötiges Medikament zu verordnen und dem Patienten zugleich zu vermitteln, dass man ihn mit seinen Beschwerden dennoch ernst nimmt. Neben den Patientenerwartungen können auch wirtschaftliche Interessen des Arztes zu einer übermäßigen Inanspruchnahme medizinischer Leistungen beitragen. Diese können jedoch auch durchaus Schaden hervorrufen und bewirken eine Kostensteigerung. Erster/letzter Eindruck. Während des Erstkontakts
nimmt der Arzt viele Informationen über den Patienten auf. Dabei hat sich gezeigt, dass manche Informationen besonders stark im Gedächtnis haften bleiben. Es sind dies diejenigen vom Beginn des Gesprächs (erster Eindruck; primacy-Effekt), z.B. das Aussehen des Patienten, und diejenigen vom Ende des Gesprächs (letzter Eindruck; recency-Effekt). Durch diese beiden Effekte kann die in der Zwischenzeit vermittelte Information, die vielleicht wichtiger ist, überdeckt werden. Dass sich schon sehr früh ein erster Eindruck einer Person bildet, der nur schwer korrigiert werden kann, ist ein bekanntes Phänomen der Wahrnehmungspsychologie. Stereotypien. Stereotype sind Wahrnehmungskli-
schees über eine bestimmte soziale Gruppe. Ein wichtiges Beispiel ist das Geschlechtsstereotyp. Frauen sprechen eher über ihre psychischen Probleme als Männer. Ihre Beschwerden werden demgemäß eher als psychisch bedingt wahrgenommen. Dies hat gravierende Auswirkungen in der Medizin. Frauen erhalten häufiger ein Beruhigungsmittel verschrieben als Männer. Körperliche Beschwerden werden bei Frauen häufiger als psychosomatisch betrachtet. Dies führt beispielsweise dazu, dass ein Herzinfarkt bei Frauen seltener frühzeitig diagnosti-
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Kapitel 2 · Ärztliches Handeln
ziert wird. Ein anderes Stereotyp ist, dass Alkoholkranke eine rote Gesichtsfärbung besitzen, was zu einem Fehlschluss führen kann. Beurteilungsfehler werden in Kap. 2.2.2 behandelt. i Vertiefen Bensing JM, Langewitz W (2003) Die ärztliche Konsultation. In: Adler RH, Herrmann JM, Köhle K, Langewitz W, Schonecke OW, Uexküll Tv, Wesiack W (Hrsg) Uexküll Psychosomatische Medizin, 6. Auflage Urban & Fischer, München, S 415–425 (gute Übersicht über die Struktur der Arzt-Patient-Kommunikation beim Erstkontakt)
2.2.2
Exploration und Anamnese
Funktion Unter Exploration versteht man die Befragung des Patienten, unter Anamnese die Erhebung seiner Krankheitsvorgeschichte. Beide Begriffe werden jedoch nicht trennscharf voneinander abgehoben. Das Anamnesegespräch hat primär eine diagnostische Funktion. Es dient der Datengewinnung, um eine Diagnose stellen zu können. Die Beschwerden, die der Patient nennt, werden vom Arzt in Symptome »übersetzt«, aus denen er wiederum die Diagnose ableitet. Im Englischen ist die Bezeichnung etwas abweichend: Subjektive Beschwerden werden als symptoms bezeichnet, Symptome, d.h. Krankheitszeichen, als signs. Meist lässt sich aufgrund der Beschwerdeschilderung des Patienten eine diagnostische Hypothese formulieren (»Häufige Diagnosen sind wahrscheinlicher, seltene weniger wahrscheinlich«). Um die Diagnose zu sichern, müssen jedoch noch weitere Fragen gestellt, Befunde erhoben und Untersuchungen durchgeführt werden. Die Diagnosestellung ist meist kein einmaliger Akt, sondern ein längerer Prozess (7 Kap. 2.3.1 und 2.3.3). Für die häufigsten Diagnosen existieren diagnostische Leitlinien, in denen das diagnostische Vorgehen genau festgelegt ist. Je nach dem Ergebnis der weiteren Befragung, der körperlichen Untersuchung und diagnostischen Tests schließen sich weitere diagnostische Schritte an. In den Leitlinien ist dieser diagnostische Prozess in Form eines Flussdiagramms oder eines Algorithmus festgelegt. Zur Diagnostik gehört auch der Ausschluss von Differentialdiagnosen, d.h. alternativen Diagno-
sen, die eventuell auch in Betracht kommen können. Oft lassen sich zu Beginn des diagnostischen Prozesses noch nicht alle Differentialdiagnosen ausschließen. Sie bleiben als alternative Hypothesen »im Hinterkopf«, bis weitere Information vorliegt, um sie immer unwahrscheinlicher zu machen oder ganz auszuschließen. Falls keine unmittelbare Gefahr im Verzug liegt, kann es auch sinnvoll sein, erst einmal abzuwarten und die Beschwerden zu beobachten (abwartendes Beobachten, engl. watchful waiting). Im weiteren Verlauf wird die Diagnose dann möglicherweise klarer. Dies gilt natürlich nur bei Symptomen, deren Verlauf wahrscheinlich gutartig ist, wie dies in der Primärversorgung meist der Fall ist. Bei akuten Infektionserkrankungen oder Verdacht auf eine Krebserkrankung ist Abwarten natürlich nicht angebracht. Das Anamnesegespräch hat neben der diagnostischen auch eine therapeutische Funktion. Die Diagnosestellung ist schon deshalb therapeutisch relevant, weil sie die Therapieplanung ermöglicht. Sie hat aber auch für den Patienten einen direkten entlastenden Effekt: Er weiß nun endlich, woran er leidet. Damit ist eine wesentliche Erwartung an den Arztbesuch erfüllt (7 Kap. 2.2.1). Weitere Funktionen des ärztlichen Gesprächs, die jedoch nicht mehr zur Exploration und Anamnese im engeren Sinne gehören, sind Aufklärung und Edukation (7 Kap. 2.4.1 und 2.4.2) sowie emotionale Unterstützung (7 Kap. 2.1.4).
Formen Folgende Formen der Anamnese werden unterschieden: 4 Eigenanamnese: Der Patient wird selbst befragt. 4 Fremdanamnese: Eine andere Person wird über den Patienten befragt (z.B. die Ehefrau bei einem dementen oder bewusstlosen Patienten oder die Eltern bei einem Kind). 4 Sozialanamnese: Die Lebensverhältnisse des Patienten, wie Arbeit und Partnerschaft, sind Thema. 4 Krankheitsanamnese: Thema bisherige Erkrankungen. 4 Familienanamnese: Erkrankungen in der Familie können auf eine familiäre Disposition hinweisen (z.B. hereditärer Brustkrebs).
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2.2 · Untersuchung und Gespräch
4 Entwicklungsanamnese: Die lebensgeschichtliche Entwicklung wird besprochen. Beispiel: Belastende Lebensereignisse können einer Erkrankung vorausgehen. 4 Medikamentenanamnese: Die bisherige Medikation wird erfragt (Beispiel: Kopfschmerzmedikamente können bei langem Gebrauch selbst Kopfschmerzen erzeugen; bei Benzodiazepinen besteht die Gefahr der Abhängigkeit). Verhaltensanalyse. In der Verhaltenstherapie wird für die Psychotherapieplanung eine Verhaltensanalyse durchgeführt. Diese folgt dem SORKC-Schema, das bereits in Kap. 1.2.1 am Beispiel eines Patienten mit chronischen Rückenschmerzen vorgestellt wurde. Als horizontale Verhaltensanalyse bezeichnet man die Analyse der aktuell wirksamen auslösenden und aufrechterhaltenden Bedingungen des Verhaltens. Unter vertikaler Verhaltensanalyse wird eine längsschnittliche, biographische Betrachtung verstanden: Wie hat sich das Problemverhalten im Laufe der Lebensgeschichte des Patienten entwickelt? Hier werden also auch in der Vergangenheit wirksame auslösende Reize und verstärkende Konsequenzen einbezogen. Da das eigene Verhalten und seine Einflussfaktoren oft nicht korrekt beschrieben werden können, weil sie der Selbstbeobachtung nur teilweise zugänglich sind, ist die Verhaltensbeobachtung eine unschätzbare Quelle, um das Verhalten zutreffend beschreiben und dessen Bedingungen einschätzen zu können.
Struktur Rahmenbedingungen. Ein erfolgreiches Anam-
nesegespräch braucht bestimmte Rahmenbedingungen, die eigentlich selbstverständlich sein sollten: Es sollte in einem ruhigen, ungestörten Raum stattfinden, möglichst ohne Unterbrechung durch Telefonate oder Piepser. Eine bequeme Sitzgelegenheit in angemessener Distanz (nicht zu nah, nicht zu weit weg) und mit der Möglichkeit, ohne Hindernisse Blickkontakt aufnehmen zu können, sind ebenfalls selbstverständlich. Im Krankenhaus kann dies heißen, einen Stuhl ans Krankenbett zu rücken, um dem Patienten in Augenhöhe gegenübersitzen zu können. Der Arzt begrüßt den Patienten, indem er seinen Namen nennt, im Krankenhaus auch seine Funktion. Wenn man nur eine eng begrenzte Zeit zur Verfügung hat, kann es sinnvoll sein, dem Patienten den Zeitrahmen zu nennen und das (begrenzte) Ziel des Gesprächs zu formulieren. Gesprächseröffnung Merke
Das Anamnesegespräch wird mit einer offenen Frage eröffnet: »Was führt Sie her?« Dies wirkt als Aufforderung für den Patienten, zunächst einmal ungehindert von seinen Beschwerden oder Problemen zu erzählen.
Befürchtungen, dass diese Erzählung unendlich lange dauern könnte, sind unbegründet. Während der Patient redet, muss der Arzt erst einmal zuhören. Er ist dabei jedoch nicht passiv, sondern aktiv: Er hält
Klinik
Verhaltensbeobachtung Ein Patient leidet an chronischen Schmerzen, für die sich kein hinreichender organischer Befund finden lässt, der die Schmerzen erklären könnte (äanhaltende somatoforme Schmerzstörung). Zu einem Gespräch mit dem Patienten lädt der Hausarzt auch dessen Ehefrau ein, um die Interaktion der beiden beobachten zu können. Er stellt fest, dass immer dann, wenn der Patient mit schmerzverzerrtem Gesicht seine Klagen vorbringt,
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sich ihm die Ehefrau tröstend zuwendet. Auf diese Weise kann der Hausarzt eine aufrechterhaltende Bedingung, das Verhalten der Ehefrau, welches als positiver Verstärker wird, identifizieren. Er kann nun mit dem Paar besprechen, dass die Ehefrau sich ihm nicht mehr dann zuwendet, wenn er über seine Schmerzen klagt, sondern wenn er trotz Schmerzen im Alltagsleben aktiv ist. Infolgedessen wird ein neues, erwünschtes Verhalten verstärkt.
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Kapitel 2 · Ärztliches Handeln
Blickkontakt, zeigt dem Patienten durch nonverbale Signale, wie Kopfnicken, oder verbale Äußerungen, wie »Ja?«, dass er bei der Sache ist und ihn zu verstehen versucht. Wenn der Patient stockt, sollte der Arzt ihn aufmunternd anblicken oder eine gesprächserleichternde Äußerung anbringen: »Und dann?« oder: »Und wie ging es weiter?« Kurze Pausen müssen nicht gleich durch eigene Fragen unterbrochen werden. Sinnvoller ist es, dasjenige, was der Patient gesagt hat, noch einmal in eigenen Worten zu wiederholen (paraphrasieren): »Habe ich Sie richtig verstanden, dass …?«. Nach längeren Passagen fasst er in eigenen Worten die Aussagen des Patienten noch einmal zusammen. Diese Form des Zuhörens wird aktives Zuhören genannt. Gewinnt man den Eindruck, dass in der Erzählung des Patienten eine Sorge mitschwingt, sollte man diese in Worte fassen: »Ich habe den Eindruck, dass Sie sich deswegen Sorgen machen?« Wenn der Arzt die potentiellen Gefühle einfühlsam und mit einem fragenden Unterton anspricht (Empathie), fällt es dem Patienten leichter, mehr davon zu erzählen. In dieser Eröffnungsphase des Anamnesegesprächs verhält sich der Arzt nondirektiv: Er überlässt den Gang des Gesprächs weitgehend dem Patienten, gibt nicht selbst die Themen vor (7 Kap. 2.1.4). Strukturierte Gesprächsphase. Wenn der Patient
seine Beschwerdeschilderung zum Abschluss gebracht hat, kann der Arzt die Beschwerden detaillierter explorieren: Wie intensiv ist der Schmerz? Wie fühlt er sich an? Wo ist er lokalisiert? Sind gleichzeitig noch andere Beschwerden vorhanden? Wann und wie oft tritt der Schmerz auf? Unter welchen Bedingungen nehmen die Beschwerden zu oder ab? Wie sehr beeinträchtigen die Beschwerden das Alltagsleben? Wann haben die Beschwerden begonnen? In dieser Phase verhält sich der Arzt direktiv: Er gibt die Themen vor, verwendet strukturierte Fragen (s.u.). Patienten erleben es als hilfreich, wenn der Arzt ihnen Orientierung über den weiteren Gesprächsverlauf bietet, also z.B. ankündigt, was er als nächstes tun wird, ob und wann er den Patienten untersuchen wird und dass der Patient zum Abschluss des Gesprächs noch einmal Gelegenheit für Fragen hat. Das Gesprächsende sollte rechtzeitig angekündigt wer-
den, damit der Patient die noch offenen Fragen stellen kann. Dabei ist auch die subjektive Krankheitstheorie des Patienten von Bedeutung. Der Arzt sollte explizit danach fragen, woran der Patient selbst zu leiden glaubt: »Woher, glauben Sie, kommen Ihre Beschwerden?« und was er für die angemessene Behandlung hält: »Was glauben Sie, würde Ihnen am besten helfen?« Damit bringt der Arzt nicht eigene Unsicherheit zum Ausdruck, sondern erleichtert es dem Patienten, über etwaige Sorgen zu sprechen, z.B. an einer schweren Krankheit zu leiden, an der ein Familienmitglied verstorben ist. Außerdem ist es für den Arzt wichtig, die Behandlungserwartungen des Patienten zu kennen, um seinen eigenen Therapieplan darauf abstimmen und mit dem Patienten erörtern zu können. Beispiel: Patienten mit psychischen Störungen haben oft eine klare Präferenz hinsichtlich Psychotherapie oder medikamentöser Behandlung. Die Ablehnung von Medikamenten beruht manchmal auf falschen Vorstellungen, z.B. Antidepressiva würden abhängig machen oder die Persönlichkeit verändern. Weitere Aufgaben sind, das Informationsbedürfnis des Patienten zu explorieren sowie die Rolle zu verhandeln, die er im Rahmen der gemeinsamen Entscheidungsfindung einnehmen will (7 Kap. 2.1.4). Eine partnerschaftliche Entscheidungsfindung ist zwar das Ideal, das man anstreben sollte, aber nicht alle Patienten wollen in die Entscheidung über die Behandlung einbezogen werden, manche fühlen sich überfordert. Um dies herauszufinden, muss der Arzt mit dem Patient offen darüber sprechen. Am Ende des Gesprächs klären Arzt und Patient gemeinsam den Auftrag, den der Patienten dem Arzt gibt, sowie das weitere Vorgehen. Sie vereinbaren z.B. einen neuen Termin für zusätzliche Untersuchungen. Fragestile. Folgende Frageformate lassen sich unterscheiden: 4 Offene Frage: Eine offene Frage, z.B. »Was führt Sie her?«, fordert den Gesprächspartner auf, in eigenen Worten zu antworten. 4 Geschlossene Frage: Bei der geschlossenen Frage sind die Antwortmöglichkeiten festgelegt. Sie kann entweder mit »ja« oder »nein« beantwortet werden, z.B. »Haben Sie Schmerzen?« Oder sie
2.2 · Untersuchung und Gespräch
gibt mehrere Antwortmöglichkeiten vor, zwischen denen der Befragte eine Auswahl treffen kann, wie bei Alternativfragen oder Katalogfragen (s.u.). 4 Alternativfragen: Hier werden zwei Antwortmöglichkeiten vorgegeben: »Spüren Sie den Schmerz oberflächlich oder tief?« 4 Katalogfrage Hier werden mehr als zwei Antwortmöglichkeiten vorgegeben. Die Multiplechoice-Frage ist eine Katalogfrage. 4 Suggestivfragen: Suggestivfragen legen einem die inhaltliche Antwort nahe. Beispiel: »Es geht Ihnen doch schon wieder besser, nicht wahr?« Suggestivfragen sind für die Datengewinnung ungeeignet, sie verzerren das Ergebnis.
Schwierigkeiten Bei der Anamneseerhebung müssen auch Schwierigkeiten überwunden werden, z.B. Sprachbarrieren, wenn Patienten aus einer anderen Kultur stammen (7 Kap. 2.1.4). Andere kulturelle Krankheitskonzepte können die Anamneseerhebung ebenfalls erschweren: Wenn in einer Kultur die Krankheit immer den ganzen Menschen betrifft, ist es nicht verwunderlich, wenn der Patient »Schmerzen am ganzen Körper« angibt. In einem anderen Sinne können Sprachbarrieren auch durch unterschiedliche Sprachcodes (restringierter vs. elaborierter Code; 7 Kap. 1.4.7) wirksam werden. Für den Arzt ist es wichtig, den Sprachstil seines Patienten zu berücksichtigen, um ihn nicht zu überfordern. Er sollte sich immer einfach und klar ausdrücken, sprachliche Bilder und Metaphern verwenden oder Graphiken zur Veranschaulichung hinzuziehen. Fachausdrücke sollten in Alltagssprache übersetzt oder erläutert werden. Arztzentriert vs. patientenzentriert. Bei der Gesprächsgestaltung können ein arztzentriertes und ein patientenzentriertes Vorgehen unterschieden werden. Beim arztzentrierten Vorgehen gibt der Arzt die Themen vor, stellt geschlossene Fragen und unterbricht den Patienten, wenn dieser zu weit abschweift. Wenngleich dieses Vorgehen im späteren Verlauf der Anamneseerhebung seine Berechtigung hat, würde es die Breite der Information unnötig einschränken, wenn man zu früh damit beginnen würde. Man würde dann nichts über die Bedürfnisse des
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Patienten erfahren, seine Wünsche und Präferenzen oder seine Sorgen und Befürchtungen. Deshalb ist sowohl zu Beginn des Gesprächs als auch wieder am Ende bei der Besprechung der Behandlungsmöglichkeiten ein patientenzentriertes Vorgehen angezeigt. Der Arzt ermutigt hierbei den Patienten, seine eigenen Vorstellungen einzubringen, er stellt offene Fragen, lässt den Patienten ausreden und geht auf seine Emotionen ein. Sein Interviewstil ist nondirektiv. Der Patient wird dadurch in seiner Autonomie gefördert und als gleichberechtigter Partner im Entscheidungsprozess anerkannt. Beobachtungs- und Beurteilungsfehler. Beobachtungs- und Beurteilungsfehler verzerren das Ergebnis einer Wahrnehmung oder Beurteilung. Sie können dazu führen, dass die Information, die der Arzt erhebt, nicht valide ist. Eine falsche Diagnose oder Behandlung kann die Folge sein. Als Beobachtungsund Beurteilungsfehler werden unterschieden: 4 Halo-Effekt. Beim Halo-Effekt strahlt ein Merkmal auf andere Merkmale aus, wie der Hof des Mondes (halo). Beispiel: Ein Arzt hält einen gut gekleideten Patienten deswegen auch für kooperativ bei der Behandlung (7 Kap. 2.1.5). 4 Kontrasteffekt: Beim Kontrasteffekt werden Unterschiede übertrieben. Beispiel: Ein Arzt, der die Nacht über Notdienst hatte, erlebt die Patienten der Routinepraxis als eigentlich gar nicht richtig krank (und übersieht deshalb eine schwerwiegende Diagnose). 4 Milde-Effekt: Beim Milde-Effekt werden die Merkmale eines Menschen zu günstig beurteilt (Gegenteil: Härte-Effekt). 4 Effekt der zentralen Tendenz: Beurteiler tendieren dazu, eher die mittleren Werte eines Skalenbereichs anzukreuzen, und scheuen sich vor extremen Werten. 4 Projektion: Eigenschaften, die man an sich selbst nicht akzeptieren kann, werden anderen Menschen zugeschrieben (Abwehrmechanismus; 7 Kap. 1.2.3). Beispiel: Ein Arzt, der sich nicht eingestehen vermag, depressiv zu sein, nimmt stattdessen seine Patienten als depressiv wahr (7 Kap. 2.1.5). Rosenthal-Effekt. Der Rosenthal-Effekt ist ein klas-
sischer Versuchsleitereffekt (7 Kap. 1.3.4). Er besagt,
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Kapitel 2 · Ärztliches Handeln
dass die Erwartung des Versuchsleiters, wie ein Experiment ausgeht, dieses Ergebnis herbeiführt (selffulfilling prophecy). Der Rosenthal-Effekt ist eigentlich kein Beobachtungs- und Beurteilungsfehler, weil er sich nicht auf Beurteilungen, sondern auf das tatsächliche Verhalten der Menschen auswirkt. Etwas Analoges gibt es auch in der Arzt-Patient-Beziehung. Beispiel: Ein Arzt, der von der Wirksamkeit eines Schmerzmittels überzeugt ist, kann seine Patienten unbewusst dahingehend beeinflussen, dass sie eine Besserung ihrer Schmerzen wahrnehmen. Plazeboeffekt. Als Plazeboeffekt bezeichnet man
die Wirkung eines Scheinmedikaments (Plazebo), das keine pharmakologisch wirksame Substanz enthält. Ältere, kleinere Studien hatten teilweise über große Plazeboeffekte berichtet. Dies lag jedoch an methodischen Fehlern. Diese Studien waren meist einfache Prä-Post-Studien. Verbesserungen im Zeitverlauf können dann nicht allein auf das Plazebo zurückgeführt werden. Andere Einflussfaktoren, wie der natürliche Krankheitsverlauf (spontane Besserung) und die statistische Regression extremer Werte zur Mitte, tragen ebenfalls dazu bei (7 Kap. 1.3.4). Zudem sind kleine Studien einem großen Stichprobenfehler ausgesetzt. Sie produzieren per Zufall unpräzise, stark schwankende Ergebnisse. Neuere größere Studien, die einen Vergleich zwischen Plazebo und keiner Behandlung beinhalten, so dass der Effekt der spontanen Besserung und der Regression zur Mitte kontrolliert und die reine Plazebowirkung aufgedeckt wird, haben geringere Plazeboeffekte gefunden. Eine Metaanalyse über sehr viele Studien, in denen ein Plazebo mit keiner Behandlung verglichen wurde, hatte folgende Ergebnisse: Im Hinblick auf »harte Endpunkte«, wie z.B. Krankheitsereignisse oder die Sterblichkeit, ist ein Plazebo wirkungslos. Es verbessert lediglich die subjektive Einschätzung von Beschwerden, insbesondere Schmerzen. Eine separate Metaanalyse über Studien mit Krebskranken hat dasselbe Ergebnis erbracht. Eine Plazebobehandlung verlängerte die Überlebenszeit nicht, und auch die Lebensqualität scheint kaum gebessert zu werden. Wie kann man den Plazeboeffekt erklären? Als wichtigster Wirkfaktor werden die Erwartungen des Patienten angesehen. Wenn der Patient davon überzeugt ist, dass eine Behandlung ihm hilft, so ist die
Wahrscheinlichkeit erhöht, dass er eine Besserung seiner Beschwerden wahrnimmt. Ein zweiter Erklärungsansatz besteht in der klassischen Konditionierung (7 Kap. 1.2.1). Unspezifische Bedingungen, wie die Einnahme einer Tablette (unabhängig von deren Inhalt), eine Spritze, der Kontakt mit dem Arzt oder ein bestimmtes medizinisches Ritual, sind zu konditionierten Reizen geworden, weil sie in der Vergangenheit schon einmal mit einer erfolgreichen Behandlung verknüpft waren. Dadurch können diese unspezifischen Bedingungen nun selbst eine Besserung der Beschwerden auslösen. Die Plazebowirkung ließ sich in Studien zur Plazeboanalgesie (Gabe eines Plazebos zur Schmerzlinderung) mit bildgebenden Verfahren objektivieren. Im funktionellen Kernspintomogramm zeigte sich eine Zunahme der Aktivität im rechten ventralen präfrontalen Cortex. Diese Aktivierung führt wiederum zu einer Hemmung von anderen Regionen, die für den emotional belastenden Aspekt des Schmerzes verantwortlich sind (anteriorer cingulärer Cortex). Die Gabe von Plazebos kann auch die Ausschüttung von Endorphinen stimulieren. i Vertiefen Fritzsche K, Wirsching M (Hrsg) (2005) Psychosomatische Medizin und Psychotherapie. Springer, Berlin (enthält viele Tipps und Formulierungsvorschläge für das Anamnesegespräch)
2.2.3
Körperliche Untersuchung
Psychosoziale Aspekte aus Patientenperspektive Für den Patienten bedeutet eine körperliche Untersuchung, dass ein ihm mehr oder weniger fremder Mensch (der Arzt) seine Intimität verletzt: Er beobachtet seinen nackten Körper, berührt und betastet ihn. Nackt den Blicken eines anderen Menschen ausgesetzt zu sein, löst Gefühle von Scham aus. Noch mehr können eindringende Untersuchungen, wie die vaginale Untersuchung im Rahmen der gynäkologischen Untersuchung oder die rektale Untersuchung, Scham und Angst auslösen. Bei der Koloskopie ist die Angst vor Schmerzen, bei der Gastroskopie die Angst, keine Luft zu bekommen, recht häufig. Das Schamerleben wird noch verstärkt, wenn andere Personen anwesend sind, deren Blicken man
2.2 · Untersuchung und Gespräch
ausgeliefert ist. Beispiele: Untersuchung während der Visite im Krankenzimmer. Demonstration beim klinischen Unterricht am Krankenbett. Manche Patienten empfinden es als höchst peinlich, als »Anschauungsobjekt« für andere zu dienen. Die Angst während der körperlichen Untersuchung oder bei apparativen Tests kann der Arzt durch Information und eine ruhige, sachliche Sprache abmildern. Wenn beispielsweise ein Patient während der Gastroskopie Erstickungsangst bekommt und zu hyperventilieren beginnt, kann der Arzt die entstehende Panik abfangen, indem er beruhigend auf ihn einspricht. Im Umgang mit der Intimitätsverletzung gibt es große interkulturelle Unterschiede. Während es in den westlichen Industriegesellschaften inzwischen für viele Menschen selbstverständlich ist, sich vom Arzt körperlich untersuchen zu lassen, besteht in nichtwestlichen Kulturen diesbezüglich oft noch ein großes Tabu. Der Arzt sollte die kulturellen Einstellungen seiner Patienten kennen, um dieses Tabu nicht zu verletzen und gleichwohl seinen ärztlichen Auftrag erfüllen zu können. Auch für die ärztliche Seite gibt es soziokulturelle Barrieren, die berücksichtigt werden müssen. Manche Frauen bevorzugen beispielsweise für eine gynäkologische Untersuchung lieber eine Ärztin.
Psychosoziale Aspekte aus Arztperspektive Um dem Patienten Angst und Scham zu nehmen, sollte der Arzt vor und während der körperlichen Untersuchung immer wieder Orientierung geben. Er sollte dem Patienten jeweils ankündigen, was als nächstes passiert: Was mache ich jetzt und mit welchem Ziel? Er sollte die Untersuchung nicht schweigend durchführen, sondern sich währenddessen mit dem Patienten unterhalten und ihn nach seinen Empfindungen fragen: »Tut das weh, wenn ich hier drücke?« Der Arzt sollte es dem Patienten ermöglichen, nur denjenigen Teil seines Körpers zu exponieren, der unmittelbar untersucht wird. Beispielsweise kann der Patient so gut wie immer seine Unterwäsche anbehalten, was ihm einen Rest von Intimität bewahrt. Die Zeit, die der Patient (partiell) entkleidet ist, sollte so kurz wie möglich gehalten werden. Auch die körperliche Untersuchung ist juristisch gesehen ein Eingriff, zu dem der Arzt nur dann be-
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rechtigt ist (Eingriffsrecht), wenn der Patient zustimmt, und zwar auf der Basis aller nötigen Informationen (informierte Zustimmung). Deshalb muss der Patient wissen, zu welchem Zweck eine Untersuchung durchgeführt wird. Zwar hat er dem Arzt durch seinen Praxisbesuch zunächst einmal unausgesprochen die Zustimmung zu einer körperlichen Untersuchung gegeben; dennoch könnte er diese Zustimmung, wenn ihm etwas nicht nachvollziehbar, unangemessen oder schmerzhaft erscheint, jederzeit wieder zurückziehen. Auch deshalb ist es wichtig, dass der Arzt mit dem Patienten darüber spricht, was er als nächstes tun wird und weshalb. Dadurch sichert er sich das kontinuierliche Einverständnis des Patienten und fördert dessen Kooperation. Befunde sollte er dem Patienten aber erst nach Abschluss der Untersuchung mitteilen, wenn der Patient dem Arzt wieder angekleidet gegenübersitzt. Während der körperlichen Untersuchung sollte der Arzt affektive Neutralität bewahren. Dies bedeutet, eigene negative Gefühle zu kontrollieren, z.B. wenn er einen Obdachlosen untersucht, der sich seit längerer Zeit nicht mehr gewaschen hat. Dasselbe gilt aber auch umgekehrt für positive Gefühle, wie die erotische Anziehung, die ein Arzt gegenüber einer attraktiven Patientin empfinden kann. Patienten, die sich sehr ängstigen oder unter starken Schmerzen leiden, erwarten vom Arzt Beruhigung und Hilfe. Dadurch können Erlebens- und Verhaltensmuster reaktiviert werden, die ursprünglich aus der Mutter-Kind-Beziehung stammen. Dieser Vorgang wird in der Psychoanalyse als Übertragung bezeichnet (7 Kap. 2.1.4 und 2.4.3). Der Arzt kann dies daran erkennen, dass die Gefühle, die der Patient ihm entgegenbringt, stärker sind, als es die Situation erklärt. Der Patient befindet sich dann in einer besonders hilflosen und verletzlichen Lage, die vom Arzt aufgefangen werden muss und nicht missbraucht werden darf. Die Reaktion des Arztes auf die Beziehungsangebote des Patienten wird in der Psychoanalyse Gegenübertragung genannt. Gegenübertragungsreaktionen sollten reflektiert (Was löst der Patient in mir aus?) und nicht ausagiert werden. Sachlichkeit, Neutralität und das Vermeiden eines missverständlichen Verhaltens (zweideutige Bemerkungen oder Witze) sind oberstes Gebot.
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Kapitel 2 · Ärztliches Handeln
2.3
Urteilsbildung und Entscheidung
2 > > Einleitung Diagnostische Beurteilungen zu treffen und therapeutische Entscheidungen zu fällen, gehört zum ärztlichen Berufsalltag. Da häufig nicht alle notwendigen Informationen vorliegen, handelt es sich um Entscheidungen unter Unsicherheit. Diese können zudem durch psychologische Einflussfaktoren verzerrt werden. Wenn man die verzerrenden Einflüsse kennt, kann man sich ein Stück weit von ihnen frei machen. Zudem gibt es eine Reihe von Hilfsmitteln, ärztliche Entscheidungen zu verbessern.
2.3.1
Arten der diagnostischen Entscheidung
Ärzte haben in ihrer täglichen Arbeitsroutine eine Vielzahl von Entscheidungen zu treffen, die aus ihrem diagnostischen Urteil resultieren. Darunter fallen Entscheidungen hinsichtlich Art, Umfang und Rahmenbedingungen (Setting) von Behandlungen sowie sozialmedizinisch relevante Entscheidungen. Je nach Auftrag, Informationsbasis, Komplexität, resultierender Konsequenz sowie Zeit- und Handlungsdruck sind ärztliche Entscheidungen mit Unsicherheiten, Risiken und Fehlern verbunden.
Der diagnostische Entscheidungsprozess Der diagnostische Prozess lässt sich als Abfolge aller Maßnahmen zur Gewinnung und Verarbeitung diagnostisch relevanter Information bezeichnen. Ausgangspunkt jeder Diagnostik ist eine Fragestellung (z.B. »Wodurch werden die Beschwerden des Patienten verursacht?«). Ziel ist deren Beantwortung, d.h. eine Entscheidung für eine mögliche Diagnose. Zur Beantwortung der Fragestellung erfolgt eine hypothesengeleitete Datenerhebung mittels relevanter Informationsquellen (z.B. Anamnese, körperliche Untersuchung, apparative Verfahren, Labordiagnostik), um eine Entscheidungsgrundlage im Rahmen eines Problemlöseprozesses bereitzustellen.
Befundabfassung. Die Zusammenfassung der gesamten Untersuchungsergebnisse aus den unterschiedlichen Informationsquellen wird als Befund abgefasst. Er ist Grundlage der diagnostischen Urteilsbildung und Entscheidung. Begutachtung. Die Begutachtung stellt einen spe-
ziellen diagnostischen Prozess dar, der in der Regel eine vom Auftraggeber gestellte Frage über den Zusammenhang zwischen einem nicht-medizinischen Sachverhalt (z.B. Unfall, Arbeitsunfähigkeit, Rente) und einer Gesundheitsstörung klären soll. Zu beachten ist, dass dabei die Ziele bzw. Interessen des Gutachters und des Patienten divergieren können. Merke
Diagnostik wird eingesetzt, um Entscheidungen vorzubereiten oder einzuleiten. Prozessmodell: 1. Fragestellung, 2. Hypothesenbildung, 3. Datenerhebung, 4. Dateninterpretation und -integration, 5. Urteilsbildung, Diagnosestellung, 6. Entscheidung für Intervention (Beratung, Behandlung), ggf. Gutachten.
Die ärztliche Patientenbeurteilung umfasst unterschiedliche Arten diagnostischer Entscheidungen, die mit Bezug auf den zeitlichen Behandlungsverlauf zu differenzieren sind: 4 Indikationsdiagnostik: Ableitung von Behandlungsmaßnahmen. 4 Prozessdiagnostik: Überprüfung des Behandlungsverlaufs. 4 Ergebnisdiagnostik: Beurteilung des Behandlungserfolgs.
Indikationsdiagnostik Die Aufgabe der Indikationsstellung liegt in der Zuordnung einer Person zu einer bestimmten Behandlungsmaßnahme. Die selektive, differentielle Indikation stellt die Frage, welches Therapieverfahren dabei am besten geeignet ist: »Welche ist für dieses Individuum mit diesem spezifischen Problem die effektivste Behandlung, durch wen und unter welchen Rahmenbedingungen?«
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2.3 · Urteilsbildung und Entscheidung
Für den indikativen Entscheidungsprozess, der Krankheiten/Störungen mit Behandlungsverfahren verbindet, sind somit die Diagnose, ein Modell der Entstehung der Krankheit (Genesemodell) und Kontextfaktoren (z.B. Compliance, verfügbare Behandlungen) relevant. Die operationale Diagnosestellung nach dem gültigen Klassifikationssystem ICD-10 der WHO (7 Kap. 2.3.2) bietet den Vorteil der universalen Verständlichkeit und Nachvollziehbarkeit und erleichtert daher die fachliche Kommunikation. Dabei kann es im Fall bestimmter Diagnosen zu einer »Etikettierung« (labeling) der Patienten kommen. Beispiel: Die Diagnose einer Schizophrenie kann durch das negative Image in der Bevölkerung zu Problemen im sozialen Umgang und Isolation führen. Das zugrunde gelegte Genesemodell kann unabhängig von der Diagnose eine differentielle Therapieentscheidung bedingen. Beispielsweise wurden depressive Störungen früher je nach Entstehungsmodell (endogen vs. reaktiv) eher mit Pharmakotherapie, tiefenpsychologisch fundierter Psychotherapie oder Verhaltenstherapie behandelt.
Prozessdiagnostik Die Prozessdiagnostik zur Überprüfung der verordneten Therapie erfolgt durch die Verlaufsbeobachtung der Patienten. Es werden eingetretene quantitative und qualitative Veränderungen ermittelt, die entscheidend dafür sind, die Behandlungsmaßnahmen beizubehalten oder zu modifizieren (adaptive, prozessuale Indikation). Zur Verlaufsbeobachtung stehen unterschiedliche Methoden der Veränderungsmessung zur Verfügung: Merke
5 Indirekte Veränderungsmessung: Bildung von Differenzen zwischen Statusbeurteilungen (z.B. Differenz zwischen dem Wert in einer Depressionsskala zu Therapiebeginn und nach 4 Wochen). 5 Direkte Veränderungsmessung: Einschätzung der Veränderung zu einem Messzeitpunkt, indem Komparativaussagen – besser oder schlechter – im Vergleich mit einem Bezugspunkt vorgenommen werden (z.B. die Schmerzen sind nach der Therapie
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weniger häufig im Vergleich zum Therapiebeginn). 5 Beurteilung der Therapiezielerreichung: Veränderung vom Ausgangszustand hin zu einem definierten Zielzustand (z.B. vorher festgelegte Gewichtsreduktion, Alkoholabstinenz). 5 Beurteilung des Status bezüglich des Normbereichs: Liegen die therapeutischen Veränderungen innerhalb oder außerhalb des jeweiligen Normbereichs (z.B. Blutdruckwerte, Blutfettwerte).
Ergebnisdiagnostik Die Bewertung des Behandlungserfolgs erfolgt durch die Ergebnis- oder Outcome-Diagnostik. Sie ist entscheidend für die Beendigung und Kosten-NutzenBewertung der Therapie. i Vertiefen Jäger RS, Petermann F (1999) Psychologische Diagnostik. Psychologie Verlags Union, Weinheim (Grundlagen der Diagnostik und Urteilsbildung)
2.3.2
Grundlagen der Entscheidung
Diagnostik als Prozess Die Entscheidung für eine Diagnose und eine Therapiemaßnahme stellt das Endprodukt eines Prozesses dar. Dieser Prozess kann manchmal sehr schnell durchlaufen werden (intuitive Diagnose), manchmal, bei der diagnostischen Aufarbeitung eines komplizierten Krankheitsbildes, benötigt er längere Zeit. Der diagnostische Prozess kann analog zum Vorgehen bei einer wissenschaftlichen Studie betrachtet werden (7 Kap. 2.3.1). Aufgrund der ersten Informationen, die der Arzt vom Patienten erhält, formuliert er eine Fragestellung. Diese Fragestellung versucht er in konkrete, operationalisierbare Hypothesen umzusetzen. Operationalisierbar bedeutet, dass er bestimmte diagnostische Tests auswählt und angeben kann, wie die Testergebnisse ausfallen müssen, um die Hypothese zu bestätigen oder zu widerlegen. Auf diese Weise engt sich das Spektrum der in Frage kommenden Diagnosen immer mehr ein, bis
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Kapitel 2 · Ärztliches Handeln
schließlich die zutreffende Diagnose gefunden wird. Es ist wichtig, diese Einengung auf wenige alternative Hypothesen nicht zu früh im diagnostischen Prozess vorzunehmen. Sonst läuft man Gefahr, wichtige Informationen zu übersehen, weil man nicht mehr nach ihnen Ausschau hält. Der Diagnostiker sollte deshalb zu Beginn eine offene Frage stellen und dem Patienten die Möglichkeit geben, all seine Beschwerden und Symptome zu schildern, ohne ihn vorschnell durch seine Fragen in eine bestimmte Richtung zu drängen. Auch im weiteren Verlauf, wenn er schon Hypothesen gebildet hat, sollte er diese immer wieder kritisch hinterfragen und über den engeren Kontext seiner Fragestellung hinausblicken, zumal dann, wenn Befunde nicht so ausfallen, wie erwartet.
Informationsquellen Die wichtigste Informationsquelle stellt die Anamnese dar (7 Kap. 2.2.2). Diese wird vom Arzt im persönlichen Gespräch mit dem Patienten erhoben. Um wichtige Symptome nicht zu übersehen, geben manche Ärzte dem Patienten vorab einen Anamnesebogen, auf dem der Patient seine Beschwerden eintragen oder ankreuzen kann. Ein solcher Bogen kann die mündliche Anamnese jedoch nicht ersetzen. Er dient lediglich dazu, erste Informationen zu gewinnen, die dann im Gespräch weiter abgeklärt und vertieft werden müssen. Derartige Anamneseverfahren gibt es für viele Fachgebiete der Medizin (z.B. Allergieanamnese). Die Information, die der Arzt durch die körperliche Untersuchung oder apparative diagnostische Verfahren erhebt, nennt man Befunde. Diese können die diagnostischen Hypothesen entweder bestätigen oder weniger wahrscheinlich machen. Im Bereich von Psychotherapie, Psychosomatik und Psychiatrie werden auch Selbsteinschätzungsfragebögen (psychologische Tests) durchgeführt, um das emotionale Befinden (z.B. Angst, Depressivität), die Persönlichkeit oder die Leistungsfähigkeit, sei es allgemein (z.B. Intelligenz) oder speziell (z.B. Konzentrationsfähigkeit), zu messen (7 Kap. 1.3.2).
Klassifikationssysteme Um die Übereinstimmung unterschiedlicher Diagnostiker (Interrater-Reliabilität, 7 Kap. 2.6.2) zu
verbessern, werden Diagnosen heutzutage anhand von Klassifikationssystemen gestellt (7 Kap. 1.1.3). Die wichtigsten Klassifikationssysteme sind die Internationale Klassifikation der Krankheiten (ICD10) für körperliche und psychische Krankheiten sowie speziell für psychische Störungen das diagnostische und statistische Manual für psychische Störungen (DSM-IV). In diesen Klassifikationssystemen ist genau festgelegt, welche Kriterien erfüllt sein müssen, damit die Diagnose einer bestimmten Krankheit gestellt werden kann (Kriterienorientierung). Sowohl ICD-10 als auch DSM-IV umfassen mehrere Achsen (Multiaxialität). Dadurch können Patienten nicht nur hinsichtlich ihrer Krankheitsdiagnose beschrieben werden, sondern auch in Bezug auf andere wichtige Merkmale, wie Funktionseinschränkungen oder Umgebungseinflüsse. Die ICD-10 hat drei Achsen, das DSM-IV fünf. Auch für Kinder und Jugendliche werden diese multiaxialen Klassifikationssysteme verwandt. Mittels Klassifikationssystemen werden Krankheitsbilder oder psychische Störungen auf der Ebene der Symptome, d.h. deskriptiv, diagnostiziert. Wie die jeweiligen Symptome verursacht wurden (Ätiologie), wird dabei nicht beachtet, um die beschreibende Diagnose und das Verursachungsmodell nicht miteinander zu vermischen. Deshalb werden diese Klassifikationssysteme auch als »atheoretisch« bezeichnet, weil sie auf theoretische Vorstellungen zur Entstehung der Störung verzichten. Komorbidität. Im Bereich psychischer Störungen
kommt es häufig vor, dass ein Patient nicht nur die Kriterien für eine, sondern auch noch für eine zweite Störung erfüllt. Es können beispielsweise zugleich eine depressive Episode und eine Angststörung vorliegen. Beide Störungen werden dann auch unabhängig voneinander diagnostiziert. Wenn zwei oder mehr Störungen gleichzeitig vorliegen, spricht man von Komorbidität. Dies gibt es nicht nur innerhalb der psychischen Störungen, sondern auch zwischen körperlichen Krankheiten und psychischen Störungen. Beispiel: Bei Patienten mit Herzinfarkt beträgt die Häufigkeit einer zusätzlichen, komorbiden Depression 20%. Auch hier gilt, dass die Depression nicht einfach als »normale« Folgeerscheinung des Herzinfarkts betrachtet wird, sondern als eigenständiges Störungsbild, das einer speziellen Therapie
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2.3 · Urteilsbildung und Entscheidung
2
Exkurs äDepression. Wenn bei einem Patienten eine bestimmte Zahl von depressiven Symptomen vorliegt und auch die übrigen Kriterien, wie Dauer und Intensität der Symptome sowie Beeinträchtigung im Alltag, erfüllt sind, wird die Diagnose einer depressiven Episode gestellt. Ob diese depressive Episode eher durch biologische Faktoren oder durch psychosoziale Einflüsse oder durch eine Kombination von beidem zustande kommt, ist dafür unerheblich. Früher hat man bei der Diagnose einer Depression zwei Formen unterschieden: die durch Umweltbelastungen ausgelöste neurotische Depression, die mit Psychotherapie behandelt wurde, und die biologisch bedingte endogene Depression, die durch Medikamente behandelt wurde. Diese Unterscheidung wurde inzwischen aufgegeben.
Hierfür gab es zwei Gründe: 1. Umweltstress spielt auch bei den früher als endogen bezeichneten Depressionen eine Rolle, und genetische Faktoren sowie eine Störung des Serotoninstoffwechsels sind auch bei den für neurotisch gehaltenen Depressionen bedeutsam. 2. Auch »neurotische« Depressionen sprechen auf antidepressive Medikamente an, und auch bei »endogenen« Depressionen hilft Psychotherapie. Die ätiologische Einteilung war also wissenschaftlich nicht begründet und bewirkte zudem, dass den betroffenen Patienten manchmal eine wirksame Therapie vorenthalten wurde.
bedarf. Das Prinzip, jede Krankheit bzw. Störung, die die diagnostischen Kriterien erfüllt, auch eigenständig aufzuführen, bezeichnet man als Komorbiditätsprinzip. Dies hat den Vorteil, dass keine Störung übersehen wird, die behandelt werden muss, sondern jede Auffälligkeit ernst genommen wird.
Beschwerden und Symptomen des Patienten, können heute Ärzte, wenn sie sich über eine Diagnose verständigen, sicher sein, dass sie auch beide dasselbe meinen. Die modernen Diagnostiksysteme haben also zu einer Verbesserung der Dokumentation und der Kommunikation zwischen Ärzten beigetragen.
Strukturiertes Interview. Um die Information zu erheben, die man zur diagnostischen Einordnung braucht, wird in der Forschung üblicherweise ein strukturiertes klinisches Interview nach ICD-10 bzw. DSM-IV verwandt (z.B. DIPS, diagnostisches Interview bei psychischen Störungen nach ICD-10 bzw. DSM-IV; SKID, strukturiertes klinisches Interview nach DSM-IV). Die Durchführung eines Interviews setzt neben der klinischen Erfahrung auch ein systematisches Training voraus. Es gibt allerdings auch Interviewformen, die schon von trainierten Laien (z.B. Medizinstudenten) durchgeführt werden können (z.B. CIDI). Durch diese Interviews werden gute Interrater-Übereinstimmungen erzielt. Im Alltag behilft man sich meist mit den in einem Klassifikationssystem vorgegebenen, konkret beschriebenen (operationalisierten) Kriterien, die vorliegen müssen, um eine Diagnose zu stellen. Die operationalisierte Diagnostik hat einen großen Fortschritt gegenüber der älteren, intuitiven Diagnostik erbracht. Während es früher oft mehr vom Diagnostiker abhing, welche Diagnose er stellte, als von den
i Vertiefen Sass H, Wittchen HU, Zaudig M (1996) Diagnostisches und statistisches Manual psychischer Störungen DSM-IV. Hogrefe, Göttingen (wichtiges Klassifikationssystem für psychische Störungen mit guten Kurzbeschreibungen der Krankheitsbilder)
2.3.3
Urteilsqualität und Qualitätskontrolle
Ärztliches Handeln basiert auf Urteilen und Entscheidungen. Verantwortungsvolles Urteilen und Entscheiden ist im medizinischen Kontext von besonderer Bedeutung, da die Folgen ärztlichen Handelns für Patienten sehr weitreichend sein können. Vor diesem Hintergrund ist es ganz wichtig, dass Urteile und Entscheidungen auf rationaler Basis getroffen, kontinuierlich reflektiert und gegebenenfalls optimiert werden. Informationsbasis ärztlicher Entscheidungen. Die
Diagnosestellung ist eine der wichtigsten ärztlichen
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Kapitel 2 · Ärztliches Handeln
Urteils- und Entscheidungsaufgaben im Behandlungsprozess, da die Art der Diagnose das weitere therapeutische Vorgehen bestimmt. Eine Diagnose stellt in diesem Zusammenhang eine Bezeichnung von Krankheits-/Leidenszuständen dar, die bei verschiedenen Individuen durch ähnliche Symptomatik, eine einheitliche Ätiologie/ Genese sowie vergleichbare therapeutische Vorgehensweise und Prognose gekennzeichnet sind. Diagnosen sind keine unveränderlichen begrifflichen Kennzeichnungen bestimmter Krankheitsbilder, sondern können sich je nach Forschungsstand und je nach dem zugrunde liegenden diagnostischen Klassifikationsmodell verändern bzw. weiterentwickeln (7 Kap. 2.3.2). Um zu einer Entscheidung (z.B. einem diagnostischen Urteil) zu kommen, brauchen Ärzte Informationen über den Patienten. Dabei ziehen sie verschiedene Arten von Daten heran. Zum einen »harte Daten«, wie z.B. das Alter oder Laborwerte, die im Prinzip auch objektivierbar sind, zum anderen »weiche Daten«, wie z.B. Schmerzäußerungen des Patienten, die eher subjektiven Charakter haben (7 Kap. 1.1.3). Additive und lineare Schlussfolgerungen. Der Arzt hat verschiedene Möglichkeiten, Informationen zu sammeln und zu verknüpfen. Zu Beginn einer Behandlung trägt er meist möglichst viele Informationen zusammen, um sich einen Überblick zu verschaffen und eine Verdachtsdiagnose zu formulieren. Dabei kann es vorkommen, dass Daten erfasst
werden, die im Einzelfall nicht so wichtig sind. Die Integration derart gesammelter Daten bezeichnet man als additives Schlussfolgern, da der Arzt alle Informationen aus der breiten Datenerfassung additiv miteinander verknüpft (aufsummiert). Dabei kann er unterschiedliche Informationen durchaus unterschiedlich gewichten. Beim linearen Schlussfolgern (adaptive Entscheidungsfindung) geht der Arzt schrittweise vor. Er sammelt nicht alle Information auf einmal, sondern entscheidet zwischendurch immer wieder neu, in welche Richtung er weiter den Patienten befragt oder Befunde erhebt. Um beispielsweise eine Verdachtsdiagnose zu präzisieren, sammelt er auf der Basis bereits vorliegender Daten weitere Informationen, mit dem Ziel, seine Vermutung zu bestätigen oder zu revidieren. Beide Arten der Entscheidungsfindung haben Vor- und Nachteile. Das additive Schlussfolgern ist umfassend, dafür aber weniger ökonomisch, da viele und zum Teil auch überflüssige Daten erfasst werden. Das lineare Schlussfolgern ist zielgerichteter, birgt aber die Gefahr, eine diagnostische Strategie zu verfolgen, die sich im Nachhinein als falsch herausstellen kann. In der Praxis kommt zumeist eine Kombination der beiden Vorgehensweisen zum Einsatz, wenn nach einer offenen Frage gezielt Informationen gesammelt werden, um die Diagnose abzusichern (7 Kap. 2.2.2). Beurteilerübereinstimmung. Urteile und Entschei-
dungen sind in der Medizin häufig mit Unsicher-
Exkurs Beurteilerübereinstimmung durch Zufall. Zwei Radiologen beurteilen unabhängig voneinander eine Serie von 100 Röntgenbildern. Radiologe 1 schätzt 90 als normal und 10 als pathologisch ein. Radiologe 2 kommt ebenfalls zum Ergebnis, dass 90 normal und 10 pathologisch sind. Es sind aber nicht dieselben 90 bzw. 10. Nehmen wir einmal an, dass die beiden Einschätzungen völlig zufällig erfolgen. Der zweite Radiologe würde also von den 90 unauffälligen Befunden des ersten Radiologen 90%, also 81, ebenfalls als unauffällig und 10%, also 9, als pathologisch bewerten. Von den 10 auffällig beurteilten Röntgenbildern des ersten Radiologen
würde er ebenfalls 90%, also 9, als unauffällig und 10%, also eines, als auffällig bewerten. Obwohl beide Beurteilungen keinen systematischen Zusammenhang miteinander zeigen, kommt allein per Zufall eine Übereinstimmung in 82% der Beurteilungen zustande (81 Röntgenbilder werden von beiden Ärzten als unauffällig und ein Röntgenbild wird von beiden als auffällig beurteilt). Cohens Kappa jedoch würde in diesem Fall den Wert 0 annehmen und damit zum Ausdruck bringen, dass tatsächlich keine über den Zufall hinausgehende Übereinstimmung zwischen den beiden Beurteilern besteht.
2.3 · Urteilsbildung und Entscheidung
heit belastet. Wenn beispielsweise auffällige Strukturen in einem Röntgenbild zu beurteilen sind, kann es vorkommen, dass unterschiedliche Beurteiler in ihrem Urteil nicht übereinstimmen. Der eine sieht einen pathologischen Befund, der andere nicht. Um abschätzen zu können, wie zuverlässig (reliabel, 7 Kap. 1.3.3) bestimmte Einschätzungen sind, können statistische Kennwerte, wie z.B. Cohens Kappa, berechnet werden. Dieser Kennwert gibt an, wie stark zwei Urteile über den reinen Zufall hinaus miteinander übereinstimmen. Es können nämlich auch per Zufall hohe Übereinstimmungen vorkommen, ohne dass die beiden Urteile dasselbe aussagen. Kappa kann Werte annehmen zwischen 0 (Übereinstimmung geht nicht über den Zufall hinaus) und 1 (perfekte Übereinstimmung). Merke
Da ärztliche Entscheidungen für Patienten sehr folgenträchtig sein können, ist es für jeden Arzt wichtig, die Güte bzw. die Qualität seiner Entscheidungen kontinuierlich zu überprüfen und gegebenenfalls zu optimieren.
Prozess- und Ergebnisforschung. Im Rahmen der Prozessforschung werden Behandlungsprozesse erfasst, beschrieben und bewertet. Beispielsweise kann untersucht werden, wie sich bei Patienten während des Aufenthalts in einer Rehabilitationsklinik die Funktionsfähigkeit bezüglich bestimmter Parameter wie z.B. Belastbarkeit im Fahrradergometertraining verbessert. Die Ergebnisforschung befasst sich mit der Bewertung von Maßnahmen und Interventionen hinsichtlich ihres Erfolgs bzw. ihrer Wirksamkeit. Hier geht es also um das Ergebnis nach Abschluss der Behandlung. Merke
Evaluationsforschung befasst sich mit der Bewertung von Maßnahmen und kann sich sowohl auf den Prozess als auch auf das Ergebnis einer Intervention beziehen. Man unterscheidet zwischen formativer (Prozess) und summativer (Ergebnis) Evaluation.
191
2
Leitlinien. Um die ärztlichen Entscheidungen am
Stand der wissenschaftlichen Forschung auszurichten, ist es ratsam, sich an Leitlinien zu orientieren, wie sie z.B. von der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) herausgegeben werden. Leitlinien sind systematisch entwickelte Entscheidungshilfen über die angemessen Vorgehensweise (Prävention, Diagnostik, Therapie und Nachsorge) bei speziellen Erkrankungen. Sie basieren auf wissenschaftlicher Evidenz (7 Kap. 1.3.7) und fassen den Konsens der Experten in einem Gebiet zusammen. Leitlinien haben Empfehlungscharakter. Bei der Erstellung von Leitlinien spielen Metaanalysen eine wichtige Rolle. In Metaanalysen werden die Ergebnisse von möglichst vielen empirische Studien zu einem bestimmten Thema (z.B. kontrollierte Studien zur Wirksamkeit einer Behandlungstechnik bei einer bestimmten Diagnose) zusammenfassend analysiert, um schließlich eine Aussage zur Wirksamkeit der untersuchten Behandlung machen zu können (7 Kap. 1.3.7). Da Leitlinien den aktuellen Stand des Wissens widerspiegeln sollten, müssen sie regelmäßig aktualisiert werden. Empirische Studien zeigen, dass Patienten, die nach Leitlinien behandelt werden, davon profitieren. Leider werden längst nicht alle Patienten nach Leitlinien behandelt. Verlaufsdokumentation. Dokumentation stellt die Basis für Qualitätssicherung dar. Unter Dokumentation versteht man das Sammeln und Speichern von Daten während der Behandlung eines Patienten. Eine wichtige Voraussetzung für hohe Behandlungsqualität ist die Kenntnis von Verlaufsparametern. Zumeist ist die Dokumentation im Krankenhaus standardisiert. Dies bedeutet, dass vorgegeben ist, welche Daten bei den Patienten wann im Behandlungsprozess erfasst werden (Basisdokumentation). Tagebücher stellen eine spezielle Form der Dokumentation durch den Patienten dar. Sie werden genutzt, wenn der Patient zur Selbstbeobachtung/ -kontrolle angeregt werden soll (z.B. Führen eines Blutdruck-Tagebuchs) oder bei Erlebens- und Verhaltensweisen, die der Fremdbeobachtung schwer zugänglich sind (z.B. Angsttagebuch in der Psychotherapie). Über das kontinuierliche Führen solcher
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2
Kapitel 2 · Ärztliches Handeln
Tagebücher ist es für Arzt und Patient auch möglich, Therapiefortschritte nachzuvollziehen oder Probleme im Therapieverlauf zu identifizieren. Katamnesen. Werden Patienten einige Zeit (z.B.
ein Jahr) nach Abschluss der Behandlung nachbefragt, so bezeichnet man dies als Katamnese (follow-up). Katamnesen ermöglichen es herauszufinden, ob eine Behandlung langfristig erfolgreich war. Katamnesen kommen sowohl bei der Beurteilung des Einzelfalls als auch in der Forschung bei großen Stichproben (7 Evaluationsforschung) zum Einsatz. Kriterien der Erfolgsmessung. Je nach Art der Erkrankung und der Maßnahme müssen andere Kriterien für eine erfolgreiche Behandlung zugrunde gelegt werden. Im Sinne eines modernen Gesundheitsbegriffes würde es daher vielfach nicht ausreichen, den Erfolg von medizinischen Interventionen allein an somatischen Parametern zu messen. Vielmehr sind häufig auch psychosoziale oder gesundheitsökonomische Aspekte von Bedeutung. Typische Erfolgskriterien sind z.B. gesundheitsbezogene Lebensqualität (7 Kap. 1.1.2 und 2.6.4), das Verhältnis von Kosten und Nutzen oder auch die Verbesserung der Funktionsfähigkeit im Alltag oder hinsichtlich der beruflichen Leistungsfähigkeit. Wichtig ist es, Kriterien auszuwählen, die für die jeweilige Gesundheitsstörung angemessen sind. Qualitätszirkel. Als Qualitätszirkel bezeichnet man
eine themenzentrierte Gesprächsgruppe, in der sich Mitarbeiter z.B. einer Abteilung oder Klinik regelmäßig treffen, um Lösungen für bestimmte Probleme des Berufsalltags zu finden (7 Kap. 2.6.4). Qualitätszirkel können dazu dienen, Urteile und Entscheidungen zu hinterfragen bzw. zu optimieren. i Vertiefen Sackett DL, Haynes RB, Guyatt GH, Tugwell P (1991) Clinical epidemiology. A basic science for clinical medicine. 2. Aufl. Boston, Little, Brown & Co. (stellt das Problem der Urteilsqualität anhand von Beispielen gut verständlich dar)
2.3.4
Entscheidungskonflikte
Die Tätigkeit des Arztes ist in vielfältige Beziehungen eingebettet (z.B. als Teil des Gesundheitssystems, Teil der Belegschaft einer Krankenhausstation usw.), zwischen denen es leicht zu Entscheidungskonflikten kommen kann. Besonders deutlich wird dies am Beispiel der Teamarbeit. Hier kann es zu Meinungsverschiedenheiten (Dissens) zwischen ärztlichen Kollegen kommen, sei es über diagnostische Fragen, über die Indikation bestimmter Interventionen oder auch über organisatorische Dinge. Direktiver und partizipativer Führungsstil. Wenn im Team Meinungsunterschiede über verschiedene Statuspositionen hinweg bestehen, z.B. zwischen Stationsarzt und Oberarzt oder Oberarzt und Chefarzt, so kommt es sehr auf den Führungsstil an, wie Entscheidungen schließlich zustande kommen. Im direktiven Führungsstil erfolgt eine Entscheidung durch den Vorgesetzten, der aufgrund seiner Dienststellung »von oben herab« eine Entscheidung vorgibt (positionale Autorität), an die sich die untergeordneten Mitarbeiter halten müssen. Auf diese Art und Weise kann sehr schnell und wirksam gehandelt werden. Deshalb ist der direktive Führungsstil in Kliniken noch immer weit verbreitet. Allerdings besteht das Risiko, dass die Entscheidungen gegen die Ansichten der Mitarbeiter gefällt werden und so ein schlechtes Arbeitsklima entsteht. Als weiterer Nachteil beruht eine so durchgesetzte Entscheidung letztlich auf nur einer Person und übergeht dabei die Expertise der Mitarbeiter, was zu Entscheidungsfehlern beitragen kann (7 Kap. 2.3.5). Der partizipative Führungsstil nutzt dagegen den Sachverstand aller Mitarbeiter, so dass derjenige am meisten zur Entscheidung beiträgt, der die fachlich fundierteste oder zutreffendste Meinung äußert. Steht eine Person fest, die unbezweifelbar das größte Fachwissen beisteuern kann, so besitzt diese aufgrund ihres Wissens – für dieses Problem, zu diesem Zeitpunkt und in dieser Situation – die meiste Autorität (funktionale Autorität). Ist unklar, wer bei dem vorliegenden Entscheidungskonflikt die Person mit der größten Fachkenntnis (Expertise) ist, empfiehlt es sich, im Gespräch mit allen
2.3 · Urteilsbildung und Entscheidung
beteiligten Kollegen einen Konsens zu finden, um eine Entscheidung herbeizuführen. Wichtig bei dieser Art von Gespräch ist, dass alle Beteiligten gleichberechtigt ihre Meinung und Expertise einbringen können (kollegiale Entscheidungsfindung). Dieser Führungsstil vermeidet die Nachteile des direktiven Führungsstils, erfordert jedoch meist mehr Zeit und zusätzlich zum Fachwissen auch soziale und kommunikative Kompetenzen seitens der Ärzte, um solche Diskussionen durchführen zu können. Individuelles Wohl vs. Allgemeinwohl. Ein anderes
konfliktträchtiges Thema besteht darin, dass Ärzte primär dazu verpflichtet sind, zum Wohle des Patienten zu handeln, gleichzeitig aber auch das Allgemeinwohl (zumindest teilweise) in ihren Zuständigkeitsbereich fällt. So kann z.B. eine Intervention im Rahmen einer Behandlung dem individuellen Patienten potentiell nutzen, aber für das Allgemeinwohl eher schädlich sein. Der Schaden für das Allgemeinwohl entsteht dabei in der Regel auf finan-
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zieller Seite, also bei Interventionen, die mehr Ressourcen als notwendig verbrauchen. Ein typisches Beispiel ist das Verschreiben von unnötig teuren Medikamenten. Aber es gibt auch weniger eindeutige Situationen, wo die Entscheidung schwerer fällt. Ein weiteres Konfliktfeld im ethischen Bereich stellt z.B. die Pränataldiagnostik dar (7 Kap. 2.5.5). Wenn sich durch die pränatale Diagnostik die Verdachtsdiagnose einer Behinderung oder Erkrankung beim Ungeboren bestätigt, muss der Arzt dies den Eltern mitteilen. Entscheidet sich die Mutter für einen Schwangerschaftsabbruch, geraten der Arzt – wie auch die Mutter – in Konflikt mit dem Tötungsverbot. Dieser Konflikt berührt grundsätzliche Werthaltungen von Ärzten und Eltern. Da aufgrund der Wertepluralität unserer Gesellschaft unterschiedlicher Werthaltungen zu diesem Konflikt möglich sind, ist dieser auch nur im jeweiligen Einzelfall im intensiven, interdisziplinären Gespräch mit allen Beteiligten zu klären.
Klinik
Entscheidungskonflikt Eine Patientin mit häufig wechselnden, multiplen körperlichen Beschwerden (Bauchschmerzen, Gliederschmerzen, Übelkeit, Druckgefühl im Hals, allgemeines Unwohlsein, usw.) macht sich ernsthaft Sorgen um ihre Gesundheit und wünscht trotz bereits vorliegender negativer Befunde eine genauere Abklärung ihrer Beschwerden. Der Arzt vermutet eine äSomatisierungsstörung und erwartet von weiteren somatischen Abklärungen keine neuen Erkenntnisse. Außerdem wären die nun anstehenden diagnostischen Prozeduren deutlich aufwendiger als bisher und zum Teil invasiv (z.B. Gewebeentnahme oder mehrtägiger stationärer Aufenthalt zur diagnostischen Abklärung). Nun muss der Arzt entscheiden, ob er die gewünschte Diagnostik einsetzen möchte oder nicht. Tut er dies nicht, so läuft er Gefahr, das bisher erarbeitete Vertrauensverhältnis zur Patientin zu verlieren und damit auch jede weitere Möglichkeit, die Zusammenarbeit für eine (für ihr individuelles Wohl) sinnvolle Behandlung zu gewinnen. Erklärt er sich mit der umfangreichen Zusatzdiagnostik einverstan-
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den, so erhält er sich zwar die Zusammenarbeit mit der Patientin, aber verursacht erhebliche Mehrkosten (zum Schaden der Allgemeinheit), die aller Voraussicht nach keinen medizinisch sinnvollen Nutzen erbringen. In solchen Fällen ist eine Überweisung zu einem psychotherapeutisch arbeitenden Kollegen sinnvoll. Und auch hier kann ein Konflikt zwischen Ärzten und Psychologen entstehen, wenn beide unterschiedliche Auffassungen über das weitere Prozedere haben. Entscheidet sich z.B. der Arzt dazu, sowohl psychodiagnostische Gespräche als auch ihm gerade noch vertretbare somatische Abklärungen einzuleiten, so könnte der psychotherapeutisch arbeitende Kollege die weitere somatische Diagnostik für überflüssig halten und dem Patienten, gegen die Entscheidung des ärztlichen Kollegen, davon abraten. Daher ist es notwendig, über die Berufsgruppen hinweg das geplante Vorgehen transparent zu machen und abzusprechen, damit die Behandlung zielgerichtet verlaufen kann und es beim Patienten nicht zu einem Vertrauensverlust kommt.
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Kapitel 2 · Ärztliches Handeln
Merke
2
Das Konfliktpotential und die mögliche Tragweite von ärztlichen Entscheidungen bedeuten eine Herausforderung für angehende Ärzte, sich mit diesen möglichen Konflikten in der Ausbildung zu befassen und sich eine Meinung zu bilden, um für das eigene Handeln eine Grundlage zu haben.
i Vertiefen Troschke J von (2004) Die Kunst, ein guter Arzt zu werden. Huber, Bern (stellt ärztliche Entscheidungskonflikte und deren Bewältigung vor)
2.3.5
Entscheidungsfehler
nis befindlichen Informationen heran. So kann ein Arzt bei der diagnostischen Urteilsbildung für einen neuen Patienten sich für eine bestimmte Diagnose entscheiden, da die berichteten Beschwerden denen eines der letzten 10 Patienten ähneln. Problem dabei ist, dass die vorhergehenden Patienten u.U. Extremfälle gewesen waren oder die Beschwerden eben nur teilweise mit dem neuen Patienten übereinstimmen. Abhilfe schafft hier nur eine ausführliche Information (z.B. aus epidemiologischen Untersuchungen) darüber, welche Diagnose bei den vorliegenden Symptomen am wahrscheinlichsten ist. Da diese ausführliche Information in der Alltagspraxis jedoch kaum möglich ist, wird häufig auf die Verfügbarkeitsheuristik zurückgegriffen, da die am häufigsten vorkommenden Diagnosen mit ihrer Hilfe gut erkannt werden können – allerdings bleibt die Gefahr, die selteneren Diagnosen dabei zu übersehen.
Entscheidungen über die weitere Behandlung zu fällen oder sich ein Urteil über die Diagnose zu bilden, ist eine anspruchsvolle Aufgabe, zumal etliche Entscheidungen weitreichende Folgen haben können oder aus einer ganzen Menge von möglichen Alternativen die optimale Lösung zu finden ist. Entsprechend besteht die Gefahr, aufgrund allgemeiner Beobachtungs- und Denkfehler (7 Kap. 2.2.2) immer wieder dieselben Fehler zu begehen. Typische Fehler in der Urteilsbildung beruhen häufig auf Heuristiken (»Faustregeln«), mit deren Hilfe schnell ein Urteil gefunden werden kann. Heuristiken sind zwar nützliche und unverzichtbare gedankliche Werkzeuge, aber bei ihrer Anwendung werden deutlich weniger Informationen eingeholt und gegeneinander abgewogen, so dass die Gefahr von Entscheidungsfehlern besteht.
Anker- oder Anpassungsheuristik. Diese Strategie steht für die (einseitige) Suche nach denjenigen Informationen, die den ersten Eindruck unterstützen. So erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, tatsächlich passende Information zu bekommen, die den ersten Eindruck bestätigt – gleichzeitig verringert sich die Wahrscheinlichkeit, andere Informationen zu erheben, die ggf. nicht zum anfänglichen Eindruck passen, obwohl sie jedoch tatsächlich zutreffen. Hier wäre eine weitergehende Exploration, die sich nicht nur auf die Perspektive der ersten Vermutung beschränkt, oder die zweite Meinung eines Kollegen hilfreich, um diesen Fehler zu vermeiden.
Verfügbarkeitsheuristik. Diese Faustregel zieht zur
Entscheidungen besteht darin, dass die Urteilsfindung vom Kontext und/oder von der Art und Weise der Formulierung abhängig ist. Präsentiert man die
Entscheidungsfindung die gerade noch im Gedächt-
Kontexteffekte. Eine weitere Quelle fehlerhafter
Klinik
Ankerheuristik Im diagnostischen Interview verfolgt der Arzt seinen ersten Eindruck, dass der Patient unter einer depressiven Störung leidet. Folglich fragt er nach depressiven Symptomen, von denen der Patient tatsächlich viele aufweist. Zufrieden darüber, eine Diagnose gefunden zu haben,
beendet er langsam das Interview. Dass der Patient zusätzlich Symptome einer posttraumatischen Belastungsstörung hat, entgeht dem Arzt, da der Patient sich des traumatischen Ereignisses schämt und es daher nicht von selbst mitteilt.
2.3 · Urteilsbildung und Entscheidung
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2
Klinik
Kontexteffekt Ein Patient mit der Diagnose »rezidivierende depressive Episoden« in der Vorgeschichte kommt wegen unklarer Bauchschmerzen und Unruhezuständen in die Klinik. Der Patient berichtet sehr lebhaft und engagiert von seinen Beschwerden, den zu Hause vorliegenden Problemen, die ihm über den Kopf wach-
Informationen über eine risikoreiche Operation einerseits im Kontext des »Sterberisikos« von 10% und andererseits im Kontext der »Überlebenschancen« von 90%, so entscheiden sich in letzterem Fall mehr Personen für die Operation als im Kontext des »Sterberisikos«, obwohl in beiden Fällen die exakt gleichen Chancen bzw. Risiken vorliegen! Um solchen Kontexteffekten vorzubeugen, sollte der Arzt versuchen, die ihm dargebotenen Informationen auch einmal aus der Sicht eines anderen Kontextes zu bewerten. Dieser Punkt spielt insbesondere bei der Kommunikation zwischen zwei Ärzten eine große Rolle, aber auch in der Art und Weise, wie sich Patienten selber präsentieren. Ein Kontexteffekt besteht auch bei der Interpretation von statistischen Kennwerten. So werden absolute Risiken (also Häufigkeiten) meist besser verstanden als relative Risiken; Letztere haben jedoch eine dramatischere Wirkung, da sie mit größeren Zahlen arbeiten. Zum Beispiel werden durch Mammographien in 10 Jahren 25% mehr Todesfälle an Brustkrebs verhindert als ohne Mammographie. In absoluten Zahlen ist dies jedoch nur 1 Person (aus 1000) mehr (7 Kap. 3.2.1). Blinder Gehorsam. Dieser Fehler bezeichnet ein zu starkes Vertrauen oder Beachten eines bestimmten Vorgehens oder eines bestimmten Verfahrens. Hiermit ist z.B. die Bevorzugung eines bestimmten Tests vor einem anderen gemeint, ohne vorher abzuwägen, welcher Test zum Erkennen welcher möglichen Krankheitsindikatoren geeigneter ist. Genauso bezeichnet es auch das Nachgeben gegenüber einem Kollegen oder Vorgesetzten, der vehement seine Meinung vertritt und ein bestimmtes Vorgehen erwartet. Auch dies führt dazu, dass das Nachdenken und Abwägen der Möglichkeiten im Prozess der
sen, und dass er deswegen nicht lange in der Klinik bleiben wolle. Aufgrund der lebhaft engagierten Darstellung fragt der Arzt nicht, ob aktuell eine depressive Verstimmung vorliegt, und steht in der Gefahr, die häufig mit depressiven Symptomen einhergehenden suizidalen Tendenzen zu übersehen.
Entscheidungsfindung an einem gewissen Punkt aufhören und damit der Möglichkeitsraum, wichtige Informationen zu finden, eingeschränkt wird. Vorzeitiges Beenden der Informationssuche. Interessanterweise neigen Menschen dazu, die Urteilsfindung zu beenden, obwohl noch Hinweise für mehrere andere Alternativen bestehen. Dafür kann eine Reihe von Gründen verantwortlich sein. Der häufigste ist der, dass man bereits eine Meinung gefasst hat und daher gegenteilige Informationen herunterspielt. Gerade auch bei mehreren noch vorhandenen Möglichkeiten (z.B. mögliche Erklärungen für einen entzündlichen Befund) mag die Suche nach weiteren Informationen zu komplex oder zu aufwendig erscheinen, zumal ja schon eine erste (wenn auch vorläufige) Vermutung besteht. Dieser Fehler entsteht besonders häufig, wenn in einem Teamgespräch unter Kollegen eine Entscheidung getroffen werden muss. In dieser Situation muss, um ein vorzeitiges Beenden zu verhindern, eine Person entgegen der Gruppenmeinung »Advokat des Teufels« spielen, um auch gegen die Meinung aller Gruppenmitglieder die Alternativen zu vertreten. Um den genannten Entscheidungsfehlern vorzubeugen, ist es in allen Fällen angeraten, mehr Information einzuholen. Daher empfiehlt sich ein weiterer, zweiter Kontakt oder ein zweites Treffen mit dem Patienten, um zu einer soliden Entscheidung zu finden. Der Vorteil besteht darin, bis zum nächsten Kontakt Gelegenheit zur Beschaffung weiterer Informationen zu haben und ggf. mit einem »freieren Blick« das Gespräch fortzuführen. Der Nachteil liegt offensichtlich im erhöhten Aufwand, der in der Alltagsroutine meist nicht zu leisten ist. Daher ist der Einsatz von Heuristiken not-
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2
Kapitel 2 · Ärztliches Handeln
wendig – jedoch sollte jedem Arzt die hohe Fehleranfälligkeit dieses u.U. täglich ausgeführten Verhaltens ständig vor Augen sein. i Vertiefen Redelmeyer DA (2005) The cognitive psychology of missed diagnosis. Ann Int Med 142:115–120 (Dieser Artikel erklärt die Fehlerformen und demonstriert sie an einem Beispiel.)
2.4
Interventionsformen
> > Einleitung Nachdem der Arzt alle nötigen Informationen erhoben hat, um eine Diagnose zu stellen, geht es darum, dem Patienten die Behandlungsoptionen zu präsentieren. Dies geschieht in einem Beratungsgespräch. Wenn der Arzt das Gespräch optimal gestaltet, kann der Patient die medizinische Ausgangslage nachvollziehen und als gleichberechtigter Partner bei der Entscheidung über die Behandlung mitwirken. Für chronisch Kranke werden Patientenschulungen durchgeführt, in denen sie das nötige Wissen und die erforderlichen Fertigkeiten erwerben, um eigenverantwortlich ihre Krankheit zu bewältigen. Chronisch Kranke werden dadurch zu Experten ihrer eigenen Krankheit. Eine spezialisierte ärztliche und psychologische Interventionsform stellt die Psychotherapie dar. Unterschiedliche Psychotherapieformen, wie z.B. die psychoanalytisch orientierten Verfahren (Psychoanalyse und tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie) und die Verhaltenstherapie (kognitiv-behaviorale Therapie), wurden entwickelt, um Menschen mit psychischen Problemen zu helfen.
2.4.1
Ärztliche Beratung
Eine der Haupttätigkeiten des niedergelassenen Arztes wie auch des Klinikarztes ist die Beratung seiner Patienten. Ärztliche Beratung spielt in vielen Situationen eine Rolle. Sie ist notwendig zur Sicherung der Mitarbeit bei der Behandlung (Compliance, 7 Kap. 2.1.4), bei der Aufklärung vor einer Operation oder über eine schwerwiegende Diagnose (Aufklärungsgespräch, 7 Kap. 2.1.5), bei der Motivierung zu
einem gesunden Lebensstil (Gesundheitsberatung, s.u.) oder im Kontext von strukturierten Patientenschulungen (7 Kap. 2.4.2). Durch ärztliche Beratung wird das Informationsbedürfnis der Patienten gestillt, das sehr groß ist (7 Kap. 2.1.3). Informationen zu erhalten, ist eine der wichtigsten Erwartungen von Patienten an den Arztbesuch (7 Kap. 2.2.1). Wenn Patienten ihre Fragen äußern können und die erwartete Information erhalten, so hat dies nicht nur günstige Auswirkungen auf die Zufriedenheit, sondern auch auf das emotionale Befinden, die Beschwerden, die Funktionsfähigkeit im Alltag, die Krankheitsbewältigung und sogar den körperlichen Krankheitsverlauf (7 Kap. 2.1.4). Funktionen der Beratung. Beratung vermittelt dem Kranken ein Erklärungsmodell für seine Beschwerden (Pathogenese) und erläutert die Diagnose und Behandlungsoptionen. Dadurch gewinnt der Betroffene Sicherheit und das Gefühl, in Therapieentscheidungen einbezogen zu werden sowie selbst etwas zur Bewältigung seiner Beschwerden tun zu können (internale Kontrollüberzeugung). Merke
Der Patient kann Informationen nur dann aufnehmen, wenn er sie auch emotional verarbeiten kann. Deshalb ist emotionale Unterstützung auf der Basis eines tragfähigen Arbeitsbündnisses Voraussetzung jeder Beratung.
Dies gilt insbesondere bei Informationen, die Angst auslösen können, wie z.B. vor einem diagnostischen Eingriff (z.B. Herzkatheteruntersuchung), einer Operation oder bei einer lebensbedrohlichen Erkrankung (z.B. Krebs). Hier kommt es nicht selten vor, dass Patienten nach der Beratung nur einen Teil dessen erinnern können, was ihnen gesagt wurde, und den Rest aus Angst wieder verleugnet haben (7 Kap. 2.1.5). Mit Informationsvermittlung allein ist es also nicht getan. Emotionale Unterstützung, vermittelt durch aktives Zuhören und Empathie, ausreichend Zeit und kontinuierlich als Ansprechpartner zur Verfügung zu stehen, gehören dazu. Beratung ist ein Prozess, kein einmaliger Akt.
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2.4 · Interventionsformen
Hinweise zum praktischen Vorgehen Folgende Hinweise können helfen, ein Beratungsgespräch so zu führen, dass Patient und Arzt den größten Nutzen davon haben: 4 Erklären Sie dem Patienten in verständlicher Sprache, welche Diagnose vorliegt und welche Behandlungsalternativen es gibt, und fragen Sie, wie viel er über jede Möglichkeit wissen möchte. 4 Passen Sie die Informationen an die Bedürfnisse und Präferenzen des Patienten hinsichtlich Inhalt und Ausführlichkeit an. 4 Weisen Sie den Patienten darauf hin, dass jede Behandlungsform mit einer gewissen Unsicherheit behaftet ist und erklären sie das Für und Wider jeder Option. Benutzen Sie gegebenenfalls Medien, wie z.B. Graphiken, Broschüren etc. 4 Fragen Sie den Patienten ausdrücklich, ob er irgendwelche Fragen zu den Behandlungsoptionen hat. Ermuntern Sie den Patienten, seine Sorgen und Vorbehalte gegenüber den einzelnen Optionen zu äußern. Sprechen Sie peinliche Themen direkt, aber feinfühlig an. 4 Verdeutlichen Sie dem Patienten, dass er an der Entscheidung über die Behandlungsmaßnahme beteiligt werden kann. Versuchen Sie schon früh herauszufinden, wie stark der Patient in die Entscheidung über die Behandlungsoptionen mit einbezogen werden möchte. 4 Bedenken Sie, dass sich die Präferenzen des Patienten mit der Zeit ändern können, und überprüfen Sie diese regelmäßig. Fragen Sie den Patienten nach seinen eigenen Werten und nach seiner Lebenssituation in Hinblick auf die Behandlungsmöglichkeiten. 4 Fragen Sie den Patienten, ob Familienmitglieder in die Besprechung miteinbezogen werden sollen. 4 Fassen Sie zum Gesprächsende die wichtigsten Punkte des Beratungsgesprächs zusammen und schätzen Sie ein, wie viel der Patient davon verstanden hat. Vergewissern Sie sich, dass der Patient tatsächlich alles verstanden hat. 4 Fragen Sie, ob es noch weitere Dinge gibt, die der Patient mit Ihnen besprechen möchte. Ermutigen Sie ihn, weitere Fragen zu stellen.
2
4 Vermitteln Sie dem Patienten, dass Sie genügend Zeit haben, die einzelnen Alternativen durchzusprechen, und bieten Sie ihm an, die Dinge erst einmal zu überdenken. Signalisieren Sie dem Patienten, dass sie für weitere Fragen oder auftauchende Sorgen zur Verfügung stehen.
Gesundheitsberatung Um Krankheiten zu verhindern, sollten Patienten einen gesundheitsförderlichen Lebensstil annehmen und Risikoverhaltensweisen abstellen. Risikotabellen ermöglichen es dem behandelnden Arzt, das Gesamtrisiko eines Patienten für eine bestimmte Erkrankung zu bestimmen und auf dieser Grundlage angemessene Entscheidungen für die Beratung zu treffen. So erlauben beispielsweise die neuen SCORE-Deutschland-Tabellen, in Abhängigkeit von Geschlecht, Alter, Raucherstatus, systolischem Blutdruck und Gesamtcholesterin die Wahrscheinlichkeit abzuschätzen, innerhalb der nächsten zehn Jahre an einer Erkrankung des Herz-Kreislauf-Systems zu sterben. Gesundheitsberatung dient dazu, dem Patienten die notwendige Information zu vermitteln. Als Schutzfaktoren gegenüber der Entstehung vieler Krankheiten haben sich eine ausreichende körperliche Aktivität und eine gesunde Ernährung erwiesen. Dadurch lässt sich insbesondere kardiovaskulären Erkrankungen, wie koronarer Herzkrankheit, Herzinfarkt, Schlaganfall und arterieller Verschlusskrankheit, vorbeugen. Merke
Der wichtigste einzelne Risikofaktor ist das Zigarettenrauchen. Wenn Patienten mit dem Rauchen aufhören, können sie ihr Risiko im Hinblick auf kardiovaskuläre Erkrankungen und Krebserkrankungen drastisch reduzieren. Es hat sich gezeigt, dass schon kurze Beratungen in der Praxis des niedergelassenen Arztes einen klaren Effekt in Richtung Nikotinabstinenz ausüben.
Die medizinischen Fachgesellschaften haben Empfehlungen für das Gesundheitsverhalten herausgegeben, die der ärztlichen Beratung im Hinblick auf einen gesunden Lebensstil zugrunde gelegt werden
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Kapitel 2 · Ärztliches Handeln
können. So empfiehlt die Deutsche Gesellschaft für Kardiologie (Gohlke et al. 2004), dass ein Patient bei jedem Arztbesuch auf das Rauchen angesprochen werden sollte und die eindeutige ärztliche Empfehlung erhalten sollte, das Rauchen völlig einzustellen. Der Arzt sollte mit dem Patienten einen Termin für den Rauchverzicht vereinbaren, ihm Literatur bzw. Ansprechpartner zur weiteren Beratung empfehlen und ihn auf Nikotinersatztherapie und Raucherentwöhnungsprogramme, z.B. an den Volkshochschulen, hinweisen. Weiterhin sollte er eine Ernährungsberatung durchführen, die auf eine kaloriengerechte, ballaststoffreiche, fettarme Kost mit nur geringem Anteil an gesättigten Fetten und Cholesterin sowie an Fleisch und tierischen Fetten zielt. Die Kost sollte reich an Vollkornprodukten, frischem Gemüse, Salaten und Früchten sein mit einem hohen Anteil an ungesättigten Fettsäuren, wie sie z.B. in der mediterranen Kost enthalten sind. Moderater Alkoholkonsum hat hingegen keine ungünstige Wirkung auf das kardiovaskuläre und das Gesamtrisiko. Hinsichtlich körperlicher Aktivität werden vier- bis fünfmalige wöchentliche Aktivitäten über 30–50 min mäßiger Intensität in Form von Gehen, Joggen, Radfahren oder einer anderen Ausdauerbelastung empfohlen. Daneben sollten die Patienten versuchen, mehr Aktivität in ihr tägliches Leben, wie Spazierengehen in den Arbeitspausen, Treppensteigen (statt Aufzug) oder Gartenarbeiten, einbauen. Generell sollte Normgewicht (BMI > Einleitung Den im folgenden Kapitel dargestellten besonderen medizinischen Situationen ist gemeinsam, dass sie sowohl für die betroffenen Patienten als auch die professionellen Helfer besonders belastend sind. Dies gilt z.B. für den schwer herzkranken Patienten, der auf die Transplantation eines neuen Herzens wartet, oder für den Notarzt, der bei einem Verkehrsunfall Tote und Schwerverletzte antrifft. Die Medizinische Psychologie kann sowohl den Betroffenen bei der Krankheitsbewältigung helfen als auch Ärzte und Pflegekräfte im Umgang mit den Patienten unterstützen. Deshalb haben sich in diesen medizinischen Handlungsfeldern oft enge Kooperationen mit Psychotherapeuten entwickelt.
2.5.1
Intensivmedizin
Der Patient auf der Intensivstation Die Behandlung auf einer Intensivstation stellt für die Betroffenen eine starke Belastung dar. Dies gilt sowohl für Patienten, die nach einem Unfall unvorbereitet auf der Intensivstation wieder zu sich kommen, als auch für Patienten nach einer geplanten Operation. Psychosoziale Belastungsfaktoren sind 4 Reizmonotonie: Auf der Intensivstation herrscht einerseits ein Reizmangel. Die Patienten sind von ihrer gewohnten Umgebung abgeschottet. Gleichzeitig sind sie immer wiederkehrenden monotonen Reizen, z.B. den Geräuschen und Piepstönen der Apparate, ausgeliefert. Die Fülle an gleichzeitig auf sie einprasselnden Wahrnehmungen kann zeitweise sogar in einer Reizüberflutung resultieren. 4 Bewusstseinstrübung: Insbesondere nach einer Operation, aber auch nach einem Schlaganfall kann ein akutes hirnorganisch bedingtes Psychosyndrom (Durchgangssyndrom) auftreten, das mit einem eingeschränkten Bewusstsein einhergeht. 4 Verlust der Intimsphäre: Auf der Intensivstation gibt es keinen Ort, wohin der Patient sich zurückziehen könnte. Auch in seinen intimsten
Körperfunktionen ist er den Blicken des Personals ausgesetzt. 4 Informationsdefizit: Intensivpatienten sind oft Maßnahmen ausgesetzt, deren Sinn und Zweck sie nicht verstehen. 4 Isolation: Intensivpatienten entbehren eine feste Alltagsstruktur. Es fällt ihnen deshalb schwer, nach dem Erwachen die Orientierung wiederzugewinnen und aufrechtzuerhalten. Wegen der fehlenden Zeitgeber (ständiges Licht, ständige Geräuschkulisse) kann der Schlaf-Wach-Rhythmus gestört sein. Aufgrund dieser Belastungen, aber auch der Einflussfaktoren der Grunderkrankung, der vorbestehenden Persönlichkeit und der Bewältigungsfertigkeiten können bei Intensivpatienten viele unterschiedliche psychische Störungen auftreten. Früher hat man für dieses Spektrum psychischer Störungen den Begriff Intensive-Care-Unit-Syndrom (ICUSyndrom) gebraucht. Diese Bezeichnung suggeriert, dass es sich dabei um etwas für Intensivstationen Spezifisches handle. Dies ist aber nicht der Fall. Statt vom ICU-Syndrom zu sprechen, wird deshalb heute empfohlen, die auftretenden psychischen Störungen nach den auch sonst üblichen Klassifikationssystemen zu diagnostizieren (z.B. hirnorganisches Psychosyndrom, Depression, Angststörung etc.). Ein Patient mit einem ähirnorganischen Psychosyndrom ist bewusstseinsgetrübt, zeitlich und örtlich desorientiert, verwirrt, innerlich oder auch motorisch unruhig oder sogar aggressiv. Durch diese Symptome ist die Kommunikation erheblich erschwert. Leichte Formen des organischen Psychosyndroms werden oft verkannt oder als psychogen fehleingeschätzt. Manche Patienten entwickeln als Reaktion auf die lebensbedrohliche Erkrankung eine äposttraumatische Belastungsstörung mit Albträumen, Intrusionen (Flashbacks), d.h. sich unwillkürlich aufdrängenden Gedanken an die Krankheit oder den Unfall, Vermeidungsverhalten, vegetativer Übererregbarkeit und emotionaler Abstumpfung. Typische Abwehrmechanismen. Die Intensivbe-
handlung führt dem Patienten die Lebensbedrohlichkeit seiner Erkrankung und die Abhängigkeit seiner Vitalfunktionen von medizinischem Personal
2.5 · Besondere medizinische Situationen
und Apparaten vor Augen. Die dadurch ausgelöste Todesangst kann Abwehrmechanismen auf den Plan rufen (7 Kap. 1.2.3 und 3.1.4). Charakteristisch sind Verleugnung (Nichtwahrhabenwollen der Lebensbedrohung), aber auch Regression, d.h. die Flucht in einen Zustand der Hilflosigkeit. Manche Patienten trauen sich nicht mehr zu, ohne Unterstützung durch das Beatmungsgerät allein zu atmen, oder entwickeln große Angst, wenn sie von der Intensivstation auf eine Normalstation verlegt werden sollen. Diese Regression ist insofern nachvollziehbar, als die Patienten während der Intensivbehandlung einen starken Kontrollverlust erfahren. Umso wichtiger ist es, die Patienten zu unterstützen, Schritt für Schritt die an Personal oder Apparate delegierten Funktionen selbst wieder zu übernehmen.
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Kommunikations- und Informationsprobleme
Einbezug von Angehörigen. Angehörige sind eine wichtige Ressource zur Unterstützung des Patienten. Wenn Angehörige regelmäßig zu Besuch kommen, erfährt der Patient, dass sie an ihn denken und ihn nicht aufgeben. Dadurch wird sein Genesungsverlauf gefördert. Besonders wichtig ist die Möglichkeit zu engem Kontakt auf der Kinderstation, damit der Krankenhausaufenthalt für das Kind nicht zu einer traumatischen Erfahrung wird, aber auch, um die Ängste und Sorgen der Eltern zu mildern. Andererseits brauchen Angehörige selbst Unterstützung, zumal wenn der Patient noch bewusstlos ist und sie seinen Zustand hilflos mit ansehen müssen, ohne Kontakt mit ihm aufnehmen zu können. Aus dieser Hilflosigkeit heraus kann es vorkommen, dass sie immer wieder die gleichen Fragen zur Prognose stellen, die geduldig beantwortet werden müssen. Manche Angehörige verschieben ihre Wut darüber, dass ein geliebter Mensch schwerkrank ist, auf das Behandlungsteam, machen diesem Vorwürfe oder versuchen es zu kontrollieren. Eine möglichst kontinuierliche Information und eine Grundhaltung der Akzeptanz können es dem Team erleichtern, solche schwierigen Situationen zu bewältigen. Eine besondere Herausforderung stellt das Gespräch mit Angehörigen verstorbener Patienten dar. Für einen gelungenen Trauerprozess ist es günstig, wenn Angehörige die Patienten beim Sterben begleiten können oder sich wenigstens nach dessen Tod noch einmal von ihm verabschieden dürfen (7 Kap. 2.5.8). Für die Gesprächsführung bei der Übermittlung der Todesnachricht gelten dieselben Prinzipien wie bei der Mitteilung einer schwerwiegenden Diagnose (7 Kap. 2.1.5): ungestörte Gesprächsgelegenheit, persönliche Zuwendung, Ermittlung der bisherigen Informationslage der Angehörigen, klare und verständliche Mitteilung des Todes, Akzeptanz gegenüber Gefühlen von Ohnmacht und Trauer sowie Vermittlung von Unterstützungsangeboten.
Patienten, die intubiert sind und beatmet werden, können sich nicht durch Sprache verständigen. Darauf sollte man den Patienten schon bei der präoperativen Aufklärung hinweisen. Als Ersatz für die sprachliche Kommunikation können Zeichen, wie Nicken und Kopfschütteln auf geschlossene Fragen, Handzeichen oder auch schriftliche Kommunikation mittels Tafel oder Klemmbrett und Filzstift fungieren.
Kooperation mit psychosozialen Diensten. Für eine Intensivstation ist es hilfreich, mit einem psychosozialen Dienst zusammenzuarbeiten. Dieser kann sowohl zur direkten psychotherapeutischen Behandlung von Patienten als auch für die Unterstützung der Teamkommunikation herangezogen werden. Für ängstliche und angespannte Patienten sind Entspannungsverfahren angezeigt. Diese haben im
Betreuungserfordernisse Patienten müssen darin unterstützt werden, Orientierung zu gewinnen (z.B. eine im Blickfeld sichtbare Uhr). Sie sollen alle relevanten Informationen erhalten, sobald sie von der Bewusstseinslage her dazu fähig sind. Im Zweifelsfall sollte davon ausgegangen werden, dass der Patient bei Bewusstsein ist, und auch mit bewusstlosen Patienten ist ein höflicher und respektvoller Umgang selbstverständlich. Wenn Patienten nachvollziehen können, weshalb eine bestimmte Therapiemaßnahme notwendig ist, tolerieren sie diese besser und erleben sie als weniger bedrohlich. Deshalb sollte man Patienten, wenn immer möglich, erklären, was man mit ihnen macht und warum man es macht. Man sollte den Patienten vermitteln, dass Ängste und Depressivität normale Reaktionen in ihrer Situation darstellen. Wenn es ihnen erlaubt ist, ihre Gefühle auszusprechen, hilft ihnen dies mehr als eine vorschnelle Beruhigung.
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Kapitel 2 · Ärztliches Handeln
Unterschied zu sedierenden Medikamenten den Vorteil, dass sie sich nicht nachteilig auf den Bewusstseinsgrad auswirken. Angstzustände und Panikanfälle können z.B. auftreten, wenn ein langzeitbeatmeter Patient von der Beatmung abtrainiert werden soll. Auch Trauer und Depressivität können psychotherapeutische Unterstützung erfordern. Wenn es gelingt, die Mitarbeiter der Intensivstation in Gesprächsführungstechniken zu schulen, können sie immer mehr Aufgaben des Psychotherapeuten selbst übernehmen, so dass ein Konsilbesuch überflüssig wird. Zur Behandlung psychischer Störungen stehen schließlich auch medikamentöse Ansätze zur Verfügung.
Belastungen beim ärztlichen und pflegerischen Personal Ärzte und Pflegekräfte auf Intensivstationen sind stärker belastet als diejenigen peripherer Stationen. Dies zeigt sich beispielsweise in erhöhtem Krankenstand und hoher Fluktuation (Wechsel des Arbeitsplatzes). Folgende Belastungsfaktoren wurden identifiziert: 4 Hohe Sterblichkeit: Auf Intensivstationen sterben 20–30% der Patienten. Oft ist Heilung das einzige Erfolgskriterium, und der Tod wird als Niederlage erlebt. 4 Frühzeitige Verlegung der Patienten, so dass keine kontinuierliche Beziehung aufgebaut werden kann (z.B. Aufwachstation). 4 Schwierige Kommunikation mit bewusstseinsgetrübten Patienten. 4 Hektik und Zeitdruck. 4 Konfrontation mit emotional belastenden Situationen. 4 Rahmenbedingung wie geringe finanzielle Entlohnung und Schichtdienst. Burn-out-Syndrom. Die genannten Belastungen
können zu einem Burn-out-Syndrom führen (7 Kap. 2.1.2). Zunächst engagieren sich viele Ärzte oder Pflegekräfte auch über ihre Arbeitszeit hinaus und schränken dafür ihre Freizeitaktivitäten und sozialen Kontakte ein. Dies resultiert in chronischer Müdigkeit und Erschöpfung. Schließlich müssen sie ihr Engagement wieder reduzieren, und an die Stelle des therapeutischen Aktionismus können Distanz zum Patienten und ein desillusionierter, zynischer
Umgang mit ihm treten. Motivation und Arbeitszufriedenheit nehmen ab. Emotionale Beschwerden, wie Depressivität, Verlust der Freude an Freizeitaktivitäten, sozialer Rückzug und psychosomatische körperliche Beschwerden treten auf. Nicht nur bei Patienten, sondern auch beim medizinischen Personal kann als Folge des miterlittenen Leids eine sekundäre posttraumatische Belastungsstörung auftreten (7 auch Kap. 2.5.2). Prävention. Neben einer Gestaltung der Arbeitsbedingungen (Pausen, Erholungszeiten) und des Arbeitsklimas (Gefühle der Überlastung rechtzeitig ansprechen) stellen regelmäßige Weiterbildung und Supervision Maßnahmen gegen burn-out dar. Gesprächsführungskurse, in denen der Umgang mit schwierigen Patienten trainiert wird, sind im angelsächsischen Raum sehr verbreitet, in Deutschland jedoch noch eher selten. In Balint-Gruppen und Fallsupervisionen können schwierige Situationen im Umgang mit Patienten bearbeitet werden (Beispiel: Entscheidung über lebensverlängernde Maßnahmen). i Vertiefen Köllner V, Deister A (2001) Psychosoziale Situation und psychologische Betreuung in der Intensivmedizin. In: Bourchardie H, Larsen R, Schuster HP, Sutter PM (Hrsg) Intensivmedizin. 8. Aufl. Springer, Berlin, S 35–96 (sehr guter Überblick über die Thematik mit vielen praktischen Ratschlägen und Gesprächsbeispielen)
2.5.2
Notfallmedizin
Psychosoziale Merkmale Medizinische Notfallsituationen entstehen nicht nur bei Naturkatastrophen oder Flugzeugabstürzen, sondern ereignen sich tagtäglich, etwa wenn Menschen in einen Verkehrsunfall involviert sind, einen Suizidversuch unternehmen oder einen Herzinfarkt bekommen. Jedesmal stehen solche Extremereignisse mit psychosozialen Faktoren in einem engen Zusammenhang. Oft werden sie durch soziale oder psychische Belastungen mit ausgelöst oder zumindest unterhalten. So kann beispielsweise eine Arbeitslosigkeit zu Alkoholismus und infolge dessen zu suizidalem Verhalten führen. Der Tod eines nahen Angehörigen kann zu einem psychischen Schock,
2.5 · Besondere medizinische Situationen
chronische Ehekonflikte können zu Depressionen führen. Hinzu kommt, dass das psychosoziale Umfeld selbst häufig wichtige Informationen für die Diagnosegewinnung beinhaltet. Beispielsweise kann bei einem bewusstlosen Patienten, der keine äußerlichen Verletzungen aufweist, ein Spritzenbesteck den Hinweis geben, dass er sich eine Überdosis Heroin gespritzt hat. Aus einer psychosozialen Perspektive sind Notfallsituationen dadurch gekennzeichnet, dass sie einen unausweichlichen Charakter haben, in der Regel unvorhersehbar sind und ein hohes traumatisches Potential in sich bergen. Den Betroffenen stehen ähnliche Erfahrungswerte meist nicht zur Verfügung, um das Erlebte einordnen zu können. Statistisch spielen psychiatrische Notfälle, die z.B. Suizidversuche oder auch akute Belastungsreaktionen umfassen, eine nicht unerhebliche Rolle und werden je nach Einzugsgebiet mit bis zu 10% der Einsätze registriert.
Kommunikation In der Notfallsituation spielt die Kommunikation mit dem Betroffenen eine besondere Rolle und stellt einen wichtigen Baustein neben der medikamentösen Behandlung dar. Sie dient einmal der Überprüfung der Bewusstseinslage (Ist der Patient wach oder trübt er ein?), dann der weiteren Exploration des Beschwerdebildes sowie der Aufrechterhaltung der Arzt-Patient Beziehung, wie etwa Klärung des weiteren Vorgehens (Klinikeinweisung, Hubschraubereinsatz, Vollnarkose). Eine endgültige Mitteilung über Diagnose, Folgeerkrankungen oder Mitverletzte hat sich in der Notfallsituation nicht als sinnvoll erwiesen, da eine umfassende Einschätzung häufig noch nicht möglich ist und das Vorgehen zur Verunsicherung des Patienten beitragen kann. Verbale Krisenintervention. Die verbale Krisenin-
tervention stellt bei einem Suizidpatienten den Notfallarzt vor besondere Herausforderungen. Wenn der Patient psychotische Symptome (Wahnvorstellungen) hat oder intoxiziert (Alkohol, Drogen) ist, liegt meist kein ausreichender Realitätsbezug vor, und eine geordnete Exploration ist erschwert. Hilfreich ist der Versuch, einen persönlichen Kontakt herzustellen und nicht mehrere Ansprechpartner gleichzeitig zuzulassen. Neben der Abschirmung
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von anderen Außenreizen (Mitbewohner, Presse) ist meist ein »talk-down« sowie die Herstellung eines »Antisuizid-Vertrags« erfolgsversprechend. Beim talk-down geht es darum, dass der Arzt durch direktives Vorgehen versucht, dem Patienten die Angst vor der aktuellen Situation zu nehmen. Er appelliert an seine Bewältigungsmechanismen und weist darauf hin, dass er jetzt in sicherer ärztlicher Hand ist und alles Menschenmögliche für ihn getan wird. Der Arzt sollte dabei das Gefühl vermitteln, dass er die Situation im Griff hat. Im Rahmen eines Antisuizidvertrags wird mit dem Patienten ein Abkommen vereinbart, dass er sich hier und jetzt nichts antut. Dabei werden konkrete Ansprechpartner, Zukunftsperspektiven, Verhalten bei einer weiteren Krisensituation und Aufklärung über seine aktuelle Situation angestrebt.
Psychische Ausnahmesituationen Patienten reagieren in solchen Extremsituationen häufig mit einem psychischen Ausnahmezustand oder psychischem Schock. Klinisch spricht man dann von einer akuten Belastungsreaktion. Nicht selten kann es zu verzögerten psychischen Reaktionen kommen, die erst Tage oder Wochen nach dem Ereignis auftreten. Das Vollbild solcher Ausnahmezustände, das dann mehr als 3 Monate andauert, nennt man posttraumatische Belastungsstörung. Es ist gekennzeichnet durch Albträume, Vermeidungsverhalten und verstärkte vegetative Reaktionen, was nicht selten mit einer depressiven Stimmungslage verbunden ist (7 Kap. 1.2.2). Die Dauer und der Schweregrad des Traumas, das Gefühle der fehlenden Kontrolle, Selbstvorwürfe, aber auch mangelnde soziale Unterstützung und (früh-)kindliche Belastungen können als Risikofaktoren für eine Chronifizierung angesehen werden. Bei einem kindlichen Unfall kann es sinnvoll sein, die Bezugsperson mit in die Befunderhebung einzubinden. So sollte ein Kind auf dem Schoß der Mutter sitzen, der Teddybär darf mitgenommen werden oder eine Spritze (ohne Nadel) wird dem Kind mitgegeben, um die Angst zu verringern und die Kooperationsbereitschaft zu erhöhen.
Handlungs- und Entscheidungsdruck Ärzte und Rettungspersonal, die im Notfalldienst tätig werden, sind einem zusätzlichen Handlungs-
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Kapitel 2 · Ärztliches Handeln
und Entscheidungsdruck ausgesetzt. So erfordert die Überbringung der Todesnachricht an Angehörige mit der Bitte um Organspende besonderes Einfühlungsvermögen. Auf der einen Seite besteht eine verstärkte Vulnerabilität (Verletzbarkeit) der Betroffenen. Auf der anderen Seite steht das Notfallpersonal vor der Aufgabe, eine schnelle Entscheidung herbeizuführen. Neben einer raschen Anamneseerhebung und einer diagnostischen Zuordnung muss häufig bereits präklinisch eine medikamentöse Behandlung eingeleitet werden. Daraus können Fehlhandlungen und Fehleinschätzungen resultieren. Um eine optimale Versorgung zu gewährleisten, ist es sinnvoll, dass der zuständige Arzt eine Einsatzfrequenz von ca. 100–800 Notfalleinsätzen im Jahr bewältigt. Ist die Zahl zu hoch, sind Fehleinschätzungen und psychische Überforderungen deutlich höher. Ist die Einsatzzahl zu niedrig, fehlt dem Arzt die entsprechende Praxis. Teamsupervision. Mobile Einsatzgruppen der
Hilfsorganisationen bieten Kriseninterventionen an. Man nennt das Vorgehen auch Debriefing: Nach dem Einsatz werden ereignisnah die psychischen Belastungen der einzelnen Teilnehmer angesprochen, Erklärungsmodelle über die Entstehung wie auch die Verarbeitung von Stress geliefert und eine Neuorientierung ermöglicht. Dabei geht es darum, vom »hilflosen Opfer« zum »aktiven Bewältiger« zu werden. Ein Beispiel hierfür ist das »Critical Incident Stress Management« (CISM). Betroffene können im Einzelfall von diesen Angeboten profitieren. Meist hat die Teamsupervision eine entlastende Funktion. Empirisch ist jedoch fraglich, ob diese DebriefingGruppen einen langfristigen therapeutischen Effekt haben oder nicht sogar eher schädlich sind. Umgang mit plötzlichem Tod. Beim Umgang mit
plötzlichem Tod ist zu beachten, dass dem Toten entsprechend Respekt entgegen gebracht wird. Hierzu zählen die Abschirmung vor dem allgemeinen Unfallereignis und das Zudecken des Toten. Den Angehörigen muss eine klare und zugleich empathisch vermittelte Todesmitteilung zukommen. Außerdem sollten die Angehörigen die Möglichkeit haben, sich verabschieden zu können. Hinzu kommt die Vermittlung von weiterführenden Kontakten (Selbsthilfegruppen). Es hat sich als hilfreich erwiesen, dass
man den Toten nicht alleine liegen lässt, sondern dass ein Mitarbeiter des Rettungsdienstpersonals dabei bleibt. Sekundärtraumatisierung. Beim Rettungsdienstpersonal kann ein Krankheitsbild auftreten, das der posttraumatischen Belastungsstörung sehr ähnlich ist. Man spricht dann von einer Sekundärtraumatisierung. Das Rettungspersonal erlebt stellvertretend zum Unfallopfer psychisch ebenfalls das Trauma (stellvertretende Traumatisierung). Die Häufigkeit liegt je nach Ausmaß der Notfälle zwischen 3 und 15%. Neben dem Erkennen einer Sekundärtraumatisierung hat das Krankheitsbild auch gesundheitsökonomische Relevanz (Krankheitstage, Ausfallzeiten). Der leitende Arzt muss für sich selbst und für seine Mitarbeiter über diese zusätzliche Belastung Bescheid wissen, um früh genug intervenieren zu können. Dies geschieht dadurch, dass er beispielsweise die Dienstzeiten für den Mitarbeiter reduziert und ihn über das Krankheitsbild aufklärt oder die Indikation für eine Psychotherapie stellt. Häufige Nachtschichten und das Arbeiten unter Leistungsdruck können ein Burn-out-Syndrom begünstigen (7 Kap. 2.1.2). Das Rettungspersonal nimmt die Opfer dann nicht mehr als Menschen wahr, sondern nur noch als anonyme Einsätze und Fälle, um sich vor der großen Belastung des Mitleidens zu schützen. Zynismus oder schwarzer Humor können die Folge sein. i Vertiefen Bengel J (Hrsg) (2004) Psychologie in Notfallmedizin und Rettungsdienst. 2. Auflage. Springer, Berlin (umfassende Darstellung der psychologischen Aspekte bei Notfallsituationen) Brunnhuber S (2005) Psychiatrische Notfälle. In: Brunnhuber S, Frauenknecht S, Lieb K (Hrsg) Psychiatrie und Psychotherapie. Elsevier, München, S 397–402 (Übersicht zu den wichtigsten psychiatrischen Notfällen mit klinischen Beispielen und konkreten Handlungsanweisungen)
2.5.3
Transplantationsmedizin
Seit im Jahr 1963 die erste Nierentransplantation vorgenommen wurde, sind in Deutschland ca. 75.000 Organe übertragen worden. Am häufigsten werden Nieren transplantiert, gefolgt von Leber-
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2.5 · Besondere medizinische Situationen
und Herztransplantationen. Seltener werden Übertragungen von Pankreas und Lunge vorgenommen. Die jährliche Zahl der Transplantationen ist in der Vergangenheit leicht angestiegen und lag nach Angaben der Deutschen Stiftung Organtransplantation (DSO) im Jahr 2004 bei ca. 4.000. Allerdings ist der Bedarf an Transplantaten viel größer als das Angebot: Etwa 12.000 Patienten warten in Deutschland auf ein Organ. Nierentransplantation. Im Jahr 2004 wurden in Deutschland ca. 2000 Nierentransplantationen nach postmortaler Organspende durchgeführt. Dazu kommen noch knapp 500 Transplantationen nach Lebendnierenspende. Die Niere ist eines der wenigen Organe, das vom lebenden Spender entnommen werden kann. Durch diese Möglichkeit können die Wartezeiten auf ein Transplantat deutlich verkürzt und bessere Ergebnisse hinsichtlich der Transplantatfunktionsraten erzielt werden (5-Jahres-Transplantatfunktionsrate bei Lebendspende ca. 83%, bei postmortaler Spende ca. 70%). Merke
Es bleibt zu bedenken, dass es sich bei der Lebendnierenspende um einen mit den üblichen Risiken behafteten operativen Eingriff an einem gesunden Menschen handelt, der ausschließlich dem Wohl einer anderen Person dient. Vor diesem Hintergrund werden Aspekte der Freiwilligkeit (subtiler Druck von Angehörigen, Schuldgefühle) und Unentgeltlichkeit (Ausschluss von Organhandel) der Spende relevant.
Lebertransplantation. Nicht immer ist chronischer Alkoholkonsum der Grund für ein Versagen der Leber, auch Krebserkrankungen oder Hepatitis können eine Lebertransplantation notwendig machen. Lebertransplantate können postmortal, aber auch vom lebenden Menschen entnommen werden (Lebersegment). Jährlich werden in Deutschland ca. 850 Lebertransplantationen durchgeführt (5-Jahres-Transplantatfunktionsrate 60% bei Ersttransplantation). Herztransplantation. Die erste menschliche Herztransplantation (1967 durch Christiaan Barnard in
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Kapstadt) scheiterte aufgrund der Abstoßungsreaktion. Erst mit der Einführung wirksamer Immunsuppressiva in den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts etablierte sich der Eingriff bei terminaler Erkrankung des Herzmuskels. In Deutschland werden jährlich ca. 400 Herztransplantationen vorgenommen (5-Jahres-Transplantatfunktionsrate fast 70%). Patienten mit terminaler Herzinsuffizienz, die auf eine Transplantation warten, sind einer starken psychischen Belastung ausgesetzt. Im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung ist die Rate an Angststörungen und depressiven Verstimmungen erhöht. Auch die Lebensqualität ist deutlich schlechter. Knochenmarktransplantation. Eine Knochenmarkoder Stammzellentransplantation wird vor allem zur Therapie von Blutkrebserkrankungen eingesetzt. Zunächst wird das blutbildende System des Patienten durch eine Chemo- oder Strahlentherapie weitgehend zerstört, anschließend durch die Transplantation von gesunden Blutstammzellen wieder aufgebaut. Diese Stammzellen werden direkt aus dem Blut oder aus dem Knochenmark eines Spenders gewonnen.
Psychosoziale Situation bei Transplantationen Je nach Behandlungsphase ist der Patient unterschiedlichen psychosozialen Belastungen ausgesetzt. Im Vorfeld einer Transplantation sind durch die meist chronischen Erkrankungen (z.B. Herz- oder Niereninsuffizienz) die körperliche, psychische und soziale Funktionsfähigkeit eingeschränkt. Viele Patienten müssen ihre Berufstätigkeit, vertraute Rollen und Lebensumstände aufgeben. Soziale Kontakte und angenehme Aktivitäten werden häufig durch die Behandlung (z.B. Dialyse) eingeschränkt. Die Lebensqualität (7 Kap. 1.1.2 und 2.6.4) kann dadurch deutlich vermindert sein. Depressionen und Ängste zählen in dieser Phase zu den häufigsten psychischen Beeinträchtigungen. Unmittelbar vor der Transplantation können Ängste vor der Operation (präoperative Angst) und der Zeit danach verstärkt auftreten. Manche Patienten empfinden es als belastend, dass bei vielen Transplantationen der Tod eines anderen Menschen die Voraussetzung für das eigene Weiterleben darstellt.
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2
Kapitel 2 · Ärztliches Handeln
Nach der Transplantation muss der Patient mit dem permanenten Risiko einer Abstoßung des Organs leben. Die Einnahme immunsuppressiver Medikamente erfordert lebenslang eine hohe Compliance (7 Kap. 2.1.5). Lebensqualität nach Transplantation. Zahlreiche Studien belegen eine Verbesserung der Lebensqualität nach einer Transplantation. Präoperative Depressivität und mangelnde soziale Unterstützung wirken sich allerdings ungünstig auf die Lebensqualität aus und stellen sogar Risikofaktoren für eine erhöhte Sterblichkeit nach Transplantation dar.
Psychoimmunologische Aspekte der Transplantation Um die Abstoßungsreaktion eines transplantierten Organs zu verhindern, müssen vom Patienten lebenslang immunsuppressive Medikamente eingenommen werden. Regelmäßige ärztliche Kontrollen sind notwendig, um auf mögliche Nebenwirkungen rechtzeitig reagieren zu können. Alle Immunsuppressiva beeinträchtigen die natürliche Abwehrleistung des Körpers gegen Bakterien, Viren und Pilze. Zudem besteht eine erhöhte Gefahr, an Krebs zu erkranken. Im Forschungsfeld der Psychoimmunologie wurde festgestellt, dass immunologische Funktionen konditionierbar sind (7 Kap. 1.2.1). Da die medikamentöse Immunsuppression mit zahlreichen Nebenwirkungen einhergeht, wird in der Forschung der Frage nachgegangen, ob Konditionierungsprozesse genutzt werden können, um die Immunabwehr zu schwächen und damit eine Abstoßung des Transplantats zu verhindern. Im Tierexperiment haben sich erste Erfolge gezeigt, die Anwendung am Menschen ist bislang noch nicht möglich.
Rechtliche und ethische Aspekte Voraussetzung für eine postmortale Organspende ist die Feststellung des Hirntods des Spenders. Für die Spende von Organen gilt in Deutschland die »erweiterte Zustimmungsregelung« (Transplantationsgesetz, 1997). Dies bedeutet, dass eine Organentnahme nur möglich ist, wenn der Verstorbene zu Lebzeiten zugestimmt hat (z.B. in einem Organspenderausweis dokumentiert). Liegt kein Organspenderausweis vor, können die Angehörigen auf der Grundlage des
mutmaßlichen Willens des Verstorbenen über eine Organspende entscheiden. Für die Angehörigen stellt dies eine sehr schwierige Situation dar, da sie meist erst kurz zuvor vom Tod eines geliebten Menschen erfahren haben und emotional sehr aufgewühlt sind. Ist der Wille des Verstorbenen den Angehörigen nicht bekannt, so spielt die Einstellung der Angehörigen zur Organspende bei der Entscheidung eine wichtige Rolle. Auch für den Arzt ist es oft nicht leicht, Angehörige auf eine Organspende anzusprechen und die Bitte um Spende von Organen in angemessener Weise zu äußern. Spezielle Schulungsprogramme für medizinisches Personal sind hilfreich, um Unsicherheiten zu reduzieren und die Bereitschaft zur Organspende zu erhöhen. In anderen Ländern (z.B. Österreich) gilt eine Widerspruchslösung. Dies bedeutet, dass nach dem Tod Organe entnommen werden können, sofern der Spender zu Lebzeiten nicht seinen Widerspruch dokumentiert hat. Spender-Empfänger-Probleme am Beispiel der Lebendnierenspende. Bei Lebendnierenspenden
handelt es sich bei Spender und Empfänger in der Regel um Verwandte bzw. Personen, die sich sehr nahe stehen. Eine Transplantation kann sich stark auf die Beziehungen innerhalb der Familie bzw. die Partnerschaft auswirken. Das frühzeitige Erkennen eines Konfliktpotentials ist von entscheidender Bedeutung für den Operationserfolg wie auch für die Vermeidung psychischer Belastungen nach der Transplantation. Spender und Empfänger sehen sich bei der Entscheidung zur Lebendnierenspende zwangsläufig einem inneren Konflikt ausgesetzt: Für den Spender besteht ein ambivalentes Verhältnis zwischen dem Wunsch, einem Angehörigen zu helfen, und dem eigenen Bedürfnis nach körperlicher Unversehrtheit und Schmerzfreiheit. Beim Empfänger steht die Hoffung auf Heilung dem Bewusstsein gegenüber, dass ein nahe stehender Mensch sich einem nicht unbedenklichen operativen Eingriff unterziehen muss. Das Ausmaß der inneren Konflikte von Spender und Empfänger wird in starkem Maße von der emotionalen Nähe der Betroffenen beeinflusst. Eine ausführliche ärztliche Aufklärung und psychologische Beratung von Spender und Empfänger ist notwendig, um die Entscheidung zu reflektieren und
2.5 · Besondere medizinische Situationen
sicherzustellen, dass beide Beteiligte hinter dem Entschluss stehen. Eine positive Einstellung zur Lebendnierenspende gilt als Voraussetzung für den langfristigen Erfolg der Transplantation. Da bei der Lebendnierenspende ein gesunder Mensch einem Risiko ausgesetzt wird, um einem anderen Patienten zu helfen, sind an die Einwilligung zur Lebendnierenspende besonders strenge Anforderungen geknüpft. Insbesondere muss gewährleistet sein, dass eine tragfähige Beziehung zwischen Spender und Empfänger besteht und dass die Spende freiwillig erfolgt (d.h. ohne Druck durch Familienmitglieder, ohne Einschränkung der Entscheidungsfreiheit durch psychiatrische Erkrankungen etc.). Darüber hinaus muss dafür Sorge getragen werden, dass keine finanziellen Interessen die Entscheidung beeinflussen. Um einer Kommerzialisierung im Sinne von »Organhandel« vorzubeugen, ist im Transplantationsgesetz festgelegt, dass die Spende nur zwischen Verwandten ersten und zweiten Grades bzw. zwischen Personen mit besonderer persönlicher Verbundenheit (z.B. Lebensgefährte) erfolgen und nicht vergütet werden darf. Auch bei optimaler Aufklärung und guter Beziehung zwischen Spender und Empfänger kann es vorkommen, dass – insbesondere kurz vor dem Operationstermin – Unsicherheiten beim Spender auftreten. Einerseits fühlt der Spender sich verpflichtet, seine Zusage zu halten, andererseits können Zukunftsängste aufkommen, die in dem Wunsch münden, die Niere als »eigene Notreserve« zu behalten. Der Druck auf den Spender kann sich verstärken, wenn er sich von den Ärzten alleine gelassen fühlt, wenn die Aufmerksamkeit nach erfolgter Einwilligung zunehmend dem »eigentlichen Patienten« gilt und die erwartete Anerkennung von Seiten der Angehörigen ausbleibt. Stehen Spender und Empfänger der Lebendnierenspende ablehnend gegenüber, können Probleme nach der Operation (z.B. Wundschmerz beim Spender oder Abstoßungsreaktionen beim Empfänger) die Beziehung extrem belasten und die Betroffenen psychisch überfordern. Es gilt als gesichert, dass sich bestehende Beziehungskonflikte und psychische Probleme bei Spender und Empfänger durch eine Transplantation nicht verbessern, sondern vielmehr ein Risiko für die postoperative Anpassung darstellen. Vor diesem Hintergrund ist die Untersuchung der
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Beziehungsdynamik sowie der Motivation zur Spende unumgänglich. Positive Folgen der Lebendnierenspende. In der
Regel wirkt sich die Lebendnierenspende positiv auf Spender und Empfänger aus. Der Empfänger erfährt eine Verbesserung der Lebensqualität und des psychischen Gesamtbefindens, was auch häufig mit einer Erhöhung des Selbstwertes und dem Gefühl eines »neuen Lebens« verbunden ist. Auch beim Spender gibt es Hinweise darauf, dass sich eine erfolgreiche Transplantation positiv auf die Psyche auswirkt. Insbesondere eine Stärkung des Selbstwertgefühls und das Bewusstsein, etwas Sinnvolles getan zu haben, können die Lebensqualität des Spenders positiv beeinflussen. Dass der Empfänger normalerweise weniger eingeschränkt ist als vor der Operation, erleichtert das gemeinsame Leben (v.a. bei Ehepartnern) beträchtlich. Die Beziehung wird im optimalen Fall gestärkt. Wartezeit. Da die Anzahl der auf eine Transplantation wartenden Patienten die Anzahl der zur Verfügung stehenden Spenderorgane deutlich übersteigt, müssen Transplantationspatienten zum Teil sehr lange Wartezeiten in Kauf nehmen. Viele sterben »auf der Warteliste«. Für Patienten und Angehörigen ist die Wartezeit psychisch belastend, da einerseits die Organerkrankung und die Beschwerden fortschreiten und andererseits die Dauer der Wartezeit ungewiss ist und damit auch die langfristige Lebensplanung in Frage steht. Die Angst, vor Eingang eines geeigneten Organs zu versterben, kann sehr belastend sein. Dies trifft insbesondere bei lebenswichtigen Organen wie Herz, Lunge oder Leber zu, wo die Organfunktion nicht wie bei den Nieren durch die Dialyse auch über eine längere Zeit ersetzt werden kann. Die Verteilung der Organe nach Dringlichkeit erfolgt für Deutschland über Eurotransplant in Leiden (NL). Nachsorge. Die Betreuung der Patienten endet nicht mit der Operation. Das Langzeitergebnis nach einer Transplantation hängt ganz entscheidend von der Güte der Nachsorge ab. Im Allgemeinen ist das körperliche Befinden der Empfänger nach Transplantation gut. Dennoch erfordert das Leben mit
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Kapitel 2 · Ärztliches Handeln
dem neuen Organ eine Umstellung der Lebenssituation: regelmäßige Einnahme von Immunsuppressiva, regelmäßige Kontrollen der Medikamentennebenwirkungen und der Funktionsfähigkeit des Transplantats. Die Compliance des Patienten trägt entscheidend zum langfristigen Erfolg der Transplantation bei. Veränderung des Körpererlebens. Der Empfänger
muss lernen, mit dem neuen – eigentlich fremden – Organ zu leben und es in sein Körperbild zu integrieren. Dies ist häufig schwieriger, wenn das Organ von einem Verstorbenen stammt, da Schuldgefühle aufkommen können. Bei der Lebendnierenspende treten selten Schwierigkeiten bezüglich des Körpererlebens beim Empfänger auf, wenn es dem Spender gut geht. Beim Prozess der Integration des neuen Organs kommt es vor, dass der Empfänger das neue Organ personifiziert. Dies drückt sich darin aus, dass das Transplantat als »Gast im Körper« oder als »Freund« begrüßt wird oder dass dem Organ ein Namen gegeben wird. i Vertiefen Koch U, Neuser J (Hrsg) (1997) Transplantationsmedizin aus psychologischer Perspektive. Jahrbuch der Medizinischen Psychologie 13. Hogrefe, Göttingen (Überblick zu psychologischen Fragen im Kontext der Transplantationsmedizin)
2.5.4
Onkologie
Belastungen bei Krebskranken Der Einbruch einer äKrebserkrankung stellt für die meisten Menschen ein äußerst belastendes Lebensereignis dar. An erster Stelle steht die Todesdrohung. Während Gesunde meist nicht daran denken, dass sie einmal sterben müssen, ist dies für Krebskranke unmittelbare psychische Realität, und zwar zunächst unabhängig von den Behandlungsmöglichkeiten und der tatsächlichen Prognose. Die natürliche Selbstverständlichkeit des Daseins ist verloren gegangen. Auch nach einer erfolgreichen Primärbehandlung bleibt der Verlauf unsicher. Wie ein Damokles-Schwert hängt die Bedrohung durch ein Rezidiv über der Zukunft. Hinzu kommen körperliche Beschwerden durch die Erkrankung wie auch durch eingreifende
Behandlungsmaßnahmen (Operation, Bestrahlung, Chemotherapie), die dem Betroffenen den Verlust der körperlichen Integrität vor Augen führen. Das Körperbild verändert sich. Frauen erleben nach einer Mastektomie (Brustamputation) ihre körperliche Attraktivität und Weiblichkeit als vermindert. Infolge der reduzierten Leistungsfähigkeit müssen möglicherweise Alltagsaktivitäten eingeschränkt werden. Oft ist der ganze bisherige Lebensentwurf in Frage gestellt. Lebensziele müssen überdacht oder neu gefunden werden. Hieraus können Trauer über den Verlust, aber auch Auflehnung, Hader und Wut über das als ungerecht erlebte Schicksal resultieren. Soziale Rollen in Beruf und Familie stehen in Frage: Werde ich weiter meinen Beruf ausüben können? Werde ich meine Familie versorgen können? Wie wirkt sich die Erkrankung auf meine Partnerschaft aus? Auf der einen Seite ist ein Schwerkranker in hohem Maße auf andere angewiesen, ist beispielsweise abhängig von Ärzten, die zentrale Therapieentscheidungen treffen, und von Angehörigen, die ihn unterstützen (oder auch nicht). Auf der anderen Seite ist Krebs noch immer eine Krankheit, über die man nicht gerne spricht. Kommunikationstabus treten auf. Oft trauen sich Angehörige nicht, offen über die Krankheit zu sprechen, oder Patient und Angehörige vermeiden aus Befangenheit gemeinsam dieses belastende Thema. Manchmal kommt es auch zu sozialem Rückzug oder gar Stigmatisierung durch die Umgebung. Emotionale Folgen. Vor dem Hintergrund der aufgeführten Belastungsquellen ist es verständlich, wenn Krebskranke mit emotionaler Belastung reagieren. Diese kann sich von normalen Gefühlen der Trauer, Angst und Verletzlichkeit einerseits bis hin zum Vollbild einer psychischen Störung wie einer Depression oder Angststörung andererseits reichen. Im Mittel 20% der Brustkrebspatientinnen leiden beispielsweise an einer Depression. Aber nur in maximal 50% der Fälle wird eine vorhandene Depression auch diagnostiziert, und noch weniger Betroffene erhalten die angemessene Therapie. Dies hat mehrere Gründe: Viele Patientinnen berichten nicht von sich aus über ihre Beschwerden. Man muss deshalb aktiv nach den Symptomen einer Depression fragen. Zu diesen Symptomen gehören neben einer
2.5 · Besondere medizinische Situationen
bedrückten, niedergeschlagenen Stimmung vor allem ein Verlust an Interessen und Lebensfreude sowie Antriebsstörung und Energielosigkeit. Weitere Zeichen einer Depression sind vermindertes Selbstwertgefühl, Schuldgefühle, Pessimismus, Gefühle der Sinnlosigkeit und Selbstmordgedanken. Ein anderer Grund für die Unterdiagnose besteht darin, dass körperliche Beschwerden wie Appetitlosigkeit und Gewichtsverlust, Müdigkeit, Schlafstörungen, Konzentrationsstörungen und Schmerzen unterschiedlicher Lokalisation nicht nur Symptome einer Depression, sondern auch Folgen der Tumorerkrankung sein können und eventuell deshalb nicht zur Diagnose herangezogen werden. Schließlich existiert immer noch der Mythos, dass jeder Krebskranke als Folge der lebensbedrohlichen Krankheit eine Depression entwickelt oder gar entwickeln muss, um die Tumordiagnose zu verarbeiten. Merke
Depression darf nicht einfach als unvermeidliche Folge einer Krebserkrankung missverstanden werden, sondern ist eine psychische Störung von Krankheitswert und muss angemessen behandelt werden (Psychotherapie, Antidepressiva).
Eine Depression beeinträchtigt die Lebensqualität der Betroffenen, macht sie unzufrieden mit der ärztlichen Behandlung, verzögert die Krankenhausentlassung und steigert die Inanspruchnahme medizinischer Leistungen (z.B. Arztbesuche, Notfallbehandlungen). Die oben genannten Belastungen stellen zusammengenommen eine Bedrohung für das Erleben als selbstbestimmte, kompetente und vollständige Person dar. Dennoch kommen erstaunlich viele Menschen mit einer Krebskrankheit zurecht, ohne nachhaltig im emotionalen Befinden und der Alltagsbewältigung beeinträchtigt zu sein – und dies heißt nicht, dass sie ihre Belastung verleugnen würden und diese dann eben später umso stärker zum Ausbruch kommen wird. Die Bedingungen dieser Resilienz genannten Fähigkeit sind noch wenig erforscht.
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Modelle der Krebsverarbeitung Eine Krebserkrankung wird von vielen Betroffenen als bedrohlich, unvorhersehbar und unkontrollierbar erlebt. Um eine derartige Situation bewältigen zu können, ist es an erster Stelle wichtig, sich möglichst umfassend darüber zu informieren, was man unternehmen kann, um den Verlauf der Krankheit günstig zu beeinflussen. Deshalb haben Krebskranke im Allgemeinen ein sehr großes Informationsbedürfnis. 80 bis 95% der Befragten geben an, möglichst vollständig über ihre Erkrankung informiert werden zu wollen. An zweiter Stelle rangiert das Bedürfnis, bei Entscheidungen, die die Behandlung, Diagnostik und Nachsorge betreffen, einbezogen zu werden (7 Kap. 2.1.3). Dies heißt nicht unbedingt, selbst zu entscheiden, sondern meist eher, gemeinsam mit dem Arzt zu entscheiden bzw. vielleicht sogar nur vorher angehört zu werden, bevor der Arzt die letzte Entscheidung trifft. Modelle und Strategien der psychosozialen Krankheitsbewältigung werden in den Kap. 2.1.3 und 3.1.4 vorgestellt. Adaptivität der Krankheitsverarbeitung. Welche
Strategien günstig (adaptiv) sind und welche nicht (maladaptiv), ist nicht leicht zu sagen. Aktives Coping, wie aktive Auseinandersetzung und Konfrontation mit der Erkrankung und Kampfgeist, aber auch Humor, Akzeptanz, emotionaler Ausdruck und Suche nach sozialer Unterstützung gelten als adaptiv. Depressive Verarbeitung, wie Hoffnungslosigkeit, Resignation, Fatalismus und soziale Isolation sowie Unterdrückung von Gefühlen gelten als maladaptiv. Zur Adaptivität von Verleugnung bzw. Vermeidung gibt es zwiespältige Befunde. Teilweise scheinen diese Strategien zunächst zu helfen, Angst abzumildern, aber mittelfristig gehen sie mit schlechtem emotionalen Befinden einher. Was rät man Patienten? Einigen Patienten fällt es
aufgrund ihrer Persönlichkeit oder einer guten Prognose leicht, eine kämpferische Einstellung zur Krankheit einzunehmen – andere fühlen sich von diesem Anspruch überfordert. Wenn sie hören, dass von ihnen eigentlich eine »positivere« Einstellung erwartet wird, können sie unter Leistungsdruck ge-
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Kapitel 2 · Ärztliches Handeln
raten und meinen, bei der Krankheitsbewältigung zu versagen. Sie glauben sich zu »positivem Denken« verpflichtet und fürchten sich vor traurigen und angstvollen Gefühlen, die sie unterdrücken wollen. Das ist aber schwer möglich und führt nur zu zusätzlicher Belastung. Merke
Den Patientinnen sollte vermittelt werden, dass Trauer und Angst angesichts einer Krebserkrankung normal sind und dass man am besten mit ihnen umgeht, indem man ihnen einen gewissen Raum zugesteht – dann wirken sie nicht unbewusst weiter und »vergiften« das emotionale Befinden. Traurige Gefühle müssen kein Ausdruck von Depression sein, und sie stehen nicht unbedingt im Widerspruch zu positiven, hoffnungsvollen Gefühlen – beides kann nebeneinander existieren.
Insbesondere muss ein Patient nicht befürchten, durch traurige Gefühle seine Prognose negativ zu beeinflussen (7 Kap. 3.1.4). Gerade im Hinblick auf eine Verbesserung der Prognose ist keine bestimmte Bewältigungsstrategie angezeigt. Stattdessen sollten die Patienten ermuntert werden, die Art der Krankheitsbewältigung zu finden, mit der es ihnen persönlich am besten geht. Subjektive Krankheitstheorien. Im Rahmen der Krankheitsbewältigung entwickeln viele Krebskranke eine persönliche Vorstellung davon, warum sie Krebs bekommen haben. Sie wollen der Krankheit einen Sinn geben und die Frage »Warum gerade ich?« beantworten. Solche subjektiven Krankheitstheorien sollten zunächst einmal respektiert werden, auch wenn sie nicht mit dem Stand der Wissenschaft übereinstimmen. Wenn Patienten jedoch eine psychosomatische Ursachenvorstellung entwickeln, sollte man ihr emotionales Befinden genauer explorieren, denn diese Patienten sind oft sehr belastet. Die Idee, dass die Krebskrankheit Ausdruck der eigenen Persönlichkeit oder bestimmter Lebenserfahrungen ist, geht mit Schuldvorwürfen an sich selbst einher. Im
Gespräch lassen sich diese Selbstvorwürfe eventuell relativieren. Wissenschaftlich hat sich kein Zusammenhang zwischen bestimmten Persönlichkeitseigenschaften (»Krebspersönlichkeit«) oder dem Ausmaß an Depressivität und der Anfälligkeit für Krebs erwiesen. Auch zur Frage, ob belastende Lebensereignisse, z.B. der Verlust des Partners, als Auslöser wirken, gibt es keine eindeutige Evidenz. Aspekte von Schuld und Strafe, die Überzeugung, die Krankheit in irgendeiner Weise zu Recht bekommen zu haben, mischen sich häufig in subjektive Krankheitstheorien. Dahinter steht die weit verbreitete Vorstellung einer gerechten Welt, in der jeder das bekommt, was er verdient. Aus diesem Grund wird bei Menschen, die traumatische Ereignisse erlebt haben, nach dem Beitrag gesucht, den sie selbst zu dem Ereignis geleistet haben könnten (blaming the victim). Eine solche Viktimisierung ist in vielen Bereichen, beispielsweise auch bei Vergewaltigungen, zu beobachten. Wenn Krebspatienten eine solche Schuldzuweisung übernehmen, können sie vielleicht ihren Glauben an eine gerechte Welt retten – allerdings zu einem hohen Preis.
Psychische Unterstützung Ansprechpartner. Emotionale Unterstützung bei psychischen Belastungen wird in erster Linie vom Partner, anderen Familienangehörigen wie Eltern und Kindern sowie Freundinnen und Freunden geleistet (soziale Unterstützung, soziales Netzwerk; 7 Kap. 1.2.4 und 3.1.4). Primärer Ansprechpartner im Krankenhaus ist der behandelnde Arzt. Er kann in einem vertrauensvollen Gespräch die Belastung oft auffangen. Um eine Patientin bei ihrer Krankheitsbewältigung zu unterstützten, genügt es vollauf, ihr mit Geduld und Einfühlungsvermögen aktiv zuzuhören. Wichtige Voraussetzungen sind die Haltungen, die von der klientenzentrierten Gesprächstherapie beschrieben werden (Wertschätzung, Echtheit, Empathie; 7 Kap. 2.4.3). Selbst wenn man dann keine definitive Lösung für Probleme vorzuschlagen hat – und das ist die Regel –, so kann man doch etwas Wichtiges geben, nämlich Aufmerksamkeit und Zuwendung. Meist kann dadurch die Belastung in bewältigbaren Grenzen gehalten werden. Außerdem sinkt der emo-
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2.5 · Besondere medizinische Situationen
tionale Distress auch ohne professionelle Hilfe im Verlauf von Wochen und Monaten meist wieder auf ein normales Maß ab. Gelingt es nicht, die Belastung zu mildern, oder hält sie zu lange an, sollte der Patient aktiv an professionelle Psychotherapeuten, Beratungsstellen (z.B. Deutsche Krebshilfe) oder Selbsthilfegruppen vermittelt werden. Das prinzipielle Ziel der Psychotherapie Krebskranker besteht darin, die Kranken dabei zu unterstützen, die durch die Erkrankung ausgelösten emotionalen Belastungen zu verarbeiten. Hierbei ist es erforderlich, sich daran zu orientieren, was der Patient verarbeiten kann. Dies bedeutet, dass Verleugnung respektiert und nur dann vorsichtig konfrontiert werden sollte, wenn sie die medizinische Behandlung gefährdet. Im günstigsten, aber leider sehr seltenen Fall besteht in der Klinik ein psychoonkologischer Dienst oder ein psychosomatischer Liaison-Dienst (regelmäßige Tätigkeit eines Psychotherapeuten auf der Krebsstation), der auf den individuellen Bedarf zugeschnittene Interventionen wie Beratung, KurzzeitPsychotherapie, Familiengespräche, Kriseninterventionen oder Sterbebegleitung anbietet. Die Indikation hierfür muss in der Regel der behandelnde Arzt stellen. Die Patienten sind nämlich häufig in der Vorstellung befangen, dass sie ihren Zustand ertragen müssten, und kommen nicht von selbst darauf, nach professioneller Hilfe zu fragen. Nach groben Schätzungen bewältigt etwa die Hälfte der Patienten die auftretenden Belastungen mit ihren eigenen personalen oder sozialen Ressourcen und äußern daher kein Bedürfnis nach entsprechender fachlicher Unterstützung. Zwischen 20 und 40% der befragten Krebskranken wünschten in verschiedenen expliziten Befragungen speziell einen Kontakt mit einem Psychotherapeuten. Etwa ein Drittel nimmt im Verlauf der Erkrankung eine spezifische psychoonkologische Behandlung in Anspruch.
Psychoonkologische Interventionen Drei Arten von psychoonkologischen Interventionen kann man unterscheiden: 4 Supportiv-expressive (psychodynamische) Therapie will den Betroffenen helfen, sich mit ihrer Krankheit auseinanderzusetzen, die damit verbundenen Gefühle auszudrücken, Bewälti-
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gung zu fördern und einen Sinn zu finden (7 Kap. 2.4.3). 4 Kognitiv-behaviorale Therapie benutzt verhaltenstherapeutische Techniken, wie kognitive Umstrukturierung, Gedankenstopp bei belastenden Gedanken und imaginative Techniken sowie Entspannungsverfahren zur Schmerzbewältigung, mit dem Ziel, die Ressourcen der Patienten zu stärken und Bewältigungsmöglichkeiten zu fördern (7 Kap. 2.4.3). 4 Psychoedukative Interventionen werden meist in der Gruppe durchgeführt und basieren auf einem strukturierten Manual. Auch hier geht es um psychische Unterstützung. Zusätzlich erhalten die Patienten jedoch Information über die Krankheit und ihre Behandlung, und sie lernen Bewältigungsstrategien und Entspannungsverfahren (7 Kap. 2.4.2). Eine große Zahl von Studien hat gezeigt, dass psychoonkologische Interventionen wirksam sind im Hinblick auf die Verbesserung der Lebensqualität und des emotionalen Befindens der Teilnehmer. Entspannungsverfahren, z.B. Imaginationstechniken (7 Kap. 2.4.3) haben sich als sehr wirksam zur Verminderung von Therapienebenwirkungen, z.B. der Übelkeit bei Chemotherapie, erwiesen. Besonders günstig scheinen strukturierte psychoedukative Interventionen zu sein, während unstrukturierte Gruppentherapien, die lediglich dem Austausch von Gefühlen dienen, sogar schaden können. Wichtig ist es, den Teilnehmern der Intervention Erfolgserlebnisse zu vermitteln, indem sie beispielsweise bestimmte Bewältigungsformen aktiv ausprobieren können. Dies stärkt ihr Selbstwirksamkeitserleben (7 Kap. 3.1.2). Psychoonkologische Interventionen verlängern die Überlebenszeit jedoch nicht (7 Kap. 3.1.4). i Vertiefen Faller H (Hrsg) (2005) Psychotherapie bei somatischen Erkrankungen. Thieme, Stuttgart (breite Darstellung der psychotherapeutischen Möglichkeiten bei körperlich Kranken in den verschiedenen Versorgungsbereichen) Faller H., Hermelink K (2004) Krankheitsbewältigung. Stichworte für den ärztlichen Umgang mit den psychischen Aspekten von Brustkrebs. In: Untch M, Sittek H, Bauerfeind I (Hrsg) Diagnostik und Therapie des Mammakarzinoms. State of the art. Zuckschwerdt, München (leicht verständliche, praxisorientierte Einführung)
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Kapitel 2 · Ärztliches Handeln
2.5.5
Humangenetische Beratung
Zunehmend wird es möglich, Menschen über ihre eigenen genetischen Prädispositionen aufzuklären und ihnen individuelle Erkrankungsrisiken mitzuteilen. Dies ist traditionell eine Aufgabe der Humangenetik. Psychologische Fragestellungen konzentrieren sich in diesem Zusammenhang auf den persönlichen Nutzen, den sich Menschen von genetischen Informationen versprechen, sowie auf die Frage, welchen Einfluss das Wissen um bestimmte Erkrankungs- und Vererbungswahrscheinlichkeiten auf das emotionale Befinden, die familiären Beziehungen, gesundheitsbezogene Überzeugungen, das individuelle Gesundheitsverhalten und die Familienplanung ausübt.
Psychosoziale Aspekte Problemfelder. Die individuelle Erfassung und Ver-
mittlung von genetischer Information birgt vielfältige Probleme. Zahlreiche teilweise auch wissenschaftlich noch ungeklärte Sachverhalte müssen den ratsuchenden Laien erläutert werden. Damit sie eine persönliche informierte Entscheidung treffen können, müssen Fragen des Erkrankungsrisikos, der Vielfalt möglicher Mutationen, der eingeschränkten Sensitivität molekularbiologischer Untersuchungen und der manchmal fraglichen Effektivität risikoreduzierender Maßnahmen erklärt werden. Da die genetischen Informationen nicht nur das Individuum, sondern auch andere Familienmitglieder betreffen können, stellen sich Fragen des sozialen Rückhalts in der Familie, des Datenschutzes und ethische Fragen. Beispiel: Ein Familienmitglied möchte das Risiko einer späteren Krebserkrankung erfahren. Um dieses Risiko bestimmen zu können, ist es erforderlich, dass alle Mitglieder einer Hochrisikofamilie ihren Mutationsstatus bestimmen lassen. Andere Familienmitglieder weigern sich jedoch, eine molekulargenetische Untersuchung durchführen zu lassen. Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung schließt auch das Recht auf Nichtwissen ein. Auf der anderen Seite kann sich bei positivem Mutationsbefund eines Familienmitglieds die Frage stellen, ob Information an dritte Familienmitglieder weitergegeben werden darf oder muss, um Gefahren von ihnen abzuwenden.
äHereditärer Brustkrebs. In Deutschland erkrankt etwa jede 10. Frau bis zu ihrem 70. Lebensjahr an Brustkrebs. Bei 5–10% dieser Fälle treten familiäre Häufungen auf, die für eine genetische Disposition sprechen. In den 90er Jahren des letzten Jahrhunderts wurden zwei Gene identifiziert, BRCA1 und BRCA2, auf deren Mutationen ein Großteil der familiären Häufungen von Brustkrebs zurückgeht. Es handelt sich dabei um Tumorsuppressorgene. Hat eine Frau ein mutiertes Allel geerbt, steht ihr nur noch ein einziges funktionsfähiges Allel zur Verfügung. Wird dieses im Verlaufe ihres Lebens von einer sporadischen Mutation getroffen (second hit), ist die Funktionsfähigkeit verloren gegangen, und das Tumorrisiko steigt. Frauen, die ein mutiertes BRCA1 tragen, besitzen ein Risiko von 45–85%, bis zum 70. Lebensjahr an Brustkrebs zu erkranken. Bei BRCA2 liegt das Risiko zwischen 26 und 74%. Auch das Risiko für andere Tumorarten, insbesondere Eierstockkrebs, ist erhöht. Frauen aus Hochrisikofamilien, die an Brustkrebs erkrankt sind, können eine molekulargenetische Untersuchung auf BRCA1 und BRCA2 durchführen lassen. Ist eine solche Mutation identifiziert, besteht auch für gesunde Frauen und Männer dieser Familie die Möglichkeit zu erfahren, ob sie eine genetische Disposition für Mamma- oder Ovarialkarzinom tragen (prädiktive Diagnostik).
Erwartungen und Befürchtungen. Meist besteht bei Frauen aus Hochrisikofamilien ein sehr großes Interesse am Gentest. Die Erwartungen sind hoch, die Befürchtungen gering. Als Nutzen einer molekulargenetischen Untersuchung wird angegeben, das eigene Früherkennungsverhalten zu optimieren und das Erkrankungsrisiko ihrer Kinder zu erfahren. Die wenigen Frauen, die einer solchen Untersuchung ablehnend gegenüber standen, nannten als Nachteile am häufigsten die Ungenauigkeit der Diagnostik, die bleibende Ungewissheit und die antizipierten emotionalen Belastungen. Den Vorteilen von Gentests, wie Beseitigung der Ungewissheit, Möglichkeit intensivierter Früherkennungs- und prophylaktischer Maßnahmen, bessere Familien- und Lebensplanung, verringerte Angst und verbesserte Lebensqualität, stehen potentielle Nachteile gegenüber, wie die Gefahr der Stigmatisierung und Diskriminierung am Arbeitsplatz
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2.5 · Besondere medizinische Situationen
oder durch Versicherungen. In Deutschland haben Versicherungen bisher freiwillig darauf verzichtet, Informationen aus Gentests zur Berechnung der Krankheitsrisiken heranzuziehen. Psychische Probleme. Eine genetische Untersuchung scheint nur wenige psychische Risiken zu bergen. Im Durchschnitt weisen Ratsuchende, die zur genetischen Diagnostik bei hereditären Krebserkrankungen kommen, im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung weder vor noch nach der genetischen Testung eine erhöhte emotionale Belastung auf. Die bei Einzelnen vorhandene Belastung sinkt nach Ergebnismitteilung bei negativem Testergebnis deutlich ab, und selbst bei positivem Test kommt es zu keinem Anstieg. Lediglich Subgruppen, die wenig auf einen Mutationsbefund vorbereitet sind bzw. die Verarbeitung eines Mutationsbefundes unterschätzen, können eine betreuungsbedürftige Belastung aufweisen. Stärker belastet waren ebenfalls diejenigen Personen, die eine genetische Untersuchung ablehnten bzw. den vorliegenden Befund nicht erfahren wollten. Merke
Weder vor noch nach der genetischen Testung weisen die Betroffenen eine außergewöhnliche psychische Belastung auf.
Auch nach molekulargenetischer Untersuchung und genetischer Beratung bleibt allerdings die Risikoeinschätzung oft unrealistisch hoch, zumal wenn eine Frau starke Angst vor Krebs hat. Es reicht also nicht aus, das Wissen der Frauen zu korrigieren und ihnen die entsprechende Information zu vermitteln; zusätzlich muss auch die emotionale Belastung einbezogen und ggf. abgemildert werden. Hintergrund der psychischen Belastung kann z.B. eine problematische Mutter-Tochter-Beziehung sein. Die Mutter befürchtet, das mutierte Gen an ihre Tochter weitergegeben zu haben und leidet deshalb unter Schuldgefühlen. Die Tochter selbst hat jedoch möglicherweise gar kein Interesse an einer genetischen Untersuchung und möchte deren Ergebnis nicht mitgeteilt bekommen. Frauen, die nicht aus Hochrisikofamilien stammen, wünschen manchmal aufgrund übertriebener
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Krebsängste eine genetische Testung. In diesem Fall ist es wichtig, die Krebsängste abzumildern, da eine molekulargenetische Untersuchung bei Angehörigen der Allgemeinbevölkerung nicht aussagekräftig wäre. Prävention. Frauen mit einem erhöhten Erkran-
kungsrisiko wird ein engmaschiges Früherkennungsprogramm empfohlen. Allerdings weisen die gegenwärtigen Daten nicht darauf hin, dass Personen nach genetischer Testung ihr Gesundheitsverhalten ändern. Zur Prophylaxe können Chemoprävention mit Antiöstrogenen und prophylaktische Ovarektomie und Mastektomie eingesetzt werden. Durch diese Maßnahmen lässt sich das Erkrankungsrisiko um über 90% reduzieren. Eine prophylaktische Mastektomie mag für Außenstehende zunächst als sehr radikale Maßnahme erscheinen. Für Frauen, die aus Hochrisikofamilien stammen, in denen über Generationen hinweg die Mütter früh starben, bevor die Kinder erwachsen waren, ist dies jedoch manchmal ein gangbarer Weg. In der Abwägung zwischen dem Überleben und der körperlichen Unversehrtheit entscheiden sie sich für das Überleben. Nach den bisherigen Studien bereuen die wenigsten Frauen diese Entscheidung. In einer Studie zeigte sich bei denjenigen Frauen, die eine prophylaktische Mastektomie durchführen ließen, sechs Monate später eine Abnahme der psychischen Belastung im Unterschied zu Frauen, die die Mastektomie abgelehnt hatten. In den ersten Jahren danach wiesen die meisten Frauen keine bedeutsamen psychischen oder Körperbildprobleme auf. Nur eine Subgruppe zeigte Auffälligkeiten. Interventionsbedürftige emotionale Beeinträchtigungen traten insbesondere bei chirurgischen Komplikationen oder schon vorher bestehenden Partnerkonflikten auf.
Pränataldiagnostik Häufig suchen Eltern vor oder während einer Schwangerschaft humangenetische Beratung auf, weil sie eine Erbkrankheit oder Missbildung befürchten (z.B. Trisomie 21, Down-Syndrom). Durch die genetische Untersuchung kann zwar auf der einen Seite Sicherheit gewonnen werden. Auf der anderen Seite aber können neue ethische Konflikte auftreten, wenn die Frau gemeinsam mit ihrem Partner entscheiden muss, ob sie die Schwangerschaft
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Kapitel 2 · Ärztliches Handeln
abbrechen will oder nicht. Dabei können Partnerkonflikte zum Vorschein kommen, die bisher noch nicht ausgesprochen waren.
Interdisziplinäre Beratung Sowohl vor einer genetischen Testung als auch nach der Befundmitteilung ist eine ausführliche Beratung notwendig. Dies schon deshalb, weil sehr viele Frauen, insbesondere diejenigen, die nicht aus Hochrisikofamilien stammen, ihr Mutationsrisiko stark überschätzen. Humangenetische Beratung sollte grundsätzlich nondirektiv erfolgen. Der Berater sollte dem Patienten keine Entscheidungen nahe legen, sondern die Möglichkeiten und Grenzen der jeweiligen Optionen darlegen und ihn dazu befähigen, aufgrund dieser Information selbst eine Entscheidung zu treffen (Empowerment). In einem Modellprojekt der Deutschen Krebshilfe hat sich eine interdisziplinäre Beratung bewährt, in der Humangenetiker, Gynäkologen und Psychologen zusammenarbeiteten. Aufgabe des Psychologen war es insbesondere, die Erwartungen der Patienten zu klären und eventuelle Entscheidungskonflikte zu besprechen. Auch schwierige familiäre Beziehungen waren Thema. Die meisten Interessenten erwarteten von den Experten, in ihrer Entscheidung zur genetischen Testung bestärkt zu werden, und hatten weniger Interesse daran, deren Einschränkungen und mögliche negative Konsequenzen zu diskutieren. Obwohl sich die interdisziplinäre Beratung als hilfreich erwiesen hat, ist sie doch mit einem hohen Aufwand verbunden. In Zukunft ist deshalb zu erwarten, dass immer mehr Frauen ausschließlich durch ihren Allgemeinarzt oder Gynäkologen beraten werden. Um auch hier eine qualitativ hochwertige Beratung zu gewährleisten, wurden Leitlinien und Manuale entwickelt. Sehr kritisch zu sehen ist demgegenüber eine Testung ohne Beratung, z.B. mittels Angeboten aus dem Internet. Gene spielen zwar für die allermeisten Krankheiten eine Rolle. Bei vielen Krankheiten, insbesondere auch chronischen Erkrankungen, sind jedoch viele Gene wie auch viele Umweltfaktoren beteiligt. Der Einfluss eines einzelnen Gens ist deshalb relativ gering. Da diese Gene zudem in der Bevölkerung sehr häufig sind, lohnt sich eine genetische Diagnostik nicht.
Es gibt jedoch auch Krankheiten, die durch die Mutation eines einzelnen Gens hervorgerufen werden, dessen Penetranz 100% beträgt, d.h. dass alle Mutationsträger im Laufe ihres Lebens erkranken. Ein Beispiel hierfür ist die Chorea Huntington, eine autosomal-dominante Erbkrankheit. Ihre Symptome, unwillkürliche Bewegungen, Verlust der Impulskontrolle und intellektueller Abbau, beginnen etwa im 4. Lebensjahrzehnt, also nachdem der oder die Betroffene bereits Kinder hat. Sie führt nach etwa 15 bis 20 Jahren zum Tode. Obwohl es bisher keine kausale Behandlung gibt, nehmen Kinder betroffener Eltern Gentests in Anspruch, um die schwer erträgliche Ungewissheit zu beseitigen. i Vertiefen Worringen U, Vodermaier A, Faller H, Dahlbender RW (2000) Psychotherapeutische Aufgaben im Rahmen molekulargenetischer Diagnostik bei familiärem Brust- und Eierstockkrebs. Zeitschrift für klinische Psychologie, Psychiatrie und Psychotherapie 48: 135–150 (Beschreibung häufiger Problemsituationen bei der interdisziplinären Beratung anhand vieler Fallbeispiele) Worringen U, Faller H (Hrsg) (2003) Schwerpunktheft Prädiktive Diagnostik. Zeitschrift für Medizinische Psychologie 12:145–192 (Überblick über unterschiedliche Aspekte der prädiktiven Diagnostik von der Beratungssituation bis hin zu Einstellungen bei Medizinstudenten und in der Allgemeinbevölkerung)
2.5.6
Reproduktionsmedizin
Demographische und medizinische Grundlagen Lebensplanung und generatives Verhalten. Seit-
dem durch die »Pille« die Möglichkeit einer fast sicheren Empfängnisverhütung besteht und Sexualität von der Fortpflanzung entkoppelt ist, können Familiengründungen besser geplant werden – oder auch »verpasst«. Inzwischen werden in Deutschland nicht nur immer weniger Kinder geboren – in den letzten 40 Jahren hat sich die Zahl der Geburten hier nahezu halbiert (7 Kap. 1.4.9) –, innerhalb Europas steht der Geburtsjahrgang 1955 aller (gewollt und ungewollt) kinderlosen Frauen in Deutschland mit 22% an erster Stelle (zum Vergleich: 8% in Frankreich). Prävalenz äungewollter Kinderlosigkeit. Als ungewollt kinderlos gelten Paare mit Kinderwunsch, bei
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2.5 · Besondere medizinische Situationen
denen es trotz regelmäßigen ungeschützten Geschlechtsverkehrs innerhalb eines Jahres nicht zu einer Schwangerschaft gekommen ist. In Deutschland gelten 3–9% der Paare mit Kinderwunsch als ungewollt kinderlos; es wartet allerdings jede dritte Frau länger als ein Jahr auf eine Schwangerschaft. Das Durchschnittsalter der Erstgebärenden in Deutschland stieg innerhalb der letzten zweieinhalb Jahrzehnte von ca. 25 Jahren auf jetzt über 29 Jahre. Das Alter der Frau gilt als wichtigster prognostischer Faktor für den Schwangerschaftseintritt. Die Risikofaktoren Übergewicht und Chlamydieninfektion nehmen bei Frauen durchschnittlich zu, so dass allein aus diesen drei Gründen von einem weiteren Anstieg ungewollter Kinderlosigkeit ausgegangen werden muss. Ursachen. Die medizinischen Ursachen sind auf Frauen und Männer etwa gleich verteilt: 25–30% gynäkologischer oder andrologischer Faktor, 30–40% kombiniert und 10–15% ohne psychische oder organische Ursache (= idiopathische Infertilität). Verfahren der assistierten Reproduktion (ART). Zu den reproduktionsmedizinischen Verfahren im engeren Sinne zählen: 4 Intrauterine Insemination (IUI). Das Einbringen von Sperma in die Gebärmutter mittels Katheter. 4 In-vitro-Fertilisation (IVF). Nach Hormonstimulation punktierte Eizellen werden mit Sperma in der Petrischale kultiviert. Nach einigen Tagen im Brutschrank Rücktransfer von zwei bis maximal drei befruchteten Eizellen in die Gebärmutter. 4 Intrazytoplasmatische Spermieninjektion (ICSI). Punktion und Rücktransfer wie bei der IVF, dazwischen Mikroinjektion eines Spermiums in die Eizelle.
Diese Behandlungen werden immer öfter in Anspruch genommen: Betrug 1998 die Zahl der behandelten Frauen noch ca. 30.000, waren es fünf Jahre später mehr als doppelt so viele. Der Prozentsatz der Lebendgeburten (»Babytake-home«-Rate) liegt pro abgeschlossenem IVFbzw. ICSI-Zyklus im Durchschnitt bei ca. 14%. Nach
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drei Behandlungszyklen bleiben damit 50–80% der Paare weiterhin kinderlos. Hauptrisiko sind Mehrlingskinder. Die Rate der Zwillingsgeburten ist um das 20fache, die der Drillingsgeburten um das 200fache gegenüber spontan gezeugten Kindern erhöht, d.h. ca. 24% aller Geburten nach ART sind Mehrlingsgeburten (ca. 38% Mehrlingskinder). Mit Mehrlingsschwangerschaften sind erhebliche medizinische und psychologische Risiken sowohl für die werdende Mutter als natürlich auch für die Kinder zu erwarten (s.u.).
Psychosoziale Merkmale ungewollt kinderloser Paare Die psychosomatische Sicht dominierte über Jahrzehnte ein stark pathologieorientierter Blick – fast ausschließlich auf die »sterile Frau« –, was sich in der Laienpresse, aber auch in etlichen Ratgeberbüchern weiterhin noch häufig fortsetzt: So seien insbesondere die Frauen in ihrer Persönlichkeit stark gestört, hätten unbewusst erhebliche Ängste bezüglich Schwanger- bzw. Elternschaft oder die Partnerschaft lasse eine Schwangerschaft nicht zu. Systematische Studien entkräften all diese Vorurteile durchweg. Merke
Ungewollt kinderlose Paare weisen keine ungewöhnlichen psychischen Auffälligkeiten auf.
Es zeigt sich nur eine leicht erhöhte Depressivität, Ängstlichkeit und vermehrt Körperbeschwerden bei vielen Frauen, die als Folge der reproduktionsmedizinischen Diagnostik bzw. Therapie interpretiert werden können. Bei Kinderwunschpaaren liegt der Anteil psychopathologisch auffälliger Personen mit 15 bis maximal 20% keinesfalls höher als in der Allgemeinbevölkerung. Auch die Partnerschaft dieser Paare ist absolut unauffällig. Mit längerer Behandlungsdauer stellen sich ungewollt kinderlose Frauen mit ihrer Partnerschaft im Durchschnitt sogar zufriedener dar. Eine hohe Ambiguitätstoleranz bedeutet hier, sich durch die üblichen Mehrdeutigkeiten und Widersprüchlichkeiten der Kinderwunschmotive nicht verunsichern zu lassen. Sie hilft in der Regel, die Belastung durch den unerfüllten Kinderwunsch zu verringern.
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Kapitel 2 · Ärztliches Handeln
Stress und Fruchtbarkeit
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Es gibt in der wissenschaftlichen Literatur diverse Modelle, die versuchten, psychischen Stress und das reproduktive System zu verbinden. So solle Stress beispielsweise zu Tubenspasmen führen können oder zu einer eingeschränkten Spermatogenese. Dies würde die Fruchtbarkeit beeinträchtigten, was dann Schuld- und Schamgefühle und Wut zur Folge hätte und als emotionaler Stress wiederum das reproduktive System beeinflusse. Diese Zusammenhänge sind bisher nur postuliert und noch nicht ausreichend untersucht worden. Aus wissenschaftlicher Sicht sind die Zusammenhänge zwischen psychischem Stress und Fruchtbarkeitsstörungen also keineswegs geklärt.
Psychische Auswirkungen reproduktionsmedizinischer Maßnahmen Viele Studien haben ergeben, dass Infertilität von sehr vielen Frauen als schlimmste emotionale Krise empfunden wird, manchmal gleichzusetzen mit dem Verlust eines nahe stehenden Angehörigen. Hinzu kommt die nicht nur zeitlich, sondern auch emotional und finanziell aufwendige reproduktionsmedizinische Behandlung, die für viele Frauen zusätzlich eine starke psychische Belastung darstellt, vor allem nach »erfolglosen« Behandlungszyklen, mit der damit einhergehenden »Achterbahn der Gefühle«. Deshalb kann man davon ausgehen, dass die gefühlsmäßige Belastung mit der Zahl erfolgloser Behandlungszyklen in den ersten Jahren einer solchen Behandlung bei vielen Frauen erst einmal ansteigt. Liegt zudem eine idiopathische Sterilität vor, führt dies häufig zu der fälschlichen Gleichsetzung mit psychisch bedingter Fertilitätsstörung (»psychogene Sterilität«), was die betroffenen Paare in der Regel noch mehr in Form von Schuldgefühlen unter Druck setzt. Auch bei vollständiger Kostenübernahme nehmen bis zur Hälfte der Paare trotz Misserfolges nicht alle angebotenen Behandlungszyklen in Anspruch, in erster Linie wegen der emotionalen Belastungen der ART.
Entwicklung der Kinder nach ART In den neueren Studien finden sich keine Häufungen gravierender Auffälligkeiten in der sozialen und psychischen Entwicklung von Kindern nach ART. Die-
ses gilt auch für die Paarbeziehung und die ElternKind-Beziehung. Mehrlingsproblematik. Familien mit Mehrlingen nach ART erscheinen nicht nur aus medizinischer, sondern auch aus psychologischer Sicht eindeutig als Hochrisikogruppe. Mehrlingskinder neigen vermehrt zu Verhaltens- und Sprachentwicklungsstörungen, Mehrlingsmütter haben eine signifikant größere Chance, Depressionen zu entwickeln, Mehrlingseltern trennen sich häufiger als Ein- oder Zwei-Kind-Eltern. Während die psychische und soziale Entwicklung von Einlingen oder Zwillingen nach ART also eher unauffällig erscheint, wiegen die Risiken der körperlichen Entwicklung höher: Es gibt für alle Kinder nach ART ein höheres Risiko für chromosomale Anomalien, im Vergleich zu spontan gezeugten Kindern. Während mit einer schweren Fehlbildung bei einem Kind nach Spontankonzeption bei jeder 15. Schwangerschaft zu rechnen ist, betrifft dies in Deutschland jede 12. Schwangerschaft nach ART.
Langfristige Folgen ungewollter Kinderlosigkeit Systematische Studien haben gezeigt, dass es nur geringe Unterschiede in der Lebensqualität und der Lebenssituation zwischen kinderlos gebliebenen Paaren und Paaren mit Kindern gibt. Prognostisch günstig ist dabei, wenn kinderlos Gebliebene diese Situation positiv neu bewerten und akzeptieren können, aktiv nach Alternativen suchen und soziale Kontakte aufrechterhalten und ausbauen. Entsprechend prognostisch ungünstig sind Grübeln, das Gefühl der Machtlosigkeit und des Versagens sowie eine weiterhin starke Fokussierung auf Kinder als wichtiges Lebensziel.
Ziele, Ablauf und Effekte psychologischer Kinderwunschberatung Beratungsziele. Als primäre Ziele werden häufig
genannt, den Paaren eine bessere Bewältigung der Kinderlosigkeit zu ermöglichen, Entscheidungshilfen bezüglich medizinischer Therapieschritte anzubieten, potenziell auftretende Paarkonflikte zu vermindern, die Kommunikation des Paares miteinander, mit den Ärzten und mit der sozialen Umwelt zu verbessern, die Akzeptanz bei erfolgloser medizini-
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2.5 · Besondere medizinische Situationen
scher Therapie zu fördern und das Paar in der Findung alternativer Perspektiven zu unterstützen. Elemente des Beratungsablaufs
4 Transparenz: Ablauf, Inhalte und Ziele der Beratung werden dem Paar erläutert und begründet. 4 Paarzentrierung: Der Kinderwunsch wie auch der Umgang damit geht beide Partner an. Es ist sinnvoll, gemeinsame Lösungsansätze zu entwickeln. 4 Klärung und Entlastung: Informationen darüber, dass fast jedes Paar die Sexualität während der Kinderwunschbehandlung als beeinträchtigt empfindet. 4 Ressourcenaktivierung: Die Gestaltungsmöglichkeiten des Paares in der jetzigen Situation der Kinderlosigkeit werden gestärkt. 4 Begrenztheit: Eine begrenzte Zahl an Sitzungen hat eine entängstigende und zentrierende Funktion. 4 Ergebnisoffenheit: Die Beratung ist den verschiedenen Behandlungsansätzen gegenüber aufgeschlossen und versucht, eine für das jeweilige Paar möglichst tragfähige einvernehmliche Lösung zu entwickeln. Effekte psychosozialer Interventionen. Bei der
Mehrzahl der Frauen reduziert bereits ein niederschwelliges Angebot die emotionale Belastung deutlich. Noch befürchtet allerdings ein erheblicher Prozentsatz von Paaren mit unerfülltem Kinderwunsch eine Stigmatisierung und emotionale Labilisierung durch eine psychologische Beratung. Eine Verbesserung der Schwangerschaftschancen durch psychosoziale Interventionen ist eher unwahrscheinlich. i Vertiefen Spiewak M (2005) Wie weit gehen wir für ein Kind? Im Labyrinth der Fortpflanzungsmedizin. Eichborn, Frankfurt/ Main (gut recherchiertes Buch zu allen Aspekten der Reproduktionsmedizin) Stammer H, Verres R, Wischmann T (2004) Paarberatung und -therapie bei unerfülltem Kinderwunsch. Hogrefe, Göttingen (Beratungsmanual mit vielen Fallbeispielen) Strauß B, Brähler E, Kentenich H (Hrsg) (2004) Fertilitätsstörungen – psychosomatisch orientierte Diagnostik und Therapie. Leitlinie und Quellentext. Schattauer, Stuttgart (Leitlinie mit Übersicht über den aktuellen Forschungsstand)
2.5.7
2
Sexualmedizin
Menschliche Sexualität ist vielschichtig. In biologischer Sicht erscheint sie als eine spezialisierte Form der Fortpflanzung, als Reproduktion. Im Erleben des Subjekts vermittelt Sexualität die Erfahrung von Lust, Freude am eigenen Körper, verbunden mit dem narzisstischen Aspekt der Selbstbestätigung, des Selbst- und Lebensgefühls. Im zwischenmenschlichen Bereich zeigt sich Sexualität wesentlich als eine Form der Bezogenheit auf andere. Sexualität verschafft Intimität und Nähe, wie sie anders in zwischenmenschlichen Bezügen kaum zu ermöglichen ist. Diese in der Sexualität erfahrene Nähe kann enorme Glücksgefühle vermitteln, kann aber auch enorme Ängste wecken, Ängste z.B., dass man dem anderen ausgeliefert ist, im Verschmelzungserlebnis die Selbstkontrolle verliert. Die Besonderheit der menschlichen Sexualität liegt darin, dass sie mit allen psychischen Bereichen eng verflochten sein kann, so z.B. mit Macht- und Geltungsstreben, mit den Motiven nach Anerkennung und Leistung. Nicht zuletzt ist diese Verschränkung für die später zu behandelnden sexuellen Funktionsstörungen mitverantwortlich. Ein Scheitern im Beruf, ein tiefer Einbruch in das Selbstwertgefühl kann auch auf sexuellem Gebiet zur »Impotenz« führen.
Psychosexuelle Entwicklung Die psychoanalytischen Stadien der psychosexuellen Entwicklung wurden in Kap. 1.2.3 beschrieben. Von der Psychoanalyse, wie zum Teil auch von der Lernpsychologie, werden Identifikationsprozesse für den Verhaltenserwerb verantwortlich gemacht. Durch Identifikation mit dem Vater, die dann auf alles Männliche generalisiert wird, übernimmt der Junge auch die geschlechtstypischen Verhaltensweisen des Vaters, die männlichen Charakterzüge. Das Mädchen setzt sich an die Stelle der Mutter, wie sie es in ihren Spielen schon immer getan hat. Für den Jungen sei diese Entwicklung problematischer, da er zu einer »Entidentifizierung« kommen müsse, d.h. eine anfängliche Identifizierung mit der primären Bezugsperson Mutter zu beenden und sich mit einer männlichen Person zu identifizieren habe. Männer seien deshalb für das Problem der Geschlechtsidentität anfälliger als Frauen, die ihre anfängliche Iden-
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Kapitel 2 · Ärztliches Handeln
tifizierung mit der Mutter durchgängig aufrechterhalten können. Im Folgenden werden empirische Befunde zur Geschlechtsentwicklung in Anlehnung an Asendorpf (2004) dargestellt.
aus eine gewisse Unabhängigkeit vom Geschlechtsstereotyp zeigen. Von der Kindergartenzeit an bevorzugen Kinder Spielpartner oder Freunde des eigenen Geschlechts. Diese Präferenz, die ihr Maximum in der Vorpubertät erreicht, bleibt abgeschwächt bis ins junge Erwachsenenalter bestehen.
Bindungsstile. Studien deuten an, dass ein »sicherer
Bindungsstil« (7 Kap. 1.4.7) mit einer vergleichsweisen geringeren Präferenz für das Erleben von Sexualität außerhalb einer eingegangenen Beziehung einhergeht. Auch scheint der körperliche Kontakt in der sexuellen Begegnung weniger Probleme zu bereiten. Personen mit »ambivalenter Bindung« scheinen vor allem Zärtlichkeit, »Gehaltenwerden« im sexuellen Kontakt zu suchen. Solche mit »vermeidendem Bindungsstil« zeigen häufiger ein Verhalten von »Sexualität ohne Liebe«. Geschlechtsstereotyp. Die Geschlechtsentwicklung
steht unter dem Einfluss biologischer Faktoren (chromosomales Geschlecht, das sich in den äußeren Geschlechtsmerkmalen manifestiert) und kulturellen Faktoren (Geschlechtsstereotyp). Das Geschlechtsstereotyp umfasst alle Wahrnehmungen, Erwartungen und Einstellungen gegenüber dem Geschlecht. Diese prägen das individuelle Verhalten. Sie können jedoch Geschlechtsunterschiede nicht vollständig erklären, da solche schon intrauterin auftreten (größere motorische Aktivität des männlichen Fetus). Unter dem Einfluss von Geschlechtshormonen kommt es zur geschlechtsspezifischen Differenzierung bestimmter Gehirnstrukturen (neuronales Geschlecht). In der weiteren Entwicklung spielen aber auch geschlechtstypische Umwelterfahrungen eine wichtige Rolle. Das Geschlechtsstereotyp beinhaltet u.a., dass Frauen eher bereit sind, über ihre Gefühle zu sprechen und psychische Probleme zuzugeben. Dies trägt zur höheren Prävalenz psychischer Störungen bei Frauen bei. Geschlechtspräferenzen. Das Geschlechtskonzept wird ab dem 2. Lebensjahr erworben. Drei- bis vierjährige Vorschulkinder können das Geschlecht einer Person richtig zuordnen und geschlechtstypische Präferenzen gegenüber Gegenständen (Auto, Puppe) benennen. In der Vorschulzeit ist das Geschlechtskonzept noch rigide, in der Grundschulzeit wird es flexibler. Individuelle Präferenzen und geschlechtstypisches Verhalten können jedoch durch-
Sexuelle Orientierung. Über 90% der befragten
Männer und Frauen bezeichnen sich als heterosexuell, zwischen 2 und 3% als homosexuell und zwischen 4 und 5% als bisexuell. Die sexuelle Orientierung ist mittelfristig stabil. Sie steht unter einem substantiellen genetischen Einfluss, der die Orientierung jedoch nicht alleine erklären kann. In der Kinderzeit fallen spätere homosexuelle Männer dadurch auf, dass sie häufiger Spielpartner des anderen Geschlechts bevorzugen. Der erste homosexuelle Kontakt findet durchschnittlich erst drei Jahre nach dem ersten Interesse am eigenen Geschlecht statt. Homosexualität lässt sich also nicht durch Verführung erklären. Auch fand sich kein Einfluss des Erziehungsstils oder der Präferenz der Eltern. Sexualverhalten und Partnerwahl. Auch im Sexual-
verhalten und der Partnerwahl lassen sich Geschlechtsunterschiede feststellen. Männer haben etwas häufiger sexuelle Kontakte ohne emotionale Bindung sowie Masturbation. Die Unterschiede nahmen in den letzten Jahrzehnten aber ab. Bei der Partnerwahl ist physische Attraktivität der Partnerin für Männer wichtiger, für Frauen sozialer Status und Ehrgeiz des Partners.
Psychophysiologische Grundlagen sexueller Reaktionen Die psychophysiologischen Erregungsabläufe beim Sexualakt sind vor allem durch den Gynäkologen William H. Masters und die Psychologin Virginia E. Johnson untersucht worden. Es zeigte sich eine Vier-Phasen-Struktur des Sexualzyklus sowohl für die Frau als auch den Mann: 4 Erregungsphase, 4 Plateauphase, 4 Orgasmusphase, 4 Rückbildungsphase. Erregungsphase. Diese Phase ist durch das Gefühl sexueller Lust und die begleitenden physiologischen
2.5 · Besondere medizinische Situationen
Veränderungen gekennzeichnet. Bei der Frau kommt es zu vermehrter Durchblutung (Vasokongestion) im Becken, Lubrikation (Feuchtwerden) und Ausdehnung der Vagina, extragenital zur Erektion der Mamillen und Größenzunahme der Brüste, beim Mann infolge einer Zunahme der genitalen Durchblutung zu einer Erektion des Penis. Zeitlich bildet die Erregungsphase den längsten Teil des Reaktionszyklus, sie ist durch äußere Einwirkungen oder auch innere Hemmungen leicht störbar. Bei Nachlassen der stimulierenden Reize oder bei Störung kann die Erektion schnell wieder verloren gehen. Wird die wirksame sexuelle Stimulierung fortgeführt, kommt es zur Plateauphase. Plateauphase. Darunter ist eine hohe Stufe sexueller
Spannung zu verstehen, von der aus der Orgasmus möglich wird oder auch ein langsames Abfallen der Spannung und Rückbildung der Erregung eintritt. So können eine unzureichende Stimulierung oder auch eine Unterbrechung der Reizung wie auch eine unzureichende Orgasmusbereitschaft eine Steigerung zum Orgasmus verhindern. Bei der Frau ist extragenital ist ein weiteres Anschwellen der Mamillen und weitere Größenzunahme der Brust charakteristisch. Genital wird die Klitoris an den vorderen Rand der Symphyse gezogen, und es kommt zur Ausbildung der sog. »orgastischen Manschette« des äußeren Scheidendrittels. Beim Mann vergrößert sich das Hodenvolumen. Atem- und Pulsfrequenz sowie Blutdruck steigen an. Orgasmusphase. Eine maximale Steigerung der Stimulation führt jetzt den Orgasmus herbei. Dieser Höhepunkt der sexuellen Lust unter Lösung sexueller Spannung ist körperlich durch rhythmische Kontraktionen (unwillkürliche Bewegungen) der perinealen Muskulatur und der Sexualorgane, bei der Frau der »orgastischen Manschette« wie auch des Uterus, beim Mann der Becken- und Harnröhrenmuskulatur gekennzeichnet. Die Ejakulation tritt ein. Ist der Samenerguss einmal in Gang gekommen, ist es nicht mehr möglich, den Ablauf willkürlich zu bremsen. Muskuläre Anspannung, Atemfrequenz, Pulsfrequenz und Blutdruck erreichen ihr Maximum. Subjektiv wird dieser Höhepunkt der Erregung häufig durch eine Einengung der äußeren Sinneswahrnehmung beschrieben; bezeichnend auch
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die Empfindung einer Wärmeausbreitung, die vom Becken ausgehend schließlich den ganzen Körper erfasst. Rückbildungsphase. Diese Phase ist durch ein Gefühl muskulärer Entspannung und allgemeinen Wohlbefindens gekennzeichnet. Pulsfrequenz, Blutdruck und Atemfrequenz normalisieren sich. Bei der Frau schwellen Mamillen und Brüste sowie die orgastische Manschette ab, die Klitoris kehrt in ihre Normallage zurück, ebenso die Labien. Beim Mann geht die Erektion zurück, wobei jetzt gegen eine unmittelbar erneute sexuelle Stimulierung ein psychophysiologischer Widerstand besteht (Refraktärzeit), wogegen Frauen fast unmittelbar auf weitere Stimulation reagieren.
Unterschiede im Erregungsablauf zwischen Frau und Mann 4 Der sexuelle Erregungsablauf ist bei der Frau variabler als beim Mann. Die sexuelle Befriedigung ist beim Mann an die Orgasmusejakulation gebunden, während manche Frauen auch ohne einen solchen physiologisch messbaren Höhepunkt zu einer für sie sexuell befriedigenden Erfahrung kommen können. 4 Die Verlaufskurve der sexuellen Erregung ist bei der Frau während des Koitus sowohl insgesamt als auch in den einzelnen Phasen länger. Während der Mann in weniger als einer Minute alle Phasen der sexuellen Erregung im Verkehr durchlaufen kann, ist dies bei der Frau nicht möglich. 4 Der Mann hat nach der Orgasmusejakulation eine absolute Refraktärphase von einigen Minuten, in der er sexuell nicht ansprechbar ist. Die Frau hat dies nicht: sowohl im Hinblick auf die Plateauphase als auch in der Fähigkeit zu wiederholten Orgasmen mit entsprechenden Muskelkontraktionen. 4 Der Mann kann in Phantasien sowie visuell stärkere Anregungen erfahren als die Frau. Dieses Ergebnis wird allerdings in neueren Untersuchungen in Frage gestellt, zumindest bei Filmen sei die Stimulation eher gleich. Bei den meisten Frauen ist indessen die sexuelle Anregung mehr an körperliche Berührungen, an Zärtlichkeiten gebunden. Die Frau scheint so
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Kapitel 2 · Ärztliches Handeln
eher konkret partnerbezogen zu sein als der Mann. 4 Mehr als der Mann scheint die Frau von äußeren situativen Einflüssen, vom Partnerkontakt, abhängig zu sein. Insofern ist die Frau bei der Sexualbetätigung selbst ablenkbarer und störbarer. Aufgrund dieser offensichtlich mehr situativen Abhängigkeit der Frau ist gerade für sie ein Gefühl der Sicherheit und Geborgenheit wichtig. So hatte sich gezeigt, dass vor allem solche Frauen Orgasmusschwierigkeiten angeben, die Trennungs- und Verlustängste haben. Damit mag auch zusammenhängen, dass eine verheiratete oder in fester Partnerschaft lebende Frau in der Regel orgasmusfähiger ist. Wohl deshalb hat auch die Mehrzahl der Frauen Schwierigkeiten, bei den ersten sexuellen Kontakten zu einer vollen Befriedigung zu kommen; die Orgasmusfähigkeit der Frau steigt erst allmählich an. 4 Die Triebintensität in den einzelnen Lebensphasen ist bei Mann und Frau verschieden. Beim Mann ist die stärkste Triebintensität bereits im Alter von 17–18 Jahren erreicht. Bei der Frau hingegen ist die Fähigkeit und Bereitschaft zum intensivsten sexuellen Erleben zwischen 30 und 40 gegeben, in einem Alter also, wo beim Mann die Triebintensität schon wieder abnimmt. Mythen. Es ist nicht möglich, einen vaginalen Orgasmus von einem, der durch die Klitoris ausgelöst wird, zu unterscheiden. Der Orgasmus ist immer gleich, unabhängig davon, wie und wo er hervorgerufen wird, wo die hauptsächlichen Stimulierungen der weiblichen Genitalregion ausgeübt worden sind. Man kann auch von einer individuell unterschiedlichen Orgasmusschwelle bei Frauen ausgehen, die – wenn sie niedrig ist – durch koitale Reizung bereits überschritten wird, während eine höhere Schwelle einer intensiveren direkten Klitorisreizung bedarf. Die Annahme, die Vagina einer Frau sei zu klein, um den Penis aufzunehmen, ist in der Regel eine falsche Vorstellung. Es handelt sich hier zumeist um eine psychische Abwehrhaltung gegen das Eindringen des Mannes, die sich dann als »Scheidenkrampf«, als »Vaginismus«, äußert, also um eine muskuläre unwillkürliche Abwehrspannung der Scheidenmuskulatur. Traumatische Folgen kann es haben, wenn hier der Gynäkologe instrumentell Dehnungsein-
griffe vornimmt, ohne dass die Patientin psychologisch vorbereitet ist. Dabei kann es zu heftigen psychosomatischen und depressiven Reaktionen kommen. Eine Macht-Ohnmacht-Dynamik kann einem Vaginismus zugrunde liegen, wenn sexuelle Hingabe als gefährliche Schwäche erscheint, mit dem »Eindringen des Mannes« Phantasien der Ohnmacht und Zerstörung verbunden werden. Eine andere weit verbreitete falsche Vorstellung ist, dass die Potenz des Mannes mit einem größeren Penis größer sei. Auch kann aus der Größe des nichterigierten Penis nicht auf die erreichbare Länge bei der Erektion geschlossen werden. Die Angst, einen zu kleinen Penis zu haben und deshalb weniger sexuell leistungsfähig zu sein, kann dann tatsächlich zu Sexualstörungen, z.B. zur Erektionsschwäche, führen.
Menschliches Sexualverhalten Der Mensch ist im Gegensatz zum Tier ein weitgehend »instinktreduziertes Wesen«. Diese Sonderstellung des Menschen manifestiert sich auch im Sexualverhalten. Menschliche Sexualität ist sehr variabel ausgeprägt. Sie kann durch eine Dauerspannung charakterisiert sein, aber auch umgekehrt durch Askese und Abstinenz. Nur ein verschwindend kleiner Teil der menschlichen Geschlechtsakte dient dem biologischen Zweck der Reproduktion. Ihre Funktion liegt auch in der Partnerbindung. Zwei Partner, die sich sexuell verstehen, werden dahin tendieren, beieinander zu bleiben. Sexualität ermöglicht Bindung und erhält sie. Diese Bindung ist schon deshalb lebensnotwendig, weil die aus ihr hervorgehenden Kinder im Allgemeinen eine sehr lange Zeit ihrer Entwicklung betreut und begleitet werden müssen. Wovon hängt es ab, ob ein intensives Sexualleben auch in schon sehr lang bestehenden Partnerschaften erhalten bleibt? Der Sexualwissenschaftler Volkmar Sigusch hat einmal angemerkt, die beste Garantie für gegenseitige sexuelle Attraktivität in langjährigen Partnerschaften sei es, wenn jeder am anderen seinen persönlichen »Fetisch«, also eine sexuell anziehende Eigenschaft, entdecke, möglichst, ohne dass ihm dies bewusst sei.
Sozialer Wandel und Sexualität Sexualverhalten wird durch Normensysteme geregelt. Diese Normen sind nicht als »naturgegebene
2.5 · Besondere medizinische Situationen
Moral« vorgegeben, sie haben sich vielmehr unter dem Einfluss soziokultureller Faktoren entwickelt, und deshalb können sie von Kultur zu Kultur, von Generation zu Generation, von Sozialschicht zu Sozialschicht verschieden sein. So erscheint in heutiger Sicht Homosexualität als eine Variante des »Normalen« und nicht mehr als Abweichung im Sinne einer sog. »Perversion«. Noch vor wenigen Jahrzehnten galten in psychiatrischen Lehrbüchern oral-genitale Kontakte als krankhafte Perversitäten. Dasselbe galt auch lange für die Masturbation. Heute nicht mehr aufrechtzuerhalten ist auch die Auffassung, die Sigmund Freud zeitweise vertrat, dass »verdrängte« Sexualität als alleinige Ursache für neurotische Störungen anzusetzen wäre. Freuds These mochte damit zusammenhängen, dass aufgrund der durchgehenden Tabuisierung der Sexualität im sog. viktorianischen Zeitalter in Psychoanalysen vor allem sexuelle Inhalte thematisiert wurden. Zu einer Enttabuisierung haben auf der einen Seite die empirisch-wissenschaftlichen Untersuchungen durch Alfred Kinsey beigetragen. In seinen sog. »Kinsey-Reporten« wurden erstmals in einem sehr breiten Spektrum sexuelle Einstellungen und Verhaltensweisen der US-amerikanischen Bevölkerung nach dem 2. Weltkrieg dargestellt. Auf sexualwissenschaftlichem Gebiet wurde diese Liberalisierung dann durch Masters und Johnson fortgesetzt. Sexuelle Revolution. In der zweiten Hälfte der 60er Jahre des 20. Jahrhunderts begann im Rahmen der Studentenbewegung eine »sexuelle Revolution«, die die sexuelle Befreiung proklamierte. Hierfür spielte die Entwicklung der Antibabypille, die die Trennung von Sexualität und Fortpflanzung erleichterte, eine wichtige Rolle. In der Schule wurde Sexualkundeunterricht eingeführt, die Homosexualität wurde nicht mehr unter Strafe gestellt. Zugleich konnten eine Sexualisierung der Medien und eine Kommerzialisierung der Pornographie beobachtet werden. Neosexuelle Revolution. Seit den 90er Jahren des vorigen Jahrhunderts ereignet sich eher langsam und weniger spektakulär eine »neosexuelle Revolution« (Sigusch). Sexualität wird entmystifiziert, gilt nicht mehr als Weg der gesellschaftlichen Befreiung. Sexuelle Leistungsanforderungen werden wieder zurückgenommen (die Hälfte der Befragten hat derzeit
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seltener als einmal pro Woche Geschlechtsverkehr). Werte wie Treue und Abstinenz gewinnen – auch unter dem Eindruck der AIDS-Epidemie – wieder an Bedeutung, »Beziehung« wird wichtiger als Sexualität. Zugleich treten die »dunklen Seiten« der Sexualität, wie Missbrauch und Gewalt, in das Blickfeld der Öffentlichkeit. Weitere Merkmale dieser Transformation sind die Ablösung der Sexualität von zwischenmenschlichem Kontakt (z.B. Telefonsex, Internetsex) und die Verschiebung der Grenze zwischen normal und pathologisch. Früher als pervers tabuisierte sexuelle Vorlieben werden nun in Talkshows im Fernsehen öffentlich präsentiert. Insgesamt ist eine große Vielgestaltigkeit des sexuellen Verhaltens, der Lebensund Beziehungsformen festzustellen. Die Grenzen zwischen den sexuellen Orientierungen (heterosexuell, homosexuell, bisexuell) lösen sich teilweise auf. Ehemalige Perversionen werden zu »Neosexualitäten«, in denen es primär nicht um Sexualität, sondern um narzisstische Motive, wie Selbstwerterhöhung, Macht und thrill, zu gehen scheint. Auf der anderen Seite scheinen die medial überhitzten Erwartungen neue Ängste hervorzurufen, die Sexualität mehr zur Last als zur Lust werden lassen. Sowohl bei Frauen als auch bei Männern wird eine zunehmende Lustlosigkeit registriert. An die Stelle der traditionellen Sexualmoral tritt die Verhandlungsmoral der beteiligten Partner. Erlaubt ist, wozu beide im Konsens bereit sind. Dies setzt voraus, dass in der Beziehung keine Abhängigkeits- und Machtverhältnisse existieren. Abhängigkeitsverhältnisse, die sexuelle Beziehungen verbieten, finden sich in der Beziehung zwischen Arzt und Patient, Lehrer und Schüler, Erwachsenem und Kind. Die von Pädophilen manchmal vorgebrachte Entschuldigung, die Kinder hätten eingewilligt, kann einen Missbrauch deshalb niemals rechtfertigen.
Sexualität in verschiedenen Lebensabschnitten Die Sexualität in Pubertät, Adoleszenz und Erwachsenenalter wurde schon in Kap. 1.4.8 dargestellt. Sexualität im Alter. Erst in jüngster Zeit wird der Sexualität älterer Frauen und Männer mehr Beachtung geschenkt, war man doch früher der Meinung gewesen, dass Sexualität im Alter keine Rolle mehr
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Kapitel 2 · Ärztliches Handeln
spiele. Erst die zunehmende Zahl älterer Menschen, die bei guter Gesundheit ein hohes Alter erreichen und die Erotik und Sexualität in der zweiten Lebenshälfte als wichtigen Bestandteil ihrer Lebensqualität betrachten, hat dazu geführt, dass sich die Forschung mehr und mehr für die sexuellen Bedürfnisse und Verhaltensweisen älterer Menschen interessiert. Die sexuelle Aktivität im Alter wird v.a. durch den körperlichen und psychischen Gesundheitszustand und den Partnerschaftsstatus bestimmt. Durch das Absinken der Androgen- und Östrogenwerte und die Zunahme möglicher organischer Störfaktoren (u.a. Gefäßerkrankungen und Nebenwirkungen von Medikamenten, s.u.) werden die somatischen Sexualfunktionen störanfälliger. Wie groß indessen der Einfluss der altersbedingten hormonellen Veränderungen auf die sexuelle Erregbarkeit und Aktivität ist, kann nicht eindeutig geklärt werden. Die häufig zu beobachtende Abnahme sexueller Aktivität im Alter braucht nicht allein Folge endokriner Veränderungen zu sein; psychosoziale Faktoren wie Partnerverlust und soziale Isolation sind hier mit zu berücksichtigen. Wie verschiedene Untersuchungen gezeigt haben, hängt die sexuelle Aktivität im Alter von der in früheren Jahren praktizierten ab. Im Alter sexuell aktive Menschen waren auch früher sexuell aktiver als jene, die jetzt ein reduziertes Sexualleben haben. Während in jüngeren Jahren zwischen dem sexuellen Reaktionszyklus des Mannes und der Frau deutliche Unterschiede bestehen, findet im Alter eine gewisse Angleichung im Ablauf der psychischen und physischen Sexualreaktionen statt, sofern sich der Reaktionszyklus des älter werdenden Mannes dem der Frau angleicht. Ältere Menschen sind mit ihrer Sexualität im Allgemeinen nicht weniger zufrieden als jüngere.
Sexualität bei organischer Krankheit Viele körperliche Krankheiten, Operationen und Medikamente können die Sexualität beeinträchtigen. Besonders häufig treten Erektionsstörungen oder eine Abnahme des sexuellen Verlangens bei der Zuckerkrankheit (Diabetes mellitus) auf. Ursachen sind die diabetische Neuropathie und die Angiopathie (vaskuläre Insuffizienz). Auch bei der koronaren Herzkrankheit können sexuelle Störungen auftreten. Die Arteriosklerose betrifft nicht nur die
Koronararterien, sondern kann auch die arterielle Blutversorgung der Genitalien vermindern. Viele Herzinfarktpatienten haben jedoch auch Angst, während des Geschlechtsverkehrs einen erneuten Herzinfarkt zu erleiden. Der plötzliche Herztod während des Geschlechtsverkehrs ist jedoch sehr selten. Auch bei chronischer Niereninsuffizienz und Dialyse sind sexuelle Störungen häufig. Hier spielen wohl auch endokrine Ursachen eine Rolle. Auch Medikamente können die Sexualfunktion beeinträchtigen. Erektionsstörungen wurden bei den klassischen Betablockern, die zur Behandlung des hohen Blutdrucks eingesetzt werden, beschrieben. Bei einer Krebserkrankung können mehrere Faktoren zusammenkommen, die die Sexualität beeinträchtigen: Die vitale Bedrohung lässt Sexualität weniger wichtig werden. Frauen fühlen sich nach einer Mastektomie wegen Brustkrebs häufig sexuell weniger attraktiv, oder der Partner zieht sich möglicherweise zurück. Sexuelle Störungen können jedoch auch als unmittelbare Behandlungsfolgen auftreten, z.B. Schmerzen beim Geschlechtsverkehr (Dyspareunie) infolge einer verkürzten und verengten Vagina nach Operation eines Gebärmutterhalskarzinoms. Beim Mann kann eine radikale Entfernung der Prostata (Prostatektomie) wegen Prostatakarzinom zum Verlust der Erektionsfähigkeit führen.
Sexuelle Störungen: diagnostische und therapeutische Ansätze Störungen der Sexualität sind häufig. Bevor Patienten einen Psychotherapeuten oder gar eine Spezialambulanz aufsuchen, werden sie zunächst einen Allgemeinarzt, Gynäkologen, Dermatologen oder Internisten konsultieren. Sexualmedizinische Kenntnisse zu haben, ist deshalb für jeden klinisch tätigen Arzt von großer Bedeutung. Bei der Sexualanamnese ist wichtig, dass der Arzt klare Fragen stellt und ein eindeutiges Vokabular verwendet. Damit ermutigt er den Patienten, offen und präzise über sein Problem zu sprechen. Sexuelle Störungen werden in drei Bereiche klassifiziert: 4 sexuelle Funktionsstörungen, 4 Störungen der Sexualpräferenz (syn. Paraphilien, »Perversionen«), 4 Störungen der Geschlechtsidentität.
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2.5 · Besondere medizinische Situationen
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. Tabelle 2.1. Sexuelle Funktionsstörungen, zugeordnet zu den Phasen der physiologischen sexuellen Reaktion Phase
physiologisch Mann
Störungen Frau
Mann
Frau
1. Appetenz
Erwachen des sexuellen Begehrens (sexuelle Phantasien, Verlangen, sich sexuell zu betätigen)
Mangel an sexuellem Verlangen (Inappetenz, Alibidimie)
2. Erregung
Erektion
Erektionsstörungen (erektile Dysfunktion, Impotentia coeundi)
Ausbleiben der Lubrikations-Schwell-Reaktion
3. Plateauphase
Immissio/Koitus
Erektionsstörungen (erektile Dysfunktion, Erektionsverlust während des Koitus, Impotentia coeundi) Dyspareunie (Schmerzen an der Eichel)
Vaginismus (unwillkürliche Spasmen im äußeren Drittel der Vaginal- und Beckenbodenmuskulatur beim Koitusversuch) Dyspareunie (bei zu geringer oder ausbleibender Lubrikation)
4. Orgasmus
Ejakulation
Ejaculatio praecox (vorzeitig); Ejaculatio retardata (verzögert); Ejaculatio deficiens (ausbleibend); Ejakulation ohne Orgasmusgefühl
Orgasmusstörung (Anorgasmie)
Vaginale Lubrikation und Anschwellen der äußeren Genitalien und Brüste
Kontraktion der orgastischen Manschette
Höhepunkt der sexuellen Lust unter Lösung sexueller Spannung 5. Entspannung bzw. Rückbildung
Verlust der Erektion Refraktärzeit
Allgemeine Abschwellung
Funktionsstörungen. Sexuelle Funktionsstörungen verhindern eine befriedigende Sexualität. Sie können in einem Mangel an sexuellem Verlangen, einer Störung der für den Geschlechtsakt nötigen physiologischen Reaktionen oder einer Unfähigkeit, den Orgasmus zu erleben, bestehen. Im Hinblick auf eine systematische Ordnung dieser Störungsbilder liegt es nahe, sich an den oben behandelten physiologischen Phasen der sexuellen Reaktion zu orientieren, wobei es sinnvoll ist, die Vier-Phasen-Struktur durch eine vorgeschaltete Appetenzphase zu ergänzen (. Tabelle 2.1). Erektionsstörungen (erektile Dysfunktion) sind sehr häufig. 52% der Männer im Alter von 40–70 Jahren haben zumindest leichtgradige ErektionsstörunäSexuelle
gen. Zur Verursachung können organische und psychische Faktoren beitragen (multifaktorielle Ätiologie). Oft ist es schwierig, deren Anteil genau zu bestimmen. Man findet deshalb in der Literatur sehr unterschiedliche Angaben über ihre jeweilige Bedeutung. Beispiele für somatische Ursachen wurden im Abschnitt »Sexualität bei organischer Krankheit« aufgeführt. Das wichtige differentialdiagnostische Kriterium zur Abgrenzung gegen eine somatogene Störung ist die »Praktikabhängigkeit«. Tritt ein Symptom, wie Erektionsschwäche oder Anorgasmie, nur beim Koitus auf, aber nicht bei der Masturbation, spricht dies für eine Psychogenese. Die folgenden Bereiche psychosozialer Einflussfaktoren lassen sich unterscheiden:
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Kapitel 2 · Ärztliches Handeln
Psychodynamik. Bestimmte Konflikte, wie eine un-
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ausgewogene Polarität zwischen Selbsthingabe und Selbstbehauptung, Nähe und Distanz, lösen bei intimer Annäherung z.B. Angst vor Kontrollverlust aus, die die sexuelle Reaktion beeinträchtigt. Inzestphantasie und sexueller Missbrauch. Für ei-
nen Mann kann die Beziehung zu einer Partnerin unbewusst eine »Wiederauflage« der infantilen Mutterbindung bedeuten und deshalb die sexuelle Vereinigung auf eine neurotische Inzestschranke stoßen. Bei einer anderen Partnerin, wie z.B. bei einer Prostituierten, wo dies nicht der Fall ist, ist dann die sexuelle Reaktion möglich. In der Psychoanalyse ist diese Fehleinstellung unter der Alternative »Heilige oder Hure« bekannt. Bei Frauen, die als Kind oder Jugendliche sexuellem Missbrauch durch Vater oder Stiefvater ausgesetzt waren, ist häufig die Integration der sinnlichen und zärtlichen Liebe zur reifen Sexualität nicht möglich, weil diese Verbindung zu sehr an die inzestuöse Konstellation erinnert, sexuelles Erleben deshalb nur da vollziehbar ist, wo keine emotionale Nähe und Abhängigkeit gegeben sind. Partnerdynamik. Was die Sexualität in besonde-
rem Maße problemanfällig macht, ist ihre Partnerbezogenheit. Sexuelle Störungen können deshalb partnerabhängig sein. Jeder der Partner hat schon seine Geschichte, seine Schwächen, die gerade in der sexuellen Begegnung besonders virulent werden können. Damit eine sexuelle Begegnung glücken kann, müssen die Partner harmonieren, das Gefühl haben können, in der Beziehung geborgen zu sein. Einstellungen. Ängstigende Einstellungen, wie z.B.
Vorstellungen des gleichzeitigen oder mehrfachen Orgasmus, der immer beim Geschlechtsverkehr zu erreichen sei, oder die weiter oben beschriebenen Mythen können sexuelle Funktionsstörungen begünstigen. Sexuelle Orientierung und Perversion. Beispiels-
weise wird ein eher homosexuell orientierter Mann in der Begegnung mit einer Frau keine oder keine genügende sexuelle Stimulierung erfahren können. Pädophile tendieren häufig aus Angst vor einer
emanzipierten Partnerin zum sexuellen Missbrauch einer wehrlosen »Kindfrau«, die sie in ihrem Kontroll- und Machtbedürfnis nicht in Frage stellt. In einer partnerschaftlichen Beziehung würden sie »versagen«. Selbstverstärkungsmechanismus. Das erste Auftreten eines sexuellen Misserfolgs kann bei gegebener Selbstunsicherheit Angst vor der nächsten sexuellen Situation erwecken, die dann zu einem erneuten Misserfolg führt. Es kann sich auf diese Weise ein perniziöser Zirkel: »Misserfolg → Angst → Erwartungsdruck → Misserfolg → Angst etc.« im Sinne einer sich selbst erfüllenden Vorhersage einspielen. Je mehr die sexuelle Reaktion als »Leistung«, als narzisstische (d.h. den Selbstwert betreffende) Selbstbestätigung eingesetzt wird, desto größer ist die Gefahr dieses Zirkels. äStörungen der Sexualpräferenz (syn. Paraphilien, »Perversionen«). Wie im Abschnitt »Sozialer Wandel und Sexualität« ausgeführt, sind die Auffassungen, was als »pervers« anzusehen ist, stark kultur- und zeitabhängig. Die Paraphilien sind gekennzeichnet durch wiederkehrende, intensive, sexuell dranghafte Bedürfnisse, Phantasien oder Verhaltensweisen, die sich auf ungewöhnliche Objekte, Aktivitäten oder Situationen beziehen. Als krankhaft sind sie dann zu werten, wenn sie in suchtartiges Verhalten umschlagen, welches das ganze Leben dominiert, so dass auf keine andere Weise mehr Lust und Befriedigung gewonnen werden können. In klinisch bedeutsamer Weise können sie Leiden oder Beeinträchtigungen in sozialen, beruflichen oder anderen wichtigen Funktionsbereichen verursachen. Es folgt eine Übersicht über die Störungen der Sexualpräferenz, die im ICD-10 klassifiziert werden. 4 Fetischismus: Gegenstände, wie z.B. Kleidungsstücke, Schuhe (Fetische), werden dazu benutzt, um sexuell erregt/befriedigt zu werden. 4 Fetischistischer Transvestitismus: Tragen der Kleidung des anderen Geschlechts zum Erreichen sexueller Erregung. 4 Exhibitionismus: Entblößung der Geschlechtsteile vor einem unbefangenen Fremden in der Öffentlichkeit, meist von sexueller Erregung begleitet.
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2.5 · Besondere medizinische Situationen
4 Voyeurismus: Drang, anderen Menschen bei sexuellen oder intimen Handlungen zuzusehen, meist von sexueller Erregung begleitet. 4 Pädophilie: sexuelle Präferenz für Kinder vor der Pubertät. 4 Sadomasochismus: sexuelle Aktivitäten mit Zufügen bzw. Erleiden von Schmerzen oder Erniedrigung. der Geschlechtsidentität. Als Störung der Geschlechtsidentität gilt v.a. der Transsexualismus. Transsexuelle sind davon überzeugt, eigentlich dem anderen Geschlecht zuzugehören, und streben eine Geschlechtsumwandlung an (entweder von Frau zu Mann oder, was häufiger ist, von Mann zur Frau), die auch unter bestimmten Voraussetzungen hormonell und operativ durchgeführt wird. Zu unterscheiden sind Transsexuelle von Transvestiten. Transvestiten werden von dem Drang ergriffen, die Kleidung des anderen Geschlechts heimlich anzulegen oder auch sich in ihr öffentlich darzustellen. Viele von ihnen drängen ins Showgeschäft, in Variétés und Nachtlokale.
äStörung
Therapie sexueller Störungen. Die Therapie sexueller Störungen bezieht sich ganz vorrangig auf die Therapie der sexuellen Funktionsstörungen, machen diese doch über 90% aller sexuellen Störungen aus. Neben Vermittlung von Wissen und entsprechender Sexualberatung zur Entkräftung falscher Vorstellungen (Mythen, s.o.) hat sich v.a. ein integratives Konzept, wie es von Helen Singer Kaplan propagiert wurde, durchgesetzt. Die von Masters und Johnson eingeführte verhaltenstherapeutische Übungsbehandlung, die in der Regel als Paartherapie durchgeführt wird, kann ergänzt werden durch eine psychodynamisch orientierte Therapie, in der Konflikte bearbeitet werden, die der Störung zugrunde liegen können. Eine bekannte Technik der Sexualtherapie ist die paradoxe Intervention: Der Therapeut verbietet dem Paar den sexuellen Verkehr; Zärtlichkeiten und Vorspiel sind jedoch erlaubt. Damit wird die Angst zu versagen gemildert. Irgendwann wird das Verbot unweigerlich durchbrochen und damit die sexuelle Störung beseitigt, wenn ihr lediglich eine Versagensangst zugrunde lag. Seit der Einführung von Sildenafil (»Viagra«) im Jahre 1998 hat eine zunehmende Medikalisierung
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bei der Behandlung männlicher Sexualstörungen eingesetzt. Die Wirkung von Sildenafil setzt ungefähr eine Stunde nach Einnahme ein, sexuelle Appetenz und entsprechende Stimulation vorausgesetzt. Es wirkt bei organischen und psychischen Erektionsstörungen. Zur Behandlung organischer Erektionsstörungen stehen weitere pharmakologische und operative Verfahren zur Verfügung. Eine einseitige »Symptombehandlung« läuft allerdings Gefahr, eine der Störung zugrunde liegende psychische Problematik zu vernachlässigen und so keinen durchgreifenden Heilungserfolg zu erzielen. Merke
Im Bereich der Sexualtherapie besteht ein großes Versorgungsdefizit. Spezialisierte Sexualtherapeuten sind selten. Sexuelle Funktionsstörungen können aber auch im Rahmen einer traditionellen Psychotherapie behandelt werden.
i Vertiefen Sigusch V (2005) Praktische Sexualmedizin. Deutscher ÄrzteVerlag, Köln (gut verständliche, praxisorientierte Einführung in die Sexualmedizin) Strauß B (Hrsg) (2004) Psychotherapie der Sexualstörungen. 2. Aufl. Thieme, Stuttgart (breit gefächerte Übersicht über sexuelle Störungen und ihre Therapie)
2.5.8
Sterben, Tod und Trauer
Es gehört zu den vornehmsten und anspruchvollsten Aufgaben des Arztes, zu einer »Kultur des Sterbens« beizutragen, in der sich Menschen mit ihren Ängsten und Hoffnungen aufgehoben fühlen können. Dies setzt voraus, dass der Tod nicht grundsätzlich als Feind angesehen wird, gegen den man bis zum letzten Atemzug des Patienten anzukämpfen versucht, sondern dass er als das letztendliche Ziel, als die Vollendung des menschlichen Lebens gewürdigt wird. Das Begleiten eines Menschen beim Erlöschen seines Lebens wird dann als eine positive professionelle Aufgabe angesehen, die – auch wenn es vordergründigen Denkschablonen zu widersprechen scheint – vielfältige Möglichkeiten einer tragfähigen beruflichen Zufriedenheit eröffnet. Äußerungen gegenüber Patienten oder Angehörigen wie »Wir kön-
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Kapitel 2 · Ärztliches Handeln
nen nichts mehr für Sie tun!« sind grundsätzlich obsolet.
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Was ist eine »Kultur des Sterbens«? Zu einem würdigen Umgang mit Sterben, Tod und Trauer gehört zunächst einmal, Alltagsroutinen und »Sachzwänge« zu unterbrechen. Das gemeinsame Innehalten kann wichtiger werden als der übliche Aktionismus, der als »Handlungsdruck« erlebt wird und persönliche Freiheitsgrade unnötig einschränkt. Das Sterben ist nicht immer friedlich und sanft, sondern oft auch unruhig, mit Angst, Leiden und Klagen verbunden. Viele Ärzte lassen sich in solchen Situationen dazu verleiten, neben der Schmerzbekämpfung, die oberste Priorität hat, den Patienten mit Psychopharmaka »ruhig zu stellen«. Wenn dabei eine Bewusstseinstrübung, ein »Dahindämmern« des Patienten in Kauf genommen wird, sollte der Patient möglichst vor diesen Maßnahmen über solche Wirkungen informiert werden, damit er gegebenenfalls noch wichtige Angelegenheiten regeln und eventuell bewusst Abschied nehmen kann, bevor das nicht mehr möglich ist. Viele Empfindungen gegenüber Sterbenden scheinen eine depressive Dynamik zu haben. Man glaubt, sich des eigenen Lebens nicht mehr freuen zu dürfen, wenn ein anderer in der Nähe stirbt. Das daraus oft resultierende maskenhafte Spiel kann jedoch durch eine ehrliche Aussprache im Team zugunsten einer freundlich bleibenden Atmosphäre überwunden werden. Palliativmedizin. Das Wort Palliativmedizin kommt von lateinisch pallium, der Mantel, und bezeichnet einen »ummantelnden«, umsorgenden Umgang mit dem Patienten, der notwendig wird, wenn die kurative Medizin, die an Heilungsversuchen orientiert ist, ihre Grenzen erreicht hat. Die Weltgesundheitsorganisation definiert: »Palliativmedizin ist ein Ansatz zur Verbesserung der Lebensqualität von Patienten und ihren Familien, die mit den Problemen konfrontiert sind, die mit einer lebensbedrohlichen Erkrankung einhergehen, und zwar durch Vorbeugen und Lindern von Leiden, durch frühzeitiges Erkennen, Einschätzen und Behandeln von Schmerzen sowie anderen belastenden Beschwerden körperlicher, psychosozialer und spiritueller Art.«
Implizite Normen und Verhaltensstandards zum bestmöglichen Umgang mit Sterbenden sind oft an folgenden Idealen orientiert: 4 Sterbebegleitung bedeutet, Beschwerden und Schmerzen auf ein mögliches Minimum zu reduzieren. 4 Alle Sterbebegleiter sind immer an den Bedürfnissen des Sterbenden orientiert. 4 Ein Sterbender darf nicht allein gelassen werden; Sterbebegleitung bedeutet unbedingte Nähe zum Sterbenden. 4 Sterbebegleitung ist immer fürsorglich und liebevoll. Solche Ideale klingen zwar gut; sie werden aber meist nahezu frei von allen personellen, ökonomischen und strukturellen Ressourcen aufgestellt und dann von Ärzten wie eine zu hoch gehängte Messlatte empfunden. Unrealistisch formulierte Ideale führen fast zwangsläufig zu Enttäuschungen. Auch die Helfer, vom Arzt bis zum Famulus, haben Gefühle und Bedürfnisse, und sie sollten sich auf eine tragfähige gegenseitige Unterstützungskultur verlassen können. Sterbebegleitung geschieht nur selten individualisiert zwischen zwei Personen, sondern meist eher innerhalb eines institutionellen Rahmens. Dieser kann Ausdruck einer durchdachten Philosophie der jeweiligen Institution sein, z.B. in Hospizen, die explizit einer bestmöglichen Sterbebegleitung gewidmet sind und entsprechend auch personell gut ausgestattet sind. Zunehmend wird auch in normalen Krankenhäusern und in palliativmedizinischen Einrichtungen versucht, Erfahrungen aus der Hospizwelt zu nutzen. Interessant ist beispielsweise die Erkenntnis, dass Helfer in Hospizen und anderen palliativmedizinischen Einrichtungen deutlich weniger Burn-out-Syndrome (7 Kap. 2.1.2) aufweisen, obwohl sie täglich mit sterbenden Menschen zu tun haben. Dies liegt nicht nur an der günstigeren Personalausstattung mit Einbeziehung freiwilliger Helfer, sondern auch daran, dass die Menschen, die in einem Hospiz mitwirken, eine grundsätzliche Entscheidung getroffen haben: Sie wollen das Sterben begleiten und so gut wie möglich erleichtern; diese Orientierung hat etwas mit Sinngebung zu tun. Da viele Krankenhäuser aber zu einseitig auf die kurative Medizin eingestellt sind (»Wir bieten Ihnen
2.5 · Besondere medizinische Situationen
noch einen zehnten Chemotherapiezyklus an«), sind Veränderungen zu Gunsten der Palliativmedizin nur möglich, wenn sie offiziell auf die Tagesordnung gesetzt werden und deutlich als Strukturen, Verfahren und Regeln erkennbar sind. Konkret bedeutet dies: Es müssen Räume (z.B. vor Hektik geschützte Sterbezimmer am Ende des Flures) und Zeiten (z.B. Übergabebesprechungen zwischen Pflegenden beim Schichtwechsel) für die notwendige Kommunikation organisiert werden. Es ist wichtig, dass die Helfenden auch regelmäßig und »offiziell« über ihre eigenen Gefühle sprechen und ihr Verhalten miteinander absprechen. Dies wirkt entlastend. Burn-out-Syndromen und Krankmeldungen von überforderten Ärzten und Pflegenden kann dadurch vorgebeugt werden, dass im Team auch Zweifel über die Sinnhaftigkeit einer Behandlung, die den Patienten trotz aussichtsloser Lage künstlich am Leben hält, offen besprochen werden. Eine Tabuisierung von Gefühlen führt zu überflüssigen Belastungen der Helfenden. Merke
Die Gefühle von Ärzten, Pflegenden und Angehörigen sind eine ebenso wichtige Realität wie die Gefühle des Patienten. Sie sind nicht als Störfaktoren effektiver Arbeitsabläufe anzusehen, sondern als vielleicht wichtige Problemsignale und Quellen der Erkenntnis und Entscheidungsfindung. Sie weisen auch auf die Notwendigkeit von Selbstfürsorge hin.
Daher erfordert der Umgang mit Gefühlen ebenso Zeit und Raum wie die sorgfältige Vorbereitung von Infusionen oder Operationen. Genauso wie es undenkbar ist, dass ein Arzt während des Anlegens eines Venenkatheters ans Telefon geht, sollte es auch selbstverständlich sein, dass Störungen während wichtiger Gespräche bei lebensgefährlichen Erkrankungen tabu sind. Das gegenseitige Mitteilen von Gefühlen im Team ist nicht als Schwäche, sondern als eine Stärke zu bewerten. Da die Pflegenden den sterbenden Patienten und seine Angehörigen meist näher kennen lernen, als es den Ärzten möglich ist, können neben den offiziellen Besprechungen (z.B. bei der Visite) gerade auch die vielfältigen »Ad-hoc-Kontakte« zwischen Tür
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und Angel zu einer guten Beziehungskultur beitragen. Aus der Summe vieler kurzer Interaktionen ergibt sich ein kontinuierliches Empfinden von Zusammengehörigkeit und gemeinsamer Stärke. Dies wird zu einer wichtigen Kraftquelle, wenn der Einzelne beim Umgang mit Sterbenden Insuffizienzgefühle und Versagensängste erlebt. Das Auftauchen von Seelsorgern oder einem psychoonkologischen Konsiliardienst »von außen« wird von Ärzten oft als eine wirksame Entlastung empfunden. Es besteht aber das Risiko einer Alibifunktion von Seelsorgern und Psychotherapeuten. Sie werden zuständig für Bereiche und Aufgaben, für die sich vielleicht kaum jemand im Stationsdienst verantwortlich fühlt, z.B. das seelische Leiden und Trauern. Dabei haben sie aber oft nur eine Gastrolle auf der Krankenstation. Die zeitweilige Präsenz von Seelsorgern und Psychotherapeuten kann davon ablenken, dass alle Beteiligten gleichermaßen dafür zuständig sind, eine Kultur des Sterbens zu gestalten. Werden diese Personen aber im Sinne eines interdisziplinären Gesamtkonzepts in die täglichen Interaktionen einbezogen, können sie oft wertvolle Hinweise geben, nicht zuletzt zur Frage, inwieweit sich der Sterbende auch mit der spirituellen Dimension seiner Situation auseinander setzt. So können Psychologen und Seelsorger eine wichtige Vermittleraufgabe wahrnehmen. Die »Psyche« von Patienten darf nicht an Psychospezialisten »abgeschoben« werden. Zu einer Kultur des Sterbens gehört auch, geeignete Rituale zu gestalten. In den meisten Krankenhäusern, vor allem in den Universitätskliniken der Maximalversorgung, in denen Studierende der Medizin ausgebildet werden, ist ein würdiges Abschiednehmen von dem Toten nicht vorgesehen. Im Gegenteil: Sobald der Sterbende zur Leiche geworden ist, wird er sanitätshygienisch entsorgt. Ein zeitweiliges »Bleiben mit dem Toten«, ein gemeinsamer Abschied (z.B. als Schweigeminute oder als Gebet) mit Einbeziehung von Angehörigen hat etwas mit Sinngebung und Sinnerfüllung zu tun. Dies ist auch wichtig für die Identifikation der Klinikmitarbeiter mit ihrer Klinik und ihrem beruflichen Selbstverständnis. Wenn Angehörige vom Verstorbenen Abschied nehmen wollen, ist dies grundsätzlich als ein bedeutsames Element einer Kultur des Sterbens zu betrachten.
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Kapitel 2 · Ärztliches Handeln
Die Organisation einer Kultur des Sterbens
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Da die Rahmenbedingungen ärztlichen Handelns im Krankenhaus oft Zeichen impliziter Normen und Gewohnheiten sind (z.B.: »Wenn jemand gestorben ist, tun wir möglichst immer so, als sei nichts gewesen, damit die anderen Patienten nicht beunruhigt werden«), glauben viele junge Ärzte und Pflegende, solche Normen seien feste Konstanten und müssten hingenommen werden. Im Unterschied zu dieser etwas starren Sichtweise kann es aber wichtiger sein, Rahmenbedingungen zu verändern. Dies ist nur gemeinsam möglich. Folgende Methoden der Organisationsentwicklung können dabei zentral sein: 4 Schwierige Entscheidungen werden interprofessionell und mit Berücksichtigung möglichst vieler Perspektiven getroffen, also auch unter Einbeziehung von Schmerztherapeuten und Pflegenden. 4 Eine gegenseitige Unterstützungskultur im Team wird nicht der Initiative Einzelner überlassen, sondern gemeinsam organisiert, z.B. als Workshop zur Selbstfürsorge. 4 Ehrenamtliche Mitarbeiter/innen werden integriert und gefördert. 4 Supervision kostet zwar Zeit, kann aber sowohl die Klarheit von Entscheidungen (z.B. als gemeinsamer Konsens zur Beendigung lebensverlängernder Maßnahmen) als auch die Berufszufriedenheit fördern.
Phasenmodelle Die schweizerisch-amerikanische Psychiaterin Elisabeth Kübler-Ross publizierte im Jahre 1969 ihr Buch »On Death and Dying« (deutsch: »Interviews mit Sterbenden«), mit dem sie weltberühmt wurde und eine neue Forschungsrichtung begründete, die als »Thanato-Psychologie« bezeichnet wird (von griech. thanatos = der Tod). Bei der Auswertung von Gesprächen mit sterbenden Patienten kam KüblerRoss zur Schlussfolgerung, dass sterbende Menschen häufig bestimmte Phasen durchlaufen. 4 Nichtwahrhabenwollen und Isolierung: Die meisten Patienten reagieren auf die Erkenntnis ihrer bösartigen Erkrankung zunächst mit Worten wie: »Ich doch nicht, das ist doch gar nicht möglich! Man hat wahrscheinlich die Röntgenbilder verwechselt!«
4 Zorn: Auf das Nichtwahrhabenwollen folgen häufig Zorn, Groll, Wut, Neid. Dahinter steht die Frage: »Warum denn gerade ich?« Dann kann es auch vorkommen, dass der Kranke die Ärzte abwertet und Pflegenden voller Ärger begegnet. 4 Verhandeln: Menschen, die zunächst nicht im Stande sind, die Tatsachen anzuerkennen und die in der zweiten Phase mit Gott und der Welt hadern, versuchen vielleicht, das Unvermeidliche durch eine Art Handel hinauszuschieben: »Wenn Gott beschlossen hat, uns Menschen von der Erde zu nehmen, und all mein zorniges Flehen ihn nicht umstimmen kann – vielleicht gewährt er mir eine freundliche Bitte.« Viele Patienten feilschen innerlich um einen Aufschub, versprechen Wohlverhalten, in der Hoffnung, das Schicksal vielleicht doch noch beeinflussen zu können. 4 Depression: Wenn der sterbenskranke Mensch zunehmend merkt, dass alles Kämpfen nicht mehr wirkt, kann allmählich das Gefühl einer schrecklichen Unausweichlichkeit entstehen. Das Erleben, weder den Körper noch die eigene Gedankenwelt unter Kontrolle zu haben, plötzlich aufkommende Gefühle nicht mehr beherrschen zu können und einer unsicheren, bedrohten Zukunft ausgesetzt zu sein, kann hilflos und sehr traurig machen. 4 Zustimmung: Wenn der Kranke Zeit genug hat, kann er ein Stadium erreichen, in dem er sein Schicksal nicht mehr niedergeschlagen oder zornig hinnimmt. Er konnte seine Emotionen aussprechen, auch seinen Neid auf die Lebenden und Gesunden, seinen Zorn auf alle, die ihren Tod nicht so nahe vor sich sehen. Diese Phase bedeutet nicht ein resigniertes und hoffnungsloses »Aufgeben« im Sinne von »wozu denn auch« oder »ich kann jetzt nicht mehr kämpfen«. Diese Phase ist fast frei von Gefühlen. Der Schmerz scheint vergangen, der Kampf ist vorbei, nun kommt die Zeit der »letzten Ruhe vor der langen Reise«. Für den Arzt ist es wichtig, zwischen Traurigkeit, Trauer und Depression zu unterscheiden. Von einer Depression im engeren Sinne sprechen wir in der Medizin nur dann, wenn sich Patienten in lang anhaltender negativer Stimmung befinden, unter Inte-
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2.5 · Besondere medizinische Situationen
ressenverlust, Freudlosigkeit und Hoffnungslosigkeit leiden und der Antrieb stark herabgesetzt ist. Die nachvollziehbare Traurigkeit eines Menschen, der mit den Grenzen seiner Existenz konfrontiert wird, ist dem gegenüber aus heutiger Sicht – im Unterschied zu der Schematisierung von Elisabeth Kübler-Ross – nicht mit der psychiatrischen Diagnose einer Depression gleichzusetzen. Die Phasenlehre von Elisabeth Kübler-Ross wird häufig in einer Weise rezipiert, als ob es sich hierbei um einen regelhaften Ablauf handle. In Wirklichkeit reagiert jeder Mensch auf seine eigene Weise auf die Konfrontation mit dem Ende. Wenn die von KüblerRoss genannten Phasen des Sterbeprozesses als gesicherte Fakten aufgefasst werden, besteht die Gefahr, dass man dem einzelnen Menschen nicht gerecht wird. So kann es vorkommen, dass ein Helfer, der diese Phasenlehre wörtlich nimmt, glaubt, der Patient müsse zum Fortschreiten von Phase 3 (Verhandeln) zur Phase 4 (Depression) veranlasst werden, weil sich sein Zustand so rapide verschlechtere, dass ihm vielleicht nicht mehr genug Zeit bleibe, um die 5. Phase (Akzeptieren) zu erreichen. Wichtiger ist die grundsätzliche Erkenntnis, dass viele unheilbar Erkrankte die Aussicht eines baldigen Todes teils zulassen und teils negieren. Die Anteile von Akzeptieren und Negation können phasenweise fluktuieren (7 Kap. 3.1.4). Diese Bewusstseinslage bei der Auseinandersetzung mit existenziell bedrohlichen Informationen wird als middle knowledge (Halbwissen) bezeichnet. Zwar ist die tödliche Bedrohung bereits im Wahrnehmungshorizont des Kranken aufgetaucht, sie kann aber noch nicht eingestanden werden. Wahrnehmungsabwehr ist nicht pathologisch, sondern nachvollziehbar. Das Phasenmodell von Kübler-Ross ist auch insofern nützlich, als die Bedeutung von Wut und
Zorn besser verständlich wird. Wenn der Betroffene mit seinem Schicksal hadert und aggressives Verhalten zeigt, kann sich dies als Kritik und Nörgelei ausdrücken. Für das Personal ergibt sich die Schlussfolgerung, Zorn, Wut und Neid eines Patienten nicht zu persönlich zu nehmen, sondern als Zeichen dafür, dass sich der Patient mit seinem bedrohlichen Zustand auseinanderzusetzen beginnt, sich dagegen auflehnt und somit die Haltung des Nichtwahrhabenwollens überwunden hat. Merke
Wut und Zorn eines Sterbenden sind keine bösartigen Verhaltensweisen, sondern Zeichen einer starken emotionalen Belastung. Aggressives Verhalten des sterbenden Patienten kann Ausdruck dafür sein, dass er sich zumindest zeitweise als aktiv Handelnder und nicht nur als passiv Erduldender zu fühlen versucht.
Angst Sterbende haben häufig folgende Ängste und Sorgen: 4 Angst vor körperlichem Leiden, z.B. vor Schmerzen während des Sterbeprozesses. 4 Angst vor Demütigung durch Hilflosigkeit und Abhängigkeit von anderen. 4 Angst vor dem Verlust der persönlichen Würde, der sich aus der Abhängigkeit von anderen ergibt. 4 Angst vor Einsamkeit. 4 Angst, wichtige Ziele aufgeben zu müssen. 4 Sorge vor den Folgen, die er eigene Tod für die Angehörigen haben könnte. Für den Umgang des Arztes mit derartigen Empfindungen ist es empfehlenswert, diese nicht unbedingt
Klinik
Verleugnung Ein Patient wird anhand von Röntgenbildern darüber aufgeklärt, dass der Tumor in seiner Leber inoperabel ist. Am nächsten Tag berichtet er seinen Angehörigen: »Der Arzt hat gesagt, dass die Leber nur am Rande verändert ist und dass dies nicht operiert zu werden braucht.« In diesem Fall
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ist es unsinnig, darüber zu spekulieren, ob der Patient seinen Angehörigen die Unwahrheit sagen möchte. Wahrscheinlich ist er noch nicht imstande, seine Situation wirklich zu begreifen, und er versucht, den Ernst seiner Lage zu verleugnen.
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Kapitel 2 · Ärztliches Handeln
explizit als Angst anzusprechen, sondern als verständliche Sorge. Angst wird nämlich oft als Zeichen persönlicher Schwäche angesehen, für die man sich schämt und mit der man nicht gern konfrontiert werden möchte. Sorge ist dem gegenüber eine Haltung, die man leichter bejahen kann.
Selbsterfahrung des medizinischen Personals Der ungarisch-englische Arzt Michael Balint entwickelte eine Methode für die ärztliche Fortbildung, die Gefühle des Arztes als wichtige Hinweise für einen angemessenen Umgang mit Patienten verstehen zu lernen. Balintgruppen haben sich weltweit als Methode etabliert, die Arzt-Patient-Beziehung unter Anleitung eines psychoanalytisch geschulten Supervisors anhand von Fallbeispielen zu reflektieren (7 Kap. 2.1.4). Neuere Ansätze versuchen, Ärzten und Pflegenden dabei zu helfen, auch beim Umgang mit existenziell schwierigen Themen wie Sterben und Tod »Selbstfürsorge« zu sichern. Dazu kann gehören, sich auch auf gemeinsame Meditationen zum Thema Sterben und Tod einzulassen. Jeder Arzt muss sich mit der Vergänglichkeit des menschlichen Lebens auseinandersetzen. Diese Auseinandersetzung wird für den Arzt dann hilfreich, wenn er auch eigene Lebenskrisen und eigene Ängste als Elemente seines Lebens zu akzeptieren lernt. Religiosität bedeutet für viele Menschen eine Möglichkeit zur Bewältigung von Angst und Stress im Angesicht der Bedrohung des Lebens. Viele Ärzte empfinden es jedoch als etwas Fremdes, sich neben der Behandlung von Krankheiten auch noch auf Lebensphilosophien oder Religiosität von Patienten einlassen zu sollen. Für den Umgang mit Patienten in existenziellen Grenzsituationen kann dies aber auch für den Arzt erleichternd sein.
Trauer Trauern bedeutet nicht nur, sich mit dem Fehlen eines wichtigen Menschen abfinden zu müssen, sondern der Prozess der Ablösung kann auch zu einer neuen Selbstfindung beitragen. Jeder Verlust kann eine Beeinträchtigung unseres Selbst- und Weltverständnisses bedeuten und im Extremfall als Identitätskrise erlebt werden, die am Beginn der so genannten Trauerarbeit steht.
Der Prozess des Trauerns beginnt häufig mit chaotischen Emotionen, wobei auch Schuldgefühle eine Rolle spielen können. Appetitlosigkeit, Schlafstörungen, Unruhe oder Apathie kommen dabei vor. Zur Trauerarbeit im engeren Sinne gehören das bewusste Erinnern und der Versuch, die Bedeutung des Verstorbenen für das eigene Leben möglichst realistisch einzuordnen. Trauernde neigen manchmal dazu, den Verstorbenen zunächst zu idealisieren. Erst am Ende der Trauerarbeit erlebt der Hinterbliebene, dass er wieder Mut bekommt, sich wieder neu auf Beziehungen einzulassen. Manche Menschen glauben in dieser Phase, sie müssten eigentlich den seelischen Schmerz behalten, sozusagen als Ersatz für den verstorbenen Menschen, und sie kommen sich treulos vor, wenn der Verstorbene allmählich an Wichtigkeit verliert. Von komplizierter (früher: pathologischer) Trauer spricht man, wenn der Trauernde nicht mehr aus seiner Trauer herauskommt. Die seelische Weiterentwicklung stagniert. Komplizierte Trauer kommt besonders bei gewaltsamen Todesfällen vor, bei Tod durch Suizid und bei Mitverschulden am Tod eines anderen. Eine solche Art der Trauer kann in eine behandlungsbedürftige Depression einmünden. Diese Entwicklung kann unter anderem dadurch vermieden werden, dass der Trauernde allmählich den Mut aufbringt, die emotionale Energie, die einst in die Beziehung mit dem Verstorbenen eingegangen war, nun dort zu investieren, wo eventuell neue befriedigende Erfahrungen möglich werden.
Altersabhängige Todesvorstellungen Kinder unter 5 Jahren haben noch kein klares Todeskonzept. Sie verstehen zunächst nur, dass einige Menschen (z.B. alte Leute) sterben müssen, und glauben, der Tod sei vermeidbar (z.B. durch Versteckspiele). Der Tod wird zunächst als vorübergehender Zustand, als Schlaf, wahrgenommen und erst später als irreversibel erkannt. Kinder im Alter von etwa 6–8 Jahren verstehen allmählich, dass der Tod universell ist, also jeden Menschen trifft, dass er irreversibel ist und dass er Ursachen hat. Erst ab einem Alter von etwa 9 Jahren ist das kindliche Todeskonzept an das der Erwachsenen angeglichen. Kinder brauchen andere Hilfen als Erwachsene, wenn ein nahestehender Mensch gestorben ist. Da
2.5 · Besondere medizinische Situationen
Kinder oft nicht zwischen Realität und Phantasie unterscheiden können (»Oma ist gestorben, weil ich so gemein zu ihr war!«), sollte dem Kind verständlich gemacht werden, weshalb ein Mensch gestorben ist (z.B. durch seine schwere Erkrankung, durch Selbstmord). Wenn einem Kind der Anblick des toten Körpers des Verstorbenen vorenthalten wird, wirkt dies nicht unbedingt schonend, da die Phantasie der Kinder grauenhafter sein kann als jede Realität. Kinder sollten grundsätzlich in die Trauerrituale der Erwachsenen einbezogen werden. Es wird allgemein als günstig angesehen, wenn Kinder auch die Gefühle trauernder Eltern miterleben können. Bei alten Menschen sind Vorstellungen vom Tod häufig mit Erlösungs- und Jenseitsvorstellungen verbunden, die angstlindernd wirken.
Das unheilbar kranke Kind In der Kinderheilkunde entwickelt sich ein zunehmender Konsens zum Umgang mit unheilbar kranken Kindern. Kinder sollten immer fragen können und möglichst verständliche Antworten erhalten. Lügen werden äußerst kritisch bewertet. Eltern oder Kinder sollten zu jeder Tages- und Nachtzeit den betreuenden Arzt anrufen können bzw. in die Klinik kommen können. Fast alle Kinder, die um ihren nahenden Tod wissen, haben Phantasien zu einem Leben nach dem Tod. Durch Malen, Märchen und Metaphern aller Art können diese Phantasien aufgegriffen und auch in eine Form gebracht werden, so dass die damit einhergehenden Ängste in einen gewissen Rahmen verwiesen werden. Die Eltern brauchen aber häufig mindestens so viel Betreuung wie die Kinder. Unterstützung bieten auch Selbsthilfegruppen für Eltern, die ein Kind verloren haben.
Sterbehilfe und Euthanasie Als aktive Sterbehilfe bezeichnet man die absichtliche Herbeiführung des Todes auf Verlangen des Patienten, bevor der Sterbeprozess irreversibel eingesetzt hat. Außerhalb des deutschsprachigen Raumes wird die aktive Sterbehilfe auch als Euthanasie bezeichnet (griech. guter Tod); sie ist in Deutschland nicht zulässig. In diesem Land ist das Wort Euthanasie seit den Massenmorden an Kranken während der Nazizeit derart vorbelastet, dass nicht nur der Gebrauch dieses Wortes, sondern auch eine liberalere
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Gesetzgebung zur aktiven Sterbehilfe (als Tötung auf Verlangen) mit Tabus besetzt ist. In der Schweiz darf sterbewilligen, unheilbar erkrankten Patienten beim Akt der Selbsttötung geholfen werden (assistierter Suizid). Die Beihilfe zur Selbsttötung (z.B. als Bereitstellung eines Medikaments in tödlicher Dosis, das der Kranke selbst einnimmt) ist auch in Deutschland nicht prinzipiell strafbar. Doch für Ärzte gilt zugleich die Forderung, umgehend Maßnahmen zu ergreifen, um den Selbstmörder wieder in das Leben zurückzuholen. Dieses Dilemma ist bisher juristisch nicht geklärt. Die Mitwirkung des Arztes bei einer Selbsttötung wird als Widerspruch zum ärztlichen Ethos angesehen und sanktioniert. Befürworter der aktiven Sterbehilfe führen als Argumente an, es gebe ein Recht auf den eigenen Tod und auf Selbstbestimmung bis zuletzt. Gegner stellen den Schutz des Lebens und die Unverfügbarkeit des menschlichen Daseins in den Vordergrund (Richtlinien zur Sterbebegleitung der Bundesärztekammer). Als indirekte Sterbehilfe, die nicht strafbar ist, bezeichnet man eine beschwerdenlindernde Behandlung, die mit der möglichen Nebenfolge verbunden ist, dass der Tod des Patienten früher eintritt. In diesem Zusammenhang wird häufig das Beispiel der Schmerztherapie mit Morphinen angeführt. Dieses Beispiel bezieht sich nur auf eine absichtliche ärztliche Überdosierung. Bei präziser Dosierung von Morphinen wird nicht nur Schmerzlinderung erreicht, sondern Patienten mit guter Schmerztherapie leben tatsächlich länger. Als passive Sterbehilfe wird der Abbruch oder das Unterlassen lebenserhaltender Heilbehandlung verstanden: als Zulassen des natürlichen Sterbens. Das Beenden von künstlicher Ernährung oder Beatmung ist erlaubt und sogar geboten, wenn der Patient, z.B. durch eine schriftliche und möglichst konkrete Patientenverfügung, einen entsprechenden Willen erklärt hat. Wird die Beatmungsmaschine abgestellt, unterdrückt man den Atemreflex medikamentös, damit der Patient nicht erstickt. Es besteht keine Behandlungspflicht des Arztes gegen den Willen des Patienten. Liegt eine schriftliche Verfügung nicht vor, so muss über die Angehörigen der mutmaßliche Wille des Patienten herausgefunden werden. Allerdings besteht manchmal das Risiko, dass Angehörige eine lebensverlängernde Behandlung
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2
Kapitel 2 · Ärztliches Handeln
aus egoistischen Motiven (die Kosten können das Erbe mindern) ablehnen. In Deutschland wird die Diskussion über Sterbehilfe vorwiegend mit dem Ziel geführt, Bedingungen zu schaffen, unter denen die aktive Sterbehilfe möglichst nicht gewünscht wird. Dazu gehört die Förderung der Palliativmedizin. Sterbewünsche können nämlich Ausdruck einer Depression oder unerträglicher Schmerzen sein und verschwinden häufig wieder, wenn die Depression oder die Schmerzen adäquat behandelt werden. i Vertiefen Husebo S, Klaschik E (2003). Palliativmedizin. 3. Aufl. Springer, Berlin (praktische Einführung in Schmerztherapie, Symptomkontrolle, Ethik und Kommunikation) Student C (Hrsg) (2004) Sterben, Tod und Trauer. Herder, Freiburg (praxisorientierte Hinweise vieler erfahrener Experten)
gemeinbevölkerung danach befragt, ob sie in der letzten Woche körperliche Beschwerden hatten und ihnen eine Liste mit Symptomen vorlegt, kreuzen 96% mindestens ein belastendes Symptom an. Die häufigsten Beschwerden in der gesunden Allgemeinbevölkerung sind innere Unruhe (33%), Erschöpfung (28%), Kopfschmerzen (24%), Konzentrationsstörungen (24%) und Schlafstörungen (23%). Fragt man Angehörige der deutschen Allgemeinbevölkerung, ob sie im Verlauf des letzten Jahres an Schmerzen gelitten haben, die die Lebensqualität beeinträchtigten, nennen drei Viertel bis die Hälfte Schmerzen unterschiedlicher Lokalisation: Kopfschmerzen (73%), Rückenschmerzen (56%), Muskelschmerzen (53%), Gelenkschmerzen (51%) und Magenschmerzen (46%). Daraus kann man zweierlei schließen: Merke
2.6
Patient und Gesundheitssystem
> > Einleitung Wie findet ein Patient seinen Weg durch die Institutionen des Gesundheitswesens? Zumeist hat er bereits eine weite Wegstrecke zurückgelegt, bevor er überhaupt dort ankommt. Manche Patienten mit Herzinfarkt oder einer Krebserkrankung zögern die notwendige diagnostische Abklärung zu lange hinaus. Andere Menschen sind umgekehrt von der Sorge getrieben, eine bösartige Krankheit in sich zu haben, und kommen mit Beschwerden, für die sich dann keine medizinische Erklärung findet. Bedarf und Nachfrage müssen also nicht übereinstimmen. Hier hat der Arzt eine wichtige Steuerungsfunktion. Seine Aufgabe ist es, dafür zu sorgen, dass jeder Patient die ihm angemessene Therapie erhält. In den letzten Jahren wurden große Anstrengungen unternommen, um die Qualität der Versorgung im Gesundheitswesen zu verbessern.
2.6.1
Stadien des Hilfesuchens
Entscheidungsstufen Körperliche Beschwerden in der Allgemeinbevölkerung. Wenn man Angehörige der deutschen All-
1. Gesundheit ist nicht gleichbedeutend mit Beschwerdefreiheit. 2. Menschen mit Beschwerden suchen deswegen nicht unbedingt einen Arzt auf.
Ginge nahezu die gesamte Bevölkerung einmal pro Woche wegen körperlicher Beschwerden zum Hausarzt, bräche unser Gesundheitssystem zusammen. Es muss also noch mehr passieren, damit ein Mensch wegen neuartiger und unangenehmer Beschwerden zum Arzt geht. Die einzelnen Schritte in diesem Prozess vom Symptom zur Krankheit sind in . Abbildung 2.2 dargestellt. Symptomaufmerksamkeit. Veränderte Körperemp-
findungen können beim Gesunden aufgrund physiologischer Vorgänge, bei körperlicher Anstrengung aufgrund Trainingsmangel, aber auch durch vorübergehende Infekte, Nahrungsunverträglichkeiten etc. vorkommen. Diese Empfindungen werden meist gar nicht bewusst wahrgenommen. Das adaptive Unbewusste stuft sie als unbedeutend ein. Damit sie bewusst werden, ist eine selektive Ausrichtung der Aufmerksamkeit auf diese Körperempfindungen erforderlich. Eine solche Symptomaufmerksamkeit wird unter bestimmten Umständen gefördert: Das Symptom
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2.6 · Patient und Gesundheitssystem
2
. Abb 2.2. Entscheidungsstufen vom Symptom zur Krankheit
ist sehr intensiv (z.B. starker Schmerz) oder auffällig (z.B. Blut im Urin), oder Bedingungen in der jeweiligen Person wie z. B. eine ängstliche Stimmung fördern eine erhöhte Symptomaufmerksamkeit. Letzteres trifft insbesondere für Menschen mit somatoformen Störungen zu, die ihren Körper im Hinblick auf die Intensität von Beschwerden scannen, oder auch für Menschen mit körperbezogenen, hypochondrischen Ängsten, die andauernd überprüfen, ob die Anzeichen der von ihnen gefürchteten Krankheit festzustellen sind (checking behavior). Laienätiologie. Ist eine Beschwerdesymptomatik in
den Fokus der Aufmerksamkeit geraten und wird bewusst wahrgenommen, kann sie immer noch als harmlos und normal bewertet werden (Normalisierung). Dann stellt sie keinen Anlass dar, sich Sorgen zu machen oder zum Arzt zu gehen. Wenn ein Mensch die Körperbeschwerden aber als Anzeichen einer schweren Krankheit interpretiert, z.B. als Hinweis auf eine Krebserkrankung, macht er sich Sorgen und sucht eher einen Arzt auf, um die Beschwerden abklären zu lassen. Die Ursachenvorstellungen der Symptome (Kausalattribution, Laienätiologie) sind ein Bestandteil der subjektiven Krankheitstheorie des Betroffenen. Emotionale Einflüsse. Ob eine Person neu aufgetretene Symptome als Anzeichen einer Krankheit interpretiert und damit zum Arzt geht, ist auch von emotionalen Einflüssen wie Stress, Angst oder Depression abhängig. Dies weiß man aus epidemiologischen Untersuchungen, in denen man Patienten, die an
bestimmten körperlichen Beschwerden z.B. aus dem Magen-Darm-Bereich (Magenschmerzen, Völlegefühl, Blähungen, Verstopfung oder Durchfall) litten, mit Menschen aus der Allgemeinbevölkerung verglichen hat, die an denselben Beschwerden derselben Intensität litten, deswegen aber nicht zum Arzt gegangen waren. Beim Vergleich der Patienten mit den Nicht-Patienten stellte man fest, dass die Patienten höhere Werte auf verschiedenen Indikatoren der Angst, Depressivität und belastender Lebensereignisse aufwiesen. Merke
Es ist nicht allein die Beschwerdesymptomatik als solche, die den Ausschlag dafür gibt, ärztliche Hilfe in Anspruch zu nehmen, sondern die psychischen Belastungen. Jemand, der ängstlich oder depressiv ist, achtet eher auf seine körperlichen Symptome, macht sich mehr Sorgen und geht eher zum Arzt, um Erleichterung durch die diagnostische Abklärung oder Hilfe bei der Bewältigung der Beschwerden zu finden.
Selbstbehandlung. Auch wenn eine Beschwerdesymptomatik als Anzeichen einer Krankheit interpretiert wird, bedeutet dies nicht unbedingt, deswegen einen Arzt aufzusuchen. Viele Betroffene versuchen, die Beschwerden durch Selbstbehandlung zu beseitigen. Sie schonen sich oder benutzen Hausmittel bzw. Medikamente, die sie von früheren Krankheitsepisoden in der Haus-
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Kapitel 2 · Ärztliches Handeln
apotheke haben, oder kaufen sich rezeptfreie Arzneimittel.
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Ärztliche Untersuchung. Was passiert schließlich, wenn Menschen mit neu aufgetretenen Beschwerden in die Arztpraxis kommen? Auch nach ausführlicher Diagnostik wird nur bei der Minderzahl eine organische Ursache festgestellt. In einer Studie an 3000 Patienten einer internistischen Poliklinik, in der alle neu aufgetretenen körperlichen Beschwerden abgeklärt wurden, fand man nur bei 16% eine organische Ursache. Bei Brustschmerzen, Müdigkeit oder Schwindel betrug die Aufklärungsquote sogar nur ungefähr 10%. Sie lag etwas höher bei Beschwerden wie Atemnot oder Ödemen (Wasseransammlungen in den Beinen), etwas niedriger bei Kopfschmerz, Rückenschmerz, Bauchschmerz oder Schlaflosigkeit. In den meisten Fällen konnte also keine organische Ursache gefunden werden. Die Medizin ist stark an der Behandlung von organischen Krankheiten orientiert. Sie besitzt effektive Behandlungsmaßnahmen für die diejenigen 16%, in denen etwas gefunden wird. Für die übrigen 84% ist sie weniger gut ausgerüstet. Wenn keine organische Krankheit vorliegt, sind die Betroffenen meist erleichtert und treten beruhigt den Heimweg an. Diese Reaktion ist auch angemessen, denn nach mehreren Untersuchungen in allgemeinmedizinischen Ambulanzen bessern sich zwischen 70 und 80% neu aufgetretener körperlicher Beschwerden innerhalb von zwei Wochen wieder. Von denjenigen Beschwerden, die sich bis zu diesem Zeitpunkt noch nicht gebessert hatten, waren 60% immerhin nach drei Monaten gebessert. Beschwerden haben also im Allgemeinen eine gute Prognose. Eine Teilgruppe der Betroffenen ist jedoch nicht beruhigt, sondern macht sich weiterhin Sorgen. Diese Patienten haben ein erhöhtes Risiko für die Entwicklung einer somatoformen Störung. äSomatoforme Störung. Patienten mit einer somatoformen Störung nehmen die Versicherung ihres Arztes nicht an, dass keine schwere Krankheit vorliegt. Sie sind trotzdem von einer organischen Verursachung der Beschwerden überzeugt. Wenn nichts gefunden wird, reagieren sie unzufrieden, wechseln den Arzt und wollen erneut diagnostische Untersu-
chungen durchgeführt haben, um die vermutete körperliche Erkrankung doch noch zu entdecken (7 Kap. 1.1.2). äAngststörung und äDepression. Neben der somatoformen Störung sind auch Angststörungen und depressive Störungen in der Allgemeinpraxis häufig. Meist schildern die Patienten dem Arzt zuerst oder sogar ausschließlich ihre körperlichen Beschwerden, wie Müdigkeit, Appetitlosigkeit und Abgeschlagenheit (bei einer Depression) oder Luftnot, Herzklopfen und Schwindel (bei einer Angststörung). Weil die Ärzte dann manchmal nicht nach psychischen Beschwerden nachfragen, werden psychische Störungen im Durchschnitt nur in 50% der Fälle richtig diagnostiziert und noch viel seltener angemessen behandelt. Noch ungünstiger sind die Verhältnisse in der Notfallmedizin. Beispiel: Von den Patienten, die sich wegen Brustschmerzen in einer kardiologischen Notfallambulanz vorstellten, hatten 25% eine Panikstörung. Diese Diagnose wurde von den behandelnden Kardiologen aber in so gut wie allen Fällen übersehen. Ein großes Ziel besteht deshalb darin, Ärzten die Kompetenz zu vermitteln, um psychische Störungen richtig diagnostizieren und behandeln zu können. Die meisten Patienten mit Ängsten oder Depressionen werden nämlich zeitlebens bei ihrem Hausarzt behandelt und nicht bei Spezialisten, wie Psychotherapeuten oder Psychiatern.
Verzögertes Hilfesuchen Während manche Menschen ärztliche Behandlung in Anspruch nehmen, obwohl keine organische Krankheit vorliegt, zögern andere umgekehrt damit, den Arzt aufzusuchen, obwohl sie organisch krank sind. Diese verzögerte Inanspruchnahme (delay) hängt ebenfalls mit psychosozialen Einflussfaktoren zusammen. Sie spielt eine große Rolle beim Herzinfarkt. äHerzinfarkt. Die Mortalität des akuten Herzinfarkts beträgt 50%. Der größte Teil der Sterblichkeit ereignet sich in der Prähospitalzeit, also bevor die Patienten das Krankenhaus erreichen. Wenn die Kranken rechtzeitig in der Klinik ankommen, kann das Blutgerinnsel, das das Herzkranzgefäß verstopft, medikamentös oder mittels einer Ballondilatation
2.6 · Patient und Gesundheitssystem
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Klinik
Herzinfarkt Ein 50-jähriger Mann, der beruflich eine schwere körperliche Arbeit ausübt, verspürt bei der Gartenarbeit plötzlich einen starken Schmerz in Brust und Rücken. Er muss mit jeder Bewegung inne halten, damit der Schmerz wieder nachlässt. Er glaubt zunächst, dass sich infolge einer ungeschickten Bewegung »ein Nerv eingeklemmt« haben könnte, infolge des jahrelangen Verschleißes seiner Wirbelsäule. Er sei immer gesund gewesen, habe gedacht, er könne Bäume ausreißen, und nie geglaubt, dass er etwas am Herzen haben könnte. Nach dem Wochenende geht er wieder
(PTCA) aufgelöst werden. Außerdem wird der Herzrhythmus überwacht, um lebensbedrohliche Rhythmusstörungen (Kammerflimmern) zu bekämpfen. Die Zeit, die vor der Krankenhausaufnahme verstreicht, wird zum größten Teil durch das Zögern der Betroffenen verbraucht. Im obigen Fallbeispiel wird deutlich, wie der Patient versucht, eine Ursache seiner Beschwerden zu finden. Da er eine schwere körperliche Tätigkeit ausübt, hält er seine Wirbelsäule für anfällig. Er könnte bei der Gartenarbeit eine ungeschickte Bewegung gemacht haben, die eine Nerveneinklemmung ausgelöst haben könnte. Ähnliche verharmlosende Erklärungen für ihre Beschwerden hatten drei Viertel der von uns befragten Herzinfarktpatienten vorgenommen. Hinzu kommt oft ein Selbstkonzept, das durch Stärke und geringe Anfälligkeit für Herzkrankheiten geprägt ist. So oder ähnlich argumentierten 50% der von uns befragten Herzinfarktpatienten: »Ich war immer überzeugt davon, ich hab ein wunder wie starkes und gesundes Herz.« Auch das vorübergehende Nachlassen der Beschwerden bestärkt den Patienten darin, dass es nicht so ernst sein könnte. Erst als die Beschwerden wiederkommen, kann er die Ernsthaftigkeit der Erkrankung nicht mehr ignorieren. Letztlich war es das Verhalten des Arztes, der den Notarztwagen alarmiert, das ihm klar macht, wie ernst es um ihn steht. Interessant ist, dass der Patient durch die Vorerfahrungen in seiner Familie eigentlich wissen konn-
zur Arbeit, wo der Schmerz wiederkehrt und schließlich so stark wird, dass er nicht mehr weiterarbeiten kann. Daraufhin sucht er einen Arzt auf, aber nur, um eine Spritze gegen den Schmerz zu bekommen. Im EKG wird jedoch ein Herzinfarkt diagnostiziert. Auf die Frage, was in ihm vorgegangen sei, äußert er: »Todesangst habe ich nicht gehabt, aber ein Peinlichkeitsgefühl, dass jemand sehen könnte, wie ich mit der Arbeit aussetzen musste, war schon da.« Später berichtet er, dass seine Mutter und sein Bruder an einem Herzinfarkt verstorben seien.
te, wie sich ein Herzinfarkt äußert. Möglicherweise war er jedoch durch den Tod von Mutter und Bruder unbewusst so sehr geängstigt, dass er den Infarkt nicht wahrhaben wollte (Verleugnung). Patienten mit Reinfarkt. Patienten brauchen bei einem zweiten oder dritten Herzinfarkt (Reinfarkt) sogar noch länger als beim ersten Mal, bis sie in der Klinik ankommen. Nach ihren Gründen befragt, gaben sie folgendes zu Protokoll: Sie glaubten, dass die Symptome nicht ernst genug waren; hielten sich für wenig anfällig, weil sie seit dem ersten Infarkt gesund gelebt hatten; sie erlebten die erneute Symptomatik als derjenigen beim ersten Infarkt nicht ähnlich, wollten es einfach nicht glauben, dass es schon wieder ein Herzinfarkt ist; oder sie wollten ihren Arzt nicht unnötig belästigen bzw. zögerten in der Nacht oder am Wochenende, den Notdienst zu rufen oder direkt ins Krankenhaus zu gehen. Wenn die Ehefrau für sie anrief, hatten sie weniger Schuldgefühle. Informationskampagnen allein reichen deshalb nicht aus. Neben der Information spielt auch die Motivation eine entscheidende Rolle. Kognitive (Selbstkonzept), emotionale (Angst, Scham, Schuldgefühle) und soziale Faktoren (Erreichbarkeit des Arztes, Anwesenheit eines Dritten) müssen ebenso berücksichtigt werden. Krebsfrüherkennung. Auch bei Krebserkrankungen vergeht oft eine lange Zeit zwischen der Wahrneh-
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Kapitel 2 · Ärztliches Handeln
mung erster Symptome und dem Arztbesuch (delay). Wenn Frauen zu große Angst davor haben, dass der Knoten in der Brust bösartig sein könnte, verdrängen sie die Angst und warten erst einmal ab. Welche Faktoren delay fördern, ist erst wenig geklärt. Geringeres Einkommen, eine niedrigere Schulbildung, Fatalismus, ungünstiges Gesundheitsverhalten, mangelnde soziale Unterstützung, ungünstiger Bewältigungsstil und mangelnde Information trugen in einer Studie in den USA zu einer Verzögerung bei. Auch auf ärztlicher Seite kann es zu einer Verzögerung der rechtzeitigen Diagnostik und Behandlung kommen. Da die Teilnahmerate an Krebsfrüherkennungsuntersuchungen meist sehr gering ist, wurden schon früh psychologische Theorien entwickelt, die die geringe Teilnahmebereitschaft erklären und Ansatzpunkte für Abhilfe finden sollten (z.B. Health-BeliefModell, 7 Kap. 3.1.2). Wissen über Krebs, insbesondere darüber, dass Krebs lange Zeit asymptomatisch sein kann, dass es aber frühe Warnzeichen gibt und Screening die Sterblichkeit vermindert, fördert die Teilnahme an Screening-Verfahren (7 Kap. 3.2.1). Förderlich ist auch die subjektive Risikowahrnehmung, d.h. die Einschätzung, selbst für Brustkrebs anfällig zu sein. Ein gewisses Maß an Angst begünstigt die Teilnahme am Mammographie-Früherkennungsprogramm; aber die Angst darf nicht zu groß sein. Hinderlich sind auch wahrgenommene Barrieren wie Zeitaufwand und Kosten. Einen großen Einfluss hat die individuelle Empfehlung des Arztes. Auch hier spielen neben der Information Fragen der Motivation also die entscheidende Rolle. Laiensystem. Oft nimmt auch das Laiensystem, d.h. Angehörige und Freunde, Einfluss auf die Entscheidung, Hilfe in Anspruch zu nehmen. Manche Herzinfarktpatienten gehen erst dann zum Arzt, wenn sie von ihrer Ehefrau oder auch Arbeitskollegen mit Nachdruck dazu aufgefordert werden. Auch bei Störungen, bei denen wenig Krankheitseinsicht vorliegt, wie z.B. Anorexia nervosa oder Persönlichkeitsstörungen, sind es oft eher die Menschen der Umgebung, die es nicht mehr mit ansehen können und auf einen Arztbesuch drängen. Insbesondere in den unteren sozialen Schichten ist das Laienzuweisungssystem einflussreich. Menschen aus unteren
sozialen Schichten haben eine eher arztmeidende (arztaversive) Haltung.
Determinanten der Inanspruchnahme von Ärzten Folgende Einflussfaktoren entscheiden darüber, ob ein Arzt in Anspruch genommen wird: 4 subjektive Gesundheit (der selbst eingeschätzte Gesundheitszustand). Dies ist der wichtigste Einzelfaktor; 4 subjektiv eingeschätzte Ernsthaftigkeit der Gesundheitsstörung (z.B. Befürchtung, an Krebs erkrankt zu sein), 4 emotionale Einflussfaktoren (Angst, Depression, Stress), 4 Einstellung gegenüber Ärzten (arztaffin vs. arztmeidend), 4 Erreichbarkeit des Arztes (z.B. Notaufnahme am Wochenende), 4 Kosten (Leistungskatalog der Krankenversicherung), 4 Geschlecht (stärkere Inanspruchnahme bei Frauen), 4 Bildungsstand (kurvilineare Beziehung: höhere Inanspruchnahme in der Mittelschicht, geringere in Unter- und Oberschicht), 4 Vorerfahrungen mit Krankheiten und Medizin, 4 finanzielle Zuzahlungen (z.B. Praxisgebühr), 4 Arbeitsmarkt (niedriger Krankenstand bei hoher Arbeitslosigkeit). Der Versicherungsstatus spielt in Deutschland keine Rolle, weil so gut wie alle Bürger (im Unterschied zu den USA) einen ausreichenden Versicherungsschutz besitzen. Auch die für die Erreichbarkeit wichtige räumliche Nähe einer Arztpraxis ist infolge einer relativ hohen Arztdichte (noch) meist gegeben.
Inanspruchnahme komplementärer und alternativer Heilkunde Heilverfahren, die üblicherweise nicht während des Medizinstudiums vermittelt werden, bezeichnet man als komplementäre oder alternative Medizin. Sie werden von ihren Vertretern gegenüber der »Schulmedizin« abgegrenzt. Oft sind sie mit einer besonderen therapeutischen Philosophie oder Welt-
2.6 · Patient und Gesundheitssystem
anschauung verbunden. Teilweise wurden sie auch aus nichteuropäischen Kulturen übernommen (Akupunktur, Ayurveda). Manche dieser in ihrer Vielfalt kaum zu überschauenden Verfahren haben in Deutschland eine starke Tradition (Naturheilkunde, Homöopathie) und spielen in der Gesundheitsversorgung eine wichtige Rolle. Der Anteil der Bevölkerung, der schon einmal Naturheilmittel benutzt hat, steigt seit Jahrzehnten kontinuierlich an. Im Jahr 2004 haben 75% der Westdeutschen angegeben, schon einmal Naturheilmittel verwendet zu haben. Wirksamkeit. Zu immer mehr Methoden aus der alternativen und komplementären Medizin werden inzwischen randomisierte, kontrollierte Wirksamkeitsstudien durchgeführt. Gleichwohl fehlt in vielen Fällen noch immer ein Wirksamkeitsnachweis. Es gibt aber prinzipiell keine Hinderungsgründe, auch diese Verfahren einem Effektivitätsnachweis nach den Kriterien der evidenzbasierten Medizin zu unterziehen. Wer sich über die Wirksamkeit einzelner Methoden informieren möchte, findet entsprechende Studien und Metaanalysen in den Literaturdatenbanken (z.B. Cochrane Library). Eines der häufigsten alternativen Verfahren ist die auf der traditionellen chinesischen Medizin beruhende Akupunktur, deren Effektivität noch ungeklärt ist. In vielen Studien war eine als Plazebo verwandte Scheinakupunktur, bei der nur oberflächlich und nicht an den richtigen Stellen gestochen wurde, genauso wirksam wie die echte Akupunktur. Johanniskrautöl (engl. St. John’s Wort), das zur Behandlung einer milden Depression eingesetzt wird, hat sich hingegen laut vielen RCTs und Metaanalysen bei leichten Depressionen als ebenso wirksam wie pharmakologische Antidepressiva (SSRI) erwiesen. Motive für die Inanspruchnahme alternativer Medizin. Frauen nehmen alternative Medizin häufiger
in Anspruch als Männer, Personen mit höherer Bildung häufiger als solche mit niedrigerer Bildung. Meist sind es Menschen, die eine eher hohe Körpersensibilität aufweisen, für die Gesundheit ein hoher Wert darstellt und die sich gesundheitsbewusst verhalten wollen. Unter den Kranken sind es häufig Menschen mit chronischen Krankheiten und Krebskranke, zu-
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mal in einem fortgeschrittenen Stadium. Ihr Bestreben geht oft dahin, nichts unversucht zu lassen und alle Möglichkeiten auszuschöpfen, um die Krebserkrankung vielleicht doch noch günstig zu beeinflussen (internale Kontrollüberzeugung). Auch der Wunsch, die Behandlung ein Stück weit selbst in der Hand zu haben, mag eine Rolle spielen. In einer Studie mit Brustkrebspatientinnen, die in einem frühen Stadium drei Monate nach der Operation befragt wurden, wiesen diejenigen Frauen, die alternative Medizin in Anspruch nahmen, eine höhere körperliche und psychische Belastung auf. Früher dachte man, dass negative Erfahrungen mit der »Schulmedizin« oder weltanschauliche Voreingenommenheiten das Hauptmotiv für die Inanspruchnahme alternativer Medizin darstellen. Dies scheint aber nicht der Fall zu sein. Vielmehr benutzen viele Menschen alternative Verfahren, insbesondere Naturheilmedizin, als Selbstmedikation bei Befindlichkeitsstörungen geringerer Intensität (z.B. bei grippalen Infekten). Auch als Begleitmedikation zusätzlich zu ärztlich verordneten Medikamenten werden »natürliche« Heilmittel eingesetzt. Nur 4% verwenden ausschließlich Naturheilmittel. Naturheilmittel gelten oft als »sanfte Medizin«, nebenwirkungsarm und förderlich für die Selbstheilungskräfte (im Unterschied zu der als aggressiv erlebten Pharmakotherapie). Ein Heilpraktiker wird von manchen Menschen auch deshalb in Anspruch genommen, weil er oft mehr Kommunikation und Zuwendung bietet als ein Allgemeinarzt. Alternative Medizin kann deshalb auch als niederschwelliges Psychotherapieangebot genutzt werden, das weniger stigmatisierend erlebt wird als der Besuch beim Psychiater oder Psychotherapeuten. Ärztliche Gesprächsführung. Ärzte müssen davon ausgehen, dass viele ihrer Patienten, zumal Krebskranke, an alternativer Medizin interessiert sind. Es ist deshalb sinnvoll, dieses Thema offen anzusprechen. Die Patienten fühlen sich dann besser verstanden und brauchen entsprechende Aktivitäten nicht vor ihrem Arzt geheim zu halten. Für den Arzt wiederum ist es wichtig, über alle Behandlungsmaßnahmen, die der Patient in Anspruch nimmt, Bescheid zu wissen, weil auch Naturheilmittel Nebenwirkungen haben können. Sie können Interaktionen mit
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Kapitel 2 · Ärztliches Handeln
Medikamenten besitzen und so deren Wirksamkeit abschwächen. Zur Orientierung kann folgende Gesprächsleitlinie dienen: Liegen für ein alternatives Verfahren sowohl Belege für die Wirksamkeit wie auch die Sicherheit (keine gravierenden Nebenwirkungen) vor, kann man es dem Patienten empfehlen. Ist die Wirksamkeit zwar ungeklärt, aber es bestehen keine Hinweise auf potentielle Schädlichkeit, kann man es akzeptieren, wenn der Patienten alternative Methoden einsetzt. Abraten sollte man ihm aber dann, wenn weder die Wirksamkeit noch die Sicherheit ausreichend belegt ist. i Vertiefen Kenny E, Muskin PR, Brown R, Gerbarg PL (2001) What the general psychiatrist should know about herbal medicine. Current Psychiatry Reports 3:226–234 (beschreibt pflanzliche Mittel, die zur Verbesserung des psychischen Befindens eingesetzt werden, einschließlich Nebenwirkungen und Interaktionen)
2.6.2
Bedarf und Nachfrage
Über-, Unter- und Fehlversorgung Man unterscheidet das subjektive Bedürfnis des Patienten vom objektiven, expertendefinierten Bedarf. Entspricht die medizinische Behandlung nach Art und Ausmaß diesem Bedarf, spricht man von bedarfsgerechter Versorgung. Der Sachverständigenrat Gesundheit hat in seinem Gutachten 2000/2001 unter der Überschrift »Über-, Unter- und Fehlversorgung« Bereiche unseres Gesundheitssystem identifiziert, in denen die Versorgung nicht dem Bedarf entspricht. Unterversorgung. An erster Stelle wurde kritisiert, dass unser Gesundheitssystem wegen der Dominanz der akutmedizinischen Versorgung nur unzureichend an die Erfordernisse chronisch Kranker angepasst sei. Prävention und Rehabilitation kommen zu kurz (7 Kap. 3.1). Das Angebot von Information und Schulung für Menschen mit chronischen Krankheiten ist unterentwickelt (7 Kap. 2.4.2). Dies führt z.B. dazu, dass Asthmapatienten ihre Medikamente fehlerhaft oder inkonsequent anwenden, wodurch es zu vermeidbaren und kostenträchtigen akuten Exazerbationen (Verschlimmerungen) der
Erkrankung kommen kann. Die unzureichende Blutzuckereinstellung schlecht geschulter Diabetiker hat kurzfristig lebensbedrohliche Stoffwechselentgleisungen und langfristig vermehrte Spätkomplikationen, wie Erblindung, Niereninsuffizienz oder Fußamputationen zur Folge. Eine Unterversorgung besteht auch bei der Diagnostik und Behandlung einer arteriellen Hypertonie. Diese wird nur bei ungefähr der Hälfte der Betroffenen auch erkannt und selbst dann nicht konsequent genug behandelt. Nach den Ergebnissen eines Gesundheitssurveys wiesen lediglich 20% der antihypertensiv Behandelten therapeutische Blutdruckwerte auf. Unterversorgung besteht auch bei psychischen Störungen. Eine Depression wird bei der Hälfte der Betroffenen nicht erkannt. Wenn sie diagnostiziert wird, wird sie in den meisten Fällen nicht konsequent behandelt, obwohl wirksame Behandlungsmöglichkeiten (Antidepressiva, Psychotherapie) zur Verfügung stehen. Um Patienten mit somatoformen Störungen zeitnah und fachgerecht zu behandeln, wäre es erforderlich, dass Psychologen vor Ort in internistischen Polikliniken tätig sind, damit psychologische Diagnostik als integraler Bestandteil der medizinischen Versorgung wahrgenommen wird. Patienten fühlen sich dann nicht »abgeschoben« oder stigmatisiert. Ein Versorgungsdefizit besteht auch im Hinblick auf die psychosoziale Unterstützung körperlich Schwerkranker (z.B. Krebskranker). Die Bedürfnisse Krebskranker im psychologischen Bereich werden meist nicht ausreichend befriedigt. Ihre emotionale Belastung wird oft nicht erkannt, psychische Unterstützung zu selten in die Wege geleitet. Dies trifft insbesondere für die stationäre Akutversorgung und die ambulante Nachsorge zu. Über- und Fehlversorgung. Als Beispiele für Überversorgung werden im Sachverständigengutachten die Ausweitungen von Bypass-Operationen und interventioneller Kardiologie (Ballondilatationen, PTCA) aufgeführt. Sie weisen in Deutschland eine im internationalen Vergleich überdurchschnittlich hohe Leistungsdichte auf, ohne dass sich dies in entsprechend günstigeren Morbiditäts- und Mortalitätsraten niederschlage. Dabei ist allerdings zu bedenken, dass insbesondere der Anteil älterer Men-
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2.6 · Patient und Gesundheitssystem
schen im herzchirurgischen Krankengut ständig zugenommen hat. Bypass-Operationen sind bei älteren Menschen heute mit relativ geringem Risiko und guten Langzeiterfolgen hinsichtlich Lebensqualität und Überlebensrate durchführbar. Als weiteres Beispiel für Überversorgung wird die große Zahl von bildgebenden Untersuchungen (Röntgen, CT) bei unkomplizierten Rückenschmerzen genannt. Als Fehlversorgung können diverse passive Behandlungsansätze (z.B. Injektionsbehandlungen, Fango und Massage, Bettruhe) bei akuten Rückenschmerzen gelten, weil diese wenig wirksam und potentiell schädlich sind.
Diskrepanz zwischen Bedarf und Nachfrage Wenn ein Patient das Bedürfnis für ein bestimmtes Versorgungsangebot verspürt und auch ein Bedarf aus Sicht des Arztes vorliegt, muss das noch nicht bedeuten, dass der Patient die entsprechende medizinische Leistung auch nachfragt. Bedarf und Nachfrage können auseinander klaffen. Es gibt einerseits Patienten, die mehr Leistungen in Anspruch nehmen, als ihrem Bedarf entsprechen würde (over-utilization), andererseits Patienten, bei denen dies umgekehrt ist (under-utilization). Patienten mit somatoformen Störungen gehören zu den high utilizern des Gesundheitssystems. Sie nehmen immer wieder diagnostische und therapeutische Maßnahmen in Anspruch, für die eigentlich kein Bedarf besteht. Selbst Operationen werden bei ihnen viel häufiger durchgeführt als bei organisch Kranken. Auch im Bereich der chronischen Rückenschmerzen ist es eine kleine Gruppe von Patienten, die den Löwenanteil der Kosten verursacht. Auf der anderen Seite stehen »indolente« Patienten, die wenig Symptomaufmerksamkeit zeigen und trotz vorhandenen Bedarfs die medizinische Versorgung nicht in Anspruch nehmen. Angebotsinduzierte Nachfrage. Die Nachfrage wird durch ein vorhandenes Angebot gefördert. Deshalb steigt mit zunehmender Arztdichte in einer Region auch die Nachfrage nach Gesundheitsleistungen. Dem versucht die Kassenärztliche Vereinigung durch Niederlassungssperren zu begegnen. Eigentlich könnte eine höhere Ärztedichte gut für
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die Patienten sein, weil Wettbewerb zwischen den Ärzten zu einer höheren Qualität, z.B. mehr Zeit für den einzelnen Patienten, führen würde. Es gibt jedoch innerhalb der gesetzlichen Krankenversicherung kaum Wettbewerb zwischen Ärzten. Nachfrage kann auch iatrogen induziert werden, wenn sich Ärzte auf bestimmte technische Untersuchungen spezialisieren und zur Auslastung ihrer Geräte an einer hohen Nutzung interessiert sind. Hierbei spielt das Honorarsystem der Krankenversicherung eine wichtige Rolle. So wurde beispielsweise die Knochendichtemessung infolge einer lukrativen Finanzierung binnen kurzem zu einer der kostenträchtigsten Maßnahmen im Gesundheitssystem. Die Einzelleistungshonorierung setzt für Ärzte Anreize, so viele Leistungen wie möglich zu erbringen. Dem versucht die Krankenversicherung entgegenzuwirken, indem sie das maximale Honorarvolumen festsetzt (Budgetierung). Eine Mengenausweitung ärztlicher Leistungen kann auch auf Kosten der Qualität der einzelnen Leistung gehen. Dem wiederum wird durch Maßnahmen der Qualitätssicherung und durch Leitlinien entgegenzuwirken versucht (7 Kap. 2.6.4). Diese und andere Maßnahmen hatten jedoch hinsichtlich der Kostendämpfung immer nur kurzfristige Effekte erzielt.
Gesetzliche und private Krankenversicherung Die Art der Krankenversicherung setzt finanzielle und rechtliche Anreize, die die Nachfrage nach Gesundheitsleistungen steuern. In Deutschland sind 90% der Patienten bei gesetzlichen Krankenkassen (z.B. Allgemeine Ortskrankenkassen, Betriebskrankenkassen, Ersatzkassen) und 10% bei privaten Krankenversicherungen versichert. Solidarprinzip. In der gesetzlichen Krankenversicherung gilt das Solidarprinzip: Jeder bezahlt nach seiner Leistungskraft einkommensabhängige Beiträge, erhält aber je nach seinem Bedarf beitragsunabhängige Leistungen. Die Leistungen werden also nicht wie bei einer echten Versicherung nach dem Schadensrisiko kalkuliert. Die Solidarität bezieht sich auf die Umverteilung von den einkommensstärkeren zu den einkommensschwächeren Personen. (Eine Solidarität zwischen Gesunden und Kranken
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Kapitel 2 · Ärztliches Handeln
bzw. Jungen und Alten gibt es auch in der privaten Krankenversicherung.) Eine Gefahr des Solidarprinzips besteht darin, dass sie die Motivation zur Eigenvorsorge untergräbt, da andere für die eigene Krankheit bezahlen. Die gesetzliche Krankenversicherung funktioniert nach dem Umlageverfahren, d.h. die Beiträge werden unmittelbar wieder ausgegeben. Ein Nachteil dieses Verfahrens ist, dass bei guter Einnahmelage kein Kapitalstock für schlechte Zeiten gebildet, sondern der Leistungskatalog ausgeweitet wurde. Diese Ausweitung konnte in schlechten Zeiten nur schwer wieder rückgängig gemacht werden (»Sozialabbau!«). Dadurch geriet die gesetzliche Krankenversicherung in Defizite, die Beitragserhöhungen notwendig machten. Diese ließen wiederum die Lohnnebenkosten ansteigen, so dass Arbeitsplätze abgebaut wurden. Die gesetzlichen Krankenversicherungen sind Krankheitskostenvollversicherungen. Es können keine Leistungen je nach Präferenz der Versicherten ausgeschlossen werden. Die Finanzierung erfolgt nach dem Sachleistungsprinzip. Dies hat den Nachteil einer mangelnden Transparenz: Die Patienten erfahren in der Regel nicht, wie teuer die Leistung war, die sie in Anspruch genommen haben, weil die Leistung direkt von der Krankenkasse über die Kassenärztlichen Vereinigungen an den Arzt honoriert wird. Dadurch wird die finanzielle Verantwortung des Patienten für sein Handeln untergraben. Damit keine der gesetzlichen Krankenkassen im Wettbewerb benachteiligt ist, weil sie viele einkommensschwächere, ältere oder chronisch kranke Versicherte versorgt, erfolgt zwischen den Kassen ein entsprechender finanzieller Ausgleich (Risikostrukturausgleich). Äquivalenzprinzip. In der privaten Krankenversicherung gilt das Äquivalenzprinzip: Die Versicherungsprämie richtet sich nach dem versicherten Risiko, d.h. dem voraussichtlichen Bedarf. Der Versicherungsanspruch besteht dann für den versicherten tatsächlichen Bedarf. Private Krankenversicherungen funktionieren nach dem Kapitaldeckungsverfahren. Dabei wird ein Kapitalstock gebildet, der die zu erwartenden Kosten abdeckt. Altersrückstellungen während der
jüngeren, gesunden Lebensjahre ermöglichen es, die Prämien trotz höherer Krankheitskosten im Alter möglichst konstant zu halten. Private Krankenversicherungen arbeiten nach dem Kostenerstattungsprinzip. Der Patient tritt gegenüber dem Arzt in Vorleistung und erhält seine Kosten von der Versicherung erstattet. Der Vorteil dieses Verfahrens liegt in der Transparenz der Kosten. Der Patient sieht auf der Arztrechnung, wie teuer die Leistungen sind, die er in Anspruch genommen hat. Nur wenn er den Preis kennt, kann er entsprechend seine Nachfrage lenken. Verfehlte Anreizstrukturen. Infolge der Preisunabhängigkeit der Nachfrage nach Gesundheitsleistungen in der gesetzlichen Krankenversicherung hat es den Anschein, als würden Gesundheitsleistungen kostenlos, zum Nulltarif, zur Verfügung gestellt werden, als wären es unbegrenzt verfügbare Güter oder Dienstleistungen, nicht knappe Ressourcen. Dies verleitet dazu, diese Güter über Gebühr in Anspruch zu nehmen (moral hazard). Dabei handelt der Einzelne durchaus rational, indem er möglichst viele und teure Gesundheitsleistungen in Anspruch nimmt. Er muss sie ja nicht bezahlen. Gesellschaftlich betrachtet, kann dies aber zu Verschwendung führen. Durch Solidarprinzip und Sachleistungsprinzip wird der Nutzen individualisiert, die Kosten werden kollektiviert. Reformempfehlungen. Schon innerhalb des beste-
henden Gesundheitssystems wird versucht, diesen Fehlentwicklungen durch eine höhere Selbstbeteiligung und Schadensfreiheitsrabatte zu begegnen. Weitergehende Reformvorschläge empfehlen eine Unterscheidung von Regelleistungen und Wahlleistungen. Ein definierter Katalog von Regelleistungen deckt existenzbedrohende Risiken ab. Er muss von jeder Versicherung angeboten werden. Es bestehen Kontrahierungszwang und Diskriminierungsverbot, d.h. die Versicherungen müssen jeden Interessenten annehmen. Bagatellleistungen müssten hingegen selbst bezahlt werden. Wenn die Krankheitsursachen durch den Patienten beeinflussbar sind, sollte die entsprechende Krankheit nicht vollständig in die Regelleistung übernommen, sondern auch der Eigenvorsorge anheim gestellt werden.
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2.6 · Patient und Gesundheitssystem
Für die Wahlleistungen wird eine Entstaatlichung und Deregulierung der Krankenversicherung vorgeschlagen. Es sollte stärker der Eigenverantwortung der Menschen überlassen werden, wofür sie sich versichern wollen und wofür nicht. In diesem Bereich bestünde Wahlfreiheit. Unterschiedliche Krankenversicherungen könnten miteinander in Wettbewerb treten, um Marktmechanismen und Wachstumspotentiale zum Vorteil aller freizusetzen. Andere Finanzierungsmodelle. Neben dem deutschen Modell (Bismarck-Modell) gibt es noch andere Modelle der Finanzierung der Gesundheitsversorgung: aus allgemeinen Steuern (SemaschkoModell; ehemalige Sowjetunion, DDR), aus zweckgebundenen Steuern (Beveridge-Modell; National Health Service in Großbritannien) oder in bedeutsamem Maße aus privaten Mitteln der Patienten (Markt-Modell; USA). Diese Modelle haben jeweils spezifische Nachteile. Im Semaschko-Modell war das Gesundheitsbudget vom wechselnden Steueraufkommen und politischen Entscheidungen abhängig. Weil die Ärzte als staatliche Angestellte wenige Anreize hatten, waren sie oft nicht motiviert, ihre Patienten gut zu betreuen. In Großbritannien sind die Ausgaben für die Gesundheitsversorgung deutlicher niedriger als in Deutschland. Deshalb reichen im National Health Service die Finanzmittel nicht aus, so dass wichtige Gesundheitsgüter rationiert werden müssen, mit der Folge von beispielsweise langen Wartezeiten für elektive (nicht dringliche) Operationen wie Hüftgelenksersatz oder Altersgrenzen für lebenserhaltende Behandlungsmaßnahmen wie die Hämodialyse bei chronisch Nierenkranken. In den USA ist die Medizin zwar kundenorientierter als in den staatlich organisierten Systemen. Allerdings sind dort manche Menschen nicht ausreichend krankenversichert, so dass sie sich teure medizinische Maßnahmen nicht leisten können. In den letzten Jahren haben in den USA Managed-care-Systeme, in denen die Autonomie der Patienten und der Ärzte deutlich eingeschränkt wird, an Bedeutung zugenommen (7 Kap. 2.6.4).
Medikalisierung und iatrogene Einflüsse Medikalisierung. Wenn Phänomene des normalen, gesunden Lebens in den Zuständigkeitsbereich der
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Medizin gezogen werden, spricht man von Medikalisierung. Beispiele: Altern wird mit Anti-AgingPräparaten behandelt, Wechseljahresbeschwerden mit Hormonersatztherapie, unerfüllter Kinderwunsch mit In-vitro-Fertilisation. Iatrogene Einflüsse. Einflüsse der Ärzte (iatrogene Einflüsse) auf die Inanspruchnahme findet man beispielsweise bei Patienten mit somatoformen Störungen (Somatisierungsstörung). Diese Patienten suchen immer neue Ärzte auf, um diagnostische Untersuchungen wiederholen zu lassen. Wenn der betreffende Arzt allzu große Angst davor hat, eine organische Krankheit zu übersehen, wird er die gewünschten Wiederholungsuntersuchungen durchführen. Auch juristische Restriktionen und die damit verbundene Angst vor einem Kunstfehlerprozess können zu einer Überdiagnostik führen. Dabei können Fehlurteile in zwei Richtungen auftreten: 1. Diagnostizierung organisch Gesunder als krank (Fehler erster Art). Beispiel: Überinterpretation eines abweichenden Laborwerts. 2. Diagnostizierung eines Kranken als gesund (Fehler zweiter Art). Beispiel: Fehleinschätzung von Beschwerden als psychosomatisch, die tatsächlich organisch verursacht sind. i Vertiefen Oberender P, Hebborn A, Zerth J (2002) Wachstumsmarkt Gesundheit. Lucius & Lucius, Stuttgart (umfassende Analyse der Probleme unseres Gesundheitssystems mit Reformvorschlägen) Sachverständigenrat für die konzertierte Aktion im Gesundheitswesen (2000/2001) Bedarfsgerechtigkeit und Wirtschaftlichkeit. Band 3: Über-, Unter- und Fehlversorgung (umfassende Kritik der Versorgungsdefizite unseres Gesundheitssystems mit Empfehlungen zur Abhilfe) Faller H, Weis J (2005) Bedarf und Akzeptanz psychosozialer Versorgung. In: Faller H (Hrsg) Psychotherapie bei somatischen Erkrankungen. Thieme, Stuttgart 18–31 (Überblick über Bedürfnisse, Bedarf, Akzeptanz und Inanspruchnahme psychischer Unterstützung bei körperlich Kranken)
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Kapitel 2 · Ärztliches Handeln
2.6.3
Patientenkarrieren im Versorgungssystem
Primärarztfunktion und ärztliches Überweisungsverhalten
spezifische Behandlung erhalten, in den Niederlanden nahezu doppelt so hoch wie in Deutschland. Fazit: Der reduzierte therapeutische Einsatz kann zwar die Kosten verringern, aber auch Nachteile für die Patienten mit sich bringen.
Funktion des Hausarztes. Der erste Ansprechpart-
ner bei Gesundheitsproblemen ist der Hausarzt (Primärarzt). Die meisten Gesundheitsprobleme lassen sich auf der Ebene der Primärversorgung lösen. Sind spezielle diagnostische Untersuchungen oder Behandlungen notwendig, kann der Hausarzt den Patienten an einen Facharzt oder eine universitäre Poliklinik überweisen (sekundäre Versorgung). Bei besonders komplizierten Fällen werden schließlich spezialisierte universitäre Zentren herangezogen (tertiäre Versorgung). Je mehr ärztliche Spezialisten bei einem Krankheitsfall beteiligt sind, umso größer sind die Anforderungen an die Kooperation, damit keine Information verloren geht. Aufgabe des Hausarztes ist es, diese Information zu integrieren und den Behandlungsverlauf zu steuern (Hausarzt als Lotse). Er soll den Zugang zu Gesundheitsleistungen (z.B. Facharztüberweisung) kontrollieren (Hausarzt als Gatekeeper). Da die Primärversorgung zudem am kostengünstigsten ist, unternimmt die Gesundheitspolitik in jüngster Zeit vermehrt Anstrengungen, die Rolle des Hausarztes zu stärken. Beispiele: Die bei einem Facharztbesuch erneut zu bezahlende Praxisgebühr entfällt, wenn der Patient zuerst den Hausarzt aufsucht und sich von ihm überweisen lässt. Krankenkassen bieten ihren Versicherten sog. Hausarztmodelle an. Patienten, die sich in ein Hausarztmodell (Managed Care,7 Kap. 2.6.4) einschreiben, verpflichten sich, immer zuerst ihren Hausarzt aufzusuchen, und erhalten dafür einen Beitragsrabatt. Während in Deutschland noch freie Arztwahl herrscht, gibt es in den Niederlanden gesetzlich geregelte Zugangsbeschränkungen zu medizinischen Leistungen. Dort ist für über 95% der Patienten die Praxis des Allgemeinarztes erste Anlaufstelle (in Deutschland 69%). In Deutschland liegt zwar der Anteil derjenigen Patienten, die mindestens einen weiteren Arzt aufsuchten, höher als in den Niederlanden, in den Niederlanden jedoch die Zahl der Krankenhauseinweisungen. Zudem ist der Anteil von Patienten mit psychischen Störungen, die keine
Konsultationsdauer und Honorarsystem. Eine
Konsultation beim Primärarzt dauert im Durchschnitt sechs europäischer Länder 10,7 min. Deutschland (7,6 min) und Spanien (7,8 min) hatten die kürzesten, Belgien (15,0 min) und die Schweiz (15,6 min) die längsten Konsultationen. Diese Unterschiede lassen sich durch die Honorarsysteme der Länder erklären. In Deutschland, wo Ärzte nach der Zahl der Leistungen bezahlt (Einzelleistungsgebühr) werden, haben Allgemeinärzte im Durchschnitt mehr als 200 Patientenkontakte pro Woche. Dies schlägt sich in kürzeren Konsultationszeiten nieder. In Belgien und der Schweiz arbeiten Allgemeinärzte in einem offenen Markt. Die Patienten haben direkten Zugang zu mehreren Allgemeinärzten und Fachärzten. Dies bedeutet, dass die Ärzte Zeit investieren müssen, um ihre Patienten zufrieden zu stellen und sie an sich zu binden. Zudem werden Allgemeinärzte in Belgien und der Schweiz am Ende der Konsultation vom Patienten direkt bezahlt. Großbritannien und die Niederlande, wo die Hausärzte als gatekeeper des Gesundheitssystems fungieren, eine feste Anzahl von Patienten pro Woche versorgen und per Patient (nicht per Leistung) bezahlt werden, liegen hinsichtlich der Konsultationszeit im mittleren Bereich. Patienten mit psychischen Problemen hatten in dieser Studie eine etwas längere Konsultationszeit. Entscheidend war dabei jedoch, ob der Arzt dieses psychische Problem erkannte, nicht ob der Patient ein solches Problem hatte. Um die Versorgung chronisch Kranker zu verbessern, wurden Disease-Management-Programme eingeführt, die anhand von Leitlinien eine bedarfsgerechte Versorgung sicherstellen sollen (7 Kap. 2.1.1). Bestandteil dieser Programme ist u.a. die Patientenschulung (7 Kap. 2.4.2). Im ambulanten Bereich gab es bislang hier noch sehr wenige Angebote, was sich derzeit aber ändert. Vorreiter waren Schwerpunktpraxen für Patienten mit Diabetes mellitus.
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2.6 · Patient und Gesundheitssystem
Strukturelle Besonderheiten des deutschen Gesundheitssystems Das deutsche Gesundheitssystem ist stark sektoral gegliedert. Die unterschiedlichen Sektoren der Versorgung werden vom Patienten der Reihe nach durchlaufen (Patientenkarriere): ambulante Versorgung (Praxis eines niedergelassenen Arztes), stationäre Versorgung (Krankenhaus), Rehabilitation (stationäre oder ambulante Rehabilitationseinrichtung), wieder zurück in die ambulante Versorgung usw. Dieses System ist für den Patienten oft nicht durchschaubar, weil sich Zugangswege und finanzielle Trägerschaft unterscheiden (7 Kap. 3.1.5). Während er einen niedergelassenen Allgemeinarzt oder Facharzt von sich aus aufsuchen kann, muss eine stationäre Behandlung bei Angehörigen der gesetzlichen Krankenversicherung vom Arzt verordnet werden. Ambulante und stationäre Versorgung werden von der Krankenversicherung (gesetzlich oder privat) bezahlt. Der stationäre Sektor hat den größten Anteil an den Krankheitskosten, gefolgt von ambulanten Arztkosten und Medikamenten. Die Kosten für stationäre Behandlungen sind zudem in den letzten Jahren am stärksten angestiegen. Zwar wird die Verweildauer der Patienten im Krankenhaus immer kürzer; aber immer mehr Patienten nehmen immer mehr Leistungen in Anspruch. Deshalb zielen gesundheitspolitische Bemühungen darauf ab, stationäre Behandlungen, wenn immer möglich, zu vermeiden. Für die medizinische Rehabilitation ist bei erwerbstätigen Menschen hingegen die Rentenversicherung, für Rentner ebenfalls die Krankenversicherung zuständig. Um in den Genuss einer Reha-Maßnahme zu kommen, muss der Patient einen Antrag stellen, der vom zuständigen Träger bewilligt werden muss. Bis 2005 war die Rentenversicherung für Angestellte und Arbeiter unterschiedlich organisiert (Bundesversicherungsanstalt für Angestellte bzw. Landesversicherungsanstalten). Heute ist die Deutsche Rentenversicherung nicht mehr nach beruflichem Status, sondern regional gegliedert. Schnittstellenproblematik. Wegen der starken sektoralen Gliederung kommt es zwischen den einzelnen Sektoren zu Schnittstellenproblemen, z.B. bei der Weitergabe von Informationen. Hausärzte be-
2
klagen sich, dass sie oft erst spät nach der Entlassung eines Patienten aus dem Krankenhaus oder einer Reha-Klinik einen Arztbrief erhalten, in dem die durchgeführten diagnostischen und therapeutischen Maßnahmen und Empfehlungen für die Weiterbehandlung enthalten sind. Diese Schnittstellenproblematik ist vor allem bei chronisch Kranken ausgeprägt, weil diese im Verlauf ihrer Krankheit die einzelnen Sektoren meist mehrfach durchlaufen.
2.6.4
Qualitätsmanagement im Gesundheitswesen
Patienten wie auch Kostenträger von Gesundheitsleistungen erwarten eine qualitativ hochwertige medizinische Versorgung. Behandlungsmaßnahmen sollen nachgewiesenermaßen wirksam sein (evidenzbasierte Medizin, 7 Kap. 1.3.7). Entscheidungen von Ärzten und anderen an der Gesundheitsversorgung beteiligten Berufsgruppen sollen transparent und nachvollziehbar sein.
Der Qualitätsbegriff Das Institute of Medicine (USA) definiert Qualität im Gesundheitswesen als »das Ausmaß, in dem Gesundheitsleistungen […] die Wahrscheinlichkeit gewünschter gesundheitlicher Behandlungsergebnisse erhöhen und mit dem gegenwärtigen professionellen Wissensstand übereinstimmen«. Gute Qualität lässt sich damit als wirksame, bedarfsgerechte, fachlich qualifizierte, aber auch wirtschaftliche Leistungserbringung beschreiben. Avedis Donabedian führte bereits 1966 eine Unterteilung in drei Qualitätsdimensionen ein.
Qualitätssicherung und -management Qualitätssicherung und Qualitätsmanagement beschreiben das Bemühen, die Versorgungsrealität mit Blick auf einen als optimal angenommenen Sollwert oder Standard zu verbessern. Die Begriffe Qualitätssicherung und Qualitätsmanagement werden häufig synonym gebraucht. Externe Qualitätssicherung. Bei der externen Qua-
litätssicherung unterliegt die Qualitätskontrolle (z.B.
258
Kapitel 2 · Ärztliches Handeln
Merke
2
Dimensionen der Qualität Strukturqualität: Voraussetzungen und Rahmenbedingungen einer Leistung. Beispiele: personelle, räumliche und technische Ausstattung eines Krankenhauses. Prozessqualität: Anforderungen an den Ablauf einer Leistung. Beispiele: eine bestimmte Mindestanzahl von Therapiestunden pro Patient, Einsatz von Behandlungsmethoden, für die wissenschaftliche Evidenz besteht. Ergebnisqualität: Güte des Ergebnisses einer Leistung. Beispiel: Verbesserung des Gesundheitszustandes oder der Lebensqualität von Patienten.
bezüglich der Vorgabe und Einhaltung von Standards) einer außenstehenden Institution, die, wenn nötig, auch Maßnahmen ergreift, um Qualitätsmängel zu beseitigen. Dies können Vorgaben von Krankenkassen und anderen Kostenträgern bezüglich bestimmter struktureller Anforderungen sein (z.B. Personalschlüssel) oder auch Vorgaben, die unmittelbar die Behandlung der Patienten betreffen (z.B. Leitlinien). Interne Qualitätssicherung. Unter interner Quali-
tätssicherung werden qualitätsoptimierende Bemühungen der Leistungserbringer selbst (z.B. Arztpraxen, Kliniken) verstanden. Dies können beispielsweise Zufriedenheitsbefragungen von Patienten und Mitarbeitern sein, Qualitätszirkel (s.u.) oder auch Supervision. In diesem Zusammenhang wird insbesondere auch häufig der Begriff Qualitätsmanagement gebraucht. Interne und externe Maßnahmen ergänzen einander: Interne Maßnahmen sind notwendig, um Probleme vor Ort zu klären und unter Mitwirkung der Betroffenen zu lösen, während externe Maßnahmen der Kostenträger dazu dienen, ihrer Verantwortung für die Sicherstellung einer effektiven und effizienten Leistungserbringung gerecht zu werden. Ein vorrangiges Ziel von Qualitätssicherung ist es immer, Abläufe transparent und damit auch überprüfbar bzw. korrigierbar zu machen.
Konflikte. Qualitätssicherung ist notwendig, um eine hochwertige Versorgung zu gewährleisten. Dennoch kann es zu Konflikten kommen. Beispielsweise können sich Ärzte oder Kliniken durch externe Qualitätssicherungsprogramme kontrolliert fühlen, wenn von Seiten des Kostenträgers strukturelle Anforderungen überprüft oder Patienten zu ihrer Behandlung befragt werden. Auch internes Qualitätsmanagement birgt Konfliktpotentiale. Insbesondere bei der Einführung entsprechender Maßnahmen entsteht für die Betroffenen häufig zusätzlicher Arbeitsaufwand. Beispielsweise, wenn die eigene Arbeit dokumentiert werden muss oder Mitarbeiter zur Qualitätszirkelarbeit »überredet« werden. Besteht in einer Einrichtung keine Akzeptanz bezüglich der Qualitätssicherungsmaßnahmen, so kann es zu Datenverfälschungen (»geschönte Angaben«) und letztendlich zum Scheitern der Qualitätsbemühungen kommen. Um diese Situation zu vermeiden, ist es unerlässlich, die betroffenen Personen frühzeitig in die Konzeption von Qualitätssicherungsmaßnahmen einzubeziehen. Auf diese Weise kann sichergestellt werden, dass die eingesetzten Methoden für den jeweiligen Kontext angemessen sind und von den Beteiligten akzeptiert werden. Vor dem Hintergrund eines zunehmenden Kostendrucks im Gesundheitswesen kann es zum Konflikt zwischen Qualität und Wirtschaftlichkeit kommen. Gerade um zu vermeiden, dass Maßnahmen zur Kostensenkung die Versorgung beeinträchtigen, ist Qualitätssicherung notwendig. Beispielsweise wird durch die Orientierung an Leitlinien (7 Kap. 2.3.3) angestrebt, dass der Patient eine angemessene Behandlung erhält. Konflikt zwischen Qualität und Patientenzufriedenheit: Da eine qualitativ angemessene Behandlung nicht zwangsläufig den Erwartungen des Patienten entspricht, kann es auch hier zu Konflikten kommen. Ein Patient, der mit Erholungs- und Wellness-Erwartungen in eine Rehabilitationsklinik kommt und dort beispielsweise an einer Arbeitsund Belastungserprobung teilnehmen soll, könnte sich unzufrieden über seine Behandlung äußern, wenngleich diese einem hohen Qualitätsstandard entspricht.
2.6 · Patient und Gesundheitssystem
Methoden zur Sicherung bzw. Optimierung der Qualität Peer-Review. Beim Peer-Review handelt es sich um
eine Qualitätsprüfung von Behandlungsprozessen und -ergebnissen durch Fachkollegen (»Peers«). Initiator von solchen Qualitätsprüfungen können z.B. Kostenträger sein, womit sich diese Maßnahme der externen Qualitätssicherung zuordnen lässt. In der stationären medizinischen Rehabilitation beispielsweise begutachten Ärzte die Behandlungsunterlagen (Entlassungsberichte, Therapiepläne) von Fachkollegen im Hinblick auf mögliche Qualitätsmängel. Die Begutachtung erfolgt anonym, die Ergebnisse werden der begutachteten Klinik zurückgemeldet, mit dem Ziel, eine Qualitätsverbesserung in der Einrichtung anzuregen. Qualitätszirkel. Qualitätszirkel stellen ein geläufiges Element interner Qualitätssicherung dar. Hierbei handelt es sich um eine überschaubare, möglichst hierarchiefreie Gesprächsgruppe, in der sich Mitarbeiter (meist unter Anleitung eines geschulten Moderators) freiwillig und regelmäßig treffen, um Lösungen für konkrete Probleme des Berufsalltags zu erarbeiten. Supervision. Unter Supervision versteht man eine Form von Beratung für Einzelpersonen und Teams. Mit Unterstützung eines Supervisors werden berufsbezogene Probleme (z.B. mit Kollegen oder Patienten) besprochen, um gemeinsam Lösungen zu finden (z.B. Balintgruppe, 7 Kap. 2.1.4). Insbesondere in emotional belastenden Arbeitskontexten, wie z.B. auf einer Kinderkrebsstation, sollte Supervision angeboten werden, um die Qualität der Arbeit zu sichern. Organisations- und Personalentwicklung. Maß-
nahmen zur Verbesserung der Qualität der Arbeit einer Organisation wie z.B. eines Krankenhauses bezeichnet man als Organisationsentwicklung, Maßnahmen zur Höherqualifizierung der Mitarbeiter als Personalentwicklung.
Patientenzufriedenheit und gesundheitsbezogene Lebensqualität Das subjektive Urteil der Patienten über die Qualität ihrer Behandlung wird zunehmend wichtiger. Pa-
259
2
tienten werden sowohl in groß angelegten Qualitätssicherungsprogrammen z.B. von den Krankenkassen (externe Qualitätssicherung) nach ihrer Zufriedenheit mit den Behandlungsmaßnahmen gefragt als auch durch Kliniken und Arztpraxen selbst (interne Qualitätssicherung). Dies geschieht meist in Form eines Fragebogens. Patientenzufriedenheit. Die Patientenzufriedenheit
lässt sich in mehrere Dimensionen unterteilen, wobei verschiedene Fragebögen jeweils andere Schwerpunkte setzen. Folgende Dimensionen sind gebräuchlich: 4 Zufriedenheit mit dem interpersonalen Verhalten der Ärzte, Pflegekräfte etc. (z.B. Freundlichkeit), 4 Zufriedenheit mit Bürokratie und Organisation (z.B. Wartezeiten), 4 wahrgenommene technische Qualität (z.B. apparative Ausstattung) und wahrgenommene fachliche Kompetenz, 4 Zufriedenheit mit Art und Umfang von Informationen, 4 Zufriedenheit mit den Kosten im Verhältnis zum Nutzen der Maßnahme, 4 Zufriedenheit mit der Wirksamkeit bzw. mit den Ergebnissen der Behandlung (z.B. Wurden die Erwartungen des Patienten bezüglich einer Verbesserung des Gesundheitszustandes erfüllt?, 7 Kap. 2.2.1), 4 Zufriedenheit mit der Umgebung (z.B. Freizeitangebot in einer Rehabilitationsklinik), 4 Zufriedenheit mit »Hotelleistungen« (z.B. Verpflegung, Ausstattung des Zimmers in der Klinik). Es werden also nicht nur das Verhalten von Ärzten und Pflegekräften oder das Behandlungsergebnis bewertet, sondern auch Umgebungsmerkmale, von denen man annimmt, dass sie die Zufriedenheit des Patienten beeinflussen könnten. In . Abbildung 2.3 ist ein Ausschnitt aus einer Zufriedenheitsbefragung für Patienten einer Rehabilitationsklinik abgebildet. Einflussfaktoren auf die Patientenzufriedenheit.
Ein Problem ist, dass Zufriedenheitswerte generell sehr hoch ausfallen und sich wenig zwischen unterschiedlichen Kliniken oder Stationen unterscheiden.
260
Kapitel 2 · Ärztliches Handeln
. Abb 2.3. Zufriedenheitsfragebogen (Ausschnitt)
2
Dies schränkt ihren Wert ein. Hinzu kommt, dass Merkmale des Patienten einen stärkeren Einfluss auf die Zufriedenheit ausüben als Merkmale des Arztkontakts oder der jeweiligen medizinischen Einrichtung. Unter den Patientenmerkmalen spielt vor allem das Alter eine Rolle: Ältere Patienten sind zufriedener als jüngere. Aber auch die allgemeine Lebenszufriedenheit, die subjektive Gesundheitswahrnehmung und das psychische Befinden stehen mit der Zufriedenheit in Zusammenhang. Unter den Merkmalen des Arztkontakts ist es insbesondere die Kontinuität der Versorgung, die zu einer hohen Zufriedenheit beiträgt. Patienten, die kontinuierlich vom selben Arzt betreut werden, sind zufriedener als diejenigen, deren Arzt häufig wechselt. Auch Zuwendung und Empathie des Arztes führen zu höherer Zufriedenheit. Ist die Zufriedenheit höher, wenn das Behandlungsergebnis gut ausfällt? Dies gilt nur zum Teil, nämlich für die subjektive Bewertung des Ergebnisses aus der Sicht des Patienten, nicht aber für das objektive medizinische Behandlungsergebnis. Ein weiterer Einflussfaktor auf die Zufriedenheit ist, ob Patienten ihre Erwartungen an einen Arztbesuch erfüllt sehen. Bei unerfüllten Erwartungen sinkt die Zufriedenheit. Zufriedenheit hat auf der anderen Seite Auswirkungen auf die Compliance: Zufriedenere Patienten halten sich eher an die Empfehlungen ihres Arztes.
Gesundheitsbezogene Lebensqualität. Als weite-
res wichtiges patientenbezogenes Maß im Zusammenhang mit Qualitätssicherung wird die Lebensqualität des Patienten (7 Kap. 1.1.2) erfasst. Gesundheitsbezogene Lebensqualität lässt sich als die subjektive Wahrnehmung des eigenen Gesundheitszustandes beschreiben und kann der Dimension der Ergebnisqualität (s.o.) zugeordnet werden. Auch wenn die Möglichkeiten zur objektiven Verbesserung des körperlichen Zustandes eines Patienten im Einzelfall begrenzt sein können (z.B. bei chronischen Erkrankungen oder bei Krebserkrankungen im Endstadium), so bleibt die Verbesserung der Lebensqualität ein wichtiges Ziel der Behandlung und kann dementsprechend erfasst werden, um die Ergebnisqualität zu bestimmen. Um die Lebensqualität von Patienten zu erfassen, gibt es verschiedene Fragebögen (7 Kap. 1.1.2). Verrechnet man die bei einem Patienten gemessene Lebensqualität mit seiner Lebenserwartung bei einer bestimmten Erkrankung, so ist es möglich, die so genannten »qualitätsangepassten Lebensjahre« (quality adjusted life years, QUALY) zu bestimmen. Die QUALYs werden häufig in gesundheitsökonomischen Studien berechnet, wenn z.B. das Verhältnis von Kosten und Nutzen verschiedener Behandlungsmethoden verglichen wird.
261
2.6 · Patient und Gesundheitssystem
Qualitätswettbewerb, Kostendruck und organisatorischer Wandel im Gesundheitswesen Die Frage nach der Qualität von Gesundheitsleistungen gewinnt vor dem Hintergrund der finanziell angespannten Lage im Gesundheitswesen sowie der gesetzlichen Bestimmungen zunehmend an Bedeutung. Kostendruck und organisatorischer Wandel im Gesundheitswesen. Als Beispiel für den organisatori-
schen Wandel im Gesundheitswesen lassen sich die Veränderung bei der Vergütung von Krankenhausleistungen und die stärkere Selbstbeteiligung von Patienten an den Kosten für Gesundheitsleistungen anführen. Diagnosis-Related-Groups (DRG). Die Vergütung von Krankenhausbehandlungen wurde von Tagessätzen auf Fallpauschalen, so genannte DRGs umgestellt. Dies bedeutet, dass die Behandlung bei einer bestimmten Erkrankung bzw. einem bestimmten operativen Eingriff (z.B. Blinddarmoperation) mit einem Pauschalbetrag vergütet wird und nicht mehr entsprechend der Anzahl der Tage (Tagessätze), die der Patient im Krankenhaus verbringt. Qualitätssicherung ist in diesem Zusammenhang wichtig, um sicherzustellen, dass kein Patient aus Kostengründen zu früh aus der Klinik entlassen wird. Patientenselbstbeteiligung. Patienten müssen zunehmend mehr Geld in ihre Gesundheit investieren (z.B. Zuzahlungen zu Medikamenten, Praxisgebühren), was sicherlich auch dazu beiträgt, dass die eingekaufte Leistung (Beratung und Behandlung durch Arzt und Klinik) in guter Qualität eingefordert wird. Den zunehmenden Kostendruck spüren Kostenträger genauso wie Kliniken und Patienten. Nachweise für Effizienz und Qualität werden vor diesem Hintergrund vermehrt in den Blickpunkt der Betrachtung rücken. Qualitätswettbewerb. Die genannten Faktoren führen bei den Leistungserbringern zu einem vermehrten Qualitätswettbewerb, um sich auf dem Markt positionieren zu können. Beispielsweise müssen sich im Rahmen externer Qualitätssicherung einzelne
2
Kliniken mit anderen Einrichtungen im Hinblick auf die Ergebnisqualität vergleichen lassen. In Zukunft wird die Qualität der Klinikbehandlung ein wichtiges Kriterium für die Versorgungsplanung und Zuweisungssteuerung durch die Kostenträger darstellen. Managed Care. Managed Care (= geführte Versor-
gung; 7 Kap. 3.1.5) ist ein Beispiel dafür, dass in letzter Zeit vermehrt Management-Prinzipien auf die medizinische Versorgung angewandt werden. Das Konzept kommt aus den USA und ist dadurch gekennzeichnet, dass der Kostenträger den Patienten gezielt durch bestimmte Behandlungsstationen führt und dem Patienten damit weniger Wahlfreiheit bleibt. Ziel von Managed Care ist es, durch eine bessere Steuerung der Leistungserbringung eine qualitativ angemessene Versorgung sicherzustellen und Kosten zu sparen. In Deutschland werden, beispielsweise durch einzelne Krankenkassen, zunehmend Elemente von Managed Care in der Versorgung realisiert. Charakteristisch für Managed-Care-Systeme ist eine eingeschränkte Arztwahl. Ausgewählte Ärzte und Kliniken, die bestimmte Kriterien (Strukturqualität) erfüllen müssen, werden als Vertragspartner an die Versicherung gebunden. So entstehen Behandlungsnetzwerke. Eine besondere Stellung kommt in diesem System dem Hausarzt zu. Er fungiert als »Gatekeeper« der Behandlung, indem er den Patienten zu den an das Netzwerk angeschlossenen Spezialisten überweisen kann. Fallpauschalen (s.o. DRG) sind ein weiteres Charakteristikum von Managed CareSystemen. Durch die Anwendung von Leitlinien und evidenzbasierten Behandlungsmaßnahmen (Prozessqualität) innerhalb des Managed-Care-Systems soll die Qualität der Versorgung gewährleistet werden. i Vertiefen Helou A, Schwartz FW, Ollenschläger G (2002) Qualitätsmanagement und Qualitätssicherung in Deutschland. Bundesgesundheitsblatt – Gesundheitsforschung – Gesundheitsschutz 45:205–214 (Übersichtsartikel)
3 3 Förderung und Erhaltung von Gesundheit 3.1
Prävention – 264
3.1.1 3.1.2 3.1.3 3.1.4 3.1.5 3.1.6
Präventionsbegriff – 264 Primäre Prävention – 265 Sekundäre Prävention – 270 Tertiäre Prävention/Rehabilitation – 278 Formen psychosozialer Hilfen – 285 Sozialberatung – 287
3.2
Maßnahmen
– 289
3.2.1 Gesundheitserziehung und Gesundheitsförderung – 289 3.2.2 Verhaltensänderung – 297 3.2.3 Rehabilitation, Soziotherapie, Selbsthilfe und Pflege – 300
264
Kapitel 3 · Förderung und Erhaltung von Gesundheit
3.1
Prävention
> > Einleitung
3
Auch die Vorbeugung von Krankheiten gehört zu den Aufgaben der Medizin. Der größte Anteil an der Entstehung häufiger körperlicher Krankheiten wie Lungenkrebs und koronare Herzkrankheit kann verhaltensabhängigen und damit prinzipiell veränderbaren Risikofaktoren zugeschrieben werden. Wie diese Risikofaktoren beseitigt und ein gesunder Lebensstil gefördert werden können, ist ein zunehmend wichtigeres Aufgabengebiet der Medizinischen Psychologie. Es fällt den Betroffenen nämlich meist nicht leicht, die Empfehlungen ihres Arztes in die Tat umzusetzen. Dies gilt nicht nur für (noch) Gesunde, sondern auch für Patienten, die schon an einer chronischen Krankheit leiden. Sie benötigen Unterstützung, um die Folgen ihrer Krankheit bewältigen und möglichst weitgehend am normalen Leben teilnehmen zu können. Diese Hilfe zur Bewältigung einer chronischen Krankheit wird von der medizinischen Rehabilitation geleistet.
3.1.1
Präventionsbegriff
Vorbeugen ist besser als heilen. Es erscheint vernünftiger, die Entstehung einer Erkrankung zu verhindern, als abzuwarten, bis ein Gesundheitsschaden eingetreten ist, der dann oft nicht mehr oder nur unvollständig wieder beseitigt werden kann. Obwohl dieser Gedanke allgemein akzeptiert ist, hat er noch wenig Eingang in das praktische Handeln in unserem Gesundheitssystem gefunden. Der Sachverständigenrat für die Gesundheit hat deshalb in seinen Gutachten kritisiert, dass das Gesundheitswesen zu stark an der kurativen Akutversorgung orientiert ist und zu wenig für Prävention und Rehabilitation getan wird.
Formen der Prävention Man unterscheidet drei Formen der Prävention: 4 Primäre Prävention: Verhinderung der Entstehung einer Erkrankung. Beispiel: Lebensstiländerung (z.B. gesunde Ernährung, körperliche Aktivität), um einer koronaren Herzkrankheit vorzubeugen. Zielgruppe: Gesunde.
4 Sekundäre Prävention: Früherkennung von Krankheiten; Prävention von Krankheiten bei bestehenden Risikofaktoren. Beispiel: Mammographie, um eine Brustkrebserkrankung möglichst frühzeitig diagnostizieren und behandeln zu können. Zielgruppe: Risikopersonen. Neuerdings wird auch die Verhinderung von Krankheitsrezidiven (z.B. Reinfarkt) nach behandelter Ersterkrankung als Sekundärprävention bezeichnet. 4 Tertiäre Prävention: Verhütung von Verschlimmerungen und bleibenden Schäden bei schon bestehender Krankheit. Abmilderung des Verlaufs einer Krankheit und der Krankheitsfolgen (Rehabilitation). Beispiel: umfassendes Rehabilitationsprogramm (Ernährungsberatung, körperliches Training, medikamentöse Einstellung, Patientenschulung), um einem ungünstigen Verlauf der koronaren Herzkrankheit vorzubeugen und die körperliche Leistungsfähigkeit zu erhalten. Zielgruppe: Erkrankte. Die zur sekundären Prävention zählenden Früherkennungsmaßnahmen mittels Screening-Tests sind im GK in Kap. 3.2.1 zu finden. Sie werden oft fälschlicherweise als Vorsorgemaßnahmen bezeichnet. Damit lässt sich jedoch eine Krankheit nicht verhindern, sondern lediglich früher diagnostizieren. Die Abgrenzung einer primordialen Prävention (Verhinderung des Eintretens eines Risikofaktors für eine Erkrankung) von der primären Prävention hat sich nicht durchgesetzt. Ertrag und Aufwand. Etwa 80% der Herzinfarkte
und 70% der Schlaganfälle sind durch verhaltensabhängige Risikofaktoren zu erklären und damit prinzipiell vermeidbar. Dazu müssten allerdings sehr viele noch gesunde Menschen, von denen jeder nur ein geringes Risiko trägt, ihr Verhalten ändern. Ein Paradox der Prävention besteht deshalb darin, dass theoretisch kleine Effekte bei sehr vielen Menschen (Allgemeinbevölkerung) mehr Ertrag bringen könnten als große Effekte bei wenigen Menschen (Hochrisikopersonen). Maßnahmen zur primären Prävention sind aber sehr aufwendig und kostspielig, weil prinzipiell die ganze Bevölkerung eingeschlossen werden muss. Der Ertrag ist jedoch teilweise nicht ausreichend belegt.
265
3.1 · Prävention
Weil in der gesunden Allgemeinbevölkerung die Inzidenz selbst der häufigeren Erkrankungen insgesamt sehr niedrig ist, lassen sich auch nur geringe absolute Risikoreduktionen erzielen. Dies bedeutet, dass zwar sehr viele Menschen eine Präventionsmaßnahme erhalten müssen, jedoch nur wenige davon profitieren, indem bei ihnen die Entstehung einer Erkrankung verhindert wird (ein weiteres Präventionsparadox). Betrachtet wird jeweils das Verhältnis zwischen der Zahl derjenigen, die eine Präventionsmaßnahme durchführen, und der Zahl derjenigen, bei denen eine Erkrankung verhindert wird. Dieses Verhältnis fällt deutlich günstiger aus, wenn man die Maßnahme bei einer Hochrisikogruppe durchführt (z.B. Frauen aus Familien mit Brustkrebshäufung; 7 Kap. 2.5.5) oder wenn man im Rahmen der sekundären/tertiären Prävention anstrebt, das Rezidiv einer Erkrankung zu verhindern (z.B. Verhinderung eines Reinfarkts bei Herzinfarktpatienten). Anhand der Ergebnisse von Präventionsstudien lässt sich genau berechnen, wie viele Menschen sich einer Maßnahme unterziehen müssen, um bei einem von ihnen ein unerwünschtes Ereignis (neu aufgetretene Krankheit bzw. Krankheitsrezidiv) zu verhindern (number needed to treat). Dieser Sachverhalt wird in Kap. 3.1.3 genauer dargestellt. In der Gesundheitsökonomie betrachtet man die Kosten pro gewonnenem Lebensjahr (life years saved, LYS). Programme mit Kosten von weniger als 10.000 Euro/LYS gelten als eindeutig effizient, mit 10.000–50.000 Euro/LYS als gleichwertig mit akutmedizinischen Interventionen. Beispiele für effiziente Programme: Ernährungsumstellung bei Hypercholesterinämie, Raucherentwöhnungsprogramme. i Vertiefen Hurrelmann T, Klotz T, Haisch J (Hrsg) (2004) Lehrbuch Prävention und Gesundheitsförderung. Huber, Bern (breiter Überblick zu Grundlagen und Anwendungen in unterschiedlichen Feldern) Walter U, Schwartz FW (2003) Prävention. In: Schwartz FW, Badura B, Busse R, Leidl R, Raspe H, Siegrist J, Walter U (Hrsg) Das Public Health-Buch. Gesundheit und Gesundheitswesen. 2. Aufl. Urban & Fischer, München (gute Einführung in die Thematik)
3.1.2
3
Primäre Prävention
Befragt man die Allgemeinbevölkerung nach ihren Wertvorstellungen, wird an erster Stelle meist Gesundheit genannt. Gesundheit hat für das Individuum wie auch für die Gesellschaft einen hohen Wert. Diese Wertschätzung zeigt sich zum einen an den hohen Ausgaben für das Gesundheitswesen auf gesellschaftlicher Ebene (wobei diese Ausgaben wahrscheinlich noch stark ansteigen würden, wenn sie nicht durch Kostendämpfungsgesetze und Budgetierungen daran gehindert würden). Sie zeigt sich auch in der individuellen Bereitschaft, Geld für Gesundheitsleistungen und Wellness-Produkte auszugeben. Gesundheit ist ein Wachstumsmarkt. Analog zur wirtschaftswissenschaftlichen Bezeichnung »Humankapital« für Ausbildung, Fähigkeiten und Wissen eines Menschen kann man auch von Gesundheit als einem »persönlichen Kapital« sprechen. In jüngster Zeit haben sich Bestrebungen nicht nur auf die Vermeidung von Krankheit, sondern auch auf die Vermehrung von Gesundheit gerichtet. Die Idee hinter diesen Bestrebungen ist, dass eine unspezifische Stärkung der Gesundheit auf breiter Linie vor Krankheiten schützen sollte (Protektion). Man ging auf die Suche nach Eigenschaften von Menschen, die trotz widriger äußerer Umstände gesund bleiben (Resilienz). Man versuchte, Einstellungen und Lebensbewältigungsstrategien zu identifizieren, die Gesundheit erzeugen (Salutogenese, 7 Kap. 1.2.4).
Gesundheitsbezogener Lebensstil Auch im Zeitalter der Genomik gilt: Die häufigsten chronischen Krankheiten, wie koronare Herzkrankheit, Schlaganfall und Diabetes mellitus Typ 2, sind ganz überwiegend durch einen ungünstigen Lebensstil bedingt. Ein prägnantes Beispiel: Raucher sterben im Durchschnitt zehn Jahre früher als Nichtraucher. Merke
Verhaltensabhängige, modifizierbare Risikofaktoren, wie ungesunde Ernährung, Bewegungsmangel und Rauchen, besitzen den größten Anteil an der Entstehung häufiger chronischer Krankheiten.
266
3
Kapitel 3 · Förderung und Erhaltung von Gesundheit
Umgekehrt kann man durch einen gesundheitsförderlichen Lebensstil sein Risiko zu erkranken reduzieren. Nichtrauchen, eine ausgewogene, faserreiche Ernährung mit vielen einfach ungesättigten Fettsäuren, ausreichend Folsäure, moderate körperliche Aktivität von 30 min fast täglich sowie mäßiger Alkoholkonsum reduzieren das kardiovaskuläre Risiko (koronare Herzkrankheit, Herzinfarkt, Schlaganfall) und das Risiko für Diabetes mellitus Typ 2. Dasselbe gilt für Darmkrebs, nur spielen hier noch weitere Ernährungsgewohnheiten (weniger als drei Fleischmahlzeiten und mindestens eine Fischmahlzeit pro Woche) eine Rolle. Auch wer erst im Alter von 50 Jahren aufhört zu rauchen, halbiert sein Lungenkrebsrisiko und gewinnt viele Lebensjahre. Körperliche Aktivität schützt auch vor Krankheiten des Bewegungsapparats (chronische Rückenschmerzen, altersbedingte Stürze). Ein überzeugendes Beispiel für die Bedeutung einer gesundheitsbewussten Ernährung ist die geringere Morbidität und Mortalität an Herz-Kreislauf-Erkrankungen bei Vegetariern.
de Tätigkeiten (Lasten tragen, Leistungssport) auszuüben. Ernährung. In Deutschland ist nur ein Drittel der
männlichen Bevölkerung normalgewichtig, bei den Frauen etwas weniger als die Hälfte. 10 bis 20% aller Schulkinder und Jugendlichen sind als übergewichtig bzw. adipös (BMI >30) einzustufen. Nur 14% der Frauen und 2% der Männer nehmen, wie empfohlen, am Tag fünf handtellergroße Portionen Obst oder Gemüse zu sich. Andere gesundheitsschädliche Verhaltensweisen, wie illegaler Drogenkonsum und problematischer Medikamentengebrauch, steigen an. Vor allem in Pubertät und Adoleszenz, in der die meisten Menschen zum ersten Mal Kontakt mit gesundheitsschädlichem Verhalten wie Zigarettenrauchen, Alkohol- oder Drogenkonsum bekommen, spielen Gruppendruck, soziale Normen innerhalb der peer group und Sanktionen (z.B. ausgeschlossen zu werden) eine Rolle (7 Kap. 1.4.8).
Modelle gesundheitsrelevanten Verhaltens Rauchen. In den westlichen Ländern haben nur we-
nige Menschen einen gesundheitsförderlichen Lebensstil. Trotz eines leichten Rückgangs liegt die Raucherrate in Deutschland noch immer auf hohem Niveau (27% der Bevölkerung). Von den Männern rauchen 33%, von den Frauen 22%. Während die Rate bei Männern sinkt, steigt sie in manchen Altersgruppen der Frauen an. Von den männlichen Jugendlichen zwischen 15 und 20 Jahren rauchen 27%, von den 20- bis 25-Jährigen 47%. Die entsprechenden Zahlen für Frauen lauten 23% und 35%. Über 80% der Raucher erfüllen die Kriterien der internationalen Klassifikationssysteme für Abhängigkeit, und fast die Hälfte von ihnen hat nicht vor, in den nächsten sechs Monaten mit dem Rauchen aufzuhören. Bewegung. Nur 13% der deutschen Bevölkerung sind sportlich aktiv. Alter, Geschlecht und soziale Schicht sind starke Einflussfaktoren: Jüngere Menschen, Männer und Angehörige von Mittel- und Oberschicht treiben mehr Sport. Jedoch gibt die überwiegende Mehrheit der Befragten an, im Beruf oder zu Hause mindestens 30 min täglich mittelschwere (Putzen, Radfahren) oder sogar anstrengen-
In der Gesundheitspsychologie gibt es eine Reihe von Theorien, die Einflussfaktoren auf das Gesundheitsverhalten beschreiben. Diese Theorien unterscheiden sich zumeist darin, welche und wie viele Faktoren des Gesundheitsverhaltens sie aufführen und wie sie deren Wirkungsrichtung konzeptualisieren. Die folgenden Theorien können als kontinuierliche Modelle zusammengefasst werden. Kontinuierlich deshalb, weil sie annehmen, dass die Wahrscheinlichkeit für ein bestimmtes Gesundheitsverhalten kontinuierlich zunimmt, je stärker ausgeprägt die Einflussfaktoren sind, die auf dieses Verhalten wirken. Damit unterscheiden sie sich von Stadienmodellen, in denen angenommen wird, dass eine Person unterschiedliche Motivationsstufen auf dem Weg zum Gesundheitsverhalten durchläuft, die klar voneinander abgehoben werden können. (Stadienmodelle werden in Kap. 3.1.3 vorgestellt.) Der Unterschied ist insofern wichtig, als es auf der Basis kontinuierlicher Modelle lediglich darauf ankommt, ganz allgemein die verschiedenen Einflussfaktoren zu fördern, um die Verhaltenswahrscheinlichkeit zu erhöhen. Stadienmodelle legen hingegen nahe, auf jeder Motiva-
3.1 · Prävention
267
3
tionsstufe maßgeschneiderte Interventionen einzusetzen. Health-Belief-Modell. Das Health-Belief-Modell
(Modell gesundheitlicher Überzeugungen; Rosenstock, Becker) wurde schon in den 50er Jahren entwickelt (. Abb. 3.1). Es postuliert folgende Einflussfaktoren auf das Gesundheitsverhalten: 4 Wahrgenommene Gesundheitsbedrohung. Diese setzt sich zusammen aus 4 der subjektiven Einschätzung des Schweregrads einer Krankheit und 4 der subjektiv wahrgenommenen persönlichen Anfälligkeit für die Erkrankung (subjektive Vulnerabilität); 4 Wahrgenommene Wirksamkeit des Gesundheitsverhaltens. Auch die Wirksamkeit des Gesundheitsverhaltens als Gegenmaßnahme gegen die Bedrohung setzt sich wieder aus zwei Komponenten zusammen: 4 dem subjektiven Nutzen einer Maßnahme (z.B. Verringerung des Risikos für Lungenkrebs) und 4 den subjektiven Kosten oder Barrieren des Gesundheitsverhaltens (z.B. Gewichtszunahme, wenn man mit dem Rauchen aufhören würde). Zusätzlich spielen in diesem Modell situative Hinweisreize (cues to action) eine Rolle (z.B. Gesundheitskampagnen in den Medien oder Wahrnehmung von Symptomen wie Husten beim Rauchen). Merke
Wichtig in den Modellen gesundheitsrelevanten Verhaltens ist die subjektive Sicht des Betroffenen. Nicht die objektive Schwere der Krankheit, sondern seine persönliche Sichtweise oder Überzeugung von der Krankheitsschwere ist entscheidend. Nicht die objektive Wirksamkeit einer Präventionsmaßnahme, sondern seine subjektive Überzeugung, dass diese wirkt, ist für die Motivation bedeutsam.
Zum Health-Belief-Modell wurden sehr viele Untersuchungen durchgeführt, die jedoch zeigten, dass die genannten Einflussfaktoren nicht ausreichen,
. Abb 3.1. Das Health-Belief-Modell (mod. n. Knoll et al. 2005)
eine Änderung des Gesundheitsverhaltens zu erklären. Dies liegt daran, dass Einstellungen als solche keine gute Vorhersagekraft für Verhalten besitzen. Zwischen Einstellungen und Verhalten gibt es noch etwas Drittes, das erst den Zusammenhang zwischen beidem herbeiführt: die Intention (Absicht), d.h. die bewusste Entscheidung einer Person, ein bestimmtes Verhalten auszuführen, um ein bestimmtes Ergebnis zu erreichen. Furchtappelle. Furchtappelle (z.B. Warnhinweise auf Zigarettenschachteln) zur Erhöhung der wahrgenommenen Bedrohung sind zwar wirksam und sinnvoll, um Risikoverhalten zu ändern, reichen aber alleine nicht aus. Während man früher annahm, dass Furchtappelle schon als solche kontraproduktiv sind, weil sie lediglich Angst erzeugen und Verleugnungsprozesse auslösen würden, konnte inzwischen nachgewiesen werden, dass Angst vor einer Erkrankung eine wesentliche Bedingung zur Veränderung des Risikoverhaltens darstellt. Sie ist allerdings nur ein wichtiger Faktor: Das betroffene Individuum muss zusätzlich auch Strategien in die Hand bekommen, die Angst zu bewältigen. Modell des geplanten Verhaltens. Die Theorie des
geplanten Verhaltens (Theory of Planned Behavior; Ajzen) ist eine Weiterentwicklung der Theorie der Handlungsveranlassung (Theory of Reasoned Action; Fishbein und Ajzen) (. Abb. 3.2). Das wichtigste Unterscheidungsmerkmal dieser beiden Modelle zum Health-Belief-Modell ist, dass nun die Intention, d.h. die Entscheidung, ein Verhalten auszufüh-
268
Kapitel 3 · Förderung und Erhaltung von Gesundheit
. Abb 3.2. Theorie des geplanten Verhaltens (vereinfacht nach Knoll et al. 2005)
3 ren, als Bindeglied zwischen Einstellungen und Verhalten eingeführt wurde. Folgende Einflussfaktoren auf die Intention sind in der Theorie enthalten: 4 Einstellung: Wie bewerten Personen ein Verhalten? Welche Verhaltensergebnisse erwarten sie? (»Wenn ich regelmäßig jogge, schütze ich mich vor Krankheiten«); 4 subjektive Norm: Was erwarten andere Menschen von mir? (»Meine Freundin findet, dass ich regelmäßig joggen gehen sollte«); 4 wahrgenommene Verhaltenskontrolle: Wie leicht oder schwer fällt es mir, ein Verhalten auszuführen? (»Regelmäßig joggen zu gehen, ist für mich sehr gut möglich«). Der letzte Punkt, die wahrgenommene Verhaltenskontrolle, wurde in die Theorie des geplanten Verhaltens neu aufgenommen; sie war in der Theorie der Handlungsveranlassung noch nicht enthalten. Wahrgenommene Verhaltenskontrolle, also die Einschätzung, ein Verhalten auch ausführen zu können, ist dem Konzept der Selbstwirksamkeit bzw. Kompetenzerwartung sehr ähnlich (s.u.). In vielen Studien hat sich gezeigt, dass die Variablen der Theorie des geplanten Verhaltens die Intention zu einem Verhalten recht gut vorhersagen, das Verhalten selbst jedoch weniger gut. Offensichtlich fehlt also immer noch ein Bindeglied, das von der Intention zum tatsächlichen Verhalten führt (Intentions-Verhaltens-Lücke; 7 Kap. 3.1.3).
4 Handlungsergebniserwartung: Erwartung, durch eine Handlung ein bestimmtes Ergebnis erreichen zu können (»Wenn ich mich gesund ernähre, senke ich mein Risiko für einen Herzinfarkt«). Es reicht also nicht aus, dass man überzeugt ist, mit einem Verhalten ein bestimmtes Ziel erreichen zu können (Handlungsergebniserwartung). Man muss darüber hinaus auch davon überzeugt sein, dieses Verhalten ausführen zu können (Selbstwirksamkeit). Denn was nützt es, wenn ich weiß, was zu tun ist, mir aber nicht zutraue, dies auch zu tun? Die Selbstwirksamkeit hat sich als wichtigste Einflussgröße auf das Gesundheitsverhalten erwiesen. Sie ist in vielen Lebensstilbereichen vorhersagekräftig, wie Zigarettenrauchen, gesunde Ernährung, körperliche Aktivität und Kondombenutzung. Menschen, die eine hohe Selbstwirksamkeit besitzen, setzen sich höhere Ziele, beginnen schneller mit dem Gesundheitsverhalten, strengen sich mehr an und geben nicht so schnell auf. Auch von einem Rückschlag erholen sie sich schneller. Selbstwirksamkeit wird vor allem dadurch gefördert, dass man einmal die Erfahrung gemacht hat, eine Handlung erfolgreich ausführen zu können. Deshalb sind Ausprobieren, praktisches Üben und Verhaltenstraining wichtige Bestandteile von Interventionen zur Änderung des Gesundheitsverhaltens. Je stärker eine Präventionsmaßnahme derartige
Modell der Selbstwirksamkeit bzw. der Kompetenzerwartung. Die sozial-kognitive Theorie (Bandu-
ra) (. Abb. 3.3) enthält zwei Hauptkomponenten: 4 Selbstwirksamkeitserwartung (Kompetenzerwartung): Einschätzung der eigenen Kompetenz, ein Verhalten auch in schwierigen Situationen ausführen zu können (»Ich bin mir sicher, dass ich mich gesund ernähren kann, auch wenn ich mit meinen Freunden essen gehe«).
. Abb 3.3. Modell der Selbstwirksamkeit (vereinfacht nach Knoll et al. 2005)
3.1 · Prävention
Bestandteile enthält und dadurch die Selbstwirksamkeit fördert, umso erfolgreicher ist sie auch (7 Kap. 2.4.2). Merke
Ein zentrales Merkmal der meisten Theorien ist die individuelle Selbstwirksamkeitserwartung. Damit ist die Überzeugung gemeint, das Gesundheitsverhalten auch unter widrigen äußeren Umständen durchführen zu können. Synonym mit Selbstwirksamkeitserwartung (kurz: Selbstwirksamkeit) ist Kompetenzerwartung.
Theorie der Schutzmotivation. Die Theorie der Schutzmotivation (Protection Motivation Theory; Rogers) wurde entwickelt, um die Wirkung von Furchtappellen auf die Ausbildung einer Motivation, sich vor Risiken zu schützen, zu untersuchen. Diese Schutzmotivation wird als Bindeglied zwischen Einstellungen einerseits und dem tatsächlichen Schutzverhalten andererseits aufgefasst (. Abb. 3.4). Einflussfaktoren auf die Schutzmotivation sind: 4 Bedrohungseinschätzung. Diese setzt sich zusammen aus 4 dem wahrgenommenen Schweregrad der Erkrankung und 4 der wahrgenommenen Vulnerabilität. 4 Bewältigungseinschätzung. Diese setzt sich zusammen aus 4 der wahrgenommenen Handlungswirksamkeit und 4 der Selbstwirksamkeitserwartung. . Abb 3.4. Theorie der Schutzmotivation (vereinfacht nach Knoll et al. 2005)
269
3
Darüber hinaus werden auch die Handlungskosten (z.B. Anstrengung, die es kosten würden, mit dem Rauchen aufzuhören) und der Handlungsnutzen (z.B. Entspannung beim Rauchen oder Zusammensein mit Freunden) berücksichtigt (der Einfachheit halber nicht in der Abbildung aufgeführt). Auch in diesem Modell kehren viele Variablen wieder, die wir schon kennen: Selbstwirksamkeit, Ergebniserwartung (Handlungswirksamkeit) und Intention (Schutzmotivation). Es zeigte sich, dass eine hohe Vulnerabilität nur dann einen positiven Effekt auf die Schutzmotivation hat, wenn die Personen auch gleichzeitig über eine hohe Selbstwirksamkeitserwartung verfügten, also zuversichtlich waren, ein Bewältigungsverhalten ausführen zu können. Doch auch bei dieser Theorie stellte sich heraus, dass zwar die Schutzmotivation selbst vorhergesagt werden konnte, weniger jedoch das Verhalten. Neben den speziellen gesundheitspsychologischen Modellen spielen auch weitere Theorien aus der Psychologie eine Rolle, um Gesundheitsverhalten zu erklären. Hierzu gehören die Lerntheorien (7 Kap. 1.2.1 und 1.4.1) und Theorien aus der Sozialpsychologie, wie die Theorie sozialer Vergleichsprozesse. Modell des sozialen Vergleichsprozesses. Die Theorie sozialer Vergleichsprozesse (Festinger) besagt, dass Menschen ihre eigenen Einstellungen bewerten, indem sie sich mit anderen Menschen, die ihnen ähnlich sind, vergleichen. Dies tun sie vor allem dann, wenn sie sich in Bezug auf ihre eigene Person unsicher sind. Bei der Konstruktion eines Selbstbilds und der Bewertung des eigenen Verhaltens vergleicht man
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3
Kapitel 3 · Förderung und Erhaltung von Gesundheit
sich gerne mit den Menschen der eigenen Umgebung. Ziel des Vergleichs ist es, ein positives Selbstbild zu entwerfen. Eine positive Bewertung des eigenen Gesundheitsverhaltens (z.B. Nichtrauchen) durch die Bezugsgruppe stabilisiert dieses. Umgekehrt kann gesundheitsschädliches Verhalten (Rauchen, Drogenkonsum) in der Adoleszenz durch die Gruppe der Gleichaltrigen (peer group) gefördert werden, weil es das Gefühl der Zusammengehörigkeit und das Selbstwertgefühl steigert. Auch Vergleiche mit denjenigen Menschen, die schlechter dran sind (Abwärtsvergleiche), spielen eine große Rolle. Sie ermöglichen es dem Betroffenen, seine eigene Situation positiv zu bewerten. In manchen Situationen, wie bei der Bewältigung einer schweren Erkrankung, kann dies hilfreich sein. Geht es jedoch darum, das Gesundheitsverhalten zu ändern, werden Abwärtsvergleiche eher eine stabilisierende Tendenz haben. Wenn ein Bekannter noch viel mehr raucht oder Alkohol trinkt als der Betroffene, wird ihn das nicht gerade motivieren, sein eigenes Verhalten zu ändern. Psychosoziale Stressbelastung und gesundheitsschädigendes Verhalten. Risikoverhalten wie Rau-
chen oder Alkoholmissbrauch wird oft durch Stresssituationen ausgelöst. Es bewirkt dann eine kurzfristige Entspannung. In diesen Situationen ist die Bewältigungskompetenz einer Person gefordert. Kann sie die Stressbelastung erfolgreich meistern, wird ihre Selbstwirksamkeit ansteigen und die Wahrscheinlichkeit für einen Rückfall sinken. Gelingt die Bewältigung hingegen nicht, sinkt die Selbstwirksamkeit und das Suchtverhalten wird verstärkt. In dieser Situation ist wichtig, wie die Abstinenzverletzung attribuiert wird. Bei internaler (»Ich bin schuld!«), stabiler (»Das wird mir jedes Mal so passieren«) und globaler Attribution (»Ich bin ein völliger Versager«) kommt es zu weiterem Kontrollverlust: »Jetzt kann ich sowieso nichts mehr ändern«. Attribuiert die Person den Ausrutscher jedoch external und spezifisch (z.B. »Diese Prüfung war wirklich sehr anstrengend und schwierig«), kann es bei einem einmaligen Ausrutscher bleiben. Die betroffene Person sollte den Ausrutscher als ganz normalen Fehler in einem Bewältigungsprozess ansehen, der die Möglichkeit bietet, daraus für die Zukunft zu lernen. Es geht dann darum, persönliche Hochrisikositua-
tionen zu erkennen und alternative Bewältigungsmöglichkeiten zu entwickeln und einzuüben. i Vertiefen Knoll N, Scholz U, Rieckmann N (2005) Einführung in die Gesundheitspsychologie. Reinhardt, München (verständliche Darstellung der Modelle des Gesundheitsverhaltens)
3.1.3
Sekundäre Prävention
Unter sekundärer Prävention versteht man die Prävention von Krankheiten, wenn schon Risikofaktoren vorliegen, sowie die Früherkennung von Erkrankungen, mit dem Ziel, eine Krankheit rechtzeitig zu behandeln, solange sie noch keinen großen Schaden angerichtet hat. Dieses Thema wird gemäß der Systematik des GK in Kapitel 3.2.1 behandelt.
Risiko- und Schutzfaktoren Risikofaktoren. Risikofaktoren sind pathogenetisch
wirksame Faktoren, deren Vorhandensein die Wahrscheinlichkeit für das Auftreten einer Erkrankung erhöht. Es ist nur dann sinnvoll, diese Risikofaktoren zu beseitigen, wenn sie tatsächlich einen kausalen Einfluss auf die Krankheitsentstehung ausüben. »Kausal« heißt nicht, dass die Krankheit immer und in jedem Fall entsteht, wenn ein Risikofaktor vorliegt. Meist trägt ein einzelner Risikofaktor nur einen kleinen Teil zur Krankheitsentstehung bei. Das liegt daran, dass Risikofaktoren nicht letzte Ursachen von Krankheiten sind, die immer und auf jeden Fall eine Krankheit auslösen (deterministische Aussage), sondern lediglich Einflussfaktoren in einem komplexen Prozess multifaktorieller Verursachung. Wenn ein oder mehrere Risikofaktoren vorliegen, ist dadurch die Wahrscheinlichkeit größer, dass die Krankheit eintritt (probabilistische Aussage). Beispiel: Hypercholesterinämie fördert die Atherosklerose der Koronargefäße. Dadurch kommt es im Lauf vieler Jahre zu einer Verengung (Stenose) der Herzkranzgefäße (koronare Herzkrankheit). Erst wenn die Verengung ein bestimmtes Ausmaß erreicht hat, empfindet der Patient belastungsabhängige Brustschmerzen (Angina pectoris). Erst bei einem vollständigen Verschluss einer Stenose tritt schließlich ein Herzinfarkt ein. Es ist also ein weiter Weg vom Risikofaktor zum Krankheitsereignis.
3.1 · Prävention
Beispiele. Die wichtigen Risikofaktoren für kardiovaskuläre Erkrankungen wie koronare Herzkrankheit (Herzinfarkt) und Schlaganfall wurden schon häufig erwähnt: Zigarettenrauchen, Bewegungsmangel, Übergewicht, Hypercholesterinämie, arterielle Hypertonie, Hyperglykämie (Diabetes mellitus). Auch Depression, hohe Arbeitsbelastung und zu wenig Anerkennung im Beruf gelten als Risikofaktoren. Wichtige Risikofaktoren für Krebserkrankungen sind Zigarettenrauchen (v.a. Lungenkrebs, aber auch viele andere Krebsarten) und beim Kolonkarzinom eine ballaststoffarme Ernährung mit vielen Fleischmahlzeiten. Risikoindikatoren. Faktoren, deren Vorhandensein
zwar mit einem erhöhten Krankheitsrisiko verbunden ist, die im kausalen Mechanismus jedoch keine Rolle spielen, nennt man Risikoindikatoren (Marker). Sie enthalten zwar eine Information über den weiteren Verlauf, bringen ihn jedoch nicht ursächlich zustande. Beispiel: Tumormarker wie das prostataspezifische Antigen (PSA) bei Prostatakarzinom. Risikoindikatoren zu therapieren, würde bedeuten, am Symptom zu kurieren. Der Zusammenhang zwischen Risikoindikatoren und der Krankheitsentstehung ist durch eine konfundierende Variable bedingt, die tatsächlich kausal wirkt und auch mit dem Risikoindikator in Zusammenhang steht (7 Kap. 1.3.2). Beispiel: Die Tumorausbreitung beeinflusst sowohl den Tumormarker als auch die Überlebenszeit. Exkurs WHO-Programm. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hatte in ihrem Weltgesundheitsbericht von 2002 »Risiken senken – gesundes Leben fördern« für die industrialisierten Länder sieben Hauptrisikofaktoren definiert, die die meisten vorzeitigen Todes- und Krankheitsfälle hervorrufen: 5 Bluthochdruck, 5 Tabakkonsum, 5 erhöhter Serumcholesterinspiegel, 5 Übergewicht, 5 zu geringer Obst- und Gemüseverzehr, 5 Bewegungsarmut, 5 Alkoholkonsum.
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Schutzfaktoren. Schutzfaktoren sind Faktoren, die
vor Krankheit schützen und Gesundheit erhalten. Dazu gehören gesunde Ernährung, körperliche Aktivität, ausreichende Erholung, um Stress vorzubeugen, ein Genussverhalten ohne übermäßigen Alkohol und andere suchterzeugende Substanzen sowie ein unterstützendes soziales Netzwerk. Gruppenbezogene vs. individuelle Betrachtung.
Auch wenn das Risiko für eine bestimmte Erkrankung in der Gruppe derjenigen Menschen, die einen Risikofaktor tragen, im Durchschnitt erhöht ist, so lässt sich daraus nicht ableiten, dass jeder einzelne Mensch mit einem Risikofaktor auch erkranken wird. Ob es den Einzelnen trifft oder nicht, lässt sich daraus nicht mit Sicherheit ableiten. Dasselbe gilt auch für genetische Risiken, wie sie in der prädiktiven Medizin untersucht werden (7 Kap. 2.5.5). So beträgt beim hereditären Brustkrebs das Risiko, im Laufe ihres Lebens an Brustkrebs zu erkranken, für eine Frau, die ein disponierendes Gen trägt, je nach Studie bis zu 85%. Für die einzelne Frau ist jedoch nicht klar auszumachen, ob sie zu den 85% gehören wird, die an Brustkrebs erkranken werden, oder zu den 15%, die gesund bleiben. Umgekehrt gilt für die Risikoreduktion, die man durch eine präventive Maßnahme erreichen kann, ebenfalls, dass man nicht im Vorhinein sagen kann, ob eine einzelne Person von einer Maßnahme profitieren wird oder nicht, selbst wenn man auf der Gruppenebene eine Risikoreduktion erzielt. Wie man diese für den Einzelfall immer bestehende Unsicherheit dem Patienten verständlich vermitteln kann, wird weiter unten am Beispiel der absoluten Risikoreduktion dargestellt. Kriterien für das Vorliegen einer kausalen Beziehung zwischen Risikofaktor und Krankheit. In
der Epidemiologie werden zur Identifizierung von Risikofaktoren oft Längsschnittuntersuchungen (prospektive Kohortenstudien) durchgeführt, um Zusammenhänge zwischen einem Risikofaktor und dem Auftreten einer Krankheit zu finden. Dieses Design erlaubt letztlich keinen sicheren Nachweis kausaler Beziehungen. Hierfür wären Interventionsstudien notwendig (7 Kap. 1.3.4). Gleichwohl hat man Kriterien definiert, die kausale Beziehungen wahrscheinlich machen. Diese
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3
Kapitel 3 · Förderung und Erhaltung von Gesundheit
Kriterien sind jedoch lediglich als mehr oder weniger plausible Hinweise zu sehen, nicht als Beweise. 4 Temporale Abfolge: Die Ursache muss der Wirkung vorausgehen. Dies ist ein notwendiges Kriterium. 4 Stärke der Beziehung: Stärkere Zusammenhänge sprechen eher für Kausalität, schwächere Zusammenhänge können leichter durch methodische Fehler erzeugt werden. 4 Konsistenz der Beziehung: Wenn ein Zusammenhang in mehreren unterschiedlichen Studien festgestellt wurde, ist er verlässlicher. 4 Spezifität der Beziehung: Ein Risikofaktor steht nur mit einer einzigen Krankheit in Zusammenhang. Dieses Kriterium ist eher schwach. Zigarettenrauchen erhöht z.B. unspezifisch das Risiko für viele Krankheiten, ohne dass dies gegen Kausalität spräche. 4 Biologische Plausibilität: Der Zusammenhang sollte nach unserem gegenwärtigen Wissen biologisch sinnvoll sein. 4 Dosis-Wirkungs-Beziehung:. Je stärker der Risikofaktor ausgeprägt ist, umso höher sollte das Erkrankungsrisiko sein (z.B. steigt das Lungen-
krebsrisiko linear mit den Jahren, die jemand geraucht hat). 4 Als bestes Kriterium gilt jedoch die experimentelle Evidenz. Diese gewinnt man allerdings nicht aus Längsschnittsstudien, sondern aus randomisierten, kontrollierten Interventionsstudien. Wenn man zeigen kann, dass das Krankheitsrisiko sinkt, wenn man den Risikofaktor eliminiert, so liegt der stärkste Beleg für Kausalität vor. Analytische und interventionelle Epidemiologie.
Epidemiologische Untersuchungen, die die Ursachen von Krankheiten auf der Basis von naturalistischen Beobachtungsstudien (z.B. Längsschnittuntersuchungen) herauszufinden versuchen, werden auch als analytische Epidemiologie bezeichnet. Im Gegensatz dazu versteht man unter der interventionellen Epidemiologie Studien, in denen eine präventive Intervention durchgeführt wird, um den Risikofaktor zu beeinflussen und damit der Entstehung von Krankheiten vorzubeugen. Wenn möglich, verwendet man ein experimentelles Design (randomisierte, kontrollierte Studie). Dabei randomisiert man manchmal jedoch nicht einzelne Indi-
Exkurs Nordkarelien-Studie. Anfang der 70er Jahre hatte Finnland weltweit die höchste Todesrate durch kardiovaskuläre Erkrankungen. Deshalb wurde 1972 in der finnischen Region Nordkarelien, die eine besonders hohe Sterberate aufwies, ein umfassendes Präventionsprojekt begonnen. Die Interventionen wurden nicht auf einzelne Individuen zugeschnitten, sondern auf die gesamte Bevölkerung ausgerichtet. In den folgenden 25 Jahren wurde ein umfassendes Programm umgesetzt, das vor allem auf Gemeindeebene durchgeführt wurde. Viele Institutionen, wie Gesundheitswesen, Landwirtschaftverbände, Schulen, Supermärkte, Lebensmittelindustrie und Medien, arbeiteten zusammen. Durch das Programm ließen sich die kardiovaskulären Risikofaktoren im Bereich Ernährung und Tabakkonsum dramatisch ändern. Beispiel: Während im Jahr 1972 noch 90% der Bevölkerung Butter als Brotaufstrich benutzten, waren es im Jahr 1997 weniger als 7%. Bei den 25- bis 64-jährigen
Männern sank die altersangepasste Sterberate an kardiovaskulären Krankheiten um 73%, an Lungenkrebs um 71%. Der Rückgang der Sterblichkeit konnte durch die Senkung der Hauptrisikofaktoren erklärt werden. Allein die Senkung des Cholesterinspiegels (reduzierter Butterkonsum) bewirkte etwa die Hälfte des Sterblichkeitsrückgangs. Dass es trotz der anfänglich großen Probleme und Schwierigkeiten gelang, das Projekt so effektiv zu machen, lag hauptsächlich an der engen Zusammenarbeit mit den Gemeinden, wodurch die Beteiligung der Bevölkerung gesichert werden konnte. Das Nordkarelien-Projekt war so erfolgreich, dass es fünf Jahre nach seinem Beginn auf ganz Finnland ausgeweitet wurde. Andere Präventionsprogramme waren jedoch weniger erfolgreich, sowohl was die Veränderung von Risikofaktoren als auch die Mortalität betrifft, so dass ihr Nutzen in Metaanalysen insgesamt als begrenzt bewertet wird.
273
3.1 · Prävention
viduen, sondern z.B. ganze Arztpraxen oder Gemeinden (Cluster-Randomisierung). Wenn eine Randomisierung nicht möglich ist, zieht man eine passende Vergleichsgruppe heran (quasi-experimentelles Design). Ein sehr erfolgreiches Beispiel ist die Nordkarelien-Studie zur Senkung des koronaren Risikos.
Absolutes und relatives Risiko Absolutes Risiko. Das absolute Risiko ist die Wahr-
scheinlichkeit, mit der eine Erkrankung auftritt. Beispiel: Von 100 fünfzigjährigen Männern, die einen niedrigen Cholesterinwert haben, erleiden in den nächsten zehn Jahren vier einen Herzinfarkt. Das absolute Risiko beträgt also 4%. Relatives Risiko. Das relative Risiko gibt an, um wie viel größer das Risiko für eine bestimmte Erkrankung ist, wenn ein Risikofaktor vorliegt, als wenn er nicht vorliegt. Beispiel: Von 100 fünfzigjährigen Männern mit niedrigem Cholesterinwert erleiden vier einen Herzinfarkt, von 100 Männern mit hohem Cholesterinwert jedoch sechs. Das relative Risiko ist nun das Risiko in der exponierten Gruppe (hohes Cholesterin) im Vergleich zum Risiko in der nichtexponierten Gruppe (niedriges Cholesterin). Man dividiert also 6% durch 4% = 1,5. Das relative Risiko für einen Herzinfarkt, das mit einem erhöhten Cholesterinspiegel einhergeht, beträgt demnach 1,5. Prozentual ausgedrückt: Das Herzinfarktrisiko steigt um 50%. Relative Risikoreduktion. In Studien, in denen durch eine Intervention das Krankheitsrisiko gesenkt werden soll, wird oft die relative Risikoreduktion (RRR) angegeben. Wir greifen auf das obige Beispiel Herzinfarktrisiko infolge erhöhten Cholesterins zurück. Durch eine Intervention zur Senkung des Cholesterinspiegels kann das Risiko in der Behandlungsgruppe von 6% auf 4% verringert werden. Bei der RRR wird die Risikoreduktion am Risiko der unbehandelten Kontrollgruppe (6%) relativiert. Man bildet also zunächst die Differenz zwischen beiden Risikowerten (6% – 4%) und teilt diese danach durch 6%. (6% – 4%) : 6% = 1/3 = 33%. Die RRR für einen Herzinfarkt infolge der Senkung des Cholesterinspiegels beträgt also 33%. Ein Nachteil dieser Ziffer ist jedoch, dass sie ebenso hoch ausfällt, wenn das Risi-
3
ko statt von 6% auf 4% von 6‰ auf 4‰ oder von 6 pro 10.000 auf 4 pro 10.000 reduziert würde. Immer würde eine RRR von 33% resultieren. Die RRR ist deshalb nicht sehr aussagekräftig und führt eher zur Überschätzung des Nutzens einer Maßnahme. Gerade aus letzterem Grund wird sie aber oft in Berichten herangezogen, wenn es darum geht, die Öffentlichkeit oder Patienten zu beeindrucken. Da dies jedoch eher zur Verwirrung beiträgt, sollte stattdessen besser die absolute Risikoreduktion angegeben werden. Absolute Risikoreduktion. Die absolute Risikoreduktion (ARR) ist einfach die Differenz zwischen EG und KG, in unserem Beispiel also 6% – 4% = 2%. Die Ziffer 2% wirkt natürlich längst nicht so eindrucksvoll wie 33%. Sie kommt aber der Realität deutlich näher: 2 von 100 Männern, die regelmäßig das cholesterinsenkende Medikament nehmen, können vor einem Herzinfarkt bewahrt werden. Merke
Tipp für die Praxis. Wie kann man die Risikoreduktion einem Patienten vermitteln, so dass er sie erstens nachvollziehen kann und zweitens auch etwas über die Unsicherheit erfährt, die mit jeder individuellen Vorhersage verbunden ist? Hier ein Formulierungsvorschlag: »Wenn 100 Personen wie Sie in den nächsten zehn Jahren keine Behandlung des Cholesterinspiegels erhalten, werden 94 überleben und 6 sterben. Ob Sie einer der 94 oder einer der 6 sind, kann man im voraus nicht wissen. Wenn 100 Leute wie Sie jedoch jeden Tag für die nächsten zehn Jahre ein Medikament nehmen, werden 96 überleben und 4 sterben. Wiederum weiß ich nicht, ob Sie einer der 96 oder einer der 4 sein werden.« Auf der Basis dieser verständlichen und realistischen Risikokommunikation kann der Patient selbst mitentscheiden, ob er das Medikament nehmen will oder nicht.
Ein einfaches Maß zur Beurteilung des Nutzens einer Intervention Number needed to treat (NNT). Ein anschauliches
Maß für den Nutzen einer Intervention stellt die number needed to treat dar. Damit ist die Anzahl von
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3
Kapitel 3 · Förderung und Erhaltung von Gesundheit
Patienten gemeint, die man behandeln muss, um ein einziges unerwünschtes Ereignis (in unserem Beispiel einen Herzinfarkt) zu verhindern. Die number needed to treat stellt den Kehrwert der absoluten Risikoreduktion dar. In unserem Beispiel gilt: NNT = 1/ARR = 1 dividiert durch 2% = 50. Man muss also 50 Männer über 10 Jahre mit dem cholesterinsenkenden Medikament behandeln, um bei einem von ihnen in dieser Zeit einen Herzinfarkt zu verhindern. Dies leuchtet unmittelbar ein, wenn wir uns noch einmal die ARR ansehen. Wenn durch die Behandlung von 100 Männern das Risiko, einen Herzinfarkt zu erleiden, bei 2 von ihnen vermieden wird, so muss man 50 Menschen behandeln, um bei einem einzigen einen Herzinfarkt zu vermeiden. Je wirksamer eine Behandlung ist, umso geringer ist die number needed to treat, d.h. umso weniger Patienten muss man einer Maßnahme unterziehen, um bei einem von ihnen ein unerwünschtes Ereignis, wie eine Erkrankung oder den Tod, zu verhindern. Die number needed to treat hängt sehr von der Zielgruppe ab, auf die eine Präventionsmaßnahme gerichtet ist (. Tabelle 3.1). In der primären Prävention, wo die Zielgruppe die gesunde Allgemeinbevölkerung darstellt, ist das Risiko für eine koronare Herzkrankheit eher niedrig. In einer Interventionsstudie, in der ein Medikament (Statin) zur Senkung des Cholesterinspiegels gegeben wurde, konnte das absolute Risiko von 1,7% in der Plazebo-Kontrollgruppe auf 1,2% in der Behandlungsgruppe, d.h. um 0,5% gesenkt werden. Entsprechend beträgt die number needed to treat 200. 200 Patienten müssen das Medikament nehmen, damit bei einem von ihnen ein kardialer Todesfall vermieden wird. Anders in der sekundären/tertiären Prävention, wo das Risiko eines erneuten Infarkts von vornherein höher ist und dementsprechend auch größere absolute Risikoreduktionen erzielt werden
können. In einer Studie zur Verhinderung eines Infarktrezidivs bei Patienten mit schon bestehender koronarer Herzkrankheit konnte durch ein Statin das absolute Risiko der kardialen Sterblichkeit von 8,5% in der Plazebo-Kontrollgruppe auf 5,0% in der Interventionsgruppe, d.h. um 3,5% vermindert werden. Die number needed to treat betrug hier 29, war also deutlich geringer. Nur 29 Patienten müssen das Medikament nehmen, damit einer von ihnen vor dem Herztod gerettet wird. Lebensstilbezogene Programme wie Nichtrauchertraining, körperliche Bewegung und Ernährungsumstellung weisen NNTs auf, die ebenso günstig, manchmal sogar noch günstiger sind als diejenigen medikamentöser Maßnahmen.
Weitere Risikokennwerte Odds Ratio. Die odds ratio (Chancenverhältnis) ist
ein Näherungsmaß für das relative Risiko. Sie berechnet sich als Quotient zweier odds (Chancen). Ein odd ist selbst schon ein Quotient zwischen einer Wahrscheinlichkeit (p) und ihrer Gegenwahrscheinlichkeit (1-p). Beispiel Lungenkrebsmortalität: Odds in der Gruppe der Exponierten (Raucher) = Risiko : Gegenrisiko = 140 : 99.860. Odds in der Gruppe der Nichtexponierten (Nichtraucher) = 10 : 99.990. Odds ratio = Quotient der beiden odds = 14. Die odds ratio wird meist verwandt, wenn man kein relatives Risiko berechnen kann, weil Angaben zur Inzidenz oder Prävalenz fehlen. Wichtigstes Anwendungsgebiet sind Fall-Kontroll-Studien, weil man dort keine zufälligen Stichproben aus der Population zieht, aus denen man Inzidenzschätzungen gewinnen kann, sondern mit vorhandenen Fällen einer Erkrankung vorlieb nimmt und diese mit einer Gruppe von Gesunden, den Kontrollen, vergleicht (7 Kap. 1.3.4). Hier berechnet man die odds ratio in umgekehrter Richtung, nicht vom Expositionsstatus
. Tabelle 3.1. Risikoreduktion und number needed to treat in Primär- und Tertiärprävention (n. Skolbekken 1998) Kardiale Todesfälle mit Statin
Kardiale Todesfälle ohne Statin
Absolute Risikoreduktion (ARR)
Relative Risikoreduktion (RRR)
Number needed to treat (NNT = 1/ARR)
Primärprävention (WOSCOPS-Studie)
1,2%
1,7%
1,7% – 1,2% = 0,5%
(1,7% – 1,2%)/1,7% = 29%
1/0,5% = 200
Tertiärprävention (4S-Studie)
5,0%
8,5%
8,5% – 5,0% = 3,5%
(8,5% – 5,0%)/8,5% = 41%
1/3,5% = 29
3.1 · Prävention
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3
hin auf das Krankheitsrisiko, sondern vom Krankheitsstatus hin auf das Expositionsrisiko. Man bildet also das Verhältnis aus Rauchern zu Nichtrauchern in der erkrankten Gruppe und Rauchern zu Nichtrauchern in der Kontrollgruppe.
chende Verhalten auch ausführt. Ganz im Gegenteil, hier können deutliche Diskrepanzen bestehen. So wissen viele Raucher über die gesundheitsschädlichen Auswirkungen des Rauchens sehr gut Bescheid. Trotzdem hören sie nicht mit dem Rauchen auf.
Attributables Risiko. Das attributable Risiko ist der-
Widerstände gegen Verhaltensänderung. Nur wenige Menschen, denen in einer Patientenschulung oder einem Gesundheitsförderungsprogramm eine Lebensstiländerung empfohlen wird, um Krankheiten vorzubeugen, setzen diese Empfehlung unmittelbar in ihr Handeln um. In den meisten Fällen reagieren die Betroffenen hingegen erst einmal mit Widerstand. Hierbei spielen mehrere Faktoren eine Rolle.
jenige Anteil des Risikos, der einem Risikofaktor zugeschrieben (attribuiert) werden kann. Es berechnet sich als Differenz der Krankheitshäufigkeit bei den Exponierten und den Nichtexponierten. Beispiel: Die jährliche Mortalität an Lungenkrebs beträgt bei Nichtrauchern 10 von 100.000 und bei Rauchern 140 von 100.000. Das attributable Risiko ist dann 140/100.000 – 10/100.000 = 130/100.000. Rechnerisch entspricht es der absoluten Risikoreduktion in einer Interventionsstudie. Attributable Fraktion. Die attributable Fraktion be-
schreibt denjenigen Anteil der Krankheitshäufigkeit in der exponierten Gruppe, der durch den Risikofaktor bedingt ist. Man dividiert hierzu das attributable Risiko, also die Risikodifferenz, durch das Risiko bei den Exponierten. Im Beispiel der Lungenkrebsmortalität: (140/100.000 – 10/100.000) : 140/100.000 = 93%. 93% der Lungenkrebstodesfälle bei Rauchern gehen also auf das Rauchen zurück.
Risikowahrnehmung. Auch wenn sich das Risiko
für die Gruppe der Menschen, die eine Präventionsmaßnahme durchführen, reduziert, ist dies für den Einzelfall keineswegs gewährleistet. Der Nutzen für jeden Einzelnen ist also unsicher. Hinzu kommt, dass Menschen zu einem unrealistischen Optimismus neigen. Sie gestehen durchaus zu, dass das Krankheitsrisiko bei Vorliegen eines Risikofaktors erhöht ist, nehmen sich selbst jedoch von diesem Risiko aus. Theorie der kognitiven Dissonanz (Festinger).
Bevölkerungsbezogenes attributables Risiko. Da-
mit wird die Bedeutung eines Risikofaktors für die Krankheitsentstehung in der Bevölkerung insgesamt berechnet. Er ergibt sich als Differenz der Erkrankungshäufigkeit in der Gesamtbevölkerung und der Erkrankungshäufigkeit bei den Nichtexponierten dividiert durch die Krankheitshäufigkeit in der Gesamtbevölkerung. Beträgt die Lungenkrebsmortalität in der männlichen Gesamtbevölkerung 90 von 100.000, diejenige bei den Nichtexponierten 10 von 100.000, so resultiert ein bevölkerungsbezogenes attributables Risiko von (90 – 10) : 90 = 0,89, d.h. 89% der Todesfälle an Lungenkrebs bei allen Männern gehen auf das Rauchen zurück.
Wenn Menschen feststellen, dass ihr Verhalten im Widerspruch zu ihren Einstellungen steht, ändern sie, um diese kognitive Dissonanz zu reduzieren, häufig eher ihre Einstellungen als ihr Verhalten. Sie versuchen, Rechtfertigungen für ihr Verhalten zu finden. Dies ist besonders eindrucksvoll, wenn man Lungenkrebspatienten zu ihrem Rauchverhalten befragt. Beispiele: »Ich habe geraucht. Ob das Rauchen allerdings der Grund ist, bezweifle ich. Dazu gibt’s zu viele widersprüchliche Meinungen.« – »Es gibt Nichtraucher, die auch Lungenkrebs haben.« – »Sicher, Rauchen ist nicht gesund, das ist erwiesen. Aber ich glaube, dass die Umwelt mehr verschmutzt ist und mehr Krankheiten erzeugt als eine Zigarette.«
Diskrepanz zwischen Einstellung und Verhalten
Gewohnheiten. Das Risikoverhalten ist meist eine
Auch wenn ein Mensch eine positive Einstellung gegenüber einem bestimmten Gesundheitsverhalten hat, heißt dies noch lange nicht, dass er das entspre-
Gewohnheit, die sich über viele Jahre verfestigt hat und deshalb nicht einfach aufgegeben werden kann. Jede Veränderung einer Routine erfordert Anstren-
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Kapitel 3 · Förderung und Erhaltung von Gesundheit
gung. Außerdem ist das Risikoverhalten meist mit einem kurzfristigen Genuss verbunden, z.B. Entspannung durch Rauchen, während die negativen Konsequenzen (z.B. Lungenkrebs) erst weit in der Zukunft liegen. Verhalten wird jedoch eher von den kurzfristigen als den langfristigen Konsequenzen gesteuert. Deshalb ist es wichtig, den Betroffenen auch kurzfristig angenehme Konsequenzen des Gesundheitsverhaltens zu vermitteln (z.B. besserer Atem bei Aufgabe des Rauchens). Reaktanz. Menschen reagieren auf Einschränkun-
gen ihrer Freiheit mit Widerstand (Reaktanz). Sie lassen sich nicht gerne sagen, was sie zu tun haben, zumal nicht von Experten, die alles besser wissen. Menschen vorzuschreiben, wie sie zu leben haben, ist paternalistisch und entspricht nicht dem Bild einer freien Gesellschaft. In den USA haben sich sogar schon Bedenken geregt, dass Menschen wegen ihres Risikoverhaltens diskriminiert werden könnten. Diese Tendenz wurde als healthism (in Analogie zu sexism oder racism) bezeichnet. Deshalb ist es ganz wichtig, dass die Betroffenen auf der Basis aller notwendigen Informationen und Fertigkeiten letztendlich selbst entscheiden, ob sie ihr Verhalten ändern wollen oder nicht (empowerment; 7 Kap. 2.1.4).
Stufenmodelle der Verhaltensänderung Intentions-Verhaltens-Lücke. Der Zusammenhang
zwischen der Absicht, ein Verhalten auszuführen, und dem tatsächlichen Verhalten ist nicht sehr stark. Dies liegt nicht allein daran, dass die Verhaltensmotivation nicht groß genug ist, sondern eher an Problemen bei der Umsetzung der Intention in das Verhalten. Um ein Verhalten auszuführen, ist es notwendig, die Ausführung genau zu planen. Wann, wo und wie will ich meine Intention, dreimal in der Woche joggen zu gehen, in die Tat umsetzen? Welche Schwierigkeiten können dabei auftreten? Diese Fragen stehen im Mittelpunkt der Stufenmodelle des Gesundheitsverhaltens. Motivationsstufen. Stufenmodelle der Verhaltens-
änderung gehen davon aus, dass 4 Menschen auf dem Weg zu einem günstigen Gesundheitsverhalten mehrere voneinander abgrenzbare Stufen (Stadien, Phasen) durchlaufen,
4 sie dies in einer bestimmten Reihenfolge tun, weil jede Stufe auf der anderen aufbaut, und 4 dass für den Übergang von einer Stufe in die nächste jeweils andere Wirkfaktoren von Bedeutung sind. Deshalb sollten in Präventionsprogrammen die Interventionen jeweils genau auf die Motivationsstufe zugeschnitten sein, in der sich eine Person befindet. Drei Stufenmodelle werden vorgestellt: 4 das Transtheoretische Modell der Verhaltensänderung, 4 das Prozessmodell präventiven Handelns, 4 das Prozessmodell gesundheitlichen Handelns. Transtheoretisches Modell der Verhaltensänderung. Das Transtheoretische Modell der Verhaltens-
änderung (TTM; Prochaska und DiClemente) ist das am meisten verbreitete Stadienmodell. Es wurde im Bereich der Raucherentwöhnung entwickelt, inzwischen aber auch auf viele andere Gesundheitsverhaltensweisen übertragen. Seinen Namen hat es daher, dass es Konstrukte aus unterschiedlichen Theorien integriert. Es unterscheidet fünf, in einigen Verhaltensbereichen aber auch vier oder sechs Stadien: 4 Absichtslosigkeit: Die Person ist sich des problematischen Verhaltens noch gar nicht bewusst. 4 Absichtsbildung: Die Person beschäftigt sich mit ihrem Problemverhalten und überlegt, dieses innerhalb der nächsten sechs Monate zu ändern. 4 Vorbereitung: Die Person hat sich entschieden, ihr Verhalten innerhalb des nächsten Monats zu ändern, und plant ihr weiteres Vorgehen. In dieser Stufe wird die Intention gebildet. 4 Handlung: Die Person initiiert das neue Verhalten und führt es erfolgreich aus, jedoch noch keine sechs Monate lang. 4 Aufrechterhaltung: Die Person hat das neue Gesundheitsverhalten inzwischen sechs Monate lang erfolgreich ausgeführt. 4 Termination: Die Person hat ihr Verhalten fünf Jahre lang erfolgreich ausgeübt und verspürt keine Versuchung mehr, in ihr altes Risikoverhalten zurückzufallen. Das neue Verhalten ist zur Gewohnheit geworden.
3.1 · Prävention
Die Phasen des TTM können durchaus mehrfach durchlaufen werden, Rückfälle sind möglich. Mit zunehmendem Fortschreiten in den Phasen nimmt die Selbstwirksamkeitserwartung zu. Vor allem der Schritt von der Vorbereitung zur Handlung wird durch eine hohe Selbstwirksamkeitserwartung gefördert. Wer glaubt, seine Absicht in die Tat umsetzen zu können, tut dies auch eher. Mit zunehmender Motivationsstufe werden auch immer mehr Vorteile des Gesundheitsverhaltens und immer weniger Nachteile wahrgenommen (Entscheidungsbalance = Differenz aus den gewichteten Vor- und Nachteilen). Die Autoren des TTM beschreiben des Weiteren zehn Veränderungsstrategien, die in den jeweiligen Phasen von den Personen genutzt werden. Beispielsweise werden in den ersten drei Phasen vor allem kognitive und affektive Prozesse für wichtig gehalten (z.B. Risikowahrnehmung, Motivationsklärung), ab der Phase der Handlung hingegen verhaltensorientierte Prozesse. Für das Rauchen ließ sich diese Zuordnung von Veränderungsprozessen zu den Phasen auch zeigen, für andere Bereiche des Gesundheitsverhaltens, wie z.B. körperliche Aktivität und Ernährung, jedoch nicht. In vielen Verhaltensbereichen befindet sich die Mehrzahl der Menschen noch in den unteren drei Stufen. Beispiel Sport: Absichtslosigkeit 14%, Absichtsbildung 16%, Vorbereitung 23%, Handlung 11%, Aufrechterhaltung 36%. Prozessmodell präventiven Handelns. Das Prozessmodell präventiven Handelns (Precaution Adoption Process Modell, PAPM; Weinstein) definiert ganz ähnliche Stufen wie das TTM. Die wenigen Unterschiede betreffen folgende Stufen: Wo das TTM nur eine einzige Stufe der Absichtslosigkeit definiert, setzt das PAPM zwei Stufen an: 1. Unkenntnis eines Gesundheitsverhaltens: Die Personen haben noch nie von einer Gesundheitsbedrohung und dem dazugehörigen Verhalten gehört. 2. Kenntnis des Gesundheitsverhaltens, aber ohne persönlichen Bezug: Die Personen wissen zwar um die gesundheitliche Gefahr, denken jedoch nicht weiter darüber nach. Dann folgt als 3. Stufe die der Entscheidung (entsprechend der Absichtsbildung beim TTM). Diese Entscheidung kann nun in zweierlei Richtung fallen, entweder zu handeln (entsprechend der Vorberei-
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tung beim TTM) oder aber nicht zu handeln. Die letztere Stufe ist ebenfalls neu. Die Stufen 6, Handlung, und 7, Aufrechterhaltung, entsprechend wiederum denjenigen im TTM. Zur empirischen Bewährung der beiden bisher vorgestellten Stufenmodelle ist zu sagen, dass sich in Querschnittsstudien die genannten Stufen meist abgrenzen lassen und auch die Zusammenhänge zur Selbstwirksamkeit bzw. Entscheidungsbalance oder den kognitiven Strategien (teilweise) nachweisen ließen. Inzwischen wurden auch Längsschnittsstudien durchgeführt, die die Abfolge der Stufen und die hierfür notwendigen Motivationsprozesse belegen sollten, und in experimentellen Studien wurde die Effektivität maßgeschneiderter, stufenbezogener Interventionen überprüft. Allerdings waren die Ergebnisse uneinheitlich. Prozessmodell gesundheitlichen Handelns. Das sozial-kognitive Prozessmodell gesundheitlichen Handelns (Health Action Process Approach, HAPA; Schwarzer) unterscheidet eine motivationale Phase, in der die Intention gebildet wird, eine volitionale Phase, in der die Handlung geplant wird, und eine aktionale Phase, in der die Handlung ausgeführt und aufrechterhalten wird. Für die Bildung der Intention werden die bekannten Einflussfaktoren herangezogen: Risikowahrnehmung (subjektiver Schwergrad der Krankheit, Vulnerabilität), Handlungsergebniserwartung (»Durch mein Verhalten kann ich das Risiko vermindern«) und Selbstwirksamkeitserwartung (»Ich bin in der Lage, das Verhalten auszuführen«). Im Prozessmodell gesundheitlichen Handelns wird genauer beschrieben, welche Rolle die Handlungsplanung spielt. Damit wird die Lücke zwischen Intention, also der Handlungsabsicht, und dem tatsächlichen Handeln geschlossen (Intentions-Verhaltens-Lücke, s.o.). In einer Studie mit Herzinfarktpatienten in der Rehabilitation konnte gezeigt werden, dass diejenigen Patienten, die das Gesundheitsverhalten (körperliche Aktivität) mittels bestimmter Strategien konkret planten (»Wann-Wo-Wie-Pläne«), später im Alltag auch eher körperlich aktiv waren.
Praktisches Vorgehen bei der Motivierung Wie können nun Personen, bei denen bereits ein verhaltensbezogener Risikofaktor vorliegt, zu einem
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Kapitel 3 · Förderung und Erhaltung von Gesundheit
gesundheitsförderlichen Lebensstil motiviert werden? Bei der Überprüfung der verschiedenen Modelle konnte gezeigt werden, dass eine Verhaltensänderung umso wahrscheinlicher ist, je höher die Selbstwirksamkeitserwartung, die Handlungskompetenzen und die individuell wahrgenommenen Vorteile sind bzw. je weniger bedeutsam die Nachteile der Verhaltensänderung eingeschätzt werden. Diese Variablen können z.B. durch Information, Diskussion, das Anknüpfen an eigene Erfahrungen, Üben neuer Verhaltensweisen und den Einsatz von Selbstmanagementstrategien positiv beeinflusst werden. Dabei sollte ein nichtkonfrontativer Beratungsstil bevorzugt werden. Berater und Patient sollten gemeinsam Ziele und Entscheidungen erarbeiten (empowerment). Als Methoden können Prozesse des operanten Lernens (unmittelbare Verknüpfung des Gesundheitsverhaltens mit positiven Konsequenzen, z.B. Wohlbefinden nach Sport) sowie des Modelllernens (Vorbilder, z.B. bekannte Sportler gegen Drogen) eingesetzt werden. Wichtig ist, dass nicht nur die Einstellung zum Risikoverhalten verändert wird (z.B. »Ich will mit dem Rauchen aufhören«), sondern konkrete Handlungsalternativen erarbeitet werden (z.B. »In der Arbeitspause esse ich einen Apfel statt zu rauchen«). Das Motivational Interviewing ist eine patientenzentrierte, aber direktive und zielorientierte Beratungstechnik, in der der Patient (z.B. Alkoholabhängiger) seine erlebten Vor- und Nachteile der Verhaltensänderung (Abstinenz) reflektiert. Die Erhöhung der intrinsischen Motivation ist Ziel der Beratung (d.h. nicht für den Therapeuten oder den Ehepartner, sondern aus eigenem Antrieb mit dem Trinken aufhören). Ohne den Patienten durch Beweisführungen und Argumente überzeugen zu wollen, werden im Gespräch die widersprüchlichen Einstellungen des Patienten einfühlend erarbeitet (z.B. »Ich will einerseits weiter Trinken. Andererseits sehe mich selbst als sportlichen, gesunden Menschen. Ich habe aber durch die Trinkerei bereits gesundheitliche Schäden.«). Frühere (Abstinenz-)Versuche und Erfolge werden genutzt, um Selbstwirksamkeit zu fördern und konkrete Handlungspläne zu erarbeiten. Bei der stufenspezifischen Beratung nach dem Transtheoretischen Modell werden Personen je nach ihrer aktuellen Motivationsstufe unterschiedlich be-
raten, um den Wechsel in die nächste Stufe zu fördern, z.B. in der Stufe Absichtslosigkeit durch Informationsvermittlung und Wecken eines Problembewusstseins, in der Stufe der Absichtsbildung durch Klären der ambivalenten Motivation und Herausarbeiten des »Warum?«, in der Stufe der Vorbereitung durch Fördern der Selbstwirksamkeit und Herausarbeiten des »Wie?« (Veränderungsplan), und in den Stufen Handlung und Aufrechterhaltung durch positive Verstärkung (Lob) und Rückfallmanagement (s.o.). Im Prozessmodell gesundheitlichen Handelns (HAPA) werden konkrete Handlungsplanungen (»Wann-Wo-Wie-Pläne«: »Was werde ich konkret tun, wann und wie?«) als therapeutische Techniken eingesetzt, um die Lücke zwischen Intention und Handlung zu schließen (z.B. »Jeden Dienstag und Donnerstag fahre ich mit dem Fahrrad zur Arbeit, jeden Freitagabend treffe ich mich mit meinen Freunden zum Fußball). Schwierigkeiten, die beim Versuch, die Vorsätze in die Tat umzusetzen, auftreten können, werden besprochen, um konkrete Lösungen zu finden (Bewältigungsplanung). i Vertiefen Knoll N, Scholz U, Rieckmann N (2005) Einführung in die Gesundheitspsychologie. Reinhardt, München (verständliche Darstellung der Modelle des Gesundheitsverhaltens)
3.1.4
Tertiäre Prävention/ Rehabilitation
Rehabilitation dient der tertiären Prävention. Sie soll der Verschlimmerung chronischer Krankheiten vorbeugen und Behinderungen im Alltag entgegenwirken, damit die Betroffenen möglichst weitgehend am normalen Leben in Familie, Beruf und Gesellschaft teilnehmen können.
Chronische Krankheit und Behinderung Chronische Krankheiten. Chronische Krankheiten bringen für die Betroffenen eine Reihe von Belastungen mit sich. Dazu gehören andauernde körperliche Beschwerden, Einschränkungen von Alltagsfunktionen und -aktivitäten (z.B. Gehen, Treppensteigen, Heben und Tragen) und verminderte berufliche Leistungsfähigkeit. Hieraus können Behinderungen
3.1 · Prävention
resultieren, die die soziale Integration bedrohen. Bei chronischen Krankheiten kann das Ziel der Behandlung meist nicht die Wiederherstellung der Gesundheit sein. Ziel der Rehabilitation ist es vielmehr, die Folgen chronischer Krankheiten für das betroffene Individuum zu mildern. Letztlich geht es um die Sicherung der sozialen Integration, insbesondere die Reintegration ins Erwerbsleben. Krankheitsfolgenmodell. Den Auswirkungen chro-
nischer Krankheiten wird im Krankheitsfolgenmodell der Weltgesundheitsorganisation (WHO) Rechnung getragen. Dieses Modell hat die ältere Einteilung in Gesundheitsschädigung (impairment), Fähigkeitsstörung (disability) und Beeinträchtigung (handicap) abgelöst. Es unterscheidet 4 Körperfunktionen und Körperstrukturen (früher: impairment): krankheitsbedingte Beeinträchtigungen der anatomischen Struktur und physiologischen Funktion auf körperlicher und psychischer Ebene (z.B. Beinamputation). 4 Aktivität (früher: disability): Fähigkeit, im Alltagsleben bestimmte Leistungen zu vollbringen, Funktionsfähigkeit (z.B. gehen können). 4 Partizipation (früher: handicap): Teilhabe an Beruf und Gesellschaft, soziale Integration (z.B. seinen Beruf als Landwirt oder Sachbearbeiter ausführen können). Außerdem werden Kontextfaktoren in der Person des Betroffenen (Beispiel: Bewältigungsstrategien) und in der Umwelt (Beispiel: rollstuhlgerechter Arbeitsplatz, Umschulung nach unfallbedingter Behinderung) betrachtet, die die Integration erleichtern oder erschweren können. Merke
Aus der medizinischen Diagnose lässt sich meist nicht eins zu eins ableiten, welche Alltagsfunktionen beeinträchtigt sind; ein und dieselbe Diagnose kann vielmehr mit unterschiedlichen Folgen für das betroffene Individuum einhergehen. Deshalb hat die WHO in Ergänzung zur Internationalen Klassifikation der Krankheiten (ICD) eine Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) herausgegeben.
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Multidimensionalität. In Abhebung von der Akutversorgung werden in der Rehabilitation die Folgen einer Krankheit, einschließlich der psychosozialen Aspekte, stärker in den Blick genommen (biopsychosoziales Krankheitsmodell). Rehabilitation setzt sowohl an den Gesundheitsschäden (z.B. Medikamente) als auch den Aktivitätsstörungen (z.B. Funktionstraining) an. Die Behandlung von psychischen und sozialen Folgen einer Körperschädigung spielt in der Rehabilitation eine ebenso große Rolle wie die körperliche Schädigung selbst. Die Erfolgskriterien beziehen sich deshalb nicht allein auf biomedizinische Parameter, sondern auch auf emotionales Befinden, Lebensqualität und soziale Integration. Um diesem ganzheitlichen Anspruch gerecht zu werden, muss Rehabilitation umfassend, mehrdimensional und multidisziplinär ausgerichtet sein. Sie beschränkt sich nicht allein auf körperliches Training. Ein zentraler Baustein der medizinischen Rehabilitation ist die Patientenschulung (7 Kap. 2.4.2). Ziele sind u.a. die Krankheitsbewältigung und Verbesserung der Compliance, die Reduktion von Risikofaktoren und die Änderung des Lebensstils. Da die berufliche Reintegration ein zentrales RehaZiel ist, haben viele Reha-Kliniken berufsbezogene Behandlungsbausteine in ihr Programm integriert. Diese reichen von der Sozialberatung über berufsbezogene Gruppentherapie, in der Probleme am Arbeitsplatz besprochen werden, bis hin zu beruflicher Belastungserprobung, z.B. in Kooperation mit einem ortsansässigen Betrieb. Im Rehabilitationsteam arbeiten Ärzte, Psychologen, Physiotherapeuten, Sporttherapeuten, Ernährungsberater, Sozialarbeiter (Sozialberatung, 7 Kap. 3.1.6) und andere Berufsgruppen zusammen. Von einer »Kur«, in der weitgehend passiv »ortsgebundene Heilmittel« (z.B. Heilquellen) angewandt werden, um das Wohlbefinden (»Wellness«) zu steigern, unterscheidet sich Rehabilitation durch die Methoden (Einbezug und Aktivierung des Rehabilitanden) wie auch die Ziele (Selbstmanagement der Krankheit, berufliche Reintegration). Patienten, die ihre medizinische Rehabilitation antreten, erwarten oft passive Maßnahmen wie in einer Kur (Massage, Fango, Erholung). Sie sind dann überrascht, wenn aktive Mitarbeit und körperliches Training von ihnen gefordert werden. Ihre RehaMotivation muss zuerst noch aufgebaut werden.
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Kapitel 3 · Förderung und Erhaltung von Gesundheit
Der Hausarzt hat hier die wichtige Aufgabe, die Patienten darauf vorzubereiten, was in der Reha auf sie zukommt. Psychische Komorbidität ist bei chronisch Kranken häufig und muss deshalb in der Rehabilitation erkannt und behandelt werden. Eine komorbide Depression liegt bei ca. 20% der Herzinfarktpatienten und der Brustkrebspatientinnen und bei ca. 30% der Patienten mit chronischen Rückenschmerzen vor. Schließlich muss die subjektive Erfolgsprognose des Rehabilitanden berücksichtigt werden. Ob er selbst glaubt, seine berufliche Tätigkeit wieder aufnehmen zu können, ist der beste Prädiktor der tatsächlichen beruflichen Wiedereingliederung, unabhängig vom medizinischen Schweregrad der Erkrankung. Kontinuität. Schon während der Akutbehandlung
ist es wichtig, die Kontinuität der Therapie und Rehabilitation im Auge zu haben (z.B. Frühmobilisation, Krankengymnastik). Durch die verkürzten Akutbehandlungszeiten infolge der DRGs (7 Kap. 2.6.4) ist damit zu rechnen, dass Rehabilitationsmaßnahmen zunehmend wichtiger werden (z.B. Anschlussheilbehandlung nach Herzinfarkt oder nach einer Operation); sie übernehmen Aufgaben, die von der Akutbehandlung nicht mehr geleistet werden können, weil dafür keine Zeit bleibt. Da die Effekte der Rehabilitation oft nur kurzfristig anhalten, sollten ambulante Nachsorgemaßnahmen (Booster-Interventionen) durchgeführt werden, um die Reha-Effekte aufzufrischen. In der Herzinfarktrehabilitation haben sich Herzsportgruppen am Wohnort bewährt. Der Anteil ambulanter Rehabilitation, die eine bessere Verzahnung mit dem Alltag ermöglicht, ist zur Zeit noch sehr gering, aber ansteigend. Indikationen. Die wichtigsten Diagnosegruppen in
der medizinischen Rehabilitation bilden Erkrankungen der Haltungs- und Bewegungsorgane (insbesondere chronische Rückenschmerzen, 7 Kap. 1.2.2), die als Anlass für Rehabilitationsmaßnahmen, Arbeitsunfähigkeit und Frühberentungen an erster Stelle stehen. Danach folgen psychische/psychosomatische Störungen, kardiologische Erkrankungen (z.B. koronare Herzkrankheit), onkologische Erkrankun-
gen (z.B. Brustkrebs), Stoffwechselerkrankungen (insbesondere Diabetes mellitus) und neurologische Krankheiten (z.B. Schlaganfall). In der neurologischen Rehabilitation spielen neuropsychologische Trainings kognitiver und sprachlicher Leistungen eine große Rolle. Effektivität. Eine große Zahl von randomisierten kontrollierten Studien, die allerdings zum größten Teil aus den USA stammen, hat gezeigt, dass intensive, umfassende, strukturierte, multidisziplinäre Rehabilitationsprogramme effektiv (wirksam) und effizient (kostensparend) sind. Die kardiovaskuläre Rehabilitation bewirkt eine Reduktion der Sterblichkeit um 34% und der Reinfarktrate um 29%. Die Risikofaktoren konnten als Mediatorvariablen identifiziert werden: Nur dann, wenn ein Programm die Risikofaktoren reduzierte, wurde auch der weitere Krankheitsverlauf (Reinfarkt, Tod) günstig beeinflusst. Auch die Krankheitskosten infolge der Inanspruchnahme medizinischer Leistungen oder von Arbeitsunfähigkeit konnten vermindert werden. Für den deutschsprachigen Bereich fehlte in der Vergangenheit noch die Evidenz aus randomisierten Studien. Deshalb wurde zwischen 1998 und 2004 ein umfangreiches Forschungsprogramm Rehabilitationswissenschaften aufgelegt, das hier teilweise Abhilfe schaffen konnte.
Personale Krankheitsbewältigung Ob ein durch eine Krankheit hervorgerufener Gesundheitsschaden zu einer Störung der Funktionsfähigkeit im Alltag und der sozialen Integration führt, hängt in hohem Maße von der persönlichen Krankheitsbewältigung des Betroffenen ab. Chronische Krankheiten haben auch psychosoziale Auswirkungen. Sie können Ängste oder eine Depression auslösen, beeinträchtigen das Selbstwertgefühl und stellen den bisherigen Lebensentwurf in Frage. Unter Krankheitsbewältigung (Coping) versteht man die Anstrengung des Betroffenen, die durch die Krankheit hervorgerufenen Belastungen auszugleichen und zu meistern, um ein neues seelisches Gleichgewicht zu finden. Synonym mit dem Begriff Krankheitsbewältigung wird auch Krankheitsverarbeitung verwandt. Damit wird deutlicher zum Ausdruck gebracht, dass es nicht von vornherein ausgemacht ist, dass die Belastungen auch erfolg-
3.1 · Prävention
reich bewältigt werden. Krankheitsbewältigung kann auch misslingen. Die Theorie von Lazarus. Die kognitiv-transaktionale Stressbewältigungstheorie von Lazarus ist die einflussreichste Theorie der letzten Jahrzehnte. Die Theorie ist kognitiv, weil in ihrem Zentrum subjektive Bewertungen stehen. Transaktional heißt sie, weil sie Stress als Ergebnis einer Wechselwirkung zwischen Person und Umwelt betrachtet. Am Anfang des Bewältigungsprozesses steht die primäre Bewertung (primary appraisal): Eine Person schätzt ein, ob eine Situation für das eigene Wohlbefinden relevant ist oder nicht. Wenn sie relevant ist, wird geprüft, ob es sich dabei um eine Herausforderung, eine Bedrohung oder einen Schaden/ Verlust handelt. Schon zur selben Zeit findet die sekundäre Bewertung (secondary appraisal) statt: Die Person schätzt ein, ob ihre Ressourcen ausreichen, die Situationsanforderungen zu bewältigen. Psychischer Stress tritt dann auf, wenn eine als bedeutsam bewertete Situation Anforderungen an das Individuum stellt, die dessen Bewältigungsmöglichkeiten beanspruchen oder übersteigen. Im weiteren Verlauf prüft die Person, ob ihre Bewältigungsanstrengungen erfolgreich waren oder nicht (Neubewertung; reappraisal). Obwohl dieses Modell sehr häufig zitiert wird, gibt es wenige Studien, die es empirisch streng geprüft haben. Dies liegt daran, dass die einzelnen Bestandteile nur schwer voneinander zu trennen sind. Die Definition von Stress scheint zirkulär zu sein: Stress erfordert Bewältigung, aber Stress entsteht nur dann, wenn etwas nicht bewältigt werden kann. Coping und Abwehr. Bei der Krankheitsverarbeitung spielen auch Abwehrmechanismen eine Rolle (7 Kap. 1.2.3). Wenn ein Individuum durch die Mitteilung einer lebensbedrohlichen Erkrankung emotional überfordert ist, können Verleugnungsprozesse als eine Art Notfallreaktion einsetzen. Sie verhindern die Überflutung des Ich mit Ängsten, die nicht bewältigt werden können. Auf diese Weise lässt sich erklären, dass die Diagnose »Krebs« von manchen Patienten zunächst einmal verleugnet wird. Später können sich die Betroffenen, wenn sie emotional unterstützt werden, Schritt für Schritt mit der Bedrohung durch die Erkrankung auseinandersetzen
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und die Abwehr reduzieren. An die Stelle von Abwehrprozessen treten dann Copingstrategien. Abwehr, kurzfristig und vorübergehend als Notfallreaktion eingesetzt, kann also mittelfristig situationsangemessenes Coping ermöglichen. Langfristig führt Verleugnung aber zu mehr emotionaler Belastung und mangelnder Mitarbeit bei Therapie und Nachsorge. Aktives Coping. Hierunter versteht man die aktive Auseinandersetzung mit der Erkrankung. Die Betroffenen konfrontieren sich mit der Bedeutung der Krankheit für ihr Leben. Sie suchen Informationen, um möglichst vollständig über die Krankheit Bescheid zu wissen. Sie wirken bei Diagnostik und Behandlung aktiv mit. Diese Bewältigungsform wird allgemein als sehr günstig eingeschätzt. Allerdings konnten viele Studien den erwarteten Zusammenhang zwischen aktivem Coping und psychischen Wohlbefinden nicht demonstrieren. Depressive Verarbeitung. Hierunter versteht man
Gefühle von Hilf- und Hoffnungslosigkeit, Grübeln (Rumination), sich selbst die Schuld geben, Hadern (»Warum gerade ich?«) und sozialer Rückzug. Diese Verarbeitungsform geht meist mit einer depressiven Stimmungslage einher. Es bleibt dabei jedoch unklar, ob Depression Folge oder Ursache der depressiven Verarbeitung ist. Sinnfindung (benefit finding). Schwere und chronische Erkrankungen bringen nicht nur Belastungen mit sich, sondern können auch zum Anlass genommen werden, sein Leben zu überdenken und in der Krankheit einen Sinn zu finden. Diese Form der kognitiven Umstrukturierung geht meist mit einem positiven Befinden einher. Die Krankheit wird als Chance genutzt, neue Lebensziele anzustreben oder die Beziehungen zu wichtigen Menschen zu vertiefen. Ebenen des Coping. Krankheitsverarbeitungsformen können danach klassifiziert werden, ob sie eher der Ebene des Handelns, der Kognition oder der Emotion zuzuordnen sind. Beispiel für handlungsbezogenes Coping: ablenkendes Anpacken (»Ich stürze mich in die Arbeit, um die Krankheit zu vergessen«); aktives Vermeiden (»Ich möchte mich
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Kapitel 3 · Förderung und Erhaltung von Gesundheit
nicht schon wieder beim Arzt melden«); konstruktive Aktivität (»Endlich nehme ich mir Zeit für mich«); Zupacken (»Was ich unternehme, wie ich mitmache, davon hängt jetzt vieles ab«). Beispiele für kognitionsbezogenes Coping: Ablenken (»Andere Dinge sind mir im Moment wichtiger als die Krankheit«); Akzeptieren (»Es ist nun halt einmal so, ich versuche mich damit abzufinden«); Dissimulieren (»Es ist alles nur halb so schlimm. Im Grunde geht es mir gut«); Haltung bewahren (»Ich muss mich zusammenreißen, niemand soll mir etwas anmerken«). Beispiele für emotionsbezogenes Coping: emotionale Entlastung (»Ich fühle mich so elend, wenigstens das Weinen hilft noch etwas«); Optimismus (»Wenn ich nur daran glaube, wird sicher alles wieder gut«); Resignation (»Ich glaube, es hat alles keinen Sinn mehr«). Adaptivität von Coping. Es ist noch eine eher unge-
klärte Frage, welche Copingformen günstig sind und welche nicht. Zwar gibt es darüber klare theoretische Vorstellungen, diese lassen sich aber in der empirischen Wirklichkeit oft nicht nachweisen. Deutliche Zusammenhänge finden sich meist nur zwischen denjenigen Copingstrategien, in denen eine depressive Stimmung zum Ausdruck kommt, und dem Effektivitätskriterium emotionales Befinden (z.B. zwischen depressiver Verarbeitung und Depression). Diese Zusammenhänge sind jedoch trivial, weil beide nur zwei Seiten derselben Medaille sind. Als adaptiv gilt heute nicht eine bestimmte Verarbeitungsstrategie, sondern der flexible, situationsangemessene Einsatz unterschiedlicher Copingstrategien. Jede Person sollte selbst herausfinden, was für sie in einer bestimmten Situation die beste Bewältigungsstrategie ist. Je mehr Bewältigungsstrategien eine Person besitzt, desto besser. Die Frage nach dem Erfolg von Coping hängt auch davon ab, was das Kriterium für eine gelungene Krankheitsbewältigung sein soll. Soll die belastende Situation selbst verändert werden (problemorientiertes Coping) oder sollen lediglich die inneren Gefühle verändert werden (emotionsbezogenes Coping)? Letzteres ist dann sinnvoll, wenn die äußere Situation schwer zu ändern ist. Coping kann auch zu einer Anpassung des Individuums an eine unveränderliche Situation führen. Beispiele: Wenn die Le-
bensqualität vermindert ist, reduzieren chronisch Kranke ihr Anspruchsniveau (response shift). Sie sind sozusagen mit weniger zufrieden. Viele Krebskranke berichten, dass sie gelernt haben, sich an den kleinen Dingen des Alltags zu freuen und stärker im Hier und Jetzt zu leben. Eine solche Reorganisation des eigenen Lebens kann zu der oft beobachteten paradoxen Situation beitragen, dass Krebskranke in der Phase der Remission ihre Lebensqualität höher bewerten als Gesunde. Coping kann auch zu einer Kompensation ausgefallener Leistungen führen, so dass eine Behinderung gar nicht zum Tragen kommt. Welche »Krankenkarriere« ein Mensch einschlägt und in welchem Maße er am normalen Leben teilnimmt, hängt von seinen Bewältigungsstrategien, den persönlichen und sozialen Ressourcen ab. Situation oder Person? Früher glaubte man, dass es in erster Linie von der zu bewältigenden Situation abhängt, welche Bewältigungsform zum Einsatz kommt. Krankheitsvergleichende Studien haben jedoch gezeigt, dass es im Wesentlichen ähnliche Copingformen waren, die bei unterschiedlichen Erkrankungen häufig auftraten, so dass Merkmale der einzelnen Krankheit wohl eine geringere Rolle spielen. In anderen Lebenssituationen kann dies natürlich anders sein. Heute weiß man, dass Copingstrategien auch persönlichkeitsabhängig sind. Bewältigungsstile werden als Persönlichkeitseigenschaften betrachtet (z.B. Repression-Sensitization, 7 Kap. 1.4.6). Wegen dieser Persönlichkeitsabhängigkeit weisen auch Stressverarbeitungsstrategien einen genetischen Einfluss auf.
Interpersonelle Bewältigung Chronische Krankheiten haben einerseits Auswirkungen auf Partnerschaft und Familie. Andererseits stellen soziale Unterstützung (syn. sozialer Rückhalt) und das soziale Netzwerk eine wichtige Ressource für die Krankheitsbewältigung dar (7 Kap. 1.2.4). Partnerbeziehung. Der wichtigste Ansprechpartner
für emotionale Unterstützung bei Schwerkranken ist der Partner. Danach folgen Angehörige und Freunde und erst dann professionelle Helfer wie Ärzte oder Psychotherapeuten. Kranke erleben es als sehr hilf-
3.1 · Prävention
reich, wenn ihr Partner Zuneigung ausdrückt und einfühlsam mit ihnen über ihre Sorgen spricht. Umgekehrt wird es als wenig hilfreich empfunden, wenn die Partner es vermeiden, über krankheitsbezogene Sorgen zu sprechen, sich emotional zurückziehen, die Krankheitsfolgen herunterspielen oder den Kranken kritisieren. Eine Brustkrebserkrankung belastet auch die Partnerbeziehung. Frauen fühlen sich oft weniger attraktiv, ihr Körperbild verändert sich, und die Sexualität kann beeinträchtigt sein. In einer Studie mit jüngeren Frauen, die wegen Brustkrebs im Frühstadium behandelt worden waren, berichteten 45% über ausgeprägte Beziehungsprobleme. Andererseits kann eine Brustkrebserkrankung die Partnerschaft intensivieren. In einer anderen Studie gaben bei 42% der befragten Paare beide Partner an, dass die Brustkrebserkrankung sie einander näher gebracht habe. Positiv auf die Partnerschaft wirkte sich aus, wenn der Ehepartner die Patientin während der medizinischen Behandlung kontinuierlich begleitete und ihr gegenüber Zuneigung und Zärtlichkeit zum Ausdruck brachte. Hierbei ist es nicht erforderlich, dass der Partner in großem Maße seine eigenen Gefühle in Bezug auf die Krebserkrankung zum Ausdruck bringt. Nur 1% der Befragten gab an, dass sie infolge der Brustkrebserkrankung distanzierter miteinander umgingen. Dieser Befund, dass eine Krebserkrankung die Partnerschaft ein Jahr nach der Diagnose nicht fundamental in Frage stellt, kann den Betroffenen helfen, eine Brustkrebsdiagnose zu entdramatisieren. Ein tragfähiges soziales Netzwerk stellt in den meisten Fällen eine große Hilfe bei der Krankheitsbewältigung dar. In manchen Fällen kann das soziale Netzwerk jedoch auch als Belastung wirken. Das Rezidivrisiko Schizophrener erhöht sich sehr stark, wenn die Angehörigen emotional überengagiert sind, sowohl im Sinn von Überfürsorglichkeit als auch von Kritik und Feindseligkeit (expressed emotions, 7 Kap. 1.4.6).
Soziale Folgen chronischer Krankheit Ziel der Rehabilitation ist die Verhinderung von sozialem Ausschluss chronisch kranker und behinderter Menschen. Dem sozialen Abstieg infolge einer Krankheit (Abwärtsmobilität, 7 Kap. 1.4.10) soll
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vorgebeugt werden. Trotz gesetzlicher Regelungen, die eine bevorzugte Einstellung Behinderter fordern, ist die Arbeitslosigkeit bei Behinderten hoch. Dabei ist in vielen Bereichen die Einrichtung behindertengerechter Arbeitsplätze gut möglich. Noch immer werden chronisch Kranke Opfer von Stigmatisierungen. Beispiele: »Ich traue mich gar nicht, am hellen Tag spazieren zu gehen. Da sagen die Leute: Der sieht ja ganz gesund aus und geht trotzdem nicht arbeiten« (50-jähriger Herzinfarktrehabilitand). »Als ich nach meiner Operation zu Besuch bei Bekannten war, gab es das Essen von Papptellern, aus Angst, ich könnte die anderen anstecken« (55-jährige Krebspatientin). Als primäre Abweichung werden diejenigen Normabweichungen bezeichnet, die aus der Krankheit resultieren. Beispiel: Ein Mensch mit einer abgeklungenen Psychose (Schizophrenie) empfindet soziale Interaktionen als belastend, weil es ihm schwer fällt, aus der Fülle der auf ihn einstürzenden Informationen die relevanten auszuwählen und angemessen darauf zu reagieren. Er zieht sich deshalb zunehmend aus sozialen Kontakten zurück. Als sekundäre Abweichung bezeichnet man diejenigen Normabweichungen, die aus der Stigmatisierung und der Zuschreibung der Rolle eines chronisch Kranken resultieren. Beispiel: Ein Patient mit einer Psychose wird von seiner Umgebung gemieden und zieht sich wegen der befürchteten Ablehnung immer stärker zurück. Dadurch büßt er seine sozialen Kompetenzen ein und schafft es immer weniger, sich im normalen sozialen Kontakt unauffällig zu verhalten. Schließlich wirkt er auf andere genau so »seltsam«, wie sich diese einen psychisch gestörten Menschen vorstellen.
Psychosoziale Einflüsse auf Krankheitsverlauf und Mortalität Coping und Überlebenszeit bei Krebs. Die Frage, ob psychologische Faktoren Krankheitsverlauf und Mortalität beeinflussen, wurde intensiv am Beispiel von Krebs untersucht. Ausgangspunkt war eine in den 70er Jahren in England durchgeführte Studie, in der Frauen vier Wochen nach ihrer Brustkrebsoperation zu ihrer Krankheitsbewältigung befragt wurden. Diejenigen, die Kampfgeist (fighting spirit) oder Verleugnung zeigten, wiesen eine längere Überlebenszeit auf als Frauen, die mit stoischem Akzeptie-
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Kapitel 3 · Förderung und Erhaltung von Gesundheit
ren oder Hilf- und Hoffnungslosigkeit reagierten. Dass eine aktive Form der Krankheitsbewältigung prognostisch günstig war, konnte zwar auch in einer anderen Studie bestätigt werden. In fünf weiteren Studien mit Mammakarzinompatientinnen wurde dieser Zusammenhang jedoch nicht repliziert. In der ursprünglichen Studie war der wichtigste biomedizinische prognostische Faktor, der axilläre Lymphknotenbefall, nicht einbezogen worden, so dass man nicht ausschließen kann, dass der unterschiedliche Überlebenszeitverlauf in Wirklichkeit durch körperliche Faktoren bedingt war. Coping als Folge des körperlichen Zustands. Wie könnte diese widersprüchliche Befundlage zustande gekommen sein? Den körperlichen Krankheitsverlauf allein aufgrund der Art der Krankheitsverarbeitung vorhersagen zu wollen, wäre naiv: Die Krankheitsbewältigung steht in Zusammenhang mit dem körperlichen Zustand des Patienten. Es ist unmittelbar einleuchtend, dass eine Patientin, die sich in einem guten körperlichen Zustand befindet und deren Tumor in einem frühen Stadium diagnostiziert wurde, so dass die Behandlung mit kurativer Zielsetzung durchgeführt werden kann, auch eher in der Lage sein wird, sich aktiv und kämpferisch mit ihrer Krankheit auseinanderzusetzen. Dann ist es nicht weiter verwunderlich, wenn eine aktive Krankheitsbewältigung vorhersagekräftig für eine längere Überlebenszeit ist. Der prognostische Wert der psychologischen Variablen speist sich jedoch nicht aus dieser Variablen selbst, sondern ist gewissermaßen nur »geliehen« (Konfundierung, 7 Kap. 1.3.2). Coping ist Folge der körperlichen Situation, die als konMerke
Wenn man biomedizinische Faktoren in das Vorhersagemodell einbezieht und die Krankheitsbewältigung dann nicht mehr vorhersagekräftig ist, handelte es sich um einen Fall von Konfundierung. Umgekehrt kann man Konfundierung aber nicht völlig ausschließen, wenn die psychologischen Variablen weiterhin vorhersagekräftig sind. Denn erstens hat man die biomedizinischen Faktoren vielleicht nicht zuverlässig (reliabel) gemessen, und zweitens hat man vielleicht nicht alle relevanten Faktoren einbezogen.
fundierende Variable den Zusammenhang zwischen Coping und der Überlebenszeit erklärt. Emotionale Belastung und Überlebenszeit. Eine
andere Forschungslinie hat sich mit der Fragestellung beschäftigt, ob das Ausmaß der psychischen Belastung (z.B. Depression, Angst) das Überleben bei Krebskranken beeinflusst. Eine Reihe von Studien unterschiedlicher methodischer Qualität hat einen derartigen Zusammenhang gefunden. Es gab aber auch Studien, die keinen Zusammenhang fanden, zum dritten haben manche Studien sogar einen umgekehrten Zusammenhang festgestellt, nämlich eine längere Überlebenszeit bei psychisch stärker belasteten Patientinnen. Die inkonsistente Befundlage verbietet es, von einem klaren Zusammenhang zwischen emotionaler Belastung und Überlebenszeit zu sprechen. Mögliche Mechanismen. Ein Zusammenhang zwischen psychologischen Faktoren und dem Krankheitsverlauf könnte durch unterschiedliche Mechanismen zustande kommen. Wie schon erwähnt, kann im psychischen Befinden der körperliche Zustand zum Ausdruck kommen (kein kausaler Zusammenhang). Das Krankheitsgeschehen kann auch über die Informationen, die die Patienten von ihrem Arzt erhalten, Einfluss auf die psychische Bewältigung ausüben. Patienten, die von ihrem Arzt erfahren, dass die Behandlung vermutlich zur Heilung führen wird, nehmen auch eher eine aktive und kämpferische Haltung ein, wodurch ein prognostischer Zusammenhang mit der Überlebenszeit zustande kommen kann, ohne dass hier eine kausale Wirkung besteht. Psychoneuroimmunologie. Psychoimmunologi-
sche Pfade können auf biologischer Ebene zwischen Psyche und körperlicher Krankheit vermitteln. Dabei ist wichtig zu betonen, dass die Einflüsse in beiden Richtungen verlaufen können. Tumorassoziierte Faktoren können das Immunsystem beeinträchtigen und über den Serotoninstoffwechsel einen depressiven Zustand bewirken. Umgekehrt könnten Stress und Depression über immunkompetente Zellen (z.B. Natural-Killer-Zellen) die Überlebenszeit beeinflussen. Die vereinzelten Befunde aus psychoneuroimmunologischen Untersuchungen ergeben
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3.1 · Prävention
gleichwohl noch kein Gesamtbild, und es fehlt an Studien, die alle Bindeglieder – vom psychischen Zustand über psychoneuroimmunologische Faktoren bis hin zur Überlebenszeit – integrieren. Derzeit müssen die psychoneuroimmunologischen Mechanismen deshalb noch im Wesentlichen als hypothetisch betrachtet werden. Compliance. Depressive Patienten zeigen eine eingeschränkte Compliance mit der medizinischen Behandlung. Sie lehnen z.B. eine Chemotherapie häufiger ab oder beenden sie vorzeitig. So erhalten sie unter Umständen nicht die optimale Behandlung, wodurch sich ihre Prognose verschlechtern könnte. Indikator vs. kausaler Risikofaktor. Insgesamt ist es wichtig, zu unterscheiden, ob psychosoziale Faktoren lediglich prognostische Indikatoren (marker) sind, die zwar Information über den weiteren Verlauf enthalten, diesen aber nicht selbst beeinflussen, oder aber kausale Risikofaktoren, die den weiteren Krankheitsverlauf mit beeinflussen. Eine Entscheidung zwischen diesen beiden Alternativen kann nur auf der Grundlage von randomisierten Interventionsstudien getroffen werden. Interventionsstudien. In einer frühen randomisierten Interventionsstudie hatten Frauen mit metastasiertem Brustkrebs länger überlebt, wenn sie an einer einjährigen wöchentlichen Gruppentherapie teilnahmen. Dieses Ergebnis ist aber wahrscheinlich durch die von vornherein unterschiedliche Zusammensetzung von Interventions- und Kontrollgruppe zustande gekommen. Alle neueren Interventionsstudien konnten keinen Überlebensvorteil für die Behandlungsgruppe demonstrieren. Psychologische Interventionen scheinen also die Überlebenszeit bei Krebskranken nicht zu verlängern. Zum aktuellen Zeitpunkt erscheint es deshalb angebracht, psychische Faktoren als prognostische Indikatoren anstatt als kausale Risikofaktoren zu betrachten. Eine solche Interpretation des Forschungsfeldes befindet sich hinsichtlich der empirischen Evidenz auf der sicheren Seite und weckt weder bei Patienten noch in der Öffentlichkeit Hoffnungen, die die Psychotherapie nicht erfüllen kann. Davon unbenommen ist, dass psychoedukative Interventionen effektiv sind im Hinblick auf eine Verbesse-
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rung des emotionalen Befindens und der Lebensqualität (7 Kap. 2.5.4). Depression und Überlebenszeit bei koronarer Herzkrankheit. Bei Herzinfarktpatienten ist beim
Vorliegen einer Depression das Mortalitätsrisiko im weiteren Verlauf um den Faktor 2 erhöht. Auch wenn es mehrere plausible Mechanismen gibt, die einen kausalen Zusammenhang erklären könnten (7 Kap. 1.2.2), ist noch nicht geklärt, ob Depression ein kausaler Risikofaktor oder nur ein Risikoindikator ist. Eine kürzlich publizierte Interventionsstudie, in der die Depressionsbehandlung nicht zu einer Verlängerung der Überlebenszeit führte, spricht erst einmal gegen eine kausale Rolle. Allerdings sollten vor einem endgültigen Urteil weitere Studien abgewartet werden, die eventuell erfolgreicher sind. i Vertiefen Bengel J, Koch U (Hrsg) (2000) Grundlagen der Rehabilitationswissenschaften. Springer, Berlin (umfassende Einführung in die Forschung) Delbrück H, Haupt E (Hrsg) (1998) Rehabilitationsmedizin. 2. Aufl. Urban & Fischer, München (medizinisches Lehrbuch) Petermann F (Hrsg) (1997) Rehabilitation. Ein Lehrbuch zur Verhaltensmedizin. Hogrefe, Göttingen (Darstellung der psychologischen Aspekte)
3.1.5
Formen psychosozialer Hilfen
Krisenintervention Eine psychische Krise kann durch akute private oder soziale Konflikte ausgelöst werden. Das heißt, dass sie jederzeit auftreten kann. Dementsprechend sollten psychosoziale Hilfen zeitnah, in vielfältiger Form und umfassend verfügbar sein. Neben den Hilfen im sozialen Netz – Familie und Freunde –, die häufig die ersten und auch wichtigsten Ansprechpartner sind, gibt es darüber hinaus semiprofessionelle und professionelle Hilfen. Dazu zählen mehr oder weniger strukturierte Hilfenetze wie Selbsthilfegruppen bei psychisch Kranken, darüber hinaus aber auch die in der Regel flächendeckend organisierten Telefonseelsorgenummern und Krisentelefone/-hotlines, die häufig auch auf spezielle Zielgruppen ausgerichtet sind (z.B. Frauennotruf, Jugendliche). Frauen-
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3
Kapitel 3 · Förderung und Erhaltung von Gesundheit
häuser bieten Möglichkeiten der stationären Unterbringung bei psychosozialen Konfliktsituationen für Frauen – evtl. mit kleinen Kindern. Bei schweren psychischen Krisen, ggf. mit Suizidalität, kann die Notaufnahme in einer psychiatrischen Klinik erforderlich sein. Neben diesen Hilfeformen, die speziell auf Krisensituationen ausgerichtet sind, sind auch Ärzte und Psychotherapeuten zur akuten Krisenhilfe verpflichtet. Alle Gesundheitseinrichtungen müssen in ihrem Rahmen für die dort behandelten Patienten im Bedarfsfall Kriseninterventionen leisten, solange jedenfalls, bis eine Weiterverlegung in eine Facheinrichtung gewährleistet ist. Merke
Das Handlungsprinzip in der Krisenintervention ist immer, zunächst Schutz, Sicherheit und Entlastung zu geben. Erst wenn dies erreicht ist, kann durch empathisches Zuhören vorsichtig eine vorläufige Situations- und Problemklärung erfolgen, und es können konkrete kleine oder sehr kleine Handlungsschritte erarbeitet werden.
Prävention Prävention erfolgt in ganz unterschiedlichen Versorgungsbereichen (7 Kap. 3.1.1 bis 3.1.3). Nicht nur Rehabilitation (Kap. 3.1.4) lässt sich als tertiäre Prävention verstehen, sondern auch die üblichen ärztliche Beratungen und Behandlungen erfolgen häufig unter präventivem Blickwinkel, indem Anregungen zum Gesundheitsverhalten gegeben werden und auch die Frage der Früherkennung thematisiert wird (7 Kap. 2.4.1 und 3.2.1). Daneben gibt es im Bereich der ambulanten ärztlichen Versorgung auch eine Reihe ausdrücklicher Präventionsleistungen (z.B. Beratung, Früherkennung/Vorsorgeuntersuchung). Präventionsmaßnahmen zur Förderung des Gesundheitsverhaltens (z.B. Kurse zur gesunden Ernährung oder bei Übergewicht, Bewegungs- oder Stressbewältigungskurse) werden von zahlreichen Einrichtungen der Erwachsenenbildung, Sportvereinen, aber auch in der Schule, Betrieben oder weiteren gesellschaftlichen Institutionen angeboten (7 Kap. 3.2.1). Letztlich sind auch Wellness-Angebote, wie z.B. Fitnesscenter, hier einzuordnen.
Gesundheitspräventive Bedeutung kommt auch dem (sub)kulturellen Umfeld zu, durch das bestimmte Lebensformen und -stile favorisiert werden (Fitnesswelle, Alcopops). Prävention ist darüber hinaus jedoch auch eine vielfältige gesellschaftliche Aufgabe (strukturelle Gesundheitsförderung, 7 Kap. 3.2.1).
Rehabilitation Rehabilitation ist zunächst ein bestimmter Blickwinkel, der in vielen Bereichen der medizinischen Versorgung zum Tragen kommt. Auch bei akuten Erkrankungen und Verletzungen müssen ggf. schon während der Primärbehandlung Maßnahmen eingeleitet werden, um Spätschäden zu verhindern (Beispiel: Sicherung der Beweglichkeit bei akuten Schlaganfallpatienten durch Physiotherapie am Krankenbett). Die medizinische Rehabilitation hat sich auch als eigenständiges und spezialisiertes Teilsystem der gesundheitlichen Versorgung nicht nur bei Behinderten, sondern insbesondere auch bei chronischen Krankheiten entwickelt (7 Kap. 3.1.4). Derzeit findet die medizinische Rehabilitation überwiegend in stationären Einrichtungen (RehaKliniken) statt. In Zukunft werden aber wohl wohnortnahe ambulante und teilstationäre Einrichtungen an Bedeutung gewinnen. Neben der medizinischen Rehabilitation gibt es auch Rehabilitationsleistungen in anderen Bereichen (7 Kap. 3.2.3). Für unterschiedliche Leistungen sind nach dem Sozialgesetzbuch unterschiedliche Träger zuständig. Der größte Träger der medizinischen Rehabilitation ist die gesetzliche Rentenversicherung (Deutsche Rentenversicherung). Hier gilt der Grundsatz »Reha vor Rente«: Rehabilitation setzt ein, wenn die Erwerbsfähigkeit bedroht oder vermindert ist, um diese zu bessern oder wiederherzustellen und eine Frühberentung zu verhindern. Die Rehabilitation nach einem Arbeitsunfall wird von den Trägern der gesetzlichen Unfallversicherung (Berufsgenossenschaften bzw. Unfallkassen) getragen, während die geriatrische Rehabilitation von den Krankenkassen finanziert wird (»Reha vor Pflege«). Die berufliche Rehabilitation (z.B. Umschulung) fällt in der Regel in den Aufgabenbereich der Bundesagentur für Arbeit.
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3.1 · Prävention
3
Soziale Unterstützung
i Vertiefen
Soziale Unterstützung (social support) und insbesondere das Eingebundensein in ein soziales Netzwerk (soziale Integration) fördern die Gesundheit. Diese Wirkung wird wahrscheinlich über das Gesundheitsverhalten vermittelt (7 Kap. 1.2.4). Die Bezugsgruppe, in die man eingebunden ist, gibt einem eine Norm vor, wie man sich verhalten soll, um »dazu zu gehören« bzw. anerkannt zu werden (soziale Regulation). Die wichtigste Bezugsgruppe ist zumeist die Familie. Beispiel: Die Ehefrau sorgt dafür, dass ihr Mann nicht so viel raucht und trinkt, sich gesund ernährt und Sport treibt. Wie erklärt sich der gesundheitliche Nutzen von sozialer Unterstützung? Am wichtigsten scheint zu sein, dass die Partnerin ihren Ehemann ermutigt und ihm versichert, dass sie es ihm zutraut, das Gesundheitsverhalten (z.B. regelmäßig joggen zu gehen) auszuüben. Dadurch wird seine Selbstwirksamkeit gestärkt, und es fällt ihm leichter, mit dem Laufen anzufangen. Wenn er einmal damit begonnen hat, würde ohne den kontinuierlichen Ansporn womöglich das Risiko steigen, dass er seine sportliche Aktivität wieder aufgibt und in eine passive Lebensweise zurückfällt. Auch bei der Raucherentwöhnung ist soziale Unterstützung förderlich. Der Arzt kann hier eine wichtige Rolle spielen. Selbst kurze Gespräche haben Effekte. Der Hausarzt sollte deshalb bei jedem Gespräch mit dem Patienten das Rauchen ansprechen und versuchen, die Motivation aufzuhören zu unterstützen (7 Kap. 3.1.3). Soziale Unterstützung wird auch durch Selbsthilfegruppen geleistet, in denen sich chronisch Kranke zusammenschließen (7 Kap. 3.2.3). Trotz der ganz überwiegenden positiven Effekte der Teilnahme an einer Selbsthilfegruppe werden manchmal auch negative Wirkungen, wie eine Destabilisierung schon existierender sozialer Netzwerke, berichtet. Beispiel: In einer Studie mit Brustkrebspatientinnen wirkte sich die Teilnahme an einer Selbsthilfegruppe bei denjenigen Frauen nachteilig aus, die schon von ihrem Partner ausreichend unterstützt wurden. Es sollte deshalb im Einzelfall abgewogen werden, ob dem Patienten eine Selbsthilfegruppe empfohlen wird oder nicht.
Riecher-Rössler A, Berger P, Yilmaz AT, Stieglitz R-D (Hrsg) (2004) Psychiatrisch-psychotherapeutische Krisenintervention. Hogrefe, Göttingen (fundierter Überblick zu Ansätzen und Formen der Krisenintervention in unterschiedlichen Gesundheits- und Sozialbereichen) Naidoo J, Wills J (2003) Lehrbuch der Gesundheitsförderung. Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, Köln (systematischer Überblick zu Grundlagen und Umsetzung von Prävention und Gesundheitsförderung mit zahlreichen Praxisbeispielen und Projektdarstellungen) Simon M (2005) Das Gesundheitssystem in Deutschland. Huber, Bern (gute Einführung in die Struktur und Funktionsweise unseres Gesundheitssystems)
3.1.6
Sozialberatung
Während das Gesundheitssystem sich in erster Linie an Menschen mit definierten Krankheiten richtet bzw. auf deren Behandlung, Prävention oder Rehabilitation ausgerichtet ist, gibt es darüber hinaus in vielen Fällen Hilfebedarf, in denen keine eigentliche Krankheit besteht, sondern Lebenskrisen, psychosoziale Konfliktkonstellationen oder sozioökonomische Problemstellungen. Häufig sind die Übergänge zum Gesundheitssystem fließend, wie beispielsweise bei Sucht- und Drogenberatungsstellen oder bei Frühfördereinrichtungen und sozialpädiatrischen Zentren. In vielen Fällen medizinischer Behandlung können diese Beratungsstellen begleitend oder auch in der Nachsorge wichtige ergänzende Hilfen bieten. Entsprechend dem Sozialstaatsprinzip des Grundgesetzes hat die Gesellschaft auch eine Verpflichtung, in derartigen Fällen Hilfeleistungen anzubieten. Neben der abstrakten Vorgabe der Verfassung, die sich in den Ausgestaltungen diverser gesellschaftlicher Einrichtungen/Institutionen niederschlägt, gibt es darüber hinaus auch konkrete Hilfeverpflichtungen. Sie sind in den verschiedenen Büchern des Sozialgesetzbuches (SGB) geregelt. Vor diesem Hintergrund hat sich in den zurück liegenden Jahrzehnten ein breites und vielfältiges Netz an psychosozialen Beratungseinrichtungen etabliert. Sie sind zumeist auf spezielle Fragen spezialisiert, richten sich an »betroffene« Individuen, an Gruppen oder unterstützende Helfer und bieten jeweils kompetente Unterstützung an. Eine gewisse Unübersichtlichkeit des Beratungssektors ergibt sich
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3
Kapitel 3 · Förderung und Erhaltung von Gesundheit
daraus, dass es – bis auf bestimmte, nachfolgend angesprochene Bereiche – nur wenige bundeseinheitliche Regelungen gibt. Strukturierende Vorgaben finden sich demgegenüber eher auf Landesebene, oder sie ergeben sich nur indirekt beispielsweise durch Regelungen bei Förderrichtlinien der Länder und Kommunen. Psychosoziale Beratungsstellen werden zumeist von einem der so genannten Freien Wohlfahrtsbände (v.a. Caritas, Diakonie, Deutscher Paritätischer Wohlfahrtsverband/DPWV oder Arbeiterwohlfahrt/AWO) oder durch die Kommune getragen. Die Art der Leistungserbringung entspricht üblichen fachlichen Standards, die beispielsweise im Bereich der Erziehungsberatung von entsprechenden Richtlinien auf der Ebene des Bundeslandes vorgegeben werden. Leistungen durch Erziehungsberatungsstellen, die insbesondere bei Erziehungsfragen und familiären Probleme zuständig sind, erfolgen derzeit in der Regel kostenlos und werden durch kommunale oder Landeszuwendungen refinanziert. Weitere Jugendhilfeleistungen (z.B. stationäre Jugendhilfe bzw. Heimunterbringung) kommen in Betracht, wenn sie im individuellen Fall erforderlich sind, um eine drohende seelische Behinderung des Kindes/Jugendlichen zu verhüten, zu beheben oder bei bestehender Behinderung eine gesellschaftliche Teilhabe zu ermöglichen. Suchtberatungsstellen haben neben einem allgemein präventiven Auftrag – bei entsprechender Qualifikation – auch eine wichtige Funktion bei der Einleitung von Entwöhnungsbehandlungen, der ambulanten Entwöhnungsbehandlung oder der Nachbehandlung nach stationärer Entwöhnungsbehandlung. Entsprechende Leistungen erfolgen als Reha-Leistungen zu Lasten von Kranken- oder Rentenversicherung. Reha-Servicestellen wurden mit Einführung des SGB IX im Jahr 2001 als gemeinsame Einrichtungen der Rehabilitationsträger geschaffen. Sie müssen flächendeckend vorgehalten werden und gemeinsam mit den Ratsuchenden klären, ob RehaBedarf (für Behinderte oder von Behinderung bedrohte chronisch kranke Menschen) besteht, mit dem zuständigen Reha-Träger die in Frage kommenden Leistungen abklären, bei der Einleitung eines Reha-Verfahrens mithelfen und auf eine enge
Kooperation der Träger hinwirken (wenn gleichzeitig oder nacheinander Leistungen verschiedener Träger in Frage kommen), um einen zügigen RehaVerlauf sicherzustellen (7 Kap. 3.1.5 und 3.2.3). Weitere Beratungsinstitutionen sind beispielsweise Kriseninterventionsdienste (Telefonseelsorge), Schwangerschaftskonfliktberatungsstellen (nach § 218 StGB), psychosoziale Krebsberatungsstellen (wie sie beispielsweise von der Deutschen Krebshilfe gefördert und unterstützt werden), sozialpsychiatrische Dienste oder Drogenberatungsstellen. Sie sind ebenfalls zumeist flächendeckend vorhanden und werden in der Regel durch die Kommunen oder Gebietskörperschaften in ihrer Tätigkeit unterstützt, einerseits durch finanzielle Zuschüsse, andererseits durch Vernetzungsangebote und die öffentliche Präsentation beispielsweise in regional herausgegebenen Beratungsführern. Die Arbeit von Selbsthilfegruppen und Selbsthilfekontaktstellen, d.h. Beratungsstellen zur Unterstützung von Selbsthilfegruppen, wird zudem nach einer speziellen Vorschrift im SGB V direkt durch Mittel der gesetzlichen Krankenkassen unterstützt (7 Kap. 3.2.3). Schulpsychologische Beratungsstellen sind entweder an einzelnen Schulen oder schulunabhängig in der Region etabliert. Ihre Aufgabe ist zumeist neben der individuellen Schullaufbahnberatung und einer entsprechenden Fachdiagnostik auch die Beratung und Unterstützung bei schulischen Konfliktfällen, häufig auch die Unterstützung von Lehrern oder Kollegien bei Problemfällen im schulischen System. Weitere gesellschaftliche Institutionen, wie die Gemeinden (Jugendamt, Sozialamt), die Bundesagentur für Arbeit (in ihren regionalen Dienststellen) oder Studentenwerke der Hochschulen, halten schließlich diverse Beratungsangebote bereit. Ihre Aufgabenstellung ist es, für Ratsuchende in ihrem jeweiligen Tätigkeitsfeld über vorhandene Leistungen zu informieren. Ferner helfen sie bei der Klärung, ob ein entsprechender Bedarf besteht, und weisen den Weg, um diese Leistung im Bedarfsfall auch zu erhalten. Einen umfassenden Überblick über Beratungsstellen in Deutschland, ihre Leistungen und Anschriften gibt der nach Themenfeldern und regional gegliederte Beratungsführer-online, der von der Deutschen Arbeitsgemeinschaft für Jugend-
3.2 · Maßnahmen
und Eheberatung (DAJEB) herausgegeben wird (www.dajeb.de). i Vertiefen Belardi N, Akgün L, Gregor B, Neef R, Pütz T, Sonnen FR (1999) Beratung. Weinheim, Beltz (Einführung in Aufgaben, Inhalte und Ziele von psychosozialer Beratung; Darstellung der besonderen Aufgaben in unterschiedlichen Beratungsfeldern)
3.2
Maßnahmen
> > Einleitung Gesundheitsbildung und Gesundheitsförderung in Schulen, Betrieben und Gemeinden sind gesamtgesellschaftliche Aufgaben, bei denen auch Ärzte eine wichtige Rolle übernehmen. Gesprächsführungskompetenz ist gefordert, wenn Patienten über den Nutzen von Früherkennungsuntersuchungen informiert werden müssen. Hier herrschen sowohl bei Ärzten wie auch in der Allgemeinbevölkerung oft falsche Vorstellungen. Dies betrifft z.B. die Vorhersagekraft von ScreeningTests, die oft relativ gering ist, weil viele falsch-positive Befunde auftreten. Zur Stressbewältigung oder auch für die Verhaltensänderung im Rahmen von Patientenschulungen haben sich verhaltenstherapeutische Ansätze als sehr wirksam erwiesen. Sie vermitteln den Betroffenen die nötigen Fertigkeiten, um ihre Probleme in eigener Regie lösen zu können. Dieses Prinzip des Selbstmanagements leitet auch Selbsthilfegruppen, in denen sich chronisch Kranke zusammenschließen. Selbst bei alten, pflegebedürftigen Menschen ist es primäres Ziel, die noch vorhandenen Ressourcen zu fördern. Eine aktivierende Pflege soll den Zeitpunkt, an dem der Betroffene vollständig von der Hilfe anderer abhängig wird, möglichst weit hinausschieben.
3.2.1
Gesundheitserziehung und Gesundheitsförderung
Die primäre Prävention orientiert sich im Wesentlichen am Risikofaktorenmodell. Ihr Ziel ist es, Risikofaktoren für Krankheiten abzubauen. Obwohl die Vermeidung von Risikofaktoren von zentraler Wich-
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3
tigkeit ist, hat diese Vorgehensweise Kritik gefunden, weil sie eher negativ orientiert (Verhinderung von Krankheiten) und nicht breit genug angelegt ist. Man versuchte deshalb, Schutzfaktoren der Gesundheit zu finden, die nicht nur auf spezifische Risikofaktoren wirken, sondern allgemein und unspezifisch die Gesundheit fördern. Solche Schutzfaktoren, die positiv definiert sind, sind beispielsweise gesunde Ernährung und körperliche Aktivität. Unter Gesundheitsförderung versteht man alle Aktivitäten zur Verbesserung und Stärkung der Gesundheit. Gesundheit ist positiv definiert und betont die individuellen und sozialen Ressourcen, nicht nur die Abwesenheit von Krankheit (s. die WHO-Definition der Gesundheit als Wohlbefinden, Kap. 1.1.1). Zu den Ressourcen gehören auf individueller Ebene die Entwicklung eines gesunden Lebensstils und von Stressbewältigungskompetenzen, auf gesellschaftlicher Ebene die Herstellung gesundheitsförderlicher Lebensbedingungen (z.B. Gesunde-Städte-Programm der WHO). Im Bereich der Prävention unterscheidet man analog Verhaltensprävention (z.B. Abbau von Risikoverhalten) von Verhältnisprävention (z.B. Gurtpflicht, Einschränkung der Zigarettenwerbung). Darüber hinaus nennt die WHO als Ziel der Gesundheitsförderung die weitgehende Selbstbestimmung des Individuums über seine Gesundheit. Gesundheitsförderung und Prävention verfolgen letztlich dieselben Ziele und sollten nicht gegeneinander ausgespielt werden. Im Kontext der Gesundheitsförderung trifft man auf einige miteinander verwandte Begriffe. Gesundheitsbildung beinhaltet alle Maßnahmen (Aufklärung, Beratung, Training, Schulung), die unter Einsatz erwachsenenpädagogischer Techniken und/ oder psychologischer Methoden durchgeführt werden, um durch Information, Motivation und Schulung gesundheits- und krankheitsbezogene Einstellungen und Verhaltensweisen positiv zu beeinflussen. Gesundheitserziehung betont den pädagogischen Aspekt. Sie betrifft insbesondere die Vermittlung von Wissen und Kompetenzen an Kinder und Jugendliche im Rahmen der Schulbildung. Gegenüber Erwachsenen kann sie leicht einen paternalistischen Beigeschmack bekommen. Gesundheitsaufklärung bezieht sich im Wesentlichen auf die Informationsvermittlung (z.B. Vorträge, Broschüren, neue Medien). Wichtige Informationsquel-
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3
Kapitel 3 · Förderung und Erhaltung von Gesundheit
len sind die vom Robert-Koch-Institut herausgegebene Gesundheitsberichtserstattung des Bunds sowie die von der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung publizierten Berichte. Gesundheitsberatung findet eher im persönlichen Gespräch statt (7 Kap. 2.4.1). Geht es um das Einüben neuer Verhaltensweisen, wird auch von Gesundheitstraining oder Gesundheitsschulung gesprochen.
Auf struktureller Ebene sind Angebote gesunder Ernährung, Integration sportlicher Aktivität in den Unterricht sowie von Gesundheitserziehung in den Lehrplan zu nennen. Lehrer sind wichtige Multiplikatoren, weil sie direkten Kontakt zu den Jugendlichen haben und aufgrund ihrer Ausbildung in der Lage sind, gesundheitsrelevantes Wissen und Verhalten zu vermitteln.
Gesundheitsförderung in Organisationen
Betriebe. Betriebliche Gesundheitsförderung hat
Träger und Initiatoren der Gesundheitsförderung können unterschiedliche Institutionen sein: Schulen, Erwachsenenbildungseinrichtungen, Krankenversicherungen, Ministerien. Adressaten sind Einzelpersonen ebenso wie Gruppen, Gemeinden, Regionen oder die gesamte Bevölkerung. Umfassende gemeindeorientierte Interventionen, die z.B. junge Menschen in ihrer Lebenswelt ansprechen (SettingAnsatz), sind wirksamer als reine Medienkampagnen.
den Vorteil, Menschen in ihrer Alltagsumgebung anzusprechen, ohne dass sie selbst eine Einrichtung (z.B. eine Arztpraxis) aufsuchen müssen. Die Einführung von Sicherheitsstandards am Arbeitsplatz zur Vermeidung von Arbeitsunfällen und die Verringerung von Schadstoffexposition sind wichtige präventive Maßnahmen. Ebenfalls auf struktureller Ebene sind Rauchverbote am Arbeitsplatz und das Angebote gesunder Kost in der Kantine angesiedelt. Hinzu kommen Verbesserungen der Arbeitsorganisation, um den Beschäftigten möglichst viel Selbstbestimmung zu ermöglichen. Hier liegen die Aufgaben der Organisations- und Personalentwicklung. Zur individuellen Gesundheitsförderung werden in manchen Betrieben Kurse zur Stressbewältigung, Hilfen zur Konfliktlösung bei Mobbing, Nichtrauchertraining, Suchtberatung oder Programme zur Förderung körperlicher Aktivität angeboten. Für deren Erfolg ist die Beteiligung des Managements wie auch der Beschäftigten wichtig (Arbeitsgruppen »Gesundheit« oder »Gesundheitszirkel«). Die Unternehmen versprechen sich von Programmen zur Gesundheitsförderung weniger krankheitsbedingte Fehlzeiten, mehr Produktivität und ein besseres Image. Ob diese Effekte auch eintreten, lässt sich zur Zeit aber noch nicht sagen, weil entsprechende Daten fehlen. Allerdings gibt es erste Hinweise, dass eine partizipative Organisationsentwicklung (Verbesserung der Arbeitsbedingungen unter Mitwirkung der Betriebsangehörigen) zu einer Verminderung des Krankenstands führt.
Kindergarten und Schule. Der Vorteil von Gesund-
heitsförderung in der Schule liegt darin, dass Kinder aller sozialen Schichten über einen Zeitraum von 12–13 Jahren erreicht werden können. Kinder und Eltern sind wichtige Adressaten, weil Einstellungen schon früh verfestigt werden. Beispiel: regelmäßige Zahnpflege zur Kariesprophylaxe. Durch ein intensives Präventionsprogramm in den Schulen rückte Deutschland in Bezug auf die Zahngesundheit von einem mittleren auf einen Spitzenplatz in Europa vor. Einer der großen primärpräventiven Erfolge der Medizin, die Bekämpfung der Infektionskrankheiten, wäre ohne Schutzimpfungen nicht möglich gewesen. Umso wichtiger ist es, in Kindergarten und Schule die Impfmotivation zu stärken und unangemessenen Befürchtungen durch Information zu begegnen. Themen für Schulkinder und Jugendliche sind gesunde Ernährung (Vorbeugung von Übergewicht und Essstörungen), Sexualität (Empfängnisverhütung, sexuell übertragbare Krankheiten) und Verkehrssicherheit (sicherer Schulweg). Programme zur Suchtprävention in der Schule sollten interaktiv angelegt sein (Mitwirkung der Teilnehmer), d.h. nicht nur Information vermitteln, sondern auch Verhaltenstrainings zur Stärkung der sozialen Kompetenz (Konfliktlösungsfähigkeit) und Stressbewältigung enthalten.
Gesundheitsförderung in der Kommune Gemeindeorientierte Programme richten sich an die Bewohner einer Stadt. Damit sie erfolgreich sind, müssen viele Institutionen und Organisationen mitwirken. Insbesondere solche Personen, die aufgrund ihrer Position und ihres Aufgabenbereichs mit vielen
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3.2 · Maßnahmen
3
Exkurs Nürnberger Bündnis gegen Depression. Ein sehr erfolgreiches gemeindebasiertes Programm zur Gesundheitsförderung und Prävention ist das »Nürnberger Bündnis gegen Depression« (www. buendnis-depression.de). Ziel des Nürnberger Bündnisses war und ist es, die Versorgungs- und Lebenssituation depressiver Menschen zu verbessern. Eine Depression wird noch immer tabuisiert. Die Betroffenen halten aus Angst vor Stigmatisierung ihre Erkrankung geheim und ziehen sich aus ihrem sozialen Umfeld zurück. Ärzte fragen selten nach den typischen Symptomen, mit der Folge, dass die Störung nur bei 50% der Betroffenen diagnostiziert und noch seltener adäquat behandelt wird. Deshalb musste zunächst ein öffentliches Bewusstsein für die Krankheit geschaffen und das Thema enttabuisiert werden, etwa durch Kinospots, Plakate, Vorträge, Medienberichte und Aktionstage. Zum anderen wurden über zwei Jahre hinweg Menschen aus medizinischen und sozialen Berufen zum Thema Depression weiterqualifiziert, damit zukünftig die Erkrankung besser erkannt und erfolgreich behandelt werden kann. Es wurde ein Kooperationsnetzwerk von Ärzten, Medien, Lehrern, Altenpflegekräften und anderen an der Versorgung depressiver Menschen beteiligter Part-
Menschen Kontakt haben und Autorität genießen (Multiplikatoren), müssen einbezogen werden. Wenn diese Programme erfolgreich sein sollen, muss ein hoher organisatorischer Aufwand betrieben werden. Ein Beispiel für ein sehr erfolgreiches Präventionsprogramm ist das in Kap. 3.1.3 vorgestellte Nordkarelien-Projekt zur Senkung des koronaren Risikos. Sehr erfolgreich hinsichtlich der Senkung des Suizidrisikos bei Depression war das Nürnberger Bündnis gegen Depression.
Unterschiedliche Wirksamkeit struktureller vs. personaler Gesundheitsförderung Individuelle Verhaltensänderungen sind sehr viel schwerer zu bewerkstelligen als strukturelle Maßnahmen. Beispiele für strukturelle Maßnahmen: gesunde Trinkwasserversorgung, angemessene Wohn-
ner geknüpft. Hausärzte wurden in Seminaren über verschiedene Therapien informiert, Pfarrern wurde erklärt, wie sie mit Suizidgefährdeten umgehen können, Lehrer erfuhren, wie das Thema Depression im Unterricht aufgegriffen werden kann. Ziel war es, dass sowohl die Betroffenen wie auch die professionellen Berater und Helfer offener mit der Krankheit Depression umgehen. Ärzte sollten beispielsweise vermehrt darauf achten, ob Patienten an einer Depression leiden, weniger Pseudodiagnosen, wie Burn-out-Syndrom oder chronisches Erschöpfungssyndrom, stellen und ihre Kenntnisse zu Diagnostik und Therapie depressiver Erkrankungen verbessern. Ferner erstellte das Nürnberger Bündnis Informationsmaterialien für Patienten und Angehörige, richtete spezielle Hilfsangebote an Menschen nach Suizidversuch ein und leistete Unterstützung bei der Gründung von Selbsthilfe- und Angehörigengruppen. Durch dieses intensive, auf vielen Ebenen ansetzende Programm konnte während der Laufzeit die Suizidrate um 25% gesenkt werden, und zwar verglichen sowohl mit dem Vorjahr als auch gegenüber einer Kontrollregion, in der ein solches Bündnis noch nicht etabliert worden war. Inzwischen gibt es in vielen Städten ein Bündnis gegen Depression.
Merke
Strukturelle Gesundheitsförderung setzt an den gesellschaftlichen Strukturen und der ökologischen Umwelt an, personale Gesundheitsförderung am Verhalten einzelner Menschen.
verhältnisse, gesunde Umwelt, medizinische Versorgung, Werbeverbot für Tabak, Tabaksteuer, Verbot von Alkoholverkauf an Jugendliche, Jodierung von Speisesalz zur Prophylaxe von Schilddrüsenerkrankungen, Fluoridierung von Zahncremes oder Speisesalz zur Kariesprophylaxe usw. Eine der wirksamsten Maßnahmen zur Gesundheitsförderung und Prävention war die Einführung der Gurtpflicht beim Autofahren. Aktuell diskutierte strukturelle Maßnahmen sind das Verbot von Zigarettenautomaten und Rauchverbote in Restaurants, öffentlichen Ge-
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Kapitel 3 · Förderung und Erhaltung von Gesundheit
bäuden, Schulen und Krankenhäusern. Strukturelle Maßnahmen erleichtern das individuelle Handeln, indem sie förderliche äußere Rahmenbedingungen setzen.
3
Setting-Ansatz. Reine Aufklärungskampagnen gelten heute nicht mehr als zeitgemäß, weil ihre Erfolge gering und nicht nachhaltig sind. Information muss sich in Verhalten umsetzen. Verhaltensänderungen werden vor allem dadurch erleichtert, dass Menschen in ihrer jeweiligen Lebenswelt aufgesucht werden (Setting-Ansatz). Dann können die im jeweiligen Kontext herrschenden Barrieren gegen ein Gesundheitsverhalten berücksichtigt werden. Beispiele für erfolgreiche Kampagnen mit Setting- und Kontextbezug: Kampagne zum Sicherheitsgurt; TrimmAktion (mit der Einrichtung von Trimm-Anlagen); HIV-Kampagne »Gib AIDS keine Chance«. Soziales Marketing. Um Wissen, Einstellungen und Verhalten in der Bevölkerung zu beeinflussen, werden moderne Marketingstrategien, wie z.B. Kommunikation in den Massenmedien, genutzt. Ein erfolgreiches Beispiel hierfür ist die Kampagne »Gib AIDS keine Chance« der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung. Durch eine große Zahl von auf unterschiedlichen Ebenen ansetzenden Maßnahmen, die auf die jeweilige Zielgruppe zugeschnitten waren (z.B. Plakate, Fernsehspots, Broschüren, Telefonberatung für die Allgemeinbevölkerung; persönliche Beratung in AIDS-Beratungsstellen und Gesundheitsämtern für Risikogruppen), ließ sich das präventive Verhalten (Kondombenutzung) und infolgedessen auch die Rate der HIV-Neuinfektionen günstig beeinflussen. Der massenmediale Ansatz wurde mit dem Setting-Ansatz kombiniert: Risikogruppen wie z.B. homosexuelle Männer oder i.v.-Drogenabhängige wurden in ihrer Lebenswelt angesprochen, um ihnen Präventionsmöglichkeiten zu vermitteln (Verfügbarmachung von Kondomen, sterilen Spritzenbestecken), Allerdings konnte man in den letzten Jahren einen Rückgang in der Reichweite der Informationsmaßnahmen beobachten, der sich auch im präventiven Verhalten niederschlug. Die Kondombenutzung bei sexuellen Kontakten lässt wieder nach, insbesondere unter homosexuellen Männern.
Einsatz von Screeningverfahren Screening-Verfahren (Filtertests) dienen der Früherkennung von Krankheiten (sekundäre Prävention). Ein Einsatz von Screening-Tests ist nur unter bestimmten Bedingungen sinnvoll: 4 Es muss sich um eine häufige Krankheit mit gravierenden Folgen handeln. 4 Es muss eine wirksame Therapie zur Frühbehandlung der Krankheit vorhanden sein, die von den Patienten akzeptiert wird. 4 Es muss ein guter Screening-Test vorhanden sein (zu den Gütekriterien s.u.). 4 Der Nutzen von Screening, Frühdiagnose und Frühtherapie muss durch randomisierte, kontrollierte Studien belegt sein. Ein Screening ist dann effektiv, wenn durch die Frühdiagnose und Frühbehandlung Überlebenszeit und/oder Lebensqualität der Patienten verbessert werden. Die Überlebenszeitverlängerung muss über diejenige Zeit hinausgehen, die allein durch die Vorverlegung der Diagnose gewonnen wird (lead time). Denn diese Zeit ist keine zusätzliche Überlebenszeit, sondern lediglich zusätzliche Zeit, in der der Patient schon weiß, dass er krank ist.
Brustkrebs-Screening Nutzen. Das am besten untersuchte Screening-Ver-
fahren ist die Mammographie (Röntgenuntersuchung der Brust) zur Früherkennung von Brustkrebs. Oft liest man, dass durch Brustkrebs-Screening die Sterblichkeit um 25% reduziert wird. Diese Angabe der relativen Risikoreduktion erweckt jedoch einen zu günstigen Eindruck. Wichtiger ist die absolute Risikoreduktion. Ohne das Screening sterben in einem Zeitraum von 10 Jahren vier von 1000 Frauen der in Frage kommenden Altersgruppe an Brustkrebs, mit dem Screening während dieser 10 Jahre drei von 1000. Dies entspricht einer relativen Risikoreduktion von (4–3)/4 = 25%. Die absolute Risikoreduktion beträgt jedoch 1 von 1000 oder 0,1%. Von 1000 Frauen, die 10 Jahre lang am Mammographie-Screening teilnehmen, hat also eine Frau einen Nutzen. Die number needed to treat (7 Kap. 3.1.3) beträgt also 1000. 1000 Frauen müssen sich über 10 Jahre regelmäßig einer Mammographie unterziehen, damit eine von ihnen gerettet werden kann. Umgekehrt bedeutet dies, dass 999 Frauen kei-
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3.2 · Maßnahmen
nen Nutzen vom Mammographie-Screening haben, da sie auch ohne dieses nicht an Brustkrebs gestorben wären. Diese Ziffern sind wahrscheinlich sogar noch eher optimistisch. Es gibt eine Metaanalyse, die den Nutzen eines Mammographie-Screenings insgesamt bestreitet. Andere Studien kommen zu nur wenig günstigeren Werten (absolute Risikoreduktion 2 von 1000). Trotz des begrenzten Nutzens sollen Mammographie-Screenings in Deutschland bundesweit eingeführt werden. Psychische Auswirkungen. Die Lebensqualität von
Frauen, die sich einem Brustkrebs-Screening unterziehen, kann beeinträchtigt sein. Unklare oder falsch-positive Befunde erregen Angst. Zur psychischen Belastung kommen die körperlichen Nebenwirkungen durch die erforderlichen zusätzlichen diagnostischen Maßnahmen und Eingriffe hinzu. Beim Mammographie-Screening treten viele falschpositive Befunde auf, so dass die Wahrscheinlichkeit, dass eine Frau mit positivem Mammogramm auch Brustkrebs hat, sehr viel geringer ist als die Wahrscheinlichkeit, dass sie keinen Brustkrebs hat (s.u.). Wegen der hohen Rate falsch-positiver Ergebnisse muss nach zehn aufeinander folgenden Mammographie-Untersuchungen jede zweite Frau ohne Brustkrebs damit rechnen, mindestens einmal einen positiven Befund zu erhalten, mit den entsprechenden chirurgischen Eingriffen (Biopsie). Die psychischen Nebenwirkungen ließen sich reduzieren, wenn die Ärzte die Frauen darüber informieren, wie häufig falsch-positive Ergebnisse sind. Dann wäre eine Frau, die einen positiven Befund erhält, nicht so überrascht oder erschüttert.
Wichtige epidemiologische Begriffe zur Beurteilung von Screenings Prävalenz. Je höher die Prävalenz einer Krankheit,
umso größer der Nutzen eines Screenings. Die Prävalenz ist definiert als die Häufigkeit einer Krankheit in einer Population. Man unterscheidet die »wahre« Prävalenz (Häufigkeit in der Allgemeinbevölkerung) von der Inanspruchnahmeprävalenz (Häufigkeit in Patientengruppen). Inanspruchnahmeprävalenz kann sich z.B. beziehen auf Patienten einer Allgemeinpraxis (Primärversorgung), eines allgemeinen Krankenhauses (sekundäre Versor-
3
gung) oder eines spezialisierten universitären Zentrums (tertiäres Zentrum). Punktprävalenz ist die Prävalenz während eines bestimmten Zeitpunkts (z.B. ein Tag, eine Woche oder ein Monat), Periodenprävalenz die Prävalenz während eines längeren Zeitraums (z.B. Einjahresprävalenz, Lebenszeitprävalenz). Man muss also bei der Prävalenz immer angeben, auf welche Population sie sich bezieht und auf welchen Zeitpunkt bzw. Zeitraum. Inzidenz. Inzidenz bezeichnet die Anzahl der Neuerkrankungen in einer Population während eines bestimmten Zeitraums. Wenn es sich um einen längeren Zeitraum, wie z.B. ein Jahr, handelt und man alle während dieser Zeit neu aufgetretenen Krankheitsfälle sammelt, spricht man auch von kumulativer Inzidenz. Merke
Prävalenz und Inzidenz sind Häufigkeitsangaben. Sie können sich auf eine Krankheit beziehen, aber auch auf subjektive Beschwerden (z.B. Prävalenz von Rückenschmerzen) oder auf Risikofaktoren (z.B. Prävalenz von Übergewicht).
Sensitivität und Spezifität. Zu den klassischen Kri-
terien für die Bewertung eines Screening-Tests gehören Sensitivität und Spezifität. Diese Kriterien können anhand eines Vier-Felder-Schemas erläutert werden (. Abb. 3.5). In diesem Vier-Felder-Schema werden das tatsächliche Vorhandensein einer Krankheit, in unserem Beispiel einer Depression, (vorhanden oder nicht vorhanden) und das Ergebnis eines diagnostischen Tests, der positiv oder negativ ausfallen kann, miteinander kombiniert. Ein guter Test fällt positiv aus, wenn die Krankheit tatsächlich vorhanden ist (Feld a: richtig positiv), hingegen negativ, wenn die Krankheit tatsächlich nicht vorhanden ist (Feld d: richtig negativ). Da Tests aber keine perfekte Validität besitzen, kommen auch falsch-positive (Feld b) und falsch-negative (Feld c) Ergebnisse vor. Das tatsächliche Vorhandensein der Krankheit, die durch den Test entdeckt werden soll, wird in Validierungsstudien durch das Ergebnis des Referenzstandards festgelegt. Referenzstandards können beispielsweise pathologische Befunde (z.B. Biospie) oder Laborwerte
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Kapitel 3 · Förderung und Erhaltung von Gesundheit
3
Krankheit
vorhanden
nicht vorhanden
positiv
a
b
a+b
positiver Vorhersagewert = a/(a+b)
negativ
c
d
c+d
negativer Vorhersagewert = d/(c+d)
a+c
b+d
Testergebnis
. Abb 3.5. Sensitivität, Spezifität, positiver und negativer Vorhersagewert anhand einer Vierfeldertafel
sein. Im Bereich psychologischer Merkmale gibt es derartige objektive Kriterien (noch) nicht. Als Referenzstandard wird bei psychischen Störungen meist ein strukturiertes klinisches Interview nach ICD-10 oder DSM-IV verwandt. Sensitivität und Spezifität sind Kennwerte, die vom »tatsächlichen« Vorhandensein einer Krankheit ausgehen, d.h. von der Klassifikation der Probanden je nach dem Ergebnis des Referenzstandards. Die Sensitivität gibt an, wie viele von denjenigen Patienten, die eine Krankheit tatsächlich haben, vom Test auch als positiv identifiziert werden (. Abb. 3.5). Bezugsgruppe der Sensitivität ist also die Gruppe
derjenigen Probanden, die die gesuchte Krankheit aufweisen. Die Sensitivität vermindert sich, wenn der Test viele falsch-negative Ergebnisse produziert, also in unserem Beispiel tatsächlich depressive Patienten nicht entdeckt. . Abbildung 3.6 veranschaulicht dies graphisch: In einer Gruppe von 100 Probanden (durch Kästchen dargestellt) sind 20 depressiv (ausgefüllte Kreise) und 80 nicht (leere Kreise) (Prävalenz 20%, . Abb. 3.6a). Das Testergebnis ist durch die Schattierung der Kästchen dargestellt (. Abb. 3.6b). Für die Bestimmung der Sensitivität greifen wir die Untergruppe derjenigen 20 Probanden heraus, die die Krankheit besitzen (. Abb. 3.6c).
3.2 · Maßnahmen
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3
. Abb 3.6. Sensitivität, Spezifität, positiver und negativer Vorhersagewert, graphisch illustriert (nach Faller 2005)
Von diesen werden 80%, d.h. 16 von 20, richtig positiv klassifiziert, also als depressiv erkannt (Sensitivität 80%). Bei 4 Probanden fällt der Test hingegen falsch-negativ aus; sie werden als gesund klassifiziert, obwohl sie eigentlich krank sind. Die Spezifität gibt an, wie viele Patienten, die keine Depression haben, vom Test auch als negativ klassifiziert werden (. Abb. 3.5). Ein Test mit hoher Spezifität erkennt Gesunde korrekt als gesund und fällt negativ aus. Die Spezifität vermindert sich, wenn der Test viele falsch-positive Ergebnisse produziert. Für die Bestimmung der Spezifität ist demnach die Untergruppe der Gesunden die Bezugsgröße. Wenn wir in unserem graphischen Beispiel die 80 Gesunden herausgreifen, so werden von diesen bei einer Spezifität von 80% 64 korrekt negativ getestet (. Abb. 3.6d). Die übrigen 16 werden fälschlicherweise als »krank« gemeldet, obwohl sie in Wirklichkeit gesund sind (falsch-positiv).
Positiver und negativer Vorhersagewert. Sensitivität und Spezifität gehen, wie gesagt, vom tatsächlichen Vorhandensein bzw. Nichtvorhandensein einer Krankheit aus, das in einer Validierungsstudie mittels eines Referenzstandards bestimmt wurde. Im klinischen Alltag haben wir einen derartigen Referenzstandard aber meist nicht regelmäßig zur Verfügung. Hier sind wir zunächst mit dem Testergebnis konfrontiert, das positiv oder negativ ausgefallen ist. Im Alltag steht man deshalb häufiger vor der umgekehrten Frage, ob denn diejenigen Patienten, die positiv getestet wurden, auch tatsächlich die entsprechende Krankheit besitzen, nach der der Test sucht, also in unserem Beispiel eine Depression. Hierüber gibt der Vorhersagewert eines positiven Testergebnisses (auch positiver Vorhersagewert, positiver prädiktiver Wert oder positive Korrektheit genannt) Auskunft (. Abb. 3.5). Der Vorhersagewert eines positiven Tests gibt an, wie hoch
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Kapitel 3 · Förderung und Erhaltung von Gesundheit
der Anteil der tatsächlich depressiven Patienten unter den positiv getesteten Patienten ist. Bezugsgruppe ist jetzt die Gruppe der Testpositiven (nicht, wie bei der Sensitivität, der Kranken). In der graphischen Darstellung (. Abb. 3.6e) werden jetzt also die schattierten Kästchen herausgegriffen, und wir bestimmen, wie viele von ihnen auch in Wirklichkeit erkrankt sind (ausgefüllte Kreise): Bei 32 Probanden ist der Test positiv ausgefallen, aber nur 16 davon sind tatsächlich depressiv. Der positive Vorhersagewert beträgt somit 50%. Analog gibt der Vorhersagewert eines negativen Testergebnisses (negativer Vorhersagewert, negativer prädiktiver Wert, negative Korrektheit) Auskunft darüber, ob Testnegative auch tatsächlich »gesund«, d.h. nicht depressiv, sind (. Abb. 3.5). Graphisch dargestellt, geht es jetzt um die Untergruppe der nichtschattierten Kästchen (. Abb. 3.6f). Von den 68 Testnegativen haben 64, d.h. 94%, auch tatsächlich keine Depression. Vier Probanden wurden jedoch falsch-negativ getestet, d.h. der Test signalisiert »gesund«, obwohl de facto die gesuchte Störung vorliegt. Positiver und negativer Vorhersagewert sind (im Unterschied zu Sensitivität und Spezifität) in hohem Maße von der Prävalenz, d.h. der Basisrate der Störung in der untersuchten Population, abhängig. Bei gleicher Sensitivität und Spezifität, aber einer niedrigeren Prävalenz von z.B. 10%, sinkt der prädiktive Wert eines positiven Tests auf 31% ab. Hohe Sensitivität allein ist also kein anzustrebendes Ziel. Es reicht nicht aus, dass Screening-Tests eine hohe Sensitivität haben und alle belasteten Patienten auch erkennen. Eine hohe Spezifität ist ebenso wichtig. Ist die Spezifität nicht ausreichend hoch, resultieren viele falschpositive Ergebnisse. Der Vorhersagewert eines positiven Ergebnisses ist dann gering.
. Abb 3.7. Vorhersagewert eines positiven Mammographieergebnisses (Baumdiagramm, n. Gigerenzer 2004)
7 richtig erkannt (Sensitivität 90%). Von den 992 gesunden werden aber wegen der Spezifität von 93% nur 922 negativ, 70 hingegen falsch-positiv getestet. Insgesamt haben wir damit 77 positive Testergebnisse, von denen aber nur 7 (9%) richtig-positiv sind. Mit anderen Worten: Von 11 Frauen mit positivem Mammographiebefund hat nur eine einzige Brustkrebs. Ähnlich ist die Situation bei anderen ScreeningTests. Zur Früherkennung von Darmkrebs wird ein Test auf verborgenes Blut im Stuhl verwandt (Hämokkulttest). Nur 4,8% der Personen mit positivem Hämokkulttest haben wirklich Darmkrebs. Zum Screening auf HIV-Infektion werden Bluttests mit sehr hoher Sensitivität und Spezifität durchgeführt. Bei Männern, die keiner der bekannten Risikogruppen (Homosexuelle, i.v.-Drogenabhängige) angehören, ist der positive Vorhersagewert dennoch wegen der insgesamt sehr geringen Prävalenz nur 50%. Von zwei positiv getesteten Männern ist also nur einer tatsächlich HIV-infiziert.
Positiver Vorhersagewert bei häufigen Screenings.
Bei der Mammographie hatten wir weiter oben schon erwähnt, dass nur wenige Frauen, die ein positives Testergebnis haben, tatsächlich an Brustkrebs leiden. Dies können wir nun genauer bestimmen. In . Abbildung 3.7 ist anhand eines Baumdiagramms mit 1000 Frauen dargestellt, wie die positiven Befunde zustande kommen, unter realistischen Annahmen für die (altersgruppenbezogene) Prävalenz, Sensitivität und Spezifität. Von den 8 kranken Frauen werden
Ethische und ökonomische Probleme der Prävention Da Prävention eine sinnvolle Strategie ist, wird gefordert, mehr Mittel für präventive Maßnahmen zur Verfügung zu stellen. Andererseits gibt es bisher erst wenige Präventionsprogramme, deren Wirksamkeit zweifelsfrei bewiesen ist. Entweder fehlt die Evidenz aus methodisch guten Studien, oder entsprechende Studien haben widersprüchliche oder negative Er-
3.2 · Maßnahmen
gebnisse erbracht. Vor diesem Hintergrund lässt sich die politische Forderung nach mehr Prävention nicht immer ausreichend begründen. Es besteht im Bereich präventiver Maßnahmen im Gesundheitswesen deshalb ein großer Entwicklungsbedarf. Ein weiteres Problem im Spannungsfeld von Ethik und Ökonomie ist die Entscheidung, in welchem Bereich die knappen Mittel eingesetzt werden sollen (Priorisierung der Ressourcenallokation). Will man diese eher der Gesamtbevölkerung zugute kommen lassen, mit der Gefahr, viel Aufwand für wenig Ertrag zu betreiben? Oder will man die Maßnahmen auf Risikopopulationen fokussieren, z.B. auf Menschen mit erhöhtem Blutdruck oder Übergewicht, so dass die Erfolgsaussichten besser sind, jedoch nur eine Teilgruppe der Bevölkerung in den Genuss von Präventionsmaßnahmen kommt? Zwar würden sich durch den bevölkerungsbezogenen Ansatz insgesamt viel größere Effekte erzielen lassen als durch den Risikogruppenansatz. Ersterer ist aber schwerer durchzuführen, Letzerer leichter zu vermitteln. Ein weiteres ethisches Problem kann entstehen, wenn Menschen diskriminiert werden, weil sie sich nicht ausreichend um die Erhaltung ihrer Gesundheit bemühen. Zwar ist es richtig, dass ein großer Teil der Verantwortlichkeit für die eigene Gesundheit beim Individuum liegt. Gleichwohl würde eine Gesundheitspolitik totalitäre Züge annehmen, wenn sie dem Einzelnen vorschreiben würde, wie er zu leben hat. Alle Maßnahmen zur Gesundheitsförderung und Prävention müssen deshalb das Recht des einzelnen Menschen respektieren, sein Leben selbst zu gestalten. i Vertiefen Gigerenzer G (2004) Das Einmaleins der Skepsis. Berlin Taschenbuch Verlag, Berlin (sehr leicht verständliches Buch über die Vor- und Nachteile von Screenings, mit vielen anschaulichen, einfach nachvollziehbaren Beispielen)
3.2.2
Verhaltensänderung
Verhaltenstherapeutische Ansätze In vielen Bereichen der Medizin kommt es vor, dass das Problem des Patienten nicht allein durch eine ärztliche Verordnung lösbar ist, sondern eine Ver-
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haltensänderung erfordert. Hierbei haben sich verhaltenstherapeutische Ansätze besonders bewährt. Diabetes mellitus. Diese Regulationsstörung des
Stoffwechsels, die zu chronisch erhöhten Blutzuckerwerten führt, erfordert ein gewisses Maß an Selbstdisziplin, Einschränkung der Spontaneität und Flexibilität, rationales Handeln und Verzichtbereitschaft, letztlich eine grundlegende Änderung des Lebensstils. Fußamputationen, Erblindungen, Schlaganfälle, Potenzstörungen und Herzinfarkte von Diabetespatienten können nur vermieden werden, wenn die Patienten ihre eigene Verantwortung für die Lebensführung erkennen und in konkretes Verhalten umsetzen. Die Deutsche Diabetes-Gesellschaft hat strukturierte Empfehlungen entwickelt, die entscheidend für den Therapieerfolg sind. Dazu gehört zuerst das Wissen über die Ursachen und Folgen chronischer Hyperglykämie. Schulungsformen, die aber ausschließlich Wissen über die Krankheit und deren Behandlung vermitteln, sind nicht ausreichend. Neben der Wissensvermittlung ist es notwendig, Menschen mit Diabetes zu motivieren, persönliche Behandlungsziele zu erarbeiten und im Sinne von Empowerment und Selbstmanagement einen selbständigen Umgang mit der Erkrankung einzuüben (7 Kap. 2.1.4). Die Betroffenen lernen, den Blutzucker zu bestimmen und Insulin zu injizieren. Sie eignen sich die notwendigen Verhaltenskompetenzen an und erwerben Strategien, die ihnen helfen, ihren Lebensstil an die Erkrankung anzupassen (7 Kap. 2.4.2). Für den Arzt ergibt sich dadurch die Notwendigkeit, eine angemessene Didaktik für diese Patienten zu entwickeln, z.B. im Rahmen einer Gruppensprechstunde. Neben der Blutzuckereinstellung ist auch die Überwachung des Blutdrucks den Patienten zu vermitteln, damit sie selbst den Blutdruck messen und erkennen können, wie sie bei ungünstigen Veränderungen des Blutdrucks gegenregulieren können. Eine passive arztzentrierte Behandlungserwartung des Patienten muss zugunsten eines tragfähigen Konzepts von Selbstwirksamkeit überwunden werden (7 Kap. 3.1.2). Schmerzbehandlung. Die aktive Mitarbeit des Schmerzpatienten ist ein essenzieller Bestandteil der Diagnostik und Behandlung. Schmerzpatienten müssen lernen, ihre Schmerzen richtig zu verstehen
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Kapitel 3 · Förderung und Erhaltung von Gesundheit
und einzuordnen, deren Chronifizierung zu vermeiden und herauszufinden, unter welchen Bedingungen die Schmerzen erträglich werden oder sogar zeitweise verschwinden. Schmerztagebücher als differenzierte Dokumentation fördern die Möglichkeiten des Patienten, Unterschiede zwischen schmerzsteigerndem Stress und eigenaktiver Schmerzbewältigung, z.B. mit einer Entspannungsübung, zu erkennen. Besonders Migränepatienten können durch Erkennen von Auslösefaktoren und Teufelskreisen der Schmerzen dazu gebracht werden, die Interozeption (Körperwahrnehmung) zu verfeinern und sich rechtzeitig von schmerzauslösenden Situationen abzugrenzen. Schlafstörungen. Schlafbehindernde Gedanken und Gewohnheiten bei der Gestaltung von Tagesabläufen, insbesondere des Tagesausklangs, müssen erkannt und verändert werden. Man kann den Schlaf nicht erzwingen. Bei Patienten mit chronischer Schlafstörung (Insomnie, 7 Kap. 1.2.2) wirkt das Bett angsterzeugend und als Signal für eine zu erwartende schlechte Erfahrung (Wachliegen, Grübeln). Durch Stimuluskontrolle wird die verselbständigte gedankliche Verbindung zwischen der Schlafumgebung (Bett) und der Angst vor dem Nichtschlafenkönnen (Wachliegen) wieder gelöst: Der Patient soll nur zu Bett gehen, wenn er müde ist und glaubt, einschlafen zu können. Falls er länger als 20 min wach im Bett liegt, soll er das Bett wieder verlassen und so lange aufbleiben, bis wieder echte Müdigkeit auftritt. Entspannungsverfahren, Imaginationen und Autosuggestion zur Einleitung des Schlafens werden eingeübt (7 Kap. 2.4.3). Verhaltensänderung ist nicht allein durch Aufklärung und Belehrung zu erreichen. Ein Arzt, der
einen Patienten zu Verhaltensänderungen motivieren will, kommt nicht daran vorbei, zunächst auf die subjektiven Gesundheits- und Krankheitstheorien des betreffenden Patienten einzugehen (7 Kap. 1.1.2). Andernfalls muss der Arzt damit rechnen, dass seine Belehrungen vom Patienten nicht aufgenommen werden. Operantes Lernen. Wenn der Arzt dem Patienten helfen möchte, sein Verhalten zu ändern, ist eine Orientierung am Prinzip des operanten Lernens nützlich (7 Kap. 1.2.1): Menschen steuern ihr Verhalten im Wesentlichen aufgrund von Gewohnheiten und Erwartungen. Manchmal weiß der Arzt genauer als der Patient, welche Folgen ein bestimmtes Verhalten voraussichtlich haben wird. Viele Ärzte machen den Fehler, daraus Drohungen abzuleiten: »Wenn Sie weiterhin rauchen, brauchen Sie sich nicht zu wundern, wenn Sie einen Herzinfarkt bekommen!« Drohungen lösen aber erfahrungsgemäß eher Wahrnehmungsabwehr oder Widerstand (Reaktanz) aus (7 Kap. 3.1.3). Wenn der Arzt also eine wirksame Verhaltensänderung beim Patienten erreichen will, wird es wichtig, an die eigenen Motive des Patienten anzuknüpfen und diese im Sinne operanter Konditionierung zu verstärken, wie z.B. das Motiv, möglichst lange leben zu wollen, oder das Motiv, mit sich selbst zufrieden sein zu können. Im Einzelkontakt gelingt dies dann, wenn der Arzt dem Patienten nicht als Kritiker begegnet, sondern ihn zunächst auch mit seinen Defiziten so annimmt, dass dieser sich ernstgenommen und gewürdigt fühlt. Für einen Hausarzt, der seine Patienten jahrzehntelang begleitet, wird das Konzept des Coaching bedeutsam. Coaching soll helfen, Alternativen zu
Klinik
Schlafmittelrezept Der Patient möchte ein Rezept für ein starkes, Abhängigkeit erzeugendes Schlafmittel haben. Der Arzt erkennt die bestehende Abhängigkeit und lehnt es ab, die Rolle eines Drogenlieferanten zu übernehmen. Er sei aber offen, wenn der Patient versuchen wolle, von seiner Abhängigkeit loszukommen. Dem Bedürfnis des Patienten nach regelmäßiger Schlafmitteleinnahme steht das Konzept
des Arztes gegenüber: Leben ohne Drogen. Vordergründig betrachtet, wird der Arzt zum Gegner des Patientenmotivs. Auf einer anderen Bedeutungsebene könnten dennoch Patient und Arzt zu einer Übereinstimmung gelangen, sofern es dem Arzt gelingt, eine Motivation des Patienten zur Veränderung der Lebensführung zu erkennen und aufzugreifen.
3.2 · Maßnahmen
eingefahrenen Mustern zu finden und sich bei der Lebensgestaltung auf Themen und Ziele zu konzentrieren, also Sachfragen zur Lebensführung mit persönlichen Hintergründen zu verbinden. Auch wenn die meisten Patienten gegenüber ihrem Arzt erfahrungsgemäß eher Symptome aktueller Erkrankungen schildern, muss dies für den Arzt nicht bedeuten, immer nur auf aktuelle Gesundheitsprobleme zu reagieren. Viele Hausärzte empfinden es als sehr befriedigend, das Verhalten von Patienten und notwendige Verhaltensänderungen zum Anlass zu nehmen, von Zeit zu Zeit auch über grundsätzliche Fragen der Lebensführung zu sprechen. Dies setzt allerdings voraus, dass der Arzt in der Lage ist, die Lebensphilosophie des Patienten zu erkennen, die durchaus von der Lebensphilosophie des Arztes abweichen kann. Für viele Patienten ist es darüber hinaus sehr hilfreich, der Erkrankung einen Sinn abgewinnen zu können, z.B. als Anlass zur Auseinandersetzung mit der Tatsache, dass weder das Leben noch die Gesundheit selbstverständlich sind. Merke
Ein Arzt, der dem Patienten hilft, sich nachhaltig über grundlegende Aspekte der Lebensführung klar zu werden, profitiert auch seinerseits von solchen Gesprächen: Er entwickelt »Menschenkenntnis«, schützt sich vor Denkfehlern, Selbstüberschätzung und Arroganz.
Gruppentherapie In der Praxis haben sich gruppentherapeutische Konzepte bewährt. Patienten mit ähnlichen Problemen werden dazu eingeladen, unter Anleitung des
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Arztes typische Schwierigkeiten beim Umgang mit der betreffenden Krankheit miteinander zu besprechen und »Hilfe zur Selbsthilfe« zu erhalten. Hierbei können Prinzipien des Lernens am Modell und der sozialen Verstärkung im Sinne des operanten Lernens genutzt werden. Der Arzt wird beispielsweise Berichte über gut gelungene Verhaltensänderungen unter lerntheoretischen Aspekten verständlich machen, so dass auch die anderen Gruppenteilnehmer von den Erfahrungen erfolgreicher Patienten profitieren können. Im Unterschied zu Patientenseminaren, die in erster Linie das Wissen fördern sollen, wird bei der Gruppentherapie die Gruppendynamik als ein wesentliches Element der Verhaltensänderung genutzt. Dies bedeutet, dass die Gruppenmitglieder nicht nur auf den Leiter zentriert sind, sondern der unmittelbare Kontakt zwischen ihnen gefördert wird. Dies geschieht am besten dadurch, dass gemeinsame Ziele erarbeitet und auch die in der Gruppe ablaufenden Prozesse und Interaktionen thematisiert werden. Im Idealfall erlebt jeder einzelne Gruppenteilnehmer die Kraft einer Gemeinschaft, d.h. Mitglied einer ihn bergenden Gruppe zu sein. Wenn sich Auseinandersetzungen in der Gruppe ereignen, muss der Gruppenleiter dafür sorgen, dass keine Polaritäten zwischen »Gewinnern« oder »Verlierern« entstehen, sondern der Umgang mit Konflikten von allen Gruppenteilnehmern als Gewinn im Sinne einer allseitigen Sensibilisierung empfunden werden kann. Außenseiterpositionen werden also genauso gewürdigt wie konformes Verhalten. Ein »Wir-Gefühl« ist weitgehend unabhängig von der Beziehung der Einzelnen zum Gruppenleiter. Für den Gruppenleiter bedeutet dies, sich selbst nicht so wichtig zu nehmen, sondern behutsam ein angemessenes Kommunika-
Klinik
Dissens in der Gruppe Eine Patientengruppe diskutiert Anregungen des Arztes zur Früherkennung von Krankheiten unter dem Motto: »Je früher, desto besser«. Ein Gruppenmitglied äußert Bedenken: »Ich möchte mein Verhalten nicht ändern. Ich möchte nicht zu Früherkennungsuntersuchungen gehen, weil ich unbefangen leben möchte. Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß.« Ein erfahrener Gruppen-
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leiter wird eine solche Gegenposition auch dann nicht zurückweisen, wenn sie seinem Ziel, Patienten zur Früherkennung zu motivieren, widerspricht. Er wird vielmehr diese Gegenposition als Ausdruck der Vielfalt möglicher Lebensphilosophien würdigen und die Gruppe dazu auffordern, diese Antithese ebenso ernst zu nehmen wie die These.
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Kapitel 3 · Förderung und Erhaltung von Gesundheit
tionsverhalten der Gruppenteilnehmer untereinander zu unterstützen. Das »Wir-Gefühl« kann dazu beitragen, dass sich jeder Einzelne anerkannt und gestärkt fühlt. Eine verhaltenstherapeutische Orientierung des Gruppenleiters lässt sich so zusammenfassen: Der Leiter versucht, Auslösebedingungen und Konsequenzen problematischen Verhaltens, möglichst ohne zu werten, so aufzuzeigen, dass der Mensch dazu angeregt wird, die Reichweite der Folgen seines Verhaltens zu erkennen. Im Unterschied zur Gruppenpsychotherapie sind Trainingskurse eher an didaktischen als an psychotherapeutischen Konzepten, die »in die Tiefe« gehen, orientiert. So können beispielsweise Biofeedback-Methoden eingesetzt werden, um Zusammenhänge zwischen Stresserleben und Blutdruckveränderungen bewusst zu machen. Bei Trainingsgruppen zur Raucherentwöhnung geht es eher um Wissensvermittlung als um Gruppendynamik: Die Gruppenteilnehmer lernen, wie Nikotin wirkt, wie das Verlangen (craving) zustande kommt, worin der Unterschied zwischen körperlicher Abhängigkeit (Gewöhnung, steigender Verbrauch, Entzugserscheinungen) und psychischer Abhängigkeit besteht, welche Leistungsminderungen und -schädigungen im Organismus entstehen, welche Bedeutung ein zeitweiliger Nikotinersatz (Nikotinpflaster, Nikotinkaugummi) bei der Entwöhnung haben kann, wie in der Entwöhnungsphase die Motivation gefördert wird und wie mit Rückfällen umgegangen werden kann. Bei Trainingskursen wird immer angestrebt, das Gelernte in die reale Lebensführung zu übertragen (Alltagstransfer). In verhaltenstherapeutischen Selbstsicherheitstrainings lernen die Teilnehmer, angstbesetzte Situationen der Selbstbehauptung zu benennen und in eine nach Schwierigkeit geordnete Hierarchie zu bringen. Danach werden die Situationen nacheinander in der Realität geübt. Beispiel: Ich lasse mir in einem Bekleidungsgeschäft 10 Pullover aus den Regalen holen und probiere diese an, verabschiede mich aber dankend und kaufe nichts. Ähnlich funktionieren auch Stressbewältigungstrainings und Problemlösetrainings: Typische Auslöser von Ängsten bei Problemen und Stress werden identifiziert und es wird geübt, sie – ansteigend nach dem
individuell bestimmten Schwierigkeitsgrad – zu bewältigen und dabei Erfolgserlebnisse zu gewinnen (7 Kap. 1.2.1).
Rolle der Ärzteschaft Auch wenn solche Programme zur Verhaltensänderung meist eher von Psychologen als von Ärzten durchgeführt werden, besteht die Rolle derÄrzteschaft darin, Problembewusstsein, Wissen und Motivation zu fördern. Dabei ist es hilfreich, wenn der Arzt ein Wissen über günstige Lernbedingungen hat und in Kooperation mit anderen Gesundheitsberufen (Psychologen, Psychotherapeuten, Pädagogen, Sozialarbeitern) steht, die auf die Förderung von Einstellungs- und Verhaltensänderungen spezialisiert sind. Insbesondere in der stationären Rehabilitation sind Kooperationen zwischen Ärzten, Psychologen, Krankengymnasten und vielen weiteren Berufen gut etabliert (7 Kap. 3.1.4). i Vertiefen Behrendt B, Schaub A (Hrsg) (2005) Handbuch Psychoedukation und Selbstmanagement. DGVT Verlag, Tübingen (exzellente Darstellung empirisch fundierter Konzepte zur Verhaltensänderung beim Umgang mit Erkrankungen) Verres R (2005) Was uns gesund macht. Ganzheitliche Heilkunde statt seelenloser Medizin. Herder, Freiburg (ein Leitfaden für Patienten und Ärzte zur optimalen Zusammenarbeit)
3.2.3
Rehabilitation, Soziotherapie, Selbsthilfe und Pflege
Rehabilitation Das verhältnismäßig stark ausgebaute Rehabilitationswesen in Deutschland leitet sich aus dem im § 10 Sozialgesetzbuch (SGB) V festgelegten Auftrag ab: »Wer körperlich, geistig oder seelisch behindert ist oder wem eine solche Behinderung droht, hat unabhängig von der Ursache ein Recht auf Hilfe, die notwendig ist, um 1. die Behinderung abzuwenden, zu beseitigen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder ihre Folgen zu mildern, 2. ihm einen nach seinen Neigungen und Fähigkeiten entsprechenden Platz in der Gemeinschaft, insbesondere im Arbeitsleben, zu sichern.«
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3.2 · Maßnahmen
Wichtig ist dabei einerseits, dass von Behinderung bedrohte Menschen (insbesondere chronisch Kranke) den Behinderten gleichgestellt sind (und damit zur Gruppe der Reha-Anspruchsberechtigten zählen) und andererseits der finale Charakter, d.h., dass alle Leistungen auf die weitgehende Integration bzw. gesellschaftliche Partizipation/Teilhabe der Rehabilitanden gerichtet sein müssen.
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4 Versorgungskontinuität. Die Umsetzung dieses
weitgehenden Anspruchs im Rahmen des gegliederten Systems des deutschen sozialen Sicherungssystems, das unterschiedlichen Trägern unterschiedliche Aufgaben zuweist (7 Kap. 2.6.3), gestaltet sich nicht ganz problemlos. Rehabilitationsleistungen, die sich nicht immer von kurativen Leistungen trennen lassen und auch zahlreiche präventive Momente beinhalten (7 Kap. 3.1.4 und 3.1.5), erfordern eine hohe Kontinuität in der Versorgung und oft auch das integrierte Zusammenwirken verschiedener Leistungen (z.B. medizinische, soziale und berufsorientierte Leistungen), um dem umfassenden Anspruch der Teilhabeorientierung gerecht zu werden. Das Sozialgesetzbuch IX (»Rehabilitation und Teilhabe«) wurde im Jahr 2001 vor allem mit der Zielsetzung verabschiedet, im Bereich der Rehabilitation die strukturelle Vernetzung der Leistungsträger mit dem Ziel einer verbesserten Integration und Kontinuität der Leistungen zu erreichen. Neben den erwähnten Reha-Servicestellen (7 Kap. 3.1.6) gehören zu den Vorschriften enge Fristen für die Bearbeitung von Reha-Anträgen, erweiterte Vorleistungsregelungen, die Verpflichtung der Träger zur engen Zusammenarbeit und zur Abstimmung von Anforderungen an Leistungserbringer und Rehabilitationsabläufe sowie eine Ausweitung zahlreicher Rechte der Reha-Antragsteller. Rehabilitationseinrichtungen. Entsprechend den
sehr unterschiedlichen Ausgangslagen in der Rehabilitation haben sich unterschiedliche Formen von spezialisierten Rehabilitationseinrichtungen entwickelt: 4 Medizinische Rehabilitationsleistungen, insbesondere bei Rehabilitanden mit chronischen Krankheiten, werden in Rehabilitationskliniken erbracht, die zumeist auf bestimmte Diag-
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nosegruppen spezialisiert sind (z.B. für orthopädische Erkrankungen, Suchttherapie). Berufliche Rehabilitationsleistungen werden in Berufsförderungswerken (v.a. Umschulung, Förderkurse) und Berufsbildungswerken (v.a. Erstausbildung bei körperlich oder seelisch behinderten Jugendlichen) erbracht, traditionell v.a. stationär bei internatsmäßiger Unterbringung. Schulisch-pädagogische Leistungen werden in Frühfördereinrichtungen, Schulen für körperlich, geistig oder seelisch Behinderte, Sonderkindergärten oder speziellen Berufsschulen erbracht. Soziale Rehabilitationsleistungen werden in Wohnheimen, Übergangsheimen oder als Hilfen zur Wiedereingliederung/Übergangsgelder o.Ä. erbracht. Daneben gibt es noch zahlreiche ergänzende Leistungen zur Rehabilitation, wie Rehabilitationssport, Arbeitsassistenz, Hilfen zur Arbeitsplatz(um)gestaltung, technische Hilfen und Verständigungshilfen.
Übersichten über die verschiedenen Rehabilitationsangebote und -einrichtungen bieten die von der Bundesarbeitsgemeinschaft herausgegebenen Wegweiser (www.bar-frankfurt.de). Rehabilitationskonzepte. Die Rehabilitationskonzepte sehen zunächst eine sorgfältige Erhebung der Ausgangssituation vor, unter dem Blickwinkel von Funktions- und Integrationsproblemen und Rehabilitationszielen. Vor diesem Hintergrund wird gemeinsam mit dem Rehabilitanden ein umfassender Rehabilitationsplan erstellt, der im Rahmen der Einrichtung zu bearbeiten ist. Dabei steht – am Beispiel der medizinischen Rehabilitation – häufig die Patientenschulung als Hilfe zur angemessenen Umgang mit der Erkrankung und zur Bewältigung der Krankheitsfolgen sowie zur optimalen Partizipation/Teilhabe – im Mittelpunkt (7 Kap. 2.4.2). Je nach Grunderkrankung und individueller Rehabilitationsdiagnostik und -zielsetzung kommen weitere Behandlungsbausteine hinzu, wie Physiotherapie, berufsorientierte Maßnahmen, Ergotherapie oder Neuropsychologie (7 Kap. 3.1.4).
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Kapitel 3 · Förderung und Erhaltung von Gesundheit
Gemeindenahe Versorgung. Speziell im psychiatri-
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schen Bereich hat sich in den vergangenen 30 Jahren das Konzept der gemeindenahen Versorgung mit dem Ziel etabliert, Bezüge des Rehabilitanden zum gewohnten Lebensumfeld möglichst wenig zu unterbrechen und die Wiedereingliederung dadurch optimal vorzubereiten. Teilstationäre und komplementäre Dienste (sozialpsychiatrische Dienste mit Tagesstätten, Wohngruppen für psychisch Kranke u.a.) sowie regionale Bezüge von psychiatrischen Kliniken (»Sektorisierung« von Großkrankenhäusern oder kleine psychiatrische Abteilungen an regionalen Allgemeinkrankenhäusern) sollen es erlauben, unvermeidbare stationäre Aufenthalte sehr knapp zu bemessen, damit soziale Bindungen an die Lebenswelt des Patienten nicht unterbrochen werden. In gleicher Weise wird auch in anderen Rehabilitationssektoren das Prinzip der gemeindenahen Versorgung als immer vordringlicher angesehen, weil es eine wichtige Voraussetzung darstellt, um Integration und Partizipation zu erreichen. Um die Behandlungs- und Reha-Einrichtungen regional bedarfsgerecht aufeinander abzustimmen, werden immer häufiger regionale Gesundheitsund Pflegekonferenzen ausgerichtet. Sie werden gelegentlich vom regionalen öffentlichen Gesundheitsdienst organisiert, sind letztlich aber als freiwillige Möglichkeiten zur Kooperation und Koordination anzusehen. Beratungsangebote. Der Beratung chronisch Kran-
ker kommt eine immer stärkere Bedeutung zu. Eine wichtige Rolle spielen dabei die beteiligten Ärzte (7 Kap. 2.4.1), ggf. unterstützt durch weitere Institutionen, wie Reha-Servicestellen oder den öffentlichen Gesundheitsdienst, aber auch Beratungsangebote von Krankenkassen.
Soziotherapie Speziell für schwer chronisch psychisch Kranke wurde im Jahr 2001 die Soziotherapie als besonderes zusätzliches Versorgungsangebot geschaffen. Es handelt sich nach den Soziotherapierichtlinien des Gemeinsamen Bundesausschusses um psychiatrisch verordnete Leistungen, die in gemeindepsychiatrische Dienste eingebunden und durch speziell qualifizierte Sozialarbeiter oder Fachkrankenschwestern
erbracht werden. Sie stellen eine – zeitlich befristete – lebenspraktische Anleitung zur Eingliederung in die Gesellschaft und zur selbständigen Nutzung sozialer Angebote dar.
Selbsthilfegruppen Zwischen dem natürlichen sozialen Netz (z.B. der Familie) einerseits und professionellen Helfern andererseits sind Selbsthilfegruppen angesiedelt. Dies sind Zusammenschlüsse von Betroffenen, die sich freiwillig regelmäßig, meist einmal pro Woche, zum gemeinsamen Gespräch treffen (z.B. Anonyme Alkoholiker). Die Gesprächsgruppe wird von einem Betroffenen geleitet. Alle Gesprächsteilnehmer sind aber gleichberechtigt. Ziel der Selbsthilfegruppe ist vor allem die Bewältigung der Krankheit und ihrer psychischen und sozialen Folgen. Dieses Ziel wird dadurch erreicht, dass die Mitglieder ihren Informationsstand erhöhen und sich gegenseitig emotional unterstützen. Viele informelle Selbsthilfegruppen und erst recht die stärker formalisierten Selbsthilfeorganisationen übernehmen Aufgaben der Öffentlichkeitsarbeit und Interessenvertretung gegenüber professionellen Institutionen des Gesundheitssystems und der Politik. In der jüngsten Zeit werden zunehmend Vertreter der Interessen der Betroffenen in Entscheidungsprozesse des Gesundheitswesens einbezogen. Diese Patientenvertreter rekrutieren sich aus den Selbsthilfeorganisationen. Auch wenn Selbsthilfegruppen meist ohne professionelle Experten arbeiten, ziehen sie doch bei Bedarf auch Ärzte, Psychologen oder Sozialarbeiter als Berater hinzu. Selbsthilfegruppen können als Partner der Ärzte verstanden werden. Sie fördern den Kompetenzerwerb ihrer Mitglieder und machen den Betroffenen zu einem Experten in eigener Sache, der in der Arzt-Patient-Beziehung ein gleichberechtigter Partner sein kann und das Gesundheitssystem gezielter und sachgerechter in Anspruch nimmt. Vor diesem Hintergrund ist davon auszugehen, dass durch Selbsthilfegruppen eine Kostenersparnis für das Gesundheitssystem erreicht wird.
Pflege Pflegetätigkeiten. Als berufliche Tätigkeit lässt sich
Pflege allgemein in drei Berufsfelder untergliedern:
3.2 · Maßnahmen
Kinderkrankenpflege, Krankenpflege und Altenpflege. Kinderkrankenpflege umfasst die Versorgung von gesunden Neugeborenen bis hin zu schwerkranken Kindern und Jugendlichen. Die Tätigkeit berücksichtigt in besonderem Maße die psychische, körperliche und soziale Entwicklung von der Geburt bis ins Jugendalter. Krankenpflege bezieht sich auf die Begleitung bzw. Pflege von (zumeist) erwachsenen Patienten. Dazu zählt zum einen die Unterstützung der medizinischen Behandlung im Krankheitsfall. Zum anderen fördert sie die Bewältigung von wichtigen Alltagsaktivitäten, zu denen die Betroffenen vorübergehend oder längerfristig nicht in der Lage sind. Altenpflege richtet sich auf die Versorgung pflegebedürftiger älterer Menschen, die zumeist an mehreren chronischen Krankheiten gleichzeitig leiden (Multimorbidität). Neben verschiedenen körperlichen Erkrankungen (z.B. Herzinsuffizienz, Arthrose, Hypertonie) kommt den psychischen Erkrankungen, insbesondere den Demenzen und Depressionen, eine besondere Bedeutung in der pflegerischen Versorgung zu. Grund- und Behandlungspflege. Pflegeleistungen
lassen sich unabhängig von den genannten Berufsfeldern in zwei Gruppen einteilen. Grundpflege umfasst alle Versorgungs- und Unterstützungsleistungen, die sich auf die Bewältigung von alltäglichen Aktivitäten (s.u.) der betroffenen Personen beziehen. Behandlungspflege beinhaltet alle pflegerischen Leistungen, die sich auf die konkrete medizinische Versorgung beziehen (Medikamenteneinnahme, Wundversorgung etc.). Soziale Pflegeversicherung. Aufgrund der Veränderungen in der Bevölkerungsstruktur in Deutschland mit einem steigenden Anteil älterer Menschen an der Gesamtbevölkerung ist mit einem zunehmenden Anteil pflegebedürftiger älterer Menschen zu rechnen. Im Jahre 1994 wurde deshalb die gesetzliche Pflegeversicherung als fünfte Säule des sozialen Sicherungssystems verabschiedet (SGB XI). Drei Zielsetzungen wurden besonders hervorgehoben: 4 Förderung der häuslichen Pflege und der Pflegebereitschaft der Angehörigen,
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4 Entlastung der bis dato insbesondere für die stationäre Versorgung zuständigen Sozialhilfeträger, 4 Etablierung einer bundeseinheitlichen Pflegeinfrastruktur, um eine ambulante und stationäre Versorgung auf hohem Qualitätsniveau zu gewährleisten. Pflegebedarf. Ob ein Anspruch auf Pflegeleistungen besteht, prüft der Medizinische Dienst der Krankenkassen (MDK) bzw. der privaten Pflegekassen (Medicproof) durch eine Begutachtung mit einer anschließenden Einstufung nach dem Grad der Pflegebedürftigkeit. Nach SGB XI ist Pflegebedürftigkeit gegeben, wenn eine Person wegen einer körperlichen, geistigen oder seelischen Krankheit oder Behinderung für Verrichtungen und Alltagsaktivitäten auf Dauer, voraussichtlich aber für mindestens sechs Monate, in erheblichem Maße Hilfe benötigt. Pflegestufen. Für die Festlegung des Umfangs von
pflegerischen Leistungen im Einzelfall wurden unterschiedliche Pflegestufen definiert. Für Pflegeeinrichtungen stellen diese Einstufungen wichtige Grundlagen für die Personalbedarfsermittlung dar. 4 Pflegestufe I (erheblich Pflegebedürftige) gilt für Personen, die bei der Körperpflege, der Ernährung oder der Mobilität für wenigstens zwei Verrichtungen aus einem oder mehreren Bereichen mindestens einmal täglich der Hilfe bedürfen und zusätzlich mehrfach in der Woche Hilfen bei der hauswirtschaftlichen Versorgung benötigen. 4 Pflegestufe II (Schwerpflegebedürftige) gilt für Personen, die bei der Körperpflege, der Ernährung oder der Mobilität mindestens dreimal täglich zu verschiedenen Tageszeiten der Hilfe bedürfen und zusätzlich mehrfach in der Woche Hilfen bei der hauswirtschaftlichen Versorgung benötigen. 4 Pflegestufe III (Schwerstpflegebedürftige) gilt für Personen, die bei der Körperpflege, der Ernährung oder der Mobilität täglich rund um die Uhr, auch nachts, der Hilfe bedürfen und zusätzlich mehrfach in der Woche Hilfen bei der hauswirtschaftlichen Versorgung benötigen.
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Kapitel 3 · Förderung und Erhaltung von Gesundheit
Bei Vorliegen von Pflegebedürftigkeit hat der Betroffene die Wahl zwischen einer Sachleistung, womit eine häusliche Pflegehilfe durch eine geeignete Pflegekraft gemeint ist, dem Pflegegeld, womit der Betroffene selbst für die Sicherstellung seines Pflegeund Versorgungsbedarfs aufkommen muss, oder einer Kombination aus beiden.
gedienste versorgt. Fast alle ambulanten Pflegedienste bieten als Sozialstationen neben Leistungen nach SGB XI auch häusliche Krankenpflege nach SGB V sowie ggf. weitere Hilfeleistungen, wie z.B. Familienhilfe zur Haushaltsweiterführung im Rahmen des SGB XII, an. Stationäre Pflege. In vollstationärer Dauerpflege
Pflegeziel. Die Förderung der Selbstständigkeit und
Unabhängigkeit ist das übergeordnete Ziel der Pflege eines kranken bzw. pflegebedürftigen Menschen, wobei dieser angeleitet und unterstützt werden soll, seine eigenen Ressourcen zu aktivieren. Aktivitäten des täglichen Lebens. Von zentraler Bedeutung für die Einschätzung der Einschränkungen im Alltag sind verschiedene Aktivitäten des täglichen Lebens (ATL, engl. activities of daily living, ADL), die sich auf vier Lebensbereiche beziehen: 4 Körperpflege: z.B. Waschen, Duschen, Baden, Zahnpflege, 4 Ernährung: z.B. mundgerechtes Zubereiten oder Aufnahme der Nahrung, 4 Mobilität: z.B. selbstständiges Aufstehen und Zu-Bett-Gehen, An- und Auskleiden, 4 hauswirtschaftliche Versorgung: z.B. Einkaufen, Kochen, Reinigen der Wohnung, Spülen. Formen pflegerischer Versorgung. Im Bereich der Krankenpflege steht die stationäre Pflege im Rahmen von Krankenhausbehandlungen nach SGB V im Vordergrund. Weiterhin gibt es die Möglichkeit zur häuslichen Pflege, wenn eine Krankenhausbehandlung nicht möglich ist oder eine ärztliche Behandlung durch zeitlich begrenzte häusliche Pflege sinnvoll ergänzt werden kann, um einen stationären Aufenthalt zu vermeiden. Pflegende Angehörige. Für die aktuell ca. 2 Mio.
Pflegebedürftigen nach SGB XI stellt die Versorgung durch pflegende Angehörige die überwiegende Versorgungsform dar. Von den 1,4 Mio. Pflegebedürftigen, die in privaten Haushalten versorgt werden, beziehen derzeit fast 990.000 Betroffene Pflegegeld. Ambulante Pflegedienste. Aktuell werden 450.000 Pflegebedürftige durch etwa 10.600 ambulante Pfle-
befinden sich derzeit ca. 620.000 Menschen in insgesamt 9700 Pflegeheimen. In stationären Pflegeeinrichtungen werden im Vergleich zur ambulanten bzw. familiären Pflege eher Betroffene mit höheren Pflegestufen versorgt. Die Betreuung Schwerstpflegebedürftiger findet überwiegend in Pflegeheimen statt. Der Einzug in ein Heim stellt die langfristige Betreuung und Versorgung der Betroffenen sicher, so dass diese in der Regel bis zu ihrem Lebensende in der Einrichtung wohnen. Als Möglichkeit der Begleitung todkranker Menschen gibt es sog. Hospize, deren Aufgabe in der Pflege und Unterstützung sterbender Menschen bis zu deren Tod besteht (7 Kap. 2.5.8). Pflegequalität. Ein zentrales Ziel aller ambulanten und stationären Pflegeeinrichtungen ist die Entwicklung und Sicherung einer hohen Pflegequalität. Aus-, Fort- und Weiterbildungen von Pflege(fach)kräften, Entwicklung und Einführung moderner Pflege- und Betreuungskonzepte sowie optimale alters- und behindertengerechte Wohnbedingungen sind Kernelemente der Pflegequalität. Wichtig für die angemessene Versorgung Betroffener ist zudem die Vernetzung aller im Einzelfall beteiligten Gesundheits- und Versorgungseinrichtungen im Rahmen von Pflegeüberleitungen (vom Krankenhaus organisierte pflegerische Nachsorge) und DiseaseManagement-Programmen. Schnittstellenprobleme im Übergang von einer Institution zur nächsten (z.B. vom Krankenhaus in ein Pflegeheim) werden durch eine intensivere interdisziplinäre Zusammenarbeit aller Beteiligten (Patienten, Ärzte, Angehörige, Soziale Dienste, Pflegekräfte etc.) vermieden. Belastungsaspekte. Pflegetätigkeiten können für
professionelle Pflegekräfte ebenso wie für pflegende Angehörige zu psychischen und körperlichen Belastungen führen. Ursachen im professionellen Pflegebereich werden insbesondere im hohen Zeitdruck
305
3.2 · Maßnahmen
sowie einer als unzureichend erlebten Personalausstattung gesehen. Pflegende Angehörige, meist Frauen, sind vor allem durch die ständige Hilfeleistung sowie eine mögliche Doppelbelastung durch die Versorgung der eigenen Familie und Kinder beeinträchtigt. Eine mögliche Folge dauerhafter Überlastung bei Pflegepersonen ist das sog. BurnoutSyndrom (7 Kap. 2.1.2).
3
i Vertiefen Trojan A (2003) Der Patient im Versorgungsgeschehen: Laienpotential und Gesundheitsselbsthilfe. In: Schwartz FW, Badura B, Busse R, Leidl R, Raspe H, Siegrist J, Walter U (Hrsg.) Das Public Health-Buch. 2. Aufl. Urban & Fischer, München, S 321–333) (gute Einführung in Wirkungsweise und Effekte von Selbsthilfegruppen)
A Anhang A1
Quellenverzeichnis
– 308
A2
Literaturverzeichnis – 309
A3
Sachverzeichnis –
316
308
Anhang
A1 Quellenverzeichnis Kapitel 1
Kapitel 3
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316
Anhang
A3 Sachverzeichnis ä
verweist auf wichtige Erkrankungen und Begriffe aus der Klinik im Text.
A ABC-Schema 207 Abhängigkeit 115 ä Abhängigkeits-AutonomieKonflikt 112 Ablösungskonflikt 137 Abstieg, sozialer (7 auch Drift-Hypothese) 41 Abstinenzregel 203 Abwärtsvergleich 270 Abweichung – primäre 283 – sekundäre 283 Abwehrmechanismus 33 Abweichungs-IQ 95 Acetylcholin 83 ACTH, 7 Hormon, adrenocorticotropes Adaptionssyndrom, allgemeines 19 Ad-hoc-Kontakt 241 Adipositas, psychogene 112 ä α-Adjustierung 48 Adoleszenz 32, 127 – Entwicklungsaufgaben 136 – gesundheitsriskantes Verhalten 138 Adoptionsstudie 16 ADHS, 7 AufmerksamkeitsdefizitHyperaktivitäts-Störung Affektkontrolle 150 Aggravation 164 Aggregatdaten 66 Aggression 106 – Einflussfaktoren 107 – genetischer Einfluss 107 – körperliche Misshandlung 107 – von Patienten 108 Aggressionskette 134
Agnosie 92 Agoraphobie 15 Agraphie 92 Akkommodation 131 Akkulturation 149 Akteur-Beobachter-Unterschied 115 Aktivation 22 Aktivität, körperliche 198 Akupunktur 251 Alexie 92 Algesimetrie, subjektive 27 Alkohol 116 ä Alkoholabhängigkeit 84 Alleinerziehende 134 Alles-oder-nichts-Denken 207 Allgemeinwohl 193 Allostase 19 Alltagstransfer 300 Altenpflege 303 Altenquotient 144 Alter (7 auch Senium) 140 – Entwurzelung 143 – soziale Situation 143 – Sterberisiko 143 Altern – demographisches 143 – Kompetenzmodell 141 – Lebensqualität 142 – normales 142 – pathologisches 142 – selektive Optimierung durch Kompensation 142 Alternativhypothese 46, 49 Altersabhängigkeitsquotient 144 Altersarmut 143 Altersaufbau 147 Altruismus 160 Alzheimer-Krankheit 94 Ambiguitätstoleranz 229 Ambivalenzkonflikt 114
Amnesie 93 ä – anterograde 93 – retrograde 93 Amygdala 80, 102, 104 Amyloidplaque 94 Analogskala, visuelle 28 Anamnese 6, 165, 188 – arztzentrierte 183 – Formen 180 – patientenzentrierte 183 – Sprachbarrieren 183 – Sprachcodes 183 Anamnesegespräch – Fragestile 182 – Gesprächseröffnung 181 Änderungssensitivität 56 Anforderungs-Kontroll-Modell 139 Angst 28, 105, 224 – soziale 204 ä Angstanfall 106 ä Angstkorrelate, körperliche 105 Angststörung 105 ä, 222, 248 Anhedonie 4 Ankerheuristik 194 Anlage-Umwelt-Kontroverse 85 Anomie 44 Anorexia nervosa 112 ä, 136 Anorgasmie 237 Anpassungsheuristik 194 Antistigma-Programm 9 Antisuizidvertrag 217 Antonovsky, Aaron 38 Antwortmodell 52 Aphasie 92 ä – globale 91 Appell 166 Appetent-Aversions-Konflikt 114 Appetenz-Appetenz-Konflikt 114 Apraxie 92 Aquieszenz 57, 58 Äquivalenz, strukturelle 60
317
A3 · Sachverzeichnis
Äquivalenzprinzip 254 Arbeitsgedächtnis 18 Arbeitslosigkeit, strukturelle 151 Armut, extreme 42 ART, 7 Reproduktion, assistierte Arztberuf – belastende Situationen 162 – Entprofessionalisierung 156 – ethische Normen 160 – Interrollenkonflikt 162 – Intrarollenkonflikt 161 – Motivation 160 – psychische Belastungen 161 – Rollenkonflikte 161 – Spezialisierung 157 Arztbesuch 177 Arztkontakt 260 Arzt-Patient-Beziehung – Informationsvermittlung 174 – Konsumentenmodell 167 – partnerschaftliches Modell 167 – paternalistisches Modell 167 Arzt-Patienten-Kommunikation 164 – Meta-Kommunikation 170 – Misstrauen 170 – Sprachstile 171 – Vertrauen 170 Arztperspektive 178 Arztrolle (7 auch ärztliches Verhalten) 159 Assimilation 131, 149 Assoziieren, freies 202 Atementspannung 211 Atemrhythmus 211 Attributionsfehler, fundamentaler 115 Attributionstheorie 114 Aufklärung 180 – ärztliche 220 Aufklärungsgespräch 174, 175 Aufklärungskampagne 292 Aufmerksamkeit 18 – gleichschwebende 202 – selektive 89 Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitäts-Störung (ADHS) ä 85, 90
Augenscheinvalidität 57 Ausfallrate 61 Auswertungsverfahren, qualitatives 73 Autonomie 137 Autorität – funktionale 192 – positionale 192 Aversions-Aversions-Konflikt 114
B Balintgruppe 162, 170, 244 Bandura, Albert 88 Barthel-Index 52 Basalganglien 80 Basisemotion 104 Beck-Depressions-Inventar (BDI) 50 Bedeutsamkeit, klinische 76 Bedürfnishierarchie 113 Befindensfragebogen 54 Befindlichkeitsstörung 251 Begleitmedikation 251 Behandlungspflege 303 Behandlungsregime 173 Behandlungsverfahren, medikamentöses 198 Behaviorismus 10 Behinderung 278 – chronische Krankheiten 278 Belastungsreaktion, akute 217 Belastungsstörung, posttraumatische 21 ä, 109, 214 ä, 217 Belohnungsaufschub 114 Beobachtung – systematische 68 – teilnehmende 68 Beobachtungsstudie 62 Beratung – ärztliche 196 – Behandlungsoptionen 196 – Diagnose 196 – humangenetische 227 – interdisziplinäre 228 – Pathogenese 196
A–B
– psychologische 220 Beratungseinrichtung, psychosoziale 287 Beratungsführer 288 Beratungsstelle – psychosoziale 288 – schulpsychologische 288 Bereitschaftspotential 27 Berufsbildungswerk 301 Berufsethik, ärztliche 156 Berufsförderungswerk 301 Berufstätigkeit der Mutter 135 Beschwerdesymptomatik – emotionale Einflüsse 247 – Selbstbehandlung 247 Bestrafung 13 Beurteilerübereinstimmung durch Zufall 190 Beurteilungsskala 52 Beuteaggression 106, 107 Beveridge-Modell 255 Bewältigungsstil – aktiver 126 – gelernte Hilflosigkeit 126 – passiv-resignativer 126 Bewegung 266 Bewusstseinseintrübung 214 Bewusstseinsgrad 23 Beziehung, therapeutische 177, 203 Beziehungserfahrung 204 Beziehungskonflikt 221 Bezugsperson 131 Big-Five-Persönlichkeitsmodell 119, 122, 123 Bildungsniveau 152 Bindung, soziale 111, 130 Bindungsstil 131, 232 Biofeedback 29, 212, 300 – kortikales 88 Bismarck-Modell 255 black box 10 Blockrandomisierung 60 Blutgerinnung 22 Booster-Intervention 280 Borderline-Persönlichkeitsstörung 35 BRCA1/2 226
318
Anhang
Broca-Aphasie 91 Brustkrebs 283 – heriditärer 226 ä Brustkrebs-Screening 292 – Beurteilung 293 – Lebensqualität 293 Budgetierung 253 Bulimia nervosa, Bulimie 112 ä, 136 ä, 205 ä Burnout-Syndrom 161 ä, 216, 240, 241, 306 Bypass-Operation 252
C Cannabis 118 ä Cannon, Walter 19 Cannon-Bard-Theorie 101 Chaining 87 checking behavior 247 Chemotherapie, antizipatorische Übelkeit 12 Chorea Huntington 228 Chronobiologie 24 CISM, 7 Critical Incident Stress Management Cluster-Randomisierung 60 Coaching 298 Code, neuronaler 79 Cohen‹s d 72 Cohen‹s Kappa 191 Compliance 10, 22, 165, 168, 172, 285 – Einflussfaktoren 173 – Nutzwert 172 Confounder 51, 71 Coping 163, 280, 284 – Abwehr 281 – Adaptivität 282 – aktives 223, 281 – Ebenen 163, 281 Cortex – motorischer 81 – präfrontaler 80, 102 – primär-sensorischer 80 – assoziativer 81
Corticotropin-Releasing-Hormon (CRH) 20 Craving 117 CRH, 7 Corticotropin-ReleasingHormon Critical Incident Stress Management (CISM) 218 Cronbachs α 55 Cut-off-Wert 52
D Darmkrebs 296 Datenanalyse, explorative 49 Datenauswertung – multivariate Analyse 71 – Standardabweichung 70 – Streuung 70 – univariate Analyse 69 – zentrale Tendenz 69 Datengewinnung 66, 180 Datenverfälschung 258 Debriefing 218 Defensivreaktion 23 Demenz 93 Denken 94, 131 – intuitives 95 – positives 224 – zeitlicher Kontext 95 – Zugänglichkeit 95 Denktradition, humanistische 208 Depression 4 ä, 13 ä, 28, 44, 85, 99, 135, 189 ä, 219, 222, 223, 242, 248 ä, 252 – kognitive Verhaltenstherapie 14 – Nürnberger Bündnis 291 Desensibilisierung, systematische 207 Devianz, 7 auch Abweichung 8 – sekundäre 9 Diabetes mellitus 198, 297 Diagnose 2, 190 – intuitive 187 Diagnosis-Related Group (DRG) 158, 261
Diagnostik – operationale, kriterienorientierte 6 – prädiktive 226 Dialog, sokratischer 207 Diathese-Stress-Modell 84 Dienst – psychoonkologischer 225 – psychosozialer 215 Differentialdiagnose 180 Disease-Management-Programme (DMP) 158, 256 Dishabituation 85 Diskriminationslernen 208 Diskriminierung 9 Dissens 192 Dissimulation 164 Dissonanz, kognitive 275 Distress-Vokalisation 98, 111 DMP, 7 Disease-ManagementProgramme Dokumentenanalyse 74 Dopamin 80, 83, 88, 90, 116 Doppelblindstudie 61 Double bind 166 Drei-Instanzen-Modell 32 DRG, 7 Diagnosis-Related Group Drift-Hypothese 41 Drogenkonsum 138 DSM-IV 6 ä, 188 Dunedin-Studie 120 Durchgangssyndrom 214 Dysfunktion – endotheliale 22 – erektile 237
E Echtheit 209 Edukation 180 EEG, 7 Elektroenzephalogramm Effektivität 77 Effektstärke 72 Effizienz 77 Eichung 57 Ein-Gruppen-Prä-Post-Design 63
319
A3 · Sachverzeichnis
Einschätzungsskala 53 Einwilligung, informierte 165 Einzelfallstudie 65 Einzelleistungshonorierung 159, 253 Elektroenzephalogramm (EEG) 26, 79 Ellis, Albert 207 Elternverhalten 134 Emotion 97, 130 – Alltagsvorstellung 101 – Ausdruckskomponente 100 – Gefühlskomponente 100 – integratives Modell 101 – Kognition 104 – kognitive Komponente 100 – motivationale Komponente 100 – negative 40 – neurobiologische Komponente 101 – primäre 104 – Theorien 101 Emotionsverarbeitung 103 Empathie 28, 209 Empfängnisverhütung 137 Empowerment 166, 168, 200, 278, 297 Engramm 82 Entscheidung – dichotome 2 – informierte 167 Entscheidungsbalance 277 Entscheidungsfehler 195 Entscheidungsfindung – adaptive 190 – gemeinsame 166 – kollegiale 193 Entscheidungskonflikt 193 Entscheidungsprozess, diagnostischer – Befundabfassung 186 – Begutachtung 186 – Indikationsstellung 186 Entspannungstechnik 211 Entwicklung – des Kindes 135 – – familiäre Instabilität 135 – in der frühen Kindheit 130
– kognitive nach Piaget 131 – motorische 132 – psychosexuelle 231 – – anal-muskuläre Phase 31 – – Latenzphase 31 – – oral-sensorische Phase 30 – – phallisch-ödipale Phase 31 – Sprache 132 Entwicklungsanamnese 181 Entwicklungsaufgabe 136 Entwicklungsprozess – neurobiopsychologische Grundlagen 128 – vorgeburtliche Entwicklung 128 Epidemiologie – analytische 272 – interventionelle 272 Epigenetik 82 Erektionsstörung 236 Erfolgsmessung 192 Ergebnisbewertung 74 Ergebnisdiagnostik 187 Ergebnisforschung 191 Ergebnisqualität 258 Erinnerung – falsche 93 – selektive 64 Ernährung 266 Ernährungsberatung 198 Ernährungsproblem 150 Erregungsablauf, sexueller 233 Erwachsenenalter – frühes 138 – mittleres 139 – Rollenkonflikt 139 – Statuserwerb 138 Erwartungseffekt, 7 auch Plazeboeffekt 59 Erwartungs-mal-Wert-Theorie 113, 114 Erwartungswelle 27 Erwerbsquote 151 Erwerbssektor 151 Erwünschtheit, soziale 57, 58 Erziehungsstil 133 – laissez-faire 127 – rigide-autoritärer 127
Ethik – deontologische 78 – libertäre 78 Ethologie 112 Euthanasie 245 Evaluation 65, 76 Evaluationsforschung 191 Evaluationsstudie 58 Evidenz, experimentelle 272 Exhaustion 50 Exhibitionismus 238 Experiment 50 Exploration 6, 110, 165, 180 Exposition 206, 208 Expressed emotion 133 Extinktion 11 Extraversion 99, 123
F Facharzt 160 Faktorenanalyse 121 Fall-Kontroll-Studie 63 Fallzahlberechnung 49 Falsifikationsprinzip 50 Familiengespräch 171 Familienpolitik 148 Familienzyklus 149 Fehler – α-Fehlerrisiko 47 – β-Fehlerrisiko 48 – systematische 62 – zufällige 62 Fehlerquelle 63 Fehlhandlung 218 Fehlurteil 255 Feindseligkeit 125 Feldabhängigkeit 125 Feldstudie 51 Fertilität 145 Fetischismus 238 Filtertest 292 Fixierung, iatrogene 8, 179 Fluktuation 216 Fokusgruppe 74 Formatio reticularis 24
B–F
320
Anhang
Forschungshypothese 45, 46 Forschungsstrategie 50 Frage – geschlossene 182 – offene 182 – zirkuläre 210 Fragebogen 54 – Antworttendenzen 57 – Fremdbeurteilung 67 – Gütekriterien 55 – Reliabilität 55 – Selbstbeurteilung 67 Fraktion, attributable 275 Freiheit, wirtschaftliche 43 Freizeit 42 Fremdenangst 128 Fremde-Situationstest (FST) 131 Frontallappen 81 Fruchtbarkeit 230 Frühpensionierung 139 Frustrations-AggressionsHypothese 106 FST, 7 Fremde-Situationstest Führungsstil – direktiver 192 – partizipativer 192 Functional-restorationProgramme 201 Funktionsstörung, sexuelle 237 ä – Praktikabhängigkeit 237 – psychosoziale Einflussfaktoren 237 Furcht 105 Furchtsystem 98
G Gamma-Amino-Buttersäure (GABA) 83, 116 Gate-Control-Modell 28 Gauß-Glockenkurve 69 Geburtenrate 148 Geburtenziffer 145 Gedächtnis – Abruf 92 – deklaratives 93, 103
– Enkodierung 92 – Erwerb 92 – implizites 93 – Konsolidierung 92 – prozedurales 93 – Re-Enkodierung 92 – Retention 92 – sensorisches 92 Gedächtnisbildung 21 Gedächtnisstörung 93 Gedanke, katastrophisierender 30 Gegenübertragung 170, 185, 203, 204 Gehirn – bildgebende Verfahren 26 – Erkrankungen 213 – Verletzungen 213 Gehorsam, blinder 195 Generalisierbarkeit 76 Generationenvertrag 144 Genesemodell 187 – verhaltensanalytisches 14 Gentest 226 Gen-Umwelt-Interaktion 16 Gesamteffektstärke 75 Geschlecht, neuronales 232 Geschlechterproportion 145 Geschlechtsidentität 231 – Störung 239 Geschlechtspräferenz 232 Geschlechtsreifung 136, 137 Geschlechtsrolle 135, 137 – Stereotyp 107, 179, 232 Gesichtsausdruck 104 Gesinnungsethik 78 Gesprächsführung – aktives Zuhören 169 – ärztliche 168, 251 – patientenzentrierte 169 – Transparenz 169 Gesprächsverhalten 169 Gestationszeit 128 Gesundheit, subjektive 4 Gesundheitsberatung 197 Gesundheitsberuf 157 Gesundheitsförderung 289 – Adressaten 290 – betriebliche 290
– in der Kommune 290 – soziales Marketing 292 – strukturelle 291 – Träger 290 Gesundheitsökonomie 77, 265 Gesundheitssystem – Fehlversorgung 252, 253 – Finanzierungsmodelle 255 – Struktur 257 – Überversorgung 252 – Unterversorgung 252 – Versorgungsangebot 253 Gesundheitstraining 199 Gesundheitsverhalten 10, 22, 266 – Empfehlungen 197 – Furchtappelle 267 – Modell des geplanten Verhaltens 267 – subjektive Wirksamkeit 267 Gesundheitsversorgung, Finanzierungsmodelle 255 Gesundheitswesen 246 – Kostendruck 261 – organisatorischer Wandel 261 – Patientenselbstbeteiligung 261 – Qualität 257 – Qualitätswettbewerb 261 Gewaltbereitschaft bei Kindern und Jugendlichen 134 Gewichtsreduktion 198 Globalisierung 42, 43 Glutamat 116 Gratifikationskrisenmodell 140 Grundpflege 303 Gruppendiskussion 74 Gruppendynamik 299 Gruppentherapie, Dissens in der Gruppe 299
H Habituation 23, 85, 207 Halluzinogene 117 ä Halo-Effekt 176, 183 Handeln, zweckrationales 150
321
A3 · Sachverzeichnis
Handlungsergebniserwartung 268 Handlungsplanung 277 Handlungstheorie 113 Hardiness 38 Haupteffektmodell 40 Hausarzt (7 auch Primärarzt) 157, 159, 160, 256, 261 Hawthorne-Effekt 61 Health-Belief-Modell 267 HEE, 7 high expressed emotion Heilpraktiker 251 Helfersyndrom 161 Hemineglekt 90 ä Hemisphärendominanz 81 Hemmung – emotionale 109 – proaktive 93 – retroaktive 93 Herzfrequenzvariabilität 22 Herzinfarkt 8, 248 ä Herzkrankheit, koronare – Depression 285 – Überlebenszeit 285 Herz-Kreislauf-Risiko 21 ä Herztransplantation 219 Heuristik 194 high expressed emotion (HEE) 133 Hilfesuchen, verzögertes 248 Hilflosigkeit, gelernte 100 Hippocampus 80, 103 Hirnforschung – funktionale bildgebende Verfahren 79 – Untersuchungsmethoden 79 Hirnpotential, langsames 26 HIV-Infektion 296 Hochrisikofamilie 228 Höhenangst 206 ä Homöostase 19, 210 – Homöostase-Allostase-Modell 19 Homosexualität 235 Hormon, adrenocorticotropes (ACTH) 20 Hospitalismus 129 Hospiz 240, 304
Humangenetik, psychosoziale Aspekte 226 Hunger 110 Hyperaktivität 90 Hypersomnie 26 Hypertonie, arterielle 252 Hypnose 212 Hypnotherapie 212 Hypochondrie 4 ä Hypothalamus 80 Hypothalamus-HypophysenNebennierenrinden-Achse 20 Hypothalamus-SympathikusNebennierenmark-System 20 Hypothese 45, 87 – deterministische 46 – diagnostische 180 – probabilistische 46 – statistische Prüfung 46 – von Fourastié 151
I ICD-10 6 ä, 188 Ich-Ideal 33 ICSI, 7 Spermieninjektion, intrazytoplasmatische ICU, 7 Intensive-Care-UnitSyndrom Identifikation 35 Identität – personale 137 – soziale 137 Identitätsfindung 137 Imitationslernen 88 Immunkonditionierung 12 Immunsuppression, medikamentöse 220 Immunsystem 22 Implosion 109 – emotionale 109 Indexbildung 52 Indikationsdiagnostik 186 Indikator 51 – prognostischer 65 Individualdaten 66
F–I
Individualisierung 150 Industrialisierung 42 Infertilität, idiopathische 229 Informationsbedürfnis 163 Informationsgesellschaft 151 Informationsverarbeitung 18 Informationsvermittlung 174 Inhaltsanalyse 73 – Kategoriensystem 74 Inhaltsvalidität 57 Inkongruenz 208 Insemination, intrauterine (IUI) 229 Insomnie 26 ä Instabilität, soziale 44 Instinkt 112 Integration 149 – soziale 39, 287 – – Interventionsstudien 40 Intelligenz 45, 94 – 2-Faktoren-Modell 96 – Bildungsniveau 96 – fluide 97 – Genetik 96 – kristalline 97 – Primärfaktorenmodell 96 – Stabilität 96 Intelligenzquotient (IQ) 95 Intelligenztest 96 Intensive-Care-Unit-Syndrom (ICU) 214 Intensivstation – Angehörige 215 – Betreuungserfordernisse 215 – Informationsdefizit 214 – Intimsphäre 214 – Isolation 214 – Kinderstation 215 – Kommunikationsprobleme 215 Intentions-Verhaltens-Lücke 276 Intention-to-treat 61 Interaktionseffekt 51, 72 Interferenz 93, 125 Intergenerationenmobilität 152 Interozeption 4 Interrater-Reliabilität 55 Interrollenkonflikt 37 Intervallskala 53
322
Anhang
Intervention – paradoxe 210 – psychoedukative 199 – psychosoziale 231 Interventionsstudie 285 Interview – direktiver Stil 68 – geschlossene Fragen 68 – halbstandardisiertes 68 – Leitfaden 68 – nondirektiver Stil 68 – offenes 67 – standardisiertes 67 – strukturiertes 67, 189 – teilstrukturiertes 68 Interviewform 67 Intimität 184 Intimitätsverletzung 185 Intragenerationenmobilität 152 Intrarollenkonflikt 37 Introspektion 10 Introversion 123 Intuition 94 In-vitro-Fertilisation (IVF) 229 Inzestphantasie 238 IQ, 7 Intelligenzquotient Irrtumswahrscheinlichkeit 47 Ischämie, stressbedingte 22 Isolation, soziale 35, 39 Itemanalyse – Schwierigkeitsgrad 54 – Trennschärfe 54 IUI, 7 Insemination, intrauterine IV, 7 Versorgung, integrierte IVF, 7 In-vitro-Fertilisation
J James-Lange-Theorie 101 Ja-sage-Tendenz (7 auch Aquieszenz) 58 Johanniskrautöl 251 Johnson, Virginia E. 232 Jugendhilfeleistung 288
K Kampfgeist 283 Kapital, soziales 43 Kardiologie, interventionelle 252 Kariesprophylaxe 290 Kassenärztliche Vereinigung 158 Katamnese 61, 192 Katecholamine 20 Katharsis 108 Kausalanalyse 71 Kausalattribution 5, 114, 163, 178, 247 Kausalität, zirkuläre 210 Kinder – Selbsthilfegruppen 245 – unheilbar kranke 245 Kinderkrankenpflege 303 Kinderlosigkeit 134 – ungewollte 228 ä, 230 Kinderwunsch 229 Kindesmissbrauch, sexueller 32 ä – psychologische Begutachtung 32 Kinsey, Alfred 235 Klassifikationssystem 188 Kleinhirn 80 Klimakterium 141 Knochenmarktransplantation 219 Kognition 131 – dysfunktionale 207 Kohärenzgefühl 38 Kohärenzsinn 38 Kohäsion, soziale 43 Kohortenstudie, prospektive 64 Koituserfahrung 137 Kokain 117 ä Kommunikation 151 – asymmetrische 166 – Beziehungsebene 165 – Formen 165 – Inhaltsebene 165 – mit Kindern 176 – Störungen 176 – symmetrische 166 Kommunikationsstil 133
Komorbidität 76, 188 – psychische 280 Komorbiditätsprinzip 189 Kompensation 213 Kompetenzerwartung 37, 268, 269 Kompetenznetz 9 Konditionierung – höherer Ordnung 86 – instrumentelle 86 – klassische 11, 85, 86, 184 – operante 12, 85, 86 – semantische 86 Konfabulation 82 Konfidenzintervall 57, 73 Konflikt – ödipaler 112 – unbewusster 202 – verdrängter 202 Konformität 137, 138 Konfrontation 203 – wiederholte 206 Konfundierung 284 Konsiliardienst 241 Konsistenz, transsituative 119 Konstrukt 45 Konstruktvalidität 56 Kontexteffekt 194, 195 Kontrasteffekt 183 Kontrollgruppe 59, 63 Kontrollüberzeugung 178 – internale 37, 251 Konversion 35 Konversionsstörung 36 ä Konzeptbildung 94 Kooperation von Kranken und Ärzten 172 Körperempfindung 246 Körpererleben 222 Körpergröße 44 Körperwahrnehmung 211 Korrelationskoeffizient 70 Kosten – direkte 77 – indirekte 77 – intangible 77 Kosten-Effektivitäts-Analyse 78 Kostenerstattungsprinzip 254
323
A3 · Sachverzeichnis
Kosten-Nutzwert-Analyse 78 Krankenpflege 303 Krankenrolle 162 Krankenstand 216 Krankenversicherung – Kapitaldeckungsverfahren 254 – Regelleistungen 254 – Risikostrukturausgleich 254 – Sachleistungsprinzip 254 – Solidarprinzip 253 – Umlageverfahren 254 – Wahlleistungen 255 Krankheit – chronische 278 – – Akzeptanz 199 – – Partnerbeziehung 282 – – soziale Folgen 283 – Entstehung 3 – Verlauf 3 Krankheitsbewältigung, 7 auch Coping 162, 163, 280 Krankheitsentstehung – multifaktorielle 84 – Risikofaktoren 37 – Schutzfaktoren 37, 197 – soziale Verursachung 41 Krankheitsfolgenmodell 279 Krankheitsgewinn – primärer 36 – sekundärer 36, 164 Krankheitskosten 257 Krankheitsmodell, biopsychosoziales 279 Krankheitstheorie, subjektive 5, 163, 182, 224, 247 Krankheitsüberzeugung 178 Krankheitsverarbeitung, 7 auch Krankheitsbewältigung 280 – Verleugnung 223 – Vermeidung 223 Krankheitsverhalten 10, 163 Kränkung, narzisstische 107 Krebserkrankung 222 ä – Ansprechpartner 224 – behandelnder Arzt 224 – Depression 222 – emotionale Folgen 222 – Informationsbedürfnis 223
– kognitiv-behaviorale Therapie 225 – Kommunikationstabus 222 – Krankheitsbewältigung 223 – Lebensqualität 225 – psychoedukative Intervention 225 – Sexualität 236 – soziale Rollen 222 – supportiv-expressive (psychodynamische) Therapie 225 – Todesdrohung 222 Krebsfrüherkennung 249, 250 Krebspersönlichkeit 224 Kreuztabelle 70 Krisenintervention, verbale 217 Kriterienorientierung 188 Kübler-Ross, Elisabeth 242 Kultur des Sterbens 239, 240 Kunstfehlerprozess 169 Kur 279 KVT, 7 Therapie, kognitiv-behaviorale
L Labeling-Ansatz 9 Laborexperiment 51 Lächeln, soziales 130 Laienätiologie 247 Laiensystem 163, 250 Längsschnittuntersuchung, 7 auch prospektive Kohortenstudie 64 Lateralisation 81 Lazarus-Schachter-Theorie 101, 102 Lebendnierenspende 220, 221 Lebensereignis, belastendes 99 Lebenserwartung 43 – generative 144 Lebensjahre, qualitätsadjustierte 78 Lebensplanung 228 Lebensqualität 7, 198, 219, 240 – gesundheitsbezogene 4, 260
I–M
– Messinstrumente 5 Lebensstil 152, 265 – gesundheitsförderlicher 266 Lebensstiländerung 198 Lebertransplantation 219 Lehranalyse 203 Leistungsmotivation 114, 132 Leitlinie 77, 191, 258 – diagnostische 180 Leptin 110 Lernen – am Erfolg 86 – assoziatives 85 – biologische Grundlagen 86 – durch Beobachtung 88 – durch Eigensteuerung 89 – durch Einsicht 89 – Langzeitpotenzierung 86 – Lerntheorien 86 – nichtassoziatives 85 – operantes 298 Lernprozess 128 Lernpsychologie 231 – experimentelle 205 Lerntheorie 10, 113 – kognitives Modell 13 – operantes Modell 12 – respondentes Modell 11 Letalität 145 Liaison-Dienst 225 Libidostörung 141 life years saved (LYS) 265 Likert-Skala 52 Linkshändigkeit 81 Lorenz, Konrad 112 LSD 118 Lügendetektor 22 Lügenskala 58 Lustprinzip 33 LYS, 7 life years saved
M Malthus-Gesetz 150 Mammographie 250, 296 Managed Care 256, 261
324
Anhang
Marker 271, 285 Markt-Modell 255 Maslow, Abraham 113 Mastektomie, prophylaktische 227 Masters, William H. 232 Maturation 128 Median 53, 69 Mediator-Variable 51 Medikalisierung 255 Medikamentenanamnese 181 Meditation 244 Medizin – alternative 250 – evidenzbasierte 77 – prädiktive 271 Mehrlingsproblematik 230 Melatonin 24 Menopause 141 Metaanalyse 75, 191 Methadonsubstitution 117 Midlife-Crisis 140 Migräne 29 Migration – horizontale 149 – vertikale 149 Mikrozensus 66 Milde-Effekt 183 Missbrauch, sexueller 238 Mittelwert, arithmetischer 53, 69 Mobilität – soziale 152 – vertikale 152 Modalwert 53, 69 Modell, statistisches 121 Modelllernen 88, 208 Moderator-Variable 51 Molekulargenetik 84 moral hazard 36 Moralentwicklung 132 Morbidität 41 – Kompression 144 Mortalität 41, 145 Motiv – homöostatisches 109 – nichthomöostatisches 109 – primäres 109 – sekundäres 111
Motivation 109 Motivational Interviewing 278 Motivationskonflikt 114 Motorik 130 Multiaxialität 188 Multimorbidität 145 Multiple Chemical Sensitivity 8 Muskelrelaxation, progressive 211 Mutationsbefund 227 Mutter-Kind-Bindung 110 MVZ, 7 Versorgungszentrum, medizinisches
N Nachdenken, bewusstes 94 Nachsorgemaßnahme 201, 280 Narkolepsie 26 ä Naturheilmittel 251 Nettoreproduktionsziffer 145 Netzwerk, soziales 282, 283 Neubildung, synaptische 82 Neuromodulator 84 Neurotizismus 99, 123 Neurotransmitter 83, 98 Neutralität, affektive 185 Nierentransplantation 218, 219 Nikotin 98, 116 ä, 117 NNT, 7 Number needed to treat Nominalskala 52 Non-Compliance 172 – intelligente 173 Non-REM-Schlaf 24 Nordkarelien-Studie 272 Norm, soziale 37, 132 Normalität – Definition 2 Normierung (7 auch Eichung) 57 Notfallmedizin 216 Notfallsituation, Kommunikation 217 Novelty-seeking 125 Nozizeption 4, 27 Nullhypothese 46, 48, 74
Number needed to treat (NNT) 265, 273 Nuptialität 145
O Objektpermanenz 131 Odds Ratio 63, 274 Onkologie 222 Operationalisierung 50 Opiat, endogenes (7 auch Opioid) 28, 29, 111, 116, 117 Opioid 116 Opportunitätsstruktur, soziale 41 Optimierung, selektive im Alter 142 Optimismus – dispositioneller 38 – unrealistischer 275 Ordinalskala (7 auch Rangskala) 53 Orgasmusschwelle 234 Orgasmusschwierigkeit 234 Orientierung, sexuelle 232, 238 Orientierungsreaktion 23 Oxytocin 39, 98, 110, 111
P Paargespräch 171 Paarprogramm 40 Pädophilie 239 Palliativmedizin 240 Panikattacke 15 Panikstörung 15 ä, 98 Paniksystem 98 Panksepp, Jaak 97 Paralleltestreliabilität 55 Paraphilie 238 Parasomnie 26 Parasympathikus 20 Parietallappen 81
325
A3 · Sachverzeichnis
Parkinson-Syndrom 80 ä Partnerwahl 232 Patient – ablehnender 176 – Erwartungsenttäuschung 176 – gemeinsame Entscheidungsfindung 182 – identifizierter 210 – indolenter 253 – Informationsbedürfnis 175, 182 – Informationsstand 175 – Leitlinien für das Aufklärungsgespräch 175 – Recht 174 – Verhaltensänderung 298 – Vorerfahrungen 178 – Vorkenntnisse 178 – Compliance 172 – Non-Compliance 172 Patientenaufklärung 199 Patientenberatung 199 Patienteninformation 199 Patientenkarriere 164, 257 Patientenmerkmal 260 Patientenorientierung 201 Patientenperspektive 177 Patientenschulung 40, 198, 199, 279 – Didaktik 200 – Gruppensetting 200 – Lernziele 200 – Manual 200 – Schulungsteams 200 Patientenverfügung 245 Patientenzufriedenheit 258, 259 Pawlow, Iwan 11 Peer Group 133, 266 Peer-Review 259 Periodenprävalenz 293 Perseveration 92 Persönlichkeit – antisoziale 127 – Effekte auf die Umwelt 126 – State-Merkmale 119 – Trait-Merkmale 119 Persönlichkeitsentwicklung 127, 129, 133 Persönlichkeitsfaktor
– Extraversion 123 – Gewissenhaftigkeit 123 – Introversion 123 – Neurotizismus 123 – Offenheit 123 – Verträglichkeit 123 Persönlichkeitsmerkmal 17 – dispositionelles 105 Persönlichkeitsmodell von Eysenck 120 Persönlichkeitsstörung – abhängige 122 – antisoziale (dissoziale) 126 ä – narzisstische 124 ä Persönlichkeitstest 58, 121 Persönlichkeitstheorie – Big-Five-Modell 120 – dimensionale Modelle 120 – dynamisch-interaktionistischer Ansatz 122 – lerntheoretischer Ansatz 121 – typologische Modelle 120 Person-Umwelt-Interaktion 126 Perversion 238 Pflege – Angehörige 304 – häusliche 303, 304 – stationäre 304 Pflegebedarf 303 Pflegebedürftigkeit 303 Pflegedienst, ambulanter 304 Pflegegeld 304 Pflegestufe 8, 303 Pflegeversicherung, soziale 303 Phantasiereise 212 Phantomschmerz 29 ä Phobie 11, 106 Piaget, Jean 131 Pinzettengriff 130 Plastizität 83, 213 – neuronale 82 Plättchenaggregation 22 Plazeboeffekt 59, 61, 184 Polygraph (7 auch Lügendetektor) 22 Populationsparameter 46 Positivitätsfehler 115 Potential, evoziertes 27
M–P
Potenz 234 Poweranalyse 49 Prägung 112 Pränataldiagnostik 193, 227 Prävalenz, wahre 293 Prävention 264, 274, 286, 289 – primäre 264, 265 – Risikofaktoren 270 – sekundäre 264, 270, 278 – tertiäre 264, 278 Premack-Prinzip 87 Preparedness 88 Primärarzt – Honorarsystem 256 – Konsultationsdauer 256 Primärdaten 66 Primärversorgung 157, 256 Primat des Affekts 18 Priorisierung der Ressourcenallokation 297 Problemlösetraining 300 Produkt-Moment-Korrelationskoeffizient (r) nach Pearson 70 Projektion 34, 176, 183 Prolactin 98 Prompting 87, 208 Propriozeption 4 Prosopagnosie 92 Protektion 265 Prozess der gegenseitigen Nötigung 127 Prozessdiagnostik 187 Prozessforschung 191 Prozessmodell – gesundheitlichen Handelns 277, 278 – präventiven Handelns 277 Prozessqualität 258 Psychoanalyse 30, 202 – Strukturmodell der Persönlichkeit 32 – topographisches Modell 33 Psychodynamik 33 Psychologie, differentielle 119 Psychoneuroimmunologie 20, 284 Psychophysiologie 22
326
Anhang
Psychosyndrom, hirnorganisches 214 ä Psychotherapeut 157, 225 Psychotherapie 202 Psychotraumatologie 32 Pubertät 32, 127, 136 Publication bias 75 Punktprävalenz 293 p-Wert 47
Q Qualitätsmanagement 258 Qualitätssicherung 253, 258 Qualitätswettbewerb 261 Qualitätszirkel 192, 259 quality adjusted life years (QUALY) 260 Querschnittsstudie 62 Quotenstichprobe 66
R Randomisierung 60 Rangkorrelationskoeffizient 70 Rating-Skala 53, 67 Rationalisierung 35 Rationalskala (7 auch Verhältnisskala) 53 Rauchen 266 Raucherentwöhnung 300 Reaktanz 176, 179, 276 Reaktion – unkonditionierte 11 – individualspezifische 19, 120 – stimulusspezifische 19 Reaktionsbildung 35 Realitätsprinzip 33 Reframing 210 Regeneration von Hirnfunktionen 82 Regression, statistische 59 Regressionsanalyse, multiple 71 Rehabilitation 3, 145, 264, 278
– ambulante 280 – Anspruchsberechtigte 301 – Effektivität 280 – Einrichtungen 301 – Indikationen 280 – Kontinuität 280 – Konzepte 301 – Leistungsträger 301 – medizinische 257 – Motivation 279 – stationäre 300 – Träger 286 Rehabilitationsklinik 259 Reha-Servicestelle 288 Reinfarkt 249 Reiz, unkonditionierter 11 Reizdiskrimination 86, 87 Reizgeneralisierung 86, 87 Reizmonotonie 214 Reizüberflutung 207 Religiosität 244 REM-Schlaf 24 – Entzug 25 Rentenbegehren 36 ä Replizierbarkeit 74 Reproduktion, assistierte (ART) 229 Reproduktionsmedizin 228 Resilienz 3, 108, 111, 223, 265 Ressourcenallokation 77 Ressourcenproblem 150 Restitution 213 Revolution – neosexuelle 235 – sexuelle 235 Rhythmus, zirkadianer 24 Risiko – attributables 275 – perinatales 129 – postnatales 129 – pränatales 129 – absolutes 273 – relatives 64, 273 Risikofaktor, kausaler 65 Risikofaktorenmodell 45, 289 Risikoindikator 271 Risikokennwert 274 Risikoreduktion 273
Risikotabelle 197 Risikoverhalten, Gewohnheiten 275 Risikowahrnehmung 275 Rogers, Carl 169, 208 Rollendistanz 37 Rollenidentifikation 37 Rollenkonflikt 139 Rollenspiel 88, 208 Rosenthal-Effekt 61, 183 Rückenschmerz 29 – chronischer ä 30 – – körperliche Aktivität 30 – – Rehabilitation 30 Rückhalt, sozialer 38 Rückmeldung 208
S Sadomasochismus 239 Salutogenese 38, 265 Sauberkeitserziehung 128 Säuglingssterblichkeit 145, 149 Scham 184 Scheidung 135 Schicht, soziale, 7 auch sozioökonomischer Status 151 Schichtung, soziale 41 Schizophrenie 83 ä, 84 ä, 85, 152 ä Schlaf – Funktion 25 – paradoxer 25 Schlafapnoe 26 ä Schlafentzug, totaler 25 Schlaflabor 26 Schlafmittelrezept 298 Schlafstadium 24 Schlafstörung 25 – Stimuluskontrolle 298 Schlussfolgern – additives 190 – lineares 190 Schmerz 4 – chronischer 27 ä, 29 ä – psychischer 111
327
A3 · Sachverzeichnis
– visuelle Analogskala 28 Schmerzbehandlung 297 Schmerzbewältigungsstrategie 29 Schmerzgedächtnis – Langzeitpotenzierung 28 – Toleranzschwelle 27 – Wahrnehmungsschwelle 27 Schmerzstörung, somatoforme 18 ä, 27 Schmerzwahrnehmung – Plazeboeffekt 29 – Sensibilisierung 29 Schnittstellenproblematik 257 Schock, psychischer 217 Schreckreflex 24 Schule 133 Schulungsprogramm,7 auch Patientenschulung 200 Schutzfaktor 271, 289 Schutzmotivation – Bedrohungseinschätzung 269 – Bewältigungseinschätzung 269 Schwangerschaft 128 Schwerpunktpraxis 256 Screening-Beurteilung 293 Screening-Test 264 Screening-Verfahren 250, 292 Seelsorger 241 Sekundärdaten 66 Selbstaktualisierungstendenz 208 Selbstbeobachtung 206 Selbstbild, bewusstes 124 Selbsthilfegruppe 225, 284 – formalisierte 302 – informelle 302 – Patientenvertreter 302 Selbsthilfekontaktstelle 288 Selbstkonzept 249 Selbstmanagement 89, 167, 200, 208, 297 Selbstoffenbarung 166, 209 Selbstsicherheitstraining 300 Selbststimulation, intrakranielle 88 Selbstunsicherheit 135 Selbstverstärkung 89, 206, 238 Selbstverwirklichung 208
Selbstwertgefühl 124 Selbstwirksamkeit, 7 auch Selbstwirksamkeitserwartung 37, 116, 201 Selbstwirksamkeitserwartung 268, 269, 277 Selektionsfehler 60 self-fulfilling prophecy 184 Semaschko-Modell 255 Senium 140 Sensation-Seeking 125 Sensitivierung 85 Sensitivität 294 Sensitivitätsanalyse 75 Sensitization-Repression 125 Sensorik 83, 90, 130 Serotonin-Transporter-Gen 17 Serotonin-WiederaufnahmeHemmer 83 Setting-Ansatz 292 Sexualanamnese 236 Sexualität 110, 231 – bei organischer Krankheit 236 – im Alter 235 – im Jugendalter 137 – Partnerdynamik 238 – Störungen 236 – verdrängte 235 Sexualmoral 235 Sexualpräferenz 238 Sexualtherapie 239 Sexualverhalten 232, 234 SF-36, 7 Short Form 36 SGB, 7 Sozialgesetzbuch Shaping 87 shared decision-making 166, 199 Short Form 36 (SF-36) 5 Sildenafil 239 Simulation 164 Sinnfindung 281 Skalierung 52 Skinner, Burrhus F. 13 Sollwert, individueller 125 Somatisierung 179 Somatisierungsstörung 4, 7 ä, 255 SORKC-Modell 14, 181
Sozialethik 78 Sozialgesetzbuch (SGB) 286, 287 Sozialisation – berufliche 160 – primäre 130, 132 Sozialstaatsprinzip 287 Sozialstation 304 Soziometrie 74 Soziotherapie 302 Spaltung 35 Spannungskopfschmerz 29 Spearman 70 Spermieninjektion, intrazytoplasmatische (ICSI) 229 Spezifität 295 Spiegelneuron 80, 100 Split brain 81 Spontan-EEG 26 Spontanremission 59 Sprachcode – elaborierter 133 – restringierter 133 Sprachstörung 91 Sprechstunde 164 Sprossung 82 Standardabweichung 73 Standardmessfehler 57 State-vs.-Trait-Angst 105 Status – erworbener 151 – sozioökonomischer 151 – zugeschriebener 151 Statusinkonsistenz 152 Sterbebegleitung 240 Sterbehilfe 160 – aktive 245 – indirekte 245 – passive 245 Sterben – depressive Dynamik 240 – Phasen 242 – Rituale 241 Sterbeprozess – Angst 243 – Verleugnung 243 Sterilität, psychogene 230 Stereotyp, negatives 9
P–S
328
Anhang
Stichprobe 65 – abhängige 72 – gepaarte 72 – Größe 66 – konsekutive 66 – unabhängige 72 Stichprobenfehler 47, 75 Stichprobenkennwert 46, 49 Stigmatisierung 9, 283 Stimuluskontrolle 205, 206 Störung – dissoziative 36 ä – psychische 2, 252 – sexuelle – – Therapie 239 – – Versagensangst 239 – somatoforme 7, 248 ä, 252 Störungsmodell 208 Störvariable 51 Stress 19, 230 – akuter 21 – chronischer 21 Stressbelastung, psychosoziale 270 Stressbewältigungstheorie, kognitiv-transaktionale 281 Stressbewältigungstraining 29, 300 Stress-Diathese-Modell 20 Stressmanagement 15 Stressmodell von Henry 19 Stressor 19 Stress-Puffer-Modell 39 Stress-Vulnerabilitäts-Modell 20 Strukturgleichungsmodell, lineares 71 Strukturqualität 258 Strukturwandel der Familie 134 Studie – experimentelle 58 – multizentrische 65 – ökologische 66 – quasiexperimentelle 62 – randomisierte kontrollierte 58, 77 Studiendesign 62 Sublimierung 35 Substanzabhängigkeit 138
Suchsystem 110 Sucht, 7 auch Abhängigkeit 115 Suchtberatungsstelle 288 Suchtprävention 290 Suggestion 212 Suizid 44 – assistierter 245 – im Jugendalter 138 Summenskala 52, 54 Supervision 259 Sympathikusaktivierung 21 Symptomaufmerksamkeit 246 Symptommonitoring 199 Symptomwahrnehmung 3 System, limbisches 79, 103
T Tagebuch 191 talk-down 217 Teamsupervision 218 Temporallappen 81 Test 54 – Antworttendenzen 57 – Fremdbeurteilung 67 – Messfehler 57 – Ökonomie 57 – projektiver 55 – psychologischer 188 – Reliabilität 55 – Selbstbeurteilung 67 – statistischer 47, 71 – – für Unterschiedshypothesen 71 – – multipler 48 – – nonparametrischer 72 – – parametrischer 72 – – Zusammenhangshypothesen 71 – – zweiseitiger 48 – Testhalbierungsreliabilität 55 – Testwiederholungsreliabilität 55 – Validität 56 Testosteron 98, 107, 141 Teststärke 48, 49, 73
Teufelskreis der Angst 15 Thalamus 80, 102 Thanato-Psychologie 242 Theorie 45 Therapie, kognitiv-behaviorale (KVT) 205 Therapieplanung 180 Tiefeninterview 74 Tiefschlaf 25 Todesangst 105 Todesvorstellung 244 Tokens 87 Training, autogenes 211 Trance 212 Transfer, negativer 89 Transformation, demographische 147 Transplantation – Lebensqualität 220 – psychoimmunologische Aspekte 220 – psychosoziale Situation 219 Transplantationsgesetz 221 Transsexualismus 239 Transvestit 239 Transvestismus, fetischistischer 238 Trauer 224 – komplizierte 244 Trauerarbeit 244 Trauerprozess, Depression 108 Traumatisierung, stellvertretende 218 Traumdeutung 202 Traurigkeit 243 Treatment-Integrität 76 Trennungsangst 105 Trennungs-Distress 111 Triade – kognitive 13 – meritokratische 41, 151 Triebbedürfnis 33 Triebintensität 234 Triebmodell 32 t-Test 72
329
A3 · Sachverzeichnis
U Übergewicht, 7 auch Adipositas 41 Überlebenskurve 144 Übertragung 170, 185, 203, 204 Umstrukturierung, kognitive 16 Umweltproblem 150 Unfall, kindlicher 217 Ungleichheit – gesundheitliche 41 – soziale 152 Unterstützung – emotionale 196 – soziale 39, 287 Untersuchung – ärztliche 248 – körperliche 6, 184 – medizinisch-technische 6 – molekulargenetische 17, 226 Urbanisierung 42, 43 Ursachenvorstellung, psychosomatische 224 Urvertrauen 31 Utilitarismus 78
V Vaginismus 234 Validität – diskriminative 56 – externe 76 – interne 65 – konkurrente 56 – kriteriumsbezogene 56 Variable 50 Varianzanalyse 72 Variation, kontingente negative 27 Vasopressin 110 Veränderungsmessung 187 Verantwortungsethik 78 Verarbeitung, depressive 281
Verdrängung 33 Verfahren, bildgebendes 6 Verfügbarkeitsheuristik 194 Vergleichsprozess, sozialer 269 Vergütungsform, fallpauschalierte 158 Verhalten – aggressives 97 – antisoziales 17 – ärztliches 159 – generatives 148 – gesundheitsschädigendes 270 – koronargefährdendes 126 Verhaltensanalyse 181, 206 – horizontale 14, 181 – vertikale 14, 181 Verhaltensänderung 297 – Motivationsstufen 276 – transtheoretisches Modell 276 – Widerstände 275 Verhaltensbeobachtung 6, 181 Verhaltensexperiment 208 Verhaltensgenetik 16, 84 Verhaltenskontrolle, wahrgenommene 268 Verhaltensmedizin 16 Verhaltenstherapie 205 – kognitive 13, 15, 205 Verhaltensvertrag 206 Verhältnisskala 53 Verlaufsbeobachtung 187 Verlaufsdokumentation 191 Verleugnung 34, 174, 249 Verlusterlebnis – Depression 99 – körperliche Krankheit 99 Vermeidungsverhalten 13, 87 Verschiebung 33 Versicherungsstatus 250 Versorgung – bedarfsgerechte 252 – gemeindenahe 302 – integrierte (IV) 158 Versorgungskontinuität 301 Versorgungszentrum, medizinisches (MVZ) 159
S–W
Verstärker – primäre 87 – sekundäre 87 Verstärkeraufschub 88 Verstärkerplan 87 Verstärkerreiz 87 Verstärkung 13 – funktionelle 82 – intermittierende 15, 87 – kontinuierliche 15, 87 – negative 86 – neurobiologische Grundlage 88 – stellvertretende 88 Versuchsleitereffekt 183 Vier-Felder-Tafel 70, 294 Vier-Phasen-Struktur des Sexualzyklus – Erregungsphase 232 – Orgasmusphase 233 – Plateauphase 233 – Rückbildungsphase 233 Vigilanz 89 Viktimisierung 224 Viszerozeption 4 Vorhersagewert – negativer 295 – positiver 295 Vorschule 133 Voyeurismus 239 Vulnerabilität 17 – verstärkte 218
W Wahrnehmung 90 – Aufmerksamkeit 91 – Hypothesenprüfung 91 – subliminale 18 Wärme, emotionale 209 Weiterbildung, ärztliche 157 Weltbevölkerungswachstum 149 Wende, kognitive 11 Wernicke-Aphasie 91
330
Anhang
Wertschätzung, positive 209 Werturteilsfrage 78 Wettbewerbsstreben, übertriebenes 125 Widerstand 203 Wille, freier 113 Wirksamkeitsprüfung (7 auch Evaluation) 76 Wirkungseintritt, verzögerter 173 Wirtschaftlichkeit 258
Wohlbefinden 3, 125 Wohlstand 42 Wohlstandskrankheit 44 Wut 106, 107 Wutsystem 97
Y Yerkes-Dodson-Regel 23
Z Zahlungsbereitschaft 78 Zeigarnik-Effekt 93 Zigarettenrauchen 41, 197 Zufallsstichprobe 66 Zuhören, aktives 182 Zustimmung, informierte 185 Zwillingsstudie 16, 40
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