Springer-Lehrbuch
Hermann Faller Hermann Lang
Medizinische Psychologie und Soziologie Unter Mitarbeit von Stefan Brunnhuber, Matthias Jelitte, Karin Meng, Silke Neuderth, Andrea Reusch, Matthias Richard, Marion Schowalter, Rolf Verres, Heiner Vogel, Tewes Wischmann 3., vollständig neu bearbeitete Auflage Mit 27 Abbildungen und 11 Tabellen
123
Professor Dr. Dr. Hermann Faller Professor Dr. Dr. Hermann Lang Universität Würzburg Institut für Psychotherapie und Medizinische Psychologie Klinikstraße 3 97070 Würzburg
[email protected] ISBN-13 978-3-642-12583- 6 Springer-Verlag Berlin Heidelberg New York Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werkes oder von Teilen dieses Werkes ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes der Bundesrepublik Deutschland vom 9. September 1965 in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechtsgesetzes. SpringerMedizin Springer-Verlag GmbH ein Unternehmen von Springer Science+Business Media springer.de © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 1998, 2006, 2010 Produkthaftung: Für Angaben über Dosierungsanweisungen und Applikationsformen kann vom Verlag keine Gewähr übernommen werden. Derartige Angaben müssen vom jeweiligen Anwender im Einzelfall anhand anderer Literaturstellen auf ihre Richtigkeit überprüft werden. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutzgesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürfen. Planung: Christine Trotta, Heidelberg Projektmanagement: Dorothee Kammel, Heidelberg Lektorat: Dorothee Kammel, Heidelberg Umschlaggestaltung & Design: deblik Berlin Titelbild: © SPL/Agentur Focus Satz: Fotosatz-Service Köhler GmbH – Reinhold Schöberl, Würzburg Druck- und Bindearbeiten: Stürtz GmbH, Würzburg Ordernumber 12610358 Gedruckt auf säurefreiem Papier.
15/2117 rd – 5 4 3 2 1 0
Vorwort zur 3. Auflage Wir danken allen Leserinnen und Lesern für die sehr positive Aufnahme unseres Lehrbuchs, die eine 3. Auflage erforderlich gemacht hat. Die 3. Auflage wurde vollständig überarbeitet und aktualisiert. Der Überarbeitung lag die Revision des Gegenstandskatalogs durch das IMPP zugrunde. Wir haben den Aufbau des Lehrbuchs an die vom neuen GK vorgegebene Struktur angepasst, alle neuen Gegenstände aufgenommen (sofern sie nicht schon vorher Bestandteil des Buches gewesen sind) und Überschneidungen und Redundanzen entfernt. In das Lehrbuch gingen die vieljährigen Erfahrungen als Hochschullehrer für Medizinische Psychologie und Soziologie an der Universität Würzburg ein, für die wir den Studierenden zu großem Dank verpflichtet sind. Ohne diese Lehrerfahrung wäre das Buch nicht denkbar. Das Fach Medizinische Psychologie und Soziologie vermittelt den angehenden Ärztinnen und Ärzten das Wissen, das sie für den Umgang mit ihren Patienten brauchen. Körperlich Kranke wollen natürlich in erster Linie wieder gesund werden. Aber sie haben auch noch darüber hinausgehende Bedürfnisse: Sie wollen Informationen über ihre Krankheit. Sie wollen immer häufiger bei medizinischen Entscheidungen beteiligt werden. Und sie benötigen in manchen Fällen auch psychische Unterstützung, um ihre Krankheit emotional zu bewältigen. Um diese Bedürfnisse zu erfüllen, brauchen Ärzte und Ärztinnen Kenntnisse und Kompetenzen aus der Medizinischen Psychologie und Soziologie. Das Fach, von dem dieses Lehrbuch handelt, ist also von unmittelbar praktischem Nutzen. Weitere wichtige Themenfelder der Medizinischen Psychologie und Soziologie betreffen die Mitarbeit des Patienten bei der medizinischen Behandlung, die Verarbeitung eingreifender Therapiemaßnahmen wie z.B. einer Transplantation, die Motivation zu einem gesundheitsförderlichen Lebensstil bei Gesunden wie auch chronisch Kranken oder die Wirkungsweise unterschiedlicher Formen der Psychotherapie. Sie spielt sowohl in der Prävention wie auch der Akutmedizin und Rehabilitation eine wichtige Rolle. Ziel unseres Buches ist es, die klinischen Bezüge der Medizinischen Psychologie herauszustellen. Das Buch richtet sich ausdrücklich an Einsteiger in die Medizinische Psychologie und Soziologie. Es verwendet eine klare und einfache Sprache. Nichts wird vorausgesetzt. Jeder neue Begriff wird sofort erläutert, sobald er zum ersten Mal auftaucht, wenn möglich auch mit einem Beispiel. Das Buch ist zudem besonders leserfreundlich gestaltet. Eine klare Gliederung mit vielen Hervorhebungen und Merksätzen erlaubt es, den Stoff »häppchenweise« zu konsumieren, und erleichtert die spätere Wiederholung oder das Nachschlagen. Wir haben auch die 3. Auflage unseres Lehrbuchs wieder mit vielen Beispielen aus dem ärztlichen Alltag angereichert, die die klinische Relevanz der vorgestellten psychologischen Inhalte illustrieren. Das Buch ist voll von Tipps für den praktischen Umgang mit Patienten, z. B. Formulierungsvorschlägen für das ärztliche Gespräch. Es wurde von Experten verfasst, die nicht nur eine jahrelange Erfahrung im Unterricht in Medizinischer Psychologie und Soziologie mitbringen, sondern auch über praktische, klinische Erfahrung als Arzt, Psychologe und Psychotherapeut im Umgang mit Patienten verfügen. Dieser doppelte Erfahrungshintergrund stellt sicher, dass das Lehrbuch Medizinische Psychologie und Soziologie für die spätere Ärztin und den späteren Arzt im beruflichen Alltag in Praxis oder Klinik von Nutzen ist. Es wendet sich ebenfalls an den bereits ausgebildeten Arzt und andere Berufsgruppen, die im medizinischen und psychosozialen Feld wichtige Funktionen übernehmen, wie Psychologen, Sozialarbeiter, Pflegekräfte usw.
VI
Vorwort zur 3. Auflage
Wir wünschen allen Leserinnen und Lesern der 3. Auflage des Lehrbuchs Medizinische Psychologie und Soziologie viel Spaß beim Lesen und viel Erfolg im Studium. Verbesserungsvorschläge sind uns jederzeit sehr willkommen, wird werden sie bei der nächsten Auflage berücksichtigen. Wir danken den Koautorinnen und Koautoren, die Beiträge zu denjenigen Themen (mit)verfasst haben, für die sie eine hervorragende Expertise besitzen: Dr. Dr. Stefan Brunnhuber (Kap. 8.3), Dipl.-Psych. Matthias Jelitte (Kap. 11.2.3), Dr. Karin Meng (Kap. 7.1), Dr. Silke Neuderth (Kap. 7.1, 8.4 und 9.4), Dipl.-Psych. Andrea Reusch (Kap. 10.3.2), Dr. Matthias Richard (Kap. 7.2 und 8.2), Dr. Marion Schowalter (Kap. 4.7 und 4.8), Prof. Dr. Rolf Verres (Kap. 8.7), Dr. Heiner Vogel (Kap. 5.1, 10.6 und 11.2.1) und PD Dr. Tewes Wischmann (Kap. 8.5). Schließlich danken wir Frau Christine Trotta und Frau Dorothee Kammel vom Springer-Verlag für die angenehme Zusammenarbeit. Hermann Faller Hermann Lang
VII
Biographie Faller, Hermann. Prof. Dr. med. Dr. phil. Dipl.-Psych. Studium der Medizin und Psychologie in Heidelberg. Promotion in Medizin in Heidelberg, in Psychologie in Freiburg. Habilitation in Würzburg. Klinische Tätigkeit in Innerer Medizin, Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie. Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Psychoanalytiker (DGPT). Seit 2000 Stiftungsprofessur für Rehabilitationswissenschaften. Ab 2004 Vorstand (komm.) des Instituts für Psychotherapie und Medizinische Psychologie der Universität Würzburg. Ehem. 2. Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Medizinische Psychologie. Erhielt für seine psychoonkologischen Forschungen den im Jahr 2003 erstmals verliehenen Julius-Springer-PsychotherapiePreis.
Lang, Hermann. Prof. Dr. med. Dr. phil. Studium der Medizin, Psychologie und Philosophie in Heidelberg und Paris. 1972 und 1976 Promotion zum Dr. phil. und Dr. med. Ausbildung zum Psychiater, Facharzt für Psychotherapeutische Medizin und Psychoanalytiker (DGPT) in Heidelberg, Paris und Straßburg. 1979 Habilitation. Von 1980 bis 1989 Ärztlicher Direktor der Abteilung Psychotherapie und Medizinische Psychologie an der Psychosomatischen Klinik der Universität Heidelberg. Von 1990 bis 2004 Vorstand des Instituts für Psychotherapie und Medizinischen Psychologie der Universität Würzburg.
Medizinische Psychologie und Soziologie
Kapitelübersicht: Was erwartet mich in dem Kapitel?
Leitsystem: Schneller Überblick über die Kapitel und den Anhang. Wo finde ich was?
Einleitung: Kurzer Einstieg ins Thema
Inhaltliche Struktur: Klare Gliederung durch alle Kapitel
Schlüsselbegriffe sind fett hervorgehoben
Klinik-Boxen: Anschauliche Beispiele aus der Klinik
Verweise auf Abbildungen und Übersichten: Deutlich herausgestellt und leicht zu finden
Übersichten: Wichtige Fakten für die Prüfung
Prüfungsrelevante Klinikbegriffe nach GK werden durch den blauen Äskulapstab markiert
Navigation: Seitenzahl und Kapitelnummer für die schnelle Orientierung
Tabelle: Elementare Inhalte klar dargestellt
Merke: Die must-haves für die Prüfung
Lernziele: Entscheidende Schlagworte noch einmal zusammengefasst
Vertiefen: Weiterführende Literatur zum Vertiefen, vom Autor kommentiert
Exkurs: Interessante Zusatzinfos zu ausgewählten Themen
Abbildungen: Veranschaulichen komplexe Sachverhalte
Sagen Sie uns Ihre Meinung 7 www.lehrbuch-medizin.de
XI
Inhaltsverzeichnis I Entstehung und Verlauf von Krankheiten 1
Bezugssysteme von Gesundheit und Krankheit . . . . . . . . . . . . . . . . .
3
1.1
Gesundheit und Krankheit . . . . . . . . . . . . . . H. Faller Die betroffene Person . . . . . . . . . . . . . . . . . . . H. Faller Die Medizin als Wissens- und Handlungssystem . H. Faller Die Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . H. Faller
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
6
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
8
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
11
2
Gesundheits- und Krankheitsmodelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
14
2.1
Verhaltensmodelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . H. Faller Psychobiologische Modelle . . . . . . . . . . . . . . . H. Faller Psychodynamische Modelle . . . . . . . . . . . . . . H. Faller, H. Lang Sozialpsychologische Modelle . . . . . . . . . . . . . H. Faller Soziologische Modelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . H. Faller
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
14
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
23
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
31
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
40
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
45
1.2 1.3 1.4
2.2 2.3 2.4 2.5
3
Methodische Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
50
3.1
Hypothesenbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . H. Faller Operationalisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . H. Faller Testdiagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . H. Faller Untersuchungsplanung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . H. Faller Sozialwissenschaftliche Methoden der Datengewinnung H. Faller Psychobiologische Methoden der Datengewinnung . . . H. Faller Datenauswertung und -interpretation . . . . . . . . . . . . H. Faller Ergebnisbewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . H. Faller
. . . . . . . . . . . . . . .
50
. . . . . . . . . . . . . . .
56
. . . . . . . . . . . . . . .
59
. . . . . . . . . . . . . . .
64
. . . . . . . . . . . . . . .
75
. . . . . . . . . . . . . . .
78
. . . . . . . . . . . . . . .
81
. . . . . . . . . . . . . . .
90
3.2 3.3 3.4 3.5 3.6 3.7 3.8
XII
Inhaltsverzeichnis
4
Theoretische Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
95
4.1
Psychobiologische Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . H. Faller Lernen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . H. Faller Kognition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . H. Faller Emotion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . H. Faller Motivation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . H. Faller Persönlichkeit und Verhaltensstile . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . H. Faller Entwicklung und primäre Sozialisation (Kindheit) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . M. Schowalter Entwicklung und Sozialisation im Lebenslauf (Adoleszenz, mittleres Erwachsenenalter, Senium) und sekundäre Sozialisation . . . . . . . . . . . . . . . M. Schowalter Soziodemographische Determinanten des Lebenslaufs . . . . . . . . . . . . . . . . H. Faller Sozialstrukturelle Determinanten des Lebenslaufs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . H. Faller
95
4.2 4.3 4.4 4.5 4.6 4.7 4.8
4.9 4.10
108 113 124 137 148 158
168 177 186
II Ärztliches Handeln 5
Arzt-Patient-Beziehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
193
5.1
Ärztliche Berufstätigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . H. Faller, H. Vogel Arztrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . H. Faller Krankenrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . H. Faller Kommunikation und Interaktion . . . . . . . . . . . . . . . H. Faller Besonderheiten der Kommunikation und Kooperation H. Faller
. . . . . . . . . . . . . . . .
193
. . . . . . . . . . . . . . . .
196
. . . . . . . . . . . . . . . .
200
. . . . . . . . . . . . . . . .
202
. . . . . . . . . . . . . . . .
211
5.2 5.3 5.4 5.5
6
Untersuchung und Gespräch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
218
6.1
Erstkontakt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . H. Faller Exploration und Anamnese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . H. Faller Körperliche Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . H. Faller
218
6.2 6.3
221 227
XIII Inhaltsverzeichnis
7
Urteilsbildung und Entscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
229
7.1
Grundlagen der diagnostischen Entscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . K. Meng, S. Neuderth, H. Faller Urteilsqualität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . M. Richard, H. Faller
229
7.2
232
8
Interventionsformen und besondere medizinische Situationen . . . . .
237
8.1
Ärztliche Beratung und Patientenschulung . . . . . . . . . H. Faller Psychotherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . M. Richard, H. Faller Intensiv- und Notfallmedizin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . H. Faller, S. Brunnhuber Transplantationsmedizin und Onkologie . . . . . . . . . . . S. Neuderth, H. Faller Humangenetische Beratung und Reproduktionsmedizin H. Faller, T. Wischmann Sexualmedizin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . H. Lang, H. Faller Tod und Sterben, Trauer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . R. Verres
. . . . . . . . . . . . . . .
237
. . . . . . . . . . . . . . .
243
. . . . . . . . . . . . . . .
256
. . . . . . . . . . . . . . .
260
. . . . . . . . . . . . . . .
268
. . . . . . . . . . . . . . .
274
. . . . . . . . . . . . . . .
283
8.2 8.3 8.4 8.5 8.6 8.7
9
Patient und Gesundheitssystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
290
9.1
Stadien des Hilfesuchens . . . . . . . . . . . . . . H. Faller Bedarf und Nachfrage . . . . . . . . . . . . . . . . H. Faller Patientenkarrieren im Versorgungssystem . . . H. Faller Qualitätsmanagement im Gesundheitswesen S. Neuderth
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
290
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
296
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
299
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
303
9.2 9.3 9.4
III Förderung und Erhaltung von Gesundheit 10
Förderung und Erhaltung von Gesundheit: Prävention . . . . . . . . . . . .
311
10.1
Präventionsbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . H. Faller Modelle gesundheitsrelevanten Verhaltens H. Faller Primäre Prävention . . . . . . . . . . . . . . . . H. Faller, A. Reusch Sekundäre Prävention . . . . . . . . . . . . . . H. Faller
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
311
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
313
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
318
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
321
10.2 10.3 10.4
XIV
Inhaltsverzeichnis
10.5 10.6
Tertiäre Prävention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . H. Faller Rehabilitation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . H. Faller, H. Vogel
328 331
11
Förderung und Erhaltung von Gesundheit: Maßnahmen . . . . . . . . . .
338
11.1
Gesundheitserziehung und Gesundheitsförderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . H. Faller Rehabilitation, Selbsthilfe und Pflege . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . H. Vogel, M. Jelitte, H. Faller
338
11.2
342
A Anhang A1 A2
Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
349 355
I
Entstehung und Verlauf von Krankheiten 1 Bezugssyteme von Gesundheit und Krankheit 2 Gesundheits- und Krankheitsmodelle 3 Methodische Grundlagen
– 50
4 Theoretische Grundlagen
– 95
– 14
–3
1 1 Bezugssysteme von Gesundheit und Krankheit 1.1
Gesundheit und Krankheit
–3
1.2
Die betroffene Person – 6
1.3
Die Medizin als Wissens- und Handlungssystem – 8
1.4
Die Gesellschaft – 11
> > Einleitung
Für den Patienten stellt sich Kranksein eher als Kontinuum dar: Er kann sich mehr oder weniger
1.1
Gesundheit und Krankheit
wohl, leichter oder schwerer krank fühlen. Doch auch in der Medizin sind dichotome Entscheidungen nicht immer einfach zu fällen. Insbesondere bei psychischen Störungen ist Krankheit oft nicht etwas qualitativ anderes als Gesundheit, sondern eher die extreme Ausprägung einer quantitativen Dimension: Menschen können je nach ihrer Persönlichkeit beispielsweise mehr oder weniger ängstlich sein. Ab einer bestimmten Anzahl und Intensität der Symptome handelt es sich aber nicht mehr um »normale« Ängstlichkeit, sondern eine »krankhafte« Angststörung.
1.1.1
Gesundheit und Krankheit als Dichotomie vs. Kontinuum
1.1.2
Je nach Bezugssystem können Gesundheit und Krankheit unterschiedliche Bedeutungen besitzen. Die betroffene Person bemerkt an Störungen ihres Wohlbefindens und an Beschwerden, dass sie krank ist. In der Medizin ist es das Ziel, eine Diagnose zu stellen, die wiederum die Grundlage der Behandlung ist. Für die Gesellschaft stellt Krankheit eine Abweichung von sozialen Normen dar: Ein Kranker kann bestimmte Rollen nicht mehr erfüllen, er ist beispielsweise arbeitsunfähig.
Wenn ein Patient mit bestimmten Beschwerden in die Sprechstunde kommt, ist es das Ziel des Arztes, eine Diagnose zu stellen. Er muss herausfinden, woran der Patient leidet. Erst dann kann er ihn angemessen behandeln. Die Diagnosestellung ist eine dichotome Entscheidung: Eine Krankheit liegt vor oder sie liegt nicht vor. Festgelegte diagnostische Kriterien, z. B. bestimmte organische Befunde, helfen dem Arzt, diese Entscheidung zu treffen.
Definitionen von Gesundheit
Die Definition von Gesundheit richtet sich nach dem jeweiligen Bezugssystem. In der Medizin ist Gesundheit die Abwesenheit von Krankheit (dichotomes Modell). Aus Sicht der Person umfasst Gesundheit subjektives Wohlbefinden, Handlungsvermögen, Funktionsfähigkeit im Alltag, Lebensqualität. Aus Sicht der Gesellschaft ist die Erfüllung sozialer Rollen ein zentrales Merkmal von Gesundheit.
4
1
Kapitel 1 · Bezugssysteme von Gesundheit und Krankheit
Klinik
WHO-Definition Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat Gesundheit »als Zustand des vollkommenen körperlichen, seelischen und sozialen Wohlbefindens und nicht einfach die Abwesenheit von Krankheit« definiert. Diese Definition ist zwar gut gemeint: Sie will darauf hinweisen, dass Gesundheit nicht nur eine körperliche Dimension aufweist. Aber sie ist utopisch und auch empirisch nicht haltbar: Gesundheit heißt keineswegs völliges Wohlbefinden oder auch nur Abwesenheit
1.1.3
Krankheit als Normabweichung
Je nach Bezugsystem (Biomedizin, Person, Gesellschaft), kann Krankheit als Abweichung von biologischen, verhaltensmäßigen oder sozialen Normen definiert werden. Normbegriff in Bezug auf Krankheit 4 Idealnorm. Ein Sollwert, der wünschenswert erscheint (z. B. die WHO-Definition der Gesundheit). 4 Funktionale Norm. Zustand, der mit Funktionsfähigkeit einhergeht. Beispiel: In Klassifikationssystemen für psychische Störungen wird ein Symptom dann als krankhaft bewertet, wenn es die Fähigkeit der betroffenen Person, ihren Alltag zu bewältigen, beeinträchtigt (7 Kap. 1.3.2). 4 Statistische Norm. Wenn ein individueller Wert so extrem ausfällt, dass er nur selten vorkommt (z. B. nur bei 5% der untersuchten Patienten), wird er als pathologisch gewertet. Nachteile: Alle Krankheiten haben dieselbe Häufigkeit (hier: 5 %). Wenn man nur ausreichend viele Untersuchungen durchführt, findet man auch bei Gesunden einen pathologischen Wert. 4 Diagnostische Norm. Ein diagnostischer Test kann normal ausfallen (»negativ«) oder nicht (»positiv«). Hier wird als Kriterium angelegt, dass mit einer hohen Wahr-
6
von Beschwerden. Viele epidemiologische Untersuchungen haben gezeigt, dass mehr als 80% der befragten Mitglieder der gesunden Allgemeinbevölkerung in der vorausgegangenen Woche mindestens ein belastendes körperliches Symptom, wie z. B. Rückenschmerzen oder Kopfschmerzen, hatten. Körperliche Beschwerden sind auch bei Gesunden häufig. Sie sind meist harmlos und gehen von alleine wieder vorbei, ohne dass sich die betroffene Person deshalb als krank definiert oder einen Arzt aufsucht.
scheinlichkeit die gesuchte Krankheit vorliegt, wenn der Test positiv ausfällt. Wie diese Wahrscheinlichkeit berechnet wird, wird in Kap. 3.2 gezeigt. 4 Therapeutische Norm. Normale Werte erfordern keine Behandlung, nicht normale Werte schon. Blutdruckwerte werden beispielsweise dann nicht mehr als normal bewertet, wenn durch eine Therapie das erhöhte Risiko für Folgeerkrankungen wie Herzinfarkt und Schlaganfall vermindert werden kann. Studien zeigten, dass dies schon bei Werten der Fall ist, die früher noch als normal galten; deshalb wurden die Obergrenzen für normalen Blutdruck in den letzten Jahren immer weiter nach unten verschoben.
1.1.4
Biopsychosoziales Krankheitsmodell
Der modernen Medizin liegt ein biopsychosoziales Krankheitsmodell zugrunde. Damit ist gemeint, dass biologische (z. B. Gene), psychische (z. B. Stress) und soziale Faktoren (z. B. Schichtzugehörigkeit) die Entstehung einer Krankheit fördern können, und dass Krankheiten wiederum Auswirkungen auf biologischer, psychischer (z. B. Depression) und sozialer Ebene (z. B. Erwerbsunfähigkeit) haben können.
5 1.1 · Gesundheit und Krankheit
1.1.5
Begriffsklärungen
Zentrale Begriffe bei Entstehung und Verlauf von Krankheiten Ätiologie. Krankheitsursachen/Risikofaktoren. Beispiel: Bluthochdruck (Hypertonie) ist eine der Krankheitsursachen des Herzinfarkts. Pathogenese. Prozess der Krankheitsentstehung. Vereinfachtes Beispiel: Bluthochdruck führt zu Verengung (Atherosklerose) der Herzkranzgefäße (koronare Herzkrankheit). Beim vollständigen Verschluss eines verengten Herzkranzgefäßes durch ein Blutgerinnsel (Thrombus) kommt es zum Herzinfarkt. Chronifizierung. Übergang in eine chronische (dauerhafte) Krankheit. Beispiel: chronische Rückenschmerzen. Im Unterschied zu akuten Schmerzen lassen sich bei chronischen Rückenschmerzen meist keine organischen Ursachen finden. Remission. Rückbildung von Krankheitszeichen. Beispiele: Rückgang der Entzündungszeichen bei einer chronisch-rezidivierenden rheumatischen Erkrankung; Verschwinden eines Tumors nach erfolgreicher Therapie. Rezidiv. Rückfall im Heilungsprozess. Beispiele: Wiederauftreten eines Tumors viele Jahre nach der erfolgreichen Primärbehandlung; erneuter Herzinfarkt.
! Ein Risikofaktor ist ein Merkmal, dessen Vorhandensein mit einem erhöhten Risiko für eine Krankheit einhergeht. Beispiel: Bluthochdruck ist ein Risikofaktor des Herzinfarkts. »Risikofaktor« ist der Oberbegriff für »Risikoindikator« und »kausaler Risikofaktor«. Risikoindikator vs. kausaler Risikofaktor. Ein Risi-
kofaktor für eine Erkrankung kann eine Vorhersage in Bezug auf das Krankheitsrisiko erlauben, ohne
1
dass er dieses Risiko selbst kausal beeinflussen muss. Analog kann ein prognostischer Faktor im Krankheitsverlauf die Prognose vorhersagen, ohne sie kausal zu bestimmen. Beispiel: Alkoholabhängige haben ein erhöhtes Risiko für Lungenkrebs. Alkoholmissbrauch ist also ein Risikofaktor für Lungenkrebs. Aber es ist nicht der Alkohol, der Lungenkrebs verursacht. Die Ursache für die Risikoerhöhung ist etwas anderes: Alkoholiker sind oft auch starke Raucher, und Rauchen verursacht Lungenkrebs. Rauchen ist also ein kausaler Risikofaktor für Lungenkrebs. Dass Alkoholmissbrauch ein Risikofaktor für Lungenkrebs ist, liegt also daran, dass Alkoholmissbrauch oft gemeinsam mit Rauchen vorkommt. Alkoholmissbrauch ist kein kausaler Risikofaktor; für sich genommen, also ohne die Koppelung mit Rauchen, würde er das Lungenkrebsrisiko nicht erhöhen. Einen Risikofaktor, der nicht kausal ist, aber gleichwohl ein erhöhtes Risiko anzeigt, nennt man einen Risikoindikator (engl. marker). ! Ein kausaler Risikofaktor trägt ursächlich zu einem erhöhten Krankheitsrisiko bei. Ein Risikoindikator zeigt lediglich ein erhöhtes Krankheitsrisiko an, hat aber keinen ursächlichen Einfluss auf die Krankheitsentstehung. Protektive Faktoren sind Schutzfaktoren, die mit einem geringeren Risiko für eine Krankheit einhergehen. Beispiel: Körperliche Aktivität und gesunde Ernährung vermindern das Risiko eines Herzinfarkts. ! Resilienz bedeutet Widerstandsfähigkeit. Resilienz ist ein psychologischer Schutzfaktor, der bewirkt, dass trotz ungünstiger Lebensbedingungen keine psychische Störung oder körperliche Erkrankung auftritt. Wodurch Resilienz entsteht, ist noch weitgehend ungeklärt. Das Vorhandensein einer zuverlässigen Bezugsperson spielt aber wohl eine wichtige Rolle.
1
6
Kapitel 1 · Bezugssysteme von Gesundheit und Krankheit
1.2
Die betroffene Person
1.2.1
Subjektives Befinden und Erleben
Wohlbefinden. Ein wichtiges Kennzeichen von Gesundheit (health) aus der Sicht der betroffenen Person ist das Wohlbefinden. Sich krank fühlen heißt, sich nicht wohl fühlen. Viele Menschen machen Kranksein (illness) aber zudem an einer Einschränkung ihres Handlungsvermögens fest: Wenn die Beschwerden so stark sind, dass ich nicht zur Arbeit gehen kann, dann definiere ich mich als krank. Mit einem leichten Schnupfen gehe ich noch in die Uni, mit Fieber aber nicht mehr. Die zunehmende Beeinträchtigung von Wohlbefinden und Handlungsvermögen vom Schnupfen über den grippalen Infekt mit Hals- und Kopfschmerzen bis zur richtigen Grippe mit hohem Fieber ist ein Beispiel für das Kontinuum von gesund bis krank (7 Kap. 1.1.1). Symptomwahrnehmung. Menschen unterschei-
den sich darin, wie leicht sie Störungen ihres Wohlbefindens wahrnehmen, eine Körperempfindung als Beschwerdesymptomatik oder Krankheitszeichen erleben. Hierbei spielen emotionale und kognitive Einflüsse eine Rolle. Als »Kognitionen« werden Gedanken im weitesten Sinne bezeichnet: Interpretationen, Bewertungen, Ursachenvorstellungen etc. Erst durch die bewusste Wahrnehmung einer körperlichen Empfindung und ihre Interpretation als mögliches Zeichen einer Krankheit entsteht für die betroffene Person ein Anlass, zum Arzt zu gehen. Vergleicht man Menschen, die wegen bestimmter körperlicher Beschwerden zum Arzt gegangen sind (Patienten), mit Menschen, die die gleichen Beschwerden haben, aber deswegen keinen Arzt aufsuchten, so finden sich zwei Unterschiede: 1. Die Patienten sind psychisch stärker belastet (ängstlich, depressiv). 2. Die Patienten interpretieren ihre Beschwerden häufiger als Anzeichen einer schweren Krankheit (z. B. Krebs). Emotionale (Angst, Depressivität) und kognitive (Krankheitsinterpretation) Einflüsse tragen also
dazu bei, ob eine Person Symptome wahrnimmt, sich als krank erlebt und zum Arzt geht. Eine Depression geht mit erhöhter Wahrnehmung körperlicher Beschwerden unterschiedlicher Lokalisation einher. Zugleich interpretieren die Betroffenen ihre psychischen Beschwerden wie Niedergeschlagenheit, Energiemangel und Verlust der Lebensfreude oft nicht als Zeichen einer Krankheit, die man behandeln kann, sondern stellen an sich den Anspruch, es alleine zu schaffen. Der Arzt muss den Betroffenen deshalb zunächst vermitteln, dass ihre Beschwerden Ausdruck einer Depression sind. Hypochondrie ist eine psychische Störung, bei der die betroffene Person fest davon überzeugt ist, an einer bestimmten Krankheit (z. B. Krebs oder AIDS) zu leiden, auch wenn sich dafür keine Anzeichen finden lassen. Die somatoforme Störung wird in Kap. 1.3.3 behandelt. Schmerz ist das Paradebeispiel für ein subjektives Symptom, das einem Außenstehenden nicht zugänglich ist (7 Kap. 2.2.2).
1.2.2
Körperwahrnehmung
Die Körperwahrnehmung kann danach differenziert werden, worauf sie sich richtet: ! 4 Interozeption: Wahrnehmung von Vorgängen und Zuständen innerhalb des eigenen Körpers (Oberbegriff). 4 Propriozeption: Lage- und Bewegungswahrnehmung des Körpers im Raum. Die Propriozeption erfolgt meist unbewusst. Sie stellt über Reflexe und unbewusste Ausgleichsbewegungen sicher, dass wir bei Änderungen der Körperhaltung nicht das Gleichgewicht verlieren. 4 Viszerozeption: Wahrnehmung der inneren Organe. Menschen sind nicht besonders gut in der Wahrnehmung ihrer inneren Körperfunktionen. Beispiel: Subjektiv eingeschätzter und objektiv gemessener Blutdruck stimmen nicht überein. 4 Nozizeption: Schmerzwahrnehmung (7 Kap. 2.2.2).
7 1.2 · Die betroffene Person
1.2.3
Subjektive Gesundheit, gesundheitsbezogene Lebensqualität
Unter der gesundheitsbezogenen Lebensqualität wird die subjektive Einschätzung des eigenen Gesundheitszustands (subjektive Gesundheit) verstanden. Die Verbesserung der Lebensqualität des Patienten ist ein wichtiges Ziel der medizinischen Behandlung. Deshalb wird die gesundheitsbezogene Lebensqualität in jüngster Zeit zunehmend als Kriterium des Therapieerfolgs herangezogen, zusätzlich zu biomedizinischen Kriterien wie Normalisierung pathologischer Befunde oder Überlebenszeit. Objektive Befunde und subjektives Erleben stehen nicht notwendigerweise in einem engen Zusammenhang. Umso wichtiger ist es, die subjektive Sicht der betroffenen Person zu berücksichtigen. Dies gilt insbesondere bei chronischen Krankheiten, wo das Behandlungsziel meist nicht die Heilung sein kann, sondern der Betroffene lernen muss, mit seiner Krankheit zu leben. Gerade chronische Krankheiten bringen eine Reihe von Einschränkungen der Lebensqualität mit sich. Dazu gehören andauernde körperliche Beschwerden (z. B. Fatigue, d. h. chronische Müdigkeit), Einschränkungen von Alltagsaktivitäten (z. B. Gehen, Treppensteigen, Heben und Tragen), emotionale Belastungen (Depression, Angst) und verminderte berufliche Leistungsfähigkeit. ! Die gesundheitsbezogene Lebensqualität setzt sich aus vier Kerndimensionen zusammen: 4 körperliche Beschwerden (z. B. Schmerz, Fatigue), 4 psychisches Befinden (z. B. Depression, Angst), 4 Funktionszustand (z. B. Fähigkeit, Treppen zu steigen), 4 soziale Rollen (z. B. berufliche Leistungsfähigkeit). Messinstrumente. Obwohl die Beurteilung des eigenen Gesundheitszustands etwas sehr Subjektives ist, lässt sich das Ergebnis dieser Beurteilung objektiv erfassen. Es existieren Fragebögen, mit denen die Beeinträchtigung der Lebensqualität gemessen werden kann. Ein internationales Standardinstrument zur Messung der gesundheitsbezogenen Lebensqualität
1
ist die Short Form 36 (SF-36). Der SF-36 ist ein generischer (krankheitsübergreifender) Fragebogen. Er ist so allgemein angelegt, dass er bei den unterschiedlichsten Krankheitsbildern und auch bei Gesunden eingesetzt werden kann. Daneben gibt es eine große Zahl von krankheitsspezifischen Fragebögen, die nur jeweils bei einer bestimmten Krankheit verwendet werden. Während generische Fragebögen einen Vergleich der Lebensqualität zwischen verschiedenen Krankheiten ermöglichen, sind krankheitsspezifische meist detaillierter und genauer auf die konkrete Situation bei einer bestimmten Krankheit zugeschnitten und deshalb oft besser in der Lage, Veränderungen im Verlauf der Krankheit oder der Behandlung abzubilden (Änderungssensitivität). Die vom Patienten beurteilte Lebensqualität stimmt nicht unbedingt mit objektiven Indikatoren der Krankheitsschwere überein. Dennoch enthält sie wichtige Information, die durch medizinische Befunde nicht ausreichend erfasst wird. Dies kann man daran ablesen, dass die subjektive Gesundheitseinschätzung durch den Betroffenen vorhersagekräftig für die Mortalität ist, und zwar auch bei Kontrolle der medizinischen Prognosefaktoren. Dies wurde sowohl in der gesunden Allgemeinbevölkerung als auch bei Krebskranken nachgewiesen.
1.2.4
Subjektive Krankheitstheorien
Nicht nur der Arzt, der eine Diagnose stellt, auch die Patienten selbst entwickeln Vorstellungen von ihrer Krankheit. Diese Vorstellungen nennt man subjektive Krankheitstheorien: subjektiv, weil es sich um persönliche Modelle handelt, im Unterschied zu den objektiven Modellen der Wissenschaft; Theorien, weil sie durchaus komplex sein können, wenn auch nicht so widerspruchsfrei und konsistent wie wissenschaftliche Theorien. Oft werden sie vom Patienten auch nicht direkt ausgesprochen, sind also implizit und müssen vom Arzt erfragt werden. Auch sind sie von Emotionen sowie den Bedürfnissen in der jeweiligen Situation beeinflusst und können sich dementsprechend schnell ändern. Subjektive Krankheitstheorien spielen, wie schon weiter oben erwähnt, bei der Interpretation von Beschwerden eine Rolle: »Was bedeutet dieses Ziehen im Brustkorb? Könnte es das Anzeichen
8
1
Kapitel 1 · Bezugssysteme von Gesundheit und Krankheit
eines Herzinfarkts sein?« Sie gehen jedoch noch darüber hinaus: Komponenten einer subjektiven Krankheitstheorie 4 Ursachen: »Woher kommt meine Erkrankung?« Die Ursachenzuschreibung wird auch Kausalattribution oder Laienätiologie genannt. 4 Krankheitsbild: »Woran leide ich eigentlich?« »Welche Symptome gehören zu dieser Krankheit?« 4 Verlauf: »Verläuft diese Krankheit akut oder chronisch?« 4 Behandlung: »Was wird mir am besten helfen?« 4 Auswirkungen: »Wird diese Krankheit bleibende Schäden hinterlassen?« »Werde ich wieder in meinen Beruf zurückkehren können?«
Auswirkungen subjektiver Krankheitstheorien Obwohl subjektive Krankheitstheorien oft nicht mit den wissenschaftlichen Theorien der Medizin übereinstimmen, sind sie dennoch wichtig für die medizinische Behandlung und die Arzt-Patient-Beziehung: 4 Sie beeinflussen die Mitarbeit bei der Behandlung (Compliance, 7 Kap. 5.5.2), weil ein Patient nur dann den Empfehlungen des Arztes folgt, wenn sie auch aus seiner eigenen Sicht plausibel sind. 4 Sie beeinflussen das emotionale Befinden. Beispiel: Krebskranke, die eine psychosomatische Krankheitstheorie haben und sich selbst eine Mitschuld an der Entstehung des Tumors zuschreiben, sind depressiver als diejenigen, die das nicht tun. 4 Sie sagen die berufliche Wiedereingliederung voraus. Die vom Patienten abgegebene prognostische Einschätzung, ob er nach Abschluss der Rehabilitation in der Lage sein werde, seine Arbeit wieder aufzunehmen oder nicht, sagt die tatsächliche Wiederaufnahme der beruflichen Tätigkeit am besten vorher, und zwar unabhängig von der Krankheitsschwere (die ebenfalls prognostisch bedeutsam ist).
1.3
Die Medizin als Wissensund Handlungssystem
1.3.1
Medizinische Befunderhebung und Diagnose
Informationsquellen. Wenn ein Patient zum ers-
ten Mal in die Sprechstunde kommt, muss der Arzt Befunde erheben und eine Diagnose stellen. Hierfür hat er mehrere Informationsquellen zur Verfügung: Er befragt den Patienten nach seinen Beschwerden (Exploration) und erhebt die Vorgeschichte der Krankheit (Anamnese; zur Gesprächsführung 7 Kap. 6.2). Gleichzeitig achtet er auf das Verhalten des Patienten, beobachtet z. B., ob ein Patient mit chronischen Rückenschmerzen den Schmerz eher nüchtern oder dramatisch schildert (Verhaltensbeobachtung). Anschließend führt er eine körperliche Untersuchung durch. Er prüft z. B. bei einem Rückenschmerzpatienten die Reflexe am Bein, um festzustellen, ob neurologische Ausfälle vorhanden sind, die eine gezielte Therapie erfordern. In den meisten Fällen lässt sich eine Diagnose allein auf der Basis von Befragung, Anamneseerhebung und körperlicher Untersuchung stellen. Manchmal sind aber weitere Tests (z. B. Laboruntersuchungen) notwendig. Insbesondere bildgebende (z. B. CT, MRT, PET; 7 Kap. 3.6.3) und endoskopische Verfahren haben in den letzten Jahren eine immer größere Bedeutung gewonnen, weil sie sehr detaillierte Informationen über Organstrukturen und -funktionen liefern.
1.3.2
Grundzüge von Klassifikationssystemen
Zur Diagnosestellung benutzt der Arzt ein Klassifikationssystem, in dem alle verfügbaren Diagnosen zusammengestellt sind. ! Die zwei wichtigsten Klassifikationssysteme sind: 4 äICD-10 (Internationale Klassifikation der Krankheiten, 10. Version; International Classification of Diseases, herausgegeben von der WHO). 6
9 1.3 · Die Medizin als Wissens- und Handlungssystem
4
äDSM-IV (Diagnostisches und Statistisches Manual Psychischer Störungen, 4. Version; Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders, herausgegeben von der American Psychiatric Association).
Die ICD-10 erfasst in 21 Kapiteln körperliche und psychische (Kapitel F) Krankheiten. Die ICD-10 hat drei Achsen (1. Diagnosen; 2. psychosoziale Funktionsfähigkeit; 3. Belastungsfaktoren). Sie ist in Deutschland für die Dokumentation von Diagnosen verbindlich. Das DSM-IV wurde für psychische Störungen entwickelt und wird vor allem in wissenschaftlichen Untersuchungen eingesetzt. Beide Diagnosesysteme stimmen bei der Einteilung psychischer Störungen allerdings weitgehend überein. Das DSM-IV ist ebenfalls multiaxial angelegt und erlaubt neben der Diagnose einer psychischen Störung (z. B. Angststörung) auf einer zweiten Diagnoseachse auch die Kodierung einer eventuell zusätzlich vorliegenden Persönlichkeitsstörung (z. B. vermeidend-selbstunsichere Persönlichkeitsstörung). Drei weitere Achsen dienen der Verschlüsselung medizinischer Einflussfaktoren (z. B. Erkrankungen des Kreislaufsystems), von psychosozialen
Problemen im Umfeld (z. B. berufliche Probleme) sowie des Funktionsniveaus des Patienten (Leistungsfähigkeit im Alltag). In Ergänzung zu ICD bzw. DSM wird in der medizinischen Rehabilitation die ICF (Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit) eingesetzt, um die Folgen einer Krankheit für die Ausübung von Alltagsaktivitäten und die Teilhabe an Beruf und Gesellschaft zu beurteilen (7 Kap. 10.5.1). Operationale, kriterienorientierte Diagnostik. In diesen Systemen werden Diagnosen operational
definiert, d. h., es ist sehr genau festgelegt, welche Kriterien erfüllt sein müssen, damit eine Diagnose vergeben werden kann. Die Kriterien betreffen z. B. die Dauer (z. B. »mindestens 2 Wochen«), Häufigkeit (z. B. »fast jeden Tag«), Intensität (»so stark, dass Funktionsbereiche im Alltagsleben beeinträchtigt sind«) und Anzahl (z. B. »von den folgenden 8 Symptomen müssen mindestens 5 vorhanden sein«) der Symptome. Mit dieser kriterienorientierten Diagnostik lässt sich eine bessere Übereinstimmung unterschiedlicher Beurteiler (höhere Interrater-Reliabilität) erzielen als mit der traditionellen, »intuitiven« klinischen Diagnostik.
Klinik
Depression Wenn bei einem Patienten eine bestimmte Zahl von depressiven Symptomen vorliegt und auch weitere Kriterien, wie Dauer und Intensität der Symptome sowie Beeinträchtigung im Alltag, erfüllt sind, wird die Diagnose einer depressiven Episode gestellt. Ob diese depressive Episode eher durch biologische Faktoren oder durch psychosoziale Einflüsse oder durch eine Kombination von beidem zustande kommt, ist dafür unerheblich. Früher hat man bei der Diagnose einer Depression zwei Formen unterschieden: die durch Umweltbelastungen ausgelöste neurotische Depression, die mit Psychotherapie behandelt wurde, und die biologisch bedingte endogene Depression, die durch Medikamente behandelt wurde. Diese Unterscheidung wurde inzwischen aufgegeben. Hierfür gab es zwei Gründe:
1
1. Umweltstress spielt auch bei den früher als endogen bezeichneten Depressionen eine Rolle, und genetische Faktoren sowie eine Störung des Serotoninstoffwechsels sind auch bei den für neurotisch gehaltenen Depressionen bedeutsam. 2. Auch »neurotische« Depressionen sprechen auf antidepressive Medikamente an, und auch bei »endogenen« Depressionen hilft Psychotherapie. Die ätiologische Einteilung war also wissenschaftlich nicht begründet und bewirkte zudem, dass den betroffenen Patienten manchmal eine wirksame Therapie vorenthalten wurde. Deshalb wird eine Depression heutzutage allein aufgrund der vorhandenden Symptome diagnostiziert. Hierzu wird ein strukturiertes klinisches Interview durchgeführt.
10
1
Kapitel 1 · Bezugssysteme von Gesundheit und Krankheit
Vorteile von Klassifikationssystemen. Klassifi-
kationssysteme erleichtern die Therapieplanung, insofern für viele Diagnosen Therapieempfehlungen (Leitlinien) existieren, die auf dem aktuellen Stand der Forschung basieren (evidenzbasierte Medizin, 7 3.8.3). Da sie eine Verschlüsselung (Kodierung) der Diagnosen erlauben, erleichtern sie die Dokumentation. Eine klare, eindeutige Diagnose ist auch für die Kommunikation zwischen den in den Behandlungsprozess einbezogenen Ärzten (z. B. Allgemeinarzt und Facharzt) unbedingt notwendig. Diagnosesysteme müssen jedoch kontinuierlich weiterentwickelt werden, wenn sich neue Ergebnisse der Forschung zeigen. Deshalb liegen sie in inzwischen mehrfach revidierten Versionen vor.
1.3.3
Konvergenz und Divergenz von subjektivem Befinden und medizinischem Befund
Subjektives Befinden (illness) und objektiver Befund (disease) stimmen manchmal nicht überein. Beispiel: Menschen mit Bluthochdruck haben meist keine Beschwerden; sie fühlen sich gesund, obwohl sie aus medizinischer Sicht krank sind (»gesunde Kranke«). Umgekehrt kann ein Mensch körperliche
Beschwerden haben, ohne dass ein pathologischer Befund vorliegt (»kranke Gesunde«) ! Unter Somatisierung versteht man die Angabe körperlicher Beschwerden, für die sich keine ausreichende körperliche Erklärung finden lässt, die hingegen Ausdruck von psychischem Stress sind.
Im Vorfeld der Beschwerden findet man bei genauem Nachfragen belastende Lebensereignisse oder chronischen psychischen Stress. Infolgedessen sind die betroffenen Personen emotional belastet, ängstlich oder depressiv. Sie nehmen diese Belastung jedoch nicht bewusst wahr, sondern bringen sie in Form körperlicher Beschwerden zum Ausdruck. Dass man unter Stress anfälliger dafür ist, sich auch körperlich unwohl zu fühlen, ist normal; bei manchen Menschen verfestigen sich die Beschwerden jedoch, und sie sind davon überzeugt, an einer organischen Krankheit zu leiden, auch wenn sich kein organischer Befund finden lässt. Dann spricht man von einer Somatisierungsstörung. Das in der Klinikbox dargestellte Beschwerdebild erfüllt die diagnostischen Kriterien für eine ä Somatisierungsstörung nach ICD-10: 1. mindestens 2 Jahre anhaltende multiple und unterschiedliche körperliche Symptome, für die
Klinik
Somatisierungsstörung (somatoforme Störung) Eine 28-jährige Sekretärin kommt mit seit mehreren Wochen bestehenden Oberbauchbeschwerden in die Sprechstunde. Sie klagt über Übelkeit, Aufstoßen, Völlegefühl und Magenschmerzen. Zeitweise kommen auch Blähungen sowie Durchfall und Verstopfung im Wechsel hinzu. Anamnestisch berichtet sie über Herzschmerzen, Herzrasen und anfallsweise Atemnot vor 2 Jahren. Sie leide auch seit vielen Jahren an Kopf- und Rückenschmerzen sowie Menstruationsbeschwerden wechselnder Stärke. Die Patientin fühlt sich durch ihre Beschwerden im Alltag sehr beeinträchtigt und war schon häufig arbeitsunfähig. In jüngster Zeit macht sie sich auch Sorgen, ob hinter den Beschwerden
nicht eine schwere Krankheit steht. Auf Befragen gibt sie an, oft ängstlich und niedergeschlagen zu sein. Sie leide darunter, dass sie von ihrem Chef nicht die Anerkennung erhalte, die ihr zustehe. Vor zwei Jahren, als die Herzbeschwerden auftraten, habe sie eine schwere Partnerschaftskrise durchlebt, die zur Trennung führte. Zusammenhänge zwischen ihrer Lebenssituation und den Beschwerden weist die Patientin zurück. Die körperliche Untersuchung und die sicherheitshalber durchgeführte Gastroskopie (Magenspiegelung) erbringen keinen pathologischen Befund (wie auch schon entsprechende Untersuchungen in der Vergangenheit). Obwohl der Arzt versucht, der Patientin den negativen Befund vorsichtig nahe zu bringen, reagiert sie ärgerlich und weigert sich, seine Beruhigung zu akzeptieren.
11 1.4 · Die Gesellschaft
keine ausreichende somatische Erklärung gefunden wurde; 2. hartnäckige Weigerung, die Versicherung anzunehmen, dass keine körperliche Erklärung zu finden ist; 3. Beeinträchtigung familiärer und sozialer Funktionen durch die Symptome. Die Somatisierungsstörung gehört in die Oberkategorie der somatoformen Störungen. »Somatoform« werden diese Störungen genannt, weil sie wie eine somatische Erkrankung aussehen können, ohne dass sich aber eine organische Ursache finden lässt. Typisch für die Somatisierungsstörung sind viele und wechselnde Symptome sowie ein chronischer Verlauf mit Arztwechseln und wiederholten Untersuchungen, die keinen organischen Befund ergeben. Die Patienten sind in ihrer Lebensqualität stark beeinträchtigt, häufig arbeitsunfähig und werden teilweise frühberentet. Manchmal findet sich infolge der vielen Untersuchungen auch einmal per Zufall ein auffälliger Wert, der die Beschwerden aber nicht wirklich erklären kann. Man muss sich dann davor hüten, den Patienten, die sehr von einer organischen Verursachung ihrer Beschwerden überzeugt sind, eine Pseudodiagnose zu geben, weil dadurch ihre organbezogene subjektive Krankheitstheorie noch verstärkt würde (iatrogene Fixierung). Hilfreich ist es hingegen, die Patienten regelmäßig zum Gespräch einzubestellen und Schritt für Schritt ein psychosomatisches Krankheitsverständnis zu wecken. Auf diese Weise können die Patienten einen Zusammenhang zwischen ihrer Lebenssituation, belastenden Emotionen und den körperlichen Beschwerden entdecken. Dabei könnte man etwa folgende Frage stellen: »Manchmal haben Menschen solche Beschwerden oder Probleme, weil sie sich wegen irgend etwas Sorgen machen. Ist in der letzten Zeit irgendetwas vorgefallen, was Ihnen Sorgen bereitet?«
1.4
Die Gesellschaft
1.4.1
Soziale Normen und rechtliche Regelungen
1
Aus medizinsoziologischer Sicht ist Kranksein (sickness) eine Abweichung von der Norm des Gesundseins (Devianz). Ein Kranker kann die an einen Gesunden gerichteten Rollenerwartungen nicht erfüllen. Er ist nicht in der Lage, seine Arbeit auszuüben. Damit Kranke keine negativen Sanktionen wegen dieser Rollenabweichung erfahren, gibt es rechtliche Regelungen, die ihren Zustand legitimieren: Wenn ein Mensch akut erkrankt ist, kann die Arbeitsunfähigkeit vom Arzt bescheinigt werden (»Krankschreibung«). Als Kranker muss er dann nicht zur Arbeit gehen und erhält Lohnfortzahlung vom Arbeitgeber und später Krankengeld von der Krankenkasse (zur Krankenrolle 7 Kap. 5.3). Wenn ein Mensch dauerhaft krankheitsbedingt erwerbsunfähig ist, kann er auf der Basis eines sozialmedizinischen Gutachtens frühberentet werden. Zuvor sollten jedoch die Möglichkeiten der medizinischen Rehabilitation ausgeschöpft werden (»Reha vor Rente«). Für die Festlegung des Grades der Pflegebedürftigkeit (Pflegestufen) im Rahmen der Pflegeversicherung ist ebenfalls ein ärztliches Gutachten erforderlich (7 Kap. 11.2). Auch die Kosten für eine medizinische Rehabilitationsmaßnahme oder eine Psychotherapie werden erst nach einem ärztlichen Gutachten übernommen. Die ärztliche Beurteilung in einem Gutachten kann für den Patienten also gravierende Folgen haben. Der Arzt steht dabei im Spannungsfeld zwischen seinem medizinischen Wissen, den Interessen des Patienten und den juristischen und gesellschaftlichen Vorgaben. Soziokulturelle Bewertungen. Gesellschaftliche
Wertvorstellungen beeinflussen auf subtile Weise Kranksein und Krankheit. Einige Beispiele: Essstörungen wie die Bulimie werden in jüngster Zeit immer häufiger diagnostiziert. Ob es sich dabei um eine reale Zunahme dieser Störungsbilder handelt oder eher um eine größere Aufmerksamkeit bei Betroffenen und Ärzten (»Modekrankheiten«), ist noch unklar. Schlank und fit zu sein sind gegenwärtig zentrale Idealvorstellungen junger Frauen.
12
1
Kapitel 1 · Bezugssysteme von Gesundheit und Krankheit
Diäten und das Essverhalten nehmen in Zeitschriften für Frauen viel Raum ein. Die Mehrzahl der Schülerinnen hat deshalb schon einmal eine Diät ausprobiert. Die Gewichtsabnahme nach einer Diät stellt aber den wichtigsten Auslöser für eine Essstörung dar. Geschlechtsspezifische Unterschiede bezüglich Gesundheit und Krankheit werden ausführlich in Kap. 4.9.6 behandelt.
1.4.2
Stigmatisierung und Diskriminierung psychisch Kranker und Behinderter
Stigmatisierung. Das Verhalten von Menschen
mit schweren psychischen Störungen wie einer akuten Psychose, bei der die Realitätsprüfung außer Kraft gesetzt ist, wird von anderen Menschen manchmal als unberechenbar und bedrohlich erlebt. Wenn ein Kranker während des akuten Schubs einer paranoid-halluzinatorischen Schizophrenie Stimmen hört, die sein Handeln kommentieren und ihm Befehle erteilen, oder den Wahn entwickelt, vom Geheimdienst verfolgt zu werden, können seine Handlungen von der Umgebung oft nicht mehr nachvollzogen werden. Möglicherweise verkennt er sein Gegenüber als Geheimagent und greift ihn unvermittelt an. Obwohl es sich bei den bizarren Gewalttaten, über die in den Medien berichtet wird, um Einzelfälle handelt und Gewaltverbrechen bei psychisch Kranken nicht wesentlich häufiger vorkommen als bei Gesunden, verzerren sie doch das Bild des psychisch Kranken in der Öffentlichkeit. Es wird mit einem negativen Stereotyp (Vorurteil) Klinik Labeling-Ansatz. Der Labeling-Ansatz (label = Etikett) versuchte, die Entstehung und Aufrechterhaltung psychischer Störungen damit zu erklären, dass die Etikettierung als »psychisch krank« die Störung erst erzeuge. Sein Verdienst besteht darin, auf Stigmatisierungsprozesse hinzuweisen, die zu einer Verfestigung und Chronifizierung beitragen können (sekundäre Devianz; 7 Kap. 10.6.2). Er überzieht sein Argument jedoch, insofern er biologische Bedingungen psychischer Störungen und das Leiden der Be-
verknüpft. Ein Stigma ist entstanden: »Psychisch Kranke sind gefährlich!« Zwar lassen sich solche Gewalttaten oft nicht vorhersehen, sie wären aber meist zu verhindern, wenn der Betroffene angemessen psychiatrisch behandelt würde. Die Stigmatisierung betrifft nicht nur die Kranken selbst, sondern auch die Institutionen, in denen sie behandelt werden. In vielen Filmen werden psychiatrische Kliniken noch immer wie die Irrenanstalten der Vergangenheit dargestellt, in denen die Kranken verwahrt wurden. Die großen psychiatrischen Landeskrankenhäuser »auf der grünen Wiese« haben ihre Bettenzahlen in den letzten Jahrzehnten jedoch drastisch reduziert und umfangreiche therapeutische Angebote eingeführt. Insbesondere die medikamentöse Therapie (Neuroleptika), mit der psychotische Symptome wie Wahn und Halluzinationen unterdrückt werden können, hat die Abkehr von der Verwahrpsychiatrie ermöglicht. Hinzu kommen neuere Ansätze wie wohnortnahe ambulante Therapieangebote, betreute Wohngemeinschaften, Tageskliniken und psychiatrische Abteilungen an allgemeinen Krankenhäusern, die der Stigmatisierung psychisch Kranker entgegenzuwirken versuchen. Sogenannte Awareness- oder Antistigma-Programme wie z.B. das Kompetenznetz Schizophrenie oder das Kompetenznetz Depression (7 Kap. 11.1.3) versuchen, durch Öffentlichkeitsarbeit das Bewusstsein für eine psychische Krankheit in der Allgemeinbevölkerung zu fördern und Vorurteilen entgegenzuwirken. Diskriminierung. Psychisch Kranke, aber auch
körperlich Behinderte (7 Kap. 10.6.2) stoßen noch
troffenen nicht ausreichend berücksichtigt. In seiner modifizierten Form behauptet der Etikettierungsansatz heute nur noch, dass Stigmatisierung den Verlauf einer psychischen Störung ungünstig beeinflusst, vor allem wenn die Betroffenen das Stigma selbst übernehmen. Aus Scham und Schuldgefühlen heraus versuchen sie, die Erkrankung geheim zu halten, ziehen sich von anderen Menschen zurück und begeben sich dadurch der Möglichkeit, Hilfe und Unterstützung in Anspruch zu nehmen.
13 1.4 · Die Gesellschaft
immer auf gesellschaftliche Ablehnung und Benachteiligung. Sie können Schwierigkeiten haben, einen Arbeitsplatz oder eine Wohnung zu finden. In milderer Form kommen Stigmatisierung und Diskriminierung auch bei einer Depression vor, die einen Gesunden nicht so fremdartig anmuten wie eine Psychose. Aus Angst vor Stigmatisierung wenden sich die Betroffenen zu spät an einen Arzt oder Psychotherapeuten, oder sie präsentieren statt ihrer psychischen Probleme zunächst körperliche Beschwerden, was es dem Arzt erschwert, die korrekte Diagnose zu stellen. Psychische Störungen wie Depression und Angststörung werden deshalb in der Primärversorgung nur in der Hälfte der Fälle erkannt. Die oben erwähnten Kompetenznetze versuchen, diese Defizite auszugleichen. Eines ihrer Ziele ist es, Wissen und Kompetenz bei den Ärzten in der Primärversorgung zu verbessern, damit psychische Störungen in höherem Maße erkannt und angemessen behandelt werden. v Lernziele Gesundheit und Krankheit als Dichotomie vs. Kontinuum; Normbegriffe, WHO-Definition der Gesundheit, biopsychosoziales Krankheitsmodell; Risikofaktor (kausal vs. nicht kausal), Schutzfaktor, Resilienz; Interozeption, Propriozeption, Viszerozeption, Nozizeption; gesundheitsbezogene Lebensqualität (Kerndimensionen); subjektive Krankheitstheorie; multiaxiale Klassifikationssysteme (ICD-10, DSM-IV); Somatisierung, iatrogene Fixierung; Stigmatisierung, Diskriminierung.
Ì Vertiefen Flick U (Hrsg) (1998) Wann fühlen wir uns gesund? Subjektive Vorstellungen von Gesundheit und Krankheit. Juventa, Weinheim (Sammelband mit interessanten Beiträgen zum Gesundheitserleben aus Sicht der Patienten) Kraemer HC, Lowe KK, Kupfer DJ (2005) To your health: How to understand what research tells us about risk. Oxford University Press, New York (erklärt auf verständliche Weise das Risikofaktorenmodell) Myrtek M (1998) Gesunde Kranke – kranke Gesunde. Psychophysiologie des Krankheitsverhaltens. Bern, Huber (Einführung in die Konzepte Krankheitsverhalten, Somatisierung, Interozeption)
1
2 2 Gesundheits- und Krankheitsmodelle 2.1
Verhaltensmodelle
– 14
2.2
Psychobiologische Modelle – 23
2.3
Psychodynamische Modelle – 31
2.4
Sozialpsychologische Modelle – 40
2.5
Soziologische Modelle
– 45
Verhaltensmodelle
> > Einleitung
2.1
Im folgenden Kapitel werden unterschiedliche theoretische Modelle von Gesundheit und Krankheit vorgestellt: Verhaltensmodelle, psychobiologische Modelle, psychodynamische Modelle, sozialpsychologische Modelle und soziologische Modelle. Diese Einteilung reflektiert die bis in die jüngste Vergangenheit und zum Teil auch heute noch vorherrschende Zersplitterung der Wissenschaft. Sie ist aber nur noch aus didaktischen Gründen zu rechtfertigen. Gesundheit und Krankheit sind so komplexe Phänomene, dass es nicht angemessen ist, sie nur unter dem Blickwinkel eines einzelnen Modells zu betrachten. Die Ergebnisse der verschiedenen Perspektiven werden heutzutage in zunehmendem Maße miteinander verknüpft. In Studien, die sich auf dem aktuellen Stand der Wissenschaft befinden, werden biologische und psychologische Einflüsse gleichzeitig analysiert. Dies geschieht z. B. in verhaltensgenetischen Untersuchungen, in denen sowohl die Gene wie auch elterliches Verhalten erfasst werden, um das Zusammenwirken von Anlage und Umwelt bei der Persönlichkeitsentwicklung aufzuklären.
Das menschliche Verhalten spielt eine wichtige Rolle bei der Entstehung und Bewältigung von Krankheiten. Diejenigen Verhaltensweisen, die sich auf die menschliche Gesundheit auswirken, werden Gesundheitsverhalten genannt. Ein Beispiel für ein günstiges Gesundheitsverhalten ist körperliche Aktivität. Sie schützt vor der Entstehung von Herzerkrankungen und Krebs. Beispiele für ungünstiges, riskantes Gesundheitsverhalten sind Zigarettenrauchen, ungesunde Ernährung und Bewegungsmangel. Diese Verhaltensweisen sind Risikofaktoren für die Entstehung von Herzkrankheiten und Krebs. Das Verhalten eines Menschen, der schon an einer Krankheit leidet, wird als Krankheitsverhalten bezeichnet. Ein Beispiel für ein günstiges Krankheitsverhalten ist die Mitarbeit bei der medizinischen Therapie, z. B. regelmäßige Medikamenteneinnahme (Compliance, 7 Kap. 5.5.2). Aus den Verhaltensmodellen, die im Folgenden vorgestellt werden, lassen sich Strategien ableiten, wie man das Gesundheits- und Krankheitsverhalten in eine günstige Richtung lenken kann.
15 2.1 · Verhaltensmodelle
2.1.1
Lerntheoretische und kognitionstheoretische Grundlagen
Verhaltensmodelle basieren auf der Lerntheorie. Zunächst dominierte hier der Behaviorismus, der nur beobachtbares Verhalten als Gegenstand der Psychologie akzeptierte und die Betrachtung von inneren Prozessen (Introspektion) als unwissenschaftlich ablehnte. Die menschliche Psyche wurde als »black box« betrachtet, in die man nicht hineinsehen kann. Verhalten wurde allein durch Umweltbedingungen zu erklären versucht. Während diese radikale Perspektive damals einen Fortschritt gegenüber einer rein spekulativen Psychologie darstellte und viele (tier-)experimentelle Untersuchungen anregte, schoss sie doch über das Ziel hinaus und schränkte die Erkenntnismöglichkeiten der Psychologie unnötig ein. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hat deshalb die sog. »kognitive Wende« stattgefunden. Kognitionen, d. h. Gedanken, Bewertungen, Erwartungen, Ziele etc., werden heute als wichtige verhaltenssteuernde Faktoren angesehen. Die Lerntheorie hat gerade den weiteren Schritt vollzogen, auch unbewusste Lernprozesse anzuerkennen, so dass möglicherweise in nicht allzu ferner Zukunft lerntheoretische und psychodynamische Modelle miteinander kombiniert werden können. In diesem Abschnitt werden die Lerntheorien kurz im Überblick dargestellt. Ergänzungen folgen in Kap. 4.2. ! Die Lerntheorien werden unterschieden in 4 respondentes Modell (klassische Konditionierung), 4 operantes Modell (operante Konditionierung), 4 kognitives Modell (Lernen durch Eigensteuerung, Lernen durch Einsicht). Respondentes Modell
Das respondente Modell betrifft Verhalten, das durch einen Reiz ausgelöst wird: Das Verhalten stellt die Antwort (response) auf den Reiz dar, daher der Name respondent. Synonym ist der Begriff klassische Konditionierung. Begründer dieses Modells ist der russische Physiologe Iwan Pawlow. Im Rahmen seiner Experimente zum Speichelfluss bei
2
Hunden stellte er eher beiläufig fest, dass bei den Versuchstieren schon dann Speichelfluss auftrat, wenn sie den Raum betraten, in dem sie üblicherweise gefüttert wurden, oder Tierpfleger sahen, der ihnen das Futter brachte, oder ihn auch nur kommen hörten. Der Klang seiner Schritte war zu einem Signal dafür geworden, dass es bald Futter gab. Pawlow führte eine Serie von Experimenten durch, in denen als Signalreiz beispielsweise ein Glockenton verwandt wurde: Regelmäßig kurz vor der Fütterung wurde eine Glocke geläutet. Nach einigen Versuchsdurchgängen löste alleine der Glockenton Speichelfluss aus. Grundlage der klassischen Konditionierung ist ein angeborener Reflex. Dieser besteht aus einem unkonditionierten Reiz (unconditioned stimulus, UCS) und einer unkonditionierten Reaktion (UCR): Futter (UCS) löst Speichel (UCR) aus. Nimmt man nun einen neutralen Reiz wie einen Glockenton (der zunächst nur eine Orientierungsreaktion, z. B. ein neugieriges Ohrenaufstellen, provoziert) und setzt ihn mehrfach kurz vor der Futtergabe ein (Koppelung mit dem UCS), so wird der neutrale Reiz zum konditionierten Reiz (CS). Er wirkt wie ein Signal für den darauf folgenden UCS und ist schließlich auch alleine in der Lage, Speichelfluss auszulösen, selbst wenn danach gar kein Futter gegeben wird. Eine konditionierte Reaktion (CR) ist entstanden. ! Bei der klassischen Konditionierung werden zwei Reize miteinander verknüpft, ein unkonditionierter Reiz (UCS, z. B. Futter) und ein konditionierter Reiz (CS, z. B. Glocke). Nach mehrfacher Präsentation des CS kurz vor dem UCS ist auch der CS in der Lage, eine Reaktion (konditionierte Reaktion, z. B. Speichel) auszulösen. Evolutionärer Sinn. Bei der klassischen Konditionierung wird eine Assoziation zwischen UCS und CS gelernt. Das Individuum entwickelt die Erwartung, dass nach dem CS der UCS eintreten wird. Klassische Konditionierung ermöglicht dem Organismus eine sinnvolle Repräsentation seiner Umwelt. Er bildet stabile Erwartungen aus, z. B. darüber, an welcher Stelle (CS) Nahrung (UCS) zu finden ist oder aber ein Feind lauert (UCS), dem er besser nicht begegnet. Wenn auf Dauer der UCS
16
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Kapitel 2 · Gesundheits- und Krankheitsmodelle
nicht mehr auf den CS folgt, also diese Erwartung nicht mehr gerechtfertigt ist, wird die konditionierte Reaktion wieder gelöscht (Extinktion). Dabei verschwindet die Verbindung von UCS und CS aber nicht völlig, sondern wird lediglich gehemmt. Löschung bedeutet also das Lernen einer Hemmung. Gelöschte Reaktionen können nämlich später wieder erneut auftreten (spontane Erholung). Entstehung einer Phobie. Berühmt geworden ist ein (aus heutiger Sicht ethisch fragwürdiges) Experiment des amerikanischen Begründers des Behaviorismus John B. Watson aus dem Jahr 1920: Einem kleinen Jungen (»der kleine Albert«) wurde eine Ratte gezeigt. Immer wenn er seine Hand nach ihr ausstreckte, schlugen die Experimentatoren hinter seinem Rücken auf eine Eisenstange und erzeugten dadurch lauten Lärm. Albert zuckte zurück und weinte. Nach fünf Durchgängen genügte schon der Anblick der Ratte, Angst auszulösen, ohne dass erneut Lärm gemacht werden musste. Lärm ist für Kinder ein unkonditionierter Angstreiz. Durch die Koppelung mit der Ratte wurde eine konditionierte Angstreaktion auf die Ratte erzeugt: Eine Rattenphobie war entstanden. Um die Reaktion wieder zu löschen, müsste der kleine Albert sich mit der Ratte konfrontieren, ohne dass Lärm erschallt, so dass er die Erfahrung machen kann, dass nichts Schlimmes passiert, wenn er die Ratte sieht. Versuche anderer Forscher, in den folgenden Jahren diese Studie zu wiederholen, schlugen allerKlinik ä Konditionierung bei Chemotherapie Die Chemotherapie mit Zytostatika ist ein bewährtes Verfahren zur Behandlung von Krebskrankheiten. Zytostatika töten schnellwachsende Krebszellen ab. Sie werden nicht nur bei fortgeschrittenen Tumoren eingesetzt, die schon Metastasen gebildet haben, sondern auch als zusätzliche (adjuvante) Maßnahme, z. B. nach einer Operation bei Brustkrebs, um die Gefahr eines Rezidivs zu verringern. Meist erfolgt die Chemotherapie in mehreren Zyklen, zwischen denen die Patienten nach Hause entlassen werden. Viele gebräuchliche Zytostatika haben als Nebenwirkung starke Übelkeit, die direkt im Gehirn ausgelöst wird. Chemo-
dings fehl. Heute wird die klassische Konditionierung eines zuvor neutralen Reizes deshalb von manchen Forschern nicht mehr als notwendige Entstehungsbedingung einer Phobie betrachtet. Die meisten Menschen, die eine Phobie entwickeln, haben keine traumatischen Erfahrungen mit dem Objekt ihrer Furcht gemacht. Was als Furchtobjekt ausgewählt wird, hängt vielmehr von einer biologischen Bereitschaft des Reizes ab (preparedness). Dadurch erklärt sich, dass es zwar viele Schlangenphobiker, aber keine Steckdosenphobiker gibt: Vor Schlangen Angst zu entwickeln, erhöhte während der Evolution die Überlebenschancen. Steckdosen, von denen in unserer Umgebung für Kinder viel größere Gefahr ausgeht, gibt es noch nicht lange genug, als dass sie evolutionäre Folgen hinterlassen konnten. Watson hat in seinem Experiment mit dem kleinen Albert unabsichtlich einen biologisch vorbereiteten Reiz als CS gewählt (ein kleines behaartes Tier). Möglicherweise sind die Replikationsversuche deshalb fehlgeschlagen, weil die Forscher andere, biologisch sinnlose Reize als CS auswählten. Immunkonditionierung. Zytostatika beeinträch-
tigen die Immunabwehr (deshalb werden sie auch bei Transplantationen eingesetzt, um Abstoßungsreaktionen zu verhindern). Ganz analog zur konditionierten Übelkeit (7 Klinikbox) hat man bei Chemotherapiepatienten auch eine konditionierte Abschwächung der Immunabwehr festgestellt. Im-
therapeutisch behandelte Patienten entwickeln diese Übelkeit im Laufe der Zeit manchmal schon beim Anblick der Klinik oder dem Geruch der Station, wenn sie zu einem erneuten Zyklus aufgenommen werden. Selbst die Farbe der Zytostatikalösung oder die Erwartung (Antizipation), am nächsten Tag wieder in die Klinik gehen zu müssen, können Übelkeit auslösen. Diese antizipatorische Übelkeit (Nausea) lässt sich mit der klassischen Konditionierung erklären: All diejenigen Bedingungen, die während der Chemotherapie zugegen waren, können zum konditionierten Stimulus werden. Mittels Entspannungsverfahren (7 Kap. 8.2.5) lässt sich die konditionierte Übelkeit abmildern.
17 2.1 · Verhaltensmodelle
munkonditionierung wurde experimentell in Tierversuchen ausführlich untersucht: Ratten, die zunächst ein Zytostatikum gemeinsam mit einer Zuckerlösung zugeführt bekamen, zeigten nach mehrfacher Koppelung schließlich auch allein auf die Gabe der Zuckerlösung eine Verminderung von Immunzellen. In einem Experiment mit Menschen hat man die klassische Konditionierung genutzt, um die Immunabwehr zu stärken. Die Versuchspersonen erhielten Adrenalin, das einen kurzfristigen Anstieg der Immunabwehr bewirkt, gemeinsam mit einem Brausebonbon. Nach mehrmaliger gekoppelter Gabe war auch das Brausebonbon für sich genommen in der Lage, den Effekt auszulösen. Allerdings war der Effekt nicht sehr groß und nur kurzfristig vorhanden, so dass unklar bleibt, ob er klinisch von Bedeutung ist. Denkbar, wenn auch bisher nur im Tierexperiment untersucht, ist auch, Konditionierung einzusetzen, um die Abstoßungsreaktion gegenüber Transplantaten abzuschwächen oder Autoimmunerkrankungen wie die rheumatoide Arthritis günstig zu beeinflussen. Operantes Modell Das Modell der operanten Konditionierung wurde
von dem amerikanischen Psychologen Burrhus F. Skinner begründet. Er untersuchte die Konsequen-
zen, die auf ein Verhalten folgen, also von diesem bewirkt werden (daher der Name: operantes Verhalten), und stellte fest, dass die Wahrscheinlichkeit eines Verhaltens steigt (Verstärkung), wenn auf das Verhalten eine angenehme Konsequenz folgt. Tauben, Skinners Versuchstiere, pickten auf eine Scheibe, oder Ratten drückten einen Hebel, wenn sie danach eine Futterpille erhielten. Sie lernten aber auch, einem unangenehmen Elektroschock zu entgehen, indem sie einen Hebel drückten oder den Käfig wechselten. Die Wahrscheinlichkeit eines Verhaltens steigt also nicht nur, wenn es durch eine angenehme Konsequenz belohnt wird (positive Verstärkung), sondern auch dann, wenn dadurch etwas Unangenehmes beseitigt wird (negative Verstärkung). Negative Verstärkung muss von Bestrafung unterschieden werden. Bestrafung verringert die Wahrscheinlichkeit eines Verhaltens, negative Verstärkung erhöht sie.
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! Im Modell der operanten Konditionierung steigt die Wahrscheinlichkeit eines Verhaltens, wenn diesem eine angenehme Konsequenz folgt (positive Verstärkung) oder wenn durch das Verhalten eine unangenehme Konsequenz vermieden wird (negative Verstärkung). Vermeidungsverhalten. Negative
Verstärkung spielt bei der Aufrechterhaltung einer Phobie eine wichtige Rolle. Eine Person, die an einer Agoraphobie (Angst vor öffentlichen Plätzen) leidet, befürchtet z. B., dass sie auf der Straße ohnmächtig werden könnte. Sie verlässt deshalb ihr Haus nicht mehr ohne Begleitung. Dieses Vermeidungsverhalten führt dazu, dass sie die Angst nicht mehr spürt (eine unangenehme Konsequenz bleibt aus), und wird dadurch aufrechterhalten (negative Verstärkung). Der Preis, den sie dafür zahlt, ist aber eine starke Einengung ihres Bewegungsspielraums. Um die Angst zu löschen, wäre es erforderlich, dass sie sich der angstauslösenden Situation aussetzt (Reizkonfrontation, Exposition), so dass sie die Erfahrung machen kann, dass das befürchtete Ereignis, ohnmächtig zu werden, gar nicht eintritt (7 Kap. 8.2.2). Auch beim Schmerzverhalten spielt negative Verstärkung eine Rolle: Schmerzkranke nehmen Medikamente oder schonen sich, weil dann der Schmerz nachlässt.
! Vermeidungsverhalten wird durch negative Verstärkung aufrechterhalten. Kognitives Modell
Das kognitive Modell schreibt Kognitionen (Gedanken, d. h. Bewertungen, Interpretationen, Erwartungen, Ziele etc.) eine große Bedeutung für die Erklärung des Verhaltens zu. Kognitionen spielen bei der Depression eine wichtige Rolle. Typische Symptome einer äDepression 4 4 4 4 6
niedergeschlagene Stimmung Verlust von Antrieb und Energie Verlust von Lebensfreude und Interessen körperliche Beschwerden: Konzentrationsstörung, motorische Hemmung, Müdigkeit,
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Kapitel 2 · Gesundheits- und Krankheitsmodelle
2.1.2
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Schlafstörung, Appetitlosigkeit, Gewichtsabnahme, Schmerzen unterschiedlicher Lokalisation 4 kognitive Symptome: negatives Bild von sich selbst, der Welt und der Zukunft (kognitive Triade), Pessimismus, Sinnlosigkeitsgefühle, Schuldgefühle, Selbstmordgedanken (Suizidalität)
Welche davon finden Sie im Fallbeispiel in der Klinikbox? Kognitive Verhaltenstherapie. Das kognitive Mo-
dell nimmt an, dass irrationale, automatisch ablaufende Gedanken die depressive Stimmung aufrechterhalten. Daraus folgt, dass man in der Psychotherapie diese Gedanken verändern muss.
Komponenten der kognitiven Verhaltenstherapie einer Depression (7 Kap. 8.2.2) 4 Infragestellung verzerrter, irrationaler Kognitionen (z. B. »Ich werde es nie schaffen, eine Freundin zu finden«) im Dialog zwischen Patient und Therapeut (sokratischer Dialog); 4 schrittweiser Aufbau angenehmer Aktivitäten, um den Verstärkerverlust zu kompensieren (z. B. Anregung, wieder einmal auszugehen); 4 Training sozialer Kompetenzen im Rollenspiel (z. B. Wie spreche ich jemanden an, der mir gefällt?).
Klinik Depression Ein 20-jähriger Student kommt in die Sprechstunde. Er sitzt vornüber gebeugt auf dem Stuhl, den Blick zum Boden gerichtet, und spricht mit leiser, monotoner Stimme: »Ich bin völlig niedergeschlagen und ohne Energie. Nichts macht mir mehr Freude. Sogar mich mit meinen Freunden zu treffen, habe ich keine Lust mehr. Morgens ist es am Schlimmsten: Der Tag kommt mir dann wie
Verhaltensanalytisches Genesemodell
Entstehung und Aufrechterhaltung. In einer Ver-
haltensanalyse werden diejenigen Bedingungen beschrieben, die für die Entstehung und Aufrechterhaltung eines Verhaltens verantwortlich sind. Psychische Probleme wie z. B. eine Depression werden dabei als depressives Verhalten aufgefasst. Rückzug von anderen Menschen ist ein Beispiel für ein bei depressiven Menschen häufig auftretendes Verhalten. Diejenigen Faktoren, die bei der Entstehung des depressiven Verhaltens eine Rolle spielten, müssen nun nicht unbedingt dieselben sein wie diejenigen, die aktuell dafür sorgen, dass das Verhalten aufrechterhalten wird. Für die Entstehung kann beispielsweise ein Verlusterlebnis wie die Trennung vom Beziehungspartner verantwortlich sein. Für die gegenwärtige Aufrechterhaltung spielen aber möglicherweise rückzugsförderliche Kognitionen (»Es wird mir sowieso keine Freude machen, neue Kontakte aufzunehmen.«) eine Rolle. Zusätzlich können noch Bedingungen unterschieden werden, die dazu beitragen, dass ein Individuum besonders anfällig dafür ist, eine Depression zu entwickeln, wie genetische Faktoren oder die individuelle Lerngeschichte, die sich in bestimmten Einstellungen und Wertvorstellungen niederschlägt (»Wenn es einem schlecht geht, ist es am besten, man zieht sich zurück. Hilfe kann man sowieso keine erwarten.«). Wenn eine derartige Prädisposition besteht, ist das Risiko erhöht, unter belastenden Lebensbedingungen mit einer Depression zu reagieren. Diese Hintergrundbedingungen werden in der vertikalen Verhaltensanalyse erfasst, in Ergänzung zur horizontalen Verhaltens-
ein riesiger Berg vor, den ich nicht bewältigen kann. Schon der Gedanke, aufzustehen und mich anzuziehen, ist mir zu viel. Am liebsten würde ich im Bett bleiben. Ich fühle mich als völliger Versager. Manchmal hatte ich auch schon den Gedanken, gar nicht mehr auf der Welt sein zu wollen. Alles ist grau in grau, und nichts wird sich jemals daran ändern.«
19 2.1 · Verhaltensmodelle
analyse, die die aktuell wirksamen aufrechterhaltenden Bedingungen beschreibt. SORKC-Modell. Für die horizontale Verhaltensanalyse benutzt man das SORKC-Modell (Verhaltensgleichung). Das Wort »SORKC« setzt sich aus den Anfangsbuchstaben von Stimulus (S), Organismus (O), Reaktion (R), Kontingenz (K) und Konsequenz (C) zusammen. Auf diesen 5 Ebenen werden das problematische Verhalten und die Bedingungen, die es steuern, beschrieben. Als Beispiel soll ein Patient mit ä chronischen Rückenschmerzen dienen: Das SORKC-Modell der Verhaltensanalyse 4 Stimulus (S): Die Schmerzen treten immer dann auf, wenn der Patient eine Auseinandersetzung mit einem Arbeitskollegen hat (auslösender Reiz). Besonders stark werden die Schmerzen erlebt, wenn seine Ehefrau anwesend ist (diskriminativer Reiz, SD). 4 Organismus (O): Die Rückenschmerzen treten vor allem dann auf, wenn der Patient schon vorher innerlich angespannt ist, was sich auch in einer Muskelverspannung äußert. Die Schmerzen werden durch negative Gedanken gefördert (»Meine Beschwerden werden immer schlimmer! Gegen meinen Kollegen komme ich niemals an! Schlussendlich verliere ich noch meinen Arbeitsplatz!«). Nicht nur körperliche, sondern auch kognitive Einflüsse werden zu den Organismusvariablen gerechnet. 4 Reaktion (R): Unter Reaktion wird die Schmerzsymptomatik selbst beschrieben, und zwar auf sensorischer, vegetativer, emotionaler, kognitiver und motorischer Ebene (7 Kap. 2.2.2). 4 Kontingenz (K): Unter Kontingenz versteht man das Koppelungsverhältnis von Reaktion und Konsequenz. Die Ehefrau tröstet den Patienten jedes Mal, wenn er seine Schmerzen äußert (kontinuierliche Ver6
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stärkung). Der Hausarzt schreibt ihn jedoch nicht immer krank (intermittierende Verstärkung). 4 Konsequenz (C): Wenn der Patient seine Schmerzen seiner Frau gegenüber zum Ausdruck bringt, tröstet sie ihn (positive Konsequenz). Sein Arzt schreibt ihn krank, so dass er nicht zur Arbeit gehen muss und dadurch auch nicht mit dem schwierigen Kollegen konfrontiert wird (Wegfall einer negativen Konsequenz). Kurzfristig hat der Schmerz für den Patienten also angenehme Konsequenzen. Langfristig aber führt die körperliche Schonung zu einem Verlust an Fitness, die ihn schmerzanfälliger macht.
Das SORKC-Modell ist ein einfaches Schema, das der ersten Orientierung dienen kann. In der modernen Verhaltenstherapie bezieht man auch komplexere Wechselwirkungen und Rückkopplungen ein, die über das lineare SORKC-Modell hinausgehen. ä Panikstörung. Eine Panikstörung ist durch plötzliche, auf den ersten Blick ohne äußeren Anlass auftretende Angstanfälle (Panikattacke) gekennzeichnet. Die Anfälle gehen mit sehr intensiv erlebten körperlichen Beschwerden einher: Herzklopfen oder Herzrasen, Schwindel oder Benommenheit, Atemnot, aber auch Schweißausbrüche, Brustschmerzen, Übelkeit, Zittern, Hitze- und Kältegefühl, Taubheitsgefühle u.a. Die Betroffenen befürchten, ohnmächtig oder hilflos zu werden oder gar zu sterben. Auch zwischen den Anfällen sind sie ständig in Sorge vor neuen Anfällen (»Angst vor der Angst«) und deren Folgen; sie befürchten z. B., infolge der Angst einen Herzinfarkt zu erleiden. Wenn die Anfälle schon einmal in der Öffentlichkeit aufgetreten sind, versuchen sie, diese Orte zu vermeiden. Dann liegt zusätzlich zur Panikstörung eine Agoraphobie (Angst vor öffentlichen Plätzen) vor. Panikpatienten nehmen ihre Körperempfindungen besonders stark war, »bemerken« z. B. einen starken Pulsanstieg, auch wenn der Puls objektiv
Entstehung einer
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Kapitel 2 · Gesundheits- und Krankheitsmodelle
Komponenten der kognitiven Verhaltenstherapie bei Panikstörung
2
. Abb. 2.1. Teufelskreis der Angst
nur wenig schneller ist, und interpretieren die Empfindung in übertriebener Weise als bedrohlich. Es kommt dann zu einem Teufelskreis, in dem sich kognitive Faktoren (Interpretation von Körperempfindungen als bedrohlich) und physiologische Faktoren (Herzklopfen als körperliche Begleiterscheinung der Angst; 7 Aktivierung, Kap. 4.1.7) gegenseitig aufschaukeln (. Abb. 2.1).
2.1.3
Verhaltensmedizinische Ansätze
Verhaltensmedizin ist die Anwendung der Verhaltenstherapie in der Medizin. Verhaltenstherapie ist diejenige Psychotherapieform, die auf den Lerntheorien beruht (7 Kap. 8.2.2). Sie analysiert die funktionellen Zusammenhänge eines Verhaltens mit den unmittelbar vorausgehenden und nachfolgenden Bedingungen, also den auslösenden Reizen und den Konsequenzen (SORKC-Modell). Die kognitive Verhaltenstherapie der Depression wurde oben beschrieben.
4 Informationsvermittlung: Gemeinsam mit dem Patienten wird herausgearbeitet, welche Rolle seine Wahrnehmungen und Kognitionen beim Angstanfall spielen. Das Teufelskreismodell von . Abb. 2.1 wird auf diese Weise individuell auf den Patienten zugeschnitten. 4 Kognitive Therapie: Der Patient lernt im Dialog mit dem Therapeuten, seine Fehlinterpretationen körperlicher Empfindungen als Anzeichen einer bedrohlichen Krankheit infrage zu stellen und aufzugeben. 4 Konfrontation mit angstauslösenden Reizen: Durch »Verhaltensexperimente«, wie z. B. schnelles Treppensteigen oder absichtliches Hyperventilieren, setzen sich die Patienten den körperlichen Symptomen (Herzklopfen, Atemnot) aus und machen damit die Erfahrung, dass nichts Schlimmes dabei passiert.
Stressmanagement. Kognitive Faktoren spielen
auch bei der Stressbewältigung eine wichtige Rolle. In Programmen zum Stressmanagement, wie dem Stressimpfungstraining von Meichenbaum, lernen die Patienten, dysfunktionale automatische Gedanken, die die Belastung noch vergrößern (»Niemals werde ich das schaffen!«), infrage zu stellen und durch förderliche Selbstinstruktionen zu ersetzen (kognitive Umstrukturierung). Anstatt zu denken »Die Ereignisse überschwemmen mich!«, sagen sie zu sich selbst: »Immer mit der Ruhe! Eins nach dem anderen!« Wenn man die Situation als Herausforderung betrachtet, die man Schritt für Schritt bewältigen kann, sind Überforderungsgefühle weniger wahrscheinlich. Die Patienten werden zudem angeleitet, Strategien der systematischen Problemlösung einzusetzen, Handlungsalternativen abzuwägen, die beste Lösung auszuwählen und ihre Wirksamkeit zu überprüfen. Weitere verhaltensmedizinische Einsatzgebiete sind Schmerzbewältigung (z. B. Biofeedback, 7 Kap. 2.2.2) und Patientenschulungen (7 Kap. 8.1.3).
21 2.1 · Verhaltensmodelle
2.1.4
Verhaltensgenetik
Die Verhaltensgenetik untersucht genetische Einflüsse auf das Verhalten. Dabei benutzt sie Korrelationen zwischen Personen unterschiedlichen Verwandtschaftsgrads und damit unterschiedlicher genetischer Ähnlichkeit (z. B. sind eineiige Zwillinge 100 % genetisch ähnlich, zweieiige Zwillinge/ Geschwister 50 %, Adoptivgeschwister 0 %). Eine Zwillingsstudie erlaubt es, aus der größeren psychischen Ähnlichkeit eineiiger im Vergleich zu zweieiigen Zwillingen die Erblichkeit zu schätzen. Besonders interessant sind auch Korrelationen zwischen getrennt aufgewachsenen eineiigen Zwillingen, deren Ähnlichkeit nicht auf gemeinsame Umwelterfahrungen zurückgehen kann. Getrennt aufgewachsene Zwillinge korrelieren in Persönlichkeitsmerkmalen genauso hoch miteinander wie gemeinsam aufgewachsene, was für eine geringe Bedeutung der gemeinsamen Umwelt spricht. In einer Adoptionsstudie vergleicht man die Ähnlichkeit von leiblichen und Adoptivgeschwistern, die in derselben Umwelt aufgewachsen, genetisch einander aber nicht ähnlich sind. Adoptivgeschwister korrelieren in Persönlichkeitsmerkmalen nicht miteinander, wohl aber mit ihren biologischen Eltern, was ebenfalls für die geringe Bedeutung der gemeinsamen Umwelt spricht. Die besten Schätzungen der einzelnen Anteile von Anlage und Umwelt erbringen Kombinationsstudien, in denen Menschen unterschiedlicher genetischer Ähnlichkeit und unterschiedlicher Umwelt gemeinsam analysiert werden. Einflussfaktoren in der Verhaltensgenetik 4 genetische Faktoren, 4 gemeinsame (geteilte) Umwelteinflüsse, 4 individuelle (nichtgeteilte) Umwelteinflüsse.
Während die gemeinsame Umwelt zu einer größeren Ähnlichkeit zwischen den Mitgliedern einer Familie beiträgt, bewirken individuelle, nichtgeteilte Umwelteinflüsse, dass die Mitglieder einer Familie einander unähnlich werden. Nichtgeteilte Umwelteinflüsse kommen auch dadurch zustande, dass ein und dasselbe Ereignis (z. B. die Scheidung der Eltern) von den Mitgliedern einer Familie un-
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terschiedlich verarbeitet wird. Unter nichtgeteilter Umwelt werden nicht nur psychosoziale Einflüsse gefasst, sondern auch Einflüsse der physikalischen Umwelt (z. B. während der Schwangerschaft) und des Messfehlers (Abweichungen durch ungenaue Messungen des psychischen Merkmals). Die Verhaltensgenetik hat für alle bisher untersuchten psychischen Merkmale mehr oder minder starke genetische Einflüsse gefunden. ! Genetischer Einfluss bei psychischen Störungen: 4 starker Einfluss bei Autismus, Schizophrenie, bipolarer affektiver Störung (manisch-depressiver Erkrankung) und Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung 4 mittelgroßer Einfluss bei Depression, Angststörungen und Substanzmissbrauch/-abhängigkeit
Gene wirken aber nicht nur bei psychischen Störungen, sondern auch bei normalen Persönlichkeitsmerkmalen (7 Kap. 4.6). Vom Gen zum Verhalten ist es ein weiter Weg. Gene determinieren nicht einzelne Verhaltensweisen. Sie beeinflussen jedoch die Entwicklung neuronaler Schaltkreise, welche wiederum in Wechselwirkung mit der Umwelt das Verhalten beeinflussen. Genwirkungen lassen sich deshalb in der Funktion neuronaler Schaltkreise viel leichter nachweisen als im Verhalten selbst. Beispiel: Ängstliche oder ärgerliche Gesichter lösen eine Amygdala-Aktivierung aus. Diese Aktivierung fällt bei Trägern des kurzen Allels (s-Allel) des Serotonintransporter-Gens, welches einen Risikofaktor für Angst und Depression darstellt, höher aus. Wie kommt dies zustande? Das s-Allel des Serotonintransporter-Gens scheint sich ungünstig auf die Entwicklung eines Schaltkreises zwischen Amygdala und anteriorem zingulärem Cortex auszuwirken, der für die Regulation von Angst von Bedeutung ist. Dieser Schaltkreis ist bei Trägern des kurzen Allels anatomisch weniger gut ausgebildet und funktional weniger aktiv, wie Bildgebungsstudien zeigen. Die verminderte Aktivität steht wiederum mit Ängstlichkeit als Persönlichkeitsmerkmal in Zusammenhang. Die geringe Verfügbarkeit von Serotonin bei den s-Allel-Trägern während der Gehirnentwicklung resultiert also in
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2
Kapitel 2 · Gesundheits- und Krankheitsmodelle
einer suboptimalen Ausbildung dieses neuronalen Systems. Träger des s-Allels weisen auch eine geringere Bindungskapazität eines Serotoninrezeptors auf, gemessen mit radioaktiven Liganden im PET (7 Kap. 3.6.3). Erklärung: Das Serotonintransporter-Defizit führt während der Gehirnentwicklung zu einer erhöhten Serotoninkonzentration im synaptischen Spalt. Infolgedessen wird der entsprechende Rezeptor kompensatorisch herunterreguliert. Im Erwachsenenalter ist dadurch die Serotoninwirkung vermindert. ! Von Gen-Umwelt-Interaktion spricht man, wenn die Wirkung eines Gens davon abhängt, ob eine spezifische Umweltbedingung vorliegt oder nicht. Oder umgekehrt, wenn eine bestimmte (z. B. schädliche) Umweltbedingung nur dann wirksam wird, wenn auch eine genetische Disposition (Vulnerabilität) besteht.
Beispiele: Adoptionsstudien zeigten, dass die Häufigkeit antisozialen Verhaltens bei nach der Geburt von ihren Müttern getrennten und in Adoptivfamilien aufgenommenen Kindern nur dann erhöht war, wenn sowohl ein biologisches Risiko (antisoziales Verhalten der leiblichen Mutter) als auch ein Umweltrisiko (Probleme in der Adoptivfamilie) bestanden, nicht aber, wenn nur einer der beiden Risikofaktoren vorlag. Eine molekulargenetische Untersuchung konnte demonstrieren, dass das Risiko antisozialen Verhaltens im Erwachsenenalter bei Menschen, die in ihrer Kindheit misshandelt worden waren, dann stark erhöht war, wenn sie eine wenig effiziente Form des Monoaminoxidase-A-Gens trugen. Die Aufgabe des vom MAOA-Gens kodierten Enzyms besteht darin, Neurotransmitter wie Noradrenalin, Serotonin und Dopamin zu metabolisieren und deren Funktion zu regulieren. Ein voll funktionsfähiges Gen stellte einen Schutzfaktor gegenüber der Entwicklung antisozialen Verhaltens dar. In einer ähnlichen Studie zeigte sich, dass der Einfluss belastender Lebensereignisse auf die Entstehung einer Depression vom Serotonintransporter-Gen abhing (7 Kap. 4.1.6). Menschen, die ein oder zwei kurze Allele dieses Gens (mit geringerer Transkriptionseffizienz) trugen, hatten nach belas-
tenden Lebensereignissen mehr depressive Symptome, waren stärker suizidgefährdet und entwickelten häufiger eine ausgeprägte Depression als Menschen mit zwei langen Allelen; letztere waren vor den negativen Auswirkungen der Lebensereignisse geschützt. Dieser Zusammenhang konnte in mehreren anderen, wenn auch nicht in allen Studien bestätigt werden. Träger der beiden kurzen Allele reagieren aber nicht nur verstärkt auf negative Einflüsse der Umgebung (belastende Lebensereignisse, ungünstige Familienumwelt), sonder auch auf positive: Wenn sie in einer freundlichen, versorgenden Familie aufwachsen, haben sie weniger depressive Symptome als Träger des langen Allels, und sie profitieren auch im Erwachsenenalter von emotionaler Unterstützung. Das kurze Allel scheint also Menschen generell empfindlicher für den Einfluss der sozialen Umgebung zu machen, im Guten wie im Schlechten. Eine vergleichbare Interaktion fand sich in einer Studie, in der eine Risikoerhöhung für das Auftreten einer Depression nach einem belastenden Lebensereignis nur bei den Trägern eines bestimmten Allels des Dopamin-Rezeptors D2 auftrat, nicht aber bei denjenigen Personen, die dieses Allel nicht trugen. ! Gene und Umwelterfahrungen wirken bei der Entstehung psychischer Störungen zusammen. Gen-Umwelt-Korrelation. Gen-Umwelt-Korrela-
tion bedeutet gemeinsames Auftreten bestimmter Gene und bestimmter Umweltfaktoren. Entstehung einer Gen-Umwelt-Korrelation 4 aktiv, d. h. selbst hergestellt oder ausgewählt. Menschen suchen sich ihre Umwelt aus, gestalten und verändern sie. Sie tun dies auch auf der Basis genetisch verankerter Persönlichkeitsmerkmale und Vorlieben. Beispiel: Ein Kind sucht sich die Spielgefährten, die zu seinem Temperament passen. Dies führt zu einer Stabilisierung der Persönlichkeitsentwicklung im Laufe des Lebens; 6
23 2.2 · Psychobiologische Modelle
2
Ì Vertiefen 4 evokativ oder reaktiv, d. h. vom Kind ausgelöst. Die Umwelt reagiert auf genetisch beeinflusste Persönlichkeitsmerkmale. Beispiel: Das Verhalten des Kindes löst ein komplementäres elterliches Verhalten aus: Liebenswürdige Kinder erfahren mehr Wärme und Zuwendung, schwierige Kinder mehr negative Reaktionen; 4 passiv, d. h. von außen bewirkt. Eine passive Korrelation kommt ohne Zutun des Genträgers und ohne Reaktion der Umwelt zustande, sondern einfach deshalb, weil Eltern und ihre Kinder zum Teil dieselben Gene haben. Beispiel: Intelligente Eltern schaffen für ihre Kinder eine anregende Lernumwelt und haben zugleich eher (genetisch vermittelt) intelligente Kinder. Deshalb korreliert die Zahl der Bücher in einem Haushalt auch dann mit der Intelligenz der Kinder, wenn diese Bücher überhaupt nicht gelesen werden.
Aus einer Korrelation zwischen Umweltfaktoren und Verhaltensweisen darf deshalb nicht vorschnell auf einen kausalen Einfluss der Umwelt geschlossen werden, wie es in der Entwicklungspsychologie und Sozialisationsforschung früher häufig getan wurde. Vielmehr kann diese Korrelation genetisch vermittelt sein. v Lernziele Klassische Konditionierung, preparedness, Extinktion (Löschung), antizipatorische Übelkeit, Immunkonditionierung; operante Konditionierung, positive und negative Verstärkung, Vermeidungsverhalten, Bestrafung; kognitives Modell, Symptome der Depression, kognitive Therapie der Depression und der Panikstörung; Verhaltensanalyse (SORKC-Modell); Verhaltensgenetik, GenUmwelt-Interaktion, Gen-Umwelt-Korrelation.
Ehlert U (Hrsg) (2002) Verhaltensmedizin. Springer, Berlin (Überblick über Anwendungsgebiete der Verhaltenstherapie in der Medizin) Lefrancois G (2006) Psychologie des Lernens. 4. Aufl. Springer, Berlin (klassisches Lehrbuch) Margraf J, Schneider S (Hrsg) (2008) Lehrbuch der Verhaltenstherapie. 3. Aufl. Springer, Berlin (hervorragende, praxisorientierte Darstellung) Plomin R, DeFries JC, McClearn GE, McGuffin P (2008) Behavioral Genetics. 5th ed. Basingstoke, Palgrave Macmillan (didaktisch gut aufgebautes Lehrbuch) Stockhorst U, Klosterhalfen S (2005) Lernpsychologische Aspekte in der Psychoneuroimmunologie (PNI). Psychother Psych Med 55: 5–19 (Forschungsübersicht)
2.2
Psychobiologische Modelle
2.2.1
Emotion, Stress und Krankheit
! Stress ist die Reaktion eines Individuums auf eine belastende Situation. Der Belastungsfaktor, der diese Stressreaktion auslöst, wird Stressor genannt. Stress tritt auf, wenn die Anforderungen der Umwelt die Bewältigungsmöglichkeiten des Individuums übersteigen.
Unter Stress geht das harmonische Gleichgewicht zwischen Individuum und Umwelt (Homöostase) verloren. Der Begriff Homöostase geht auf Walter Cannon zurück, der Begriff Stress auf Hans Selye. Er beschrieb Stress als unspezifische Antwort des Organismus auf eine Störung der Homöostase (allgemeines Adaptationssyndrom), die in 3 Phasen verläuft: ! Das Allgemeine Adaptationssyndrom besteht aus drei Phasen: 4 Alarmphase: Stimulierung des sympathischen Nervensystems. Mobilisierung von adrenocorticotropem Hormon (ACTH) in der Hypophyse 4 Widerstandsphase: Cortisolausschüttung als Folge der ACTH-Ausschüttung 4 Erschöpfungsphase: Dekompensation der Stressreaktion bei chronischem Stress
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Kapitel 2 · Gesundheits- und Krankheitsmodelle
Spezifische Reaktionen. Allerdings müssen nach
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heutigem Kenntnisstand unterschiedliche Stressoren keineswegs immer zu den gleichen Reaktionen führen. Im Stressmodell von Henry werden spezifische Reaktionen je nach Stresssituation beschrieben: Furcht (Flucht) geht mit Adrenalinanstieg, Ärger (Kampf) mit Noradrenalin- und Testosteronanstieg, Depression (Kontrollverlust, Unterordnung) mit Cortisolanstieg und Testosteronabfall einher (stimulusspezifische Reaktion). Umgekehrt besitzt ungefähr ein Drittel der Menschen die Neigung, auf unterschiedliche Stressoren immer auf die gleiche Art und Weise zu reagieren (individualspezifische Reaktion). Beispiel: Der eine bekommt bei Aufregung immer kalte Hände und Herzklopfen, der andere muss auf die Toilette. Allostase. Im Unterschied zu homöostatischen Systemen des inneren Milieus (z. B. ph-Wert des Bluts), die einen festen Sollwert haben und in engen Grenzen reguliert werden, erlauben allostatische Systeme eine Sollwertverschiebung, d. h. eine Regulation innerhalb eines breiteren Korridors, und dadurch eine bessere Umweltanpassung unter Stress (Homöostase-Allostase-Modell). Reaktionen, die ursprünglich zur Bewältigung von Stress dienten, können jedoch überschießen oder chronisch werden. Dann ist es nicht der Stress selbst, sondern der gegenregulatorische Mechanismus, der eine Schädigung bewirkt (allostatische Belastung). Akuter Stress ist nicht generell schädlich. Er versetzt den Organismus in die Lage, einen Stressor zu bewältigen. Schädlich ist erst eine Stressreaktion, die zu lange oder zu häufig auftritt (wie bei chronischen Stressoren) oder für die keine physiologische Notwendigkeit besteht (wie bei psychosozialen Stressoren, die nicht durch Kampf oder Flucht bewältigt werden können). Es kann dann zu einer Fehlregulation allostatischer Systeme kommen (z. B. chronische Überproduktion von Stressbotenstoffen wie Cortisol und Noradrenalin und Herunterregulation ihrer Rezeptoren), die zu Krankheiten führen können (z. B. Bluthochdruck als Risikofaktor für koronare Herzkrankheit und Schlaganfall). Subjektive Bewertung und Disposition. Ob eine
Situation zum Stressor wird, hängt maßgeblich von der subjektiven Bewertung und den Bewältigungs-
möglichkeiten des Individuums ab. Ein und dieselbe Situation kann von dem einen Menschen als Herausforderung, die er sich zu bewältigen zutraut, von einem anderen hingegen als Bedrohung, der er hilflos ausgeliefert ist, interpretiert werden. Nur im zweiten Fall entsteht Stress. Ob Stress schließlich zu Krankheit führt, hängt darüber hinaus von der Disposition des Individuums ab (Stress-Vulnerabilitäts-Modell; syn. Stress-Diathese-Modell; Beispiel: Zusammenwirken von belastenden Lebensereignissen und der genetischen Anlage bei der Entstehung einer Depression, 7 Kap. 2.1.4). Physiologische Pfade. Die Stressreaktion stellt
eine ehemals evolutionär sinnvolle Reaktion auf Bedrohung dar, indem sie die physiologischen Voraussetzungen für Kampf oder Flucht schafft. Dies geschieht über zwei Wege: 4 das Hypothalamus-Sympathikus-Nebennierenmark-System, 4 die Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse. Hypothalamus-Sympathikus-NebennierenmarkSystem. Der Sympathikus ist eines der beiden
Hauptbestandteile des vegetativen Nervensystems. Er steuert diejenigen Prozesse, die eine Aktivierung (7 Kap. 4.1.7) des Organismus bewirken. (Der andere Hauptbestandteil ist der Parasympathikus oder Vagus, der Erholungsprozesse steuert.) Aktivierung bedeutet psychophysische Erregung und Bereitstellung von Energie. Die Wirkungen des Sympathikus auf den Organismus werden durch Adrenalin und Noradrenalin (Katecholamine) vermittelt, die im Nebennierenmark gebildet werden: Herzfrequenz und Blutdruck steigen an, die Muskeldurchblutung wird gefördert, als Energiequelle wird Glucose bereitgestellt. Diese Reaktion geschieht sehr schnell (innerhalb von Sekunden), die nachfolgend dargestellte zweite Achse braucht länger (mehrere Minuten) bis zur Aktivierung. Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse. Der Hypothalamus, der Eingangssig-
nale von der Amygdala (Angstzentrum) erhält, bewirkt durch Abgabe von Corticotropin-ReleasingHormon (CRH) die Sekretion von adrenocorticotropem Hormon (ACTH) aus der Hypophyse ins Blut,
25 2.2 · Psychobiologische Modelle
Klinik Sympathikusaktivierung und ä HerzKreislauf-Risiko Körperlich gesunde Menschen, die an einer Depression leiden, haben im Vergleich zu Nichtdepressiven ein zweimal so hohes Risiko für die Entwicklung einer koronaren Herzkrankheit. Bei Menschen, die schon einen Herzinfarkt erlitten haben, besteht bei Vorliegen einer Depression ebenso ein ca. doppelt so hohes Risiko, an einem erneuten Infarkt zu versterben. Wenngleich es noch nicht völlig geklärt ist, ob Depression einen kausalen Risikofaktor darstellt oder lediglich einen Risikoindikator, der zwar das Eintreffen eines Krankheitsereignisses voraussagen lässt, es aber nicht ursächlich beeinflusst, so sind doch mehrere biologische Mechanismen plausibel, die den Einfluss einer Depression auf die koronare Herzkrankheit vermitteln könnten: Sympathikusaktivierung. Bei einer Depression ist das sympathoadrenerge System überaktiv, mit Zunahme von Herzfrequenz, Blutdruck und Kontraktilität (erhöhte kardiovaskuläre Reaktivität), was wiederum Endothelschädigungen und Atherosklerose (Arteriosklerose) begünstigt. Aktivierung des Hypothalamus-HypophysenNebennierenrinden-Systems. Depression und Stress gehen mit einer erhöhten Sekretion von Cortisol einher. Cortisol ist wiederum ein Risikofaktor für Hypertonus, Hyperlipidämie und Atherosklerose. Verminderte Herzfrequenzvariabilität. Diese ist Ausdruck des erhöhten sympathischen und des reduzierten vagalen Tonus und stellt einen Risikofaktor für Herzrhythmusstörungen und den plötzlichen Herztod dar. Stressbedingte Ischämie. Stress kann durch die Steigerung von Herzfrequenz und Kontraktilität unmittelbar einen Sauerstoffmangel (Ischämie) im Herzmuskel bewirken. Dieser Mechanismus ist
vermutlich für die erhöhte Herzinfarktrate während aufregenden Fußballspielen verantwortlich. Während der Fußballweltmeisterschaft 2006 traten mehr als doppelt so viele Infarkte auf wie in den Vergleichszeiträumen der Vorjahre, und zwar genau zu den Zeiten, wenn die deutsche Mannschaft wichtige Spiele absolvierte. Blutgerinnung und Plättchenaggregation. Stress und Depression gehen mit einer Aktivierung der Blutgerinnung und der Thrombozyten, die Serotoninrezeptoren tragen, einher. Dies fördert die Bildung von Thromben in verengten Herzkranzgefäßen, mit der Folge eines Herzinfarkts. Immunsystem und Entzündung. Bei einer Depression werden entzündungsfördernde (proinflammatorische) Zytokine (Interleukine) gebildet, die sowohl bei der Entstehung einer Depression als auch bei der koronaren Herzkrankheit eine Rolle spielen können. Auch das C-reaktive Protein, das eine Entzündung anzeigt, ist bei einer Depression erhöht. Allerdings scheint der Zusammenhang zwischen Depression und Entzündungsindikatoren großenteils genetisch vermittelt zu sein. Endotheliale Dysfunktion. Die Gefäßdilatation infolge Sauerstoffmangels ist bei Depression gestört. Dies stellt wiederum einen Risikofaktor für die Atherosklerose dar. Gesundheitsverhalten und Compliance. Zusätzlich zu den biologischen Mechanismen kann eine Depression auf der Ebene des Verhaltens zur Entwicklung bzw. Verschlimmerung einer koronaren Herzkrankheit beitragen. Depressive Menschen weisen häufiger die klassischen Risikofaktoren einer koronaren Herzkrankheit, wie Bewegungsmangel und Übergewicht, auf. Sie setzen Empfehlungen zum Gesundheitsverhalten, z. B. körperlich aktiver zu werden, seltener in die Tat um und halten sich weniger an die verordnete Medikation (geringere Compliance).
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Kapitel 2 · Gesundheits- und Krankheitsmodelle
das wiederum die Nebennierenrinde zur Bildung von Cortisol anregt. Cortisol dient ebenfalls der Bereitstellung von Glucose, es hemmt die Fettsynthese sowie Entzündungsprozesse, aber auch die Immunabwehr. Corticoide werden bei Organtransplantationen gegeben, um eine Immunsuppression zu bewirken und dadurch eine Abstoßung des transplantierten Organs zu verhindern. Cortisol spielt auch bei der Steuerung von Emotionen eine Rolle. Hohe Dosen bewirken eine Depression. Chronischer Stress und Cortisol. Zur Wirkung
von chronischem Stress auf die Cortisolausschüttung gibt es widersprüchliche Forschungsergebnisse. Diese Widersprüche lassen sich jedoch zu einem guten Teil auflösen, wenn man Eigenschaften des Stressors (kontrollierbar vs. unkontrollierbar; körperliche vs. psychische Gefahr) berücksichtigt. Generell geht chronischer Stress mit geringen Cortisolkonzentrationen am Morgen, aber höheren Konzentrationen am Nachmittag und Abend einher, so dass der Tagesrhythmus abgeflacht ist. Insgesamt ist die Cortisolausschüttung erhöht. Auch der Zeitverlauf spielt eine Rolle: Unmittelbar nach dem Eintritt des Stressors findet man erhöhte Werte; je mehr Zeit vergeht, umso stärker fallen diese wieder ab, und zwar bis unter die Normalwerte. Psychoneuroimmunologie. Dieses Forschungsgebiet untersucht Zusammenhänge zwischen Stress bzw. Emotionen, dem Gehirn und dem ImmunsysKlinik Beeinträchtigung der Gedächtnisbildung Lang dauernde Cortisolüberproduktion führt zu einer Atrophie des Hippocampus, einer für die Gedächtnisbildung wichtigen Hirnstruktur im limbischen System. Dies ließ sich im Tierexperiment zeigen. Der Befund fand sich auch bei Depressiven und bei Vietnam-Veteranen, die an einer äposttraumatischen Belastungsstörung (post-traumatic stress disorder, PTSD) litten. Bei der PTSD gelingt die Stressbewältigung nicht. Es drängen sich noch lange nach einem traumatischen Erlebnis intensive Bilder der traumatischen Situation auf (flashbacks), obwohl (oder wahrscheinlich: gerade weil) die Patienten versuchen, alle Gedanken oder
tem. Das Immunsystem setzt sich aus der zellulären unspezifischen Immunabwehr (z. B. natürliche Killerzellen) und der zellulären spezifischen Immunabwehr (T-Lymphozyten: T-Helfer-Zellen, T-Suppressor-Zellen, zytotoxische T-Zellen) sowie der unspezifischen (z. B. Komplementsystem) und spezifischen (Antikörper) humoralen Immunabwehr zusammen. Die anatomischen und zellbiologischen Voraussetzungen der Zusammenhänge zwischen Psyche bzw. Gehirn und Immunsystem sind dadurch gegeben, dass lymphatische Organe innerviert sind und Lymphozyten Rezeptoren für Neurotransmitter tragen. Umgekehrt produzieren Immunzellen Botenstoffe, die Zytokine (Interleukine, Interferone und Tumornekrosefaktoren), die nicht nur die Kommunikation innerhalb des Immunsystems bewerkstelligen, sondern auch psychische Effekte haben. Eine Aktivierung des Immunsystems macht sich in Veränderungen des Befindens deutlich, die sich als Krankheitsverhalten wie z. B. bei einem grippalen Infekt äußern: reduzierte Aktivität, sozialer Rückzug, vermehrte Schmerzempfindlichkeit, Appetitlosigkeit und Depressivität. Stress und Immunantwort. ! Akuter Stress verbessert die Immunantwort, während chronischer Stress sie hemmt.
Der Anstieg der unspezifischen Immunantwort bei akutem Stress ist evolutionär sinnvoll, weil dadurch die Heilung einer Wunde, z. B. bei einem Angriff,
Situationen zu vermeiden, die sie an die erlebte Situation erinnern. Die Betroffenen fühlen sich einerseits emotional abgestumpft, andererseits leiden sie an physiologischen Stresssymptomen. Nach neueren Untersuchungen ist es allerdings unklar, ob das verminderte Hippocampusvolumen tatsächlich eine Folge der posttraumatischen Belastungsstörung ist. Vergleicht man traumatisierte Vietnamveteranen mit ihren eineiigen Zwillingen, die zu Hause geblieben waren und nicht traumatisiert wurden, so zeigen diese ebenfalls einen kleineren Hippocampus. Dies spricht dafür, dass die Verkleinerung schon vorher bestand und lediglich das Risiko erhöht, eine PTSD zu entwickeln.
27 2.2 · Psychobiologische Modelle
gefördert würde. Bei akuten, zeitlich begrenzten Laborstressoren, wie z. B. vor Zuhörern eine Rede halten, steigt die Zahl der natürlichen Killerzellen an. Prüfungsstress geht mit einer Verschiebung von der zellulären hin zur humoralen Immunantwort und einer verlängerten Wundheilung einher. Verlusterlebnisse wie der Verlust des Partners führen zu einer verminderten Zahl von natürlichen Killerzellen. ! Chronische Stressoren, die als unkontrollierbar erlebt werden, wie die Betreuung eines an M. Alzheimer erkrankten Angehörigen, sind mit einer globalen Immunsuppression verbunden.
Die schädliche Wirkung von chronischen Stressoren auf das Immunsystem wird wahrscheinlich über eine zu lange anhaltende Sekretion von Cortisol vermittelt, die zu einer Herunterregulation von zellulären Cortisolrezeptoren führt. Dadurch wird die Fähigkeit der Zelle eingeschränkt, auf entzündungsfördernde Zytokine (z. B. Interleukin 6) zu reagieren. In Tiermodellen konnte gezeigt werden, dass chronischer Stress negative Auswirkungen auf Immunparameter hat und die Tumorentstehung und -progression fördert. Alte Menschen und Kranke sind anfälliger für die Wirkungen von Stress auf das Immunsystem. Umgekehrt können Optimismus, eine gute Bewältigungsfähigkeit und emotionale Unterstützung durch andere Menschen die schädliche Wirkung abschwächen. Die stressmindernde Wirkung von sozialer Unterstützung wird durch Oxytocin vermittelt (7 Kap. 4.4.5).
2.2.2
Schmerz
Neurobiologie. Die neuronale Grundlage des Schmerzerlebens stellt das Schmerznetzwerk dar. Dabei kann man ein laterales Schmerzsystem und ein mediales Schmerzsystem unterscheiden. Das laterale Schmerzsystem besteht aus lateralen Kerngruppen des Thalamus sowie dem primären und sekundären sensorischen Cortex; es ist für die sensorisch-diskriminative Komponente zuständig. Das mediale Schmerzsystem, das aus medialen thalamischen Strukturen, dem zingulären Cortex, dem präfrontalen Cortex, dem nucleus accumbens und
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der Amygdala besteht, repräsentiert die affektivmotivationale Komponente. Ein äußerer Schmerzreiz oder ein im Gehirn generierter Schmerz gehen mit einer Aktivierung derselben Hirnregionen einher. Das Gefühl »Schmerz« kann also auch rein zerebral entstehen. Akuter und chronischer Schmerz. Die physiolo-
gische Grundlage des Schmerzes ist das nozizeptive System. Mit Nozizeption wird die Aktivität dieses Systems beschrieben. Schmerz ist die einzige Sinnesempfindung, die fast immer mit einem negativen Affekt einhergeht: Schmerz wird vom Betroffenen als quälend oder angsterregend erlebt. ! Akuter Schmerz weist meist auf eine Gewebeschädigung durch einen noxischen Reiz hin (Schutzfunktion des Schmerzes). Bei ächronischem Schmerz gilt das nicht mehr. Hier lässt sich oft keine Gewebeschädigung feststellen. Chronische Schmerzen ohne organische Krankheit können zu einem eigenständigen Störungsbild werden (somatoforme Schmerzstörung) und stellen ein großes Problem in der medizinischen Versorgung dar. Schmerzmessung. In der experimentellen Schmerzforschung werden Schmerzschwellen bestimmt. ! Die Wahrnehmungsschwelle ist diejenige Reizintensität, bei der der Proband angibt, dass ein Reiz (z. B. kaltes Wasser) schmerzhaft sei. Die Toleranzschwelle ist diejenige Reizintensität, bei der der Schmerz unerträglich wird (und der Proband seine Hand aus dem kalten Wasser zieht).
Die Einschätzung des Schmerzes durch den Betroffenen nennt man subjektive Algesimetrie (subjektive Schmerzmessung). Hierfür gibt es Fragebögen. Für die Beurteilung der Schmerzstärke wird häufig eine visuelle Analogskala verwandt. Dies ist eine 10 cm lange Linie, deren Endpunkte mit Worten beschrieben sind: Am linken Ende steht »kein Schmerz«, am rechten Ende »stärkster vorstellbarer Schmerz«. Der Betroffene soll nun sein aktuelles Schmerzempfinden auf diesem Kontinuum einordnen und ein Kreuz an der entsprechenden Stelle
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Kapitel 2 · Gesundheits- und Krankheitsmodelle
machen. Die Schmerzstärke kann dann einfach quantifiziert werden, indem man die Strecke vom linken Ende bis zum Kreuz abmisst. Neuerdings werden jedoch eher numerische Skalen verwandt (Likert-Skala; 7 Kap. 3.2.2). Eine gute Möglichkeit, Auskunft über auslösende und aufrecht erhaltende Faktoren des Schmerzes zu gewinnen, ist ein Schmerztagebuch, das vom Patienten geführt wird. Der am weitesten verbreite Fragebogen zur Erfassung der Schmerzempfindung ist der McGillSchmerzfragebogen, der sowohl die sensorischdiskriminative als auch die affektiv-motivationale und die kognitiv-evaluative Dimension erfragt. Komponenten des Schmerzes 4 sensorische Komponente: Wahrnehmung des Schmerzes, seiner Qualität (z. B. »stechend«, »brennend«), Lokalisation (z. B. »oberflächlich«, »tief«) und Stärke 4 affektive Komponente: emotionale Färbung (»quälend«, »fürchterlich«, »unerträglich«) 4 kognitive Komponente: gedankliche Interpretation (»Das Herz kann es nicht sein, weil …«) 4 vegetative Komponente: körperliche Begleiterscheinungen (z. B. Übelkeit; Herzfrequenzanstieg) 4 motorische Komponente: Gesichtsausdruck, Schonverhalten
Gate-Control-Modell. Schmerz wird nicht einfach
von der Peripherie ins Gehirn geleitet, sondern zugleich von absteigenden Fasern moduliert. Grundannahme der Gate-Control-Theorie ist, dass schon auf der Ebene des Rückenmarks efferente Regulationsmechanismen (eine Art von »Türsteher«) existieren, die darüber entscheiden, ob Schmerzsignale ins Gehirn weitergeleitet werden oder nicht. Ein absteigendes Schmerzhemmsystem kann das »Tor« im Rückenmark öffnen oder schließen. Diese Grundannahme hat sich empirisch bestätigt, auch wenn Details des Modells heute nicht mehr gültig sind. Eine aktive Schmerzhemmung wird auch durch endogene Opiate (Endorphine) bewirkt, die an Opiatrezeptoren binden, wo sie die Freisetzung
von schmerzfördernden Neurotransmittern unterdrücken. Angst und Depression verstärken die Schmerzwahrnehmung, Ablenkung und eine optimistische Einstellung vermindern sie. Empathie. Bei einem Menschen, der beobachtet, wie eine nahestehende Person Schmerzen erleidet, und sich in deren Erleben einfühlt (Empathie), sind die selben Netzwerke aktiviert, so als würde er den Schmerz auch selbst spüren. Interessant ist nun, dass nicht das ganze Netzwerk aktiv ist, sondern nur ein Teil davon, und zwar der mediale Anteil, der den emotionalen Aspekt des Schmerzerlebens vermittelt. Um sich in einen anderen Menschen hineinversetzen zu können, ist offenbar der affektive Gehalt des Schmerzes wichtiger als der sensorische. Dabei fand sich sogar ein direkter Zusammenhang zwischen der Stärke der Aktivierung der entsprechenden Hirnregionen und den interindividuellen Unterschieden in der Empathie. Menschen, die ein größeres Einfühlungsvermögen aufwiesen, zeigten auch eine stärkere Aktivität. Empathie hat sich also vermutlich aus einem System entwickelt, das unsere inneren körperlichen Zustände und Gefühle repräsentiert. Ähnlich ist es auch bei der Wahrnehmung von Gefühlen bei anderen Menschen. Wenn wir den emotionalen Gesichtsausdruck eines anderen Menschen (z. B. Freude oder Trauer) sehen, werden die dem jeweiligen Gefühl zugrunde liegenden Hirnregionen auch bei uns selbst aktiviert, mit den entsprechenden vegetativen und körperlichen Begleiterscheinungen (7 Kap. 4.4). Diese »emotionale Ansteckung« geschieht ganz automatisch, ohne dass eine bewusste Absicht oder Anstrengung dafür erforderlich wäre. Schmerzgedächtnis. Schmerzerfahrungen können zu »Erinnerungen« auf kortikalen und subkortikalen Ebenen führen. Starke Schmerzen, die nicht ausreichend behandelt werden, können Spuren im Zentralnervensystem hinterlassen. Neuronale plastische Veränderungen auf kortikaler und subkortikaler Ebene (v. a. im Rückenmark) bewirken eine erhöhten Schmerzsensibilität: Nozizeptive Nervenzellen werden empfindlicher für Schmerzreize. Dann lösen auch harmlose, normalerweise nicht schmerzhafte Reize Schmerzen aus. Auf diese Weise
29 2.2 · Psychobiologische Modelle
entstehen chronische Schmerzen, die im Unterschied zu akuten Schmerzen kein Signal für eine Gewebeschädigung sind. Der zugrunde liegende Mechanismus wird Langzeitpotenzierung genannt (7 Kap. 4.2.1). Die synaptische Übertragung wird dabei verstärkt (potenziert). Die synaptischen Veränderungen gleichen denjenigen, die man bei der Gedächtnisbildung im Hippocampus findet (deshalb »Schmerzgedächtnis«). Normalerweise beugt die körpereigene Schmerzabwehr (endogene Opioide) der Entstehung des Schmerzgedächtnisses vor. Bei Operationen kann man durch präventive Schmerzausschaltung (Analgesie) z. B. mit Leitungsblockaden eine Langzeitpotenzierung verhindern. Ein schon entstandenes Schmerzgedächtnis lässt sich pharmakologisch nicht löschen. Was teilweise hilft, sind Gegenstimulationsverfahren (transkutane elektrische Nervenstimulation, TENS; Elektroakupunktur) und psychologische Verfahren (s. u.). Die Sensibilisierung der Schmerzwahrnehmung bei Schmerzkranken lässt sich physiologisch durch evozierte Potentiale und bildgebende Verfahren nachweisen. Auch der Einfluss von operanten Lernvorgängen lässt sich objektivieren: Wenn der Partner anwesend ist, der den Kranken üblicherweise tröstet, sinkt die Schmerzschwelle, der Gesichtsausdruck wird gequälter, die evozierten Potentiale zeigen eine intensivere Reaktion an, die aktivierten Hirnareale sind in bildgebenden Verfahren ausgedehnter (und zwar schon vor der bewussten Schmerzwahrnehmung). Bei der operanten Verhaltenstherapie lernen die Partner deshalb, auf Schmerzen nicht mehr mit Zuwendung zu reagieren, um das Schmerzverhalten nicht zu verstärken. Auch der Plazeboeffekt, d. h. die Schmerzlinderung allein infolge der Erwartung, dass ein Mittel hilft, auch wenn es pharmakologisch unwirksam ist, lässt sich objektivieren. Diese Erwartung aktiviert das körpereigene Opioidsystem. Umgekehrt lässt sich der Plazeboeffekt aufheben, wenn man das Opioidsystem mit dem Opiatantagonisten Naloxon blockiert. Bei plazebobedingter Schmerzlinderung finden sich in bildgebenden Verfahren auch entsprechende Hirnaktivitätsänderungen, die auf eine veränderte Schmerzinterpretation hindeuten. Allerdings ist nur ein Teil der Schmerzpatienten für Plazeboeffekte empfänglich (zum Plazeboeffekt 7 Kap. 6.2.6).
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Phantomschmerzen sind auf die Reorganisation von Hirnarealen zurückzuführen. Die kortikalen Projektionsgebiete des amputierten Glieds, die keinen Input mehr erhalten, werden von anderen Projektionen sozusagen mitbenutzt. Da der kortikale Ort aber festlegt, wo die Reize räumlich wahrgenommen werden, empfindet der Betroffene die Schmerzen als aus dem amputierten Glied kommend, auch wenn dies gar nicht mehr vorhanden ist. Phantomschmerzen lassen sich durch konsequente Analgesie vor der Amputation verhindern oder abschwächen. Eine Prothese, die den Stumpf elektrisch stimuliert, macht die kortikale Reorganisation wieder rückgängig und vermindert die Phantomschmerzen. Eine weitere Behandlungsmöglichkeit, die ebenfalls die neuronale Plastizität benutzt, ist die Spiegeltherapie (7 Kap. 4.2.1).
ä Phantomschmerzen.
Als chronische Schmerzen werden Schmerzen mit einer Dauer von mehr als 6 Monaten bezeichnet. Hier findet sich, wie erwähnt, häufig keine organische Ursache, die die Schmerzen erklären könnte. Die häufigsten chronischen Schmerzen sind chronische Rückenschmerzen sowie Kopfschmerzen (Migräne und Spannungskopfschmerz). Das verhaltensmedizinische Schmerzmodell unterscheidet prädisponierende, auslösende und aufrecht erhaltende Faktoren des Schmerzes. Prädisponierend sind eine genetische Disposition, frühe mit Schmerz verbundene Erlebnisse (z. B. schmerzhafte medizinische Untersuchungen), eine Überlastung von Körperregionen (z. B. der Muskulatur des Nackens, der Schulter und des Rückens bei Computerarbeit) und Modelllernen (z. B. bei Kindern, deren Eltern ebenfalls an Schmerzen leiden). Die auslösenden Faktoren umfassen akute und chronische Stresssituationen mit Erhöhung der Muskelspannung, was zu einem Circulus vitiosus von Stress und Muskelspannung führen kann. Außerdem spielen Fehlinterpretationen von Körperwahrnehmungen als Schmerz eine Rolle sowie eine Kausalattribution der Schmerzen als Zeichen einer körperlichen Krankheit, ähnlich wie bei der Somatisierungsstörung. Zu den aufrecht erhaltenen Faktoren gehören operante Konditionierung (z. B. Zuwendung durch den Ehepartner für Schmerzäußerungen) und dysfunktionale Kognitionen (z. B. Katastrophisieren) sowie maladap-
ä Chronische Schmerzen.
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Kapitel 2 · Gesundheits- und Krankheitsmodelle
tives Schmerzverhalten (z. B. Angst-Vermeidungs-
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Strategie oder Durchhaltestrategie), die weiter unten am Beispiel der chronischen Rückenschmerzen beschrieben werden. ä Chronische
Rückenschmerzen. Chronische
Rückenschmerzen sind die häufigste Ursache von Arbeitsunfähigkeit, stationärer Krankenhausbehandlung, medizinischer Rehabilitation und Frühberentung. Meist findet man keine organischen Veränderungen an der Wirbelsäule, die die Schmerzen erklären würden. Menschen, die chronische Rückenschmerzen entwickeln, reagieren in Stresssituationen bevorzugt mit einer Verkrampfung der Rückenmuskulatur (individualspezifische Reaktion). Infolge der eintretenden Schmerzen verkrampft sich die Muskulatur zusätzlich, so dass ein Teufelskreis entsteht. Die Betroffenen schonen sich aus Angst, durch körperliche Aktivität ihrem Rücken zu schaden, immer mehr und vermeiden körperliche Anstrengungen (Angst-VermeidungsStrategie), was zwar kurzfristig zur Entlastung führt (negative Verstärkung des Vermeidungsverhaltens), langfristig aber zu einer Zunahme der Schmerzen. Wenn sie sich einmal körperlich anstrengen und dabei Schmerzen verspüren, entwickeln sie oft starke Befürchtungen, dass sich ihr Gesundheitszustand immer mehr verschlechtern wird (»katastrophisierende Gedanken«). Kommt infolge des sozialen Rückzugs und der Aufgabe von Aktivitäten noch eine Depression hinzu, ist das Chronifizierungsrisiko der Rückenschmerzen noch größer. Den Gegenpol stellen Schmerzpatienten dar, die auf Schmerzen mit Durchhalteappellen reagieren und sich immer weiter körperlich anstrengen, auch auf die Gefahr hin, sich zu überfordern. Diese Durchhaltestrategie erhöht ebenfalls das Chronifizierungsrisiko. Die wichtigste Therapie besteht in körperlicher Aktivität trotz Schmerzen. Dies gilt auch bei akuten Rückenschmerzen, bei denen Bettruhe auf das absolut Notwendige begrenzt werden sollte. In der Rehabilitation kommen ein gezieltes Funktionstraining (functional restoration), Üben arbeitsplatzbezogener Tätigkeiten (work hardening) und verhaltensmedizinische Verfahren wie Stressbewältigungstraining und Patientenschulungen zum Einsatz.
! Die wichtigste Behandlungsmaßnahme bei chronischen Rückenschmerzen besteht in körperlicher Aktivität.
Eine ausschließlich medikamentöse Behandlung stößt bei chronischen Schmerzen an ihre Grenze, zumal Schmerzmittel auf Dauer selbst schmerzauslösend wirken können. Deshalb ist ein multimodales Vorgehen angezeigt, in welchem auch psychologische Behandlungsverfahren ihren Platz haben. Verhaltensmedizin. Verhaltensmedizinische The-
rapiebausteine sind Stressbewältigungstrainings, Entspannungsmethoden (7 Kap. 8.2.5), Biofeedback sowie Schmerzbewältigungsstrategien. Dabei lernen die Patienten z. B., ihre Aufmerksamkeit von den Schmerzen abzulenken oder sich in Gedanken an einen besonders schönen Ort zu versetzen, wo sie sich früher einmal sehr wohl fühlten (geleitete Imagination). Biofeedback dient dazu, üblicherweise automatisch ablaufende körperliche Regulationsvorgänge – Muskelspannung, Herzfrequenz, Blutdruck, Körpertemperatur oder Gehirnströme – vermehrt unter bewusste und aktive Kontrolle zu bekommen. Um diese Kontrolle zu ermöglichen, werden die jeweiligen Vorgänge gemessen und in optische oder akustische Signale umgewandelt, so dass die Patienten unmittelbar sehen oder hören können, wenn sich beispielsweise der Muskeltonus verändert. Mit der Aufforderung, das optische Signal auf einem Bildschirm nicht über eine angezeigte Schwelle gelangen zu lassen, können sie lernen, den Muskeltonus (oder andere o. g. Vorgänge) aktiv zu beeinflussen und zu steuern. Das Erlernen der nötigen »inneren Einstellungsprozesse« erfolgt dabei über operante Konditionierung, auch wenn noch nicht völlig geklärt ist, wodurch Biofeedback wirkt. Die Veränderung der körperlichen Vorgänge ist meist die Folge von Entspannungszuständen. Biofeedback ist somit eine Form des Lernens, die Körperwahrnehmung, Entspannung und Selbstkontrolle schult. Auch die schmerzevozierten Potentiale (und damit die Schmerzwahrnehmung) lassen sich durch Biofeedback beeinflussen. Bei Migräne lernen die Patienten, die Blutgefäße des Gehirns, die im Migräneanfall erweitert sind, wieder zu verengen, entweder direkt über einen Sensor, der über der Schlä-
31 2.3 · Psychodynamische Modelle
fenarterie angebracht ist, oder indirekt, indem sie lernen, eine Erwärmung der Hand zu bewirken, die eine Verengung der Kopfgefäße nach sich zieht. Hierzu wird ihnen über einen Temperaturfühler die Hauttemperatur der Hand zurückgemeldet. Die anfangs hohen Erwartungen, mit Hilfe von Biofeedback ein so großes Maß an Kontrolle über die körperlichen Vorgänge zu ermöglichen, dass z. B. Medikamente gegen Schmerzen oder Bluthochdruck überflüssig würden, sind jedoch enttäuscht worden. So ist es zwar möglich, die genannten Körperfunktionen willentlich zu beeinflussen, jedoch nicht in dem Ausmaß, wie ursprünglich erhofft. Dennoch ist Biofeedback eine fruchtbare adjuvante Intervention bei vielen Beschwerden wie z. B. Migräne, Spannungskopfschmerz, Schlafstörungen, Bluthochdruck und Lähmungen (z. B. nach Schlaganfall). v Lernziele Stress, Stressor, allgemeines Adaptationssyndrom; Homöostase, Allostase; stimulusspezifische Reaktion, individualspezifische Reaktion; StressDiathese-Modell = Stress-Vulnerabilitäts-Modell; Stress und Immunsystem; Schmerz: akut vs. chronisch, Schwellen, Messung, Komponenten, Schmerzgedächtnis, Langzeitpotenzierung, operante Schmerztherapie, Chronifizierungsfaktoren.
Ì Vertiefen Birbaumer N, Schmidt RF (2005) Biologische Psychologie, 6. Aufl. Springer, Berlin Heidelberg New York (umfassendes, grundlegendes Werk) Schandry R (2006) Biologische Psychologie, 2. Aufl. Beltz, Weinheim (gut verständliche Einführung) Segerstrom SC, Miller GE (2004) Psychological stress and the human immune system: A meta-analytic study of 30 years of inquiry. Psychological Bulletin 130:601–630 (umfassende Übersicht über die Forschung)
2.3
2
Psychodynamische Modelle
! Psychodynamische, d. h. an der Psychoanalyse orientierte Modelle, nehmen an, dass unbewusste Konflikte und Beziehungsmuster, die ihre Wurzeln bereits in der Kindheit haben können, psychischen Störungen zugrunde liegen.
2.3.1
Psychoanalytische Entwicklungspsychologie
Das Bild des Säuglings im Wandel. In der psycho-
analytischen Entwicklungspsychologie spielt die frühe Kindheit eine große Rolle. Das Erleben des Säuglings und kleinen Kindes wurde anhand der Köperorgane, auf die sich, so die Theorie Freuds, die sexuelle Lust des Kindes richte, in Phasen eingeteilt (Stadienmodell: orale, anale, phallische Phase; s. u.). Im Zentrum der frühkindlichen Entwicklung stand die Bewältigung des Ödipuskomplexes. Diese theoretischen Annahmen waren jedoch retrospektiv aus pathologischen Phänomenen bei erwachsenen Patienten entwickelt und sozusagen auf die normale Kindheitsentwicklung zurückdatiert worden. Als man in jüngerer Zeit dazu überging, Säuglinge direkt zu beobachten, wandelte sich das Bild des Kindes vollständig. Es wurde klar, dass Säuglinge nicht von unerträglichen Triebspannungen beherrscht sind, sondern differenzierte Emotionen empfinden und aktiv mit ihren primären Bezugspersonen interagieren, bei denen sie auf ein intuitives Elternverhalten treffen. Sie sind zu komplexen Wahrnehmungs- und kognitiven Leistungen in der Lage und erforschen früh ihre Umwelt, um eigene Wirkungen auf diese zu erkunden. Beispiel: Verbindet man den Fuß eines Säuglings durch einen Faden mit einem Mobile, so erkennt er bald, dass er dieses selbst in Bewegung setzen kann, und wiederholt diesen Effekt immer wieder: Neugier und Funktionslust statt sexueller Lust. Situationen hoher Spannung, gesteuert von »Trieben«, »Versagungen« und »Verführungen« sind nicht das Normale, sondern entstehen dann, wenn Eltern aufgrund eigener unbewältigter Konflikte oder psychischer Belastungen nicht in der Lage sind, den Bedürfnissen ihrer Kinder gerecht zu werden. In moderner psy-
32
2
Kapitel 2 · Gesundheits- und Krankheitsmodelle
choanalytischer Sichtweise spielt die kindliche Sexualität keine so große Rolle mehr; andere Bedürfnisse, wie diejenigen nach Bindung und Kommunikation, aber auch Exploration sind wichtiger. Beispiel: Der Säugling nimmt in der »oralen Phase« nicht deswegen Dinge in den Mund, weil er sich dadurch sexuelle Lust verschaffen will, sondern um ihre Beschaffenheit herauszufinden. Implizite Beziehungsmuster. Im Zentrum der psychoanalytischen Theorie stehen unbewusste intrapsychische Konflikte, die das Erleben und Ver-
halten bestimmen. Innere Konflikte entstammen jedoch den interpersonellen Erfahrungen, die ein Mensch im Verlaufe seiner Entwicklung gemacht hat. Diese Erfahrungen schlagen sich in Verhaltensund Erlebensmustern nieder, die nicht bewusst, sondern implizit und im prozeduralen Gedächtnis repräsentiert sind (implizites Beziehungswissen). Dieses implizite Wissen enthält z. B. Annahmen darüber, wie man seine Gefühle ausdrücken darf und seine Ziele verfolgen kann, oder Erwartungen, wie andere reagieren werden, wenn man sich ihnen gegenüber auf eine bestimmte Art oder Weise verhält. Beispiel einer auf Video aufgezeichneten Interaktionssequenz: Ein 18 Monate alter Junge sitzt zusammen mit seiner depressiven Mutter auf dem Sofa. Er trinkt sein Fläschchen, die Mutter raucht eine Zigarette und starrt ins Leere. Nachdem er ausgetrunken hat, hüpft er auf dem Sofa auf und ab, ohne dass seine Mutter reagiert. In dem Augenblick aber, in dem er zu ihr hinüber krabbelt, schimpft sie: »Ich hatte dir doch gesagt, du sollst nicht auf dem Sofa hüpfen!« In dieser Sequenz wird deutlich, dass ihr Schimpfen nicht durch das vorherige Hüpfen, sondern durch seine Annäherung ausgelöst wurde. Wenn sich derartige Erlebnisse wiederholen, erwirbt das Kind ein implizites Beziehungswissen derart, dass Ausdruck von Nähe wahrscheinlich mit Zurückweisung beantwortet wird. Es wird deshalb Nähewünsche unterdrücken, um Zurückweisungen zu verhindern. In einer späteren Szene sieht man, wie der Kleine auf seine Mutter zuläuft und die Hand nach ihr ausstreckt; doch kurz bevor er sie berührt, zieht er die Hand wieder zurück. Er würde gerne mit der Mutter Kontakt aufnehmen, lässt es aber dann doch lieber bleiben. Es entwickelt einen Konflikt zwischen Nähewünschen
und ihrer Abwehr. Die Abwehr von Nähebedürfnissen dient der Bewältigung realer Erfahrungen. Auf deren Basis entstehen unbewusste Beziehungsschemata, wie sie auch von der Bindungstheorie beschrieben werden (7 Kap. 4.7.3). Affektregulation. Wie gelingt es Säuglingen, ihre
Gefühle zu regulieren? Um dies zu lernen, benötigen sie die einfühlsame Reaktion eines Gegenübers, der primären Bezugsperson, üblicherweise der Mutter. Deren Aufgabe ist es, die vom Kind zum Ausdruck gebrachten Gefühle zu reflektieren (Affektspiegelung), und zwar in einer markierten, übertriebenen Weise, so dass das Kind merkt, dass es sich nicht um den eigenen Affekt der Mutter, sondern um seinen von der Mutter wahrgenommenen und zurückgespiegelten Affekt handelt (»als-obAffekt«). Das Kind sieht sozusagen im Gesicht der Mutter seinen eigenen Zustand. Beispiel: Wenn es sich weh getan hat, wird die Mutter den Schmerz in ihrem eigenen Gesicht etwas dramatisiert darstellen und danach beruhigend und tröstend zum Kind sprechen, wodurch sich dessen Schmerz abmildert. Dies geschieht zunächst ganz automatisch; später kann das Kind diese Strategie auch bewusst einsetzen, nachdem es die Fähigkeit zum symbolischen Denken entwickelt hat: Es bildet dann eine Repräsentation, d. h. eine Vorstellung des Gefühls, welche es ihm ermöglicht, gezielt Bewältigungsstrategien anzuwenden oder sich von dem Gefühl zu distanzieren. Eine ähnliche Rolle kann das Spielen einnehmen, in welchem das Kind beispielsweise so tut, als ob sein Teddybär sich weh getan hat, ihn tröstet und das schmerzliche Gefühl auf diese Weise verarbeitet. Mentalisierung. Wenn die Mutter die kindlichen
Gefühle auf einfühlsame Weise widerspiegelt und feinfühlig, prompt und angemessen auf die kindlichen Bedürfnisse reagiert, entwickelt das Kind die Vorstellung, dass es selbst, aber auch andere Menschen Wesen mit geistigen Zuständen, Wünschen, Bedürfnissen und Absichten sind. Diesen Prozess nennt man Mentalisierung, sein Ergebnis eine theory of mind. In Abhängigkeit vom Ausmaß der mütterlichen Feinfühligkeit kann dieser Mentalisierungsprozess mehr oder weniger gut gelingen. Wenn eine Mutter die Kontaktwünsche ihres Kin-
33 2.3 · Psychodynamische Modelle
des zurückweist, es zu sehr kontrolliert, aber auch überstimuliert, wenn sie infolge eigener konflikthafter Einstellungen dem Kind nicht gerecht wird, am extremsten aber bei sexuellem oder aggressivem Missbrauch, kann das Kind diese Fähigkeit, sich in andere hineinzuversetzen, nicht ausreichend erwerben. Dies scheint bei der Borderline-Persönlichkeitsstörung der Fall zu sein.
2.3.2
Die traditionellen Stadien der psychosexuellen Entwicklung
Das traditionelle Stadienmodell der psychosexuellen Entwicklung geht auf Sigmund Freud, den Begründer der Psychoanalyse zurück. Erik H. Erikson erweiterte das Modell über die Kindheit hinaus in das Erwachsenenalter. Die Information über die
2
kindliche Entwicklung gewann Freud, wie erwähnt, aus den Erinnerungen seiner Patienten. Im Stadienmodell der psychosexuellen Entwicklung werden typische Phasen beschrieben, die, wenn sie gestört werden, zu einer späteren neurotischen Erkrankung disponieren können. Diese Phasen sind nach den Organsystemen bezeichnet, die in der jeweiligen Zeit eine wichtige Rolle spielen. In den Bezeichnungen der Phasen kommt zum Ausdruck, dass die psychische und sexuelle Entwicklung in engem Zusammenhang mit der körperlichen Entwicklung stehen. Einen Überblick über die Stadien der psychosexuellen Entwicklung gibt . Tab. 2.1. Oral-sensorische Phase. Das Neugeborene ist angewiesen auf Wärme, Hautkontakt und Nahrungsaufnahme. In der Bezeichnung dieser Phase kommt zum Ausdruck, dass der Mund und die Haut wich-
. Tab. 2.1. Stadien der psychosexuellen Entwicklung (n. Freud, Erikson)
Lebensalter in Jahren
Psychosexuelle Phasen
Umkreis der Beziehungspersonen
Psychosexuelle Modalitäten
Psychosoziale Krisen
bis 1½
Oral-sensorische Phase
Mutter (Vater)
Empfangen und (sich-) einverleiben, atmosphärisches Fühlen, Hören, Sehen, Riechen
Urvertrauen vs. Urmisstrauen
1½ bis 3
Anal-muskuläre Phase
Eltern
Festhalten und hergeben, Trotz – Fügsamkeit
Autonomie vs. Scham und Zweifel
3 bis 5 (6)
Phallisch-ödipale Phase
Familie
Vergleichen und konkurrieren, Geschlechtsrollenfindung
Initiative vs. Schuldgefühl
6 bis 10
Latenzphase
Wohngegend, Schule
Etwas »Richtiges« machen, etwas mit anderen zusammen machen
Leistung vs. Minderwertigkeitsgefühl
10 bis 18 (20)
Pubertät und Adoleszenz
»Eigene« Gruppen, »die Anderen«, Führer – Vorbilder
Wer bin ich? (Wer bin ich nicht?); das Ich in der Gemeinschaft
Identität vs. Identitätsdiffusion
20 bis 40
Frühes Erwachsenenalter – Genitalität
Freunde, sexuelle Partner, Rivalen, Mitarbeiter
Sich im anderen verlieren und finden
Intimität vs. Isolierung
40 bis 60
Mittleres Erwachsenenalter
Gemeinsame Arbeit, Zusammenleben in der Ehe
Schaffen, versorgen
Generativität vs. Stagnation
über 60
Spätes Erwachsenenalter
»Die Menschheit«, »Menschen meiner Art«
Sein, was man geworden ist; wissen, dass man einmal nicht mehr sein wird
Integrität vs. Verzweiflung
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Kapitel 2 · Gesundheits- und Krankheitsmodelle
tige Medien der frühen Umweltkommunikation des Säuglings sind. Gestillt und gefüttert werden, getragen und gehalten werden führen zu einem Urgefühl von Geborgensein und Versorgung, das als Urvertrauen bezeichnet wird. Bildet sich dieses Gefühl der Sicherheit nicht angemessen aus, können z. B. Dispositionen für eine spätere Depression oder auch eine Störung des zwischenmenschlichen Kontakts resultieren. Anal-muskuläre Phase. Diese Phase hat ihren Na-
men daher, dass nun Reinlichkeitserziehung und motorische Expansion bedeutsam werden. Zum einen gewinnt das Kind Kontrolle über die Ausscheidungsfunktionen, zum zweiten kann es sich von seinen Eltern weg bewegen und dadurch Autonomie erlangen. Zugleich aber können Scham und Zweifel auftreten, weil die ersten Versuche der Verselbständigung wortwörtlich »in die Hose gehen« können. Übermäßige Einschränkungen der autonomen Regungen des Kindes durch die Eltern können mit Trotz und Rebellion beantwortet werden. Phallisch-ödipale Phase. In der ödipalen Phase
treten die eigentlichen Sexualorgane in den Vordergrund. Freud hat zwar auch die bisherigen Phasen als psychosexuelle Stadien verstanden, dabei aber den Begriff der Sexualität weit über die übliche Definition hinaus auf jegliche lustvolle Empfindung ausgedehnt. In der ödipalen Phase verspürt der kleine Junge eine heftige Zuneigung zu seiner Mutter, das kleine Mädchen zu seinem Vater (»Wenn ich groß bin, heirate ich dich!«). Das jeweils gleichgeschlechtliche Elternteil wird dadurch zum Rivalen, den man verdrängen möchte. Dies führt zu einem inneren Konflikt, weil der kleine Junge den Vater (analog das kleine Mädchen seine Mutter) nicht nur loswerden will, sondern ihn (bzw. sie) zugleich auch gerne hat. Konkurrenzerleben und Phantasien der Rivalität verursachen Schuldgefühle. Sexualstörungen z. B., wie Verlust des Interesses an der Sexualität oder erektile Dysfunktion, können hier eine Wurzel haben. Latenzphase. Nach der ödipalen Phase ist nach Freud die frühkindliche Sexualentwicklung abgeschlossen, und das Sexuelle tritt in die Latenz zurück. Nun werden Gleichaltrige (die peer group)
wichtiger. In der Schule geht es um Leistung und Kompetenz. Auf der anderen Seite können Minderwertigkeitsgefühle auftreten, wenn sich ein Kind den Leistungsanforderungen nicht gewachsen fühlt. Pubertät und Adoleszenz. In der Pubertät werden
durch die körperliche Entwicklung (hormonelle Veränderungen, Auftreten der sekundären Geschlechtsmerkmale) zum einen die ödipalen Strebungen der Kindheit wiederbelebt, zum anderen geht es um eine Ablösung aus dem familiären Kontext und die Hinwendung zu anderen Menschen. Die eigene Identität im Vergleich zu anderen bildet sich aus. Dass diese Anforderungen nicht von allen Heranwachsenden gleich gut bewältigt werden, zeigen Störungen wie die Pubertätsmagersucht (Anorexia nervosa), bei der die Annahme der weiblichen Identität einschließlich der Körpermerkmale ein wichtiges Thema sein kann. Kritik. Kritisch zur psychosexuellen Stadienlehre ist anzumerken, dass sie das Konflikthafte und potenziell Pathologische in den Vordergrund stellt, weil sie ja auf der Basis von Patientenberichten gewonnen wurde. Außerdem weiß man heute aufgrund von Längsschnittuntersuchungen, dass die Erinnerungen Erwachsener an ihre Kindheit nur sehr schwach mit damals tatsächlich vorgefallenen Ereignissen zusammenhängen. Die beschriebenen Phasen sollte man auch nicht streng voneinander abgrenzen, sondern eher als Entwicklungsthemen betrachten, die mehr oder weniger stark während der gesamten Biographie eine Rolle spielen können.
Sexueller und aggressiver Missbrauch von Kindern ist viel häufiger, als man früher annahm. Missbrauch stellt ein Trauma dar, das Langzeitfolgen wie z. B. eine psychische Störung hervorrufen kann. Mit der psychologischen Behandlung von Traumaopfern befasst sich die Psychotraumatologie. Ein Trauma ist definiert als ein Lebensereignis, auf welches fast alle Menschen mit starker psychischer Belastung reagieren würden. Dazu gehören neben kindlichem Missbrauch auch andere aggressive oder sexuelle Gewalterfahrungen wie Vergewaltigung, Entführung, Geiselnahme, Kriegserlebnisse, Folter, aber auch Naturkatastrophen oder schwere Unfälle. Auch die Diagnose einer le-
ä Psychotraumatologie.
35 2.3 · Psychodynamische Modelle
bensbedrohlichen Krankheit wird manchmal als Trauma erlebt, sofern damit intensive Furcht, Entsetzen oder Hilflosigkeit einhergehen. Die psychische Belastung bildet sich zwar mit der Zeit oft wieder zurück; aber bei einem Teil der Betroffenen entwickelt sich eine posttraumatische Belastungsstörung. Risikofaktoren sind neben der Art und Schwere des Traumas vorbestehende oder wiederholte Traumatisierungen und die Vermeidung, sich mit dem Trauma auseinanderzusetzen. Denn dann kann das Trauma nicht im Gedächtnis abgespeichert werden und drängt sich dem Erleben immer wieder unverarbeitet auf, als würde es jeweils erneut durchlebt werden (Intrusionen, flash backs). In der Therapie lernen die Betroffenen zuerst Strategien anzuwenden, um sich gegen das Eindringen der Traumabilder zu schützen (Stabilisierung). Danach konfrontieren sie sich vorsichtig und schrittweise mit der traumatischen Erfahrung (Exposition), um sie auf diese Weise in das autobiographische Gedächtnis zu integrieren.
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ideale Vorstellung von sich selbst, der man nachstrebt (Ich-Ideal). Ich. Das Ich vermittelt zwischen Es und Über-Ich.
Es berücksichtigt die Forderungen der Realität und versucht einen Kompromiss zu erzielen zwischen den Triebbedürfnissen des Es auf der einen Seite und den moralischen Ver- und Geboten des ÜberIchs auf der anderen Seite. Es kann entweder einen Triebimpuls akzeptieren und seine Befriedigung ermöglichen und dies lustvoll genießen, aber auch auf die Erfüllung eines Triebwunsches bewusst verzichten oder ihn schließlich unbewusst abwehren (s.u.). Das Ich vertritt das Realitätsprinzip, während das Es vom Lustprinzip regiert wird. Da das Ich in einem Spannungsverhältnis zwischen unterschiedlich wirkenden Kräften aus dem Es und dem Über-Ich steht und es zu entsprechenden Konflikten zwischen Über-Ich und Es kommen kann, spricht man von Psychodynamik. Topographisches Modell. Neben dem Instanzen-
2.3.3
Drei-Instanzen-Modell, Triebmodell
Das psychoanalytische Strukturmodell der Persönlichkeit unterscheidet drei Instanzen: Es, Ich und Über-Ich. Es. Das Es ist die Quelle der Wünsche, Antriebe
und Begierden. Diese unbewussten Impulse, die unwillkürlich aus der Tiefe (deshalb Tiefenpsychologie) auftauchen, wurden früher als »Triebe« bezeichnet. Die Psychoanalyse hat sich vor allem mit dem Sexualtrieb und dem Aggressionstrieb beschäftigt. Diese Triebe drängen auf Befriedigung, stoßen aber auch auf Widerstand und Verbote. Über-Ich. Das Über-Ich vertritt die verinnerlichten Normen der sozialen Umwelt und deren moralische Forderungen. Es ist eine warnende Instanz, die wir als die »Stimme des Gewissens« kennen. Während ursprünglich die elterlichen Verbote und Gebote die triebhaften Bedürfnisse einschränkten, wird diese Aufgabe im Laufe der Entwicklung zunehmend von der inneren moralischen Instanz des Über-Ichs übernommen. Das Über-Ich umfasst auch eine
modell gibt es noch das topographische Modell. Es unterscheidet drei Bereiche, die sich mit den drei Instanzen Ich, Es und Über-Ich überschneiden: 4 das Bewusste, 4 das Vorbewusste, 4 das Unbewusste. Diejenigen psychischen Inhalte, zu denen wir im aktuellen Erleben Zugang haben, werden als das Bewusste bezeichnet. Das Vorbewusste ist uns zwar aktuell nicht bewusst, kann aber ohne größeren Aufwand bewusst gemacht werden; es ist bewusstseinsfähig. Das Unbewusste, das nach Freud den größten Teil des Seeelenlebens ausmacht, wird hingegen nur sehr selten bewusst. Es setzt dem Bewusstwerden oft sogar einen Widerstand entgegen. Die Bewusstmachung erfordert deshalb bestimmte therapeutische Techniken wie die freie Assoziation (7 Kap. 8.2.1). Während das Es vollständig dem Unbewussten zugeordnet wird, haben Ich und Über-Ich sowohl bewusste als auch vor- und unbewusste Anteile. Die Abwehr als eine Funktion des Ichs erfolgt beispielsweise gleichwohl unbewusst (s. u.). Das Geniale an Freuds Theorie ist die große Bedeutung, die dem Unbewussten für das Erleben und Verhalten des Menschen zugeschrieben wird. Diese
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Kapitel 2 · Gesundheits- und Krankheitsmodelle
Entdeckung wurde durch die neuen Ergebnisse der Hirnforschung voll bestätigt. Neurowissenschaftler bezeichnen heute wie schon damals Freud das bewusste Erleben im Alltag als die »Spitze des Eisbergs«, unter der die allermeisten kognitiven und Wahrnehmungsprozesse unbewusst ablaufen. Allerdings ist das Unbewusste, wie es von den Neurowissenschaften beschrieben wird, nicht aus neurotischen Motiven verdrängt worden, sondern stellt ein sehr adaptives Verhaltenssteuerungssystem dar (7 Kap. 4.3.1).
zeichnet. Hier geht es um zwischenmenschliche Beziehungsmuster, die das Erleben und Verhalten steuern. Psychische Störungen entstehen, wenn diese Muster dysfunktional sind.
2.3.5
Abwehrmechanismen
7 Psychodynamische Persönlichkeitsmodelle
werden in Kap. 4.6.2 dargestellt.
2.3.4
Trieb-, Ich-, Selbst- und Objekt-psychologische Modelle
Die Psychoanalyse ist keine einheitliche Theorie. Vielmehr finden sich unter dem Oberbegriff »psychoanalytisch« viele unterschiedliche, teilweise heterogene Modelle. Die vier Modelle der Psychoanalyse 4 Trieb-psychologisches Modell: Dieses frühe Modell stellt den Konflikt zwischen einem Triebwunsch und der Abwehr in den Vordergrund. Psychische Störungen entstehen demnach durch ein Übermaß an Triebunterdrückung. 4 Ich-psychologisches Modell: Hier steht die Rolle des Ich im Vordergrund, das die Funktionen der Emotionsregulation und Realitätsanpassung ausübt. Psychische Störungen entstehen, wenn das Ich zu schwach ist, diese Aufgaben zu leisten. 4 Selbst-psychologisches Modell: Im Zentrum dieses Modells stehen Selbstbild und Selbstwertgefühl. Psychische Störungen entstehen, wenn ein Mensch keine kohärente Identität und kein ausreichendes Selbstwertgefühl ausbilden kann (narzisstische Störung). 4 Objekt-psychologisches Modell: Als Objekte werden in der psychoanalytischen Terminologie die anderen Menschen be6
! Eine Möglichkeit des Ichs, mit unbewussten Triebregungen, inneren Konflikten oder unerträglichen Gefühlen umzugehen, ist die Abwehr. Abwehrvorgänge halten diese unangenehmen Zustände vom bewussten Erleben fern, und der Mensch weiß in der Regel gar nicht, dass er sich solcher Mechanismen bedient, weil auch die Abwehr selbst unbewusst erfolgt.
Abwehrvorgänge können bei der Entstehung psychischer Symptome eine Rolle spielen. Sie sind jedoch nicht per se pathologisch, sondern kommen auch im normalen Alltagsleben (sog. Freudsche Fehlleistungen wie Versprecher) oder bei der psychischen Bewältigung schwerer körperlicher Erkrankungen vor. Man unterscheidet eine ganze Reihe von Abwehrmechanismen je nach der Art und Weise, wie unerwünschte Motive oder Gefühle verarbeitet werden (. Tab. 2.2). Verdrängung. Verdrängung ist der Prototyp eines Abwehrmechanismus. Verdrängen heißt Vergessen aufgrund unbewusster Motive. Beispiel: »Das habe ich getan, sagt mein Gedächtnis. Das kann ich nicht getan haben, sagt mein Stolz. Und bleibt unerbittlich. Endlich gibt das Gedächtnis nach« (Nietzsche). Verschiebung. Eine Emotion, die zu äußern einem Angst macht, wie z. B. Wut auf den Chef, der einen gerade kritisiert hat, gegen den man sich aber nicht zur Wehr setzen kann, wird auf ein weniger gefährliches Objekt, wie z. B. die eigene Frau, die sich das eher gefallen lässt, verschoben. Verleugnung. Verleugnung bedeutet das NichtWahrhaben-Wollen einer bedrohlichen Informa-
37 2.3 · Psychodynamische Modelle
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. Tab. 2.2. Abwehrmechanismen Verdrängung
Ausschaltung bestimmter verpönter Motive und Konflikte aus dem bewussten Erleben
Verschiebung
Verlagerung einer Emotion (z.B. Angst, Wut) von einem bedrohlichen auf ein ungefährliches Objekt (»Prügelknabe«, ein Objekt als Ersatz für ein anderes Objekt)
Verleugnung
Abwehr der Realität von traumatisierenden Wahrnehmungen – der Gegenstand einer bedrohlichen Wahrnehmung wird als nicht existent angesehen (»Kopf-in-den-Sand-Stecken«)
Projektion
Verlagerung eigener abgewehrter Wünsche, Impulse, Ängste, Schwächen und Schuldgefühle in den anderen (»Sündenbock« = Adressat einer Projektion, dient zur Entlastung von Selbstvorwürfen)
Spaltung
Widersprüchliche Aspekte bzw. Gefühlszustände – z. B. Wahrnehmen von Gut und Böse bei sich oder beim anderen – werden so auseinander gehalten, als beträfen sie verschiedene Personen
Identifikation
Unbewusste Übernahme von Einstellungen, Verhaltensweisen und Wertmaßstäben einer anderen Person oder Gruppe
Reaktionsbildung
Aktivierung des entgegengesetzten Impulses (statt Hass übertriebene Freundlichkeit; Überkompensation)
Rationalisierung
Falsche Begründung eines bestimmten Sachverhalts (»Pseudoerklärung«)
Isolierung
Künstliches Abtrennen der Gefühle vom gedanklichen Inhalt
Ungeschehenmachen
Vorausgegangenes nichtakzeptables Handeln soll durch nachfolgendes Handeln aufgehoben werden
Sublimierung
Ablenkung sexueller Triebenergie auf ein nichtsexuelles, kulturell oder sozial wertvolles Ziel
tion. Sie findet sich häufig nach der Mitteilung einer schwerwiegenden Diagnose. Beispiel: Ein Patient, der gerade von seinem Stationsarzt erfahren hat, dass er an einer unheilbaren Krebskrankheit leidet, beschwert sich kurze Zeit später gegenüber der Stationsschwester: »In diesem Krankenhaus bekommt man ja eh nicht gesagt, was man hat.« Verleugnung richtet sich also eher nach außen, gegen die bedrohliche Realität, Verdrängung mehr nach innen, gegen unbewusste Triebwünsche. Verleugnung ist kein Alles-oder-Nichts-Phänomen. Auch wenn ein Kranker in einem Augenblick sich so verhält, als wisse er überhaupt nicht, dass er an Krebs erkrankt ist, kann er in einer anderen Situation, in der er sich emotional unterstützt fühlt, durchaus die Information aus dem Unbewussten »hervorholen«. Verleugnung kann als eine Art Notfall- oder Schutzmechanismus verstanden werden, der verhindert, dass der Betroffene von Angst oder Verzweiflung überschwemmt wird. In einer Situation, in der er sich sicher fühlt, kann er die Verleug-
nung dann schrittweise wieder zurücknehmen und sich mit der bedrohlichen Realität auseinandersetzen. Kurzfristig kann Verleugnung deshalb ganz hilfreich sein. Langfristig kann sie aber dazu führen, dass die Patienten notwendige diagnostische und therapeutische Maßnahmen unterlassen und sich dadurch selbst gefährden. ! Verleugnungsprozessen kann man als Ärztin oder Arzt am besten vorbeugen, indem man Informationen schrittweise vermittelt und sich am Informationsbedürfnis des Patienten und seinen Verarbeitungsmöglichkeiten orientiert, um ihn nicht emotional zu überfordern. Projektion. Eigene Wünsche, Impulse oder Affekte,
die ich mir selbst nicht eingestehen kann, werden anderen zugeschrieben. Man sieht »den Splitter im Auge des anderen, aber nicht den Balken im eigenen Auge«. Der andere fungiert als »Sündenbock« für die eigenen uneingestandenen Schwächen. Beispiel:
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Kapitel 2 · Gesundheits- und Krankheitsmodelle
Eine Patientin, die voll uneingestandener Wut auf ihre Arbeitskollegen ist, beklagt sich, von ihnen gemobbt zu werden. Sie nimmt ihre eigene Aggressivität nicht wahr, ist aber sehr empfindlich für vermeintliche Aggressivität der anderen. Spaltung. Bei der Spaltung werden widersprüch-
liche Impulse, die eigentlich miteinander unvereinbar sein müssten, abwechselnd ausgelebt. Die Umwelt (oder auch die eigene Person) wird entweder schwarz oder weiß wahrgenommen, nicht aber im realistischeren Grauton. Beispiele: Eine Patientin mit Borderline-Persönlichkeitsstörung, die ihren Partner bis gestern noch für ihre letzte Hoffnung und den einzigen Retter aus ihrem Elend wahrgenommen hat, ist aufgrund einer geringfügigen Enttäuschung nun der festen Meinung, dass er von Grund auf böse und schuld an ihrem Unglück sei. – Ein Patient mit einer narzisstischen Persönlichkeitsstruktur schwankt vom einen Augenblick zum anderen zwischen Größenideen (»Ich bin der Größte!«) und Minderwertigkeitsgefühlen (»Ich bin ein Nichts!«). Spaltungsvorgänge findet man auch bei Patienten, die das Behandlungsteam in die Guten und die Bösen aufteilen, beispielsweise den Stationsarzt idealisieren und die Stationsschwester verteufeln. Identifikation. Um Gefühle von Minderwertigkeit
abzuwehren, kann man versuchen, sich mit einer berühmten Person zu identifizieren und so sein zu wollen wie diese. Beispiel: Jugendliche, die sich in einer Identitätskrise befinden und sich anziehen wie ihr bewunderter Star. Als Identifikation mit dem Aggressor bezeichnet man eine Abwehrform, bei der man sich aus der Rolle des Opfers in die Rolle des Täters begibt. Dann ist man nicht länger hilflos ausgeliefert, sondern selbst derjenige, der andere angreift. Auf diese Weise versuchen Kinder manchmal, Kränkungen zu verarbeiten, indem sie das, was sie erlebt haben, nun ihren Geschwistern oder Stofftieren zufügen. Reaktionsbildung. Bei der Reaktionsbildung wird eine Gegenreaktion aktiviert. Anstelle von Aggressivität, die nicht erlaubt ist, zeigt der Betroffene übertriebene Friedfertigkeit. Die dadurch abgewehrte Aggressivität wird jedoch für die Umgebung gleich-
wohl untergründig spürbar, die Freundlichkeit wirkt gezwungen und unecht. Rationalisierung. Diese Abwehrform ist in den
Alltagssprachgebrauch übergegangen. Man versteht darunter eine Pseudoerklärung, die anstelle der wahren Motive vorgeschoben wird. Beispiel: Ein Patient mit Lungenkrebs, der an einem Rezidiv leidet, macht andere, weniger bedrohliche Gründe für seinen Husten verantwortlich, z. B. einen grippalen Infekt. Isolierung. Hier werden die mit einem Gedan-
keninhalt normalerweise einhergehenden Gefühle nicht wahrgenommen. Man spricht deshalb auch von Isolierung vom Affekt. Beispiel: Ein lebensbedrohlich Erkrankter redet ohne jede gefühlsmäßige Beteiligung über seine Krankheit, so als ginge es um eine andere Person, nicht aber um ihn selbst. Ungeschehenmachen. Es werden Handlungen
unternommen, die eine frühere, aber inakzeptable Handlung unwirksam und rückgängig machen sollen. Beispiele: Ein Patient mit einer Zwangsneurose entwickelt einen Waschzwang, um sich von unbewussten Schuldgefühlen rein zu waschen. Ein Patient nach Herzinfarkt unternimmt Kraftproben, um sich zu beweisen, dass er noch »ganz der Alte« ist. Sublimierung. Hierunter verstand Freud, dass sexuelle Triebenergie in einen anderen »Aggregatszustand« überführt und beispielsweise in wissenschaftliche oder künstlerische Leistungen umgesetzt wird. Solche Leistungen kann man selbstverständlich auch aus anderen Gründen als Abwehrprozessen erbringen. Konversion. Unter Konversion verstand Freud die Umwandlung von psychischen Vorgängen in körperliche Innervationen. Unter einer Konversionsneurose wurde demnach eine Störung verstanden, bei der körperliche Beschwerden auftreten, die als symbolischer Ausdruck eines unbewussten Konflikts erklärbar sind. Zwei Beispiele: Ein Dirigent hat den unbewussten Impuls, seinen Rivalen anzugreifen. Da dieser Impuls inakzeptabel ist, entwickelt er stattdessen eine Lähmung des rechten Arms. –
39 2.3 · Psychodynamische Modelle
Ein Angestellter, der auf eine höhere Position befördert wurde, der er sich unbewusst nicht gewachsen fühlt, entwickelt Schwindelgefühle und Standunsicherheit. Konversionssymptome treten meist in den Bereichen der Motorik, Sensibilität und Sinneswahrnehmung auf: funktionelle Lähmungen, psychogene Anfälle, die klar von epileptischen Anfällen unterschieden werden können, Sensibilitätsstörungen oder psychogene Sehstörungen. Dabei findet man keinen organischen Befund, der die subjektiven Ausfälle erklären könnte. Heutzutage wird der Begriff Konversionsstörung auf somatoforme (funktionelle) Störungen im Bereich der Neurologie angewendet, ohne dass man die ursprüngliche Theorie einer Umwandlung unbewusster Phantasien in symbolische körperliche Beschwerden aufrechterhält. Im ICD-10 werden Konversionsstörungen auch als dissoziative Störungen bezeichnet. Im Begriff Dissoziation kommt zum Ausdruck, dass die Betroffenen kein Wissen davon haben, dass sie ihre Beschwerden durch unbewusste Prozesse selbst erzeugen. Eine dissoziative Störung muss von einer Simulation, d. h. dem bewussten Vortäuschen der Beschwerden, abgegrenzt werden.
2.3.6
Primärer und sekundärer Krankheitsgewinn
Psychische Symptome verursachen Leid. Auf der anderen Seite gehen sie auch mit einer Entlastung für den Kranken einher: Die Konfliktspannung wird durch die Abwehrprozesse abgemildert, und der Betroffene spürt den Konflikt nicht mehr so sehr wie zuvor. Diese innerpsychische Entlastung durch die Krankheit bezeichnet man als primären Krankheitsgewinn. Beispiel: Der oben erwähnte Dirigent mit der Konversionsstörung kann nun in seiner unbewussten Phantasie nicht mehr in die Situation geraten, seinen Rivalen anzugreifen, da er ja gelähmt ist. Das nimmt Druck von ihm. ! Als sekundären Krankheitsgewinn bezeichnet man die äußeren Vorteile, die ein Kranker aus seiner Krankheit zieht. Er kann unbeabsichtigt, aber auch bewusst sein.
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Beispiel: Unser Dirigent muss aufgrund seiner Lähmung nicht zur Arbeit gehen und sich damit auch der unangenehmen Konkurrenzsituation am Arbeitsplatz nicht aussetzen. Häufige Formen des sekundären Krankheitsgewinns sind Zuwendung durch den Ehepartner (7 Kap. 2.2.2, chronische Rückenschmerzen) sowie Entlastung von Verpflichtungen zu Hause oder bei der Arbeit (Krankschreibung, Frühberentung). Bei manchen Kranken kann der Wunsch, für einen Unfall entschädigt zu werden oder wegen einer chronischen Krankheit eine Rente zu bekommen (ä Rentenbegehren), so übermächtig werden, dass alle Behandlungsversuche fehlschlagen.
2.3.7
Struktur und Konflikt
In der multiaxialen Operationalisierten Psychodynamischen Diagnostik, die im Rahmen der psychoanalytisch orientierten Psychotherapieverfahren (7 Kap. 8.2.1) eingesetzt wird, unterscheidet man zwischen den Achsen Struktur und Konflikt. Weitere drei Achsen betreffen Krankheitserleben und Behandlungsvoraussetzungen, Beziehungsmuster und die ICD-Diagnose. Struktur. Unter der Achse Struktur wird beurteilt,
wie gut das Ich seine Funktionen erfüllt. Zu den IchFunktionen gehören eine differenzierte, ganzheitliche und realistische Wahrnehmung von sich selbst und anderen Menschen, die Regulierung von Impulse und Affekten, die Kommunikation mit anderen Menschen und das Eingehen stabiler Beziehungen. Wenn diese Funktionen nicht gut erfüllt werden, liegt eine gering integrierte Ich-Struktur vor. Dies ist z. B. bei der Borderline-Persönlichkeitsstörung der Fall. Konflikt. Unter der Achse Konflikt wird beurteilt,
wie gut es einem Menschen gelingt, einander widerstrebende Bedürfnisse unter einen Hut zu bringen. Ein Konfliktthema lautet beispielsweise »Individuation versus Abhängigkeit«. Hier geht es um Bedürfnisse nach Nähe und Zusammensein einerseits, Alleinsein und Distanz andererseits. Manche Menschen können diese beiden Bedürfnisse nicht miteinander in Einklang bringen und entscheiden
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Kapitel 2 · Gesundheits- und Krankheitsmodelle
sich einseitig für einen der beiden Pole. Die einen streben enge, harmonische Beziehungen um jeden Preis an; die anderen können sich aus Angst, vereinnahmt zu werden, überhaupt nicht auf eine Beziehung einlassen und kämpfen andauernd um ihre Eigenständigkeit. In der OPD wird eine ganze Reihe weitere Konfliktthemen beschrieben, z. B. Unterwerfung versus Kontrolle oder Versorgung versus Autarkie. v Lernziele Psychodynamik, unbewusster Konflikt, implizites Beziehungswissen; Affektspiegelung, Mentalisierung, theory of mind; Stadien der psychosexuellen Entwicklung: orale, anale, ödipale Phase; Psychotraumatologie; Trieb-, Ich-, Selbst, Objektpsychologische Modelle; Abwehrmechanismen: Verdrängung, Verschiebung, Verleugnung, Projektion, Spaltung, Reaktionsbildung, Rationalisierung, Isolierung, Ungeschehenmachen, Sublimierung, Konversion; sekundärer Krankheitsgewinn.
Ì Vertiefen Dornes M (2001) Der kompetente Säugling. Fischer, Frankfurt (gut lesbare Einführung in die Säuglingsforschung) Dornes M (2008) Die Seele des Kindes. Fischer, Frankfurt (sehr verständlich geschriebene Einführung in die psychoanalytische Entwicklungspsychologie) Mertens W (2008) Psychoanalyse. Beck, München (gut verständliche Einführung einschließlich neuerer Entwicklungen)
2.4
Sozialpsychologische Modelle
2.4.1
Psychosoziale Einflüsse auf Gesundheit und Krankheit
Soziale Rollen, Normen und Einstellungen können – vermittelt über das Gesundheitsverhalten – die Gesundheit beeinflussen. ! Unter einer sozialen Rolle versteht man die Gesamtheit der Verhaltenserwartungen, die an den Inhaber einer bestimmten Position im Netzwerk der sozialen Beziehungen gerichtet werden.
Soziale Rollen führen zu einer gewissen Berechenbarkeit des Verhaltens von Menschen in sozialen Situationen. So kann sich ein Patient normalerweise
darauf verlassen, dass er vom Arzt eine Diagnose mitgeteilt bekommt und eine angemessene Behandlung erhält. Jeder Mensch ist Inhaber mehrerer Rollen, mit denen er unterschiedlich stark identifiziert ist (Rollenidentifikation) oder zu denen er auch Distanz hält (Rollendistanz). Rollen legen das Verhalten nicht hundertprozentig fest, sondern lassen einen Spielraum für flexibles Verhalten in unterschiedlichen Situationen. Dies kann bis zu einem Konflikt zwischen unterschiedlichen Rollenerwartungen gehen. Bestehen unterschiedliche Erwartungen innerhalb einer Rolle, spricht man von einem Intrarollenkonflikt. Beispiel: Ein Arzt möchte einerseits seinem Patienten die optimale und notfalls auch kostspielige Therapie zukommen lassen, andererseits sieht er sich durch die Krankenkassen unter Kostendruck gesetzt und möchte deshalb möglichst preiswerte Medikamente verordnen. Wenn konflikthafte Erwartungen zwischen verschiedenen Rollen bestehen, die ein und dieselbe Person innehat, spricht man von einem Interrollenkonflikt. Beispiel: Eine Krankenhausärztin, die zugleich Mutter eines kleinen Kindes ist, sieht auf der einen Seite die Erwartung an sich gerichtet, auf der Station Überstunden zu machen, um neu aufgenommene Patienten zu versorgen, und muss andererseits ihre Tochter vom Kindergarten abholen. Der Konflikt resultiert hier also aus schwer zu vereinbarenden Anforderungen aus der Rolle als Ärztin und der Rolle als Mutter. Arbeitslosigkeit bedeutet den Verlust einer zentralen sozialen Rolle. Sie bringt nicht nur finanzielle Einbußen mit sich, sondern auch den Verlust der wichtigsten Quelle sozialer Anerkennung, den Verlust einer sinnvollen Tätigkeit und eines strukturierten Tagesablaufs. Arbeitslose leiden an verminderten Selbstwertgefühl, Resignation und Rückzugstendenzen. Sie tragen ein erhöhtes Krankheits- und Sterberisiko. Schlafstörungen, depressive Störungen und Angsterkrankungen sind häufig. Die Inanspruchnahme des medizinischen Versorgungssystems ist erhöht. Am stärksten belastet sind Langzeitarbeitslose. Ob Arbeitslosigkeit krank macht oder Krankheit zu Arbeitslosigkeit führt, lässt sich wissenschaftlich bis heute nicht abschließend beantworten. Für die Kausalitätshypothese spricht, dass eine Wiederaufnahme der Arbeit auch mit
41 2.4 · Sozialpsychologische Modelle
einer Verbesserung des seelischen Befindens einhergeht. Für die Selektionshypothese spricht, dass ein Drittel aller Kündigungen krankheitsbedingt erfolgt. Wahrscheinlich spielen beide Mechanismen eine Rolle. Soziale Normen. Soziale Normen sind Regeln, die sich auf das Verhalten aller Menschen in der Gesellschaft beziehen. Verhalten, das von der Norm abweicht, wird negativ sanktioniert, um der Norm Geltung zu verschaffen. Normen unterscheiden sich im Grad ihrer Formalisierung und im Ausmaß der Sanktionen. Normen können auch das Gesundheitsverhalten betreffen. Beispiel: Mit der »SaferSex«-Kampagne im Rahmen der HIV-Prävention wird versucht, eine Verhaltensnorm zu verändern. Es wird angestrebt, dass die Benutzung eines Kondoms zur Norm beim Geschlechtsverkehr wird. Durch die Änderung der Einstellungen in der Öffentlichkeit sollen solche Verhaltensänderungen gefördert werden. lÜberlegenheit sanktionierender Institutionen. In public-goods-Experimenten erhalten die Mitspieler ein bestimmtes Vermögen und entscheiden dann, wie viel sie davon in einen »öffentlichen Topf« geben, von dem alle profitieren. Manche Mitspieler investieren viel, in der Erwartung, dass andere ihrem Beispiel folgen und dadurch der Nutzen für alle am größten wird. Manche hingegen investieren gar nichts und partizipieren lediglich vom öffentlichen Gut (sog. free rider, »Schwarzfahrer«). Wie kann man verhindern, dass wenige Free-Rider alle anderen entmutigen zu kooperieren, so dass das Ausmaß der Investition in das öffentliche Gut auf Null sinkt? Ein Experiment: Die Mitspieler konnten wählen, ob sie einer Institution beitreten wollen, in der es keine Sanktionen gab, oder aber einer anderen, in der unkooperatives Verhalten sanktioniert werden konnte. Jeder erhielt dann 20 Geldeinheiten und konnte davon so viel er wollte in das öffentliche Gut einbringen. Jedes Gruppenmitglied profitierte gleichermaßen vom öffentlichen Gut, unabhängig vom eigenen Beitrag. Diese Spielanordnung stellt natürlich eine Versuchung dar, selbst nichts abzugeben, aber von den Beiträgen der anderen zu profitieren. Dies führte dazu, dass die Kooperation in der sanktionsfreien Gruppe bald gegen Null ging. In der anderen Gruppe bestand für jeden die Möglichkeit, »Schwarzfahrer« zu bestrafen. Jede Bestrafung kostete das bestrafte Gruppenmitglied drei Geldeinheiten, war allerdings auch für denjenigen, der die Sanktion ausübte, mit einem Verlust von einer Geldeinheit verbunden. Bestrafung führte also auch für den, der bestrafte, zunächst zu einem Nachteil. Auch wenn nur wenige Teilnehmer unter Inkauf-
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nahme dieses Nachteils für die Einhaltung der Kooperationsnorm sorgten, führte dies binnen kurzem in der sanktionierenden Gruppe zu einem Anstieg der Kooperation, so dass bald über 90 % der Mitspieler hohe Beiträge oder gar ihr ganzes Vermögen investierten (und damit letztlich auch den höchsten Nutzen für sich selbst zogen). Zu Beginn des Spiels hatten sich zwei Drittel der Teilnehmer für die sanktionsfreie Gruppe entschieden, nur ein Drittel für die sanktionierende. Die Teilnehmer hatten jedoch nach jeder Spielrunde die Möglichkeit, in die andere Gruppe zu wechseln. Von Runde zu Runde wechselten immer mehr Teilnehmer in die sanktionierende Gruppe. Diese »Abstimmung mit den Füßen« demonstrierte klar die Überlegenheit einer sanktionierenden Institution, weil eine wechselseitige Kooperation, die auch für jeden einzelnen den Nutzen maximierte, nur dort realisiert wurde (Gürerk et al. 2006).
Einstellungen. Unter einer Einstellung versteht man die Bewertung eines konkreten Objekts, z. B. eines bestimmten Gesundheits- oder Sexualverhaltens. Die Psychologie versucht seit langem herauszufinden, auf welche Weise Einstellungen und Verhalten am besten verändert werden können. Ein wesentliches Ergebnis ist, dass die Änderung von Einstellungen oft nicht ausreicht, auch das Verhalten zu verändern. Zwischen Einstellungen und Verhalten besteht nur ein schwacher Zusammenhang. Die effektivste Methode einer Einstellungsänderung ist ironischerweise, zunächst das Verhalten zu ändern. Die Einstellungsänderung folgt dann der Verhaltensänderung nach (7 Kap. 10.4.2).
2.4.2
Psychische Risikound Schutzfaktoren
In sozialpsychologischen Modellen werden psychische Risiko- und Schutzfaktoren im Hinblick auf die Krankheitsentstehung untersucht. Als Risikofaktoren gelten beispielsweise belastende Lebensereignisse, insbesondere Verlusterlebnisse, mangelnde soziale Integration, erlernte Hilflosigkeit und Depression (7 4.4.5). Daneben hat die Gesundheitspsychologie unter unterschiedlichen Bezeichnungen eine Reihe einander ähnlicher Konzepte als sog. Schutzfaktoren beschrieben, die der Entstehung von Krankheiten entgegenwirken sollen.
42
Kapitel 2 · Gesundheits- und Krankheitsmodelle
Schutzfaktoren
2
4 Internale Kontrollüberzeugung: Überzeugung, durch das eigene Verhalten den Gesundheitszustand positiv beeinflussen zu können. 4 Selbstwirksamkeit: Überzeugung, ein bestimmtes gesundheitsförderliches Verhalten auch unter widrigen Umständen ausführen zu können (Kompetenzerwartung). 4 Dispositioneller Optimismus: Zuversicht, Probleme bewältigen zu können, im Sinne eines Persönlichkeitsmerkmals. 4 Hardiness (Robustheit): das Gefühl, seine Umwelt kontrollieren zu können; Veränderungen als Chance sehen. 4 Kohärenzsinn (Sense of coherence): Gefühl, dass die Ereignisse des Lebens erklärbar sind (Verstehbarkeit), bewältigt werden können (Bewältigbarkeit) und sich die Bewältigung auch lohnt (Sinnhaftigkeit) (Salutogenese; 7 Exkurs).
Kritik. Bei diesen sog. Schutzfaktoren stellt sich
zunächst die Frage, ob es sich jeweils um eigenständige Konstrukte handelt oder diese Eigenschaften nicht vielmehr einen breiten Überlappungsbereich aufweisen. Zum zweiten stellt sich die Frage, ob es sich um von der Gesundheit unabhängige Faktoren handelt, die die Gesundheit beeinflussen, oder eher um Bestandteile der (psychischen) Gesundheit. Dies ist insbesondere dann nicht zu klären, wenn im Rahmen einer Querschnittsstudie zu ein und demselben Messzeitpunkt ein Zusammenhang zwischen einem sog. Schutzfaktor und der psychischen Gesundheit festgestellt wird. Dann lässt sich nicht klären, was Ursache und was Folge ist, ob Optimismus zu Wohlbefinden führt oder Wohlbefinden zu Optimismus oder beides Teilkomponenten psychischer Gesundheit sind. Günstiger als beim Konzept der Salutogenese (7 Exkurs) sieht die Forschungslage bei internaler Kontrollüberzeugung, dispositionellem Optimismus und Selbstwirksamkeit aus. Hier existieren Längsschnittuntersuchungen, die zeigen, dass eine hohe Ausprägung auf den genannten Variablen förderlich für eine aktive Krankheitsbewältigung und
das Gesundheitsverhalten ist. Teilweise ließen sich sogar positive Effekte in Bezug auf den körperlichen Krankheitsverlauf, z. B. die Rekonvaleszenz nach Operationen, nachweisen. lSalutogenese. Das Modell der Salutogenese geht auf den amerikanisch-israelischen Medizinsoziologen Aaron Antonovsky zurück. Er sieht Krankheit und Gesundheit als zwei Pole einer Dimension und versucht, Faktoren zu identifizieren, die ein Individuum in Richtung auf den Pol Gesundheit bewegen, d. h. der Gesundheitsförderung (statt der Vermeidung von Krankheit) dienen. Als gesundheitsförderlichen Faktor hat Antonovsky das sog. Kohärenzgefühl (sense of coherence), d. h. ein Gefühl von Stimmigkeit, beschrieben. Es setzt sich aus drei Komponenten zusammen: 4 dem Gefühl, dass die Anforderungen des Lebens nicht willkürlich und zufällig, sondern vorhersehbar und erklärbar sind (Verstehbarkeit); 4 dem Gefühl, dass ausreichende Ressourcen zur Verfügung stehen, diesen Anforderungen gerecht zu werden und die Schwierigkeiten zu lösen (Bewältigbarkeit); 4 dem Gefühl, dass es sich auch lohnt, sich zu engagieren und Energie zu investieren (Sinnhaftigkeit). In den vorliegenden Studien fanden sich positive Korrelationen mit psychischer Gesundheit sowie negative Zusammenhänge mit Ängstlichkeit und Depressivität oder Stress. Aber diese Zusammenhänge gehen lediglich auf Querschnittsstudien zurück, so dass die Frage von Ursache oder Folge offen bleiben muss. Mit körperlichen Erkrankungen oder auch dem Gesundheitsverhalten konnten bisher nur wenige und zudem inkonsistente Zusammenhänge gefunden werden. Deshalb muss das Modell gegenwärtig als noch nicht ausreichend überprüft angesehen werden, so dass vor unrealistischen Erwartungen gewarnt wird. Gegenwärtig scheint es keinen Vorteil gegenüber den etablierten Konzepten, wie Ängstlichkeit und Depression, aufzuweisen. Das Konzept wird allerdings oft in einem ideologischen, gesundheitspolitischen Kontext verwendet, um Maßnahmen zur Gesundheitsförderung zu begründen.
2.4.3
Soziale Unterstützung
! Soziale Unterstützung (syn. sozialer Rückhalt) ist die hilfreiche Interaktion mit einem anderen Menschen bei der Bewältigung eines Problems.
43 2.4 · Sozialpsychologische Modelle
Komponenten der sozialen Unterstützung 4 emotionale Unterstützung: verständnisvolle Zuwendung, Trost, Ermutigung; 4 instrumentelle Unterstützung: praktische Hilfe, finanzielle Unterstützung, Hilfe bei täglichen Arbeiten; 4 informationelle Unterstützung: Informationsvermittlung, Rat, Anleitung; 4 Bewertungsunterstützung: Übereinstimmung in Wertvorstellungen und Meinungen.
Oft wird nur die vom Betroffenen wahrgenommene Unterstützung erforscht, also sein persönliches Erleben, wie gut er sich von anderen Menschen unterstützt fühlt, nicht die tatsächlich erhaltene Unterstützung. Wahrgenommene Unterstützung ist aber auch von der Bewertung durch die jeweilige Person abhängig. Bei depressiven Menschen ist beispielsweise das Gefühl, gemocht zu werden, geringer ausgeprägt als bei Gesunden. Wahrgenommene Unterstützung ist eine relativ stabile Erwartung, ein Persönlichkeitsmerkmal. Wahrgenommene und erhaltene Unterstützung überlappen sich kaum. Soziale Integration. Von der funktionellen sozia-
len Unterstützung lässt sich die soziale Integration abgrenzen, d. h. die Integration in ein Netzwerk von sozialen Beziehungen (strukturelle Unterstützung). Sie hat eine Verhaltenskomponente – das aktive Engagement in einem breiten Spektrum sozialer Aktivitäten und Beziehungen – und eine kognitive Komponente – ein Gefühl der Zugehörigkeit und Identifikation mit sozialen Rollen. Gegenpol ist die soziale Isolation. Geschlechtsunterschiede. Schon kleine Mädchen
haben mehr Freundinnen als Jungen Freunde. Frauen haben zeitlebens engere und größere soziale Netzwerke. Sie bieten anderen mehr Unterstützung an und erhalten auch selbst mehr Hilfe. Sowohl Frauen als auch Männer profitieren mehr von weiblicher Unterstützung als von männlicher. Frauen zeigen ihre emotionale Zuwendung mehr als Männer. Möglicherweise trägt die bessere Verfügbarkeit des Hormons Oxytocin zur besseren sozialen Ein-
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bindung von Frauen bei. Oxytocin hat die Funktion, die Mutter-Kind-Beziehung zu fördern (7 Kap. 4.4.5). In der Evolution hat sich dies als förderlich dafür erwiesen, dass Mütter ihren Nachwuchs besser vor Gefahren schützen können. Die Mutter-Kind-Beziehung ist aber das Modell für andere enge zwischenmenschliche Beziehungen, die aus ihr hervorgehen. Gesundheitsförderliche Effekte. Soziale Unter-
stützung und soziale Integration wirken gesundheitsförderlich und schützen vor Krankheit. Auch bei schon bestehender Krankheit fördern sie einen günstigen Verlauf. So hatten beispielsweise Herzinfarktpatienten nach einer Bypass-Operation einen schnelleren Genesungsverlauf, wenn sie soziale Unterstützung erfuhren (Besuche vom Ehepartner). Soziale Unterstützung fördert die Immunabwehr und die Wundheilung. Das Mortalitätsrisiko bei einer koronaren Herzkrankheit ist geringer bei gut unterstützten Patienten. Hier können zwei Wirkmechanismen unterschieden werden: das StressPuffer-Modell und das Haupteffekt-Modell. ! Das Stress-Puffer-Modell besagt, dass die Wirkungen von Stress durch soziale Unterstützung abgemildert (abgepuffert) werden.
Stress ist nicht mehr so schlimm, wenn man überzeugt ist, dass es jemanden gibt, der einen bei der Bewältigung der Belastung hilft. Die belastende Situation erscheint weniger schwierig zu bewältigen, emotionale und physiologische Reaktionen sind abgeschwächt. Beispiel: In einer Längsschnittuntersuchung mit gesunden schwedischen Männern im Alter von 50 Jahren oder älter besaßen diejenigen Studienteilnehmer, die im Jahr zuvor viele belastende Lebensereignisse erlitten hatten, in der Folgezeit ein höheres Risiko zu versterben. Dieses Risiko war jedoch bei denjenigen Männern abgeschwächt, die ein hohes Maß an emotionaler Unterstützung zur Verfügung hatten. Hier handelt es sich um einen typischen Interaktionseffekt (7 Kap. 3.4.1): Der Zusammenhang zwischen Stress und Krankheit wird durch das Vorhandensein eines dritten Faktors, nämlich die soziale Unterstützung, abgeschwächt. Der Stress-Puffer-Effekt wird möglicherweise über verminderte negative Emotionen vermittelt. Negative Emotionen wie Angst und Depression wer-
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Kapitel 2 · Gesundheits- und Krankheitsmodelle
den durch emotionale Zuwendung abgeschwächt. Dadurch vermindern sich entzündungsfördernde Botenstoffe (inflammatorische Zytokine), während stressmildernde Peptidhormone wie Oxytocin und Endorphine ansteigen. ! Das Haupteffektmodell besagt, dass soziale Unterstützung generell günstig ist, unabhängig davon, ob sich jemand in Stress befindet oder nicht.
Das Haupteffektmodell scheint insbesondere für die soziale Integration zu gelten. Eine große Zahl von Studien hat in konsistenter Weise den Zusammenhang zwischen guter sozialer Integration und Gesundheit bestätigt. Gesunde Erwachsene, die sozial besser integriert sind, d. h. verheiratet sind, in Familien leben oder viele Freunde haben, haben eine geringere Sterblichkeit. Dies gilt auch in Bezug auf die Sterblichkeit in Folge spezifischer Erkrankungen, wie Herzerkrankungen und Krebs, ebenso wie für die Anfälligkeit für virale Infekte oder auch den kognitiven Abbau im Alter. Wie groß das Netzwerk ist, spielt dabei eine geringere Rolle. Vielmehr ist es wichtig, wie sehr man sich verbunden fühlt, also qualitative Kriterien. Diese Wirkung wird wahrscheinlich über das Gesundheitsverhalten vermittelt. Menschen, die in einem sozialen Netzwerk verbunden sind, stehen unter stärkerer sozialer Kontrolle im Hinblick auf normgerechtes Gesundheitsverhalten. Die Bezugsgruppe, in die man eingebunden ist, gibt einem eine Norm vor, wie man sich verhalten soll, um »dazu zu gehören« bzw. anerkannt zu werden (soziale Regulation). Die wichtigste Bezugsgruppe ist zumeist die Familie. Die Ehefrau sorgt beispielsweise dafür, dass ihr Mann nicht so viel raucht und trinkt, sich gesund ernährt und Sport treibt. Am wichtigsten scheint dabei zu sein, dass sie ihn ermutigt und ihm versichert, dass sie es ihm zutraut, ein bestimmtes Gesundheitsverhalten (z. B. regelmäßig joggen zu gehen) auszuüben. Dadurch wird seine Selbstwirksamkeit gestärkt, und es fällt ihm leichter, mit dem Laufen anzufangen. Wenn er einmal damit begonnen hat, würde ohne den kontinuierlichen Ansporn womöglich das Risiko steigen, dass er seine sportliche Aktivität wieder aufgibt und in eine passive Lebensweise zurückfällt. So aber entwickelt er ein Gefühl der Verantwortung für sich selbst und seine Familie.
Umgekehrt sind Verlusterlebnisse, Einsamkeit oder konflikthafte soziale Beziehungen mit einem erhöhten Krankheitsrisiko verbunden. Geringe soziale Unterstützung und Integration begünstigen die Entwicklung einer Depression. Diese ist selbst wiederum ein Risikofaktor für die koronare Herzkrankheit. Interventionsstudien. Wenn soziale Integration
gesundheitsfördernd ist, liegt es nahe, sie gezielt zu verbessern. Dies scheint aber nicht so einfach zu sein. Mehrere Interventionsstudien mit Herzinfarktpatienten oder Brustkrebspatientinnen, die das Ziel hatten, die soziale Integration zu verbessern, konnten keinen Effekt im Hinblick auf eine verlängerte Überlebenszeit finden. In einer Studie mit Brustkrebspatientinnen wirkte sich eine psychoedukative Intervention (Patientenschulung) günstig auf das emotionale Befinden aus, nicht jedoch emotionale Unterstützung durch Mitpatientinnen (peers). Ganz im Gegenteil, Frauen, die schon ein gut funktionierendes Netzwerk besaßen und ausreichend emotional unterstützt wurden, ging es sogar schlechter, wenn sie an der Peer-support-Gruppe teilnahmen. Ihr natürliches Netzwerk scheint durch die Intervention labilisiert statt gestärkt worden zu sein. Erfolgreicher waren Paarprogramme, in denen krebskranke Frauen und ihre Partner lernten, auf hilfreiche Weise miteinander zu kommunizieren und sich gegenseitig emotional zu unterstützen. Als Folge davon verbesserten sich nicht nur die Partnerbeziehung, sondern auch das emotionale Befinden und die Krankheitsbewältigung. Vielleicht lässt sich das Ausmaß sozialer Unterstützung und Integration auch deshalb nur begrenzt von außen verändern, weil es teilweise von der Persönlichkeit abhängt und damit auch genetisch bedingt ist. Wie Zwillingsstudien zeigen, finden sich für sämtliche Dimensionen der Unterstützung und Integration substanzielle genetische Einflüsse. v Lernziele Rolle, Norm, Einstellung; Intra- und Interrollenkonflikt, Schutzfaktoren: internale Kontrollüberzeugung, Selbstwirksamkeit, Optimismus, Hardiness, Kohärenzsinn; soziale Unterstützung, soziale Integration; Stress-Puffer-Modell, Haupteffektmodell.
45 2.5 · Soziologische Modelle
Ì Vertiefen Cohen S (2004) Social relationships and health. American Psychologist 59: 676–684 (Übersicht über den Stand des Wissens) Knoll N, Scholz U, Rieckmann N (2005) Einführung in die Gesundheitspsychologie. Reinhardt, München (guter Einstieg in die Thematik)
2.5
Soziologische Modelle
2.5.1
Einflüsse der gesellschaftlichen Opportunitätsstruktur
Soziologische Modelle befassen sich mit dem Einfluss von Merkmalen der Sozialstruktur auf Gesundheit und Krankheit. Innerhalb einer Gesellschaft sind die Chancen, z. B. für Bildung als Voraussetzung des Gesundheitsverhaltens, ungleich verteilt. Der Zugang zu den gesellschaftlichen Ressourcen, wie Bildung, Arbeit und soziale Integration, wird als soziale Opportunitätsstruktur bezeichnet. Der wichtigste zusammenfassende Indikator der Opportunitätsstruktur ist die soziale Schichtung. ! Die soziale Schicht (syn. sozioökonomischer Status) wird anhand von drei Merkmalen bestimmt (sog. meritokratische Triade): 4 Bildung 4 Beruf 4 Einkommen
Im Begriff »meritokratisch« wird zum Ausdruck gebracht, dass der soziale Status durch Leistung »verdient« wurde. Gesundheitliche Ungleichheit. Der sozioökono-
mische Status (SES) steht mit der Sterblichkeit (Mortalität) und der Krankheitshäufigkeit (Morbidität) in Zusammenhang. Beispiele: Erwachsene ohne Abitur haben eine kürzere Lebenserwartung als Erwachsene mit Abitur. Die Differenz beträgt bei Männern 3 Jahre und bei Frauen 4 Jahre. Zwar steigt die Lebenserwartung auch in den unteren Schichten, aber nicht so schnell wie in den oberen Schichten, so dass der Unterschied größer wird. Säuglingsund Kindersterblichkeit sind in der Unterschicht höher, stationäre Behandlungen wegen Infektionskrankheiten dauern bei Unterschichtkindern län-
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ger, ihr Zahnstatus ist schlechter. Menschen mit Haupt- oder Realschulabschluss erleiden häufiger einen Herzinfarkt als Abiturienten. Für viele andere Krankheiten ließ sich eine solche soziale Ungleichheit ebenfalls belegen. Auch psychische Störungen, wie Angststörungen, Depression, Substanzmissbrauch und Persönlichkeitsstörungen, sind bei Personen mit niedrigerem sozialen Status häufiger. Die wenigen Ausnahmen von diesem Muster sind Brustkrebs, Asthma, Allergien und Neurodermitis sowie riskanter Alkoholkonsum bei Frauen, die in den höheren Schichten häufiger vorkommen. Meist findet sich ein sozialer Gradient mit linear abgestuften Risiken je nach den Schichtstufen. Dieser soziale Gradient zeigt sich während der ganzen Lebensspanne, nimmt im Alter jedoch ab. Schon die Schichtzugehörigkeit als Kind sagt gesundheitliche Unterschiede im Erwachsenenalter voraus. Die mit niedriger Schicht verbundenen gesundheitlichen Risikofaktoren werden also schon sehr früh angelegt. Selbst ein überwiegend genetisch beeinflusstes Merkmal wie die Körpergröße zeigt einen Schichtgradienten. Männer der Unterschicht sind 5 cm kleiner als Männer der Oberschicht. Bei Frauen beträgt der Unterschied 3,5 cm. Erklärungsmodelle. In der Soziologie werden
hauptsächlich zwei Erklärungsmodelle diskutiert: soziale Verursachung (schlagwortartig formuliert: »Armut macht krank.«) und sozialer Abstieg
(schlagwortartig: »Krankheit macht arm.«). Für das Modell des sozialen Abstiegs, auch Drift-Hypothese genannt, finden sich Hinweise bei psychischen Störungen, wie der Schizophrenie (7 Kap. 4.10.4) oder bei Menschen, die aufgrund ihrer Krankheit den Arbeitsplatz verloren haben. Häufiger wird jedoch das Modell der sozialen Verursachung für relevant erachtet. Als Einflussfaktoren werden sowohl materielle Lebensbedingungen als auch kulturelle Faktoren genannt, die in den unteren sozialen Schichten ungünstiger sind:
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Kapitel 2 · Gesundheits- und Krankheitsmodelle
Krankheitsförderliche Faktoren bei niedrigerem sozialem Status
2
4 unhygienische oder beengte Wohnverhältnisse, Lärm, Luftverschmutzung; diese mit ungünstigen Lebensverhältnissen verbundene Benachteiligung wird strukturelle Deprivation genannt; 4 physische und psychische Arbeitsbelastungen: schwere körperliche Arbeit, Lärm, Eintönigkeit, geringe Möglichkeit des Mitentscheidens, weniger Anerkennung (7 Anforderungs-Kontrollmodell, Gratifikationskrisenmodell, Kap. 4.8.3); 4 ungünstiges Gesundheitsverhalten: Zigarettenrauchen, ungesunde Ernährung, geringere körperliche Aktivität, deshalb größere Verbreitung der Risikofaktoren für Krankheiten; 4 ungünstiges Krankheitsverhalten: geringeres Wissen, seltenere Teilnahme an Früherkennungsuntersuchungen, geringere Inanspruchnahme medizinischer Leistungen; 4 psychosoziale Risikofaktoren: mehr Stress (höhere Sekretion von Adrenalin, Noradrenalin, Cortisol), geringere Stressbewältigungsressourcen, weniger unterstützende soziale Netzwerke, mehr negative Emotionen (Angst, Depression).
Starkes Übergewicht (Adipositas) kommt bei Menschen mit geringerer Bildung häufiger vor. Auch das Zigarettenrauchen ist in den unteren Schichten deutlich stärker verbreitet. Rauchen wiederum ist der wichtigste einzelne Risikofaktor für die Entstehung einer Vielzahl von Krankheiten, insbesondere von Herz-Kreislauf-Krankheiten (Herzinfarkt, Schlaganfall) und Krebserkrankungen (Lungenkrebs, viele andere Tumorarten). In der Pathogenese der koronaren Herzkrankheit spielen entzündliche Prozesse eine Rolle. In der unteren Schicht finden sich höhere Werte für Entzündungsindikatoren (Interleukin 6, C-reaktives Protein). Dies könnte zur Risikoerhöhung beitragen. Schon im Kindesalter zeigt sich eine entzündungsförderliche Genexpression. Der sozioökonomische Status im Kindesalter sagt die Gesundheit im Erwachsenenalter voraus
(auch bei Kontrolle für den SES im Erwachsenenalter). Einflussfaktoren des SES scheinen also schon in der Kindheit wirksam zu sein. Auch Persönlichkeitseigenschaften können eine Rolle als Verursacher spielen. Gewissenhaftigkeit ist neben Intelligenz der beste Prädiktor des Bildungsniveaus, aber auch des Gesundheitsverhaltens. Niedriger SES und ungünstiges Gesundheitsverhalten könnten die gemeinsame Folge einer niedrigen Ausprägung dieses Persönlichkeitsmerkmals sein. Gesundheitspolitische Maßnahmen versuchen, gesundheitliche Chancengleichheit herbeizuführen. Sie sind jedoch bisher nicht sehr erfolgreich gewesen (7 Kap. 11.1.4).
2.5.2
Einflüsse ökonomischer und ökologischer Umweltfaktoren
Soziologische Modelle betrachten nicht nur die soziale Ungleichheit innerhalb einer Gesellschaft, sondern vergleichen auch unterschiedliche Gesellschaften miteinander, um Hinweise auf ökonomische und ökologische Umwelteinflüsse zu erhalten. Gesellschaften unterscheiden sich im Hinblick auf das Ausmaß der Industrialisierung (Industrievs. Entwicklungsländer), Urbanisierung (Anteil der Bevölkerung, der in Städten vs. auf dem Land lebt) und der Teilnahme an den Welthandelsbeziehungen (Globalisierung). Industrialisierung. Sowohl innerhalb der Indus-
trieländer als auch weltweit lässt sich in den letzten Jahrzehnten eine Zunahme des Wohlstands konstatieren. So hat sich im 20. Jahrhundert der durchschnittliche Lebensstandard in Westeuropa zumindest verzehnfacht. In der Bundesrepublik Deutschland als Beispiel für ein Industrieland kann dies daran illustriert werden, wie lange ein Arbeiter im produzierenden Gewerbe durchschnittlich arbeiten muss, um ein bestimmtes Produkt erwerben zu können. Um eine Waschmaschine zu kaufen, musste ein Arbeiter im Jahr 2000 60 Stunden arbeiten, im Jahr 1960 waren dazu noch 793 Stunden erforderlich. Analog erforderten die Anschaffungskosten für ein Fernsehgerät im Jahr 2000 24 Stunden Arbeit, 1960 noch 289 Stunden. Auch die Kosten für Nahrungsmittel sanken relativ: Für einen Liter
47 2.5 · Soziologische Modelle
Milch waren im Jahr 2000 2,4 Minuten Arbeitszeit aufzuwenden (1960 15 Minuten), für ein Kilogramm Brot 5 Minuten (1960 17 Minuten). Sehr stark sanken insbesondere die Kosten für Mobilität (z. B. Flugreisen) oder Kommunikation (z. B. Telefongespräche). Die Zunahme des Wohlstands hat eine größere individuelle Freiheit mit sich gebracht. Dies zeigt sich in folgenden Punkten: Folgen des Wohlstands für die Lebensgestaltung 4 Eigener Haushalt. Menschen leben seltener in einer Großfamilie zusammen. Sie entziehen sich dadurch der sozialen Kontrolle und der Notwendigkeit, auf andere Rücksicht zu nehmen. Dies geht nur, weil das günstigere Wirtschaften, das eine Großfamilie erlaubt, heutzutage nicht mehr ins Gewicht fällt. 4 Arbeitszeitverkürzung. Die effektive Jahresarbeitszeit hat sich in den letzten 100 Jahren halbiert. Dadurch bleibt mehr Zeit für die individuelle Lebensgestaltung. 4 Wahl des Wohnorts. Individuelle Mobilität und Freiheit bei der Wahl des Wohnorts haben zugenommen (zu nachteiligen Folgen der Mobilität auf die Familiengründung 7 Kap. 4.9.4). 4 Emanzipation der Frau. Die Freiheiten von Frauen hinsichtlich Berufstätigkeit, Wahl des Partners, Reversibilität der Partnerwahl (Scheidung) als Folge der finanziellen Unabhängigkeit haben zugenommen.
Zeitbudget. Generell kann eine Zunahme der Frei-
zeit konstatiert werden, die sich von 1900 bis heute verdoppelt hat, und dies auch noch vor dem Hintergrund einer Zunahme der Lebenszeit um mehr als die Hälfte. Während der Anteil der Arbeitszeit von 34 % auf 9 % zurückging und der Anteil für die Befriedigung der Grundbedürfnisse (Essen, Schlafen) mit 41 % bzw. 40 % konstant blieb, stieg der Anteil der Freizeit von 25 % auf 51 % an.
2
d. h. rund ein Sechstel der Erdbevölkerung, in extremer Armut. 1981 waren es noch 1,5 Mrd. gewesen. 93 % der extrem Armen leben in Ostasien, Südasien und Afrika südlich der Sahara. In Südund Ostasien hat die extreme Armut in absoluten Zahlen abgenommen, in Schwarzafrika zugenommen. Der prozentuale Anteil der Bevölkerung mit extremer Armut ist in Afrika leicht angestiegen, in Ost- und Südasien deutlich zurückgegangen. Vor der industriellen Revolution kämpften die Menschen weltweit mit Armut und Hunger. Ob Länder ihren Wohlstand in den letzten 200 Jahren vervielfachen konnten, wie in den westlichen Industrienationen, oder in der Wohlstandsentwicklung zurückblieben, ist eine Folge des durchschnittlichen Wirtschaftswachstums über viele Jahre. Einer der Gründe, weshalb die armen Länder kein ausreichendes Wirtschaftswachstum erzielen, sondern teilweise nicht einmal die unterste Stufe der Leiter zu wirtschaftlicher Entwicklung und technischem Fortschritt erklimmen können, sind Infektionskrankheiten, wie Malaria und Aids. Diese könnten mit etwas mehr Hilfe durch die entwickelten Länder erfolgreich bekämpft werden. Weitere Gründe von Armut sind geographische Nachteile (z. B. fehlende Häfen), fehlende Infrastruktur (z. B. Trinkwasser, Elektrizität, Straßen), politische Fehlentwicklungen (z. B. Korruption), Handelsschranken, Überschuldung, zu wenig Finanzmittel (z. B. für den Kauf von Dünger), eine zu hohe Geburtenziffer (demographische Falle), fehlende Schulbildungsangebote, fehlende Gesundheitsversorgung, Diskriminierung der Frauen oder ethnischer Minderheiten, Kriege und Bürgerkriege. Der wichtigste Grund ist das Versagen der Regierung, das sich in Korruption und fehlender Rechtsstaatlichkeit äußert. Nur 5 % der knapp 50 Länder Schwarzafrikas sind liberale Demokratien. Die klassische Entwicklungshilfe ist insbesondere deshalb gescheitert, weil den Empfängerländern die Institutionen fehlen, die dafür sorgen, dass die Gelder zweckentsprechend verwendet werden. Stattdessen fließt der größte Teil auf Privatkonten der herrschenden Elite. Urbanisierung. Während in den Industrieländern
Extreme Armut. Als extreme Armut wird ein Ein-
kommen von weniger als 1 Dollar pro Tag und Kopf bezeichnet. Im Jahr 2001 lebten 1,1 Mrd. Menschen,
die Kernstädte schon wieder schrumpfen, nimmt in den Entwicklungsländern die Migration vom Land in die großen Städte immer mehr zu. Megastädte
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2
Kapitel 2 · Gesundheits- und Krankheitsmodelle
entstehen, der Anteil der Weltbevölkerung, der in Städten lebt, wächst. Menschen flüchten vom Land wegen zu geringer Erträge der Landwirtschaft, Umweltzerstörung oder vor Bürgerkriegen. Sie erhoffen sich vom Leben in der Stadt bessere Arbeitsmöglichkeiten, Zugang zu Bildung, Wohnung und Gesundheitsversorgung und bessere Infrastruktur. Diese Hoffnungen erfüllen sich nicht für alle. In Schwarzafrika, Mittel- und Südasien leben 50 % der Stadtbewohner in Slums, in Südamerika 30 %. Pilotprojekte streben an, die Wohnungssituation zu verbessern. Slumbewohner erhalten Grundeigentum als Anreiz, angemessene Wohnungen zu bauen. Zugleich soll eine funktionierende Infrastruktur geschaffen werden. Insgesamt geht Urbanisierung mit wirtschaftlicher Entwicklung, Zunahme des durchschnittlichen Pro-Kopf-Einkommens und Abnahme der Geburtenrate einher (7 Kap. 4.9.4). Globalisierung. Als Ursache des zunehmenden Wohlstands wird die Steigerung der Produktivität in Folge von internationaler Arbeitsteilung angesehen. Länder können sich auf diejenigen Produkte spezialisieren, die sie besonders gut und kostengünstig herstellen können. Beide Partner eines Handelsaustausches profitieren davon. Für Industrieländer bedeutet dies die Chance, sach- und humankapitalintensive Produkte zu exportieren und lohnintensiv hergestellte Produkte billiger zu erwerben, die in ehemaligen Entwicklungsländern kostengünstiger hergestellt werden können. Damit einher geht jedoch auch das Risiko, dass ineffiziente Arbeitsplätze, bei denen die Lohnkosten die Produktivität übersteigen, verloren gehen. Für die Entwicklungsländer bedeutet Globalisierung vor allem Abbau der Handelsbeschränkungen, Öffnung der Märkte der Industrienationen für die Produkte der Entwicklungsländer und Investitionen internationaler Unternehmen, die vor Ort Arbeitsplätze schaffen. Für alle Nationen bedeutet Globalisierung potentiell die Förderung von Demokratie und der universellen Geltung der Menschenrechte. Es lässt sich empirisch zeigen, dass der Wohlstand eines Landes, gemessen am Bruttoinlandsprodukt pro Person, umso größer ist, je größer die wirtschaftliche Freiheit in diesem Land ist, gemessen an Indikatoren wie dem geringen Einfluss des Staates auf die Wirtschaft, freien Außenhandelsbezie-
hungen, einer stabilen Währung, Rechtssicherheit, Schutz des Eigentums und einer niedrigen Regulierungsdichte, z. B. am Arbeitsmarkt. Entwicklung hat auch psychologische Auswirkungen. Je höher der Entwicklungsstand einer Gesellschaft, gemessen an Lebensstandard, Bildungsniveau und Lebenserwartung, desto zufriedener und glücklicher sind die Menschen und desto geringer ist die Selbstmordrate. Damit muss die weit verbreitete These, dass die Modernisierung der Gesellschaft Unglück und Unzufriedenheit mit sich bringt, in Frage gestellt werden. Einflussfaktoren gesellschaftlicher Strukturen auf Gesundheit 4 das Ausmaß der Einkommensungleichheit (Gini-Koeffizient) innerhalb einer Gesellschaft (je geringer, desto günstiger); neuere Studien auf breiterer Datenbasis konnten diesen Zusammenhang allerdings nicht bestätigen; wenn überhaupt vorhanden, ist der Effekt sehr klein; 4 das Ausmaß der gegenseitigen Verbundenheit der Mitglieder einer Gesellschaft (soziale Kohäsion) 4 das Ausmaß des Vertrauens, das man seiner gesellschaftlichen Umwelt entgegenbringt (soziales Kapital).
Lebenserwartung. Infolge der Verbesserung der Lebens- und Ernährungsbedingungen (ausreichende Ernährung, sauberes Trinkwasser, hygienische Wohnungen) ist es in den letzten hundert Jahren zu einer kontinuierlichen Zunahme der Lebenserwartung gekommen (7 Kap. 4.9). Noch immer besteht jedoch eine starke Diskrepanz zwischen der Lebenserwartung in Industrieländern und in Entwicklungsländern. Auch die Körpergröße, ein stark genetisch bedingtes Merkmal, nahm in den vergangenen Jahrzehnten kontinuierlich zu, wahrscheinlich als Folge verbesserter Ernährungsbedingungen. Selbst in einem so kurzen Zeitraum wie zehn Jahren konnte ein derartiger Effekt nachgewiesen werden: Rekruten aus der ehemaligen DDR erreichten binnen zehn Jahren nach der Wende die Größe ihrer westdeutschen Altersgenossen, denen sie zuvor körpergrößenmäßig um 2 cm unterlegen waren.
49 2.5 · Soziologische Modelle
Wohlstandskrankheiten. Mit der Industrialisierung und den damit einhergehenden verbesserten Lebensbedingungen nahmen insbesondere Infektionskrankheiten stark ab. Die Industrialisierung hat jedoch ihren Preis: die sog. Wohlstandskrankheiten, die durch das Gesundheitsverhalten mitbedingt sind. Hier sind vor allem Herz-Kreislauf-Erkrankungen anzuführen. Risikofaktoren der koronaren Herzkrankheit und des Schlaganfalls sind Zigarettenrauchen, arterielle Hypertonie (Bluthochdruck), Hypercholesterinämie (erhöhte Blutfettwerte), Hyperglykämie (Diabetes mellitus) und Hyperurikämie (erhöhte Blutharnstoffwerte). Diese Risikofaktoren sind ganz überwiegend vom Verhalten abhängig (Zigarettenrauchen, zu wenig körperliche Aktivität, Über- und Fehlernährung). Dass Übergewicht eine Folge des Lebensstils ist, lässt sich anhand einer Studie mit Immigranten zeigen. Einwanderer in die USA im ersten Jahr nach der Einwanderung waren zu 8 % übergewichtig, im Unterschied zu 22 % der Amerikaner. Aber nach 15 Jahren waren die Einwanderer inzwischen fast genauso häufig übergewichtig (19 %) wie die Einheimischen. Soziale Instabilität. Eine soziologische Theorie besagt, dass soziale Instabilität (Anomie) die Suizidrate fördert (Emile Durkheim). Ein Beispiel ist der
Verlauf der Suizidrate des russischen Bevölkerungsanteils in Estland während des Unabhängigkeitsprozesses. Während die russischen Einwohner Estlands zu Zeiten der Sowjetunion, als sie noch privilegiert waren, eine niedrigere Suizidrate aufwiesen als die Esten, stieg die Suizidrate während des Verlusts ihrer privilegierten Position auf Werte über diejenigen der Esten (und auch der Russen in Russland). Soziale Veränderungen sind jedoch nicht per se negativ. So konnte in den neuen Bundesländern, wo sich nach der Wende erhebliche soziale Veränderungen – zwar meist positiver, aber z. T. auch negativer Art, wie Anstieg der Arbeitslosigkeit – vollzogen, eine Abnahme der Suizidrate festgestellt werden. Suizide erfolgen oft im Rahmen einer psychischen Störung, insbesondere einer Depression. Durch die bessere Erkennung und Behandlung einer Depression kann dementsprechend die Suizidrate gesenkt werden. Dies ist wahrscheinlich der Grund dafür, dass in der ehemaligen DDR nach der
2
Wende die Suizidrate abnahm und auf das niedrigere Niveau der alten Bundesrepublik fiel. In der DDR durfte zuvor über Depression und Suizid nicht gesprochen werden, weil es nicht mit der sozialistischen Ideologie vereinbar war. Nachdem dieses Tabu aufgebrochen worden war, konnten entsprechende diagnostische und therapeutische Maßnahmen eingeleitet werden, mit dem Ergebnis einer besseren Behandlung der Depression und einer niedrigeren Suizidrate. Gegenwärtig ist die Prävalenz psychischer Störungen in Ost- und Westdeutschland gleich hoch. Dies spricht gegen starke regionale oder gesellschaftliche Einflüsse auf psychische Störungen. Die Schizophrenie tritt beispielsweise weltweit in allen untersuchten Ländern mit einer ungefähr gleich hohen Lebenszeitprävalenz von 1 % auf, was gegen einen starken ökonomischen oder ökologischen Einfluss spricht. v Lernziele Gesellschaftliche Opportunitätsstruktur, soziale Schichtung (3 Indikatoren), gesundheitliche Ungleichheit zuungunsten unterer Schichten (Ausnahmen!), sozialer Gradient; soziale Verursachung, materielle Benachteiligung, Stress, Gesundheits- und Krankheitsverhalten; sozialer Abstieg (Drift-Hypothese); soziale Kohäsion, soziales Kapital.
Ì Vertiefen Mielck A (2000) Soziale Ungleichheit und Gesundheit. Huber, Bern (zusammenfassende Darstellung der empirischen Befunde zur Schichtabhängigkeit von Gesundheitsindikatoren) Schwartz FW, Badura B, Busse R, Leidl R, Raspe H, Siegrist J, Walter U (Hrsg) (2003) Das Public Health-Buch. Gesundheit und Gesundheitswesen. 2. Aufl. Urban & Fischer, München (umfassendes Handbuch) Siegrist J (2005) Medizinische Soziologie, 6. Aufl. Urban & Fischer, München (viele Beispiele zu sozialer Ungleichheit und Krankheit)
3 3 Methodische Grundlagen 3.1
Hypothesenbildung
– 50
3.2
Operationalisierung
– 56
3.3
Testdiagnostik
3.4
Untersuchungsplanung
3.5
Sozialwissenschaftliche Methoden der Datengewinnung
3.6
Psychobiologische Methoden der Datengewinnung
3.7
Datenauswertung und -interpretation
3.8
Ergebnisbewertung
– 59 – 64 – 75
– 78
– 81
– 90
> > Einleitung
3.1
Hypothesenbildung
Medizin und Psychologie gewinnen ihre Erkenntnisse durch empirische Forschung, d.h. durch systematische Untersuchung des jeweiligen Forschungsgegenstands (empirisch = auf Erfahrung beruhend). Damit empirische Untersuchungen aussagekräftig sind, müssen sie eine Reihe von Regeln befolgen. Von der Formulierung der Fragestellung und Hypothesen über die Auswahl des Untersuchungsplans (Forschungsdesigns) und der Messinstrumente, die Durchführung der Studie und die statistische Auswertung der Daten müssen an vielen Punkten wichtige Entscheidungen getroffen werden, die festlegen, welche Schlussfolgerungen aus den Ergebnissen einer Studie gezogen werden können. Das folgende Kapitel soll einen ersten Einstieg in die Forschungsmethodik ermöglichen. Nicht nur, wenn Sie selbst eine Untersuchung planen, z. B. im Rahmen einer Doktorarbeit, sondern auch wenn Sie den Bericht über eine Studie in einer wissenschaftlichen Zeitschrift lesen, benötigen Sie grundlegende Kenntnisse der Forschungsmethodik, um die Aussagekraft der Studie beurteilen zu können.
3.1.1
Theorie, Hypothese, Konstrukt
Theorie und Hypothese. Wenn man ein Forschungsprojekt plant, legt man zunächst die Fragestellung fest und formuliert die Forschungshypothese. Hierzu ist es erforderlich, die bisherige Forschung möglichst vollständig zur Kenntnis zu nehmen. In vielen Bereichen der Medizin und Psychologie gibt es schon einen umfangreichen Forschungsbestand, auf dessen Grundlage Theorien über den Sachverhalt, der erforscht werden soll, entwickelt wurden. Theorien haben die Funktion, Sachverhalte zu beschreiben, zu erklären und vorherzusagen. Sie bestehen aus einzelnen Bausteinen sowie aus Aussagen über deren Zusammenhang. Beispiel: Das Risikofaktorenmodell der koronaren Herzkrankheit (KHK) sagt voraus, dass die Wahrscheinlichkeit, dass sich eine KHK entwickelt, erhöht ist, wenn bestimmte Risikofaktoren vorliegen, wie arterielle Hypertonie, Diabetes mellitus, Hypercholesterinämie und Zigarettenrauchen. Aus einer Theorie lassen sich Hypothesen für zukünftige Forschungen ableiten. Eine Hypothese ist eine Erwartung, deren Wahrheitsgehalt in der geplanten Studie überprüft werden soll. Hypothe-
51 3.1 · Hypothesenbildung
sen müssen deshalb so formuliert werden, dass sie prinzipiell prüfbar sind. Eine denkbare Hypothese, die aus dem Risikofaktorenmodell abgeleitet werden könnte, wäre: Eine Intervention zur Veränderung des Lebensstils vermindert die Rezidivrate eines Herzinfarkts. In diese Hypothese fließt Wissen aus dem Risikofaktorenmodell ein: Wenn verhaltensabhängige Risikofaktoren die Entstehung einer koronaren Herzkrankheit fördern, so fördern diese möglicherweise auch das Risiko für einen erneuten Herzinfarkt (Reinfarkt, Infarktrezidiv) bei schon bestehender KHK. Wenn dies der Fall wäre, so müsste sich durch eine Intervention, die diese Risikofaktoren vermindert, die Häufigkeit von Herzinfarktrezidiven vermindern lassen. Diese Hypothese kann dann in einer empirischen Studie überprüft werden. Konstrukt. Die Bausteine einer Theorie – in un-
serem Beispiel das Vorliegen von Risikofaktoren und der Eintritt eines Herzinfarkts – sind in der Medizin meist relativ leicht zu fassen. Anders ist es in der Psychologie. Dort sind die Bausteine der Theorie oft weniger gut greifbar, sondern theoretische (hypothetische) Konstrukte. ! Ein Konstrukt ist ein theoretisches Konzept, das selbst nicht direkt beobachtet werden kann, sondern aus seinen Indikatoren erschlossen wird. Indikatoren wiederum sind Merkmale, die der Beobachtung oder Messung zugänglich sind.
Das klassische Beispiel für ein Konstrukt ist die Intelligenz. Sie lässt sich nicht direkt beobachten, sondern wird aus der Leistung einer Person im Intelligenztest erschlossen. Man muss sich deshalb davor hüten, von Konstrukten so zu sprechen, als handle es sich um real existierende Dinge. Was sich hinter dem Namen eines Konstrukts verbirgt, wird erst deutlich, wenn man berücksichtigt, auf welche Weise es erfasst wird (Operationalisierung, 7 Kap. 3.2). Prüfung der Wirksamkeit einer Intervention. Eine wichtige Fragestellung in der Medizin ist diejenige, ob eine medizinische Maßnahme, z. B. ein neues Medikament, wirksam ist. Hier geht es um die Prüfung einer kausalen Hypothese: Lassen sich die festgestellten Effekte – z. B. eine verminderte Sterb-
3
lichkeit (Mortalität), eine geringere Rezidivhäufigkeit (Morbidität) oder eine verbesserte Lebensqualität – kausal auf das Medikament zurückführen? Eine sichere Antwort auf diese Frage kann man nur mit einem bestimmten Studientyp gewinnen: der experimentellen Studie. Prototyp des Experiments in der klinischen Forschung ist die randomisierte kontrollierte Studie. Sie wird in Kap. 3.4.3 ausführlich vorgestellt. Mittels einer gut geplanten und durchgeführten experimentellen Studie lassen sich konkurrierende Erklärungen für die festgestellten Effekte weitgehend ausschließen. Deterministische Hypothese. Man unterscheidet
deterministische von probabilistischen Hypothesen. Deterministische Hypothesen, wie sie in der Physik formuliert werden können, behaupten einen Zusammenhang zwischen zwei Merkmalen, der in allen Fällen gilt, also mit hundertprozentiger Sicherheit eintritt. Beispiel: Wenn ein reiner Spiegel einen Lichtstrahl reflektiert, dann ist der Einfallswinkel gleich dem Ausfallswinkel. In Medizin und Psychologie kann man häufig keine deterministischen Zusammenhänge behaupten. Das liegt daran, dass die Prozesse der Krankheitsentstehung sehr komplex sind, d. h. eine große Zahl von Ursachenfaktoren (multifaktorielle Verursachung) und auch der Zufall eine Rolle spielen. Dementsprechend sind die Hypothesen hier nicht deterministisch, sondern probabilistisch. Probabilistische Hypothese. Eine probabilistische
Hypothese hat den Charakter einer Wahrscheinlichkeitsaussage. Sie behauptet beispielsweise: Wenn der Risikofaktor Hypertonie vorliegt, dann ist die Wahrscheinlichkeit für das Eintreten eines Herzinfarkts erhöht. Um wie viel das Risiko im Vergleich zu einer Person ohne Hypertonie erhöht ist, kann quantifiziert werden, aber nur für die Gesamtgruppe der Menschen mit hohem Blutdruck. Für das einzelne Individuum ist keine sichere Aussage möglich. Ein Mensch mit Hypertonie trägt zwar generell ein erhöhtes Risiko; ob er im Einzelfall aber erkrankt oder gesund bleibt, kann man nicht sicher vorhersagen. Umgekehrt kann auch ein Mensch mit normalem Blutdruck einen Herzinfarkt bekommen.
3
52
Kapitel 3 · Methodische Grundlagen
3.1.2
Statistische Hypothesenprüfung
Null- und Alternativhypothese. Die Hypothese, in der das erwartete Ergebnis einer Studie formuliert wird, nennt man Forschungshypothese. In einer Forschungshypothese wird meist ein Zusammenhang zwischen zwei Sachverhalten bzw. der Effekt einer Intervention behauptet. Beispiel: »Eine Intervention zur Lebensstiländerung bei koronarer Herzkrankheit (KHK) senkt das Risiko eines Infarktrezidivs.« Die Forschungshypothese wird auch als Alternativhypothese (H1) bezeichnet. Sie stellt eine Alternative zum bisherigen Wissensstand dar. In ihr wird eine Annahme formuliert, die einen Zusammenhang oder den Effekt einer Intervention betrifft, der neu ist, den bisherigen Kenntnisstand erweitern würde und in einer Studie geprüft werden muss. Zu jeder Alternativhypothese lässt sich eine komplementäre Nullhypothese (H0) formulieren, die den bisherigen Wissensstand (kein Zusammenhang, kein Effekt) wiedergibt. Die Nullhypothese behauptet also das Gegenteil der Forschungshypothese. Beispiel: »Eine Intervention zur Lebensstiländerung bei koronarer Herzkrankheit senkt das Risiko eines Infarktrezidivs nicht.« Nullhypothese und Alternativhypothese decken alle möglichen Fälle ab, dazwischen gibt es nichts. Die Alternativhypothese formuliert, dass ein Effekt vorhanden ist, während die Nullhypothese behauptet, dass dies nicht der Fall ist. Statistische Hypothesenprüfung. Das Hypothe-
senpaar von Null- und Alternativhypothese ist das wichtigste Werkzeug, um das Ergebnis einer Studie gegen den Zufall zu prüfen. Die statistische Prüfung erlaubt zu entscheiden, ob am Ergebnis einer Studie »etwas dran ist« oder nicht. Dabei geht man folgendermaßen vor: Die inhaltlichen Hypothesen H1 und H0 werden in statistische Hypothesen H1 und H0 umgewandelt, in denen klar festgelegt wird, wie man das Zutreffen der Alternativhypothese beurteilen will (z. B. Festlegung der Stichprobenkennwerte, wie Häufigkeit eines Infarktrezidivs, und der statistischen Tests). Stichprobenkennwerte und Populationsparameter. Für die statistische Prüfung ist die Unter-
scheidung zwischen Stichprobenkennwerten und Populationskennwerten (Populationsparametern) zentral. Stichprobenkennwerte beziehen sich lediglich auf die untersuchte Stichprobe, d.h. die jeweilige Patientengruppe, die an der Studie teilnimmt (z. B. KHK-Patienten einer Klinik), Populationsparameter auf die Population (Grundgesamtheit), aus der die Stichprobe stammt (z. B. alle KHK-Patienten in Deutschland). Kurz gesagt: Die Population ist die eigentliche Wirklichkeit, die »Welt draußen«, die Stichprobe ein kleiner Ausschnitt daraus, den ich untersuche. Stichprobenkennwerte weichen immer mehr oder weniger stark vom »wahren« Wert ab, wie er in der Population gilt. Der »Trick« bei der statistischen Hypothesenprüfung ist nun folgender: Man muss die Population gar nicht kennen, aus der die Stichprobe stammt, die man untersucht hat. Man kann trotzdem mittels der Wahrscheinlichkeitstheorie genau bestimmen, mit welcher Wahrscheinlichkeit bestimmte Stichprobenkennwerte auftreten können, wenn diese Stichproben zufällig aus einer Population gezogen werden, in der ein bestimmter »wahrer« Wert gilt. Statistischer Test und p-Wert. Zurück zu unserem Beispiel mit der Lebensstilintervention. Als Untersuchungsplan haben wir eine randomisierte kontrollierte Studie gewählt (7 Kap. 3.4.3). In der Interventionsgruppe wurde die Intervention durchgeführt, in der Kontrollgruppe nicht. Wir nehmen nun zunächst probehalber an, dass die Nullhypothese gilt, also die zu prüfende Intervention keinen Effekt im Hinblick auf eine Senkung des Infarktrisikos besitzt. Unter dieser Annahme entstammen beide Stichproben auch nach der Intervention aus derselben Population mit identischem Infarktrisiko (die Intervention bringt ja nichts, so die H0). Doch auch wenn beide Stichproben aus derselben Population stammen, kann es durch die Zufälligkeiten der Stichprobenauswahl (sog. Stichprobenfehler) zu Abweichungen in den Stichprobenkennwerten, also in unserem Beispiel der Infarkthäufigkeiten, kommen. Zieht man aus einer Population theoretisch unendlich viele gleich große Stichproben und berechnet für jede Stichprobe einen Kennwert (z. B. die Häufigkeit eines Ereignisses), so verteilen sich diese Stichprobenkennwerte in bekannter Weise um den zugehörigen Populationsparameter. Eine solche
53 3.1 · Hypothesenbildung
theoretische (d.h. mathematisch ableitbare) Stichprobenkennwerteverteilung aller möglichen Stichprobenergebnisse ermöglicht es, die Wahrscheinlichkeit für ein einzelnes Stichprobenergebnis einzuschätzen. Geringe Abweichungen des Einzelergebnisses einer Stichprobe vom Populationsparameter sind relativ häufig zu erwarten, größere Abweichungen seltener. Ein statistischer Test macht nun Folgendes: Er berechnet die Wahrscheinlichkeit, mit der das Ergebnis (Infarkthäufigkeit) in der Interventionsgruppe auftreten kann, wenn in der gesamten Population der Wert der Kontrollgruppe gilt (H0 = kein Effekt). Mit anderen Worten: Er berechnet, mit welcher Wahrscheinlichkeit der Unterschied zwischen der Interventions- und der Kontrollgruppe durch den Zufall der Stichprobenziehung zustande kommen kann, ohne dass die Intervention einen Effekt hatte (H0). Der statistische Test errechnet einen Wert p (probability), der angibt, wie groß die Wahrscheinlichkeit ist, dass das Studienergebnis zufallsbedingt ist: Der p-Wert ist die Wahrscheinlichkeit des Kennwerts (Infarkthäufigkeit) unserer Interventionsgruppe, unter der Annahme, dass die Nullhypothese zutrifft. Angenommen, der p-Wert sei in unserem Beispiel 2 %. D. h., in 2 % aller Stichprobenziehungen würde der Wert zufälligerweise auftreten, wenn Interventionsgruppe und Kontrollgruppe aus derselben Population gezogen würden. Hier kommt nun eine wissenschaftliche Konvention ins Spiel: Die Wissenschaft hat sich darauf verständigt, die Nullhypothese aufzugeben, wenn diese Wahrscheinlichkeit p kleiner als 5 % ist. Wenn ein Ergebnis bei Gültigkeit der Nullhypothese also eine relativ kleine Wahrscheinlichkeit hat, hält man es für gerechtfertigt, die Nullhypothese aufzugeben und folgerichtig die Alternativhypothese anzunehmen. Dies ist eine Entscheidung des Forschers. Er ist sozusagen bereit, ein gewisses Restrisiko, nämlich
die Irrtumswahrscheinlichkeit von 5 %, in Kauf zu nehmen, wenn er bei p > Einleitung Arzt zu sein, wird oft nicht nur als Beruf, sondern als Berufung bezeichnet. Mit den hohen Anforderungen an die Arztrolle sind aber auch Belastungen verbunden, die bewältigt werden müssen. Die Kommunikation zwischen Arzt und Patient hat sich zudem in den letzten Jahrzehnten verändert. Während früher die Einflussmöglichkeiten innerhalb der Arzt-Patient-Beziehung ziemlich einseitig verteilt waren, wird heute eine partnerschaftliche Arzt-Patient-Beziehung angestrebt. Hierzu benötigt der Arzt grundlegende Kompetenzen der Gesprächsführung.
5.1
Ärztliche Berufstätigkeit
5.1.1
Der Arztberuf als Profession
Auch wenn Gesundheitsberufe zu den Dienstleistungsberufen gehören, so gilt der Beruf Arzt/Ärztin doch als die Profession schlechthin. Die in der Übersicht auf der folgenden Seite dagestellten Merkmale einer Profession haben sich im Verlauf der Medizingeschichte herausgebildet.
– 211
Tendenzen der Entprofessionalisierung. Die Pro-
fessionalisierung hat dem Arztberuf eine hohe gesellschaftliche Anerkennung verschafft. Gegenwärtig sind jedoch auch Tendenzen der Entprofessionalisierung zu beobachten. Einheitlichkeit und »Einzigartigkeit« des ärztlichen Berufsbildes haben sich aufgrund verschiedener Bedingungen nachhaltig geändert. Der hohe Grad an Spezifität sowie die zunehmende Komplexität der Problemstellungen ärztlicher Tätigkeit bei gleichzeitiger Arbeitsteilung mit anderen Berufsgruppen und vielfältiger Vernetzung mit wirtschaftlichen und ethischen Fragestellungen haben dazu geführt, dass ursprünglich innerärztlich diskutierte Sachverhalte nunmehr öffentlich beraten werden und der Arztberuf damit viel von seiner früheren Sonderstellung verliert bzw. schon verloren hat. Stichworte, die in diesem Rahmen diskutiert werden, sind beispielsweise die öffentlich geführten Debatten über Sterbehilfe, Lockerung des Werbungsverbots für Ärzte und auch das zunehmende Misstrauen gegenüber ärztlichem Handeln. Selbst die aus verschiedenen anderen Gründen wünschenswerte Entwicklung, medizinische Entscheidungen gemeinsam mit dem Patienten zu treffen (partizipative Entscheidungsfindung, 7 Kap. 5.4.4), verändert die einstige Exklusivität des ärztlichen Berufes.
194
Kapitel 5 · Arzt-Patient-Beziehung
Merkmale der ärztlichen Profession
5
4 Berufsspezifische Kompetenzen: Der Arzt ist zuständig für die Bewältigung von Störungen der Gesundheit. Er erbringt in diesem klar definierten Aufgabenbereich personenbezogene Dienstleistungen. Auch innerhalb des Arztberufs gibt es viele Differenzierungen, z. B. in Primärarzt (Hausarzt) und Facharzt sowie unterschiedliche Fachgebiete. Die jeweiligen spezifischen Handlungsempfehlungen werden in zunehmendem Maße in Leitlinien festgelegt (7 Kap. 3.8.3). 4 Staatlich geregelte Berufszulassung: Die staatliche Approbation ist Voraussetzung der ärztlichen Berufsausübung. 4 Akademische Ausbildung: Zum Arztberuf qualifiziert ein Hochschulstudium gemäß der Approbationsordnung. Es wird durch ein Staatsexamen abgeschlossen. 4 Berufliche Selbstverwaltung: Die gesetzlich geregelte ärztliche Berufsvertretung (»Standesorganisation«), die Ärztekammern, regelt mit staatlicher Legitimation relativ autonom die ärztliche Tätigkeit. Landesärztekammern erlassen Fortbildungs- und Weiterbildungsordnungen und regeln damit die ärztliche Fort- und Weiterbildung. 4 Ärztliche Berufsethik: Ärzte haben sich schon sehr früh allgemeine Handlungsnormen gegeben (Hippokratischer Eid, Ärztegelöbnis). Die ärztliche Schweigepflicht ist ein hohes juristisches Gut. Bei fachlichen oder persönlichen Verstößen gegen die von den Landesärztekammern beschlossene ärztliche Berufsordnung (z. B. Kunstfehler, Drogenabhängigkeit) treten Sanktionen in Kraft, die bis zum Entzug der Approbation gehen können.
5.1.2
Spezialisierung vs. Integration in der Medizin
Ausdifferenzierung des Wissens und der Ausbildung. Die rasante Weiterentwicklung des Wissens
in der Medizin (wie in vielen anderen Fächern) und die Zunahme von Spezialkompetenzen in ihren Teilbereichen hat die Notwendigkeit von Spezialisierungen mit sich gebracht, sowohl in der ärztlichen Ausbildung als auch in den Gesundheitsversorgungseinrichtungen. Die ärztliche Ausbildung wurde durch die zunehmende Wissensvermehrung in den vergangenen Jahrzehnten immer umfangreicher, so dass das vermittelte Wissen für die Studenten immer unübersichtlicher und die fallbezogene Integration immer schwieriger wurde. Die Approbationsordnung von 2002 und der darauf bezogene neue Gegenstandskatalog waren mit der Zielsetzung neu formuliert worden, den Zusammenhalt des Faches und die Integration von Kompetenzen aus verschiedenen Fachgebieten patientenbezogen zu vermitteln. Spezialisierung in der ärztlichen Weiterbildung.
Auch im Rahmen der Weiterbildung ergab sich in den vergangenen Jahrzehnten eine zunehmende Spezialisierung und Differenzierung, die sich in den Weiterbildungsordnungen widerspiegelt. Spezialisierung kann die Qualität der Behandlung erhöhen. Voraussetzung dafür ist jedoch, dass durch den Spezialisten eine hinreichende Zahl entsprechender Maßnahmen durchgeführt wird. Auch die sachgerechte Spezialausstattung (Technologien, Personal etc. – sog. Strukturqualität, 7 Kap. 9.4) ist nur wirtschaftlich zu gewährleisten, wenn sie vom Spezialisten bzw. in einer Einrichtung hinreichend häufig genutzt wird. Probleme der Spezialisierung. Mit der Differen-
zierung des Faches in unterschiedliche Spezial-/ Teilgebiete entsteht die Gefahr, die »Ganzheitlichkeit«, d. h. die multifaktoriellen Aspekte von Krankheiten in Diagnostik und Therapie aus dem Auge zu verlieren und den Patienten auf seine Krankheit/ Symptomatik in einem speziellen Organsystem zu reduzieren. Auch gesundheitsökonomische Gründe sprechen für eine Begrenzung der Spezialisierung, denn Spezialdiagnostik und -behandlungen sind in der Regel relativ kostenträchtig. Somit erscheint es zweckmäßig, die spezialisierten Behandlungseinrichtungen um solche zu ergänzen, die im ersten Zugang (Primärversorgung) und auf einem allgemeineren Niveau für Patienten mit
195 5.1 · Ärztliche Berufstätigkeit
Krankheiten zuständig sind, die einer Spezialbehandlung (noch) nicht bedürfen. Sie sollten zum einen in der Lage sein, eine orientierende erste Diagnostik und allgemeine Standardbehandlungen bei den wichtigsten Erkrankungen durchzuführen. Ferner sollten sie den Bedarf für spezialisierte Behandlungen erkennen und den Patienten entsprechend weiterverweisen. Schließlich sollten sie die Ergebnisse von unterschiedlichen Spezialisten zusammenführen und für den Patienten integrieren. Dies ist die Aufgabe der sog. Primärärzte, im deutschen Gesundheitssystem der Hausärzte, zumeist mit der Gebietsqualifikation Allgemeinmedizin.
5.1.3
Kooperation mit anderen Gesundheitsberufen
Der Trend zur Spezialisierung betrifft nicht nur die Differenzierung innerhalb der Medizin bzw. unter den Ärzten, sondern geht auch über den ärztlichen Bereich hinaus. Zahlreiche weitere Berufe im Gesundheitswesen haben sich in den letzten Jahrzehnten entsprechend einem wachsenden Bedarf von Fachkompetenzen entwickelt. Sie lassen sich teilweise als Assistenzberufe (Pflegekräfte, Arzthelferinnen) oder Fachberufe im Gesundheitswesen (Physiotherapeuten, Logopäden u.v.a.) kennzeichnen und sind jeweils über gesetzliche Grundlagen und Ausbildungswege definiert. Einige dieser Berufe werden auch – entsprechend dem jeweiligen Bedarf an Kanonisierung und Ausdifferenzierung – zunehmend »akademisiert«, z. B. über Fachhochschulausbildungen. Mit dem Psychotherapeutengesetz wurden im Jahr 1999 die Berufsgruppen der Psychologischen Psychotherapeuten sowie der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten geschaffen. Hier handelt es sich um zwei Berufe, bei denen auf der Grundlage eines abgeschlossenen Studiums (Psychologie bzw. Sozialpädagogik) eine gesetzlich definierte Zweitausbildung absolviert wurde. Diese entspricht im Umfang in etwa den Anforderungen, die im Rahmen der Gebietsarztweiterbildung für ärztliche Psychotherapeuten verlangt werden. Sie wird mit einer staatlichen Approbation abgeschlossen. Bei der Zulassung zur vertragsärztlichen Versorgung und bei ihrem zugelassenen Leistungsspekt-
5
rum sind diese drei Berufe dementsprechend im Wesentlichen gleichgestellt. Sie rechnen ihre Leistungen bei den kassenärztlichen Vereinigungen ab. Die unterschiedlichen Berufe im Gesundheitswesen ergänzen sich mit ihren jeweils ausdifferenzierten Fachkompetenzen in der Behandlung. Das bedeutet eine zunehmende Verantwortung für die Koordination der Gesamtbehandlung, die über die diagnostischen/therapeutischen Aufgaben der einzelnen Beteiligten hinausgeht.
5.1.4
Wandel von Versorgungsformen
Die klassische Leistungserbringung im ambulanten Sektor erfolgte bisher und erfolgt auch heute noch überwiegend im Rahmen der Vertragsarztpraxis eines niedergelassenen Arztes. Zuständig für die Regelungen im Bereich der Vertragsärzte sind die regional organisierten Kassenärztlichen Vereinigungen (KVen) als Selbstverwaltungsorganisationen der Vertragsärzte (frühere Bezeichnung Kassenärzte). Sicherstellungsauftrag. Den KVen obliegt der so
genannte »Sicherstellungsauftrag« für den ambulanten Bereich, d.h. die gesetzliche Verpflichtung, ambulante Leistungserbringung bedarfsgerecht zur Verfügung zu stellen. Im Gegenzug fällt ihnen nach den Regelungen des Sozialgesetzbuches (SGB V) das Behandlungsmonopol für die ambulante Leistungserbringung zu. Zu den von den KVen zu treffenden Regelungen gehören die sachgerechte Planung und regionale sowie fachgebietsbezogene Verteilung der so genannten Vertragsarztsitze sowie die Zulassung von Ärzten für diese Sitze (an der die regionalen Krankenkassen mitwirken). Sie sind zudem zuständig für die sachgerechte Verteilung der Vergütungen auf die Arztpraxen. Letztere ergeben sich aus Einzelhonoraren der jeweiligen Arzt-Fachgruppen für definierte Einzelleistungen oder Leistungskomplexe (einheitlicher Bewertungsmaßstab, EBM). Schließlich sind die KVen auch zuständig für die Regelung von Behandlungsstandards und Verantwortlichkeiten innerhalb und zwischen Vertragsarztpraxen. Diese traditionelle Regelung hat der Gesetzgeber in den letzten Jahren schrittweise und vorsichtig
196
5
Kapitel 5 · Arzt-Patient-Beziehung
verändert und neue Versorgungsformen (Selektivverträge) außerhalb dieses so genannten Kollektivvertragssystems zugelassen. Bei diesen neuen Versorgungsmodellen spielen die gesetzlichen Krankenkassen als „Player“ im Versorgungssystem eine zunehmend wichtigere Rolle, weil sie selbst für den Bereich ihrer Versicherten die Behandlungskonzepte, die Zugangsregeln und auch die Leistungserbringer festlegen.
Medizinische Versorgungszentren (MVZ). Ver-
Disease-Management-Programme (DMP). Hier-
Tagesklinische oder teilstationäre Behandlungsformen. Diese Konzepte, die speziell im psychia-
bei handelt es sich um umfassende leitlinienorientierte Behandlungskonzepte, die von Krankenkassen für bestimmte Gruppen von chronisch Kranken entwickelt wurden und im Detail festlegen, welche Diagnostik zu verwenden und welche Behandlungsformen (u. a. Patientenschulungen, 7 Kap. 8.1.3) bei welchen Befunden in welchem Umfang einzusetzen sind. Wenn Versicherte sich bei den Krankenkassen für diese Programme »einschreiben«, so können sie einen »Bonus« der Krankenkasse erhalten, sind dafür aber verpflichtet, sich im Gegenzug nur von bestimmten, von der Krankenkasse für gerade dieses DMP zugelassenen Ärzten behandeln zu lassen und die übrigen Regelungen der DMPs zu befolgen.
tragsärzte unterschiedlicher Fachrichtungen können sich zu Medizinischen Versorgungszentren zusammenschließen, die – orientiert am traditionellen Leitbild von Polikliniken (wie sie in der ehemaligen DDR den Standard der ambulanten Versorgung darstellten) – die Patienten gemeinsam und ggf. auch unter Einbeziehung weiterer, angestellter Fachkräfte behandeln.
trischen Bereich schon seit längerem bekannt sind, gewinnen zunehmend an Bedeutung, beispielsweise in der medizinischen Rehabilitation oder in der Geriatrie. Sie ermöglichen eine deutlich intensivere Behandlung als die reine ambulante Behandlung, die sich auf einzelne Behandlungseinheiten pro Woche beschränkt, ermöglicht dem Patienten aber im Unterschied zur stationären Behandlung einen Verbleib in der eigenen Wohnung. Dies ist zumeist mit einer Kostenersparnis verbunden und erlaubt eine höhere Alltagsnähe der Behandlung. v Lernziele Merkmale der ärztlichen Profession, Ärztekammern, psychologische Psychotherapeuten, kassenärztliche Vereinigungen, Sicherstellungsauftrag, Disease-Management-Programme, Integrierte Versorgung, Hausarztmodelle, Medizinische Versorgungszentren.
Integrierte Versorgung (IV). Danach ist es den
Krankenkassen möglich, einzeln oder gemeinsam mit Leistungserbringern (z. B. Ärzten, Apothekern, Krankenhäusern) Regelungen über pauschalisierte Vergütungen für bestimmte Patientengruppen zu beschließen. Die Leistungserbringer, die möglichst zu verschiedenen Sektoren (z. B. ambulante und stationäre Krankenversorgung) gehören sollen (daher: »integrierte« Versorgung), verpflichten sich im Gegenzug zu einer sachgerechten Behandlung entsprechend vorher vereinbarter Standards, zur sorgfältigen Dokumentation der Verläufe und der internen Verteilung des Honorars auf die Beteiligten. Hausarztmodelle. Die Krankenkassen können
ihren Patienten Versorgungskonzepte anbieten, innerhalb derer sie Fach-/Gebietsärzte nur noch nach Überweisung durch einen Hausarzt aufsuchen können. Die Krankenkassen können den Patienten für die Einschreibung in ein solches Modell Boni bieten, z. B. Nachlässe bei den Mitgliedsbeiträgen oder andere Vergünstigungen.
5.2
Arztrolle
5.2.1
Organisatorische und ökonomische Determinanten des ärztlichen Handelns
Der Arztberuf ist ein freier Beruf. Der Arzt/die Ärztin besitzt eine hohe Therapiefreiheit, da er/sie selbst über die Therapie entscheidet. Zwar bezieht er natürlich auch die Wünsche des Patienten ein; aber letztlich trägt er allein die Verantwortung für sein ärztliches Handeln. Als Inhaber einer Praxis ist der Arzt freier Unternehmer. Zugleich ist er in die ökonomischen Rahmenbedingungen des Sozialversicherungssystems eingebunden. 90% seiner Patien-
197 5.2 · Arztrolle
ten sind Mitglieder einer gesetzlichen Krankenkasse, nur 10% sind privat versichert. Damit unterliegt der Arzt dem Honorarsystem der gesetzlichen Krankenversicherung. Da das Vergütungssystem Auswirkungen auf das diagnostische und therapeutische Handeln haben kann, indem es z. B. Anreize setzt, möglichst viele Leistungen zu erbringen, wurde es in der Vergangenheit immer wieder geändert. Durch das Sozialgesetzbuch wird der Arzt explizit auf die Notwendigkeit, Wirtschaftlichkeit und Zweckmäßigkeit seiner Maßnahmen verpflichtet. Er soll seine Behandlung möglichst kostengünstig erbringen (Effizienz, 7 Kap. 3.8.4).
5.2.2
4 Kollektivitätsorientierung. Der Arzt soll sich am Wohl der Gemeinschaft orientieren. Er soll uneigennützig handeln, d. h. diagnostische oder therapeutische Maßnahmen nicht ausschließlich zur Steigerung des eigenen Gewinns durchführen.
Angesichts des Wandels der Arzt-Patient-Beziehung hin zu einer stärkeren Kooperation zwischen gleichberechtigten Partnern (partizipative Entscheidungsfindung) werden aktuell neue Rollenerwartungen an den Arzt gestellt (7 Kap. 5.4.4).
Normen der Arztrolle 5.2.3
Der amerikanische Soziologe Talcott Parsons beschrieb die folgenden Erwartungen an ärztliches Verhalten (Arztrolle): Komponenten der Arztrolle 4 Funktionale Spezifität. Der Arzt soll sich auf seinen ärztlichen Auftrag konzentrieren, Krankheiten zu behandeln. Seine fachliche Kompetenz kann sich sogar nur auf ein spezifisches Teilgebiet der Medizin erstrecken. Beispiel: Ein Facharzt soll nicht auf einem ihm fremden Gebiet tätig werden, sondern einen Patienten ggf. überweisen. 4 Affektive Neutralität. Ein Arzt darf sich nicht von seiner Sympathie oder Antipathie gegenüber einem Patienten leiten lassen. Affektive Neutralität heißt aber nicht, emotional gleichgültig zu sein. Vielmehr soll der Arzt sich empathisch in die Sorgen der Patienten hineinversetzen können. 4 Universalismus. Der Arzt soll allen Menschen gleichermaßen helfen, unabhängig von ihren persönlichen Merkmalen. Er soll niemanden bevorzugen, z. B. weil er derselben sozialen Schicht wie der Arzt angehört. 6
5
Motivation zum Arztberuf
Bei Studienanfängern der Medizin steht das Motiv, anderen Menschen helfen zu wollen (Altruismus), im Vordergrund. Daneben kommen aber auch andere Motive, wie naturwissenschaftliches Interesse, Freude am Umgang mit Menschen, einen herausfordernden Beruf ergreifen zu wollen etc., zum Tragen. Im Laufe des Studiums und der beruflichen Weiterbildung (berufliche Sozialisation) verändert sich die Motivstruktur: Der Altruismus nimmt ab, das sachlich-technische Interesse nimmt zu (Professionalismus). Doch auch nach Abschluss des Studiums bleibt für viele angehende Ärzte der Arztberuf noch immer in höherem Maße eine Berufung als für andere Hochschulabsolvierende. Im Vergleich zu Studienabsolventen anderer Fächer wurden bei den beruflichen Werthaltungen von Medizinern Kollegialität untereinander sowie die Betreuung und Unterstützung anderer Menschen besonders hoch gewichtet. In der Bedeutung von Prestigeorientierung, Autonomie oder Fortschrittsorientierung gab es keine Unterschiede zu anderen Studienabsolventen. Auch nach Abschluss des Studiums wurde Altruismus noch immer relativ hoch bewertet, aber auch Leistung als Lebensziel genannt. Erst in den ersten Berufsjahren erlitt das beziehungsorientierte Ideal ärztlicher Tätigkeit einen deutlichen Dämpfer. Kollegialität und Helfenwollen wurden – allerdings auf hohem Niveau – etwas weniger wichtig. Prestige- und Aufstiegsorientierung
198
5
Kapitel 5 · Arzt-Patient-Beziehung
gewinnen an Bedeutung. Im Vergleich zu anderen Akademikern klagten Ärzte nach den ersten Berufsjahren stärker über geringen Handlungsspielraum, negative Beziehungen am Arbeitsplatz, eine besonders hierarchische Führung und eine insgesamt niedrigere Arbeitszufriedenheit. In der Assistenzarztzeit steigen sowohl berufliches Engagement als auch Belastungserleben weiter an. Die Ärztinnen und Ärzte beschreiben sich als »gestresst, aber zufrieden«. Ärztinnen sind eher entmutigt als Ärzte. Während zum Studienabschluss noch kaum Unterschiede zwischen Frauen und Männern bestanden, wurden diese in der Assistenzarztzeit zunehmend deutlicher. Nahezu 20% der Ärztinnen waren inzwischen Mütter und betreuten ihre Kinder, ohne eine anschließende Arbeitsplatzgarantie zu haben. Frauen, die als Ärztinnen tätig sind, schätzen ihre Aufstiegschancen deutlich niedriger ein als Männer, was auch mit den objektiven Verhältnissen übereinstimmt (viele weibliche Medizinstudenten, wenige Professorinnen oder Chefärztinnen). Ihr berufliches Selbstvertrauen sinkt. Dieser Trend lässt sich bei anderen Akademikerinnen nicht feststellen. Insgesamt ist die erste Berufstätigkeit offensichtlich durch Ernüchterung gekennzeichnet. Nach einer anderen Befragung an sieben Universitäten fühlte sich nur ein Drittel der Studienabsolventen gut auf den klinischen Alltag vorbereitet. Insbesondere wird bedauert, dass zu wenig psychosoziale Kompetenz im Umgang mit den Patienten vermittelt wurde. Als Berufsziel gab die Mehrheit die eigene Niederlassung an. Ein gutes Drittel möchte an einer Klinik bleiben. Über 90% streben eine Facharztausbildung an. An der Spitze der Fächer liegen Innere Medizin und Allgemeinmedizin, gefolgt von Chirurgie und Kinderheilkunde.
5.2.4
Ethische Entscheidungskonflikte ärztlichen Handelns
Ganz im Vordergrund der ethischen Normen ärztlichen Handelns steht die Verpflichtung, Leben zu erhalten (Hippokratischer Eid). Mit dieser Verpflichtung können Ärzte in bestimmten Situationen in Konflikt geraten. Beispiele: wenn eine Patientin einen Schwangerschaftsabbruch durchführen möchte; wenn
ein schwerkranker, unheilbarer Patient das Bedürfnis nach Sterbehilfe äußert oder wenn die Angehörigen eines Komapatienten die Einstellung lebensverlängernder Maßnahmen fordern. Um hier die Ärzte von Entscheidungsdruck zu entlasten und ihnen Orientierungen zu bieten, werden in letzter Zeit vermehrt Anstrengungen des Gesetzgebers unternommen (z. B. Patientenverfügung; 7 Kap. 8.7.8). ! Wenn ein Patient den Wunsch nach Sterbehilfe äußert, steht dahinter häufig ein medizinisches Problem, das prinzipiell lösbar ist, z. B. eine Depression oder nicht ausreichend behandelte Schmerzen. Wenn man diese Probleme angemessen behandelt, lässt der Sterbewunsch meist nach.
5.2.5
Psychische und gesundheitliche Belastungen des Arztberufes
Nach verschiedenen Umfragen äußern sich 3/4 der Ärzte resignativ oder unzufrieden über ihren Beruf. 58% würden nicht mehr als Vertragsarzt (Kassenarzt) arbeiten wollen, 37% würden den Beruf heute nicht mehr ergreifen. Mehr als 90% der niedergelassenen Ärzte belastet das Ausmaß der Gesetzgebung im Gesundheitswesen und die Einflussnahme der Krankenkassen. Immer mehr Vorschriften, Wirtschaftlichkeitsdruck und Kontrollmechanismen erodieren die ärztliche Freiheit. Klagen über Regulierung, Bürokratisierung und zu wenig Zeit für die eigentliche Arbeit mit dem Patienten stehen an der Spitze der Faktoren, die Ärzte mit ihrem Beruf unzufrieden machen. In den Kliniken kommen die starre Hierarchie und lange, unflexible Arbeitszeiten mit häufigen Bereitschafts- und Nachtdiensten (geringe Vereinbarkeit von Beruf und Familie) dazu. Aber auch niedergelassene Ärzte arbeiten laut einer Befragung im Durchschnitt 60 Stunden pro Woche. 97% der Klinikärzte und 83% der niedergelassenen Ärzte verbinden mit ihrem Arbeitsplatz »Stress«. Wegen der belastenden Arbeitsbedingungen in deutschen Krankenhäusern begannen in den letzten Jahren immer weniger Ärzte nach dem Studium mit einer Tätigkeit im Krankenhaus und immer mehr suchten sich stattdessen eine Stelle in Wirtschaft oder Verwaltung oder absolvierten ihre Facharztweiterbil-
199 5.2 · Arztrolle
dung im europäischen Ausland, wo Arbeitsbedingungen und Bezahlung besser sind. Dies hat in vielen Kliniken zu einem Ärztemangel geführt. Im Vergleich zu anderen Berufen ist bei Ärzten das Morbiditäts-, Mortalitäts-, Sucht- und Suizidrisiko erhöht. Hierzu mögen die hohen Anforderungen des Arztberufes beitragen, wie tägliche Konfrontation mit Krankheit, Leiden und Tod, lange und ungünstige Arbeitszeiten, Nacht- und Notdienste, der Zwang, lebenswichtige Entscheidungen zu treffen, und die Einschränkungen des Freiheitsspielraums durch die ökonomischen und organisatorischen Rahmenbedingungen. Das Missverhältnis zwischen Anstrengung und Erholung kann zu psychischer Belastung führen, bis hin zu einem Gefühl, erschöpft und ausgebrannt zu sein (Burn-out-Syndrom). Ein Risikofaktor stellt auch das sog. Helfersyndrom dar. Damit meint man ein übermäßiges Bedürfnis, anderen helfen zu wollen, um dadurch selbst ein Gefühl von Unabhängigkeit und Stärke aufrechtzuerhalten. Dahinter verbirgt sich beim Helfer oft ein Gefühl von eigener Hilfsbedürftigkeit. Dieses wird jedoch nicht akzeptiert und lediglich sozusagen stellvertretend beim Patienten wahrgenommen, dem man dann in altruistischer Weise Zuwendung und Sorge zukommen lässt.
5
Klinik ä Burn-out-Syndrom
Als Burn-out-Syndrom wird ein Erschöpfungszustand bezeichnet, der entsteht, wenn Menschen sich von der stressreichen Arbeitssituation nicht mehr ausreichend erholen können. Er umfasst Zeichen emotionaler und körperlicher Erschöpfung, Verlust an Energie, sozialen Rückzug, psychosomatische Beschwerden, Nervosität, Depressivität und Gereiztheit bis hin zu Alkoholmissbrauch und anderen Süchten. Begünstigt wird die Entstehung eines Burn-out-Syndroms durch Perfektionismus und Idealismus, den Wunsch, alles selbst zu machen, und eine zu geringe Möglichkeit, sich von seiner Arbeit zu distanzieren und auf die persönlichen Bedürfnisse zu achten. Der Begriff »Burn-out-Syndrom« entstammt der Arbeitspsychologie. Trotz der Bezeichnung »Syndrom« handelt es sich dabei nicht um ein klinisch definiertes Syndrom oder gar eine eigenständige Diagnose. Manchmal wird »Burn-out-Syndrom« auch als beschönigende Umschreibung für eine Depression verwandt.
Strategien gegen Burnout. Burnout-Symptome Rollenkonflikte. Ärzte stehen im Spannungsfeld
von Patienten, Angehörigen, Kollegen, Leistungsträgern u. a. Hieraus können unterschiedliche Erwartungen an ärztliches Handeln resultieren, die im Konflikt miteinander stehen. Beispiel: Der Patient möchte ein teures »Originalmedikament« verschrieben bekommen, die Krankenkasse erstattet nur ein billigeres »Nachahmerpräparat«. Wenn der Arzt ihm dennoch das teurere Medikament verschreibt, um ihn nicht an einen Konkurrenten zu verlieren, läuft er Gefahr, das Mittel aus der eigenen Tasche bezahlen zu müssen. Da sich diese konflikthaften Erwartungen innerhalb der Arztrolle abspielen, spricht man von einem Intrarollenkonflikt. Beim Interrollenkonflikt gerät die Arztrolle mit anderen Rollenerwartungen in Konflikt, z. B. mit der Mutterrolle bei einer jungen Ärztin, die sowohl die Anforderungen des Berufs (lange Arbeitszeit) und des Mutterseins (für ihr Kind Zeit haben) unter einen Hut bringen will.
merkt man selbst meist erst spät, deshalb ist es wichtig, Freunde danach zu fragen, um schon Frühwarnsignale zu erkennen. Man sollte sich dann zunächst fragen, was einem am stärksten belastet: Sind es die überfordernden Arbeitsbedingungen bzw. Konflikte mit den Kollegen oder überfordert man sich eher selbst durch zu hoch gesteckte Ziele und eigenen Perfektionismus? Äußere Faktoren lassen sich möglicherweise verändern, indem man Arbeitsabläufe anders gestaltet (weniger Überstunden, mehr Pausen) oder die Gesprächskultur im Team verbessert (über Fehler sprechen, sich wechselseitig helfen). Hierbei können externe Supervision bzw. Coaching oder auch eine Balintgruppe helfen (7 Kap. 5.4.9). Zugleich sollte man von idealistischen Zielen zu realistischen wechseln, eigene Leistungsansprüche reduzieren, seine beruflichen Motive und Perspektiven überdenken und dem Bereich von Freizeit, Erholung und Freunden mehr Raum geben.
200
Kapitel 5 · Arzt-Patient-Beziehung
v Lernziele Komponenten der Arztrolle, Altruismus, berufliche Sozialisation, Professionalismus, Belastungen des Arztberufs, Intra- und Interrollenkonflikt, Burn-out-Syndrom.
5
5.3
Krankenrolle
5.3.1
Merkmale der Krankenrolle
Der amerikanische Soziologe Talcott Parsons, der schon die Arztrolle definierte (7 Kap. 5.2.2), hat auch die vier Dimensionen der Krankenrolle herausgearbeitet, die sowohl Verpflichtungen als auch Entlastungen umfasst. Seine idealtypische Beschreibung steht jedoch oft mit der Wirklichkeit in Kontrast.
sund zu werden. Für manche Kranken kann die Krankenrolle jedoch attraktiv sein, weil sie einen Ausweg aus schwierigen Lebenssituationen bietet (»Flucht in die Krankheit«). 4 Verpflichtung, ärztliche Hilfe in Anspruch zu nehmen und mit dem Arzt zu kooperieren. Die Mitarbeit bei der ärztlichen Behandlung wird Compliance oder Adhärenz genannt. Empirische Studien zeigen, dass die Compliance nicht optimal ist (7 Kap. 5.5.2).
5.3.2
Krankheitsbewältigung (Coping)
Psychosoziale Belastungen. Schwer und chroKomponenten der Krankenrolle 4 Entbindung von Rollenverpflichtungen. Kranke müssen ihre sozialen Rollen in Beruf und Familie nicht ausüben. Die ärztliche Diagnose einer Krankheit hat hier eine wichtige soziale Funktion: Sie führt zur Bescheinigung von Arbeitsunfähigkeit (Krankschreibung). Diese soziale Entlastung kann jedoch auch missbraucht werden. Beispiele: Der Krankenstand ist an Montagen und Freitagen höher als an den übrigen Tagen der Woche. 4 Entlastung von der Verantwortung für die Krankheit. Kranke werden für ihre Situation nicht verantwortlich gemacht. Dies erleichtert es ihnen, ohne Angst vor Stigmatisierung über ihre Krankheit zu sprechen und Hilfe in Anspruch zu nehmen. Dem steht jedoch entgegen, dass viele Zivilisationskrankheiten durch ein ungünstiges Gesundheitsverhalten, wie Überernährung, Bewegungsmangel und Rauchen, gefördert werden. 4 Verpflichtung, gesund werden zu wollen. Krankheit gilt als normabweichendes Verhalten. Deshalb sollen sich Kranke darum bemühen, möglichst schnell wieder ge6
nisch Kranke sind mit einer Reihe von psychosozialen Belastungen konfrontiert, die bewältigt werden müssen: Belastungen bei chronisch Kranken 4 eingeschränkte Leistungs- und Funktionsfähigkeit, 4 Aufgabe von Alltagsaktivitäten, 4 unsicherer Verlauf, Lebensbedrohlichkeit, 4 körperliche Beschwerden, 4 psychische Belastung (Depression, Angst), 4 Infragestellung sozialer Rollen in Beruf und Familie, 4 Einschränkung der sozialen Beziehungen, 4 Abhängigkeit von kontinuierlicher Therapie, 4 Notwendigkeit von Lebensstiländerungen.
Krankheitsbewältigung (Coping). Krankheitsbewältigung (syn. Krankheitsverarbeitung) ist definiert als das Bestreben, Belastungen, die infolge einer Erkrankung auftreten, psychisch zu verarbeiten und auszugleichen. Verarbeitungsprozesse finden auf drei Ebenen statt: der kognitiven, emotionalen und Handlungsebene (. Abb. 5.1).
201 5.3 · Krankenrolle
5
. Abb. 5.1. Ebenen der Krankheitsbewältigung
Ebenen der Krankheitsbewältigung 4 Kognitive Ebene: Kranke versuchen, sich auf ihre Beschwerden einen Reim zu machen: Was ist das? Wo kommt das her (Kausalattribution)? Was kann mir am besten helfen? Sie entwickeln eine subjektive Krankheitstheorie (7 Kap. 1.2.4). 4 Emotionale Ebene: Kranksein kann Angst, Depression oder Ärger auslösen. Diese emotionale Belastung kann in ihrer Intensität jedoch unterschiedlich stark sein und von vorübergehenden Gefühlen von Trauer, Ängstlichkeit und Verletzlichkeit bis hin zum Vollbild einer psychischen Störung, z. B. einer Depression, reichen. Die Prävalenz einer Depression beträgt beispielsweise bei Brustkrebs im Durchschnitt 20%. Bei einem Herzinfarkt ist sie ebenso hoch. 4 Handlungsebene: Das mit der Krankenrolle einhergehende Verhalten nennt man Krankheitsverhalten. Von der ersten Wahrnehmung körperlicher Beschwerden bis zur Inanspruchnahme medizinischer Hilfe werden mehrere Stadien des Hilfesuchens unterschieden (7 Kap. 9.1.1). Bevor sie einen Arzt aufsuchen, versuchen viele Kranke, ihre Beschwerden zunächst mit eigenen Mitteln in den Griff zu bekommen. Sie verwenden beispielsweise Medikamente, die sie zu Hause haben, oder nehmen die Hilfe ihrer Angehörigen in Anspruch (Laiensystem).
5.3.3
Wirtschaftliche, rechtliche und familiäre Einflüsse
Bei chronisch Kranken, die verschiedene Sektoren des Gesundheitssystems durchlaufen, spricht man von Patientenkarrieren. Als sekundären Krankheitsgewinn bezeichnet man positive Folgen einer Erkrankung, wie z. B. Entlastung von Pflichten in der Familie oder im Beruf (Arbeitsunfähigkeit, Frühberentung), die das Krankheitsverhalten positiv verstärken (7 Kap. 2.3.6). Als Aggravation wird die Tendenz beschrieben, Beschwerden übertrieben darzustellen, um damit einen Vorteil zu erzielen. Simulation ist die bewusste Vortäuschung von Beschwerden. Dissimulation ist das Gegenteil: Herunterspielen von Beschwerden, wenn diese einen Nachteil mit sich bringen würden, z. B. bei einem Einstellungsgespräch. Diese Aspekte des Krankheitsverhaltens weisen auf die Bedeutung wirtschaftlicher, rechtlicher und familiärer Einflüsse auf die Krankenrolle hin. Ein prägnantes Beispiel ist die in den vergangenen Jahrzehnten herrschende Tendenz, ältere Arbeitnehmer wegen ihres Gesundheitszustands frühzuberenten, um Personal abzubauen. Sozialversicherung, Arbeitsmarktpolitik und Betriebe arbeiteten hier Hand in Hand, ohne die nachteiligen Folgen für die Betroffenen wie auch für den Arbeitsmarkt zu sehen: Den Betrieben gingen wertvolles Erfahrungswissen und Kompetenzen verloren. Die Lohnnebenkosten stiegen an, weil die Frühpensionierungen finanziert werden mussten, was zu einem zusätzlichen Arbeitsplatzabbau anstelle des erwarteten Gewinns an Arbeitsplätzen führte.
202
Kapitel 5 · Arzt-Patient-Beziehung
Auf der anderen Seite sinkt in Zeiten hoher Arbeitslosigkeit der Krankenstand, sei es, weil Menschen bei Bagatellerkrankungen davor zurückschrecken, sich krankschreiben zu lassen, sei es, dass Menschen auch dann zur Arbeit gehen, wenn sie besser zu Hause bleiben sollten, aus Angst, sonst gekündigt zu werden. v Lernziele Komponenten der Krankenrolle, Belastungen bei chronisch Kranken, Ebenen der Krankheitsbewältigung (Coping), Aggravation, Simulation, Dissimulation.
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5.4
Kommunikation und Interaktion
5.4.1
Kommunikationstheorien
Kommunikation ist der Austausch von Information zwischen einem Sender und einem Empfänger. Kommunikation geht meist nicht nur in eine Richtung, sondern bewegt sich in zwei Richtungen (reziprok). Der Empfänger gibt dem Sender Rückmeldung über dessen gesendete Signale. Axiome der menschlichen Kommunikation nach Watzlawick 4 Man kann nicht nicht kommunizieren. Auch Schweigen hat eine kommunikative Bedeutung. 4 Kommunikation hat einen Inhalts und einen Beziehungsaspekt. 4 Kommunikationsabläufe werden seitens der Partner in kurze Sequenzen untergliedert (Interpunktion). 4 Kommunikation erfolgt sowohl digital (z. B. sprachlich) als auch analog (z. B. nonverbal). 4 Kommunikation kann symmetrisch oder komplementär sein, je nach der Gleichheit oder Unterschiedlichkeit der Partner.
Inhalts- und Beziehungsebene. Bei einem kommunikativen Akt lassen sich die Ebenen des Sachinhalts (»Worum geht es?«) und der Beziehung (»Wie stehen wir zueinander?«) unterscheiden: Während durch
. Abb. 5.2. Die vier Aspekte der Kommunikation
verbale Kommunikation vom Sender ein expliziter, bewusster Inhalt an den Empfänger vermittelt wird, kommentiert er zugleich in unbewusster Weise durch nonverbale Kommunikation die Beziehung, die er zum Empfänger besitzt. Er vermittelt, was er von seinem Gegenüber hält, gibt aber zudem auch etwas über sich selbst preis (Selbstoffenbarung) und versucht mehr oder minder offen, den anderen zu einer bestimmten Handlung zu bewegen (Appell). Eine Nachricht kann also vier verschiedene Botschaften gleichzeitig enthalten. Die letzten beiden Punkte stellen eine Erweiterung des Modells von Watzlawick durch Schulz von Thun dar, der damit vier Aspekte der Kommunikation unterscheidet (. Abb. 5.2). Metakommunikation. Metakommunikation be-
deutet, die aktuell stattfindende Kommunikation selbst zum Thema zu machen. Wir sprechen also über unsere Beziehung und wie wir gerade miteinander umgehen. Dies ist vor allem dann sinnvoll, wenn Störungen der Kommunikation auftreten, man sich sozusagen nicht versteht. Verfahrene Gespräche lassen sich durch Metakommunikation wieder in Gang setzen. lDouble bind. Inhalts- und Beziehungsebene können in Widerspruch zueinander geraten: Ein bewusster Wunsch wird explizit ausgesprochen, ein unbewusster gegenteiliger Wunsch drückt sich im nonverbalen Verhalten aus. Solche inkongruenten kommunikativen Akte werden als double bind bezeichnet. Beispiel: Eine Mutter antwortet ihrem heranwachsenden Sohn, der ihr gerade eröffnet hat, dass er zum Studium in eine andere Stadt gehen wird, in traurigem Tonfall und mit einem Zittern in der Stimme: »Es macht mir überhaupt nichts aus, wenn Du ausziehen willst. Ich komme damit schon klar!« Bewusst will sie ihm vermitteln, dass sie
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203 5.4 · Kommunikation und Interaktion
seine Selbständigkeitsbestrebungen unterstützt. Unbewusst macht sie ihm aber deutlich, dass er sie damit traurig macht. Zu einer Double-bind-Situation gehört weiterhin, dass der Empfänger wegen seiner großen Abhängigkeit vom Sender den Widerspruch nicht explizit ansprechen darf (Verbot der Metakommunikation). Für den Empfänger ist es dann schwierig zu entscheiden, worauf er reagieren soll: auf den positiven verbalen oder den negativen nonverbalen Inhalt? Egal, was er tut, er macht es falsch. Die Hypothese, dass Double-bind-Kommunikation die Entstehung einer Schizophrenie fördert, hat sich allerdings nicht bestätigt.
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darf nicht mit derjenigen von direktiv und nondirektiv verwechselt werden. Bei der direktiven Kommunikation bestimmt der Arzt den Gang des Gesprächs, bei der nondirektiven überlässt er dies dem Patienten (7 Kap. 6.2.3).
5.4.3
Bedürfnisse von Kranken
Bedürfnisse von Kranken 5.4.2
4 Informationsbedürfnis, 4 Bedürfnis nach Mitwirkung bei medizinischen Entscheidungen (partizipative Entscheidungsfindung), 4 Bedürfnis nach emotionaler Unterstützung.
Formen der Kommunikation
Kommunikation kann verbal, d. h. durch Sprache vermittelt, oder nonverbal, d. h. mittels Mimik, Gestik, Blickkontakt und Körperhaltung, erfolgen. Als paraverbale Kommunikation bezeichnet man die Begleiterscheinungen der Sprache, wie z. B. Sprachmelodie, Lautstärke oder Tonhöhe. Sprachliche Kommunikation sollte möglichst klar, prägnant und präzise sein, aber auch zur Erhöhung der Anschaulichkeit Beispiele verwenden. Menschen denken oft in Bildern und Vorstellungen, die sprachlich nur schwer auszudrücken sind. Deshalb unterläuft bei sprachlicher Kommunikation immer auch ein Informationsverlust. Dies gilt insbesondere für den Ausdruck von Gefühlen, die sich besser nonverbal vermitteln. Der Gefühlsausdruck ist zudem unserer willkürlichen Kontrolle teilweise entzogen. Dies kann dazu führen, dass sich verbal und nonverbal unterschiedliche Botschaften mitteilen. Persönliche Kommunikation geschieht von Angesicht zu Angesicht, mediale unter Benutzung von Medien, wie Telefon, Brief oder E-Mail. Mediale Kommunikation wird von vielen Menschen als schwieriger empfunden, weil nonverbale Signale fehlen, die für die Beziehungsgestaltung wichtig sind. Persönliche Kommunikation ist meist mündlich (im Unterschied zu schriftlich, wie z. B. ein Arztbrief). Direkte Kommunikation spricht die gewünschten Ziele und Absichten offen und ausdrücklich (explizit) an, indirekte Kommunikation tut dies in verdeckter, verschlüsselter (impliziter) Weise. Kranke sind sehr sensibel für indirekte Mitteilungen, wie aus der folgenden Äußerung eines Krebskranken hervorgeht: »Als der Arzt sich zu mir auf die Bettkante setzte, wusste ich, dass es Krebs ist«. Die Unterscheidung von direkt und indirekt
! Es kann als gesichert gelten, dass Kranke ein großes Informationsbedürfnis besitzen. Eine große Zahl von Untersuchungen mit Krebskranken hat beispielsweise gezeigt, dass zwischen 80 und 95% der Patienten über ihre Erkrankung, deren Behandlung und Prognose möglichst vollständig informiert werden wollen. lHealth literacy. Unter health literacy wird die Fähigkeit verstanden, Gesundheitsinformation zu lesen, zu verstehen und zu benutzen, um gesundheitsbezogene Entscheidungen zu treffen und Therapieempfehlungen zu folgen. Im Deutschen wird der Begriff meist mit Gesundheitskompetenz übersetzt. Gesundheitskompetenz umfasst jedoch mehr als Verständnis und Wissen, sondern auch Motivation zu gesundheitsbezogenen Verhalten, emotionale Einstellung (z. B. Selbstwirksamkeit) und entsprechende Fertigkeiten. Aus Studien in den USA weiß man, dass ein großer Anteil von Patienten, nach einigen Studien bis zur Hälfte, große Schwierigkeiten damit hat, grundlegende Informationen zu ihrer Gesundheit zu verstehen, z. B. wie und warum sie ihre Medikamente einnehmen sollen. Dies hat nachteilige Folgen für die Behandlungsergebnisse und erhöht das Risiko von Behandlungsfehlern. Es führt nicht weiter, dem Patienten dafür die Schuld zu geben. Vielmehr muss es das Ziel sein, ihn in die Lage zu versetzen (empowerment), die für ihn wichtige Information zu nutzen. Zu diesem Zweck muss die Informationsgabe an seine Verständnismöglichkeiten angepasst werden: Hilfreich ist, die Information möglichst einfach zu vermitteln, z. B. mit sog. Entscheidungshilfen (decision aids) unter Verwendung graphischer Illustrationen, medizinischen Fachjargon zu vermeiden und
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Kapitel 5 · Arzt-Patient-Beziehung
den Patienten zu ermutigen, Fragen zu stellen. Insbesondere Risikoinformation wird oft schlecht verstanden. Patienten wissen nicht, wie sie relative oder absolute Risiken oder Prozentangaben interpretieren sollen. Dies zeigt sich beispielsweise darin, dass der Nutzen einer Früherkennungsmaßnahme, wie der Mammographie, von den Patienten um mehrere Größenordnungen überschätzt wird. Ein Beispiel für eine gut verständliche Form der Risikokommunikation unter Benutzung des number needed to treat-Konzepts gibt Kapitel 3.7.5.
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Bedürfnis nach Mitentscheidung. Mehr als 80%
der Deutschen wollen gemeinsam mit ihrem Arzt über ihre Behandlung entscheiden; aber nur 45% konnten diesen Wunsch in die Tat umsetzen. Auch das Bedürfnis nach Mitentscheidung ist im Allgemeinen sehr groß, wenn auch nicht so einheitlich wie das Informationsbedürfnis. Es gibt nämlich auch Patienten, die die Entscheidung lieber dem Arzt überlassen. Bei älteren Patienten und Patienten mit niedrigerem Bildungsgrad ist der Wunsch mitzuentscheiden etwas seltener. Auch der Schweregrad der Erkrankung scheint eine Rolle zu spielen. Während Patienten mit Diabetes mellitus oder chronischen Atemwegserkrankungen häufig bereit sind, selbst Entscheidungen zu treffen, scheint dies bei Krebskranken nicht durchweg der Fall zu sein. Den Wunsch, bei Entscheidungen mitzuwirken, äußern in dieser Population je nach Studie zwischen 35 und 85% der Befragten. Selbst Patienten, die ursprünglich die Präferenz geäußert hatten, bei Entscheidungen mitzuwirken, wichen in der konkreten Situation oftmals wieder davor zurück. Die Aufforderung, bei existentiellen Entscheidungen Verantwortung zu übernehmen, kann bei manchen Krebskranken die Angst auslösen, sich falsch zu entscheiden. Sie fühlen sich u. U. überfordert und von ihrem Arzt alleingelassen. Da man es einem Patienten nicht ansehen kann, ob er mitentschieden will oder nicht, bleibt nur eines: ihn danach fragen. In der Praxis kann eine fehlende Übereinstimmung zwischen Wunsch und Realisierung einer kooperativen Mitwirkung an Entscheidungen in beiden Richtungen vorkommen: In einer Studie mit Brustkrebspatientinnen gaben 25% der befragten Frauen an, an der Behandlungsentscheidung weniger aktiv beteiligt gewesen zu sein, als sie es sich gewünscht hätten, 26% hingegen hatten eine aktivere Rolle einnehmen müssen, als es eigentlich
ihrem Wunsch entsprochen hätte. Die Übereinstimmung von Wunsch und Wirklichkeit hat eine größere Zufriedenheit mit dem Arztkontakt und eine bessere Lebensqualität zur Folge.
5.4.4
Partizipative Entscheidungsfindung
Die Werte und Vorstellungen der Patienten müssen in medizinische Entscheidungen einbezogen werden, wenn diese dem Patienten nutzen sollen. Dies kann am besten dadurch erfolgen, dass Patienten bei Entscheidungen in gleichberechtigter Weise mitwirken (partizipative Entscheidungsfindung; shared decision-making). Für die meisten Patienten ist dies gegenwärtig noch nicht selbstverständlich; häufig müssen erst die Voraussetzungen dafür geschaffen werden. Dies geschieht durch Empowerment. Empowerment. Empowerment bedeutet, Patienten dazu zu befähigen, bei medizinischen Entscheidungen als gleichberechtigte Partner aktiv mitzuwirken. Chronisch Kranke sollen zu Experten für ihre Krankheit werden. Sie sollen in die Lage versetzt werden, die Bewältigung ihrer Krankheit in die eigene Regie zu übernehmen und selbst zu entscheiden, wann sie professionelle Hilfe benötigen. Sie sollen die nötigen Kompetenzen und Fertigkeiten erwerben, um eigenverantwortlich mit der Erkrankung umzugehen (Selbstmanagement) und informierte Entscheidungen (informed choice) über ihre Lebensführung treffen zu können. Verwirklichung in der Praxis. Lässt sich dieses
Idealmodell auch in der Praxis realisieren? Zum Interesse der Ärzte an einer größeren Partizipation der Patienten gibt es bisher kaum Studien. Dass in der Onkologie tätige Ärzte in der großen Mehrzahl ein angemessenes Verständnis davon besitzen, was shared decision-making beinhaltet, konnte jüngst gezeigt werden. Ärzte unterschätzen aber häufig das Informationsbedürfnis ihrer Patienten. Auch kann man sich denken, dass Ärzte durch das Empowerment der Patienten verunsichert werden (»schwierige Patienten«) und dass sie sich durch die Notwendigkeit, emotionale Aspekte anzusprechen, überfordert fühlen, weil sie vielleicht die hierfür nötige
205 5.4 · Kommunikation und Interaktion
Kompetenz nicht besitzen. Insbesondere die adäquate Vermittlung der Unsicherheit eines Behandlungsergebnisses ist nicht einfach (7 Kap. 3.7.5). ! Ärzten fällt es oft schwer, einzuschätzen, wie stark Patienten bei Entscheidungen mitwirken wollen. Manche Kranke werden deshalb stärker, andere hingegen weniger stark in den Entscheidungsprozess einbezogen, als sie selbst es wollen. Deshalb ist es wichtig, den Patienten immer zuerst danach zu fragen, wie sehr er mitentscheiden will.
5.4.5
Modelle der Arzt-PatientBeziehung
Modelle der Arzt-Patient-Beziehung 4 paternalistisches Modell, 4 Konsumentenmodell (informatives Modell), 4 partnerschaftliches Modell.
Paternalistisches Modell. Im paternalistischen Modell, das der traditionellen Form der Arzt-Patient-Beziehung entspricht, entscheidet der Arzt im wohlverstandenen Interesse des Patienten. Der Patient verhält sich passiv. Angesichts der vielfältigen Informationsmöglichkeiten, die Patienten heute besitzen, wirkt dieses Modell nicht mehr zeitgemäß, insbesondere weil es die Patientenautonomie nicht ausreichend respektiert. Berechtigung kann es aber in Situationen haben, in denen die Fähigkeit des Patienten, autonome Entscheidungen zu treffen, stark eingeschränkt ist (Notfall, akute Psychose) oder er sich angesichts der schwer überschaubaren Tragweite einer Entscheidung überfordert fühlt. Konsumentenmodell. In Gegensatz zum paternalistischen Modell geht das Konsumentenmodell oder informative Modell davon aus, dass der Patient seine Ziele schon gut kennt und vom Arzt lediglich noch einige Informationen benötigt, um seine Entscheidungen dann souverän zu treffen. Die Rolle des Arztes beschränkt sich darauf, dem Patienten diese Informationen zu geben und schließlich die
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vom Patienten getroffenen Entscheidungen auszuführen. Dieses Modell legitimiert sich dadurch, dass nach vielen empirischen Studien das Informationsbedürfnis der Patienten sehr groß ist. Darüber hinaus stehen häufig mehrere relativ gleichwertige Therapieoptionen zur Verfügung, so dass eine Auswahl je nach der Patientenpräferenz gerechtfertigt ist, vor allem bei leichteren Gesundheitsstörungen. Von feststehenden Werten angesichts schwerwiegender oder lebensbedrohlicher Erkrankungen auszugehen, muss man in Frage stellen. Patienten benötigen die Hilfe ihres Arztes, um ihre Werte und Ziele herauszuarbeiten. Kranke erwarten von ihrem Arzt darüber hinaus meist nicht nur technische Expertise, sondern auch emotionale Anteilnahme. Partnerschaftliches Modell. Heutzutage gilt das
partnerschaftliche Modell als das beste. Arzt und Patient diskutieren gemeinsam das Problem und ihre Ziele. Der Patient teilt seine Präferenzen mit, der Arzt die vorliegende medizinische Evidenz; darüber hinaus soll der Arzt aber durchaus auch seine eigenen Empfehlungen abgeben. Der Patient soll dadurch im Sinne von Empowerment in die Lage versetzt werden, zwischen alternativen Behandlungsmöglichkeiten auszuwählen. Damit der Patient seine Wertvorstellungen, Ziele, Erwartungen und Befürchtungen äußern kann, ist es erforderlich, dass eine Gesprächsatmosphäre geschaffen wird, die ihm die Wichtigkeit seiner eigenen Sichtweise vermittelt und ihn ermutigt, seine subjektiven Krankheitstheorien und Präferenzen zu äußern. Hierbei muss der Arzt auch die vom Patienten gewünschte Rolle bei der Entscheidungsfindung explorieren. Denn nicht alle Patienten wollen, wie gesagt, in die Entscheidungsfindung einbezogen werden. Auch der Prozess der Abwägung und Diskussion möglicher Behandlungsoptionen ist als interaktiver Prozess zu gestalten. Aufgabe des Experten ist es, dem Patienten auf der Basis der von ihm gesichteten empirischen Evidenz die möglichen Behandlungsoptionen vorzustellen. Aufgabe des Patienten ist es, seine eigenen Präferenzen mit den präsentierten Behandlungsoptionen abzugleichen. In dem darauf folgenden Verhandlungsprozess darf der Experte zwar durchaus den Patienten zu überzeugen versuchen; er muss jedoch auch akzeptieren
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Kapitel 5 · Arzt-Patient-Beziehung
können, wenn der Patient sich anders entscheidet, als der Experte es für optimal erachtet. Beide Partner treffen dann gemeinsam eine Entscheidung, für die sie sich verantwortlich fühlen, auch wenn sie für den einzelnen möglicherweise nicht das jeweils denkbare Optimum darstellt. Nachdem eine gemeinsame Entscheidung getroffen wurde, wird ein Handlungsplan erarbeitet, für dessen Einhaltung sich beide Partner verantwortlich fühlen.
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Auswirkungen. Da der Patient die getroffene Entscheidung mitgetragen hat, kann man erwarten, dass dadurch seine Compliance verbessert und der Alltagstransfer erleichtert werden. Wie empirische Studien zeigen, entwickeln Patienten ein stärkeres Gefühl der Kontrolle über die Behandlung und eine höhere Zufriedenheit, wenn sie unterschiedliche Behandlungsoptionen diskutieren konnten. Auch viele Jahre nach Abschluss der Primärbehandlung wegen Brustkrebs war die Lebensqualität bei denjenigen Frauen höher, die angaben, bei der Auswahl der Behandlungsoptionen beteiligt gewesen zu sein. Ob durch die Verbesserung von Kontrollerleben, Zufriedenheit und Compliance auch die erwünschten Behandlungsergebnisse erreicht werden, muss beim gegenwärtigen Stand der Forschung noch offen bleiben. Allerdings gibt es durchaus Hinweise, dass dies der Fall sein könnte. Indirekte Hinweise auf günstige Auswirkungen von Empowerment und gemeinsamer Entscheidungsfindung können aus Studien zur ärztlichen Gesprächsführung gewonnen werden. ! Ein Gesprächsverhalten, das es dem Patienten erleichtert, seine Fragen, Erwartungen und Befürchtungen zu äußern und sowohl die gewünschte Information als auch emotionale Unterstützung zu erhalten, hat günstige Auswirkungen auf Gesundheitszustand, Symptomverminderung, Schmerzkontrolle, Funktionszustand und physiologische Ergebnisse wie Blutdruck- und Blutzuckereinstellung. Voraussetzungen. Welche Barrieren können einer partnerschaftlichen Arzt-Patient-Beziehung entgegenstehen? Aus ärztlicher Sicht wird vor allem der höhere Zeitaufwand genannt. Dabei ist aber zu be-
denken, dass sich die zunächst investierte Zeit im weiteren Verlauf wieder amortisiert, weil die nachfolgenden Gespräche auf der Basis größerer Informiertheit des Patienten effizienter sind. Mehr Partizipation bedeutet für die Patienten mehr Eigenverantwortung für die Risiken der von ihnen getroffenen Entscheidungen, die durch entsprechende Anreize gesteuert werden kann (z. B. mehr Wahlfreiheit bei der Krankenversicherung, unterschiedliche finanzielle Selbstbeteiligungen). Lassen sich Empowerment und partizipative Entscheidungsfindung auch gezielt fördern? Insgesamt ist die empirische Basis hierzu zwar noch schmal, aber vielversprechend. Bei Brustkrebspatientinnen reduzierte ein Training zur Vorbereitung auf die ärztliche Konsultation die wahrgenommenen Kommunikationsbarrieren und verbesserte die Zufriedenheit mit der Konsultation, und zwar sowohl bei Patientinnen als auch bei Ärzten. Bei Diabetes mellitus konnte gezeigt werden, dass Patienten, die ein derartiges Schulungsprogramm durchlaufen hatten, sich gegenüber ihren Ärzten aktiver verhielten, mehr Fragen stellten und mehr Information bekamen. Zur Förderung von shared decision-making werden auch Instrumente erprobt wie patientengerechte Informationsmaterialien (Entscheidungshilfen; decision aids) oder interaktive computergestützte Programme. Entscheidungshilfen reduzieren Angst und Unsicherheit, vermindern Entscheidungskonflikte und fördern die Zufriedenheit mit der getroffenen Entscheidung.
5.4.6
Funktionen der Kommunikation
! Die Kommunikation mit dem Patienten ist das wichtigste Handwerkszeug des Arztes. 50% aller Diagnosen können allein auf Grund der Information gestellt werden, die der Arzt bei der Erhebung der Anamnese gewinnt. 80% der Diagnosen stehen schließlich nach Anamneseerhebung und körperlicher Untersuchung fest.
Obwohl die Arzt-Patienten-Kommunikation entscheidend dazu beiträgt, dass eine Diagnose gestellt und eine angemessene Behandlung in die Wege geleitet wird, haben Patienten während der »Sprechstun-
207 5.4 · Kommunikation und Interaktion
de« oft viel zu wenig Zeit, ihr Anliegen vorzubringen. Nach einer Studie in den Vereinigten Staaten durften Patienten zu Beginn des Kontakts gerade einmal 20 Sekunden reden, bevor sie vom Arzt unterbrochen wurden. Möglicherweise haben Ärzte Angst, dass Patienten unendlich lange weiterreden würden, wenn man sie nicht unterbräche. Diese Befürchtung ist jedoch unbegründet. In einer aktuellen Untersuchung in der Schweiz dauerte es im Mittel anderthalb Minuten, bis Patienten mit ihrer Geschichte von selbst zu Ende kamen. 80% hatten ihren spontanen Bericht innerhalb von zwei Minuten abgeschlossen. Da die Patienten während dieser Zeit wichtige Informationen vorbringen, sollte man sie nicht unterbrechen. Aus dem Bericht der Patienten gewinnt der Arzt eine erste Orientierung über dessen Problem und gibt umgekehrt diesem Orientierung über das weitere Vorgehen. Er erhebt einerseits Information vom Patienten (Exploration und Anamnese, 7 Kap. 6.2), gibt aber andererseits dem Patienten auch selbst Information über die vorliegende Erkrankung (Diagnose) und die mögliche Behandlung (7 Kap. 8.1.1). Eine ausgewogene Darstellung der Vor- und Nachteile einer Behandlungsmaßnahme ist die Voraussetzung dafür, dass der Patient in die Behandlung einwilligen kann (informierte Einwilligung, informed consent). ! Eine unzureichende Aufklärung über die Risiken z. B. einer Operation ist häufiger Anlass für einen Kunstfehlerprozess. Juristisch gesehen stellt eine Behandlungsmaßnahme, in die der Patient aufgrund unzureichender Information nicht rechtsgültig einwilligen konnte, eine Körperverletzung dar.
Patienten können laut empirischen Studien im ärztlichen Gespräch eher selten ihr Anliegen vorbringen: Ungefähr 50% der Patientenprobleme werden entweder nicht geäußert oder nicht vom Arzt aufgegriffen. Ein großer Teil der verbalen oder nonverbalen Hinweise der Patienten auf Bedürfnisse nach mehr Information oder emotionaler Unterstützung wird von den Ärzten nicht wahrgenommen oder adäquat beantwortet. Auch gehen sie auf Sorgen, die der Patient äußert, meist nicht einfühlsam ein, sondern unterbrechen ihn oder wechseln das Thema, statt die Gefühle anzusprechen oder den Pat zu ermutigen, seine Sorgen mitzuteilen.
5
Wenn Ärzte hingegen auf die Informationswünsche ihrer Patienten eingehen, sind diese nicht nur zufriedener, sondern die Gespräche dauern sogar kürzer und nicht länger, wie viele Ärzte befürchten. Um zu gewährleisten, dass die Behandlungsempfehlung des Arztes vom Patienten auch umgesetzt wird, ist der Aufbau einer vertrauensvollen Kooperation erforderlich. Nur wenn der Patient aufgrund seiner eigenen Krankheitsvorstellungen nachvollziehen kann, dass eine Behandlungsmaßnahme sinnvoll ist, wird er diese auch im Alltag verwirklichen. Die Mitarbeit bei der medizinischen Behandlung bezeichnet man als Compliance (7 Kap. 5.5.2). Nicht nur medikamentöse Behandlungsempfehlungen, sondern auch Empfehlungen, den Lebensstil zu verändern, werden jedoch häufig nicht befolgt.
5.4.7
Strukturen der Kommunikation
Symmetrische/asymmetrische Kommunikation.
Kommunikation ist symmetrisch, wenn die beiden Gesprächspartner die gleiche Stellung oder Macht besitzen. Besteht ein Machtgefälle zwischen den Partnern, z. B. zwischen dem mit funktionaler Autorität ausgestatteten ärztlichen Experten und dem hilfesuchenden Patienten, ist die Kommunikation asymmetrisch. Untersuchungen zum ärztlichen Gesprächsverhalten während der Visite haben ergeben, dass Ärzte in schwierigen Situationen, z. B. wenn der Patient eine Frage stellt, die sie nicht gerne beantworten wollen, häufig bestimmte Strategien verwenden, die die Asymmetrie der Beziehung aufrechterhalten: Ausweichende Kommunikationsstrategien in Visitengesprächen 4 Übergehen von Fragen oder Einwänden, Nichtbeachten von Patienteninitiativen: Der Arzt ignoriert eine Frage einfach, so als hätte er sie nicht gehört. 4 Adressaten- oder Themenwechsel: Auf die Frage des Patienten wendet sich der Arzt an die Krankenschwester oder schneidet 6
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5
Kapitel 5 · Arzt-Patient-Beziehung
ein anderes Thema an, anstatt eine Antwort zu geben. 4 Beziehungskommentar: Statt die inhaltliche Frage des Patienten zu beantworten, betreibt der Arzt Metakommunikation, z. B.: »Sie dürfen nicht so ungeduldig sein!« 4 Mitteilung funktionaler Unsicherheit: Der Arzt weicht auf die Frage des Patienten aus und gibt vor, noch keine ausreichende Information zu besitzen, um sie beantworten zu können.
Wie die Analyse von Visitengesprächen gezeigt hat, gehen zwei Drittel der Gesprächsdauer auf die medizinischen Betreuer, nur ein Drittel auf den Patienten zurück.
5.4.8
Basismerkmale hilfreicher Gesprächsführung
Eine hilfreiche, patientenorientierte Gesprächsführung sollte die folgenden drei Basismerkmale verwirklichen, die auf die klientenzentrierte Gesprächspsychotherapie nach Carl Rogers zurückgehen (7 Kap. 8.2.3).
Basismerkmale hilfreicher Gesprächsführung 4 Empathie: sich in die Gefühle des Patienten hineinversetzen und diese in Worte fassen. 4 Wertschätzung: dem Patienten vermitteln, dass man ihn so, wie er ist, schätzt und akzeptiert. 4 Echtheit/Kongruenz: Das Gesprächsverhalten sollte mit der inneren Einstellung übereinstimmen. Beispiel: Ein Arzt, der unter großem Zeitdruck steht, wird kaum in der Lage sein, sich seinem Patienten für ein längeres Gespräch geduldig und einfühlsam zuzuwenden (mangelnde Kongruenz).
Diese Einstellungen und Gesprächstechniken liegen auch dem sog. »aktiven Zuhören« zugrunde, das im medizinpsychologischen Unterricht erlernt werden kann (7 Kap. 6.2). Transparenz. Ärzte sollten bei der Anamneseerhebung den Hintergrund ihrer Fragen plausibel machen und den Sinn diagnostischer Untersuchungen in nachvollziehbarer Weise erklären. Dies mindert beim Patienten Angst und Unsicherheit und fördert seine Mitwirkungsbereitschaft.
Klinik
Gesprächsverhalten und Kunstfehleranklagen In den USA werden Ärzte oft von Patienten wegen eines Kunstfehler belangt. Wovon hängt es ab, ob ein Arzt einen Kunstfehlerprozess bekommt? Dass in der Behandlung des Patienten etwas schief gelaufen ist, kann nicht die einzige Ursache sein: Nur eine kleine Minderheit derjenigen Patienten, die einen Behandlungsfehler erlitten haben, verklagt ihren Arzt. Zudem unterscheidet sich die (von Kollegen beurteilte) Behandlungsqualität offensichtlich nicht zwischen Ärzten, die häufig in Kunstfehlerprozesse verstrickt waren, und solchen, die nie davon betroffen waren. Erst wenn Patienten ein schlechtes Behandlungsergebnis erleiden und zusätzlich auch noch 6
unzufrieden mit der Betreuung durch ihren Arzt sind, steigt die Wahrscheinlichkeit für eine Kunstfehlerklage. Unzufriedenheit und Ärger entstehen dann, wenn der Arzt sich aus Sicht der Betroffenen nicht gut genug um sie gekümmert hat: Patienten fühlten sich unter Zeitdruck gesetzt oder missachtet, erhielten nicht ausreichend Erklärungen oder Ratschläge. Um herauszufinden, ob das kommunikative Verhalten mit der Wahrscheinlichkeit in Zusammenhang steht, eines Kunstfehlers bezichtigt zu werden, wurde eine Studie mit Hausärzten durchgeführt (Levinson et al. 1997). Zehn Routinegespräche wurden auf Tonband aufgenommen und nach einem Gesprächsanalysesystem ausgewertet. Danach verglichen die Forscher das
209 5.4 · Kommunikation und Interaktion
Gesprächsverhalten von Ärzten, die noch nie von einer Kunstfehlerklage betroffen waren, mit dem Verhalten derjenigen, die schon zweimal oder häufiger davon betroffen waren. Die Ergebnisse waren frappierend. Die nicht betroffenen Ärzte benutzten mehr gesprächserleichternde Äußerungen, wie: »Erzählen Sie mir mehr davon«. Sie fragten die Patienten häufiger nach deren eigener Meinung: »Was glauben Sie, was die Beschwerden verursacht hat?« Oder: »Was meinen Sie dazu, diese Medikamente zu nehmen?« So ermunterten sie den Patienten zum Sprechen und brachten ihr Interesse an seiner Meinung zum Ausdruck. Darüber hinaus gaben die nicht betroffenen Ärzte mehr orientierende Kommentare ab, in denen sie den Patienten erklärten, was sie nun tun würden: »Zunächst werde ich Sie untersuchen, und danach sprechen wir das ganze Problem durch.« Oder: »Ich werde Ihnen später noch Zeit lassen für Fragen.« Dadurch erleichterten sie es dem Patienten, angemessene Erwartungen über den weiteren Gang des Arzt-Patienten-Kontakts
5.4.9
Übertragung und Gegenübertragung
Mit Übertragung, einem Begriff, der aus der Psychoanalyse stammt, bezeichnet man das Phänomen, dass Erlebens- und Verhaltensmuster, die aus früheren Erfahrungen mit wichtigen Bezugspersonen stammen, das aktuelle Erleben und Verhalten beeinflussen. Beispiele: Ein Patient, der sich wegen einer schweren Erkrankung hilflos und unsicher fühlt, erlebt die Ärztin als Sicherheit vermittelnde Helferfigur, so wie er früher seine Mutter erlebt hat (positive Übertragung). Ein anderer Patient, der seinem Vater nie etwas recht machen konnte, erlebt eine Wiederholung dieser Situation gegenüber seinem Arzt, der mit ihm unzufrieden ist, weil er es nicht schafft, das Rauchen aufzugeben (negative Übertragung). Ein dritter Patient, der eine zwiespältige Beziehung zu seinem Vater hatte, gerät mit Ärzten, die für ihn Autoritätsfiguren sind, regelmäßig in Konflikte: Er sucht zwar ihren Rat, nimmt
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zu entwickeln, und informierten ihn darüber, wann er seine eigenen Sorgen vorbringen kann. Außerdem machten die nicht betroffenen Ärzte häufiger humorvolle Bemerkungen und lachten häufiger, was auf eine wärmere persönliche Beziehung zwischen Arzt und Patient schließen lässt. Die ArztPatienten-Kontakte dauerten im Schnitt auch etwas länger. In einer anderen Studie wurden sehr kurze, nur zehn Sekunden dauernde Ausschnitte aus Patientengesprächen von Chirurgen hinsichtlich des Tons ihrer Stimme untersucht (Abmadi et al. 2002). Pro Arzt wurden vier solche Zehn-Sekunden-Schnipsel analysiert, zwei am Beginn eines Gesprächs und zwei am Ende. Die Inhalte, um die es jeweils ging, wurden durch eine Filtermethode entfernt. Wieder fanden sich Unterschiede zwischen Chirurgen mit Kunstfehleranklagen und solchen ohne. Erstere brachten mehr Dominanz und weniger Sorge in ihrer Stimme zum Ausdruck. Für Arzt-PatientenGespräche und die Patientenzufriedenheit (oder die Unzufriedenheit, mit der Folge von Kunstfehleranklagen) gilt also: »Der Ton macht die Musik«.
ihre Empfehlungen dann aber nicht an (ambivalente Übertragung).
Wenn man solche Übertragungsphänomene kennt, erleichtert dies den Umgang mit den Patienten. Man muss sich dann auch nicht so sehr persönlich betroffen fühlen, wenn man weiß, dass Muster, die aus der Vergangenheit des Patienten stammen, in der Gegenwart aktualisiert werden. Sind einem diese Muster jedoch nicht bewusst, kann es passieren, dass man als Arzt oder Ärztin mit Gegenübertragung reagiert. Man nimmt dann unbewusst das Rollenangebot an, das der Patient einem macht, verhält sich also genauso wie z. B. früher der Vater, so dass die Situation eskalieren kann. Vertrauen/Misstrauen. Ziel der Arzt-Patient-Kom-
munikation ist der Aufbau einer vertrauensvollen Beziehung. Dies gelingt nicht immer. Wenn der Arzt Hinweise darauf hat, dass sein Patient ihm misstraut, ist es sinnvoll, dies anzusprechen (MetaKommunikation): »Ich habe den Eindruck, dass Sie
210
Kapitel 5 · Arzt-Patient-Beziehung
Klinik
Balintgruppe
5
Balintgruppen, die meist von einem Psychotherapeuten geleitet werden, haben ihren Namen von dem ungarisch-englischen Psychoanalytiker Michael Balint, der solche Seminare für Hausärzte einführte. Die Beziehung zwischen Arzt und Patient kann in einer Balintgruppe bearbeitet werden. In einer Balintgruppe treffen sich Ärzte und berichten über ihre schwierigen Patienten. Die Gruppenmitglieder hören zu und tragen dann
Zweifel haben, ob diese Therapie für Sie die richtige ist. Ist das so?« Der Patient fühlt sich möglicherweise erleichtert, wenn er seine Vorbehalte äußern kann, und es können Wege gesucht werden, diese auszuräumen. Kollusion. Als Kollusion (gemeinsame Illusion) wird eine Verstrickung zweier Interaktionspartner bezeichnet, die den Beteiligten nicht bewusst ist. Beispiel: Ein todkranker Patient setzt all seine Hoffnung in den Arzt und weckt in diesem die unbewusste Phantasie, ihn retten zu können, obwohl medizinisch keine Aussicht besteht. Wenn diese Verstrickung nicht aufgelöst werden kann, können sich die beiden Interaktionspartner nicht realistisch mit der Situation auseinandersetzen. Dies kann dazu führen, dass letztendlich beide enttäuscht sind, wenn sie feststellen müssen, dass ihre gemeinsame Hoffnung trügerisch war.
5.4.10
Organisatorisch-institutionelle Rahmenbedingungen
Einzel- vs. Gruppengespräche. Üblicherweise fin-
den Arzt-Patienten-Gespräche als Einzelgespräche statt. In manchen Fällen kann es jedoch wichtig sein, auch die Angehörigen einzubeziehen, dies aber immer nur mit Einverständnis des Patienten. Gruppengespräche spielen v. a. bei Patientenschulungen (Beratung, Edukation) eine Rolle (7 Kap. 8.1.3). Paargespräche können bei der Beratung eines Herzinfarktpatienten zur Ernährungsumstellung (meist kocht die Ehefrau!) oder auch im Rahmen einer Psy-
ihre eigenen Ideen bei, sei es aus ähnlichen Erfahrungen mit anderen Patienten oder aus ihren Überlegungen dazu, was sich in der Arzt-PatientInteraktion wohl abspielt. Auf diese Weise werden viele Mosaiksteinchen zusammengetragen, und es entsteht ein neues Bild von der problematischen Arzt-Patient-Interaktion, so dass sich Lösungsmöglichkeiten abzeichnen. Inzwischen spielen Balintgruppen in der Facharztweiterbildung vieler medizinischer Disziplinen eine wichtige Rolle.
chotherapie wichtig sein, z. B. bei einem Partnerkonflikt oder einer sexuellen Funktionsstörung. Familiengespräche sind in der Familientherapie üblich (7 Kap. 8.2.4). Der Grundgedanke hierbei ist, dass Veränderungen bei einem Familienmitglied auch Veränderungen des gesamten Familiensystems, d.h. der Beziehungen zwischen den Familienmitgliedern, nach sich ziehen (systemische Perspektive). Auch bei körperlich Schwerkranken kann es sinnvoll sein, die Familie beizuziehen, um Möglichkeiten der pflegerischen und emotionalen Unterstützung auszuloten. Ambulante vs. stationäre Versorgung. Patienten haben in der ambulanten Versorgung meist mit ihrem Hausarzt, den sie viele Jahre kennen, oder auf Überweisung auch mit einem Facharzt zu tun. Eine Besonderheit der ambulanten Versorgung sind Hausbesuche, bei denen der Arzt Einblick in das private Umfeld des Patienten nimmt. Diese Information kann ihm helfen, mögliche Barrieren, aber auch Ressourcen der Behandlung zu entdecken. Im Unterschied dazu ist die stationäre Versorgung meist anonymer. Die Patienten kennen die betreuenden Ärzte nicht, oft wechseln auch Stationsärzte je nach Schicht. Die Krankenhausumgebung ist ungewohnt, eigene Handlungsspielräume sind eingeschränkt. Eine Krankenhausaufnahme kann deshalb Gefühle von Unsicherheit, Angst und Hilflosigkeit mit sich bringen.
211 5.5 · Besonderheiten der Kommunikation und Kooperation
5.4.11
Soziokultureller Rahmen der Kommunikation
Sprachstile. Im Austausch mit Kollegen benutzen Ärzte ihre medizinische Fachsprache. Gegenüber Patienten sollten sie medizinische Begriffe in die Alltagssprache übersetzen. Wenn der Arzt dem Patienten einen Sachverhalt erläutert hat, sollte er sich vergewissern, dass der Patient dies auch verstanden hat. Dies kann zum Beispiel dadurch erfolgen, dass er ihn bittet, die aufgenommene Information noch einmal in eigenen Worten kurz zusammenzufassen (7 Kap. 5.5.3). Dadurch können Missverständnisse vermieden werden. Darüber hinaus sollte er sich am Sprachcode des Patienten orientieren (elaborierter vs. restringierter Code, 7 Kap. 4.7.4). Patienten aus unteren sozialen Schichten erhalten weniger Information und emotionale Unterstützung von ihren Ärzten; sie bemühen sich auch weniger aktiv darum. Kommunikation mit fremdsprachigen Kranken.
Besonders schwierig wird die Kommunikation mit fremdsprachigen Kranken, deren Sprache der Arzt nicht beherrscht. Möglicherweise können Angehörige dolmetschen, die aber u. U. ihre eigene Sichtweise einfließen lassen; ansonsten müssen professionelle Dolmetscher herangezogen werden. Allerdings gibt es inzwischen auch immer mehr Ärzte aus der zweiten Einwanderergeneration der größten ethnischen Minderheiten, die in den jeweiligen Sprachen kompetent sind. Auch Informations- und Schulungsbroschüren stehen häufig in mehreren Fremdsprachen zur Verfügung. v Lernziele Ebenen der Kommunikation: Sachinhalt, Beziehung, Selbstoffenbarung, Appell; verbale, nonverbale, paraverbale Kommunikation; Bedürfnisse Kranker: Information, Mitentscheidung, emotionale Unterstützung; partizipative Entscheidungsfindung, Empowerment, Selbstmanagement; Modelle der Arzt-Patient-Beziehung: paternalistisches Modell, Konsumentenmodell (informatives Modell), partnerschaftliches Modell; Basismerkmale hilfreicher Gesprächsführung: Empathie, Wertschätzung, Echtheit/Kongruenz; Übertragung: positiv, negativ, ambivalent, Gegenübertragung, Balintgruppe, Kollusion.
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Ì Vertiefen Faller H (2003) Shared Decision Making: Ein Ansatz zur Stärkung der Partizipation des Patienten in der Rehabilitation. Rehabilitation 42:129–135 (Übersicht über Modelle der Arzt-Patient-Beziehung) Schulz von Thun F (2005) Miteinander reden. Störungen und Klärungen. Rowohlt, Hamburg (leicht verständliche Einführung in die Grundlagen der Kommunikation mit vielen praktischen Übungen)
5.5
Besonderheiten der Kommunikation und Kooperation
5.5.1
Formen der Kooperation von Kranken und Ärzten
Passiv/aktiv. Aktiv kooperierende Patienten sind
selbst daran interessiert, sich möglichst vollständig über die Erkrankung und die Behandlungsmöglichkeiten zu informieren. Sie wirken bei Entscheidungen über medizinische Maßnahmen mit (partizipative Entscheidungsfindung; 7 Kap. 5.4.4) und setzen die getroffenen Entscheidungen in ihrem Alltagsleben um. Passiv-kooperierende Patienten hingegen führen nur das aus, was der Arzt ihnen sagt, übernehmen die Behandlung jedoch nicht in ihre eigene Regie und Verantwortung. Autonom/heteronom. Autonom kooperierende
Patienten tun dies selbständig und freiwillig, entsprechend dem Konsumentenmodell oder dem partnerschaftlichen Modell der Arzt-Patient-Beziehung (7 Kap. 5.4.5). Heteronom kooperierende Patienten arbeiten nur deshalb mit, weil sie vom Arzt oder den Angehörigen unter Druck gesetzt wurden. Ihr Handeln ist fremdbestimmt. Formen der Kooperation bei Ärzten. Auch Ärzte kooperieren miteinander. Bei einer technikorientierten Kooperation nutzen mehrere Ärzte gemein-
sam ein Gerät, z. B. in einer radiologischen Praxisgemeinschaft. Bei der wirtschaftlichkeitsorientierten Kooperation geht es um eine bessere Kostenstruktur der Praxis durch bessere Auslastung der Ressourcen. Bei der patientenorientierten Kooperation bringen mehrere Ärzte ihr berufsspezifisches Wissen bei der Behandlung eines Patienten ein, beispielsweise bei
212
Kapitel 5 · Arzt-Patient-Beziehung
einer Fallkonferenz im Rahmen der Schmerzambulanz, in der z. B. ein Anästhesist, ein Internist und ein Psychotherapeut zusammenarbeiten.
5.5.2
5
Compliance und Non-Compliance
Der Begriff compliance (Nachgiebigkeit) hatte ursprünglich einen paternalistischen Beigeschmack. Er beinhaltete, dass Patienten die Anordnungen ihres Arztes passiv befolgen. Heutzutage versteht man Compliance jedoch in einem weiteren Sinne, nämlich als Mitarbeit bei der Behandlung, so dass dieser Begriff auch mit einem partnerschaftlichen Arzt-Patienten-Modell kompatibel ist. In der englischsprachigen Literatur findet man anstelle von compliance häufig auch die Begriffe adherence (Adhärenz) und concordance. ! Die Compliance beträgt im Durchschnitt 75%, d. h., nur 75% der Patienten nehmen ihre Medikamente wie vom Arzt verordnet ein oder folgen den Empfehlungen zur Änderung des Lebensstils.
Allerdings ist die Bandbreite sehr groß. Compliance wird auch von der Art der Erkrankung beeinflusst. Bei Hypertonie, die keine Symptome verursacht, liegt sie bei ungefähr 50%, bei Asthma bronchiale jedoch bei 80%. Studien aus der Rehabilitation zeigen jedoch, dass durch intensive, umfassende Schulungsmaßnahmen, einschließlich Erinnerungsschreiben und Selbstbeobachtung (z. B. Tagebücher), die Compliance erhöht werden kann. Beispiele: Compliance mit körperlichem Training ein Jahr nach Herzinfarkt 50%; mit antihypertensiver Medikation 64%; mit lipidsenkender Medikation 82%. In einer Studie, in der der Transfer eines körperlichen Trainingsprogramms in den Alltag geplant und supervidiert wurde, konnte sogar eine Compliance von 92% erzielt werden, im Vergleich zu 76% in der Kontrollgruppe. In anderen Studien waren die Effekte jedoch sehr viel bescheidener. Noch geringer ist die Compliance unter Alltagsbedingungen. Empfehlungen, Gewicht abzunehmen oder mit dem Rauchen aufzuhören, werden langfristig nur von 10% der Patienten befolgt. Gute Compliance geht mit einer geringeren Mortalität einher. Dies gilt ironischerweise nicht
nur für Compliance mit einem wirksamen Medikament, sondern auch für Compliance mit einem Placebo. Der Effekt kommt hier natürlich nicht durch die wirkungslose Substanz zustande, sondern dadurch, dass Menschen, die eine gute Compliance zeigen, auch sonst ein besseres Gesundheitsverhalten aufweisen. Sie sind gewissenhaft und haben generell eine gesunde Lebensweise. Wenn umgekehrt beispielsweise Herzinfarktpatienten ein Medikament weglassen, das eigentlich zu einer leitliniengerechten Therapie dazugehört, vermindern sie damit ungewollt ihre Überlebensrate. Geringe Compliance reduziert den Nutzwert einer Maßnahme (Nutzwert = Wirksamkeit × Compliance). Wenn ein Medikament nur von der Hälfte derjenigen Patienten eingenommen wird, denen es verordnet wurde, halbiert sich sein Nutzwert. Formen der Non-Compliance. Non-Compliance
kann unterschiedliche Formen annehmen. Manche Patienten nehmen kontinuierlich eine geringere Dosis ein als verordnet, andere nehmen lieber ein bisschen mehr. Manche Patienten nehmen die Medikamente so lange, bis eine Wirkung eintritt, und setzen sie anschließend vollständig ab. Dies ist insbesondere bei der Antibiotikatherapie gefährlich, weil sich durch eine zu kurzfristige Einnahme resistente Keime entwickeln können. Manche Patienten nehmen ein als Dauermedikation vorgesehenes Mittel, z. B. bei Asthma bronchiale zur Anfallsprophylaxe, nur bei akuten Atemnotanfällen ein. Andere Patienten setzen ihre Medikamente zwischendurch immer wieder für eine bestimmte Zeit ab. Wieder andere nehmen die reguläre Medikation erst unmittelbar vor einem bevorstehenden Arztbesuch wieder auf. Als »intelligente« Non-Compliance bezeichnet man Non-Compliance aus vernünftigen Gründen. Beispiel: Ein Patient setzt ein Medikament wieder ab, weil er von schweren Nebenwirkungen betroffen ist. Dies ist aber nicht immer wirklich »intelligent«. Oft sind subjektiv störende Nebenwirkungen harmlos und verschwinden von selbst wieder. Deshalb wäre es besser, wenn der Patient sich mit seinem Arzt bespricht, bevor er eigenmächtig ein Mittel absetzt. Die voreilige Absetzung von Medikamenten wegen Nebenwirkungen findet man auch häufig
213 5.5 · Besonderheiten der Kommunikation und Kooperation
bei Antidepressiva. Diese haben nämlich einen verzögerten Wirkungseintritt. Erst nach mindestens zwei, manchmal auch vier oder mehr Wochen treten die antidepressiven Effekte ein, wogegen Nebenwirkungen, die meist harmlos und vorübergehend sind, schon früher auftreten können. Deshalb ist es sehr wichtig, die Patienten während dieser ersten Wochen regelmäßig einzubestellen, um sie zur weiteren Einnahme der Medikamente zu motivieren, auch wenn noch keine Wirkung da ist. Einflussfaktoren auf die Compliance 4 Merkmale der Erkrankung, z. B. akute vs. chronische Erkrankung, Symptome vs. keine Symptome. Geringere Compliance bei psychischer Störung. 4 Merkmale der Behandlung: Hoher Aufwand oder lange Dauer der Behandlung und ein komplizierter Behandlungsplan führen zu niedriger Compliance. 4 Bedingungen des Behandlungssettings: Lange Wartezeiten bei Arztterminen und Zeitdruck während der Untersuchungen vermindern die Compliance. 4 Arzt-Patient-Beziehung, z. B. unverständliche Erklärung, gestörtes Vertrauensverhältnis, unzureichende Einbeziehung der Sichtweise des Patienten, mangelnde Information. 4 Merkmale des Patienten, z. B. ungünstige subjektive Krankheitstheorien, irrationale Behandlungsängste. Beispiele: Viele depressive Patienten befürchten unzutreffenderweise, von Antidepressiva abhängig werden zu können. Manche Asthma-Patienten haben übertriebene Ängste vor den Nebenwirkungen von Cortison in Dosieraerosolen. Alter, Geschlecht, Intelligenz und Ausbildung spielen hingegen keine große Rolle. 4 Einflüsse des sozialen Umfelds, z. B. mangelnde soziale Unterstützung.
Non-Compliance erkennen. Wenn eine Behand-
lung bei einem Patienten nicht anzusprechen scheint, sollte man den Patienten an erster Stelle danach fragen, ob er das Medikament wie verord-
5
net eingenommen hat, bevor man an der Indikation zweifelt, die Dosis erhöht oder ein anderes Medikament verordnet. Es genügt die Frage: »Haben Sie in der letzten Woche ein oder mehrere Male Ihre Medikamente nicht eingenommen?«, ohne dass man damit dem Patienten einen Vorwurf macht oder ihn unter Druck setzt. Die Selbstangabe des Patienten ist durchaus zuverlässig: Selbsteinschätzungen der Compliance führen nicht zu höheren Werten als andere, objektivere Messmethoden. Ein wichtiger Hinweis auf mangelnde Compliance kann auch sein, wenn ein Patient Behandlungstermine nicht regelmäßig wahrnimmt. Aufwendigere Verfahren zur Kontrolle der Compliance wie das Zählen von Pillen, Medikamentencontainer, die die Entnahme einer Pille elektronisch aufzeichnen, Dosieraerosole, die jeden Hub registrieren, oder Blutspiegelmessungen sind lediglich in wissenschaftlichen Untersuchungen, nicht aber in der Praxis machbar. Compliance fördern. Um die Patienten-Compli-
ance zu fördern, sollte sich der Arzt folgende Fragen stellen: Ist das notwendige Wissen beim Patienten vorhanden? Wenn nicht, ist entsprechende Information erforderlich. Ist das notwendige Können beim Patienten vorhanden (z. B. korrekte Anwendung eines Dosieraerosols)? Wenn nicht, sind Verhaltensübungen oder Patientenschulungen angezeigt. Ist ausreichende Motivation beim Patienten vorhanden? Wenn nicht, muss die Motivation gefördert werden, z. B. durch kognitive Techniken (7 Kap. 10.3.2). Weiterhin sollte man das Behandlungsregime überdenken und nach Vereinfachungsmöglichkeiten suchen. Genaue Instruktionen, möglicherweise mit einem schriftlichen Informationsblatt, Erinnerungen oder Tagebücher für die Selbstbeobachtung können versucht werden. In einer Metaanalyse, in der unterschiedliche Strategien zur Verbesserung der Compliance untersucht wurden, hat sich eine Strategie als besonders wirksam herausgestellt: finanzielle Anreize für regelmäßige Medikamenteneinnahme. Wirksam ist auch eine regelmäßige telefonische Erinnerung. Bei Patienten mit chronischer Herzinsuffizienz hat ein telefonisches Nachsorgeprogramm, das u. a. auch die Selbstbeobachtung der Symptome durch den Patienten sowie Psychoedukation umfasste, die Sterblichkeit um 40% reduziert. Bei Patienten mit psychischen Störungen führte
214
Kapitel 5 · Arzt-Patient-Beziehung
eine die Compliance fördernde Telefon-Nachsorge zu Kosteneinsparungen und weniger stationären Behandlungen.
5.5.3
Besondere kommunikative Anforderungen
Mitteilung von ungünstigen Diagnosen. Das Ge-
5
spräch mit Schwerkranken und Sterbenden stellt besondere Anforderungen. Eine häufige Situation, die für den Arzt schwierig sein kann, ist das sog. Aufklärungsgespräch, d. h. die Mitteilung ungünstiger Diagnosen. Noch vor wenigen Jahrzehnten war es unüblich, Krebspatienten über ihre Diagnose zu informieren. Diesem Vorgehen lag die Annahme zugrunde, dass es Patienten zu sehr belasten würde, wenn man ihnen die Wahrheit sagt. Dies hat sich jedoch als unzutreffend herausgestellt. Nicht nur wollen Patienten so viel wie möglich über ihre Krankheit wissen (üblicherweise mehr, als die Ärzte ihnen sagen), sondern Offenheit hat auch positive Auswirkungen auf das emotionale Befinden und die Krankheitsbewältigung. Unsicherheit über die Diagnose hingegen verstärkt die emotionale Belastung. ! Es wird als Recht des Patienten angesehen, über seine Krankheit informiert zu werden. Nur wenn er möglichst vollständig Bescheid weiß, kann er sich mit den Konsequenzen seiner Erkrankung auseinandersetzen. Mangelnde Offenheit hingegen unterminiert das Vertrauen in der Arzt-Patient-Beziehung, verhindert die Beteiligung des Patienten an Therapieentscheidungen und erhöht die Gefahr von Non-Compliance. Deshalb gilt es als Standard, Patienten soweit wie möglich über ihre Krankheit zu informieren.
Allerdings sollte man auch dabei keine paternalistische Haltung einnehmen, sondern die Informationsgabe an den Bedürfnissen der Patienten orientieren. Eine Minderheit der Patienten möchte nicht vollständig über die Krankheit informiert werden oder benutzt Verleugnung als Bewältigungsstrategie. Die Informationsvermittlung sollte deshalb nach Ausmaß und Geschwindigkeit auf den indi-
viduellen Patienten zugeschnitten sein. Wichtig ist, dass dieser Prozess Zeit braucht, weil Patienten nicht alle Information auf einmal aufnehmen können. Ein einziges Aufklärungsgespräch wird deshalb oft nicht ausreichen. Laut Studien behalten Krebskranke im Durchschnitt 50% der wichtigen Informationen, die ihnen vermittelt wurden. Deshalb ist es notwendig, die Informationsgabe kontinuierlich fortzusetzen. Praktisches Vorgehen. Zunächst einmal ist es
wichtig, dass man für diese Gesprächssituation ausreichend Zeit und eine geeignete Umgebung vorsieht, d. h. ein ruhiger Raum, in dem man nicht gestört wird. Fragen Sie den Patienten, ob er jemanden als Begleitung beim Aufklärungsgespräch mit dabei haben möchte. ! Das wichtigste Prinzip des Aufklärungsgesprächs ist es, nicht »mit der Tür ins Haus zu fallen«. Die Informationsvermittlung sollte vielmehr schrittweise und im Dialog erfolgen. Man orientiert sich dabei an der Aufnahmebereitschaft des Patienten, und zwar sowohl in intellektueller Hinsicht: »Hat er die mitgeteilte Information überhaupt verstanden?« als auch in emotionaler Hinsicht: »Hat er die Tragweite der Information gefühlsmäßig an sich herankommen lassen?«
Wenn man Patienten mit zuviel belastenden Informationen auf einmal konfrontiert, läuft man Gefahr, dass sie die Information verleugnen. Man muss sich dann nicht wundern, wenn sie sich so verhalten, als wären sie nie aufgeklärt worden. Patienten oszillieren in ihrem bewussten Erleben oft zwischen einer weitgehenden Akzeptanz der Erkrankung einerseits und einem Nicht-wahrhaben-Wollen andererseits hin und her (middle knowledge). Wenn sie sich aber emotional unterstützt fühlen, können sie sich immer mehr mit den belastenden Informationen auseinandersetzen. Kommunikation mit Kindern. Bei Kindern ist die
intellektuelle und emotionale Verarbeitungskapazität im Vergleich zu Erwachsenen eingeschränkt. Deshalb muss sich die Kommunikation in hohem Maße auf den sprachlichen und kognitiven Ent-
215 5.5 · Besonderheiten der Kommunikation und Kooperation
Orientierungshilfen für das Aufklärungsgespräch 4 Informationsbedürfnis erfragen. Fragen Sie zuerst, ob der Patient überhaupt Genaueres über Diagnose und Prognose wissen möchte, z. B.: »Möchten Sie, dass ich Ihnen mitteile, wie die Krankheit bei den meisten Patienten mit gleicher Diagnose verläuft?« Orientieren Sie sich an den Präferenzen, die der Patient äußert, welche Informationen er mitgeteilt bekommen möchte und welche nicht. 4 Informationsstand erfragen. Damit man beim Aufklärungsgespräch weiß, wo man ansetzen soll, ist es sinnvoll, den Patienten danach zu fragen, was sein aktueller Wissensstand ist: »Bevor ich Ihnen sage, was bei den Untersuchungen herausgekommen ist, würde ich gerne wissen, was man Ihnen bisher schon mitgeteilt hat. Dann weiß ich besser, womit ich anfangen soll.« 4 Einfach und offen informieren. Teilen Sie die Information einfach und ehrlich, unter Benutzung von Alltagssprache und ohne den Gebrauch von Schönfärberei mit. Benutzen Sie ggf. unterschiedliche Medien, z. B. Grafiken. Sprechen Sie heikle oder peinliche Themen direkt, aber feinfühlig an. 4 Sicherstellen, dass der Patient die Information verstanden hat. Sprechen Sie in einfachen Worten. Fragen Sie nach, ob der Patient verstanden hat, was Sie ihm sagen wollten. Bitten Sie ihn ggf., die Information noch einmal in eigenen Worten zusammenzufassen, oder geben Sie selbst eine Zusammenfassung. 4 Raum für Rückfragen lassen. Halten Sie nach jeder Information kurz inne, damit der Patient nachfragen kann. Ermutigen Sie ihn, aktiv nachzufragen, wenn er etwas nicht verstanden hat. 4 Einen breiten prognostischen Zeitrahmen verwenden. Bei der Prognosemitteilung keine konkrete Zeit nennen, weil dies im Einzelfall meist nicht möglich ist, sondern einen breiten realistischen Zeitrahmen vermitteln,
4
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der dem Patienten ermöglicht, seine persönlichen Angelegenheiten zu regeln. Erklären Sie, dass eine genaue Vorhersage darüber, wie ein Individuum auf die Krankheit und deren Behandlung reagiert, nicht möglich ist. Mitentscheiden lassen. Stellen Sie dem Patienten die Behandlungsmöglichkeiten vor und vermitteln Sie ihm, dass er bei der Entscheidung über die Behandlung beteiligt werden kann, wenn er dies will. Hoffnung vermitteln. Kommen Sie zuerst auf die Heilungschancen und erst danach auf die Wahrscheinlichkeit eines Rückfalls zu sprechen. Bei palliativer Behandlung, die nicht mehr das Ziel der Heilung anstrebt, die Äußerung vermeiden, »dass nichts mehr getan werden kann«. Stattdessen vermitteln, dass Sie alles tun werden, um eine möglichst gute Lebensqualität aufrecht zu erhalten, auch wenn keine Heilung mehr erreicht werden kann. Menge und Tempo der Information anpassen. Geben Sie dem Patienten nur so viel Information auf einmal, wie er intellektuell und emotional verarbeiten kann. Halten Sie kurz inne und fragen Sie nach, ob es erst mal genug ist oder ob er noch weitere Information haben möchte. Ermöglichen Sie ihm durch Pausen und Nachfragen, das Gespräch zu beenden, falls er sich im Augenblick überfordert fühlt, noch weitere Information aufzunehmen. Gefühle ansprechen. Ermutigen Sie den Patienten, seine Gefühle zu äußern. Vermitteln Sie ihm, dass seine Gefühle normal sind, und reagieren Sie einfühlsam. Informieren Sie den Patienten über psychosoziale Unterstützungsmöglichkeiten. Ausreichend Zeit zur Verarbeitung lassen. Informationsvermittlung ist kein Alles- oder Nichts-Phänomen, sondern braucht Zeit zur emotionalen Verarbeitung. Signalisieren Sie dem Patienten, dass Sie auch später für Rückfragen und Gespräche zur Verfügung stehen. Arrangieren Sie einen Termin für die Nachbesprechung, ggf. gemeinsam mit einem Angehörigen.
5
216
Kapitel 5 · Arzt-Patient-Beziehung
wicklungsstand eines Kindes einstellen und bei kleineren Kindern immer die Eltern einbeziehen.
5.5.4
5
Einflussfaktoren der Kommunikation und Kooperation
Organisatorisch-rechtliche Bedingungen. Die wichtigste Störungsquelle der Kooperation im Krankenhaus ist der Zeitdruck, dem Ärzte ausgesetzt sind. Die organisatorischen Anforderungen wie Dokumentation, Qualitätssicherung, Berichtswesen, Abrechnungen nehmen immer mehr zu. Für Gespräche mit den Patienten bleibt immer weniger Zeit. Dementsprechend kurz verläuft oft die Visite. Für den niedergelassenen Arzt stellt die Gebührenordnung eine wichtige Rahmenbedingung dar. Das Gespräch mit dem Patienten wird leider nur gering honoriert.
professionelle Kompetenz, um nicht mit eigener Aggression zu reagieren. Hilfreich ist, das Motiv der Ablehnung herauszufinden, statt mit Gegendruck zu arbeiten. In manchen Fällen wird es gleichwohl nicht gelingen, den Patienten zu überzeugen, z. B. mit dem Rauchen aufzuhören oder seinen Lebensstil zu ändern. Dies muss man als Arzt oder Ärztin akzeptieren können. Andere Kranke konfrontieren den Arzt mit festen Vorstellungen davon, wie die Krankheit am besten zu behandeln ist, und setzen ihn unter Druck, diese Behandlungsmaßnahmen auszuführen. Dies kann beim Arzt zu einem Widerstand führen, weil er sich in seinem eigenen Handlungsspielraum, seiner Therapiefreiheit, eingeschränkt fühlt. Diesen Widerstand gegen Freiheitseinschränkungen nennt man Reaktanz. Reaktanz kann andererseits auch beim Patienten auftreten, wenn er sich von ärztlichen Empfehlungen eingeengt fühlt. Erwartungsenttäuschung. Wenn Kranke allzu
Fehlerquellen und Beurteilungsfehler. Fehler-
quellen der Kommunikation können auch in der Person von Arzt und Patient liegen. Als Beurteilungsfehler werden systematische Verzerrungen der Wahrnehmung einer anderen Person bezeichnet (7 Kap. 6.2.5). Beim Halo-Effekt (Überstrahlungsfehler) wird die Wahrnehmung durch ein hervorstechendes Merkmal beeinflusst, das auf andere Merkmale der Person ausstrahlt. Beispiel: Das gepflegte Äußere und freundliche Verhalten eines Patienten verleitet den Arzt zu der (möglicherweise unzutreffenden) Annahme, er werde sich auch an seine Empfehlungen halten. Hier wird vom äußeren Auftreten des Patienten auf seine Compliance geschlossen. Beim Abwehrmechanismus der Projektion (7 Kap. 2.3.5) werden unbewusste Gefühle oder Eigenschaften, die man bei sich selbst nicht wahrhaben will, stattdessen beim anderen wahrgenommen. Beispiel: Ein Arzt, der sich selbst immer nur als stark und kompetent wahrnimmt und eigene Gefühle von Hilflosigkeit abwehrt, nimmt an seinen Patienten bevorzugt deren Hilflosigkeit und Schwäche wahr. Ablehnende Kranke. Wenn Patienten die Empfehlungen des Arztes zurückweisen, erfordert es
große Hoffnungen in die medizinische Behandlung setzen, kann es zu Erwartungsenttäuschungen kommen. Dies ist beispielsweise häufig bei Patienten mit kleinzelligem Lungenkrebs der Fall. Zwar sprechen die kleinzelligen Bronchialkarzinome meist auf die Chemotherapie an, und der Tumor bildet sich zurück. In der Regel kehrt er jedoch nach wenigen Wochen oder Monaten wieder und kann dann nicht mehr kurativ behandelt werden. Die Patienten versterben dann bald, die gesamte Überlebenszeit beträgt im Median 1 bis 1½ Jahre. Um der Erwartungsenttäuschung vorzubeugen, weisen die behandelnden Ärzte schon im Aufklärungsgespräch nachdrücklich darauf hin, dass es noch keine endgültige Heilung bedeutet, wenn der Tumor nach der Chemotherapie zunächst nicht mehr nachweisbar sein wird. Die Patienten wollen dies aber oft gar nicht hören. Sie setzen all ihre Hoffnung darauf, geheilt zu werden. Umso enttäuschter sind sie dann, wenn trotz anfänglicher Remission das Rezidiv auftritt.
217 5.5 · Besonderheiten der Kommunikation und Kooperation
5
Klinik
Patientensicherheitskultur (»Fehlerkultur«) Unerwünschte Ereignisse, d. h. Schädigungen, die eher auf die Behandlung als auf die Erkrankung zurückgehen, sind gar nicht selten. Nach internationalen Studien kommen sie bei 2,9 %– 3,7 % der Patienten vor. Mehr als die Hälfte dieser Ereignisse werden als vermeidbar eingestuft. Für Deutschland schätzt man die Mortalitätsrate durch vermeidbare unerwünschte Ereignisse bei Krankenhauspatienten auf 0,1%; dies entspräche 17.000 Todesfällen pro Jahr. Solche Ereignisse werden durch Kommunikationsprobleme aufgrund der komplexen Abläufe in Krankenhäusern begünstigt (Hofmann u. Rohe 2010). Da man rund um die Uhr Dienstleistungen vorhalten muss, ist ein Schichtdienst erforderlich. Bei jeder Übergabe und auch bei jeder Abstimmung zwischen verschiedenen Abteilungen kann Information verloren gehen: Medikamente können verwechselt werden, bis hin zur Verwechslung von Patienten und operativen Eingriffen. Traditionellerweise geht man mit Fehlern meist dadurch um, dass diejenige Person, der der Fehler unterlaufen ist, persönlich beschuldigt und angehalten wird, in Zukunft besser aufzupassen. Diese
v Lernziele Compliance, Einflussfaktoren, Vorgehen bei Noncompliance; Aufklärungsgespräch, Vorgehensweise; Reaktanz
Ì Vertiefen Petermann F (2003) Compliance. In: Jerusalem M, Weber H (Hrsg) Psychologische Gesundheitsförderung. Hogrefe, Göttingen, S 695–706 (gute Übersicht über Einflussfaktoren auf die Compliance und Möglichkeiten ihrer Förderung) Back AL, Arnold RM (2006) Discussing prognosis: »How much do you want to know?« Talking to patients who are prepared for explicit information. Journal of Clinical Oncology 24:4209-4213 (praktische Empfehlungen zur Gesprächsführung bei der Diagnosemitteilung) Back AL, Arnold RM (2006) Discussing prognosis: »How much do you want to know?« Talking to patients who do not want information of who are ambivalent. Journal of Clinical Oncology 24:4214-4217 (praktische Empfehlungen zur Gesprächsführung bei der Diagnosemitteilung)
Vorgehensweise ist jedoch wenig hilfreich. Irren ist menschlich, und es hilft zur Vermeidung zukünftiger Fehler mehr, wenn eine Klinik oder Praxis eine Patientensicherheitskultur entwickelt, die es ihr ermöglicht, aus Fehlern zu lernen. Dazu gehört zunächst, Fehler oder kritische Ereignisse (critical incidents), die zu Fehlern hätten führen können, zu berichten und offen damit umzugehen. Die kritischen Ereignisse können dann genauer untersucht werden, und es können Einflussfaktoren identifiziert und verändert werden, damit derartige Ereignisse in Zukunft seltener auftreten. Eine Reihe von Maßnahmen hat sich als sinnvoll erwiesen, Fehlern vorzubeugen. Dazu gehören: 4 Abbau von Hierarchien und Verbesserung der Kommunikation; 4 Prozesse möglichst einfach gestalten und standardisieren, denn je weniger Aufmerksamkeit und Gedächtnisleistung bei der Durchführung einer Aufgabe notwendig sind, umso weniger Fehler werden dabei gemacht; 4 die Patienten einbeziehen, denn informierte Patienten können frühzeitig auf Fehler aufmerksam machen
Koch U, Lang K, Mehnert A, Schmeling-Kludas C (2005) Die Begleitung schwer kranker und sterbender Menschen. Schattauer, Stuttgart (sehr empfehlenswertes Textbuch mit vielen praktischen Anregungen) Lang K, Koch U, Schmeling-Kludas C (2008) Die Begleitung schwer kranker und sterbender Menschen: Das Hamburger Kursprogramm. Schattauer, Stuttgart (ausgezeichnetes Fortbildungsmanual)
6 6 Untersuchung und Gespräch 6.1
Erstkontakt
– 218
6.2
Exploration und Anamnese
6.3
Körperliche Untersuchung
– 221 – 227
> > Einleitung
Ziele des Erstkontakts Patienten kommen meist mit bestimmten Erwartungen zum Arzt. Sie möchten wissen, woran sie leiden, erhoffen sich Entlastung von ihren Befürchtungen, wollen ein bestimmtes Medikament verschrieben bekommen und vieles mehr. Sie sprechen diese Erwartungen jedoch meist nicht offen aus. Ärzte lassen sich häufig von ihren Vermutungen darüber leiten, was die Patienten wohl erwarten. Diese treffen aber oft nicht zu. Die Erwartungen müssen vielmehr offen angesprochen werden. Auch bei der Exploration der Beschwerden und der Erhebung der Krankheitsvorgeschichte ist eine kompetente Gesprächsführung grundlegend. Durch eine korrekte Anamneseerhebung gewinnt der Arzt die nötige Information, um die richtige Diagnose zu stellen. Bei der körperlichen Untersuchung ist schließlich einfühlsames Verhalten gefordert, weil der Arzt dem Patienten in einer Weise körperlich nahe kommt, die Scham auslösen kann.
6.1
Erstkontakt
6.1.1
Ziele des Erstkontakts
Wenn ein Patient zum ersten Mal mit einer neuen Beschwerdesymptomatik zum Arzt kommt, spricht man von einem Erstkontakt.
4 Aufbau einer therapeutischen Beziehung: Der Patient fühlt sich verstanden und angenommen. Er erlebt den Arzt als kompetent. Beide arbeiten auf das gleiche Ziel hin. 4 Definition des Problems: Warum kommt der Patient? Ziele und Wünsche des Patienten werden geklärt. 4 Entscheidungsfindung: Was soll getan werden? Diagnostische Strategien und Behandlungsmöglichkeiten werden besprochen und eingeleitet. Die Compliance wird sichergestellt (7 Kap. 5.5.2). 4 Beratung über Diagnose, Prognose und Behandlung: Der Patient erhält Information über die Krankheit, ihren voraussichtlichen Verlauf und den Behandlungserfolg (7 Kap. 8.1.1).
6.1.2
Patientenperspektive
Bevor ein Mensch mit seinen Beschwerden zum Arzt geht, hat er meist schon eine ganze Zeit lang alleine versucht, mit den Symptomen zurechtzu-
219 6.1 · Erstkontakt
kommen (Stadien des Hilfesuchens, 7 Kap. 9.1.1). Weil ihm dies nicht gelungen ist oder weil er sich große Sorgen wegen der Symptome macht, beschließt er schließlich, professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen. Er erhofft sich vom Arztbesuch Abklärung der Situation, Beruhigung und die Beseitigung der Beschwerden. Aber zuerst musste er die innerliche Hürde überwinden, zum Arzt zu gehen. Ein Arztbesuch kann nämlich zunächst einmal als solcher Verunsicherung mit sich bringen: »Was wird auf mich zukommen? Werde ich ernst genommen? Oder hält der Arzt meine Sorgen vielleicht für übertrieben?« Die Bedürfnisse des Patienten sind, herauszufinden, was die körperlichen Beschwerden bedeuten, ob man sie ernst nehmen muss oder nicht, ob man etwas dagegen tun kann und wie man damit umgehen soll. Er erhofft sich Entlastung, Unterstützung und Verständnis. Diese Wünsche bringt er jedoch meist nicht explizit zum Ausdruck. Ärzte fragen auf der anderen Seite meist nicht danach, welche Erwartungen Patienten mitbringen, sondern erschließen diese aus deren Äußerungen. Erwartungen an den Arztbesuch. Nach empirischen Untersuchungen in Arztpraxen und Ambulanzen kommen fast alle Patienten mit einer bestimmten Erwartung in die Praxis: Sie wollen ihre Diagnose wissen, wollen wissen, wie lange die Symptome dauern werden, wollen ein Medikament verschrieben bekommen, erwarten eine diagnostische Untersuchung oder eine Überweisung. In einer Studie wünschten die Patienten zu ungefähr gleichen Teilen ein neues Medikament, eine diagnostische Untersuchung oder eine Überweisung. Sie erhielten diese jeweils jedoch nur in der Hälfte der Fälle. ! Unerfüllte Erwartungen betreffen am häufigsten diagnostische und prognostische Information. Wenn Patienten hingegen diese Information erhalten, reagieren sie mit Milderung der Symptome und verbessertem Funktionszustand. Generell gilt, dass Patienten, deren Erwartungen erfüllt werden, weniger Sorgen und größere Zufriedenheit zum Ausdruck bringen. Krankheits- und Kontrollüberzeugungen. Pati-
enten kommen mit bestimmten Vorstellungen in
6
die Praxis, was die Ursachen ihrer Beschwerden sein könnten (Kausalattribution). Sie bringen mehr oder weniger feste Krankheitsüberzeugungen mit (subjektive Krankheitstheorie, 7 Kap.1.2.4) und haben Vorstellungen, auf welche Weise ihre Beschwerden beeinflusst werden könnten (Kontrollüberzeugungen). Komponenten der Kontrollüberzeugung 4 Internale Kontrollüberzeugung: Ich selbst kann meine Beschwerden bzw. die Erkrankung beeinflussen. 4 Sozial-externale Kontrollüberzeugung: Andere Menschen, z. B. die Ärzte, können meine Beschwerden bzw. die Erkrankung beeinflussen. 4 External-fatalistische Kontrollüberzeugung: Schicksal oder Zufall beeinflussen meine Beschwerden bzw. Erkrankung.
Eine internale Kontrollüberzeugung gilt als günstiger Einflussfaktor für Krankheitsbewältigung und Genesung (7 Kap. 2.4.2). Sie motiviert die Betroffenen, durch ihr Gesundheitsverhalten, z. B. körperliche Aktivität, zur Gesundung beizutragen. Beispiel: In einer Studie hatten chirurgische Patienten mit starker internaler Kontrollüberzeugung einen schnelleren Heilungsverlauf. Auch eine sozial-externale Kontrollüberzeugung kann sinnvoll sein, v. a. in Situationen, wo der Patient selbst eine eher geringe Einflussmöglichkeit besitzt (z. B. Chemotherapie) oder in denen es darauf ankommt, den Empfehlungen der Ärzte zu vertrauen (z. B. Notfall). Eine external-fatalistische Kontrollüberzeugung gilt hingegen als ungünstig. Sie geht oft mit Gefühlen der Hilf- und Hoffnungslosigkeit und einem depressiven Befinden einher. Vorerfahrungen und Vorkenntnisse. Patienten
haben meist schon Erfahrungen mit Ärzten gemacht, die ihr aktuelles Verhalten prägen. Bei einer guten Vorerfahrung werden sie in den aktuellen Kontakt einen Vertrauensvorschuss einbringen, bei einer schlechten Vorerfahrung eher misstrauisch sein. Patienten informieren sich meist auch über ihre Erkrankung, z. B. aus Zeitschriften, die oft medizinische Kolumnen enthalten, oder aus dem In-
220
6
Kapitel 6 · Untersuchung und Gespräch
ternet. Sie bereiten sich manchmal richtiggehend auf den Erstkontakt vor, ohne dies ihrem Arzt aber offen mitzuteilen. Vorinformation hat Vorteile: Patienten können die vom Arzt mitgeteilten Informationen besser einordnen, bei medizinischen Entscheidungen mitwirken und sich autonomer und gleichberechtigter wahrnehmen (7 Kap. 5.4.4). Die große Informationsflut bringt jedoch auch Nachteile mit sich: Oft sind die Informationen, die in den Medien zu finden sind, entweder falsch oder einseitig oder verwirrend. Unsicherheit und Angst nehmen dann zu, und die Patienten brauchen emotionale Unterstützung und Sicherheit von ihrem Arzt. Er muss ihnen helfen, die jeweilige Information zu bewerten.
6.1.3
Arztperspektive
Beurteilung der Angemessenheit des Beratungsanlasses. Die Erwartungen der Patienten beein-
flussen das Verhalten des Arztes. Patienten, die eine Medikamentenverordnung, Untersuchung oder Überweisung wollen, erhalten eine solche auch häufiger als Patienten, die keine derartige Erwartung hegen (wenn auch insgesamt nicht im gewünschten Ausmaß). In mehreren Studien hat sich gezeigt, dass die vom Arzt wahrgenommenen Erwartungen, also was er glaubt, was der Patient will, noch stärker als die tatsächlichen Erwartungen der Patienten, dessen Verhalten beeinflussten. Beispiel: Wenn ein Patient die Erwartung hegt, ein Medikament verschrieben zu bekommen, erhält er eines mit dreimal so hoher Wahrscheinlichkeit, als wenn er diese Erwartung nicht mitbringt. Aber wenn der Arzt glaubt, dass der Patient ein Medikament will, verschreibt er ein solches mit zehnmal so hoher Wahrscheinlichkeit. Medikamente sollen aber natürlich primär nach der medizinischen Notwendigkeit, d. h. rational, verordnet werden und nicht nach den (möglicherweise unbegründeten) Wünschen des Patienten. In einer anderen Studie war der stärkste Einflussfaktor auf das Verhalten des Arztes dementsprechend die wahrgenommene medizinische Notwendigkeit einer Maßnahme. Bei einer substantiellen Minderheit der Patienten verordneten die Ärzte jedoch Maßnahmen, obwohl sie diese nicht für me-
dizinisch gerechtfertigt hielten: 15% der körperlichen Untersuchungen, 19% der Verschreibungen, 22% der Überweisungen und 46% der diagnostischen Abklärungen waren aus Sicht der Ärzte nicht unbedingt nötig. In dieser Studie war der vom Patienten ausgeübte Druck ein starker Einflussfaktor auf ihr Verhalten. In wieder einer anderen Studie jedoch sank die Wahrscheinlichkeit einer Verschreibung, wenn sich die Ärzte unter Druck gesetzt fühlten (Reaktanz; 7 Kap. 5.5.4). Eine Untersuchung anzuordnen oder ein Medikament zu verschreiben, kann für den Patienten die Bedeutung besitzen, dass der Arzt etwas für ihn tut. So gibt es bei Krebspatienten das Phänomen, dass diejenigen Patienten, die eine objektiv belastende Chemotherapie erhalten, um den Tumor »aggressiv« zu behandeln, paradoxerweise eine bessere Lebensqualität angeben als diejenigen, bei denen zunächst abgewartet wird, wie der Tumor sich entwickelt. Obwohl viele diagnostische Untersuchungen wenig zusätzliche Sicherheit bringen oder manche Medikamentenverordnungen nur wenigen Patienten nützen, während die Mehrzahl nichts davon hat (hohe number needed to treat, 7 Kap. 3.7.5), empfinden die Patienten subjektiv mehr Sicherheit und fühlen sich ernst genommen. ! Besonders schädlich sind übermäßige diagnostische und therapeutische Maßnahmen bei Patienten mit körperlichen Beschwerden ohne organische Ursache (Somatisierung).
Führt der Arzt bei diesen Patienten auch nach ausreichender Abklärung immer wieder diagnostische Tests durch, so vermittelt er damit ungewollt dem Patienten den Eindruck, dass er sich seiner Sache nicht sicher ist und vielleicht doch eine organische Krankheit hinter den Beschwerden steckt. Verordnet er dem Patienten dann auch noch ein Medikament, und sei es ein pflanzliches Mittel ohne gravierende Nebenwirkungen, auf dessen Beipackzettel jedoch als Indikation »Herzkrankheiten« aufgedruckt ist, verstärkt er die Überzeugung des Patienten, an einer organischen Krankheit zu leiden (iatrogene Fixierung). Bei Patienten mit somatoformen Störungen wäre es deshalb gerade angezeigt, wiederholte diagnostische Tests zu verweigern, kein unnötiges Medikament zu verordnen und dem Pa-
221 6.2 · Exploration und Anamnese
tienten zugleich zu vermitteln, dass man ihn mit seinen Beschwerden dennoch ernst nimmt.
6.2
Exploration und Anamnese
6.2.1
Funktion
6
Erster/letzter Eindruck. Während des Erstkontakts
nimmt der Arzt viele Informationen über den Patienten auf. Dabei hat sich gezeigt, dass manche Informationen besonders stark im Gedächtnis haften bleiben. Es sind dies diejenigen vom Beginn des Gesprächs (erster Eindruck; primacy-Effekt), z. B. das Aussehen des Patienten, und diejenigen vom Ende des Gesprächs (letzter Eindruck; recency-Effekt). Durch diese beiden Effekte kann die in der Zwischenzeit vermittelte Information, die vielleicht wichtiger ist, überdeckt werden. Dass sich schon sehr früh ein erster Eindruck einer Person bildet, der nur schwer korrigiert werden kann, ist ein bekanntes Phänomen der Wahrnehmungspsychologie. Weitere Beurteilungsfehler werden in Kap. 6.2.5 dargestellt. Stereotypien. Stereotype sind Wahrnehmungs-
klischees über eine bestimmte soziale Gruppe. Ein wichtiges Beispiel ist das Geschlechtsrollenstereotyp. Frauen sprechen eher über ihre psychischen Probleme als Männer. Ihre Beschwerden werden demgemäß eher als psychisch bedingt wahrgenommen. Frauen erhalten häufiger ein Beruhigungsmittel verschrieben als Männer. Körperliche Beschwerden werden bei Frauen häufiger als psychosomatisch betrachtet. Dies führt beispielsweise dazu, dass ein Herzinfarkt bei Frauen seltener frühzeitig diagnostiziert wird. Ein anderes Stereotyp ist, dass Alkoholkranke eine rote Gesichtsfärbung besitzen, was zu einem Fehlschluss führen kann. v Lernziele Ziele des Erstkontakts, Erwartungen von Patienten, Kontrollüberzeugungen (internal, sozialexternal, external-fatalistisch), iatrogene Fixierung bei Somatisierung, erster Eindruck (primacy-Effekt), letzter Eindruck (recency-Effekt), Geschlechtsrollenstereotyp.
Ì Vertiefen Bensing JM, Langewitz W (2008) Die ärztliche Konsultation. In: Adler RH, Herrmann JM, Köhle K, Langewitz W, Schonecke OW, Uexküll Tv, Wesiack W (Hrsg) Uexküll Psychosomatische Medizin, 6. Auflage Urban & Fischer, München, S 415-424 (gute Übersicht über die Struktur der Arzt-PatientKommunikation beim Erstkontakt)
Unter Exploration versteht man die Befragung des Patienten, unter Anamnese die Erhebung seiner Krankheitsvorgeschichte. Beide Begriffe werden jedoch nicht trennscharf voneinander abgehoben. Das Anamnesegespräch hat primär eine diagnostische Funktion. Es dient der Datengewinnung, um eine Diagnose stellen zu können. Die Beschwerden, die der Patient nennt, werden vom Arzt in Symptome »übersetzt«, aus denen er wiederum die Diagnose ableitet. Im Englischen ist die Bezeichnung etwas abweichend: Subjektive Beschwerden werden als symptoms bezeichnet, Symptome, d. h. Krankheitszeichen, als signs. Meist lässt sich aufgrund der Beschwerdeschilderung des Patienten eine diagnostische Hypothese formulieren (»Häufige Diagnosen sind wahrscheinlicher, seltene weniger wahrscheinlich.«). Um die Diagnose zu sichern, müssen jedoch noch weitere Fragen gestellt, Befunde erhoben und Untersuchungen durchgeführt werden. Die Diagnosestellung ist meist kein einmaliger Akt, sondern ein längerer Prozess (7 Kap. 7.1.1). Mittels einfacher Screening-Verfahren wie z. B. zwei Fragen nach psychosozialen Belastungen lassen sich ohne großen Aufwand erste Hinweise auf Diagnosen gewinnen. Für die häufigsten Diagnosen existieren diagnostische Leitlinien, in denen das diagnostische Vorgehen genau festgelegt ist. Je nach dem Ergebnis der Befragung, der körperlichen Untersuchung und diagnostischen Tests schließen sich weitere diagnostische Schritte an. In den Leitlinien ist dieser diagnostische Prozess in Form eines Flussdiagramms oder eines Algorithmus festgelegt. Zur Diagnostik gehört auch der Ausschluss von Differentialdiagnosen, d. h. alternativen Diagnosen, die auch in Betracht kommen können. Oft lassen sich zu Beginn des diagnostischen Prozesses noch nicht alle Differentialdiagnosen ausschließen. Sie bleiben als alternative Hypothesen »im Hinterkopf«, bis weitere Information vorliegt, um sie immer unwahrscheinlicher zu machen oder ganz auszuschließen. Falls keine unmittelbare Gefahr im Verzug liegt, kann es auch sinnvoll sein, erst einmal abzuwarten
222
6
Kapitel 6 · Untersuchung und Gespräch
und die Beschwerden zu beobachten (abwartendes Beobachten, engl. watchful waiting). Im weiteren Verlauf wird die Diagnose dann möglicherweise klarer. Dies gilt selbstverständlich nur bei Symptomen, deren Verlauf wahrscheinlich gutartig ist, wie dies in der Primärversorgung meist der Fall ist. Bei akuten Infektionserkrankungen oder Verdacht auf eine Krebserkrankung ist Abwarten natürlich nicht angebracht. Das Anamnesegespräch hat neben der diagnostischen auch eine therapeutische Funktion. Die Diagnosestellung ist schon deshalb therapeutisch relevant, weil sie die Therapieplanung ermöglicht. Sie hat aber auch für den Patienten einen direkten entlastenden Effekt: Er weiß nun endlich, woran er leidet. Damit ist eine wesentliche Erwartung an den Arztbesuch erfüllt (7 Kap. 6.1.1). Weitere Funktionen des ärztlichen Gesprächs, die jedoch nicht mehr zur Exploration und Anamnese im engeren Sinne gehören, sind Aufklärung (7 Kap. 5.5.3), Edukation (7 Kap. 8.1) und emotionale Unterstützung (7 Kap. 5.4.8).
6.2.2
Formen
Formen der Anamnese 4 Eigenanamnese: Der Patient wird selbst befragt. 4 Fremdanamnese: Eine andere Person wird über den Patienten befragt (z. B. die Ehefrau bei einem dementen oder bewusstlosen Patienten oder die Eltern bei einem Kind). 4 Sozialanamnese: Die Lebensverhältnisse des Patienten, wie Arbeit und Partnerschaft, sind Thema. 4 Krankheitsanamnese: Thema sind bisherige Erkrankungen. 4 Familienanamnese: Erkrankungen in der Familie können auf eine familiäre Disposition hinweisen (z. B. hereditärer Brustkrebs). 4 Entwicklungsanamnese: Die lebensgeschichtliche Entwicklung wird besprochen. 6
Beispiel: Belastende Lebensereignisse können einer Erkrankung vorausgehen. 4 Medikamentenanamnese: Die bisherige Medikation wird erfragt. Beispiele: Kopfschmerzmedikamente können bei langem Gebrauch selbst Kopfschmerzen erzeugen; bei Benzodiazepinen besteht die Gefahr der Abhängigkeit.
Verhaltensanalyse. In der Verhaltenstherapie wird für die Psychotherapieplanung eine Verhaltensanalyse durchgeführt. Diese folgt dem SORKCSchema, das bereits in Kap. 2.1.2 am Beispiel eines Patienten mit chronischen Rückenschmerzen vorgestellt wurde. Als horizontale Verhaltensanalyse bezeichnet man die Analyse der aktuell wirksamen auslösenden und aufrechterhaltenden Bedingungen des Verhaltens. Unter vertikaler Verhaltensanalyse wird eine längsschnittliche, biographische Betrachtung verstanden: Wie hat sich das Problemverhalten im Laufe der Lebensgeschichte des Patienten entwickelt? Hier werden also auch in der Vergangenheit wirksame auslösende Reize und verstärkende Konsequenzen einbezogen. Außerdem wird eine Hierarchie der Ziele, Wertvorstellungen und Pläne des Patienten erarbeitet. Da das eigene Verhalten und seine Einflussfaktoren oft nicht korrekt beschrieben werden können, weil sie der Selbstbeobachtung nur teilweise zugänglich sind, ist die Verhaltensbeobachtung eine unschätzbare Quelle, um das Verhalten zutreffend beschreiben und dessen Bedingungen einschätzen zu können.
6.2.3
Struktur
Rahmenbedingungen. Ein erfolgreiches Anamnesegespräch braucht bestimmte Rahmenbedingungen, die eigentlich selbstverständlich sein sollten: Es sollte in einem ruhigen, ungestörten Raum stattfinden, möglichst ohne Unterbrechung durch Telefonate oder Piepser. Eine bequeme Sitzgelegenheit in angemessener Distanz (nicht zu nah, nicht zu weit
223 6.2 · Exploration und Anamnese
6
Klinik
Verhaltensbeobachtung Ein Patient leidet an chronischen Schmerzen, für die sich kein hinreichender organischer Befund finden lässt, der die Schmerzen erklären könnte (ä anhaltende somatoforme Schmerzstörung). Zu einem Gespräch mit dem Patienten lädt der Hausarzt auch dessen Ehefrau ein, um die Interaktion der beiden beobachten zu können. Er stellt fest, dass immer dann, wenn der Patient mit schmerzverzerrtem Gesicht seine Klagen vor-
weg) und mit der Möglichkeit, ohne Hindernisse Blickkontakt aufnehmen zu können, sind ebenfalls selbstverständlich. Im Krankenhaus kann dies heißen, einen Stuhl ans Krankenbett zu rücken, um dem Patienten in Augenhöhe gegenüberzusitzen. Der Arzt begrüßt den Patienten, indem er seinen Namen nennt, im Krankenhaus auch seine Funktion. Wenn man nur eine eng begrenzte Zeit zur Verfügung hat, kann es sinnvoll sein, dem Patienten den Zeitrahmen zu nennen und das (begrenzte) Ziel des Gesprächs zu formulieren. ! Gesprächseröffnung. Das Anamnesegespräch wird mit einer offenen Frage eröffnet: »Was führt Sie her?« Dies wirkt als Aufforderung für den Patienten, zunächst einmal ungehindert von seinen Beschwerden oder Problemen zu erzählen. Aktives Zuhören. Während der Patient redet, muss
der Arzt erst einmal zuhören. Er ist dabei jedoch nicht passiv, sondern aktiv: Er hält Blickkontakt, zeigt dem Patienten durch nonverbale Signale, wie Kopfnicken, oder verbale Äußerungen, wie »Ja?«, dass er bei der Sache ist und ihn zu verstehen versucht. Wenn der Patient stockt, sollte der Arzt ihn aufmunternd anblicken oder eine gesprächserleichternde Äußerung anbringen: »Und dann?« oder: »Und wie ging es weiter?« Kurze Pausen müssen nicht gleich durch eigene Fragen unterbrochen werden. Sinnvoller ist es, dasjenige, was der Patient gesagt hat, noch einmal in eigenen Worten zu wiederholen (paraphrasieren): »Habe ich Sie richtig verstanden, dass …?«. Nach längeren Passagen fasst er in eigenen Worten die Aussagen des
bringt, sich ihm die Ehefrau tröstend zuwendet. Auf diese Weise kann der Hausarzt eine aufrechterhaltende Bedingung, das Verhalten der Ehefrau, welches als positiver Verstärker wirkt, identifizieren. Er kann nun mit dem Paar besprechen, dass die Ehefrau sich ihm nicht mehr dann zuwendet, wenn er über seine Schmerzen klagt, sondern wenn er trotz Schmerzen im Alltagsleben aktiv ist. Infolgedessen wird gemäß dem operanten Lernmodell ein neues, erwünschtes Verhalten verstärkt.
Patienten noch einmal zusammen. Diese Form des Zuhörens wird aktives Zuhören genannt. Gewinnt man den Eindruck, dass in der Erzählung des Patienten eine Sorge mitschwingt, sollte man diese in Worte fassen: »Ich habe den Eindruck, dass Sie sich deswegen Sorgen machen?« Wenn der Arzt die potentiellen Gefühle einfühlsam und mit einem fragenden Unterton anspricht (Empathie), fällt es dem Patienten leichter, mehr davon zu erzählen. In dieser Eröffnungsphase des Anamnesegesprächs verhält sich der Arzt nondirektiv: Er überlässt den Gang des Gesprächs weitgehend dem Patienten, gibt nicht selbst die Themen vor. Strukturierte Gesprächsphase. Wenn der Patient
seine Beschwerdeschilderung zum Abschluss gebracht hat, kann der Arzt die Beschwerden detaillierter explorieren: Wie intensiv ist der Schmerz? Wie fühlt er sich an? Wo ist er lokalisiert? Wann und wie oft tritt der Schmerz auf? Sind gleichzeitig noch andere Beschwerden vorhanden? Unter welchen Bedingungen nehmen die Beschwerden zu oder ab? Wie sehr beeinträchtigen die Beschwerden das Alltagsleben? Wann haben die Beschwerden begonnen? In dieser Phase verhält sich der Arzt direktiv: Er gibt die Themen vor, verwendet strukturierte Fragen (s. u.). Patienten erleben es als hilfreich, wenn der Arzt ihnen Orientierung über den weiteren Gesprächsverlauf bietet, also z. B. ankündigt, was er als nächstes tun wird, ob und wann er den Patienten untersuchen wird und dass der Patient zum Abschluss des Gesprächs noch einmal Gelegenheit für Fragen hat. Das Gesprächsende sollte rechtzeitig angekündigt werden, damit der Patient die noch offenen Fragen stellen kann.
224
Kapitel 6 · Untersuchung und Gespräch
Dabei ist auch die subjektive Krankheitstheorie des Patienten von Bedeutung. Der Arzt sollte
6
explizit danach fragen, woran der Patient selbst zu leiden glaubt: »Woher, glauben Sie, kommen Ihre Beschwerden?« und was er für die angemessene Behandlung hält: »Was glauben Sie, würde Ihnen am besten helfen?« Damit bringt der Arzt nicht eigene Unsicherheit zum Ausdruck, sondern erleichtert es dem Patienten, über etwaige Sorgen zu sprechen, z. B. an einer schweren Krankheit zu leiden, an der ein Familienmitglied verstorben ist. Außerdem ist es für den Arzt wichtig, die Behandlungserwartungen des Patienten zu kennen, um seinen eigenen Therapieplan darauf abstimmen und mit dem Patienten erörtern zu können. Beispiel: Patienten mit psychischen Störungen haben oft eine klare Präferenz hinsichtlich Psychotherapie oder medikamentöser Behandlung. Die Ablehnung von Medikamenten beruht manchmal auf falschen Vorstellungen, z. B. Antidepressiva würden abhängig machen oder die Persönlichkeit verändern. Weitere Aufgaben sind, das Informationsbedürfnis des Patienten zu explorieren sowie die Rolle zu verhandeln, die er im Rahmen der gemeinsamen Entscheidungsfindung einnehmen will (7 Kap. 5.4.4). Eine partnerschaftliche Entscheidungsfindung ist zwar das Ideal, das man anstreben sollte, aber nicht alle Patienten wollen in die Entscheidung über die Behandlung einbezogen werden, manche fühlen sich überfordert. Um dies herauszufinden, muss der Arzt mit dem Patient offen darüber sprechen. Am Ende des Gesprächs klären Arzt und Patient gemeinsam den Auftrag, den der Patienten dem Arzt gibt, sowie das weitere Vorgehen. Sie vereinbaren z. B. einen neuen Termin für zusätzliche Untersuchungen.
6.2.4
Fragestile
festgelegt. Sie kann entweder mit »ja« oder »nein« beantwortet werden, z. B. »Haben Sie Schmerzen?« Oder sie gibt mehrere Antwortmöglichkeiten vor, zwischen denen der Befragte eine Auswahl treffen kann, wie bei Alternativfragen oder Katalogfragen (s. u.). 4 Alternativfrage: Hier werden zwei Antwortmöglichkeiten vorgegeben: »Spüren Sie den Schmerz oberflächlich oder tief?« 4 Katalogfrage: Hier werden mehr als zwei Antwortmöglichkeiten vorgegeben. Die Multiple-choice-Frage ist eine Katalogfrage. 4 Suggestivfrage: Suggestivfragen legen einem die inhaltliche Antwort nahe. Beispiel: »Es geht Ihnen doch schon wieder besser, nicht wahr?« Suggestivfragen sind für die Datengewinnung ungeeignet, sie verzerren das Ergebnis.
6.2.5
Schwierigkeiten
Bei der Anamneseerhebung müssen auch Schwierigkeiten überwunden werden, z. B. Sprachbarrieren, wenn Patienten aus einer anderen Kultur stammen. Sprachbarrieren können auch durch unterschiedliche Sprachcodes (restringierter vs. elaborierter Code; 7 Kap. 4.7.4) bedingt sein. Für den Arzt ist es wichtig, den Sprachstil seines Patienten zu berücksichtigen, um ihn nicht zu überfordern. Er sollte sich immer einfach und klar ausdrücken, sprachliche Bilder und Metaphern verwenden oder Graphiken zur Veranschaulichung hinzuziehen. Fachausdrücke sollten in Alltagssprache übersetzt oder erläutert werden. Arztzentriert vs. patientenzentriert. Bei der Ge-
Frageformate 4 Offene Frage: Eine offene Frage, z. B. »Was führt Sie her?«, fordert den Gesprächspartner auf, in eigenen Worten zu antworten. 4 Geschlossene Frage: Bei der geschlossenen Frage sind die Antwortmöglichkeiten 6
sprächsgestaltung können ein arztzentriertes und ein patientenzentriertes Vorgehen unterschieden werden. Beim arztzentrierten Vorgehen gibt der Arzt die Themen vor, stellt geschlossene Fragen und unterbricht den Patienten, wenn dieser zu weit abschweift. Wenngleich dieses Vorgehen im späteren Verlauf der Anamneseerhebung seine Berechtigung hat, würde es die Breite der Information unnötig
225 6.2 · Exploration und Anamnese
einschränken, wenn man zu früh damit beginnen würde. Man würde dann nichts über die Bedürfnisse des Patienten erfahren, seine Wünsche und Präferenzen oder seine Sorgen und Befürchtungen. Deshalb ist sowohl zu Beginn des Gesprächs als auch wieder am Ende bei der Besprechung der Behandlungsmöglichkeiten ein patientenzentriertes Vorgehen angezeigt. Der Arzt ermutigt hierbei den Patienten, seine eigenen Vorstellungen einzubringen, er stellt offene Fragen, lässt den Patienten ausreden und geht auf seine Emotionen ein. Sein Interviewstil ist nondirektiv. Der Patient wird dadurch in seiner Autonomie gefördert und als gleichberechtigter Partner im Entscheidungsprozess anerkannt. Beobachtungs- und Beurteilungsfehler. Beobach-
tungs- und Beurteilungsfehler verzerren das Ergebnis einer Wahrnehmung oder Beurteilung. Sie können dazu führen, dass die Information, die der Arzt erhebt, nicht valide ist. Eine falsche Diagnose oder Behandlung kann die Folge sein. Als Beobachtungsund Beurteilungsfehler werden unterschieden: Beobachtungs- und Beurteilungsfehler 4 Halo-Effekt. Beim Halo-Effekt strahlt ein Merkmal auf andere Merkmale aus, wie der Hof des Mondes (halo). Beispiel: Ein Arzt hält einen gut gekleideten Patienten deswegen auch für kooperativ bei der Behandlung. 4 Kontrasteffekt: Beim Kontrasteffekt werden Unterschiede übertrieben. Beispiel: Ein Arzt, der die Nacht über Notdienst hatte, erlebt die Patienten der Routinepraxis als eigentlich gar nicht richtig krank (und übersieht deshalb eine schwerwiegende Diagnose). 4 Milde-Effekt: Beim Milde-Effekt werden die Merkmale eines Menschen zu günstig beurteilt (Gegenteil: Härte-Effekt). 4 Effekt der zentralen Tendenz: Beurteiler tendieren dazu, eher die mittleren Werte eines Skalenbereichs anzukreuzen, und scheuen sich vor extremen Werten. 4 Projektion: Eigenschaften, die man an sich selbst nicht akzeptieren kann, werden an6
6
deren Menschen zugeschrieben (Abwehrmechanismus; 7 Kap. 2.3.5). Beispiel: Ein Arzt, der sich nicht eingestehen vermag, überlastet zu sein, nimmt stattdessen seine Patienten als hilfsbedürftig wahr (7 Kap. 5.2.5).
4 Erwartungseffekte. Eine Erwartung kann das
erwartete Ergebnis hervorbringen (self-fulfilling prophecy). Solche Erwartungseffekte gehen über Beobachtungs- und Beurteilungsfehler hinaus; sie beeinflussen nicht nur die Wahrnehmung, sondern das wahrgenommene selbst, z. B. das tatsächliche Verhalten eines Menschen. In der Medizin spielen zwei Erwartungseffekte eine wichtige Rolle. Der eine bezieht sich auf den Arzt (Rosenthal-Effekt), der andere auf den Patienten (Plazeboeffekt). Beide können auch zusammenwirken. 4 Rosenthal-Effekt. Der Rosenthal-Effekt ist ein Versuchsleitereffekt (7 Kap. 3.4.3). Er besagt, dass die Erwartung des Versuchsleiters, wie ein Experiment ausgeht, dieses Ergebnis herbeiführt. Etwas Analoges gibt es auch in der ArztPatient-Beziehung. Beispiel: Ein Arzt, der von der Wirksamkeit eines Schmerzmittels überzeugt ist, kann seine Patienten unbewusst dahingehend beeinflussen (Suggestion), dass sie eine Besserung ihrer Schmerzen wahrnehmen.
6.2.6
Plazeboeffekt
Als Plazeboeffekt bezeichnet man die Wirkung eines Scheinmedikaments (Plazebo), das keine pharmakologisch wirksame Substanz enthält. Ältere, kleinere Studien hatten teilweise über große Plazeboeffekte berichtet. Dies lag jedoch an methodischen Fehlern. Diese Studien waren meist einfache Prä-Post-Studien. Verbesserungen im Zeitverlauf können dann nicht allein auf das Plazebo zurückgeführt werden. Andere Einflussfaktoren, wie der natürliche Krankheitsverlauf (spontane Besserung) und die statistische Regression extremer Werte zur Mitte, tragen ebenfalls dazu bei (7 Kap. 3.4.3). Zudem sind kleine Studien einem
226
6
Kapitel 6 · Untersuchung und Gespräch
großen Stichprobenfehler ausgesetzt. Sie produzieren per Zufall unpräzise, stark schwankende Ergebnisse. Neuere größere Studien, die einen Vergleich zwischen Plazebo und keiner Behandlung beinhalten, so dass der Effekt der spontanen Besserung und der Regression zur Mitte kontrolliert und die reine Plazebowirkung aufgedeckt wird, haben geringere Plazeboeffekte gefunden. Eine Metaanalyse über sehr viele Studien, in denen ein Plazebo mit keiner Behandlung verglichen wurde, hatte folgende Ergebnisse: Im Hinblick auf »harte Endpunkte«, wie z. B. Krankheitsereignisse oder die Sterblichkeit, ist ein Plazebo wirkungslos. Es verbessert lediglich die subjektiv eingeschätzten Beschwerden, insbesondere Schmerzen. Eine separate Metaanalyse über Studien mit Krebskranken hat dasselbe Ergebnis erbracht: Eine Plazebobehandlung verlängerte die Überlebenszeit nicht, und auch die Lebensqualität scheint kaum gebessert zu werden, wohl aber die Schmerzintensität. Nun sind plazebokontrollierte klinische Studien vielleicht nicht die beste Möglichkeit, Plazeboeffekte zu untersuchen, weil diejenigen Studienteilnehmer, die in die Plazebobedingung randomisiert werden, ja keine spezielle Suggestion erhalten, dass das Plazebo ein wirksames Medikament sei. Sie erhalten (wie auch die Teilnehmer der Verum-Bedingung) die Information, dass sie eine 50%-ige Chance besitzen, entweder das echte oder das Scheinmedikament zu erhalten. Dies ist anders in experimentellen Studien, in denen der Plazeboeffekt als solcher untersucht wird. Hier wird den Probanden meist gesagt, dass das Mittel, das sie erhalten, ein sehr wirksames Medikament sei. Dadurch wird eine starke Erwartung erzeugt. Entsprechend findet man hier stärkere Plazeboeffekte, insbesondere in bezug auf Schmerzlinderung (Plazeboanalgesie). Wirkmechanismen. Wie kann man den Plazebo-
effekt erklären? Als wichtigster Wirkfaktor werden die Erwartungen des Patienten angesehen. Wenn der Patient davon überzeugt ist, dass eine Behandlung ihm hilft, so ist die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass er eine Besserung seiner Beschwerden wahrnimmt. Den Erwartungseffekt kann man auch dadurch demonstrieren, dass man ein Plazebo »verdeckt« gibt, d. h. ohne dass der Patienten dies merkt,
z. B. über eine schon liegende Infusion, – mit der Folge, dass der Plazeboeffekt ausbleibt. Ein zweiter Erklärungsansatz besteht in der klassischen Konditionierung (7 Kap. 2.1.1). Unspezifische Bedingungen, wie die Einnahme einer Tablette (unabhängig von deren Inhalt), eine Spritze, der Kontakt mit dem Arzt oder ein bestimmtes medizinisches Ritual, sind zu konditionierten Reizen geworden, weil sie in der Vergangenheit schon einmal mit einer erfolgreichen Behandlung verknüpft waren. Dadurch können diese unspezifischen Bedingungen nun selbst eine Besserung der Beschwerden auslösen. Während die Erwartung einer Beschwerdebesserung auf verbaler Suggestion basiert und oft bewusst ist, läuft die Klassische Konditionierung unbewusst ab. Der Plazeboeffekt wird sowohl über die Erwartung einer Beschwerdelinderung als auch eine Verminderung von Angst vermittelt. Er läuft über das endogene Opioid-System (anteriorer cingulärer Cortex, orbitofrontaler Cortex, Insel, N. accumbens, Amygdala, zentrales Höhlengrau) und ist durch den Opioid-Antagonisten Naloxon blockierbar. Doch auch das dopaminerge Belohnungssystem (z. B. N. accumbens) ist beteiligt. Die Angstminderung läuft über eine Zunahme der Aktivität im präfrontalen Cortex mit nachfolgender Hemmung von Regionen, die für den emotional belastenden Aspekt des Schmerzes verantwortlich sind (anteriorer cingulärer Cortex). Über das zentrale Höhlengrau werden zudem absteigende hemmende nozizeptive Bahnen aktiviert. Es gibt auch einen Nozeboeffekt, d. h. die Erwartung, dass Beschwerden auftreten oder sich verschlimmern. Dieser lässt sich in klinischen Studien beobachten: Viele der im Beipackzettel erwähnten Nebenwirkungen werden von den Patienten berichtet, auch wenn sie das Plazebo, also eine pharmakologisch inerte Substanz, eingenommen haben. Beim Nozeboeffekt wird durch die (Auto)suggestion von Beschwerden Angst ausgelöst; er ist deshalb durch Benzodiazepine blockierbar. Weiterhin wird Cholecystokinin (CCK) stimuliert, welches die Schmerzwahrnehmung verstärkt; dieser Pfad ist durch CCK-Antagonisten blockierbar. Negative Erwartungen gehen zudem mit einer verminderten Dopamin- und Opioid-Aktivität im n. accumbens einher.
227 6.3 · Körperliche Untersuchung
v Lernziele Formen der Anamnese, horizontale und vertikale Verhaltensanalyse, Gesprächseröffnung, aktives Zuhören, direktiver vs. nondirektiver Gesprächsstil, Frageformen; Beobachtungs- und Beurteilungsfehler: Halo-Effekt, Kontrasteffekt, MildeEffekt, Effekt der zentralen Tendenz, Projektion; Erwartungseffekte: Rosenthal-Effekt, Plazeboeffekt (Wirkmechanismen), Nozeboeffekt.
Ì Vertiefen Fritzsche K, Wirsching M (Hrsg) (2005) Psychosomatische Medizin und Psychotherapie. Springer, Berlin (enthält viele Tipps und Formulierungsvorschläge für das Anamnesegespräch) Benedetti F (2008) Placebo effects. Oxford University Press, New York (Überblick über den aktuellen Stand des Wissen zum Plazeboeffekt, insbesondere seinen neurobiologischen Grundlagen)
6.3
Körperliche Untersuchung
6.3.1
Psychosoziale Aspekte aus Patientenperspektive
kommt und zu hyperventilieren beginnt, kann der Arzt die entstehende Panik abfangen, indem er beruhigend auf ihn einspricht. Im Umgang mit der Intimitätsverletzung gibt es große interkulturelle Unterschiede. Während es in den westlichen Industriegesellschaften inzwischen für viele Menschen selbstverständlich ist, sich vom Arzt körperlich untersuchen zu lassen, besteht in nichtwestlichen Kulturen diesbezüglich oft noch ein großes Tabu. Der Arzt sollte die kulturellen Einstellungen seiner Patienten kennen, um dieses Tabu nicht zu verletzen und gleichwohl seinen ärztlichen Auftrag erfüllen zu können. Auch seitens der Ärzte gibt es Grenzen der Einfühlung (soziokulturelle Barrieren), die berücksichtigt werden müssen. Manche Frauen bevorzugen beispielsweise für eine gynäkologische Untersuchung lieber eine Ärztin, die ihre Probleme besser nachfühlen kann.
6.3.2
Für den Patienten bedeutet eine körperliche Untersuchung, dass ein ihm fremder Mensch (der Arzt) seine Intimität verletzt: Er beobachtet seinen nackten Körper, berührt und betastet ihn. Nackt den Blicken eines anderen Menschen ausgesetzt zu sein, löst Gefühle von Scham aus. Noch mehr können eindringende Untersuchungen, wie die vaginale Untersuchung im Rahmen der gynäkologischen Untersuchung oder die rektale Untersuchung, Scham und Angst auslösen. Bei der Koloskopie haben die Patienten häufig Angst vor Schmerzen, bei der Gastroskopie, keine Luft zu bekommen. Das Schamerleben wird noch verstärkt, wenn andere Personen anwesend sind. Beispiele: Untersuchung während der Visite im Krankenzimmer. Demonstration beim klinischen Unterricht am Krankenbett. Manche Patienten empfinden es als höchst peinlich, als »Anschauungsobjekt« für andere zu dienen. Die Angst während der körperlichen Untersuchung oder bei apparativen Tests kann der Arzt durch Information und eine ruhige, sachliche Sprache abmildern. Wenn beispielsweise ein Patient während der Gastroskopie Erstickungsangst be-
6
Psychosoziale Aspekte aus Arztperspektive
Um dem Patienten Angst und Scham zu nehmen, sollte der Arzt vor und während der körperlichen Untersuchung immer wieder Orientierung geben. Er sollte dem Patienten jeweils ankündigen, was als nächstes passiert: Was mache ich jetzt und mit welchem Ziel? Er sollte die Untersuchung nicht schweigend durchführen, sondern sich währenddessen mit dem Patienten unterhalten und ihn nach seinen Empfindungen fragen: »Tut das weh, wenn ich hier drücke?« Der Arzt sollte es dem Patienten ermöglichen, nur denjenigen Teil seines Körpers zu exponieren, der unmittelbar untersucht wird. Beispielsweise kann der Patient so gut wie immer seine Unterwäsche anbehalten, was ihm einen Rest von Intimität bewahrt. Die Zeit, die der Patient (partiell) entkleidet ist, sollte so kurz wie möglich gehalten werden. Auch die körperliche Untersuchung ist juristisch gesehen ein Eingriff, zu dem der Arzt nur dann berechtigt ist (Eingriffsrecht), wenn der Patient zustimmt, und zwar auf der Basis aller nötigen Informationen (informierte Zustimmung). Deshalb muss der Patient wissen, zu welchem Zweck eine Untersuchung durchgeführt wird. Zwar hat er dem Arzt durch seinen Praxisbesuch zunächst einmal
228
6
Kapitel 6 · Untersuchung und Gespräch
unausgesprochen die Zustimmung zu einer körperlichen Untersuchung gegeben; dennoch könnte er diese Zustimmung, wenn ihm etwas nicht nachvollziehbar, unangemessen oder schmerzhaft erscheint, jederzeit wieder zurückziehen. Auch deshalb ist es wichtig, dass der Arzt mit dem Patienten darüber spricht, was er als nächstes tun wird und weshalb. Dadurch sichert er sich das kontinuierliche Einverständnis des Patienten und fördert dessen Kooperation. Die erhobenen Befunde sollte er dem Patienten aber erst nach Abschluss der Untersuchung mitteilen, wenn der Patient dem Arzt wieder angekleidet gegenübersitzt. Während der körperlichen Untersuchung sollte der Arzt affektive Neutralität bewahren. Dies bedeutet, eigene negative Gefühle zu kontrollieren, z. B. wenn er einen Obdachlosen untersucht, der sich seit längerer Zeit nicht mehr gewaschen hat. Dasselbe gilt aber auch umgekehrt für positive Gefühle, wie die erotische Anziehung, die ein Arzt gegenüber einer attraktiven Patientin empfinden kann. Patienten, die sich sehr ängstigen oder unter starken Schmerzen leiden, erwarten vom Arzt Beruhigung und Hilfe. Dadurch können Erlebensund Verhaltensmuster reaktiviert werden, die ursprünglich aus der Mutter-Kind-Beziehung stammen. Dieser Vorgang wird in der Psychoanalyse als Übertragung bezeichnet (7 Kap. 5.4.9). Der Arzt kann dies daran erkennen, dass die Gefühle, die der Patient ihm entgegenbringt, stärker sind, als es die Situation erklärt. Der Patient befindet sich dann in einer besonders hilflosen und verletzlichen Lage, die vom Arzt aufgefangen werden muss und nicht missbraucht werden darf. Die Reaktion des Arztes auf die Beziehungsangebote des Patienten wird in der Psychoanalyse Gegenübertragung genannt. Gegenübertragungsreaktionen sollten reflektiert (Was löst der Patient in mir aus?) und nicht ausagiert werden. Sachlichkeit, Neutralität und das Vermeiden eines missverständlichen Verhaltens (zweideutige Bemerkungen oder Witze) sind oberstes Gebot.
7 7 Urteilsbildung und Entscheidung 7.1
Grundlagen der diagnostischen Entscheidung
7.2
Urteilsqualität
– 229
– 232
> > Einleitung
Normen, die reflektiert werden müssen (7 Kap. 1.1.3), und werfen ethische Fragen auf, wenn die Ergeb-
Diagnostische Beurteilungen zu treffen und therapeutische Entscheidungen zu fällen, gehört zum ärztlichen Berufsalltag. Da häufig nicht alle notwendigen Informationen vorliegen, handelt es sich um Entscheidungen unter Unsicherheit. Diese können zudem durch psychologische Einflussfaktoren verzerrt werden. Wenn man die verzerrenden Einflüsse kennt, kann man sich ein Stück weit von ihnen frei machen. Zudem gibt es eine Reihe von Hilfsmitteln, ärztliche Entscheidungen zu verbessern.
nisse gravierende Folgen für den Patienten haben, wie z. B. bei der prädiktiven genetischen oder pränatalen Diagnostik (7 Kap. 8.5).
7.1
Grundlagen der diagnostischen Entscheidung
Ärzte haben in ihrer täglichen Arbeitsroutine eine Vielzahl von Entscheidungen zu treffen: Sie stellen eine Diagnose, und aus der Diagnose folgen weiteren Entscheidungen z. B. hinsichtlich Art, Umfang und Rahmenbedingungen (Setting) von Behandlungen sowie sozialmedizinisch relevante Entscheidungen. Je nach Auftrag, Informationsbasis, Komplexität, den resultierenden Konsequenzen für den Patienten sowie Zeit- und Handlungsdruck sind ärztliche Entscheidungen mit Unsicherheiten, Risiken und Fehlern verbunden. Sie basieren auf
7.1.1
Der diagnostische Prozess
Der diagnostische Prozess lässt sich als Abfolge aller Maßnahmen zur Gewinnung und Verarbeitung diagnostisch relevanter Information bezeichnen. Ausgangspunkt jeder Diagnostik ist eine Fragestellung (z. B. »Wodurch werden die Beschwerden dieses Patienten verursacht?«). Ziel ist deren Beantwortung, d. h. eine Entscheidung für eine mögliche Diagnose. Eine Diagnose stellt eine Bezeichnung von Krankheitszuständen dar, die bei verschiedenen Individuen durch ähnliche Symptomatik, eine einheitliche Ätiologie/Genese sowie vergleichbare therapeutische Vorgehensweise und Prognose gekennzeichnet sind (zu Klassifikationssystemen wie der ICD-10 7 Kap. 1.3.2). Zur Beantwortung der Fragestellung erfolgt eine hypothesengeleitete Datenerhebung mittels relevanter Informationsquellen (z. B. Anamnese, körperliche Untersuchung, apparative Verfahren, Labor-
230
Kapitel 7 · Urteilsbildung und Entscheidung
diagnostik), um eine Entscheidungsgrundlage im Rahmen des diagnostischen Prozesses bereitzustellen. Stufen des diagnostischen Prozesses 1. 2. 3. 4. 5. 6.
7
Fragestellung, Hypothesenbildung, Datenerhebung, Dateninterpretation und -integration, Urteilsbildung, Diagnosestellung, Entscheidung für Intervention (Behandlung).
Der diagnostische Prozess kann analog zum Vorgehen bei einer wissenschaftlichen Studie betrachtet werden. Aufgrund der ersten Informationen, die der Arzt vom Patienten erhält, formuliert er eine Fragestellung. Diese Fragestellung versucht er in konkrete, operationalisierbare Hypothesen umzusetzen. Operationalisierbar bedeutet, dass er bestimmte diagnostische Untersuchungen und Tests auswählt und jeweils angeben kann, wie die Testergebnisse ausfallen müssen, um die Hypothese zu bestätigen oder zu widerlegen. Auf diese Weise engt sich das Spektrum der in Frage kommenden Diagnosen immer mehr ein, bis schließlich die zutreffende Diagnose gefunden wird. Es ist wichtig, die Einengung auf wenige alternative Hypothesen nicht zu früh im diagnostischen Prozess vorzunehmen. Sonst läuft man Gefahr, wichtige Informationen zu übersehen, weil man nicht mehr nach ihnen Ausschau hält. Auch im weiteren Verlauf, wenn man schon Hypothesen gebildet hat, sollte man diese immer wieder kritisch hinterfragen und über den engeren Kontext seiner Fragestellung hinausblicken, zumal dann, wenn Befunde nicht so ausfallen, wie erwartet. Die Entscheidung für eine Diagnose und eine Therapiemaßnahme stellt das Endprodukt dieses Prozesses dar. Dieser Prozess kann manchmal sehr schnell durchlaufen werden (intuitive Diagnose), manchmal benötigt er längere Zeit, wie bei der diagnostischen Aufarbeitung eines komplizierten Krankheitsbildes. Die Begutachtung stellt einen speziellen diagnostischen Prozess dar, der in der Regel eine vom Auftraggeber gestellte Frage über den Zusammenhang zwischen einem nicht-medizinischen Sachverhalt (z. B. Unfall, Arbeitsunfähigkeit, Rentenantrag) und einer
Gesundheitsstörung klären soll. Dabei können die Ziele bzw. Interessen des Gutachters und des Patienten divergieren. Additive und lineare Schlussfolgerungen. Der
Arzt hat verschiedene Möglichkeiten, Informationen zu sammeln und zu verknüpfen. Zu Beginn einer Behandlung trägt er meist möglichst viele Informationen zusammen, um sich einen Überblick zu verschaffen und eine Verdachtsdiagnose zu formulieren. Dabei kann es vorkommen, dass Daten erfasst werden, die im Einzelfall nicht so wichtig sind. Die Integration derart gesammelter Daten bezeichnet man als additives Schlussfolgern, da der Arzt alle Informationen aus der breiten Datenerfassung additiv miteinander verknüpft (aufsummiert). Dabei kann er verschiedene Informationen unterschiedlich gewichten. Beim linearen Schlussfolgern geht der Arzt schrittweise vor. Er sammelt nicht alle Information auf einmal, sondern entscheidet zwischendurch immer wieder neu, in welche Richtung er weiter den Patienten befragt oder Befunde erhebt (adaptive Entscheidungsfindung). Um beispielsweise eine Verdachtsdiagnose zu präzisieren, sammelt er auf der Basis bereits vorliegender Daten weitere Informationen, mit dem Ziel, seine Vermutung zu bestätigen oder zu revidieren. Beide Arten der Entscheidungsfindung haben Vor- und Nachteile. Das additive Schlussfolgern ist umfassend, dafür aber weniger ökonomisch, da viele und zum Teil auch überflüssige Daten erfasst werden. Das lineare Schlussfolgern ist zielgerichteter, birgt aber die Gefahr, eine diagnostische Strategie zu verfolgen, die sich im Nachhinein als falsch herausstellen kann. In der Praxis kommt zumeist eine Kombination der beiden Vorgehensweisen zum Einsatz, wenn nach einer einleitenden offenen Frage anschließend gezielt Informationen gesammelt werden, um die Verdachtsdiagnose abzusichern (7 Kap. 6.2.3). Komorbidität. Im Bereich psychischer Störungen kommt es häufig vor, dass ein Patient nicht nur die Kriterien für eine, sondern auch noch für eine zweite Diagnose erfüllt. Es können beispielsweise zugleich eine depressive Episode und eine Angststörung vorliegen. Beide Störungen werden dann auch unabhängig voneinander diagnostiziert. Wenn zwei oder
231 7.1 · Grundlagen der diagnostischen Entscheidung
mehr Störungen gleichzeitig vorliegen, spricht man von Komorbidität. Dies gibt es nicht nur innerhalb der psychischen Störungen, sondern auch zwischen körperlichen Krankheiten und psychischen Störungen. Beispiel: Bei Patienten mit Herzinfarkt beträgt die Häufigkeit einer zusätzlichen, komorbiden Depression 20%. Auch hier gilt, dass die Depression nicht einfach als »normale« Folgeerscheinung des Herzinfarkts betrachtet wird, sondern als eigenständiges Störungsbild, das einer speziellen Therapie bedarf. Das Prinzip, jede Krankheit bzw. Störung, die die diagnostischen Kriterien erfüllt, auch eigenständig aufzuführen, bezeichnet man als Komorbiditätsprinzip. Dies hat den Vorteil, dass keine Störung übersehen wird, die behandelt werden muss, sondern jede Auffälligkeit ernst genommen wird.
7.1.2
Diagnostik und Behandlung
Diagnostische Entscheidungen im Behandlungsprozess 4 Indikationsdiagnostik: Ableitung von Behandlungsmaßnahmen. 4 Prozessdiagnostik: Überprüfung des Behandlungsverlaufs. 4 Ergebnisdiagnostik: Beurteilung des Behandlungserfolgs.
Indikationsdiagnostik. Die Aufgabe der Indikationsstellung liegt in der Zuordnung einer Person mit einer bestimmten Krankheit zu einer bestimmten Behandlungsmaßnahme. Die selektive, differentielle Indikation stellt die Frage, welches Therapieverfahren am besten geeignet ist: »Welche ist für dieses Individuum mit diesem spezifischen Problem die effektivste Behandlung, durch wen und unter welchen Rahmenbedingungen?« Für den indikativen Entscheidungsprozess, der Krankheiten/Störungen mit Behandlungsverfahren verbindet, sind die Diagnose, ein Modell der Entstehung der Krankheit (Genesemodell) und der Kontextfaktoren (z. B. Compliance, verfügbare Behandlungen) relevant. Prozessdiagnostik. Die Prozessdiagnostik zur Überprüfung der verordneten Therapie erfolgt
7
durch die Verlaufsbeobachtung der Patienten. Es werden eingetretene Veränderungen ermittelt, um zu entscheiden, ob die Behandlungsmaßnahme beibehalten wird oder modifiziert werden muss (adaptive, prozessuale Indikation). Methoden der Veränderungsmessung 4 Indirekte Veränderungsmessung: Bildung von Differenzen zwischen zwei Zustandsbeurteilungen (z. B. Differenz zwischen dem Wert in einer Depressionsskala zu Therapiebeginn und nach 4 Wochen). 4 Direkte Veränderungsmessung: retrospektive Einschätzung der Veränderung zu einem späteren Messzeitpunkt im Vergleich zum Ausgangswert (z. B. die Schmerzen sind nach der Therapie weniger häufig im Vergleich zum Therapiebeginn). 4 Beurteilung der Therapiezielerreichung: Veränderung vom Ausgangszustand hin zu einem definierten Zielzustand (z. B. Erreichen einer vorher festgelegten Gewichtsreduktion). 4 Beurteilung des erreichten Status bezüglich des Normbereichs: Liegen die Werte nach der Therapie im Normbereich (z. B. normale Blutdruckwerte)?
Werden Patienten einige Zeit (z. B. ein Jahr) nach Abschluss der Behandlung nachbefragt, so bezeichnet man dies als Katamnese (follow-up). Katamnesen ermöglichen es herauszufinden, ob eine Behandlung langfristig erfolgreich war. Ergebnisdiagnostik. Die Bewertung des Behand-
lungserfolgs geschieht durch die Ergebnis- oder Outcome-Diagnostik. Sie ist entscheidend für die Beendigung und Kosten-Nutzen-Bewertung der Therapie. Je nach Art der Erkrankung und der Maßnahme müssen geeignete Kriterien für eine erfolgreiche Behandlung zugrunde gelegt werden. Im Sinne eines biopsychosozialen Gesundheitsbegriffes reicht es vielfach nicht aus, den Erfolg von medizinischen Interventionen allein an medizinischen Parametern zu messen. Vielmehr sind auch patientenbezogene Kriterien von Bedeutung, wie die gesundheitsbezogene Lebensqualität (7 Kap. 1.2.3 und 9.4.3).
232
Kapitel 7 · Urteilsbildung und Entscheidung
v Lernziele Komorbidität, selektive und adaptive Indikation, direkte und indirekte Veränderungsmessung.
Ì Vertiefen Jäger RS, Petermann F (1999) Psychologische Diagnostik. Psychologie Verlags Union, Weinheim (Grundlagen der Diagnostik und Urteilsbildung) Sass H, Wittchen HU, Zaudig M (1996) Diagnostisches und statistisches Manual psychischer Störungen DSM-IV. Hogrefe, Göttingen (wichtiges Klassifikationssystem für psychische Störungen mit guten Kurzbeschreibungen der Krankheitsbilder)
Urteilsqualität
7.2
7
Ärztliches Handeln basiert auf Beurteilungen und Entscheidungen. Verantwortungsvolles Urteilen und Entscheiden ist im medizinischen Kontext von besonderer Bedeutung, da die Folgen ärztlichen Handelns für Patienten sehr weitreichend sein können. Vor diesem Hintergrund ist es ganz wichtig, dass Urteile und Entscheidungen auf rationaler Basis getroffen, kontinuierlich reflektiert und gegebenenfalls optimiert werden. Auch diagnostische Beurteilungen unterliegen den Gütekriterien, wie sie für Tests entwickelt wurden (7 Kap. 3.3.2).
7.2.1
Beurteilerübereinstimmung
Beurteilungen und Entscheidungen sind in der Medizin häufig mit Unsicherheit belastet. Wenn beispiels-
weise auffällige Strukturen in einem Röntgenbild zu beurteilen sind, kann es vorkommen, dass sich unterschiedliche Beurteiler in ihrem Urteil unterscheiden. Der eine sieht einen pathologischen Befund, der andere nicht. Um abschätzen zu können, wie objektiv und zuverlässig (reliabel, 7 Kap. 3.3.2) bestimmte Einschätzungen sind, können statistische Kennwerte, wie z. B. Cohens Kappa, berechnet werden. Dieser Kennwert gibt an, wie stark zwei Urteile über den reinen Zufall hinaus miteinander übereinstimmen. Es können nämlich auch per Zufall hohe Übereinstimmungen vorkommen, ohne dass die beiden Urteile dasselbe aussagen. Kappa kann Werte annehmen zwischen 0 (Übereinstimmung geht nicht über den Zufall hinaus) und 1 (perfekte Übereinstimmung). ! Die Übereinstimmung von Beurteilern lässt sich mit Cohens Kappa bestimmen.
7.2.2
Entscheidungskonflikte und -fehler
Abwägen zwischen gleichwertigen Behandlungs alternativen. Für viele medizinische Probleme
existieren mehrere gleichwertige Behandlungsoptionen. Beispiel: Ein milder Bluthochdruck kann sowohl durch ein Medikament als auch ein körperliches Trainingsprogramm behandelt werden. Während der Nutzen beider Maßnahmen gleich ist, unterscheiden sich die jeweiligen »Kosten«: mögliche Nebenwirkungen beim Medikament, größere An-
Klinik
Beurteilerübereinstimmung durch Zufall Zwei Radiologen beurteilen unabhängig voneinander eine Serie von 100 Röntgenbildern. Radiologe 1 schätzt 90 als normal und 10 als pathologisch ein. Radiologe 2 kommt ebenfalls zum Ergebnis, dass 90 normal und 10 pathologisch sind. Es sind aber nicht dieselben 90 bzw. 10. Nehmen wir einmal an, dass die beiden Einschätzungen völlig zufällig erfolgen. Der zweite Radiologe würde also von den 90 unauffälligen Befunden des ersten Radiologen 90%, also 81, ebenfalls als unauffällig und 10%, also 9, als pathologisch bewerten. Von den 10 auffällig beurteilten Rönt-
genbildern des ersten Radiologen würde er ebenfalls 90%, also 9, als unauffällig und 10%, also eines, als auffällig bewerten. Obwohl beide Beurteilungen keinen systematischen Zusammenhang miteinander zeigen, kommt allein per Zufall eine Übereinstimmung in 82% der Beurteilungen zustande (81 Röntgenbilder werden von beiden Ärzten als unauffällig und ein Röntgenbild wird von beiden als auffällig beurteilt). Cohens Kappa jedoch würde in diesem Fall den Wert 0 annehmen und damit zum Ausdruck bringen, dass tatsächlich keine über den Zufall hinausgehende Übereinstimmung zwischen den beiden Beurteilern besteht.
233 7.2 · Urteilsqualität
strengung und höherer Zeitbedarf beim Trainingsprogramm. Diese Situation bietet sich dafür an, den Patienten bei der Therapieauswahl einzubeziehen (partizipative Entscheidungsfindung, 7 Kap. 5.4.4). Weiteres Beispiel: Ein Mammakarzinom im frühen Stadium kann sowohl durch Entfernung der Brust (Mastektomie) als auch eine brusterhaltende Operation (Op) behandelt werden. Der Nutzen in Bezug auf die Überlebenschancen ist gleich groß, die brusterhaltende Op hat ein gering höheres Rezidivrisiko. Auch hier können die betroffenen Frauen bei der Entscheidung einbezogen werden. Die meisten würden sich für eine brusterhaltende Op entscheiden. Manche Frauen aber, vor allem ältere Patientinnen, bewerten die subjektive Sicherheit, die eine Mastektomie ihnen vermittelt, höher, als die körperliche Unversehrtheit. Nutzen-Risiko-Abwägung. Schon in die Entschei-
dung zwischen gleichwertigen Behandlungsalternativen gingen die Kosten-Nutzen-Profile der beiden Maßnahmen ein. Aber auch bei der Entscheidung für oder gegen eine einzelne Maßnahme muss zwischen ihrem Nutzen und ihren Risiken abgewogen werden. Beispiel: Früherkennungsmaßnahmen wie die Mammographie haben einerseits den Nutzen, Frauen vor dem Tod durch Brustkrebs zu bewahren, andererseits aber die Risiken, dass Tumoren entdeckt und behandelt werden, die ohne Früherkennung nie klinisch auffällig geworden wären (Überdiagnose/Übertherapie), und dass viele Frauen durch einen falsch positiven Befund beunruhigt werden und sich weiteren diagnostischen Maßnahmen unterziehen müssen (7 Kap. 10.4.3). Entscheidung auf unsicherer Informationsgrundlage. In der Medizin müssen häufig schnelle Ent-
scheidungen getroffen werden, insbesondere in Notfallsituationen, ohne dass alle erforderlichen Informationen zur Verfügung stehen. Dies stellt an den Arzt die Anforderung, die Unsicherheit auszuhalten und eine Entscheidung zu treffen, auch wenn diese für den Patienten schwerwiegende Folgen haben kann. Dissens zwischen Ärzten. Die Tätigkeit des Arztes ist in vielfältige Beziehungen eingebettet (z. B. als Teil des Gesundheitssystems, Teil der Belegschaft einer Krankenhausstation usw.), zwischen denen es
7
ebenfalls leicht zu Entscheidungskonflikten kommen kann. Besonders deutlich wird dies am Beispiel der Teamarbeit. Hier kann es zu Meinungsverschiedenheiten (Dissens) zwischen ärztlichen Kollegen kommen, sei es über diagnostische Fragen, über die Indikation bestimmter Interventionen oder auch über organisatorische Dinge. Direktiver und partizipativer Führungsstil. Wenn
im Team Meinungsunterschiede über verschiedene Statuspositionen hinweg bestehen, z. B. zwischen Stationsarzt und Oberarzt oder Oberarzt und Chefarzt, so kommt es sehr auf den Führungsstil an, wie Entscheidungen schließlich zustande kommen. Im direktiven Führungsstil erfolgt eine Entscheidung durch den Vorgesetzten, der aufgrund seiner Dienststellung »von oben herab« eine Entscheidung vorgibt (positionale Autorität), an die sich die untergeordneten Mitarbeiter halten müssen. Auf diese Art und Weise kann sehr schnell und wirksam gehandelt werden. Deshalb ist der direktive Führungsstil in Kliniken noch immer weit verbreitet. Allerdings besteht das Risiko, dass die Entscheidungen gegen die Ansichten der Mitarbeiter gefällt werden und so ein schlechtes Arbeitsklima entsteht. Als weiterer Nachteil beruht eine so durchgesetzte Entscheidung letztlich auf nur einer Person und übergeht dabei die Expertise der Mitarbeiter, was zu Entscheidungsfehlern beitragen kann. Der partizipative Führungsstil nutzt dagegen den Sachverstand aller Mitarbeiter, so dass derjenige am meisten zur Entscheidung beiträgt, der die fachlich fundierteste oder zutreffendste Meinung äußert. Steht eine Person fest, die unbezweifelbar das größte Fachwissen beisteuern kann, so besitzt diese aufgrund ihres Wissens – für dieses Problem, zu diesem Zeitpunkt und in dieser Situation – die meiste Autorität (funktionale Autorität). Ist unklar, wer bei dem vorliegenden Entscheidungskonflikt die Person mit der größten Fachkenntnis (Expertise) ist, empfiehlt es sich, im Gespräch mit allen beteiligten Kollegen einen Konsens zu finden, um eine Entscheidung herbeizuführen. Wichtig bei dieser Art von Gespräch ist, dass alle Beteiligten gleichberechtigt ihre Meinung und Expertise einbringen können (kollegiale Entscheidungsfindung). Dieser Führungsstil vermeidet die Nachteile des direktiven Führungsstils, erfordert jedoch meist mehr Zeit und zusätzlich
234
7
Kapitel 7 · Urteilsbildung und Entscheidung
zum Fachwissen auch soziale und kommunikative Kompetenzen seitens der Beteiligten, um solche Diskussionen durchführen zu können.
nanderzusetzen, um für das eigene Handeln eine Grundlage zu haben.
Individuelles Wohl vs. Allgemeinwohl. Ein an-
7.2.3
deres konfliktträchtiges Thema besteht darin, dass Ärzte primär dazu verpflichtet sind, zum Wohle des Patienten zu handeln, gleichzeitig aber auch das Allgemeinwohl berücksichtigen sollen. So kann z. B. eine Intervention im Rahmen einer Behandlung dem individuellen Patienten potentiell nutzen, aber für das Allgemeinwohl eher schädlich sein. Der Schaden für das Allgemeinwohl entsteht dabei in der Regel auf finanzieller Seite, also bei Interventionen, die mehr Ressourcen als notwendig verbrauchen. Ein typisches Beispiel ist das Verschreiben von unnötig teuren Medikamenten. Aber es gibt auch weniger eindeutige Situationen, wo die Entscheidung schwerer fällt. Das Konfliktpotential und die mögliche Tragweite von ärztlichen Entscheidungen bedeuten eine Herausforderung für angehende Ärzte, sich mit diesen möglichen Konflikten ausei-
Urteilsheuristiken
Entscheidungen über die weitere Behandlung zu fällen oder sich ein Urteil über die Diagnose zu bilden, ist eine anspruchsvolle Aufgabe und entsprechend fehleranfällig. Typische Fehler beruhen häufig auf Heuristiken (»Faustregeln«), mit deren Hilfe schnell ein Urteil gefunden werden kann. Heuristiken sind zwar nützliche und unverzichtbare gedankliche Werkzeuge, aber bei ihrer Anwendung werden deutlich weniger Informationen eingeholt und gegeneinander abgewogen, so dass die Gefahr von Entscheidungsfehlern besteht. Verfügbarkeitsheuristik. Diese Faustregel zieht
zur Entscheidungsfindung die aktuell gerade noch im Gedächtnis verfügbaren Informationen heran. So kann sich ein Arzt bei der diagnostischen
Klinik
Entscheidungskonflikt Eine Patientin mit häufig wechselnden, multiplen körperlichen Beschwerden (Bauchschmerzen, Gliederschmerzen, Übelkeit, Druckgefühl im Hals, allgemeines Unwohlsein, usw.) macht sich ernsthaft Sorgen um ihre Gesundheit und wünscht trotz bereits vorliegender negativer Befunde eine genauere Abklärung ihrer Beschwerden. Der Arzt vermutet eine ä Somatisierungsstörung und erwartet von weiteren somatischen Abklärungen keine neuen Erkenntnisse. Außerdem wären die nun anstehenden diagnostischen Prozeduren deutlich aufwendiger als bisher und zum Teil invasiv (z. B. Gewebeentnahme oder mehrtägiger stationärer Aufenthalt zur diagnostischen Abklärung). Nun muss der Arzt entscheiden, ob er die gewünschte Diagnostik einsetzen möchte oder nicht. Tut er dies nicht, so läuft er Gefahr, das bisher erarbeitete Vertrauensverhältnis zur Patientin zu verlieren und damit auch die Möglichkeit, ihre Mitarbeit für eine (für ihr individuelles Wohl) sinnvolle Behandlung zu gewinnen. Erklärt er sich mit der umfangreichen Zusatzdi-
agnostik einverstanden, so erhält er sich zwar die Zusammenarbeit mit der Patientin, aber verursacht erhebliche Mehrkosten (zum Schaden der Allgemeinheit), die aller Voraussicht nach keinen medizinisch sinnvollen Nutzen erbringen. In manchen Fällen kann eine Überweisung zu einem psychotherapeutisch arbeitenden Kollegen sinnvoll sein. Und auch hier kann ein Konflikt zwischen Ärzten und Psychologen entstehen, wenn beide unterschiedliche Auffassungen über das weitere Prozedere haben. Entscheidet sich z. B. der Arzt dazu, sowohl psychodiagnostische Gespräche als auch ihm gerade noch vertretbare somatische Abklärungen einzuleiten, so könnte der psychotherapeutisch arbeitende Kollege die weitere somatische Diagnostik für überflüssig halten und dem Patienten gegen die Entscheidung des ärztlichen Kollegen davon abraten. Daher ist es notwendig, über die Berufsgruppen hinweg das geplante Vorgehen transparent zu machen und abzusprechen, damit die Behandlung zielgerichtet verlaufen kann und es beim Patienten nicht zu einem Vertrauensverlust kommt.
235 7.2 · Urteilsqualität
Urteilsbildung eines neuen Patienten für eine bestimmte Diagnose entscheiden, da die berichteten Beschwerden denen eines der letzten 10 Patienten ähneln. Problem dabei ist, dass die vorhergehenden Patienten u. U. Extremfälle gewesen waren, oder die Beschwerden eben nur teilweise mit dem neuen Patienten übereinstimmen. Abhilfe schafft hier nur eine ausführliche Informationssuche. Da dies in der Alltagspraxis manchmal schwer möglich ist, greift man auf die Verfügbarkeitsheuristik zurück. Mit ihr können die am häufigsten vorkommenden Diagnosen gut erkannt werden – allerdings bleibt die Gefahr, die selteneren Diagnosen dabei zu übersehen. Anker- oder Anpassungsheuristik. Diese Strategie steht für die (einseitige) Suche nach den Informationen, die den ersten Eindruck unterstützen. So erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, tatsächlich passende Information zu bekommen, die den ersten Eindruck bestätigt. Gleichzeitig verringert sich die Wahrscheinlichkeit, andere Informationen zu erheben, die nicht zum anfänglichen Eindruck passen, obwohl sie jedoch tatsächlich zutreffen. Hier wäre eine weitergehende Exploration hilfreich, die sich nicht nur auf die Perspektive der ersten Vermutung beschränkt, ebenso wie die zweite Meinung eines Kollegen, um diesen Fehler zu vermeiden.
Kontexteffekte. Eine weitere Quelle fehlerhafter
Entscheidungen besteht darin, dass die Urteilsfindung vom Kontext und/oder von der Art und Weise der Formulierung abhängig ist. Präsentiert man die Informationen über eine risikoreiche Operation einerseits im Kontext des »Sterberisikos« von 5% und andererseits im Kontext der »Überlebenschancen« von 95%, so entscheiden sich in letzterem Fall mehr Personen für die Operation als im ersteren, obwohl in beiden Fällen die exakt gleichen Chancen bzw. Risiken vorliegen. Um solchen Kontexteffekten vorzubeugen, sollte der Arzt versuchen, die ihm dargebotenen Informationen auch einmal aus der Sicht eines anderen Kontextes zu bewerten. Ein Kontexteffekt besteht auch bei der Interpretation von statistischen Kennwerten. So werden absolute Risiken (also Häufigkeiten) meist besser verstanden als relative Risiken; letztere haben jedoch eine dramatischere Wirkung, da sie mit größeren Zahlen arbeiten. Beispiel: Durch Mammographien wird das Risiko, an Brustkrebs zu sterben, um 20% reduziert. In absoluten Zahlen ist es jedoch nur 1 Frau aus 1000, die durch die Mammographien gerettet wird (7 Kap. 10.4.3). Blinder Gehorsam. Dieser Fehler bezeichnet ein zu
starkes Vertrauen in eine bestimmte Vorgehensweise. Hiermit ist z. B. die Bevorzugung eines bestimmten Tests gemeint, ohne vorher abzuwägen, welcher
Klinik
Ankerheuristik Im diagnostischen Interview verfolgt der Arzt seinen ersten Eindruck, dass die Patientin unter einer depressiven Störung leidet. Folglich fragt er nach depressiven Symptomen, von denen sie tatsächlich viele aufweist. Zufrieden darüber, eine
Diagnose gefunden zu haben, beendet er das Interview. Dass die Patientin zusätzlich Symptome einer posttraumatischen Belastungsstörung hat, entgeht dem Arzt, da die Patientin sich des traumatischen Ereignisses, einer Vergewaltigung, schämt und es daher nicht von selbst mitteilt.
Klinik
Kontexteffekt Ein Patient mit der Diagnose »rezidivierende depressive Episoden« in der Vorgeschichte kommt wegen unklarer Bauchschmerzen und Unruhezuständen in die Klinik. Der Patient berichtet sehr lebhaft und engagiert von seinen Beschwerden, den zu Hause vorliegenden Problemen, die ihm
7
über den Kopf wachsen, und dass er deswegen nicht lange in der Klinik bleiben wolle. Aufgrund der lebhaften Darstellung fragt der Arzt nicht, ob aktuell eine depressive Verstimmung vorliegt, und steht in der Gefahr, die häufig mit depressiven Symptomen einhergehenden suizidalen Tendenzen zu übersehen.
236
Kapitel 7 · Urteilsbildung und Entscheidung
Test zum Erkennen welcher möglichen Krankheitsindikatoren geeigneter ist. Genauso bezeichnet es auch das Nachgeben gegenüber einem Kollegen oder Vorgesetzten, der vehement seine Meinung vertritt und ein bestimmtes Vorgehen erwartet. Auch dies führt dazu, dass das Abwägen der Möglichkeiten im Prozess der Entscheidungsfindung an einem gewissen Punkt aufhört und damit die Chance, wichtige Informationen zu finden, eingeschränkt wird. Vorzeitiges Beenden der Informationssuche. In-
7
teressanterweise neigen Menschen dazu, die Urteilsfindung zu beenden, obwohl noch Hinweise für mehrere andere Alternativen bestehen. Dafür kann eine Reihe von Gründen verantwortlich sein. Der häufigste ist der, dass man bereits eine Meinung gefasst hat und daher gegenteilige Informationen herunterspielt. Gerade auch bei mehreren noch vorhandenen Möglichkeiten (z. B. mögliche Erklärungen für einen entzündlichen Befund) mag die Suche nach weiteren Informationen zu komplex oder zu aufwendig erscheinen, zumal ja schon eine erste (wenn auch vorläufige) Vermutung besteht. Dieser Fehler entsteht besonders häufig, wenn in einem Teamgespräch unter Kollegen eine Entscheidung getroffen werden muss. In dieser Situation muss, um ein vorzeitiges Beenden zu verhindern, eine Person entgegen der Gruppenmeinung »Advokat des Teufels« spielen, um auch gegen die Meinung aller Gruppenmitglieder die Alternativen zu vertreten. Um den genannten Entscheidungsfehlern vorzubeugen, ist es in allen Fällen angeraten, mehr Information einzuholen. Daher empfiehlt sich ein weiterer, zweiter Kontakt oder ein zweites Treffen mit dem Patienten, um zu einer soliden Entscheidung zu finden. Der Vorteil besteht darin, bis zum nächsten Kontakt Gelegenheit zur Beschaffung weiterer Informationen zu haben und ggf. mit einem »freieren Blick« das Gespräch fortzuführen. Der Nachteil liegt offensichtlich im erhöhten Aufwand, der in der Alltagsroutine oft nicht zu leisten ist. Gerade deswegen ist ja der Einsatz von Heuristiken notwendig – jedoch sollte jedem Arzt die hohe Fehleranfälligkeit dieses täglich ausgeführten Verhaltens bewusst sein.
v Lernziele Beurteilerübereinstimmung, Cohens Kappa; Entscheidungskonflikte; direktiver und partizipativer Führungsstil; positionale und funktionale Autorität; Heuristiken, Entscheidungsfehler.
Ì Vertiefen Sackett DL, Haynes RB, Guyatt GH, Tugwell P (1991) Clinical epidemiology. A basic science for clinical medicine. 2. Aufl. Boston, Little, Brown & Co. (stellt das Problem der Urteilsqualität anhand von Beispielen gut verständlich dar) Troschke J von (2004) Die Kunst, ein guter Arzt zu werden. Huber, Bern (stellt ärztliche Entscheidungskonflikte und deren Bewältigung vor) Redelmeyer DA (2005) The cognitive psychology of missed diagnosis. Ann Int Med 142:115–120 (Dieser Artikel erklärt die Fehlerformen und demonstriert sie an einem Beispiel.)
8 8 Interventionsformen und besondere medizinische Situationen 8.1
Ärztliche Beratung und Patientenschulung
– 237
8.2
Psychotherapie
8.3
Intensiv- und Notfallmedizin
8.4
Transplantationsmedizin und Onkologie
8.5
Humangenetische Beratung und Reproduktionsmedizin
8.6
Sexualmedizin
8.7
Tod und Sterben, Trauer
– 243 – 256 – 260 – 268
– 274 – 283
> > Einleitung Nachdem der Arzt alle nötigen Informationen erhoben hat, um eine Diagnose zu stellen, geht es darum, dem Patienten die Behandlungsoptionen zu präsentieren. Dies geschieht in einem Beratungsgespräch. Wenn der Arzt das Gespräch optimal gestaltet, kann der Patient die medizinische Ausgangslage nachvollziehen und als gleichberechtigter Partner bei der Entscheidung über die Behandlung mitwirken. Für chronisch Kranke werden Patientenschulungen durchgeführt, in denen sie das nötige Wissen und die erforderlichen Fertigkeiten erwerben, um eigenverantwortlich ihre Krankheit zu bewältigen. Chronisch Kranke werden dadurch zu Experten ihrer eigenen Krankheit. Eine spezialisierte ärztliche und psychologische Interventionsform stellt die Psychotherapie dar. Unterschiedliche Psychotherapieformen, wie z. B. die psychoanalytisch orientierten Verfahren (Psychoanalyse und tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie) und die Verhaltenstherapie (kognitiv-behaviorale Therapie), wurden entwickelt, um Menschen mit psychischen Problemen zu helfen. Den »besonderen medizinischen Situationen«, die in diesem Kapitel dargestellt werden, ist gemeinsam, dass sie sowohl für die betroffenen Patienten als auch die professionellen Helfer besonders belastend sind. Dies gilt z. B. für den schwer herzkranken Patienten, der auf die Transplan6
tation eines neuen Herzens wartet, oder für den Notarzt, der bei einem Verkehrsunfall Tote und Schwerverletzte antrifft. Die Medizinische Psychologie kann sowohl den Betroffenen bei der Krankheitsbewältigung helfen als auch Ärzte und Pflegekräfte im Umgang mit den Patienten unterstützen. Deshalb haben sich in diesen medizinischen Handlungsfeldern oft enge Kooperationen mit Psychotherapeuten entwickelt.
8.1
Ärztliche Beratung und Patientenschulung
8.1.1
Ärztliche Beratung
Eine der Haupttätigkeiten des niedergelassenen Arztes wie auch des Klinikarztes ist die Beratung seiner Patienten. Ärztliche Beratung spielt in vielen Situationen eine Rolle: Sie ist notwendig zur Sicherung der Mitarbeit bei der Behandlung (Compliance, 7 Kap. 5.5.2), bei der Aufklärung vor einer Operation oder über eine schwerwiegende Diagnose (Aufklärungsgespräch, 7 Kap. 5.5.3), bei der Motivierung zu einem gesunden Lebensstil (Gesundheitsberatung) oder im Kontext von strukturierten Patientenschulungen. Durch ärztliche Beratung wird das Informationsbedürfnis der Patienten
238
Kapitel 8 · Interventionsformen und besondere medizinische Situationen
gestillt, das sehr groß ist (7 Kap. 5.4.3). Informationen zu erhalten, ist eine der wichtigsten Erwartungen von Patienten an den Arztbesuch (7 Kap. 6.1.2). Wenn Patienten ihre Fragen äußern können und die erwartete Information erhalten, so hat dies nicht nur günstige Auswirkungen auf die Zufriedenheit, sondern auch auf das emotionale Befinden, die Beschwerden, die Funktionsfähigkeit im Alltag, die Krankheitsbewältigung und sogar den körperlichen Krankheitsverlauf.
8
Funktionen der Beratung. Beratung vermittelt dem Kranken ein Erklärungsmodell für seine Beschwerden (Pathogenese) und erläutert die Diagnose und Behandlungsoptionen. Dadurch gewinnt der Betroffene Sicherheit und das Gefühl, in Therapieentscheidungen einbezogen zu werden sowie selbst etwas zur Bewältigung seiner Beschwerden tun zu können (internale Kontrollüberzeugung).
! Der Patient kann Informationen nur dann aufnehmen, wenn er sie auch emotional verarbeiten kann. Deshalb ist emotionale Unterstützung auf der Basis eines tragfähigen Arbeitsbündnisses Voraussetzung jeder Beratung.
Informationen können nämlich auch Angst auslösen, wie z. B. vor einem diagnostischen Eingriff (z. B. Herzkatheteruntersuchung), einer Operation oder bei einer lebensbedrohlichen Erkrankung (z. B. Krebs). Hier kommt es nicht selten vor, dass Patienten nach der Beratung nur einen Teil dessen erinnern können, was ihnen gesagt wurde, und den Rest aus Angst wieder verleugnet haben. Mit Informationsvermittlung allein ist es also nicht getan. Emotionale Unterstützung, vermittelt durch aktives Zuhören und Empathie, ausreichend Zeit und kontinuierlich als Ansprechpartner zur Verfügung zu
Praktisches Vorgehen bei der ärztlichen Beratung 4 Erklären Sie dem Patienten in verständlicher Sprache, welche Diagnose vorliegt und welche Behandlungsalternativen es gibt, und fragen Sie, wie viel er über jede Möglichkeit wissen möchte. 4 Passen Sie die Informationen an die Bedürfnisse und Präferenzen des Patienten hinsichtlich Inhalt und Ausführlichkeit an. 4 Weisen Sie den Patienten darauf hin, dass jede Behandlungsform mit einer gewissen Unsicherheit des Erfolgs behaftet ist, und erklären sie das Für und Wider jeder Option. Benutzen Sie gegebenenfalls Medien, wie z. B. Graphiken, Broschüren etc. 4 Fragen Sie den Patienten ausdrücklich, ob er irgendwelche Fragen zu den Behandlungsoptionen hat. Ermuntern Sie den Patienten, seine Sorgen und Vorbehalte gegenüber den einzelnen Optionen zu äußern. Sprechen Sie peinliche Themen direkt, aber feinfühlig an. 4 Verdeutlichen Sie dem Patienten, dass er an der Entscheidung über die Behandlungsmaßnahme beteiligt werden kann. Versuchen Sie schon früh herauszufinden, wie stark der
4
4
4
4
4
Patient in die Entscheidung über die Behandlungsoptionen einbezogen werden möchte. Bedenken Sie, dass sich die Präferenzen des Patienten mit der Zeit ändern können, und überprüfen Sie diese regelmäßig. Fragen Sie den Patienten nach seinen eigenen Werten und nach seiner Lebenssituation in Hinblick auf die Behandlungsmöglichkeiten. Fragen Sie den Patienten, ob Familienmitglieder in die Besprechung miteinbezogen werden sollen. Fassen Sie zum Gesprächsende die wichtigsten Punkte des Beratungsgesprächs zusammen und schätzen Sie ein, wie viel der Patient davon verstanden hat. Vergewissern Sie sich, dass der Patient tatsächlich alles verstanden hat. Fragen Sie, ob es noch weitere Dinge gibt, die der Patient mit Ihnen besprechen möchte. Ermutigen Sie ihn, weitere Fragen zu stellen. Vermitteln Sie dem Patienten, dass Sie genügend Zeit haben, die einzelnen Alternativen durchzusprechen, und bieten Sie ihm an, die Dinge erst einmal zu überdenken. Signalisieren Sie dem Patienten, dass sie für weitere Fragen oder auftauchende Sorgen zur Verfügung stehen.
239 8.1 · Ärztliche Beratung und Patientenschulung
stehen, gehört dazu. Beratung ist ein Prozess, kein einmaliger Akt. Die vorstehenden Hinweise können helfen, ein Beratungsgespräch so zu führen, dass Patient und Arzt den größten Nutzen davon haben.
8.1.2
Gesundheitsberatung
Um Krankheiten zu verhindern, sollten Patienten einen gesundheitsförderlichen Lebensstil annehmen und Risikoverhaltensweisen abstellen. Risikotabellen ermöglichen es dem behandelnden Arzt, das Gesamtrisiko eines konkreten Patienten für eine bestimmte Erkrankung zu bestimmen und auf dieser Grundlage angemessene Entscheidungen für die Beratung zu treffen. So erlauben beispielsweise die SCORE-Deutschland-Tabellen, in Abhängigkeit von Geschlecht, Alter, Raucherstatus, systolischem Blutdruck und Gesamtcholesterin die Wahrscheinlichkeit abzuschätzen, innerhalb der nächsten zehn Jahre an einer Erkrankung des Herz-Kreislauf-Systems zu sterben. Gesundheitsberatung dient dazu, dem Patienten die notwendige Information zu vermitteln. Hierfür können medizinische Entscheidungshilfen (decision aids), in denen die Information auf einfache Weise dargestellt ist, hilfreich sein. Als Schutzfaktoren gegenüber der Entstehung vieler Krankheiten haben sich eine ausreichende körperliche Aktivität und eine gesunde Ernährung erwiesen. Dadurch lässt sich insbesondere kardiovaskulären Erkrankungen, wie koronarer Herzkrankheit, Herzinfarkt, Schlaganfall und arterieller Verschlusskrankheit, vorbeugen. ! Der wichtigste einzelne Risikofaktor ist das Zigarettenrauchen. Wenn Patienten mit dem Rauchen aufhören, können sie ihr Risiko im Hinblick auf kardiovaskuläre Erkrankungen und Krebserkrankungen drastisch reduzieren. Es hat sich gezeigt, dass schon kurze Beratungen in der Praxis des niedergelassenen Arztes einen klaren Effekt in Richtung Nikotinabstinenz ausüben.
Die medizinischen Fachgesellschaften haben Empfehlungen für das Gesundheitsverhalten herausgegeben, die der ärztlichen Beratung im Hinblick auf einen gesunden Lebensstil zugrunde gelegt werden
8
können. So empfiehlt die Deutsche Gesellschaft für Kardiologie, dass ein Patient bei jedem Arztbesuch auf das Rauchen angesprochen werden sollte und die eindeutige ärztliche Empfehlung erhalten sollte, das Rauchen völlig einzustellen. Der Arzt sollte mit dem Patienten einen Termin für den Rauchverzicht vereinbaren, ihm Literatur bzw. Ansprechpartner zur weiteren Beratung empfehlen und ihn auf Nikotinersatztherapie und Raucherentwöhnungsprogramme, z. B. an den Volkshochschulen, hinweisen. Weiterhin sollte er eine Ernährungsberatung durchführen, die auf eine kaloriengerechte, ballaststoffreiche, fettarme Kost mit nur geringem Anteil an gesättigten Fettsäuren und Cholesterin sowie an Fleisch und tierischen Fetten zielt. Die Kost sollte reich an Vollkornprodukten, frischem Gemüse, Salaten und Früchten sein mit einem hohen Anteil an ungesättigten Fettsäuren, wie sie z. B. in der mediterranen Kost enthalten sind. Moderater Alkoholkonsum hat hingegen keine ungünstige Wirkung auf das kardiovaskuläre und das Gesamtrisiko. Hinsichtlich körperlicher Aktivität werden vier- bis fünfmalige wöchentliche Aktivitäten über 30–50 min mäßiger Intensität in Form von Gehen, Joggen, Radfahren oder einer anderen Ausdauerbelastung empfohlen. Daneben sollten die Patienten versuchen, mehr Aktivität in ihr tägliches Leben einzubauen, wie Spazierengehen in den Arbeitspausen, Treppensteigen (statt Aufzug) oder Gartenarbeiten. Generell sollte Normgewicht (BMI > Einleitung Wie findet ein Patient seinen Weg durch die Institutionen des Gesundheitswesens? Zumeist hat er bereits eine weite Wegstrecke zurückgelegt, bevor er überhaupt dort ankommt. Manche Patienten mit Herzinfarkt oder einer Krebserkrankung zögern die notwendige diagnostische Abklärung zu lange hinaus. Andere Menschen sind umgekehrt von der Sorge getrieben, eine bösartige Krankheit in sich zu tragen, und kommen mit Beschwerden, für die sich dann keine medizinische Erklärung findet. Bedarf und Nachfrage müssen also nicht übereinstimmen. Hier hat der Arzt eine wichtige Steuerungsfunktion. Seine Aufgabe ist es, dafür zu sorgen, dass jeder Patient die ihm angemessene, bedarfsgerechte Therapie erhält. In den letzten Jahren wurden große Anstrengungen unternommen, um die Qualität der Versorgung im Gesundheitswesen zu verbessern.
9.1
Stadien des Hilfesuchens
9.1.1
Entscheidungsstufen
Körperliche Beschwerden in der Allgemeinbevölkerung. Wenn man Angehörige der deutschen All-
gemeinbevölkerung danach befragt, ob sie in der letzten Woche körperliche Beschwerden hatten
– 299 – 303
und ihnen eine Liste mit Symptomen vorlegt, kreuzen 96% mindestens ein belastendes Symptom an. Die häufigsten Beschwerden in der gesunden Allgemeinbevölkerung sind innere Unruhe (33%), Erschöpfung (28%), Kopfschmerzen (24%), Konzentrationsstörungen (24%) und Schlafstörungen (23%). Fragt man Angehörige der deutschen Allgemeinbevölkerung, ob sie im Verlauf des letzten Jahres an Schmerzen gelitten haben, die die Lebensqualität beeinträchtigten, nennen drei Viertel bis die Hälfte Schmerzen unterschiedlicher Lokalisation: Kopfschmerzen (73%), Rückenschmerzen (56%), Muskelschmerzen (53%), Gelenkschmerzen (51%) und Magenschmerzen (46%). Gleichwohl sind die meisten Deutschen mit ihrer Gesundheit zufrieden. Nur 7% der Frauen und 6% der Männer bewerten ihre Gesundheit als schlecht oder sehr schlecht. Daraus kann man zweierlei schließen: ! 4 Gesundheit ist nicht gleichbedeutend mit Beschwerdefreiheit. 4 Menschen mit Beschwerden suchen deswegen nicht unbedingt einen Arzt auf.
Ginge nahezu die gesamte Bevölkerung einmal pro Woche wegen körperlicher Beschwerden zum Hausarzt, bräche unser Gesundheitssystem zusammen. Es muss also noch mehr passieren, damit ein Mensch
291 9.1 · Stadien des Hilfesuchens
9
. Abb. 9.1. Entscheidungsstufen vom Symptom zur Krankheit
wegen neuartiger und unangenehmer Beschwerden zum Arzt geht. Die einzelnen Schritte in diesem Prozess vom Symptom zur Krankheit sind in . Abb. 9.1 dargestellt. Symptomaufmerksamkeit. Veränderte Körper-
empfindungen können beim Gesunden aufgrund physiologischer Vorgänge, bei körperlicher Anstrengung aufgrund Trainingsmangel, aber auch durch vorübergehende Infekte, Nahrungsunverträglichkeiten etc. vorkommen. Diese Empfindungen werden meist gar nicht bewusst wahrgenommen. Das adaptive Unbewusste stuft sie als unbedeutend ein. Damit sie bewusst werden, ist eine selektive Ausrichtung der Aufmerksamkeit auf diese Körperempfindungen erforderlich. Eine solche Symptomaufmerksamkeit wird unter bestimmten Umständen gefördert: Sehr intensive (z. B. starker Schmerz) oder auffällige (z. B. Blut im Urin) Symptome werden eher wahrgenommen, oder Bedingungen in der jeweiligen Person wie z. B. eine ängstliche Stimmung fördern eine erhöhte Symptomaufmerksamkeit. Letzteres trifft insbesondere für Menschen mit somatoformen Störungen zu, die ihren Körper im Hinblick auf Beschwerden scannen, oder auch für Menschen mit körperbezogenen, hypochondrischen Ängsten, die andauernd überprüfen, ob die Anzeichen der von ihnen gefürchteten Krankheit festzustellen sind (checking behavior). Laienätiologie. Ist eine Beschwerdesymptomatik
in den Fokus der Aufmerksamkeit geraten und wird
bewusst wahrgenommen, kann sie immer noch als harmlos und normal bewertet werden (Normalisierung). Dann stellt sie keinen Anlass dar, sich Sorgen zu machen oder zum Arzt zu gehen. Wenn ein Mensch die Körperbeschwerden aber als Anzeichen einer schweren Krankheit interpretiert, z. B. als Hinweis auf eine Krebserkrankung, macht er sich Sorgen und sucht eher einen Arzt auf, um die Beschwerden abklären zu lassen. Die Ursachenvorstellungen der Symptome (Kausalattribution, Laienätiologie) sind ein Bestandteil der subjektiven Krankheitstheorie des Betroffenen. Emotionale Einflüsse. Ob eine Person neu aufge-
tretene Symptome als Anzeichen einer Krankheit interpretiert und damit zum Arzt geht, ist auch von emotionalen Einflüssen wie Stress, Angst oder Depression abhängig. Dies weiß man aus epidemiologischen Untersuchungen, in denen man Patienten, die an bestimmten körperlichen Beschwerden z. B. aus dem Magen-Darm-Bereich (Magenschmerzen, Völlegefühl, Blähungen, Verstopfung oder Durchfall) litten, mit Menschen aus der Allgemeinbevölkerung verglichen hat, die an denselben Beschwerden mit derselben Intensität litten, deswegen aber nicht zum Arzt gegangen waren. Beim Vergleich der Patienten mit den »Nicht-Patienten« stellte man fest, dass die Patienten höhere Werte von Angst, Depressivität und mehr belastender Lebensereignisse aufwiesen.
292
Kapitel 9 · Patient und Gesundheitssystem
! Es ist nicht allein die Beschwerdesymptomatik als solche, die den Ausschlag dafür gibt, ärztliche Hilfe in Anspruch zu nehmen, sondern die psychischen Belastungen. Jemand, der ängstlich oder depressiv ist, achtet eher auf seine körperlichen Symptome, macht sich mehr Sorgen und geht eher zum Arzt, um Erleichterung durch die diagnostische Abklärung oder Hilfe bei der Bewältigung der Beschwerden zu finden.
perlicher Beschwerden innerhalb von zwei Wochen wieder. Von denjenigen Beschwerden, die sich bis zu diesem Zeitpunkt noch nicht gebessert hatten, waren 60% immerhin nach drei Monaten gebessert. Beschwerden haben also im Allgemeinen eine gute Prognose. Eine Teilgruppe der Betroffenen ist jedoch nicht beruhigt, sondern macht sich weiterhin Sorgen. Diese Patienten haben ein erhöhtes Risiko für die Entwicklung einer somatoformen Störung.
symptomatik als Anzeichen einer Krankheit interpretiert wird, bedeutet dies nicht unbedingt, deswegen gleich einen Arzt aufzusuchen. Viele Betroffene versuchen, die Beschwerden durch Selbstbehandlung zu beseitigen. Sie schonen sich oder benutzen Hausmittel bzw. Medikamente, die sie von früheren Krankheitsepisoden in der Hausapotheke haben, oder kaufen sich rezeptfreie Arzneimittel.
Störung. Patienten mit einer somatoformen Störung nehmen die Versicherung ihres Arztes nicht an, dass keine schwere Krankheit vorliegt. Sie sind trotzdem von einer organischen Verursachung der Beschwerden überzeugt. Wenn nichts gefunden wird, reagieren sie unzufrieden, wechseln den Arzt und wollen erneute diagnostische Untersuchungen durchgeführt haben, um die vermutete körperliche Erkrankung doch noch zu entdecken (7 Kap. 1.3.3).
Ärztliche Untersuchung. Was passiert schließlich, wenn Menschen mit neu aufgetretenen Beschwerden in die Arztpraxis kommen? Auch nach ausführlicher Diagnostik wird nur bei der Minderzahl eine organische Ursache festgestellt. In einer Studie an 3000 Patienten einer internistischen Poliklinik, in der alle neu aufgetretenen körperlichen Beschwerden abgeklärt wurden, fand man nur bei 16% eine organische Ursache. Bei Brustschmerzen, Müdigkeit oder Schwindel betrug die Aufklärungsquote sogar nur ungefähr 10%. Sie lag etwas höher bei Beschwerden wie Atemnot oder Ödemen (Wasseransammlungen in den Beinen), etwas niedriger bei Kopfschmerz, Rückenschmerz, Bauchschmerz oder Schlaflosigkeit. In den meisten Fällen konnte also keine organische Ursache gefunden werden. Die Medizin ist stark an der Behandlung von organischen Krankheiten orientiert. Sie besitzt effektive Behandlungsmaßnahmen für diejenigen 16%, bei denen etwas gefunden wird. Wenn keine organische Krankheit vorliegt, sind die Betroffenen meist erleichtert und treten beruhigt den Heimweg an. Diese Reaktion ist auch angemessen, denn nach mehreren Untersuchungen in allgemeinmedizinischen Ambulanzen bessern sich zwischen 70 und 80% neu aufgetretener kör-
und ä Depression. Neben der somatoformen Störung sind auch Angststörungen und depressive Störungen in der Allgemeinpraxis häufig. Meist schildern die Patienten dem Arzt zuerst oder sogar ausschließlich ihre körperlichen Beschwerden, wie Müdigkeit, Appetitlosigkeit und Abgeschlagenheit (bei einer Depression) oder Luftnot, Herzklopfen und Schwindel (bei einer Angststörung). Weil die Ärzte dann manchmal nicht nach psychischen Beschwerden nachfragen, werden psychische Störungen im Durchschnitt nur in 50% der Fälle richtig diagnostiziert und noch viel seltener angemessen behandelt. Noch ungünstiger sind die Verhältnisse in der Notfallmedizin. Beispiel: Von den Patienten, die sich wegen Brustschmerzen in einer kardiologischen Notfallambulanz vorstellten, hatten 25% eine Panikstörung. Diese Diagnose wurde von den behandelnden Kardiologen aber so gut wie immer übersehen. Ein großes Ziel besteht deshalb darin, Ärzten die Kompetenz zu vermitteln, um psychische Störungen richtig diagnostizieren und behandeln zu können. Die meisten Menschen mit Ängsten oder Depressionen werden nämlich zeitlebens bei ihrem Hausarzt behandelt und nicht bei Spezialisten, wie Psychotherapeuten oder Psychiatern.
ä Somatoforme
Selbstbehandlung. Auch wenn eine Beschwerde-
9
ä Angststörung
293 9.1 · Stadien des Hilfesuchens
9.1.2
Verzögertes Hilfesuchen
Während manche Menschen ärztliche Behandlung in Anspruch nehmen, obwohl keine organische Krankheit vorliegt, zögern andere umgekehrt damit, den Arzt aufzusuchen, obwohl sie organisch krank sind. Diese verzögerte Inanspruchnahme (delay) hängt ebenfalls mit psychosozialen Einflussfaktoren zusammen. Sie spielt eine große Rolle beim Herzinfarkt. ä Herzinfarkt. Die Letalität des akuten Herzinfarkts beträgt 40%. Der größte Teil der Sterblichkeit ereignet sich in der Prähospitalzeit, also bevor die Patienten das Krankenhaus erreichen. Wenn die Kranken rechtzeitig in der Klinik ankommen, kann das Blutgerinnsel, das das Herzkranzgefäß verstopft, mittels einer Ballondilatation (PTCA) aufgelöst werden. Außerdem wird der Herzrhythmus überwacht, um lebensbedrohliche Rhythmusstörungen (Kammerflimmern) zu bekämpfen. Die Prognose ist am besten, wenn die Behandlung innerhalb der ersten Stunde erfolgt (»goldene Stunde«). In den letzten Jahren hat die Prähospitalzeit jedoch kontinuierlich zugenommen; sie beträgt im Durchschnitt 3 Stunden. Bei älteren Patienten, Frauen (atypische Symptome!), Diabetikern oder wenn der Infarkt nachts oder am Wochenende eintritt, dauert sie besonders lange. Drei Viertel dieser Zeit gehen zu Lasten des Betroffenen, der nicht sofort erkennt, dass er einen Herzinfarkt hat, sondern andere Ursachen in Erwägung zieht.
Auch im Fallbeispiel wird deutlich, wie der Patient versucht, eine harmlose Kausalattribution seiner Beschwerden zu finden. Da er eine schwere körperliche Tätigkeit ausübt, hält er seine Wirbelsäule für anfällig. Er könnte bei der Gartenarbeit eine ungeschickte Bewegung gemacht haben, die eine Nerveneinklemmung ausgelöst haben könnte. Ähnliche verharmlosende Erklärungen für ihre Beschwerden hatten drei Viertel der von uns befragten Herzinfarktpatienten vorgenommen. Hinzu kommt oft ein Selbstkonzept, das durch Stärke und geringe Anfälligkeit für Herzkrankheiten geprägt ist. 50% der von uns befragten Herzinfarktpatienten argumentierten so oder ähnlich: »Ich war immer überzeugt davon, ich hab ein wunder wie starkes und gesundes Herz.« Auch ein vorübergehendes Nachlassen der Beschwerden bestärkt den Patienten darin, dass es nicht so ernst sein könnte. Erst als die Beschwerden wiederkommen, kann er die Ernsthaftigkeit der Erkrankung nicht mehr ignorieren. Letztlich war es das Verhalten des Arztes, der den Notarztwagen alarmiert, das ihm klar macht, wie ernst es um ihn steht. Interessant ist, dass der Patient durch die Vorerfahrungen in seiner Familie eigentlich wissen konnte, wie sich ein Herzinfarkt äußert. Möglicherweise war er jedoch durch den Tod von Mutter und Bruder unbewusst so sehr geängstigt, dass er den Infarkt nicht wahrhaben wollte (Verleugnung). Verzögerungsgründe. Patienten brauchen bei
einem zweiten oder dritten Herzinfarkt (Reinfarkt)
Klinik
Herzinfarkt Ein 50-jähriger Mann, der beruflich eine schwere körperliche Arbeit ausübt, verspürt bei der Gartenarbeit plötzlich einen starken Schmerz in Brust und Rücken. Er muss mit jeder Bewegung inne halten, damit der Schmerz wieder nachlässt. Er glaubt zunächst, dass sich infolge einer ungeschickten Bewegung »ein Nerv eingeklemmt« haben könnte, infolge des jahrelangen Verschleißes seiner Wirbelsäule. Er sei immer gesund gewesen, habe gedacht, er könne Bäume ausreißen, und nie geglaubt, dass er etwas am Herzen haben könnte. Nach dem Wochenende
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geht er wieder zur Arbeit, wo der Schmerz wiederkehrt und schließlich so stark wird, dass er nicht mehr weiterarbeiten kann. Daraufhin sucht er einen Arzt auf, aber nur, um eine Spritze gegen den Schmerz zu bekommen. Im EKG wird jedoch ein Herzinfarkt diagnostiziert. Auf die Frage, was in ihm vorgegangen sei, äußert er: »Todesangst habe ich nicht gehabt, aber ein Peinlichkeitsgefühl, dass jemand sehen könnte, wie ich mit der Arbeit aussetzen musste, war schon da.« Später berichtet er, dass seine Mutter und sein Bruder an einem Herzinfarkt verstorben seien.
294
9
Kapitel 9 · Patient und Gesundheitssystem
nicht kürzer als beim ersten Mal, bis sie in die Klinik kommen, obwohl sie die Symptome und ihre eigene Anfälligkeit ja kennen müssten. Nach ihren Gründen für die Verzögerung befragt, gaben sie folgendes zu Protokoll: Sie glaubten, dass die Symptome nicht ernst genug waren; hielten sich für wenig anfällig, weil sie seit dem ersten Infarkt gesund gelebt hatten; sie erlebten die erneute Symptomatik als derjenigen beim ersten Infarkt nicht ähnlich, wollten es einfach nicht glauben, dass es schon wieder ein Herzinfarkt ist; oder sie wollten ihren Arzt nicht unnötig belästigen bzw. zögerten in der Nacht oder am Wochenende, den Notdienst zu rufen oder direkt ins Krankenhaus zu gehen. Wenn die Ehefrau für sie anrief, hatten sie weniger Schuldgefühle. Informationskampagnen können die Prähospitalzeit vermindern. Sie reichen allein aber nicht aus. Neben der Information spielt auch die Motivation eine entscheidende Rolle. Kognitive (Selbstkonzept), emotionale (Angst, Scham, Schuldgefühle) und soziale Faktoren (Erreichbarkeit des Arztes, Anwesenheit eines Dritten) müssen ebenso berücksichtigt werden. Krebsfrüherkennung. Auch bei Krebserkrankungen vergeht oft eine lange Zeit zwischen der Wahrnehmung erster Symptome und dem Arztbesuch (delay). Wenn Frauen zu große Angst davor haben, dass der Knoten in der Brust bösartig sein könnte, verdrängen sie die Angst und warten erst einmal ab. Welche Faktoren delay fördern, ist erst wenig geklärt. Geringeres Einkommen, eine niedrigere Schulbildung, Fatalismus, ungünstiges Gesundheitsverhalten, mangelnde soziale Unterstützung, ungünstiger Bewältigungsstil und mangelnde Information trugen in einer Studie in den USA zu einer Verzögerung bei. Auch auf ärztlicher Seite kann es zu einer Verzögerung der rechtzeitigen Diagnostik und Behandlung kommen. Da die Teilnahmerate an Krebsfrüherkennungsuntersuchungen meist sehr gering ist, wurden schon früh psychologische Theorien entwickelt, die die geringe Teilnahmebereitschaft erklären und Ansatzpunkte für Abhilfe finden sollten (z. B. HealthBelief-Modell, 7 Kap. 10.2.1) Wissen über Krebs, insbesondere darüber, dass Krebs lange Zeit asymptomatisch sein kann, dass es aber frühe Warnzeichen
gibt und Screening die Sterblichkeit vermindert, fördert die Teilnahme an Screening-Verfahren (7 Kap. 10.4.3). Förderlich ist auch die subjektive Risikowahrnehmung, d. h. die Einschätzung, selbst für Brustkrebs anfällig zu sein. Ein gewisses Maß an Angst begünstigt die Teilnahme am Mammographie-Früherkennungsprogramm; aber die Angst darf nicht zu groß sein. Hinderlich sind auch wahrgenommene Barrieren wie Zeitaufwand und Kosten. Einen großen Einfluss hat die individuelle Empfehlung des Arztes. Auch hier spielen neben der Information Fragen der Motivation also die entscheidende Rolle.
9.1.3
Determinanten der Inanspruchnahme von Ärzten
Einflussfaktoren auf die Inanspruchnahme des Arztes 4 subjektive Gesundheit (der selbst eingeschätzte Gesundheitszustand). Dies ist der wichtigste Einzelfaktor; 4 subjektiv eingeschätzte Ernsthaftigkeit der Gesundheitsstörung (z. B. Befürchtung, an Krebs erkrankt zu sein), 4 emotionale Einflussfaktoren (Angst, Depression, Stress), 4 Einstellung gegenüber Ärzten (arztaffin vs. arztmeidend), 4 Erreichbarkeit des Arztes (z. B. Notaufnahme am Wochenende), 4 Kosten (Leistungskatalog der Krankenversicherung), 4 Geschlecht (stärkere Inanspruchnahme bei Frauen), 4 Bildungsstand (kurvilineare Beziehung: höhere Inanspruchnahme in der Mittelschicht, geringere in Unter- und Oberschicht), 4 Vorerfahrungen mit Krankheiten und Medizin, 4 finanzielle Zuzahlungen (z. B. Praxisgebühr), 4 Arbeitsmarkt (niedriger Krankenstand bei hoher Arbeitslosigkeit).
295 9.1 · Stadien des Hilfesuchens
9
Der Versicherungsstatus spielt in Deutschland keine große Rolle, weil so gut wie alle Bürger (im Unterschied zu den USA) einen ausreichenden Versicherungsschutz besitzen. Auch die für die Erreichbarkeit wichtige räumliche Nähe einer Arztpraxis ist infolge einer relativ hohen Arztdichte meist (noch) gegeben. In ländlichen Regionen ändert sich dies aber derzeit.
klärt ist. In vielen Studien war eine als Plazebo verwandte Scheinakupunktur, bei der nur oberflächlich und nicht an den richtigen Stellen gestochen wurde, genauso wirksam wie die echte Akupunktur. Johanniskrautöl (engl. St. John’s Wort), das zur Behandlung einer milden Depression eingesetzt wird, hat sich hingegen laut vielen RCTs und Metaanalysen bei leichten Depressionen als ebenso wirksam erwiesen wie pharmakologische Antidepressiva (SSRI).
Inanspruchnahme komplementärer und alternativer Heilkunde
Motive für die Inanspruchnahme alternativer Medizin. Frauen nehmen alternative Medizin häu-
9.1.4
Heilverfahren, die üblicherweise nicht während des Medizinstudiums vermittelt werden, bezeichnet man als komplementäre oder alternative Medizin. Sie werden von ihren Vertretern gegenüber der »Schulmedizin« abgegrenzt. Oft sind sie mit einer besonderen therapeutischen Philosophie oder Weltanschauung verbunden (z. B. Homoöpathie; Anthroposophie). Teilweise wurden sie auch aus nichteuropäischen Kulturen übernommen (Akupunktur, Ayurveda). Manche dieser in ihrer Vielfalt kaum zu überschauenden Verfahren haben in Deutschland eine starke Tradition (Naturheilkunde, Homöopathie) und spielen in der Gesundheitsversorgung eine wichtige Rolle. Der Anteil der Bevölkerung, der schon einmal Naturheilmittel benutzt hat, steigt seit Jahrzehnten kontinuierlich an. Im Jahr 2004 haben 75% der Westdeutschen angegeben, schon einmal Naturheilmittel verwendet zu haben. Wirksamkeit. Zu immer mehr Methoden aus der alternativen und komplementären Medizin werden inzwischen randomisierte, kontrollierte Wirksamkeitsstudien durchgeführt. Gleichwohl fehlt in vielen Fällen noch immer ein Wirksamkeitsnachweis. Es gibt aber prinzipiell keine Hinderungsgründe, auch diese Verfahren einem Effektivitätsnachweis nach den Kriterien der evidenzbasierten Medizin zu unterziehen. Wer sich über die Wirksamkeit einzelner Methoden informieren möchte, findet entsprechende Studien und Metaanalysen in den Literaturdatenbanken (z. B. Cochrane Library). Eines der häufigsten alternativen Verfahren ist die auf der traditionellen chinesischen Medizin beruhende Akupunktur, deren Effektivität noch unge-
figer in Anspruch als Männer, Personen mit höherer Bildung häufiger als solche mit niedrigerer Bildung. Meist sind es Menschen, die eine eher hohe Körpersensibilität aufweisen, für die Gesundheit ein hoher Wert darstellt und die sich gesundheitsbewusst verhalten wollen. Unter den Kranken sind es häufig Menschen mit chronischen Krankheiten und Krebskranke, zumal in einem fortgeschrittenen Stadium. Ihr Bestreben geht oft dahin, nichts unversucht zu lassen und alle Möglichkeiten auszuschöpfen, um die Krebserkrankung vielleicht doch noch günstig zu beeinflussen (internale Kontrollüberzeugung). Auch der Wunsch, die Behandlung ein Stück weit selbst in der Hand zu haben, mag eine Rolle spielen. In einer Studie mit Brustkrebspatientinnen, die drei Monate nach der Operation befragt wurden, wiesen diejenigen Frauen, die alternative Medizin in Anspruch nahmen, eine höhere körperliche und psychische Belastung auf. Früher dachte man, dass negative Erfahrungen mit der »Schulmedizin« oder weltanschauliche Voreingenommenheiten das Hauptmotiv für die Inanspruchnahme alternativer Medizin darstellen. Dies scheint aber nicht der Fall zu sein. Vielmehr benutzen viele Menschen alternative Verfahren, insbesondere Naturheilmedizin, als Selbstmedikation bei Befindlichkeitsstörungen geringerer Intensität (z. B. bei grippalen Infekten). Auch als Begleitmedikation zusätzlich zu ärztlich verordneten Medikamenten werden »natürliche« Heilmittel eingesetzt. Nur 4% verwenden ausschließlich Naturheilmittel. Naturheilmittel gelten oft als »sanfte Medizin«, nebenwirkungsarm und förderlich für die Selbstheilungskräfte (im Unterschied zu der als aggressiv erlebten Pharmakotherapie).
296
Kapitel 9 · Patient und Gesundheitssystem
Ein Heilpraktiker wird von manchen Menschen auch deshalb in Anspruch genommen, weil er oft mehr Kommunikation und Zuwendung bietet als ein Allgemeinarzt. Alternative Medizin kann deshalb auch als niederschwelliges Psychotherapieangebot genutzt werden, das weniger stigmatisierend erlebt wird als der Besuch beim Psychiater oder Psychotherapeuten.
Ì Vertiefen Kenny E, Muskin PR, Brown R, Gerbarg PL (2001) What the general psychiatrist should know about herbal medicine. Current Psychiatry Reports 3:226–234 (beschreibt pflanzliche Mittel, die zur Verbesserung des psychischen Befindens eingesetzt werden, einschließlich Nebenwirkungen und Interaktionen)
9.2
Bedarf und Nachfrage
9.2.1
Über-, Unter- und Fehlversorgung
Ärztliche Gesprächsführung. Ärzte müssen davon
9
ausgehen, dass viele ihrer Patienten, zumal Krebskranke, an alternativer Medizin interessiert sind oder diese nutzen. Es ist deshalb sinnvoll, dieses Thema offen anzusprechen. Die Patienten fühlen sich dann besser verstanden und brauchen entsprechende Aktivitäten nicht vor ihrem Arzt geheim zu halten. Für den Arzt wiederum ist es wichtig, über alle Behandlungsmaßnahmen, die der Patient in Anspruch nimmt, Bescheid zu wissen, weil auch Naturheilmittel Nebenwirkungen haben können. Sie können Interaktionen mit Medikamenten besitzen und so deren Wirksamkeit abschwächen. Wie soll man sich als Arzt verhalten? Liegen für ein alternatives Verfahren sowohl Belege für die Wirksamkeit wie auch die Sicherheit (keine gravierenden Nebenwirkungen) vor, kann man es dem Patienten empfehlen. Ist die Wirksamkeit zwar ungeklärt, aber es bestehen keine Hinweise auf potentielle Schädlichkeit, kann man es akzeptieren, wenn der Patienten alternative Methoden einsetzt. Abraten sollte man ihm aber dann, wenn weder die Wirksamkeit noch die Sicherheit ausreichend belegt ist. v Lernziele Häufigkeit körperlicher Beschwerden in der Allgemeinbevölkerung, Bedingungen der Symptomaufmerksamkeit, Häufigkeit medizinisch nicht erklärbarer körperlicher Beschwerden, Verlauf neu aufgetretener körperlicher Beschwerden, Verzögerung der Inanspruchnahme medizinischer Hilfe und ihre Einflussfaktoren, Determinanten der Inanspruchnahme von Ärzten, Motive für die Inanspruchnahme komplementärer/alternativer Heilverfahren.
Man unterscheidet das subjektive Bedürfnis des Patienten vom objektiven, expertendefinierten Bedarf. Entspricht die medizinische Behandlung nach Art und Ausmaß diesem Bedarf, spricht man von bedarfsgerechter Versorgung. Der Sachverständigenrat Gesundheit hat in seinem Gutachten 2000/ 2001 unter der Überschrift »Über-, Unter- und Fehlversorgung« Bereiche unseres Gesundheitssystem identifiziert, in denen die Versorgung nicht dem Bedarf entspricht. Unterversorgung. An erster Stelle wurde kritisiert,
dass unser Gesundheitssystem wegen der Dominanz der akutmedizinischen Versorgung nur unzureichend an die Erfordernisse chronisch Kranker angepasst sei. Prävention und Rehabilitation kommen zu kurz (7 Kap. 10). Das Angebot von Information und Schulung für Menschen mit chronischen Krankheiten ist unterentwickelt (7 Kap. 8.1). Dies führt z. B. dazu, dass Asthmapatienten ihre Medikamente fehlerhaft oder inkonsequent anwenden, wodurch es zu vermeidbaren und kostenträchtigen akuten Exazerbationen (Verschlimmerungen) der Erkrankung kommen kann. Der Anteil von Menschen mit Diabetes mellitus, der eine Patientenschulung durchlaufen hat, ist immer noch äußerst gering. Die unzureichende Blutzuckereinstellung nicht geschulter Diabetiker hat kurzfristig lebensbedrohliche Stoffwechselentgleisungen und langfristig vermehrte Spätkomplikationen wie Erblindung, Niereninsuffizienz oder Fußamputationen zur Folge. Eine Unterversorgung besteht auch bei der Diagnostik und Behandlung einer arteriellen Hypertonie. Diese wird nur bei ungefähr der Hälfte der Betroffenen auch erkannt und selbst dann nicht konsequent genug behandelt. Nach den Ergebnis-
297 9.2 · Bedarf und Nachfrage
sen eines Gesundheitssurveys wiesen lediglich 20% der antihypertensiv Behandelten therapeutische Blutdruckwerte auf. Unterversorgung besteht auch bei psychischen Störungen. Eine Depression wird bei der Hälfte der Betroffenen nicht erkannt. Wenn sie diagnostiziert wird, wird sie in den meisten Fällen nicht konsequent behandelt, obwohl wirksame Behandlungsmöglichkeiten (Antidepressiva, Psychotherapie) zur Verfügung stehen. Eine psychosoziale Unterversorgung, aber somatische Überversorgung findet man bei Patienten mit somatoformen Störungen. Sie haben häufig eine Odyssee mit vielen, teilweise unnötigen, biomedizinischen diagnostischen und therapeutischen Maßnahmen hinter sich, bevor sie fachpsychotherapeutische Hilfe erhalten. Um diese Patienten zeitnah fachgerecht zu behandeln, wäre es erforderlich, dass Psychologen vor Ort in internistischen Polikliniken tätig sind, damit psychologische Diagnostik als integraler Bestandteil der medizinischen Versorgung wahrgenommen wird. Patienten fühlen sich dann nicht »abgeschoben« oder stigmatisiert. Ein Versorgungsdefizit besteht auch im Hinblick auf die psychosoziale Unterstützung körperlich Schwerkranker (z. B. Krebskranker). Die Bedürfnisse Krebskranker im psychologischen Bereich werden meist nicht ausreichend befriedigt. Ihre emotionale Belastung wird oft nicht erkannt, psychische Unterstützung zu selten in die Wege geleitet. Dies trifft insbesondere für die stationäre Akutversorgung und die ambulante Nachsorge zu. Ein regionales Versorgungsdefizit zeichnet sich für ländliche Regionen, insbesondere in den neuen Bundesländern ab, wo die Arztdichte zu gering ist. Über- und Fehlversorgung. Als Beispiele für Über-
versorgung werden im Sachverständigengutachten die Ausweitungen von Bypass-Operationen und interventioneller Kardiologie (PTCA, PCI) aufgeführt. Sie weisen in Deutschland eine im internationalen Vergleich überdurchschnittlich hohe Leistungsdichte auf, ohne dass sich dies in entsprechend günstigeren Morbiditäts- und Mortalitätsraten niederschlage. Dabei ist allerdings zu bedenken, dass insbesondere der Anteil älterer Menschen im herzchirurgischen und kardiologischen Krankengut ständig zugenommen hat. Chirurgische und inter-
9
ventionelle kardiologische Maßnahmen sind bei älteren Menschen heute mit relativ geringem Risiko und guten Langzeiterfolgen hinsichtlich Lebensqualität und Überlebensrate durchführbar. Auch gibt es keine Hinweise für eine fehlerhafte Indikation dieser Interventionen. Als weiteres Beispiel für Überversorgung wird die große Zahl von bildgebenden Untersuchungen (Röntgen, CT) bei unkomplizierten akuten Rückenschmerzen genannt. Als Fehlversorgung können diverse passive Behandlungsansätze (z. B. Fango, Bettruhe) bei akuten Rückenschmerzen gelten, weil diese wenig wirksam und potentiell schädlich sind.
9.2.2
Diskrepanz zwischen Bedarf und Nachfrage
Wenn ein Patient das Bedürfnis für ein bestimmtes Versorgungsangebot verspürt und auch ein Bedarf aus Sicht des Arztes vorliegt, muss das noch nicht bedeuten, dass der Patient die entsprechende medizinische Leistung auch nachfragt. Bedarf und Nachfrage können auseinander klaffen. Es gibt einerseits Patienten, die mehr Leistungen in Anspruch nehmen, als ihrem Bedarf entsprechen würde (over-utilization), andererseits Patienten, bei denen dies umgekehrt ist (under-utilization). Patienten mit somatoformen Störungen gehören zu den high utilizern des Gesundheitssystems. Sie nehmen immer wieder diagnostische und therapeutische Maßnahmen in Anspruch, für die eigentlich kein Bedarf besteht. Selbst Operationen werden bei ihnen viel häufiger durchgeführt als bei organisch Kranken. Auch im Bereich der chronischen Rückenschmerzen ist es eine kleine Gruppe von Patienten, die den Löwenanteil der Kosten verursacht. Angebotsinduzierte Nachfrage. Die Nachfrage wird durch ein vorhandenes Angebot gefördert. Deshalb steigt mit zunehmender Arztdichte in einer Region auch die Nachfrage nach Gesundheitsleistungen. Dem versucht die Kassenärztliche Vereinigung durch Niederlassungssperren zu begegnen. Eigentlich könnte eine höhere Ärztedichte gut für die Patienten sein, weil Wettbewerb zwischen den Ärzten zu einer höheren Qualität, z. B. mehr Zeit
298
Kapitel 9 · Patient und Gesundheitssystem
für den einzelnen Patienten, führen würde. Es gibt jedoch innerhalb der gesetzlichen Krankenversicherung kaum Wettbewerb zwischen Ärzten. Finanzielle und rechtliche Anreize und Restriktionen. Nachfrage kann auch dann iatrogen induziert
9
werden, wenn sich Ärzte auf bestimmte technische Untersuchungen spezialisieren und zur Auslastung ihrer Geräte an einer hohen Nutzung interessiert sind. Hierbei spielt das Honorarsystem der Krankenversicherung eine wichtige Rolle. Eine Einzelleistungshonorierung setzte für Ärzte Anreize, so viele Leistungen wie möglich zu erbringen. Dem versuchte die Krankenversicherung entgegenzuwirken, indem sie das maximale Honorarvolumen begrenzte (Budgetierung). Eine Mengenausweitung ärztlicher Leistungen kann auch auf Kosten der Qualität der einzelnen Leistung gehen. Dem wiederum wird durch Maßnahmen der Qualitätssicherung und durch Leitlinien entgegenzuwirken versucht (7 Kap. 9.4). Diese und andere Maßnahmen hatten jedoch hinsichtlich der Kostendämpfung immer nur kurzfristige Effekte.
9.2.3
Ungleichheiten der Versorgung
Regionale Ungleichheiten. Zwischen Stadt und Land ist die medizinische Versorgung infolge der unterschiedlichen Arztdichte sehr ungleich. Fachwie Allgemeinärzte lassen sich gerne in Städten nieder, auf dem Land ist die Arzt-Patienten-Quote viel ungünstiger, insbesondere in den neuen Bundesländern. Patienten, die auf dem Land leben, müssen oft weite Wege in die nächste Stadt in Kauf nehmen, wenn sie einen Facharzt besuchen wollen. Man findet auch kaum Psychotherapeuten »auf dem flachen Land«, was zu einer gravierenden Unterversorgung führt.
im Leistungsangebot. Allerdings wird das Angebot ungleich in Anspruch genommen. Dies gilt insbesondere für Präventionsmaßnahmen, mit geringerer Beteiligung von Menschen mit niedrigerem Sozialstatus.
9.2.4
Medikalisierung und iatrogene Einflüsse
Medikalisierung. Wenn Phänomene des normalen,
gesunden Lebens in den Zuständigkeitsbereich der Medizin gezogen werden, spricht man von Medikalisierung. Beispiele: Altern wird mit Anti-AgingPräparaten behandelt, Wechseljahresbeschwerden mit Hormonersatztherapie, unerfüllter Kinderwunsch mit In-vitro-Fertilisation. Iatrogene Einflüsse. Einflüsse der Ärzte (iatrogene Einflüsse) auf die Inanspruchnahme findet man beispielsweise bei Patienten mit somatoformen Störungen (Somatisierungsstörung). Diese Patienten suchen immer neue Ärzte auf, um diagnostische Untersuchungen wiederholen zu lassen. Wenn der betreffende Arzt allzu große Angst davor hat, eine organische Krankheit zu übersehen, wird er die gewünschten Wiederholungsuntersuchungen durchführen. Auch juristische Restriktionen und die damit verbundene Angst vor einem Kunstfehlerprozess können zu einer Überdiagnostik führen. Dabei können Fehlurteile in zwei Richtungen auftreten: 1. Diagnostizierung organisch Gesunder als krank (Fehler erster Art). Beispiel: Überinterpretation eines abweichenden Laborwerts. 2. Diagnostizierung eines Kranken als gesund (Fehler zweiter Art). Beispiel: Fehleinschätzung von Beschwerden als psychosomatisch, die tatsächlich organisch verursacht sind. v Lernziele
Geschlechtsbezogene Ungleichheiten. Auf Un-
terschiede der medizinischen Versorgung zwischen Männern und Frauen wurde schon in Kap. 4.9.6 hingewiesen. Soziale Ungleichheiten. Da in Deutschland so gut
wie alle Menschen krankenversichert sind, existieren keine wesentlichen sozialen Unterschiede
Bereiche der Unterversorgung, Überinanspruchnahme medizinischer Leistungen durch Patienten mit somatoformen Störungen, iatrogene Einflüsse auf die Inanspruchnahme.
299 9.3 · Patientenkarrieren im Versorgungssystem
Ì Vertiefen Sachverständigenrat für die konzertierte Aktion im Gesundheitswesen (2000/2001) Bedarfsgerechtigkeit und Wirtschaftlichkeit. Band 3: Über-, Unter- und Fehlversorgung (umfassende Kritik der Versorgungsdefizite unseres Gesundheitssystems mit Empfehlungen zur Abhilfe) Faller H, Weis J (2005) Bedarf und Akzeptanz psychosozialer Versorgung. In: Faller H (Hrsg) Psychotherapie bei somatischen Erkrankungen. Thieme, Stuttgart 18–31 (Überblick über Bedürfnisse, Bedarf, Akzeptanz und Inanspruchnahme psychischer Unterstützung bei körperlich Kranken)
9.3
Patientenkarrieren im Versorgungssystem
9.3.1
Primärarztfunktion und ärztliches Überweisungsverhalten
Funktion des Hausarztes. Der erste Ansprechpartner bei Gesundheitsproblemen ist der Hausarzt (Primärarzt). Die meisten Gesundheitsprobleme lassen sich auf der Ebene der Primärversorgung lösen. Sind spezielle diagnostische Untersuchungen oder Behandlungen notwendig, kann der Hausarzt den Patienten an einen Facharzt oder eine universitäre Poliklinik überweisen (sekundäre Versorgung). Eine wichtige Rolle in der Versorgung chronisch Kranker spielen spezialisierte Schwerpunktpraxen, z. B. für Patienten mit Diabetes mellitus. Bei besonders komplizierten Fällen werden schließlich spezialisierte universitäre Zentren herangezogen (tertiäre Versorgung). Je mehr ärztliche Spezialisten bei einem Krankheitsfall beteiligt sind, umso größer sind die Anforderungen an die Kooperation, damit keine Information verloren geht. Aufgabe des Hausarztes ist es, diese Information zu integrieren und den Behandlungsverlauf zu steuern (Hausarzt als Lotse). Er soll den Zugang zu Gesundheitsleistungen (z. B. Facharztüberweisung) kontrollieren (Hausarzt als Gatekeeper). Da die Primärversorgung zudem am kostengünstigsten ist, unternimmt die Gesundheitspolitik in jüngster Zeit vermehrt Anstrengungen, die Rolle des Hausarztes zu stärken. Beispiele: Die bei einem Facharztbesuch erneut zu zahlende Praxisgebühr entfällt, wenn der Patient zuerst den Hausarzt aufsucht und sich von ihm überweisen lässt (sog. Hausarztmodell). Ziel der Hausarztmodelle ist es, die Zahl der Facharzt-
9
besuche zu reduzieren. Dieses Ziel wurde bislang allerdings nicht erreicht. Patienten in Hausarztmodellen besuchen zwar seltener einen Facharzt ohne Überweisung (weil sie dies die Praxisgebühr kosten würde); aber die Häufigkeit von Facharztbesuchen mit Überweisung ist deutlich höher als bei Patienten der Regelversorgung. Dies lässt sich allerdings großenteils dadurch erklären, dass Patienten in Hausarztmodellen häufiger chronisch krank und älter sind. Während in Deutschland noch freie Arztwahl herrscht, gibt es in den Niederlanden gesetzlich geregelte Zugangsbeschränkungen zu medizinischen Leistungen. Dort ist für über 95% der Patienten die Praxis des Allgemeinarztes erste Anlaufstelle (in Deutschland 69%). In Deutschland liegt zwar der Anteil derjenigen Patienten, die mindestens einen weiteren Arzt aufsuchten, höher als in den Niederlanden, in den Niederlanden jedoch die Zahl der Krankenhauseinweisungen. Zudem ist der Anteil von Patienten mit psychischen Störungen, die keine spezifische Behandlung erhalten, in den Niederlanden nahezu doppelt so hoch wie in Deutschland. Fazit: Der reduzierte therapeutische Einsatz kann zwar die Kosten verringern, aber auch Nachteile für die Patienten mit sich bringen. Konsultationsdauer und Honorarsystem. Eine
Konsultation beim Primärarzt dauerte in einer europaweiten Studie im Durchschnitt 10,7 min. Deutschland (7,6 min) und Spanien (7,8 min) hatten die kürzesten, Belgien (15,0 min) und die Schweiz (15,6 min) die längsten Konsultationen. Diese Unterschiede lassen sich durch die Honorarsysteme der Länder erklären. In Deutschland, wo Ärzte nach der Zahl der Leistungen bezahlt wurden (Einzelleistungsgebühr), hatten Allgemeinärzte im Durchschnitt mehr als 200 Patientenkontakte pro Woche. Dies schlug sich in kürzeren Konsultationszeiten nieder. In Belgien und der Schweiz arbeiten Allgemeinärzte in einem offenen Markt. Die Patienten haben direkten Zugang zu mehreren Allgemeinärzten und Fachärzten. Dies bedeutet, dass die Ärzte Zeit investieren müssen, um ihre Patienten zufrieden zu stellen und sie an sich zu binden. Zudem werden Allgemeinärzte in Belgien und der Schweiz am Ende der Konsultation vom Patienten direkt bezahlt (die
300
Kapitel 9 · Patient und Gesundheitssystem
Patienten erhalten die Kosten hernach von ihren Versicherungen erstattet). Großbritannien und die Niederlande, wo die Hausärzte als Gatekeeper des Gesundheitssystems fungieren, eine feste Anzahl von Patienten pro Woche versorgen und per Patient (nicht per Leistung) bezahlt werden, lagen hinsichtlich der Konsultationszeit im mittleren Bereich.
9.3.2
9
Strukturelle Besonderheiten des deutschen Gesundheitssystems
Das deutsche Gesundheitssystem ist stark sektoral gegliedert. Die unterschiedlichen Sektoren der Versorgung werden vom Patienten der Reihe nach durchlaufen (Patientenkarriere): ambulante Versorgung (Praxis eines niedergelassenen Arztes), stationäre Versorgung (Krankenhaus), Rehabilitation (stationäre oder ambulante Rehabilitationseinrichtung), wieder zurück in die ambulante Versorgung usw. Dieses System ist für den Patienten oft nicht durchschaubar, weil sich Zugangswege und finanzielle Trägerschaft unterscheiden. Während er einen niedergelassenen Allgemeinarzt oder Facharzt von sich aus aufsuchen kann, muss eine stationäre Behandlung bei Mitgliedern der gesetzlichen Krankenversicherung vom Arzt verordnet werden. Ambulante und stationäre Versorgung werden von der Krankenversicherung (gesetzlich oder privat) bezahlt. Stationäre Behandlungen sind teuer. Die Kosten für stationäre Behandlungen sind zudem in den letzten Jahren am stärksten angestiegen. Zwar wird als Folge pauschalierter Vergütungssysteme (DRGs = Diagnosis-related Groups) die Verweildauer der Patienten im Krankenhaus immer kürzer; aber die Zahl der Behandlungsfälle steigt. Deshalb zielen gesundheitspolitische Bemühungen darauf ab, stationäre Behandlungen zu vermeiden, indem Gesundheitsleistungen in das ambulante Setting verlagert werden. Infolgedessen sinkt die Zahl der Krankenhäuser und der Krankenhausbetten. Durch die verkürzten Liegezeiten im Akutkrankenhaus kommen zunehmend schwerer Kranke in die medizinische Rehabilitation. Finanzieller Träger der medizinischen Rehabilitation ist bei erwerbstätigen Menschen die Renten-
versicherung, bei Rentnern die Krankenversicherung. Um in den Genuss einer Reha-Maßnahme zu kommen, muss der Patient einen Antrag stellen, der vom zuständigen Träger bewilligt werden muss. Bis 2005 war die Rentenversicherung für Angestellte und Arbeiter unterschiedlich organisiert (Bundesversicherungsanstalt für Angestellte bzw. Landesversicherungsanstalten). Heute ist die Deutsche Rentenversicherung nicht mehr nach beruflichem Status, sondern regional gegliedert. Schnittstellenproblematik. Wegen der starken sektoralen Gliederung kommt es zwischen den einzelnen Sektoren zu Schnittstellenproblemen, z. B. bei der Weitergabe von Informationen. Hausärzte beklagen sich, dass sie oft erst spät nach der Entlassung eines Patienten aus dem Krankenhaus oder einer Reha-Klinik einen Arztbrief erhalten, in dem die durchgeführten diagnostischen und therapeutischen Maßnahmen und Empfehlungen für die Weiterbehandlung enthalten sind. Diese Schnittstellenproblematik ist vor allem bei chronisch Kranken ausgeprägt, weil diese im Verlauf ihrer Krankheit die einzelnen Sektoren meist mehrfach durchlaufen. Modelle der integrierten Versorgung, in denen z. B. Akutkliniken, Reha-Kliniken und Arztpraxen zusammenarbeiten, sollen die Schnittstellenprobleme vermindern (7 Kap. 5.1.4).
9.3.3
Gesundheitskosten
Unterteilt man die Gesundheitsausgaben nach Leistungsarten, so stehen ärztliche Leistungen (27%), Waren, d.h. Arzneimittel etc. (27%) und pflegerisch/ therapeutische Leistungen (24%) mit ungefähr gleich großen Anteilen an der Spitze (Stand 2006; Robert-Koch-Institut 2009). Bei der Einteilung nach Einrichtungen liegen ambulante (48%) vor stationären/teilstationären Einrichtungen (37%). Die Gesundheitskosten steigen in Deutschland kontinuierlich an. Hierzu tragen der medizinischtechnische Fortschritt, aber auch fehlende Wirtschaftlichkeitsanreize bei. Die Pro-Kopf-Ausgaben stiegen allerdings weniger als in anderen Ländern (Deutschland liegt hier im Mittelfeld der OECDStaaten), was auf Effizienzgewinne verweist. Auch im Vergleich zum Bruttoinlandsprodukt sind die
301 9.3 · Patientenkarrieren im Versorgungssystem
Kosten nicht überproportional gestiegen; der Anteil der Gesundheitsausgaben am Bruttoinlandsprodukt lag in den letzten Jahren zwischen 10,1% und 10,8%. Damit liegt Deutschland im internationalen Vergleich im oberen Drittel. Insgesamt lässt sich die Ausgabenhöhe durch die umfassende medizinische Versorgung für die gesamte Bevölkerung ohne (derzeit noch) längere Wartezeiten rechtfertigen. Zudem ist das Gesundheitswesen ein wichtiger Wirtschaftssektor, in welchem jeder 9. Beschäftigte tätig ist. Priorisierung. Angesichts knapper Ressourcen,
d h. begrenzter Finanzierungsmöglichkeiten, muss festgelegt werden, welche medizinischen Maßnahmen Priorität haben. Eine Möglichkeit, wie sie z. B. in Schweden schon praktiziert wird, ist die Priorisierung nach dem medizinischen Bedarf. In diesem Modell steht an der Spitze die Versorgung von unmittelbar lebensbedrohlichen Erkrankungen sowie Erkrankungen, die unbehandelt zu permanenter Behinderung oder vorzeitigem Tod führen würden. Dann folgen die Versorgung von schweren chronischen Erkrankungen, die palliative Versorgung und diejenige von Menschen mit eingeschränkter Autonomie. Danach rangieren Prävention und Rehabilitation und schließlich weniger schwere akute und chronische Erkrankungen. Maßgeblich sind also Schwere und Gefährlichkeit des Krankheitszustands, Nutzen- und Schadenspotenziale, ökonomische Effizienz sowie die Evidenzlage. Keine Rolle spielten bei der Prioritätenfestlegung Inzidenz und Prävalenz der Krankheit, Alter, sozialer Status oder Lebensstil. Aus der Priorisierung können Behandlungsempfehlungen abgeleitet werden; sie darf nicht mit Rationierung gleichgesetzt werden. Rationierung. Wenn medizinische Maßnahmen, z. B. neue Medikamente, mit der Begründung, dass die zusätzlichen Kosten in keinem angemessenen Verhältnis zum zusätzlichen Nutzen stehen, von der Finanzierung in der gesetzlichen Krankenversicherung ausgeschlossen werden, handelt es sich um Rationierung. Rationierungsentscheidungen sind gesundheitspolitische Entscheidungen, die nicht von der Wissenschaft getroffen werden können, sondern eine demokratische Legitimation benötigen.
9.3.4
9
Gesetzliche und private Krankenversicherung
Die Art der Krankenversicherung setzt finanzielle und rechtliche Anreize, die die Nachfrage nach Gesundheitsleistungen steuern. In Deutschland sind 90% der Patienten bei gesetzlichen Krankenkassen (z. B. Allgemeine Ortskrankenkassen, Betriebskrankenkassen, Ersatzkassen) und 10% bei privaten Krankenversicherungen versichert. Die private Krankenversicherung trägt jedoch über 20% der Kosten des Gesundheitssystems. Solidarprinzip. In der gesetzlichen Krankenversi-
cherung gilt das Solidarprinzip: Jeder bezahlt nach seiner Leistungskraft einkommensabhängige Beiträge, erhält aber je nach seinem Bedarf beitragsunabhängige Leistungen. Die Leistungen werden also nicht wie bei einer echten Versicherung nach dem Schadensrisiko kalkuliert. Die Solidarität bezieht sich auf die Umverteilung von den einkommensstärkeren zu den einkommensschwächeren Personen. (Eine Solidarität zwischen Gesunden und Kranken bzw. Jungen und Alten gibt es auch in der privaten Krankenversicherung.) Eine Gefahr des Solidarprinzips besteht darin, dass sie die Motivation zur Eigenvorsorge untergräbt, da andere für die eigene Krankheit bezahlen. Die gesetzliche Krankenversicherung funktioniert nach dem Umlageverfahren, d. h. die Beiträge werden unmittelbar wieder ausgegeben. Ein Nachteil dieses Verfahrens ist, dass bei guter Einnahmelage kein Kapitalstock für schlechte Zeiten gebildet, sondern der Leistungskatalog ausgeweitet wurde. Diese Ausweitung konnte in schlechten Zeiten nur schwer wieder rückgängig gemacht werden (»Sozialabbau!«). Dadurch geriet die gesetzliche Krankenversicherung in Defizite, die Beitragserhöhungen notwendig machten. Diese ließen wiederum die Lohnnebenkosten ansteigen, so dass Arbeitsplätze abgebaut wurden. Die gesetzlichen Krankenversicherungen sind Krankheitskostenvollversicherungen. Es können keine Leistungen je nach Präferenz der Versicherten ausgeschlossen werden. Die Finanzierung erfolgt nach dem Sachleistungsprinzip. Dies hat den Nachteil einer mangelnden Transparenz: Die Patienten erfahren in der Regel nicht, wie teuer die Leistung war, die sie in An-
302
Kapitel 9 · Patient und Gesundheitssystem
spruch genommen haben, weil die Leistung direkt von der Krankenkasse über die Kassenärztlichen Vereinigungen an den Arzt honoriert wird. Dadurch wird die finanzielle Verantwortung des Patienten für sein Handeln untergraben. Damit keine der gesetzlichen Krankenkassen im Wettbewerb benachteiligt ist, weil sie viele einkommensschwächere, ältere oder chronisch kranke Versicherte versorgt, erfolgt zwischen den Kassen ein entsprechender finanzieller Ausgleich (Risikostrukturausgleich). Äquivalenzprinzip. In der privaten Krankenver-
9
sicherung gilt das Äquivalenzprinzip: Die Versicherungsprämie richtet sich nach dem versicherten Risiko, d.h. dem voraussichtlichen Bedarf. Der Versicherungsanspruch besteht dann für den versicherten tatsächlichen Bedarf. Private Krankenversicherungen funktionieren nach dem Kapitaldeckungsverfahren. Dabei wird ein Kapitalstock gebildet, der die zu erwartenden Kosten abdeckt. Altersrückstellungen während der jüngeren, gesunden Lebensjahre ermöglichen es, die Prämien trotz höherer Krankheitskosten im Alter möglichst konstant zu halten. Private Krankenversicherungen arbeiten nach dem Kostenerstattungsprinzip. Der Patient tritt gegenüber dem Arzt in Vorleistung und erhält seine Kosten von der Versicherung erstattet. Der Vorteil dieses Verfahrens liegt in der Transparenz der Kosten. Der Patient sieht auf der Arztrechnung, wie teuer die Leistungen sind, die er in Anspruch genommen hat. Nur wenn er den Preis kennt, kann er entsprechend seine Nachfrage lenken. Verfehlte Anreizstrukturen. Infolge der Preisun-
abhängigkeit der Nachfrage nach Gesundheitsleistungen in der gesetzlichen Krankenversicherung hat es den Anschein, als würden Gesundheitsleistungen kostenlos, zum Nulltarif, zur Verfügung gestellt werden, so als wären es unbegrenzt verfügbare Güter oder Dienstleistungen, nicht knappe Ressourcen. Dies verleitet dazu, diese Güter über Gebühr in Anspruch zu nehmen (moral hazard). Dabei handelt der Einzelne durchaus rational, indem er möglichst viele und teure Gesundheitsleistungen in Anspruch nimmt. Er muss sie ja nicht bezahlen. Gesellschaftlich betrachtet, kann dies aber zu Ver-
schwendung führen. Durch Solidarprinzip und Sachleistungsprinzip wird der Nutzen individualisiert, die Kosten werden kollektiviert. Reformempfehlungen. Schon innerhalb des bestehenden Gesundheitssystems wird versucht, diesen Fehlentwicklungen durch eine höhere Selbstbeteiligung und Schadensfreiheitsrabatte zu begegnen. Weitergehende Reformvorschläge empfehlen eine Unterscheidung von Regelleistungen und Wahlleistungen. Ein definierter Katalog von Regelleistungen deckt existenzbedrohende Risiken ab. Er muss von jeder Versicherung angeboten werden. Es bestehen Kontrahierungszwang und Diskriminierungsverbot, d.h. die Versicherungen müssen jeden Interessenten annehmen. Bagatellleistungen müssten hingegen selbst bezahlt werden. Wenn die Krankheitsursachen durch den Patienten beeinflussbar sind, sollte die entsprechende Krankheit nicht vollständig in die Regelleistung übernommen, sondern auch der Eigenvorsorge anheimgestellt werden. Für die Wahlleistungen wird eine Entstaatlichung und Deregulierung der Krankenversicherung vorgeschlagen. Es sollte stärker der Eigenverantwortung der Menschen überlassen werden, wofür sie sich versichern wollen und wofür nicht. In diesem Bereich bestünde Wahlfreiheit. Unterschiedliche Krankenversicherungen könnten miteinander in Wettbewerb treten, um Marktmechanismen und Wachstumspotentiale zum Vorteil aller freizusetzen. Andere Finanzierungsmodelle. Neben dem deutschen Modell (Bismarck-Modell) gibt es noch an-
dere Modelle der Finanzierung der Gesundheitsversorgung: aus allgemeinen Steuern (Semaschko-Modell; ehemalige Sowjetunion, DDR), aus zweckgebundenen Steuern (Beveridge-Modell; National Health Service in Großbritannien) oder in bedeutsamem Maße aus privaten Mitteln der Patienten (Markt-Modell; USA). Diese Modelle haben jeweils spezifische Nachteile. Im Semaschko-Modell war das Gesundheitsbudget vom wechselnden Steueraufkommen und politischen Entscheidungen abhängig. Weil die Ärzte als staatliche Angestellte wenige Anreize hatten, waren sie oft nicht motiviert, ihre Patienten gut zu betreuen. In Großbritannien sind die Ausgaben für die Gesundheitsversorgung
303 9.4 · Qualitätsmanagement im Gesundheitswesen
deutlicher niedriger als in Deutschland. Deshalb reichen im National Health Service die Finanzmittel nicht aus, so dass wichtige Gesundheitsgüter rationiert werden müssen, mit der Folge von beispielsweise langen Wartezeiten für elektive (nicht dringliche) Operationen wie Hüftgelenksersatz oder Altersgrenzen für lebenserhaltende Behandlungsmaßnahmen wie die Hämodialyse bei chronisch Nierenkranken. Deshalb hat sich in Ländern mit staatlichem Gesundheitssystem ein paralleler zweiter Markt für Gesundheitsleistungen entwickelt. In den USA ist die Medizin zwar kundenorientierter als in den staatlich organisierten Systemen. Allerdings sind dort viele Menschen nicht ausreichend krankenversichert, so dass sie sich teure medizinische Maßnahmen nicht leisten können. In den letzten Jahren haben in den USA Managed-Care-Systeme, in denen die Autonomie der Patienten und der Ärzte deutlich eingeschränkt wird, an Bedeutung zugenommen (7 Kap. 9.4.4). v Lernziele Primäre, sekundäre und tertiäre Versorgung, Primärarztfunktion, sektorale Gliederung der Versorgung, Schnittstellenprobleme; Gesundheitskosten, Priorisierung vs. Rationierung; gesetzliche Krankenversicherung: Solidarprinzip, Umlageverfahren, Sachleistungsprinzip, Risikostrukturausgleich; private Krankenversicherung: Äquivalenzprinzip, Kapitaldeckungsverfahren, Kostenerstattungsprinzip; andere Finanzierungsmodelle.
Ì Vertiefen Oberender P, Hebborn A, Zerth J (2002) Wachstumsmarkt Gesundheit. Lucius & Lucius, Stuttgart (umfassende Analyse der Probleme unseres Gesundheitssystems mit Reformvorschlägen) Robert-Koch-Institut (Hrsg) (2009) Ausgaben und Finanzierung des Gesundheitswesens. Gesundheitsberichtserstattung des Bundes, Heft 45. Robert-Koch-Institut, Berlin (aktuelle Zahlen zu den Gesundheitsausgaben)
9.4
Qualitätsmanagement im Gesundheitswesen
Patienten wie auch Kostenträger von Gesundheitsleistungen erwarten eine qualitativ hochwertige medizinische Versorgung. Behandlungsmaßnahmen
9
sollen nachgewiesenermaßen wirksam sein (evidenzbasierte Medizin, 7 Kap. 3.8.3). Entscheidungen von Ärzten und anderen an der Gesundheitsversorgung beteiligten Berufsgruppen sollen transparent und nachvollziehbar sein.
9.4.1
Qualitätssicherung und -management
Qualität im Gesundheitswesen kann definiert wer-
den als das Ausmaß, in dem Gesundheitsleistungen die Wahrscheinlichkeit gewünschter gesundheitlicher Behandlungsergebnisse erhöhen und mit dem gegenwärtigen professionellen Wissensstand übereinstimmen (evidenzbasierte Medizin, 7 Kap. 3.8.3). Gute Qualität lässt sich als wirksame, bedarfsgerechte, fachlich qualifizierte, aber auch wirtschaftliche Leistungserbringung beschreiben. Dimensionen der Qualität Strukturqualität: Voraussetzungen und Rahmenbedingungen einer Leistung. Beispiele: personelle, räumliche und technische Ausstattung eines Krankenhauses. Prozessqualität: Anforderungen an den Ablauf einer Leistung. Beispiele: eine bestimmte Mindestanzahl von Therapiestunden pro Patient, Einsatz von Behandlungsmethoden, für die wissenschaftliche Evidenz besteht, leitliniengerechte Behandlung, Behandlungspfade. Ergebnisqualität: Güte des Ergebnisses einer Leistung. Beispiel: Verbesserung des Gesundheitszustandes oder der Lebensqualität von Patienten.
Qualitätssicherung und Qualitätsmanagement
beschreiben das Bemühen, die Versorgungsrealität mit Blick auf einen als optimal angenommenen Sollwert oder Standard zu verbessern. Die Begriffe Qualitätssicherung und Qualitätsmanagement werden häufig synonym gebraucht. Externe Qualitätssicherung. Bei der externen Qualitätssicherung unterliegt die Qualitätskontrolle
304
Kapitel 9 · Patient und Gesundheitssystem
(z. B. bezüglich der Vorgabe und Einhaltung von Standards) einer außenstehenden Institution, die, wenn nötig, auch Maßnahmen ergreift, um Qualitätsmängel zu beseitigen. Dies können Vorgaben von Krankenkassen und anderen Kostenträgern bezüglich bestimmter struktureller Anforderungen sein (z. B. Personalschlüssel) oder auch Vorgaben, die unmittelbar die Behandlung der Patienten betreffen (z. B. Leitlinien). Interne Qualitätssicherung. Unter interner Quali-
9
tätssicherung werden Bemühungen der Leistungserbringer selbst (z. B. Arztpraxen, Kliniken) verstanden. Dies können beispielsweise Zufriedenheitsbefragungen von Patienten und Mitarbeitern sein, kontinuierliches Monitoring des Therapieerfolgs, Qualitätszirkel (s. u.) oder auch Supervision. In diesem Zusammenhang wird insbesondere auch häufig der Begriff Qualitätsmanagement gebraucht. Interne und externe Maßnahmen ergänzen einander: Interne Maßnahmen sind notwendig, um Probleme vor Ort zu klären und unter Mitwirkung der Betroffenen zu lösen, während externe Maßnahmen der Kostenträger dazu dienen, ihrer Verantwortung für die Sicherstellung einer effektiven und effizienten Leistungserbringung gerecht zu werden. Ein vorrangiges Ziel von Qualitätssicherung ist es immer, Abläufe transparent und damit auch überprüfbar bzw. korrigierbar zu machen. Behandlungsfehler gehen meist auf eine fehlende Abstimmung zwischen den beteiligten Akteuren zurück, also eine mangelhafte Prozessqualität. Behandlungspfade (clinical pathways), in denen für jedes Krankheitsbild die diagnostischen und therapeutischen Maßnahmen und Abläufe genau festgelegt sind, sollen hier Abhilfe schaffen. Konflikte. Qualitätssicherung ist notwendig, um eine hochwertige Versorgung zu gewährleisten. Dennoch kann es zu Konflikten kommen. Beispielsweise können sich Ärzte oder Kliniken durch externe Qualitätssicherungsprogramme kontrolliert fühlen, wenn von Seiten des Kostenträgers strukturelle Anforderungen überprüft oder Patienten zu ihrer Behandlung befragt werden. Auch internes Qualitätsmanagement birgt Konfliktpotentiale. Insbesondere bei der Einführung entsprechender Maßnahmen entsteht für die Betroffenen häufig zusätzlicher
Arbeitsaufwand, beispielsweise, wenn die eigene Arbeit dokumentiert werden muss oder Mitarbeiter zur Qualitätszirkelarbeit »überredet« werden. Besteht in einer Einrichtung keine Akzeptanz bezüglich der Qualitätssicherungsmaßnahmen, so kann es zu Datenverfälschungen (»geschönte Angaben«) und letztendlich zum Scheitern der Qualitätsbemühungen kommen. Um diese Situation zu vermeiden, ist es unerlässlich, die betroffenen Personen frühzeitig in die Konzeption von Qualitätssicherungsmaßnahmen einzubeziehen. Auf diese Weise kann sichergestellt werden, dass die eingesetzten Methoden für den jeweiligen Kontext angemessen sind und von den Beteiligten akzeptiert werden. Vor dem Hintergrund eines zunehmenden Kostendrucks im Gesundheitswesen kann es zum Konflikt zwischen Qualität und Wirtschaftlichkeit
kommen. Gerade um zu vermeiden, dass Maßnahmen zur Kostensenkung die Versorgung beeinträchtigen, ist Qualitätssicherung notwendig. Beispielsweise wird durch die Orientierung an Leitlinien (7 Kap. 3.8.3) angestrebt, dass der Patient eine angemessene Behandlung erhält. Da eine qualitativ angemessene Behandlung nicht zwangsläufig den Erwartungen des Patienten entspricht, kann es auch hier zu Konflikten zwischen Qualität und Patientenzufriedenheit kommen. Ein Patient, der mit Erholungs- und WellnessErwartungen in eine Rehabilitationsklinik kommt und dort beispielsweise an einer Arbeits- und Belastungserprobung teilnehmen soll, könnte sich unzufrieden über seine Behandlung äußern, wenngleich diese einem hohen Qualitätsstandard entspricht.
9.4.2
Methoden zur Sicherung bzw. Optimierung der Qualität
Peer-Review. Beim Peer-Review handelt es sich um eine Qualitätsprüfung von Behandlungsprozessen und -ergebnissen durch Fachkollegen (»Peers«). Initiator von solchen Qualitätsprüfungen können z. B. Kostenträger sein, womit sich diese Maßnahme der externen Qualitätssicherung zuordnen lässt. In der stationären medizinischen Rehabilitation beispielsweise begutachten Ärzte die Behandlungsunterlagen
305 9.4 · Qualitätsmanagement im Gesundheitswesen
(Entlassungsberichte, Therapiepläne) von Fachkollegen im Hinblick auf mögliche Qualitätsmängel im Behandlungsprozess. Die Begutachtung erfolgt anonym, die Ergebnisse werden der begutachteten Klinik zurückgemeldet, mit dem Ziel, eine Qualitätsverbesserung in der Einrichtung anzuregen. Qualitätszirkel. Qualitätszirkel stellen ein geläu-
figes Element der internen Qualitätssicherung dar. Hierbei handelt es sich um eine überschaubare, möglichst hierarchiefreie Gesprächsgruppe, in der sich Mitarbeiter (meist unter Anleitung eines geschulten Moderators) freiwillig und regelmäßig treffen, um Lösungen für konkrete Probleme des Berufsalltags zu erarbeiten. Supervision. Unter Supervision versteht man eine Form von Beratung für Einzelpersonen und Teams. Mit Unterstützung eines Supervisors werden berufsbezogene Probleme (z. B. mit Kollegen oder Patienten) besprochen, um gemeinsam Lösungen zu finden (z. B. Balintgruppe, 7 Kap. 5.4.9). Insbesondere in emotional belastenden Arbeitskontexten, wie z. B. auf einer Kinderkrebsstation, sollte Supervision angeboten werden, um die Qualität der Arbeit zu sichern. Organisations- und Personalentwicklung. Maßnahmen zur Verbesserung der Qualität der Arbeit einer Organisation wie z. B. eines Krankenhauses bezeichnet man als Organisationsentwicklung, Maßnahmen zur Höherqualifizierung der Mitarbeiter als Personalentwicklung.
9.4.3
Patientenzufriedenheit und gesundheitsbezogene Lebensqualität
9
Patientenzufriedenheit. Die Patientenzufrieden-
heit lässt sich in mehrere Dimensionen unterteilen, wobei verschiedene Fragebögen jeweils andere Schwerpunkte setzen. Dimensionen der Patientenzufriedenheit 4 Zufriedenheit mit dem interpersonalen Verhalten der Ärzte, Pflegekräfte etc. (z. B. Freundlichkeit), 4 Zufriedenheit mit Bürokratie und Organisation (z. B. Wartezeiten), 4 wahrgenommene technische Qualität (z. B. apparative Ausstattung) und wahrgenommene fachliche Kompetenz, 4 Zufriedenheit mit Art und Umfang von Informationen, 4 Zufriedenheit mit den Kosten im Verhältnis zum Nutzen der Maßnahme, 4 Zufriedenheit mit der Wirksamkeit bzw. mit den Ergebnissen der Behandlung (z. B. Wurden die Erwartungen des Patienten bezüglich einer Verbesserung des Gesundheitszustandes erfüllt?), 4 Zufriedenheit mit der Umgebung (z. B. Freizeitangebot in einer Rehabilitationsklinik), 4 Zufriedenheit mit »Hotelleistungen« (z. B. Verpflegung, Ausstattung des Zimmers in der Klinik).
Es werden also nicht nur das Verhalten von Ärzten und Pflegekräften oder das Behandlungsergebnis bewertet, sondern auch Umgebungsmerkmale, von denen man annimmt, dass sie die Zufriedenheit des Patienten beeinflussen könnten. In . Abb. 9.2 ist ein Ausschnitt aus einer Zufriedenheitsbefragung für Patienten einer Rehabilitationsklinik abgebildet. Einflussfaktoren auf die Patientenzufriedenheit.
Das subjektive Urteil der Patienten über die Qualität ihrer Behandlung wird zunehmend wichtiger. Patienten werden sowohl in groß angelegten Qualitätssicherungsprogrammen z. B. von den Krankenkassen (externe Qualitätssicherung) nach ihrer Zufriedenheit mit den Behandlungsmaßnahmen gefragt als auch durch Kliniken und Arztpraxen selbst (interne Qualitätssicherung). Dies geschieht meist in Form eines Fragebogens.
Ein Problem ist, dass Zufriedenheitswerte generell sehr hoch ausfallen und sich wenig zwischen unterschiedlichen Kliniken oder Stationen unterscheiden. Dies schränkt ihren Wert ein. Hinzu kommt, dass Merkmale des Patienten einen stärkeren Einfluss auf die Zufriedenheit ausüben als Merkmale des Arztkontakts oder der jeweiligen medizinischen Einrichtung. Unter den Patientenmerkmalen spielt vor allem das Alter eine Rolle: Ältere Patienten sind
306
Kapitel 9 · Patient und Gesundheitssystem
. Abb. 9.2. Zufriedenheitsfragebogen (Ausschnitt)
9
zufriedener als jüngere. Aber auch die allgemeine Lebenszufriedenheit, die subjektive Gesundheitswahrnehmung und das psychische Befinden stehen mit der Zufriedenheit in Zusammenhang. Unter den Merkmalen des Arztkontakts ist es insbesondere die Kontinuität der Versorgung, die zu einer hohen Zufriedenheit beiträgt. Patienten, die kontinuierlich vom selben Arzt betreut werden, sind zufriedener als diejenigen, deren Arzt häufig wechselt. Auch Zuwendung und Empathie des Arztes führen zu höherer Zufriedenheit. Ist die Zufriedenheit höher, wenn das Behandlungsergebnis gut ausfällt? Dies gilt nur zum Teil, nämlich für die subjektive Bewertung des Ergebnisses aus der Sicht des Patienten, nicht aber für das objektive medizinische Behandlungsergebnis. Ein weiterer Einflussfaktor auf die Zufriedenheit ist, ob Patienten ihre Erwartungen an einen Arztbesuch erfüllt sehen. Bei unerfüllten Erwartungen sinkt die Zufriedenheit. Zufriedenheit hat auf der anderen Seite Auswirkungen auf die Compliance: Zufriedene Patienten halten sich mehr an die Empfehlungen ihres Arztes.
heitszustandes beschreiben und kann der Dimension der Ergebnisqualität (s.o.) zugeordnet werden. Auch wenn die Möglichkeiten zur objektiven Verbesserung des körperlichen Zustandes eines Patienten im Einzelfall begrenzt sein können (z. B. bei chronischen Erkrankungen oder bei Krebserkrankungen im Endstadium), so bleibt die Verbesserung der Lebensqualität ein wichtiges Ziel der Behandlung und kann dementsprechend erfasst werden, um die Ergebnisqualität zu bestimmen. Um die Lebensqualität von Patienten zu erfassen, gibt es verschiedene Fragebögen (7 Kap. 1.2.3). Verrechnet man die bei einem Patienten gemessene Lebensqualität mit seiner Lebenserwartung bei einer bestimmten Erkrankung, so ist es möglich, die so genannten »qualitätsangepassten Lebensjahre« (quality adjusted life years, QALY) zu bestimmen. Die QALYs werden häufig in gesundheitsökonomischen Studien verwandt, wenn z. B. der Nutzen verschiedener Behandlungsmethoden verglichen wird.
9.4.4 Gesundheitsbezogene Lebensqualität. Als wei-
teres wichtiges patientenbezogenes Maß im Zusammenhang mit Qualitätssicherung wird die Lebensqualität des Patienten (7 Kap. 1.2.3) erfasst. Gesundheitsbezogene Lebensqualität lässt sich als die subjektive Wahrnehmung des eigenen Gesund-
Qualitätswettbewerb, Kostendruck und organisatorischer Wandel im Gesundheitswesen
Die Frage nach der Qualität von Gesundheitsleistungen gewinnt vor dem Hintergrund der finanziell angespannten Lage im Gesundheitswesen sowie der
307 9.4 · Qualitätsmanagement im Gesundheitswesen
gesetzlichen Verpflichtung zur Qualitätssicherung zunehmend an Bedeutung. Kostendruck und organisatorischer Wandel im Gesundheitswesen. Als Beispiel für den organisatorischen Wandel im Gesundheitswesen lassen sich
die Veränderung bei der Vergütung von Krankenhausleistungen und die stärkere Selbstbeteiligung von Patienten an den Kosten für Gesundheitsleistungen anführen. Den zunehmenden Kostendruck spüren Kostenträger genauso wie Kliniken und Patienten. Nachweise für Effizienz und Qualität werden vor diesem Hintergrund vermehrt in den Blickpunkt der Betrachtung rücken. Diagnosis-Related-Groups (DRG). Die Vergütung von Krankenhausbehandlungen wurde von Tagessätzen auf Fallpauschalen, so genannte DRGs umgestellt. Dies bedeutet, dass die Behandlung bei einer bestimmten Erkrankung bzw. einem bestimmten operativen Eingriff (z. B. Blinddarmoperation) mit einem Pauschalbetrag vergütet wird und nicht mehr entsprechend der Anzahl der Tage (Tagessätze), die der Patient im Krankenhaus verbringt. Qualitätssicherung ist in diesem Zusammenhang wichtig, um sicherzustellen, dass kein Patient aus Kostengründen zu früh aus der Klinik entlassen wird. Patientenselbstbeteiligung. Patienten müssen zunehmend mehr Geld in ihre Gesundheit investieren (z. B. Zuzahlungen zu Medikamenten, Praxisgebühren), was sicherlich auch dazu beiträgt, dass die eingekaufte Leistung (Beratung und Behandlung durch Arzt und Klinik) in guter Qualität eingefordert wird. Qualitätswettbewerb. Die genannten Faktoren führen bei den Leistungserbringern zu einem vermehrten Qualitätswettbewerb, um sich auf dem Markt positionieren zu können. Beispielsweise müssen sich im Rahmen externer Qualitätssicherung einzelne Kliniken mit anderen Einrichtungen im Hinblick auf die Ergebnisqualität vergleichen lassen. In Zukunft wird die Qualität der Klinikbehandlung ein wichtiges Kriterium für die Versorgungsplanung und Zuweisungssteuerung durch die Kostenträger darstellen.
9
Zertifizierung. Um zu dokumentieren, dass Kli-
niken auf einem hohen Qualitätsniveau arbeiten, können sie sich zertifizieren lassen. Das bedeutet, dass sie die Erfüllung der Qualitätskriterien gegenüber einer unabhängigen Institution nachweisen, die nach einer Vor-Ort-Begehung (Audit) ein Qualitätssiegel verleiht. Für eine solche Zertifizierung stehen unterschiedliche Verfahren zur Verfügung (KTQ, DIN-ISO). Managed Care. Managed Care (geführte Versor-
gung) ist ein Beispiel dafür, dass in letzter Zeit vermehrt Management-Prinzipien auf die medizinische Versorgung angewandt werden. Das Konzept kommt aus den USA und ist dadurch gekennzeichnet, dass der Kostenträger den Patienten gezielt durch bestimmte Behandlungsstationen führt und dem Patienten damit weniger Wahlfreiheit bleibt. Ziel von Managed Care ist es, durch eine bessere Steuerung der Leistungserbringung eine qualitativ angemessene Versorgung sicherzustellen und Kosten zu sparen. In Deutschland werden, beispielsweise durch einzelne Krankenkassen, zunehmend Elemente von Managed Care in der Versorgung realisiert. Charakteristisch für Managed-Care-Systeme ist eine eingeschränkte Arztwahl. Ausgewählte Ärzte und Kliniken, die bestimmte Kriterien (Strukturqualität) erfüllen, werden als Vertragspartner an die Versicherung gebunden. So entstehen Behandlungsnetzwerke. Eine besondere Stellung kommt in diesem System dem Hausarzt zu. Er fungiert als »Gatekeeper« der Behandlung, indem er den Patienten zu den an das Netzwerk angeschlossenen Spezialisten überweisen kann. Fallpauschalen (s.o. DRG) sind ein weiteres Charakteristikum von Managed Care-Systemen. Durch die Anwendung von Leitlinien und evidenzbasierten Behandlungsmaßnahmen (Prozessqualität) innerhalb des ManagedCare-Systems soll die Qualität der Versorgung gewährleistet werden. v Lernziele Qualitätsdimensionen: Struktur-, Prozess- und Ergebnisqualität, interne und externe Qualitätssicherung, Qualitätsmanagement, Leitlinien, Behandlungspfade, Peer-Review, Qualitätszirkel, 6
308
Kapitel 9 · Patient und Gesundheitssystem
Patientenzufriedenheit, gesundheitsbezogene Lebensqualität, Quality-Adjusted Life Years (QALY), Diagnosis-Related Groups (DRG), Managed Care.
Ì Vertiefen Helou A, Schwartz FW, Ollenschläger G (2002) Qualitätsmanagement und Qualitätssicherung in Deutschland. Bundesgesundheitsblatt – Gesundheitsforschung – Gesundheitsschutz 45:205–214 (Übersichtsartikel)
9
III
Förderung und Erhaltung von Gesundheit 10
Förderung und Erhaltung von Gesundheit: Prävention – 311
11
Förderung und Erhaltung von Gesundheit: Maßnahmen – 338
10 10 Förderung und Erhaltung von Gesundheit: Prävention 10.1 Präventionsbegriff
– 311
10.2 Modelle gesundheitsrelevanten Verhaltens 10.3 Primäre Prävention
– 318
10.4 Sekundäre Prävention 10.5 Tertiäre Prävention 10.6 Rehabilitation
– 313
– 321
– 328
– 331
Präventionsbegriff
> > Einleitung
10.1
Auch die Vorbeugung von Krankheiten gehört zu den Aufgaben der Medizin. Der größte Anteil an der Entstehung schwerer und häufiger körperlicher Krankheiten wie koronare Herzkrankheit, Schlaganfall, Diabetes mellitus und Lungenkrebs kann verhaltensabhängigen und damit prinzipiell veränderbaren Risikofaktoren zugeschrieben werden. Wie diese Risikofaktoren beseitigt und ein gesunder Lebensstil gefördert werden können, ist ein zunehmend wichtigeres Aufgabengebiet der Medizinischen Psychologie. Es fällt den Betroffenen nämlich meist nicht leicht, die Empfehlungen ihres Arztes in die Tat umzusetzen. Dies gilt nicht nur für (noch) Gesunde, sondern auch für Patienten, die schon an einer chronischen Krankheit leiden. Sie benötigen Unterstützung, um Rezidive zu verhindern, die Folgen ihrer Krankheit zu bewältigen und möglichst weitgehend am normalen Leben teilnehmen zu können. Diese Hilfe zur Bewältigung einer chronischen Krankheit wird von der medizinischen Rehabilitation geleistet. Eine besondere Kommunikationskompetenz ist gefordert, wenn Patienten über den Nutzen von Früherkennungsuntersuchungen informiert werden müssen. Hier herrschen sowohl bei Ärzten wie auch in der Allgemeinbevölkerung oft falsche Vorstellungen. Dies betrifft z. B. die Vorhersagekraft von Screening-Tests, die oft relativ gering ist, weil viele falsch-positive Befunde auftreten.
Vorbeugen ist besser als heilen. Es erscheint vernünftiger, die Entstehung einer Erkrankung zu verhindern, als abzuwarten, bis ein Gesundheitsschaden eingetreten ist, der dann oft nicht mehr oder nur unvollständig wieder beseitigt werden kann. Obwohl dieser Gedanke allgemein akzeptiert ist, hat er noch wenig Eingang in das praktische Handeln in unserem Gesundheitssystem gefunden. Zwar nimmt die Zahl der Menschen zu, die Präventionsangebote wahrnehmen; aber noch immer wird nur ein kleiner Teil der Bevölkerung von solchen Angeboten erreicht. Sozial benachteiligte Gruppen nehmen diese seltener in Anspruch, ebenso Männer seltener als Frauen. Beispielsweise nimmt knapp die Hälfte der Frauen, aber nur ein Fünftel der Männer an der Krebsfrüherkennung teil. Eine positive Ausnahme sind die kindlichen Früherkennungsuntersuchungen, die von 90% der Kinder in Anspruch genommen werden.
312
Kapitel 10 · Förderung und Erhaltung von Gesundheit: Prävention
10.1.1
Formen der Prävention
Formen der Prävention
10
4 Primäre Prävention: Verhinderung der Entstehung einer Erkrankung. Beispiel: Lebensstiländerung (z. B. gesunde Ernährung, körperliche Aktivität), um einer koronaren Herzkrankheit vorzubeugen. Zielgruppe: Gesunde. 4 Sekundäre Prävention: Früherkennung von Krankheiten; Prävention von Krankheiten bei bestehenden Risikofaktoren. Beispiel: Mammographie, um eine Brustkrebserkrankung möglichst frühzeitig diagnostizieren und behandeln zu können. Zielgruppe: Risikopersonen. Neuerdings wird auch die Verhinderung von Krankheitsrezidiven (z. B. Reinfarkt) nach behandelter Ersterkrankung als Sekundärprävention bezeichnet. 4 Tertiäre Prävention: Verhütung von Verschlimmerungen und bleibenden Schäden bei schon bestehender Krankheit. Abmilderung des Verlaufs einer Krankheit und der Krankheitsfolgen (Rehabilitation). Beispiel: umfassendes Rehabilitationsprogramm (Ernährungsberatung, körperliches Training, medikamentöse Behandlung, Patientenschulung), um einem ungünstigen Verlauf der koronaren Herzkrankheit vorzubeugen und die körperliche Leistungsfähigkeit zu erhalten. Zielgruppe: Erkrankte.
Eine weitere Unterscheidung bezieht sich darauf, ob die Präventionsmaßnahme am individuellen Verhalten eines Menschen ansetzt (Verhaltensprävention; z. B. Lebensstiländerung) oder an den strukturellen Umgebungsbedingungen bzw. gesellschaftlichen Verhältnissen, die viele Menschen betreffen (Verhältnisprävention; z. B. Gurtpflicht im Auto, Rauchverbote, Jodierung/Fluoridierung des Speisesalzes). Aufwand und Ertrag. Etwa 80% der Herzinfarkte und 70% der Schlaganfälle sind durch verhaltensabhängige Risikofaktoren zu erklären und damit prin-
zipiell vermeidbar. Dazu müssten allerdings sehr viele noch gesunde Menschen, von denen jeder nur ein geringes Risiko trägt, ihr Verhalten ändern. Ein Paradox der Prävention besteht deshalb darin, dass theoretisch kleine Effekte bei sehr vielen Menschen (Allgemeinbevölkerung) mehr Ertrag bringen könnten als große Effekte bei wenigen Menschen (Hochrisikopersonen). Maßnahmen zur primären Prävention sind aber sehr aufwendig und kostspielig, weil prinzipiell die ganze Bevölkerung eingeschlossen werden muss. Der Nachweis der Wirksamkeit konnte für viele Präventionsmaßnahmen bisher allerdings nicht erbracht werden. Weil in der gesunden Allgemeinbevölkerung die Inzidenz selbst der häufigeren Erkrankungen insgesamt sehr niedrig ist, lassen sich auch nur geringe absolute Risikoreduktionen erzielen. Dies bedeutet, dass zwar sehr viele Menschen eine Präventionsmaßnahme erhalten müssen, jedoch nur einige wenige davon profitieren, indem bei ihnen die Entstehung einer Erkrankung verhindert wird (ein weiteres Präventionsparadox). Betrachtet wird jeweils das Verhältnis zwischen der Zahl derjenigen, die eine Präventionsmaßnahme durchführen, und der Zahl derjenigen, bei denen eine Erkrankung verhindert wird (number needed to treat, NNT; 7 Kap. 3.7.5). In der Primärprävention ist die NNT groß, also ungünstig: Viele müssen behandelt werden, damit wenige etwas davon haben. Die NNT fällt deutlich günstiger aus, wenn man im Rahmen der sekundären Prävention anstrebt, das Rezidiv einer Erkrankung zu verhindern (z. B. Verhinderung eines Reinfarkts bei Herzinfarktpatienten). Dies liegt daran, dass KHK-Patienten, die Zielgruppe der sekundären Prävention, von vornherein ein viel größeres Risiko haben, erneut einen Herzinfarkt zu erleiden, als gesunde Angehörige der Allgemeinbevölkerung, die Zielgruppe der primären Prävention. Auch wenn also der potenzielle Ertrag einer Präventionsmaßnahme aus Sicht der Gesellschaft in der primären Prävention größer sein dürfte, lassen sich Menschen leichter zu Maßnahmen der sekundären Prävention motivieren, weil ihr Risiko für ein unerwünschtes Ereignis (Krankheitsrezidiv) viel größer ist und sie deshalb auch persönlich mehr von einer Intervention profitieren können. Vor diesem Hintergrund sollten auch primärpräventive Programme auf diejenigen Menschen zugeschnitten werden, die
313 10.2 · Modelle gesundheitsrelevanten Verhaltens
10
mindestens einen Risikofaktor (Rauchen, Übergewicht etc.) aufweisen, um den Aufwand möglichst zielgerichtet einzusetzen. In der Gesundheitsökonomie betrachtet man die Kosten pro gewonnenem Lebensjahr (life years saved, LYS). Programme mit Kosten von weniger als 10.000 Euro/LYS gelten als eindeutig effizient, mit 10.000–50.000 Euro/LYS als gleichwertig mit akutmedizinischen Interventionen. Beispiele für effiziente Programme: Ernährungsumstellung bei Hypercholesterinämie, Raucherentwöhnungsprogramme. v Lernziele Primäre, sekundäre, tertiäre Prävention: Effizienz, number needed to treat; Verhaltens- und Verhältnisprävention.
Ì Vertiefen Hurrelmann T, Klotz T, Haisch J (Hrsg) (2004) Lehrbuch Prävention und Gesundheitsförderung. Huber, Bern (breiter Überblick zu Grundlagen und Anwendungen in unterschiedlichen Feldern) Walter U, Schwartz FW (2003) Prävention. In: Schwartz FW, Badura B, Busse R, Leidl R, Raspe H, Siegrist J, Walter U (Hrsg) Das Public Health-Buch. Gesundheit und Gesundheitswesen. 2. Aufl. Urban & Fischer, München (gute Einführung in die Thematik)
. Abb. 10.1. Das Health-Belief-Modell
modellen (s. unten), in denen angenommen wird,
dass eine Person unterschiedliche Motivationsstufen auf dem Weg zum Gesundheitsverhalten durchläuft, die klar voneinander abgehoben werden können. Der Unterschied ist insofern wichtig, als es auf der Basis kontinuierlicher Modelle lediglich darauf ankommt, ganz allgemein die verschiedenen Einflussfaktoren zu fördern, um die Verhaltenswahrscheinlichkeit zu erhöhen. Stadienmodelle legen hingegen nahe, auf jeder Motivationsstufe maßgeschneiderte Interventionen einzusetzen. Health-Belief-Modell. Das Health-Belief-Modell
10.2
Modelle gesundheitsrelevanten Verhaltens
(Modell gesundheitlicher Überzeugungen; Rosenstock, Becker) wurde schon in den 50er Jahren entwickelt (. Abb. 10.1).
10.2.1
Kontinuierliche Modelle der Verhaltensänderung
Einflussfaktoren auf das Gesundheitsverhalten nach dem Health-Belief-Modell
In der Gesundheitspsychologie gibt es eine Reihe von Theorien, die Einflussfaktoren auf das Gesundheitsverhalten beschreiben. Diese Theorien unterscheiden sich zumeist darin, welche und wie viele Faktoren des Gesundheitsverhaltens sie aufführen und wie sie deren Wirkungsrichtung konzeptualisieren. Die folgenden Theorien können als kontinuierliche Modelle zusammengefasst werden. Kontinuierlich deshalb, weil sie annehmen, dass die Wahrscheinlichkeit für ein bestimmtes Gesundheitsverhalten kontinuierlich zunimmt, je stärker ausgeprägt die Einflussfaktoren sind, die auf dieses Verhalten wirken. Damit unterscheiden sie sich von Stadien-
4 Wahrgenommene Gesundheitsbedrohung. Diese setzt sich zusammen aus – der subjektiven Einschätzung des Schweregrads einer Krankheit und – der subjektiv wahrgenommenen persönlichen Anfälligkeit für die Erkrankung (subjektive Vulnerabilität); 4 Wahrgenommene Wirksamkeit des Gesundheitsverhaltens. Auch die Wirksamkeit des Gesundheitsverhaltens als Gegenmaßnahme gegen die Bedrohung setzt sich wieder aus zwei Komponenten zusammen: 6
314
Kapitel 10 · Förderung und Erhaltung von Gesundheit: Prävention
Zusätzlich spielen in diesem Modell situative Hinweisreize (cues to action) eine Rolle (z. B. Gesund-
nommenen Bedrohung sind zwar wirksam und sinnvoll, um Risikoverhalten zu ändern, reichen aber alleine nicht aus. Während man früher annahm, dass Furchtappelle schon als solche kontraproduktiv sind, weil sie lediglich Angst erzeugen und Verleugnungsprozesse auslösen würden, konnte inzwischen nachgewiesen werden, dass Angst vor einer Erkrankung eine wesentliche Bedingung zur Veränderung des Risikoverhaltens darstellt. Sie ist allerdings nur ein wichtiger Faktor: Das betroffene Individuum muss zusätzlich auch Strategien in die Hand bekommen, die Angst zu bewältigen, indem es sein Verhalten ändert.
heitskampagnen in den Medien oder Wahrnehmung von Symptomen wie Husten beim Rauchen).
Modell des geplanten Verhaltens. Die Theorie
– dem subjektiven Nutzen einer Maßnahme (z. B. Verringerung des Risikos für Lungenkrebs) und – den subjektiven Kosten oder Barrieren des Gesundheitsverhaltens (z. B. Gewichtszunahme, wenn man mit dem Rauchen aufhören würde).
10
! Wichtig in den Modellen gesundheitsrelevanten Verhaltens ist die subjektive Sicht des Betroffenen. Nicht die objektive Schwere der Krankheit, sondern seine persönliche Sichtweise oder Überzeugung von der Krankheitsschwere ist entscheidend. Nicht die objektive Wirksamkeit einer Präventionsmaßnahme, sondern seine subjektive Überzeugung, dass diese wirkt, ist für die Motivation bedeutsam.
Zum Health-Belief-Modell wurden sehr viele Untersuchungen durchgeführt, die jedoch zeigten, dass die genannten Einflussfaktoren nicht ausreichen, eine Änderung des Gesundheitsverhaltens zu erklären. Dies liegt daran, dass Einstellungen als solche keine gute Vorhersagekraft für Verhalten besitzen. Zwischen Einstellungen und Verhalten gibt es noch etwas Drittes, das erst den Zusammenhang zwischen beidem herbeiführt: die Intention (Absicht), d.h. die bewusste Entscheidung einer Person, ein bestimmtes Verhalten auszuführen, um ein bestimmtes Ergebnis zu erreichen. Furchtappelle. Furchtappelle (z. B. Warnhinweise
auf Zigarettenschachteln) zur Erhöhung der wahrge. Abb. 10.2. Theorie des geplanten Verhaltens
des geplanten Verhaltens (Theory of Planned Behavior; Ajzen; . Abb. 10.2) ist eine Weiterentwicklung der Theorie der Handlungsveranlassung (Theory of Reasoned Action; Fishbein und Ajzen). Das wichtigste Unterscheidungsmerkmal dieser beiden Modelle zum Health-Belief-Modell ist, dass nun die Intention, d. h. die Entscheidung, ein Verhalten auszuführen, als Bindeglied zwischen Einstellungen und Verhalten eingeführt wurde.
Einflussfaktoren auf die Intention nach dem Modell des geplanten Verhaltens 4 Einstellung: Wie bewerten Personen ein Verhalten? Welche Verhaltensergebnisse erwarten sie? (»Wenn ich regelmäßig jogge, schütze ich mich vor Krankheiten«); 4 subjektive Norm: Was erwarten andere Menschen von mir? (»Meine Freundin findet, dass ich regelmäßig joggen gehen sollte«); 4 wahrgenommene Verhaltenskontrolle: Wie leicht oder schwer fällt es mir, ein Verhalten auszuführen? (»Regelmäßig joggen zu gehen, ist für mich sehr gut möglich«).
315 10.2 · Modelle gesundheitsrelevanten Verhaltens
Der letzte Punkt, die wahrgenommene Verhaltenskontrolle, wurde in die Theorie des geplanten Verhaltens neu aufgenommen; sie war in der Theorie der Handlungsveranlassung noch nicht enthalten. Wahrgenommene Verhaltenskontrolle, also die Einschätzung, ein Verhalten auch ausführen zu können, ist dem Konzept der Selbstwirksamkeit bzw. Kompetenzerwartung sehr ähnlich (s. u.). In vielen Studien hat sich gezeigt, dass die Variablen der Theorie des geplanten Verhaltens die Intention zu einem Verhalten recht gut vorhersagen, das Verhalten selbst jedoch weniger gut. Offensichtlich fehlt also immer noch ein Bindeglied, das von der Intention zum tatsächlichen Verhalten führt (Intentions-Verhaltens-Lücke; s. u.). Modell der Selbstwirksamkeit bzw. der Kompetenzerwartung. Die sozial-kognitive Theorie (Bandura; . Abb. 10.3) enthält zwei Hauptkomponenten.
Komponenten der sozial-kognitiven Theorie 4 Selbstwirksamkeitserwartung (Kompetenzerwartung): Einschätzung der eigenen Kompetenz, ein Verhalten auch in schwierigen Situationen ausführen zu können (»Ich bin mir sicher, dass ich mich gesund ernähren kann, auch wenn ich mit meinen Freunden essen gehe«). 4 Handlungsergebniserwartung: Erwartung, durch eine Handlung ein bestimmtes Ergebnis erreichen zu können (»Wenn ich mich gesund ernähre, senke ich mein Risiko für einen Herzinfarkt«).
Es reicht also nicht aus, dass man überzeugt ist, mit einem Verhalten ein bestimmtes Ziel erreichen zu können (Handlungsergebniserwartung). Man muss darüber hinaus auch davon überzeugt sein, dieses
. Abb. 10.3. Modell der Selbstwirksamkeit
10
Verhalten ausführen zu können (Selbstwirksamkeit). Denn was nützt es, wenn ich weiß, was zu tun ist, mir es aber nicht zutraue, dies auch zu tun? Die Selbstwirksamkeit hat sich als wichtigste Einflussgröße auf das Gesundheitsverhalten erwiesen. Sie ist in vielen Lebensstilbereichen vorhersagekräftig, wie Zigarettenrauchen, gesunde Ernährung, körperliche Aktivität und Kondombenutzung. Menschen, die eine hohe Selbstwirksamkeit besitzen, setzen sich höhere Ziele, beginnen schneller mit dem Gesundheitsverhalten, strengen sich mehr an und geben nicht so schnell auf. Auch von einem Rückschlag erholen sie sich schneller. Selbstwirksamkeit wird vor allem dadurch gefördert, dass man einmal die Erfahrung gemacht hat, eine Handlung erfolgreich ausführen zu können. Deshalb sind Ausprobieren, praktisches Üben und Verhaltenstraining wichtige Bestandteile von Interventionen zur Änderung des Gesundheitsverhaltens. Je stärker eine Präventionsmaßnahme derartige Bestandteile enthält und dadurch die Selbstwirksamkeit fördert, umso erfolgreicher ist sie auch. ! Ein zentrales Merkmal der meisten Theorien ist die individuelle Selbstwirksamkeitserwartung. Damit ist die Überzeugung gemeint, das Gesundheitsverhalten auch unter widrigen äußeren Umständen durchführen zu können. Synonym mit Selbstwirksamkeitserwartung (kurz: Selbstwirksamkeit) ist Kompetenzerwartung. Theorie der Schutzmotivation. Die Theorie der
Schutzmotivation (Protection Motivation Theory; Rogers; . Abb. 10.4) wurde entwickelt, um die Wirkung von Furchtappellen auf die Ausbildung einer Motivation, sich vor Risiken zu schützen, zu untersuchen. Diese Schutzmotivation wird als Bindeglied zwischen Einstellungen einerseits und dem tatsächlichen Schutzverhalten andererseits aufgefasst. Darüber hinaus werden auch die Handlungskosten (z. B. Anstrengung, die es kosten würden, mit dem Rauchen aufzuhören) und der Handlungsnutzen (z. B. Entspannung beim Rauchen oder Zusammensein mit Freunden) berücksichtigt (der Einfachheit halber nicht in der Abbildung aufgeführt). Auch in diesem Modell kehren viele Variablen wieder, die wir schon kennen: Selbstwirksam-
316
Kapitel 10 · Förderung und Erhaltung von Gesundheit: Prävention
. Abb. 10.4. Theorie der Schutzmotivation
Einflussfaktoren auf die Schutzmotivation
10
4 Bedrohungseinschätzung. Diese setzt sich zusammen aus – dem wahrgenommenen Schweregrad der Erkrankung und – der wahrgenommenen Vulnerabilität. 4 Bewältigungseinschätzung. Diese setzt sich zusammen aus – der wahrgenommenen Handlungswirksamkeit und – der Selbstwirksamkeitserwartung.
keit, Ergebniserwartung (Handlungswirksamkeit) und Intention (Schutzmotivation). Es zeigte sich, dass eine hohe Vulnerabilität nur dann einen positiven Effekt auf die Schutzmotivation hat, wenn die Personen auch gleichzeitig über eine hohe Selbstwirksamkeitserwartung verfügten, also zuversichtlich waren, ein Bewältigungsverhalten ausführen zu können. Doch auch bei dieser Theorie stellte sich heraus, dass zwar die Schutzmotivation selbst vorhergesagt werden konnte, weniger jedoch das Verhalten. Der Übergang von der Intention zum Verhalten geschieht durch den Prozess der Volition, in welchem das Handeln geplant wird. Dieser Schritt wird erst in den Stadienmodellen konzeptualisiert, die weiter unten vorgestellt werden.
die ihnen ähnlich sind, vergleichen. Dies tun sie vor allem dann, wenn sie in Bezug auf ihre eigene Person unsicher sind. Bei der Konstruktion eines Selbstbilds und der Bewertung des eigenen Verhaltens vergleicht man sich gerne mit den Menschen der eigenen Umgebung. Ziel des Vergleichs ist es, ein positives Selbstbild zu entwerfen. Eine positive Bewertung des eigenen Gesundheitsverhaltens (z. B. Nichtrauchen) durch die Bezugsgruppe stabilisiert dieses. Umgekehrt kann gesundheitsschädliches Verhalten (Rauchen, Drogenkonsum) in der Adoleszenz durch die Gruppe der Gleichaltrigen (peer group) gefördert werden, weil es das Gefühl der Zusammengehörigkeit und das Selbstwertgefühl steigert. Auch Vergleiche mit denjenigen Menschen, die schlechter dran sind (Abwärtsvergleiche), spielen eine große Rolle. Sie ermöglichen es dem Betroffenen, seine eigene Situation positiv zu bewerten. In manchen Situationen, wie bei der Bewältigung einer schweren Erkrankung, kann dies hilfreich sein. Geht es jedoch darum, das Gesundheitsverhalten zu ändern, werden Abwärtsvergleiche eher eine stabilisierende Tendenz haben. Wenn ein Bekannter noch viel mehr raucht oder Alkohol trinkt als der Betroffene, wird ihn das nicht gerade motivieren, sein eigenes Verhalten zu ändern.
10.2.2
Stadienmodelle der Verhaltensänderung
Modell des sozialen Vergleichsprozesses. Die
Theorie sozialer Vergleichsprozesse (Festinger) besagt, dass Menschen ihre eigenen Einstellungen bewerten, indem sie sich mit anderen Menschen,
Intentions-Verhaltens-Lücke. Der Zusammen-
hang zwischen der Absicht, ein Verhalten auszuführen, und dem tatsächlichen Verhalten ist nicht
317 10.2 · Modelle gesundheitsrelevanten Verhaltens
sehr stark. Dies liegt nicht allein daran, dass die Verhaltensmotivation nicht groß genug ist, sondern eher an Problemen bei der Umsetzung der Intention in das Verhalten. Um ein Verhalten auszuführen, ist es notwendig, die Ausführung genau zu planen. Wann, wo und wie will ich meine Intention, dreimal in der Woche joggen zu gehen, in die Tat umsetzen? Welche Schwierigkeiten können dabei auftreten? Diese Fragen stehen im Mittelpunkt der Stufenmodelle des Gesundheitsverhaltens. Grundannahmen von Stadienmodellen 4 Menschen durchlaufen auf dem Weg zu einem günstigen Gesundheitsverhalten mehrere voneinander abgrenzbare Stufen (Stadien, Phasen). 4 Sie tun dies in einer bestimmten Reihenfolge, weil jede Stufe auf der anderen aufbaut. 4 Für den Übergang von einer Stufe in die nächste sind jeweils andere Wirkfaktoren von Bedeutung.
Deshalb sollten in Präventionsprogrammen die Interventionen genau auf die jeweilige Motivationsstufe zugeschnitten sein, in der sich eine Person befindet. Zwei Stadienmodelle werden vorgestellt: 4 das Transtheoretische Modell der Verhaltensänderung (TTM), 4 das Prozessmodell gesundheitlichen Handelns (HAPA-Modell). Transtheoretisches Modell der Verhaltensänderung. Das Transtheoretische Modell der Verhaltens-
änderung (TTM; Prochaska und DiClemente) ist das am meisten verbreitete Stadienmodell. Es wurde im Bereich der Raucherentwöhnung entwickelt, inzwischen aber auch auf viele andere Gesundheitsverhaltensweisen übertragen. Seinen Namen hat es daher, dass es Bestandteile aus unterschiedlichen Theorien integriert.
10
TTM-Stadien 4 Absichtslosigkeit: Die Person ist sich des problematischen Verhaltens noch gar nicht bewusst. 4 Absichtsbildung: Die Person beschäftigt sich mit ihrem Problemverhalten und überlegt, dieses innerhalb der nächsten sechs Monate zu ändern. 4 Vorbereitung: Die Person hat sich entschieden, ihr Verhalten innerhalb des nächsten Monats zu ändern, und plant ihr weiteres Vorgehen. In dieser Stufe wird die Intention gebildet. 4 Handlung: Die Person initiiert das neue Verhalten und führt es erfolgreich aus, jedoch noch keine sechs Monate lang. 4 Aufrechterhaltung: Die Person hat das neue Gesundheitsverhalten inzwischen sechs Monate lang erfolgreich ausgeführt.
Manchmal wird noch ein sechstes Stadium, Termination, hinzugefügt: Die Person hat ihr Verhalten fünf Jahre lang erfolgreich ausgeübt und verspürt keine Versuchung mehr, in ihr altes Risikoverhalten zurückzufallen. Das neue Verhalten ist zur Gewohnheit geworden. Die Phasen des TTM können durchaus mehrfach durchlaufen werden, Rückfälle sind möglich. Mit zunehmendem Fortschreiten von einer Stufe zur nächsten nimmt die Selbstwirksamkeitserwartung zu. Vor allem der Schritt von der Vorbereitung zur Handlung wird durch eine hohe Selbstwirksamkeitserwartung gefördert. Wer glaubt, seine Absicht in die Tat umsetzen zu können, tut dies auch eher. Mit zunehmender Motivationsstufe werden auch immer mehr Vorteile des Gesundheitsverhaltens und immer weniger Nachteile wahrgenommen (Entscheidungsbalance = Differenz aus den gewichteten Vor- und Nachteilen). Die Autoren des TTM beschreiben des Weiteren zehn Veränderungsstrategien, die in den jeweiligen Phasen von den Personen genutzt werden. Beispielsweise werden in den ersten drei Phasen vor allem kognitive und affektive Prozesse für wichtig gehalten (z. B. Risikowahrnehmung, Motivationsklärung), ab der Phase der Handlung hingegen verhaltensorientierte
318
10
Kapitel 10 · Förderung und Erhaltung von Gesundheit: Prävention
Prozesse. Für das Rauchen ließ sich diese Zuordnung von Veränderungsprozessen zu den Phasen auch zeigen, für andere Bereiche des Gesundheitsverhaltens, wie z. B. körperliche Aktivität und Ernährung, jedoch nicht. In vielen Verhaltensbereichen befindet sich die Mehrzahl der Menschen noch in den unteren drei Stufen. Beispiel Sport: Absichtslosigkeit 14%, Absichtsbildung 16%, Vorbereitung 23%, Handlung 11%, Aufrechterhaltung 36%. Zur empirischen Bewährung des TTM ist zu sagen, dass sich in Querschnittsstudien die genannten Stufen meist abgrenzen lassen und auch die Zusammenhänge der Stufen mit der Selbstwirksamkeit bzw. Entscheidungsbalance oder den kognitiven Strategien (teilweise) nachweisen ließen. Inzwischen wurden auch Längsschnittsstudien durchgeführt, die die Abfolge der Stufen und die hierfür notwendigen Motivationsprozesse belegen sollten, und in experimentellen Studien wurde die Effektivität maßgeschneiderter, stufenbezogener Interventionen überprüft. Allerdings waren die Ergebnisse uneinheitlich. Prozessmodell gesundheitlichen Handelns. Das sozial-kognitive Prozessmodell gesundheitlichen Handelns (Health Action Process Approach, HAPA; Schwarzer) unterscheidet eine motivationale Phase, in der die Intention gebildet wird, eine volitionale Phase, in der die Handlung geplant wird, und eine aktionale Phase, in der die Handlung ausgeführt und aufrechterhalten wird. Für die Bildung der Intention werden die bekannten Einflussfaktoren herangezogen: Risikowahrnehmung (subjektiver Schwergrad der Krankheit, Vulnerabilität), Handlungsergebniserwartung (»Durch mein Verhalten kann ich das Risiko vermindern«) und Selbstwirksamkeitserwartung (»Ich bin in der Lage, das Verhalten auszuführen«). Im Prozessmodell gesundheitlichen Handelns wird genauer beschrieben, welche Rolle die Handlungsplanung spielt. Damit wird die Lücke zwischen der Intention, also der Handlungsabsicht, und dem tatsächlichen Handeln (Intentions-Verhaltens-Lücke) geschlossen. In einer Studie mit Herzinfarktpatienten in der Rehabilitation konnte gezeigt werden, dass diejenigen Patienten, die das Gesundheitsverhalten (körperliche Aktivität) kon-
kret planten (»Wann-Wo-Wie-Pläne«), später im Alltag auch eher körperlich aktiv waren. Neben der Handlungsplanung ist die Bewältigungsplanung wichtig: Die Patienten werden aufgefordert, sich schon im Vorhinein kritische Situation vorstellen, die sie daran hindern könnten, das geplante Gesundheitsverhalten in die Tat umzusetzen (z. B. »Ich will joggen gehen, aber es regnet.«), und sich dann konkrete Bewältigungsstrategien vorzunehmen, um diese etwaigen Hindernisse zu überwinden (z. B. »Dann gehe ich statt dessen schwimmen.«). Dadurch kann verhindert werden, dass das Verhalten gleich wieder aufgegeben wird, wenn einmal etwas dazwischen kommt. v Lernziele Gesundheitspsychologische Modelle; kontinuierliche Modelle: Health-Belief-Modell, Modell des geplanten Verhaltens, Modell der Selbstwirksamkeit, Theorie der Schutzmotivation; Stadienmodelle: transtheoretisches Modell der Verhaltensänderung, Prozessmodell gesundheitlichen Handelns.
Ì Vertiefen Knoll N, Scholz U, Rieckmann N (2005) Einführung in die Gesundheitspsychologie. Reinhardt, München (verständliche Darstellung der Modelle des Gesundheitsverhaltens)
10.3
Primäre Prävention
Befragt man die Allgemeinbevölkerung nach ihren Wertvorstellungen, wird an erster Stelle meist Gesundheit genannt. Gesundheit hat für das Individuum wie auch für die Gesellschaft einen hohen Wert. Diese Wertschätzung zeigt sich zum einen an den hohen Ausgaben für das Gesundheitswesen auf gesellschaftlicher Ebene (wobei diese Ausgaben wahrscheinlich noch stark ansteigen würden, wenn sie nicht durch immer neue Kostendämpfungsgesetze und Budgetierungen daran gehindert würden). Sie zeigt sich auch in der individuellen Bereitschaft, Geld für Gesundheitsleistungen und Wellness-Produkte auszugeben. Gesundheit ist ein Wachstumsmarkt. Analog zur wirtschaftswissenschaftlichen Bezeichnung »Humankapital« für Ausbildung, Fähigkeiten und Wissen eines Menschen
319 10.3 · Primäre Prävention
kann man auch von Gesundheit als einem »persönlichen Kapital« sprechen. In jüngster Zeit haben sich Bestrebungen nicht nur auf die Vermeidung von Krankheit, sondern auch auf die Vermehrung von Gesundheit gerichtet. Die Idee hinter diesen Bestrebungen ist, dass eine unspezifische Stärkung der Gesundheit auf breiter Linie vor Krankheiten schützen sollte (Protektion). Man ging auf die Suche nach Eigenschaften von Menschen, die trotz widriger äußerer Umstände gesund bleiben (Resilienz). Man versuchte, Einstellungen und Lebensbewältigungsstrategien zu identifizieren, die Gesundheit erzeugen (Salutogenese, 7 Kap. 2.4.2).
10.3.1
Gesundheitsbezogener Lebensstil
Auch im Zeitalter der Genomik gilt: Die häufigsten chronischen Krankheiten sind ganz überwiegend durch einen ungünstigen Lebensstil bedingt. Ein prägnantes Beispiel: Raucher sterben im Durchschnitt zehn Jahre früher als Nichtraucher. ! Verhaltensabhängige, modifizierbare Risikofaktoren, wie Rauchen, Bewegungsmangel und ungesunde Ernährung, besitzen den größten Anteil an der Entstehung häufiger chronischer Krankheiten.
55% des bevölkerungsbezogenen attributablen Sterblichkeitsrisikos gehen auf Lebensstilfaktoren (Rauchen, Bewegungsmangel, Übergewicht) zurück. Deshalb kann man durch einen gesundheitsförderlichen Lebensstil sein Risiko reduzieren. Nichtrauchen, eine gesunde Ernährung (mediterrane Diät), moderate körperliche Aktivität von 30 min fast täglich sowie mäßiger Alkoholkonsum reduzieren die Mortalität, das kardiovaskuläre Risiko (koronare Herzkrankheit, Herzinfarkt, Schlaganfall), das Risiko für Diabetes mellitus Typ 2 und das Krebsrisiko. Auch wer erst im Alter von 50 Jahren aufhört zu rauchen, halbiert sein Lungenkrebsrisiko und gewinnt viele Lebensjahre. Körperliche Aktivität schützt zudem vor Krankheiten des Bewegungsapparats (chronische Rückenschmerzen, altersbedingte Stürze). In den westlichen Ländern haben jedoch nur wenige Menschen einen gesundheitsförderlichen Lebensstil.
10
Rauchen. Rauchen ist der Risikofaktor Nummer 1.
Jeder dritte Erwachsene raucht, jeder zehnte stark. Bei Männern ist die Tendenz leicht rückläufig, bei Frauen, insbesondere jungen Frauen, zunehmend. Über 80% der Raucher erfüllen die Kriterien der internationalen Klassifikationssysteme für Abhängigkeit. Auch Passivrauchen erhöht Krankheitsrisiken. Gefährdet sind vor allem Kinder und Jugendlichen im Haushalt rauchender Eltern. Bewegung. Nur 13% der erwachsenen Bevölkerung
sind an mindestens 3 Tagen/Woche eine halbe Stunde körperlich aktiv, wie es empfohlen wird. Alter und soziale Schicht sind starke Einflussfaktoren: Jüngere Menschen und Angehörige von Mittel- und Oberschicht treiben mehr Sport. Jedoch gibt die überwiegende Mehrheit der Befragten an, im Beruf oder zu Hause mindestens 30 min täglich mittelschwere (Putzen, Radfahren) oder sogar anstrengende Tätigkeiten (Lasten tragen, Leistungssport) auszuüben. Übergewicht. Die Hälfte der Männer und ein Drit-
tel der Frauen sind übergewichtig (BMI 25-29,9). Weitere 17% der Männer und 20% der Frauen leiden an einer Adipositas (BMI 30 und mehr), mit zunehmender Tendenz. Normalgewichtig sind also nur ein Drittel der Männer und die Hälfte der Frauen. Übergewicht nimmt mit dem Alter zu und ist in den unteren sozialen Schichten häufiger. Als Folge des Übergewichts leiden 36% der Frauen und 31% der Männer unter einer Hypercholesterinämie. Eine arterielle Hypertonie weisen 40% der Frauen und 50% der Männer auf. Sie wird jedoch viel seltener auch erkannt und behandelt. Ernährung. Nur 14% der Frauen und 2% der Män-
ner nehmen, wie empfohlen, am Tag fünf handtellergroße Portionen Obst oder Gemüse zu sich. Andere gesundheitsschädliche Verhaltensweisen, wie illegaler Drogenkonsum und problematischer Medikamentengebrauch, steigen an. Vor allem in Pubertät und Adoleszenz, in der die meisten Menschen zum ersten Mal Kontakt mit gesundheitsschädlichem Verhalten wie Zigarettenrauchen, Alkohol- oder Drogenkonsum haben, spielen Gruppendruck, soziale Normen innerhalb der peer group und Sanktionen (z. B. ausgeschlossen zu werden) eine Rolle (7 Kap. 4.8.1).
10
320
Kapitel 10 · Förderung und Erhaltung von Gesundheit: Prävention
10.3.2
Praktisches Vorgehen bei der Motivierung
Wie können nun Personen, bei denen bereits ein verhaltensbezogener Risikofaktor vorliegt, zu einem gesundheitsförderlichen Lebensstil motiviert werden? Bei der Überprüfung der verschiedenen Modelle konnte gezeigt werden, dass eine Verhaltensänderung umso wahrscheinlicher ist, je höher die Selbstwirksamkeitserwartung, die Handlungskompetenzen und die individuell wahrgenommenen Vorteile sind bzw. je weniger bedeutsam die Nachteile der Verhaltensänderung eingeschätzt werden. Diese Variablen können z. B. durch Information, Diskussion, das Anknüpfen an eigene Erfahrungen, Üben neuer Verhaltensweisen und den Einsatz von Selbstmanagementstrategien positiv beeinflusst werden. Dabei sollte ein nichtkonfrontativer Beratungsstil bevorzugt werden. Berater und Patient sollten gemeinsam Ziele und Entscheidungen erarbeiten (empowerment). Als Methoden können Prozesse des operanten Lernens (unmittelbare Verknüpfung des Gesundheitsverhaltens mit positiven Konsequenzen, z. B. sich wohl fühlen nach Sport) sowie des Modelllernens (Vorbilder, z. B. bekannte Sportler gegen Drogen) eingesetzt werden. Wichtig ist, dass nicht nur die Einstellung zum Risikoverhalten verändert wird (z. B. »Ich will mit dem Rauchen aufhören«), sondern konkrete Handlungsalternativen erarbeitet werden (z. B. »In der Arbeitspause esse ich einen Apfel, statt zu rauchen«). Die Motivierende Gesprächsführung (motivational interviewing) ist eine patientenzentrierte Beratungstechnik, in der der Patient seine erlebten Vor- und Nachteile der Verhaltensänderung reflektiert. Sie basiert auf Empathie und aktivem Zuhören. Die Erhöhung der intrinsischen Motivation ist Ziel der Beratung (d.h. nicht für den Therapeuten oder den Ehepartner, sondern aus eigenem Antrieb etwas am Lebensstil zu ändern). Ohne den Patienten durch Beweisführungen und Argumente überzeugen zu wollen, werden im Gespräch die widersprüchlichen Einstellungen des Patienten einfühlend erarbeitet (am Beispiel eines Alkoholabhängigen: »Ich will einerseits weiter Trinken. Andererseits sehe mich selbst als sportlichen, gesunden Menschen, habe aber durch die Trinkerei bereits gesundheitliche Schäden.«).
Entscheidend ist, wie der Therapeut mit dieser Ambivalenz des Patienten umgeht: Wenn er in der
Richtung der erwünschten Seite des Konflikts (mit dem Trinken aufhören) Druck macht, wird der Patient die andere Seite des Konflikts (alles beim Alten zu lassen) verteidigen, um das bisherige Gleichgewicht aufrechterhalten; er schlägt sich also auf die Seite, seinen Lebensstil so zu belassen, wie er ist. Deshalb wird durch Druck in Richtung einer Veränderung eher das Gegenteil bewirkt, und alles bleibt beim Alten. Widerstand des Patienten gegen die Vorschläge des Therapeuten kann also als Zeichen einer Dissonanz in der Therapeut-Patient-Beziehung verstanden werden, die durch Druck oder zu starke Konfrontation entstanden ist. Der Therapeut sollte dem Patienten lediglich helfen, die beiden Seiten des Konflikts herauszuarbeiten, die Auflösung aber dem Patienten überlassen. Wenn der Therapeut sich in dieser Situation eher auf die Seite des Widerstands stellt, also die »guten Gründe« herausstellt, die der Patient hat, an seinem Verhalten nichts zu ändern, wird der Patient eher wieder den Veränderungswunsch betonen. Der Veränderungswunsch kommt von innen, wenn die Diskrepanz zwischen dem IstZustand und den Zielen groß genug geworden ist. Der Therapeut fokussiert dann die Stärken des Patienten. Frühere Abstinenzversuche und Erfolge werden genutzt, um die Selbstwirksamkeit zu fördern und konkrete Handlungspläne zu erarbeiten. Bei der stufenspezifischen Beratung nach dem Transtheoretischen Modell werden Personen je nach ihrer aktuellen Motivationsstufe unterschiedlich beraten, um den Wechsel in die nächste Stufe zu fördern, z. B. in der Stufe Absichtslosigkeit durch Informationsvermittlung und Wecken eines Problembewusstseins, in der Stufe der Absichtsbildung durch Klären der ambivalenten Motivation und Herausarbeiten des »Warum?«, in der Stufe der Vorbereitung durch Fördern der Selbstwirksamkeit und Herausarbeiten des »Wie?« (Veränderungsplan), und in den Stufen Handlung und Aufrechterhaltung durch positive Verstärkung (Lob) und Rückfallmanagement. Im Prozessmodell gesundheitlichen Handelns (HAPA-Modell) werden konkrete Handlungspläne (»Wann-Wo-Wie-Pläne«: »Was werde ich konkret tun, wann, wo und wie?«) als therapeutische Techniken eingesetzt, um die Lücke zwischen Intention
321 10.4 · Sekundäre Prävention
und Handlung zu schließen (z. B. »Jeden Dienstag und Donnerstag fahre ich mit dem Fahrrad zur Arbeit, jeden Freitagabend treffe ich mich mit meinen Freunden auf dem Sportplatz zum Fußball«). Schwierigkeiten, die beim Versuch, die Vorsätze in die Tat umzusetzen, auftreten können, werden schon im Vorhinein angesprochen, um konkrete Lösungen zu finden (Bewältigungspläne). Psychosoziale Stressbelastung und gesundheitsschädigendes Verhalten. Risikoverhalten wie Rau-
chen oder Alkoholmissbrauch wird oft durch Stresssituationen ausgelöst. Es bewirkt dann eine kurzfristige Entspannung. In diesen Situationen ist die Bewältigungskompetenz einer Person gefordert. Kann sie die Stressbelastung erfolgreich meistern, wird ihre Selbstwirksamkeit ansteigen und die Wahrscheinlichkeit für einen Rückfall sinken. Gelingt die Bewältigung hingegen nicht, sinkt die Selbstwirksamkeit und das Suchtverhalten wird verstärkt. In dieser Situation ist wichtig, wie die Abstinenzverletzung attribuiert wird. Bei internaler (»Ich bin schuld!«), stabiler (»Das wird mir jedes Mal so passieren«) und globaler Attribution (»Ich bin ein völliger Versager«) kommt es zu weiterem Kontrollverlust: »Jetzt kann ich sowieso nichts mehr ändern«. Attribuiert die Person den Ausrutscher jedoch external und spezifisch (z. B. »Diese Prüfung war wirklich sehr anstrengend und schwierig«), kann es bei einem einmaligen Ausrutscher bleiben. Die betroffene Person sollte den Ausrutscher als ganz normalen Fehler in einem Bewältigungsprozess ansehen, der die Möglichkeit bietet, daraus für die Zukunft zu lernen. Es geht dann darum, persönliche Hochrisikosituationen zu erkennen und alternative Bewältigungsmöglichkeiten zu entwickeln und einzuüben. v Lernziele Lebensstil und Krankheitsrisiko; Motivierende Gesprächsführung, stufenspezifische Beratung, Handlungs- und Bewältigungspläne.
Ì Vertiefen Miller WR, Rollnick S (2009) Motivierende Gesprächsführung, 3. Aufl. Lambertus, Freiburg (ausführliche, anschauliche Darstellung der motivierenden Gesprächsführung)
10.4
10
Sekundäre Prävention
Unter sekundärer Prävention versteht man die Prävention von Krankheiten, wenn schon Risikofaktoren vorliegen, sowie die Früherkennung von Erkrankungen, mit dem Ziel, eine Krankheit rechtzeitig zu behandeln, solange sie noch keinen großen Schaden angerichtet hat. Außerdem wird die Verhinderung eines erneuten Krankheitsereignisses (z. B. eines Herzinfarktrezidivs) bei schon bestehender Erkrankung als sekundäre Prävention bezeichnet.
10.4.1
Risiko- und Schutzfaktoren
Risikofaktoren. Risikofaktoren sind pathogenetisch
wirksame Faktoren, deren Vorhandensein die Wahrscheinlichkeit für das Auftreten einer Erkrankung erhöht. Es ist nur dann sinnvoll, diese Risikofaktoren zu beseitigen, wenn sie tatsächlich einen kausalen Einfluss auf die Krankheitsentstehung ausüben. »Kausal« heißt nicht, dass die Krankheit immer und in jedem Fall entsteht, wenn ein Risikofaktor vorliegt. Meist trägt ein einzelner Risikofaktor nur einen kleinen Teil zur Krankheitsentstehung bei. Das liegt daran, dass Risikofaktoren nicht letzte Ursachen von Krankheiten sind, die immer und auf jeden Fall eine Krankheit auslösen, sondern lediglich Einflussfaktoren in einem komplexen Prozess multifaktorieller Verursachung. Wenn ein oder mehrere Risikofaktoren vorliegen, ist dadurch die Wahrscheinlichkeit größer, dass die Krankheit eintritt. Beispiel: Hypercholesterinämie fördert die Atherosklerose der Koronargefäße. Dadurch kann es im Zusammenwirken mit anderen Risikofaktoren im Lauf vieler Jahre zu einer Verengung (Stenose) der Herzkranzgefäße (koronare Herzkrankheit) kommen. Erst wenn die Verengung ein bestimmtes Ausmaß erreicht hat, empfindet der Patient belastungsabhängige Brustschmerzen (Angina pectoris). Erst bei einem vollständigen Verschluss einer Stenose durch einen Thrombus tritt schließlich ein Herzinfarkt ein. Es ist also ein weiter Weg vom Risikofaktor zum Krankheitsereignis. Risikoindikatoren. Faktoren, deren Vorhanden-
sein zwar mit einem erhöhten Risiko verbunden ist, die im kausalen Mechanismus jedoch keine Rolle
322
Kapitel 10 · Förderung und Erhaltung von Gesundheit: Prävention
spielen, nennt man Risikoindikatoren (marker). Sie enthalten zwar Information über den Krankheitsprozess, bringen ihn jedoch nicht ursächlich zustande (7 Kap. 1.1.5). Beispiel: Tumormarker wie das prostataspezifische Antigen (PSA) bei Prostatakarzinom. Risikoindikatoren zu therapieren, würde bedeuten, am Symptom zu kurieren. Der Zusammenhang zwischen Risikoindikatoren und der Krankheitsentstehung bzw. dem Krankheitsverlauf ist durch eine konfundierende Variable (confounder) bedingt, die tatsächlich kausal wirkt und auch mit dem Risikoindikator in Zusammenhang steht (7 Kap. 3.4.1). Der Risikoindikator hat seine Vorhersagekraft durch diese Assoziation mit einem kausalen Risikofaktor »geborgt«. Beispiel: Die Tumorausbreitung beeinflusst sowohl den Tumormarker als auch die Überlebenszeit. Deshalb ist die Konzentration des Tumormarkers vorhersagekräftig für die Überlebenszeit, obwohl keine kausale Wirkung zwischen beiden besteht.
10
Risikofaktor tragen, im Durchschnitt erhöht ist, so lässt sich daraus nicht ableiten, dass jeder einzelne Mensch mit einem Risikofaktor auch erkranken wird. Ob es den Einzelnen trifft oder nicht, lässt sich daraus nicht mit Sicherheit ableiten. Dasselbe gilt auch für genetische Risiken, wie sie in der prädiktiven Medizin untersucht werden (7 Kap. 8.5). So beträgt beim hereditären Brustkrebs das Risiko, im Laufe ihres Lebens an Brustkrebs zu erkranken, für eine Frau, die ein disponierendes Gen trägt, je nach Studie bis zu 85%. Für die einzelne Frau ist jedoch derzeit nicht klar auszumachen, ob sie zu den 85% gehören wird, die an Brustkrebs erkranken werden, oder zu den 15%, die gesund bleiben. Umgekehrt gilt für die Risikoreduktion, die man durch eine präventive Maßnahme erreichen kann, ebenfalls, dass man nicht im Vorhinein sagen kann, ob eine einzelne Person von einer Maßnahme profitieren wird oder nicht, selbst wenn man auf der Gruppenebene eine Risikoreduktion erzielt (number needed to treat; 7 Kap. 3.7.5).
WHO-Programm Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hatte in ihrem Weltgesundheitsbericht von 2002 »Risiken senken – gesundes Leben fördern« für die industrialisierten Länder sieben Hauptrisikofaktoren definiert, die die meisten vorzeitigen Todes- und Krankheitsfälle hervorrufen: 4 Bluthochdruck, 4 Tabakkonsum, 4 erhöhter Serumcholesterinspiegel, 4 Übergewicht, 4 zu geringer Obst- und Gemüseverzehr, 4 Bewegungsarmut, 4 Alkoholkonsum.
10.4.2
Diskrepanz zwischen Einstellung und Verhalten
Auch wenn ein Mensch eine positive Einstellung gegenüber einem bestimmten Gesundheitsverhalten hat, heißt dies noch lange nicht, dass er das entsprechende Verhalten auch ausführt. Ganz im Gegenteil, hier können deutliche Diskrepanzen bestehen. Umgekehrt wissen viele Raucher über die gesundheitsschädlichen Auswirkungen des Rauchens sehr gut Bescheid. Trotzdem hören sie nicht mit dem Rauchen auf. Wie kommt das? Widerstände gegen Verhaltensänderung. Nur
Schutzfaktoren. Schutzfaktoren sind Faktoren, die
vor Krankheit schützen und Gesundheit erhalten. Dazu gehören gesunde Ernährung, körperliche Aktivität, ausreichende Erholung, um Stress vorzubeugen, ein Genussverhalten ohne übermäßigen Alkohol und andere suchterzeugende Substanzen sowie ein unterstützendes soziales Netzwerk.
wenige Menschen, denen in einer Patientenschulung oder einem Gesundheitsförderungsprogramm eine Lebensstiländerung empfohlen wird, um Krankheiten vorzubeugen, setzen diese Empfehlung unmittelbar in ihr Handeln um. In den meisten Fällen reagieren die Betroffenen hingegen erst einmal mit Widerstand. Hierbei spielen mehrere Faktoren eine Rolle.
Gruppenbezogene vs. individuelle Betrachtung.
Auch wenn das Risiko für eine bestimmte Erkrankung in der Gruppe derjenigen Menschen, die einen
Risikowahrnehmung. Auch wenn sich das Risiko
für die Gruppe der Menschen, die eine Präventions-
323 10.4 · Sekundäre Prävention
maßnahme durchführen, reduziert, ist dies, wie gesagt, für den Einzelfall keineswegs gewährleistet. Der Nutzen für jeden Einzelnen ist also unsicher. Hinzu kommt, dass Menschen zu einem unrealistischen Optimismus neigen. Sie gestehen zwar durchaus zu, dass das Krankheitsrisiko bei Vorliegen eines Risikofaktors im Allgemeinen erhöht ist, nehmen sich selbst jedoch von diesem Risiko aus.
10
sich sogar schon Bedenken geregt, dass Menschen wegen ihres Risikoverhaltens diskriminiert werden könnten. Diese Tendenz wurde als healthism (in Analogie zu sexism oder racism) bezeichnet. Deshalb ist es ganz wichtig, dass die Betroffenen auf der Basis aller notwendigen Informationen und Fertigkeiten letztendlich selbst entscheiden können, ob sie ihr Verhalten ändern wollen oder nicht (empowerment; 7 Kap. 8.1.3).
Theorie der kognitiven Dissonanz (Festinger).
Wenn Menschen feststellen, dass ihr Verhalten im Widerspruch zu ihren Einstellungen steht, ändern sie, um diese kognitive Dissonanz zu reduzieren, häufig eher ihre Einstellungen als ihr Verhalten. Sie versuchen, Rechtfertigungen für ihr Verhalten zu finden. Dies ist besonders eindrucksvoll, wenn man Lungenkrebspatienten zu ihrem Rauchverhalten befragt. Beispiele: »Ich habe geraucht. Ob das Rauchen allerdings der Grund ist, bezweifle ich. Dazu gibt’s zu viele widersprüchliche Meinungen.« – »Es gibt Nichtraucher, die auch Lungenkrebs haben.« – »Sicher, Rauchen ist nicht gesund, das ist erwiesen. Aber ich glaube, dass die Umwelt mehr verschmutzt ist und mehr Krankheiten erzeugt als eine Zigarette.« Gewohnheiten. Das Risikoverhalten ist meist eine
Gewohnheit, die sich über viele Jahre verfestigt hat und deshalb nicht einfach aufgegeben werden kann. Jede Veränderung einer Routine erfordert Anstrengung. Außerdem ist das Risikoverhalten meist mit einem kurzfristigen Genuss verbunden, z. B. Entspannung durch Rauchen, während die negativen Konsequenzen (z. B. Lungenkrebs) erst weit in der Zukunft liegen. Verhalten wird jedoch eher von den kurzfristigen als den langfristigen Konsequenzen gesteuert. Deshalb ist es wichtig, den Betroffenen auch kurzfristig angenehme Konsequenzen des Gesundheitsverhaltens zu vermitteln (z. B. besserer Atem bei Aufgabe des Rauchens).
10.4.3
Einsatz von Screeningverfahren
Screening-Verfahren (Filtertests) dienen der Früherkennung von Krankheiten (sekundäre Prävention). Voraussetzungen für den Einsatz von Screening-Tests 4 Es muss sich um eine häufige Krankheit mit gravierenden Folgen handeln. 4 Es muss eine wirksame Therapie zur Frühbehandlung der Krankheit vorhanden sein, die von den Patienten akzeptiert wird. 4 Es muss ein guter Screening-Test vorhanden sein (zu den Gütekriterien s. u.). 4 Der Nutzen von Screening, Frühdiagnose und Frühtherapie muss durch randomisierte, kontrollierte Studien belegt sein.
Ein Screening ist dann effektiv, wenn durch die Frühdiagnose und Frühbehandlung Überlebenszeit und/oder Lebensqualität der Patienten verbessert werden. Die Überlebenszeitverlängerung muss über diejenige Zeit hinausgehen, die allein durch die Vorverlegung der Diagnose gewonnen wird (lead time). Denn diese Zeit ist keine zusätzliche Überlebenszeit, sondern lediglich zusätzliche Zeit, in der der Patient schon weiß, dass er krank ist. Nutzen und Schaden. Das am besten untersuchte
Reaktanz. Menschen reagieren auf Einschränku-
gen ihrer Freiheit mit Widerstand (Reaktanz). Sie lassen sich nicht gerne sagen, was sie zu tun haben, zumal nicht von Experten, die alles besser wissen. Menschen vorzuschreiben, wie sie zu leben haben, ist paternalistisch und entspricht nicht dem Bild eines autonomen Individuums. In den USA haben
Screening-Verfahren ist die Mammographie (Röntgenuntersuchung der Brust) zur Früherkennung von Brustkrebs. Ob sie mehr nutzt als schadet, ist allerdings gegenwärtig noch offen. Eine Metaanalyse (Cochrane Review) kommt auf der Basis von 7 Studien zu folgenden Aussagen: Wenn 2000 Frauen im Alter zwischen 50 und 69 Jahren regelmäßig über
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10
Kapitel 10 · Förderung und Erhaltung von Gesundheit: Prävention
10 Jahre am Brustkrebs-Screening teilnehmen, kann dadurch ein einziger Todesfall an Brustkrebs verhindert werden. Die number needed to treat beträgt also 2000. Umgekehrt bedeutet dies, dass 1999 Frauen keinen Nutzen vom Mammographie-Screening haben. Zugleich wird bei 10 Frauen Brustkrebs entdeckt und behandelt, der während der Lebenszeit der Frau klinisch nie manifest geworden wäre (Überdiagnose und Übertherapie). All diese Informationen müssen Frauen auf verständliche Weise vermittelt werden (Risikokommunikation), damit sie eine informierte Entscheidung darüber treffen können, ob sie an einem Früherkennungsprogramm teilnehmen wollen oder nicht. Die Effektivität des Screenings beim Prostatakarzinom ist zurzeit unbewiesen. Die Mortalität lässt sich dadurch nicht reduzieren; die Rate der Übertherapie (mit entsprechenden Nebenwirkungen wie Inkontinenz und erektile Dysfunktion) ist jedoch hoch. Viele Prostatakarzinome nehmen einen eher gutartigen, langsamen Verlauf und würden während der Lebenszeit des Trägers ohne Screening nie manifest werden.
10.4.4
Wichtige epidemiologische Begriffe zur Beurteilung von Screenings
Prävalenz. Je höher die Prävalenz einer Krankheit,
umso größer der Nutzen eines Screenings. Die Prävalenz ist definiert als die Häufigkeit einer Krankheit in einer Population. Man unterscheidet die »wahre« Prävalenz (Häufigkeit in der Allgemeinbevölkerung) von der Inanspruchnahmeprävalenz (Häufigkeit in Patientengruppen). Inanspruchnahmeprävalenz kann sich z. B. beziehen auf Patienten einer Allgemeinpraxis (Primärversorgung), eines allgemeinen Krankenhauses (sekundäre Versorgung) oder eines spezialisierten universitären Zentrums (tertiäres Zentrum). Punktprävalenz ist die Prävalenz während eines bestimmten Zeitpunkts (z. B. ein Tag, eine Woche oder ein Monat), Periodenprävalenz die Prävalenz während eines längeren Zeitraums (z. B. Einjahresprävalenz, Lebenszeitprävalenz). Man muss also bei der Prävalenz immer angeben, auf welche Population sie sich bezieht und auf welchen Zeitpunkt bzw. Zeitraum.
Psychische Nebenwirkungen. Die Lebensqualität
von Frauen, die sich einem Brustkrebs-Screening unterziehen, kann beeinträchtigt sein. Beim Mammographie-Screening treten nämlich viele falschpositive Befunde auf (falscher Alarm). Von 2000 Frauen, die 10 Jahre lang gescreent werden, erhalten 200 mindestens einmal einen falsch-positiven Befund. Die Wahrscheinlichkeit, dass eine Frau mit positivem Mammogramm auch Brustkrebs hat, ist sehr viel geringer als die Wahrscheinlichkeit, dass sie keinen Brustkrebs hat (s.u.). Unklare oder falschpositive Befunde erregen jedoch Angst. Zur psychischen Belastung kommen die körperlichen Nebenwirkungen durch die erforderlichen zusätzlichen diagnostischen Maßnahmen und Eingriffe hinzu. Die psychischen Nebenwirkungen lassen sich reduzieren, wenn die Ärzte die Frauen darüber informieren, wie häufig falsch-positive Ergebnisse sind, um die Angst etwas abzumildern.
Inzidenz. Inzidenz bezeichnet die Anzahl der Neuerkrankungen in einer Population während eines
bestimmten Zeitraums. Wenn es sich um einen längeren Zeitraum, wie z. B. ein Jahr, handelt und man alle während dieser Zeit neu aufgetretenen Krankheitsfälle sammelt, spricht man auch von kumulativer Inzidenz. ! Prävalenz und Inzidenz sind Häufigkeitsangaben. Sie können sich auf eine Krankheit beziehen, aber auch auf subjektive Beschwerden (z. B. Prävalenz von Rückenschmerzen) oder auf Risikofaktoren (z. B. Prävalenz von Übergewicht). Sensitivität und Spezifität. Zu den klassischen Kriterien für die Bewertung eines Screening-Tests gehören Sensitivität und Spezifität. Diese Kriterien können anhand eines Vier-Felder-Schemas erläutert werden (. Abb. 10.5). In diesem Vier-FelderSchema werden das tatsächliche Vorhandensein einer Krankheit, in unserem Beispiel einer Depression, (vorhanden oder nicht vorhanden) und das Ergebnis eines diagnostischen Tests, der positiv
325 10.4 · Sekundäre Prävention
10
. Abb. 10.5. Sensitivität, Spezifität, positiver und negativer Vorhersagewert anhand einer Vierfeldertafel
oder negativ ausfallen kann, miteinander kombiniert. Ein guter Test fällt positiv aus, wenn die Krankheit tatsächlich vorhanden ist (Feld a: richtig positiv), hingegen negativ, wenn die Krankheit tatsächlich nicht vorhanden ist (Feld d: richtig negativ). Da Tests aber keine perfekte Validität besitzen, kommen auch falsch-positive (Feld b) und falschnegative (Feld c) Ergebnisse vor. Das tatsächliche Vorhandensein der Krankheit, die durch den Test entdeckt werden soll, wird in Validierungsstudien durch das Ergebnis des Referenzstandards festgelegt. Referenzstandards können beispielsweise
pathologische Befunde (z. B. Biospie) oder Laborwerte sein. Im Bereich psychischer Störungen gibt es derartige objektive Kriterien (noch) nicht. Als Referenzstandard wird bei psychischen Störungen meist ein strukturiertes klinisches Interview nach ICD-10 oder DSM-IV verwandt. Sensitivität und Spezifität sind Kennwerte, die vom »tatsächlichen« Vorhandensein einer Krankheit ausgehen, d.h. von der Klassifikation der Probanden je nach dem Ergebnis des Referenzstandards. Die Sensitivität gibt an, wie viele von denjenigen Patienten, die eine Krankheit tatsächlich
326
Kapitel 10 · Förderung und Erhaltung von Gesundheit: Prävention
10 . Abb. 10.6. Sensitivität, Spezifität, positiver und negativer Vorhersagewert, graphisch illustriert (nach Faller 2005)
haben, vom Test auch als positiv identifiziert werden (. Abb. 10.5). Bezugsgruppe der Sensitivität ist also die Gruppe derjenigen Probanden, die die gesuchte Krankheit aufweisen. Die Sensitivität vermindert sich, wenn der Test viele falsch-negative Ergebnisse produziert, also in unserem Beispiel tatsächlich depressive Patienten nicht entdeckt. . Abbildung 10.6. veranschaulicht dies graphisch: In einer Gruppe von 100 Probanden (durch Kästchen dargestellt) sind 20 depressiv (ausgefüllte Kreise) und 80 nicht (leere Kreise) (Prävalenz 20%, . Abb. 10.6a). Das Testergebnis ist durch die Schattierung der Kästchen dargestellt (. Abb. 10.6 b). Für die Bestimmung der Sensitivität greifen wir die Untergruppe derjenigen 20 Probanden heraus, die die Krankheit besitzen (. Abb. 10.6c). Von diesen werden 80%, d.h. 16 von 20, richtig positiv klassifiziert, also als depressiv erkannt. Die Sensitivität beträgt also 80%. Bei 4 Probanden fällt der Test hingegen
falsch-negativ aus; sie werden als gesund klassifiziert, obwohl sie eigentlich krank sind. Die Spezifität gibt an, wie viele Patienten, die keine Depression haben, vom Test auch als negativ, d. h. unauffällig, klassifiziert werden (. Abb. 10.5). Ein Test mit hoher Spezifität erkennt Gesunde korrekt als gesund und fällt negativ aus. Die Spezifität vermindert sich, wenn der Test viele falsch-positive Ergebnisse produziert. Für die Bestimmung der Spezifität ist demnach die Untergruppe der Gesunden die Bezugsgröße. Wenn wir in unserem graphischen Beispiel die 80 Gesunden herausgreifen, so werden von diesen bei einer Spezifität von 80% 64 korrekt negativ getestet (. Abb. 10.6d). Die übrigen 16 werden fälschlicherweise als »krank« gemeldet, obwohl sie in Wirklichkeit gesund sind (falsch-positiv). Positiver und negativer Vorhersagewert (Prädiktionswert). Sensitivität und Spezifität gehen, wie
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gesagt, vom tatsächlichen Vorhandensein bzw. Nichtvorhandensein einer Krankheit aus, das in einer Validierungsstudie mittels eines Referenzstandards bestimmt wurde. Im klinischen Alltag haben wir einen derartigen Referenzstandard aber meist nicht regelmäßig zur Verfügung. Hier sind wir zunächst mit dem Testergebnis konfrontiert, das positiv oder negativ ausgefallen ist. Im Alltag steht man deshalb häufiger vor der umgekehrten Frage, ob denn diejenigen Patienten, die positiv getestet wurden, auch tatsächlich die entsprechende Krankheit besitzen, nach der der Test sucht (in unserem Beispiel eine Depression). Hierüber gibt der Vorhersagewert eines positiven Testergebnisses (auch positiver Vorhersagewert, positiver Prädiktionswert, positiver prädiktiver Wert oder positive Korrektheit genannt) Auskunft (. Abb. 10.5). Der Vorhersagewert eines positiven Tests gibt an, wie hoch der Anteil der tatsächlich depressiven Patienten unter den positiv getesteten Patienten ist. Bezugsgruppe ist jetzt die Gruppe der Testpositiven (nicht, wie bei der Sensitivität, diejenige der Kranken). In der graphischen Darstellung (. Abb. 10.6e) werden jetzt also die schattierten Kästchen herausgegriffen, und wir bestimmen, wie viele von ihnen auch in Wirklichkeit erkrankt sind (ausgefüllte Kreise): Bei 32 Probanden ist der Test positiv ausgefallen, aber nur 16 davon sind tatsächlich depressiv. Der positive Vorhersagewert beträgt somit 50%. Analog gibt der Vorhersagewert eines negativen Testergebnisses (syn. negativer Vorhersagewert, negativer Prädiktionswert, negativer prädiktiver Wert, negative Korrektheit) Auskunft darüber, ob Testnegative auch tatsächlich »gesund«, d.h. nicht depressiv, sind (. Abb. 10.5). Graphisch dargestellt, geht es jetzt um die Untergruppe der nichtschattierten Kästchen (. Abb. 10.6f). Von den 68 Testnegativen haben 64, d.h. 94%, auch tatsächlich keine Depression. Der negative Vorhersagewert beträgt also 94%. Vier Probanden wurden jedoch falsch-negativ getestet, d.h. der Test signalisiert »gesund«, obwohl de facto die gesuchte Störung vorliegt. Positiver und negativer Vorhersagewert sind (im Unterschied zu Sensitivität und Spezifität) in hohem Maße von der Prävalenz, d. h. der Basisrate der Störung in der untersuchten Population, abhängig. Bei gleicher Sensitivität und Spezifität, aber
10
. Abb. 10.7. Vorhersagewert eines positiven Mammographieergebnisses
einer niedrigeren Prävalenz von z. B. 10%, sinkt der prädiktive Wert eines positiven Tests auf 31% ab, wie sich leicht nachrechnen lässt. Hohe Sensitivität allein ist also kein anzustrebendes Ziel. Es reicht nicht aus, dass Screening-Tests eine hohe Sensitivität haben und alle belasteten Patienten auch erkennen. Eine hohe Spezifität ist ebenso wichtig. Ist die Spezifität nicht ausreichend hoch, resultieren viele falsch-positive Ergebnisse. Der Vorhersagewert eines positiven Ergebnisses ist dann gering. Positiver Vorhersagewert bei häufigen Screenings. Bei der Mammographie hatten wir weiter oben
schon erwähnt, dass nur wenige Frauen, die ein positives Testergebnis haben, tatsächlich an Brustkrebs leiden. Dies können wir nun genauer bestimmen. In . Abb. 10.7 ist anhand eines Baumdiagramms mit 1000 Frauen dargestellt, wie die positiven Befunde zustande kommen, unter realistischen Annahmen für die (altersgruppenbezogene) Prävalenz, Sensitivität und Spezifität. Von den 8 kranken Frauen werden 7 richtig erkannt (Sensitivität 90%). Von den 992 gesunden werden aber wegen der Spezifität von 93% nur 922 negativ, 70 hingegen falsch-positiv getestet. Insgesamt haben wir damit 77 positive Testergebnisse, von denen aber nur 7 (9%) richtig-positiv sind. Mit anderen Worten: Von 11 Frauen mit positivem Mammographiebefund hat nur eine einzige Brustkrebs. Ähnlich ist die Situation bei anderen ScreeningTests. Zur Früherkennung von Darmkrebs wird
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Kapitel 10 · Förderung und Erhaltung von Gesundheit: Prävention
ein Test auf verborgenes Blut im Stuhl verwandt (Hämokkulttest). Nur 4,8% der Personen mit positivem Hämokkulttest haben wirklich Darmkrebs. Zum Screening auf HIV-Infektion werden Bluttests mit sehr hoher Sensitivität und Spezifität durchgeführt. Bei Männern, die keiner der bekannten Risikogruppen (Homosexuelle, i.v.-Drogenabhängige) angehören, beträgt der positive Vorhersagewert dennoch wegen der insgesamt sehr geringen Prävalenz nur 50%. Von zwei positiv getesteten Männern ist also nur einer tatsächlich HIV-infiziert. v Lernziele Risikofaktor vs. Risikoindikator; gruppenbezogenes vs. individuelles Risiko; Widerstand gegen Verhaltensänderungen, kognitive Dissonanz, Reaktanz; Screeningtests zur Krankheitsfrüherkennung: Voraussetzungen, Nutzen und Schaden von Früherkennungsprogrammen; Prävalenz, Inzidenz, Sensitivität, Spezifität, positiver und negativer Vorhersagewert.
10
Ì Vertiefen Gigerenzer G (2004) Das Einmaleins der Skepsis. Berlin Taschenbuch Verlag, Berlin (sehr leicht verständliches Buch über die Vor- und Nachteile von Screenings, mit vielen anschaulichen, einfach nachvollziehbaren Beispielen)
10.5 !
Tertiäre Prävention
Tertiäre Prävention soll der Verschlimmerung chronischer Krankheiten vorbeugen und Behinderungen im Alltag entgegenwirken, damit die Betroffenen möglichst weitgehend am normalen Leben in Familie, Beruf und Gesellschaft teilnehmen können.
10.5.1
Chronische Krankheit und Behinderung
Chronische Krankheiten. Chronische Krankheiten bringen für die Betroffenen eine Reihe von Einschränkungen mit sich. Dazu gehören andauernde körperliche Beschwerden, Einschränkungen von Alltagsfunktionen und -aktivitäten (z. B. Gehen, Treppensteigen, Heben und Tragen) und vermin-
derte berufliche Leistungsfähigkeit. Hieraus können Behinderungen resultieren, die die soziale Integration bedrohen. Bei chronischen Krankheiten kann das Ziel der Behandlung meist nicht die Wiederherstellung der Gesundheit sein. Es geht vielmehr um tertiäre Prävention, d.h. darum, eine Verschlimmerung zu verhindern und die Folgen abzumildern. Es geht darum, einer zunehmenden Chronifizierung mit negativen Auswirkungen auf alle Lebensbereiche entgegenwirken. Diese Aufgabe wird insbesondere durch die medizinische Rehabilitation geleistet (7 Kap. 10.6.1). ! Aus der medizinischen Diagnose lässt sich meist nicht eins zu eins ableiten, welche Alltagsfunktionen beeinträchtigt sind; ein und dieselbe Diagnose kann vielmehr mit unterschiedlichen Folgen für das betroffene Individuum einhergehen. Deshalb hat die WHO in Ergänzung zur Internationalen Klassifikation der Krankheiten (ICD) eine Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) entwickelt.
ICF-Dimensionen auf Ebene der Person 4 Körperfunktionen und Körperstrukturen: krankheitsbedingte Beeinträchtigungen der anatomischen Struktur und physiologischen Funktion auf körperlicher und psychischer Ebene (z. B. Beinamputation nach einem Unfall). 4 Aktivität: Fähigkeit, im Alltagsleben bestimmte Leistungen zu vollbringen, Funktionsfähigkeit der Person (z. B. gehen können). 4 Partizipation: Teilhabe an Beruf und Gesellschaft, soziale Integration (z. B. seinen Beruf als Landwirt oder Sachbearbeiter ausführen können).
Außerdem werden Kontextfaktoren in der Person des Betroffenen (Beispiel: Bewältigungsstrategien) und in der Umwelt (Beispiel: rollstuhlgerechter Arbeitsplatz) betrachtet, die die Integration erleichtern oder erschweren können. Erst unter Berücksichtigung sämtlicher Einflussfaktoren des ICF-Modells
329 10.5 · Tertiäre Prävention
bei der Analyse der individuellen Situation eines Betroffenen lässt sich entscheiden, inwieweit eine Krankheit zu einer Einschränkung der gesellschaftlichen Teilhabe führt. Umgekehrt können Maßnahmen auf allen Ebenen des Modells (nicht nur bei der medizinischen Behandlung der Krankheit) ansetzen, um das Ziel der Teilhabe zu fördern (z. B. Training von Funktionen, die eingeschränkt sind, oder berufliche Umschulung nach unfallbedingter Behinderung).
10.5.2
Personale Krankheitsbewältigung
Ob ein durch eine Krankheit hervorgerufener Gesundheitsschaden zu einer Störung der Funktionsfähigkeit im Alltag und der sozialen Integration (Teilhabe) führt, hängt in hohem Maße von der persönlichen Krankheitsbewältigung des Betroffenen ab. Chronische Krankheiten haben auch psychosoziale Auswirkungen. Sie können Ängste oder eine Depression auslösen, beeinträchtigen das Selbstwertgefühl und stellen den bisherigen Lebensentwurf in Frage. Emotional belastete Betroffene erleben die Folgen ihrer Krankheit für das Alltagsleben als gravierender, ihre Funktionsfähigkeit im Alltag (Aktivität) und berufliche Leistungsfähigkeit (Partizipation) sind gefährdet. Welche »Krankenkarriere« ein Mensch einschlägt und in welchem Maße er am normalen Leben teilnimmt, hängt von seinen Bewältigungsstrategien, den persönlichen und sozialen Ressourcen ab. Unter Krankheitsbewältigung (Coping) versteht man alle Anstrengungen des Betroffenen, die durch die Krankheit hervorgerufenen Belastungen auszugleichen und zu meistern, um ein neues seelisches Gleichgewicht zu finden. Synonym mit dem Begriff Krankheitsbewältigung wird auch Krankheitsverarbeitung verwandt. Damit wird zum Ausdruck gebracht, dass es nicht von vornherein ausgemacht ist, dass die Krankheitsbewältigung auch ist; Krankheitsbewältigung kann auch misslingen. Die Stresstheorie von Lazarus. Die kognitiv-transaktionale Stressbewältigungstheorie von Lazarus
ist die einflussreichste Theorie der letzten Jahrzehnte. Die Theorie ist kognitiv, weil in ihrem Zentrum subjektive Bewertungen stehen. Transaktional
10
heißt sie, weil sie Stress als Ergebnis einer Wechselwirkung zwischen Person und Umwelt betrachtet. Am Anfang des Bewältigungsprozesses steht die primäre Bewertung (primary appraisal): Eine Person schätzt ein, ob eine Situation für das eigene Wohlbefinden relevant ist oder nicht. Wenn sie relevant ist, wird geprüft, ob es sich dabei um eine Herausforderung, eine Bedrohung oder einen Schaden/Verlust handelt. Wenn das Ergebnis dieser Bewertung Bedrohung oder Schaden/Verlust heißt, kann Stress entstehen. Schon zur selben Zeit findet aber die sekundäre Bewertung (secondary appraisal) statt: Die Person schätzt ein, ob ihre Ressourcen ausreichen, die Situationsanforderungen zu bewältigen. Psychischer Stress tritt erst dann auf, wenn eine als bedeutsam bewertete Situation Anforderungen an das Individuum stellt, die dessen Bewältigungsmöglichkeiten beanspruchen oder übersteigen. Im weiteren Verlauf prüft die Person, ob ihre Bewältigungsanstrengungen erfolgreich waren oder nicht (Neubewertung; reappraisal). Obwohl auf dieses Modell sehr häufig Bezug genommen wird, gibt es wenige Studien, die es empirisch streng geprüft haben. Dies liegt daran, dass die einzelnen Bestandteile nur schwer voneinander zu trennen sind. Die Definition von Stress scheint zirkulär zu sein: Stress erfordert Bewältigung, aber Stress entsteht nur dann, wenn etwas nicht bewältigt werden kann. Coping und Abwehr. Bei der Krankheitsverarbei-
tung spielen auch Abwehrmechanismen eine Rolle (7 Kap. 2.3.5). Wenn ein Individuum durch die Mitteilung einer lebensbedrohlichen Erkrankung emotional überfordert ist, können Verleugnungsprozesse als eine Art Notfallreaktion einsetzen. Sie verhindern die Überflutung des Ich mit Ängsten, die nicht bewältigt werden können. Auf diese Weise lässt sich erklären, dass die Diagnose »Krebs« von manchen Patienten zunächst einmal verleugnet wird. Später können sich die Betroffenen, wenn sie emotional unterstützt werden, Schritt für Schritt mit der Bedrohung durch die Erkrankung auseinandersetzen und die Abwehr reduzieren. An die Stelle von Abwehrprozessen treten dann Copingstrategien. Abwehr, kurzfristig und vorübergehend als Notfallreaktion eingesetzt, kann also mittelfristig situationsangemessenes Coping ermöglichen. Lang-
330
Kapitel 10 · Förderung und Erhaltung von Gesundheit: Prävention
fristig führt Verleugnung aber zu mehr emotionaler Belastung und mangelnder Mitarbeit bei Therapie und Nachsorge. Aktives Coping. Hierunter versteht man die aktive
Auseinandersetzung mit der Erkrankung. Die Betroffenen konfrontieren sich mit der Bedeutung der Krankheit für ihr Leben. Sie suchen Informationen, um möglichst vollständig über die Krankheit Bescheid zu wissen. Sie beteiligen sich aktiv bei Diagnostik und Behandlung. Diese Bewältigungsform wird allgemein als sehr günstig eingeschätzt. Allerdings konnten manche Studien den erwarteten Zusammenhang zwischen aktivem Coping und psychischen Wohlbefinden nicht demonstrieren.
10
Depressive Verarbeitung. Hierunter versteht man Gefühle von Hilf- und Hoffnungslosigkeit, Grübeln (Rumination), sich selbst die Schuld geben, Hadern (»Warum gerade ich?«) und sozialer Rückzug. Diese Verarbeitungsform geht meist mit einer depressiven Stimmungslage einher. Es bleibt dabei jedoch unklar, ob Depression Folge oder Ursache der depressiven Verarbeitung ist. Sinnfindung (benefit finding). Schwere und chro-
nische Erkrankungen bringen nicht nur Belastungen mit sich, sondern können auch zum Anlass genommen werden, das eigene Leben zu überdenken und in der Krankheit einen Sinn zu finden. Diese Form der kognitiven Umstrukturierung geht oft mit einem positiven Befinden einher. Die Krankheit wird als Chance genutzt, neue Lebensziele anzustreben oder die Beziehungen zu wichtigen Menschen zu vertiefen. Ebenen des Coping. Krankheitsverarbeitungsfor-
men können danach klassifiziert werden, ob sie eher der Ebene des Handelns, der Kognition oder der Emotion zuzuordnen sind. Beispiel für handlungsbezogenes Coping: etwas Anpacken, um sich abzulenken (»Ich stürze mich in die Arbeit, um die Krankheit zu vergessen«); aktives Vermeiden (»Ich möchte mich nicht schon wieder beim Arzt melden«); konstruktive Aktivität (»Endlich nehme ich mir Zeit für mich«); Zupacken (»Was ich unternehme, wie ich mitmache, davon hängt jetzt vieles ab«).
Beispiele für kognitionsbezogenes Coping: gedankliches Ablenken (»Andere Dinge sind mir im Moment wichtiger als die Krankheit«); Akzeptieren (»Es ist nun halt einmal so, ich versuche mich damit abzufinden«); Dissimulieren (»Es ist alles nur halb so schlimm. Im Grunde geht es mir gut«); Haltung bewahren (»Ich muss mich zusammenreißen, niemand soll mir etwas anmerken«). Beispiele für emotionsbezogenes Coping: emotionale Entlastung (»Ich fühle mich so elend, wenigstens das Weinen hilft noch etwas«); Optimismus (»Wenn ich nur daran glaube, wird sicher alles wieder gut«); Resignation (»Ich glaube, es hat alles keinen Sinn mehr«). Adaptivität von Coping. Es ist noch eine eher ungeklärte Frage, welche Copingformen günstig sind und welche nicht. Zwar gibt es darüber klare theoretische Vorstellungen, diese lassen sich aber in der empirischen Wirklichkeit oft nicht nachweisen. Deutliche Zusammenhänge finden sich meist nur zwischen denjenigen Copingstrategien, in denen eine depressive Stimmung zum Ausdruck kommt, und dem Effektivitätskriterium emotionales Befinden (z. B. zwischen depressiver Verarbeitung und Depression). Diese Zusammenhänge sind jedoch trivial, weil beides nur zwei Seiten derselben Medaille sind. Als adaptiv gilt heute nicht so sehr eine bestimmte Verarbeitungsstrategie, sondern der flexible, situationsangemessene Einsatz unterschiedlicher Copingstrategien. Jede Person sollte selbst herausfinden, was für sie in einer bestimmten Situation die beste Bewältigungsstrategie ist. Je mehr Bewältigungsstrategien eine Person besitzt, desto besser. Die Frage nach dem Erfolg von Coping hängt auch davon ab, was das Kriterium für eine gelungene Krankheitsbewältigung sein soll. Soll die belastende Situation selbst verändert werden (problemorientiertes Coping) oder sollen lediglich die inneren Gefühle verändert werden (emotionsbezogenes Coping)? Letzteres ist dann sinnvoll, wenn die äußere Situation schwer zu ändern ist. Situation oder Person? Früher glaubte man, dass
es in erster Linie von der zu bewältigenden Situation abhängt, welche Bewältigungsform zum Einsatz kommt. Krankheitsvergleichende Studien haben jedoch gezeigt, dass es im Wesentlichen ähnliche
331 10.6 · Rehabilitation
Copingformen waren, die bei unterschiedlichen Erkrankungen häufig vorkamen, so dass Merkmale der einzelnen Krankheit wohl eine geringere Rolle spielen. Heute weiß man, dass Copingstrategien auch persönlichkeitsabhängig sind. Bewältigungsstile werden als Persönlichkeitseigenschaften betrachtet (z. B. Repression-Sensitization, 7 Kap. 4.6.5). Wegen dieser Persönlichkeitsabhängigkeit weisen auch Stressverarbeitungsstrategien einen genetischen Einfluss auf.
10.5.3
10
tete und ihr gegenüber Zuneigung und Zärtlichkeit zum Ausdruck brachte. Hierbei ist es nicht erforderlich, dass der Partner in großem Maße seine eigenen Gefühle in Bezug auf die Krebserkrankung zum Ausdruck bringt. Nur 1% der Befragten gab an, dass sie infolge der Brustkrebserkrankung distanzierter miteinander umgingen. Dieser Befund, dass eine Krebserkrankung die Partnerschaft ein Jahr nach der Diagnose nicht fundamental in Frage stellt, kann den Betroffenen helfen, eine Brustkrebsdiagnose zu entdramatisieren.
Interpersonelle Bewältigung v Lernziele
Chronische Krankheiten haben einerseits Auswirkungen auf Partnerschaft und Familie. Andererseits stellen soziale Unterstützung und das soziale Netzwerk eine wichtige Ressource für die Krankheitsbewältigung dar (7 Kap. 2.4.3). Coping findet auch auf der Ebene der Partnerbeziehung, der Paarebene statt (dyadisches Coping). Partnerbeziehung. Der wichtigste Ansprechpart-
ner für emotionale Unterstützung bei Schwerkranken ist der Partner. Danach folgen Angehörige und Freunde und erst dann professionelle Helfer wie Ärzte oder Psychotherapeuten. Kranke erleben es als sehr hilfreich, wenn ihr Partner Zuwendung ausdrückt und einfühlsam mit ihnen über ihre Sorgen spricht. Umgekehrt wird es als wenig hilfreich empfunden, wenn die Partner es vermeiden, über krankheitsbezogene Sorgen zu sprechen, sich emotional zurückziehen, die Krankheitsfolgen herunterspielen oder den Kranken kritisieren. Eine Brustkrebserkrankung belastet auch die Partnerbeziehung. Frauen fühlen sich oft weniger attraktiv, ihr Körperbild verändert sich, und die Sexualität kann beeinträchtigt sein. In einer Studie mit jüngeren Frauen, die wegen Brustkrebs im Frühstadium behandelt worden waren, berichteten 45% über ausgeprägte Beziehungsprobleme. Andererseits kann eine Brustkrebserkrankung die Partnerschaft intensivieren. In einer anderen Studie gaben bei 42% der befragten Paare beide Partner an, dass die Brustkrebserkrankung sie einander näher gebracht habe. Positiv auf die Partnerschaft wirkte sich aus, wenn der Ehepartner die Patientin während der medizinischen Behandlung kontinuierlich beglei-
ICF-Modell: Körperstrukturen, Körperfunktionen, Aktivität, Partizipation (Teilhabe), Kontextfaktoren (Person, Umwelt); Stress-Modell von Lazarus: primäre und sekundäre Bewertung, Neubewertung; Bewältigungsstrategien (Coping), dyadisches Coping.
Ì Vertiefen Knoll N, Scholz U, Rieckmann N (2005) Einführung in die Gesundheitspsychologie. Reinhardt, München (gut lesbare Darstellung des Stands der Forschung zur Krankheitsbewältigung)
10.6
Rehabilitation
10.6.1
Medizinische Rehabilitation
Medizinische Rehabilitation dient der tertiären Prävention. Sie soll der Verschlimmerung chronischer Krankheiten vorbeugen und Behinderungen im Alltag entgegenwirken, damit die Betroffenen möglichst weitgehend am normalen Leben in Familie, Beruf und Gesellschaft teilnehmen können. Ziel der Rehabilitation ist es, die Bewältigung chronischer Krankheiten durch das betroffene Individuum zu fördern. Letztlich geht es um die Sicherung der sozialen Integration (gesellschaftliche Teilhabe), insbesondere die Reintegration ins Erwerbsleben. ! Das Ziel der medizinischen Rehabilitation ist die Teilhabe chronisch Kranker und Behinderter in Gesellschaft und Berufsleben.
332
10
Kapitel 10 · Förderung und Erhaltung von Gesundheit: Prävention
Multidimensionalität. In Abhebung von der Akutversorgung wird in der Rehabilitation eine Krankheit in umfassenderer Weise, einschließlich ihrer psychosozialen Aspekte, in den Blick genommen (biopsychosoziales Krankheitsmodell). Rehabilitation setzt sowohl an der Krankheit selbst an (z. B. durch medikamentöse Therapie) als auch an ihren Folgen für Aktivität (z. B. durch Funktionstraining) und Teilhabe (z. B. durch sozialmedizinische Beratung). Die Behandlung von psychischen und sozialen Folgen einer Gesundheitsstörung spielt in der Rehabilitation also eine ebenso große Rolle wie die Therapie der Gesundheitsstörung selbst. Der Therapiefokus ist breit, die Dauer der Therapie langfristig, weil es sich um chronische Krankheiten handelt und sich der Erfolg erst im Alltag beweist, wo Patienten lernen müssen, mit der chronischen Krankheit zurechtzukommen. Ebenfalls im Unterschied zur Akutmedizin trägt der Patient selbst einen großen Teil zum Rehabilitationserfolg bei: Rehabilitation ist dann erfolgreich, wenn es dem Betroffenen gelingt, das Bündel an Maßnahmen zur Bewältigung seiner Krankheit im Alltag umzusetzen. Die Erfolgskriterien beziehen sich deshalb nicht allein auf biomedizinische Parameter, sondern auch auf emotionales Befinden, Lebensqualität und soziale Integration. Um diesem ganzheitlichen Anspruch gerecht zu werden, muss Rehabilitation umfassend, mehrdimensional und multidisziplinär ausgerichtet sein. Sie beschränkt sich nicht allein auf körperliches Training. Ein zentraler Baustein der medizinischen Rehabilitation ist die Patientenschulung (7 Kap. 8.1.3). Ziele sind neben der Krankheitsbewältigung auch die Verbesserung der Compliance, die Reduktion von Risikofaktoren und die Änderung des Lebensstils. Da die berufliche Reintegration ein zentrales Reha-Ziel ist, haben viele Reha-Kliniken berufsbezogene Behandlungsbausteine in ihr Programm integriert. Diese reichen von der Sozialberatung über berufsbezogene Gruppentherapie, in der Probleme am Arbeitsplatz besprochen werden, bis hin zu beruflicher Belastungserprobung, in Kooperation mit ortsansässigen Betrieben. Im Rehabilitationsteam arbeiten Ärzte, Psychologen, Physiotherapeuten, Sporttherapeuten, Ernährungsberater, Sozialarbeiter und andere Berufsgruppen zusammen, um die vielfältigen Behandlungsbausteine anbieten zu können.
Viele Patienten (und auch manche Ärzte) verwechseln noch immer Rehabilitation mit Kur. Von einer Kur, in der »ortsgebundene Heilmittel« (z. B. Heilquellen) weitgehend passiv (z. B. Bäder) angewandt werden, um das Wohlbefinden (»Wellness«) zu steigern, unterscheidet sich Rehabilitation durch die Methoden (Einbezug und Aktivierung des Rehabilitanden) wie auch die Ziele (Selbstmanagement der Krankheit, berufliche Reintegration). Patienten, die ihre medizinische Rehabilitation antreten, erwarten gleichwohl oft passive Maßnahmen wie in einer Kur (Massage, Fango, Erholung). Sie sind dann überrascht, wenn aktive Mitarbeit und körperliches Training von ihnen gefordert werden. Ihre Reha-Motivation muss zuerst noch aufgebaut werden. Der Hausarzt hat hier die wichtige Aufgabe, die Patienten darauf vorzubereiten, was in der Reha auf sie zukommt. Psychische Komorbidität ist bei chronisch Kranken häufig und muss deshalb in der Rehabilitation erkannt und behandelt werden. Eine komorbide Depression liegt bei ca. 20% der Herzinfarktpatienten und der Brustkrebspatientinnen und bei ca. 30% der Patienten mit chronischen Rückenschmerzen vor. Schließlich muss die subjektive Erfolgsprognose des Rehabilitanden berücksichtigt werden. Ob er selbst glaubt, seine berufliche Tätigkeit wieder aufnehmen zu können, ist der beste Prädiktor der tatsächlichen beruflichen Wiedereingliederung, unabhängig vom medizinischen Schweregrad der Erkrankung. Manche Patienten wollen in Rente gehen, weil sie ihre Leistungsfähigkeit unterschätzen. Hier stellt sich die (nicht immer leichte) Aufgabe, den Rentenwusch zu hinterfragen und den Rehabilitanden Möglichkeiten zu eröffnen, trotz gesundheitlicher Einschränkungen in das Erwerbsleben zurückzukehren. Kontinuität. Schon während der Akutbehandlung
ist es wichtig, die Kontinuität der Therapie und Rehabilitation im Auge zu haben (z. B. Frühmobilisation, Krankengymnastik). Durch die verkürzten Akutbehandlungszeiten infolge der Finanzierung durch Fallpauschalen ist damit zu rechnen, dass Rehabilitationsmaßnahmen zunehmend wichtiger werden (z. B. Anschlussheilbehandlung nach Herzinfarkt oder nach einer Gelenkersatzoperation): Sie
333 10.6 · Rehabilitation
müssen Aufgaben übernehmen, die von der Akutbehandlung nicht mehr geleistet werden können, weil dafür keine Zeit bleibt. Da die Effekte der Rehabilitation andererseits oft nur kurzfristig anhalten, sollten ambulante Nachsorgemaßnahmen durchgeführt werden, um die Reha-Effekte zu verstetigen. In der Herzinfarktrehabilitation haben sich Herzsportgruppen am Wohnort bewährt. Eine Alternative zur (oft wohnortfernen) stationären Rehabilitation ist die ambulante Rehabilitation am Wohnort. Sie bietet den Vorteil einer besseren Verzahnung mit dem Alltagsleben, z. B. durch Einbezug der Angehörigen oder Arbeitgeber. Geeignet ist sie insbesondere für nicht so schwer oder nicht multimorbid Kranke, die auch mobil sein müssen. Der Anteil ambulanter Rehabilitation ist derzeit zwar noch gering, aber ansteigend. Indikationen. Die wichtigsten Diagnosegruppen in der medizinischen Rehabilitation bilden Erkrankungen der Haltungs- und Bewegungsorgane (insbesondere chronische Rückenschmerzen, 7 Kap. 2.2.2), die als Anlass für Rehabilitationsmaßnahmen, Arbeitsunfähigkeit und Frühberentungen an erster Stelle stehen. Danach folgen psychische/psychosomatische Störungen, kardiologische Erkrankungen (z. B. koronare Herzkrankheit), onkologische Erkrankungen (z. B. Brustkrebs), Stoffwechselerkrankungen (insbesondere Diabetes mellitus) und neurologische Krankheiten (z. B. Schlaganfall). In der neurologischen Rehabilitation spielen neuropsychologische Trainings kognitiver und sprachlicher Leistungen eine große Rolle. Effektivität. Eine große Zahl von randomisierten kontrollierten Studien, die allerdings zum größten Teil aus den USA stammen, hat gezeigt, dass intensive, umfassende, strukturierte, multidisziplinäre Rehabilitationsprogramme effektiv (wirksam) und effizient (kostensparend) sind. Die kardiovaskuläre Rehabilitation bewirkt eine Reduktion der Sterblichkeit um 34% und der Reinfarktrate um 29%. Die Risikofaktoren konnten als Mediatorvariablen identifiziert werden: Nur dann, wenn ein Programm die Risikofaktoren reduzierte, wurde auch der weitere Krankheitsverlauf (Reinfarkt, Tod) günstig beeinflusst. Auch für andere Indikationsbereiche liegen
10
Hinweise für die Wirksamkeit der Rehabilitation vor. Auch die Krankheitskosten infolge der Inanspruchnahme medizinischer Leistungen oder von Arbeitsunfähigkeit bzw. Frühberentung konnten vermindert werden. Träger. Für unterschiedliche Leistungen sind nach
dem Sozialgesetzbuch unterschiedliche Träger zuständig. Der größte Träger der medizinischen Rehabilitation ist die gesetzliche Rentenversicherung (Deutsche Rentenversicherung). Hier gilt der Grundsatz »Reha vor Rente«: Rehabilitation setzt ein, wenn die Erwerbsfähigkeit bedroht oder vermindert ist, um diese zu bessern oder wiederherzustellen und eine Frühberentung zu verhindern. Die Rehabilitation nach einem Arbeitsunfall wird von den Trägern der gesetzlichen Unfallversicherung (Berufsgenossenschaften bzw. Unfallkassen) getragen, während die Rehabilitation von nicht mehr Berufstätigen von den Krankenkassen finanziert wird (»Reha vor Pflege«). Die berufliche Rehabilitation (z. B. Umschulung) fällt in der Regel in den Aufgabenbereich der Bundesagentur für Arbeit.
10.6.2
Soziale Folgen chronischer Krankheit
Ziel der Rehabilitation ist die Verhinderung von sozialem Ausschluss chronisch kranker und behinderter Menschen. Dem sozialen Abstieg infolge einer Krankheit (Abwärtsmobilität, 7 Kap. 4.10.4) soll vorgebeugt werden. Trotz gesetzlicher Regelungen, die eine bevorzugte Einstellung Behinderter fordern, ist die Arbeitslosigkeit bei Behinderten hoch. Dabei wäre in vielen Bereichen die Einrichtung behindertengerechter Arbeitsplätze gut möglich. Noch immer werden chronisch Kranke Opfer von Stigmatisierungen. Beispiele: »Ich traue mich gar nicht, am hellen Tag spazieren zu gehen. Da sagen die Leute: Der sieht ja ganz gesund aus und geht trotzdem nicht arbeiten« (50-jähriger Herzinfarktrehabilitand). »Als ich nach meiner Operation zu Besuch bei Bekannten war, gab es das Essen von Papptellern, aus Angst, ich könnte die anderen anstecken« (55-jährige Krebspatientin).
334
Kapitel 10 · Förderung und Erhaltung von Gesundheit: Prävention
Als primäre Abweichung werden diejenigen Normabweichungen bezeichnet, die aus der Krankheit resultieren. Beispiel: Ein Mensch mit einer abgeklungenen Psychose (Schizophrenie) empfindet soziale Interaktionen als belastend, weil es ihm schwer fällt, aus der Fülle der auf ihn einstürzenden Informationen die relevanten auszuwählen und angemessen darauf zu reagieren. Er zieht sich deshalb zunehmend aus sozialen Beziehungen zurück. Als sekundäre Abweichung bezeichnet man diejenigen Normabweichungen, die aus der Stigmatisierung und der Zuschreibung der Rolle eines chronisch Kranken resultieren. Beispiel: Ein Patient mit einer Psychose wird von seiner Umgebung gemieden und zieht sich wegen der befürchteten Ablehnung immer stärker zurück. Dadurch büßt er seine sozialen Kompetenzen ein und schafft es immer weniger, sich im normalen sozialen Kontakt unauffällig zu verhalten. Schließlich wirkt er auf andere genau so »seltsam«, wie sich diese einen psychisch gestörten Menschen vorstellen.
10 10.6.3
Psychosoziale Einflüsse auf Krankheitsverlauf und Mortalität
Coping und Überlebenszeit bei Krebs. Die Frage, ob psychologische Faktoren Krankheitsverlauf und Mortalität beeinflussen, wurde intensiv am Beispiel von Krebs untersucht. Ausgangspunkt war eine in den 70er Jahren in England durchgeführte Studie, in der Frauen vier Wochen nach ihrer Brustkrebsoperation zu ihrer Krankheitsbewältigung befragt wurden. Diejenigen, die Kampfgeist (fighting spirit) oder Verleugnung zeigten, wiesen eine längere Überlebenszeit auf als Frauen, die mit stoischem Akzeptieren oder Hilf- und Hoffnungslosigkeit reagierten. Dass eine aktive Form der Krankheitsbewältigung prognostisch günstig war, konnte zwar auch in einer anderen Studie bestätigt werden. In sieben weiteren Studien mit Mammakarzinompatientinnen wurde dieser Zusammenhang jedoch nicht repliziert. In der ursprünglichen Studie war der wichtigste biomedizinische prognostische Faktor, der axilläre Lymphknotenbefall, nicht einbezogen worden, so dass man nicht ausschließen kann, dass der unterschiedliche Überlebenszeitverlauf in Wirklichkeit durch körperliche Faktoren bedingt war.
Coping als Folge des körperlichen Zustands. Den körperlichen Krankheitsverlauf allein aufgrund der Art der Krankheitsverarbeitung vorhersagen zu wollen, wäre naiv: Die Krankheitsbewältigung steht in Zusammenhang mit dem körperlichen Zustand des Patienten. Es ist unmittelbar einleuchtend, dass eine Patientin, die sich in einem guten körperlichen Zustand befindet und deren Tumor in einem frühen Stadium diagnostiziert wurde, so dass die Behandlung mit kurativer Zielsetzung durchgeführt werden kann, auch eher in der Lage sein wird, sich aktiv und kämpferisch mit ihrer Krankheit auseinanderzusetzen. Dann ist es nicht weiter verwunderlich, wenn eine aktive Krankheitsbewältigung vorhersagekräftig für eine längere Überlebenszeit ist. Der prognostische Wert der psychologischen Variablen speist sich dann jedoch nicht aus dieser Variablen selbst, sondern ist gewissermaßen nur »geliehen« (Konfundierung, 7 Kap. 3.4.1). Coping ist dann Folge der körperlichen Situation, die als konfundierende Variable den Zusammenhang zwischen Coping und der Überlebenszeit erklärt. Mit anderen Worten, Coping ist ein prognostischer Indikator, kein kausaler prognostischer Faktor. ! Wenn man biomedizinische Faktoren in das Vorhersagemodell einbezieht und die Krankheitsbewältigung dann nicht mehr vorhersagekräftig ist, handelte es sich um einen Fall von Konfundierung. Umgekehrt kann man Konfundierung aber nicht völlig ausschließen, wenn die psychologischen Variablen weiterhin vorhersagekräftig sind. Denn erstens hat man die biomedizinischen Faktoren vielleicht nicht zuverlässig (reliabel) gemessen, und zweitens hat man vielleicht nicht alle relevanten Faktoren einbezogen. Emotionale Belastung und Überlebenszeit. Eine
andere Forschungslinie hat sich mit der Fragestellung beschäftigt, ob das Ausmaß der psychischen Belastung (z. B. Depression, Angst) das Überleben bei Krebskranken beeinflusst. Eine Reihe von Studien unterschiedlicher methodischer Qualität hat einen derartigen Zusammenhang gefunden. Es gab aber auch viele Studien, die keinen Zusammenhang fanden, und zum dritten haben manche Studien so-
335 10.6 · Rehabilitation
gar einen umgekehrten Zusammenhang festgestellt, nämlich eine längere Überlebenszeit bei psychisch stärker belasteten Patientinnen. Eine kürzlich publizierte Metaanalyse fand allerdings ein leicht erhöhtes Mortalitätsrisiko bei Krebspatienten mit Depression. Wie könnte ein solcher Zusammenhang zustandekommen? Mögliche Mechanismen. Wie schon erwähnt, kann im psychischen Befinden der körperliche Zustand zum Ausdruck kommen, so dass ein daraus resultierender Zusammenhang mit der Überlebenszeit nicht kausaler Natur wäre. Das Krankheitsgeschehen kann auch über die Informationen, die die Patienten von ihrem Arzt erhalten, Einfluss auf die psychische Bewältigung ausüben. Patienten, die von ihrem Arzt erfahren, dass die Behandlung vermutlich zur Heilung führen wird, nehmen auch eher eine aktive und kämpferische Haltung ein, wodurch ein prognostischer Zusammenhang mit der Überlebenszeit zustande kommen kann, ohne dass hier eine kausale Wirkung besteht. Psychoneuroimmunologie. Psychoneuroimmunologische Pfade können auf biologischer Ebene zwischen Psyche und körperlicher Krankheit vermitteln. Dabei ist wichtig zu betonen, dass die Einflüsse in beiden Richtungen verlaufen können. Tumorassoziierte Faktoren können das Immunsystem beeinträchtigen und über den Serotoninstoffwechsel einen depressiven Zustand bewirken. Umgekehrt könnten Stress und Depression über eine verminderte Aktivität immunkompetenter Zellen (z. B. Natural-Killer-Zellen) die Überlebenszeit beeinflussen. Die vereinzelten Befunde aus psychoneuroimmunologischen Untersuchungen ergeben gleichwohl noch kein Gesamtbild, und es fehlt an Studien, die alle Bindeglieder – vom psychischen Zustand über psychoneuroimmunologische Faktoren bis hin zur Überlebenszeit – integrieren. Derzeit müssen die psychoneuroimmunologischen Mechanismen deshalb noch im Wesentlichen als hypothetisch betrachtet werden. Compliance. Depressive Patienten zeigen eine ein-
geschränkte Compliance mit der medizinischen Behandlung. Sie lehnen z. B. eine Chemotherapie häufiger ab oder beenden sie vorzeitig. So erhalten sie
10
unter Umständen nicht die optimale Behandlung, wodurch sich ihre Prognose verschlechtern könnte. Eine Entscheidung, ob psychosoziale Faktoren lediglich prognostische Indikatoren (marker) sind, die zwar Information über den weiteren Verlauf enthalten, diesen aber nicht selbst beeinflussen, oder aber kausale Risikofaktoren, die den weiteren Krankheitsverlauf mit beeinflussen, kann nur auf der Grundlage von Interventionsstudien getroffen werden. Interventionsstudien. In einer frühen randomi-
sierten Interventionsstudie hatten Frauen mit metastasiertem Brustkrebs länger überlebt, wenn sie an einer einjährigen wöchentlichen Gruppentherapie teilnahmen. Dieses Ergebnis ist aber wahrscheinlich durch die von vornherein unterschiedliche Zusammensetzung von Interventions- und Kontrollgruppe zustande gekommen. Alle fünf neueren Interventionsstudien bei Frauen mit metastasiertem Brustkrebs konnten keinen Überlebensvorteil für die Behandlungsgruppe demonstrieren. Psychologische Interventionen scheinen also die Überlebenszeit nicht zu verlängern. Bei Frauen mit Brustkrebs im frühen Stadium gibt es zwei entsprechende Studien, deren Ergebnisse einander widersprechen: Eine fand einen Überlebensvorteil, die andere nicht. Die Studie mit positivem Ergebnis ist jedoch wegen ihrer Methode kritisiert worden. Zum aktuellen Zeitpunkt erscheint es insgesamt angebracht, psychische Faktoren als prognostische Indikatoren anstatt als kausale Risikofaktoren zu betrachten. Eine solche Interpretation des Forschungsfeldes befindet sich hinsichtlich der empirischen Evidenz auf der sicheren Seite und weckt weder bei Patienten noch in der Öffentlichkeit Hoffnungen, die die Psychotherapie nicht erfüllen kann. Davon unbenommen ist, dass psychoedukative Interventionen effektiv sind im Hinblick auf eine Verbesserung des emotionalen Befindens und der Lebensqualität (7 Kap. 8.1.3). Depression und Überlebenszeit bei koronarer Herzkrankheit. Bei Herzinfarktpatienten ist beim
Vorliegen einer Depression das Mortalitätsrisiko im weiteren Verlauf um den Faktor 2 erhöht. Auch wenn es mehrere plausible Mechanismen gibt, die einen kausalen Zusammenhang erklären könnten
336
Kapitel 10 · Förderung und Erhaltung von Gesundheit: Prävention
(7 Kap. 2.2.1), ist noch nicht geklärt, ob Depression ein kausaler Risikofaktor oder nur ein Risikoindikator ist. Die wenigen Interventionsstudien, die in diesem Feld durchgeführt wurden, erbrachten inkonsistente Ergebnisse.
10.6.4
10
Sozialberatung
Während das Gesundheitssystem sich in erster Linie an Menschen mit definierten Krankheiten richtet bzw. auf deren Behandlung, Prävention oder Rehabilitation ausgerichtet ist, gibt es darüber hinaus in vielen Fällen Hilfebedarf, in denen keine eigentliche Krankheit besteht, sondern Lebenskrisen, psychosoziale Konfliktkonstellationen oder sozioökonomische Problemstellungen. Entsprechend dem Sozialstaatsprinzip des Grundgesetzes hat die Gesellschaft auch eine Verpflichtung, in derartigen Fällen Hilfeleistungen anzubieten. Häufig sind die Übergänge zum Gesundheitssystem fließend, wie beispielsweise bei Sucht- und Drogenberatungsstellen oder bei Frühfördereinrichtungen und sozialpädiatrischen Zentren. In vielen Fällen medizinischer Behandlung können diese Beratungsstellen begleitend oder auch in der Nachsorge wichtige ergänzende Hilfen bieten. Vor diesem Hintergrund hat sich in den zurück liegenden Jahrzehnten ein breites und vielfältiges Netz an psychosozialen Beratungseinrichtungen etabliert. Psychosoziale Beratungsstellen werden zumeist von einem der so genannten Freien Wohlfahrtsbände (v.a. Caritas, Diakonie, Deutscher Paritätischer Wohlfahrtsverband/DPWV oder Arbeiterwohlfahrt/AWO) oder durch die Kommune getragen. Leistungen durch Erziehungsberatungsstellen, die insbesondere bei Erziehungsfragen und familiären Probleme zuständig sind, erfolgen derzeit in der Regel kostenlos und werden durch kommunale oder Landeszuwendungen refinanziert. Weitere Jugendhilfeleistungen (z. B. stationäre Jugendhilfe bzw. Heimunterbringung) kommen in Betracht, um eine drohende seelische Behinderung des Kindes/Jugendlichen zu verhüten, zu beheben oder bei bestehender Behinderung eine gesellschaftliche Teilhabe zu ermöglichen. Suchtberatungsstellen haben neben einem allgemein präventiven Auftrag – bei entsprechender
Qualifikation – auch eine wichtige Funktion bei der Einleitung von Entwöhnungsbehandlungen, der ambulanten Entwöhnungsbehandlung oder der Nachbehandlung nach stationärer Entwöhnungsbehandlung. Entsprechende Leistungen erfolgen als Reha-Leistungen zu Lasten von Kranken- oder Rentenversicherung. Reha-Servicestellen wurden mit Einführung des SGB IX im Jahr 2001 als gemeinsame Einrichtungen der Rehabilitationsträger geschaffen. Sie müssen flächendeckend vorgehalten werden und gemeinsam mit den Ratsuchenden klären, ob RehaBedarf (für Behinderte oder von Behinderung bedrohte chronisch kranke Menschen) besteht, mit dem zuständigen Reha-Träger die in Frage kommenden Leistungen abklären, bei der Einleitung eines Reha-Verfahrens mithelfen und auf eine enge Kooperation der Träger hinwirken (wenn gleichzeitig oder nacheinander Leistungen verschiedener Träger in Frage kommen), um einen zügigen RehaVerlauf sicherzustellen. Weitere Beratungsinstitutionen sind beispielsweise Kriseninterventionsdienste (Telefonseelsorge), Schwangerschaftskonfliktberatungsstellen (nach § 218 StGB), psychosoziale Krebsberatungsstellen (wie sie beispielsweise von der Deutschen Krebshilfe gefördert und unterstützt werden), sozialpsychiatrische Dienste oder Drogenberatungsstellen. Sie sind ebenfalls zumeist flächendeckend vorhanden und werden in der Regel durch die Kommunen oder Gebietskörperschaften in ihrer Tätigkeit unterstützt, einerseits durch finanzielle Zuschüsse, andererseits durch Vernetzungsangebote und die öffentliche Präsentation beispielsweise in regional herausgegebenen Beratungsführern. Die Arbeit von Selbsthilfegruppen und Selbsthilfekontaktstellen, d.h. Beratungsstellen zur Unterstützung von Selbsthilfegruppen, wird zudem nach einer speziellen Vorschrift im SGB V direkt durch Mittel der gesetzlichen Krankenkassen unterstützt (7 Kap. 11.2.2). Schulpsychologische Beratungsstellen sind entweder an einzelnen Schulen oder schulunabhängig in der Region etabliert. Ihre Aufgabe ist zumeist neben der individuellen Schullaufbahnberatung und einer entsprechenden Fachdiagnostik auch die Beratung und Unterstützung bei schulischen Konfliktfällen, häufig auch die Unterstützung
337 10.6 · Rehabilitation
von Lehrern oder Kollegien bei Problemfällen im schulischen System. Weitere gesellschaftliche Institutionen, wie die Gemeinden (Jugendamt, Sozialamt), die Bundesagentur für Arbeit (in ihren regionalen Dienststellen) oder Studentenwerke der Hochschulen, halten schließlich diverse Beratungsangebote bereit. Ihre Aufgabenstellung ist es, für Ratsuchende in ihrem jeweiligen Tätigkeitsfeld über vorhandene Leistungen zu informieren. Ferner helfen sie bei der Klärung, ob ein entsprechender Bedarf besteht, und weisen den Weg, um diese Leistung im Bedarfsfall auch zu erhalten. Einen umfassenden Überblick über Beratungsstellen in Deutschland, ihre Leistungen und Anschriften gibt der nach Themenfeldern und regional gegliederte Beratungsführer-online, der von der Deutschen Arbeitsgemeinschaft für Jugend- und Eheberatung (DAJEB) herausgegeben wird (www. dajeb.de). v Lernziele Medizinische Rehabilitation: Ziele, Bausteine, Erfolgskriterien, Problemfelder, Indikationen, Träger; primäre und sekundäre Abweichung; psychische Faktoren und Krankheitsverlauf: kausale vs. nicht kausale Zusammenhänge; Beratungsstellen.
Ì Vertiefen Belardi N, Akgün L, Gregor B, Neef R, Pütz T, Sonnen FR (2007) Beratung. Weinheim, Beltz (Einführung in Aufgaben, Inhalte und Ziele von psychosozialer Beratung; Darstellung der besonderen Aufgaben in unterschiedlichen Beratungsfeldern) Bengel J, Koch U (Hrsg) (2000) Grundlagen der Rehabilitationswissenschaften. Springer, Berlin (umfassende Einführung in die Rehabilitationsforschung) Faller H (2009) Erfolg psychologischer Interventionen – ein Review. In: Koch U, Weis J (Hrsg) Psychoonkologie. Jahrbuch der Medizinischen Psychologie 22:189-198 (Übersicht über den aktuellen Stand der Forschung zu psychosozialen Einflüssen auf den Krankheitsverlauf bei Krebs)
10
11 11 Förderung und Erhaltung von Gesundheit: Maßnahmen 11.1 Gesundheitserziehung und Gesundheitsförderung
– 338
11.2 Rehabilitation, Selbsthilfe und Pflege
– 342
> > Einleitung
funden, weil sie eher negativ orientiert (Verhinderung von Krankheiten) und nicht breit genug angelegt sei. Man versuchte deshalb, Schutzfaktoren der Gesundheit zu finden, die nicht nur auf spezifische Risikofaktoren wirken, sondern allgemein und unspezifisch die Gesundheit fördern. Solche Schutzfaktoren, die positiv definiert sind, sind beispielsweise gesunde Ernährung und körperliche Aktivität. Unter Gesundheitsförderung versteht man alle Aktivitäten zur Verbesserung und Stärkung der Gesundheit. Gesundheit ist positiv definiert und betont die individuellen und sozialen Ressourcen, nicht nur die Abwesenheit von Krankheit (z. B. die WHO-Definition der Gesundheit als umfassendes Wohlbefinden, 7 Kap. 1.1.2). Zu den Ressourcen gehören auf individueller Ebene die Entwicklung eines gesunden Lebensstils und von Stressbewältigungskompetenzen, auf gesellschaftlicher Ebene die Herstellung gesundheitsförderlicher Lebensbedingungen (z. B. Gesunde-Städte-Programm der WHO). Darüber hinaus nennt die WHO als Ziel der Gesundheitsförderung die weitgehende Selbstbestimmung des Individuums über seine Gesundheit. Gesundheitsförderung und Prävention verfolgen letztlich dieselben Ziele und sollten nicht gegeneinander ausgespielt werden.
Gesundheitsbildung und Gesundheitsförderung in Schulen, Betrieben und Gemeinden sind gesamtgesellschaftliche Aufgaben, bei denen auch Ärzte eine wichtige Rolle übernehmen. Einen großen Beitrag, der komplementär zur medizinischen Versorgung zu sehen ist, leisten auch Selbsthilfegruppen, in denen sich chronisch Kranke zusammenschließen, um sich gegenseitig bei der Krankheitsbewältigung zu unterstützen. Selbst bei alten, pflegebedürftigen Menschen ist es primäres Ziel, die noch vorhandenen Ressourcen zu fördern. Eine aktivierende Pflege soll den Zeitpunkt, an dem der Betroffene vollständig von der Hilfe anderer abhängig wird, möglichst weit hinausschieben
11.1
Gesundheitserziehung und Gesundheitsförderung
11.1.1
Gesundheitsförderung
Die primäre Prävention orientiert sich im Wesentlichen am Risikofaktorenmodell. Ihr Ziel ist es, Risikofaktoren für Krankheiten abzubauen. Obwohl die Vermeidung von Risikofaktoren von zentraler Wichtigkeit ist, hat diese Vorgehensweise Kritik ge-
339 11.1 · Gesundheitserziehung und Gesundheitsförderung
! Prävention ist gezielte Verhütung bestimmter Krankheiten. Gesundheitsförderung ist generelle Stärkung der Gesundheitsressourcen durch Verbesserung des Gesundheitsverhaltens, der Gesundheitskompetenz und der gesundheitsrelevanten Lebensbedingungen.
Im Kontext der Gesundheitsförderung trifft man auf einige miteinander verwandte Begriffe. Gesundheitsbildung beinhaltet alle Maßnahmen (Aufklärung, Beratung, Training, Schulung), die unter Einsatz erwachsenenpädagogischer Techniken und/ oder psychologischer Methoden durchgeführt werden, um durch Information, Motivation und Schulung gesundheits- und krankheitsbezogene Einstellungen und Verhaltensweisen positiv zu beeinflussen. Gesundheitserziehung betont den pädagogischen Aspekt. Sie betrifft insbesondere die Vermittlung von Wissen und Kompetenzen an Kinder und Jugendliche im Rahmen der Schulbildung. Gegenüber Erwachsenen kann sie leicht einen paternalistischen Beigeschmack bekommen. Gesundheitsaufklärung bezieht sich im Wesentlichen auf die Informationsvermittlung (z. B. Vorträge, Broschüren, neue Medien). Wichtige Informationsquellen sind die vom Robert-Koch-Institut herausgegebene Gesundheitsberichtserstattung des Bunds sowie die von der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung publizierten Berichte. Gesundheitsberatung findet eher im persönlichen Gespräch statt (7 Kap. 8.1.2). Geht es um das Einüben neuer Verhaltensweisen, wird auch von Gesundheitstraining oder Gesundheitsschulung gesprochen.
11.1.2
Gesundheitsförderung in Organisationen
Träger und Initiatoren der Gesundheitsförderung können unterschiedliche Institutionen sein: Schulen, Erwachsenenbildungseinrichtungen, Krankenversicherungen, Ministerien. Zielgruppen sind Einzelpersonen ebenso wie Gruppen, Gemeinden, Regionen oder die gesamte Bevölkerung. Umfassende gemeindeorientierte Interventionen, die z. B. junge Menschen in ihrer Lebenswelt ansprechen (Setting-Ansatz), sind wirksamer als reine Medienkampagnen.
11
Kindergarten und Schule. Der Vorteil von Gesundheitsförderung in der Schule liegt darin, dass Kinder aller sozialen Schichten über einen Zeitraum von 12 bis 13 Jahren erreicht werden können. Kinder und Eltern sind wichtige Adressaten, weil Einstellungen schon früh verfestigt werden. Beispiel: regelmäßige Zahnpflege zur Kariesprophylaxe. Durch ein intensives Präventionsprogramm in den Schulen rückte Deutschland in Bezug auf die Zahngesundheit von einem mittleren auf einen Spitzenplatz in Europa vor. Einer der großen primärpräventiven Erfolge der Medizin, die Bekämpfung der Infektionskrankheiten, wäre ohne Schutzimpfungen nicht möglich gewesen. Umso wichtiger ist es, in Kindergarten und Schule die Impfmotivation zu stärken und unangemessenen Befürchtungen durch Information zu begegnen. Themen für Schulkinder und Jugendliche sind gesunde Ernährung (Vorbeugung von Übergewicht und Essstörungen), Sexualität (Empfängnisverhütung, sexuell übertragbare Krankheiten) und Verkehrssicherheit (sicherer Schulweg). Programme zur Suchtprävention in der Schule sollten interaktiv angelegt sein (Mitwirkung der Teilnehmer), d. h. nicht nur Information vermitteln, sondern auch Verhaltenstrainings zur Stärkung der sozialen Kompetenz (Konfliktlösungsfähigkeit) und Stressbewältigung enthalten. Auf struktureller Ebene sind Angebote gesunder Ernährung in der Schulmensa, Integration sportlicher Aktivität in den Unterricht sowie von Gesundheitserziehung in den Lehrplan zu nennen. Lehrer sind wichtige Multiplikatoren, weil sie direkten Kontakt zu den Jugendlichen haben und aufgrund ihrer Ausbildung in der Lage sind, gesundheitsrelevantes Wissen und Verhalten zu vermitteln. Betriebe. Betriebliche Gesundheitsförderung hat
den Vorteil, Menschen in ihrer Alltagsumgebung anzusprechen, ohne dass sie selbst eine Einrichtung (z. B. eine Arztpraxis) aufsuchen müssen. Die Einführung von Sicherheitsstandards am Arbeitsplatz zur Vermeidung von Arbeitsunfällen und die Verringerung von Schadstoffexposition sind wichtige strukturelle präventive Maßnahmen. Ebenfalls auf struktureller Ebene sind Rauchverbote am Arbeitsplatz und das Angebot gesunder Kost in der Kantine angesiedelt. Hinzu kommen Verbesserungen der Arbeitsorganisation, um den Beschäftigten mög-
340
Kapitel 11 · Förderung und Erhaltung von Gesundheit: Maßnahmen
lichst viel Selbstbestimmung zu ermöglichen. Hier liegen die Aufgaben der Organisations- und Personalentwicklung. Zur individuellen Gesundheitsförderung bieten manche Betriebe Kurse zur Stressbewältigung, Hilfen zur Konfliktlösung bei Mobbing, Nichtrauchertraining, Suchtberatung oder Programme zur Förderung körperlicher Aktivität an. Für deren Erfolg ist die Beteiligung des Managements wie auch der Beschäftigten wichtig (Arbeitsgruppen »Gesundheit« oder »Gesundheitszirkel«). Die Unternehmen versprechen sich von Programmen zur Gesundheitsförderung weniger krankheitsbedingte Fehlzeiten, mehr Produktivität und ein besseres Image. Ob diese Effekte generell auch eintreten, lässt sich zur Zeit noch nicht sagen, weil entsprechende Daten weitgehend fehlen. Allerdings gibt es erste Hinweise, dass derartige Programme oder
auch eine partizipative Organisationsentwicklung (Verbesserung der Arbeitsbedingungen unter Mitwirkung der Betriebsangehörigen) zu einer Verminderung des Krankenstands führen, so dass sich die Investition in betriebliche Gesundheitsförderung für die Betriebe lohnt.
11.1.3
Gesundheitsförderung in der Kommune
Gemeindeorientierte Programme richten sich an die Bewohner einer Stadt. Damit diese erfolgreich sind, müssen viele Institutionen und Organisationen mitwirken. Insbesondere solche Personen, die aufgrund ihrer Position und ihres Aufgabenbereichs mit vielen Menschen Kontakt haben und Autorität genießen (Multiplikatoren), müssen einbezogen werden. Zu-
Klinik
Bündnis gegen Depression
11
Ein sehr erfolgreiches gemeindebasiertes Programm zur Gesundheitsförderung und Prävention ist das »Nürnberger Bündnis gegen Depression« (www.buendnis-depression.de). Ziel dieses Bündnisses war und ist es, die Versorgungs- und Lebenssituation depressiver Menschen zu verbessern. Eine Depression wird noch immer tabuisiert. Die Betroffenen halten aus Angst vor Stigmatisierung ihre Erkrankung geheim und ziehen sich aus ihrem sozialen Umfeld zurück. Ärzte fragen selten nach den typischen Symptomen, mit der Folge, dass die Störung selten diagnostiziert und noch seltener adäquat behandelt wird. Deshalb musste zunächst ein öffentliches Bewusstsein für die Krankheit geschaffen und das Thema enttabuisiert werden, etwa durch Kinospots, Plakate, Vorträge, Medienberichte und Aktionstage. Zum anderen wurden über zwei Jahre hinweg Menschen aus medizinischen und sozialen Berufen zum Thema Depression weiterqualifiziert, damit zukünftig die Erkrankung besser erkannt und erfolgreich behandelt werden kann. Es wurde ein Kooperationsnetzwerk von Ärzten, Medien, Lehrern, Altenpflegekräften und anderen an der Versorgung depressiver Menschen beteiligter Partner geknüpft. Haus-
ärzte wurden in Seminaren über verschiedene Therapien informiert, Pfarrern wurde erklärt, wie sie mit Suizidgefährdeten umgehen können, Lehrer erfuhren, wie das Thema Depression im Unterricht aufgegriffen werden kann. Ziel war es, dass sowohl die Betroffenen wie auch die professionellen Berater und Helfer offener mit der Krankheit Depression umgehen. Ärzte sollten beispielsweise vermehrt darauf achten, ob Patienten an einer Depression leiden, weniger Pseudodiagnosen, wie Burn-out-Syndrom oder chronisches Erschöpfungssyndrom, stellen und ihre Kenntnisse zu Diagnostik und Therapie depressiver Erkrankungen verbessern. Ferner erstellte das Nürnberger Bündnis Informationsmaterialien für Patienten und Angehörige, richtete spezielle Hilfsangebote für Menschen nach Suizidversuch ein und leistete Unterstützung bei der Gründung von Selbsthilfe- und Angehörigengruppen. Durch dieses intensive, auf vielen Ebenen ansetzende Programm konnte während der Laufzeit die Suizidrate um 25% gesenkt werden, und zwar verglichen sowohl mit dem Vorjahr als auch gegenüber einer Kontrollregion, in der ein solches Bündnis noch nicht etabliert worden war. Infolgedessen gibt es inzwischen in vielen deutschen Städten ein Bündnis gegen Depression.
341 11.1 · Gesundheitserziehung und Gesundheitsförderung
dem muss ein hoher organisatorischer Aufwand betrieben werden. Sehr erfolgreich hinsichtlich der Senkung des Suizidrisikos bei Depression war das Nürnberger Bündnis gegen Depression.
11.1.4
!
Unterschiedliche Wirksamkeit struktureller vs. personaler Gesundheitsförderung
Strukturelle Gesundheitsförderung setzt an den gesellschaftlichen Strukturen und der ökologischen Umwelt an, personale Gesundheitsförderung am Verhalten des einzelnen Menschen.
Individuelle Verhaltensänderungen sind sehr viel schwerer zu bewerkstelligen als strukturelle Maßnahmen. Strukturelle Maßnahmen erleichtern das individuelle Handeln, indem sie förderliche äußere Rahmenbedingungen setzen. Beispiele für strukturelle Maßnahmen: gesunde Trinkwasserversorgung, angemessene Wohnverhältnisse, gesunde Umwelt, medizinische Versorgung, Werbeverbot für Tabak, Tabaksteuer, Verbot von Alkoholverkauf an Jugendliche, Jodierung von Speisesalz zur Prophylaxe von Schilddrüsenerkrankungen, Fluoridierung von Zahncremes oder Speisesalz zur Kariesprophylaxe usw. Eine der wirksamsten Maßnahmen zur Gesundheitsförderung und Prävention war die Einführung der Gurtpflicht beim Autofahren. Erst vor kurzem eingeführte strukturelle Maßnahmen sind Rauchverbote in Restaurants, öffentlichen Gebäuden, Schulen und Krankenhäusern. Positive Effekte von Rauchverboten auf die Inzidenz von HerzKreislauf-Erkrankungen zeigen sich schon in den USA. Setting-Ansatz. Reine Aufklärungskampagnen in
den Medien gelten heute als nicht mehr zeitgemäß, weil ihre Erfolge gering und nicht nachhaltig sind. Information muss sich in Verhalten umsetzen. Verhaltensänderungen werden vor allem dann erleichtert, wenn Menschen in ihrer jeweiligen Lebenswelt angesprochen werden (Setting-Ansatz). Dann können die im jeweiligen Kontext herrschenden Barrieren gegen ein Gesundheitsverhalten berücksichtigt werden. Beispiele für erfolgreiche Kampagnen mit Setting-
11
und Kontextbezug: Kampagne zum Sicherheitsgurt; HIV-Kampagne »Gib AIDS keine Chance«. Soziales Marketing. Um Wissen, Einstellungen
und Verhalten in der Bevölkerung zu beeinflussen, werden moderne Marketingstrategien genutzt, wie z. B. Kommunikation in den Massenmedien. Ein erfolgreiches Beispiel hierfür ist die Kampagne »Gib AIDS keine Chance« der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung. Durch eine große Zahl von auf unterschiedlichen Ebenen ansetzenden Maßnahmen, die auf die jeweilige Zielgruppe zugeschnitten waren (z. B. Plakate, Fernsehspots, Broschüren, Telefonberatung für die Allgemeinbevölkerung; persönliche Beratung in AIDS-Beratungsstellen und Gesundheitsämtern für Risikogruppen), ließ sich das präventive Verhalten (Kondombenutzung) und infolgedessen auch die Rate der HIV-Neuinfektionen günstig beeinflussen. Der massenmediale Ansatz wurde mit dem SettingAnsatz kombiniert: Risikogruppen wie z. B. homosexuelle Männer oder i.v.-Drogenabhängige wurden in ihrer Lebenswelt angesprochen, um ihnen Präventionsmöglichkeiten zu vermitteln (Verfügbarmachen von Kondomen und sterilen Spritzenbestecken), Allerdings konnte man in den letzten Jahren einen Rückgang in der Reichweite der Informationsmaßnahmen beobachten, der sich auch negativ im präventiven Verhalten niederschlug. Die Kondombenutzung bei sexuellen Kontakten lässt wieder nach, insbesondere unter homosexuellen Männern.
11.1.5
Ethische und ökonomische Probleme der Prävention
Da Prävention eine sinnvolle Strategie ist, wird gefordert, mehr Mittel für präventive Maßnahmen zur Verfügung zu stellen. Andererseits gibt es bisher erst wenige Präventionsprogramme, deren Wirksamkeit nachgewiesen ist. Entweder fehlt die Evidenz aus methodisch guten Studien, oder entsprechende Studien haben widersprüchliche oder negative Ergebnisse erbracht. Vor diesem Hintergrund lässt sich die politische Forderung nach mehr Prävention nicht immer ausreichend begründen. Es besteht im Bereich präventiver Maßnahmen im Gesundheits-
342
Kapitel 11 · Förderung und Erhaltung von Gesundheit: Maßnahmen
wesen vielmehr ein großer Forschungs- und Ent-
11.2
Rehabilitation, Selbsthilfe und Pflege
11.2.1
Rehabilitationseinrichtungen und -konzepte
wicklungsbedarf.
11
Ein weiteres Problem im Spannungsfeld von Ethik und Ökonomie ist die Entscheidung, in welchem Bereich die knappen Mittel eingesetzt werden sollen (Priorisierung der Ressourcenallokation). Will man die Mittel eher der Gesamtbevölkerung zugute kommen lassen, mit der Gefahr, viel Aufwand für wenig Ertrag zu betreiben? Oder will man die Maßnahmen auf Risikogruppen fokussieren, z. B. auf Menschen mit erhöhtem Blutdruck oder Übergewicht, so dass die Erfolgsaussichten besser sind, jedoch nur eine Teilgruppe der Bevölkerung in den Genuss von Präventionsmaßnahmen kommt? Zwar würden sich durch den bevölkerungsbezogenen Ansatz insgesamt viel größere Effekte erzielen lassen als durch den Risikogruppenansatz. Ersterer ist aber schwerer durchzuführen, letzterer leichter zu vermitteln (7 Kap. 10.1.1). Ein weiteres ethisches Problem kann entstehen, wenn Menschen diskriminiert werden, weil sie sich nicht ausreichend um die Erhaltung ihrer Gesundheit bemühen. Zwar ist es richtig, dass ein großer Teil der Verantwortlichkeit für die eigene Gesundheit beim Individuum liegt. Gleichwohl würde eine Gesundheitspolitik totalitäre Züge annehmen, wenn sie dem Einzelnen vorschreiben würde, wie er zu leben hat. Alle Maßnahmen zur Gesundheitsförderung und Prävention müssen deshalb das Recht des einzelnen Menschen respektieren, sein Leben selbst zu gestalten. v Lernziele Gesundheitsförderung vs. Prävention, betriebliche Gesundheitsförderung, strukturelle vs. personale Gesundheitsförderung, Setting-Ansatz.
Ì Vertiefen Naidoo J, Wills J (2003) Lehrbuch der Gesundheitsförderung. Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, Köln (systematischer Überblick zu Grundlagen und Umsetzung von Prävention und Gesundheitsförderung mit zahlreichen Praxisbeispielen und Projektdarstellungen)
Das verhältnismäßig stark ausgebaute Rehabilitationswesen in Deutschland leitet sich aus dem im § 10 Sozialgesetzbuch (SGB) V festgelegten Auftrag ab: »Wer körperlich, geistig oder seelisch behindert ist oder wem eine solche Behinderung droht, hat unabhängig von der Ursache ein Recht auf Hilfe, die notwendig ist, um 1. die Behinderung abzuwenden, zu beseitigen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder ihre Folgen zu mildern, 2. ihm einen nach seinen Neigungen und Fähigkeiten entsprechenden Platz in der Gemeinschaft, insbesondere im Arbeitsleben, zu sichern.« Wichtig ist dabei einerseits, dass von Behinderung bedrohte Menschen (insbesondere chronisch Kranke) den Behinderten gleichgestellt sind (und damit zur Gruppe der Reha-Anspruchsberechtigten zählen) und andererseits der finale Charakter, d. h., dass alle Leistungen auf die weitgehende Integration bzw. gesellschaftliche Partizipation/Teilhabe der Rehabilitanden gerichtet sein müssen. Versorgungskontinuität. Die Umsetzung dieses
weitgehenden Anspruchs im Rahmen des gegliederten Systems des deutschen sozialen Sicherungssystems, das unterschiedlichen Trägern unterschiedliche Aufgaben zuweist (7 Kap. 9.3.2), gestaltet sich nicht ganz problemlos. Rehabilitationsleistungen, die sich nicht immer von kurativen Leistungen trennen lassen und auch zahlreiche präventive Momente beinhalten (7 Kap. 10.5 und 10.6), erfordern eine hohe Kontinuität in der Versorgung und oft auch das integrierte Zusammenwirken verschiedener Leistungen (z. B. medizinische, soziale und berufsorientierte Leistungen), um dem umfassenden Anspruch der Teilhabeorientierung gerecht zu werden. Das 2001 verabschiedete Sozialgesetzbuch IX (»Rehabilitation und Teilhabe«) verfolgte in erster Linie das Ziel, im Bereich der Rehabilitation die strukturelle Vernetzung der Leistungsträger zu erreichen. Man wollte damit eine verbesserte Integration und
343 11.2 · Rehabilitation, Selbsthilfe und Pflege
kontinuierliche Fortsetzung der Leistungen erreichen. Neben den erwähnten Reha-Servicestellen (7 Kap. 10.6.4) gehören zu den Vorschriften enge Fristen für die Bearbeitung von Reha-Anträgen, erweiterte Vorleistungsregelungen, die Verpflichtung der Träger zur engen Zusammenarbeit und zur Abstimmung von Anforderungen an Leistungserbringer (Reha-Kliniken) und Rehabilitationsabläufe sowie eine Ausweitung zahlreicher Rechte der RehaAntragsteller. Formen von Rehabilitationseinrichtungen 4 Medizinische Rehabilitationsleistungen, insbesondere bei Rehabilitanden mit chronischen Krankheiten, werden in Rehabilitationskliniken erbracht, die zumeist auf bestimmte Diagnosegruppen spezialisiert sind (z. B. für orthopädische Erkrankungen, Suchttherapie). 4 Berufliche Rehabilitationsleistungen werden in Berufsförderungswerken (v.a. Umschulung, Förderkurse) und Berufsbildungswerken (v.a. Erstausbildung bei körperlich oder seelisch behinderten Jugendlichen) erbracht, traditionell v.a. stationär bei internatsmäßiger Unterbringung. 4 Schulisch-pädagogische Leistungen werden in Frühfördereinrichtungen, Schulen für körperlich, geistig oder seelisch Behinderte, Sonderkindergärten oder speziellen Berufsschulen erbracht. 4 Soziale Rehabilitationsleistungen werden in Wohnheimen, Übergangsheimen oder als Hilfen zur Wiedereingliederung/Übergangsgelder o.Ä. erbracht. 4 Daneben gibt es noch zahlreiche ergänzende Leistungen zur Rehabilitation, wie Rehabilitationssport, Arbeitsassistenz, Hilfen zur Arbeitsplatz(um)gestaltung, technische Hilfen und Verständigungshilfen.
Übersichten über die verschiedenen Rehabilitationsangebote und -einrichtungen bieten die von der Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation herausgegebenen Wegweiser (www.bar-frankfurt.de).
11
Rehabilitationskonzepte. Die Rehabilitationskon-
zepte sehen zunächst eine sorgfältige Erhebung der Ausgangssituation vor, unter dem Blickwinkel von Funktions- und Integrationsproblemen und Rehabilitationszielen. Vor diesem Hintergrund wird gemeinsam mit dem Rehabilitanden ein umfassender Rehabilitationsplan erstellt, der im Rahmen der Einrichtung zu bearbeiten ist. Dabei steht – am Beispiel der medizinischen Rehabilitation – häufig die Patientenschulung als Hilfe zur angemessenen Umgang mit der Erkrankung und zur Bewältigung der Krankheitsfolgen sowie zur optimalen gesellschaftlichen Teilhabe im Mittelpunkt (7 Kap. 8.1.3). Je nach Grunderkrankung und individueller Rehabilitationsdiagnostik und -zielsetzung kommen weitere Behandlungsbausteine hinzu, wie Physiotherapie, berufsorientierte Maßnahmen, Ergotherapie oder Neuropsychologie (7 Kap. 10.6.1). Gemeindenahe Versorgung. Speziell im psychiatri-
schen Bereich hat sich in den vergangenen 30 Jahren das Konzept der gemeindenahen Versorgung mit dem Ziel etabliert, Bezüge des Rehabilitanden zum gewohnten Lebensumfeld möglichst wenig zu unterbrechen und die Wiedereingliederung dadurch optimal vorzubereiten. Teilstationäre und komplementäre Dienste (sozialpsychiatrische Dienste mit Tagesstätten, Wohngruppen für psychisch Kranke u. a.) sowie regionale Bezüge von psychiatrischen Kliniken (»Sektorisierung« von Großkrankenhäusern oder kleine psychiatrische Abteilungen an regionalen Allgemeinkrankenhäusern) sollen es erlauben, unvermeidbare stationäre Aufenthalte sehr knapp zu bemessen, damit soziale Bindungen an die Lebenswelt des Patienten nicht unterbrochen werden. In gleicher Weise wird auch in anderen Rehabilitationssektoren das Prinzip der gemeindenahen Versorgung als immer vordringlicher angesehen, weil es eine wichtige Voraussetzung darstellt, um Integration und Partizipation zu erreichen (z. B. ambulante Rehabilitation). Um die Behandlungs- und Reha-Einrichtungen regional bedarfsgerecht aufeinander abzustimmen, werden immer häufiger regionale Gesundheitsund Pflegekonferenzen ausgerichtet. Sie werden gelegentlich vom regionalen öffentlichen Gesundheitsdienst organisiert, sind letztlich aber als freiwillige Möglichkeiten zur Kooperation und Koordination anzusehen.
344
Kapitel 11 · Förderung und Erhaltung von Gesundheit: Maßnahmen
Beratungsangebote. Der Beratung chronisch Kranker kommt eine immer stärkere Bedeutung zu. Eine wichtige Rolle spielen dabei die beteiligten Ärzte (7 Kap. 8.1.1), ggf. unterstützt durch weitere Institutionen, wie Reha-Servicestellen oder den öffentlichen Gesundheitsdienst, aber auch Beratungsangebote von Krankenkassen.
11.2.2
11
Selbsthilfegruppen und -organisationen
Zwischen dem natürlichen sozialen Netz (z. B. der Familie) einerseits und professionellen Helfern andererseits sind Selbsthilfegruppen angesiedelt. Dies sind Zusammenschlüsse von Betroffenen, die sich freiwillig regelmäßig, meist einmal pro Woche, zum gemeinsamen Gespräch treffen (z. B. Anonyme Alkoholiker). Die Gesprächsgruppe wird von einem Betroffenen geleitet. Alle Gesprächsteilnehmer sind aber gleichberechtigt. Ziel der Selbsthilfegruppe ist vor allem die Bewältigung der Krankheit und ihrer psychischen und sozialen Folgen. Dieses Ziel wird dadurch erreicht, dass die Mitglieder ihren Informationsstand erhöhen und sich gegenseitig emotional unterstützen. Viele informelle Selbsthilfegruppen und erst recht die stärker formalisierten Selbsthilfeorganisationen übernehmen Aufgaben der Öffentlichkeitsarbeit und Interessenvertretung gegenüber professionellen Institutionen des Gesundheitssystems und der Politik. In der jüngsten Zeit werden zunehmend Vertreter der Interessen der Betroffenen in Entscheidungsprozesse des Gesundheitswesens einbezogen. Diese Patientenvertreter rekrutieren sich aus den Selbsthilfeorganisationen. Auch wenn Selbsthilfegruppen meist ohne professionelle Experten arbeiten, ziehen sie doch bei Bedarf auch Ärzte, Psychologen oder Sozialarbeiter als Berater hinzu. Selbsthilfegruppen können als Partner der Ärzte verstanden werden. Sie fördern den Kompetenzerwerb ihrer Mitglieder und machen den Betroffenen zu einem Experten in eigener Sache, der in der Arzt-Patient-Beziehung ein gleichberechtigter Partner sein kann und das Gesundheitssystem gezielter und sachgerechter in Anspruch nimmt. Vor diesem Hintergrund ist davon auszugehen, dass durch Selbsthilfegruppen auch eine Kos-
tenersparnis für das Gesundheitssystem erreicht wird.
11.2.3
Pflege
Pflegetätigkeiten. Als berufliche Tätigkeit lässt
sich Pflege allgemein in drei Berufsfelder untergliedern: Kinderkrankenpflege, Krankenpflege und Altenpflege. Kinderkrankenpflege umfasst die Versorgung von gesunden Neugeborenen bis hin zu schwerkranken Kindern und Jugendlichen. Die Tätigkeit berücksichtigt in besonderem Maße die psychische, körperliche und soziale Entwicklung von der Geburt bis ins Jugendalter. Krankenpflege bezieht sich auf die Begleitung bzw. Pflege von (zumeist) erwachsenen Patienten. Dazu zählt zum einen die Unterstützung der medizinischen Behandlung im Krankheitsfall. Zum anderen fördert sie die Bewältigung von wichtigen Alltagsaktivitäten, zu denen die Betroffenen vorübergehend oder längerfristig nicht in der Lage sind. Altenpflege richtet sich auf die Versorgung pflegebedürftiger älterer Menschen, die zumeist an mehreren chronischen Krankheiten gleichzeitig leiden (Multimorbidität). Neben verschiedenen körperlichen Erkrankungen (z. B. Herzinsuffizienz, Arthrose, Hypertonie) kommt den psychischen Erkrankungen, insbesondere Demenz und Depression, eine besondere Bedeutung in der pflegerischen Versorgung zu. Grund- und Behandlungspflege. Pflegeleistungen
lassen sich unabhängig von den genannten Berufsfeldern in zwei Gruppen einteilen. Grundpflege umfasst alle Versorgungs- und Unterstützungsleistungen, die sich auf die Bewältigung von alltäglichen Aktivitäten (s. u.) der betroffenen Personen beziehen. Behandlungspflege beinhaltet alle pflegerischen Leistungen, die sich auf die konkrete medizinische Versorgung beziehen (Medikamenteneinnahme, Wundversorgung etc.). Soziale Pflegeversicherung. Aufgrund der Verän-
derungen in der Bevölkerungsstruktur in Deutschland mit einem steigenden Anteil älterer Menschen an der Gesamtbevölkerung ist mit einem zunehmenden Anteil pflegebedürftiger älterer Menschen
345 11.2 · Rehabilitation, Selbsthilfe und Pflege
zu rechnen. Im Jahre 1994 wurde deshalb die gesetzliche Pflegeversicherung als fünfte Säule des sozialen Sicherungssystems verabschiedet (SGB XI). Drei Zielsetzungen wurden besonders hervorgehoben: Etablierung einer bundeseinheitlichen Pflegeinfrastruktur, um eine ambulante und stationäre Versorgung auf hohem Qualitätsniveau zu gewährleisten; Förderung der häuslichen Pflege und der Pflegebereitschaft der Angehörigen und finanzielle Entlastung der bis dato zuständigen Sozialhilfeträger. Pflegebedarf. Ob ein Anspruch auf Pflegeleistun-
gen besteht, prüft der Medizinische Dienst der Krankenkassen (MDK) bzw. der privaten Pflegekassen (Medicproof) durch eine Begutachtung mit einer anschließenden Einstufung nach dem Grad der Pflegebedürftigkeit. Nach SGB XI ist Pflegebedürftigkeit gegeben, wenn eine Person wegen einer körperlichen, geistigen oder seelischen Krankheit oder Behinderung für Verrichtungen und Alltagsaktivitäten auf Dauer, voraussichtlich aber für mindestens sechs Monate, in erheblichem Maße Hilfe benötigt.
11
der Ernährung oder der Mobilität täglich rund um die Uhr, auch nachts, der Hilfe bedürfen und zusätzlich mehrfach in der Woche Hilfen bei der hauswirtschaftlichen Versorgung benötigen.
Bei Vorliegen von Pflegebedürftigkeit hat der Betroffene die Wahl zwischen einer Sachleistung, womit eine häusliche Pflegehilfe durch eine geeignete Pflegekraft gemeint ist, dem Pflegegeld, womit der Betroffene selbst für die Sicherstellung seines Pflege- und Versorgungsbedarfs aufkommen muss, oder einer Kombination aus beiden. Pflegeziel. Die Förderung der Selbstständigkeit
und Unabhängigkeit ist das übergeordnete Ziel der Pflege eines kranken bzw. pflegebedürftigen Menschen, wobei dieser angeleitet und unterstützt werden soll, seine eigenen Ressourcen zu aktivieren. Aktivitäten des täglichen Lebens. Von zentraler
Pflegestufen Für die Festlegung des Umfangs von pflegerischen Leistungen im Einzelfall wurden unterschiedliche Pflegestufen definiert. 4 Pflegestufe I (erheblich Pflegebedürftige) gilt für Personen, die bei der Körperpflege, der Ernährung oder der Mobilität für wenigstens zwei Verrichtungen aus einem oder mehreren Bereichen mindestens einmal täglich der Hilfe bedürfen und zusätzlich mehrfach in der Woche Hilfen bei der hauswirtschaftlichen Versorgung benötigen. 4 Pflegestufe II (Schwerpflegebedürftige) gilt für Personen, die bei der Körperpflege, der Ernährung oder der Mobilität mindestens dreimal täglich zu verschiedenen Tageszeiten der Hilfe bedürfen und zusätzlich mehrfach in der Woche Hilfen bei der hauswirtschaftlichen Versorgung benötigen. 4 Pflegestufe III (Schwerstpflegebedürftige) gilt für Personen, die bei der Körperpflege, 6
Bedeutung für die Einschätzung der Einschränkungen im Alltag sind verschiedene Aktivitäten des täglichen Lebens (ATL, engl. activities of daily living, ADL), die sich auf vier Lebensbereiche beziehen: Aktivitäten des täglichen Lebens 4 Körperpflege: z. B. Waschen, Duschen, Baden, Zahnpflege, 4 Ernährung: z. B. mundgerechtes Zubereiten oder Aufnahme der Nahrung, 4 Mobilität: z. B. selbstständiges Aufstehen und Zu-Bett-Gehen, An- und Auskleiden, 4 hauswirtschaftliche Versorgung: z. B. Einkaufen, Kochen, Reinigen der Wohnung, Spülen.
Pflegequalität. Ca. 2/3 aller Pflegebedürftigen
werden zu Hause versorgt, meist durch Angehörige, teilweise unterstützt durch ambulante Pflegedienste und Sozialstationen, nur 1/3 in Pflegeeinrichtungen (Pflegeheim, Hospiz; 7 Kap. 8.7.1). Ein zentrales Ziel aller ambulanten und stationären Pflegeeinrichtungen ist die Entwicklung und Sicherung einer hohen Pflegequalität. Kernelemente der Pflegequalität sind
346
Kapitel 11 · Förderung und Erhaltung von Gesundheit: Maßnahmen
Entwicklung und Einführung moderner Pflegeund Betreuungskonzepte, Aus-, Fort- und Weiterbildungen von Pflege(fach)kräften sowie optimale alters- und behindertengerechte Wohnbedingungen. Wichtig für die angemessene Versorgung Betroffener ist zudem die Vernetzung aller im Einzelfall beteiligten Gesundheits- und Versorgungseinrichtungen im Rahmen von Pflegeüberleitungen (vom Krankenhaus organisierte pflegerische Nachsorge) und Disease-Management-Programmen. Schnittstellenprobleme im Übergang von einer Institution zur nächsten (z. B. vom Krankenhaus in ein Pflegeheim) werden durch eine intensivere interdisziplinäre Zusammenarbeit aller Beteiligten (Patienten, Ärzte, Angehörige, Soziale Dienste, Pflegekräfte etc.) vermieden (Pflegekonferenzen). Belastungsaspekte. Pflegetätigkeiten können für
11
professionelle Pflegekräfte ebenso wie für pflegende Angehörige zu psychischen und körperlichen Belastungen führen. Ursachen im professionellen Pflegebereich werden insbesondere im hohen Zeitdruck sowie einer als unzureichend erlebten Personalausstattung gesehen. Pflegende Angehörige, meist Frauen, sind vor allem durch die ständige Hilfeleistung sowie eine mögliche Doppelbelastung durch die zusätzliche Versorgung der eigenen Familie und Kinder beeinträchtigt. Eine mögliche Folge dauerhafter Überlastung bei Pflegepersonen ist das sog. Burn-out-Syndrom (7 Kap. 5.2.5). v Lernziele Rehabilitationsleistungen, gemeindenahe Versorgung, Selbsthilfegruppen, Aktivitäten des täglichen Lebens.
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A Anhang A1
Literaturverzeichnis
A2
Sachverzeichnis
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A2 Sachverzeichnis
356
Anhang
A ABC-Schema 249 Abhängigkeit 145 Abhängigkeits-Autonomie-Konflikt 140 Abstieg, sozialer 45 Abstinenzregel 244 Abwehr 36 Abweichung – primäre 334 – sekundäre 334 Abweichungs-IQ 122 Acetylcholin 100 Adaptationssyndrom, allgemeines 23 Adaptivität der Krankheitsverarbeitung 265 Adhärenz 212 Adoleszenz 34 Affektregulation 32 Aggravation 201 Aggregatdaten 75 Aggression 133 Agoraphobie 17 Akkulturation 184 Aktivierung (Aktivation) 103 Aktivitäten des täglichen Lebens 345 Algesimetrie, subjektive 27 Alkohol 145 Allostase 24 α-Fehlerrisiko 53 Altenquotient 177 Alternativhypothese 52 Altersabhängigkeitsquotient 178 Altersaufbau 179 Altruismus 138 Amnesie 121 – anterograde 121 – retrograde 121 Amygdala 97 analer (zwanghafter) Charakter 151 Analogskala, visuelle 27 Anamnese 222 – Familienanamnese 222 – Fremdanamnese 222 – Sozialanamnese 222 Änderungssensitivität 62 Anforderungs-Kontroll-Modell 172 Angst-Vermeidungs-Strategie 30 Angstregulation 97 Angststörungen 133 Anomie 49 Anorexia nervosa 169 Anschlussmotiv 143 anteriorer zingulärer Cortex 97 Antistigma-Programm 12
Antworttendenzen 63 Aphasien 119 – amnestische 119 – Broca-Aphasie 119 – globale 119 – Wernicke-Aphasie 119 Aquieszenz 63 Äquivalenz, strukturelle 67 Äquivalenzprinzip 302 Arbeitslosigkeit 40 Arzt-Patient-Beziehung 205 – informatives Modell 205 – Konsumentenmodell 205 – partnerschaftliches Modell 205 – paternalistisches Modell 205 Arztrolle 197 Assimilation 184 Assoziation, freie 244 Attributionsfehler, fundamentaler 143 Attributionstheorie 143 Aufklärungsgespräch 214, 215 Aufmerksamkeit 113 – selektive 114 Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitäts-Störung (ADHS) 114 Autismus 164 Autogenes Training 253
B Balintgruppe 210 Basalganglien 96 Basisemotionen 125 Basismerkmale hilfreicher Gesprächsführung 208 Bedürfnishierarchie nach Maslow 141 Beeinträchtigung, leichte kognitive 121 Behaviorismus 15 Belastungen bei Krebskranken 264 Belastungsquotient 178 Belastungsreaktion, akute 256 Belastungsstörung – posttraumatische 26, 35, 256 Beobachtung 77 – systematische 77 – teilnehmende 77 Beobachtungsstudie 69 Bereitschaftspotential 79 Bestrafung 17 β-Fehlerrisiko 55 Beurteilerübereinstimmung 232 Beurteilungsfehler 216, 225 – Effekt der zentralen Tendenz 225 – Halo-Effekt 225
– Kontrasteffekt 225 – Milde-Effekt 225 – Projektion 225 Bewältigungsplanung 318 Bewusstseinsgrad 103 Beziehungserfahrung, neue 245, 246 Beziehungsmuster, implizite 32 Beziehungsschemata 245 bias 69 Big-Five-Persönlichkeitsmodell 151 Bindung, soziale 131, 138, 161 Bindungsstile 161, 274 Biofeedback 30 Brustkrebs, hereditärer 268 Bulimia nervosa 169 Bündnis gegen Depression 340 Burn-out-Syndrom 199, 260
C Cannabis 147 Cannon-Bard-Theorie 126 Chaining 111 Charakter – schizoider 150 – oraler (depressiver) 151 – phallischer (hysterischer) 151 Chi2-Test 83 Chronobiologie 104 Code, elaborierter 166 Cohen’s d 85 Cohens Kappa 232 Compliance 212 confounder 64 Coping 200, 329 – aktives 330 – dyadisches 331 Cortex, präfrontaler 95, 98 Cortisol 26, 80
D delay 293, 294 Demenz 121 demographischer Übergang 181 Depression 9, 18, 101 Deprivation 162 – strukturelle 46 der kleine Albert 16 Desensibilisierung, systematische 248 Deutung 244 Devianz 11
357
A–G
A2 · Sachverzeichnis
Diagnosis-Related-Groups (DRG) 307 Diagnostik – operationale kriterienorientierte 9 – operationalisierte psychodynamische 39 – prädiktive 269 – pränatale 270 Dialog, sokratischer 249 Disease-Management-Programme 196 Dishabituation 108 Diskriminierung 12 Dissimulation 201 Dokumentenanalyse 90 Dopamin 96, 102 Dopamin-Rezeptor D2 22 Doppelblindstudie 68 Double bind 202 Drogenkonsum bei Jugendlichen 171 DSM-IV (Diagnostisches und Statistisches Manual Psychischer Störungen, 4. Version) 9 Durchhaltestrategie 30 Dysfunktion, erektile 280
Ereigniskorrelierte (evozierte) Potentiale (EP) 78 Erektionsstörung 280 Erinnerung, falsche 120 error 69 Erwartungswelle 79 Erwartungs-mal-Wert-Theorie 140 Erwerbsquote 187 Erwerbssektor 187 Erwünschtheit, soziale 63 Erziehungsstile 165 Es 35 Ethologie 139 Evaluation 94 – formative 94 – summative 94 evidenzbasierte Medizin 92 Exklusion, soziale 188 Expositionsbehandlung 248 Extinktion 16
E
Faktor, protektiver 5 Fall-Kontroll-Studie 70 Familientherapie 251 Familienzyklus 182 Fehler – 1. Art 53 – 2. Art 54 – systematischer 69 – zufälliger 69 Fehlerkultur 217 Feldstudien 64 Fertilität 178 Finanzierungsmodell 302 Fixierung, iatrogene 11, 220 Fokusgruppe 90 Frageformat 224 – Alternativfrage 224 – geschlossene Frage 224 – Katalogfrage 224 – offene Frage 224 – Suggestivfrage 224 Fremde-Situationstest 161 Fruchtbarkeitsziffer, allgemeine 178 Frustrations-Aggressions-Hypothese 133 Führungsstil 233 – direktiver 233 – partizipativer 233 Fünf-Faktoren-Modell 151 funktionelle Kernspintomographie (fMRT) 80 Funktionsstörung, sexuelle 280, 281 Furchtsystem 131
Ecstasy 147 EEG 103 Effectiveness 72 Effektstärke 85 Efficacy 72 Effizienz 93 Eigensteuerung 112 Ein-Gruppen-Prä-Post-Studie 70 Eindruck – erster 221 – letzter 221 Einkommensungleichheit 48 Einstellungen 41 Einzelfallstudie 73 Elektrodermale Aktivität (EDA) 78 Elektroenzephalogramm (EEG) 78 Elektromyogramm (EMG) 78 Emotionen, primäre 125 Emotionskomponenten 124 Emotionstheorie 126 Emotionsverarbeitung 128 Empathie 28, 160, 208, 251 Empowerment 241 Enkodierung 119 Entprofessionalisierung 193 Entscheidungsfindung, partizipative 204 Entscheidungshilfen 206 Entwicklung, psychosexuelle 33 Epigenetik 100, 162
F
G GABA 100 Gate-Control-Modell 28 Geburtenziffer – allgemeine 178 – altersspezifische 178 – geschlechtsspezifische 178 – zusammengefasste 178 Gedächtnis 119, 120 – Arbeitsgedächtnis 119 – deklaratives 120 – episodisches 120 – explizites 120 – Habit-Gedächtnis 121 – implizites 120 – Kurzzeitgedächtnis 119 – Langzeitgedächtnis 119 – Priming-Gedächtnis 121 – prozedurales 120, 121 – semantisches 120 – sensorisches 119 – Ultrakurzgedächtnis 119 Gedanken, katastrophisierende 30 Gegenübertragung 209, 245 gemeinsame (geteilte) Umwelteinflüsse 21 Gen-Umwelt-Interaktion 22 Gen-Umwelt-Korrelation 22 – aktiv 22 – evokativ 23 – passiv 23 – reaktiv 23 genetischer Einfluss bei psychischen Störungen 21 Genwirkung 102 Geschlechtsrollenstereotyp 221 Geschlechtsstereotyp 274 Gesprächspsychotherapie, nondirektive 250 Gesprächsstil – direktiver 223 – nondirektiver 223 Gesundheit 4 – WHO-Definition 4 Gesundheitsförderung 338, 339 – betriebliche 339 – personale 341 – strukturelle 341 Gesundheitskosten 300 Gesundheitsverhalten 14, 313 Gesundheit und Krankheit als Dichotomie vs. Kontinuum 3 Gradient, sozialer 45 Gratifikationskrisenmodell 173 Großhirnrinde 96
358
Anhang
H Habituation 104, 108 Halluzinogene 147 Halo-Effekt 216 Handlungsplanung 318 Haupteffektmodell 44 Hausarzt 299 Hausarztmodell 196 Hawthorne-Effekt 68 Health-Belief-Modell 313 Health Action Process Approach, HAPA 318 Health literacy 203 Helfersyndrom 199 Hemineglekt 115 Hemisphärendominanz 98 Hemmung – proaktive 121 – retroaktive 121 Herzfrequenzvariabilität 79 Heuristik 234 – Ankerheuristik 235 – Anpassungsheuristik 235 – Verfügbarkeitsheuristik 234 Homöostase 23 Homöostase-Allostase-Modell 24 Hospitalismus 159 Hospiz 284 Hypnose 253 Hypnotherapie 253 Hypothalamus 96 Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse 24 Hypothalamus-Sympathikus-Nebennierenmark-System 24 Hypothese 50 – Alternativhypothese 52 – deterministische 51 – Nullhypothese 52 – probabilistische 51 Hypothesenprüfung, statistische 52 Hypothese von Fourastié 187
I ICD-10 (Internationale Klassifikation der Krankheiten, 10. Version 8 Ich 35 Ich-Funktion 39 Identifikation 38 Imaginatives Verfahren 253 Imitationslernen 111
Immunkonditionierung 16 Inanspruchnahme – alternativer Medizin 295 – des Arztes 294 – verzögerte 293 Indikationsdiagnostik 231 – adaptive, prozessuale Indikation 231 – selektive, differentielle Indikation 231 individuelle (nichtgeteilte) Umwelteinflüsse 21 Informationsbedürfnis 203 Informationsverarbeitung 113 informed choice 204 informed consent 207 informierte Einwilligung 207 Inhalts- und Beziehungsebene 202 Inhaltsanalyse 89 Instanzenmodell 35 Integration 184 – soziale 43 integrierte Versorgung 196 Intelligenz 122, 124 – fluide 124 – kristalline 124 Intelligenzquotienten (IQ) 122 Intention-to-treat-Auswertung 68 Intentions-Verhaltens-Lücke 316 Interferenz 116, 121 Interferenzneigung 155 Intergenerationenmobilität 189 Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) 328 Interozeption 6 Interrollenkonflikt 40, 199 Intervallskala 58 Interventionsform, psychoonkologische 267 Interviewform 76 – offenes (qualitatives) Interview 76 – strukturiertes (standardisiertes) Interview 76 – teilstrukturiertes (halbstandardisiertes) Interview 76 Interviewstil 76 – direktiver Stil 76 – nondirektiver Stil 77 Intragenerationenmobilität 189 Intrarollenkonflikt 40, 199 Inzidenz 324 Iowa Gambling Task 130 Irrtumswahrscheinlichkeit 53 Isolierung 38
J Ja-sage-Tendenz 63 James-Lange-Theorie 126
K Kapital, soziales 48 Kassenärztliche Vereinigungen 195 Kausalattribution 8, 143 Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut 195 Kinderwunschberatung 273 Kindesmissbrauch, sexueller 167 Klassifikationssysteme 8 Kleinhirn 96 Kognition 113 kognitiv-transaktionale Stressbewältigungstheorie von Lazarus 329 kognitives Verhaltenstherapie einer Depression 18 kognitive Verhaltenstherapie bei Panikstörung 20 Kohärenzsinn 42 Kohäsion, soziale 48 Kohortenstudie, prospektive 71 Kokain 146 Kollusion 210 Komorbidität 230 Kompetenzmodell des Alterns 174 Kompression der Morbidität 177 Konditionierung – instrumentelle 109 – klassische 15, 109 – operante 17, 109 – Verstärkerplan 110 Konfabulation 99 Konfidenzintervall 85 Konflikt – ödipaler 140 – intrapsychischer 32 Konflikttyp 142 – Ambivalenzkonflikt 142 – Appetenz-Appetenz-Konflikt 142 – Appetenz-Aversions-Konflikt 142 – Aversions-Aversions-Konflikt 142 Konsistenz, interne 61 Konsolidierung 120 Konstrukt 51 kontingente negative Variation, Erwartungswelle 79 Kontrollgruppe 66 Kontrollüberzeugung 219 Konversion 38
359
H–P
A2 · Sachverzeichnis
Korrektheit – negative 327 – positive 327 Korrelationskoeffizient 83 Kosten 93 – direkte 93 – indirekte 93 – intangible 93 Kosten-Effektivitäts-Analyse 93 Kosten-Nutzen-Analyse 93 Kosten-Nutzwert-Analyse 93 Kostenerstattungsprinzip 302 Krankenrolle 200 Krankenversicherung, gesetzliche 301 Krankheitsbewältigung 200, 329 Krankheitsgewinn – primärer 39 – sekundärer 39 Krankheitsmodell, biopsychosoziales 4 Krankheitsverarbeitung 200, 329 Krankheitsverhalten 14 Kränkung, narzisstische 135 Krebsfrüherkennung 294 Kreuzvalidierung 91
L Labeling-Ansatz 12 Laborexperiment 64 Laienätiologie 8, 291 Laiensystem 201 Landesärztekammer 194 Längsschnittuntersuchung 71 Langzeitpotenzierung 108 Latenzphase 34 Lateralisation 98 Lazarus-Schachter-Theorie 126 Lebendnierenspende 261, 263 Lebensjahr – qualitätsadjustiertes 93 – qualitätsangepasstes 306 Lebensqualität, gesundheitsbezogene 7 Lebensstil 319 Leistungsmotivation 142 Leitlinie 92 Lernen 108; s. a. Konditionierung – assoziatives 108 – am Erfolg 109 – am Modell 111 – durch Beobachtung 111 – nichtassoziatives 108 Lerntheorie 15, 109 Letalität 178
Likert-Skala 57 limbisches System 95, 96 Löschung 16 Lügenskala 63
M Machtmotiv 144 Magnetenzephalographie (MEG) 79 Mammographie 327 Managed Care 307 Marginalisation 184 Marketing, soziales 341 Median 82 Mediator-Variable 64 Medikalisierung 298 Medizinisches Versorgungszentrum 196 Mentalisierung 32 Metaanalyse 91 Metakommunikation 202 Methodentriangulation 74 middle knowledge 214, 286 Midlife-Crisis 173 Mittelwert 82 Mobilität – soziale 189 – vertikale 189 Modell – Ich-psychologisches 36 – objekt-psychologisches 36 – respondentes 15 – selbst-psychologisches 36 – topographisches 35 – trieb-psychologisches 36 – der Selbstwirksamkeit 315 – des geplanten Verhaltens 314 – des sozialen Vergleichsprozesses 316 Modelllernen 111 Moderator-Variable 64 Monoaminoxidase-A-Gen 22 Moralentwicklung 165 Mortalität 178 Motiv 137 – primäres 137 – sekundäres 139 motivierende Gesprächsführung 320 Muskelrelaxation, progressive 253
N Nahinfrarot-Magnetspektroskopie (NIRS) 81 Natalität 178 Nettoreproduktionsziffer 178 Neuromodulator 100 Neuropsychologische Therapie 254 Neurotransmitter 100 Neutralitätsregel 244 Nikotin 146 Nominalskala 57 Non-Compliance 212 Normbegriff 4 Norm, soziale 41 Normierung 62 Novelty-Seeking 155 Nozeboeffekt 226 Nozizeption 27 Nullhypothese 52 Number needed to treat (NNT) 87 Nuptialität 178 Nutzen-Risiko-Abwägung 233
O Objektivität 60 Objektpermanenz 163 Odds Ratio 70 Operationalisierung 56 Opiate 146 – endogene 138 Opportunitätsstruktur 45 Optimierung, selektive 175 Ordinalskala 58 Orientierung, sexuelle 275 Orientierungsreaktion 104 Oxytocin 131, 137, 138
P p-Wert 53 Palliativmedizin 283 Panikattacke 19 Panikstörung 19 Paniksystem 131 Paraphilien 281 Parkinson-Syndrom 96 Patientenschulung 240 Patientensicherheitskultur 217 Patientenzufriedenheit 305 Peer-Review 304
360
Anhang
Peer Group 166 Perseveration 116, 119 Persönlichkeit 148 Persönlichkeitsmodell von Eysenck 150 Persönlichkeitsstörung – antisoziale (dissoziale) 156 – narzisstische 154 Pfadanalyse 84 Pflegestufe 345 Phantomschmerz 29 Phase – anal-muskuläre 34 – oral-sensorische 33 – phallisch-ödipale 34 Phasen des Sterbeprozesses nach Kübler-Ross 286 Phobie 16, 133 Piagets Phasen der kognitiven Entwicklung 163 Plastizität 254 – neuronale 99 Plazeboeffekt 29, 225 Polygraph 103 Positronen-Emissions-Tomographie (PET) 80 Potential – endogenes 79 – evoziertes 78 – exogenes (frühes) 79 power 55 Prädiktionswert – negativer 326, 327 – positiver 326, 327 Prävalenz 324 Prävention 312, 318 – primäre 312, 318 – sekundäre 312, 321 – tertiäre 312, 328 Premack-Prinzip 110 preparedness 16, 112 primacy-Effekt 221 Primärdaten 75 Primärfaktorenmodell 123 Primärversorgung 194, 299 Priorisierung 301 Profession, ärztliche 194 Projektion 37, 216 Prompting 111 Propriozeption 6 Prosopagnosie 117 Prozess, diagnostischer 230 Prozessmodell gesundheitlichen Handelns 318 Psychoanalyse 31, 243 psychologischer Psychotherapeut 195 Psychoneuroimmunologie 26, 335
Psychotherapie – klientenzentrierte 250 – psychodynamische 243 – tiefenpsychologisch fundierte 243 Psychotraumatologie 34 Pubertät 34 Publication bias 91
Q Qualitätsmanagement 303 Qualitätssicherung 303 – Ergebnisqualität 303 – Prozessqualität 303 – Strukturqualität 303 Qualitätszirkel 305 Querschnittsstudie 69
– sexuelle 278 Rhythmus, zirkadianer 104 Risiko, relatives 71 Risikofaktor 321 – kausaler 5 Risikoindikator 5, 321 Risikokennwert 86 – absolute Risikoreduktion 87 – absolutes Risiko 86 – attributable Fraktion 88 – attributables Risiko 88 – bevölkerungsbezogenes attributables Risiko 88 – Odds Ratio 88 – relative Risikoreduktion 86 – relatives Risiko 86 Risikostrukturausgleich 302 Rolle, soziale 40 Rosenthal-Effekt 68, 225 Rückenschmerzen, chronische 19, 30 Rückhalt, sozialer 42
R Randomisierung 67 – unvorhersehbare 67 Rangskala 58 Ratingskala, numerische 57 Rationalisierung 38 Rationalskala 58 Re-Enkodierung 120 Reaktanz 216, 323 Reaktion – individualspezifische 149 – konditionierte 15 – sexuelle 275, 281 – stimulusspezifische 24 – unkonditionierte 15 Reaktionsbildung 38 recency-Effekt 221 Regressionsanalyse, multiple 84 Reha-Servicestellen 336 Reiz – konditionierter 15 – unkonditionierter 15 Reizgeneralisierung 109 Reizüberflutung, flooding 248 Rektangularisierung der Überlebenskurve 177 Reliabilität 60 Replizierbarkeit 91 Reproduktion, assistierte 271 Resilienz 5 response shift 265 Retest-Reliabilität 60 Revolution – neosexuelle 278
S Sachleistungsprinzip 301 Salutogenese 42 Säuglingssterblichkeit 179 Schachter-Singer-Theorie 127 Schicht, soziale 45, 188 Schichtindizes 57 Schizophrenie 102, 189 Schlaf 104 – Non-REM-Schlaf 104 – REM-Schlaf 104, 105 – Schlafentzug 106 – Schlafstadium 104 – Schlafstörung 106 Schmerz 27 – akuter 27 – chronischer 27, 29 Schmerzgedächtnis 28 Schnittstellenproblematik 300 Schutzfaktoren 42, 322 Screening-Tests 323 Sekundärdaten 75 Sekundärtraumatisierung 259 Selbsthilfegruppe 344 Selbstkonzept 153 Selbstmanagement 204, 241 Selbstwertgefühl 154 Selbstwirksamkeitserwartung 315 Sensation-Seeking 155 Sensitivierung 108 Sensitivität 324, 325 Sensitization-Repression 154
361
P–V
A2 · Sachverzeichnis
Separation 184 Serotonin-Transporter-Gen 21, 22 Setting-Ansatz 341 Sexualität 137, 170 Sexualzyklus 275 Shaping 111 shared decision-making 204 Sicherstellungsauftrag 195 Signifikanz, statistische 54 Simulation 201 Sinnfindung (benefit finding) 330 Skalenniveau 57 Solidarprinzip 301 Somatisierung 10, 220 Somatisierungsstörung 10, 11 SORKC-Modell 19 Sozialisation, primäre 165 Soziometrie 90 Spaltung 38 Spezifität 324, 326 Split brain 99 Sprachcode – elaborierter 166 – restringierter 165 Sprachstörung 118 Standardabweichung 82 Standardisierung 62 Standardmessfehler 62 State-Angst 133 Status, sozioökonomischer 188 Statusinkonsistenz 188 Sterbehilfe 289 Stereotypien 221 Stichprobe – Ad hoc- 74 – geschichtete 74 – Klumpenstichprobe 74 – konsekutive 74 – Quotenstichprobe 74 Stigmatisierung 12 Stimuluskontrolle 247 Störung – der Geschlechtsidentität 282 – der Sexualpräferenz 281 – somatoforme 10, 11 Störvariable 64 Stress 23 Stress-Diathese-Modell 24 Stress-Puffer-Modell 43 Stress-Vulnerabilitäts-Modell 24 Stressmanagement 20 Stressmodell von Henry 24 Stressor 23 Streuung 82 Strukturgleichungsmodell 84 Strukturmodell, psychoanalytische 35 Strukturwandel der Familie 166
Studie – multizentrische 73 – ökologische 73, 75 – quasiexperimentelle 69 – randomisierte kontrollierte 65 subjektive Krankheitstheorie 7, 266, 291 Sublimierung 38 Supervision 305 Symptomaufmerksamkeit 291 Systemische Therapie 251
T t-Test 84 Teilhabe 331, 342 Telemedizin 187 Tendenz, zentrale 82 Tertiarisierung 187 Test, statistischer 53 Testgütekriterium 60 Testosteron 130, 135 Teststärke 55 Thalamus 96 Theorie – der kognitiven Dissonanz 323 – sozial-kognitive 315 – der Schutzmotivation 315 Therapieempfehlung 92 Trait-Angst 133 Transfer, negativer 112 Transformation, demographische 179 transkranielle Magnetstimulation (TMS) 79 Transsexualismus 282 Trauer 288 Trauerprozess 136 Traumatisierung, stellvertretende 259 Traumdeutung 244 Trennungs-Distress 138 Triade, meritokratische 45, 188 Typ-A-Verhalten 155
U Übelkeit, antizipatorische 16 Über-Ich 35 Überlebenszeit – bei koronarer Herzkrankheit 335 – bei Krebs 334 Übertragung 209, 245 Übertragungsdeutung 246 Umstrukturierung, kognitive 20
Unbewusste 35 Ungeschehenmachen 38 Unterstützung – Bewertungsunterstützung 43 – emotionale 43 – informationelle 43 – instrumentelle 43 – soziale 42, 43 Unterversorgung 296 Urvertrauen 34
V Validität 60, 61 – Änderungssensitivität 61 – diskriminante bzw. divergente 61 – diskriminative 61 – externe 72 – interne 72 – Konstruktvalidität 61 – konvergente 61 – kriteriumsbezogene 61 Variable – abhängige 64 – unabhängige 64 Varianz 82 Varianzanalyse 84 Veränderungsmessung 231 Verdrängung 36 Verfahren, Verhalten, antisoziales 22 Verhaltensanalyse 18, 222 – horizontale 18, 222 – vertikale 18, 222 Verhaltensänderung, transtheoretisches Modell der 317 Verhaltensgenetik 21, 102 Verhaltensmedizin 20, 30 Verhaltensprävention 312 Verhaltenstherapie 246 – kognitive 247 – operante 247 Verhältnisprävention 312 Verhältnisskala 58 Verleugnung 36 Vermeidungsverhalten 17, 110 Verschiebung 36 Versorgung, Sektoren der 300 Verstärkung 17 – negative 17, 110 – positive 17 – stellvertretende 112 Verursachung, soziale 45 Vigilanz 114 Viktimisierung 266 Viszerozeption 6
362
Anhang
Vorhersagewert – negativer 326, 327 – eines negativen Testergebnisses 327 – positiver 326, 327 – eines positiven Testergebnisses 327
W Wahrnehmung, subliminale 116 Wert – negativ prädiktiver 327 – positiv prädiktiver 327 Widerstand 244, 245 Wutsystem 130
Y Yerkes-Dodson-Regel 103
Z Zeigarnik-Effekt 121 Zertifizierung 307 Zufallsstichprobe 73 Zuhören, aktives 223 2-Faktoren-Modell 122