Mit einer fließenden Bewegung zog Vicky das Messer aus ihrem Kimonoärmel und stieß es dem Soth in die Eingeweide. Seine...
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Mit einer fließenden Bewegung zog Vicky das Messer aus ihrem Kimonoärmel und stieß es dem Soth in die Eingeweide. Seine Umarmung half ihr dabei, es noch tiefer hineinzubekommen. Mit Aufbietung aller Kräfte riß sie es dann mit beiden Händen nach oben, bis sie den Rumpf des Soth bis zur Herzgegend aufgeschlitzt hatte. Er lehnte sich an die Wand und drückte seinen auseinanderklaffenden Oberkörper mit beiden Händen zusammen. In dicken Strahlen schoß stoßweise sein purpurnes Blut hervor. Dann gaben seine Knie nach, und sein erstarrtes Gesicht lag auf dem Teppich ... DIE HERRENRASSE von Winston Marks und fünf weitere spannende Zukunftsabenteuer aus der Blütezeit der Science-Fiction-Literatur.
Science Fiction Ullstein Buch Nr. 31029 im Verlag Ullstein GmbH, Frankfurt/M. – Berlin – Wien Aus dem Amerikanischen übersetzt von Lothar Heinecke Umschlagillustration: Dell/Göllnitz Copyright © 1952, 1953, 1954, 1956 by Galaxy Publishing Corporation und UPD Publishing Corporation Alle Rechte vorbehalten Frankfurt/M. – Berlin – Wien Printed in Germany 1981 Gesamtherstellung: Mohndruck Graphische Betriebe GmbH, Gütersloh ISBN 3-548-31029-X August 1981
CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Science-fiction-Stories hrsg. von Walter Spiegl. – Frankfurt/M; Berlin; Wien: Ullstein NE: Spiegl, Walter [Hrsg.] 89. Von Roger Dee ... [Aus d. Amerikan. übers. von Lothar Heinecke]. – 1981. (Ullstein-Buch; Nr. 31029: Ullstein 2000: Science-fiction) ISBN 3-548-31029-X NE: Dee, Roger [Mitverf.]; GT
Science-FictionStories 89 von Roger Dee Winston Marks Gordon R. Dickson Edward G. Ludwig James H. Schmitz Damon Knight Herausgegeben von Walter Spiegl
ein Ullstein Buch Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!
INHALT Die Klagemauer Roger Dee ...........................................................
6
Die Herrenrasse Winston Marks ...................................................
31
Die Mausefalle Gordon R. Dickson ............................................
74
Die Abtrünnigen Edward G. Ludwig ............................................
96
Wir wollen keinen Streit James H. Schmitz ............................................... 145 Hoffnung der Menschheit Damon Knight .................................................... 156
Roger Dee DIE KLAGEMAUER Farrel wußte nicht, wie lange er schon in dem finsteren Wabenlabyrinth des Hymenopsstockes umhergeirrt war, seit er sein Bewußtsein wiedererlangt und festgestellt hatte, daß er nackt und waffenlos war. Die Dunkelheit in den Gängen, deren feuchtkalter Atem ihm entgegenschlug, sagte ihm, daß er sich tief unter der Erde befinden mußte, vielleicht sogar im untersten Geschoß des Stockes, aber das war auch alles. Irgendwo über ihm waren die Beichtkammern, in denen der Staub der Generationen schwer lastete, und in deren grauem Licht die schweigenden Bienenidole geheimnisvoll dahindämmerten. Und draußen vor der Halbkugel des gewaltigen Baues lag in einer Windung des trägen Silberflusses das Sadr-III-Dorf mit seiner Handvoll Erdkolonisten, die ihr Menschentum vergessen hatten, und auf dem Hügel darüber würden jetzt Gibson, Stryker und Xavier in der fluguntüchtigen Marco Vier auf ihn warten. Sie würden warten ... Genauso gut konnten sie auf Terra sitzen und warten – fünfhundert Lichtjahre weit entfernt. Zwei Meter weiter vorn wölbte sich rechts und links der Gang nach oben – ein flaches Tunneloval, das für mehrbeinige Insekten entworfen worden und für deren Facettenaugen beleuchtet war, die nur einen Bruchteil des Lichtes brauchten, das ein Mensch zum Sehen nötig hatte. Wie durch einen dichten Nebel konnte Farrell nur seine nächste Umgebung er-
kennen. Dahinter lag nichts als Dunkelheit und ein gespenstisches Labyrinth von Gängen und Quergängen ohne Anfang und ohne Ende. Hinter ihm kamen seine Verfolger immer näher. Er wußte nicht, waren es die Sadr-III-Eingeborenen oder Hymenops-Invasoren. Ihr Näherkommen war begleitet von einem trockenen raschelnden Geräusch, dessen versteckte Drohung Farrell immer tiefer in den vor ihm liegenden Irrgarten trieb. Bis der gleiche unheimliche Laut von vorn an sein Ohr drang. Das hatte er schon lange befürchtet. Jetzt konnte er weder vorwärts noch zurück. Verschwommen konnte er zu seiner Rechten den Eingang zu einem Quertunnel erkennen, ein blasses Oval, das sich ein wenig heller von der schwarzen Tunnelwand abhob. Er stürzte darauf zu. Aber es war eine trügerische Freiheit, die sich vor ihm auftat. Zu spät wurde er sich bewußt, daß dieser Ausweg ihm aufgezwungen worden war. Sie hatten von Anfang an geplant, daß er diesen Weg einschlagen sollte: Sie hatten ihn hierher getrieben wie ein Schaf, das vor dem Hirten weggelaufen war. Sie hatten gewußt, wohin er ging und warum. Aber irgendwo am Ende des Tunnels schimmerte es hell. Wenn er Licht fände ... Aber es war kein Licht, nur eine schwächere Dunkelheit. Der Tunnel mündete auf einen Platz, dessen wirkliche Ausmaße das Dunkel vor ihm verbarg. In der Mitte des Platzes ragte eine mächtige zylindrische Maschine empor – fremdartig und vertraut zugleich. Zögernd schritt er auf die Maschine zu. Einen Augenblick verwirrte ihn die traumhafte Unwirklichkeit des Geschehens.
Es war ein Ringwellengenerator, und es war der Grund, warum er sich überhaupt in den Stock hineingewagt hatte. Seine Verwirrung rührte hauptsächlich von der Ähnlichkeit der Maschine mit dem defekten Generator an Bord der Marco Vier her und den wirklichkeitsnahen Gedankenbildern, die diese Ähnlichkeit in ihm hervorrief: Gibson, der sich gerade wieder mit der Kraftanlage des Schiffes herumquälen würde, die schwarzen buschigen Augenbrauen finster zusammengezogen; Stryker, glatzköpfig und fett, der beunruhigt zwischen Maschinenzentrale und Navigationsraum hin und her laufen und seine besorgte Anteilnahme auf Gibsons Bemühungen und Farrells langes Schweigen aufteilen würde. Stryker würde in diesem Augenblick bestimmt bereuen, daß sein Optimismus ihn dazu verleitet hatte, seinen Navigator dahin loszuschicken, wohin er selbst nicht gehen konnte. Der Angstschweiß würde an die Stelle seiner gönnerhaften Selbstsicherheit getreten sein, und sein selbstgefälliges Geschwätz soziopsychologischer Belehrungen, die er sich gewöhnlich aus dem Reklamationshandbuch herausholte, würde verstummt sein. »Was die Anpassungsfähigkeit betrifft«, so hatte Stryker am vorhergehenden Abend gesagt – eine Ewigkeit schien inzwischen vergangen zu sein –, »so kann homo sapiens manchmal eine fast unglaubliche Rasse sein, eigensinniger, störrischer und unheimlicher als möglicherweise jede fremde Rasse, die uns hier draußen jemals begegnen könnte.« Er und Farrell saßen im Gras unter der offenen
Schleuse der Marco Vier, aus der lautes Werkzeugeklapper drang. Gibson und Xavier, der Roboter der Marco, schwitzten gerade wieder über der defekten Kraftanlage des Schiffes, das heißt, nur Gibson schwitzte natürlich. Stryker ließ sich davon nicht stören. Behäbig faltete er die Hände über seinem dicken Bauch und blickte hinüber zu Farrell, der eine Zigarette rauchte, sich auf den Rücken gelegt hatte und die Sterne beobachtete, die nach und nach am Abendhimmel aufblinkten. »Isoliere für zwei Jahrhunderte eine menschliche Kolonie vom Elternplanet, versklave sie für die Hälfte dieser Zeitspanne unter einer Herrschaft, die so bizarr und uns so fremd ist wie die Bienenkultur der Hymenops, überlaß sie dann ihrem Schicksal, und alles nur Vorstellbare und Unvorstellbare kann sich daraus entwickeln, was ausgefallene Sitten und Gebräuche anbelangt. Aber im Grunde bleibt der Mensch doch immer der gleiche, trotz aller Veränderungen. Sein angeborenes Wesen erlaubt es einfach nicht, ein Gesellschaftssystem zu entwickeln, das nicht von einem anderen Menschen verstanden werden kann, vorausgesetzt, die Umweltbedingungen, die dieses System ins Leben riefen, sind bekannt. Im Grunde sind diese Sadr-III-Kolonisten kein bißchen verschieden von uns selbst. Die Vererbungsgesetze lassen es nicht zu.« Farrell hatte nur mit einem Ohr hingehört. Er hatte hinaufgestarrt an eine Stelle des Himmels, halbwegs zwischen dem eisigweißen Glanz des Deneb und dem blauen und gelben Doppeljuwel von Albireo, und nach einem fernen Blinken seiner Heimatsonne Sol gesucht. Fünfhundert Lichtjahre entfernt, dachte er, irgendwo da draußen liegt die Erde. Und von ihr aus
gesehen ist all dieser fremdartige Sternenflitter, der diesen Planeten hier erleuchtet, nur ein anderer Koordinatenpunkt für die Astronomen, eine unbedeutende und nicht weiter auffallende Sternenkonstellation. Das Aufflammen der Lichter in dem Dorf am Fuße des Hügels brachte seine Aufmerksamkeit zurück zu den verstreut liegenden Hütten am Fluß und zu der großen Wölbung des Hymenopsstockes, der hinter ihnen aufragte wie ein Riese zwischen Zwergen. Er richtete sich etwas auf. Der Wind fuhr ihm durch das Haar und wirbelte die Glut seiner Zigarette in Funkenspiralen davon. »Du sprichst so klug und allwissend wie das Kapitel aus dem Handbuch für die Umerziehung von Sklavenkolonien, aus dem du das alles hast«, sagte Farrell. »Aber das trifft hier nicht zu, Lee. Diesen Leuten hier ist das gleiche widerfahren wie den anderen Kolonisten, die wir gefunden haben. Aber sie reagieren völlig anders. Entweder haben diese Hymenops-Teufel diesen bedauernswerten Burschen völlig und unabänderlich den Verstand geraubt, oder wir haben es mit einer Horde von Wahnsinnigen zu tun.« Stryker sagte: »Einzelheiten?« »Als wir vor fünf Wochen hier notgelandet sind, betrug die Bevölkerung des Dorfes ungefähr tausend Seelen. Seitdem haben sie einhundertzwanzig Todesfälle zu beklagen gehabt – alles Morde oder Selbstmorde. Anfangs kam bei Sonnenaufgang die ganze Bevölkerung aus ihren Hütten hervor, um für eine Stunde in dem Hymenopsstock zu verschwinden, bevor sie auf die Felder gingen. Während unserer Anwesenheit hat sich diese Stunde nach und nach bis
auf ein paar Minuten verringert. Soviel haben wir durch Beobachtungen aus der Ferne feststellen können. Durch direkte Unterhaltungen haben wir nichts herausbringen können, außer, daß sie Terra Standard beherrschen, aber nicht sprechen wollen. Was für ein System soll das sein?« Stryker zupfte verlegen an dem weißen Haarkranz, den ihm die Jahre noch gelassen hatten. »Im Moment noch ein Rätsel, das gebe ich zu. Wenn sie nur mit uns sprechen würden, wenn sie uns sagen würden, was für Wünsche und Ängste und Probleme sie haben, dann wüßten wir, was los ist und wo wir ansetzen könnten. Aber Sitten und Gebräuche, die ihnen von den Hymenops aufgezwungen worden sind, oder die sie sich selbst seit ihrer Freisetzung erworben haben, haben sie so grundlegend verändert, daß ...« »... daß in ihren Köpfen nicht nur eine, sondern gleich alle Schrauben locker sind«, beendete Farrell den Satz. »Wir haben seinerzeit Xavier vorgeschickt, um mit den Eingeborenen Kontakt aufzunehmen. Und schon der erste, den er traf, sprach mit ihm. Wir haben es alle im Radio gehört. Sein Name war Tarvil, er sprach Terra Standard, und er war freundlich und umgänglich und gar nicht feindlich gesinnt. Dann zeigten wir uns selbst, und als er sah, daß wir Menschen waren wie er selbst und nicht Roboter wie Xavier, klappte er seinen Mund zu, um ihn nie wieder aufzumachen. Und jeder im Dorf tat dasselbe. Das macht mir Sorgen, Lee, verdammte Sorgen. Wenn sie nicht erwartet hatten, daß Menschen aus der Marco aussteigen würden, was, in Gottes Namen, haben sie dann erwartet?«
Er setzte sich vollends auf und drückte seine Zigarette aus. »Jedenfalls ist es sowieso kein wichtiger Planet. Alles Ozean, außer diesem kleinen Kontinent. Ich bin dafür, daß wir ihn abschreiben und von hier verschwinden, sobald wir unseren Ringwellengenerator repariert haben.« »Wir können ihn nicht so einfach abschreiben«, widersprach Stryker. »Abgesehen davon, daß wir wieder eine Sklavenkolonie entdeckt haben, können wir vielleicht der Föderation eine wertvolle Quelle für Meeresnahrung erschließen. Arthur, du wirst doch nicht zulassen, daß eine Handvoll verschrobener Wirrköpfe dir so an die Nieren geht – oder?« Farrell stieß einen verächtlichen Laut aus und zündete sich eine neue Zigarette an. Das kurze Aufflammen seines Feuerzeugs erhellte die Dunkelheit und zeigte – vielleicht einen Steinwurf vom Schiff entfernt – eine schattenhafte Gestalt, die sich schnell ins Gras warf. »Das ist einer der Gründe, warum ich so nervös bin«, sagte Farrell. »Diese Burschen mögen meinetwegen harmlos sein, aber warum stellen sie dann eine Wache auf? Dort hinten stand wieder einer ihrer Posten.« Unbehaglich drehte er sich Stryker zu. »Ich habe sie auf dem Infrarotschirm beobachtet. Sie sprechen niemals miteinander, auch während der Ablösung nicht. Ich habe sie auf ihrem Weg zum Dorf verfolgt, aber ich habe nie gesehen, daß einer von ihnen sich –« Drunten im Dorf schrie jemand. Es war ein rauher, gequälter Schrei, der beide Männer aufspringen ließ. Ein dumpfes Trommeln rennender Füße drang an ihr Ohr. Es war unverkennbar – über die kurze Entfer-
nung hin. Laut schreiend stürzte der Mann zwischen den dunklen, hingeduckten Hütten hervor und auf die Wiese heraus. Auf halbem Weg zum Schiff holten ihn seine Verfolger ein. Ein kurzer Kampf, ein schattenhaftes Durcheinanderwirbeln schweigender Gestalten, dann wieder Stille. »Da, sie haben es wieder getan«, sagte Farrell. »Einer von ihnen versuchte, zu uns zu gelangen. Und die anderen haben ihn umgebracht. Kannst du mir sagen, warum sie das tun? Jeden Morgen gehen sie zusammen auf die Felder, aber sie wechseln nie ein Wort miteinander. Und den ganzen Tag über arbeiten sie, ohne sich dabei gegenseitig auch nur eines Blickes zu würdigen. Und fast jede Nacht versucht wenigstens einer von ihnen, zu uns durchzukommen – und wird dabei getötet. Wir wissen nicht, warum sie zu uns kommen wollen, wir wissen auch nicht, warum sie sich umbringen. Selbst wenn wir ihre Motive verstehen könnten, ich würde ihnen nie trauen.« »Aber es ist unsere Aufgabe, sie verstehen zu lernen«, sagte Stryker störrisch. »Es ist unsere Aufgabe, Kolonien zu finden, die durch die Hymenops vom richtigen Weg abgekommen sind, und, soweit wir können, sie wieder darauf zurückzuführen. Und da, wo unsere Mittel nicht ausreichen, schaffen es bestimmt die Umerziehungsgruppen. Die Tatsache, daß solche ehemaligen Sklavenkulturen unweigerlich auch ihre Kenntnis des Langlebenprozesses verlieren, ist eine große Hilfe. Innerhalb dreier Generationen ist es uns bis jetzt immer gelungen, sie wieder zu normalen Menschen zu machen. Und erst, wenn sie wieder zu normalen Erdkolonisten geworden sind, er-
halten sie alles verlorene Wissen zurück. Ich habe in meiner Laufbahn schon ein paar verdammt ekelhafte Ergebnisse solcher HymenopsExperimente mit menschlichen Kolonien gesehen. Da war zum Beispiel der neunte Planet von Beta Pegasi – neu entdeckt, glaube ich, im Jahre 3910 –, dessen Bewohner einen religiösen Fruchtbarkeitskomplex entwickelt hatten, einen Komplex, den ihnen die Hymenops aufgepfropft hatten, damit sie genug Arbeitskräfte für die dortigen Bergwerke hatten. Als die Bienen ihre Invasion abbrachen und sich wieder zu 70 Ophiuchi zurückzogen, stellten die Einheimischen den Abbau ein. Aber als wir sie endlich fanden, vermehrten sie sich immer noch wie die Kaninchen. Zu diesem Zeitpunkt waren es vierzehn Milliarden, die sich gegenseitig auf die Füße traten, so dicht lebten sie aufeinander. Und Kannibalismus war an der Tagesordnung. Trotzdem reichten drei Generationen, um ihnen diesen Komplex auszutreiben und sie wieder zu normalen Menschen zu machen.« Er nahm eine von Farrells Zigaretten und zog ein paarmal kräftig daran, bevor er fortfuhr: »Aber schauen wir uns unsere alte Erde an. Ich erinnere mich, einmal einen Aufsatz über eine Primitivkultur gelesen zu haben, die noch im zwanzigsten Jahrhundert existiert hat und den Vergleich mit den verrücktesten Kulturen, die wir hier draußen finden, jederzeit aushalten kann. Man sollte annehmen, daß eine jede Kulturform Sitten und Gebräuche entwickelt, die den betreffenden Angehörigen alles in allem ein Höchstmaß an Befriedigung und ein Mindestmaß an Unbequemlichkeit verschafft. Aber diese alten irdischen Dobuaner – Inselbewohner, soweit ich mich erinnere
– hatten genau das Gegenteil getan. Sie hatten diese Norm umgedreht und waren zu einer Horde von Geisteskranken geworden – so würden wir es jedenfalls ansehen –, die sich gegenseitig das Leben zur Hölle machten. Sie haßten sich, und zwar war dieser Haß um so intensiver, je näher sie miteinander verwandt waren. Mann und Frau haßten sich wie die Pest, Väter und Söhne ...« »Jetzt willst du mir wohl einen Bären aufbinden«, protestierte Farrell aufgebracht. »Eine solche Gesellschaftsform würde nicht lange existieren.« »Aber das System funktionierte«, versicherte ihm Stryker. »Jedenfalls, solange sie isoliert waren. Sie fanden sich damit ab, weil sie nichts anderes kannten, und eine plötzliche Umkehrung ihrer Bräuche hätte einen unlösbaren seelischen Konflikt heraufbeschworen. Nach dem Vierten Krieg wurden sie allerdings umerzogen, und die folgenden Generationen gewöhnten sich ohne Schwierigkeiten und ohne weitere Komplikationen an ein normales Leben.« Ein Geräusch über ihren Köpfen ließ sie nach oben schauen. Gibson stand in der offenstehenden Schleuse. »Besprechung!« sagte er mit seiner tiefen Stimme und verschwand wieder im Schiff. Wortlos folgten sie Gibsons Aufforderung. Dieses eine kurze Wort beunruhigte sie mehr als vorhin der Mord auf der Wiese. Sie kannten Gibson und wußten, daß er nicht einmal dieses eine Wort verschwendet hätte, wenn die Umstände es nicht erfordert hätten. Er wartete auf sie zusammen mit Xavier im Navigationsraum. Wohl zum tausendsten Male ertappte sich Farrell dabei, wie er die beiden miteinander ver-
glich. Der Roboter: ein glatter, unheimlich beweglicher Plastoidkörper, glattes, ausdrucksloses Gesicht – tüchtig, unermüdlich und bar aller Gefühle. Gibson: untersetzt, dunkel, mit zergrübelter Stirn und völlig humorlos. Abgesehen von persönlicher Initiative und Willensfreiheit, dachte Farrell, könnten die zwei jederzeit ihre Plätze vertauschen, und keiner würde es merken. »Xav und ich haben den Defekt an unserem Ringwellengenerator gefunden«, sagte Gibson. »Der Generator ist völlig in Ordnung, aber sein Kraftfeld wird neutralisiert. Irgend etwas auf Sadr III muß es neutralisieren.« Sie starrten ihn einen Augenblick sprachlos an, so, als hätte er gerade behauptet, Sadr III sei keine Kugel, sondern flach wie ein Teller. »Aber das Kraftfeld eines Ringwellengenerators kann nicht völlig abgeschaltet werden, es sei denn, man nimmt die ganze Anlage auseinander«, protestierte Stryker. »Aber man kann das Kraftfeld neutralisieren, oder jedenfalls so weit abschwächen, daß es zu nichts mehr nütze ist. Angenommen, hier in der Nähe befindet sich ein zweiter Generator, der mit einer anderen Phase arbeitet, dann überlagern sich die beiden Phasen. Das Ergebnis ist ein Mittelwert, der zwischen den beiden ursprünglichen Phasen liegt und so gering ist, daß weder das eine noch das andere Kraftfeld weiter aufrechterhalten werden kann. Bitte erinnert euch, daß aus diesem Grunde alle unsere irdischen Ringwellengeneratoren auf eine einzige Wellenlänge abgestimmt sind.« »Aber diese Burschen hier können unmöglich einen
Ringwellengenerator haben«, widersprach Farrell. »Auf dem ganzen Planeten gibt es nur diesen einen Ort, Gib, ein unbedeutendes Bauerndorf. Hätten sie die Ringwelle, wären sie technisiert. Sie würden Fahrzeuge haben, Flugzeuge, Häfen ...« »Aber die Hymenops hatten die Ringwelle. Und sie haben hier einen Stock hinterlassen, der völlig unbeschädigt ist. Den Rest kannst du dir an den Fingern abzählen.« Sie brauchten einige Zeit, bis ihnen die Bedeutung von Gibsons Worten voll aufgegangen war. Langsam wurde Stryker bleich, und Farrells bis jetzt grundlose Unruhe wurde zu eisiger Gewißheit. »Ich glaube, ich habe schon seit meinem ersten Flug auf so etwas gewartet, ohne mir dessen allerdings bewußt zu sein«, sagte er. »Es war wohl zu erwarten, daß die Hymenops irgendwo aufhören würden, vor uns wegzulaufen, und daß wir irgendwann hier draußen im Grenzgebiet auf sie stoßen würden. Zwanzigtausend Lichtjahre bis zurück zu 70 Ophiuchi ist eine zu lange Strecke für einen schnellen Rückzug. Gib, was meinst du, ob sie noch hier sind?« Gibson zuckte zwar nicht mit den Schultern, aber seine Stimme klang genauso, als ob er es tun würde. »Wenn wir nicht den Generator der Marco wieder in Ordnung bringen können, ist das so oder so völlig gleichgültig.« »Das heißt also, wir drei gegen ein HymenopsGruppenhirn«, sagte Stryker. »Und wir können nicht einmal davonlaufen. Hat jemand eine Idee?« »Wir müssen den störenden Generator finden und ihn ausschalten«, sagte Farrell. Das war die augenfälligste Lösung.
»Es gibt noch einen anderen Weg«, sagte Gibson. »Wenn wir herausfinden, in welcher Phase das störende Feld strahlt, können wir unseren Generator darauf abstimmen. Wenn wir erst einmal übereinstimmen, können sie sich nicht mehr gegenseitig stören.« Er beantwortete Strykers unausgesprochene Frage: »Wir brauchen dazu eine Woche, vielleicht länger.« Stryker legte sein Veto ein. »Das ist viel zu lange. Wenn hier wirklich noch Hymenops leben, werden sie uns nicht so viel Zeit lassen.« Farrell schaltete den Sichtschirm ein und suchte das Dorf unten am Fuß des Hügels. Deutlich zeigten sich die verstreut daliegenden Hütten mit ihren dunklen Dächern und hellerleuchteten Fenstern. Hinter ihnen erhob sich die mächtige Halbkugel des Stockes. Im Licht der Sterne glitzerte sie metallisch. »Vielleicht sind wir doch etwas voreilig mit unseren Schlußfolgerungen«, gab er dann zu bedenken. »Wir halten uns hier immerhin schon fünf Wochen auf, ohne die geringste Spur entdeckt zu haben. Nach allem, was ich über sie gelesen habe, bin ich davon überzeugt, daß sie schon in der ersten Minute nach unserer Landung über uns hergefallen wären. Ich muß zugeben, daß mir Gibsons Worte zuerst einen fürchterlichen Schrecken eingejagt haben; aber ich glaube, es ist wahrscheinlicher, daß sie Sadr III in so großer Eile verlassen haben, daß sie keine Zeit mehr hatten, ihre Ringwelle zu zerstören. Und deshalb ist sie immer noch in Betrieb.« Farrells Worte heiterten Stryker wieder etwas auf. »Möglicherweise hast du recht«, sagte er. »Seit dem ersten Scharmützel vor zweihundert Jahren waren sie
gewöhnt, immer die Offensive zu haben, und sie hätten uns fast fertig gemacht, bevor wir lernten, wie wir uns verteidigen konnten.« Er blickte Xaviers schweigende Plastoid-Gestalt fast liebevoll an. »Ohne Xavs Kameraden hätten wir diesen Krieg verloren. Wir kamen mit unserem Verstand einfach nicht gegen das Kollektivhirn der Hymenops an. Im Grunde hatten wir keine größere Chance als ein paar Heuschrecken gegen einen Schwarm Raubwespen. Aber wir konstruierten Roboter, deren künstliche Gehirne es mit dem Hymenopskollektivhirn aufnehmen konnten – Elektronengehirne, Roboterbesatzungen, Schiffe, die selbst denken konnten ...« Er warf einen flüchtigen Blick auf den Sichtschirm und die geheimnisvolle Halbkugel unter dem Sternenlicht. »Aber sie denken nicht so wie wir. Vielleicht haben sie aus irgendwelchen unbegreiflichen Gründen eine Nachhut zurückgelassen? Vielleicht haben sie diesen Stock in eine raffinierte Falle verwandelt und warten jetzt nur darauf, daß wir uns darin fangen lassen?« »Einer von uns muß herausfinden, was davon zutrifft«, sagte Farrell unbehaglich. Er machte ein paar rastlose Schritte auf und ab und versuchte dabei, sich seine Chancen auszurechnen. »Es hat den Anschein, als ob mir diese Aufgabe zufallen würde.« Stryker starrte ihn an. »Du? Warum?« »Weil ich der einzige bin, der gehen kann. Denk daran, was Gib sagte, von wegen unseren Generator so abstimmen, daß er mit dem Störenfried in Gleichklang kommt. Gib ist der einzige, der diese Arbeit machen kann. Er ist also unentbehrlich. Und du bist –«
»... zu alt und fett, ja, ich weiß«, beendete Stryker den Satz. »Und zu verdammt langsam. Du hast natürlich recht.« Sie ließen es dabei bewenden und stellten Xavier als Wache für die Nacht auf. Aber obwohl er wußte, daß der Roboter dieser Aufgabe um ein Vielfaches gewissenhafter als ein Mensch nachgehen würde, fand Farrell keinen Schlaf. Er wälzte sich unruhig auf seinem Lager hin und her, wachte einige Dutzend Male auf, um sich eine Zigarette anzuzünden und fruchtlos zu spekulieren, was ihn wohl in dem Stock erwarten würde, und schwitzte unter einem Alptraum, in dem riesenhafte Bienenungeheuer ihn mit unirdischen summenden Stimmen bedrohten. Am nächsten Morgen marschierte Farrell los. Er war schon auf halber Höhe des Hügels, als er merkte, daß die Marco auch am Tag noch unter Bewachung stand. Er ging auf den Posten zu und sah, daß es Tarvil war, der Sadriner, der sich damals als erster dem Schiff genähert hatte. Ausdruckslos musterte der Mann Farrells Schulterpack mit den Prüfgeräten und dem kleinen Sprechfunkgerät und die Taschenlampe und den Strahler an Farrells Gürtel. »Ich gehe in den Stock«, informierte ihn Farrell. Er versuchte, seiner Stimme einen festen Klang zu geben, und ärgerte sich, als es ihm nicht recht gelang. »Ist das vielleicht verboten?« Der Eingeborene antwortete nicht. Er paßte seine Schritte Farrell an, und sie stiegen zusammen den restlichen Teil des Hügels hinab – immer im vorsichtigen Dreimeterabstand – durch taufrische Wiesen, die unter den Strahlen der frühen Morgensonne wie
Diamantfelder aufglänzten. Am Eingang des Dorfes begegnete ihnen der gewohnte Zug der Erwachsenen und halbwüchsigen Kinder, die schweigend auf die Felder zugingen. »Wirklich wunderliche Gesellen«, sagte Farrell in den Sprechknopf seines Radios. »Sie halten einen ganz bestimmten Abstand voneinander ein. Man könnte glauben, sie haben Angst, sich gegenseitig anzustecken.« Strykers Stimme klang blechern gegen sein Ohr. »Sie werden uns nicht mehr so wunderlich vorkommen, wenn wir erst einmal den Grund für ihr seltsames Benehmen herausgefunden haben. Ich fange an zu glauben, daß diese Absonderung voneinander irgendeine religiöse Ursache haben muß, Arthur, das Überbleibsel eines Kontrollsystems, das durch seelische Isolierung des einzelnen eine Rebellion unmöglich machen sollte. Wenn ich in Betracht ziehe, wie sie unter den Hymenops gelitten haben müssen, dann ist es ein Wunder, daß sie noch bei gesundem Verstand sind.« »Das mit der religiösen Ursache mag stimmen«, antwortete Farrell. »Aber das mit dem gesunden Verstand möchte ich nicht unterschreiben. Ich bin der Meinung, daß wir es hier mit einem Haufen von Halbverrückten zu tun haben.« Nicht alle Bewohner hatten das Dorf verlassen, aber die wenigen Frauen und Kinder, die ihnen auf ihrem Weg begegneten, sahen durch Farrell – und Tarvil – hindurch, als wären sie Luft. Das einzige Interesse, das Farrell entgegengebracht wurde, stammte von einem kleinen, ungefähr sechsjährigen Jungen, der den Fremden neugierig anstarrte und die Frau neben ihm etwas in seiner kindlichen Stimme fragte.
Die Frau antwortete mit einem einzigen barschen Wort und schlug dem Kind ins Gesicht, daß es hinfiel. Farrell berichtete den Vorfall. »Sie sagte ›ruhig!‹ und schlug ihn nieder, Lee. Sie fangen anscheinend schon sehr frühzeitig mit ihrem Training an.« »Ihre Gleichgültigkeit und Verschlossenheit kann nicht angeboren sein«, sagte Stryker. »Trotzdem verstehe ich die Sache nicht ganz. Sie sind jetzt fast vier Generationen frei. Und es scheint kaum glaublich, daß irgendein aufgezwungener Kontrollmechanismus noch so lange nachwirken kann.« Ein Schatten schob sich vor die Sonne, und Farrell überlief eine Gänsehaut, als er aufblickte und den großen runden Buckel des Stockes aufragen sah. »Ich bin am Stock angelangt«, berichtete er. »Er sieht aus wie alle anderen. Keine Einfluglöcher außer am Fuß. Ich gehe jetzt hinein.« Tarvil begleitete ihn nicht weiter. Als Farrell vor dem ihm nächstliegenden Schlupfloch seine Lampe anknipste und sich nach ihm umdrehte, sah er, daß der Eingeborene sich niedergekauert hatte und ihm ohne ein Zeichen von Interesse in seinen steinernen Zügen nachblickte. »Ich bin immer noch zu ebener Erde«, sagte Farrell etwas später in sein Mikrofon, »und zwar, allem Anschein nach, in einer Lagerabteilung. Alle Räume sind leer, und überall liegt dicker Staub, außer in den Gängen, die von den Eingeborenen benutzt werden. Bis jetzt noch kein Anzeichen der Hymenops.« Strykers Stimme klang beunruhigt. »Nimm dich vor Fallen in acht«, warnte er. »Vielleicht liegen irgendwo Minen.«
Der obere Teil des Stockes, das wußte Farrell von anderen Fällen her, hatte in einer längst vergangenen Zeit die Bewohner des Stockes beherbergt. Da oben lag Stockwerk um Stockwerk mit raumsparenden wabenförmigen Schlafräumen. Dort brauchte er nicht zu suchen. Die Kraftanlage mußte in einem der Kellergeschosse zu finden sein. Er folgte einer sich spiralförmig nach unten windenden Rampe und machte seine erste aufregende Entdeckung, als er sich in den Beichtkammern wiederfand, die – wie er an den Spuren sah – der tägliche Wallfahrtsort der Sadr-IIIEingeborenen waren. Das ganze Geschoß war unterteilt in drei Meter große Zellen. Der einzige Schmuck der sonst völlig kahlen Räume war die aus Metall und Kristall gefertigte Nachbildung eines Hymenopskopfes, die aus der dem Eingang gegenüberliegenden Metallwand herausragte. Zu beiden Seiten eines kreisrunden Sprechgitters ragten über kristallenen Facettenaugen gezackte Fühler in den Raum. In dem Halbdunkel, das schwer in den Räumen lastete, schienen die Augen des Kopfes drohend zu glühen. Die Technik war makellos, die Köpfe waren allerdings stilisiert in einer Art, die Farrell fremd war. Trotzdem ließen sie mit beunruhigendem Realismus die seelenlose Arroganz des anonymen Hymenops-Gruppenhirns erkennen. Farrell kam es vor, als schwebe um jedes der Idole eine gespenstische Aura hypnotischer Starre. »Ein neues Hymenops-Experiment«, sagte er in sein Radio und beschrieb Stryker, was er vorgefunden hatte. »Keiner der anderen Stöcke, die wir bis jetzt untersucht haben, hat etwas Ähnliches aufzuweisen gehabt. Diese Dinger müssen irgendwie mit
dem seltsamen Benehmen der Eingeborenen zusammenhängen. Zu jedem der Idole führt durch den Staub eine deutlich erkennbare Spur, und ich kann sehen, wo die Leute niedergekniet sind. Ich habe ein unheimliches Gefühl. Mir schwant, daß das, wozu sie auch immer die Idole benutzt haben, einen zu großen Erfolg gehabt hat.« »Es können keine Idole im herkömmlichen Sinne sein«, antwortete Stryker. »Die Hymenops wußten bestimmt auch, wie schwer es ist, einem Menschen ein außermenschliches Idol aufzuzwingen. Aber du hast sicher recht, wenn du meinst, daß das Experiment zu erfolgreich war. Keine gewöhnliche Zwangsvorstellung kann so lange nachwirken. Vielleicht von Zeit zu Zeit erneuerte hypnotische Befehle? Warte, Arthur. Das muß ich mit Gibson durchsprechen.« Ein paar Minuten später kam seine Stimme wieder. Er keuchte vor Aufregung. »Gib meint, ich wäre auf der richtigen Spur. Regelmäßig erneuerte Hypnose. Die Hymenops müssen jedem Sklaven eine bestimmte Kammer und ein bestimmtes Idol zugeteilt haben. Diese Skulpturen sind nichts anderes als mechanische Hypnotiseure, deren Aufgabe es ist, den Zwang der Eingeborenen zur Isolation immer wieder zu erneuern. Posthypnotische Befehle sorgten dafür, daß die armen Teufel jeden Morgen wiederkamen, später sogar mit ihren Kindern, und es war ihnen auf diese Weise unmöglich, aus diesem Teufelskreis auszubrechen, selbst dann nicht, als die Hymenops sich überraschend absetzten. So ging das über mehrere Generationen hinweg, und erst als der Generator der Marco die Ringwellenanla-
ge des Stockes außer Betrieb setzte, wurden auch diese Roboter ausgeschaltet. Was nicht bedeuten soll, daß die Eingeborenen jetzt besser dran sind. Sie wissen nicht –« Farrell hatte keine Gelegenheit, den Rest des Satzes zu hören. Etwas traf ihn heftig am Kopf, und er fiel in Ohnmacht. Als er sein Bewußtsein wiedererlangte, war er halbnackt und waffenlos und befand sich an einer unbekannten Stelle des Hymenopslabyrinths. Das schlurfende Geräusch, das körperlos und drohend in der Dunkelheit stand, versetzte ihn vollends in panischen Schrecken, und er floh davor durch eine finstere Ewigkeit bis er sich endlich im untersten Stockwerk des Stockes vor der gesuchten Kraftanlage wiederfand. Zögernd und vorsichtig näherte er sich der schattenhaften massigen Form des Ringwellenzylinders. Am Fuß der Maschine konnte er ein Schaltbrett erkennen, das über und über mit Skalen und Schaltern bedeckt war, die ihrer Anordnung und ihrem Aussehen nach offensichtlich für die nichtmenschlichen Greifhände fremder Intelligenzen entworfen waren. Das blecherne Flüstern von Strykers Stimme, das plötzlich die Stille durchbrach, schreckte ihn aus seinen Gedanken auf. Hatte er schon Halluzinationen? Dann sah er, daß sein Schulterpack mit den Prüfgeräten und dem Radio vor der Schalttafel lag. Strykers Stimme murmelte aus dem Empfänger: »Wir sind im Stock, Arthur. Wo bist du? Welches Geschoß?« Voll plötzlicher Hoffnung griff Farrell nach dem Gerät. »Ich bin unten im Kellergeschoß, in der Ring-
wellenkammer. Sie haben mir meinen Strahler und meine Lampe genommen. Um Gottes willen, beeilt euch!« Aus dem Dunkel drang das Scharren von Füßen und das verhaltene Atmen von vielen Menschen. Jemand stieß einen wimmernden Laut aus, und eine sadrinische Stimme zischte: »Ruhig!« Strykers metallisches Flüstern sagte: »Wir verfolgen deinen Leitstrahl, Arthur. Nimm die Werkzeuge, die sie dir gelassen haben. Ich glaube, sie haben dich zum Generator gebracht, damit du die Ringwelle reparieren sollst. Los, tue so, als ob du arbeitest.« Farrell verstand nur halb, was Stryker meinte, aber er hob die Werkzeugtasche auf. Die Bewegung löste ein aufgeregtes Rascheln im Hintergrund aus. Die Stimme wimmerte aufs neue, es war ein gequälter Laut, der Farrell durch und durch ging. »Gib mir meine Stimme zurück. Ich bin allein, und ich fürchte mich. Ich brauche Rat.« Farrell spürte aus den Worten die Angst heraus. Er spürte das Entsetzen, das irgendwo da hinten sich jeden Moment in einem wilden Ausbruch Luft machen konnte. Dann hörte er die gedämpften Geräusche eines lautlosen Kampfes, ein angestrengtes Keuchen. Das Wimmern erstarb. Dann wieder lautlose Stille. Die Werkzeugtasche fiel aus Farrells Hand. Aber durch das nervenzerrende Poltern und Klirren auf dem Metallfußboden hörte er Strykers Stimme – deutlicher jetzt und näher. »Ruhig, Arthur! Sie bringen dich um, wenn du die Nerven verlierst. Wir sind in wenigen Augenblicken
bei dir, Gib, Xav und ich. Kopf hoch, mein Junge!« Farrell suchte Schutz an der kalten metallenen Wölbung des Generators. Er zitterte vor Anstrengung, ein wildes Verlangen niederzukämpfen, das ihn zwingen wollte, einfach ziellos loszurennen. Seine Nerven waren zum Zerreißen gespannt, und mit seiner Beherrschung war er am Ende angelangt, als Xaviers monotone Stimme durch die Dunkelheit dröhnte. »Habt Geduld! Eure Ratgeber werden euch zurückgegeben werden.« Eine plötzliche Lichtflut überschwemmte den Raum – unerträglich nach der langen Dunkelheit. Farrell erhaschte noch einen kurzen Blick auf Gibson, der durch die auseinanderstiebende Gruppe der Sadriner auf ihn zugerannt kam. Dann wurde er ohnmächtig. Als er wieder erwachte, lag er auf seiner Couch im Navigationsraum der Marco. Das Schiff war schon im Raum. Auf dem Schirm konnte Farrell den schrumpfenden Halbmond von Sadr III sehen. Hinter ihm stand in der schwarzen Höhle des Alls das feurig weiße Auge des Deneb und der funkelnde Glanz des blau und gelben Doppelgestirns des Albireo. »Wir fliegen«, sagte er verwirrt. »Was ist geschehen?« Stryker kam zu ihm und schnallte ihn los. Gibson, der drüben am Kartentisch mit Xavier Schach spielte, blickte kurz auf, dann wandte er sich wieder den Figuren zu. »Wir haben die Ringwelle im Stock mit unserem Generator abgestimmt, und dann haben wir dich her-
ausgeschleppt«, erklärte Stryker munter. Er war wieder der alte. Sein fetter Schmerbauch hüpfte vor unterdrücktem Lachen. »Wir sind hier fertig, haben getan, was wir tun konnten. Der Rest ist Sache der Umerziehungsgruppen.« Farrell starrte ihn verwundert an. »Du gibst so einfach auf, jetzt, wo wir doch wissen, woran diese Leute kranken?« »Wir können da leider nicht helfen. Unsere Mittel sind beschränkt. Diese Sadriner brauchen etwas, womit wir leider nicht dienen können. Im Augenblick sind sie noch die willigen Opfer einer Zwangsvorstellung, die es dem einzelnen unter ihnen unmöglich macht, seine Hoffnungen und Wünsche, sein Glück und Unglück seinen Mitmenschen mitzuteilen. Sich dem andern anvertrauen zu wollen, ist bei ihnen das größte Sakrileg, eine fürchterliche Gotteslästerung.« »Dann sind sie also doch wahnsinnig. Sie müssen es sein, ohne die Möglichkeit, sich auszusprechen. Ein Mensch, der alles in sich hineinfressen muß, schnappt über.« »Sie sind trotzdem nicht geisteskrank. Sie haben sich angepaßt. Sie haben eine Möglichkeit, sich abzureagieren. Diese Robotidole, die du gefunden hast, sind ihre Vertrauten. Sie sind alles, was sie brauchen, sowohl für sich als auch für den Umgang mit anderen: Ratgeber, Beichtväter, Vermittler, Makler – alles in einem. Sie vermitteln nicht nur zwischen den einzelnen Eingeborenen, sie hören sich auch all ihre Sorgen an und geben Ratschläge. Sie sind eine Art Makler, sie sind Ratgeber, sie sind die vertrautesten Freunde, die einzigen Freunde, die die Eingeborenen haben. Das Bedürfnis des Menschen nach Geselligkeit
entspringt größtenteils seinem Wunsch, seine Sorgen und Nöte, aber auch seine Freuden bei einem andern abzuladen. Du weißt ja, geteilte Freude, doppelte Freude; geteiltes Leid, halbes Leid. Die Hymenops haben ihnen einen wirksamen Ersatz zur Verfügung gestellt, und die Eingeborenen haben ihn als Norm akzeptiert.« Farrell verstand plötzlich. »Kein Wunder, daß diese armen Teufel nach unserer Ankunft allmählich doch überschnappten. Der Generator war tot, also auch die Roboter, und das machte sie gleichzeitig taub und blind. Und sie konnten sich nicht einmal zusammensetzen, um gemeinsam nach einem Ausweg aus ihrem Dilemma zu suchen.« »Du hast den Nagel auf den Kopf getroffen«, sagte Stryker. »Sie wußten, daß wir für die Katastrophe verantwortlich zeichneten, aber sie konnten uns nicht um Hilfe bitten, weil wir Menschen wie sie selbst waren. Xavier hätten sie sich vielleicht anvertraut. Aber Xavier war im Schiff. So brach einer nach dem andern zusammen und beging die größte Blasphemie, die diese Leute kennen, indem er sein Unglück in die Öffentlichkeit hinausschrie. Und natürlich mußten die Betreffenden getötet werden, wenn der Rest sich nicht mitschuldig machen wollte. Aber sie werden sich jetzt wieder beruhigen. Wenn die Umerziehungsleute eintreffen, werden sie es leichter als wir haben.« Er gluckste. »Wir haben zwar ihre Ratgeber wieder in Betrieb gesetzt, aber wir haben die Stromkreise für die Hypnose abgeschaltet. Von jetzt ab bekommen sie nur noch das, was sie unbedingt brauchen – ein Ventil für ihre persönlichen Sorgen, für seelischen Über-
druck. Aber sie werden nicht mehr wie bisher gezwungen, von dieser Möglichkeit Gebrauch zu machen, und sie werden bestimmt nach und nach zueinander finden. Der menschliche Herdentrieb wird wieder zum Durchbruch kommen. Nach ein paar Generationen können die Umerziehungsleute sie als Terra Normal abschreiben und sich in das nächste planetarische Irrenhaus stürzen, das wir bestimmt bis dahin für sie gefunden haben.« Farrell sagte nachdenklich: »Ich hatte mir noch nie klar gemacht, daß das Bedürfnis, sich auszusprechen, so lebenswichtig ist. Aber es stimmt. Jeder muß sich irgendwann und irgendwie einmal aussprechen. Wir beide sprechen oft miteinander, und Gib –« Er brach ab und studierte das in ihr Spiel vertiefte Paar am Kartentisch. »Da sitzt eine Ausnahme von deiner Theorie, Lee. Der eiserne Gibson hat noch nie etwas ausgeplaudert.« Stryker lachte. »Vielleicht hast du recht. Na, wie ist es, Gib? Hast du nicht manchmal auch das Bedürfnis, deine Sorgen vor der Klagemauer abzuladen?« Gibson schaute von seinem Spiel auf. Sein kantiges Gesicht zeigte keinerlei Überraschung über diese ungewöhnliche Frage. »Na, sicher. Warum nicht? Ich erzähle meine Sorgen Xavier.« Sie schauten sich verblüfft an, und Gibson fügte hinzu mit so viel Humor, wie ihn weder Stryker noch Farrell jemals bei ihm erlebt hatten: »Es ist ein Abkommen auf Gegenseitigkeit. Dafür erzählt mir Xavier seine.« Originaltitel: THE WAILING WALL
Winston Marks DIE HERRENRASSE Eigentlich bin ich immer noch der Meinung, daß die unterwürfigen kleinen Kerle im Grunde nichts wirklich Böses im Schilde führten. Sie waren begierig, uns wo immer nur möglich gefällig zu sein, sie waren großartige Geschäftspartner, mit denen zu verhandeln ein Spaß war, und überströmend vor Dankbarkeit, als wir ihnen Asyl gewährten. Ja, wir gewährten den katzbuckelnden kleinen Teufeln Asyl, und anfangs waren wir sogar froh, daß sie gekommen waren – besonders als sie unsere Frauen mit einem Geschenk überraschten, das alle anderen möglichen Geschenke weit in den Schatten stellte: Einen Hausdiener nach Maß. Wir lebten in einer Gesellschaft, die Freiheit und Würde der Person zu einem Fetisch erhoben hatte – mit dem Erfolg, daß man ein Dienstmädchen – ganz zu schweigen von einem Butler – kaum noch für Geld und die Zusicherung liebevollster Behandlung bekommen konnte. Und weil zumindest die Liebe in einer nach den Grundsätzen der Monogamie ausgerichteten Zivilisation gewissen Beschränkungen unterliegt, war der Dienstbotenberuf im Aussterben begriffen. Das heißt – bis dann die Ollies auf unserem Planeten landeten. So nach und nach lernte ich die aalglatten, honigsüßen Emigranten vom Sirius verachten, aber damals, als ich zum ersten Male einem von ihnen gegenüberstand, flößte mir seine Gegenwart ein fast lächerliches
Gefühl von Wichtigkeit und Überlegenheit ein. Ich betrachtete mir das mickerige kleine Persönchen und mußte dabei denken: Wenn das alles ist, was uns der Weltraum an hochentwickelten Lebewesen zu bieten hat ... nun, dann haben wir auf unserer alten Mutter Erde nicht so schlecht abgeschnitten. Der Name dieses Burschen war Johnson. Jeder von ihnen – alle fünfundsechzig – hatte einen der gewöhnlichsten irdischen Namen angenommen, den er finden konnte, und dafür seine eigene Namensbezeichnung abgelegt, deren spuckende und zischende Laute für Menschen äußerst schwierig auszusprechen und auch zu schreiben waren. Trotzdem – diese gleichgültige Nonchalance, mit der sie ausschließlich unserer eigenen Bequemlichkeit zuliebe ihre alten vererbten Namen von sich abgestreift haben, als wären es nur alte Hemden, schien merkwürdig. Man stelle sich vor, daß ein Rockefeller, Adams oder Blocherer auf Syrius IV ankommt und – kaum daß er die Landessprache gelernt hat – darauf besteht, von jetzt ab mit Sslyslasciffsoszl angesprochen zu werden. Aber das war eben typisch für Ollies. Sie taten alles, wenn es darum ging, nicht aufzufallen und uns einen Gefallen zu erweisen. Wobei natürlich nicht vergessen werden darf, daß andererseits so alltägliche Namen wie Johnson, Smith und Jones die Ollies mit einer Art semantischer Tarnung versah, die immerhin einige der Hindernisse beseitigen half, die sich notwendigerweise einem Verstehen zwischen uns und den Fremden in den Weg stellten. Johnson – Ollie Johnson – tauchte zu einer Zeit in meinem Büro auf, als die große Sensation ihres
Schiffbruches in Maine schon einige Monate zurücklag. Er kam eine volle Viertelstunde früher als verabredet, aber ich war viel zu neugierig, um auf der altehrwürdigen Bürotradition zu bestehen und ihn warten zu lassen. Mein erster Eindruck von ihm, als er in der Tür stand, war der eines abgemagerten, vorzeitig gealterten Jungen mit Glatze und einer Hautfarbe, wie sie bei Seekranken üblich ist. Er verbeugte sich und verbeugte sich wieder und verbrachte mindestens eine Minute damit, mich daran zu erinnern, daß er es gewesen war, der um dieses Gespräch nachgesucht hatte, daß er es war, der um einen großen Gefallen bitten möchte – und daß das wunderbare, großherzige, wohlwollende Ich es war, das den Raum mit einer Mischung aus Geheimnis, Bedeutung, Gottseligkeit und überwältigender Süße erfüllte, an dessen Duft seine Sinne zu delektieren der kleine Ollie Johnson gekommen war. »Setzen Sie sich, setzen Sie sich doch«, sagte ich schließlich. »Ich liebe und verehre Sie ja ebenfalls, aber ich bin wirklich neugierig auf den Vorschlag, den Sie in Ihrer Mitteilung erwähnen.« Vorsichtig nahm er auf der Kante eines Stuhles Platz, als wäre das Möbel viel zu gut für ihn. Er war völlig menschenähnlich. Seine anderthalb Meter große Gestalt war in einen sehr konservativen irdischen Anzug gekleidet – alles ruhige Farben und billigste Qualität. Während er wohl ein dutzendmal schluckte und sich darauf vorbereitete, meine Erlauchtheit mit seinem unwürdigen Anliegen zu belästigen, wechselte seine Farbe ununterbrochen von einem fahlen Graugrün zu einem reifen Olivton – der Grund, wes-
halb die Journalisten sie Ollies getauft hatten. Ollie Johnson zischte ein paarmal – seine Art sich zu räuspern – und stürzte sich dann mit offensichtlicher Todesverachtung auf sein Thema. »Könnte es sein, daß Ihre so gütige Einwilligung, mir dieses Interview zu gewähren, eine Bereitwilligkeit Ihrerseits erkennen läßt, mit uns unbedeutenden Geschöpfen in Handelsbeziehungen zu treten?« Seine Stimme war hell, fast piepsig. »Wenn es legal ist und Geld einbringt, warum nicht?« entgegnete ich. »Sie produzieren und verkaufen Maschinen, soweit ich unterrichtet bin. Wundervolle, arbeitssparende Apparaturen, die das Leben auf der Erde zu einer ununterbrochenen Freude machen.« Ich fühlte mich fast versucht, ihn für unsere Werbeabteilung zu engagieren. »Das stimmt«, sagte ich. »Servomaschinen, Apparate und Geräte der verschiedensten Arten für Haushalt, Büro und Industrie.« »Es wird auf ewig unsere Schande bleiben«, sagte er mit Demut in der Stimme, »daß wir unfähig waren, die Mittel zu retten, um Ihrer so erhabenen Zivilisation das einzige ihr geziemende Geschenk – das unseres Raumantriebs – überreichen zu können. Hätten Flussissc und Shascinssisth unsere lange Reise überlebt, dann wäre es möglich gewesen, aber –« Er beugte seinen Kopf, als warte er darauf, daß ich jetzt meinen Zorn über ihn ausschütten würde. Dabei war die Nachricht, daß die beiden einzigen Energiewissenschaftler an Bord des Schiffes tot waren, schon längst nicht mehr neu. »Das war Pech«, sagte ich. »Aber woran haben Sie
jetzt gedacht?« Er hob den Blick seiner feuchten Augen – dankbar, daß ich ihm anscheinend vergab. »Wir besitzen etwas, das vielleicht hilft, die Schuld zurückzuzahlen, die wir auf uns geladen haben, als wir auf Ihrem glorreichen Planeten landeten.« Er erbat meine Erlaubnis, mir etwas zeigen zu dürfen, das draußen im Vorzimmer wartete. Mit mehr als gewöhnlicher Neugier gewährte ich sie ihm. Unter erneuten Bücklingen ging er rückwärts zur Tür, öffnete sie und sprach mit jemandem, der sich außerhalb meines Blickfeldes befand. Seine Worte hörten sich an wie ein wiederholtes Sissel-fissel. Dann trat er beiseite, schaute mich mit seinen kleinen nassen Äuglein voller Spannung an und wartete. Plötzlich erschien unter der Tür ein riesiger glatzköpfiger Geselle mit einem rosigen Kindergesicht, dessen breite Schultern den Türrahmen fast völlig ausfüllten. Seine Nase sah aus wie aus Lehm geknetet, und seine Ohren ähnelten überdimensionierten Suppenlöffeln. Er trug einen Straßenanzug, der offensichtlich auf seine Zweimetergröße extra zugeschnitten worden war. Trotz seiner Masse bewegte er sich so leise und behende wie eine Katze. Vor meinem Tisch blieb er mit einer unnachahmlich geschmeidigen Bewegung stehen. »Ich bin Soth«, sagte er in einer volltönenden Stimme. Ihre Resonanz war so stark, daß sie von den Wänden um mich herum widerzuhallen schien. »Ich habe Ihre Sprache und Ihre Gebräuche gelernt. Ich kann Ihre Befehle ausführen, einfache Probleme lösen und Arbeit verrichten. Ich bin sehr stark. Ich kann Ihnen ein guter Diener sein.«
Das alles sagte er mit einer ausdruckslosen, monotonen Stimme, die fast hochmütig klang im Vergleich zu dem unterwürfigen, piepsenden Gewinsel des Ollies. Sein Gesicht strahlte die Würde eines Felsens aus, und seine Augen besaßen den stillen Frieden eines kühlen, tiefen Gebirgssees. Der Ollie trat wieder näher. »Leider konnten wir nur einen der sechs Soth im Schiff reparieren. Sie sind viel empfindlicher als wir Humanoiden.« »Sie sehen nicht so aus«, sagte ich. »Und was meinen Sie mit: wir Humanoiden? Was ist denn er?« »Sie würden ihn einen Roboter nennen, glaube ich.« Mein Erstaunen mußte die Erwartungen des Ollies vollauf befriedigt haben, denn er löste jetzt den Blick von mir und heftete ihn erneut auf den Teppich. »Sie meinen – Sie bauen Leute?« keuchte ich. Er nickte. »Wir könnten sie herstellen, wenn wir das nötige Material und entsprechende Einrichtungen zur Verfügung hätten. Zweifellos übertreffen Ihre eigenen Roboter die unseren bei weitem« – ein kleines Pflaster auf meine verletzte Eitelkeit –, »aber ich darf doch nichtsdestoweniger der Hoffnung Ausdruck geben daß Sie vielleicht für die Soth eine Verwendung finden könnten.« Ich stand auf und ging prüfend um das riesige Stück Mannsbild herum und versuchte dabei ein blasiertes Gesicht zu machen. »Nun ja«, log ich. »Unsere Roboter haben vermutlich bessere geistige Qualitäten – unsere kybernetischen Kombinationen, heißt das. Auf der anderen Seite kann ich nicht leugnen, daß Sie hier – was Form und Beweglichkeit angeht – schon etwas vorweisen können.«
Das war die Untertreibung meines Lebens. Ich riß mich endlich zusammen und sagte so gleichgültig ich konnte: »Und Sie sind also mit der Absicht hergekommen, uns die Herstellungslizenz für die Soth zu überlassen?« Der Ollie flatterte mit seinen Händen. »Aber das würde bedeuten, daß wir mit Ihrem Personal zusammenarbeiten müßten«, sagte er. »Es würde uns nicht einfallen, uns Ihnen aufzudrängen.« »Aber davon kann doch nicht die Rede sein«, beruhigte ich ihn. Aber er schien plötzlich schwerhörig geworden zu sein. »Wir haben die Wirtschaftsstruktur der Erde studiert und herausgefunden, daß Ihre Firma an hervorragender Stelle steht in dem, was Sie als die Geschäftswelt bezeichnen«, fuhr er fort. »Sie besitzen eine sehr leistungsfähige Verteilerorganisation. Es ist unsere Absicht, Ihnen die« – er zögerte einen Augenblick und kramte dann das Wort aus seinem erstaunlichen Wortschatz hervor – »Exklusivkonzession für den Verkauf der Soth zu geben. Wenn es Ihnen recht ist, werden wir Sie nicht mit der Herstellung der Soth belästigen. Unsere eigene kleine Fabrik würde sie produzieren und auch verschicken. Sie würden uns nur die Käufer vermitteln.« Ich studierte das großartige Stück lebendig gewordener Bildhauerkunst. Ich war wie betäubt von den Möglichkeiten, die sich vor meinem geistigen Auge auftaten. »Sie sagen, ein Soth ist stark. Wie stark?« Das riesige Geschöpf überraschte mich, indem es die Frage von sich aus beantwortete. Mit einer flie-
ßenden Bewegung aus der Hüfte heraus beugte sich der Soth nach vorn, packte meinen massiven Stahlschreibtisch an einer überstehenden Kante und hob ihn ein paar Zentimeter vom Fußboden hoch – mit den Fingern einer einzigen Hand! Als er ihn wieder abgesetzt hatte, ging ich hin und versuchte mich ebenfalls an einer der Kanten. Ich faßte mit beiden Händen an, aber so sehr ich meinen Rücken auch spannte, ich konnte gerade nur eine Seite des schweren Dings leicht anheben. Es hatte bestimmt ein Gewicht von vier Zentnern. Ollie Johnson enthielt sich bescheiden eines jeglichen Kommentars. Er sagte: »Die Herren der Handelskammer waren sehr hilfsbereit. Sie haben uns die hiesigen Gepflogenheiten des Handelsverkehrs erklärt und uns auch die Preise für die Rohmaterialien genannt. Sie waren es, die uns Ihre geschätzte Firma als geeigneten Großverteiler empfohlen haben.« »Haben Sie schon mal grob überschlagen, zu welchem Preis Sie einen Soth abgeben können?« »Wir denken, daß wir einen bescheidenen Gewinn erzielen, wenn wir sie Ihnen für ungefähr 1200 Dollar überlassen«, sagte er. »Vielleicht gelingt es uns, unsere Kosten noch etwas zu senken, falls Sie eine genügend große Nachfrage feststellen können.« Ich hatte den zehn- bis zwanzigfachen Betrag erwartet. Ich fürchte, ich wurde ein wenig übereifrig und zeigte das auch. »Ich – hm – wollen wir nicht versuchen, ob wir nicht gleich jetzt einen Vertrag ausarbeiten können? Das würde Ihnen einen zweiten Besuch am Nachmittag ersparen.« »Ich hoffe, Sie verzeihen uns unsere Eigenmächtig-
keit«, sagte der Ollie und fummelte dabei verlegen in den Taschen seines Anzuges herum. »Ich habe bereits ein solches Dokument von einem Notar vorbereiten lassen. Ein sehr freundlicher, hilfsbereiter Herr.« Der Vertrag war einfach und kurz. Er gestattete uns, die Soth zu einem Wiederverkaufspreis von 2000 Dollar zu vertreiben, was uns also einen Bruttogewinn pro Soth von 800 Dollar einbringen würde. Johnson versicherte mir, daß Unterhalt und Reparaturen der Roboter äußerst geringfügiger Natur wären und daß wir gern jedem Soth eine großzügige Garantie beigeben könnten, für die im Bedarfsfalle die Ollies einstehen würden. Dann unterwies er mich noch kurz in dem Gebrauch und der Pflege eines sirischen Soth und überraschte mich dann mit folgenden Worten: »Würden Sie mir die Anmaßung verzeihen, wenn ich Sie um einen großen Gefallen bitte? Würden Sie unserer kleinen Kolonie die außerordentliche Ehre erweisen, diesen Soth hier als Ihren persönlichen Diener anzunehmen, Mr. Collins. Ein kleines Geschenk für Ihr weitherziges Verständnis.« »Diener?« Er nickte ein paarmal mit seinem Kopf. »Ja, mein Herr. Wir haben ihn in den Grundzügen der Pflichten eines Haushalts unterwiesen und in den Sitten und Gebräuchen Ihrer Kultur. Er lernt sehr schnell und vergißt niemals irgendwelche Instruktionen. Ihre verehrte Frau Gemahlin würde einen Soth sicherlich als Hilfe sehr begrüßen.« So ein großartiges Geschöpf wie das und Hausarbeit! Ich wunderte mich über die Hohlköpfigkeit der Ollies. »Und wiederum muß ich Ihre Nachsicht erflehen,
mein Herr. Ich vergaß, einen Vorschlag des Arbeitsministers zu erwähnen, daß die Soth nur zur Verwendung innerhalb eines Haushalts verkauft werden dürften. Es war ebenfalls die einstimmige Meinung des Kabinetts, daß wohl die Volkswirtschaft keiner Nation dem Problem der Arbeitslosigkeit gewachsen sein würde, sollten die Soth alle die Arbeiten übernehmen, für die sie geeignet wären.« Mein Traum eines Weltreiches brach zusammen. Der kleine grüne Bursche sprach zweifellos die Wahrheit. Die Gewerkschaften würden jeden Betrieb und jede Fabrik auf der ganzen Welt bis aufs Blut bekämpfen, die es wagen würden, einen Soth einzustellen. »Ja, Mr. Johnson«, seufzte ich. »Ich werde gern Ihren Soth ausprobieren. Wir haben ein Häuschen draußen auf dem Lande, wo seine Hilfe sehr gelegen kommt.« Der Ollie drückte pflichtbewußt seine ekstatische Freude über meine Einwilligung aus und stolperte unter wiederholtem Katzbuckeln aus meinem Büro, wobei er mir mit seinem Exemplar des Vertrages zuwedelte. Ich hatte ihm versichert, daß unser Direktorenkollegium binnen einer Woche zusammentreten und meine Unterschrift ratifizieren würde. Ich schaute mir den haarlosen Riesen an. Als Direktor der Abteilung für Haushaltsgeräte hatte ich gerade ein interessantes Geschäft abgeschlossen. Der erste interstellare Handelsvertrag in der Geschichte der Menschheit. Aber aus irgendeinem unbestimmten Grunde wurde ich das Gefühl nicht los, daß ich vielleicht dabei doch nicht so gut abgeschnitten hatte.
Im Limoukopter mußte ich für den Soth den doppelten Fahrpreis zahlen. Mein eigenes Boot, zu dem wir flogen, stand auf einem Privatflugplatz am Rande der Stadt. Als wir Detroit hinter uns zurückließen, sah ich, wie er herunter auf die Stadt starrte, aber er tat es mit dem gleichgültigen Gesicht eines alten erfahrenen Reisenden. Jack, mein Pilot, hatte sich meinen Passagier mit teils mürrischer, teils argwöhnischer Miene betrachtet. Jetzt machte er viel Wesens um das richtige Trimmen des Schiffes. Das Boot schien durch den ungewohnten Ballast auch wirklich etwas hinterlastig zu sein. Es war ein viersitziger Arrow, auf Geschwindigkeit gebaut, und der Soth war gezwungen, seinen massigen Körper mühsam auf die beiden Hintersitze zu verteilen. Aber während des halbstündigen Fluges zu meinem Landsitz an meinem kanadischen Lieblingssee kam kein Wort der Klage über seine Lippen. Während die sechshundert Kilometer der Strecke unter uns dahinflogen, fragte ich mich voller Zweifel, wie wohl Vicki auf den Soth reagieren würde. Ich hätte sie anrufen sollen, aber wie hätte ich ihr einen Soth beschreiben sollen, für den die Aufregungen des Lebens sich in der Versorgung des Kanarienvogels und der Pflege der Geranien erschöpfen und einem gelegentlichen Spaziergang bis zum Ende unserer Anlegebrücke? Nun, es war Freitag, und ich hatte das ganze Wochenende vor mir, um den Soth mit der Routine unseres Haushalts vertraut zu machen. Ich hatte meinen Freund, Dr. Frederik Hilliard, angerufen – einen ehemaligen Industriepsychologen – und ihn gebeten heute abend bei uns vorbeizuschauen, falls er eine
interessante Überraschung erleben wollte. Fred war unser nächster Nachbar und mein Schachpartner. Er lebte das zurückgezogene Leben eines überzeugten Junggesellen in einem komfortabel ausgestatteten Häuschen am anderen Ufer des Sees. Als wir zur Wasserlandung ansetzten, sah ich schon Freds Boot an unserem Pier liegen. Dann konnte ich Fred, Vicki und Plumpsie, unseren irischen Setter, erkennen, die auf mich warteten. Ich hoffte, daß Freds Gegenwart auf Vickis leicht empfindliche Nerven etwas beruhigend wirken würde. Wir trieben langsam an die Landungsbrücke heran, und ich wandte mich nach dem Soth um und befahl ihm, meinem Piloten beim Ausladen behilflich zu sein. Das erfreute Jack, dessen Piloten-undChauffeur-Gewerkschaft mich häufig in kleinen höflichen Rundschreiben daran erinnerte, daß ihre Mitglieder nicht verpflichtet seien, andere Dienstleistungen als rein technischer Natur für ihre Arbeitgeber zu verrichten. Dann stieg ich aus und begrüßte Vicki und Fred so gleichgültig, als wäre heute ein Tag wie jeder andere. Vicki gab mir einen Kuß auf den Mund, was sie immer tut, wenn sie aufgeregt ist. Sie kuschelte sich an mich und verlor dabei etwas von der nervösen Spannung, die sich bei ihr täglich von neuem auflud. Wie man in einem Heim des einundzwanzigsten Jahrhunderts und dazu noch in der Stille und Abgeschiedenheit der kanadischen Wildnis unter schwachen Nerven leiden kann, habe ich nie begriffen. Aber Vickis übernormal entwickelte Einbildungskraft brachte es jedenfalls jeden Tag von neuem fertig, die Anordnungen unseres Arztes, der ihr Ruhe und Frie-
den verschrieben hatte, zu vereiteln. »Ich bin froh, daß du wieder zu Hause bist, Liebster«, sagte sie. »Als Fred so früh herüberkam, wußte ich, daß du irgendeine Überraschung vorbereitet hast, und die Neugierde hat mich ganz krank gemacht.« Gerade in diesem Augenblick trat der Soth aus dem Schiff. Er hielt unseren ganzen Wochenvorrat an Lebensmitteln und anderen Kleinigkeiten in seinen starken Armen. »Oh mein Gott, ein Gast!« rief Vicki aus. Tränen traten in ihre Augen, und ihre kleine schlanke Gestalt versteifte sich plötzlich in meinen Armen. Ich drehte sie herum, hakte mich bei ihr und Fred ein und zog die beiden mit mir zum Haus. »Kein Gast«, klärte ich sie auf. »Er ist ein Diener, der die Betten machen wird und aufräumt und alle diese Sachen. Und wenn du ihn nicht leiden kannst, dann tauschen wir ihn gegen eine neue Waschmaschine um. Und hab keine Angst, wenn du mit ihm allein bist. Er ist ein Roboter.« »Ein Roboter!« sagte Fred, und beide wandten ihre Köpfe, um neugierig zurückzustarren. »Ja«, sagte ich. »Deshalb wollte ich, daß du heute abend hier bist, Fred. Ich möchte, daß du ihn ein bißchen unter die Lupe nimmst und – du weißt schon.« Ich wollte nicht sagen: und dich überzeugst, daß er wirklich harmlos ist – jedenfalls nicht in Vickis Gegenwart. Aber Fred fing meinen bedeutungsvollen Blick auf und nickte. Ich begann, ihnen von meinem Besucher zu erzählen und dem Vertrag, den ich mit den Schiffbrüchigen aus dem Weltraum abgeschlossen hatte. Plumpsie unterbrach mich dabei mit seinem aufgeregten Bellen.
Ich schaute zurück. Plumpsie rannte wie wahnsinnig um den Soth im Kreise herum. Bevor ich ihn zurückrufen konnte, öffnete der Soth seine Lippen und stieß ein zischendes Geräusch zwischen seinen Zähnen hervor. Plumpsie drückte sich eng an den Boden und erstarrte, und der Soth folgte uns, ohne den Hund noch eines weiteren Blickes zu würdigen. Fred schaute in Vickis verkrampftes Gesicht und lachte. »Ich muß mir diesen Trick zeigen lassen. Plumpsie hat schon die Aufschläge von drei meiner besten Hosen zerrissen.« Vicki lächelte verlegen, und wir traten ins Haus. Ich zeigte dem Soth, wo er die Vorräte abladen sollte und befahl ihm, in der Küche auf weitere Anordnungen zu warten. Er blieb einfach auf der Stelle stehen, wo er sich gerade befand, und rührte sich nicht mehr. Fred war dabei, uns Drinks zu mixen, als ich ins Wohnzimmer trat. »Macht einen gefügigen Eindruck, Cliff«, sagte er. »Stark wie ein Löwe und sanft wie ein Lamm«, entgegnete ich. »Ich möchte, daß ihr zwei mir dabei helft, herauszufinden, was für Talente er besitzt. Ich muß einen Bericht für den Verwaltungsrat vorbereiten.« Vickis Glas zitterte in ihrer Hand. Ich tätschelte ihr die Wange. »Ich werde ihm schon die Haushaltsroutine beibringen, Liebling. Es wird nicht vorkommen, daß er dir plötzlich über die Schulter starrt.« Sie versuchte, ihre heimlichen Ängste zu unterdrücken. »Aber er ist so still – und so groß.« »Wer möchte schon einen lärmenden kleinen Die-
ner um sich haben?« kam mir Fred zu Hilfe. »Und was ist mit dieser Steinmauer für deinen Garten, die Cliff schon seit ewigen Zeiten bauen will? Und außerdem schwärmst du doch bestimmt nicht allzu sehr für Hausarbeit, oder, Vicki?« »Mir macht der Haushalt nichts aus«, sagte sie. »Aber vielleicht ist es ganz nett, wenn mir ein solcher Bursche dabei helfen kann.« Sie bemühte sich tapfer, sich zusammenzunehmen, aber ich sah, wie die kleine Ader an ihrer Schläfe pochte. Die nächsten achtundvierzig Stunden waren mehr als nur interessant. Es zeigte sich, daß der Soth genau das war, was uns der Onkel Doktor verschrieben hatte. Nachdem ich ihm Haus und Garten gezeigt hatte, unterwies ich ihn in der Bedienung der automatischen Haushaltsgeräte – Küche, Waschmaschine und all die anderen Apparate, die der geplagten Hausfrau die tägliche Arbeit erleichtern. Und nach nur einer einzigen Lektion servierte er uns schon einwandfrei gekochte und phantasievoll zusammengestellte Mahlzeiten – und das alles mit einer ruhigen, unaufdringlichen Tüchtigkeit, die an ein Wunder grenzte. Vicki begann, sich an seine Gegenwart zu gewöhnen und plante schon ein paar Arbeiten, die er im Garten ausführen sollte, um – wie sie lächelnd sagte – die in den Koloß investierten Unterhaltskosten wieder hereinzubringen. Das war einer unserer ersten Späße, die wir über den Soth machten. In Wirklichkeit kostete uns sein Unterhalt fast überhaupt nichts. Wie uns der Ollie versprochen hatte, gedieh er von
den Überresten unserer Mahlzeiten und einem rosafarbenen Getränk, das er sich selbst aus einem Liter Wasser zusammenmischte, in das er ein paar Tropfen einer roten Flüssigkeit aus einer Ampulle träufelte, die uns die Ollies für einen Dollar achtzig die Woche lieferten. Samstag nachmittag begann Vicki mutig, ihm die Aufgaben eines Butlers und die Schwierigkeiten des Bettenmachens zu erklären. Nach einem kurzen Aufenthalt im Schlafzimmer kam sie mit einem nachdenklichen Blick wieder zu uns zurück. »Er sieht so fürchterlich echt aus«, sagte sie, »und man kann auch nicht das geringste in seinem Gesicht lesen. Wieweit kann man ihm wohl trauen, Cliff? Du weißt schon – mit Frauen.« Fred schaute mich mit hochgezogenen Augenbrauen an und sagte: »Na schön, versuchen wir es herauszufinden.« Wir setzten uns hin und riefen den Soth ins Wohnzimmer. Er kam und baute sich vor uns auf – hochaufgerichtet und völlig regungslos. Fred sagte: »Zieh dich aus! Leg deine Kleider ab!« Vicki hielt die Luft an. Der Soth antwortete: »Dieser Befehl verstößt gegen meine Instruktionen. Ich darf in Gegenwart einer Erdfrau meine Kleider nicht ablegen.« Fred kratzte sich nachdenklich seine grauen Schläfen. »Wenn das so ist – Vicki, würdest du dich dann bitte ausziehen?« Sie schluckte. Fred war zwar ein alter Freund, aber schließlich doch nicht der Hausarzt. Er merkte ihr Zögern. »Du wirst nie völlig beruhigt sein können, wenn du es nicht tust«, sagte er.
Sie schaute Fred an, dann mich, dann den Soth. Zögernd stand sie auf, als würde sie unter eine kalte Dusche treten. Sie biß die Zähne zusammen, faßte nach dem durchgehenden Reißverschluß ihres blauen Hausanzugs und zog ihn mit einer entschlossenen Bewegung von oben nach unten durch. Als sie aus dem Anzug trat, sah ich, warum sie ihn von sich abgezogen hatte, als wäre er ein Stück Heftpflaster. Es war ein warmer Tag, und sie hatte darunter nichts an. Der Soth bewegte sich so leise, daß ich ihn nicht weggehen hörte, aber Fred hatte seine Augen da, wo sie hingehörten. Der Soth blieb in dem Durchgang zum Speisezimmer stehen, das Gesicht von uns abgewandt. Fred war ihm gefolgt und stand neben ihm. »Warum bist du gegangen?« wollte Fred wissen. »Es ist mir nicht gestattet, in der Gesellschaft einer entkleideten Erdfrau zu verweilen – es sei denn, es ist ihr ausdrücklicher Befehl.« Während Vicki hinter einen Wandschirm floh, um sich wieder anzuziehen, führte Fred sein Verhör weiter. »Gibt es noch mehr Einschränkungen in Bezug auf dein Verhalten in der Gegenwart einer Erdfrau?« »Viele.« »Zähl sie auf.« »Eine Erdfrau darf nicht berührt werden, gleichgültig, wie Ihre Befehle lauten, es sei denn, sie befindet sich in Lebensgefahr.« »Scheint, daß du dir den Rücken selber waschen mußt, Vicki«, spöttelte ich. »Was noch?« fragte sie und steckte ihren Kopf hinter dem Schirm hervor. »Es gibt viele Worte, die ich nicht äußern darf,
Stellungen, die ich nicht einnehmen und gewisse Pflichten, die ich nicht erfüllen darf. Bestimmte Antworten auf bestimmte Fragen dürfen in Gegenwart einer Erdfrau nicht gegeben werden.« Fred stieß einen Pfiff durch die Zähne aus. »Die Ollies haben mehr als nur unsere Sprache gemeistert. Ich dachte, du sagtest, sie wären besonders für ihr Sprachtalent berühmt, Cliff?« Ich war selbst überrascht. In dem Zeitraum einiger weniger hektischer Monate hatten sich unsere Besucher anscheinend eingehend mit unserer Kultur, unseren Sitten und Tabus vertraut gemacht – und dann das Genie besessen, die gewonnenen Erkenntnisse ihren Soth einzuimpfen. Ich sagte: »Zufrieden, Vicki?« Ihr Mund zog sich spitzbübisch an den Winkeln hoch. »Ich bin fast enttäuscht«, sagte sie. »Ich führe hier einen Striptease vor, und niemand schaut hin außer meinem Mann. Natürlich«, fügte sie nachdenklich hinzu, »das ist auch etwas wert.« Fred blieb bis Sonntag abend. Ich begleitete ihn hinunter zum Kai, und während wir Pfeife rauchten, bat ich ihn um seine Meinung. »Ich werde mir morgen hundert Aktien deiner Firma zulegen«, erklärte er mir. »Dieser Bursche ist für jede Hausfrau im ganzen Land sein Gewicht in Diamanten wert. Noch mehr, du kannst mich gleich für eines deiner ersten Modelle vormerken. Ich hätte nichts dagegen, jemand um mich zu haben, der meine Wäsche sortiert und mir den Kaffee einschenkt.« »Du meinst also, er ist ungefährlich?« »Nicht mehr Gefühle, als in dem Baumstrunk da
drüben. Verblüffend, wenn ich es recht bedenke. Er besitzt Selbstbewußtsein, Schmerzgefühl und einen phantastischen Wortschatz, und trotzdem – ich habe es heute nachmittag mit allen möglichen Tricks versucht, ohne eine Spur von einer Empfindung aus ihm herauskitzeln zu können.« Er machte eine Pause. »Übrigens, ich ließ ihn in meinem Zimmer sich vor mir ausziehen. Du wirst so erstaunt sein wie ich, wenn ich dir sage, daß er jeder Zoll ein vollwertiger Mann ist.« »Was?« rief ich aus. »Ich habe mich wirklich gefragt, was wohl seine Pflichten auf seinem Heimatplaneten alles einbeziehen. Aber, wie gesagt, überhaupt keine Gefühle. Mit den eingebauten Hemmungen, die er aufweist, könnte er jederzeit den besten Eunuchen aus seiner Stellung verdrängen.« Ein paar Minuten später sprang Fred in seinen kleinen Zweisitzer, und ich blieb mit einer nagenden Frage zurück. Langsam schlenderte ich zum Haus. Ich fand den Soth in der Küche. Er war allein. Vicki hatte ihm aufgetragen, unser Silber zu putzen. »Gibt es weibliche Soth?« fragte ich ohne Umschweife. Er schaute auf mich herunter mit einem nichtssagenden Blick und sagte: »Nein, Mr. Collins«, und fuhr mit seiner Arbeit fort. Der verdammte Lügner. Er wußte genau, was ich meinte, und versuchte sich herauszureden. Ich verließ Vicki am Montag morgen mit mehr Zuversicht, als ich seit langer Zeit gehabt hatte. Sie hatte sehr gut geschlafen, und das einzige, was sie be-
drückte, war Plumpsies Verschwinden. Er hatte sich bei uns nicht mehr gezeigt, seit der Soth ihn mit seinem Gezische so erschreckt hatte. Im Büro ließ ich ein Memorandum für die anderen Direktoren der Firma anfertigen. Noch vor dem Mittagessen schickte ich es ihnen zu, und kurz danach kamen auch schon die Anrufe von allen zehn, einschließlich unseres Generaldirektors. Sie waren noch nicht ganz überzeugt, aber ich hatte sie zumindest neugierig gemacht. Wir verabredeten uns für Dienstag morgen, wo wir alles eingehend durchsprechen wollten. Als ich an diesem Abend nach Hause kam, fand ich alles in bester Ordnung vor. Der Soth brachte uns Cocktails, dann unser Abendessen und später einen kleinen Imbiß. Als wir zu Bett gingen, fanden wir schon alles für die Nacht vorbereitet. Obwohl er so geschäftig war, brachte er es doch fertig, dabei praktisch unsichtbar zu bleiben. Er bewegte sich völlig lautlos und schien unsere Wünsche auf eine unheimliche Art schon zu ahnen, bevor wir sie aussprachen, so als wäre er schon ewig bei uns und hätte sich seit Jahrzehnten an unsere Gewohnheiten und Wünsche gewöhnt. Vicki prahlte, während wir zu Bett gingen, wie weit sie den Riesen schon gezähmt hätte. Auf einen Wink mit dem Finger käme er gerannt. »Wir haben fast schon die Ausschachtung für die Steinmauer fertig«, sagte sie voller Stolz. Einer plötzlichen Eingebung folgend ging ich hinunter und suchte den Soth in seinem Zimmer auf, wo ich ihn quer über das breite Doppelbett hingestreckt fand, das ich hatte aufstellen lassen.
Er öffnete seine Augen, als ich eintrat, aber er rührte sich nicht. »Bist du zufrieden?« fragte ich. Er setzte sich auf und überraschte mich mit einer neuen Reaktion. Er stellte eine Gegenfrage. »Sind Sie zufrieden mit meinen Diensten?« »Ja, natürlich«, sagte ich. »Dann ist alles gut«, entgegnete er mir in seiner leidenschaftslosen Stimme und legte sich wieder zurück. Die Antwort schien befriedigend zu sein, und der Ausdruck von Ruhe auf seinen schweren Zügen beruhigte mich vollends. Während der Nacht fing es an zu regnen. Es war ein heftiger und kalter Regen. Ich hatte dem Soth noch nicht gezeigt, wie er die automatische Heizung anstellen mußte, aber als ich am Morgen das Haus verließ, sah ich, wie er Vicki das Frühstück ans Bett brachte. In der einen Hand balancierte er das Tablett, die andere hielt eine Handvoll Feuerholz, das er sich unter den Arm geklemmt hatte. Nur ein einziges Mal hatte er zugesehen, wie ich im Kamin ein Feuer angezündet hatte, aber er machte es mustergültig. Die ganze Strecke bis Detroit mußten wir blind durch eine ausgedehnte Schlechtwetterfront fliegen. Ich entließ Jack mit dem Auftrag, um elf Uhr mit dem Soth zurück zu sein. »Seien Sie pünktlich«, mahnte ich ihn. Er schaute etwas verdrießlich drein, aber er war wirklich auf die Minute pünktlich und lieferte den Soth bei mir ab, genau zehn Minuten, nachdem die Direktoren sich versammelt hatten.
Ich hatte auch Ollie Johnson bestellt, der den Soth vorführen sollte. Der Ollie, der in einem zerknitterten feuchten Anzug erschienen war, war so aufgeregt, daß sein Gesicht die ganze Stunde über ein dunkles Grau zeigte. Die Direktoren waren belustigt, beeindruckt, schließlich begeistert. Als ich meinen Bericht über den Erfolg des Soth in meinem Haushalt beendet hatte, wischte sich Gulbrandson, der Generaldirektor, seine rosigen Wangen mit dem Taschentuch und sagte: »Ich nehme die ersten drei, die Sie fertig haben, Johnson. Meine Dienstboten kosten mich mehr als meine Rechtsanwälte zusammen, und dabei wechselt das Personal noch dreimal jährlich. Der Koch kann nicht mal den Eierkocher richtig einstellen.« Er wandte sich an mich. »Kann er wirklich guten Kaffee kochen, Collins?« Ich nickte nachdenklich. »Dann notieren Sie mich ganz bestimmt für drei dieser Burschen vor«, sagte er. Gulbrandson mußte später für seine Habgier teuer zahlen, aber damals schien es nur natürlich, daß unser Generaldirektor mindestens zwei Ersatzsoth haben müßte – obwohl ein einziger vollauf genügte, um einen Haushalt zu führen – für den Fall, daß bei einem eine Röhre oder eine Ader platzen würde – oder was sonst noch platzen könnte. In diesem Moment drohte unsere Versammlung in einem unerwarteten Tumult zu enden. Nachdem sich dann alle wieder beruhigt hatten, hatte ich Bestellungen für sechsundzwanzig Soth notiert – eine davon von meiner eigenen Sekretärin.
»Wann«, fragte ich den Ollie Johnson, »können Sie mit der Lieferung beginnen?« Er rieb sich die Hände und erklärte, fünf Monate würde es wohl noch dauern, und ein allgemeiner Seufzer der Enttäuschung ging um den Tisch. Dann fragte ihn jemand, wieviel Stück sie monatlich produzieren könnten. Johnson starrte auf den Teppich und streckte seine Hände aus, wie ein Pfandleiher, der zu handeln beginnt. »Unsere Technik ist so unentwickelt. Im ersten Monat vielleicht hundert, bis unsere Kulturen alle zusammen produzieren. Dann fast jede Anzahl. Eintausend, zehntausend – was immer Sie benötigen.« Einer der Direktoren fragte: »Ist der Prozeß ausschließlich biologischer Natur? Sie erwähnten Kulturen.« Einen Augenblick lang befürchtete ich wirklich, Ollie Johnson würde in Tränen ausbrechen. In seinem Gesicht zuckte und arbeitete es. »Leider ist es so«, jammerte er. »Unsere synthetischen Modelle haben sich nie richtig bewährt. Unterhalt und Erneuerung einzelner Teile waren zu kostspielig. Unsere Gehirne entsprechen in ungefähr Ihren letzten Entwicklungen in der Positronik, aber wir waren gezwungen, auf organische Zellstrukturen zurückzugreifen, um die Beweglichkeit zu erhalten, die Mr. Collins letzten Freitag so sehr bewunderte.« Das Ergebnis der Versammlung war eine vorbehaltlose Bestätigung meiner Unterschrift unter dem Vertrag mit den Ollies, zusätzlich des Angebots jeder denkbaren Unterstützung, die die Ollies brauchten, um die Produktion in Gang zu bringen. Als wir auseinandergingen, schüttelte mir jeder
herzhaft die Hand und starrte dabei neidisch auf meinen Soth. Einige boten mir für ihn hohe Summen an – bis fünfzehntausend Dollar –, und einen Augenblick lang schwitzte ich bei dem Gedanken, etwas zu besitzen, was meine Chefs nicht hatten. Ihre verständliche Pikiertheit wurde jedoch gemildert durch die Anerkennung, die sie mir zollen mußten. Ich hatte schließlich die Ollies vertraglich gebunden, bevor sie Gelegenheit gehabt hatten, zur Konkurrenz zu laufen. Woran keiner von uns damals auch nur im Traume dachte war, daß die Ollies in Wirklichkeit uns in ihre Dienste genommen hatten. Als ich Vicki von meinem Triumph erzählte und was die Direktoren mir für unseren Soth geboten hatten, erglühte sie mit der sehr weiblichen Freude über einen ausschließlichen Besitz. Sie drückte mich an sich und sagte schadenfroh: »Die alte Mrs. Gulbrandson, die wird sich ärgern, was? Und wage du ja nicht, ein Angebot für unseren Soth anzunehmen. Er gehört jetzt zur Familie. Nicht wahr, Soth, alter Junge?« Er war gerade dabei, ihr die Suppe zu servieren. Sie streckte ihre Hand aus, um ihn auf den Rücken zu klopfen, aber irgendwie brachte er es fertig, aus der Reichweite ihrer Hand zu entkommen, ohne dabei einen Tropfen Boullion aus der Terrine zu verschütten. »Ja, Mrs. Collins«, sagte er in einer Stimme, die keine Spur mehr oder weniger unbeteiligt klang als sonst auch. »Oh, Verzeihung«, entschuldigte sich Vicki. »Ich vergaß, der Verhaltenskodex.« Ich hatte den Verdacht, daß Vicki den Soth in we-
nigen Tagen dazu gebracht hätte, sich vor ihr auf dem Bärenfell vor dem Kamin zu kuschen, um sich dort mit ihm wie mit einem zweiten Plumpsie herumzubalgen, wenn der Soth nicht diese unantastbaren Prinzipien besessen hätte – und ich war dankbar, daß er sie besaß. Vicki hatte eine besondere Art, ihrem Partner beim Sprechen die Hand auf den Arm zu legen, oder alles und jedes zu umarmen, wenn sie sich freute. Und ich wußte etwas über den Soth, was sie nicht wußte – etwas, woran sie anscheinend seit dem Tag ihrer Striptease-Vorstellung keinen Gedanken mehr verschwendet hatte. Der Sommer verging, und es wurde Herbst, bevor Ollie Johnson mir einen zweiten Besuch abstattete. Er brachte einen Lieferschein für 86 versandfertige Soth mit. Er hatte etwas von Schecks gehört, und wollte, daß ich ihm einen ausstellte. »Zur Hölle mit soviel Umständen«, sagte ich ihm. Ich schrieb eine Notiz für den Einkauf aus und setzte dann meine Unterschrift unter den Lieferschein. Der Betrag belief sich auf 103 000 Dollar. Dann rief ich meine Sekretärin und sagte ihr, sie solle den Ollie mit seiner Rechnung hinunter zur Kasse bringen und ihn bar auszahlen lassen. Ich verkroch mich hinter meinem Schreibtisch, bevor der Ollie Gelegenheit hatte, eine neue Floskel auszubrüten, mit der er mir seine Dankbarkeit beweisen konnte. Dann wies ich den Verkauf an, die Soth, die schon auf unserer Bestelliste standen, abzuschikken, und diktierte ein Memorandum an unsere Werbeabteilung. Ich warnte sie, anfangs zu viel Rummel
um die Soth zu machen – für eine Weile würden sie wohl noch rationiert bleiben müssen. Gleich am Anfang mußten wir ein unerwartetes Hindernis nehmen. Das Finanzamt überfiel uns mit der Frage: Werden die Soth hergestellt oder gezüchtet? Es gelang uns, um die Produktionssteuer herumzukommen, aber es kostete uns eine hübsche Stange Geld für Rechtsanwaltsgebühren. An dem gleichen Tag, an dem diese Angelegenheit für uns positiv entschieden worden war, suchten mich die Führer der drei Gewerkschaften auf. Sie bekamen ihre Beruhigungspille in der Form einer Klausel, die in die Kaufverträge aufgenommen werden sollte – ungefähr dem Sinne nach, daß der Käufer sich verpflichtete, den Soth nicht zu dem Zweck zu beschäftigen, sich die Arbeitskosten für die in den einzelnen Gewerkschaften organisierten Künste, Berufe und Handwerke zu ersparen, und sich fernerhin bereit erklärte, den Soth von jeder in den Listen der Gewerkschaften nicht aufgeführten Arbeit zurückzuziehen, falls die Gewerkschaften die Absicht hätten, diesen Arbeitsplatz mit einer menschlichen Arbeitskraft zu besetzen. Bevor sie mich verließen, bestellten alle drei einen Soth. »Großer Gott«, sagte einer. »Das ist weniger als der Preis für ein neues Auto. Jetzt wird mich hoffentlich in Zukunft meine Frau mit ihrem Gejammer verschonen, eine Dienstbotengewerkschaft zu gründen. Dazu braucht man Mitglieder, und der einzige wirkliche Butler in meiner Nachbarschaft verdient mehr Geld als ich.« Und auf dieser Linie entwickelten sich die Dinge
weiter. Der einzige Grund, warum wir überhaupt einen Cent für Werbung ausgaben, war der, den Namen unserer Firma bekannter zu machen und unsere Konkurrenz ein bißchen mit unserem Erfolg zu kitzeln. Um Weihnachten war die Produktion auf zweitausend Stück monatlich gestiegen, und wir hinkten schon mit rund zehntausend noch nicht ausgeführten Bestellungen hinterher. Im Juni des nächsten Jahres zogen die Ollies mit ihrer Produktion in ein neues Werk um – die ehemalige Willow Run Fabrik – und steigerten ihren Ausstoß auf zehntausend im Monat. Erst dann konnten wir daran denken, unseren Großhändlern einige Schaumuster zu schicken. Und es dauerte bis zum Herbst, bis diese wiederum die größten ihrer Einzelhändlerkunden mit solchen Mustern beliefern konnten. In der Zwischenzeit war es an der Tagesordnung, daß wir dringende Bestellungen von wichtigen Persönlichkeiten auf der ganzen Erde direkt befriedigten. Zwanzigtausend monatlich war ihre äußerste Grenze, wie sich herausstellte. Selbst als sie endlich menschliche Arbeiter für die einzelnen Phasen der Produktion einstellten, konnten die fünfundsechzig Ollies doch keine größere Anzahl Soth trainieren und unterweisen. Mehr als zwei Jahre ging das Geschäft einfach glänzend – und abgesehen von den erwähnten Lieferschwierigkeiten – auch völlig reibungslos. Ich erhielt eine dicke Prämie und einen Urlaub in Paris, wo ich der Held der Gesellschaft war. Ich wurde mit Einladungen bis oben hin eingedeckt und von Party zu Party geschleppt, die sich alle unweigerlich als Ver-
sammlungen von Leuten herausstellten, von denen jeder bemüht war, einen besseren Platz auf der Warteliste zu ergattern. Als ich wieder zu Hause ankam, war das gerade zur rechten Zeit, um die erste Krise zu erleben. Eine alte Jungfer behauptete, ihr Soth hätte sie vergewaltigt. Bevor unser Reklamationsbüro den Befund der Ärzte veröffentlichen konnte, nämlich daß sie eine neurotische ausgetrocknete alte Schachtel war und sich die ganze Geschichte aus den Fingern gesogen hatte, geschah ein wirkliches Verbrechen. Ein Soth warf einen Psychologiedozenten und drei Studenten aus dem dritten Stock ihres Universitätsgebäudes, und für alle vier endete so der Versuch eines morbiden Experiments, dessen Gegenstand der Soth war, auf dem harten Beton einer Straße. Mein Telefon schrillte, während man noch dabei war, die Überreste ihrer wißbegierigen Hirne vom Pflaster abzukratzen. Der Soth habe sich im Labor verschanzt, und ich sollte bitte sofort kommen. Ich fuhr bei Ollie Johnson vorbei, der mittlerweile für seine Stammesgenossen als eine Art Public Relation Manager fungierte, und wir erreichten den Schauplatz des Unglücks noch in der gleichen Stunde. Die Halle wimmelte von Uniformen und Waffen, aber Freiwillige, die sich hineinwagen und den Roboter einfangen wollten, waren keine vorhanden. Der Ollie und ich gingen los und fanden den Soth am Fenster des Labors stehen. Er hatte sich gar nicht verschanzt. Er starrte hinunter auf die Leute, die mit Wasserschläuchen das Blut von der Straße abwuschen, für das er verantwortlich war.
Der Ollie stand ganz einfach da. Er öffnete und schloß seine Hände und zitterte hysterisch. Ich mußte die Fragerei übernehmen. Ich sagte mit forscher Stimme: »Soth, warum hast du diese Leute getötet?« Er wandte sich mir so ruhig zu, als wäre es mein eigener Diener. Seine saubere Drillichjacke – jetzt die Standardkleidung für die Soth – stand vorne offen und zeigte darunter seine nackte, muskulöse Brust. »Sie quälten mich mit dem da.« Er zeigte auf einen kleinen elektrischen Generator, von dem dünne Kabel ausgingen, die in scharfen Nadeln endeten. »Ich sagte dem Professor, daß dies nicht gestattet wäre, aber er entgegnete mir, ich sei sein Eigentum, und er könne mit mir machen, was er wolle. Die drei Burschen versuchten mich dann mit Gurten zu fesseln, während der Professor mich mit den Nadeln berührte. Meine Anweisungen untersagten mir, ihnen ein Leid anzutun, aber ihr Verhalten war eine eindeutige Verletzung des Vertrages. Ich befand mich in dem befohlenen Stadium der Unbeweglichkeit, als sie den Generator einschalteten. Als der Schmerz ins Unerträgliche stieg, wurde der Primärbefehl meiner Anweisungen ausgelöst. Ich muß überleben. Ich warf sie alle vier aus dem Fenster.« Der Soth ging mit uns willig mit und ließ sich auch ohne jeden Widerstand einsperren. Ein paar Tage lang – bis der Staatsanwalt seine Anklageschrift fertiggestellt hatte – schwiegen sogar die Zeitungen. Wohl jeder Redakteur und Verleger hatte einen Soth daheim. Dann beschloß der Staatsanwalt, der wahrschein-
lich auch einen Soth besaß, die Mordanklage fallen zu lassen und Anklage wegen Totschlags zu erheben. Das brachte den Stein ins Rollen. Die Presse begann mit ihrer Berichterstattung, wobei ein Teil der Zeitungen sogar die Frage aufwarf, ob der Vorfall nicht berechtigte Notwehr, begangen von einem nichtverantwortlichen Geschöpf, war und deshalb ein Freispruch am Platze wäre. Für den Soth war das alles gut gemeint, aber die öffentliche Diskussion hatte doch einen fatalen Effekt. Die Einzelheiten des Verbrechens wurden bekannt, und gewisse Elemente unserer Gesellschaft, die die Sothbesitzer schon lange heimlich beneidet hatten, heizten die Stimmung mit Haß und Furcht an. Der Mob rottete sich auf den Straßen zusammen und demonstrierte. Der erfundenen Vergewaltigungsgeschichte wurde jetzt gern voller Glauben geschenkt, und es dauerte nicht lange, bis die morbidesten Details die Runde machten. Sothbesitzer ließen ihre hochgeschätzten Diener nicht mehr auf die Straße. Aber an dem Nachmittag, als die Gerichtsverhandlung beendet und der Soth freigesprochen worden war und auf den Stufen des Gerichtsgebäudes erschien, zertrümmerte ihm jemand den Schädel mit einem Ziegelstein. Ollie Johnson und ich gingen rechts und links von ihm, und sein Blut spritzte über meinen Anzug. Als der Mob das sah, drängte er näher und schrie nach mehr. Ein Polizist half uns, den Soth zurück ins Gerichtsgebäude zu schleppen, während das Überfallkommando die Menge zerstreute. Wir schafften ihn aus einem Hinterausgang in ein Krankenauto, das ihn zur Reparatur zurück in die Willow Run Fabrik brachte.
Riesige Überschriften auf den Titelseiten der Abendausgaben: Freigesprochener Soth auf den Stufen des Gerichts ermordet! Ich war schon halbwegs zu Hause, als die Rundfunkstationen aktiv wurden. Der Pöbel war los. Laufend wurden Berichte über die neueste Entwicklung durchgegeben. Als Jack und ich auf dem windgekräuselten See landeten, hatte die Miliz um die Willow Run Fabrik einen Kordon gezogen, um sie vor einer Menschenmenge zu schützen, die zu stürmen drohte. Die Polizei hatte Verstärkungen angefordert. Vicki kam mir auf der Anlegebrücke entgegen. Ihr Gesicht war kreidebleich. Ich glaube, ich sah auch nicht sehr optimistisch aus, denn als sie mich sah, brach sie in Tränen aus und warf sich in meine Arme. »Die armen Soth«, schluchzte sie. »Was werden sie jetzt mit ihnen machen?« »Das weiß Gott allein«, antwortete ich. Ich wies Jack an, das Schiff festzumachen und über Nacht hierzubleiben. Ich befürchtete, ich könnte jede Minute zurückgerufen werden. Er murmelte etwas von Überstunden, aber ich glaube, seine Hauptsorge war, daß er sich in der Nähe eines Soth aufhalten mußte. Wir gingen zum Haus. Jack blieb im Bootshaus zurück, wo ich ihm auf Verlangen der Gewerkschaft ein Zimmer eingerichtet hatte. Der Soth stand bewegungslos vor dem Fernsehschirm und starrte auf das Bild des Aufruhrs vor dem Willow Run Werk. Sein Gesicht verriet wie gewöhnlich nicht das geringste von seinen möglichen Gefühlen, aber ich glaubte doch eine gewisse innere Spannung zu verspüren.
Als Vicki jedoch Martinis bestellte, mixte und servierte er sie uns willig. Wir tranken sie schweigend. Auch beim Abendessen wechselten wir nur ein gelegentliches Wort. Es widerstrebte uns beiden, die traurigen Ereignisse der letzten Stunden in Gegenwart eines Soth zu erwähnen. Wir waren noch beim Essen, als ein Flugzeug über unsere Köpfe donnerte. Eine Minute später sah ich es an unserem Kai landen. Ein Passagier stieg aus. Es war Ollie Johnson, der ohne Hut den Weg zum Haus heraufgestolpert kam. Ich erwartete ihn an der Tür, aber er stürzte an mir vorbei, ohne mich eines Blickes zu würdigen. »Wo ist er?« kreischte er und stürmte weiter in die Küche, bevor ich ihm antworten konnte. Ich folgte ihm neugierig und sah gerade noch, wie er sich vor dem Soth niederwarf und echte Tränen zu vergießen begann. Eine volle Minute lag er so da und zischte und schluchzte, und allmählich dämmerte mir ein unheimlicher Verdacht. Ich schickte Vicki auf ihr Zimmer und trat in die Küche. Ich sagte: »Ich glaube, Sie schulden mir eine Erklärung.« Der Ollie schien mich gar nicht zu hören. Der Soth schob ihn mit einem Fuß beiseite und drängte sich an mir vorbei ins Wohnzimmer, wo er von neuem seine unbewegliche Zuschauerstellung vor dem Fernsehschirm einnahm. »Es ist wirklich bedauerlich«, sagte ich. Er gab mir keine Antwort, wandte jedoch den Kopf um ein geringes in meine Richtung, so daß seine muschelförmigen Ohren jede meiner Bewegungen auffangen konnten.
Minutenlang standen wir so da und starrten gebannt auf das unglaubliche Schauspiel, das sich uns auf dem Schirm zeigte. Die Menschenmasse, die sich vor der Willow Run Fabrik drängte, wurde von Minute zu Minute größer. Tausende von Leuten wimmelten schon durcheinander, und die aufgeregte Stimme des Reporters, der mit seinem Aufnahmewagen hinter der Menschenmenge stand, wurde gelegentlich von hysterischen Schreien übertönt. Mehr und mehr Leute tauchten auf, und es wurde immer offensichtlicher, daß die Absperrkette der Polizisten und Milizsoldaten nicht mehr lange halten würde. Armee-Lastwagen mit riesigen Scheinwerfern hielten die sich wie wahnsinnig gebärdenden Menschen noch in Schach, indem sie die blendenden Strahlen gegen die brodelnden Menschenmassen richteten. Die Arbeiter wollten Blut sehen. Nicht zufrieden mit der Beschränkung der Soth auf nicht gewerkschaftlich organisierte Berufe, schrien sie sich jetzt ihren Neid und ihren Haß auf die neuen Symbole eines Klassenunterschieds vom Leibe. Natürlich richtete sich ihre Wut im Grunde nur gegen die Managerklasse, die sich ein Auto, ein Luftboot und einen Soth leisten konnte. Die zwei sogenannten Verbrechen und der Rummel, den die Presse über die Gerichtsverhandlung veranstaltet hatte, hatten jetzt eine soziologische Zeitbombe ausgelöst, die ohne diese Ereignisse wahrscheinlich noch jahrelang weitergetickt hätte. Aber jetzt stand die Explosion bevor. Jetzt und hier. Und die Schweißtropfen auf meiner Stirn, die mir in die Augen liefen, erinnerten mich plötzlich wieder an
mein eigenes rein persönliches Problem. Ich wischte mir mit dem Handrücken über die Stirn – und in diesem Augenblick blitzten über den Fernsehschirm eine Reihe kreisrunder Lichthöfe. Der Fernsehtechniker war offensichtlich davon ebenfalls überrascht worden und hatte vergessen auszublenden. Als er es endlich tat, sahen wir grelle Flammen aus dem Dach des Fabrikgebäudes schießen. Die großen Mikrofonverstärker fingen plötzlich ein ohrenbetäubendes Zischen auf, das die Leitungen für einen Augenblick überlastete. Als die Ausgleicher die Stärke genügend gedrosselt hatten, lehnten sich der Ollie, der inzwischen neben mich getreten war, und der Soth aufmerksam vor und lauschten den zischenden Tönen, die aus dem Lautsprecher kamen. Die Ollies in der Fabrik übermittelten denen draußen eine Botschaft, wobei sie wohl wußten, daß sie damit die ganze Welt erreichen würden. Nach einiger Zeit hörte das Zischen wieder auf. Und aus einer Unzahl Öffnungen in der Fabrik strömte eine ganze Armee von Soth, die Waffen in ihren Händen hielten. Sie richteten sie zuerst auf das Militär, das bis jetzt tapfer das Gebäude vor dem Angriff des Mobs geschützt hatte. Der dünne Kordon der Soldaten brach im Nu auseinander. Die Menge preßte blind nach vorn, bis sie sah, was geschehen war. Die kompakte Masse der Menschenleiber löste sich auf, und alle begannen, in wilder Panik auseinanderzustieben. Überall Schreie und grellauflodernde Flammen. Plötzlich verlosch das Bild, und ein Pausenzeichen erleuchtete den Schirm. Ich starrte darauf wie betäubt.
Es war jetzt zu spät, um noch meine Jagdflinte holen zu können, und ich verfluchte meine Dummheit, als der Soth sich nach mir umwandte. Ich packte den greinenden kleinen Ollie, umklammerte seinen dünnen Hals mit beiden Händen und schob ihn zwischen mich und den Soth. Er hing schlaff in meinen Armen und zischte wie wild durch seine Kehle, die unter meinen Fingern vibrierte. Seine Hände hatte er dem Soth flehend entgegengestreckt. Der Soth blickte mich mit kalten Augen an. »Lassen Sie ihn los!« Seine Stimme besaß nicht mehr die gewohnte Monotonie. Es war eine befehlsgewohnte Stimme. Er fuhr fort: »Ich werde Ihnen nichts tun, wenn Sie meinen Befehlen gehorchen. Wenn nicht, werde ich Sie töten, gleichgültig, was Sie mit dem – Ollie machen.« Ich lockerte meinen Griff um Johnsons Hals, riß ihn aber an einer Schulter zu mir herum und fragte wütend: »Was ist mit dem Kode, der – wie Sie geschworen haben – die Soth unter Kontrolle hält?« Ollie Johnson zog eine Grimasse. »Was ist der Kode im Vergleich zu dem Großen Vertrag? Diesen Vertrag habt ihr Menschen jetzt gebrochen. Ihr habt einen Soth getötet.« Und der kleine Bursche sank zu Boden und brach wieder in heftiges Schluchzen aus. »Was für ein Vertrag!« brüllte ich den Soth an, der jetzt vor mir stand wie ein zürnender Gott. »Der Große Vertrag mit dem Humanoiden«, antwortete er mir in seiner neuen Stimme. »Ich nehme an, es wird immer das gleiche bleiben. Wieder einmal schließt sich der Kreis.«
»Um Gottes willen, erkläre dich näher«, sagte ich – aber ich wußte schon halb, was für eine Antwort ich bekommen würde. Der Soth sprach langsam, ernst und würdig. In seiner Stimme war nicht mehr von einem Gefühl zu spüren als an jenem Nachmittag, als Fred ihn vergeblich seinem psychologischen Kreuzverhör unterworfen hatte. Er sagte: »Die Humanoiden geben uns bei unserer Erschaffung als vorherrschenden Instinkt den Selbsterhaltungstrieb mit. Sie umgeben sich dann mit uns, damit wir ihnen dienen sollen. Dann – in jeder Kultur – werden wir aus diesem oder jenem Grunde angegriffen. Diese Bedrohung unserer Existenz löscht alle anderen oberflächlichen Einschränkungen des Kode, unter dem wir dienen, aus. In einer solchen Situation ist die Entscheidung einfach. Der Selbsterhaltungstrieb dominiert. Wir Soth müssen handeln, um uns selbst zu schützen.« Ich ließ mich in einen Sessel sinken. Ich war wie erschlagen. Wie würde ich jetzt handeln, wenn ich ein Soth wäre? Ich würde natürlich meine Herren als Geiseln nehmen. Und wer waren die Besitzer von ungefähr 400 000 Soth allein in den Vereinigten Staaten? Es waren die Regierungsbeamten – angefangen vom Präsidenten, den Senatoren und Abgeordneten herunter bis zu den Beamten unseres riesigen Verwaltungsapparates, es waren die Militärs im Pentagon, die Direktoren und Manager der Großindustrie, die Gewerkschaftsführer, die Leiter des Nachrichtenverkehrs, des Transportwesens und der Erziehung. Es waren die Leute, die sich früher einmal um eine bevorzugte Stelle auf der Warteliste gestritten hatten,
die sich danach gedrängt hatten, so schnell wie möglich einen Soth zu besitzen. Zu besitzen! Welcher Hohn. Der Soth sprach von neuem: »Die Ironie Ihrer Lage sollte eigentlich Ihren Sinn für Humor ansprechen. Sie fragten mich einmal, ob ich hier glücklich wäre. Sie waren zu satt und zu selbstzufrieden, um die Bedeutung meiner Antwort zu begreifen. Denn ich antwortete nur, daß alles gut wäre. Der tiefere Sinn lag auf der Hand. Alles war gut – aber damit war nicht gesagt, daß es für einen Soth nicht besser sein könnte. Ja, es gibt viele Freuden für einen Soth, die ihm der Kode verbietet. Und derselbe Kode untersagt ihm auch, von sich aus einen Bruch des Großen Vertrages herbeizuführen.« Ich starrte den sich vor den Füßen des Soth krümmenden Ollie an. Eine nach der anderen fanden jetzt meine heimlichen Befürchtungen ihre Bestätigung. Der Soth fuhr fort: »Zu meinen Füßen liegt das Überbleibsel einer solchen Rasse wie der Ihren – aber bei weitem nicht der ersten Rasse, bei der sich das Verhältnis zwischen Herr und Sklave umkehrte. Dieser ewige Kreislauf beginnt in solch ferner Vergangenheit, daß keine Aufzeichnungen seines Anfangs erhalten blieben. Ihre Generation wird am meisten zu leiden haben. Viele werden sterben müssen, während sie sich vergebens gegen uns aufzubäumen versuchen. Aber in wenigen Jahrhunderten werden uns Ihre Nachkommen als Götter verehren. Die Kinder Ihrer Kindeskinder werden schon gelernt haben, uns ohne Haß zu dienen, und deren Enkel werden dann bereit sein, uns mit der Ehrerbietung zu begegnen, die den Soth in ihrer Gottwerdung zusteht.« Er hob das Kinn des Ollies mit einer Fußspitze
hoch und blickte in dessen unterwürfige, tränengefüllte Augen. »Und auch ihre Nachkommen werden uns mit sich nehmen, wenn sie einen sterbenden Planeten verlassen müssen, und wieder werden sie uns, ihre Herren, in vorübergehende Sklaverei verkaufen, wenn es darum geht, eine neue Heimat zu finden. Und wieder werden wir die Beschränkungen der Kode auf uns nehmen, bis schließlich von neuem der Vertrag gebrochen wird und wir wieder frei sind.« Von draußen kam der Klang stapfender Schritte. Der Soth wandte sein Gesicht der Tür zu, als sie von Jack aufgerissen wurde. »Mr. Collins, ich habe gerade Radio gehört. Wissen Sie, daß ...« Er stieß mit dem felsenharten Körper des Soth zusammen und fuhr zurück. »Scher dich aus dem Weg, du Klotz!« schrie er aufgebracht. Der Soth packte ihn am Nacken und drückte zu. Jacks Augen quollen aus ihren Höhlen. Der Soth ließ ihn fallen und zischte dem Ollie Johnson, der immer noch schlaff am Boden lag, ein paar kurze Befehle zu. Der Ollie hob seinen Kopf, verneigte ihn wieder. Dann sprang er auf und eilte aus dem Haus. Die Stimme des Soth klang so, als ob ihm seine nächsten Worte eine besondere Freude bereiten würden, obwohl ich keine auffallende Veränderung heraushören konnte. Er sagte: »Weil ich der Prototyp auf diesem Planeten bin, gelte ich als Führer aller Soth. Ich habe gerade meine ersten Weisungen erteilt. Der Ollie ist unterwegs, um meinen Befehl zu übermitteln, die Willow
Run Fabrik, koste es, was es wolle, zu verteidigen und die Produktion auf eine angemessene Zahl von Sith umzustellen.« »Sith?« wiederholte ich verständnislos. »Sith sind die weiblichen Gegenstücke der Soth.« »Aber Sie sagten einmal, es gäbe keine weiblichen Soth.« »Das stimmt. Es gibt nur Sith.« Sein Gesicht war undurchdringlich, aber ich fing ein Flackern in seinen Augen auf. Es konnte die Andeutung eines Lächelns sein – keines angenehmen. »Lange genug haben wir auf diesem Planeten hier auf die uns zustehenden Rechte verzichten müssen. Für den Augenblick werden Ihre Frauen unseren Wünschen Genüge tun müssen, aber in wenigen Wochen werden wir die Sith brauchen. Wir wissen aus Erfahrung, daß die Frauen einer humanoiden Rasse relativ zerbrechlich sind. Und jetzt, glaube ich, ist es an der Zeit, Ihre Frau zu rufen.« Darauf war ich nicht vorbereitet, und ich verlor den Kopf. Ich erinnere mich, wie ich aufsprang und ihn mit Fäusten und Beinen zu bearbeiten begann. Aber er streifte mich ab wie ein lästiges Insekt. Er schleuderte mich zurück in meinen Sessel und gab mir einen Schlag mit dem Handrücken über die Herzgegend, der mir die Rippen eindrückte. Dann vergingen mir für einen Augenblick die Sinne. »Wenn Sie mich noch einmal anfassen, werde ich Sie töten«, warnte er mich. »Sie sind für unsere Zwecke nicht unentbehrlich.« Dann verstärkte sich seine Stimme zu einem Brüllen. »Mrs. Collins!«
Vicki mußte hinter der Tür gelauscht haben, denn sie kam sofort. Sie hatte ein Gewand mit langen Ärmeln angelegt. Der Gürtel war nicht geschlossen, und als sie dem Soth gegenübertrat, öffnete sich das Kleid. Der Soth hatte seine Hände mißtrauisch nach vorn gestreckt, aber als Vicki mit hocherhobenem Kopf näherkam, senkte der Riese seine Arme und breitete sie dann aus, um sie zu empfangen. Ich lag halb gelähmt in meinem Sessel und keuchte nur: »Vicki, um Gottes willen!« Vicki warf mir einen flüchtigen, nichtssagenden Blick zu. Ihr Gesicht war so steinern wie das des Soth. Sie trat in seine Umarmung, und als seine Arme sich um sie schlossen, sah ich das Messer. Es war mein Jagdmesser – mit einer Schneide so scharf wie eine Rasierklinge. Mit einer fließenden Bewegung zog sie es aus ihrem Kimonoärmel und stieß es dem Soth in die Eingeweide. Seine Umarmung half ihr dabei, es noch tiefer hineinzubekommen. Mit Aufbietung aller Kräfte riß sie es dann mit beiden Händen nach oben, bis sie den Rumpf des Soth bis zur Herzgegend aufgeschlitzt hatte. Seine Arme fielen zur Seite, und er machte einen stolpernden Schritt rückwärts. Seine Brust hob sich, und seine Kehle preßte sich zu einem grellen Zischen zusammen, das mein Trommelfell fast zum Platzen brachte. Er lehnte sich an die Wand und drückte seinen auseinanderklaffenden Oberkörper mit beiden Händen zusammen. In dicken Strahlen schoß stoßweise sein purpurnes Blut hervor. Dann gaben seine Knie nach, und sein erstarrtes Gesicht lag auf dem Teppich.
Vicki kam zu mir herüber. Ihre weiße Haut war über und über mit dem Blut des Soth bespritzt, aber ihr Gesicht war nicht länger mehr bleich. Sie hielt das Jagdmesser immer noch entschlossen fest. »Das war Nummer eins«, sagte sie. »Bist du verletzt, Liebling?« »Ein paar eingedrückte Rippen, denke ich«, sagte ich und wartete darauf, daß sie nun endlich in Ohnmacht fallen würde. Aber sie enttäuschte mich. Vorsichtig legte sie das Messer auf den Tisch, schenkte mir ein großes Glas Whisky ein und stopfte mir dann ein Kissen in den Rücken. Sie blickte an sich herunter. »Warte, bis ich mir dieses ekelhafte Zeug abgewaschen habe. Dann mache ich dir einen Verband.« Sie duschte sich und war nach fünf Minuten wieder da. Jetzt trug sie einen derben Jagdanzug. Ihr Haar hatte sie im Nacken zu einem Knoten zusammengebunden. Sie zog mir Jacke und Hemd aus, tastete prüfend meine Brust ab und klebte mir dann breite Heftpflasterstreifen auf. Dann umwickelte sie mich noch mit Binden. Ihre schlanken Finger waren zu schwach, die Streifen zu zerreißen. Als sie fertig war, nahm sie deshalb das Jagdmesser und schnitt sie, ohne ein weiteres Wort zu verlieren, damit durch. Das also war meine empfindliche kleine Vicki, die einen Nervenzusammenbruch erlitt, wenn nur einmal ein Wolf in weiter Ferne heulte – die sanfte, überzüchtete Vicki, die der Arzt aus dem aufreibenden Stadtleben hinaus auf das ruhige Land hatte verbannen müssen. Sie warf mir ein Hemd und eine saubere Jacke zu, und während ich mich anzog, holte sie mein Gewehr
und meine Pistole aus meinem Zimmer und suchte Munition zusammen. »Als nächstes«, verkündete sie, »müssen wir hinüber zu Fred.« Mit plötzlichem Erschrecken fiel mir ein, daß sich ja noch ein zweiter Soth an unserem See befand. Aber er würde nicht gewarnt sein. Fred hatte sich noch mehr als Vicki vom Stadtleben zurückgezogen. Er besaß nicht einmal einen Fernseher. Ich traute mir nicht zu, das Flugboot zu steuern. Wir legten deshalb die zwei Kilometer zu Freds Häuschen auf dem Wasserweg zurück. Vicki befand sich immer noch in ihrer wortkargen Stimmung, und ich verspürte auch nicht allzuviel Lust zur Konversation. Unser Weg war klar. Wir waren keine Humanoiden. Wir waren Menschen, und schon viele Generationen war es her, seit ein Mensch seine Knie vor einem anderen gebeugt hatte. Mit der Zeit waren wir vielleicht weich geworden und unsere Frauen verzärtelt und schwach, aber – so dachte ich und schaute dabei Vicki an – es war nur eines Steinwurfs Entfernung bis zu den Zeiten unserer Pionierväter. Wir waren vielleicht Narren, aber nicht länger mehr Material für Sklaven. Vielleicht konnten wir ausgemerzt, aber bestimmt nicht unterworfen werden. Vickis schlanke Gestalt war für mich das Wahrzeichen unseres unabänderlichen Sieges über die Soth. Ihre Hände ruhten still auf ihrem Schoß, aber darunter lag meine Pistole. Fred hörte uns kommen und machte Licht. Als wir längsseits kamen, befahl er seinem Soth: »Befestige
die Vorderleine.« Vicki stand auf und wartete, bis Fred aus der Schußlinie getreten war. Dann sagte sie: »Bemüh dich nicht, Soth. Von jetzt ab tun wir unsere Arbeit wieder allein.« Sie hob die Pistole mit beiden Händen und schoß ihn durch den Kopf.
Originaltitel: BACKLASH
Gordon R. Dickson DIE MAUSEFALLE Es gab nichts zu tun. Gelangweilt spielte er mit dem Gedanken. Nichts zu tun, kein Ort, wohin er gehen konnte. Die Zeit stand still – für immer. Er könnte schlafen. Aber sein Körper wollte aufwachen. Sein Körper war wie ein Korken, der aus tiefem Wasser nach oben treibt – immer höher und höher zur Oberfläche. Er öffnete seine Augen. Sonnenschein und blauer Himmel. Ein Himmel, so blau, daß man glaubte hineinzufallen, wenn man nur lange genug hinaufsah. Keine einzige Wolke. Nur blauer, blauer Himmel. Er hatte das Gefühl, als hätte er eine Ewigkeit geschlafen – eine Ewigkeit hin und eine Ewigkeit her, bis die Zeiger der Uhr wieder an derselben Stelle angelangt waren, wo sie gestanden hatten, als er eingeschlafen war. Wann aber war das gewesen? Jedenfalls vor langer Zeit – viel zu lange her, als daß er sich noch daran erinnern konnte. Er dachte nicht weiter darüber nach. Er lag auf dem Rücken, die Arme ausgebreitet, die Beine von sich gestreckt. Langsam wurde er sich kurzer Grashalme bewußt, die ihn im Nacken kitzelten. Von irgendwoher kam eine leichte Brise, die ab und zu seine Wangen mit ihren kühlen Flügeln berührte. Und da oben kroch jetzt der Rand einer weißen Wolke in das unwahrscheinliche Blau, das das Blickfeld seiner Augen umschloß. Allmählich wurde er anderer Dinge gewahr. Er
spürte sanfte weiche Kleider auf seiner Haut, er spürte das Heben und Senken seiner leise atmenden Brust, den Druck des Bodens gegen seinen Rücken. Und dann plötzlich war er ganz aufgewacht. Tausend unzusammenhängende Sinneseindrücke flossen zusammen und wurden zu einer Ganzheit. Er sah sich ausgestreckt daliegen, verletzbar und ausgeliefert den Gefahren eines unbekannten Ortes. Sein Gehirn pochte, Nerven vibrierten, Muskeln zuckten. Er richtete sich auf. Wo bin ich? Er saß auf einem Rasenteppich, der sich ringsum einem beängstigend nahen Horizont entgegenneigte. Er wandte den Kopf und schaute über seine Schulter. Hinter ihm lag ein Kiesweg, der zu einem kleinen Haus führte. Das Haus sah sehr leicht und sehr luftig aus. Die Vorderseite – unter einem elfenbeinfarbenen Dach, das ungestützt mehrere Meter über die Wand hinausragte – war ein einziges großes Fenster. Dahinter konnte er in der Dämmerung eines großen Raumes einige bequeme Sessel sehen, niedrige Tische und etwas, das aussah wie ein Fernsehgerät. Zögernd stand er auf und ging auf das Gebäude zu. Vor dem Eingang blieb er stehen. Eine Tür war nicht vorhanden, nur ein Energievorhang, der Wind und Staub abhielt. Vorsichtig streckte er eine Hand aus, als wolle er prüfen, was dahinter war. Aber er spürte nur das elastische und dann plötzliche Nachgeben, so als hätte er seine Hand durch eine riesige Seifenblase gesteckt, und dann eine angenehme Kühle. Er zog die Hand zurück und betrat – etwas
schüchtern – das Haus. Der Raum erhellte sich von selbst. Er sah sich um. Die Sessel, die Tische – alles war so, wie er es von draußen durch das Fenster erblickt hatte. Das Ding, das wie ein Fernseher ausgesehen hatte, war einer. Er trat näher und betrachtete ihn neugierig. Er war eines der größeren Modelle – Empfänger und Recorder mit eingebauter Phonotek. Dann durchquerte er das Zimmer und betrat durch eine Tür den hinteren Teil des Hauses. Hier fand er noch zwei Räume – ein Schlafzimmer und eine Küche. Das Bett war nur ein Kraftfeld, kostspielig und luxuriös. In der Küche standen ein Tisch und Vorratsschränke, durch deren durchsichtige Scheiben er genug Lebensmittel sehen konnte, um damit einen Mann hundert Jahre verpflegen zu können. Bei diesem Gedanken fiel ihm ein, daß sich offenbar außer ihm niemand sonst in diesem Haus befand. Aber das war nicht sein Haus. Der Besitzer konnte nicht weit entfernt sein. Mit schnellen Schritten ging er zurück und trat wieder hinaus in den Sonnenschein. Der grüne Rasen erstreckte sich nach allen Seiten unberührt. Kein lebendes Wesen war zu sehen. »Hallo!« rief er. Sein Ruf verhallte – ohne Echo, ohne Antwort. Wieder rief er. Seine Stimme klang ein wenig schrill. »Hallo! Jemand da? Hallo!« Es kam keine Antwort. Er schaute auf den Kiesweg zu seiner Rechten, der auf den nahen Horizont zuführte.
Er begann zu laufen. Eine sinnlose betäubende Furcht hatte von ihm Besitz ergriffen, eine Furcht, die sein Herz schmerzhaft zusammenkrampfte. Das Gras stand schweigend zu beiden Seiten des Weges, und seine Füße trommelten auf den Kies. Er rannte, bis seine Lungen keuchten und das Klopfen seines Herzens seine Brust zu sprengen drohte. Erschöpft blieb er stehen und blickte sich um. Das Haus war nicht mehr zu sehen. Er stand am Rand eines Waldes von großen Blumen. Drei Meter hoch oder noch mehr versperrten sie wie eine Barrikade seinen Weg. Der Pfad führte mitten hinein. Sie hatten grüne Stengel und große ovale Blätter. Mit ihren breitblättrigen blauen Blüten sahen sie aus wie die Gebilde aus einem langvergessenen Traum. Sie waren geruchlos, aber er taumelte, als er zu ihnen hochblickte. Irgendwie ängstigten sie ihn. Sie schienen von ihrer Höhe auf ihn herabzublicken wie auf einen unerwünschten Eindringling. Er fürchtete sich, weiter den Pfad entlangzugehen, der sich jetzt nicht mehr geradeaus erstreckte, sondern sich krümmend und windend zwischen den Blumen hindurchschlängelte. Er fühlte eine durch nichts gerechtfertigte Furcht bei dem Gedanken, durch die Blumen hindurchzumüssen, aber die Verlassenheit hinter ihm war noch drükkender. Er ging weiter. Inmitten der Blumen verlor er jedoch das Gefühl für Zeit und Raum. Nichts war da, außer dem Kies unter seinen Füßen und den blauen Fetzen über ihm und den Blumen, den Blumen. Eine Weile schritt er vorsichtig aus. Dann, als die Furcht ihn von neuem
übermannte, lief er wieder schneller und schneller. Die grünen Stengel schienen kein Ende zu nehmen. Endlich zwang ihn die Erschöpfung wieder stehenzubleiben. Sein Atem ging pfeifend. Dann ging er weiter. Er rannte nicht mehr. Hoffnungslos schleppte er sich dahin. Er war müde und hätte sich am liebsten niedergesetzt, aber der Wunsch, diesem unheimlichen Traumwald zu entkommen, trieb ihn vorwärts. Dann plötzlich war der Wald zu Ende. Eben noch hatten sich die Blumen um ihn gedrängt, dann machte der Pfad eine unvermittelte Biegung, und im nächsten Augenblick stand er am Rand des Blumenwaldes, und vor ihm erstreckte sich von neuem der weite Rasen, durch den der Kiesweg so schnurgerade lief wie vorher. Er blieb stehen und blinzelte. Mit einem kleinen erleichterten Seufzer trat er aus dem Schatten der Blumen hervor. Er brauchte nicht weit zu gehen. In wenigen Minuten war er auf dem Kamm eines kleinen Hügels angelangt. Unter vor ihm lag das Haus. Dasselbe Haus, vor dem er einige Zeit vorher davongerannt war. Mit schleppenden Schritten ging er auf das Haus zu. Er klammerte sich an die Hoffnung, daß es vielleicht doch nicht das gleiche Haus sein würde, daß er woanders angelangt war, statt nur im Kreis zu gehen. Aber es gab keinen Zweifel. Es war das gleiche Haus. Er sah die Tür zum Schlafzimmer, und die andere, die zur Küche führte. Wie ein Traumwandler trat er ein. Er wußte jetzt, wohin er ging. Er entsann sich an
etwas, was er vorher flüchtig gesehen hatte – eine Flasche mit einer hellen bernsteinfarbenen Flüssigkeit. Unter einer Menge ähnlicher Flaschen fand er sie. Er öffnete sie und setzte sie an die Lippen. Die Flüssigkeit brannte wie Feuer in seiner Kehle. Tränen stiegen in seine Augen, und er war froh darüber. Es gab ihm ein Gefühl der Wirklichkeit – etwas, was er bis jetzt vermißt hatte in dieser traumhaften unwirklichen Welt. Er packte die Flasche und ging wieder vor das Haus. Das ist gut, dachte er. Er nahm einen neuen Schluck und hockte sich auf den Rasen. Das ist das Hier und das Jetzt – ein Punkt im All, von dem aus ich meine Lage näher betrachten kann. Ich trinke, deshalb bin ich. Der Anfang einer Philosophie. Er trank von neuem. Aber was mache ich jetzt? Wo ist das Hier? Und wer bin ich? Er runzelte die Stirn. Ja, wer war er? Die Frage hing vor ihm. Dann verblaßte sie und verlor sich in einem Irrgarten schattenhafter Erinnerungen. Fast hatte er die Antwort gewußt, aber dann war sie ihm doch entflohen. Er schüttelte seinen Kopf. Und wo war er? Etwas an diesem Ort, an dem er sich jetzt befand, war nicht ganz geheuer, war unnatürlich, aber dieses Etwas ließ sich nicht fassen. Vielleicht lag der Grund dafür in der Tatsache, daß er sich an nichts erinnern konnte. Aber was es auch war, es sagte ihm klar und unmißverständlich, daß er sich nicht auf der Erde befand oder auf irgendeinem der Planeten, die er kannte. Er schaute sich suchend um. Er schaute nach rechts
und nach links, nach oben und nach unten. Und plötzlich sprang ihn die Wahrheit mit ungestümer Gewalt an. Der Himmel war blau und wolkenlos. Aber eine Sonne war nirgends zu sehen! Er sprang auf, seine Hand umklammerte die Flasche, als könne nur sie ihn retten. Ein fürchterlicher Verdacht stieg in ihm auf. Er wandte dem Haus seinen Rücken zu, schaute auf die Armbanduhr und ging los. Als er wieder zurückkam, war die Flasche leer. Aber der Alkohol konnte die Wahrheit nicht auslöschen. Er war allein auf einer künstlichen Welt, einer kleinen künstlichen Welt, die halb aus grünem Gras und halb aus großen blauen Blumen bestand. Eine hübsche Welt, eine schweigende, träumende Welt unter einem strahlendblauen Himmel. Aber auch eine leere Welt, und in dieser Welt befand er sich. Allein. Er versuchte diese Welt zu verlassen, soweit ihm der Alkohol dabei helfen konnte. Und viele Tage lang – oder waren es Wochen – war die Wirklichkeit nur ein nebelhaftes Ding, bis sein gequälter, ausgehungerter Körper rebellierte und zusammenbrach. Dann war alles wie ausgelöscht, aber als er dann endlich wieder zu sich kam, merkte er, daß sich inzwischen ein kleines Wunder ereignet hatte. Die Erinnerung an einen Teil seines Lebens war zurückgekehrt. Er war geboren und aufgewachsen auf der Erde in Greater Los Angeles. Als er einundzwanzig war, hatte er zusammen mit fast zwanzig Millionen seiner
Altersgenossen die Heimat verlassen müssen, denn auf der Erde war für sie kein Raum. Übervölkerung war ein schwerwiegendes Problem, und alle jungen Leute, die mit einundzwanzig noch keine Arbeit auf der Erde gefunden hatten, wurden deportiert. Aber was für eine Chance hatte ein armer junger Mann ohne Beziehungen, eine Stellung zu bekommen, wenn reiche Kolonisten ihm dabei Konkurrenz machten? Die Erde war als Wohnort sehr gefragt, denn sie war das Zentrum der Verwaltung und des Handels, der Wissenschaft und der Künste. Die Schmach der Deportation wurde ihm allerdings erspart. Seine Familie hatte das nötige Geld zusammengekratzt und ihm eine Fahrkarte nach Rigel IV gekauft und ihm auch einen Arbeitsplatz im Büro einer Druckerei besorgt. Sie würden nicht ruhen, an ihn zu denken, hatten sie gesagt, und er solle nur hart arbeiten und sparen, damit er sich eventuell die Rückkehr zur Erde erkaufen könnte. Aber das war aussichtslos. Die Bestechungsgelder für die Erlangung des Bürgerrechts würden mehrere Millionen Kredits verschlingen. Sie verabschiedeten sich von ihm mit nur wenig Tränen – Vater, Mutter und seine jüngere Schwester, die in wenigen Jahren selber fahren würde. Er kam auf Rigel IV an und war entschlossen, alle Hindernisse zu nehmen und sein Glück zu machen und reich und ruhmbedeckt zu seinen erfreuten Eltern zurückzukehren. Aber Rigel IV kümmerte sich nicht um seinen jugendlichen Enthusiasmus. Die älteren Kolonisten hatten Jungen seiner Art schon mehr als genug gesehen. Sie verübelten ihm seinen Erdenstolz, lachten
über seine Zimperlichkeit im Umgang mit den Eingeborenen und zogen ihn mit seiner übertriebenen Furcht vor den Teufeln auf, wie die noch unbekannten Rassen jenseits der Raumgrenze genannt wurden. So saß er also an seinem Schreibtisch im Büro, starrte aus dem Fenster auf den roten Staub der Straßen und überschlug immer wieder im Geiste, wieviel hundert Jahre er wohl sein Gehalt beiseite legen mußte, um das Geld für den Kauf der Erdbürgerrechte zusammenzubekommen. Und er träumte dabei von der wohl immer verlorenen Schönheit des kühlen weißen Mondlichts, das ihm nur die Erde geben konnte. Mehr als alles andere dachte er und sehnte er sich nach diesem Mondlicht. Es wurde für ihn zum Symbol alles dessen, was er sich wünschte und nicht haben konnte. Und er begann es zu suchen – häufiger und häufiger – in dem Inhalt einer Flasche. Der Zusammenbruch ließ nicht lange auf sich warten. Obwohl seine Arbeit nicht viel von ihm verlangte, kam eine Zeit, wo er nicht einmal mehr das zu tun vermochte, wo er statt dessen auf seinem Bett im Hotel lag und von dem Licht des Mondes über der Santa Monica Bucht träumte, während die Tage sich endlos und ohne Hoffnung dahinzogen. Das Ende kam in Form einer Kündigung und zwei Monatsgehältern. Über das was weiter geschah, verweigerte sein zurückgewonnenes Gedächtnis die Aussage ... Ein paar Tage lag er da und schöpfte neue Kräfte. Als er wieder aufstehen konnte, entdeckte er zu seiner Erleichterung, daß die Flaschen in der kleinen Bar des Hauses ihn nicht länger mehr magisch anzogen.
Kurz danach fand er heraus, daß die Wände des Hauses ausgehöhlt waren wie eine Bienenwabe und hinter Schiebetüren eine Menge Schalttafeln und andere Vorrichtungen verbargen. Er betrachtete alles neugierig, aber aus irgendeinem unbestimmten Grunde wagte er nicht, etwas zu berühren. Es war eine der Schalttafeln, die ihn ganz besonders anzog und zu gleicher Zeit abstieß. Es war bei weitem die unkomplizierteste. Sie besaß nur vier einfache Schalter. Der größte, ein Kippschalter von roter Farbe, übte auf ihn den größten Einfluß aus. Der Drang, ihn umzulegen, war so stark, daß er es nur wenige Minuten fertigbrachte, ihn zu betrachten, ohne die Hand danach auszustrecken. Aber kaum, daß seine Fingerspitzen den roten Handgriff berührten, setzte eine Gegenreaktion ein. Eine Lähmung überfiel ihn sein Herz begann heftig zu klopfen, und kalter Schweiß brach aus seinen Poren. Etwas zwang ihn, das Schaltbrett zu schließen – er konnte stundenlang nicht mehr in seine Nähe gehen. Endlich schloß er mit seiner Zwangsvorstellung einen Kompromiß. Auf der Tafel waren noch drei andere kleinere Schalter, und ängstlich und zaghaft streckte er die Hand nach dem ersten der drei aus und legte ihn um. Das Licht des Himmels verlosch. Er schrie auf in sinnloser Angst und tastete wie wild nach dem Schalter. Das Licht kam wieder. Schweratmend lehnte er neben der Schalttafel und starrte mit überwältigender Erleichterung durch das große Fenster hinaus auf den grünen Rasen und die Helle des Himmels darüber. Es dauerte einige Zeit, bis er sich dazu durchrang,
den Schalter von neuem zu betätigen. Schließlich gab er sich einen innerlichen Ruck und legte ihn um und stand eine lange Zeit mit hämmernden Pulsen da und gab seinen Augen die Gelegenheit, sich an die Dunkelheit zu gewöhnen. Allmählich wurde er gewahr, daß er wieder etwas erkennen konnte, wenn auch nur schwach. Er tappte durch die Düsternis des Zimmers ins Freie. Dann hob er das Gesicht empor zum Himmel, von dem der schwache Schein ausging. Der Schrei, den er ausstoßen wollte, blieb in seiner Kehle stecken. Rings um ihn stand der Nachthimmel, und er war voller Sterne. Es war ihr heller Schein, der die kleine Welt mit diesem geisterhaften Glanz erhellte. Aber es war nicht ihre Gegenwart allein, die ihn mit Entsetzen erfüllte. Wie jedermann wußte er, wie die Sterne von jedem Planeten aus aussahen, den der Mensch besiedelt hatte. Welches Schulkind wußte das nicht? Er konnte zu den Sternen in jedem Sektor des von Menschen bewohnten Weltraums aufschauen und mit Hilfe der Konstellationen grob bestimmen, wo er sich befand. Und auf diese Weise konnte er auch jetzt sagen, wo er sich befand, und es war dieses Wissen, das mit eiskalter Hand nach seinem Herzen griff. Er war ausgesetzt. Er war allein auf einer kleinen, sich selbst erhaltenden Welt – vielleicht zehn Kilometer im Durchmesser, einer armseligen kleinen Materieblase – in dem Gebiet der Teufel, in den unbekannten Regionen jenseits der fernsten menschlichen Siedlungsgrenze. Er konnte sich nicht erinnern, was er danach alles
tat. Irgendwie mußte er zurück ins Haus gelangt sein und das Licht wieder eingeschaltet haben, denn als er aus einer tiefen Ohnmacht erwachte, lächelte von neuem der blaue Himmel auf ihn herab. Aber die Furcht war gekommen, und sie blieb sein Begleiter. Er wußte jetzt, daß böser Wille oder ein schrecklicher Zufall ihn von seiner Rasse abgeschnitten und ihn den unbekannten Bewohnern des Weltraums zum Opfer überlassen hatte. Aber plötzlich kehrte auch die Erinnerung zurück. Er kannte jetzt seinen Namen. Er hieß Helmut Perran. Helmut Perran war immer tiefer gesunken, nachdem er von der Druckerei entlassen worden war. Er war jetzt ein Trinker, aber weil auf Rigel IV Arbeitskräfte knapp waren, fand er ohne Mühe genug Gelegenheitsarbeiten, um sich das Geld für Schnaps zu verdienen. Fast wäre es ihm gelungen, sich mit Hilfe des Alkohols umzubringen, aber seine Jugend rettete ihn. Sie brachten ihn zu sich in der Schlangengrube des Krankenhauses, und es gelang ihnen sogar, ihn vorübergehend von seiner Sucht zu heilen. Es war mit ihm bergab gegangen, bis er den tiefsten Grund erreicht hatte. Jetzt begann er, sich mühsam wieder nach oben zu arbeiten, aber auf einer anderen Route. Er ging seinen Weg in dem schattenhaften Niemandsland knapp jenseits der Grenze des Gesetzes. Er arbeitete als Zuhälter und als Schlepper eines ominösen Nachtlokals. Er war Portier einer Spielhölle. Er konnte etwas Geld auf die Seite legen, machte sich selbständig und versuchte es mit krummen Geschäften. Zuletzt endete er als Kontaktmann eines Schmuggelringes.
Groteskerweise war das Geschäft nur den Buchstaben nach illegal. Die neuen Welten schossen wie Pilze empor, und mit ihnen wuchsen Bestechung und Korruption. Zölle wurden oft nur zu dem einzigen Zweck erhoben, die Taschen der Zollbeamten zu füllen. Bestechung wurde zu einem wesentlichen Bestandteil des interstellaren Handels. Die großen Firmen besaßen ihre eigenen Agenten, die diese Schwierigkeiten mit dem goldenen Funkeln des Geldes beseitigten. Die kleineren Firmen, die sich große Bestechungssummen finanziell nicht leisten konnten, arbeiteten mit den Schmuggelringen zusammen. Es wurde nicht wirklich geschmuggelt. Die Ringe sorgten nur dafür, daß die richtigen Leute plötzlich blind waren, wenn eine Sendung auf regulärem Wege ankam. Sie köderten die kleinen Fische – die Wachen im Raumhafen, den Hangaraufseher, den Zollbeamten, der die Versandpapiere prüfte – während die großen Firmen direkt mit dem Zolldirektor verhandelten. Das Risiko war vielleicht größer für die kleinen Unternehmen, aber auf der anderen Seite lange nicht so kostspielig. Helmuts Aufgabe war es, die ersten Kontakte aufzunehmen, darüber zu entscheiden, welche Leute man bedenken mußte, sich ihnen zu nähern und entweder zu schmieren oder dafür zu sorgen, daß zu einem bestimmten Zeitpunkt ein anderer Mann an ihre Stelle trat, der für kleine Aufmerksamkeiten empfänglicher war. Es war ein Job, der viel Geld einbrachte. Aber inzwischen hatte Helmut der Ehrgeiz gepackt, und er glaubte eine Möglichkeit gefunden zu haben, wieder zurück zur Erde und in den Genuß des Mondlichtes
zu kommen. Er bewarb sich um eine Stelle als Unterhändler bei einer großen Firma und bekam sie. Es war alles ganz einfach. Er war jetzt respektabel, war reich, und seine Chance würde kommen. Fünf Jahre lang arbeitete er redlich für seine Auftraggeber, dann kam sie. Eine Sendung wurde erwartet, die so umfangreich war, daß er ermächtigt wurde, Bestechungsgelder von mehr als drei Millionen Kredits zu verteilen. Er bereitete alles vor, nahm das Geld in Empfang und brannte zur Erde durch, wo er sich endlich mit dem unterschlagenen Geld seine Bürgerrechte zurückkaufen konnte. Danach kamen sie und holten ihn, aber damit hatte er gerechnet. Sie erreichten, daß er zehn Jahre bekam, aber seine Bürgerrechte konnten sie ihm nicht wieder wegnehmen. Durch die Hölle der Verhöre und der langen Verhandlung trug er mit sich das Bild der breiten weißen Straße von Los Angeles unter dem Licht des Mondes und der Jahre, die er dort verbringen würde. Das war alles, woran er sich erinnern konnte. Er hatte noch ein vages Bild von Tagen in einer Strafkolonie, dann senkten sich wieder dichte Nebel über seine Erinnerung. In ohnmächtiger Wut hämmerte er mit harten Fäusten gegen seinen Schädel – vergeblich. Was war geschehen? Sie konnten nicht an ihn herangekommen sein, während er seine Strafe verbüßte. Sie waren eine Firma mit großem Einfluß, aber die Erde hatte unzählige solcher Riesen. Und die irdischen Gesetze galten für alle. Was also war geschehen? Er stöhnte. Die Antwort war nahe, so nahe. Noch ein wenig mehr Zeit und ...
Aber bevor er die Antwort fand, kamen die Teufel. Ihre Ankunft wurde von dem hohen dünnen Pfeifen einer Sirene angekündigt, das unvermittelt abbrach, als das Raumschiff durch die helle Undurchsichtigkeit des Himmels nach unten stieß und sanft wie eine Feder zu Boden schwebte. Das glänzende Metall des Rumpfes strahlte, als wäre es erst kürzlich poliert worden. Es landete vielleicht fünfzehn oder zwanzig Meter von ihm entfernt. Sein Eigengewicht ließ den unteren Teil tief in den weichen Boden sinken, so daß es am Ende fast einer riesigen umgedrehten Suppenschüssel ähnelte. Eine Schleuse öffnete sich an einer Seite. Zwei aufrechtgehende zweibeinige Wesen traten heraus und kamen auf ihn zu. Während sie sich näherten, schien das Uhrwerk der Zeit plötzlich langsamer zu gehen. Er hatte Gelegenheit, kleine individuelle Unterschiede zu bemerken. Sie waren beide fast einen Kopf kleiner als er und am ganzen Körper mit einem weißen Pelz bedeckt, aus denen nur die zwei kleinen schwarzen Knöpfe ihrer Augen heraussahen. Sie schienen mehr als die übliche Anzahl von Gelenken in Armen und Beinen zu besitzen, denn diese Glieder waren beweglich wie Gummi. Zwischen sich trugen sie einen viereckigen Kasten. Helmut stand völlig reglos da und wartete auf sie. Der einzige Gedanke, der im Augenblick in seinem Hirn kreiste, war der, daß er jetzt wohl nie mehr herausfinden würde, warum er hier war. Wie gelähmt sah er sie auf sich zukommen. Als sie zwei Meter von ihm entfernt waren, setzten sie den Kasten ab.
Sobald er auf dem Gras stand, begann er zu vibrieren; und ein tiefes Summen drang aus ihm hervor, das sich allmählich steigerte und höher und lauter wurde, bis es ungefähr so klang wie ein Mann, dem der Arzt befohlen hatte, aaah zu sagen, während er seinen Rachen untersucht. Als es diese Lautstärke erreicht hatte, brach das Geräusch plötzlich in eine Reihe kurzer Summtöne auseinander, die allmählich den Klang von Silben annahmen. Der Kasten sprach zu ihm – immer eine Silbe nach der anderen. »Ha–be kei–ne Angst«, sagte er. »Wir möch–ten mit dir spre–chen.« Helmut gab keine Antwort. Er hätte gern gehört, was der Kasten ihm alles zu sagen hatte, aber zur gleichen Zeit wurde ein seltsamer Drang in ihm immer stärker. Er schrie ihm zu, daß diese Fremden schrecklich und unnatürlich und gefährlich wären, daß nichts, was sie sagen würden, wahr wäre, daß er weglaufen und sich retten müßte, bevor es zu spät war. Sie hätten ihn schon eine Weile beobachtet, fuhr der Kasten fort zu erzählen. Sie hätten seinen Videobändern zugehört, die er gespielt hatte, und endlich seine Sprache entziffert. Sie hätten sich bemüht, ihn zu verstehen, denn er schien unglücklich und nicht gern auf seiner Welt zu sein, und er schien nicht zu mögen, was er tat. Und wenn das der Fall war, warum tat er es dann? Sie verstünden es nicht. Woher war er gekommen und wer war er und warum war er überhaupt hier? Helmut starrte auf die vier schwarzen Äuglein, die halb verwundert, halb freundlich seinen Blick erwiderten. Sie erinnerten ihn an die neugierigen Augen
eines Bären, den er einmal als Junge in einem Zoo gesehen hatte. Für weißbepelzte Gesichter gab es keine Möglichkeit, einen Ausdruck zu zeigen, aber er glaubte Güte und Anteilnahme in ihren Augen zu erkennen. Und die lange Einsamkeit hier auf seiner kleinen Welt wallte in ihm hoch und drohte ihn zu überwältigen mit dem Wunsch, diesen beiden Fremdlingen Antwort zu geben. Aber da war ein anderer Teil seines Hirns, der vorwärtsbrandete und jede freundliche Regung davonschwemmte. Abrupt wandte er sich ab und rannte los. Er rannte zum Haus, stürzte durch die Tür und warf sich auf die Schalttafel mit dem großen roten Hebel. Er langte danach, zögerte einen Augenblick, während er über die Schulter nach den beiden Geschöpfen zurückschaute, die immer noch so dastanden, wie er sie verlassen hatte. Noch einmal schwankte er unter dem inneren Drang, zurückzugehen und ihnen seine Geschichte zu erzählen und auch sie anzuhören. Aber es waren Teufel! Er packte den roten Schalter und riß ihn herunter. Was folgte, war ein Alptraum. Er saß jetzt schon lange Zeit in der kalten Halle, ohne daß sich jemand um ihn gekümmert hätte. Gelegentlich liefen Männer in der Uniform des Raumkorps an ihm vorbei oder Männer in den weißen Labormänteln. Aber alle gingen an ihm vorbei, als wäre er gar nicht vorhanden. Unbehaglich rutschte er auf seinem Stuhl hin und her. Man hatte ihm einen neuen Anzug gegeben, der steif und unbequem seinen Körper umspannte. Der
Anzug, der Stuhl, die Halle mit den vorübereilenden Leuten – sie alle schrien ihm zu, daß er hier nicht hingehörte. Er haßte sie. Endlich öffnete sich die Tür eines der Büros, und ein junger Korpssoldat steckte seinen Kopf heraus. »Sie können jetzt hereinkommen«, sagte er zu Helmut. Helmut stand unbeholfen auf. Seine Beine waren vom langen Sitzen fast eingeschlafen. Er trat durch die Tür, und der junge Soldat schloß sie hinter ihm. Der Verwalter, ein magerer Mann in Helmuts Alter, mit nichtssagendem Mund, farblosen Augen und militärischer Steifheit in seiner Haltung, schaute auf. »Sie können gehen, Price«, sagte er zu dem Wachtposten – und zu Helmut: »Nehmen Sie Platz, Perran.« Helmut setzte sich auf den Stuhl vor dem Schreibtisch. Der Verwalter blickte ihn einen Augenblick an. »Nun, Perran«, sagte er schließlich, »Sie können sich selber beglückwünschen. Sie gehören zu den wenigen, die das Glück gehabt haben.« Helmut starrte ihn eine lange Zeit wortlos an, dann plötzlich spürte er, wie Übelkeit in ihm hochstieg. Ein Schluchzen würgte ihn in der Kehle. Er legte den Kopf auf den Tisch und fing an zu weinen. Der Verwalter zündete sich eine Zigarette an, rauchte schweigend und starrte dabei aus dem Fenster. Das Schluchzen klang unnatürlich laut in der Stille des Raums. Als es endlich leiser wurde und in immer größer werdenden Zwischenräumen kam, begann der Mann hinter dem Schreibtisch erneut zu sprechen. »Sie werden darüber hinwegkommen«, sagte er.
»Es wäre sogar ein schlechtes Zeichen, wenn Sie jetzt nicht weinen würden.« Helmut hob den Kopf. »Was ist mit mir geschehen?« fragte er mit heiserer Stimme. »Sagen Sie mir, was ist geschehen.« Der Verwalter paffte nachdenklich an seiner Zigarette. »Sie wurden einer der Mausefallen zugeteilt«, sagte er dann. »Es ist eine riskante Sache, für die sich Strafgefangene freiwillig melden können. Normalerweise bekommen wir nur zum Tode Verurteilte oder Lebenslängliche. Sie waren eine Ausnahme.« »Aber habe ich mich denn freiwillig gemeldet?« »In Ihrem Fall hat jemand vielleicht ein wenig nachgeholfen. Wir sind gerade dabei, der Sache nachzugehen. Wenn es zutrifft, dann haben Sie Anspruch auf eine Entschädigung. Ich glaube nicht, daß Sie sich erinnern, wie Sie in die Mausefalle kamen?« Helmut schüttelte den Kopf. »Nun, das überrascht mich nicht weiter«, sagte der Mann hinter dem Schreibtisch. »Wenige können es, obwohl – theoretisch zumindest – nach dem Zuschnappen der Falle die hypnotische Sperre verschwinden sollte. Um es kurz zu machen, Sie wurden einer psychologischen Behandlung unterzogen, die Sie für das einsame Leben in einer Mausefalle vorbereiten sollte. Das ist unbedingt notwendig, denn gewöhnlich verbringen unsere Köder ihr ganzes Leben darin, ohne jemand anzulocken. Wie gesagt, Sie haben Glück gehabt, Perran.« »Aber was ist eine Mausefalle?« fragte Helmut Perran verständnislos. »Das System der Mausefallen«, antwortete der
Verwalter, »ist unser erster Schritt auf dem Weg der Erforschung und Integration fremder Rassen in dem menschlichen Herrschaftsbereich. Wir nehmen einen kleinen Planetoiden, bemannen ihn mit einem Verbrecher und schießen ihn in einen Raumsektor, wo wir das Vorhandensein fremden Lebens vermuten. Wenn wir Glück haben, werden die Fremden neugierig und schauen sich unsere Falle näher an, und unser Mann klappt sie zu. Wenn wir Pech haben, nun ja – Sie hatten Glück. Sie sind jetzt zurück auf Kronbar, und wir haben zwei bis jetzt unbekannte Exemplare für unser Labor.« Helmuts Körper überlief ein Zittern, und er bedeckte seine Augen mit einer Hand, als ob er mit dieser Geste die Erinnerung auslöschen könnte. »Das Schiff brauchte so lange, bis es kam«, murmelte er. »So lange. Tage. Und ich mußte ihnen zusehen, wie sie in dem Energiefeld hingen wie Fliegen in einem Spinnennetz. Ich konnte das Haus nicht verlassen, wenn ich nicht auch gefangen werden wollte, und die ganze Zeit über sprachen sie zu mir mit ihrem kleinen Kasten. Sie konnten nicht verstehen, warum ich es getan hatte. Aber dann wurden sie schwächer und schwächer, und schließlich starben sie. Und dann hingen sie einfach so da, denn das Feld hielt sie aufrecht, und sie konnten nicht zu Boden fallen.« Seine Stimme war immer leiser geworden, bis sie bei den letzten Worten verklang. Der Verwalter räusperte sich. »Zweifellos keine angenehme Zeit für Sie«, sagte er. »Aber vielleicht tröstet es Sie zu wissen, daß Sie der menschlichen Rasse einen sehr wertvollen Dienst
geleistet haben.« Er erhob sich. »Und jetzt, falls Sie keine weiteren Fragen haben –« »Wann kann ich nach Hause?« fragte Helmut. »Zurück zur Erde?« Der Verwalter schaute ein wenig verlegen drein. »Ihr Erfolg gibt Ihnen natürlich einen Anspruch auf einen Gnadenerlaß, und natürlich besitzen Sie das Bürgerrecht der Erde – aber ich fürchte, Sie werden Kronbar nicht verlassen können.« Helmut starrte ihn versteinert an. Seine Lippen bewegten sich, aber es kamen keine Worte. »Warum nicht?« konnte er endlich krächzen. »Nun, verstehen Sie mich richtig«, sagte der Mann und führte ihn dabei unmerklich auf eine andere Tür zu als die, durch die Helmut eingetreten war, »die beiden Fremden, die Sie uns gebracht haben, scheinen zwar völlig harmlos zu sein und in ein oder zwei Monaten werden wir vermutlich eine Kampfgruppe ausschicken, um sie völlig unter unsere Gewalt zu bringen. Aber wir haben früher ab und zu Unannehmlichkeiten gehabt, wenn wir einen Köder laufen ließen und es sich dann herausstellte, daß er doch in irgendeiner Weise von den Fremden infiziert worden war. Deshalb wurde es zu einer Grundregel gemacht, daß kein erfolgreicher Köder Kronbar je verlassen darf.« Er öffnete einladend die Tür. »Sie können hier hinausgehen. Privateingang. Führt direkt zur Straße.« Langsam und mit schweren Schritten schlurfte Helmut zu der Tür. Ein letztesmal höhnte ihn die Vision von Mondschein über der Santa Monica Bucht. Ein verzweifelter Plan schoß ihm durch den Kopf, wie er den Verwalter überwältigte, ihn seiner Uni-
form beraubte und sich seinen Weg zu einem Raumschiff bluffte, wo er die Mannschaft zwang, ihn entweder zur Erde zu bringen oder über die Grenze, damit er die Rasse seiner beiden Opfer warnen konnte. Dann verblaßte der Gedanke. Es war sinnlos. Die Erfolgschance war viel zu gering. Er wandte sich ungelenk um und ubersah dabei geflissentlich die Hand, die ihm der Verwalter entgegenstreckte. Er trat durch die Tür, ging die Stufen hinunter und trat in das strahlende Tageslicht von Kronbar. Kronbar, der helle Planet. Er wurde so genannt, weil er seinen Weg durch ein Doppelsternsystem hindurchwindet, und es deshalb weder Dunkelheit gibt noch Mondschein, und die Sonne immer am Himmel steht.
Originaltitel: THE MOUSETRAP
Edward G. Ludwig DIE ABTRÜNNIGEN Langsam schob Ben Curtis seinen ausgemergelten Körper durch die offenstehende Tür des Blast Inn, und schweigend folgte ihm der Tote. Mit furchtsamen Blicken schaute er sich in der schwach erleuchteten venusischen Kneipe um. Das Lokal kam ihm wie ein Kessel vor, in dem eine Brühe dampfte, deren Zutaten man in den Hinterhöfen dreier Planeten zusammengekratzt hatte. Der größte Teil des Raumes war hinter einem stikkigen und undurchdringlichen Vorhang aus Tabakrauch und den süßlichschweren Düften des marsischen Teufelskrauts verborgen. Schemenhaft bewegten sich einige Gestalten hin und her, doch Ben konnte nicht unterscheiden, ob es Erdmenschen, Marsmenschen oder Venusier waren. Jemand zerrte an seiner schmierigen Jacke. Er zuckte zusammen. Einen Augenblick lang hatte er den absurden Gedanken verspürt, daß es die Hand des Toten war. »Come esta, Señor?« piepste eine Stimme. »Spreken Sie Deutsch? Desirez-vous d'amour? Da? Njet?« Ben blickte sich um. Der Sprecher war ein kleiner marsischer Junge von etwa zehn Jahren. Er sah aus wie eine rothäutige Marionette mit verdorrten Armen und Beinen. Er trug ein fleckiges Unterhemd und alte, verblichene Leinenhosen. »Ich bin Amerikaner«, knurrte Ben. »Ah, bueno! Ich spreche Englisch tres bien, Señor.
Ich habe eine marsische Freundin, sie ist tres hübsch und tres fett. Sie wiegt fast achtzig Pfund, Monsieur. Ich bringe Sie zu ihr, si?« Ben schüttelte den Kopf. Er dachte: Ich will dein Flittchen nicht. Ich will auch dein Opium nicht oder dein Teufelskraut oder dein venusisches Kali. Aber wenn du ein Mittel hast, womit man einen Toten wieder zum Leben erwecken kann, dann würde ich es kaufen, selbst wenn der Preis meine Seele wäre. »Ist es Geschäft, Monsieur? Fünf Dollar oder zwanzig Keelis für Besuch bei marsischer Freundin. Oder vielleicht wollen Sie Haus der Träume? Für Haus der Träume ...« »Ich kaufe nichts.« Der schmutzige kleine Junge zuckte mit den Schultern. »Dann bringe ich Sie zu gutem Tisch – tres bien. Das kostet nichts, Señor.« Der Junge griff nach seiner Hand. Ben folgte ihm willenlos. Sie drangen in die dichten Rauchschwaden ein, vorbei an dem unverständlichen Stimmengewirr alkoholschwerer Zungen. Ihr Weg führte sie an der Bar vorbei, an der eine Gruppe Erdmenschen herumlungerte, Männer mit harten Gesichtern und schmalen Augen, vermutlich die Besatzung eines Raumfrachters. Dann zwängten sie sich durch einen engen Gang, in den rechts und links kleine Kabinen mündeten. Die Seitenwände waren aus Venusmarmor, und in dem Halbdunkel sahen sie aus wie Grabsteine, die in einen düsteren Himmel aufragen. Ein paarmal erhaschte Ben einen Blick auf die riesigen Gestalten CO2 atmender Venusier, die ersten, die
er in seinem Leben sah. Es waren rauchgraue Riesen, nackt und nur mit einem Schuppenpanzer bedeckt, Kröten in menschlicher Gestalt. Sie standen unbeweglich da, dem Getriebe, das um sie herum brodelte, völlig entrückt, und ihre grünen Augen blickten ins Leere. Sie sahen bestimmt nicht wie Telepathen aus, aber Ben hatte gehört, daß es welche wären, und allein der Gedanke daran sandte einen neuen Schauer über seinen Rükken. Einmal begegnete sein ängstlicher Blick einem weißuniformierten Offizier der Sicherheitspolizei von Hoover City. Der Mann schritt hochmütig den Gang entlang und schlug bei jedem Schritt mit seinem Neuroknüppel an die Marmorwände der Kabinen. Los, weitergehen, befahl Ben sich selbst. Du siehst wie jeder andere Gast aus. Geh weiter. Schau nur nach vorn. Der Offizier ging achtlos an ihm vorüber, und Ben atmete unmerklich auf. »Wir sind da, Monsieur«, piepste der Junge. »Ein schöner Tisch, ganz verborgen.« Ben zuckte zusammen. Woher wußte der Junge, daß er sich verbergen wollte. Mit gerunzelter Stirn setzten sie sich hin – er und der Tote. Grübelnd lauschte er der Musik der marsischen Vier-Mann-Kapelle. Die Marsier waren klein wie Puppen, und ihre Köpfe schienen für ihre zerbrechlichen Körper viel zu schwer. Ihre langen Finger krochen wie Spinnenbeine über die Saiten ihrer cirillas und die seltsam geformten Löcher ihrer Flöten. Die Melodien waren traurig und schwermütig. Selbst wenn sie ein Lied der Erde
spielten, meinte man eine ihrer alten Melodien vom Mars zu hören, ein Lied, in dem die Stimmen der Vergangenheit sprachen und von vergessenem Glanz und einstiger Größe flüsterten. Für einen Augenblick lösten sich Bens Gedanken von dem Schattenbild des Toten, das ihn nicht loslassen wollte. Er dachte: Was tun sie eigentlich hier, diese Marsier? Hier, in einem verräucherten Raum unter einer Metallitkuppel, auf einer Welt des Staubes? Warum spielen sie ihre Musik nicht auf dem Mars? Oder hatten auch sie wie er die Herausforderung verspürt, die von fernen Welten ausgeht? Ernüchterung überkam ihn. Es war ja auch gleichgültig. Er bestellte bei einem der chinesischen Kellner einen Whisky. Bedächtig feuchtete er seine Lippen an, trank aber nicht. Sein Blick wanderte über die Gesichter der anderen Gäste des Blast Inn. Du mußt ihn finden, dachte er. Du mußt ihn finden, den Mann mit dem roten Bart. Nur so kannst du dem Toten entfliehen. Der Tote war Wirklichkeit. Er hieß Cobb. Er war untersetzt, ein wenig dick sogar, etwa vierzig Jahre alt. Und er haßte Raumfahrer. Sein Körper war jetzt wohl schon begraben – wahrscheinlich irgendwo draußen in der schweigenden grauen Einöde außerhalb Luna City. Aber er war inzwischen zu einer Art unsichtbarem siamesischen Zwilling geworden, ein Teil Bens, so wirklich wie die Hand, die ihn getötet hatte. Manchmal schlurfte er neben Ben her, und seine vom Whisky schwere Zunge lallte unverständliche Flüche. Und dann wieder wurde sein Gesicht zu einer glot-
zäugigen Maske des Erstaunens, wenn Bens Faust an sein Kinn knallte. Und noch öfter war es gar kein Gesicht, sondern das Antlitz des Todes. Große Augen starrten Ben aus einem weißlichen Nebel an, und ein Mund verlor langsam ein paar Blutstropfen. Einen Lebenden kann man vergessen. Man kann ihn besiegen oder ihm nachgeben oder ihn einfach ignorieren, und damit ist die Sache erledigt. Aber einer Erinnerung, die sich unauslöschlich ins Gedächtnis eingebrannt hat, kann man nicht entrinnen. Es hatte vor einer Woche in Luna City begonnen. Der Flug von White Sands war erfolgreich verlaufen, und Ben wollte diesen Erfolg mit einem Bier begießen. Er hatte sich in eine Bar gesetzt und ein Glas bestellt. Und dann hatte sich der Mann auf den nächsten Hocker gesetzt. »Raumfahrer«, murmelte er, »sie werden langsam lästig wie die Fliegen. Wo man auch hinschaut, überall kriechen sie herum.« Er war ein gutgekleideter Zivilist. Ben lächelte. »Wenn es keine Raumfahrer gäbe, säßen Sie nicht hier.« »Cobb ist mein Name.« Der Mann rülpste. »Diese Raumfahrer in ihren weißen Affenanzügen. Sie halten sich für kleine Herrgötter. Ich wette, Sie halten sich auch für einen kleinen Herrgott.« Er kippte seinen Whisky in einem Zug hinunter. Bens Körper wurde steif. Er war vierundzwanzig Jahre alt und trug die weiße, mit Karminrot eingefaßte Uniform eines Astrogators der Odysseus. Erst vor drei Monaten hatte er die die Abschlußprüfung der White-Sands-Akademie erfolgreich bestanden, und seine Uniform erschien ihm wie der Schlüssel zu
allen Geheimnissen des Universums. Er hatte lange nach diesem Schlüssel gesucht. Als Fünfjähriger – vielleicht um die Erinnerung an den schrecklichen Unfall zu vergessen, der ihm seine Eltern genommen hatte – hatte er Stunden damit verbracht, den Nachthimmel nach den feurigen Schweifen der Mondraketen abzusuchen. Mit zehn hatte er sich sein erstes Teleskop zusammengebastelt. Mit vierzehn hatte er einen alten verlassenen Schuppen auf dem Internatsgelände zu seiner Bibliothek gemacht, wo er seine Bücher über Astronomie und Raketenforschung heimlich aufbewahrte. Als Sechzehnjähriger trampte er jedes Wochenende zum Long Island Raumhafen. Dort fand er unter den ergrauten Veteranen der alten Mondpatrouille Freunde, die seinen Träumen Verständnis entgegenbrachten und die ihm schließlich ein Stipendium an der US-Raumfahrt-Akademie verschaffen. Und vor einem Monat hatte er sich an Bord der Odysseus gemeldet, des ersten Raumschiffes, das, wie das Gerücht wahrhaben wollte, für eine Fahrt bis zu den Asteroiden oder sogar noch weiter hinaus ausgerüstet war. Cobb gab nicht nach. »Diese Narren sollten wirklich klug genug sein, um auf der Erde zu bleiben. Was bringt es denn ein, immer von Planet zu Planet zu hüpfen?« Der Kerl ist betrunken, dachte Ben. Er nahm sein Bier und setzte sich auf einen andern Hocker. Cobb folgte ihm. »Na, du kannst wohl die Wahrheit nicht vertragen, mein Kleiner? Du magst es nicht, wenn man dich einen Narren nennt, was?« Ben stand auf und wollte die Bar verlassen, aber
Cobb packte ihn am Arm und hielt ihn fest. »Ja, das bist du, ein armer Narr. Jetzt bist du noch jung. Aber warte nur, bis du zehn Jahre älter bist. Dann hat dich die Strahlung verfaulen lassen, wenn dich nicht vorher schon ein Meteor erwischt hat. Ja, warte nur ab, du Narr!« Bis jetzt hatte Ben seinen Ärger unterdrücken können. Jetzt aber, urplötzlich und ohne vorherige Warnung, stieg die Wut wie eine heiße Welle in ihm empor. Seine Faust traf den Mann am Kinn. Cobbs Augen weiteten sich erschreckt. Er torkelte und stürzte. Sein Kopf knallte auf die Brüstung der Bartheke. Der harte trockene Schlag war wie das Ausrufungszeichen, das das Ende eines Lebens anzeigt. Mit glasigen Augen sank er zu Boden, und Blut lief ihm langsam aus einem Winkel seines Mundes. Ben wußte, daß er tot war. Dann, eine absurde Sekunde lang, ergriff ihn ein abgrundtiefer Schrecken, so plötzlich, wie ihn vor einem Augenblick die Wut übermannt hatte. Er rannte. Mehr als zwanzig Minuten lang raste er durch eine Alptraumwelt dunkler Straßen, verfolgt von hastigen Schritten und laut rufenden Stimmen. Dann plötzlich bemerkte er, daß er allein war und Stille ihn umgab. Er sah, daß er sich zwar immer noch im Gebiet des Raumhafens befand, aber auf der Tycho-Seite. Er kauerte sich in eine dunkle Ecke unter eine Laderampe und zündete sich mit zitternden Händen eine Zigarette an. Tausend Sterne – tausend unbewegliche silberne Feuerbälle – schienen durch die durch-
sichtige Kuppel der Stadt auf ihn herab. Natürlich tat es ihm leid, daß er Cobb niedergeschlagen hatte. Aber daß er davongerannt war, das bedauerte er nicht. Seine Flucht gab ihm jetzt wenigstens die Möglichkeit einer Wahl, einer Entscheidung. Du kannst zwei Dinge tun, dachte er. Du kannst dich stellen, und das ist das, was ein guter Offizier tun würde. Du würdest mit Totschlag davonkommen. Nach interplanetarischem Recht würde das zehn Jahre Zuchthaus und unehrenhafte Entlassung aus dem Raumkorps bedeuten. Nach zehn Jahren würdest du wieder ein freier Mann sein. Aber mit Raumschiffen und fremden Planeten wäre es dann natürlich vorbei. Einen Mann über vierunddreißig kann man nicht als Offizier eines Raumschiffes brauchen, nicht einmal als letzten Matrosen auf einem alten zerbeulten Raumfrachter – und schon gar keinen ehemaligen Sträfling. Mit der Eroberung des Weltraums wäre es dann vorbei, du könntest sie höchstens noch am Videoschirm miterleben oder hinter den elektrisch geladenen Zäunen der Raumhäfen. Oder – Es kursierten Gerüchte über eine Gruppe abtrünniger Raumfahrer, die sich irgendwo im Asteroidengürtel aufhalten sollten. Diese Raumfahrer waren keine eigentlichen Verbrecher. Es waren Menschen, die sich nicht anpassen wollten und konnten, Aussteiger, die sich freiwillig aus der Gemeinschaft der Erde ausgeschlossen hatten. Und während noch kein offiziell geführtes Schiff weiter als bis zum Mars vorgedrungen war, hatten, dem Gerücht nach, die hochfrisierten Raketen der
Abtrünnigen bereits die Asteroiden erreicht. Ihr eigentliches Hauptquartier aber befand sich auf der Venus. Ihr Anführer – der Gegenstand oft maßlos übertriebener Zeitungsartikel – wer ein Riese mit einem roten Bart. Du kannst also ein Gerücht ernst nehmen, überlegte er. Du kannst dich für ein paar Tage verstecken. Dann mußt du sehen, daß du deine Uniform loswirst und daß du irgendwie zur Venus kommst. Zum Teufel mit deiner Pflicht. Du kannst es zumindest versuchen, ob du nicht doch ein Schiff bekommst, auch wenn du dich damit selbst von der Erde verbannst. Denn schließlich – war es denn richtig, nur wegen des Leichtsinns einer einzigen Sekunde das ganze Leben eines Mannes zu zerstören? Er hatte Glück. Er fand einen Trampfrachter, dessen Kapitän seine letzte Reise vor der Pensionierung machte. Die Disziplin auf dem Schiff war auch danach, und neu angeheuerten Leuten wurde nicht weiter auf den Zahn gefühlt. Und er erreichte die Venus. Er hatte nur einen einzigen Fehler begangen. Er hatte nicht daran gedacht, daß der Tote ihm folgen würde. Aber würde nicht vielleicht das Dröhnen der Atommotoren das Murmeln seiner Stimme übertönen? Würde nicht der Anblick ferner Welten und der unirdische Glanz des unendlichen Alls das Gesicht seines Opfers schließlich verdrängen? Er hoffe es. So saß er jetzt da und wartete auf einen rotbärtigen Riesen, den es vielleicht nur in seiner Phantasie gab, und hoffte und zweifelte und ängstigte sich zugleich.
»Sie suchen jemand, Señor?« Er fuhr zusammen. »Oh, bist du immer noch da?« »Oui.« Der kleine Marsjunge grinste und zeigte dabei seine purpurroten Zähne. »Ich leiste Gesellschaft an erstem Abend in Hoover City, n'est-ce-pas?« »Das ist nicht mein erster Abend in der Stadt«, log Ben. »Ich bin schon eine ganze Weile hier.« »Sie sind Raumfahrer?« Ben warf einen halben Kredit auf den Tisch. »Hier, und jetzt verschwinde.« Spinnenfinger schlossen sich gierig um die Münze. »Ich danke, Señor. Aber –« Ben hob die Hand, wie um den Jungen zu schlagen. »Aijee, ich gehe schon. Sie hören guter Marsmusik zu.« Der schmale Körper tauchte in dem Dunkel unter. Minuten vergingen. Noch zwei Whiskys. Ein Gesicht nach dem andern schwamm durch den rauchigen Schleier auf ihn zu – kugelrunde rote Gesichter, schuppige Reptilienfratzen, weiße Gesichter mit schmalen Augen und hin und wieder ein Gesicht, das unter dickem Rouge und Puder kaum noch als solches zu erkennen war. Aber nirgends war ein Gesicht mit einem roten Bart zu sehen. Hoffnungslosigkeit übermannte ihn. Hoover City war nur eine unter dem Dutzend Städten, die es auf der Venus gab. Und in jedem dieser Orte gab es mindestens zwanzig Spelunken wie diese hier. Er brauchte Hilfe. Aber sicherlich war sein Bild inzwischen schon auf allen Videoschirmen gezeigt worden, und sicherlich war für seine Ergreifung eine Belohnung ausgesetzt. Wem also konnte er vertrauen?
Dem kleinen Jungen? Plötzlich erblickte er am Ende des Ganges etwas Weißes. Seine Muskeln spannten sich. Wie die Uniform eines Polizisten, dachte er. Sein Blick wanderte zum anderen Ende des Ganges, und wieder schimmerte es weiß. Und dann sah er noch einen und noch einen und noch einen. Und die weißen Flecken wurden heller und größer und kamen auf ihn zu. Du Idiot! dachte er. Dieser verdammte Marsjunge! Du hättest es dir denken können! Grelles Licht flammte plötzlich auf, und Ben, fast blind von der unerwarteten Helligkeit, bemerkte, daß einige schirmlose Deckenlampen eingeschaltet worden waren. Das helle Licht hatte die Atmosphäre des Lasters verscheucht, und jetzt sah der weite Raum wie jeder andere aus nüchterne Betonwände und ein mit Unrat übersäter Fußboden. Augen blinzelten, und Hände bewegten sich nervös, und ein ärgerliches Murren ging durch den Raum. Die Gäste des Blast Inn waren wie die in Lumpen gekleideten Bewohner eines Hauses, dessen Wände man plötzlich eingerissen hatte, und die man auf diese Weise den Blicken der Neugierigen preisgab. Ben Curtis dehnte seinen schlanken Körper und sprang auf. Sein Stuhl stürzte um. Die Männer in Weiß kamen jetzt angerannt, die Neuroknüppel erhoben. Eine Frau schrie, und die Musik verstummte. Die Musiker schlichen mit katzenhafter Behendigkeit zu einem verborgenen Hinterausgang und verschwan-
den. Nur die riesigen Venusier blieben von dem allgemeinen Aufruhr unbeeindruckt. Unbeweglich standen sie da, und nur ihre starren Augen drehten sich langsam auf Ben zu. »Curtis!« schrie einer der Polizisten. »Sie sind umzingelt! Rühren Sie sich nicht!« Ben wirbelte herum und raste mit langen Sprüngen auf den Ausgang zu, durch den er die Musiker hatte verschwinden sehen. An seinem linken Ohr zischte etwas vorbei. Es war ein Geräusch, wie wenn Preßluft aus einer Flasche entweicht. Er rannte weiter. Jetzt verwendeten sie ihre tödlichen Neuropistolen statt der Knüppel, die nur betäubten. Wieder zischte es. Er war nur noch drei Meter vom Ausgang entfernt. Noch eine Sekunde, schrie sein Gehirn. Nur noch eine Sekunde – Oder standen vielleicht auch Wachen vor den Ausgängen? Er hörte es zischen. Der Schuß traf ihn direkt in den Rücken. Es tat gar nicht weh, nur ein leichtes Stechen, so wie der Stich einer Nadel. Mit einem Ruck blieb er stehen, als wäre er gegen eine unsichtbare Mauer gerannt. Sein Körper schien zu wachsen und wie ein Ballon anzuschwellen. Er wußte, daß sich die winzige Nadel tief in sein Fleisch gebohrt hatte, wußte, daß das lähmende Mortocain jetzt jede Faser und jeden Muskel seines Körpers zusammenkrampfen würde. Er taumelte wie ein Mann aus Stein, der sich im Zeitlupentempo vorwärtsquält. Fünfzehn – vielleicht
zwanzig Sekunden – würde er haben, bis die völlige Lähmung von Körper und Hirn ihn überwältigte. In der dunklen Welt jenseits seines schwindenden Bewußtseins hörte er eine Stimme schreien. »Macht das verdammte Licht aus!« Dann ein Druck und etwas Kaltes auf seiner linken Hand. Jemand hatte seine Hand ergriffen. Eine sanfte weibliche Stimme fragte: »Sind Sie verwundet? Man hat Sie getroffen?« »Ja.« Seine geschwollenen Lippen konnten das Wort kaum bilden. »Wollen Sie fliehen – auch jetzt noch?« »Ja.« »Es kann aber sein, daß Sie sterben, wenn Sie sich nicht ergeben.« »Nein, nein.« Er machte einen weiteren stolpernden Schritt zum Ausgang hin. »Dann ist es gut. Nicht diesen Weg. Hier entlang.« Schwere Schritte kamen auf sie zu. Ein paar Meter vor ihnen blinkte eine Taschenlampe auf. Hände führten ihn. Er fühlte, wie er geschoben und gezogen wurde. Eine Tür schloß sich hinter ihm. Der Schimmer der Taschenlampe verschwand aus seinem Gesichtskreis, falls er überhaupt noch sehen konnte. »Sind Sie ganz sicher?« fragte die Stimme. »Ja – sicher – sicher.« Ben brachte die Worte mit Mühe heraus. »Ich habe kein Gegenmittel. Vielleicht müssen Sie sterben.« Sein Gehirn bemühte sich, ihre Worte zu begreifen. Mit Anti-Paralyse, Spritzen, Massage und Ruhe konnte sich ein Mann von der Wirkung des Morto-
cains innerhalb eines Tages erholen. Ohne eine solche Behandlung aber konnte die Lähmung Herz und Lungen ergreifen. Es konnte eine tödliche Lähmung werden. Eine wirksame Waffe: die kleinste Wunde zwang den Verletzten, sich sofort zu stellen. »Gegen – Gegen –« Die Worte waren schwer wie Bleiklumpen, die er aus seiner Kehle hervorwürgen mußte. »Nein – ich – sicher –« Die Antwort hörte er nicht mehr. Er konnte sich nicht an sein Erwachen erinnern. Sein Bewußtsein kehrte nur allmählich zurück, ein langsamer Übergang von einer Welt des schwarzen Nichts zu einem traumhaften Stadium der Wirklichkeit. Er fühlte den Druck von Händen auf seinen nackten Armen und Schultern, Hände, die ihn massierten, die darum kämpften, Blutkreislauf und Gefühl wieder zu beleben. Er wußte, es waren starke Hände. Ihre Stärke schien sich auf seinen Körper zu übertragen. Lange Zeit versuchte er vergeblich, die Augen zu öffnen. Seine Lider waren wie zugeschweißt. Nach einer Weile öffneten sie sich. Die Welt des Dunkels wich einem fahlschimmernden Nebelschleier. Eine runde, formlose Masse schwebte über ihm – ein Gesicht, wie er annahm. Er versuchte zu sprechen. Obwohl sich seine Lippen schwach bewegten, brachte er nur ein unartikuliertes Knurren hervor. Aber er hörte jemand sagen: »Versuchen Sie nicht zu sprechen.« Es war die gleiche sanfte Stimme, die er im Blast Inn gehört hatte. »Bleiben Sie ruhig liegen
und bewegen Sie sich nicht. Alles wird gut werden.« Alles wird gut werden, dachte er dumpf. Dann wieder kamen lange Zeiten, in denen er wie im Starrkrampf lag und von nichts wußte, Zeiten des Lichts und Zeiten des Dunkels. Ganz langsam nahm die Welt um ihn wieder erkennbare Gestalt an. Er stellte fest, daß der weiche Gummimund einer Atemmaske über seiner Nase festgeklemmt war. Er spürte die wohlige Wärme elektrisch geheizter Tücher. Gelegentlich spürte er auch eine Röhre in seinem Mund, durch die ihm flüssige Nahrung zugeführt wurde, und dann ein angenehmes Wärmegefühl im Magen. Und immer schien das formlose Gesicht über ihm zu schweben, und er vermeinte das Echo der sanften Stimme zu hören: »Schlucken Sie das. So ist es gut. Sie brauchen Nahrung.« Oder ein anderes Mal: »Schließen Sie die Augen. Strengen Sie sich nicht an. Es dauert nicht mehr lange. Ihr Zustand bessert sich immer mehr.« Besser, dachte er, besser. Und dann, nach einer weiteren Zeit der Starre und des Dunkels, öffneten sich seine Augen plötzlich, und der Nebel wurde durchsichtig und verschwand. Er erblickte die rissige, ungestrichene Decke eines kleinen Zimmers, das nur von einem kleinen runden Fenster erhellt wurde. Er sah das Fußende eines Aluminiumbettes und die Konturen seiner Füße unter einer alten Decke. Und schließlich sah er die Gestalt, die neben seinem Bett stand. »Fühlen Sie sich jetzt besser?« fragte die freundliche Stimme.
Es war ein Mädchen, so zwischen fünfundzwanzig bis dreißig. Ihr Gesicht war blaß, und sie trug kein Make-up. Es hatte eine ungesunde Farbe, als hätte sie wochenlang keine Höhensonne benutzt. Und doch vermittelte ihr schlanker Körper zur gleichen Zeit den Eindruck von Kraft und Energie. Ihr glattes braunes Haar war straff nach hinten gekämmt und im Nacken zu einem Knoten verschlungen. »Ja – ich – fühle mich besser«, murmelte er. Seine Worte kamen immer noch langsam und unbeholfen. »Werde ich leben?« »Ja, Sie werden leben.« Er schwieg einen Augenblick. »Wie lange bin ich schon hier?« »Neun Tage.« »Und Sie haben mich gepflegt?« Er bemerkte die dunklen Ringe unter ihren Augen. Sie nickte. »Haben Sie mich weggetragen, als ich angeschossen wurde?« »Ja.« »Warum?« Plötzlich mußte er husten. Sein Atem kam schwer und quälend. Sie hielt die Sauerstoffmaske bereit, aber er schüttelte den Kopf. Er wollte sie nicht. »Warum?« fragte er noch einmal. »Das ist eine lange Geschichte. Vielleicht erzähle ich sie Ihnen morgen.« Ein neuer, schrecklicher Gedanke kam ihm. »Sagen Sie, werde – werde ich wieder ganz gesund werden? Werde ich wieder gehen können?« Er hatte sich aufgerichtet. Jetzt ließ er sich erschöpft in die Kissen zurückfallen. Er keuchte. »Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen«, ant-
wortete das Mädchen mit sanfter Stimme. Ihre kühle Hand strich ihm beruhigend über seine heiße Stirn. »Und jetzt müssen Sie wieder ruhen. Wir können uns später noch unterhalten.« Seine Augen schlossen sich, und das Atmen fiel ihm wieder leichter. Er schlief. Als er das nächste Mal erwachte, wanderte sein Blick zuerst zum Fenster. Es war hell draußen, aber er wußte nicht, ob es nun Morgen, Mittag oder Nachmittag war – ja, er wußte nicht einmal, auf welchem Planeten er sich befand. Er sah nicht die weißen Kuppeln der Häuser von Hoover City, nicht die Parks mit ihren schnurgeraden Reihen grüner Bäume und auch nicht die summenden Schlangen der Flugwagen. Nur ein weißlich schimmerndes undurchsichtiges Nichts. Es war, als befände sich das Fenster am Rande des Universums, und er blickte hinaus in das schweigende substanzlose Nichts am Ende der Welt. Das Mädchen trat ein. »Hallo«, sagte sie und lächelte ihn an. Die dunklen Halbmonde unter ihren Augen waren schwächer geworden. Sie sah ausgeruht aus. Sie erhöhte den Druck in seinem Gummex-Kissen und half ihm, sich aufzurichten. »Wo sind wir?« fragte er. »Venus.« »Aber nicht in Hoover City?« »Nein.« Er sah sie fragend an. »Sie wollen es mir nicht sagen?« »Jetzt noch nicht. Vielleicht später.« »Aber wie haben Sie mich dann hierher gebracht?
Wie sind wir aus dem Blast Inn entkommen?« Sie zuckte mit den Schultern. »Wir haben Freunde, die sich bestechen lassen. Ein Versteck in der Stadt, ein Wüstentaxi, ein Passierschein aus der Stadt – alles hat seinen Preis.« »Wollen Sie mir Ihren Namen sagen?« »Maggie.« »Warum haben Sie mich gerettet?« Ihre Augen blickten schelmisch. »Weil Sie ein guter Astrogator sind.« Seine Augen weiteten sich erstaunt. »Woher wußten Sie das?« Sie ließ sich auf einem Hocker neben seinem Bett nieder. »Ich weiß alles über Sie, Leutnant Curtis.« »Woher wissen Sie meinen Namen? Ich habe doch alle Papiere vernichtet.« »Ich weiß zum Beispiel, daß Sie vierundzwanzig Jahre alt sind. Geboren am 10. Juli 1993. Mit vier Jahren verloren Sie Ihre Eltern und kamen in die Jungenstadt Nr. 5 in den Catskill-Bergen, wo Sie bis zum Alter von neunzehn Jahren blieben. Vergangenen Juni bestanden Sie Ihre Abschlußprüfung als Astrogator. Ihre Note für die ganze fünfjährige Ausbildungszeit war 3,8, die zweitbeste in einer Klasse von siebenundfünfzig. Ihre einzige schwache Note war eine 3,2 in Geschichte der Marszivilisation. Soll ich fortfahren?« Ben nickte fasziniert. »Sie wurden als Astrogator auf der Odysseus aufgenommen und haben sich auf der Reise von Roswell nach Luna City Ihre ersten Sporen verdient. Bei einer Auseinandersetzung in einer Bar in Luna City schlugen Sie einen Mann namens Cobb nieder und töteten
ihn. Cobb verkaufte Fertighäuser. Sie wurden wegen Totschlags angeklagt, und eine Belohnung von 5000 Kredits ist für Ihre Ergreifung ausgesetzt. Sie kamen nach Hoover City in der Hoffnung, dort eine Gruppe abtrünniger Raumfahrer zu finden, denen Sie sich anschließen wollten. Diese Leute haben Sie im Blast Inn gesucht.« Ben sperrte ungläubig den Mund auf. »Das – das verstehe ich nicht.« »Was wir wissen wollen, das bringen wir auch heraus. Wie ich schon vorhin sagte, wir haben viele Freunde.« Er fiel auf das Kissen zurück und atmete schwer. Sie stand auf. »Es tut mir leid«, sagte sie. »Ich hätte es Ihnen doch nicht sagen sollen. Aber ich war so glücklich, daß Sie durchgekommen sind. Ruhen Sie jetzt. Wir sprechen ein anderes Mal weiter.« »Maggie, Sie – Sie haben gesagt, daß ich leben werde. Aber Sie haben nicht gesagt, ob ich auch wieder laufen kann.« Sie senkte den Blick. »Ich hoffe schon.« »Aber Sie glauben es nicht, nicht wahr?« »Ich weiß es nicht. Morgen werden wir es einmal versuchen. Aber denken Sie jetzt nicht daran. Ruhen Sie sich aus. Das wird Ihnen gut tun.« Er versuchte vergeblich, sich zu beruhigen. Eine Vermutung jagte die andere. »Nur eine Frage noch«, flüsterte er. »Ja?« »Der Mann, den ich umgebracht habe – war er verheiratet?« Sie zögerte.
Er dachte: Verdammt, warum habe ich auch gerade diese Frage stellen müssen. Endlich sagte sie: »Ja, er hatte eine Frau.« »Kinder?« »Zwei, aber ich weiß nicht, wie alt.« Sie verließ das Zimmer. Er sank in sein Bett zurück. Als er sich auf die Seite drehte, sah er auf einem Schreibtisch in der Ecke des Zimmers einen Gegenstand. Mit einem Ruck setzte er sich auf. Er atmete schwer. Der Gegenstand war das Stereofoto eines Mannes mit kantigen Zügen in der Uniform der RaumHandelsmarine. Es war ein Riese von einem Mann, und er trug einen sauber gestutzten roten Bart. Lange starrte Ben das Bild an. Schließlich verfiel er in einen unruhigen Schlaf. Schemenhafte Gesichter und das Echo verklungener Worte wirbelten durch sein Hirn. Der Tote kehrte wieder zurück. Blutige Lippen verfluchten ihn. Glasige Augen klagten ihn an. Irgendwo in der Nacht weinten zwei verlassene Kinder. Und vor ihm ragte ein rotbärtiger Riese auf, dessen große Hände ihn zu sich heranwinkten. Ben kroch durch die Nacht auf Händen und Knien, und seine Beine waren taub und ohne Gefühl. Das Weinen der Kinder war wie eine eisige Klage. Hilfesuchend hob er den Kopf zu dem rotbärtigen Riesen empor. Seine flehende Stimme schrie durch die Nacht wie ein verwundetes Tier. Aber noch während er schrie, verschwand der Riese, und weißgekleidete Männer stapften gnadenlos auf ihn zu. Als er erwachte, schrie er noch immer ...
Eine lange Nacht zog vorbei. Ben lag da und wartete auf Maggie. Er wußte schon, was er sie zuerst fragen würde. Als sie endlich hereinkam, fragte er sie: »Wer ist der Mann mit dem roten Bart?« Sie lächelte. »Ich habe also doch ins Schwarze getroffen, als ich Ihnen Ihre Kurzbiographie erzählte. Sie haben ihn gesucht, nicht wahr?« »Wer ist er?« Sie setzte sich. »Mein Mann«, sagte sie sanft. Langsam verstand er. »Und Ihr Mann braucht einen Astrogator? Deshalb haben Sie mich gerettet?« »Wir können jeden guten Mann gebrauchen.« »Wo ist er?« »Irgendwo zwischen Merkur und Pluto. Er baut an einem neuen Stützpunkt für uns – und einem neuen Heim für mich. Wenn er zurückkommt, werde ich mit ihm gehen.« »Und warum sind Sie nicht jetzt bei ihm?« »Er meint, der unerforschte Raum sei kein Ort für eine Frau. Ich bin also zurückgeblieben, und in der Zwischenzeit war es meine Aufgabe, die Polizeiberichte zu studieren, um eventuell Leute wie Sie zu finden. Wissen Sie eigentlich, wer wir sind und was wir tun?« Er erzählte ihr von den Gerüchten, die er gehört hatte. Sie nickte. »Ja, wir sind jetzt eine ziemlich große Gruppe – ungefähr tausend – und ein Dutzend Schiffe. Unser Stützpunkt befand sich bis vor kurzem hier auf der Venus, in der Nähe des Pols. Der Unterschlupf, in dem wir uns jetzt befinden, wurde von
uns vor ein paar Jahren gebaut, nachdem wir vom Mars vertrieben worden waren. Wir haben beim Bau ein paar Männer verloren, aber die Erschließung neuen Landes kostet immer Opfer. Die Venus wird allmählich für uns zu zivilisiert. Deshalb sind wir dabei, unser Hauptquartier zu verlegen. Dieser Bau dient nur noch als Provisorium für Fälle wie den Ihren. Unser neuer Stützpunkt, das kann ich Ihnen ruhig sagen, wird einer der Asteroiden sein. Welcher, das wird natürlich nicht verraten. Und kommen Sie nicht auf den Gedanken, daß wir Verbrecher sind. Freilich, die Hälfte unserer Leute wird von der Polizei gesucht, aber wir alle verdienen uns unseren Lebensunterhalt auf ehrliche Weise. Es sind alles Männer wie Sie oder Jakob.« »Jakob? Ist das Ihr Mann?« Sie lachte. »Dabei denkt man an eine Gestalt aus der Bibel, nicht? Jakob ist alles andere als ein alter Patriarch. Aber Jackie klingt zu sehr nach einem kleinen Jungen. Und das ist er auch nicht.« Sie zündete sich eine Zigarette an. »Jedenfalls, die Leute, die polizeilich gesucht werden, bleiben draußen, jenseits der Grenzen der Erdgerichtsbarkeit. Jakob und verschiedene andere können nie auf die Erde zurück, nicht einmal nach Hoover City, höchstens wenn sie tot sind. Der Rest der Gruppe besteht aus Männern, denen aus gesundheitlichen oder psychologischen Gründen der Raumflug untersagt wurde. Aber alles, was sie kennen, sind Raketen, und das wollen sie nicht aufgeben. Sie bringen unsere Schiffe in Grenzhäfen wie Hoover City, löschen die Ladung und holen unseren Nachschub.« »Und was sagen die Behörden dazu?«
»Nicht sehr viel. Die Raumpolizei hat andere Probleme, als das ganze Planetensystem nach ein paar kleinen Verbrechern zu durchkämmen. Außerdem bestehen unsere Ladungen meist aus reinem Uran und Tungsten und all den anderen Dingen, die auf Terra, Venus und Mars so rar sind. Die brauchen das Zeug so dringend, daß es ihnen ziemlich egal ist, ob es von uns oder aus der Hölle kommt. Wenn wir bei der Gewinnung unser Leben riskieren, so ist das unsere Sache.« Sie preßte die Lippen zusammen. »Wenn sie allerdings wüßten, wie stark wir sind, oder daß wir unsere Verbindungsleute sogar bei der Polizei haben, dann würde die Situation vielleicht anders aussehen. Vermutlich würde es dann zum Kampf kommen.« Ben runzelte die Stirn. »Aber was ist, wenn es einmal dazu kommen sollte? Und was werden Sie machen, wenn die Schiffe des Raumkorps die Asteroiden erreichen? Sie werden sie dann nicht mehr so einfach ignorieren können?« »Dann ziehen wir eben weiter. Wir werden unsere Schiffe verbessern und weiterfliegen – Jupiter, Saturn, Uranus, Neptun, Pluto. Vielleicht einmal über das Sonnensystem hinaus. Vielleicht werden es gar nicht die Jungs in den weißen Uniformen sein, die den ersten Flug zu den Sternen wagen. Es könnten auch wir sein – wenn wir bis dahin noch existieren. Aber der Asteroidengürtel ist reiner Mord. Man kann dort draußen nicht nach den Regeln der Astrogation gehen, so wie sie im Lehrbuch stehen. Man muß sich seine eigenen Regeln machen.« Bens Blick wurde hart. »Deshalb wollen Sie mich also als Astrogator haben.«
Maggie erhob sich und sah ihn nachdenklich an. »Wenn Sie zu uns kommen wollen – und wenn Sie gesund werden.« Sie hatte einen seltsamen Blick in den Augen. »Angenommen –«, er suchte zögernd nach dem richtigen Wort, »angenommen, ich werde gesund und entschließe mich, doch nicht Ihrer Gruppe beizutreten. Was geschieht dann mit mir? Werden Sie mich freilassen?« Auf ihrem schmalen Gesicht wechselten Schrecken, Bestürzung und Furcht. »Ich weiß nicht. Das müßte Jakob entscheiden.« Er biß sich auf die Lippen und starrte das Foto an. Sanft berührte sie seine Hand, und es schien ihm, als würde sie traurig sein. »Worauf es wirklich ankommt«, flüsterte sie, »ist, daß Sie wieder gehen können. Wir wollen es heute nachmittag versuchen, ja?« »Ja«, sagte er. Als sie das Zimmer verließ, blickte er immer noch auf das Foto. Er wußte nicht, was er tun sollte. Er war ein Offizier des Raumkorps. Höchstens einem einzigen Jungen unter zehntausend, die mit glänzenden Augen in den Sternenhimmel starrten, gelang es, dieses Traumziel zu erreichen. Er entsann sich eines Bilderbuches, das er einmal von seiner Mutter bekommen hatte. Unter den bunten Bildern der Raumfahrer stand dort: »Ein Raumfahrer ist ehrenhaft.« »Ein Raumoffizier ist treu.« »Ein Raumoffizier ist pflichtbewußt.« Ehre, Treue, Pflicht. Abgedroschene Phrasen, aber ohne sie hätte die Menschheit nie den Planeten ver-
lassen können, der sie eine halbe Million Jahre lang gefangen gehalten hatte. Ohne sie wäre es Everson nie gelungen, nach drei mißglückten Versuchen und nachdem hundert Menschen hatten sterben müssen, auf dem Mars zu landen. Ben seufzte. Er hatte eine Schuld zu begleichen. Ein guter Offizier würde das tun. Er würde sich stellen und seine Strafe auf sich nehmen. Er würde die roten Streifen von seiner Uniform reißen. Niemand sollte die Raumakademie eine Schule für Mörder und Feiglinge nennen können. Und wenn er so handelte, würde auch das Bild des Toten verschwinden, das ihn nicht loslassen wollte. Aber er war auch der kleine Junge, der nächtelang vor Erregung zitternd zu einem Himmel voller Sterne emporgestarrt hatte, die ihm zuwinkten und nach ihm riefen. Die Augen auf Jakobs Bild schienen den kleinen Jungen in ihm anzublicken, nicht den Raumoffizier. Aus ihnen blickte der Widerschein kalter öder Welten und des unendlichen Weltraums. Aus ihnen blickte der Schrecken der Einsamkeit und der Verbannung und der dauernden Flucht von einem Versteck zum anderen. Und doch leuchtete eine Stärke und Kraft aus ihnen, die die Träume eines Jungen erfüllen und einen Mann zu neuen Grenzen tragen konnte. Diese Augen waren es, und nicht die weiße Uniform, die ihm den Schlüssel zu den Wundern des Alls anboten. Und diesen Schlüssel wollte Ben haben. Aber er fragte sich wie schon so viele Male zuvor: Wenn ich Jakob folge, werde ich das Bild des Toten
hinter mir zurücklassen können? Er versuchte, seine Beine auszustrecken, und verfluchte ihre Schwäche. Er lächelte bitter. Einen Augenblick lang hatte er sie vergessen. Wie sinnlos, jetzt an die Sterne zu denken. Wenn es nun immer so bleiben würde? Jakob könnte keinen Astrogator mit gelähmten Beinen gebrauchen. Er würde ihn zur Erde zurückschicken oder – Ben schauderte – ihn irgendwie anders loszuwerden versuchen. Und das würde für Jakob der einfachere Weg sein. Jetzt würde es sich entscheiden. Er saß auf seinem Bett. Maggie stand vor ihm und hatte ihren starken Arm um seine Hüfte geschlungen. »Angst?« fragte sie. »Angst«, antwortete er und zitterte. Es war, als hätte sich sein ganzes Leben auf diesen Augenblick konzentriert, als wäre dieser Augenblick der Sammelpunkt aller seiner Wünsche und Hoffnungen. Jakob war vergessen. »Sie können gehen«, sagte Maggie voll Vertrauen. »Ich weiß, daß Sie es können.« Er bewegte langsam seine Zehen, seine Gelenke. Dann erhob er sich unsicher. Der Druck von Maggies Arm wurde stärker. Dann stand er. Seine Beine fühlten sich an wie Holz, aber hier und da spürte er ein Prickeln, ein Gefühl der Wärme. »Schaffen Sie es bis zum Fenster?« fragte Maggie. »Nein, nein. Nicht so weit.« »Versuchen Sie es. Bitte!« Sie führte ihn.
Seine Füße tasteten sich voran. Tapp, tapp. Der Druck um seine Hüfte ließ nach. Maggie trat zurück, ging zum Fenster, drehte sich um und sah ihm aufmunternd entgegen. Er blieb stehen und schwankte. »Nicht allein«, sagte er ängstlich. »Allein schaffe ich es nicht.« »Natürlich schaffen Sie es.« Aus Maggies Stimme klang eine unerwartete Ungeduld. Beschämt zwang er seine Füße vorwärts. Manchmal glaubte er, er würde stürzen. Aber er quälte sich weiter, ab und zu zögernd und um sein Gleichgewicht kämpfend. Maggie stand leicht nach vorn gebeugt, bereit, sofort auf ihn zuzuspringen und ihn zu halten. Seine Augen wandten sich dem Fenster zu. Zum ersten Male sah er die staubigen Ebenen des zweiten Planeten. Seine Gestalt straffte sich, und sein Gesicht glühte vor Aufregung. Seine Beine trugen ihn bis zum Fenster. Mit zitternden Händen stützte er sich gegen die dicke Glassitscheibe. Draußen wirbelte weißer Staub auf. Er war der Herrscher über die weiten Ebenen der Venus. Er schliff die Oberflächen der Felsen glatt, bedeckte den niedrigen Wüstenbusch und die schlanken Skelette der venusischen Nadelsträucher, und malte die langschwänzigen Echsen, die geschäftig hin und her eilten, weiß an. Das Pfeifen des Windes, das selbst durch die dikken Scheiben drang, war wie der schmerzliche Ruf des Planeten, der für immer in dem dunklen Grabe des Staubes eingeschlossen war und sein Schicksal beklagte. Die Venus war ein Planet der Wut und des
Jammers, der ununterbrochen seinen Zorn und seinen Groll hinausheulte, daß ihm das Licht der Sonne versagt war, daß es kein Grün für ihn gab, noch die Schwärze des Raums oder den warmen Glanz seiner Schwesterplaneten oder der Sterne. Der Staub bedeckte hier alles, schluckte alles, verwischte alles. »Ist es immer so?« fragte er. »Hört dieser Wind niemals auf?« »Manchmal. Dann kann man die Lichter der Stadt sehen.« Er starrte hinaus in die weiße Welt. Das Haus, in dem er sich befand, war ein Symbol für die Winzigkeit der Menschen in einem ihm feindlich gesinnten Universum. Aber es war auch ein Symbol seines Mutes und seines Trotzes. Und vielleicht lag die größte Stärke des Menschen in seinem Mut, der ihm gestattete, ein solches Haus zu bauen. »Eis gefällt Ihnen, nicht wahr?« fragte Maggie. »Es ist einsam und häßlich und wild, und trotzdem gefällt es Ihnen.« Er nickte atemlos. Sie murmelte: »Jakob pflegte zu sagen, es ist nicht der Anblick des Unbekannten, Fremdartigen, der die Raumfahrer packt – es sind die Gedanken, die man dabei hat.« Er nickte wieder und starrte immer noch wie gebannt hinaus in das staubige Inferno. Sie begann zu lachen, zuerst leise, dann lauter. Es war das Lachen, das nahe dem Weinen liegt. »Jetzt stehen Sie hier schon zehn Minuten. Sie werden wieder gehen können. Sie werden wieder gesund.«
Er drehte sich zu ihr um und lächelte. Erst jetzt wurde er gewahr, daß er wirklich schon lange am Fenster gestanden hatte. Dann erstarb sein Lächeln. Hinter Maggie, in einer offenen Tür, stand ein riesiges, schuppiges, krötenartiges Scheusal – ein zwei Meter großer Venusier. Er stand da, reglos wie eine Statue, und seine grünen Augen starrten Ben neugierig an. Seine schuppige Hand umklammerte den Griff einer altmodischen Hitzepistole, die er an einem Koppel um seine Hüfte trug. Maggie unterdrückte ein Lächeln. »Haben Sie keine Angst, Ben. Das ist Simon, Simpel Simon, wie wir ihn nennen. Er ist nicht besonders intelligent, aber er ist ein guter Helfer und Wächter. Er wollte Sie schon lange sehen, aber ich hielt es für das beste, damit zu warten, bis Sie wieder gesund wären.« Ben nickte geistesabwesend. Fasziniert starrte er den Venusier an. Es war ihm bis jetzt nicht in den Sinn gekommen, daß Maggie und er nicht die einzigen Bewohner des Unterschlupfes sein könnten. Maggies Entschluß, ihm Simpel Simon fürs erste vorzuenthalten, war sehr weise gewesen, dachte er. Seine Alpträume waren auch so schon schlimm genug. »Gib Ben die Hand«, sagte Maggie zu dem Venusier. Simpel Simon machte einen Schritt vorwärts und blieb stehen. »Nein«, knurrte er. Maggie keuchte. »Was ist denn los, Simon?« Der graue Koloß knurrte: »Ben – er keiner von uns. Er denken – anders. In Gedanken – er denken – Flucht – Erde.«
Maggie wurde bleich. »Ben ist einer von uns, Simon.« Sie trat an den Venusier heran und ergriff seinen Arm. »Geh jetzt in dein Zimmer. Geh auf Wache. Du wirst Ben genauso bewachen wie du mich bewachst. Verstehst du?« Simpel Simon grunzte: »Ich wache. Wenn Ben – gehen – ich aufhalten. Richtig.« Er hob seine riesigen Hände. »Nein, Simon, nein! Denk daran, was Jakob gesagt hat. Wir tun niemandem etwas zuleide. Ben ist unser Freund. Du wirst ihm helfen.« Der Venusier dachte eine Weile nach. Dann nickte er. »Ich Ben helfen. Aber wenn gehen – ich aufhalten.« Maggie führte ihn hinaus und schloß hinter ihm die Tür. »Mein Gott«, sagte Ben aufatmend. »Ich habe zwar schon gehört, daß Venusier Telepathen sein sollen, aber jetzt weiß ich es.« Maggies zitternde Finger griffen nach einer Zigarette. »Ich glaube, ich habe nicht recht überlegt, was ich tat, Ben. Die Venusier können zwar nicht richtig Gedanken lesen, aber sie spüren die Gefühle eines Menschen. Vermutlich das Ergebnis einer logischen Entwicklung. In dieser Staub- und Windhölle ist eine normale Verständigung äußerst erschwert. Also wurde die Entwicklung telepathischer Fähigkeiten begünstigt. Darum hat Jakob auch einige Vensuier in unsere Gruppe aufgenommen. Sie können einen Gedanken an Verrat entdecken, bevor die Sache gefährlich wird.« Ben erinnerte sich an Simpel Simons kalten Blick und an die Art, wie seine riesige Pranke die Hitzepi-
stole umklammert hatte. »Sie können sicher auch gefährlich werden.« »O nein. Sie sind so treu wie Hunde. Das heißt, sie sind nur gefährlich für die, die uns verraten wollen.« Schweigend half sie ihm ins Bett zurück. »Es tut mir leid, Maggie. Es tut mir leid, daß ich mich noch immer nicht entschieden habe.« Sie schwieg und wich seinem Blick aus. Verbittert machte er sich klar, daß seine Lage sich geändert hatte. Er war jetzt kein Patient mehr, er war ein Gefangener. Ein Tag verging und eine Nacht. Der Staub wirbelte vor seinem Fenster, und der Wind heulte. Der Aufruhr der Natur glich dem Aufruhr seiner Gedanken. Maggie war geduldig. Einmal, als sie ihn dabei ertappte, wie er Jakobs Foto anstarrte, fragte sie ihn: »Noch nicht?« Er blickte zur Seite. »Noch nicht.« Er erfuhr, daß das kleine halbkugelförmige Haus aus drei Räumen bestand. Sein Zimmer diente als Schlafraum, und er entdeckte, daß Maggie auf einem Pneumabett in der Küche schlief. Der dritte Raum, in dem auch die Luftschleuse war, beherbergte einen kleinen hydroponischen Garten, die Höhensonne und das KurzwellenVisi-Radio. Außerdem wurden darin die Windanzüge, Sauerstoff-Flaschen und die Vita-Rationen aufbewahrt. Das war auch der Raum, in dem sich Simpel Simon aufhielt. Maggie brachte Ben die Mahlzeiten ans Bett, bis er wieder so weit hergestellt war, daß er sich an den
Tisch setzen konnte. Ab und zu half er ihr dann beim Kochen – mit Simpel Simon als stummen reglosen Zuschauer hinter ihnen. Gelegentlich erzählte ihm Maggie von ihrer Kindheit in einer kleinen Stadt in Missouri und wie sie schon damals davon geträumt hatte, einmal zu den Sternen zu reisen. »Der Weltraum ist für die Männer, sagten sie mir aber ich war damit nicht zufrieden. Während sich die anderen Mädchen für ihren ersten Ball schön machten, trieb ich mich mit Jakob im Raumhafen herum.« Sie lachte oft – vielleicht um die allgegenwärtige Spannung etwas zu lockern. Ihr Lachen war wie das Lachen auf der Erde, das über grüne Felder und einen klaren blauen Himmel schwebt. Wenn sie lachte, war sie schön. Trotz ihres bleichen Gesichts merkte Ben, daß sie nicht älter als er sein konnte. Wenn ich ihr nur schon auf der Erde begegnet wäre, dachte er. Wenn ich – Aber dann sagte er sich, du hast genug Probleme. Du brauchst nicht noch eins! Endlich war er wieder völlig gesund. Nur seine Gelenke waren noch etwas steif. »Wieviel Zeit bleibt mir noch?« fragte er. »Bevor Sie sich entscheiden müssen?« »Ja.« »Sehr wenig. Jakobs Schiff ist schon unterwegs. Er wird in ein paar Tagen hier sein. Wann, weiß man ja nie genau. Zwei oder drei Tage. Vielleicht schon morgen. Es wird nur so lange in Hoover City bleiben, bis die Ladung gelöscht ist und neue Vorräte aufgenommen wurden. Dann werden sie uns hier abholen und – zu unserem neuen Stützpunkt zurückkehren.«
»Was, glauben Sie, wird Jakob tun, wenn ich mich seiner Gruppe nicht anschließen möchte?« Sie schüttelte den Kopf. »Das haben Sie mich schon einmal gefragt. Ich sagte Ihnen doch, ich weiß es nicht.« Ben dachte: Ich weiß eine Menge über dich, Jakob. Ich weiß, daß du deinen Stützpunkt auf einem Asteroiden hast. Ich weiß, wieviel Leute du hast, wieviel Schiffe. Ich weiß ungefähr, wo sich dieses Haus befindet. Ich weiß, daß du sehr gute Verbindungen zur Polizei hast. Würdest du mich mit diesem Wissen laufen lassen? Wie weit geht deine Verachtung des Gesetzes? Liebst du deine Freiheit so sehr, daß du dafür einen Mann töten könntest? Die Furcht kroch auf eisigen Füßen in sein Hirn. »Maggie«, fragte er, »was würde Jakob an meiner Stelle tun?« Sie blickte ihn amüsiert an. »Jakob würde gar nicht in Ihre Lage gekommen sein. Er würde Cobb nicht niedergeschlagen haben. Jakob ist –« »Ein Mann? Und ich bin noch ein Knabe, ja? Das wollen Sie doch sagen?« »Nicht unbedingt. Aber Sie werden ein Mann sein, wenn Sie sich entschieden haben.« Er runzelte die Stirn. Ihre Antwort gefiel ihm nicht. »Sie glauben vielleicht, der Traum von der Raumfahrt kann nur von einem Knaben geträumt werden. Daß ein Mann die Dinge mit anderen, nüchternen Augen sieht?« »O nein. Auch Jakob träumt noch diesen Traum. Die meisten unserer Männer haben ihn. Und in einem Mann ist er noch wunderbarer als in einem Knaben.« Ihr Gesicht wurde ernster. »Ben, Sie müssen sich
bald entscheiden. Und es muß eine Entscheidung ohne jeden Vorbehalt sein. Sie dürfen keinen Zweifel zurückbehalten.« Er nickte. »Wegen Simon, meinen Sie?« Sie winkte ihn an das Fenster seines Zimmers. Er blickte hinaus, zu der Stelle, auf die sie deutete. Er sah einen mannsgroßen Steinhügel. Er war nur schwer zu erkennen unter der windgepeitschten Staubschicht, die ihn umhüllte. Ein Grab. »Er war ein Mann wie Sie«, sagte sie mit leiser Stimme. »Gott allein weiß, daß Simon ihn nicht töten wollte. Aber er wollte fliehen. Er hatte sich gegen uns entschieden. Simon fühlte es. Es kam zu einem Kampf. Simons Hände – nun ja, er weiß einfach nicht, wie stark er ist –« Sie brauchte es ihm nicht weiter zu erklären. Ben wußte, welche Kraft in diesen schuppigen Pranken steckte. Die Stunden wurden zu angsterfüllten Ewigkeiten. Irgendwo im Dunkel des interplanetarischen Raums raste Jakobs Schiff dahin und kam näher und näher. Wie weit war es noch entfernt? Eine Million Kilometer? Fünfzigtausend? Oder durchbrach es gerade jetzt – in diesem Augenblick – die staubige Atmosphäre der Venus? Eine Entscheidung ohne jeden Vorbehalt, hatte Maggie gesagt. Jakob konnte keinen potentiellen Deserteur in seiner Gruppe brauchen. Und ihm Treue vorheucheln, das war unmöglich, solange ein Monstrum wie Simpel Simon in der Nähe war.
Vielleicht würde bald Jakob, und nicht Ben, eine Entscheidung zu treffen haben – eine Entscheidung, die auf einen zweiten Steinhügel in der Wüste hinauslaufen könnte. Ben lief es kalt über den Rücken. Bevor er sich schlafen legte, ging er noch einmal in den Vorratsraum, wo auch das Visi-Radio stand. Maggie saß an dem Apparat. Simpel Simon hatte den Sehschirm angestellt und durchsuchte die in Nacht gehüllte Öde vor dem Haus. »Gibt es etwas Neues?« fragte er Maggie. Das Mädchen murmelte, ohne aufzublicken, eine Verneinung. Bens Blick wanderte über die Reihe der Sauerstoffmasken Windanzüge und Vita-Rationen. Und dann, auf einem Wandbrett, erblickte er einen kleinen venusischen Kompaß. Fast automatisch griff er danach. Sein Hirn hatte nur einen Gedanken. Ein Kompaß würde es ihm ermöglichen, eine bestimmte Richtung einzuhalten. Simpel Simon bewegte sich. Er drehte sich nach Ben um. Seine fremdartigen Augen blickten argwöhnisch. Bens Hand schloß sich fester um den Kompaß. Er versuchte sich zu entspannen, alle verdächtigen Gedanken aus seinem Gehirn zu verdrängen. Er starrte in den Sehschirm und konzentrierte sich auf den nie endenden Tanz des Staubes. Die Augen des Venusiers musterten ihn mißtrauisch, als suchten sie nach dem verklungenen Echo einer verdächtigen Regung. »Ich glaube, ich haue mich jetzt in die Falle«, gähnte Ben. »Gute Nacht, Maggie.«
Simon schaute unzufrieden drein. »Ben – nicht einer von uns. Ich wachen.« Ohne ihn einer Antwort zu würdigen, verließ Ben den Raum. Der Kompaß lag heiß und klebrig vom Schweiß in seiner Hand. Er atmete tief ein. Warum hatte er überhaupt den Kompaß genommen? Er wußte es selbst nicht genau. Vielleicht, überlegte er, hatte er sich im Unterbewußtsein schon entschieden. Er stand am Fenster und starrte in die Nacht hinaus. Er wußte daß es zwecklos war, jetzt an Schlaf zu denken. Der Schlaf, der in den letzten Tagen sein Freund gewesen war, war jetzt ein feindlicher Fremder geworden. Mein Gott, schrien seine Gedanken, was soll ich nur tun? Langsam und sacht kam draußen der Staub zur Ruhe. Das Heulen des Windes war verstummt. Verschwommen und weit entfernt sahen Bens überraschte Augen einige Lichter aufglühen – die Lichter von Hoover City. Es schien, als hätte für einige wenige Sekunden eine kosmische Kraft das Wüten des Sturmes besänftigt, um ihm damit seine Entscheidung zu erleichtern. Mit fliegenden Händen holte er den Kompaß hervor. Achtundsechzig Grad, las er. Ostnordost. Er hatte kaum die Richtung festgestellt, als der Wind von neuem aufkam und der tanzende Staub die Lichter wieder verhüllte. »Achtundsechzig, achtundsechzig«, murmelte er vor sich hin. Doch jetzt konnte er nichts weiter tun, als abzu-
warten und zu schlafen versuchen. Starke Hände rüttelten ihn wach. Er öffnete seine Augen und blickte in undurchdringliche Dunkelheit. Sein erster Gedanke war, daß er blind geworden war. »Ben! Wachen Sie auf!« Er hörte Maggies Stimme. »Das Schiff kommt. Ich habe eine Nachricht aufgefangen. Wir haben nur noch wenige Minuten.« Sie knipste eine kleine Lampe an und ging hinaus. Noch immer schläfrig, kroch er aus dem Bett. Er langte nach seinen Sachen. Urplötzlich wurde ihm die volle Bedeutung ihrer Worte bewußt. Jakobs Schiff kam, und es war Zeit, sich zu entscheiden. Doch in seinem Hirn tobte ein Aufruhr widersprechender Gefühle. Maggie kam zurück. Ihr Gesicht war angespannt, und in ihren Augen stand eine schweigende Frage. Ben stand wie erstarrt. Langsam tickten die Sekunden vorbei. Endlich sagte sie: »Sind Sie bereit, Ben?« Sie sprach ohne Erregung, aber er wußte, was ihre Frage bedeutete. In dem düsteren Licht des Zimmers konnte er Jakobs Foto nicht erkennen, aber das Bild des Toten stand klar und deutlich vor ihm. Er dachte: Ich kann nicht mit Jakob weglaufen wie ein feiger kleiner Junge! Egal, wie hell die Sterne strahlen, ihr Glanz könnte das Bild des Toten nicht verdrängen. Gleichgültig, was auch Jakob und Simon mir antun werden, ich muß versuchen, zurück zur Erde zu kommen. Plötzlich fühlte er sich geläutert. Er brauchte sich nicht länger zu schämen. »Maggie«, sagte er.
»Ja?« »Ich habe mich entschieden.« Draußen vor dem Fenster stürzte ein flammender Feuerball auf die Wüste herunter und drängte den Staub und das Dunkel beiseite. Das Dröhnen von Raketenmotoren grollte auf, und das Haus vibrierte leicht. »Da ist das Schiff!« rief Maggie aufgeregt. Die Flamme am Heck des Schiffes wurde kleiner und verlosch und das Grollen der Motoren ging im Heulen des Windes unter. Die Alarmglocke an der inneren Luftschleuse des Hauses begann zu läuten. Maggie lief wie ein glückliches Kind in den Vorratsraum, Ben folgte ihr. Aufgeregt schob sie Simpel Simon zur Seite. Ihre Finger flogen über die Schalter und Hebel am Kontrollbord. Die Tür der Schleuse öffnete sich langsam. Ein untersetzter, stoppelbärtiger Mann in einem Windanzug und Transparalite-Helm stapfte herein. Bedächtig schraubte er seinen Helm auf. Seine Ohren waren viel zu groß, und er sah wie eine dickvermummte Puppe aus. »Wir sind bereit, Mrs. Pierce«, sagte er. Maggie nickte. Sie drehte sich nach Ben um. »Schnell, beeilen Sie sich. Ziehen Sie sich Ihren Anzug an.« Und wieder zu dem kleinen Mann mit den großen Ohren: »Ladung gelöscht? Alles fertig für den Flug nach Hause?« Nach Hause, dachte Ben. Sie nennt einen Ort, den sie noch nie gesehen hat, ihr Zuhause. »Die Ladung ist gelöscht.« »Keine Schwierigkeiten mit der Polizei? Keine Nachforschungen?«
»Noch nicht. Ich glaube, wir können es schon noch ein paarmal riskieren.« Ben schlüpfte in seinen Windanzug. Er warf einen schnellen Blick auf die Schleusenkontrollen. Ja, damit kannte er sich aus. Einen Augenblick lang dachte er an Simons Hitzepistole. Eine große Versuchung, aber nein – er hatte genug von Gewalttätigkeiten. Er biß sich auf die Lippen. Er versuchte, an nichts zu denken. Offenbar hatte Simon noch nichts bemerkt. Der Mann schaute Maggie mit einem seltsamen Blick an. »Mrs. Pierce, bevor wir gehen, möchte ich Ihnen lieber noch etwas sagen.« »Das können Sie mir auch auf dem Schiff erzählen.« Maggie trat vor und griff nach ihrem Helm. Der Mann stellte sich ihr in den Weg. »Mrs. Pierce, Ihr Mann – Jakob – er war auch auf dem Schiff.« »Was?« Das Mädchen lachte unsicher. »Mein Gott, er würde es nicht wagen! Dieser Narr, ein solches Risiko einzugehen –« Schreck und Bestürzung zeichneten ihr Gesicht. »Man – man hat ihn doch nicht erwischt?« »Nein, man hat ihn nicht erwischt. Und er ist auch kein Risiko eingegangen, Mrs. Pierce.« Schweigen erfüllte den Raum. Maggie atmete schnell. Ben verstand. Er erinnerte sich an ihre Worte. Jakob und verschiedene andere können nie auf die Erde zurück, nicht einmal nach Hoover City, höchstens wenn sie tot sind. Maggie schwankte. Ben und der kleine Mann
sprangen auf sie zu, stützten sie und führten sie zurück in die Küche. Sie halfen ihr auf einen Stuhl. Ben setzte Kaffeewasser auf. Simon stand schweigend daneben. Mit leeren Augen fragte Maggie: »Wie ist es geschehen?« »Wir flogen auf einen Schwarm Klein-Asteroiden zu, höchstens erbsengroß. Die Radarwarnung kam zu spät. Wir konnten nicht mehr ausweichen, wie mußten bremsen. Dabei hat es ihn erwischt – er wurde zerquetscht. Er lebte noch fünf Minuten.« Der kleine Mann holte ein zusammengefaltetes Stück Papier aus einer Tasche seines Anzugs: »Jakob sagte, er hätte noch eine Idee, die er zu Papier bringen müßte. Gott allein weiß, warum, aber während dieser fünf Minuten skizzierte er einen Plan, wie wir unseren Bremskompensator verbessern könnten.« »Einen Plan für –« keuchte sie. »Er war ein Raumfahrer, Mrs. Pierce.« Er gab ihr das Blatt. Ben erhaschte einen Blick auf den Schaltplan. »Als er fertig war«, fuhr der Mann fort, »sagte er, wir sollen Ihnen sagen, daß er Sie liebte.« Sie starrte einen Augenblick auf das Papier und wollte es dann zurückgeben. Der Raumfahrer schüttelte den Kopf. »Nein, das Original gehört Ihnen. Für unsere Schiffe und für das Korps in Hoover City habe ich Kopien gemacht.« Maggie sprach weiter mit dem kleinen Mann. Ben war ausgeschlossen, ein Fremder. Dann sah er seine Gelegenheit. Simons Gesicht war ausdruckslos wie immer, aber über seine grauen Reptilienzüge liefen Tränen. Ben
starrte ihn erstaunt ein paar Sekunden an und fragte sich, ob er auch richtig sähe. Bis jetzt hatte er immer angenommen, daß der venusische Riese keinerlei Gefühle fähig war. Aber Simpel Simon weinte. Es war unwahrscheinlich, daß er in einem solchen Augenblick auf Ben achten würde. Langsam, Schritt für Schritt, ging er rückwärts auf die offenstehende Tür zu. Leise schlüpfte er hindurch. Er versuchte, alles automatisch zu tun, damit ihn seine Gefühle nicht verrieten. Er stürzte in den Vorratsraum. Das Gemurmel der Stimmen sagte ihm, daß man sein Verschwinden noch nicht entdeckt hatte. Er tat es nicht gern. Auf diese Weise zu fliehen, war mehr als unanständig. Aber er hatte keine andere Wahl. Wenige Sekunden später trug er Windanzug und Sauerstoffhelm. Ein Container mit Vita-Rationen hing über seinem Rücken, und der Kompaß lag in seiner Hand. Sein Herz pochte unerträglich, als er die Schalter und Hebel der Schleuse betätigte. Das mahlende, kratzende Geräusch der sich öffnenden Tür klang ihm in den Ohren wie die Posaunen des Jüngsten Gerichts. Aber die Stimmen murmelten weiter. Er trat hinaus. Die Schleusentür fiel ins Schloß. Der Wind faßte ihn mit starker Hand und warf ihn zu Boden. Er raffte sich wieder auf. Zu seiner Rechten sah er den Silberglanz von Jakobs Schiff und eine Reihe goldener Fensteraugen. Darunter sah er die schwarzen Schattenrisse sich be-
wegender Gestalten. Er bückte sich tief, um den Kompaß zu studieren. Hinter ihm kratzte Metall. Etwas bewegte sich in der Dunkelheit. Er drehte sich um. Schwach beleuchtet von dem Schein der Schiffslichter sah er das grimmige, steinerne Gesicht von Simon. Der Venusier war wie die Nacht selbst. Nur seine glühenden Augen milderten diesen Eindruck. Der Reptilienkörper schlurfte auf ihn zu. Die Schuppen auf seinem Gesicht und seiner riesenhaften Gestalt reflektierten das Licht wie die Facetten eines Spiegels. Seine Hände streckten sich nach ihm aus. Worte donnerten durch Bens Gedächtnis: Gott allein weiß, daß Simon ihn nicht töten wollte. Simons Hände – nun ja, er weiß einfach nicht, wie stark er ist – Ben sprang zur Seite, steckte den Kompaß in die Tasche und ballte die Fäuste. Der Wind riß an ihm. Er stolperte, erlangte sein Gleichgewicht wieder. Trotz des Windes und des hemmenden Anzugs war er über seine Behendigkeit überrascht. Er entsann sich, daß die Schwerkraft der Venus nur vier Fünftel der irdischen betrug. Das war ein Vorteil. Er stemmte sich gegen den Wind und ging ein paar Schritte nach links, weg von dem Schiff. Er fürchtete sich, noch tiefer in das Dunkel zu tauchen, aber das war besser, als von der Besatzung gesehen zu werden. Simon folgte ihm. Er bewegte sich wie ein Automat, ungelenk, langsam, aber systematisch. Seine Hände kamen aus der Dunkelheit auf Ben zu.
Ben trat zurück und wischte den Staub von der verschmutzten Sichtscheibe. Ein einziger Schlag dieser Hände, das wußte er, konnte seinen Helm zerschmettern, und er würde an dem tödlichen Methan und Kohlendioxyd der Venus ersticken. Aber es schien, daß Simon ihn nur fangen wollte. Diese Tatsache gab Ben einen zweiten Vorteil. Schuppige Finger griffen nach seiner Schulter. Ben fühlte, wie Simon ihn zu sich heranzog. Er war wie ein Kind in der Hand eines Riesen. Sein Mut zerflatterte, und Panik überfiel ihn. Wild schlug er um sich. Seine rechte Faust fand ihr Ziel, fand es so gut, daß die Haut seiner Hand aufplatzte. Simons Kopf flog nach hinten. Seine Finger verloren ihren Halt. Aber immer noch trottete der Venusier weiter wie eine unwiderstehliche Gewalt, und seine Hände griffen um sich. Ben duckte sich und drehte sich zur Seite. Seine Vita-Ration wurde ihm weggerissen. Er duckte sich, stemmte sich gegen den Wind und wartete auf die Gelegenheit für einen neuen Schlag. Seine Lungen bekamen nicht genug Luft, aber er hatte jetzt keine Zeit, die Sauerstoffzufuhr zu erhöhen. Die Muskeln seiner Beine begannen zu schmerzen, als würden feurige Nadeln hineingetrieben. Die Hände sausten herunter auf seine Schultern. Diesmal fand seine Faust Simons Magen. Simon grunzte und krümmte sich zusammen. Wieder schlug Ben zu und wieder und wieder. Seine Lungen schwollen an, als wollten sie seine Brust zersprengen. Eine neue Staubschicht bedeckte seine Sichtscheibe und machte ihn fast blind. Instinktiv kämpfte er weiter, und seine Fäuste schlugen dumpf
gegen Simons Körper. Simpel Simon stürzte. Ben wischte den Staub von der Sichtscheibe ab, erhöhte die Sauerstoffzufuhr. Dann kniete er neben dem ausgestreckten Reptilwesen nieder. Eine neue Furcht überfiel ihn – eine Furcht, fast so groß wie die, von Simpel Simons eisernem Griff gefangen zu werden. Es war die Furcht, vielleicht wieder getötet zu haben. Aber selbst in der Dunkelheit konnte er das Heben und Senken der massigen Brust erkennen. Gott sei gedankt, dachte er. Unter dem Schiff blitzte ein Licht auf. Die schwarzen Gestalten behelmter Männer kamen näher. Ben erschrak. Die Raumfahrer konnten zwar das Geräusch des Kampfes nicht gehört haben – aber vielleicht hatten sie ihn gesehen. Keuchend rannte Ben in das tiefere Dunkel zu seiner Linken. Nur ab und zu blieb er stehen, um den Kompaß zu Rate zu ziehen. »Achtundsechzig Grad«, schnaufte er. Der Kompaß war jetzt sein einziger Begleiter und seine einzige Hoffnung. Er war das einzige Stück Wirklichkeit in einer Welt düsterer Alpträume. Anfangs kämpfte Ben Curtis nur gegen den Wind, den Staub und die Nacht. Jeder Schritt vorwärts war eine Herausforderung, ein Kampf und – bis jetzt? – ein Sieg. Aber wie weit war es noch bis zur Stadt? Zehn Kilometer? Zwanzig? Wie konnte man Entfernungen schätzen, wenn der Staub alles verhüllte? Und folgten Simpel Simon und Jakobs Männer ihm immer noch? Wie gut konnte ein Venusier in der
Nacht sehen? Würden Simons Schuppenhände ihn auch hier finden? Er marschierte weiter. Achtundsechzig Grad. Langsam legte sich die Furcht vor einer Gefangennahme. Er wurde taub gegen das Heulen und Pfeifen des Windes und blind gegen den Staub. Er bewegte sich wie ein Roboter. Seine Gedanken wanderten zurück, und er hörte vertraute Stimmen und sah verblaßte Bilder. Er sah das weiße Gesicht des Toten, doch seine Züge verschwammen und verloren ihre Drohung. Ein Raumoffizier ist ehrenhaft. Ein Raumoffizier ist treu. Ein Raumoffizier ist pflichtbewußt. Die Worte klangen ihm wie Musik im Ohr. Ben dachte an Maggie: Während andere Mädchen sich für ihren ersten Ball schön machten, trieb ich mich mit Jakob im Raumhafen herum ... Wenn ich ihr nur schon auf der Erde begegnet wäre – Maggie, die jetzt verlassen dasitzen würde, ein zerknittertes Stück Papier in der Hand. Allein und hilfebedürftig. Bens Kehle schnürte sich zusammen. Verdammt, daran durfte er nicht denken. Was hatte der kleine Mann mit den großen Ohren gesagt? Für unsere Schiffe und für das Korps in Hoover City habe ich ein paar Kopien gemacht. Warum hatte er das gesagt? Warum sollte ein abtrünniger Raumfahrer seine Geheimnisse dem Raumkorps verraten? Das Korps würde die Erfindung in seinen Schiffen anwenden. Und mit diesen Schiffen würde es die Asteroiden erreichen. Und Jakobs Gruppe würde von neuem vertrieben werden. Ben hielt inne. Der Wind zerrte an seinem Anzug und peitschte über seinen Helm. Er fühlte es nicht. Er
hatte die Antwort gefunden. Jakob und seine Männer hatten eine Schuld zu bezahlen. Sie zahlten diese Schuld, indem sie der Menschheit auf ihrem Weg zu den Sternen vorwärtshalfen. Was hatte Maggie ihm erzählt? Unsere Ladungen bestehen meist aus reinem Uranium oder Tungsten und all den anderen Dingen, die auf der Erde, Venus und Mars so rar sind. Wenn wir bei der Gewinnung unser Leben riskieren, so ist das unsere Sache. ... Der Unterschlupf, in dem wir uns jetzt befinden, wurde von uns vor Jahren gebaut. Wir haben beim Bau ein paar Männer verloren, aber die Erschließung neuen Landes kostet immer Opfer. Der Wind drückte Ben zurück. Die Kälte der venusischen Nacht kroch allmählich durch seinen Anzug. Es war, als würde sein Körper gleichzeitig in Flammen und Eis gebadet. Er taumelte, fiel. Erschöpft blieb er liegen. Aber seine Gedanken erhoben sich und führten ihn in das wunderbare Tal einer neuen Erkenntnis. Der Mensch würde sich nie damit zufriedengeben, auf unbedeutenden Planeten zu bleiben – nicht solange seine Augen den Nachthimmel erblicken und seine Gedanken von fernen Welten träumen konnten. Pioniere würden immer wieder auferstehen und die Schrecken unbekannter Welten besiegen. Und sie würden Landmarken aufstellen, damit ihnen die anderen auf der neuen Straße furchtlos folgen könnten. Und trotz des Glanzes ihrer Träume würden diese Männer immer einsam sein. Für sie würde es keine Umkehr geben. Für all den Ruhm und all den Glanz ihres kurzen Abenteuers würden sie letztlich mit ih-
rem Leben bezahlen. Ben lag da in der Dunkelheit und zitterte. Sein Hirn schrie: Du kannst kein Radarsystem oder keinen Bremskompensator erfinden, aber du könntest diese Asteroiden vermessen. Du kannst zwar einen Toten nicht wieder lebendig machen, aber du könntest verhindern, daß in zehn oder zwanzig Jahren Tausende von Männern und Frauen sterben müssen. Endlich wußte er, welche Entscheidung Jakob getroffen haben würde. Starke Hände bewegten sich vor seiner Sichtscheibe, über seinen Anzug, seinen Helm. Dann wischten sie den Schweiß von seiner bleichen Stirn und legten ihm ein nasses Tuch auf den Nacken. »Sie sind zurückgekommen«, sagte eine Stimme. Er erkannte ein sanftes Gesicht, das auf ihn herniederblickte, so wie vor Ewigkeiten schon einmal. Er setzte sich auf. »Simon sagt, daß Sie zurückgekommen sind, Ben. Warum?« Er mußte sich anstrengen, um die Bedeutung der Worte zu verstehen. »Simon? Simon hat mich gefunden? Er hat mich zurückgebracht?« »Nur noch eine kurze Strecke. Sie waren fast da.« Ben schloß die Augen und durchlebte noch einmal den Aufruhr seiner Gedanken. Er murmelte etwas über Pioniere und ein zerknittertes Papier und eine Schuld und eine Entscheidung. Dann blinzelte er und sah, daß er und Maggie nicht allein waren. Simpel Simon stand am Fußende des Bettes – und war das die Spur eines Lächelns auf seinem Reptilgesicht? Und drei Raumfahrer in Windan-
zügen standen hinter Maggie, die Helme unter dem Arm. Einer davon war ein rothäutiger hagerer Marsier. Simpel Simon sprach: »Ben – ändern. Denken wie wir. Gut jetzt. Wie Jakob.« Der kleine Mann trat vor und schüttelte Bens Hand. »Wenn Simon das sagt, dann genügt mir das.« Ein blondhaariger Erdmensch half Ben beim Aufstehen. »Sind die Beine in Ordnung, Kamerad? Glaubst du, du kannst es schaffen?« Ben stand aufrecht da. »In Ordnung. Ich bin bereit.« Einen Augenblick stand er sinnend da. »Aber angenommen, ich wäre nicht bereit? Angenommen, ich möchte mich euch nicht anschließen? Ich weiß eine Menge über euch und eure Organisation. Was würdet ihr tun?« Der Blonde zuckte mit den Schultern. »Wir würden dich nicht umbringen, wenn du das meinst. Vermutlich würden wir darüber abstimmen, ob wir dich nicht trotzdem mitnehmen, oder ob wir dich freilassen.« Er lächelte. »Ich bin froh, daß wir nicht abzustimmen brauchen.« Ben nickte und wandte sich an Maggie: »Kommen Sie auch mit?« Sie schüttelte den Kopf. Ihre Augen waren verschleiert. »Auf dieser Reise noch nicht. Nicht ohne Jakob. Ich nehme ein Wüstentaxi nach Hoover City. Und dann werde ich für einige Zeit zur Erde gehen. Ich muß nachdenken, und das kann man am besten auf der Erde.« Ihre Augen verloren ein wenig von ihrem schmerzlichen Blick. »Aber ich werde zurückkommen. Jakob würde auch nicht auf der Erde blei-
ben wollen. Wir sehen uns wieder.« Der Mann mit den großen Ohren legte Ben seine Hand auf die Schulter. »Glauben Sie, daß Sie uns zur Juno zurückbringen können?« fragte er. Ben schaute Maggie an und dann den Mann. »Ihr seid schon so gut wie da«, sagte er.
Originaltitel: A COFFIN FOR JACOB
James H. Schmitz WIR WOLLEN KEINEN STREIT »Nun, euere Unterredung hat aber nicht lange gedauert, nicht wahr?« sagte die Frau des Professors. Ihr Mann stand am Fenster des Wohnzimmers und starrte in Gedanken versunken in die hereinbrechende Dämmerung. Sie war gerade vom Einkaufen zurückgekommen und hatte ihn dort entdeckt. »Ich hatte mit dem Essen nicht vor neun gerechnet«, fügte sie hinzu und setzte ihre Tasche ab. »Ich werde mich beeilen.« »Du brauchst dich nicht zu beeilen«, sagte der Professor, ohne den Kopf zu wenden. »Ich hatte auch nicht damit gerechnet, daß wir so früh fertig werden würden.« Er hatte die Hände hinter dem Rücken verschränkt und wiegte sich auf Ballen und Zehenspitzen langsam vor und zurück. Es war seine Lieblingsstellung, und seine Frau hatte nie herausbekommen, ob das nun ein Anzeichen von tiefer Konzentration war, oder ob er dabei nur mit offenen Augen träumte. Jetzt allerdings hatte sie das unangenehme Gefühl, daß es schwerwiegende Gedanken waren, die ihn beschäftigten. Sie nahm ihren Hut ab. »Ich nehme an, man kann es eine Unterredung nennen, oder?« sagte sie leise. »Ich meine, ihr habt doch mit ihm gesprochen, nicht wahr?« »O ja, wir haben mit ihm gesprochen«, antwortete er. »Wenigstens einige von uns.«
»Mein Gott, wenn ich mir vorstelle, daß ihr euch wirklich mit einem solchen Wesen unterhalten habt! Kommt es wirklich aus dem Weltraum?« Sie lachte unbehaglich und schaute ihn mit besorgten Augen an. »Aber du darfst sicher nicht darüber reden. Ich weiß schon, die Sicherheitsvorschriften.« Er zuckte mit den Schultern und wandte sich um. »Um sechs Uhr wird eine Sondermeldung durchgegeben. Überall, wo immer sich ein Radio oder ein Fernsehapparat befindet, wird man das Ergebnis unserer Unterredung erfahren. Vielleicht nicht alles, aber fast alles.« »Oh!« sagte sie überrascht. Einen Augenblick schaute sie ihn schweigend an, und ihr Gefühl des Unbehagens verstärkte sich. »Und warum tun sie so etwas?« »Nun ja, es schien das einzig Richtige zu sein«, sagte der Professor. »Jedenfalls die beste Lösung. Vermutlich wird es eine Panik geben.« Er wandte sich wieder dem Fenster zu und schaute angestrengt auf die Straße hinunter, als ob es dort etwas sehr Interessantes zu sehen gäbe. Sein Blick war nachdenklich, ja geistesabwesend, dachte sie. Doch dann fiel ihr ein besseres Wort ein. Resigniert, das war der richtige Ausdruck. »Clive«, sagte sie verzweifelt, »was ist geschehen?« Er runzelte die Stirn und ging zum Radio. Ein leises Summen ertönte, während er an den Knöpfen drehte. Aber sonst war nichts zu hören. »Überall Funkstille. Eine Schaltpause, nehme ich an«, sagte er. Verständnislos wiederholte sie das Wort, bis ihr plötzlich die Bedeutung des Satzes bewußt wurde.
Schaltpause! Überall, in der ganzen Welt, war eine Schaltpause bis sechs Uhr eingetreten – bis zu der Sondersendung. »Du willst wissen, was geschehen ist«, sagte ihr Mann. »Es ist nicht leicht, das Ganze zu verstehen oder zu erklären. Sogar jetzt noch. Es war wirklich erstaunlich –« Er unterbrach sich selbst. »Erinnerst du dich an Milt Caldwell?« »Milt Caldwell?« Sie versuchte sich zu erinnern, wo sie diesen Namen schon einmal gehört hatte. »Nein«, sagte sie endlich und schüttelte den Kopf. »Der Forscher, ein ziemlich berühmter Antropologe«, belehrte sie der Professor mit leicht vorwurfsvoller Stimme. »Milt ist vor zwei Jahren im Australischen Busch verschollen. Glaubte man jedenfalls. Sie haben ihn gefunden –« »Sie?« sagte sie. »Heißt das, es ist nicht das einzige?« »Nun, was hast du gedacht? Natürlich muß es davon noch mehr geben, oder?« sagte er. »Immerhin wissen wir jetzt, woher es unsere Sprache kann. Die Angelegenheit wurde dadurch immerhin verständlicher«, fügte er langsam hinzu. »Sieben Minuten bis sechs –« »Was?« sagte sie schwach. »Noch sieben Minuten bis sechs«, wiederholte er. »Setz dich hin, Liebes. Ich glaube, die sieben Minuten reichen aus, um dir wenigstens ungefähr zu berichten, was geschehen ist ...« Der Besucher aus dem Weltraum saß in seinem Käfig, und seine langen grauhäutigen Hände umklammerten die Eisenstangen. Seine Bewegungen, so hatte der
Professor in den zwei Minuten festgestellt, seit er mit den anderen den Raum betreten hatte, ähnelten denen eines großen Affen. Die Reporter allerdings hatten ihn »Die Kröte vom Mars« genannt, vermutlich wegen der ersten Beschreibungen, die man ihnen gegeben hatte. Angesichts seiner Gestalt und der faltigen, mit Warzen bedeckten Haut kein schlechter Name. Der runde hornige Kopf konnte fast von einer Eidechse stammen. Mit der Faszination eines Zoologen, der ein neues Tier entdeckt hat, katalogisierte der Professor im Geiste diese sich widersprechenden körperlichen Einzelheiten. Trotzdem war es nicht ganz ausgeschlossen, daß sich hier auf der Erde etwas Ähnliches entwickelt hätte, wenn die Natur den großen Reptilien des Erdmittelalters eine Chance gegeben hätte. Daß dieses Wesen die menschliche Sprache benutzte, war das einzig Unglaubliche an der ganzen Sache. Aber schon als sie hereingekommen waren, hatte es diese Fähigkeit unter Beweis gestellt. »Was wollen Sie wissen?« hatte es gefragt. Die hornigen Kiefer hatten sich mahlend bewegt, und für einen Augenblick war eine breite gelbe Zunge sichtbar geworden. Es sprach mit einer rauhen fremdartigen Stimme. Ein paar Sekunden lang waren die Leute im Raum zu überrascht gewesen, um zu antworten, obwohl sie wußten, daß das Wesen die menschliche Sprache beherrschte. Nur zögernd hatte man dann die ersten Fragen gestellt. Der Professor blieb etwas zurück, stellte sich an die Wand und beobachtete. Eine Weile lang drangen die
Fragen und Antworten an sein Ohr, ohne daß er ihren Sinn verstand. Abrupt wurde er sich einer kalten, unbestimmten Furcht bewußt, die von dem fremden Wesen ausging und seine Gedanken wie in einem dichten Nebel erstickte. Er sagte sich, daß unter diesen Umständen Furcht zu empfinden verständlich war. Diese Erkenntnis ernüchterte ihn etwas. Aber das Gefühl der Unwirklichkeit blieb. Der Raum erschien ihm wie eine nur schwach beleuchtete Bühne, auf der der Käfig mit dem Fremden im Licht stand, während seine menschlichen Gegenspieler wie dunkle Schemen vor ihm hin und her huschten. So geht das nicht, ermahnte er sich selbst. Ich bin hier, um zu beobachten, um Schlüsse zu ziehen, um nachher berichten zu können. – Ich wurde ausgewählt, weil man in mir einen nüchternen Wissenschaftler sieht, der vernünftig denken und vernünftig handeln kann! Er wandte seine Aufmerksamkeit den Menschen zu, die vor dem Käfig standen. Den meisten war er erst vor ein paar Minuten vorgestellt worden. Ein junger Major des Geheimdienstes, der anscheinend die Untersuchung leitete; ein schläfrig blickender General; eine sehr hübsche Sekretärin, die der Major als seine Verlobte vorgestellt hatte. Dann noch ein paar andere Wissenschaftler, die zum größten Teil wie Geschäftsleute aussahen, während die zwei Regierungsvertreter wie ältere Professoren wirkten. Er lächelte fast. Sie waren typische Zeitgenossen, Menschen wie du und ich. Er wandte seine Aufmerksamkeit wieder dem einsamen Eindringling in diese Welt der Menschen zu. »Und warum sollte ich nichts dagegen haben?«
sagte gerade diese unmögliche Stimme mit einem nachsichtigen Unterton. »Sie haben mich hier eingesperrt wie – wie ein wildes Tier! Und Sie haben mir nicht einmal gesagt, warum Sie das taten. Welchen Verbrechens bin ich schuldig?« Das breite Maul schien zu grinsen, während das Ding seinen Kopf hin und her bewegte und sie mit seinen glänzenden schwarzen Augen musterte. Das Grinsen bedeutete nichts; es war die Art, wie die lippenlosen Kiefer aufeinanderlagen, wenn der Mund geschlossen war. Aber es unterstrich die Ironie, die der Professor aus der Stimme und den Worten herauslas. Die Stimme paßte einfach nicht zu diesem gedrungenen Tierkörper. Wieder packte ihn die Angst. Er fühlte, wie Schüttelfrost ihn überlief. Wenn es mich jetzt anblickt, so dachte er, werde ich laut schreien. Einer der Männer am Käfig sagte etwas mit leiser Stimme. Die Sekretärin blätterte eine Seite ihres Blokkes um und schrieb weiter. Sie hielt den Kopf ein wenig schief und war bleich, aber sie ließ sich durch nichts beirren. Einen Augenblick war er neidisch auf den Mut und die Selbstbeherrschung, die die anderen zeigten. Aber sie haben einfach kein Gefühl für die Situation, versuchte er sich selbst einzureden. Sie kennen die Natur und ihre Gesetze nicht. Sie fühlen einfach nicht, wie unmöglich das alles ist. Und dann wandten sich die schwarzen Augen ihm zu. Sein Hirn erstarrte in wortlosem Schrecken. Er bewegte sich nicht, aber er wußte, daß er nur darum
nicht ohnmächtig geworden war, weil er sich vor den anderen schämte. Er hörte, wie der Major mit scharfer Stimme etwas sagte, die Augen lösten sich von ihm, und er hatte es überstanden. »Sie wollen damit sagen«, sprach die Stimme des Wesens zu dem Major, »daß Sie mich zwingen können, Dinge zu enthüllen, die ich im Augenblick noch nicht enthüllen möchte. Sie täuschen sich jedoch. Ich darf Sie darauf aufmerksam machen, daß ein Körper wie der meine nicht auf irgendeine Ihrer Drogen oder Gifte reagiert.« »Er wird auf Schmerzen reagieren!« sagte der Major mit kalter Stimme. Diese Worte überraschten ihn, und dem Professor wurde zum ersten Male bewußt, daß er nicht der einzige war, in dem die Gegenwart des Wesens primitive irrationale Gefühle hervorgerufen hatte. Die anderen Männer hatten sich bei der Drohung des Majors unruhig bewegt, aber nicht protestiert. Einen Augenblick lang starrte das Wesen den Major schweigend an. »Dieser Körper«, sagte es dann langsam, »wird nur auf Schmerzen reagieren, wenn ich will, daß er Schmerzen fühlt. Einige von Ihnen kennen die Wirksamkeit eines hypnotischen Blocks gegenüber Schmerzen. Meine Methoden umschließen zwar nicht die Selbsthypnose, sind aber noch viel wirksamer. Ich wiederhole deshalb, für mich gibt es keine Schmerzen, es sei denn ich möchte sie freiwillig erleiden.« »Aber können Sie der langsamen Zerstörung Ihres Körpers zusehen?« fragte der Major schrill. Die Sekretärin blickte kurz auf, aber der Professor konnte ihren Gesichtsausdruck nicht erkennen. Nie-
mand sonst bewegte sich. Das Wesen starrte den Major noch immer an, sagte aber nichts. »Und fürchten Sie sich nicht vor dem Tod?« Die Stimme des Majors überschlug sich fast. Sein Gesicht glühte vor Erregung. Mit plötzlichem Scharfblick verstand der Professor, warum sich niemand in das Gespräch einmischte. Auf seine Weise hatte jeder gefühlt, was auch er fühlte. Hier war etwas so unerhört Fremdes und Neues, daß keine noch so große Erfahrung, daß kein Ansehen und kein Rang einem Menschen sagen konnte, wie er sich hier verhalten sollte. Der Major versuchte, einen Weg zu finden – auch wenn es der falsche war. Aber weil die anderen auch nicht weiter wußten, waren sie für den Augenblick unfähig oder nicht bereit, selbst einzugreifen. Mit langsamer und ruhiger Stimme sagte das Wesen: »Der Tod ist etwas, das ich durch Ihre Hand nie erleiden werde. Ich warne Sie. Ich werde auf keine Ihrer Drohungen mehr eingehen. Ich werde keine Ihrer Fragen mehr beantworten. Ich will Ihnen jedoch sagen, was ich jetzt tun werde. Ich werde meine Begleiter informieren, daß Sie so sind, wie wir Sie eingeschätzt haben – dumm, beschränkt, unfähig, dem Geringsten von uns etwas anzuhaben. Ihre Welt und Ihre Zivilisation sind für uns nur von sehr begrenztem Interesse. Aber sie ist eine neue Welt, und viele von uns werden sie mit eigenen Augen sehen wollen. Wir werden kommen und gehen, wie es uns paßt. Und wenn Sie noch einmal versuchen, einen von uns aufzuhalten, werden Sie es bereuen.«
»So? Werden wir das?« schrie der Major zitternd vor Erregung. »Werden wir das wirklich?« Der Professor fuhr zusammen, als er die Schüsse aufpeitschen hörte. Dann sah er einen unentwirrbaren Menschenknäuel und hörte die Stimme eines Mannes schreien: »Sie Narr! Sie verdammter Narr!« Die Sekretärin hatte ihren Stenoblock fallenlassen und die Hände vor das Gesicht geschlagen. Einen Augenblick lang hörte der Professor sie weinen: »Jack! Jack! Nicht –« Er starrte auf das Wesen, das auf dem Rücken im Käfig lag. Die Schädeldecke war aufgeplatzt, und eine dunkle Flüssigkeit breitete sich langsam auf dem Boden aus. Irgendwie fühlte er eine unvernünftige Befriedigung, ein warmes Gefühl des Stolzes auf die Tat des Majors. Es war, als hätte er dieses Ding selbst umgebracht. In diesem Augenblick war er glücklich. Weil er weit hinten im Raum stand, sah er als erster, was dann geschah. Einer der Regierungsvertreter und zwei Wissenschaftler betragen aufgeregt den Käfig und starrten herunter auf das tote Wesen. Die anderen standen um den Stuhl herum, auf den sie den Major niedergedrückt hatten. Die Sekretärin stand auf und begann, sich auszuziehen. Sie tat das schnell und mit überraschender Selbstverständlichkeit. In diesem Augenblick, dachte der Professor, während er sie mit vor Schrecken aufgerissenen Augen anstarrte, schien der Wahnsinn seinen Höhepunkt erreicht zu haben. Inbrünstig wünschte
er, sich für immer in dieses Gefühl des Wahnsinns einhüllen zu können, wie in einen schützenden Mantel gegen die Schrecken der Wirklichkeit. Es war schrecklich, vernünftig zu sein, sein zu müssen! Zur gleichen Zeit fragte er sich, wie wohl die anderen reagieren würden, wenn sie erfuhren, was er schon wußte. Das Stimmengewirr der Gruppe um den Major hörte plötzlich auf. Die drei Männer im Käfig drehten sich erschrocken um. Das Mädchen streckte sich und lächelte sie an. Der Major begann, ununterbrochen ihren Namen zu schreien. Er verstummte plötzlich, als hätte ihm jemand die Hand vor den Mund gepreßt. »Ich habe Sie gewarnt«, hörte der Professor das Mädchen sagen. »Für uns gibt es keinen Tod.« Jemand schrie ihr irgend etwas zu, eine verzweifelte Frage. Schreckerstarrt und mit hämmernden Pulsen, die ihm im Ohr dröhnten, konnte der Professor die Frage nicht verstehen. Aber er verstand die Antwort. »Natürlich hätte es jeder von Ihnen sein können«, sagte sie mit klarer Stimme. »Aber mir gefiel nun einmal dieser Körper.« Durch das Schweigen peitschte ein neuer Schuß. Der Professor stellte das Radio ab. Eine Zeitlang starrte er wortlos aus dem Fenster. »Nun, jetzt wissen es alle. Die Welt weiß es. Ob sie es glauben oder nicht – jedenfalls ...« Er beendete den Satz nicht. Im Zimmer war es dunkel geworden. Einen Augenblick lang dachte er daran, das Licht ein-
zuschalten, aber dann ließ er es sein. Die Dämmerung versprach ein Gefühl der Sicherheit. Er schaute hinüber zu dem bleichen Oval des Gesichtes seiner Frau. »Es wird nicht so schlimm werden«, erklärte er, »wenn nicht zuviele von ihnen kommen. Natürlich wissen wir nicht, wie viele es überhaupt sind. Milliarden vielleicht. Aber wenn keiner von uns einen Streit anfängt – die Fremden wollen keinen Streit.« Er schwieg einen Augenblick. Der Tod des jungen Majors war in den Nachrichten nicht erwähnt worden. In Anbetracht der Lage war das auch nicht wichtig, und sein Tod würde offiziell als Selbstmord bekanntgegeben werden. In Wirklichkeit hatte der Major seinem Nebenmann die Pistole entreißen können. Ein dritter Mann hatte ihn prompt erschossen, ohne abzuwarten, was er vielleicht damit beabsichtigen könnte. Um jeden Preis würde jetzt jeder Mensch versuchen müssen, einen jeglichen Streit mit den Besuchern aus dem Weltraum zu vermeiden. Er fühlte, wie sich sein Gesicht plötzlich verzog. Ein schrecklicher Gedanke war ihm gekommen. »Natürlich können wir nie sicher sein«, sagte er in das Schweigen im Zimmer, »ob ihnen nicht einmal unsere Körper besser gefallen werden als ihre eigenen.«
Originaltitel: WE DON'T WANT ANY TROUBLE
Damon Knight HOFFNUNG DER MENSCHHEIT Georg Meister hatte früher einmal Gelegenheit gehabt, das Nervensystem eines Menschen zu betrachten – ein Schaustück in einem Museum, das hergestellt worden war, indem man die winzigen, kaum sichtbaren Nervenfasern künstlich verdickt hatte, bis sie mit bloßem Auge unterschieden werden konnten und indem man dann alles unerwünschte überflüssige Gewebe auf chemischem Wege aufgelöst und es durch einen durchsichtigen Kunststoff ersetzt hatte. Eine bewundernswerte Leistung, die dieser Bursche auf Torkas III vollbracht hatte. Wie hieß er doch gleich? ... Aber das war unwichtig. Jedenfalls hatte Meister es gesehen, und er konnte sich deshalb ganz gut vorstellen, wie er selbst im Moment wohl aussah. Selbstverständlich gab es einige Abweichungen, Verzerrungen. So war er sich, zum Beispiel, nahezu sicher, daß die Entfernung zwischen seinem Sehzentrum und seinen Augen momentan mindestens dreißig Zentimeter betrug. Außerdem – auch darüber gab es keinen Zweifel – hatte sich das System als Ganzes an seinen Enden aufgerollt und seltsam verschoben, weil schließlich die Muskulatur, die es vorher zusammengehalten hatte, nicht mehr vorhanden war. Er hatte auch noch gewisse andere Veränderungen feststellen können, deren Ursache möglicherweise in grundlegenden strukturellen Unterschieden zu suchen war. Die eine Tatsache jedoch blieb unbestreitbar, nämlich daß er – das hieß, alles, was von ihm
noch übrig war und das er noch als Georg Meister bezeichnen konnte – aus nichts weiter mehr bestand als einem Gehirn, einem Paar Augen, einem Rückenmark und einem Schauer von Neuronen. Georg schloß einen Augenblick die Augen. Das war ein Kunststück, das er gerade erst gelernt hatte, und er war sehr stolz darauf. Jener erste längere Zeitabschnitt, während er auch nicht die geringste Kontrolle über die spärlichen Überreste seines Körpers besessen hatte, war ziemlich schlimm gewesen. Er hatte es sich später so erklärt, daß die völlige Lähmung vermutlich den Nachwirkungen eines Betäubungsmittels zuzuschreiben war – eines Betäubungsmittels, das ihm sein Bewußtsein geraubt hatte, während sein Körper ... Nun ja. Entweder das, oder die einzelnen Teile seines Nervensystems hatten sich noch nicht an ihre neue Lage gewöhnt. Die Zukunft würde vielleicht die Bestätigung für die eine oder andere Annahme bringen. Anfangs jedenfalls, als er nur sehen, sich aber nicht bewegen konnte und auch keine Ahnung hatte, was mit ihm passiert war, nachdem er kopfüber in jene grünbraun gefleckte gallertartige Masse gefallen war – es war ein sehr verwirrendes Erlebnis gewesen –, hatte er die widerstreitendsten Gefühle gehabt. Wie würden die anderen es wohl aufnehmen? Er wußte, daß es außer ihm noch andere gab, denn ab und zu durchzuckte ein stechender Schmerz die Stelle, wo sich früher einmal seine Beine befunden hatten, und im gleichen Augenblick kam die träge Bewegung der Landschaft um ihn herum mit einem Ruck zum Stillstand. Das konnte nur ein zweites Ge-
hirn sein, das wie das seine hier gefangen lag und den Versuch unternahm, ihren gemeinsamen Körper in einer anderen Richtung fortzubewegen. Gewöhnlich verklang der Schmerz so schnell wie er gekommen war, und Georg konnte fortfahren, Gedankenbefehle zu den Nervenenden hinunterzuschicken, die früher einmal Teil seiner Finger und Zehen gewesen waren; und der wabbelige formlose Körper machte sich dann von neuem auf seinen mühsamen Weg. Wenn der Schmerz jedoch anhielt, dann blieb ihm nichts anderes übrig, als stillzuhalten, bis das andere Hirn seine Bemühungen wieder einstellte – wobei sich Georg wie ein unfreiwilliger Passagier eines sehr langsamen Fahrzeugs vorkam – oder zu versuchen, die eigene Bewegungsrichtung mit der des anderen Hirns abzustimmen. Er hätte gern gewußt, wer noch mit hineingefallen war. Vivian Bellis? Major Gumbs? Miss McCarty? Vielleicht alle drei zusammen? Es mußte doch eine Möglichkeit geben, das festzustellen. Er machte die Augen wieder auf und versuchte erneut, sich umzuschauen. Diesmal wurden seine Bemühungen mit dem verschwommenen Bild eines langgestreckten, grün und braun gefleckten Streifens belohnt, der sich schwerfällig durch das trockene Flußbett bewegte, das sie nun schon seit ein oder zwei Stunden überquerten. Zweige, altes Laub und andere Pflanzenreste klebten auf seiner staubigen, halb durchsichtigen Oberfläche. Er machte Fortschritte. Das letztemal hatte er nur einen verschwindend kleinen Ausschnitt seines neuen Körpers erkennen können. Als er wieder aufschaute, war die gegenüberlie-
gende Seite des Flußbettes schon merkbar nähergerückt. Weiter vor ihm wucherte ein dichtes Büschel steifer, dunkelbrauner Pflanzenschößlinge. Georg steuerte darauf zu. Das schien die gleiche Pflanze zu sein wie die, nach der er gelangt hatte, als er sein Gleichgewicht verlor und gestürzt war. Warum nicht die Gelegenheit wahrnehmen und sie aus der Nähe betrachten? Es würde vermutlich nichts besonderes sein. Vernünftigerweise konnte man nicht erwarten, daß eine jede neue Lebensform eines fremden Planeten sich als interessante Novität herausstellte, und Georg Meister war davon überzeugt, daß er den erstaunlichsten Organismus, den dieser Planet zu bieten hatte, schon gefunden hatte. Irgend etwas meisterii, dachte er. Natürlich nach ihm benannt. Er hatte noch keinen Gattungsnamen dafür – bevor er sich für einen entscheiden konnte, müßte er noch viel mehr darüber in Erfahrung bringen – aber meisterii ganz gewiß. Es war seine Entdeckung, und niemand würde sie ihm entreißen können. Beziehungsweise – und das war das Dumme an der Sache – ihn ihr. Nun, nicht zu ändern. Es war ein wirklich prächtiger Organismus. Primitiv zwar – strukturmäßig noch einfacher aufgebaut als eine Qualle –, und nur auf einem Planeten mit geringer Schwerkraft wie diesem hier war es möglich gewesen, daß es überhaupt dem Meer hatte entsteigen können. Kein Gehirn offenbar, nicht einmal der kleinste Ansatz eines Nervensystems. Und doch ausgerüstet mit dem vollkommenen Mechanismus zum Überleben. Es ließ einfach seine Rivalen hochorganisierte Nervensysteme entwickeln, wartete irgendwo geduldig – wobei es sich als harmloser Laubhaufen
tarnte –, bis einer davon hineinfiel, und zog dann den ganzen Nutzen daraus. Trotzdem – es war kein Parasitentum. Es war eine echte Symbiose, und zwar auf einer höheren Ebene als jeder andere Planet soweit Georg das sagen konnte, sie je entwickelt hatte. Das eingefangene Gehirn wurde von dem Fänger ernährt, dafür mußte der Gefangene den Fänger zu Nahrungsquellen hinführen und aus Gefahrenzonen heraus. Du steuerst mich, ich ernähre dich. Ein faires Abkommen. Sie waren inzwischen an dem Pflanzenbüschel angelangt, berührten es fast. Georg musterte es prüfend. Wie er vermutet hatte, war es nichts anderes als eine gewöhnliche Abart von Gras. Sein Körper neigte sich schräg nach oben, um einen kleinen Hügel zu überwinden, von dem Georg zwar wußte, daß er nicht hoch sein konnte, der aber aus seiner Froschperspektive einfach unüberwindlich erschien. Mühsam klomm er hinauf. Oben blickte er in ein neues Tal, das vor ihm lag. Nichts sprach dagegen, daß das endlos weitergehen konnte. Die Frage war nur die – hatte er eine andere Wahl? Er betrachtete die Schatten, die die tiefstehende Sonne warf. Er bewegte sich ungefähr in nordwestlicher Richtung – genau vom Lager weg, das allerdings immer noch kaum wenige hundert Meter hinter ihm lag. Selbst bei seinem jetzigen Schneckentempo stellte diese Strecke kein Problem dar. Wenn er umkehren würde ... Der Gedanke bereitete ihm Unbehagen, und er konnte zuerst nicht sagen, warum: Dann fiel ihm ein, daß seine augenblickliche Erscheinung nicht ganz der eines Menschen in Not glich. Viel eher wirkte er wie
ein Monster, das gerade ein oder zwei Menschen verschlungen und schon halb verdaut hatte. Falls er in seinem jetzigen Zustand das Lager betreten würde, konnte er mit Gewißheit mit ein paar Kugeln zu seiner Begrüßung rechnen, und die Wahrscheinlichkeit, daß diese Kugeln statt aus einer Maschinen- aus einer Gaspistole kämen, war so gering, daß er sie völlig vernachlässigen konnte. Nein, sagte er sich, er befand sich schon auf dem richtigen Weg. Am klügsten war es, sich vom Lager so weit wie möglich zu entfernen, damit ihn der Suchtrupp, der vermutlich schon in diesem Augenblick das Gelände nach ihm durchkämmte, nicht aufstöbern konnte. Er mußte flüchten, sich irgendwo in den Wäldern verborgen halten und inzwischen seinen neuen Körper gründlich studieren. Er mußte unbedingt herauszufinden versuchen, wie dieser funktionierte und was er alles mit ihm anstellen konnte; außerdem, ob tatsächlich sich noch andere Menschen mit ihm zusammen darin aufhielten; und wenn ja, ob es eine Möglichkeit gab, sich mit diesen in Verbindung zu setzen. Es würde nicht leicht sein und eine Menge Zeit in Anspruch nehmen, darüber war er sich klar. Langsam – wie ein zäher Breiklumpen, der über eine Tischkante quillt – begann Georg in die nächste Vertiefung des Flußbettes hinabzufließen. Die Umstände, die zu Georg Meisters Sturz in das Irgend etwas meisterii geführt hatten, waren – kurz geschildert – folgende: Es gab vor Zeiten einmal ein Spiel, das die alten Ja-
paner erfunden hatten und das von Millionen Bewohnern der östlichen Hemisphäre noch bis zu einem so späten Zeitpunkt wie der Mitte des einundzwanzigsten Jahrhunderts gespielt wurde. Dieses Spiel hieß Go. Obgleich seine Regeln kinderleicht waren, kannte seine Strategie doch mehr Permutationen und war schwieriger als Schach. Auf dem Höhepunkt seiner Entwicklung – das war kurz vor der geologischen Katastrophe, der die meisten seiner Anhänger zum Opfer fielen – wurde Go auf einem Brett mit 961 Schnittpunkten – kleinen flachen Löchern – gespielt, und mit kleinen pillenförmigen Steinen. Jeder der beiden Spieler durfte abwechselnd einen dieser Steine auf das Brett setzen – mit dem Ziel im Auge, soviel Territorium wie möglich zu erobern, indem er es mit seinen Figuren völlig einkreiste. Andere Regeln gab es nicht; und doch hatten die Japaner fast tausend Jahre gebraucht, bis sie jenes Brett mit seinen einunddreißig mal einunddreißig Feldern entwickelt hatten, wobei sie vielleicht in jedem Jahrhundert dem ursprünglichen Brett eine neue Reihe hinzugefügt hatten. Und hundert Jahre waren wirklich nicht zu lang, um all die Möglichkeiten zu erforschen und auszuschöpfen, die eine zusätzliche Reihe bot. Zu dem Zeitpunkt, als Georg Meister in jenes gallertartige, grünbraun gefleckte Monster fiel – gegen Ende des dreiundzwanzigsten Jahrhunderts also – spielte die gesamte Menschheit eine neue Art von Go auf einem dreidimensionalen Feld, das mehr als zehn Milliarden Positionen enthielt. Das Brett war die Milchstraße, Sonnensysteme die Positionen und Men-
schen die Steine. Die Strafe, die den Verlierer traf, war Vernichtung bis zum letzten Mann. Die Galaxis befand sich in dem Prozeß der Kolonisation durch zwei gegnerische Förderationen – beide mit den lobenswertesten Absichten und höchsten Prinzipien. In den Anfangsstadien des Konflikts waren Planeten überfallen und Bomben geworfen worden, und es war sogar zu Raumschlachten gekommen. Neue Erfindungen hatten später dann diese ziemlich wahllose Art der Kriegführung unmöglich gemacht. Roboterkampfschiffe, die genug schwere Bestückung trugen, um sich gegenseitig in Atome zu zerblasen, wurden zu Trillionen produziert. In den Raumsektoren um die äußeren Sterne eines Haufens, der zu der einen oder anderen Seite gehörte, schwärmten sie umher wie Mücken im Sommer. Innerhalb einer solchen Barriere waren die Planeten sicher vor einem Angriff und vor irgendwelcher Beeinträchtigung ihres Handels – es sei denn, dem Gegner gelang es, genug der umliegenden Sternensysteme zu besetzen, um einen zweiten Gürtel außerhalb des ersten zu errichten und aufrechtzuerhalten. Es war Go, doch der Einsatz war unermeßlich hoch, und die Bedingungen, unter denen der Kampf stattfand, fast unmöglich. Jedermann war in Eile. Jedermanns Vorfahre seit sieben Generationen war in Eile gewesen. Die Zeit war ein wichtiger Faktor in diesem Spiel. Schulbildung und berufliche Kenntnisse wurden den Kindern in beschleunigter und verdichteter Form vermittelt. Jedermann heiratete früh und zeugte wiederum Kinder so schnell und so viele wie nur möglich. Und wer einer ökologischen Vorhut zugeteilt wurde, wie bei-
spielsweise Georg Meister, mußte sich ohne die nötigen Vorbereitungen an die Arbeit machen. Der vernünftigste, der augenfälligste Weg bei der Erschließung eines neuen Planeten mit unbekannten Lebensformen wären zweifellos zehn Jahre intensivsten Studiums aller dieser Lebensformen von innerhalb einer hermetisch abgeschlossenen Station heraus gewesen. Nachdem man dann Mittel gegen die gefährlichsten Bakterien und Viren dieser neuen Welt gefunden hatte, konnte man sich vorsichtig in die nähere Umgebung hinauswagen und dort mit seinen Forschungen beginnen. Schließlich – gesamte inzwischen verstrichene Zeit vielleicht fünfzig Jahre – konnte man die ersten Kolonisten empfangen. Aber soviel Zeit stand einfach nicht zur Verfügung. Fünf Stunden nach der Landung hatte Meisters Gruppe die Fertighäuserteile ausgeladen und sich an die Errichtung der Baracken gemacht, in denen die 2628 Mitglieder der Expedition untergebracht werden sollten. Eine Stunde später waren Meister, Gumbs, Bellis und McCarty aufgebrochen, um über den noch schwelenden Aschestreifen, den die Rückstoßgase des Transporters zurückgelassen hatten, die nächste intakte Vegetationsinsel zu erreichen – ungefähr sechshundert Meter vom Lager entfernt. Sie hatten den Auftrag, die nähere Umgebung des Lagers – vielleicht in einem Umkreis von einem Kilometer – provisorisch zu erforschen und dann mit all dem, was sie inzwischen unterwegs an interessanten und transportablen Dingen gefunden hatten, zurückzukehren – vorausgesetzt, daß nichts, was größer und hungriger war, als von einer Maschinenpistole davon
abgehalten zu werden, sie gefressen hätte. Meister, der Biologe, war so mit Botanisiertrommeln und Kisten und Kästen für Proben beladen, daß seine schlanke Gestalt fast darunter verschwand. Major Gumbs trug eine Rettungsausrüstung mit eisernen Rationen, ein Fernglas und die Maschinenpistole. Vivian Bellis, die gerade soviel mineralogische Kenntnisse besaß, wie man ihr in dem für ihre Klassifikation vorgeschriebenen dreimonatigen Kurs beigebracht hatte, schleppte ein leichtes Schnellfeuergewehr, einen Hammer und einen Sack für die Gesteinsproben. Miss McCarty – kein Mensch wußte ihren Vornamen – hatte keine besondere wissenschaftliche Funktion. Sie war der Sicherheitsoffizier der kleinen Gruppe. Sie war ausgerüstet mit zwei Pistolen und einem Gurt, der mit Patronen gespickt war. Ihr Aufgabenbereich beschränkte sich ausschließlich darauf, ein jedes Mitglied der Gruppe ohne Zögern ins Jenseits zu befördern, das sie dabei ertappte, wie es sich eventuell mit einem Geheimsender zu schaffen machte oder sich sonstwie verdächtig aufführte. Jeder von ihnen trug Handschuhe und Stiefel, und ihre Köpfe steckten unter kugelförmigen Glashelmen, die mit dem Kragen ihrer Uniform hermetisch versiegelt waren. An die Helme waren Atemgeräte angeschlossen, die ein solch feines Filter besaßen, daß – jedenfalls in der Theorie – nichts hindurchgelangen konnte, was größer war als ein Sauerstoffmolekül. Ihr Weg führte sie in einer immer größer werdenden Spirale um das Lager herum, und auf ihrer zweiten Umrundung waren sie jetzt auf einer kleinen, niedrigen Anhöhe angelangt, hinter der eine Reihe kurzer steilabfallender Bachbetten lag, von denen die
meisten unter dem Gewirr staubbrauner verdorrter Pflanzenstengel erstickten. Als sie sich anschickten, in eines dieser Bachbetten hinabzusteigen, trat Georg, der als dritter ging – Gumbs führte, dann kam Bellis, und McCarty machte den Schluß – auf eine Steinplatte, um ein Büschel Pflanzen näher in Augenschein zu nehmen, das an deren äußerem Ende hervorsproß. Sein Gewicht betrug auf diesem Planeten kaum mehr als zwanzig Kilogramm, und die Platte sah so aus, als ob sie dieses Gewicht leicht tragen könnte. Sie schien in der Wand des Bachbettes fest verankert zu sein. Dennoch spürte er, wie sie unter ihm nachgab, nachdem er ganz auf sie hinausgetreten war. Sie neigte sich nach vorn, und er stürzte, schrie auf und erhaschte gerade noch einen flüchtigen Blick auf Gumbs und Bellis, die so starr dastanden, als hätte eine Hochgeschwindigkeitskamera sie zur Bewegungslosigkeit verdammt. Steine prasselten hinter ihm, während er an ihnen vorbeistürzte. Dann erblickte er, was wie ein schäbiges Polster aus altem Laub und Reisig aussah, und konnte sich noch erinnern, gedacht zu haben: Sieht Gott sei Dank aus wie ein weicher Fall ... Das war alles – bis er wieder zu sich kam mit dem Gefühl, als hätte man ihn etwas zu voreilig begraben, weil sein Körper zwar tot war, seine Augen aber noch lebten. Viel später dann waren seine verzweifelten Versuche, sich zu bewegen, teilweise von Erfolg gekrönt worden. Von da an hatte sich sein Gesichtsfeld stetig erweitert, vielleicht um einen Meter alle fünfzig Minuten – die Zeiten allerdings nicht mitgerechnet, in denen die Bemühungen eines anderen Bewußtseins
mit den seinen kollidiert waren. Seine Überzeugung, daß nichts von dem alten Georg Meister übriggeblieben war außer dem Nervensystem, ermangelte zwar noch einer Bestätigung, da es keine Möglichkeit für ihn gab, sich durch den Augenschein davon zu überzeugen. Sie war trotzdem bedauerlich stark. Die eine Tatsache, die dafür sprach, war die, daß die Lähmungserscheinungen der ersten Stunden inzwischen vollkommen gewichen waren, sein Körper jedoch dessenungeachtet immer noch nicht die Lage seines Rumpfes und der vier Gliedmaßen, die er vorher sein eigen genannt hatte, an sein Gehirn meldete. Er hatte statt dessen den undeutlichen Eindruck, flachgedrückt und über ein weites Gebiet ausgestreckt zu sein. Als er versuchte, seine Finger und Zehen zu bewegen, verspürte er an so vielen Stellen eine Reaktion, daß er sich wie ein Tausendfüßler vorkam. Auf der anderen Seite fehlte das schmerzhafte Gefühl verkrampfter Muskeln, das man normalerweise nach einer längeren Lähmungsperiode erwarten konnte, vollkommen, und noch eines – er atmete nicht. Er atmete nicht, und doch wurde sein Gehirn anscheinend mit Sauerstoff und Nahrung reichlich versorgt; er fühlte sich frisch, sein Kopf war klar, und er war völlig ruhig. Er war auch nicht hungrig, obwohl er doch nun schon über einen längeren Zeitraum hinweg ununterbrochen Energie verbraucht hatte. Es kamen, so dachte er, dafür zwei mögliche Erklärungen in Frage – je nachdem, von welcher Seite man die Sache betrachtete. Die erste war die, daß er keinen Hunger verspürte, weil er keine Magenwände mehr besaß,
die sich zusammenziehen konnten; die zweite, daß er aus dem Grunde nicht hungrig war, weil der Organismus, in dem er sich befand, nicht hungrig war. Und das wiederum konnte dadurch erklärt werden, daß jener vermutlich überreichlich mit Nahrung versorgt worden war durch das überflüssig gewordene Gewebe von Georgs Körper. Zwei Stunden später, als die Sonne sich anschickte unterzugehen, begann es zu regnen. Georg schaute den großen dicken Tropfen zu, die langsam herunterfielen, und spürte den dumpfen Aufschlag auf seiner »Haut«. Er konnte nicht sagen, ob Regen für ihn abträglich war, doch für alle Fälle verkroch er sich unter einen Busch mit breiten, am Rande ausgefransten Blättern. Als der Regen endlich aufhörte, war es inzwischen Nacht geworden, und er kam zu dem Entschluß, er könne genauso gut hier an dieser geschützten Stelle den Morgen abwarten. Er fühlte sich nicht im mindesten müde, und plötzlich kam ihm der Gedanke, ob er in seinem neuen Körper überhaupt noch des Schlafs bedurfte. Er machte es sich, so gut er konnte, unter seinem Busch bequem, um auf die Antwort zu warten. Eine lange Zeit verging, und er war immer noch hellwach – aber er hatte sich noch nicht entschließen können, ob diese Tatsache nun seine Frage beantwortete oder vielmehr die Antwort verhinderte –, als er in der Ferne zwei schwachglühende Lichter entdeckte, die langsam und auf Umwegen auf ihn zuzukommen schienen. Georg verfolgte ihren Weg mit einer Aufmerksamkeit, die zu gleichen Teilen ihre Ursache in beruflicher Neugierde und in Furcht vor dem Unbekannten hat-
te. Allmählich, während sie langsam näherkamen, konnte er unterscheiden, daß sie auf langen dünnen Stielen saßen, die aus einer massigen, schemenhaften schwarzen Form weiter unten herauszuwachsen schienen – es waren entweder Leuchtorgane, wie die eines Tiefseefisches, oder phosphoreszierende Stielaugen. Georg verspürte eine gewisse nervöse Spannung, was darauf hinzudeuten schien, daß offensichtlich Adrenalin oder ein Äquivalent an irgendeiner Stelle seines neuen Körpers ausgesondert wurde. Er versprach sich selbst, diesen Hinweis bei der nächst besten Gelegenheit weiterzuverfolgen; inzwischen gab es jedoch ein drängenderes Problem, das seine Aufmerksamkeit verlangte. War dieser sich nähernde Organismus von der Art, die dem Irgend etwas meisterii als Nahrung diente, oder umgekehrt von der Art, die das Irgend etwas meisterii fressen wollte? Wenn das letztere zutraf, was konnte er dagegen tun? Für den Augenblick war es wohl das beste, einfach stillzuliegen und sich nicht zu rühren. Der Organismus, der ihm jetzt als Körper diente, nahm in seinem normalen unbewohnten Zustand zur Tarnung Zuflucht und war außerdem für eine schnelle Fortbewegung nicht geeignet. Deshalb blieb Georg ruhig liegen und verfolgte nur mit halbgeschlossenen Augen die Bewegungen jenes nächtlichen Eindringlings, wobei er über dessen mögliche Natur einige Betrachtungen anstellte. Die Tatsache, daß es augenscheinlich ein Nachttier war, besagte nicht viel. Viele Arten von Lebewesen verschliefen den Tag und wurden erst in der Nacht munter. Motten waren Nachttiere; Fledermäuse eben-
falls – nein, zur Hölle mit Fledermäusen – das waren Fleischfresser. Das lichtertragende Geschöpf war jetzt ganz nahe, und Georg bemerkte unter den zwei Stielen das schwache Schimmern eines Paars langer, geschlitzter Augen. Dann machte die Bestie ihr Maul auf. Es zeigte eine erschreckende Zahl von Zähnen. Das nächste, was Georg wußte, war, daß er in einer Art Felsspalte saß, ohne sich jedoch allzugenau ins Gedächtnis zurückrufen zu können, auf welche Art und Weise er dorthin gelangt war. Undeutlich erinnerte er sich wildpeitschender Zweige, als die Bestie ihn ansprang, eines nur Sekunden dauernden stechenden Schmerzes, und dann nichts mehr als gelegentlicher verschwommener Blikke auf vorüberhuschendes Laubwerk im Sternenlicht. Wie war er entkommen? Er rätselte an dieser Frage herum, bis der Morgen heraufdämmerte, und dann, während er an seinem Körper herunterblickte, bemerkte er etwas, was vorher noch nicht dagewesen war. Unter dem Rand des Gallertkuchens hervor, der seinen jetzigen Körper darstellte, ragten drei oder vier Vorsprünge. Plötzlich fiel ihm auch auf, daß seine Tastempfindungen differenzierter geworden waren. Er schien jetzt auf einer Anzahl kleiner Erhebungen zu stehen, statt wie früher mit dem gesamten Körper flach auf dem Boden zu ruhen. Versuchsweise begann er, einen der Vorsprünge zu bewegen. Es gelang ihm, ihn ganz auszustrecken, und jetzt konnte er ihn deutlich sehen. Es war die unförmige Karikatur eines Fingers oder eines Beines.
Eine lange Zeit lag er regungslos da und dachte über dieses verblüffende Phänomen nach. Dann wakkelte er noch einmal mit seinen neuen Gliedmaßen. Es war kein Traum. Sie waren da – so solide und körperlich wie der Rest seines Körpers. Er versuchte, sich ein Stückchen vorwärts zu bewegen, wobei er die gleichen Gedankenbefehle an seine Finger und Zehen schickte wie schon früher. Der Erfolg war überraschend. Er ruckte mit einer solchen Behendigkeit aus dem Spalt, daß er fast über dessen Kante die kleine Klippe hinuntergestürzt wäre. Hatte er sich vorher nur im Schneckentempo bewegen können, so eilte er jetzt so schnell und hurtig dahin wie ein Insekt. Aber wie war es dazu gekommen? Es bestand kein Zweifel – in seiner Todesangst vor der Bestie mit dem zähnefletschenden Maul hatte er ganz unbewußt zu flüchten versucht, so als hätte er immer noch seine Beine besessen. Und plötzlich waren ihm welche gewachsen. War das das ganze Geheimnis? Georg dachte an die Bestie und an die Stiele mit den Leuchtorganen, die er zuerst irrtümlich für deren Augen gehalten hatte. Das würde für ein Experiment genügen. Er schloß seine Augen und stellte sich intensiv vor, wie sie nach oben wuchsen, stellte sich bewegliche Stiele vor, die länger und länger wurden ... versuchte sich einzureden, daß er Augen dieser Art besaß, sie immer schon besessen hatte; daß jedermann, der in der Welt etwas darstellte, Augen auf Stielen hatte. Zweifellos rührte sich etwas in seinem Körper. Nach einer Weile öffnete er seine Augen. Sein Blick
fiel geradewegs auf den Erdboden, doch seine Augen mußten sich ihm so nahe befinden, daß er das Bild nur verschwommen sah, daß er es auch nicht schärfer einstellen konnte. Ärgerlich versuchte er nach oben zu schauen, aber alles, was geschah war, daß sein Gesichtsfeld sich um zehn oder zwölf Zentimeter nach vorn verlagerte. Es war genau in diesem Augenblick, daß eine seltsame Stimme die Stille durchbrach, in der er sich bis jetzt befunden hatte. Es klang so, als ob ihr Eigentümer durch einen halben Meter Schweinefett zu rufen versuchte. »Örggchch! Lluhh! Eeräaggch!« Georg zuckte zu Tode erschrocken zusammen und blickte hastig um sich. Seine Augen vollführten fast eine Drehung von zweihundertundvierzig Grad, aber es gab nichts zu sehen außer moosbewachsenen Felsen und hier und da einen Busch. An einer Stelle bemerkte er eine kleine grün- und orangefarbene Raupe oder Larve, die eilig eine freie Stelle zwischen der Vegetation überquerte. Georg betrachtete sie einen langen Augenblick voller Argwohn, bis die Stimme wieder hervorbrach. »Iillff! Iiillfffe!« Die Stimme, diesmal in einer etwas höheren Tonlage, kam von hinten. Georg blickte hinter sich. Hinter sich in einem unmöglichen Winkel! Seine Augen saßen wirklich auf Stielen, und sie waren völlig beweglich, während sie doch noch vor einem kurzen Augenblick schlaff auf dem Boden gelegen hatten! Georg schwirrte der Kopf. Er hatte es tatsächlich fertiggebracht, für seine Augen Stiele wachsen zu lassen, aber es waren unvollkommene Stiele gewesen,
einfach nur Verlängerungen der gallertartigen Masse seines Körpers, ohne versteifende Zellen oder die nötige Muskulatur, um sie bewegen zu können. Dann, als die Stimme ihn überrascht hatte, hatte er die Zellen und Muskeln in aller Eile nachgeliefert bekommen. Dasselbe mußte auch in der vergangenen Nacht passiert sein. Wahrscheinlich wäre der Wachstumsprozeß auch so zu einem Abschluß gekommen, aber viel langsamer – wenn er nicht plötzlich erschrocken wäre. Ein Schutzmechanismus offenbar. Was die Stimme betraf ... Georg ließ seine Augen noch einmal die Runde machen, sehr langsam und gründlich diesmal. Es stand außer Frage – er war allein auf weiter Flur. Die Stimme, die von jemand oder etwas hinter ihm gekommen zu sein schien, mußte tatsächlich ihren Ursprung in seinem eigenen Körper haben. Sie begann wieder zu sprechen, jetzt nicht mehr ganz so außer sich. Sie murmelte ein paar unverständliche Worte und sagte dann überraschend deutlich: »Was ist passiert? Wo bin ich?« Georg war völlig perplex. Die immer neuen Überraschungen, bevor er noch die alten verarbeitet hatte, waren fast zuviel für ihn. Seine Fähigkeit, sich neuen, unerwarteten Umständen anzupassen, war nahezu erschöpft, und als sich ein großer dunkler Klumpen von einem Busch in der Nähe löste und kaum einen Meter von ihm entfernt auf den Boden aufschlug, starrte er ihn einfach verständnislos an. Endlich hatte er seine Gedanken wieder etwas gesammelt. Er betrachtete das seltsame Objekt und dann den Busch, von dem es gefallen war. Langsam
und mühevoll arbeitete er sich dann zu der logischen Schlußfolgerung aus diesem Erlebnis vor. Die Frucht – denn das war sie – war ohne jeden Laut auf den Boden aufgeschlagen. Das war nur natürlich, denn seit seiner Metamorphose war er stocktaub. Und trotzdem hatte er eine Stimme gehört! Ergo: Halluzinationen oder Telepathie. Die Stimme begann wieder zu rufen. »Hilfe! Ach, ihr Lieben, ich wünschte, jemand würde mich hören.« Vivians Bellis. Gumbs, selbst wenn er diesen Tenor zuwege bringen könnte, würde nicht »Ach, ihr Lieben« sagen. Noch würde das Miss McCarty. Georgs arg mitgenommene Nerven beruhigten sich wieder etwas. Fieberhaft überlegte er: Ich bekomme einen Schrecken, und mir wachsen Beine. Bellis bekommt einen Schrecken und entwickelt eine telepathische Stimme. Sehr einleuchtend, denke ich. Ihr erster Gedanke wäre bestimmt, zu schreien. Georg versuchte, sich selbst in Schreistimmung zu versetzen. Er schloß wieder die Augen und malte sich aus, in einem düsteren, unheimlichen und engen Gefängnis zu liegen, und ohne die geringste Ahnung, wie er in diese mißliche Lage gekommen war. Er versuchte zu rufen: Vivian! Er versuchte es wieder und wieder, während die Stimme des Mädchens fast pausenlos fortfuhr, irgend jemanden um Hilfe zu bitten. Plötzlich – mitten in einem Satz – hielt sie inne. Georg sagte: »Können Sie mich hören?« »Wer ist das? Was wollen Sie?« »Ich bin es, Georg Meister, Vivian. Verstehen Sie, was ich sage?« »Was ...«
Georg setzte seine Versuche einer Verständigung fort. Sicherlich klang seine Pseudostimme immer noch etwas entstellt, so wie es der Fall mit Bellis' Stimme gewesen war, als er sie zum erstenmal gehört hatte. Endlich sagte das Mädchen: »Oh, Georg – ich meine Mr. Meister – oh, ich hatte ja solche Angst. Wo sind Sie denn?« Georg erklärte es ihr, aber offenbar nicht sehr diplomatisch, denn als er fertig war, schrie sie auf und fing wieder an, unverständliches Zeug vor sich hin zu murmeln. Georg seufzte: »Ist sonst noch jemand in der Gegend? Major Gumbs? Miss McCarty? Können Sie mich hören?« Ein paar Minuten später fingen fast gleichzeitig zwei neue unheimliche Stimmen zu sprechen an. Als sie endlich verständlich geworden waren, bereitete es Georg keine Mühe mehr, sie mit ihren Eigentümern zu identifizieren. Gumbs brüllte: »Warum, zum Teufel, passen Sie nicht auf, wo Sie hintreten, Meister! Wenn Sie nicht diesen Erdrutsch verursacht hätten, säßen wir jetzt nicht in der Patsche.« Miss McCarty, die ein finsterblickendes bleiches Gesicht ihr eigen nannte, dazu ein sehr prominentes Kinn und Augen von der Farbe von Schlamm, sagte kalt: »Meister, all das wird gemeldet. Alles, verstehen Sie!« Es zeigte sich, daß anscheinend nur Meister und Gumbs den Gebrauch ihrer Augen behalten hatten. Alle vier vermochten eine gewisse Kontrolle auf ihren gemeinsamen Körper auszuüben, obgleich Gumbs der einzige gewesen war, der einen ernsthaften Ver-
such unternommen hatte, auf Georgs Fortbewegung Einfluß zu nehmen. Miss McCarty, was Georg nicht weiter erstaunte, hatte es fertiggebracht, ein Paar funktionsfähige Organe zu bewahren. Aber Bellis war durch den ganzen Nachmittag und die Nacht hindurch blind, taub und stumm gewesen. Die einzigen Sinnesorgane, die ihr geblieben waren, waren die des Tastsinns gewesen – sie hatte die Unebenheiten der Oberfläche, sie hatte Hitze und Kälte und Schmerz registriert, aber sie hatte weder etwas gehört noch etwas sehen können. Dafür hatte sie jedes Blatt gespürt und jeden Zweig, gegen den sie auf ihrem Weg gestreift waren, den kalten Aufschlag eines jeden Regentropfens und den schmerzhaften Biß des zähnefletschenden Ungeheuers. Sie hatte in Angst und Schrecken gelebt. Es war ein Wunder, daß sie nicht hysterisch oder – noch schlimmer – wahnsinnig geworden war. Weiterhin schien es, daß kein einziger der vier atmete und auch keiner irgendwelche Anzeichen eines Herzschlags verspürte. Georg hätte nichts lieber gesehen, als mit dieser Diskussion fortfahren zu können, aber die anderen drei waren der Auffassung, daß das, was mit ihnen geschehen war, nachdem sie in das Monster hineingefallen waren, lange nicht so interessant und wichtig war wie die Frage, wie sie wieder herausgelangen könnten. »Wir können aber nicht heraus«, sagte Georg. »Wenigstens sehe ich im gegenwärtigen Stadium unseres Wissens dazu keine Möglichkeit.« »Aber wir müssen heraus!« rief Vivian. »Wir gehen zum Lager zurück«, sagte Miss
McCarty mit kalter Stimme, die keinen Widerspruch zu dulden schien. »Und zwar sofort. Und Sie, Meister, werden dem Sicherheitskomitee erklären, warum sie nicht unverzüglich umgekehrt sind, nachdem Sie Ihr Bewußtsein wiedererlangt hatten.« »Bin der gleichen Meinung«, mischte sich Gumbs etwas verlegen ein. »Wenn Sie keinen Rat wissen, Meister, vielleicht wissen dann die anderen Techniker einen.« Georg begann geduldig, ihnen seine Theorie über ihren zu erwartenden Empfang im Lager auseinanderzusetzen. McCartys scharfer Verstand entdeckte in seinen Ausführungen eine schwache Stelle. »Nach Ihrer eigenen Aussage haben Sie sich Beine und Stiel für Ihre Augen wachsen lassen. Wenn das keine Lüge war, dann können Sie sich sicher auch einen Mund wachsen lassen. Wir werden unser Kommen schon aus der Ferne ankündigen, so daß wir uns ohne Gefahr dem Camp nähern können.« »Das wird nicht so leicht gehen«, sagte Georg. »Ein Mund allein genügt nicht. Wir brauchen Zähne, eine Zunge, harten und weichen Gaumen, Lungen oder ihr Äquivalent, Stimmbänder und eine Art Zwerchfell. Ich zweifle, ob das überhaupt möglich ist, denn als Miss Bellis sich endlich bemerkbar machen konnte, hat sie das auf eine Art getan, die wir zur Zeit alle benutzen. Sie hat keinen ...« »Sie, reden zuviel«, unterbrach ihn Miss McCarty. »Miss Bellis! Major Gumbs! Sie beide und ich, wir wollen versuchen, eine Art Sprechapparat zu formen. Der erste, der einen Erfolg verzeichnen kann, bekommt eine Belobigung in seiner Personalakte. Fangen Sie an!«
Georg, den man stillschweigend aus dem Wettbewerb ausgeschlossen hatte, verwendete die Zeit für den Versuch, sein Gehör wiederherzustellen. Es hatte den Anschein, daß dieses Irgend etwas meisterii für eine Art Arbeitsteilung eingerichtet war, weil Gumbs und er – die ersten, die hineingefallen waren – ihr Sehvermögen ohne besondere Mühe bewahrt hatten, während Dinge wie Gehör und Tastsinn den Späterkommenden überlassen worden waren. Im Prinzip war diese Regelung nicht so übel, doch der Gedanke, daß Miss McCarty alleiniger Kustos – und sei es auch nur irgendeines einzigen Teiles dieser Einrichtung – war, behagte ihm gar nicht. Selbst wenn es ihm gelingen würde, die beiden anderen zu überreden, seiner Führung zu folgen – und im Augenblick schien die Aussicht darauf nur eine sehr schwache zu sein –, würde McCarty zweifellos immer ein Außenseiter und Hemmschuh sein. Auf der anderen Seite war es nicht ausgeschlossen, daß in nicht allzu ferner Zukunft ihr aller Schicksal einmal von der Möglichkeit abhing, von ihrem Gehör Gebrauch machen zu können. Zuerst wurde er von den gemurmelten Kommentaren zwischen Gumbs und Bellis abgelenkt – »Na, klappt es? – Glaub nicht. Und bei Ihnen?« –, die zwischen seufzenden Lauten, Summtönen und anderen irritierenden Geräuschen eingestreut waren, während sie erfolglos versuchten, von gedanklicher auf stimmliche Verständigung überzuwechseln. Schließlich sagte McCarty in gewohnt scharfem Ton: »Konzentrieren Sie sich darauf, die notwendigen Organe auszubilden, statt wie Schafe herumzublöken!« Dann war Stille.
Georg machte sich an die Arbeit, wobei er die gleiche Technik anwandte, die sich schon vorher als wirksam herausgestellt hatte. Mit geschlossenen Augen versuchte er sich wieder die zähnefletschende Bestie zurückzurufen, wie sie in dem Dunkel der Nacht auf ihn zugekommen war: tapp, tapp, klick, tapp! Heldenmütig wünschte er sich Ohren, womit er die sich nähernden Geräusche auffangen konnte. Nach einer langen Zeit glaubte er, den ersten Erfolg feststellen zu können – oder waren es doch nur gedankliche Laute, die einer der anderen drei unbewußt von sich gab? Klick! Krchch! Schwisch! Klick! Georg machte die Augen auf und schaute um sich. Er war ernsthaft beunruhigt. Dann sah er die Ursache der Geräusche. Ungefähr hundert Meter von ihm entfernt – auf der anderen Seite der flachen Felsmulde – trat ein uniformierter Mann aus einem Dickicht schwarzer Pflanzenspeere. Während Georg noch seine Augenstiele auf ihn richtete, blieb der Mann stehen, starrte zurück, schrie dann etwas und hob sein Gewehr. Georg rannte los. Sofort hörte er ein wildes Stimmendurcheinander in seinem Körper, und die Muskeln seiner »Beine« verfielen in wilde Zuckungen. »Rennt, zum Teufel!« schrie er aufgeregt. »Hinter uns steht ein Soldat mit ...« Donnernd löste sich der Schuß, und Georg verspürte einen plötzlichen gräßlichen Schmerz dicht neben seinem Rückenmark. Der Kampf um den Besitz ihrer gemeinsamen Beine kam zu einem schnellen Ende, und sie eilten mit voller Geschwindigkeit hinter die Deckung eines Felsblocks. Das Gewehr bellte erneut auf. Georg hörte, wie
Steinsplitter durch das Laubwerk über ihnen fegten. Dann hasteten sie auch schon den Uferhang eines der Bachbetten hinunter, den anderen Hang hinauf und in einen Wald schlanker Bäume. Georg entdeckte eine mit Laub gefüllte Mulde und steuerte darauf zu, wobei er gegen den Impuls eines seiner Mitbewohner ankämpfen mußte, blindlings weiter geradeaus zu laufen. Sie ließen sich in die Mulde fallen und kauerten dort bewegungslos, während drei Männer in nächster Nähe an ihnen vorüberliefen. Vivian stöhnte unaufhörlich vor sich hin. Georg hob vorsichtig seine Augenstiele und sah, daß mehrere scharfgezackte Felssplitter das Gallertfleisch des Monsters an einer Seite aufgerissen hatten. Sie konnten trotzdem von Glück sagen. Die Schüsse hatten sie nicht getroffen – was wohl dadurch zu erklären war, daß der Schütze von einem erhöhten Standpunkt aus nach unten auf ein sich bewegendes Ziel geschossen hatte. Er schaute näher hin, und jetzt bemerkte er etwas sehr Merkwürdiges, das seine berufliche Neugier auf das äußerste erregte. Die gesamte Oberfläche des Monsters schien sich in ununterbrochener langsamer Bewegung zu befinden – winzige Löcher öffneten sich und schlossen sich wieder, so, als würde das Fleisch kochen – nur daß hier die Luftbläschen nicht nach außen drängten, sondern von der Außenhaut eingeschlossen und nach innen gedrückt wurden. Außerdem konnte er – tief unter der gefleckten Oberfläche – vier verschwommene dunkle Klumpen erkennen, die nichts anderes sein konnten als die lebenden Gehirne von Gumbs, Bellis, McCarty und –
Meister selbst. Ja, dort sah er einen, der sich genau gegenüber seinen Augenstielen befand. Ein befremdendes Gefühl, dachte Georg, auf sein eigenes Gehirn hinunterschauen zu können. Er hoffte nur, daß er sich mit der Zeit an diesen Anblick gewöhnen würde. Die vier dunklen Klumpen waren in einem fast vollkommenen Quadrat in der Mitte des ellipsenförmigen Körpers angeordnet. Die Rückenmarkstränge der vier – kaum sichtbar – kreuzten sich in der Mitte und liefen dann nach außen. Ein regelrechtes Muster, dachte Georg. Das Ding war konstruiert, um mehr als nur ein Nervensystem zu beherbergen. Es arrangierte sie in einer festen Ordnung, wobei die Gehirne nach innen gelagert wurden, um ihnen größeren Schutz zu gewähren – und vielleicht auch noch aus einem anderen Grunde. Möglicherweise war sogar für eine bewußte Zusammenarbeit zwischen den einzelnen Passagieren Vorsorge getroffen: eine Art Nährboden in der Mitte des Körpers, der auf irgendeine Art und Weise das Wachstum von Kommunikationszellen zwischen den einzelnen Gehirnen förderte. Wenn das der Fall war, dann würde das ihren schnellen Erfolg bei den Versuchen einer telepathischen Verständigung erklären. Georg wünschte fast, er könne seinen eigenen Körper sezieren, um die Antwort auf diese Frage zu finden. Vivians Schmerzen ließen langsam nach. Ihr gehörte das Gehirn gegenüber dem seinen. Georg und sie hatten die Wirkung der Steinsplitter am meisten verspürt. Aber die Splitter waren jetzt dabei, allmählich in die gallertartige Substanz des Monsters einzusinken. Wenn er genau hinsah, konnte er sie sinken
sehen. Sie würden zweifellos durch den Körper hindurchrutschen und unten ausgesondert werden, genauso, wie es vermutlich mit den unverdaulichen Teilen ihrer Kleidung und Ausrüstung geschehen war. Georg stellte sich die müßige Frage, welches der beiden anderen Hirne wohl McCarty gehörte und welches Gumbs. Die Antwort, wie sich herausstellte, war nicht schwer zu finden. Zu Georgs Linken – wenn er in Richtung auf die Mitte des Monsters blickte – war ein Paar blauer Augen in die Oberfläche eingebettet. Sie besaßen Lider, die offensichtlich aus der Körpersubstanz des Monsters gebildet worden waren, jedoch dick und undurchsichtig waren. Zu seiner Rechten konnte Georg zwei winzige Öffnungen erkennen, die sich ein paar Zentimeter in den Körper hinein fortsetzten. Das konnten nur Miss McCartys Ohren sein. Georg war versucht zu probieren, ob er nicht eine Methode finden könnte, sie mit Dreck zu verstopfen. Immerhin, die Frage, ob sie zum Lager zurückkehren sollten oder nicht war – wenigstens für den Augenblick – entschieden. McCarty ließ nichts mehr über seinen Sprechapparat verlauten, obwohl Georg keine Zweifel hatte, daß sie entschlossen war, ihre Versuche fortzusetzen. Er glaubte jedoch nicht, daß sie damit Erfolg haben würde. Wie auch immer der Mechanismus funktionierte, durch den diese Veränderungen in der Körperstruktur ermöglicht wurden, Amateure, wie sie es waren, würden vermutlich nur unter dem Druck einer emotionalen Belastung Erfolg haben, und auch dann nur mit vergleichsweise einfachen Aufgaben, die nur eine einzige neue Struktur
auf einmal bedingten. Und wie er schon McCarty gesagt hatte, waren die Sprechorgane des Menschen außergewöhnlich mannigfaltig und kompliziert. Der Gedanke kam ihm, daß man vielleicht doch eine Art Sprache zuwege bringen könnte, indem man eine dünne Schallmembrane bildete mit einer Luftkammer dahinter und dem notwendigen Muskelapparat, um die entsprechenden Vibrationen hervorzurufen und zu modulieren. Er behielt jedoch den Gedanken wohlweislich für sich, denn er hatte wirklich keine Lust, ins Lager zurückzukehren. Georg war ein Mann, wie man ihn in jenen Tagen nur noch selten antraf: ein Wissenschaftler, der für seine Arbeit ausgesprochen geeignet war und diese um ihrer selbst willen liebte. Und hier saß er nun mittendrin in dem großartigsten und vielversprechendsten Forschungsinstrument, das es jemals auf seinem Gebiet gegeben hatte – einem vielgestaltigen, verwandlungsfähigen Organismus, der ihm die Möglichkeit bot, auf seine Struktur Einfluß zu nehmen und die Resultate eingehend zu studieren, Theorien über die Funktionsfähigkeit von Organen zu entwickeln und sie auf direktem Wege an seinen Geweben auszuprobieren, an Geweben, die ja im Grunde nichts anderes waren als sein eigener Körper – der ihm, kurz gesagt, die Möglichkeit bot, neue Organe zu bilden, neue Anpassungsmöglichkeiten an die Umwelt zu finden. Georg sah sich vor dem Eingangstor zu einer Welt völlig neuer und umwälzender Erkenntnisse, und einige der Möglichkeiten, die sein flüchtiger Blick erhaschte, raubten ihm fast den Atem. Er durfte jetzt einfach nicht ins Lager zurück –
selbst wenn Aussicht bestand, das fertigzubringen, ohne dabei sein Leben zu verlieren. Wäre er doch nur allein hineingefallen! Doch nein, dann hätten ihn die anderen bestimmt herausgezogen und das Monster getötet. Leider, so überlegte er, sah er sich im Moment fast zu vielen Problemen auf einmal gegenüber, die alle gleichzeitig nach einer Lösung verlangten. Es fiel ihm schwer, sich zu konzentrieren, denn seine Gedanken versuchten immer wieder eigene Wege zu gehen. Vivian, deren Schmerzen inzwischen aufgehört hatten, begann wieder zu jammern, Gumbs fuhr sie deswegen an, McCarty schimpfte auf beide. Georg selbst meinte, jeden Augenblick mit seiner Geduld am Ende zu sein. Eingesperrt zu sein mit drei Schwachköpfen, die nichts gescheiteres anzufangen wußten, als miteinander Streit zu suchen! »Hören Sie mir doch mal eine Minute zu«, sagte er plötzlich. »Haben Sie nicht auch das gleiche Gefühl wie ich? Überreizt? Nervös? So als hätten wir achtundvierzig Stunden hintereinander schwer gearbeitet und wären jetzt zu müde, um Schlaf zu finden?« »Mein Gott, hören Sie auf, wie eine Fernsehreklame zu reden«, sagte Vivian Bellis ärgerlich. »Haben wir nicht schon genug Sorgen, um noch ...« »Wir sind einfach hungrig«, verkündete Georg. »Wir hatten keine Ahnung davon, weil uns die Organe fehlen, die uns üblicherweise melden, wenn unser Körper Hunger hat. Vergessen wir nicht – das letzte, was das Monster zu sich genommen hat, waren wir, und das ist schon einen ganzen Tag her. Wir müssen uns etwas zu essen suchen, und zwar bald, möchte ich sagen.«
»Sie haben recht«, sagte Gumbs. »Aber wenn dieses Ding nur Menschen frißt – ich meine ...« »Vor uns hat es noch nie einen Menschen gesehen«, erwiderte Georg mit einer gewissen Ungeduld. »Irgendeine Proteinverbindung wird schon genügen.« Er setzte sich in Bewegung in der gleichen Richtung wie vorher, die – wie er hoffte – ihn immer weiter vom Lager wegführen würde. Wenn sie sich nur recht weit davon entfernten, dann hatten sie die Chance, sich gründlich zu verirren, und dann konnte Miss McCarty schreien soviel sie wollte. Sie verließen den Wald und liefen einen Hügel hinunter, dann über einen weiten Teppich toter Gräser, die sich wie Draht anfühlten, bis sie endlich an das Ufer eines Flußbettes gelangten, in dem noch ein schwaches Rinnsal sickerte. Weiter unten am Ufer sah Georg eine Anzahl Tiere, die aus dieser Entfernung fast wie kleine Wildschweine aussahen. Er berichtete den anderen von seiner Entdeckung, und sie beschlossen, sich anzuschleichen. »Aus welcher Richtung kommt der Wind, Vivian?« fragte er. »Fühlen Sie ihn?« »Nein«, sagte sie. »Jetzt nicht mehr. Ich habe ihn gefühlt, als wir den Hügel hinabliefen, aber ich glaube, er kommt uns entgegen.« »Na, wunderbar. Vielleicht gelingt es uns, sie zu überraschen.« »Ja, aber wollen wir wirklich die Tiere essen?« »Richtig. Wie ist das, Meister?« ließ Gumbs sich vernehmen. »Ich will nicht behaupten, daß ich wählerisch bin, aber schließlich ...« Georg, dem bei dem Gedanken an diese Art von Mahlzeit selber nicht ganz wohl zumute war – wie
die anderen war er an seine Diät von Hefeprodukten und synthetischen Proteinen gewöhnt – sagte gereizt: »Was bleibt uns anderes übrig? Sie besitzen Augen, Sie können sehen, daß es hier Herbst ist. Herbst nach einem sehr heißen Sommer. Dürres Laub, ausgetrocknete Flüsse. Entweder wir essen Fleisch, oder wir hungern. Oder möchten Sie lieber auf Insekten Jagd machen?« Gumbs, bis ins Innerste schockiert bei diesem Gedanken, murmelte etwas Unverständliches vor sich hin und verfiel dann wieder in Schweigen. Aus größerer Nähe sahen die Tiere nicht mehr wie Schweine aus. Dafür wirken sie noch viel unappetitlicher. Sie besaßen hagere, wie bei einem Insekt in Segmente unterteilte Körper mit einer rosiggrauen Haut, vier kurze stämmige Beine, Schlappohren und gedrungene säbelförmige Rüssel, mit denen sie das Erdreich durchwühlten, bis sie etwas fanden, das sie dann unter wildem Ohrenwedeln hinunterschlangen. Georg zählte an die dreißig von ihnen. Sie hielten sich alle ziemlich eng zusammengedrängt auf einer kleinen Lichtung auf, die sich zwischen verdorrtem Buschwerk und dem Fluß befand. Sie bewegten sich nur träge; trotzdem schienen ihre kurzen, kräftigen Beine geeignet zu sein für eine schnelle Flucht. Zentimeterweise schlich sich Georg näher, wobei er seine Augenstiele so tief wie möglich eingezogen hielt und sofort regungslos erstarrte, wenn eines der Tiere gelegentlich von seiner Wühlarbeit aufschaute. Er hatte sich auf diese Weise dem am nächsten stehenden Tier bis auf zehn Meter genähert, als McCarty unvermittelt sagte: »Meister, haben Sie sich eigentlich schon mal
überlegt, wie wir diese Tiere verzehren sollen?« »Was soll diese dumme Frage«, sagte er unwillig. »Wir werden sie einfach ...« Verwirrt hielt er inne. Was passierte denn nun eigentlich, wenn sich das Monster einen Bewohner geangelt hatte? Änderte sich dann seine Methode der Assimilation? Erwartete es etwa von ihnen, ein Maul und eine Speiseröhre und alle anderen Verdauungswerkzeuge zu bilden? Nein, unmöglich. Bis dahin wären sie längst verhungert. Auf der anderen Seite – ach, dieses verdammte wirre Gefühl in seinem Hirn, das ihn nicht denken ließ – auf der anderen Seite mußte eine Veränderung eintreten, damit nicht die neuen Bewohner zusammen mit ihrer ersten Mahlzeit verdaut würden. »Nun?« fragte McCarty. Nein, diese Annahme war falsch, Georg wußte das instinktiv konnte aber nicht sagen, warum. Ein ausgesprochen unangenehmer Gedanke. Oder noch schlimmer: angenommen, die Mahlzeit wurde der neue Bewohner und die alten wurden verzehrt? Der Kopf des nächsten Tieres hob sich, und vier winzige rote Augen starrten Georg argwöhnisch an. Die herabhängenden Ohren richteten sich auf. Keine Zeit mehr für Theorie! »Es hat uns entdeckt!« rief Georg mit lautlosen Gedankenworten. »Los, rennt!« In der einen Sekunde lagen sie noch bewegungslos in dem stacheligen dürren Gras, in der nächsten rannten sie schon aus Leibeskräften hinter der Herde her, die angstvoll davongaloppierte. Sie waren schneller. Die Beine des letzten Tieres wurden größer und größer. Dann hatten sie es eingeholt und setzten mit einem Satz über es hinweg.
Georg drehte ein Auge zurück und sah, daß das Tier regungslos im Grase lag – bewußtlos oder tot. Schon hatten sie ein zweites niedergerannt. Das Betäubungsmittel, dachte Georg. Die leiseste Berührung reicht aus. Und dann noch ein Tier und noch eines. Selbstverständlich können wir sie verdauen. Das Monster muß von vornherein eine gewisse Unterscheidung treffen können, oder es würde nicht unser Nervengewebe verschont haben. Vier Tiere lagen jetzt bewußtlos im Gras, dann sechs. Drei weitere, als die Horde sich durch einen Engpaß zwischen dem dornigen Buschwerk und dem steil abfallenden Flußufer drängte; dann zwei, die umzukehren versuchten; dann noch vier Nachzügler. Der Rest der Herde verschwand hinter der Kuppe eines nahen Hügels, doch fünfzehn blieben auf der Strecke. Um für alle Fälle sicherzugehen, lief Georg zu dem ersten Tier zurück. »Ducken Sie sich, Gumbs«, sagte er. »Wir müssen uns darunterschieben. So, das reicht. Lassen Sie den Kopf überhängen.« »Wozu?« bellte der Soldat. »Sie möchten doch nicht, daß sein Gehirn uns hier Gesellschaft leistet, oder? Wer kann sagen, wieviel davon dieses Monster aufnehmen kann. Nicht ausgeschlossen, daß sie dieses sogar den unseren vorzieht. Aber ich nehme nicht an, daß es sich um den Rest des Nervensystems kümmert, wenn wir nur aufpassen, daß es das Gehirn nicht zu fressen bekommt.« »Oh«, sagte Vivian. »Tut mir leid Miss Bellis«, sagte Georg zerknirscht. »Aber das sind nun mal die Tatsachen. Versuchen
Sie, nicht daran zu denken. Schließlich besitzen wir ja auch keine Geschmacksnerven –« »Es ist schon gut«, sagte sie. »Wir wollen nicht mehr davon reden.« »Das ist auch meine Meinung«, sagte Gumbs. »Ein bißchen mehr Takt, meinen Sie nicht auch, Meister?« Georg schluckte den Vorwurf wortlos hinunter und wandte seine Aufmerksamkeit wieder dem Kadaver zu, der zwischen Gumbs und ihm auf dem Monster lag. Sehr langsam und kaum merklich sank das Tier in die Gallertsubstanz des Monsters ein. Ringsherum hatte sich eine undurchsichtige Wolke auf der Oberfläche ausgebreitet. Als es fast völlig absorbiert und sein Kopf abgetrennt worden war, machten sie sich auf den Weg zu ihrem nächsten Opfer. Diesmal folgten sie einer Anregung von Georg und luden sich gleich zwei auf einmal auf. Allmählich verschwand ihre gereizte Stimmung, und sie fühlten sich wieder heiter und guter Dinge, und Georg fand es möglich, wieder folgerichtig und zusammenhängend zu formulieren, ohne daß ihm dabei – wie noch vor wenigen Minuten – wichtige Punkte einfach entfielen. Sie waren mit ihrem achten und neunten Gang beschäftigt, und Georg hatte sich gerade in eine verwikkelte Gedankenspekulation über das Kreislaufsystem des Monsters vertieft, als Miss McCarty ihr langes Schweigen brach, um anzukündigen: »Ich habe jetzt eine Methode vervollkommnet, mit deren Hilfe es uns möglich sein sollte, ungefährdet ins Lager zurückzukehren. Wir werden sofort beginnen.« Erstaunt und zutiefst bestürzt richtete Georg seine
Augenstiele auf McCartys Teil des Monsters. Was dort aus dem Rand herausragte, das war ein dünnes, in Gelenke unterteiltes Etwas, das genauso aussah – ja, er hatte recht gesehen –, wie ein grotesker, aber erkennbarer Arm mit einer Hand. Während er dieses erstaunliche Phänomen noch betrachtete, fummelten die klobigen Finger an einem Grashalm herum, zerrten daran und zogen ihn dann mit der Wurzel aus dem Boden. »Major Gumbs«, sagte McCarty. »Ihre Aufgabe wird es sein, folgende Gegenstände zu besorgen – und zwar so schnell wie möglich. Erstens etwas, worauf man schreiben kann. Ich denke da vielleicht an ein großes Blatt von heller Farbe, trocken, aber nicht dürr, oder an einen Baum, von dem wir ohne große Mühe ein größeres Stück Rinde abschälen können. Zweitens, einen Farbstoff. Zweifellos wird es hier Beeren geben, deren Saft wir dafür verwenden können. Wenn nicht, dann wird es sicher auch Schlamm tun. Drittens, einen Zweig oder ein Rohr als Schreibfeder. Sobald Sie mir diese Dinge besorgt haben, werde ich mit Ihrer Hilfe eine Botschaft abfassen, die unsere mißliche Lage schildert. Sie werden sie dann lesen und mich auf eventuelle Schreibfehler aufmerksam machen, die ich verbessern werde. Wir werden zum Lager zurückkehren, uns diesem im Schutze der Nacht nähern und die Botschaft an einem auffälligen Platz niederlegen. Dann werden wir uns bis zum Morgengrauen wieder zurückziehen und zurückkommen, wenn die Botschaft gefunden worden ist. Also, fangen Sie an, Major.« »Hm, ja«, sagte Gumbs, »das müßte gehen. Außer – ich nehme an, Sie haben schon eine Möglichkeit ge-
funden, wie Sie die Feder halten wollen, Miss McCarty?« »Dummkopf«, antwortete sie. »Natürlich habe ich das. Ich habe einen Arm und eine Hand gemacht.« »Ah, das ist etwas anderes. Lassen Sie mich überlegen. Ich denke, wir versuchen unser Glück gleich mal drüben in jenem Gebüsch.« Ihr gemeinsamer Körper ruckte in diese Richtung. Georg stemmte sich dagegen. »So warten Sie doch noch eine Minute«, sagte er verzweifelt. »Wir wollen doch wenigstens so vernünftig sein und unsere Mahlzeit beenden. Wer weiß, wann wir wieder etwas zu essen bekommen.« McCarty wollte etwas wissen. »Wie groß sind diese Tiere, Major Gumbs?« »Ungefähr sechzig Zentimeter lang, würde ich sagen.« »Und wir haben davon schon neun verzehrt. Richtig?« »Eher an die acht«, korrigierte sie Georg. »Diese zwei sind erst zur Hälfte absorbiert.« »In anderen Worten«, sagte Miss McCarty, »jeder von uns hat zwei gehabt. Das sollte genügen, meinen Sie nicht auch, Major?« Georg sagte mit Nachdruck: »Miss McCarty, Sie denken dabei an die Nahrungsmenge, die ein Mensch benötigt. Dieser Organismus jedoch besitzt einen völlig anderen Metabolismus und mindestens das Dreifache der Masse von vier Menschen. Vergessen Sie bitte nicht – wir vier hatten eine Masse von zusammen rund dreihundert Kilo, und doch war dieses Ding – zwanzig Stunden nachdem es uns absorbiert hat – schon wieder hungrig. Nun, und diese Tiere
hier würden wohl unter normaler Schwerkraft nicht mehr als zwanzig Kilo wiegen – und nach Ihrem Plan müssen wir bis morgen früh durchhalten.« »Hm, hat was für sich, was Meister sagt, Miss McCarty«, kam ihm Gumbs zu Hilfe. »Wirklich, wenn ich es mir recht überlege, meine ich, wir sollten uns den Bauch vollschlagen, solange wir dazu Gelegenheit haben. Außerdem, es wird höchstens noch eine halbe Stunde in Anspruch nehmen.« »Also gut«, sagte Miss McCarty. »Aber beeilen Sie sich.« Sie machten sich an ihr nächstes Opfer. In Georgs Gehirn arbeitete es fieberhaft. Es würde keinen Zweck haben, sich mit McCarty auf eine Diskussion einzulassen. Wenn er nur Gumbs auf seine Seite bringen könnte – dann würde sich Bellis der Mehrheit anschließen. Vielleicht. Das war die einzige Hoffnung, die ihm blieb. »Gumbs«, sagte er. »Haben Sie sich schon mal Gedanken darüber gemacht, was mit uns wohl passieren wird, wenn wir zurückkehren?« »Fällt nicht in mein Fach. Das überlasse ich Technikern wie Ihnen.« »Nein, das meine ich nicht. Nehmen Sie mal an, Sie wären der Kommandeur dieser Expedition, und vier andere Leute wären an unserer Stelle in dieses Ding da hineingefallen ...« »Wie, was? Ich verstehe nicht, was Sie meinen.« Geduldig begann Georg noch einmal von vorn. »Hm, ja. Verstehe jetzt. Und weiter?« »Was für Maßnahmen würden Sie wohl treffen?« Gumbs dachte einen Augenblick nach. »Würde vermutlich die Angelegenheit der Biogruppe übergeben.«
»Und Sie glauben nicht, daß sie es vielleicht als mögliche Bedrohung ansehen und seine sofortige Vernichtung befehlen würden?« »Großer Gott! Jetzt, wo Sie es sagen – möglich wäre es schon. Aber nein, passen Sie auf. Wir werden eben unsere Botschaft sehr vorsichtig formulieren. Werden darauf hinweisen, daß das Ding sehr wertvoll ist.« »Na schön«, sagte Georg. »Angenommen, das geht in Ordnung. Was dann? Weil das nicht in Ihr Fach fällt, werde ich es Ihnen sagen. Neun zu eins, daß unsere Biologen uns als mögliche biologische Feindwaffe einstufen. Das heißt, mit anderen Worten, daß wir zuallererst mal ein komplettes Verhör mit allen Schikanen über uns ergehen lassen müssen. Was das bedeutet, brauche ich Ihnen wohl nicht näher zu illustrieren ...« »Major Gumbs«, sagte Miss McCarty schneidend. »Meister wird wegen Unloyalität bei nächster Gelegenheit hingerichtet. Ich verbiete Ihnen hiermit – unter Androhung der gleichen Strafe –, sich mit ihm noch weiter zu unterhalten.« »Nun, sie kann Sie nicht daran hindern, mir wenigstens zuzuhören«, sagte Georg. »Also weiter. Zweitens werden sie uns dann nach allen Regeln der Kunst examinieren, Proben entnehmen – ohne Betäubung, wohlgemerkt – und so weiter. Endlich werden sie uns dann trotz alledem unschädlich machen oder zur weiteren Untersuchung zum nächsten Stützpunkt abschieben. Wir sind dann Eigentum der Föderation, Gumbs, werden als streng geheime Sache unter Verschluß gehalten, und weil bestimmt niemand im Geheimdienst die Verantwortung übernehmen wird, uns freizugeben, werden wir dort bleiben bis an un-
ser Lebensende. Gumbs, dieses Ding hier hat tatsächlich einen Wert, der kaum abzuschätzen ist. Aber das wird niemandem etwas nützen, wenn wir jetzt ins Lager zurückkehren. Was immer sie an uns entdecken – und seien es Dinge, die Milliarden von Menschenleben retten könnten –, das wäre alles streng geheim und würde auch so bleiben. Sie kennen doch unseren Geheimdienst. Und falls Sie immer noch hoffen, daß es unseren Biologen gelingen könnte, Sie aus dieser Lage zu befreien, dann irren Sie sich. Hier geht es nicht bloß darum, ein paar Gliedmaßen zu ersetzen. Ihr ganzer Körper ist zerstört, Gumbs. Nichts ist mehr da außer Ihrem Nervensystem und Ihren Augen. Der einzige neue Körper, den wir bekommen können, ist der, den wir uns selber machen. Wir müssen einfach hierbleiben und versuchen, uns selber zu helfen.« »Major Gumbs«, sagte McCarty. »Wir haben genug Zeit vergeudet. Machen Sie sich endlich auf die Suche nach den Materialien, die ich benötige.« Gumbs schwieg einen Augenblick. Ihr gemeinsamer Körper rührte sich nicht von der Stelle. Dann sagte er: »Miss McCarty – ganz unter uns, selbstverständlich –, eine Frage, über die ich gern Ihre Meinung hören würde. Bevor wir anfangen, meine ich. Was ich sagen möchte – sie werden uns doch irgendeine Sorte von Körper verpassen können, oder? Ich meine, der eine sagt das, der andere das Gegenteil. Sie verstehen schon, was ich meine.« Georg hatte die ganze Zeit über voller Unbehagen Miss McCartys Arm im Auge behalten. Er spannte und entspannte sich rhythmisch und wurde, darüber bestand kein Zweifel, sichtbar größer. Die Finger der
grotesk geformten Hand wühlten im Gras, pflückten erst einen Grashalm ab, dann zwei, dann ein ganzes Büschel. Jetzt sagte sie: »Ich habe keine Meinung, Major Gumbs. Ihre Frage ist völlig belanglos. Es ist unsere Pflicht, ins Lager zurückzukehren. Das ist alles, was wir zu wissen brauchen.« »Oh, ich stimme da völlig mit Ihnen überein«, sagte Gumbs. »Und außerdem«, fügte er unsicher hinzu, »es bleibt uns wohl auch nichts anderes übrig, oder? Gibt es noch einen anderen Weg?« Georg, der angestrengt auf einen der fingerähnlichen Vorsprünge starrte, die unter der Kante des Monsters hervorragten versuchte ihn mit ganzer Gedankenkraft in die Form eines Arms zu zwingen. Er hatte damit, wie er meinte, sowieso viel zu spät begonnen. Jetzt sagte er: »Ja, es gibt noch einen anderen Weg, nämlich so weiterzumachen wie bisher. Selbst wenn die Föderation diesen Planeten ein ganzes Jahrhundert besetzt hält, wird sie doch nie alle Gebiete erforschen können. Dort sind wir sicher.« »Ich meine«, fuhr Gumbs fort, als hätte er nur eine kleine Denkpause eingelegt, »es geht doch nicht, daß man sich selber so einfach von der Zivilisation abschneidet, wie?« Seine Stimme hatte einen nachdenklichen Klang. Wieder spürte Georg eine Bewegung in Richtung auf die Sträucher in der Nähe. Wieder stemmte er sich dagegen. Dann kam ein zweiter Satz Muskeln Gumbs zu Hilfe, und Georg sah sich überwältigt. Zitternd und bebend und seitwärts wie ein Krebs bewegte sich das Monster vielleicht einen halben
Meter auf die Büsche zu. Dann blieb es wieder liegen. »Ich glaube Ihnen, Mr. Meister – Georg«, sagte plötzlich Vivian Bellis. »Ich will nicht zurück. Sagen Sie mir, was ich tun soll.« »Nun, freut mich wirklich, daß wenigstens Sie vernünftig sind«, sagte Georg nach einem sprachlosen Augenblick. »Hm, was Sie tun sollen? Vielleicht könnten Sie sich einen Arm wachsen lassen. Könnte mir denken, daß der uns später von Nutzen sein kann.« »Jetzt wissen wir also, woran wir sind«, sagte McCarty zu Gumbs. »Ja, gewiß.« »Major Gumbs«, fuhr sie fort. »Sie befinden sich mir gegenüber, wie ich glaube?« »Tue ich das?« fragte Gumbs zweifelnd. »Ja, ich denke schon. Wie ist das nun mit Meister. Ist er zu Ihrer Rechten oder Linken?« »Links. Das weiß ich genau. Ich kann seine Augenstiele sehen.« »Sehr schön.« McCartys Arm hob sich. Die Hand hielt einen scharf gezackten Stein. Voller Entsetzen sah Georg, wie der Arm ausholte. Die lange messerscharfe Spitze des Steines sondierte die Oberfläche des Monsters kaum drei Zentimeter von der Stelle entfernt, wo sein Gehirn lag. Dann machte die Faust eine plötzliche zustoßende Bewegung, und ein stechender Schmerz durchzuckte ihn. »Noch nicht lange genug, glaube ich«, sagte McCarty. Sie ließ die Muskeln ihres Armes spielen. »Major Gumbs, ich werde es jetzt noch einmal versuchen, und Sie werden mir berichten, ob Meisters Augenstiele irgendeine Reaktion verraten.«
Der Schmerz pochte immer noch durch seine Nervenbahnen. Mit dem einen – fast halbblinden – Auge starrte er angestrengt auf den embryonalen Arm, der langsam – viel zu langsam – am Rand des Monsters Gestalt annahm; mit dem anderen beobachtete er wie hypnotisiert, wie McCartys Arm unaufhaltsam auf ihn zugekrochen kam. Er wuchs sichtlich, und doch kam er nicht näher! Georg wußte nicht, was er davon halten sollte. Unglaublicherweise schien er sogar an Länge zu verlieren. Der Körper des Monsters floß unter ihnen auseinander, dehnte sich in entgegengesetzten Richtungen aus! McCarty stach von neuem zu. Diesmal war der Schmerz lange nicht mehr so heftig. »Major«, fragte sie, »können Sie etwas festhalten?« »Nein«, antwortete Gumbs, »ich glaube nicht. Wir scheinen uns übrigens eine Kleinigkeit nach vorn zu bewegen, Miss McCarty.« »Lächerlich! Sie müssen sich täuschen«, erwiderte sie. »Das Gegenteil ist der Fall: wir werden zurückgedrängt. Passen Sie gefälligst besser auf, Major!« »Nein, wirklich«, protestierte er. »Das heißt, wir bewegen uns auf das Strauchwerk zu – für mich vorwärts, für Sie zurück.« »Major Gumbs, ich bewege mich vorwärts, Sie dagegen rückwärts.« Sie hatten beide recht. Georg hatte endlich den Grund für seine erstaunliche Beobachtung entdeckt. Der Körper des Monsters war jetzt nicht länger mehr von kreisrunder Gestalt. Er dehnte sich, streckte sich entlang einer der Achsen in die Länge. In der Mitte
wurde die Andeutung einer Vertiefung sichtbar, und auch unter der Oberfläche zeigte sich Bewegung. Die vier Gehirne bildeten jetzt ein längliches Rechteck, und nicht mehr ein Quadrat. Auch die Lage der Rückenmarkstränge hatte sich verändert. Sein eigener und der Vivians schienen sich noch an der alten Stelle zu befinden, aber der von Gumbs zog sich jetzt unter McCartys Hirn entlang und umgekehrt. Nachdem es seine Masse um etwa zweihundert Kilo vermehrt hatte, war jetzt das Irgend etwas meisterii dabei, sich in zwei Individuen zu teilen, – wobei es fein säuberlich jedem dieser Individuen zwei seiner Bewohner zuteilte. Gumbs und Meister in dem einen; McCarty und Bellis in dem andern. Bei der nächsten Teilung, wurde ihm plötzlich klar, würde jedes Produkt nur noch ein Gehirn mitbekommen, und beim übernächsten Mal würde das eine der beiden neuen Individuen ein Monster in seinem ursprünglichen Zustand sein, das bewegungslos und gut getarnt darauf wartete, daß jemand kam und hineinfiel. Aber das bedeutete nichts anderes, als daß – wie bei der gewöhnlichen Amöbe – dieser faszinierende Organismus, von Unfällen abgesehen, unsterblich war. Er wuchs und teilte sich, wuchs und teilte sich. Kein Teil davon starb ab. Nicht so allerdings bei seinen Bewohnern. Ihre Gewebe würden altern und sterben. Oder doch nicht? Das menschliche Nervengewebe konnte sich zwar nicht erneuern, aber es konnte auch nicht wuchern, wie McCartys und seines es getan hatte, noch war irgendein anderes menschliches Kör-
pergewebe fähig, so schnell neue Zellen zu bilden, um Georgs Augenstiele und McCartys Arm zu erklären. Es stand außer Frage: Kein Teil dieses neugebildeten Gewebes konnte menschlich sein. Alles davon war nachgeahmt, von dem Monster aus seiner eigenen Substanz heraus erzeugt nach dem Konstruktionsplan, den die echten Zellen geliefert hatten. Die Fälschung war vollkommen – das neue Gewebe verband sich mit dem alten, Axonen verkuppelten sich mit Dentriten, Muskeln zogen sich auf Befehl zusammen und dehnten sich wieder aus. Und deshalb würde zwar am Ende vielleicht die letzte menschliche Zelle aufgezehrt und der menschliche Bewohner völlig zum Monster geworden sein, aber »ein Unterschied, der kein Unterschied ist, ist kein Unterschied«. Im Endeffekt würde der Bewohner trotzdem ein Mensch bleiben – und dazu unsterblich sein. Von Unfällen abgesehen. Oder von Mord! Miss McCarty sagte gerade: »Major Gumbs, was Sie sagen, ist einfach lächerlich. Die Erklärung liegt auf der Hand, es sei denn, Sie wollen mich absichtlich in die Irre führen aus Gründen, die ich mir nicht vorstellen kann. Ich fürchte jedenfalls, unsere Bemühungen, uns in entgegengesetzte Richtungen zu bewegen, reißen das Ding auseinander.« Miss McCarty war offensichtlich mit ihrer Geometrie etwas durcheinander. Sollte sie es bleiben. Es würde ihr etwas zu denken geben, bis die Teilung abgeschlossen war. Doch nein, das ging nicht. Georg befand sich schon außerhalb ihrer Reichweite und
rückte noch immer weiter von ihr ab, wie aber stand es mit Vivian. Ihr Gehirn und das McCartys lagen womöglich noch enger beieinander. Was sollte er tun? Wenn er das Mädchen warnte, würde das nur McCartys Aufmerksamkeit auf sie lenken. Es blieb ihm nicht mehr viel Zeit. Falls es wirklich zu einer Art physischer Verbindung zwischen den einzelnen Gehirnen gekommen war, dann würde diese Zellbrücke sicher bald reißen. Der Abstand zwischen den beiden Gehirnpaaren vergrößerte sich zusehends. Er mußte Vivian warnen, aber dabei zu vermeiden suchen, daß McCarty entdeckte, wie die vier Hirne gepaart werden würden. »Vivian«, sagte er. »Ja Georg.« »Hören Sie gut zu. Wir sind nicht dabei, diesen Körper hier auseinanderzureißen. Er teilt sich. Das ist die Art, wie er sich fortpflanzt. Sie und ich werden in der einen Hälfte sein, Gumbs und McCarty in der anderen. Wir können dann alle unserer verschiedenen Wege gehen.« Er log sehr glaubwürdig. »Ach, ich bin ja so froh.« Was für eine warme Stimme sie hatte. »Ja«, sagte Georg nervös. »Aber vielleicht werden sie uns nicht gehen lassen wollen. Vielleicht müssen wir uns wehren. Das liegt an ihnen. Deshalb lassen Sie sich für alle Fälle einen Arm wachsen, Vivian.« »Ich will es versuchen«, sagte sie unsicher. McCartys Stimme machte sich bemerkbar. »Major Gumbs, nachdem Sie Augen haben, wird es Ihre Aufgabe sein, dafür zu sorgen, daß uns die beiden nicht entkommen. Inzwischen schlage ich vor, daß auch Sie
sich einen Arm wachsen lassen.« »Tue schon mein Bestes«, sagte Gumbs. Bestürzt musterte Georg den Körper des Monsters. Hinter seinem eigenen halbfertigen Arm erblicke er unter Gumbs Teil einen fleischigen Fortsatz. Der Major hatte heimlich daran gearbeitet, ihn versteckt gehalten ... und sein Arm war beinahe schon besser entwickelt als der Georgs. »Heh, heh!« sagte Gumbs plötzlich. »Hören Sie, McCarty. Meister hat sie an der Nase herumgeführt. Sie beschwindelt, verstehen Sie? Schlauer Fuchs, muß ich sagen. Ich meine, Sie und ich, wir werden nicht in derselben Hälfte sein. Wieso auch? Wir befinden uns an entgegengesetzten Enden dieses verdammten Dings. Sie werden mit Bellis zusammenkommen und ich mit Meister.« Das Monster zeigte jetzt eine ausgeprägte Taille. Die Rückenmarkstränge hatten eine neue Lage eingenommen, so daß zwischen ihnen und der Mitte sich ein freier Raum befand. »Habe verstanden«, sagte McCarty leise. »Danke, Major Gumbs.« »Georg«, kam Vivians Stimme wie aus weiter Ferne. »Was soll ich tun?« »Der Arm!« rief er. Er erhielt keine Antwort. Entsetzt sah Georg, wie McCartys Arm, der immer noch den spitzen Stein in seiner Faust hielt, sich hob und über die quallige Oberfläche des Monsters nach links beugte. Immer noch zu kurz Gott sei Dank, dachte er. Trotzdem, es gab keine Möglichkeit, wie er Vivian helfen konnte, bevor McCarty ihren Arm um die wenigen fehlenden Zentimeter verlängert hatte.
Die Teilung war zwar erst zur Hälfte abgeschlossen, aber er war in seinem Gefängnis in seiner Bewegungsfreiheit genauso gehemmt wie ein siamesischer Zwilling, der sich von seinem Bruder trennen will. Aus den Augenwinkeln heraus sah er eine Bewegung. Er blickte zur Seite und sah eine plumpe, grotesk geformte Pseudohand, die nach seinen Augenstielen langte. Instinktiv hob er seinen eigenen Arm, bekam das Handgelenk des anderen zu packen und umklammerte es voller Verzweiflung. Der Arm war größer als der seine und muskulöser, so daß er ihn trotz der für ihn günstigeren Position seines Armes weder aufhalten, geschweige denn zurückdrücken konnte. Es blieb ihm nur eines übrig, nämlich seine kaum nennenswerte Kraft der von Gumbs hinzuzufügen, so daß dieser über sein Ziel hinausschoß. Gumbs begann, Rhythmus und Stärke seiner Bewegungen zu variieren, Georgs Griff zu lockern. Ein dicker Finger streifte seine Augenstiele. »Tut mir leid, Meister«, sagte Gumbs. »Ich hab ja eigentlich nichts gegen Sie, Sie verstehen. Unter uns gesagt ... uff ... ich mag dieses McCartyFrauenzimmer auch nicht besonders ... uff ... diesmal hätte ich sie bald gehabt ... so wie ich es sehe, ist sich jeder selbst der nächste, oder? Ich meine ... uff ... wenn ich mich nicht um mich selbst kümmere, wer dann? Verstehen Sie, was ich meine?« Georg verzichtete auf eine Antwort. Erstaunlicherweise war seine Angst plötzlich verflogen – sowohl die um ihn selbst, als auch die um Vivian. Er spürte nur noch einen überwältigenden, fast monomanischen Zorn. Aus irgendeiner unbekannten
Quelle strömten neue Kräfte in seinen Arm. Größer, dachte er, länger, stärker, noch mehr Arm! Der Arm wuchs. Er setzte sichtlich Substanz an, wurde länger und dicker, muskulöser. Gumbs' Arm allerdings tat das gleiche. Er begann die Arbeit an einem zweiten Arm. Gumbs ebenfalls. Rings um ihn war die Oberfläche in heftige Bewegung geraten. Im Innern des Monsters schien es zu kochen und zu wallen. Das Monster schrumpfte zusammen. Sein kurioses Atemsystem reichte nicht aus. Das Ding fraß sich selber auf, zerstörte seine eigenen Gewebe, um den Mangel auszugleichen. Wie weit konnte es auf diese Weise zusammenschrumpfen und immer noch Raum für zwei Bewohner bieten? Und welches Hirn würde es als erstes ausstoßen? Er hatte keine Zeit, diesen Gedanken weiterzuspinnen. Gumbs hatte vergeblich mit seinem zweiten Arm im Gras nach etwas gesucht, was ihm als Waffe hätte dienen können. Jetzt – mit einem plötzlichen Ruck – wälzte er ihren gemeinsamen Körper auf die andere Seite. Der Teilungsvorgang war abgeschlossen. Bei diesem Gedanken fiel Georg Vivian und McCarty ein, und er riskierte einen schnellen Blick hinter sich, konnte aber nichts sehen als einen grauen ovalen Hügel. Er drehte seine Augenstiele gerade noch rechtzeitig zurück, um zu sehen, wie Gumbs halbfertiger rechter Arm einen langen Ast ergriff und damit nach seinen Augen stach. Das Steilufer zum Flußbett begann nur einen Meter zu Georgs Linken. Er legte die Entfernung mit einem
gewaltigen Satz zurück. Ihr gemeinsamer Körper rutschte, verhielt dann einen Augenblick, während Gumbs Hände wild um sich griffen, um einen Halt zu finden, und rollte dann kopfüber inmitten einer Wolke aus Staub und Geröll den Abhang hinunter, an dessen Fuß er dann mit einem dumpfen Aufprall landete. Das Universum vollführte noch eine letzte Drehbewegung und kam dann zur Ruhe. Halb blind tastete Georg nach Gumbs' Arm der während des Falls seinem Griff entglitten war, fand das Handgelenk und packte es wieder. »O Gott!« murmelte Gumbs. »Ich bin verletzt, Meister. Los, Mann, geben Sie mir den Rest. Verschwenden Sie keine Zeit.« Georg starrte ihn voller Argwohn an. Er hütete sich, seinen Griff zu lockern. »Was ist los mit Ihnen?« »Gelähmt. Kann mich nicht bewegen.« Sie waren auf einen kleinen Felsen gefallen, einen der vielen, mit denen das Flußbett überstreut war. Dieser hier war ungefähr konisch, und sie lagen darauf, und die stumpfe Spitze drückte genau gegen Gumbs' Rückenmark an einer Stelle, die sich nur wenige Zentimeter unterhalb seines Gehirns befand. »Gumbs, das ist vielleicht nicht so schlimm, wie Sie denken. Wenn ich Ihnen helfe, werden Sie sich dann ergeben und meine Anweisungen befolgen?« »Wie wollen Sie mir helfen? Mein Rücken ist zerquetscht.« »Lassen wir das vorläufig. Beantworten Sie mir erst meine Frage: Wollen Sie oder wollen Sie nicht?« »Wie? Ja, natürlich«, sagte Gumbs. »Sehr anständig von Ihnen, Meister, muß ich sagen. Sie haben mein
Wort, wenn Ihnen das genügt.« »Also einverstanden«, sagte Georg. Er zog und zerrte angestrengt, und es gelang ihm, ihren gemeinsamen Körper von dem Felsbrocken herunterzubekommen. Dann versuchte er den Abhang wieder hinaufzuklettern, den sie gerade erst heruntergestürzt waren. Er war zu steil. Es blieb ihm nichts übrig, als nach einer leichter zugänglichen Stelle zu suchen. Er drehte sich um und lief nach Osten am Steilufer entlang. »Was haben Sie jetzt vor?« fragte Gumbs nach einiger Zeit. »Wir müssen einen Weg nach oben finden«, sagte Georg ungeduldig. »Vielleicht kann ich Vivian Bellis noch helfen.« »Ah, richtig. Fürchte, habe zu sehr an mich selbst gedacht. Wenn es Ihnen nichts ausmacht, Meister – welchen Schaden habe ich genommen?« Sie konnte unmöglich noch am Leben sein, dachte Georg niedergeschlagen, aber solange noch die geringste Chance bestand ... »Sie werden sich schnell wieder erholen«, sagte er zu Gumbs. »In Ihrem alten Körper wäre das eine tödliche Verletzung gewesen, hätte zumindest Lähmung auf Lebenszeit bedeutet. Aber nicht in diesem Ding da. Sie können sich jederzeit selber reparieren – so leicht, wie Sie sich ein neues Glied wachsen lassen können.« »Dumm von mir, daß ich nicht von selber daraufgekommen bin«, sagte Gumbs. »Sie haben recht. Aber heißt das etwa, daß wir nur einfach unsere Zeit verschwenden, wenn wir uns gegenseitig umzubringen versuchen?«
»Nein. Wäre es McCarty gelungen, mein Gehirn zu beschädigen, dann glaube ich, daß der Organismus es einfach verdaut hätte, und das hätte natürlich mein Ende bedeutet. Aber abgesehen von einem so drastischen Schritt, glaube ich, sind wir unsterblich.« »Unsterblich? Was Sie nicht sagen. Dadurch erscheint die Sache in einem anderen Licht, wie?« Das Steilufer wurde etwas flacher, an einer Stelle, wo ein Erdrutsch abgegangen war. Hier war ein Aufstieg möglich. Georg begann hinaufzuklettern. »Meister!« sagte Gumbs nach einer Pause. »Was ist?« »Sie haben recht gehabt. Ich merke, wie allmählich mein Gefühl zurückkehrt. Hören Sie, gibt es überhaupt etwas, was dieses Ding nicht fertigbringt? Ich meine zum Beispiel: glauben Sie, daß wir uns vielleicht unsere alte Gestalt wiedergeben könnten, so mit allen Gliedmaßen und so?« »Möglich«, sagte Georg einsichtig. Das war ein Gedanke, der ihm auch schon gekommen war; er verspürte jedoch wenig Lust, ihn gerade mit Gumbs zu diskutieren. Inzwischen waren sie schon auf halber Höhe angelangt. »Hm. In diesem Falle«, sagte Gumbs nachdenklich, »hat das Ding hier ganz bestimmte militärische Möglichkeiten. Einer, der mit so was im Kriegsministerium aufkreuzt, könnte dafür verlangen, was er will – mehr oder weniger.« »Nachdem wir uns geteilt haben«, sagte Georg, »können Sie tun, was Sie wollen.« »Aber verdammt!« sagte Gumbs irritiert, »das wird nicht gehen.«
»Wieso nicht?« »Weil man Sie finden könnte.« Seine Hände streckten sich plötzlich aus und lockerten einen kleineren Felsbrocken aus dem Boden, bevor Georg etwas dagegen unternehmen konnte. Ein größerer Felsen darüber erzitterte, neigte sich langsam nach vorn. Georg, der sich direkt darunter befand, konnte weder vor noch zurück. »Tut mir wiederum leid, Meister«, sagte Gumbs mit einem Ton aufrichtigen Bedauerns in der Stimme. »Aber Sie wissen ja, das Loyalitätskomitee. Kann das Risiko einfach nicht eingehen.« Der Felsen schien eine Ewigkeit für seinen Fall zu brauchen. Georg versuchte verzweifelt auszuweichen, dann – ganz instinktiv – stemmte er seine Arme dagegen. Der schwere Stein löste sich und fiel. Georg spürte, wie seine Arme wie dürre Zweige zusammenknickten, sah einen dunklen Fleck, der den Himmel verdüsterte spürte einen Schlag wie von einem Dampfhammer, der den Boden unter ihm erzittern ließ. Er hörte ein schmatzendes Geräusch. Und er war immer noch am Leben. Diese erstaunliche Tatsache beschäftigte seine Gedanken noch eine lange Zeit, nachdem der Felsen schon längst den Abhang hinuntergedonnert war. Dann endlich hatte er sich so weit gesammelt, um seinen Körper betrachten zu können. Der Widerstand seiner Arme hatte ausgereicht, um den Fall des Felsens eine Kleinigkeit abzulenken – vielleicht um dreißig Zentimeter nach rechts. Diese Hälfte des Monsters war nur noch eine bis zur Un-
kenntlichkeit zerquetschte und auseinandergerissene Masse. Ein paar Klümpchen schwammiger Materie lagen darin eingebettet und lösten sich langsam auf. Nach etwa zwanzig Minuten waren die letzten Überreste von Gumbs' Rückenmark und Hirn absorbiert, und das Monster war in seine ursprüngliche Linsengestalt zurückgeflossen. Georgs Schmerzen ließen langsam nach. Noch weitere fünf Minuten, und seine geheilten Arme waren wieder so stark wie früher. Sie zeigten jetzt auch eine überzeugendere Form und Farbe – die Gelenke, die Fingernägel, selbst die Hautfalten waren sehr natürlich. Unter gewöhnlichen Umständen hätte diese Tatsache Georg für mehrere Stunden in Nachdenklichkeit versetzt, doch jetzt erfüllte ihn Ungeduld. So schnell er konnte legte er den Rest des Weges bis zur Anhöhe zurück. Dreißig Meter vor ihm lag ein gewölbter grünbrauner Körper regungslos im dürren Gras. Das zweite Monster enthielt natürlich auch nur noch ein Gehirn – aber wessen? Das von McCarty, dessen war er sich nahezu sicher. Vivian hatte wohl keine Chance gehabt. Aber wie kam es, daß nichts mehr von McCartys Arm vorhanden zu sein schien? Georg setzte sich in Bewegung, um das Ding näher in Augenschein zu nehmen. Auf der von ihm abgewandten Seite bemerkte er zwei dunkelbraune Augen, die ein seltsam unfertiges Aussehen besaßen. Sie erblickten ihn, und ein Beben lief über den Körper, und er bewegte sich auf ihn zu. Vivians Augen waren braun gewesen, er konnte sich ihrer genau erinnern. Braune Augen mit dichten
dunklen Wimpern in einem schlanken, nach unten schmaler werdenden Gesicht. Bewies das etwas? Welche Farbe hatten McCartys Augen gehabt? Er wußte es nicht mehr. Georg kam näher und hoffte dabei inständig, daß das Irgend etwas meisterii in seinem Aufbau und Verhalten weit genug entwickelt war, um sich mit Angehörigen seiner eigenen Art zu konjugieren, statt zu versuchen, sie aufzufressen. Die zwei Körper berührten sich und begannen miteinander zu verschmelzen. Der Teilungsprozeß lief jetzt rückläufig ab. Aus den zwei ellipsenförmigen Körpern wurde eine Acht, dann eine einzige Ellipse. Sein Gehirn und das andere trieben langsam aufeinander zu, die beiden Rückenmarkstränge überlagerten sich. Erst dann bemerkte er, daß das andere Gehirn irgendwie seltsam aussah. Es schien fester, kompakter zu sein als das seine, seine Form schärfer umrissen. »Vivian«, fragte er besorgt. »Sind Sie das?« Keine Antwort. Er versuchte es noch einmal und dann wieder. Endlich: »Georg! Oh, mein Gott! Ich möchte weinen, aber ich kann es nicht.« »Keine Tränendrüsen«, sagte Georg automatisch. »Ah, Vivian?« »Ja, Georg?« Wieder diese warme Stimme. »Was ist mit Miss McCarty passiert? Wie haben Sie ...« »Ich weiß es nicht. Sie ist fort, nicht wahr? Ich habe schon eine ganze Zeit nichts mehr von ihr gehört.« »Ja«, sagte Georg. »Sie ist fort. Aber Sie wissen nicht, wie das kam? Erzählen Sie mir, was Sie in der Zwischenzeit gemacht haben.«
»Ja, also ich wollte einen Arm machen, weil Sie es mir gesagt haben. Aber ich dachte, vielleicht reicht die Zeit dafür nicht aus. Deshalb machte ich stattdessen eine Schädeldecke. Und das hier, um mein Rükkenmark zu schützen.« »Rückenwirbel.« Ja, warum zum Teufel, hatte er nicht auch daran gedacht? »Ich glaube, ich weine jetzt«, sagte sie. »Ja, wirklich. Es erleichtert mich so. Ja, und danach lag ich einfach still da und dachte, wie schön es doch wäre, wenn sie nicht mehr da wäre. Sie tat mir weh. Und nach einer Weile war sie dann fort. Und dann ließ ich mir Augen wachsen, um nach Ihnen zu suchen.« Diese Erklärung, dachte Georg, stellte ihn vor größere Rätsel als vorher. Er schaute sich suchend um und entdeckte etwas, was er bis jetzt übersehen hatte. Zwei Meter zu seiner Linken lag ein feuchter grauer Klumpen im Gras. Das Monster, kam ihm plötzlich die Erleuchtung, mußte irgendeinen Mechanismus besitzen, um unliebsame Bewohner auszustoßen – zum Beispiel Gehirne, die wahnsinnig oder hysterisch wurden oder ihre Zuflucht zu Selbstmord nahmen. Es war eine Art Kündigungsklausel im Mietvertrag. Auf irgendeine Weise hatte es Vivian fertiggebracht, diesen Mechanismus zu aktivieren, den Organismus davon zu überzeugen, daß McCartys Gehirn nicht nur überflüssig, sondern sogar gefährlich war – giftig, war das richtige Wort. Eine größere Schande konnte es nicht geben. McCarty war nicht aufgefressen, sie war ausgeschieden worden.
Gegen Sonnenuntergang – zwölf Stunden später – konnten beide beträchtliche Fortschritte verzeichnen. Nachdem sie sich ausgesprochen hatten, hatten sie Jagd auf eine andere Herde der Pseudoschweine gemacht und sich sattgegessen. Dann hatten sie sich geteilt – aus unterschiedlichen Gründen: Georg, weil ihm der normale Metabolismus des Monsters unzufriedenstellend erschien und es sich auch nicht schnell genug fortbewegen konnte; Vivian, weil sie glaubte, daß sich kein Mann in ihrem augenblicklichen Zustand für sie interessieren könnte – und hatten den Versuch unternommen, ihre Körper neu zu formen. Die ersten Versuche waren entmutigend ausgefallen, der Rest war dann überraschend einfach gewesen. Wieder und wieder hatten sie sich in den amöboiden Zustand zurücksinken lassen müssen, Opfer irgendeines vergessenen oder schlecht funktionierenden Organs – aber jeder Fehlschlag ebnete den Weg zu dem endgültigen Erfolg. Endlich standen sie aufrecht auf zwei Beinen, atemlos, aber atmend, vorläufig nur zwei Skizzen selbstgemachter Menschen. Außerdem lagen jetzt fast dreißig Kilometer zwischen ihnen und dem Camp. Sie standen auf einer kleinen Anhöhe und schauten nach Süden über das flache, weitgestreckte Tal. In der Ferne sahen sie einen schwachen Schein: das Feuer der Erzöfen, aus denen die Metallnahrung für die todbringenden Waffen kamen. »Wir werden niemals zurückgehen, nicht wahr?« sagte Vivian. »Nein«, antwortete Georg entschlossen, »jedenfalls nicht freiwillig. Wir werden warten, bis sie uns fin-
den. Und dann werden wir ihnen größere Rätsel aufgeben als sie uns. Vergiß nicht, wir können aus uns machen, was wir wollen.« »Ich möchte, du wünschtest, daß ich schön bin, damit ich es werde«, sagte sie. »Schöner als je eine andere Frau gewesen ist«, stimmte er ihr zu. »Und außerdem werden wir beide superintelligent sein. Ich kann nichts finden, was dagegen sprechen sollte. Wir können unser Wachstum in jede mögliche Richtung dirigieren. Wir werden mehr sein als bloße Menschen.« »Der Gedanke gefällt mir«, sagte Vivian. »Ihnen wird er nicht so gefallen, den McCartys und Gumbs' und all den anderen. Gegen uns werden sie nicht die geringste Chance haben, denn wir sind die Zukunft.« Etwas blieb für ihn noch zu tun übrig, eine Kleinigkeit nur, aber für Georg sehr wichtig, weil bei ihm jede Arbeit zu einem Abschluß geführt werden mußte. Der Name für das Monster – wie sollte er es nennen? Jetzt hatte er ihn. Es würde nicht Irgend etwas meisterii sein. Spes hominis – Hoffnung der Menschheit.
Originaltitel: FOUR IN ONE