Die Oberfläche der Erde war tot ... Links von ihnen lag eine unüberschaubare Ebene, die Billy Angst einflößte. Wie Grom...
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Die Oberfläche der Erde war tot ... Links von ihnen lag eine unüberschaubare Ebene, die Billy Angst einflößte. Wie Grom hatten sie beobachtet, wie der Staubschleier sich über die Reste von Rorange senkte. Dann wandten sich beide in die andere Richtung. Hier war eine unendliche Staubmenge zu phantastischen scharfkantigen Dünen aufgeschichtet. Ganz weit in der Ferne fiel ein Dunst- und Staubschleier von einem gelben Himmel herab. Aus dieser Richtung kam mit Blitzgeschwindigkeit ein anderer Sturm herangerast. Er durchstieß den Schleier und zerpflügte die Dünen und kam, eine dunkle Kugel elementarer Gewalt, angefüllt mit den Sedimenten der Erde, auf sie zu gerast. Da schrie Billy und rannte zurück zum Bunker, auf dessen Dach eine dichte Staubschicht lag, als sei es Schnee. Sie stolperte und fiel, kam mühsam wieder auf die Beine. Grom hörte sie über Funk schluchzen vor Angst. Sie rannte in die Sicherheit des Betonklotzes, der doch nicht mehr war als ein kleiner Auswuchs ... HERRLICHE FREIHEIT von Arsen Darnay und sechs weitere ungewöhnliche Science-Fiction Stories von bekannten Autoren.
In der Reihe der Ullstein Bücher: SCIENCE-FICTION-STORIES Band 1, 2, 11, 12, 53–72
Ullstein Buch Nr. 3515 im Verlag Ullstein GmbH, Frankfurt/M – Berlin – Wien Aus dem Amerikanischen übersetzt von Leni Sobez Umschlagillustration: Young Artists Umschlaggraphik: Ingrid Roehling Alle Rechte vorbehalten Alle Stories aus THE BEST FROM GALAXY III. Edited by James Baen Copyright © by Universal-Award House, Inc. Übersetzung © 1978 by Verlag Ullstein GmbH, Frankfurt/M – Berlin – Wien Printed in Germany 1978 Gesamtherstellung: Ebner, Ulm ISBN 3-548-03515-9
CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Science-fiction-Stories hrsg. von Walter Spiegl. – Frankfurt/M Berlin, Wien: Ullstein. NE: Spiegl, Walter [Hrsg.] 73./Mit Beitr. von Ursula K. Le Guin. [Aus d. Amerikan. übers. von Leni Sobez]. – 1978. – (Ullstein-Bücher: Nr. 3515: Ullstein 2000) ISBN 3-548-03515-9 NE: Le Guin, Ursula K. [Mitarb.]
Science-FictionStories 73 Herausgegeben von Walter Spiegl Mit Beiträgen von Ursula K. Le Guin Joe Haldeman Joanna Russ James Blish und L. Jerome Stanton James White Arsen Darnay Robert Sheckley J. A. Lawrence
ein Ullstein Buch Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!
INHALT Der Tag vor der Revolution Ursula K. Le Guin ..............................................
6
Der Privatkrieg des Gefreiten Jacob Joe Haldeman .....................................................
30
Durchgänge Joanna Russ ........................................................
39
Der Glitsch James Blish und L. Jerome Stanton ..................
42
Eine Antwort kam nicht James White ........................................................
60
Herrliche Freiheit Arsen Darnay .....................................................
90
End City Robert Sheckley .................................................. 139 Das Ding im Tank J. A. Lawrence .................................................... 144
Ursula K. Le Guin DER TAG VOR DER REVOLUTION Die Stimme des Sprechers war so laut wie ein Bierfuhrwerk in einer Straße mit Kopfsteinpflaster, und die versammelten Leute waren auch so eng geschichtet wie Pflastersteine. Die laute Stimme dröhnte über ihnen. Taviri war irgendwo auf der anderen Seite der Halle. Sie mußte zu ihm gelangen. Sie wand und drängte sich zwischen den dunkelgekleideten, dichtgepackten Menschen durch. Sie hörte nicht die Worte und sah nicht die Gesichter, sie war sich nur der dröhnenden Stimme und der vielen Menschen bewußt. Sehen konnte sie Taviri nicht, dazu war sie zu klein. Ein breiter Körper in Schwarz versperrte ihr den Weg. Sie stieß heftig mit der Faust nach ihm, um zu Taviri zu gelangen, doch es war, als habe sie gegen einen Stein geschlagen, so unbeweglich blieb der Dikke stehen, aber den mächtigen Lungen über ihrem Kopf entrang sich ein bellender Schrei. Sie duckte sich, doch dann wurde sie gewahr, daß das Bellen nicht ihr gegolten hatte. Nun schrien auch andere. Der Redner hatte etwas besonders Gutes über Steuern oder Schatten gesagt. Aufgeregt stimmte sie in das Geschrei ein: »Ja, ja!« Sie drängte weiter und gelangte schließlich auf das offene Gelände des Regimentsexerzierfeldes von Parheo. Der Himmel über ihr war tief und farblos, und um sie herum nickte hohes Unkraut mit trockenen weißen Blütenköpfen. Sie wußte nicht, wie diese Blüten hießen. Die Blumen schwankten über ihrem Kopf und
bogen sich im Wind, der immer in der Dämmerung über das Feld blies. Sie rannte zwischen die Blumen, die sich willig zur Seite bogen und wieder aufrichteten. Taviri stand in seinem guten Anzug im Unkraut. In der dunkelgrauen Kleidung wirkte er wie ein Professor oder Schauspieler, jedenfalls sehr elegant. Nur glücklich schien er nicht zu sein, obwohl er lachte, und dann sagte er etwas zu ihr. Beim Klang seiner Stimme mußte sie weinen, und sie griff nach seiner Hand; doch mit dem Weinen konnte sie trotzdem nicht aufhören. »Oh, Taviri«, sagte sie, »so ist das eben.« Der seltsame süße Duft der Unkrautblüten hing schwer in der Luft. Unter ihren Füßen gab es Dornen und Ranken und viele Unebenheiten. Sie fürchtete zu fallen ... Die helle, strahlende Morgensonne schien ihr grell in die Augen. Sie hatte letzte Nacht vergessen, die Blenden herabzulassen. Sie wandte der Sonne den Rücken zu, doch auf der rechten Seite lag sie nicht bequem. Es hatte keinen Sinn; es war Tag. Sie seufzte zweimal, setzte sich auf, schob ihre Beine über die Bettkante und kauerte in ihrem Nachthemd da; sie schaute auf ihre Füße hinab. Die Zehen waren von den billigen Schuhen zusammengedrückt, die sie ihr Leben lang getragen hatte. Wo sie einander berührten, waren sie fast würfelförmig. Die Nägel waren gelbbraun und verformt. Zwischen den Knöcheln liefen dünne, trockene Falten. Nur die kleinen ebenen Flächen an den Zehenwurzeln hatten ihre Zartheit bewahrt, und dort war die Haut lehmgelb. Den Spann überzogen knotige Adern. Ekelhaft. Traurig. Deprimierend. Armselig.
Häßlich. Sie probierte alle Wörter aus, die ihr einfielen, und alle paßten wie gräßliche kleine Hüte. Häßlich, ja auch das paßte. Sich selbst anschauen und sich selbst häßlich finden, wie widerlich! Aber wäre sie nicht häßlich, würde sie dann so herumsitzen und sich anstarren? Ein richtiger Körper ist kein Objekt, kein Werkzeug, ist nicht da, um bewundert zu werden; ein richtiger Körper, das bist du, du selbst. Nur wenn er nicht mehr du bist, sondern nur ein Ding, das einem gehört, dann sorgt man sich darüber, ob er auch in gutem Zustand ist. Wird er es noch schaffen? Wird er durchhalten? »Wen interessiert das schon?« sagte Laia zornig und stand auf. Es machte sie ein wenig benommen, so schnell aufzustehen, und weil sie zu fallen fürchtete, streckte sie die Hand nach dem Tisch aus. Und da dachte sie daran, nach Taviri zu greifen wie im Traum. Was hatte er gesagt? Sie konnte sich nicht erinnern. Sie wußte nicht einmal, ob sie seine Hand auch wirklich berührt hatte, doch sie versuchte die Erinnerung herbeizuzwingen. Es war schon so lange her, daß sie von Taviri geträumt hatte; und jetzt konnte sie sich nicht einmal an das erinnern, was er gesagt hatte! Er war weg. Sie stand in ihrem Nachthemd da und hielt sich am Tisch fest. Wie lange war es schon her, daß sie an ihn gedacht hatte? Wie lange, daß sie den Namen Taviri zum letztenmal gesagt hatte? Als Asieo und ich im Norden im Gefängnis waren. Bevor ich Asieo traf? Asieos Theorie der Gegenseitigkeit. Oh, natürlich, sie hatten über ihn gesprochen, zweifellos sogar zuviel, aber über Asieo, den Mann der Öffentlichkeit. Den Privatmann gab es nicht
mehr. Es waren so wenige übrig, die ihn noch gekannt hatten. Alle waren im Gefängnis gewesen. Damals lachte man darüber, denn alle Freunde waren in allen möglichen Gefängnissen. Aber diese Tage waren längst vorbei. Es gab Gefängnisfriedhöfe. Oder sie lagen in den allgemeinen Gräbern. »Oh, mein Liebster«, sagte Laia laut, und sie sank wieder auf das Bett, weil sie nicht mehr stehen konnte, wenn sie sich der ersten Wochen im Fort, in der Zelle erinnerte, dieser ersten Wochen der neun Jahre in Fort Drio, nachdem man ihr gesagt hatte, daß Asieo im Kampf am Capitol Square getötet und mit den vierzehnhundert aus den Gräben hinter Oring Gate begraben worden war. In der Zelle. Ihre Hände sanken auf ihren Schoß, die Linke gefangen im Griff der Rechten, der rechte Daumen rieb über den Knöchel des linken Zeigefingers. Stunden, Tage, Nächte. Sie hatte an alle gedacht, an jeden der vierzehnhundert, wie sie lagen, wie der Kalk auf das Fleisch einwirkte, wie die Knochen einander berührten im brennenden Dunkel. Wer berührte ihn? Wie lagen jetzt die schlanken Knochen der Hand? Stunden. Jahre. »Taviri, ich habe dich niemals vergessen«, wisperte sie, und die Dummheit dessen brachte sie wieder zurück ins Morgenlicht und zu dem zerwühlten Bett. Natürlich hatte sie ihn nicht vergessen. Solche Dinge sind doch selbstverständlich zwischen Mann und Frau. Wieder standen ihre häßlichen alten Füße flach auf dem Boden, genau wie vorher. Sie war im Kreis gegangen und nirgends angekommen. Mit einem Seufzer der Anstrengung und des Mißmutes stand sie auf und ging zum Schrank, um ihren Morgenrock zu holen.
Die jungen Leute liefen so ungeniert im Haus herum, doch dafür war sie zu alt. Sie wollte keinem jungen Mann mit ihrem Anblick das Frühstück verderben. Außerdem waren sie aufgewachsen mit den Grundsätzen der Freiheit von Sex und Kleidung und all dem übrigen, sie jedoch nicht. Sie hatte diese Grundsätze nur angenommen oder sogar erfunden. Das war nicht dasselbe. Asieo, mein Ehemann ... Sie zuckte zusammen. Als gute Odonierin müßte sie den Begriff Partner benützen. Aber warum, in aller Welt, sollte sie eine gute Odonierin sein? Sie schlurfte den Gang entlang zum Badezimmer. Mairo war dort und wusch sich in einem Waschbekken das Haar. Laia bewunderte diesen nassen langen Schopf. Sie kam so selten aus dem Haus, daß sie gar nicht mehr wußte, wann sie zuletzt einen respektablen geschorenen Kopf gesehen hatte, aber der Anblick eines üppigen Haarwuchses bereitete ihr ein sehr intensives Vergnügen. Wie oft hatte man sie als Langhaar beschimpft, hatten Polizisten oder Rüpel sie an ihren langen Haaren gezerrt, und in jedem neuen Gefängnis hatte man es ihr bis auf die Kopfhaut abgeschoren. Oh, die Soldaten hatten dabei gegrinst. Aber danach war immer wieder junges, dichtes Haar nachgewachsen, zur Krause, zu Locken, zu einer Mähne ... in alten Zeiten. Um Himmels willen, konnte sie denn heute an nichts anderes denken als an alte Zeiten? Als sie angezogen und ihr Bett in Ordnung gebracht war, ging sie hinunter in die Gemeinschaftsräume. Es war ein gutes Frühstück, aber seit diesem verdammten Schlaganfall hatte sie keinen rechten
Appetit mehr. Sie trank zwei Tassen Kräutertee, doch das Stück Obst, das sie genommen hatte, konnte sie nicht aufessen. Und wie hatte sie als Kind nach Obst gehungert! So sehr, daß sie es stahl. Und im Fort ... o Gott, nun endlich Schluß damit! Sie lächelte und erwiderte die Grüße und freundlichen Fragen der anderen Frühstücker und des großen Aevi, der diesen Morgen Dienst hinter der Theke hatte. Er hatte sie auch mit dem Pfirsich in Versuchung geführt: »Schau dir doch dieses Prachtstück an! Ich habe ihn für dich aufgehoben.« Wer konnte sich da weigern? Obst hatte sie immer gemocht und nie genug bekommen. Als sie sechs oder sieben war, hatte sie einmal von einem Obstkarren in der River Street ein Stück gestohlen. Aber wenn alle so aufgeregt redeten, konnte sie kaum essen. Es gab auch Nachrichten von Thu. Erst wollte sie gar nicht darauf hören, denn zuviel Begeisterung machte sie immer vorsichtig, aber dann hatte sie den Zeitungsartikel gelesen und noch mehr zwischen den Zeilen, und dabei war sie zu der Überzeugung gelangt: jetzt ist es endlich so weit! Aber in Thu, nicht hier. Thu würde zusammenbrechen. Dort würde sich auch die Revolution halten können. Als ob das eine Rolle spielte! Es wird keine Nationen mehr geben. Und doch erschien es ihr irgendwie wichtig, es machte sie ein wenig kalt und traurig, erfüllte sie sogar mit Neid. Es machte sie neidisch auf alle diese unendlichen Dummheiten. Sie trug wenig zur Unterhaltung bei, und bald kehrte sie in ihr Zimmer zurück und tat sich selbst leid. Die Aufregung der anderen konnte sie nicht teilen. Sie war darüber hinausgewachsen. Es ist nicht leicht, sagte sie zu sich selbst, als sie mühsam die Treppe hinaufging, die Dinge zu ak-
zeptieren, in denen man einmal zutiefst gesteckt, in deren Mittelpunkt man fünfzig Jahre lang gestanden hatte. Oh, hör doch um Himmels willen auf damit! Sie brachte Treppe und Selbstmitleid hinter sich und betrat ihr Zimmer. Es war ein gutes Zimmer, und es war schön und eine große Erleichterung, für sich sein zu können. Ganz fair war es ja nicht. Einige der Jungen auf dem Dachboden lebten zu fünft in einem Raum, der auch nicht größer war als der hier. Es gab immer mehr Leute, die in einem odonischen Haus leben wollten, als richtig unterzubringen waren. Und sie hatte diesen großen Raum für sich ganz allein, weil sie eine alte Frau war, die einen Schlaganfall gehabt hatte. Und vielleicht deshalb, weil sie eine Odo war. Wäre sie keine Odo, sondern nur eine alte Frau, die einen Schlaganfall erlitten hatte, wäre ihr dann dieses Zimmer zugewiesen worden? Vielleicht. Aber wer wollte schon ein Zimmer mit einer alten sabbernden Frau teilen? Man wußte es nur nie genau, Favoritentum, Führerverehrung, Auslesekult überall trieben sie wieder neu aus. Aber sie hatte sowieso nie gehofft, daß man dies alles während einer Lebensspanne, in einer Generation ausrotten konnte. Nur die Zeit selbst bewirkte die großen Veränderungen. Inzwischen war dies ein großer, sonniger und hübscher Raum, gerade recht für eine sabbernde alte Frau, die eine Weltrevolution in Gang gesetzt hatte. In einer Stunde wollte ihr Sekretär kommen, um ihr bei der Tagesarbeit zu helfen. Sie schlurfte zum Schreibtisch, der ein großes, schönes Möbel war, ein Geschenk der Nio-Schrankmacher-Gilde, weil jemand einmal ihre Bemerkung gehört hatte, immer habe sie sich nach einem Schreibtisch mit Schubladen und ge-
nug Platz gesehnt. Verdammt noch mal, die Platte war mit Schriftstücken bedeckt, die meisten in Nois zierlicher, sauberer Schrift: DRINGEND – NORDPROVINZEN – BERATUNG MIT R. T.? Seit Asieos Tod war ihre eigene Handschrift nicht mehr dieselbe gewesen. Merkwürdig, wenn man darüber nachdachte. Schließlich hatte sie fünf Jahre nach seinem Tod die ganze Analogie geschrieben. Und dann gab es die Briefe für den großen Wärter mit den wassergrauen Augen. Wie hatte er geheißen? Ach, unwichtig. Zwei Jahre lang hatte er sie aus dem Fort geschmuggelt. Gefängnisbriefe nannte man sie jetzt, und es gab ein Dutzend verschiedener Ausgaben. Und dann die Briefe an Leute, die ihr ständig schrieben, sie sei so voll »geistiger Kraft«. Das hatte vielleicht zu bedeuten, daß sie sich selbst ins Gesicht gelogen hatte, als sie diese Briefe schrieb, weil sie versuchte, sich eine starke Haltung einzureden. Die Analogie war vielleicht das reifste und solideste literarische Werk, das sie je vollendet hatte, und alles war im Fort Drio entstanden, in der Zelle, nach Asieos Tod. Man mußte ja etwas tun, und im Fort bekam man Schreibzeug. Sie hatte all das in einer hastigen, gekritzelten Schrift geschrieben, die sie nie als die ihre empfand, nicht so wie die runde, glatte Schrift des Manuskripts Gesellschaft ohne Regierung, jetzt fünfundvierzig Jahre alt. Taviri hatte nicht nur die Sehnsüchte ihres Körpers und ihres Herzens mit sich in den ewigen ungelöschten Kalk mitgenommen, sondern auch ihre gute klare Handschrift. Nur die Revolution hatte er ihr hinterlassen. Die Leute sagten zu ihr: Wie tapfer von dir, weiterzumachen, zu schreiben, zu arbeiten, und das alles im
Gefängnis, nach diesem Verlust für die Bewegung. Verdammte Dummköpfe. Was hätte sie denn sonst tun sollen? Tapferkeit und Mut – was war das schon? Es war ihr nie gelungen, dies zu Ende zu denken. Keine Angst haben, sagten die einen. Angst haben und doch weitermachen, erklärten die anderen. Was hätte sie anderes tun sollen als weitermachen? Blieb einem denn je überhaupt eine Wahl? Sterben, das war doch nur ein Weg in die andere Richtung. Wollte man nach Hause kommen, dann mußte man weitergehen, und das hatte sie ausdrücken wollen, als sie schrieb: Die wahre Reise ist die Rückkehr. Es war jedoch nie mehr gewesen als eine Intuition, und heute war sie weiter denn je davon entfernt, vernünftig darüber nachzudenken. Sie bückte sich etwas zu rasch, so daß sie stöhnte, weil ihre Gelenke knackten, und kramte in einer unteren Schublade ihres Schreibtisches. Ihre Hand fand einen altersweichen Aktendeckel, und den zog sie heraus. Sie brauchte die Aufschrift gar nicht zu lesen, sie wußte, dies war das Manuskript der Syndikale Organisation der revolutionären Transition. Er hatte den Titel auf den Aktendeckel geschrieben, darunter seinen Namen: Taviri Odo Asieo, IX 741. Es war eine elegante Handschrift, jeder Buchstabe fein, keck, fließend. Aber er hatte den Stimmdrucker bevorzugt. Das Manuskript selbst war ein Stimmdruck von sehr hoher Qualität, bei dem jedes Zögern berichtigt, jede Hemmung normalisiert worden war. Man sah hier nicht, wie das O tief aus seiner Kehle kam, so wie man an der Nordküste sprach. Hier war nichts enthalten als sein Geist. Und sie hatte nichts von ihm als seinen auf den Aktendeckel ge-
schriebenen Namen. Seine Briefe hatte sie nicht behalten. Es war sentimental, Briefe aufzuheben. Sie hatte nie etwas aufgehoben. Sie hatte nie etwas länger als ein paar Jahre lang besessen, nur ihren alten verbrauchten Körper, und an den war sie ja gebunden ... Schon wieder die beiden: sie und er. Alter und Krankheit machten einen irgendwie zum Flüchtling. Der Geist bestand darauf: Das bin ich nicht. Er war es aber. Vielleicht konnten die Mystiker den Geist vom Körper trennen, und die hatte sie immer darum beneidet, ohne Hoffnung jedoch, es ihnen nachtun zu können. Flucht war nie ihr Prinzip gewesen. Sie hatte die Freiheit von Körper und Geist, hier und jetzt. Erst Selbstmitleid, dann Selbstlob, und sie saß für Gottes Liebe immer noch hier und hielt Asieos Namen in der Hand. Warum? Wußte sie denn seinen Namen nicht mehr, wenn sie ihn nicht geschrieben vor sich sah? Was war nicht in Ordnung mit ihr? Sie hob den Aktendeckel an ihre Lippen und küßte den handgeschriebenen Namen voll und fest, legte den Aktendeckel in die untere Schublade zurück, schob sie zu und richtete sich auf. In ihrer rechten Hand kribbelte es. Sie kratzte, dann schüttelte sie sie heftig und unwillig. Ganz hatte sie den Schlaganfall nicht überwunden. Mit ihrem rechten Bein ging es ähnlich, auch mit dem rechten Auge, dem rechten Mundwinkel. Sie kribbelten und waren etwas zu schlaff, ließen sich nicht richtig bewegen. Sie kam sich vor wie ein Roboter mit Kurzschluß. Die Zeit verflog, Noi würde bald kommen, und was hatte sie seit dem Frühstück getan? Hastig stand sie auf und hielt sich an der Stuhllehne fest, um nicht zu fallen. Sie ging den Korridor
entlang zum Badezimmer, um dort in den großen Spiegel zu schauen. Ihr grauer Haarknoten war viel zu locker und löste sich, sie hatte ihn vor dem Frühstück nicht ordentlich genug gemacht. Eine Weile kämpfte sie damit. Es war sehr schwierig, die Arme so lange hochzuheben. Amai kam hereingelaufen und rief: »Laß mich das tun!« Im Handumdrehen hatte sie den Knoten sauber und ordentlich aufgesteckt, denn sie hatte kräftige, geschickte Finger, und dazu lächelte sie. Amai war zwanzig, weniger als ein Drittel von Laias Alter. Beide Eltern hatten der Bewegung angehört. Die Mutter war beim Aufstand der sechziger Jahre getötet worden, der Vater rekrutierte noch immer in den Südprovinzen. Amai war in odonischen Häusern aufgewachsen, für die Revolution geboren, eine wahre Tochter der Anarchie. Und sie war ein sehr ruhiges, schönes, freimütiges Kind gewesen, und wenn man sie anschaute, konnte man weinen: das ist es, wofür wir gearbeitet haben, das haben wir gemeint, und da lebt sie nun, die fröhliche, freundliche, schöne Zukunft. Laia Osaieo Odos rechtes Auge weinte ein paar kleine Tränen, als die Tochter, die sie nicht geboren hatte, ihr das Haar aufsteckte. Aber ihr linkes Auge, das gesunde, weinte nicht, denn es wußte auch nie, was das rechte Auge tat. Sie bedankte sich bei Amai und eilte in ihr Zimmer zurück. Im Spiegel hatte sie einen Fleck auf ihrem Kragen gesehen. Pfirsichsaft wahrscheinlich. Alte Sabbertante. Sie wollte nicht, daß Noi käme und sie mit einem Fleck auf ihrem Kragen sähe. Als sie die saubere Hemdbluse über den Kopf zog, dachte sie darüber nach, was denn an Noi so Beson-
deres sei. Langsam befestigte sie mit der linken Hand den Kragenverschluß. Noi war etwa dreißig, schlank, muskulös, mit dunklen lebhaften Augen und sanfter Stimme. Das war das Besondere an Noi, und es war so einfach. Guter alter Sex. Nie hatte sie sich zu einem blonden oder fetten Mann hingezogen gefühlt, auch zu keinem großen mit dicken Muskeln; nicht einmal mit vierzehn, als sie sich jeden Tag neu verliebte. Dunkel, schmal und heftig, das war ihr Rezept. Taviri. Dieser Junge reichte natürlich, was den Verstand betraf, nie an Taviri heran, nicht einmal im Aussehen, aber es war doch so: sie wollte nicht von ihm mit einem Fleck am Kragen gesehen werden und mit einem halb aufgelösten Haarknoten. Ihr dünnes graues Haar. Noi kam herein und blieb nur einen Augenblick in der offenen Tür stehen. Mein Gott! Sie hatte ja, während sie die Bluse wechselte, nicht einmal die Tür geschlossen! Sie schaute ihn an und sah sich selbst: die alte Frau. Man könnte das Haar bürsten und die Bluse wechseln, oder die Bluse von der letzten Woche tragen und das Haar nicht einmal neu flechten, oder man konnte ein goldenes Kleid anziehen und den Skalp mit Diamantstaub pudern – nichts würde etwas nützen. Die alte Frau würde ein wenig oder auch etwas mehr grotesk wirken. Man hält sich selbst sauber aus Anstand, der Gesundheit wegen und aus Rücksicht auf andere Menschen. Und wenn selbst das vorbei ist, sabbert man ganz ungeniert. »Guten Morgen«, sagte der junge Mann mit seiner sanften Stimme.
»Hallo, Noi.« Nein, bei Gott, das war nicht nur aus Anstand. Den Anstand kann man zur Hölle schicken. Weil der Mann, den sie geliebt hatte und für den ihr Alter belanglos gewesen wäre, jetzt tot war – mußte sie da so tun, als sei sie geschlechtslos? Mußte sie die Wahrheit unterdrücken wie ein verdammter Puritaner? Noch vor sechs Monaten, vor dem Schlaganfall, hatte sie die Aufmerksamkeit der Männer auf sich gezogen, und jetzt war sie kein Vergnügen mehr; bei Gott, aber sich selbst konnte sie wenigstens zu gefallen versuchen. Als sie sechs Jahre alt war, kam Papas Freund Gadeo oft nach dem Abendessen zu Papa, um mit ihm zu politisieren. Dann legte sie die goldfarbene Kette um, die Mama auf einem Abfallhaufen gefunden und ihr mitgebracht hatte. Sie war so kurz, daß sie immer unter dem Kragen verschwand, wo niemand sie sehen konnte. So gefiel es ihr aber. Sie wußte, daß sie die Kette um ihren Hals liegen hatte, und so saß sie auf der Türschwelle und hörte ihnen beim Reden zu. Sie wußte, daß sie Gadeo gefiel. Er war dunkel und hatte blitzende weiße Zähne. Manchmal nannte er sie hübsche Laia. »Da ist ja meine hübsche Laia!« Sechsundsechzig Jahre war das jetzt her. »Was? Mein Kopf ist sehr schwer. Ich hatte ein schreckliche Nacht.« Das war richtig. Sie hatte noch weniger geschlafen als sonst. »Ich wollte fragen, ob du heute morgen die Zeitungen gelesen hast.« Sie nickte. »Freut dich das über Soinehe?« Soinehe war die Provinz in Thu, die sich in der
vergangenen Nacht vom thuvanischen Staat getrennt hatte. Er freute sich darüber. Die weißen Zähne blitzten in seinem dunklen, lebhaften Gesicht. Hübsche Laia. »Ja. Und besorgt bin ich.« »Ich weiß. Aber diesmal ist es etwas; der Anfang vom Ende der Regierung in Thu. Weißt du, sie haben nicht einmal versucht, Truppen nach Soinehe zu schicken. Die Soldaten würden nur um so eher rebellieren, und das wissen sie.« Darin gab sie ihm recht. Sie selbst hatte auch diese Gewißheit gefühlt. Aber seine Freude konnte sie nicht teilen. Nach einem Leben der Hoffnung, weil es außer Hoffnung nichts gibt, verliert man den Geschmack für den Sieg. Ein wahres Triumphgefühl muß als Vorgänger die tiefste Verzweiflung haben. Und Verzweiflung hatte sie schon vor sehr langer Zeit verlernt. Triumphe gab es nicht mehr. Man ging weiter. »Wollen wir heute diese Briefe vornehmen?« »Gut. Welche Briefe?« »An die Leute in Norden«, antwortete er ohne Ungeduld. »Im Norden?« »Parheo, Oaidun.« In Parheo war sie geboren, der schmutzigen Stadt am schmutzigen Fluß. Erst mit zweiundzwanzig war sie hierher in die Hauptstadt gekommen, um die Revolution zu bringen. In jenen Tagen, ehe sie und die anderen alles genau durchdacht hatten, war es eine sehr grüne und kindliche Revolution gewesen. Streiks für bessere Entlohnung, Rechte für Frauen. Stimmen und Löhne, Macht und Geld ... Nun, in fünfzig Jahren lernt man ein wenig dazu.
Aber dann muß man alles wieder vergessen. »Fangen wir mit Oaidun an«, sagte sie und setzte sich in den Armstuhl. Noi saß schon arbeitsbereit am Schreibtisch. Er las Ausschnitte aus den Briefen, die zu beantworten waren. Sie versuchte aufmerksam zuzuhören, und es gelang ihr auch so weit, daß sie einen Brief diktierte und einen zweiten begann. »Vergiß nicht, daß zu diesem Zeitpunkt deine Bruderschaft sehr anfällig ist für die Drohungen ... nein, die Gefahren –« Sie suchte nach den richtigen Worten, bis ihr Noi half: »– die Gefahren des Führerkults?« »Ja, gut. Und nichts wird so leicht vom Machthunger korrumpiert wie die Nächstenliebe. Nein. Und nichts korrumpiert die Nächstenliebe ... nein. Oh, du lieber Gott, weißt du nicht, was ich zu sagen versuche; Noi, du schreibst es. Sie wissen es auch, denn es ist immer dasselbe. Warum lesen sie bloß meine Bücher nicht?« »Ja, das stimmt«, antwortete Noi sanft und lächelte dazu. Das war eines der zentralen odoianischen Themen. »Schön. Aber ich bin es satt, immer recht zu haben. Schreib du den Brief, ich unterschreibe ihn, aber ich kann mich heute morgen nicht auf diese Sachen konzentrieren.« Er musterte sie ein wenig besorgt, und sie fügte gereizt hinzu: »Ich habe noch etwas anderes zu tun.« Als Noi gegangen war, setzte sie sich an den Schreibtisch und schob die Papiere herum. Sie mußte vorgeben, etwas zu tun, weil sie selbst von den Worten, die sie gesagt hatte, erschreckt und bestürzt gewesen war. Sonst hatte sie nichts zu tun. Niemals hatte sie
etwas zu tun. Dies war ihre Arbeit: ihre Lebensarbeit. Ihre Vortragsreisen, die Zusammenkünfte und die Straßen waren nun nichts mehr für sie, aber schreiben konnte sie noch immer, und das war ihr Lebenswerk. Und Noi hätte es ja gewußt, wenn sie sonst noch etwas zu tun gehabt hätte. Er führte ihren Terminkalender und erinnerte sie taktvoll an Dinge, die zu tun waren, etwa an den Besuch ausländischer Studenten am Nachmittag. Verdammt. Sie mochte die Jugend, und von Ausländern konnte man immer etwas lernen, aber sie war es müde, immer neue Gesichter zu sehen, noch müder, vorgeführt zu werden. Sie lernte von ihnen, doch sie lernten nichts von ihr; alles, was sie zu lehren hatte über die Bewegung, stand in ihren Büchern. Sie kamen nur, um zu schauen, als sei sie der Große Turm in Rodarred oder der Canyon der Tulaevea. Ein Phänomen, ein Monument. Sie waren voll ehrfürchtiger Verehrung. Sie fauchte sie an: denkt doch eure eigenen Gedanken! Das ist nicht Anarchie, das ist Obskurantismus. – Ihr meint, Freiheit und Disziplin ließen sich nicht vereinbaren? – Sie akzeptierten ihre strengen Vorhaltungen wie schwache Kinder, sogar dankbar, als sei sie eine Art All-Mutter, das Idol des Großen Schützenden Leibes. Sie! Sie, der die Schiffswerften in Seissero nicht gepaßt hatten, die vor siebentausend Menschen dem Premier Inoilte die Beleidigung ins Gesicht geschleudert hatte, er würde sich seine eigenen Hoden abgeschnitten, sie bronziert und als Andenken verkauft haben, wenn er darin einen Profit gesehen hätte; sie, die gekreischt und geflucht und Polizisten gegen das Schienbein getreten, die Priester bespuckt und in aller Öffentlichkeit auf die
große Messingplatte auf dem Capitol Square uriniert hatte, weil darauf stand: HIER WURDE DER SOUVERÄNE NATIONALSTAAT und so weiter GEGRÜNDET. Und jetzt war sie jedermanns Großmutter, die liebe alte Dame, das süße alte Monument, der mütterliche Leib der Nation. Das Feuer ist aus, Jungs, ihr könnt näher herankommen. »Nein, ich will nicht«, sagte Laia laut. »Ich will nicht.« Es machte ihr nichts aus, daß sie Selbstgespräche führte, weil sie das immer getan hatte. »Laias unsichtbare Zuhörerschaft«, hatte Taviri immer gesagt, wenn sie murmelnd durch einen Raum gegangen war. »Ihr braucht gar nicht zu kommen, ich werde nicht hier sein«, sagte sie jetzt zur unsichtbaren Zuhörerschaft. Soeben hatte sie beschlossen, was sie tun würde. Sie mußte ausgehen, hinaus auf die Straßen. Es war rücksichtslos, die ausländischen Studenten zu enttäuschen, typisch senil. Un-odonisch. Was nützte es schon, ein Leben lang für die Freiheit zu arbeiten und dann ganz ohne alle Freiheit zu enden? Sie wollte ausgehen. Spazierengehen. Was ist ein Anarchist? Einer der, wenn er die Wahl hat, die Verantwortung der Wahl auf sich nimmt. Auf dem Weg nach unten beschloß sie stirnrunzelnd, doch die ausländischen Studenten abzuwarten, aber danach wollte sie ausgehen. Es waren sehr junge und sehr ernste Studenten, rehäugige, ein bißchen zottige, charmante Wesen von der Westlichen Hemisphäre, aus Benbili und dem Königreich Mand; die Mädchen in weißen Hosen, die Jungen in langen Kilts, kriegerisch und archaisch. Sie sprachen von ihren Hoffnungen. »Wir in Mand sind so weit von der Revolution entfernt, daß wir ihr viel-
leicht sogar wieder nahe sind«, meinte eines der Mädchen sehnsüchtig und lächelnd. »Der Kreis des Lebens.« Und sie beschrieb mit ihren schlanken dunkelhäutigen Fingern diesen Kreis. Amai und Aevi servierten weißen Wein und braunes Brot, die Gastfreundschaft des Hauses. Aber die Besucher erhoben sich nach kaum einer halben Stunde bescheiden, um sich zu verabschieden. »Oh, nein, nein«, sagte Laia, »bleibt hier, sprecht mit Aevi und Amai. Ihr müßt verstehen, ich werde vom Sitzen ganz steif, ich muß immer wieder herumlaufen. Es war so schön, euch zu sehen. Wollt ihr, meine kleinen Brüder und Schwestern, bald wiederkommen und mich besuchen?« Ihr Herz kam ihnen entgegen, ihr flogen die Herzen der Besucher zu. Es wurden Küsse getauscht, man lachte, und sie freute sich über die jungen, glatten, dunklen Wangen, die verehrungsvollen Augen, das duftende Haar, und dann gingen sie. Wirklich, sie war ein wenig müde, aber hinaufgehen und ein Nickerchen machen – nein, damit würde sie klein beigeben. Sie hatte ausgehen wollen, und das würde sie auch tun. Seit wann war sie nicht mehr allein draußen gewesen? Seit dem Winter! Vor dem Schlaganfall. Kein Wunder, daß sie morbide Anwandlungen hatte. Es war wirklich ein Gefängnisurteil gewesen. Draußen, auf den Straßen, da lebte sie! Leise ging sie durch eine der Seitentüren hinaus, vorbei am Gemüsegarten, weiter zur Straße. Der schmale Geländestreifen war sorgfältig aufbereitet und gepflegt worden, so daß er jetzt eine gute Ernte von Bohnen und Ceea abgab, aber Laia hatte kein besonders gutes Auge für die Gärtnerei. Natürlich war es von Anfang an klar gewesen, daß anarchistische
Gemeinden selbst in der Zeit der Umformung eifrig versuchen mußten, sich möglichst weitgehend selbst zu erhalten, aber wie das geschehen sollte, mit Erde und Pflanzen, das war nicht ihre Sache. Dafür gab es Landwirte und Agronomen. Ihre Sache waren die Straße, die lärmenden, stinkenden, steinernen Straßen, in denen sie aufgewachsen war, wo sie ihr ganzes Leben verbracht hatte, die fünfzehn Gefängnisjahre ausgenommen. Voll Zuneigung besah sie sich die Hausfassade. Daß es als Bankgebäude erbaut worden war, gab den derzeitigen Bewohnern des Hauses eine besondere Befriedigung. Sie hatten ihre Mehlsäcke in den Tresorgewölben untergebracht, ihren Apfelwein lagerten sie in Krügen und Fässern in Safes. Über den Säulen an der Straßenseite stand noch immer BANKVEREINIGUNG DER INVESTOREN UND GETREIDEHÄNDLER. Die Bewegung scherte sich wenig um Namen. Sie hatte nicht einmal eine Fahne. Slogans kamen und gingen je nach Bedarf. Beständig war dagegen der Kreis des Lebens, den man an Mauern und auf das Pflaster malte, wo die Behörden ihn sehen mußten. Namen gegenüber waren sie gleichgültig, akzeptierten oder ignorierten wie man sie nannte und hatten Angst, auf etwas festgenagelt zu werden, doch sie hatten keine Angst davor, absurd zu erscheinen. So hatte also das bekannteste und zweitälteste aller Kooperativhäuser nur den Namen DIE BANK. Sie stand an einer breiten, ruhigen Straße. Nur eine Straße weiter begann der Temeba, ein offener Markt, früher berühmt als Zentrum für Schwarzmarktpsychogeniker und Teratogeniker; jetzt gab es dort nur noch Gemüse, gebrauchte Kleider und miserables
Straßentheater. Die prickelnde Vitalität war dahin, nur noch halblahme Alkoholiker, Drogensüchtige, Krüppel, kleine Händler, fünftklassige Huren, Pfandleihen, Spielsalons, Wahrsager, billige Hotels und Tätowierer waren da. Laia ging zum Temeba, so wie Wasser sein Niveau sucht. Die Stadt hatte sie nie gefürchtet oder verachtet. Sie war ihr Land. Wenn die Revolution erhalten blieb, würde es bald keine Slums mehr geben. Natürlich, Elend gab es immer, Grausamkeit, Abfall. Nie hatte sie vorgegeben, den Zustand des Menschen selbst verändern zu wollen oder zu können, so wie eine Mutter von ihren Kindern alle Tragödien fernhält, damit sie keinen Schaden nehmen. Nein, nur das nicht. Solange die Menschen die Freiheit der Wahl hatten, konnten sie ihretwegen Leimkrautabsud trinken oder in Kanälen leben, das war ihre Angelegenheit; solange kein Profit damit gemacht und keine Macht angestrebt wurde. Das hatte sie gefühlt, ehe sie etwas wußte, bevor sie ihr erstes Flugblatt schrieb und Parheo verließ, bevor sie ahnte, was Kapital hieß, bevor sie über die River Street hinaus kam, wo sie mit den anderen Sechsjährigen auf dem Pflaster kniend Rolltaggy spielte; da hatte sie schon geahnt, daß sie etwas auf den Grund gekommen war – der Stiftung, der Wirklichkeit, der Quelle. Später wurde sie dann von schockierten ehrbaren Leuten gefragt, ob sie denn die Zivilisation in den Schmutz treten wolle? Jahrelang versuchte sie ihnen zu erklären, daß Gott die Menschen ja aus dem Staub der Erde erschaffen hatte, und ebendieses Staubes bediente sich der Mensch, um Häuser zu bauen, in denen der Mensch anständig leben konnte. Aber
niemand, der sich für besser hielt als den Staub der Erde, wollte auf sie hören. Wasser zu Wasser, Staub zu Staub, und so schlurfte Laia durch die lärmenden, stinkenden Straßen, und die ganze häßliche Gebrechlichkeit hohen Alters kam ihr zu Bewußtsein. Die schläfrigen Huren mit ihren einst gelackten, jetzt aber zerzausten und schiefen Frisuren, die einäugige Frau, die müde ihr Gemüse ausrief, der halbblöde Bettler, der nach den Fliegen schlug, das alles waren ihre Landsleute. Die Frauen sahen ihr ähnlich, waren alle traurig, abstoßend, ärmlich, häßlich, widerlich. Das waren ihre Schwestern, ihr eigenes Volk. Sehr wohl fühlte sie sich nicht. Es war schon sehr lange her, daß sie so weit gegangen war, vier oder fünf Straßen, ganz allein, in all dem Lärm, dem Gedränge und der Sommerhitze. Sie wäre gern zum Koly-Park gegangen, diesem Dreieck kümmerlichen Rasens am Ende des Tememba, um dort eine Weile bei den alten Männern und Frauen zu sitzen, die immer dort saßen, um zu sehen, wie es wäre, dort zu sitzen und alt zu sein. Doch es war zu weit. Wenn sie jetzt nicht umkehrte, könnte ihr schwindlig werden, und sie hatte Angst zu stürzen, dort liegen zu müssen und zu den Leuten hochzustarren, die sie umstanden. Sie wandte sich um und begann den Rückweg und runzelte vor Anstrengung und Selbstverachtung die Brauen. Sie fühlte, daß ihr Gesicht sehr rot war, und in ihren Ohren kam und ging das warnende Rauschen. Es wurde ein bißchen viel, und sie hatte wirklich Angst, nun umzukippen. Sie sah eine Türschwelle im Schatten und ging darauf zu. Vorsichtig und mit einem Seufzer setzte sie sich. In der Nähe war ein Obstverkäufer, der schwei-
gend hinter seinen verstaubten, verwelkten Waren saß. Die Leute gingen vorbei. Niemand kaufte ihm etwas ab. Niemand schaute sie an. Odo, wer war Odo? Berühmte Revolutionärin, Autorin von Die Gemeinde, Die Analogie und anderer bekannter Bücher. Sie, wer war sie? Eine alte Frau mit grauem Haar und rotem Gesicht, die auf einer schmutzigen Türschwelle in einem Slum saß und Selbstgespräche murmelte. Was war sie? War sie das? Sicher sah jeder Vorübergehende sie so. Aber war sie denn nicht mehr die berühmte Revolutionärin? Nein. Wer war sie dann? Sie war die Frau, die Taviri geliebt hatte. Ja, richtig. Aber das genügte nicht. Das war vorüber. Er war schon so lange tot. »Wer bin ich?« fragte Laia ihre unsichtbare Zuhörerschaft, und die wußte die Antwort und sagte sie ihr einstimmig. Sie war das kleine Mädchen mit den aufgeschlagenen Knien, das auf einer Türschwelle saß und durch den schmutziggoldenen Dunst der River Street in den Spätsommernachmittag schaute, die Sechsjährige, die Sechzehnjährige, das wütende, zornige, verträumte Mädchen, unberührt und unberührbar. Sie war sie selbst. Sie war eine unermüdliche Arbeiterin gewesen, die nimmermüde Denkerin, aber ein Blutgerinnsel in einer Ader hatte diese Frau zerstört. Sie war die Liebende gewesen, die Schwimmerin in der Mitte des Lebens, aber der sterbende Taviri hatte diese Frau mit sich genommen. Nichts war geblieben, nur die Stiftung, die Gründung. Sie war heimgekommen; sie war nie von daheim weg gewesen. Die wahre Reise ist die Rückkehr. Staub und Schmutz und eine Türschwelle in den Slums. Und dahinter, am fernen Ende der Straße, das Feld mit
hohen trockenen Unkrautstengeln, die sich im Wind wiegten, wenn die Nacht kam. »Laia! Was tust du hier? Alles in Ordnung?« Jemand kam aus dem Haus, natürlich. Eine nette Frau, ein bißchen fanatisch, immer geschwätzig. Laia konnte sich an ihren Namen nicht erinnern, obwohl sie diese Frau seit Jahren kannte. Sie ließ sich nach Hause bringen, und die Frau redete auf dem ganzen Weg. Im großen kühlen Gemeinschaftsraum, in dem früher einmal die Kassierer, von bewaffneten Posten überwacht, an blankpolierten Schaltern Geld gezählt hatten, setzte sich Laia auf einen Stuhl. Sie konnte jetzt einfach noch nicht die Treppe hinaufsteigen, obwohl sie viel lieber allein gewesen wäre. Die Frau redete immer weiter, und andere aufgeregte Leute kamen herein. Es schien, als sei eine Demonstration geplant. In Thu ging alles immer so schnell, weil die Laune Feuer fing und dann etwas geschehen mußte. Übermorgen, nein, morgen sollte ein großer Marsch von der Altstadt zum Kapitolsplatz stattfinden, also die alte Route. »Wieder neun Monate Aufruhr«, sagte ein junger, eifriger, lachender Mann und schaute Laia an. Damals, in den ersten neun Monaten des Aufstandes hatte es ihn noch gar nicht gegeben. Für ihn war dies alles Geschichte. Jetzt wollte er selbst Geschichte machen. Der Raum hatte sich allmählich gefüllt. Morgen würde es hier eine Zusammenkunft geben, um acht Uhr früh. »Laia, du mußt sprechen«, sagten sie. »Morgen? Oh, morgen bin ich nicht hier«, erwiderte sie barsch. Der Frager lächelte, ein anderer lachte, aber Amai schaute sie bestürzt an. Sie redeten weiter. Die Revolution. Was, in aller Welt, hatte sie
veranlaßt, das zu sagen? Und selbst wenn es wahr wäre, so etwas am Abend der Revolution zu sagen! Sie wartete, bis es ihr gelang, ein wenig schwerfällig aufzustehen, um unbemerkt zwischen den Leuten durchzugehen, die noch immer mit ihren Plänen und ihrer Aufregung beschäftigt waren. Sie gelangte zur Halle, zur Treppe, stieg langsam, eine Stufe nach der anderen, hinauf. »Der Generalstreik«, eine Stimme, zwei Stimmen, zehn, sagten es unten im Gemeinschaftsraum hinter ihr. »Generalstreik«, murmelte Laia und ruhte einen Augenblick lang auf dem Treppenabsatz aus. Über ihr, vor ihr, in ihrem Zimmer – was wartete auf sie? Ihr privater Streik. Das fand sie auf müde Art spaßig. Sie begann die zweite Treppe hinaufzusteigen, nahm eine Stufe nach der anderen, immer ein Bein neben das andere gestellt, wie ein kleines Kind. Sie war ein wenig benommen, doch Angst zu fallen hatte sie nicht mehr. Vor ihr nickten die trockenen weißen Blumen und wisperten auf den abendlichen Feldern. Zweiundsiebzig Jahre, und nie hatte sie ihren Namen erfahren.
Originaltitel: THE DAY BEFORE THE REVOLUTION Copyright © 1974 by Ursula K. Le Guin
Joe Haldeman DER PRIVATKRIEG DES GEFREITEN JACOB Bei jedem Schritt brechen die Stiefelabsätze durch die ausgedörrte Kruste; der Fuß zögert, sinkt durch eine gut Fingerbreit dicke Schicht roten Talkumpuders, und wenn man ihn zurückzieht, kracht es noch einmal. Fünfzig Männer marschieren in einer Reihe durch die Wüste, und das klingt so, als werde eine große Schüssel mit Frühstücksknisterflocken umgerührt. Jacob hielt den Laserprojektor in der linken Hand und rieb die rechte im Schmutz; dann nahm er die Waffe in die rechte Hand, und die linke wurde im Schmutz gerieben. Die Plastikgriffe wurden schlüpfrig, wenn man sie den ganzen Tag lang in der verschwitzten Hand hielt, und man wollte ja schließlich nicht, daß einem das verdammte Ding aus der Hand rutschte, wenn man dem Feind entgegenrollte, stolperte und kroch, und der Schulterriemen war ja nur auf dem Exerzierplatz nützlich. Diese verdammten Rechenschieberjockeys rechneten immer aus, wie man das Ding halten sollte, und das war immer zu hoch, also nahm man es ab, sobald es irgendwie ging. Natürlich war es anders sicherer. Aber mit den Helmen waren sie unerbittlich streng. »Schau glücklich drein, Jacob.« Sergeant Melford war vor einem Kampf immer nur Lächeln und elastisches Temperament. Auch während der Schlacht. Er lächelte den Stacheldrahtverhau und seine Männer
an, während sie sich den Weg durch das Gewirr erkämpften und schnitten. Geht man hier nämlich zu schnell vor, dann stolpert man unweigerlich, und ist man zu langsam, wird man verbrannt. Er lächelte traurig, wenn einer seiner Männer genullt wurde, und er lachte fröhlich und kreischte dazu glücklich, wenn er als erster den Feind sah; er grinste, wenn der Feind genullt wurde, und während der ganzen traurigen und elenden Geschichte lächelte, lächelte, lächelte er. »Wenn er nur einmal nicht lächeln würde«, hatte der jung-alte Addison zu Jacob gesagt, doch das war schon lange her. »Wenn er nur ein einziges Mal brüllte oder finster dreinschaute, dann wären sofort fünfzig Leute da, die nur darauf warten, diesen elenden Bastard zu nullen.« Jacob wollte den Grund dafür wissen, und er sagte: »Schau doch nur mal in dich selbst hinein, wenn du diesem elenden Hundesohn in die Hölle folgst, und dann komm zurück und erzähl mir, was du für ihn empfindest.« Jacob war nicht dumm, weder damals, noch später, und er hatte ein scharfes Auge für das, was unter seinem Helm vorging. Was der alte Sergeant Melford für ihn tat, war in der Hauptsache die Vermittlung der Einsicht, daß er froh war, nicht auch verrückt zu sein. Egal, wie schlecht die Dinge auch liefen, Jacob freute sich wenigstens nicht darüber wie der immer irre lächelnde oder grinsende alte Sergeant Melford. Er hätte gern einmal mit Addison darüber gesprochen und ihn gefragt, warum man manchmal vor Angst richtig krank war, und dann schaute man auf und sah Melford, der sich die weiche Birne vom Hals lachte, weil er über einem noch rauchenden verbrannten Soldaten stand, und da mußte man dann ir-
gendwie auch lachen, obwohl das entsetzlich und verrückt war. Oder etwa nicht? Addison hätte es Jacob vielleicht erklären können, doch Addison hatte was abgekriegt und sich beide Oberschenkel und das Gemächte verbrannt, und es dauerte scheußlich lange, bis er wieder zurückkam. Und da war er dann nicht mehr altjung, sondern nur noch alt und redete nicht mehr viel. Nachdem er beide Hände ordentlich mit Dreck eingerieben hatte, war sein Griff um den Plastikschaft viel sicherer, und da konnte Jacob sogar zu Sergeant Melford zurücklächeln. »Diesmal wird's gut werden, Sergeant.« Es nützte nichts, wenn man sonst etwas sagte, wie etwa, daß es ein langer Marsch werden würde und warum wir nicht mal vor der Feindberührung eine kurze Rast einlegten und so, oder: ich hab Angst, und wenn ich sterben soll, dann lieber gleich. Nein. Der verrückte alte Melford würde sich neben dich auf die Fersen hocken und dir ein paar freundliche kleine Hiebe verpassen, dich mit diesen weißen Zähnen angrinsen und herumwitzeln, bis man das Bedürfnis hatte zu kreischen, oder man riß sich am Riemen und sagte kleinlaut: »Ja, Sergeant, diesmal wird's gut werden.« Die meisten von uns wußten, er war nur deshalb so verrückt, weil er schon zu lange bei diesem verrückten Krieg mitspielte, viel länger als jeder von uns sich erinnern konnte. Und er wurde niemals verwundet, obwohl ein Zug nach dem anderen ausgenullt wurde, manchmal einer, dann zwei oder drei oder gleich eine ganze Kompanie. Er selbst wurde nie verletzt, bekam nie einen Kratzer ab, und das hat ihn vielleicht doch ein bißchen geärgert. Aber keinem von uns hat der
verrückte Hundesohn leid getan. Wesley versuchte es so zu erklären: »Sergeant Melford ist ein Unwahrscheinlichkeitsfall.« Das versuchte er uns zu erklären, doch Jacob begriff nicht ganz, was eine Unwahrscheinlichkeit war, obwohl das ziemlich einfach zu sein schien, aber Jacob meinte, mit Mathematik habe das überhaupt nichts zu tun. Aber Wesley konnte recht gut reden, und eines Tages hätte er es vielleicht sogar geschafft, es Jacob begreiflich zu machen, aber dann versuchte er durch einen Stacheldrahtverhau zu kriechen. Nicht einmal ein Zivilist käme auf einen solchen Gedanken. Er fiel auch richtig um, und die kleinen Metallkäfer fraßen ihm das ganze Gesicht weg. Es war zwanzig oder vielleicht auch fünfundzwanzig Einsätze später. Wer zählt da noch genau mit? Jacob wurde sich mit einem Mal darüber klar, daß der alte Sergeant Melford niemals verletzt wurde, daß er aber auch selbst niemals einen Feind tötete. Er lief nur herum, schrie Befehle, lachte und schoß ab und zu einmal seinen Projektor ab, aber immer schoß er zu hoch, zu tief und mit viel zu breitem Strahl. Jacob wunderte sich darüber, aber um diese Zeit hatte er dann schon mehr Angst vor Sergeant Melford als vor dem Feind, so daß er den Mund hielt und darauf wartete, daß einmal ein anderer eine Bemerkung darüber machte. Ein paar Wochen später als Jacob bemerkte endlich Cromwell, der erst kurze Zeit im Zug war, daß Sergeant Melford niemals einen Feind ausnullte, und da kam ihm die Idee, dieser verrückte alte Hundesohn könnte vielleicht ein Spion für die andere Seite sein.
Sie unterhielten sich darüber eine Weile sehr angeregt, und dann erzählte Jacob das von der Unwahrscheinlichkeitstheorie und verwendete sogar die wissenschaftliche Bezeichnung, die er überhaupt nicht begriff: Locus impossibilitatis. Einer von den Neuen meinte dazu, der Sergeant sei ja nun wirklich eine unwahrscheinliche Lokus, und alle lachten. Das war gut, weil gerade Sergeant Melford vorbeikam und auch mitlachte, nachdem ihm Jacob erzählt hatte, was sie so spaßig fanden; natürlich nicht den Locus impossibilitatis, sondern den alten, abgedroschenen Witz, wie man Hormone macht, denn den hat noch niemand begriffen. Cromwell lachte sich fast den Kopf vom Hals, als gäb's kein Morgen mehr, und für ihn gab es nicht mal mehr einen Sonnenuntergang, weil er kurz darauf zu nahe an den Lagerrand geriet und in eine Quetschmatrix. Beim nächsten Gefecht setzte der Feind zum erstenmal das Siebfeld ein, und natürlich blieben da die Projektoren wirkungslos, und da erfuhren viele Männer zum letztenmal, daß ein leichter Plastikschaft eine verdammt miese Waffe ist gegen ein langes Messer, und davon hatte der Feind mehr als genug. Jacob überlebte, weil er gerade eine Glückssträhne hatte, zwar auf einen wichtigen Körperteil zielte, aber die Kniescheibe traf, und der Kerl hüpfte herum, weil er aufrecht stehen wollte. Dabei ließ er sein Messer fallen, Jacob hob es auf und verhalf dem Burschen zu einer neuen Körperöffnung von etwa Handbreite, dicht unter dem Nabel. Der Zug mußte eine ziemliche Anzahl von Ausfällen hinnehmen und sich zurückziehen. Das taten die Männer sehr flink. Sie ließen Addison zurück, der mit
den Händen im Schoß an einer Kiste lehnte und gar nicht mehr lächelte, weil er irgendwo ein rot quellendes Loch hatte. Als Addison nicht mehr da war, hatte keiner so viel Kampferfahrung wie Jacob. In der neutralen Zone nahm Sergeant Melford Jacob beiseite, und jetzt lächelte er eigentlich nicht mehr. »Jacob«, sagte er, »du weißt, wenn mir was passiert, mußt du den Zug übernehmen. Halt die Leute auf Trab, rückt ausgeschwärmt vor und merk dir, sie müssen vor allem heiter sein.« »Sergeant«, antwortete ihm Jacob, »ich kann ihnen ja sagen, daß sie ausschwärmen müssen, und das werden sie vermutlich auch tun, und alle drängen schon von sich aus vorwärts, aber wie kann ich ihnen Heiterkeit einbleuen, wenn ich selbst niemals besonders heiter bin, wenn du nicht da bist, Sergeant?« Dessen Lächeln wurde nun breiter und artikulierte sich in einem lauten Lachen. Du verrückter alter Hundesohn, dachte Jacob, und weil er nicht anders konnte, lachte er auch. »Mach dir darüber keine Sorgen«, riet ihm Sergeant Melford. »Das erledigt sich alles von selbst, wenn es erst so weit ist.« Der Zug übte sich immer mehr im Gebrauch von Messern und Keulen und wie man Hände und Füße einsetzte, aber die Projektoren mußten sie trotzdem mitschleppen, weil der Feind natürlich einmal das Siebfeld abschalten konnte, wenn es ihm gerade in den Kram paßte. Jacob bekam ein paar Kratzer ab und büßte die Nasenspitze ein, aber der Sanitäter schmierte eine Salbe darauf, da wuchs sie wieder nach. Der Feind setzte Pfeil und Bogen ein, so daß der
Zug Schilde mitschleppen mußte, doch das war nicht allzu schlimm, nachdem ein Modell entwickelt worden war, das man auf den seitlich gehaltenen Projektor steckte. Ein Trupp lernte auch den Gebrauch von Pfeil und Bogen gegen den Feind, und da normalisierte sich die Lage wieder einigermaßen. Jacob wußte nie genau, wie viele Kämpfe er mitgemacht hatte, aber es waren genau einundvierzig. Und am Ende des einundvierzigsten war er auch nicht mehr Gefreiter. Seit sie die Bogenschützen hatten, pflegte Sergeant Melford hinten bei ihnen zu stehen; er lachte, brüllte Befehle, und ab und zu ließ er sogar einen Pfeil abschießen, der aber immer auf nackte Erde traf. Jacobs einundvierzigster Kampf war ziemlich mies gewesen. Der ursprüngliche Vormarsch wurde aufgehalten, und dann wurden sie fast bis zu den Bogenschützen zurückgeworfen. Mit einem Mal griff der Feind die Bogenschützen aus der Flanke an. Jacobs Zug manövrierte zwischen den Bogenschützen und den neuen feindlichen Soldaten, und Jacob kämpfte direkt neben Sergeant Melford, während Melford, dieser verrückte Hundesohn, sich fast die Lunge aus dem Hals lachte. Jacob hatte für einen Sekundenbruchteil ein komisches Gefühl und duckte sich, so daß eine Keule über seinen Kopf hinwegpfiff und den Helm des Sergeanten an der Seite traf. Der Helm zerbrach, und das obere Stück wurde so glatt abgeschnitten wie die Spitze eines weichgekochten Eies. Jacob ging in die Knie und sah, wie der Helm, mit allerhand Zeug darin, sich etliche Male überschlug und hinter den Bogenschützen landete, und da wunderte er sich, warum in dem graublauen blutigen
Matsch kleine Glasmurmeln und Würfel lagen, und dann ging es auf einmal so weiter: In einem Glasberg unter einem Felsen flippte ein winziger piezoelektrischer Schalter mit vierundsechzig Molekülen in einem Würfelchen auf AUS, und dann lief folgender Vorgang mit etwas weniger als Lichtgeschwindigkeit ab: EINHEIT 1001 1001 011 MELFORD DEAKTIVIERT. SCHALTE EINHEIT 11010 11100 JACOB AUF KONTAKTZUSTAND. – UMGESCHALTET – AKTIVIERE UND INSTRUIERE EINHEIT 11010 11100 JACOB. Ja, so war das. Jacob stand auf und schaute sich um. Es war die gleiche sonnendurchglühte Ebene, aber alle außer ihm schienen tot zu sein. Dann suchte er die heraus, die offensichtlich noch nicht ganz ausgenullt waren und noch ein bißchen atmeten. Und als er darüber nachdachte, wußte er auch, warum. Da lachte er. Er trat über die zusammengedroschenen Bogenschützen hinweg und hob Melfords blutige Schädeldecke auf. Zwischen Helm und Haar schob er ein Messer und verursachte damit einen Kurzschluß, der den Strom unterbrach, welcher den Helm auf dem Kopf hielt und Impulse aufnahm und abgab. Den Helm ließ er auf den Boden fallen, trug aber die grausige Schale hinüber zur feindlichen Latrine. Er wußte genau, wo er suchen mußte, holte die Kristallstückchen und Splitter aus der Gehirnmasse und warf sie in das übelriechende Loch. Dann trug er das Gehirn
zurück und legte es wieder in den Helm. Schließlich kehrte er an seinen Platz neben Melfords Leiche zurück. Alles war wieder wie vorher. Die gefallenen Männer begannen sich zu bewegen. Die mutigsten und dauerhaftesten kamen auf Hände und Knie. Jacob warf den Kopf zurück und lachte und lachte ...
Originaltitel: THE PRIVATE WAR OF PVT. JACOB Copyright © 1974 by UPD Publishing Corporation
Joanna Russ DURCHGÄNGE Wenn man vor Weihnachten die Dekorationen in den Schaufenstern von innen nach außen versetzt ... Einmal stellte ich mir vor, ich sei eine Puppe in einer Eislaufdekoration, mit viel Schnee und Flitter, oder in einem Regency-Ballsaal mit Miniaturkronleuchtern und eismatten Spiegeln; aber hätte ich mit meiner Puppe den Platz getauscht, hätte ihren Hals, ihr hübsches, leicht gerötetes Gesicht, ihren Fächer gehabt, so wäre ich darüber wohl nicht sehr entzückt gewesen, sondern hätte mich zwischen Holz und Pappe einer gemalten Kulisse wiedergefunden, mit glühenden Lämpchen in meinen Augen und Nägeln, die durch meine Taille getrieben waren, neben dem viel zu großen Holzkopf einer anderen Puppe, die häßlich und tot neben der meinen lehnte. Hineingehen, während man draußen bleibt! So hüpfte ich, so schnell ich konnte, hinaus aus dem Fenster und rannte wie Pudding Boy auf hölzernen kleinen Füßen so schnell ich konnte die Fifth Avenue entlang und ließ hinter mir eine Nabelschnur aus Protoplasma zurück, die bis zum Schaufenster reichte. Oh, dieser irre Hauch, der mir von diesen großen gequälten beweglichen Kreaturen mit ihren Leidenschaften, ihrem Fleisch, ihren Gelüsten und ihren Augenhöhlen entgegenwehte! Man kann nicht einmal sagen, wo sie aufhören. Ihre Haut ist feucht und läßt sich ablegen. Sie sehen wie Puppen aus, ohne sich an-
strengen zu müssen. Natürlich kam ich sofort wieder zurück. Ich versetzte mich selbst in einen erträglichen Geisteszustand, indem ich mir vorstellte, ich sei genauso wie eine Puppe in einem Schaufenster aussehen müsse, aber ihre Welt ist auch eine Art Schaufenster, bloß ohne Rückwand, und man kann in Wirklichkeit gar nicht hineingehen. So kam es, daß wir einander ziemlich hoffnungslos anstarrten. »Oh, wie gern wäre ich du«, sagte sie. »Oh, wie gern wäre ich du«, sagte ich. »Aber nicht, wenn du's wüßtest«, sagten wir beide. Ich glaube, so vor dem Neujahrstag hatten wir etwas ausgearbeitet; unsere Signale vermenschlichten sich zusehends. Aber am 30. Dezember wurde sie entfernt, und danach sah ich sie nie mehr. Sie wurde weggetragen, und man zuckte zynisch die Achseln: »Langweilig, langweilig, langweilig!« Weinte sie? Natürlich hoffe ich, daß man sie für das nächste Jahr aufhebt, daß sie schön, luxuriös und sicher verpackt ist. Süßer Geruch eines Holzlagers. Träumend und dösend, mein anderes kleines Ich, im Dämmerdunkel. Wir hätten den Austausch auch vornehmen können, ohne uns die Köpfe an der Glasscheibe einschlagen zu müssen: sie durch das Aquarium eine kältebeschlagenen, eisblumenverzierten Fensters, unsere großen staunenden Augen, die schwimmenden Pelzhüte; ich durch einen Zauberwald mit Schnee aus Seife, mit Schnee aus Tränen. Mit aller Energie an einen Wunsch glauben, um zurückzuschauen auf den dünnen Bewußtseinsfaden, der zwischen einem und dem Rund eines fremden Gesichtes hinter der Scheibe hängt, diesen Faden nehmen und ...
Hör, Liebes, in deinem Kokon: Phantasiewesen existieren nur von vorne. Glaubst du mir? Und wenn – hilft es etwas?
Originaltitel: PASSAGES Copyright © UPD Publishing Corporation
James Blish und L. Jerome Stanton DER GLITSCH Als man den ULTIMAC zu bauen begann, hätte Ivor Harrigan der Weltregierung gleich sagen können, was passieren würde. Er plante sehr weit weg zu sein, wenn dies geschähe. Unglücklicherweise liegt es in der Natur des Glitsch, immer ohne Warnung zuzuschlagen. Deshalb ist der Plan, irgendwo sonst zu sein, ebenso unnütz wie der Versuch, die Einhaltung der Zehn Gebote zu erzwingen. Auf ihn gehört hätte man sowieso nicht, denn als das Projekt in Angriff genommen wurde, war er erst zwanzig. Das war zwar schon ein vorgerücktes Alter, wenn man bedachte, daß die meisten Leute mit zwölf Jahren schon promovierten, aber zur Seniorität im Computer-Service-Geschäft war es noch ein weiter Weg, ein noch viel weiterer zur Regierung. Nicht daß er es nicht versucht hätte; und das war, wie sich herausstellte, sein entscheidender Wendepunkt. Er hatte eine Art gesellschaftlichen Gewissens, das stark genug war, wenigstens zu Abdullah Powell durchzukommen. Powell war auch ein Computer-Mann und alt genug, selbst am Projekt ULTIMAC beteiligt zu sein. Ivor fand sehr schnell heraus, wo die Schwierigkeit lag: Computer-Designer und Computer-Service-Leute sind zwei Paar Stiefel. In seinem Luxusbüro in Novo Washingtongrad äußerte Powell einen der markantesten berühmten Aussprüche: »Vergessen Sie's. Nichts kann schiefgehen.«
»Aber, Dr. Powell, es geht immer etwas schief. Ich weiß es doch. Damit, daß immer etwas schiefgeht, verdiene ich mir doch meinen Lebensunterhalt.« »Nicht mehr viel länger, fürchte ich«, sagte Powell, winkte mit einer parfümierten Zigarre und setzte eine visionäre Miene auf. Das gab ihm einen doppelten Vorteil: er schaute eher himmelwärts statt Ivor an, und sein Doppelkinn war lange nicht mehr so überhängend. »Sie verstehen den ganzen Umfang dieses Unternehmens nicht, Ivor. Sobald nämlich UNIMAC beendet ist, gibt es keine individuellen abhängigen Computer mehr. ULTIMAC übernimmt die ganze Sache. Er überwacht sich selbst, er korrigiert sich auch selbst. Jeder Computer der ganzen Welt wird auf ihn ausgerichtet sein, und er wird sie alle überwachen und reparieren. Er ist sozusagen das Ultimative aller fehlerfreien Systeme. Jedes Haus und jedes Geschäft hat einen Anschluß, und so wird er die ganze Weltwirtschaft leiten, Lebensläufe konstruieren, Krankheiten diagnostizieren, Erdbeben vorhersagen, die Bodenkontrolle aller Raumflüge –« Powell war ganz außer Atem geraten. Als er wieder Luft bekam, fuhr er mit glühendem Gesicht fort: »Und er wird die gebildetsten Leute der ganzen Weltgeschichte zu jeder Entscheidung heranziehen. Denken Sie doch mal, Ivor, dann haben wir endlich die wahre, arbeitsfähige wirksame und weltweite Demokratie! Und natürlich unterliegt er absolut der logischen Norm der I.A.« Die I.A. waren die Robotergesetze, benannt nach dem Populärwissenschaftler, der einmal vorhergesagt hatte, daß die Computer die Verwaltung der Welt übernehmen würden, und sie würden wohl eine viel bessere Arbeit leisten, als es der Mensch im Lauf sei-
ner Entwicklung je getan hatte. Von den I.A. war zwar nichts mehr geblieben, aber aus Gerüchten, Hinweisen und Vermutungen ließen sie sich wie folgt rekonstruieren: I. Kein Roboter wird einem menschlichen Wesen etwas zuleide tun oder so handeln, daß ihm irgendwelcher Schaden zugefügt werden könnte. II. Ein Roboter wird immer sich selbst schützen, solange dieser Schutz nicht Gesetz I zuwiderläuft. III. Ein Roboter hat jedem von einem menschlichen Wesen erteilten Befehl zu gehorchen, solange dies nicht den Gesetzen I und II entgegensteht. IV. In jeder Lage, die zu den drei ersten Gesetzen in Widerspruch steht, hat sich der Roboter entweder selbst zu immobilisieren und sich später zur Reparatur oder Selbstvernichtung zu melden. V. In allen anderen Situationen hat der Computer für sich selbst zu denken nach der Hauptregel: Alles, was nicht zwingend vorgeschrieben ist, bleibt verboten. »Aber, Dr. Powell, wir sprechen doch nicht über Roboter. Wir reden über Computer. Die I.A. haben und hatten niemals etwas damit zu tun. Außerdem haben wir nichts, das auch nur entfernt an Roboter erinnert, und werden es auch wahrscheinlich nie haben ...« »Ivor, so beruhigen Sie sich doch wieder, bitte. Techniker sollten sich niemals zur Hysterie hinreißen lassen. Ich verstehe recht gut, daß Sie wegen des Verlustes Ihrer beruflichen Tätigkeit und damit Ihres Lebensunterhaltes besorgt sind, aber ich bin davon überzeugt, Sie können umgeschult werden. Männer
Ihres Formats sind nicht so leicht zu finden.« Das stimmte nicht. Weil man offensichtlich bei dieser Diskussion nicht weiterkam, ging Ivor und versuchte das Problem von einer anderen Seite her anzugehen: Überredung älterer Angehöriger seiner eigenen Branche im Außendienst. Damit kam er jedoch nirgends weiter. Der höchstgestellte Kollege, den er erreichen konnte, war Enoch Amin, und der hatte seine eigenen Ansichten: »Wir werden nie überflüssig werden, Ivor. Powell weiß es nicht, aber ULTIMAC bietet uns wirklich die großen Gelegenheiten. Jeder Computer der ganzen Welt wird angeschlossen, und jeder gerät in die Gefahr, über Nacht krank zu werden. Aus dem Geschäft hinausgeworfen werden die Konstrukteure wie Powell. Wir Service-Ingenieure werden zu tun bekommen, daß uns Hören und Sehen vergeht.« »Aber das ganze verdammte System soll doch homeostatisch werden, also sich selbst reparieren!« »Um so mehr Jobs gibt es für uns. Mensch, Ivor bist du je auf einen Selbstüberwachungscomputer gestoßen, der funktioniert hat? Wir werden kreuz und quer über die ganze Welt rasen, um herauszufinden, wo was schiefgelaufen ist.« Amin stand fast ekstatisch auf, und weil er nahezu einen Kopf größer war als Ivor, schien er bis in den Orbit zu reichen. »Und mit dem Großen, mein Gott, welch eine Gelegenheit! Glaub mir, Ivor, wir werden zu den geheimen Herren des ganzen Systems werden. Wir werden uns in Luxus wälzen, falls wir die Zeit dafür finden. Und wir behalten natürlich die I.A. ganz fest im Auge.« Ivor wußte selbstverständlich, daß jene I.A., die Amin meinte, ganz anders waren als die, auf die Po-
well sich bezogen hatte. Darüber hinaus waren sie ein Berufsgeheimnis. Keines der beiden Gesetzwerke konnte Ivor trösten. Er sah Ärger auf ganz breiter Basis anrücken. Aber weder Amin, noch Powell konnten darüber sprechen, oder nur insofern, als es um die Erhaltung ihrer Jobs ging. Wie schon erwähnt, hatte Ivor einen Rest gesellschaftlichen Gewissens. Jetzt war es ihm jedoch klar, daß er keinen Hebelansatzpunkt hatte. Er war nach zwei Richtungen so hoch gegangen, wie er konnte, und jetzt sah er für sich keine andere Möglichkeit als die, an die Arbeit zurückzukehren, für die er ausgebildet worden war. Zur Vorbereitung auf die zu erwartenden Schwierigkeiten jagte er seine Frauen und seine Katzen aus dem Haus, gab das Trinken auf und schränkte das Essen so weitgehend wie möglich ein. Seine Hobbys reduzierte er auf das Geldsparen, und dieses Geld legte er zu den besten Zinsen an, die er überhaupt irgendwo bekommen konnte. Das war nur deshalb möglich, weil der betreffende Bankcomputer glaubte, was natürlich niemand wußte, außer Ivor, die Quadratwurzel aus 4,7 sei 0,6858 1425, und das war um 0,0011488 zu hoch. Er wußte selbst nicht, weshalb der Computer dies dachte, und er hatte auch nicht die Absicht, es herauszufinden. Das wäre ihm schon deshalb nicht gelungen, weil dieser Irrtum nicht in seine Zuständigkeit fiel. Aber diese Eigensinnigkeit der Maschine zahlte sich für ihn aus. Sechs Jahre später aß er wieder so gut, daß er ein wenig Gewicht ansetzte. Die ganze nächste Dekade war für praktisch alle recht idyllisch. ULTIMAC wurde gebaut und thronte be-
häbig über den Niagarafällen, denn ein weniger leistungsfähiges Kühlsystem hätte nicht ausgereicht. Das gigantische Gebäude und seine Sklavencomputer taten alles, was sie tun sollten, und das taten sie perfekt. Hätte gegen Ende des Jahrhunderts ULTIMAC beschlossen, den Amazonas für vierundzwanzig Stunden rückwärts laufen zu lassen oder die Mathematik auf die Basis zwölf zurückzuführen, oder das alte Eisenbahnsystem wieder aufleben zu lassen, wäre von keinem ein Einwand erhoben worden. Die Entscheidungen wirkten immer, und die Möglichkeit eines Irrtums war minimal, mit so vielen Stellen hinter dem Komma, daß Max Plancks Konstante dagegen wie eine sehr kleine Zahl wirkte. Also machte ULTIMAC sehr viele Computerleute arbeitslos. Auch alle anderen übrigens, bis auf ein paar Politiker. Das machte Ivor nicht viel aus. Gleich nach seinem einzigen enttäuschenden Ausflug in die Politik hatte er aus Vorsicht den Computer seiner Bank von ULTIMAC getrennt, natürlich unter dem Vorwand einer Routineüberprüfung. Das Ergebnis war, daß er daran denken konnte, sich wieder eine Katze zuzulegen, doch an eine Frau dachte er noch nicht. Dieser winzige Verlust wurde von ULTIMAC nicht bemerkt, denn der zeichnete nur das auf, was ihm eingegeben wurde, nicht das, was ihm verschwiegen wurde. Der von der Regierung gewählte Namen gab keinen Hinweis auf seine Arbeitsweise; notwendigerweise war er ein topologischer Computer, und trotz der unzähligen Stellen nach dem Komma mußte er wegen der Verbindung mit der ganzen Welt da und dort einige Informationen verlieren. Er arbeitete
auf Gegenseitigkeit, und das war genug. Teilweise war es, wie vorhergesagt, auch gut, weil er seinen eigenen Service besorgte. Keine menschliche Hand hatte ihn je zu berühren brauchen, nachdem er unter Strom gesetzt worden war, ganz gewiß nicht die Ivors. Er hätte ULTIMAC auch dann nicht angerührt, wenn man ihn darum gebeten hätte. Für ihn war Utopia schon gekommen. Außerdem war die Topologie nicht sein Fach, und er wußte weniger darüber als zum Beispiel über die Dichtkunst; in den zehn Jahren seiner kalkulierten Untätigkeit hatte er sein Fachwissen sowieso fast vergessen. Er hatte es sogar schon aufgegeben, sich darüber Gedanken zu machen. Natürlich erinnerte er sich des I.A.schen Berufsgeheimnisses, denn darauf hatte er einen Eid geschworen, aber die Erinnerung daran war zu einer überflüssigen Übung geworden. Und wenn er nach einem fernen Häufchen Sand Ausschau hielt, in den er, nur so für alle Fälle, seinen Kopf stecken konnte, dann lag dies ganz im Bereich der Phantasie. Es war also sein eigener Fehler, nicht der irgendeines anderen, daß er, als Glitsch zuschlug, sich in nächster Nachbarschaft des ULTIMAC befand, und er wurde angewiesen, nein, verpflichtet, den Schaden zu beheben. Es liegt in der Natur der Sache, daß der Rest dieser traurigen Geschichte weder im ULTIMAC noch sonst irgendwo gespeichert ist. Es ist in der Tat eine sehr traurige Geschichte, und Sie, geneigter Leser, täten vielleicht gut daran, nicht weiterzulesen. Man muß dabei sehr viel erklären, und in unserem derzeit wirklichen Utopia sind weder Traurigkeit noch Erklärungen gern gesehen. Aber damals be-
deuteten beide sehr viel für Ivor, also muß man selbst ihm Gerechtigkeit widerfahren lassen. Zu den esoterischen I.A., jenen Berufsgeheimnissen, auf die Ivor den Eid abgelegt hatte, gehörten die folgenden: I. Sagen Sie dem Kunden nichts über die Maschine, selbst wenn Sie etwas davon verstehen. Besteht er darauf, geben Sie ihm eine unvollständige Xeroxkopie der Anweisungen für den Zusammenbau des Modells vom nächsten Jahr. Das Hauptbüro wird dafür sorgen, daß nicht alle Ersatzteile für das derzeitige Modell vorrätig sind, und eine Vorhersage, wann eine Lieferung möglich wäre, wird nicht gegeben. Hat ein Kunde zufällig doch eine komplette Maschine, dann ist der Ein-Aus-Schalter so angelegt, daß er nur jedes sechste Mal funktioniert, und darauf kommt der Kunde niemals. II. Hat die Maschine eine Panne, schieben Sie die Schuld auf den Programmierer des Kunden. Der Hersteller wird dann seine eigene Programmierergruppe schicken, um die des Kunden an Ort und Stelle auf den neuesten Stand zu bringen. Die Programmierer des Herstellers sind außerordentlich geschickt, wenn es gilt, den Mitarbeitern des Kunden das Gegenteil zu beweisen; Punkt für Punkt und so lange wie möglich. III. Nachdem unabhängige Programmierer zugezogen wurden und sich mit den ersten beiden Teams zerstritten haben, werden Sie, der Service-Ingenieur, gebeten, die Maschine selbst zu überprüfen. Keine Maschine zeichnet je auf, wo oder weshalb sie eine
Panne hat. Deshalb sind Ihre Pflichten wie folgt: A. Verschwinden Sie in der Maschine so lange wie möglich. B. Entdecken Sie eine neue Panne, die Sie dann beheben. C. Liefern Sie einen langen, unverständlichen Bericht ab. Ein guter Service-Ingenieur sollte auch die Kunst beherrschen, allen drei Programmierergruppen mit eisiger Unparteilichkeit zuzustimmen. IV. Inzwischen ist die Garantie abgelaufen. Unterrichten Sie den Hersteller, damit er dem Kunden einen versierten Verkäufer schickt. Dieser ist mit vielen bunten Prospekten für das Modell des folgenden Jahres auszustatten. Niemals und unter gar keinen Umständen darf auch nur andeutungsweise zugegeben werden, daß eine Panne der Maschine konstruktionsbedingt sein könne. Diese Gesetze hatten einmal recht gut funktioniert, doch als Ivor mit dem ULTIMAC konfrontiert wurde, waren sie zu gar nichts nütze. Besonders Gesetz IV war hinfällig geworden, weil es ein Modell des nächsten Jahres nicht gab. Natürlich hatte man ihn wegen seiner dickköpfigen Einstellung ausgewählt. Er hatte zwar nur wenig und auch nicht sehr nachdrücklich und lange gedrängt werden müssen, doch Powell und Amin erinnerten sich noch recht deutlich an seine Vorhersage, etwas werde sicher schiefgehen. Es war ganz logisch: Er hatte die Panne vorhergesagt, war Service-Ingenieur und folglich der geeignete Mann, die Panne zu beheben. Und so geschah es. Natürlich wußte er in großen Umrissen, wo der Scha-
den lag. Als Antwort auf einfache Schulkinderfragen hatte ULTIMAC Lösungen ausgedruckt, die selbst fortgeschrittenen Studenten der Medizin peinlich gewesen wären. Man hatte diesen Bereich einfach abgeschaltet. Oberflächlich betrachtet erschien dies als Kleinigkeit, aber die Regierungsbeamten fühlten Schauer den Rücken hinunterlaufen, als ihnen einfiel, daß ULTIMAC ja auch alles andere regelte und beherrschte. »Demnächst«, meinte Powell grimmig, »kommt Bananenöl aus den Wasserhähnen. Oder noch etwas viel Schlimmeres. Ivor, Sie haben natürlich von Anfang an recht gehabt. Machen Sie sich mal daran.« Okay. Aber wie? Es war ganz ausgeschlossen, daß ein Service-Ingenieur, überhaupt irgendein Mensch, alles über alle Computer wußte, und so kannte Ivor auch nur einen Fehlertyp, nach dem er suchen konnte. Wenn er einen solchen fand, brachte er die Sache natürlich in Ordnung. Fand er keinen, dann schuf er einen und brachte auch den wieder in Ordnung, entsprechend Absatz B des Gesetzes III. Ewig konnte man das aber auch nicht machen. Oberflächlich betrachtet mochte er tatsächlich der richtige Mann für ULTIMAC gewesen sein, denn seine Spezialität waren Speicherung und Löschung, und hier versagte die Maschine bis jetzt am häufigsten. Aber das waren Laienfehler, obwohl sich Powell seine Gedanken darüber machte. ULTIMAC hatte einen Glitsch: das heißt, in strikter Übereinstimmung mit dem Gesetz Punkt III hatte er die Ursache der Panne nicht aufgezeichnet. Weil der Glitsch eine Störung in der Speicherung und Löschung war, mußte natürlich damit gerechnet werden, daß ganze Komplexe anderer Informationen ebenfalls gelöscht worden waren,
und die hatten – vielleicht, nur vielleicht! – einen Hinweis auf die Ursache der Störung enthalten. Seine Hand schwitzte am Griff des schweren Werkzeugkastens, als Ivor fast ehrfürchtig zu einer niederen Tür geführt wurde, durch die seit zehn Jahren kein Mensch mehr gegangen war. ULTIMAC schob die Tür wieder zu und knirschte dabei auf eine Art, die man wirklich nicht mehr als ehrfürchtig bezeichnen konnte. Der Begriff »hoffnungsvoll« war schon nicht mehr in Verwendung gewesen, als Ivor geboren wurde. In dem riesigen Gebäude herrschte fast völlige Stille, nur das von zahllosen Kanälen zu einem leisen Murmeln gedämpfte Rauschen der Niagarafälle war zu vernehmen. Gelegentlich gab es eine Salve klickender Geräusche, so etwa, als habe Ivors erste Frau eine Perlenkette zerrissen und die Perlen seien auf einen Steinfußboden gefallen. Einmal glaubte er auch ganz kurz eine lautere, schrillere Version der Wassergeräusche zu vernehmen. Die Luft war frisch, knochentrocken und in ständiger sanfter Bewegung; manchmal brachte sie einen Hauch Ozon mit, öfter jedoch einen Geruch, der alles andere als Ozon war. Betonkorridore erstreckten sich nach allen Richtungen und liefen verwirrenderweise um Ecken und außer Sicht, ohne daß ein Schema darin zu erkennen gewesen wäre. Jeder Gang hatte eine Kodenummer, und Ivor hatte eine Karte erhalten, aber die Wirklichkeit war nicht so einfach. Für menschlichen Verkehr waren nämlich die Korridore nicht gebaut worden. Sie waren sogar niedriger als die Tür und so eng, daß die Schultern die Wände berührten. Dazu gab es in der Mitte des Bodens eine Metallschiene. Weil er
vermutete, diese Schiene könnte unter Strom stehen, hatte er sich einen Schritt und eine Haltung ausgedacht, die der eines Schwans nahe kam, der das Wasser verlassen hatte; erschwert wurde die Sache auch noch durch Weichen auf jeder Gangkreuzung. Es gab eine Unmenge statischer Elektrizität. Sein Haar stand nach allen Seiten vom Kopf ab und folgte jeder künstlichen Luftbewegung wie das hohe Gras einer Wiese im Sommerwind. Wenn er Metall berührte ... Nein, daran mochte er bestimmt nicht denken. Er war noch nicht sehr weit gekommen, als er das schrille Wassergeräusch wieder vernahm, diesmal viel lauter als das erste Mal. In diesem Moment erschien von rechts so etwas wie ein Roboter, wendete auf der Weiche und watschelte in den Gang zurück, aus dem er gekommen war. Ivor war viel zu verblüfft, als daß er das Ding richtig hätte erkennen können. Er hatte den Eindruck, es sei etwa von seiner eigenen Höhe und Breite, war aber mindestens dreimal so dick und hatte auch wenigstens zehnmal so viele verlängerte Anhängsel wie er selbst. Es watschelte eigentlich auch nicht wie ein Schwan, sondern rollte oder fuhr sehr zweckbedingt. Hier war eine Gefahr, die er eigentlich hätte voraussehen müssen. ULTIMAC, die selbstreparierende Maschine von Rekordgröße, mußte ja eigene Servicegeräte haben: mechanische Sklaven für Ivors Aufgabengebiet, beweglich und in der Lage, jeden Winkel des Gebäudes zu erreichen. Die Korridore waren für sie gebaut. Und begegnete er, der Mensch, einem solchen mechanischen Sklaven, dann war kein Platz für beide, und sicher wäre es aussichtslos, dem Ding sagen zu wollen, es solle stehenbleiben oder umkehren.
Danach kam er nur noch recht langsam vorwärts. An jeder Kreuzung mußte er nämlich die Einstellung der Weichen überprüfen, um in die Richtung flüchten zu können, in die das Ding nicht rollen würde. Natürlich verirrte er sich. Er wünschte sich sehnlichst einen Kompaß herbei. Ein gewöhnlicher magnetischer Kompaß hätte ihm in diesem elektronischen Irrgarten jedoch wenig genützt, und ein Gyrokompaß wäre viel zu schwer und unhandlich gewesen, so daß er ihn gar nicht hätte schleppen können. Schon jetzt schmerzte sein Arm vom Gewicht des Werkzeugkastens ganz elend. Aber es gelang ihm schließlich, mit Hilfe seiner Karte wieder dorthin zu finden, wo sein Irrweg begonnen hatte und von vorn anzufangen. Es dauerte nicht lange, da hörte er wieder diesen Lärm. Diesmal sah er aber die Maschine viel eher, weil sie direkt auf ihn zu gerollt kam. Er hatte genug Zeit, zur letzten Kreuzung zurückzulaufen und an der Stellung der Weiche herauszufinden, in welche Richtung der Servo nicht rollen würde. Gesehen hatte er ihn auch deshalb so frühzeitig, weil vorn auf dem Ding eine rote Kodenummer glühte, so wie die Zahlen der Leuchtanzeige eines Taschenrechners. Als das Ding an ihm vorbeilief, sah er, daß es eine schlitzähnliche Öffnung hatte, aus der die Nummer leuchtete. Hier war ein Problem, das vielleicht einfacher war als der Glitsch, möglicherweise sogar lösbar. Es schien keinen Grund zu geben, die Servos mit Nummern zu kennzeichnen, und gäbe es einen, dann hätten aufgemalte Ziffern genügt. Eine auswechselbare Nummer deutete jedoch darauf hin, daß sich der Wirkungsbereich des Gerätes verändern konnte. Er hatte sich die Nummer gemerkt und verglich sie mit
der Karte. Tatsächlich fand er sie darauf verzeichnet, aber an einer Stelle, die eine Meile zurücklag und etwas seitlich von der Route, der er folgte. Da schoß ihm eine so herrliche Idee durch den Kopf, daß er in sich hineinlachte, bevor ihm klar wurde, daß er mäuschenstill sein mußte, wenn er nicht sterben wollte. Nachdem er zu zittern aufgehört hatte, erschien es ihm noch immer als gute Idee. Warum nicht Anhalter spielen? Bei einem oder mehreren solcher Servos? Selbst wenn sein Weg zu einem eindeutigen Umweg wurde, kam er letzten Endes doch schneller und vielleicht auch sicherer voran. Inzwischen hatte er sich wieder in Bewegung gesetzt. Während der nächsten unbehaglichen Stunde sah er drei weitere Servos. Er musterte sie so genau wie nur möglich. Diese vielen Anhängsel machten ihn nervös. Er hätte sich gern absolut sicher davon überzeugt, ob diese Apparaturen Kenntnis von ihm nahmen. Sicherheit verschaffen konnte er sich jedoch nur auf eine einzige Art: er mußte sich einem dieser Roboter in den Weg stellen, genau dort, wo das Ding über eine Weiche rollte, und dabei genau aufpassen, wie sich die Weiche stellte. Bei der dritten Begegnung riskierte er es. Die Maschine zögerte keine Sekunde, und als sie sich im rechten Winkel entfernte, sah er auf ihrem Rücken eine spalierartige Konstruktion, die mit Werkzeugen behängt und mit Ersatzhänden für die zahlreichen Arme ausgestattet war. An dieses Spalier konnte er sich vielleicht klammern. Unbequem würde das sicher sein, aber besser war es auf jeden Fall als der Schwanenwatschelgang, der ihm Kreuzschmerzen bereitete.
Beim ersten Versuch ließ er seinen Werkzeugkasten fallen, als er sprang. Beim nächsten gelang es ihm. Der Servo nahm ihn weit mit, so weit von seinem Ziel entfernt wie nur denkbar, aber dabei stellte er fest, daß der Trick möglich war. Schließlich muß man bei allen Experimenten ein paarmal ansetzen, bis man den richtigen Weg findet. Jedesmal verglich er die Kennzahlen der Maschinen mit seiner Karte und sprang nur dann auf, wenn die Maschinen, die ihm begegneten, einen Kode trugen, der ihn seinem Ziel näherbrachte. Für einen unbeteiligten Zuschauer wäre sein Weg wohl ein recht wirrer dreidimensionaler Irrgarten gewesen, doch schließlich erreichte er sein Ziel, oder fast. Er hatte von vornherein nicht damit gerechnet, daß ein Servo direkt in das Nest des Glitsch liefe, denn das war genau die Zone, von der ULTIMAC nicht wußte, daß es dort Schwierigkeiten gab. Die letzte halbe Meile mußte er watscheln. Als er angekommen war, setzte er sich und ruhte eine Weile aus. Der Schweiß war in der absolut trokkenen Luft weggetrocknet, doch sein ganzes Zeug klebte noch am Körper. Er war stolz auf seinen Mut und seine Schläue. Zum erstenmal fühlte er sich hier in diesem elektronischen Irrgarten sicher. Das war die einzige Stelle im ganzen Gebäude, wo ihm von den Servos keine Gefahr drohte. Nachdem sein Herz zu trommeln aufgehört hatte und wieder ruhig und gleichmäßig schlug, öffnete er den Werkzeugkasten und näherte sich dem Speicher vom Kinderantwortdienst mit einem isolierten Schraubenzieher in der Hand. Zwei Schrauben hatte er schon gelöst, und er arbeitete gerade an der dritten, als die Hölle losbrach.
Es begann mit einem Pfeifen im Ultraschallbereich, und das machte ihn so benommen, daß er den Schraubenzieher fallen ließ und selbst fast gestürzt wäre. Während er noch taumelte, vernahm er den vertrauten Lärm eines sich nähernden Servos, dann wurde er an seinen sämtlichen Extremitäten, einschließlich Nase und Ohren, gepackt und aus der Kammer hinausgeschleppt. ULTIMAC wußte zwar nicht, daß er in der Einspeisung und Löschung einen Glitsch hatte, aber jetzt hatte er eine Funktionsstörung entdeckt und beseitigt, leider in Gestalt von Ivor Harrigan und seiner Werkzeugkiste. Das Gebäude war nicht, wie schon erwähnt, für die Menschen geschaffen worden, und wenn ULTIMAC je darauf programmiert gewesen sein sollte, daß er einen lebenden Mechaniker einlassen müsse, so mußte diese Erinnerung längst gelöscht worden sein von einem Glitsch, den man normalerweise, weil ursprünglich ziemlich unbedeutend, erst dann bemerkt, wenn es längst zu spät ist. Der Computer behandelte ihn also recht unsanft als überflüssige Komponente. Das erste Problem war, diese Komponente identifizieren zu müssen und eine Stelle in der Maschine zu suchen, wohin das Ding passen mußte. Ivor wurde in einen sargähnlichen Behälter gesteckt, wo er rotiert, untersucht, gemessen und auf Leitfähigkeit hin überprüft wurde; das war zwar scheußlich unangenehm, zum Glück mußte sich aber schon beim ersten Versuch herausgestellt haben, daß etwas so Umfangreiches nicht gut ein Resistor sein könnte, wenn man den Umriß, die Transparenz, die
Anschlußstücke – Haar für Haar –, die beweglichen Teile, seine Kleidung und den Inhalt seines Werkzeugkastens in Rechnung zog, von anderen Charakteristika, die zu testen ULTIMAC nicht ausgerüstet war, ganz abgesehen. Er wurde wohl einer ausgedehnten Röntgenuntersuchung unterzogen, zum Glück aber keiner chemischen Analyse. Mit den Werkzeugen selbst machte man kurzen Prozeß. Man? Der Computer ULTIMAC. Mit ihnen war man vertraut, und sie verschwanden, um in irgendeinem Vorratsraum zu landen, wo die Servos das abholten, was sie brauchten. Nach einer Pause von drei bis vier Minuten – eine Ewigkeit für einen Computer, ebenso aber auch für den seiner Uhr beraubten Ivor – entschied ULTIMAC, was er war: ein neues Modell eines Servo-Sklaven, möglicherweise sehr viel nützlicher als jene, die auf Schienen liefen, aber im Moment stark gestört. Dieses eingebaute Wellenleitsystem erschien ULTIMAC unnötigerweise kompliziert und überflüssig. Zu dieser Erkenntnis kam Ivor, als er sich auf einem Förderband wiederfand. Er lag zwischen zwei gewöhnlichen Servos, deren Innereien von Geräten herausgenommen wurden, die sich aus den Wänden des röhrenartigen Ganges schoben, durch den das Förderband lief. Diesen Geräten konnte er sich mit einiger Mühe entziehen, weil er nicht auch ausgeweidet werden wollte. Es ließ sich jedoch nicht vermeiden, daß er frisch lackiert und getrocknet wurde, und das gleich zweimal. Er konnte nur die Augen schließen und den Atem anhalten, während er mit der Farbe besprüht wurde. Die dritte Schicht war, das merkte er am Geruch,
ein Emailleüberzug. Dann war die nächste Station wohl der Einbrennofen. Aber der Servo vor ihm hatte keine frische Lackierung gebraucht, und das Förderband gabelte sich, um ihn anderswohin zu bringen. Ivor duckte sich und ließ sich mitnehmen. Schließlich landete er in einem Raum, der ein Ruheraum für Roboter zu sein schien. Weil er sich sehr zusammenkauern mußte, bekam die Farbe überall Risse und blätterte ab. Als er kein Gramm Metall mehr an sich hatte, rannte Ivor los und gelangte schließlich zu einem Ausgang. Unterwegs schlug er alles kurz und klein, was ihm begegnete und was er erkannte, und was er nicht kannte, schaltete er ab. Als er zum Ausgang kam, tobte ULTIMAC viel lauter als die Niagarafälle jemals zuvor, und Sekunden später stürzte er sich in die Fluten. Ivor nannte man bis an sein Lebensende den Glitsch, und die Geschichte kennt ihn noch heute unter diesem Namen. Er hat nie mehr einen anderen Job bekommen. Aber er hatte noch seine Bank mit dem programmierten Rechenfehler. Wie immer auch seine Gefühle im Hinblick auf ULTIMAC und das, was er ihm antat, sein mögen, auf der Erde ist es jedenfalls sehr viel ruhiger geworden. Es gab immer Menschen, die sich unbehaglich fühlten bei dem Gedanken, sie könnten eines Tages aufwachen und entdecken, daß der Amazonas rückwärts lief. Originaltitel: THE GLITCH Copyright © 1974 by UPD Publishing Corporation
James White EINE ANTWORT KAM NICHT 1 Wie ein grüner, jungfräulicher Teppich rollte die Planetenoberfläche fünf Meilen unter dem langsamer werdenden Schiff ab. Das Gras und niedere Pflanzen sahen ungefährlich aus, die Atmosphäre war frei von industrieller Verschmutzung, und Städte oder Überlandtransportanlagen ließen sich nicht erkennen. Aber für die Schiffssensoren und die müden, erfahrenen Augen der Mannschaft war das üppige Grün eine schöne Lüge, eine kosmetische Haut scheinbarer Jugend, die sich über eine Welt spannte, welche seit vielen tausend Jahren alle ihre natürlichen Ressourcen aufgebraucht hatte, so daß sie höchstens noch Leben der untersten Stufen bis zur Insektenebene aufwies. »Wir verschwenden unsere Zeit«, sagte Jan in einem Ton, der vermuten ließ, daß sie auch zu einem Streit bereit sei. Peter stritt aber nicht gern mit ihr, besonders nicht in den letzten Minuten vor der Landung, obwohl ein Suchschiff keine Landeschwierigkeiten kannte. Er wartete, bis sich das Schiff von einem kurzen transsonischen Schütteln erholt hatte und der Landeplatz eindeutig auf dem vorderen Sichtschirm erkennbar war. »Möglich«, gab er schließlich zu. Sie seufzte gereizt und stellte auf ihrem Schirm ei-
nen vergrößerten Ausschnitt des Landesplatzes ein. Er konnte nicht sehen, welchen Abschnitt sie gewählt hatte, weil ihm ihr Kopf im Weg war. Im Profil und im Licht des Bildschirmes sah Jan fast wieder jung aus. So zeigte sich auch das graue Haar nicht, und die feinen Gesichtsfalten verschwanden in der günstigen Beleuchtung. Er wußte jedoch, daß mehr als schmeichelhaftes Licht dazu gehört hätte, die Müdigkeit und Hoffnungslosigkeit aus ihrem Körper und Geist herauszuziehen, auch aus seinem. In alten Zeiten verwendete man Salz zur Konservierung von Lebensmitteln, und so war auch hier jede Körperzelle und jeder Gedanke mit Erschöpfung vollgesogen. Hätte ein Menschenfresser früherer Zeiten einen Happen aus ihnen herausgebissen, wäre der stärkste Geschmack der von Hoffnungslosigkeit und Enttäuschung gewesen. Achtzig Jahre waren eine lange Zeit, wenn man immer den gleichen Job zu tun hatte. Der Schirm wurde dunkel, als das Schiff die Nase hob und die Bugkameras kein Bild mehr bekamen. Langsam begann es, das Heck voran, in das immer mehr Widerstand bietende Landekissen zu sinken. Bei Grundberührung schaltete sich das Antischwerkraftlandekissen ab, und das Schiff schwankte ein wenig, als sein Gewicht die Landebeine tief in den weichen Boden drückte. Der Panoramamonitor leuchtete auf, und die Bilder wurden ruhig und scharf, als das Schiff zur Ruhe kam. »Wir verschwenden wirklich unsere Zeit«, wiederholte Jan nachdrücklich. »Ich bin sicher, daß wir schon einmal hier waren.« »Unwahrscheinlich«, erwiderte er, »aber es ist ver-
zeihlich, wenn du das denkst. Ein Ort sieht doch wie der andere aus – die gleichen grünen Hügel, sogar die Gebäuderuinen sind vom gleichen Typ und ähnlicher Größe. Vielleicht sind sie Beispiele einer sehr fortschrittlichen und dauerhaften Entwicklung des gleichen Architekten –« Sie schüttelte den Kopf. Er fuhr in einem weniger verbindlichen Ton fort: »Willst du etwa behaupten, ich hätte einen Fehler gemacht und wir seien zu einer bereits erforschten Stelle zurückgekehrt? Du glaubst, das sei ein verzeihlicher Irrtum, verursacht vielleicht durch mein fortgeschrittenes Alter? Du vergißt aber ganz, daß unser Computer, dem man doch sicher nicht die Vergeßlichkeit der Senilität vorwerfen –« »Auch über diesen Punkt ließe sich streiten«, unterbrach sie ihn. Im ersten Moment war er versucht, ihr zu sagen, daß der Ärger der letzten Zeit mit dem Computer auf einen Irrtum des Operators zurückzuführen und daß sie dieser Operator sei, aber diese Bemerkung verkniff er sich. »Kommst du mit hinaus?« fragte er. »Ja«, erwiderte sie. »Ich rede lieber mit dir, als daß ich hier sitze und mich mit mir unterhalte.« »Da bin ich aber froh«, antwortete er trocken. »Ich war nahe daran zu glauben, daß die ganze Romantik aus unseren Beziehungen verschwindet.« Sie sprachen aber kaum, als sie in ihre Schutzanzüge kletterten, vielleicht deshalb, weil er einen für beide sehr empfindlichen Punkt berührt hatte. Er wäre jede Wette eingegangen, daß sie innerhalb kürzester Zeit den schönsten Krach wegen der umstrittenen Verjüngung haben würden, und in dieser Auseinanderset-
zung, das wußte er, gewann niemand. Ein Allzweckroboter ging voran, der mit dem üblichen sensorischen und Artensammelgerät ausgestattet war, auch für medizinische und chirurgische Notfälle. Sie folgten ihm die Rampe hinab und über die Wiese. Die Sonne stand strahlend an einem Himmel, an dem die Wolken nicht geschmackvoller arrangiert hätten sein könnten, wären sie das Werk eines Landschaftsmalers gewesen. Die Luft war frisch, rein und ausgezeichnet atembar, aber die schweren Schutzanzüge brauchten sie gegen die Insekten, die überall krabbelten und schwirrten und sehr aggressiv waren. Er hatte eine den Vorschriften entsprechende Waffe dabei, obwohl er wußte, daß er sie nicht brauchen würde. Eine Waffe nahm Jan nie mit, denn sie sagte immer, wenn eine einheimische Lebensart von mehr als Fingerlänge auftauchte, würde sie das Tier lieber vor Begeisterung erdrücken als erschießen. Die Insekten waren allgegenwärtig. Mit jedem Schritt, den die Forscher taten, zertraten sie Hunderte davon, und die Ballonreifen des Roboters räumten noch gründlicher unter ihnen auf. Aber die dunklen Spuren im Gras, die sie hinterließen, waren zwanzig Schritte weiter schon nicht mehr zu sehen, weil die Insekten ihre toten oder verletzten Artgenossen sofort auffraßen. Der letzte Geweberest und die winzigste Menge Saft waren im Nu verschwunden. Früher einmal hatte es eine Zeit gegeben, da Jan und er die Verhaltensweise der Insekten daraufhin studiert hatten, ob sie Ansätze zur Intelligenz zeigten, ob aus irgendeinem Anzeichen zu schließen wäre, daß diese letzten Erben vieler Welten eine Insekten-
rasse hervorbringen könnten, mit der sich einmal die menschliche Rasse verständigen würde. Jetzt gingen sie nur noch über die grasbewachsenen Buckel und übersahen die sinnlose Fruchtbarkeit und Wildheit des Lebens unter ihren Füßen. Unter dem Gras und der Welt der einander bekriegenden Insekten stellten die Sensoren des Roboters die übliche Mischung unzerstörbaren Kunststoffschuttes und metallischer Oxide fest. Gegen Ende hatte diese Zivilisation riesige Mengen von Kunststoffen verwendet, weil es keine Metalle mehr gab. Trotzdem hatten diese Wesen sehr gut gebaut, und an einigen Stellen gab es recht eindrucksvolle Plastikruinen, wogegen die Erbauer längst vor den kriegerischen Insekten die Waffen gestreckt hatten. »Das hier sieht recht interessant aus«, sagte Peter und deutete auf ein behäbiges, fünfstöckiges Gebäude, das bis auf das fehlende Dach vollständig zu sein schien. Etliche der Plastikfenster waren noch vorhanden, nur durch Wettereinflüsse und ein moosartiges Gewächs, das auch die Wände bedeckte, ziemlich undurchsichtig geworden. Der ebenerdige Eingang war sogar frei von Schutt. »Glaubst du noch immer, daß wir schon einmal hier waren?« fragte er. »Das Bekannte kann unbekannt aussehen«, erwiderte sie dickköpfig, »wenn du es aus einem anderen Sichtwinkel siehst.« »Und der falsche Sichtwinkel kann auch Unbekanntes vertraut aussehen lassen. Aber hören wir doch lieber auf zu streiten und schauen wir hinein. Mindestens ein Gebäude an jedem Ort, den wir untersuchen, sollten wir uns anschauen, und mehr, wenn uns etwas Interessantes begegnen sollte.«
Er schwieg, denn er überlegte, daß ein Anzeichen für beginnende Senilität die Angewohnheit sei, jemandem Dinge zu erklären, für die dieser die Erklärung schon wußte. Ein paar Minuten später legte der Roboter seine Sensoren an eine Mauer und gab hohe, gequetschte Quiektöne von sich, als er das Gebäude auf strukturelle Schäden hin sonisch analysierte. Zufrieden stellte er fest, daß der Platz für menschliche Forscher sicher sei und bewegte sich ihnen voran hinein. Der Roboter richtete seinen Hauptlichtstrahl zur Decke, so daß sie reichlich Licht hatten, um sich in der Halle umzusehen. Sie war sehr groß. Die Reste von dem, was wahrscheinlich Schreibtische gewesen waren und Dinge, die aussahen wie Wandschaukästen, waren ziemlich gleichmäßig über den Boden verteilt, während die Wände noch mit großen Bildern bedeckt waren. Überall gab es dicke Schichten noch lebender und längst toter Insekten, so daß es sehr schwierig war, Einzelheiten auszumachen. Der Inhalt der Schaukästen war nicht mehr zu erkennen, aber aus irgendeinem Grund waren die meisten Bilder nur geringfügig von Insekten verdorben und zeigten Maschinen mit geschäftigen Eingeborenen um sie herum. Peter glaubte in den Darstellungen einen großen Fabrikkomplex mit vielleicht supersonischen Atmosphären-Flugmaschinen herkömmlicher Bauart erkennen zu können. Gegenüber dem Eingang lag eine ganze Bank von Aufzügen. Deren Türen waren unter dem Druck des Schuttes im Liftschacht nach außen gefallen. Eine breite Rampe führte zum oberen Stockwerk.
Die Forscher gingen hinauf. Aus ihren Studien anderer Orte, die sie früher auf dieser Reise schon besucht hatten, wußten sie ungefähr, wie die Eingeborenen dieser Welt ausgesehen haben mußten und wie sie sich bewegt hatten, wenn sie keine Schweber oder Wagen benützten. Körperlich schienen sie kurzen Kegeln mit breiter Basis und einer Anzahl spezialisierter Anhängsel geähnelt zu haben; diese Anhängsel waren wohl Greif-, Seh-, Hör, Eß- und Atemwerkzeuge mit entsprechenden Öffnungen, die alle aus der Spitze des Kegels herauswuchsen. Möglicherweise war das Gehirn irgendwo in dem plumpen, beinlosen Körper untergebracht. Dieser Körper schien sich nach Art einer Schnecke, aber nicht notwendigerweise langsam bewegt zu haben, vermutlich auf einem breiten Flächenmuskel. Treppen oder Leitern hatten sie innerhalb der Gebäude nirgends gesehen. Als sie die Rampe hinaufstiegen, hing Peters Blick an dem Roboter, der praktisch alles erklettern konnte. Da griff Jan nach seinem Arm und deutete nach vorn. »Schau dir diese Skulpturen an!« rief sie aufgeregt. »Ganz ohne jede Verkleidung. Die werden viele unserer physiologischen Fragen beantworten.« Zwei riesige Gestalten, fünf- oder sechsmal über Lebensgröße, beherrschten den Absatz oben an der Rampe. Sie waren aus hartem Stein gemeißelt, und die Insekten hatten sie in Ruhe gelassen. Peter sah, daß jeder Muskel, jedes Gelenk und jede Falte genauestens wiedergegeben war. Kein Wunder, daß Jan sich freute. »Ich nehme an, die kleinere dieser zwei Gestalten ist das Weibchen der Spezies«, bemerkte Peter.
»Es ist leicht zu sagen, wer der Arzt in dieser Familie ist«, antwortete Jan und schüttelte den Kopf. »Nein. Ich würde sagen, die kleine Gestalt mit dem aggressiv funkelnden Auge ist ihr Äquivalent unseres Neandertalermannes, und die größere Figur mit den zahlreicheren und besser gegliederten Anhängseln, dessen Stielauge himmelwärts gerichtet ist, stellt den Schöpfer dieser einst sehr mächtigen Zivilisation dar.« ... die zu den größten Höhen aufstieg und ihr Vorhandensein dem Rest der Galaxie signalisierte und dann starb, vor zweitausend Jahren ... fügte er in Gedanken hinzu. »Wir haben Glück«, fuhr Jan fort. »Wir haben ein kulturelles Zentrum gefunden, das für die Nachwelt bestimmt war, vielleicht sogar für uns. Schau dich nur um. Einige dieser Schaukästen sind noch heil, ihr Inhalt ist unbeschädigt, und das ist nicht verwunderlich, weil die meisten nur seltsam geformte Steine enthalten.« Sie wandte sich von ihm ab. Der Roboter war damit beschäftigt, die Wandbilder zu fotografieren, und dabei konzentrierte er seinen Lichtstrahl auf das jeweilige Objekt. Jan knipste ihr Anzuglicht an und suchte sich ihren Weg durch den schuttbedeckten Gang zur nächsten aufwärts führenden Rampe. Sie rannte fast hinauf. Peter folgte ihr langsamer. Als er und der Roboter sie einholten, kauerte sie über einem zusammengebrochenen Schaukasten und versuchte noch immer, wieder zu Atem zu kommen. »Du solltest nicht so rennen«, mahnte er. »In unserem Alter ist jede Überanstrengung gefährlich.« Sie wischte seine Worte mit einer Handbewegung beiseite und fuhr aufgeregt fort: »Unten wußte ich es
schon, aber jetzt gibt es überhaupt keinen Zweifel mehr. Wir haben ein Museum gefunden. Das Erdgeschoß ist der Vorgeschichte der Rasse gewidmet – grobe Steinwerkzeuge, Messer, frühe Versuche, mit Lehm oder Erde zu arbeiten. In diesem Stockwerk sind sie schon bei Ackerbau und Webkunst angelangt. Die meisten Schaustücke bestanden aus leicht zerstörbaren pflanzlichen Fasern, also haben Zeit und Insekten sie vernichtet. Aber die Wandbilder sind sehr gut erhalten und zeigen genau das kulturelle Niveau dieser Periode. Weitere Stockwerke müßten uns in die Zeit bringen, in der diese Zivilisation allmählich auseinanderzufallen begann. Vielleicht finden wir sogar den Grund für ihren Zusammenbruch.« »Wir kennen doch den Grund, warum diese Zivilisation und alle anderen zusammenbrachen«, erwiderte er müde. »Sie hatten zu viele selbstzufriedene, eitle, egoistische Wesen, die ihre viel zu geringen natürlichen Rohstoffquellen restlos ausbeuteten. Dieses Bild haben wir viel zu häufig zusammengesetzt. Was mich allmählich beeindruckt, ist die Tatsache, daß nahezu jede Kultur, die wir bisher fanden, uns eine Lektion über ihre Vergangenheit zurückließ, aber keine Lektion des Überlebens.« »Ich weiß«, sagte sie, und die Begeisterung welkte in ihrer Stimme. »Daß wir dieses Gebäude fanden, war reines Glück, und es könnte hier noch einiges auf uns warten. Ein bißchen Glück steht uns auch längst zu, und ich habe das Gefühl –« »Immer hast du ein Gefühl«, unterbrach er sie. »Das nennt man Wunschdenken.« »Willst du etwa unangenehm werden?« fauchte sie
ihn an, fuhr aber dann freundlich fort: »Hier könnten wir in der Lage sein, ein vollständiges Bild zusammenzusetzen, so daß wir nicht auf dem ganzen Planeten nach den einzelnen Stücken des Puzzles suchen müssen, wobei uns natürlich am Ende wahrscheinlich sehr viele fehlen würden. Ich bin froh, daß du den Fehler gemacht hast und noch einmal hierher gekommen bist, weil –«
2 »Verdammt noch mal, immer bestehst du darauf, wir seien schon hier gewesen, aber das ist doch gar nicht möglich! Der Computer ist nicht dein Spezialgebiet, deshalb kann ich dich auch nicht davon überzeugen, daß ein solcher Irrtum ausgeschlossen ist, wenn ich das Schiff für eine solche Suche programmiere.« »Möglich ist es nicht, aber du kannst es trotzdem getan haben«, schnappte sie zurück. Dann riß sie sich zusammen. »Du bist davon überzeugt, keinen Fehler gemacht zu haben; ich glaube das Gegenteil. Wir streiten also darüber und lassen unser Wahrnehmungsvermögen und unsere Vernunft von diesem Streit beeinträchtigen. Wir haben etwas gefunden. Ich denke, wir haben es vorher übersehen, und du glaubst es nicht. Das ändert nichts an der Tatsache, daß wir an einem Punkt stehen könnten, von dem aus wir das Wesen einer außerirdischen Kultur zu erforschen in der Lage sind, mit der verglichen die unsere – mit einer geringen Ausnahme – mittelalterlich wirken muß. Aber das ist alles falsch. Wir verlieren unseren Sinn
für Proportionen. Ich meine, wir ließen es zu, daß wir zu alt wurden. In letzter Zeit scheinen wir nichts anderes mehr zu tun als uns zu streiten und einander anzufauchen, und dabei entgehen uns wichtige Daten, weil wir miteinander kabbeln, statt daß wir uns umsehen.« »Ich weiß selbst, daß wir alt werden«, antwortete er. »Aber als wir das letzte Mal darüber zu entscheiden hatten, kamen wir überein, daß wir uns keinem weiteren Verjüngungsprogramm unterziehen würden, wenn nicht –« »Der Meinung warst du. Ich hatte Vorbehalte.« Er holte tief Atem und versuchte seinen Zorn zu unterdrücken, weil er schon wieder etwas erklären mußte, das er vorher oft genug gesagt hatte. »Wir haben drei Verjüngungsprozeduren hinter uns. Es ist kein Problem, eine vierte zu bekommen. Wenn die Behandlung auch streng rationiert ist, weil es zu viele Menschen gibt, so erlaubt uns unsere Arbeit eine weitere Verjüngung ohne Diskussionen darüber. Aber wenn wir uns diesem Prozeß noch einmal stellen, sind wir auch verpflichtet, unsere Arbeit als Forscher fortzusetzen. Und ich glaube nicht, daß ich noch einmal zwanzig Jahre durchstehen würde, auch nicht als junger, eifriger Grabräuber anstelle eines ältlichen Menschen mit einem sich allmählich verhärtenden Intellekt. Wir haben bereits einige Lebensalter an Enttäuschungen hinter uns. Noch weitere zwanzig solcher Jahre kann ich nicht ertragen. Es tut mir sehr leid. Aber wenn du natürlich den Antrag stellen willst –« Er sah, daß sie in ihrem Helm den Kopf schüttelte. »Nein«, sagte sie, »ich tue das, was du tust.«
»Aber –« »Aber«, fügte sie leise hinzu, »mir werden die damit zusammenhängenden Vergünstigungen sehr fehlen.« Ein paar Sekunden lang sahen sie einander schweigend an. Dann lachte erst er, schließlich auch sie. Das Problem war nicht aus der Welt geschafft, und nichts hatte sich bei ihren persönlichen Schwierigkeiten verändert, aber für die nächste Zeit wenigstens war dieser sinnlose Streit vorüber. »Gibt es etwas Besonderes, wonach ich Ausschau halten sollte?« fragte er, als das befreiende Gelächter abgeklungen war. »Etwas, das vielleicht auf ein Überleben der Spezies hinweist?« »Ich weiß nicht«, erwiderte sie. »Suche lieber nach etwas ganz anderem, nach einer neuen Idee oder einem ganz anderen Aspekt dieser Kultur, der sie von allen anderen Kulturen unterscheiden könnte, die wir bisher untersucht haben. Es könnte ein Plan zur Bevölkerungskontrolle oder Ernährung sein, vielleicht eine Idee, die zu spät kam, als daß sie diesen Kreaturen noch hätte nützen können, die wir aber in einer ähnlichen Lage auf der Erde anwenden könnten. Ganz besonders läge mir daran, Beweise dafür zu finden, daß ein paar von dieser Spezies noch wegkamen und irgendwo eine Kolonie gründeten, ehe die Kultur zu zerfallen begann. In den zweitausend Jahren, die seit den letzten Signalen von dieser Welt vergangen sind, könnte sich in einem anderen Sonnensystem eine blühende Kolonie entwickelt haben. Ein solches Kolonisationsprojekt ist wichtig genug für einen Platz im Museum, und die Lage einer solchen
Kolonie im Raum wäre sicher irgendwo in dieser Ausstellung festgehalten.« Kurz gesagt, wir halten also nicht immer nach unserem eigenen Ebenbild Ausschau, überlegte er, als sie gemeinsam die nächste Rampe erstiegen. Peter erinnerte sich, daß sie schon auf ihrer ersten Forschungsfahrt nach »Leuten« Ausschau gehalten hatten, doch damals hatte es ihnen nicht allzu viel ausgemacht, daß sie keine fanden. Die Aufgabe war zu neu, seltsam und aufregend gewesen, als man in einem der ersten Forschungsschiffe saß und einem jeder das Allerbeste wünschte. Das war in mancher Beziehung wie Flitterwochen gewesen – für Jan und ihn waren sie es auch tatsächlich gewesen –, und die sind, besonders in der Rückschau, immer vollkommen. Mit dem neuentwickelten Stardrive waren sie zehn Lichtjahre in den interstellaren Raum vorgedrungen, hatten ihre riesigen Antennen ausgefahren und gelauscht. Genauer gesagt, die Schiffssensoren hatten gelauscht, während die Besatzung sich mit sehr persönlicheren Erkundigungen befaßte. Die Wochen des Wartens waren auf recht angenehme Weise vergangen, während die Antennen ein ziemliches Durcheinander von stellaren Objekten registrierten, die über und unter dem sichtbaren Spektrum lagen. Dann war ganz plötzlich ein Signal hereingekommen, und das hatte nur von intelligenten Wesen stammen können. Es war ein einfaches, sich ständig wiederholendes, aber so charakteristisches Signal wie eine Unterschrift. Wie erwartet, verschwand es innerhalb weniger Minuten, kam wieder für ein paar Minuten, dann noch einmal einen Tag später.
Während ihrer Ausbildung auf der Station Pluto hatten sie sich Aufnahmen vieler solcher Signale angehört. Die Theorie besagte, daß diese »Botschaften« von Antennen auf Welten ausgestrahlt wurden, die etwa auf halbem Weg quer durch die Galaxie liegen konnten und daß die Schweigeperioden übereinstimmten mit der Umdrehungsgeschwindigkeit des sendenden Planeten. Man glaubte ferner, die Sendeantenne könne steuerbar sein, so daß sie praktisch den ganzen umgebenden Raum abtastete. Diese Theorie erwies sich in den meisten Fällen als richtig, wie später die Suchkommandos feststellten, doch es hatte auch etliche Welten gegeben, wo die Signale von einem Transmitter im Orbit ausgegangen waren. Peter hatte sich auf dieses erste Signal festgelegt, und er und seine junge Frau taten einen Sprung von hundert Lichtjahren, um sich ihm zu nähern. Dann fixierten sie wieder ihre Position und sprangen erneut. Es hatte noch keinen Sinn und keine Eile, die Bedeutung dieses Signals festzustellen, obwohl sie es natürlich oft versucht hatten, denn es war einfach eine fremde Stimme, die immer wieder kundtat, daß sie da war. Und dann war sie ganz plötzlich verstummt. Sie hatten die Spur zurückverfolgt, bis sie das Signal wieder auffingen, danach machten sie einen langen Sprung im rechten Winkel, so daß sie mit Hilfe der Dreiecksfunktion die Position des Sendesystems bestimmen konnten. Innerhalb weniger Wochen hatten sie es gefunden – und kamen auf eine Welt, auf der es kein intelligentes Leben mehr gab. Das System war etwa viertausend Lichtjahre von der
Erde entfernt, und aller Wahrscheinlichkeit nach waren die Signale schon ausgesandt worden, lange bevor die menschliche Technologie ein Niveau erreicht hatte, das es ermöglichte, sie aufzufangen. Radiofrequenzemissionen pflanzen sich mit Lichtgeschwindigkeit fort, und ihr Schiff hatte die Signale über mehr als die Hälfte ihrer Reise von viertausend Lichtjahren aufgefangen, so daß also die Zivilisation, von der sie ausgegangen waren, mindestens zweitausend Jahre lang bestanden hatte. Aber auch eine langlebige, stabile und technologisch sehr fortschrittliche Kultur geht einmal zugrunde, und fällt eine solche Zivilisation, dann fällt sie sehr hart. Peter und Jan waren mehr enttäuscht als besorgt, als sie diesen ersten toten Planeten fanden. Auf ihrer ersten Mission hatten sie kein Glück gehabt, doch sie sagten sich, das nächste Mal würden sie ganz bestimmt mit Leuten zusammentreffen, mit fremdartigen, vielleicht gefährlichen Wesen Kontakt aufnehmen. Die damit verbundenen Risiken waren nicht sehr groß, weil eine Rasse, die ihr Vorhandensein im ganzen Raum bekanntgab, wahrscheinlich jeden Kontakt freudig begrüßen würde. Aber auf der ersten Welt hatten sie nur Insekten und die Reste einer großen Zivilisation in einem bemerkenswert guten Erhaltungszustand vorgefunden. Jan und Peter hatten Beweisstücke mitgenommen und Berichte mitgebracht, nach denen diese Technologie der irdischen um ein halbes Jahrhundert voraus war. Das Sichten hatte fast drei Jahre gedauert. In dieser Zeit hatte man sie mit akademischen und sonstigen Ehren überhäuft. In ge-
ringerem Ausmaß war das auch bei den anderen Suchschiffsbesatzungen üblich gewesen, die aber mit einer geringeren Ausbeute zurückgekommen waren. Schließlich hatte man ihnen erlaubt, es noch einmal zu versuchen. Die zweite Welt, die sie fanden, war auch schon längst tot gewesen, als die Radiosignale ihre langsame Reise zur Erde vollendet hatten. Es gab interessante Artefakte und nützliche Prozesse auf dieser Welt, auch auf den vielen anderen, die sie besuchten. Zu Hause zog jeder seinen Vorteil aus dem ständigen Zustrom des fremden Know-how. Aber die Mannschaften der Suchschiffe wurden es allmählich müde, immer nur technologische Grabstätten zu plündern. Sie wollten Leute finden. »Das nächstemal werden wir eine Reise in das galaktische Zentrum beantragen«, begann Peter, dann schwieg er. Den gleichen Vorschlag hatte er in diesem Stadium der Ermittlungen und Forschungen nahezu auf jedem Planeten gemacht. »Das haben wir einmal versucht und gingen daran fast zugrunde«, wandte Jan ein. »Erinnerst du dich? Dort haben die Sterne junge Planeten, und es ist leicht möglich, daß das Schiff von einem außerirdischen Mammut oder bei einem Vulkanausbruch vernichtet wird. Das weißt du aber alles selbst«, meinte sie gereizt. »Warum kauen wir das immer wieder durch, wenn du dann doch immer der Meinung bist, es sei viel besser, einem Signal zu folgen, denn dann wüßten wir genau, daß etwas dagewesen sei, als daß wir uns in einem Dschungel von Sternen stürzen, wo das Leben, so wie wir es kennen, noch gar keine Ent-
wicklungsmöglichkeit gefunden hat. Wir haben noch nie unsere Verjüngungsbehandlung so lange hinausgeschoben wie diesmal«, fügte sie hinzu, »und ich denke, wir werden vergeßlich und übellaunig. Ich auch. Oder hast du etwa eine neue Idee für eine Suche im Zentrum?« Er schüttelte den Kopf. »Eigentlich nicht. Mein Vorschlag wäre der, daß wir uns noch einmal der Verjüngungsbehandlung unterziehen und dann jung, gesund und mit besten Reflexen drei Jahre lang im Zentrum ungezielt herumsuchen. Die Planeten, die wir finden, mögen vielleicht noch aus dem Urmagma bestehen, aber es könnte doch eine Chance geben, daß wir intelligentes Leben finden. Vielleicht junges Leben, aber intelligent. Ein neuer Stern. Wir können nicht ewig nur mit den Geistern fremder Wesen reden.« »Und wir können auch nicht mit fremden Kindern oder verstandlosen fremden Embryos sprechen«, erwiderte sie. »Wir müssen etwas ungefähr in unserem Alter finden, um damit zu spielen.« »Ja«, gab er ihr recht. Sie verließen den dritten Stock des Gebäudes und stiegen in den vierten hinauf. Sie hatten die industrielle Revolution hinter sich gelassen, und die Atomenergie wurde eingesetzt, wenn auch nicht für Kriegszwecke. Diese tote Kultur hatte ebenso wie andere ausgestorbene Kulturen, die sie erforscht hatten, nur wenige große Kriege in ihrer aufgezeichneten Geschichte. Der Fortschritt in allen Künsten und Wissenschaften war langsam gewesen, so daß die Kultur in jedem Stadium stabil blieb. Die Wesen schienen glücklich und von heiterer Lebensart gewesen zu
sein, vor allem aber fähig zu engster Zusammenarbeit. Es mußte sehr behaglich gewesen sein, auf dieser Welt zu leben. Die Schaukästen im vierten Stock waren verhältnismäßig gut erhalten, aber die Metallgegenstände waren nur noch Rostklumpen. Plastikgegenstände dagegen waren, wenn auch verfärbt und mit toten Insekten verkrustet, in erstaunlich gutem Zustand. Und die Forscher fanden immer mehr Plastikbücher, große Folianten mit dicken Blättern, deren Text über den Seiten zu schwimmen schien und deren Illustrationen den Eindruck einer perfekten dreidimensionalen Wiedergabe auf glatter Oberfläche vermittelten. »An diesem Effekt werden sie zu Hause überaus interessiert sein«, sagte er und dachte bei sich: hoffentlich. Die Leute zu Hause interessierten sich kaum mehr für etwas, nicht einmal mehr für sich selbst. »Ja«, erwiderte sie, »und der Inhalt dieses Gebäudes wird es mir ermöglichen, diese Mission in zwei oder drei Monaten abzuschließen, statt in einem Jahr. Wir hatten wirklich Glück, ein Museum zu finden –« »Dann war also die Landung hier doch keine Zeitverschwendung?« Er wußte selbst nicht, was ihn veranlaßte, diesen Streit wieder aufzugreifen, über dessen Beendigung vor kurzer Zeit er so glücklich gewesen war. Jetzt war er zornig, enttäuscht und bedrückt, und plötzlich hatte er das Bedürfnis, daß außer ihm selbst noch jemand leiden müsse. »Nein, es war kein Zeitverlust«, begann sie ein wenig gereizt, doch dann schwieg sie. Ein paar Sekunden lang schaute sie ihn an, als sei er ihr Patient und
sie die Ärztin oder eine Pflegerin, und ihre Miene war eher mitleidig als zornig. Dann fuhr sie fort: »Schau dir diese Wandgemälde an. Würdest du nicht auch sagen, daß dies ein interstellarer Radiotransmitter ist?« Ihr Mitgefühl machte ihn verlegen, doch er schaute in die von ihr gewiesene Richtung und nickte. Es waren riesige Wandgemälde und sehr gut erhalten, und sie zeigten, genau wie die in den unteren Stockwerken, in chonologischer Reihenfolge den Aufbau einer Anlage. Es begann rechts von der Rampe und lief um drei Wände, so daß sie links von der zum nächsten Stockwerk führenden Rampe endete. Auf nebeneinanderliegenden Gemälden waren zwei Sendeantennen dargestellt, die eine auf schneebedecktem Festland über einer sehr zornigen See, die andere in einer Wüste. Die nächsten Wandgemälde stellten sehr fortschrittliche landwirtschaftliche Prozesse auf dem Land, in und unter der See dar; sehr viel Raum war den zeitweiligen Lösungen des Problems gewidmet, wie eine rapide anwachsende Bevölkerung ernährt werden konnte. Dann folgte wieder der Transmitter in der Wüste, aber nun war das polierte Metall in den Jahrhunderten matt geworden, und die ehemalige Wüste hatte man in ein gelbgrünes Flickenwerk von Feldern verwandelt, die von Robotern gepflegt wurden. Seine Augen gingen weiter zum nächsten Bild, und da lachte er ironisch. »Na, so was«, sagte er. »Sie scheinen ihre interstellaren Sendeanlagen ein paar Jahrhunderte vor dem ersten Raumflug gebaut zu haben. Sie waren eine Bande eitler, selbstbewußter –«
»Vielleicht hatten sie gewisse Prioritäten gesetzt«, unterbrach ihn Jan. »Schließlich mußten sie erkannt haben, daß die Wahrscheinlichkeit von Leben in anderen Sternsystemen bestand, als sie über ihre Meinung hinauswuchsen, ihre Welt sei einmalig und der Mittelpunkt des Universums. Vielleicht kamen sie zu dem Schluß, daß der Bau eines interstellarer Antriebs ihre technischen Fähigkeiten doch überstieg. Der Stardrive überstieg auch unsere technischen Fähigkeiten«, fuhr sie trocken fort, »bis wir nach unwahrscheinlichen Lösungen suchten, statt nach den naheliegenden. Das ganze Konzept ist doch so grotesk und unmöglich, daß es reiner –« Sie brach ab und sprach nach einer Pause weiter: »So wählten sie eben das Signal, mit dem sie dem Rest der Galaxie ihr Vorhandensein anzeigten in der Hoffnung, jemand mit einem Stardrive möge zu ihnen kommen; sie hätten dann auf der Stelle einen technologischen Roßtausch auf allerhöchster Ebene vorgenommen. Sie waren eine intelligente und geduldige Rasse, die offensichtlich glaubte, man müsse nur warten können, dann komme alles von selbst.« »Wir sind auch gekommen«, antwortete er grimmig, »nur zweitausend Jahre zu spät.«
3 Erst als sie ihren Rundgang gemacht hatten und die letzte Rampe erstiegen, sprachen sie wieder. Die Lampe des Roboters war hier nicht mehr nötig, weil das Dach über dem obersten Stockwerk eingestürzt war, dabei die meisten Schaukästen zerschlagen und
den ganzen Boden mit Schutt übersät hatte; stellenweise wuchs Gras auf diesem Schutt. Aber auch hier ließen sich die Wandgemälde selbst durch die dicken Lagen lebender und toter Insekten recht gut erkennen. »Sie müssen ein außerordentlich wirksames Insektenschutzmittel gehabt haben, wenn sie nach so langer Zeit die Oberfläche dieser Bilder sauber halten konnten«, sagte er. »Aber ausrotten konnten sie nicht alle«, erwiderte sie leise. »Das gelingt keinem.« Hier zeigten die Bilder Raumfahrten zu den Nachbarplaneten und den Bau von Stützpunkten. Es gab aber keinen Hinweis auf eine von ihnen kolonisierte Welt oder auf den Bau von Generationenschiffen für den Versuch, mit einem Schiff, das keine Lichtgeschwindigkeit erreichte, eine interstellare Kolonie zu gründen. Die Transmitter wurden wieder gezeigt, und noch immer schickten sie geduldig ihre Signale zu den Sternen, die diese Rasse niemals erreicht hatte. Es gab Darstellungen von Bevölkerungsstrukturen der größten Dichte und einer höchst intensiven Landwirtschaft, die aber unter irgendeiner Seuche zu leiden schien. Eines der Bilder zeigte stark vergrößerte Darstellungen verschiedener Insektentypen mit etwas, das vielleicht die chemischen Symbole für Insektizide waren, mit denen sie getötet werden konnten. Angst oder der Ausdruck eines Drängens sprach nicht aus den Bildern. Das Museum war gebaut worden von einer Rasse mit einer alten, stabilen Kultur, und diese Leute ließen sich nicht leicht erschrecken.
Für die Crew eines Forschungsschiffes, die dies alles schon anderswo gesehen hatte, waren die Zeichen eindeutig. Eine blühende Kultur, die durch Mangel an Nahrung und Energiequellen geschwächt war, ging vor einem Feind in die Knie, der so klein und verstandlos war, daß er es nicht einmal merkte, als er gewonnen hatte. »Gehen wir zum Schiff zurück«, schlug Peter bedrückt vor. Jan nickte und musterte ihn noch immer, als halte sie ihn für krank. »Und was dann?« fragte sie. »Dann werden wir über andere Dinge sprechen als über Grabräuberei, wenigstens für den Rest des Abends. Morgen helfe ich dir dann, dieses Material zu sichten und auszuwerten, bis es Zeit ist, nach Hause zurückzukehren.« »Und dann?« Er nahm ihre Hand, um ihr über einen Schutthaufen wegzuhelfen, und er hielt sie auch aus ihm selbst unklaren Gründen fest, als sie die Rampe hinabgingen. Zornig war er noch immer. Er wußte, daß sie immer ziemlich dickköpfig und zum Streit bereit war, aber es hatte Zeiten gegeben, da selbst ein ernsthafter Streit unwichtig gewesen war und schnell vergessen wurde, statt ihn endlos hinauszuziehen und jedes Gespräch und die Arbeit von Tagen zu vergiften. »Dann fahren wir nach Hause und lassen uns für eine letzte Reise verjüngen«, sagte er. »Natürlich hast du unseres Zustandes wegen recht. Wir verbringen zuviel Zeit mit Streiten, nicht genug mit der Forschung. Und unsere letzte Reise sollten wir wirklich in einer ganz erstklassigen Verfassung machen. Wir
könnten etwas finden.« »Dann geben wir auf«, erklärte er bestimmt. »Es wird da keinen Widerstand geben. In den letzten zehn Jahren hat sich die Anzahl der Suchschiffaufträge stark verringert, und selbst unsere Spitzenleute verlieren allmählich die Hoffnung. Es sind auch Anzeichen dafür vorhanden, daß unsere Kultur zu selbstzufrieden wird und sich viel zu sehr auf sich selbst beschränkt; damit beginnt sie im Stehen zu sterben. In den nächsten Jahrzehnten werden wir wohl unsere Lust auf Abenteuer verlieren, unsere unersättliche Neugier auf das Universum und wer es bewohnt. Wir stellen dann interstellare Radiotransmitter auf und lehnen uns behaglich zurück in der Überzeugung, andere werden uns schon finden. Um diese Zeit haben wir dann unsere vierte Verjüngung aufgebraucht, und wir werden unser hohes Alter damit verbringen, daß wir Beispiele der Köstlichkeiten unserer kleinen, feinen Kultur zusammentragen. Dabei übersehen wir dann das Überhandnehmen der Insekten oder ihrer Rivalen, die sich längst an unsere letzten Pestizide gewöhnt haben.« »Sehr lustig wird das aber nicht werden.« »Natürlich nicht. Deshalb machen wir noch zwei, vielleicht auch drei Reisen. Je mehr letzte Reisen wir machen, desto größer wird unsere Chance, vielleicht doch noch etwas zu finden.« »Das ist doch hoffnungslos«, brach es aus ihr heraus. »Und es war immer hoffnungslos. Wir verschwenden nur unsere Zeit.« »Das weiß ich doch«, erwiderte er. Aber man hatte die Besatzungen dieser Forschungsschiffe überaus sorgfältig aus der anfänglich
sehr großen Zahl von Bewerbern ausgewählt, die einfach die Hoffnung nicht aufgeben konnten. Ein unbeeinflußter Beobachter, der diesen psychologischen Typ studierte, hätte vielleicht gesagt, es sei Dummheit, nicht an den unausbleiblichen Fehlschlag zu glauben und sich ihm zu stellen. Aber es war gerade diese sogar stürmisch, auf ihr jetziges kulturelles Niveau und ihre technologische Bedeutung gehoben hatte. Sehr oft wurde der Antriebsschwung von einer solchen Dummheit noch verstärkt; auf diese Weise kam man zum Stardrive und zur Beherrschung der Schwerkraft. Endlich hatte die Menschheit auch aus dieser Dummheit heraus auf den Krieg verzichtet und war nun bei einer noch größeren und dickköpfigen Dummheit angelangt, der nämlich, einen Partner zu suchen, ehe die Kultur durch Inzucht zu sehr geschwächt wurde und ehe die Dummheit, die sie groß gemacht hatte, sich in einer Flutwelle ungeheurer Intelligenz und philosophischer Hinnahme statischer Wirklichkeiten verlor. Als sie dem Roboter hinunterfolgten, erinnerten sie sich der anderen planetengroßen Friedhöfe, die sie besucht hatten. Die Bewohner jener Welten waren größtenteils humanoid gewesen, doch einige der anderen boten keinen sehr angenehmen Anblick. In jedem Fall hatten sie aber Zivilisationen aufgebaut, die reich, stabil, friedlich und, nach irdischem Standard, außerordentlich langlebig waren. Sie waren früh gereift und hatten kindische und zerstörerische Launen wie Kriege, rassische, religiöse und soziologische Diskriminierungen aufgegeben, solange sie noch jung waren. Ihre Kulturen hatten angenehme Lebensbedingungen geboten, und ein angenehmes Leben war
vielleicht alles, was jede Lebensform vernünftigerweise erwarten kann. »Manchmal glaube ich, wir werden nie erwachsen«, meinte Peter nachdenklich. »Das wäre vielleicht eine bessere Art zu leben«, bemerkte sie, »als zu früh erwachsen zu werden und dann nichts zu haben, wofür man leben kann, bis auf eine rassische Nabelschau.« Instinktiv wollte Jan wieder zu streiten anfangen, und das war immer so gewesen, seit er sie kannte. Aber jetzt war jeder Streit ohne Leben, ohne Hoffnung und kleinlich, statt die intellektuelle Herausforderung zu sein, die er früher war. Er lockerte seinen Griff um ihre Hand, doch sie verstärkte den ihren und ließ ihn nicht los. »Spezies«, sagte sie, »mit langer Trächtigkeit und Kindheit haben viel größere Entwicklungsmöglichkeiten als etwa fremde Schmetterlinge. Vielleicht sind wir gar nicht so dumm, nur zu jung, als daß wir es richtig verstehen könnten. Und jetzt haben wir vielleicht die Pubertät hinter uns, haben das Elternhaus verlassen und halten nach einem Partner Ausschau. Nach einem intellektuellen Partner«, fügte sie hinzu. »Ich habe das bildlich gemeint.« »Das ist mir klar«, antwortete er und lachte. »Es tut mir leid«, fuhr sie in einem Ton fort, der abwehrend war und gleichzeitig um Entschuldigung bat. »Ganz von Anfang an warnte ich dich, daß ich immer genau meine Meinung sagen und es nicht verschweigen würde, wenn ich glaubte, du seist im Unrecht. Du sagtest, meine Offenheit sei anregend und ... Nun, es spielt keine Rolle. Ich will gar nicht jeden
Streit gewinnen. Und wir haben ganz gewiß keine Zeit verschwendet, als wir hier landeten.« Er wartete mit der Antwort, bis sie das Gebäude verlassen hatten. Die Sonne stand niedrig über dem Horizont, und die grasbewachsenen Schutthügel und die paar noch intakten Bauten waren in orangefarbenes Licht getaucht. Das Bild hatte die Klarheit einer Theaterkulisse. Aus allen Richtungen drang das Summen und Surren der Insekten auf sie ein. »Ein paarmal hattest du nicht recht, und da pflegtest du es zuzugeben und dich zu entschuldigen«, entgegnete er bedachtsam. »Diesmal hast du dich entschuldigt, ohne tatsächlich zuzugeben, daß du nicht recht hattest. Das heißt, du denkst also noch immer, daß du recht hattest und daß wir infolge meines Irrtums hergekommen sind.« »Oh, laß uns doch bitte zu streiten aufhören und die ganze Sache vergessen. Bitte.« Er schüttelte den Kopf. »Ich streite ja nicht. Aber wenn ich einen Fehler mache, will ich das wissen. Zeig mir den Beweis.« »Dann wirst du für Wochen verlegen sein.« Sie sah sich sorgfältig um, als wolle sie sich orientieren, dann deutete sie. »Es müßte knappe vierhundert Meter in dieser Richtung sein«, sagte sie. »Vielleicht ist es ein Fleck kranker Vegetation oder eine Lichtspiegelung, aber nur ein Suchschiff kann solche Spuren hinterlassen, und als wir landeten, sah ich es.« Als sie auf dem nächsten höheren Hügel standen, sah auch er den tellerförmigen Eindruck. Er hatte einen Durchmesser von etwa zehn Metern und war mit einer Vegetation bedeckt, die eine Schattierung heller
war als normal, weil das Gras auf diesem Fleck bei Landung und Start des Forschungsschiffes zusammengedrückt worden war und das nachwachsende Gras sich durch die Reste des alten hatte kämpfen müssen. Auf dieser und auf anderen Welten hatten sie in den achtzig Jahren ihrer Suche viele solcher Eindrücke hinterlassen. »Nach dem Alter des Neuwuchses zu urteilen, muß das unsere erste Planetenlandung gewesen sein«, stellte er fest. »Aber das kann der Roboter an der bekannten Wachstumsrate überprüfen und eine genauere Landezeit angeben. Dann werde ich exakt feststellen können, wann der Fehler im Suchraster gemacht wurde, falls dies überhaupt der Fall war.« Sie entzog ihm ihre Hand. »Sei doch nicht kindisch!« fuhr sie ihn an. »Ehe du selbst einen Fehler zugibst, gehst du lieber davon aus, daß ein anderes Forschungsschiff in den uns zugewiesenen galaktischen Sektor kam und hier gelandet ist. Das ist sehr viel unwahrscheinlicher als ein Fehler auf deiner Seite. Vielleicht sollte ich vom Roboter den Eindruck dahingehend überprüfen lassen, ob er von unserem Schiff stammt.« Während sie sprach, starrte er auf den Boden und studierte die gut erkennbaren Vertiefungen um den Tellerrand; das waren die Spuren der Stabilisatoren und Landebeine. Sein Herz klopfte so laut, daß er glaubte, es übertöne seine Stimme. »Ja, tu das.« »Nein, du tust es.« »Meine augenblickliche seelische Verfassung läßt es unwahrscheinlich sein«, meinte er ruhig, »daß ich die Instruktionen in einer für den Roboter verständli-
chen zusammenhängenden Rede erteile.« »Du hast diesen Satz so gut formuliert«, begann sie, doch dann schwieg sie und schaute ihn an. Er sah, daß der Zorn aus ihrem Gesicht wich und der Sorge Platz machte, und er wußte, daß sich die Sonne in seinem Helm spiegelte, so daß sie seine Miene nicht erkennen konnte. Sie gab die nötigen Instruktionen, dann traten sie zurück, damit der Roboter unbehindert arbeiten konnte. »Du nimmst das aber entsetzlich tragisch«, meinte sie besorgt. »Es tut mir leid. In der Regel machst du ja keine Fehler, und der hier war so klein, daß –« »Versprich mir eins«, unterbrach er sie ernsthaft, griff nach ihrem Arm und drückte ihn, um seinen Worten etwas mehr Nachdruck zu verleihen, »wenn du in Zukunft eine Meinung zum Ausdruck bringen willst, von der du glaubst, sie sei mir unangenehm, oder wenn du etwas an mir zu kritisieren hast, was ich sage oder tue oder nicht sage oder tue, oder wenn du eine Beobachtung machst, mag sie nun wichtig sein oder nicht, so sprich das bitte offen aus.« Sie setzte zum Sprechen an, schaute völlig verblüfft drein, doch er winkte ihr zu, sie solle schweigen. Der Roboter hatte den Eindruck überprüft und gab nun seinen Bericht ab. BODENEINDRÜCKE UND KONTUREN DIESER EINDRÜCKE WEISEN AUF LANDUNG UND SPÄTEREN START EINES FORSCHUNGSSCHIFFES HIN UNTER VERWENDUNG VON ANTIGRAVITÄTSANTRIEB HERKÖMMLICHER BAUART. VEGETATIONSZUSTAND LÄSST ZEIT VON ZEHN WOCHEN VERMUTEN. RESTSTRAHLUNG UND
TIEFE DER EINDRÜCKE VON STABILISATOREN UND LANDEBEINEN BESTÄTIGEN MASSEZIFFERN FÜR FORSCHUNGSSCHIFF. BAUART DER STABILISATOREN UND LANDEBEINE SIND NICHT IN ÜBEREINSTIMMUNG MIT IRGENDEINEM IRDISCHEN SCHIFFSTYP DER VERGANGENHEIT ODER GEGENWART. IDENTIFIZIERUNG DES SCHIFFES IST DAHER UNMÖGLICH. Das sagte die präzise, mechanische und tonlose Roboterstimme in ihren Helmen. Sie wandte sich ihm zu. »Ich bin froh, daß du keinen Fehler gemacht hast«, sagte sie voll Wärme, doch sie sprach nicht mehr weiter, weil ihr jetzt erst die Bedeutung dieser Feststellung aufging. »Und das heißt auch«, erklärte er, »daß noch jemand nach Leuten sucht und Friedhöfe findet. Es heißt ferner, daß noch jemand den Stardrive entdeckt hat und einen konventionellen Antigravitätsantrieb für Start und Landung benützt, vielleicht deshalb, weil es nur eine Möglichkeit gibt, ein solches Ding zu bauen. Und es heißt ferner, daß wir weiterhin nach längst toten Zivilisationen suchen müssen, weil sie die einzigen Arten sind, die ihr Vorhandensein über so lange Zeiträume bekanntmachten, daß sie unsere Aufmerksamkeit und die anderer Sucher auf sich ziehen mußten. Statt also Gräber auszuplündern, hinterlassen wir eine Botschaft und unsere Initialen auf ihnen, genauer ausgedrückt: wir werden witterungs- und insektensichere Radiostationen errichten, die Daten über die Erde und ihre Position im Weltraum enthalten. Diese Daten verbreiten wir auf allen Welten, die wir finden, auch auf jenen, die wir bereits gefunden
haben, weil wir keine Ahnung haben, wie viele davon noch von den anderen besucht werden. Und vor allem heißt es«, endete er jubelnd, »daß eines Tages ein Radiosignal entdeckt und von Leuten entschlüsselt wird, die, genau wie wir, sich nicht damit zufriedengeben, herumzusitzen und zu warten.« Plötzlich lagen sie einander in den Armen. Das sah sehr lächerlich und überflüssig aus, weil die Dicke ihrer Schutzkleidung dabei hinderlich war. Aber das war nun unwichtig. Ihr Gesicht war jünger als er sich seit vielen Jahren erinnern konnte, viel lebhafter und angeregter. Sie sah so aus, wie er sich fühlte, als habe er eben eine neue Verjüngungskur hinter sich. Sanft schob er sie von sich weg. »Wir wollen zum Schiff zurückkehren, Liebling«, sagte er. »Wir verschwenden Zeit.«
Originaltitel: ANSWER CAME THERE NONE Copyright © 1973 by UPD Publishing Corporation
Arsen Darnay HERRLICHE FREIHEIT An seinem fünfundzwanzigsten Geburtstag verließ Grom Gravok Vizillo und brach zu seiner Maturitätsreise auf. Eine Delegation der Älteren verabschiedete ihn; in der Hauptsache waren es jüngere Männer. Aber sein Vater und seine Onkel waren auch dabei, wie auch seine Mutter, zwei Schwestern und seine zukünftige Frau Maruschka. Die Männer hatten feuchte Augen und schluckten heftig, als die Zeit des Abschieds immer näher ruckte, die Frauen weinten, Maruschka am allermeisten. Grom war unterwegs zur Herrlichen Freiheit. Würde er wieder zu ihr zurückkommen? Grom schnürte die Traurigkeit die Kehle zusammen, als er sie alle umarmte, Maruschka ganz zum Schluß. Ihr Gesicht schmeckte salzig, die Lippen waren weich, ihr Atem roch süß. Er riß sich los und rannte durch den Tunnel zum TCLinienschiff Malinow. Ehe er sich in den Tunnel duckte, drehte er sich noch einmal um und winkte. Über seiner Schulter hing eine rote Tasche mit dem Aufdruck TIME COLLAPSE INTRA-GALACTICA. Die ganze Goruschka hatte sich am Abend vorher versammelt, um sein Erwachsenwerden zu feiern. Dreihundert Seelen, die Kinder nicht gezählt, füllten den Keller der Miriam Church im 38. Stockwerk. Die Tische bogen sich unter den fünfundachtzig verschiedenen Fischen. Wein und Cicillo flossen. Die flachen, die mit den tiefen Bäuchen und die dreieckigen Balalaikos tremolierten. Um Mitternacht bildeten die
Männer Kreise und tanzten den Csardasnok, bei dem in der Hocke die Füße nach vorn geworfen wurden; erst langsam natürlich, mit den Händen an den Hüften, dann schneller und immer schneller. Und die Zuschauer klatschten dazu in die Hände und schrien »Hai! Hai! Hai!« zu jedem Stoß der Beine. Die Gesichter wurden erst rot, dann purpurn. Völlig Fremde kamen zu Grom und küßten ihn mit Tränen in den Augen. »Wir werden dich oben sehr vermissen«, sagten sie. »Vergiß uns nicht in der Herrlichen Freiheit.« – »Die Berge«, sagten andere, »die weiten Prärien, das gute alte Land.« Unter den Tischen und in den Ecken schliefen kleine Kinder mit rosigen Wangen. Gefeiert wurde bis Tagesanbruch. In drei Wochen legte er fünfzig Parsecs zurück. Dann brach die Malinow ein Stück vom Mond entfernt durch die Grenze zwischen Zeit und Gegenwart. Sie landeten innerhalb von Stunden. Grom löste eine Nummer für das Zubringerschiff und mietete sich im El-tuna ein, dem Luna-Transithotel der Touristenklasse. Sein Zimmer war zwei Meta breit und vier Meta lang. Eine Wand hatte eine Tür, die andere eine gebogene Scheibe, ein Raumglasfenster. Von hier aus hatte er einen Ausblick über die hellen grauen großen Krater. Am dritten Tag stieg die Erde über den nackten Horizont, eine blaugraue kugelförmige Herrlichkeit, deren Gesicht von einem etwas zerrupft wirkenden Wolkenschleier verhüllt war. Alle zwanzig Minuten schüttelte es das El-tuna bis in die Grundmauern, denn da wurde immer ein Schiff zur Erde katapultiert. Für den Zubringerdienst gab es keine Ruhe; zweiundsiebzig Schüsse täglich, ohne Unterbrechung, und tausend Seelen pro Schuß
für einen billigen Schwerkraftausflug zum Mutterplaneten. Trotz dieser häufigen Reisemöglichkeiten wartete Grom eine volle Woche, bis er den letzten Sprung der Reise tat. In der Station wimmelte es von Menschen. Seine Zeit verbrachte er mit der Erforschung der Mondoberfläche. El-tuna vermietete Raumanzüge für diesen Zweck und verkaufte Landkarten mit Ausflugswegen, die mit punktierten roten Linien gekennzeichnet waren. Der Raumhafen bot Fahrmöglichkeiten. Station Luna schlief niemals. Sie sah schmutzig, vergammelt und schon recht abgenützt aus. An den Eßplätzen wurde der Grill niemals kalt, und ständig blubberten die Kaffeemaschinen. Die Plastikkabinen fühlten sich ölig an. Shows wagte er nicht zu besuchen, obwohl sie billig waren. Die Disziplin seiner Heimat verbot solche Frivolitäten, und die Herrliche Freiheit begann erst, wenn er die Füße auf die Erde setzte. Er liebte die unendliche, solide Leere des Mondes. An den Raumanzug hatte er sich sofort gewöhnt. Natürlich war er plumper als der Schwerkraftanzug, der bei ihnen daheim üblich war, doch die Grundsätze der Bewegung waren die gleichen. In wenigen Minuten hatte er Luna-Station hinter sich und rannte dem Horizont entgegen. Dann blieb er stehen und besah sich die dichte Staubsäule, die sich so lange über dem Mondboden hielt. Manchmal glaubte er, die Mondoberfläche bewege sich wie eine Welle. Dann und wann drohte eine Kraterlippe umzukippen wie eine Surfwelle. Für einen Mann von einem Wasserplaneten hielt sich die Mondoberfläche niemals still, wenn man sich nicht ausdrücklich darauf konzentrierte.
Am sechsten Tag leuchtete das rote Licht am Intercom auf. Eine Tonbandstimme gab ihm die Zeit der Abreise für den folgenden Tag an. Herrliche Freiheit, ich komme! Grom Gravok war ein Bauwächter. Mit seinen vierundzwanzig Jahren stand er im letzten Lehr- oder Ausbildungsjahr. Als er fünf war, hatte seine Ausbildung begonnen. Wenn – falls – er zurückkehrte, war er ein Reisemann. Er wußte nicht genau, ob er auch tatsächlich zurückkehren würde. Einige Männer blieben immer fort, andere reisten nach dem Maturitätsausflug von Luna aus weiter zu anderen Welten. Grom hatte in der Halle des El-tuna die Rekrutierungskabinen gesehen. Männer vom Bau waren in der ganzen Milchstraße außerordentlich gesucht. Nicht überall war die Disziplin gleich streng. Er hatte sogar von Männern gehört, die allein arbeiteten. Wie sie das anstellten, wußte er natürlich nicht. Aber die Älteren erzählten ja auch wirklich nicht alles, was sie wußten. Wenn man den Plakaten glauben durfte war die Bezahlung auf diesen fremden Welten sehr gut. Ein Bauwächter arbeitete an Bauten. Er erstellte und reparierte sie, nahm sie aber auch auseinander. Vor allem hörte er ihnen zu. Er hörte ihnen auch dann zu, wenn er sonst nichts zu tun hatte. Der Job erforderte Männer, die keine Angst vor Höhen hatten. Auf Vizillo reichte ein Bauwerk von vernünftiger, ordentlicher Größe zwei Mils in den Himmel. Die obersten Stockwerke lagen über den Wolken und badeten fast ständig im Sonnenschein. Dort lebten die Reichen. Die unteren Stockwerke kannten nur einen ewig bleigrauen Himmel. Vizillo
war ein Wasserplanet und hatte kaum Landflächen. Auf den wenigen verstreuten Festlandssockeln standen die hohen Gebäude. Vizillo kreiste in ziemlicher Nähe um die Sonne, und die Hitze brachte den südlichen Ozean fast zum Kochen, während die Winde das Wasser nach Norden trieben. Das wenige Land lag im Norden. In der Äquatorialzone gab es große Schwimmstädte, die sich gemütlich um den ganzen Planeten treiben ließen. Ah, diese Schiffsbewohner aus dem Süden, die verstanden zu leben! Grom kannte nicht einen einzigen Mann vom Bau, der noch nie geschworen hätte, er würde seinen Lebensabend auf einem solchen Schiff verbringen. Freilich, keiner tat es je. Es schmerzte sie besonders im Alter viel zu sehr, die Bauten oder die Goruschka zu verlassen. Ein Wächter lebte streng nach der Disziplin. Sobald man kniehoch war, brachten sie einem bei: ohne die Disziplin kannst du nicht in diesem Beruf bleiben. Ob man nun an der Außenseite eines Gebäudes arbeitete, das frei über dem Ozean schwebte, der aus großer Höhe von der Starrheit einer Krokodilshaut zu sein schien, oder ob man in den tiefen, dunklen Abgründen schuftete, wo das Gravitron ungedämpft surrte, immer mußte ein Mann auch mit dem psychischen Ohr lauschen. Jeder hörte die großen Vibrationen, aber nur der Wächter die subtilen Töne. Vom Hören im gewöhnlichen Sinn konnte man da nicht einmal sprechen, es war eher ein Wissen. Man lauschte nach den Kleinen, den Lisplern. Wenn das Lispeln aufhörte, drohte eine Gravitronpanne. Achtete man nicht darauf, konnte das ganze Bauwerk zusammenstürzen. Ein einziges Bauwerk beherbergte etwa fünf Mil-
lionen Menschen. Grom hatte aber von anderen Bauten gehört, die dreimal so viele Menschen aufnehmen konnten, doch solche Riesen gab es auf Vizillo nicht. Bauwächter wurden geradezu verehrt. Betrat einer eine Kneipe, war er immer Gast des Hauses. Wächter mußten Demut kultivieren. Stolz machte sie taub für die Kleinen. Seinen Dienst begann er im Kinder-Grava-Anzug. Mit lockeren Gurten war er an seinen Vater gebunden, und es sah fast aus wie eine Zwillingsnabelschnur. Seine Angst hatte er im Lauf einer Woche verloren. Ein paar Tage später hatte er es schon gelernt, aufrecht zu bleiben. Er hielt die Werkzeuge für seinen Vater. Im Alter von zwölf Jahren vernahm er das Lispeln. Der Goruschka-Rat testete ihn mit einem kleinen schwarzen Kästchen. Manchmal lispelte es, meistens summte es nur. Den Test bestand er, und danach gab es eine Feier. Die Goruschka strahlte Disziplin aus. Vizillo war eine Welt der Angeln, doch die Wächter waren alle Slaviros. Grom sprach beide Sprachen sehr gut. Die Angeln nannten die Goruschkas Stämme, und das waren sie auch, wenn auch noch ein gutes Stück mehr. So wie die Gravtrommeln in den Gebäuden das Gravitron erzeugten, so schuf die Goruschka das Bal. Dies war ein sehr subtiler Gehörsinn, das Ohr für das Lispeln. Es beruhte auf Gehorsam, Demut und Brüderschaft. Von ihren Angehörigen forderte die Goruschka unbedingte Offenheit. Ohne sie wurde ein Mann taub. Er konnte es dann nicht einmal mehr hören, wenn sein Anzug einen Defekt hatte; er stürzte in die Tiefe. Zweimal in seinem Leben schwebte ein Wächter
davon in die Herrliche Freiheit – mit fünfundzwanzig und fünfundfünfzig. Fern von seinem Stamm, frei von allen Vorschriften konnte ein Mann das Leben so kosten, wie es war, ganz ohne Bindungen und Rücksicht. Er konnte seine Lust auf eine ganz persönliche Existenz prüfen, ob er allein und frei sein wollte. Mit fünfundzwanzig flogen sie auf Kosten der Goruschka zur Erde, denn die war der Inbegriff der Freiheit. Zur Erde auch deshalb, weil die Erde Berge und Prärien und Wüsten hatte. Land, Land! Und dort hatte die Zivilisation die letzten Wahlmöglichkeiten für den Menschen geschaffen. Dort konnte ein Mensch praktisch alles ausprobieren, die Herrliche Freiheit kosten, wie die Älteren sagten. »Oh, wie großartig ist die Erde!« schwärmten sie. »Man hat nicht gelebt, wenn man Terra nicht gesehen hat. Grom, diese Welt ist der Anfang und das Ende aller Dinge. Vizillo ... nun, das ist ja nur ein Ort der Rückständigkeit –« Die Reise kostete hundertachtzigtausend Dolls, und das meiste davon schluckte die Time CollapseReise, der interstellare Blitzflug. Das war eine sehr stattliche Summe, ein Lotteriespiel mit großem Einsatz für den Stamm. Die Goruschka mußte ein Jahr arbeiten, um diese Summe abzuzahlen. Jeder Mann gab ein Zehntel seines Lohnes. Kehrte der Reisende nicht zurück, war das Geld verloren, gingen zwei oder drei für immer weg, war das Jahr recht mager. Aber magere Jahre gehörten zur Disziplin, natürlich auch die Maturitätsreise. Ohne sie konnte kein Mann ein Älterer werden. All dies ging Grom durch den Kopf, als er mit dem Katapult in den Raum geschossen wurde und er seine lautlose Reise hinab – oder war es hinauf? – zur Erde
begann. Hinauf und dann hinab. Es war eine lange Reise, denn die Goruschka bezahlte nur Touristenklasse. Das sind sie mir schuldig, dachte Grom. Er war noch nicht angekommen, doch die Herrliche Freiheit hatte schon wie eine sanfte Brise sein Gesicht gestreift. Er fühlte sich ein wenig trotzig und streckte seine inneren Muskeln. Das sind sie mir schuldig, und ich schulde ihnen nichts dafür. Ich habe zwanzig Jahre lang auf den Bauten gearbeitet. Ich habe auf den Gesang des Gravitron gelauscht. Ich habe wie ein Sklave geschuftet, manchmal zwanzig, dreißig, fünfzig Stunden ohne Schlaf an den Trommeln. Oft. Ich schwebte in der Dunkelheit umher, im Licht, rechte Seite oben, links oben, über den Wolken, unter den Wolken. Einmal nahmen wir während eines Sturms ein ganzes Segment heraus. Die Blitze zuckten um uns herum. Ich meine, ich habe vorläufig genug von diesem Leben. Wer will schon weitere zwanzig Jahre so herumtreiben, ehe er wieder einmal entkommt? He, Freiheit! He, Brüder und Schwestern, seht diesen Wächter in die Freiheit fliegen! Dann wandte er seine Aufmerksamkeit wieder der vielbenützten Broschüre zu, die man ihm in der Reiseagentur in die Hand gedrückt hatte. In der oberen rechten Ecke hatten sie seinen Namen in Goldbuchstaben aufgedruckt: Grom Gravok. Das gefiel ihm. Nie hatte er etwas gehabt, das nur ihm gehört hätte, nur ein bißchen Kleidung. Er schlug die Broschüre auf und las irgend etwas: »... der Obhut einer besonders erfahrenen terranischen Familie anvertraut, die Bescheid weiß über alle Möglichkeiten auf dem Planeten, die deine Bedürf-
nisse kennt; immer ist ein Führer zur Hand – oder auch nicht. Cozy Pak garantiert dir ein Maximum an Beweglichkeit, damit deine Reise nach Wunsch verläuft ...« Er schloß die Broschüre wieder. Die Worte kannte er auswendig. Das Wort Bau kam zu oft darin vor. Gott sei Dank, auf der Erde gab es diese Strukturen nicht. Nachts stürzte sich das Schiff in den Ozean und wurde zum Unterseeboot, das den NordangloKontinent ansteuerte. Er schlief, als sie andockten. Ein Betreuer schüttelte ihn wach. Sir, Sir – Willkommen auf der Erde, dem Planeten der Gelegenheiten. Die Ortszeit ist drei Uhr morgens, 0-3-00 für euch glückliche Raumtouristen. Sie torkelten etwas benommen die Gänge entlang. Betreuer standen an den Ausgängen, lächelten und sagten immer wieder guten Morgen. Dann fand sich Grom in einer riesigen Halle wieder mit modellierten Betonwänden, plattenbelegten Böden und den Echos vieler Geräusche. An einer Seite hingen die Buchstaben des Alphabets an langen Stäben von der Decke. Leuchtbuchstaben, die an- und ausgingen. Viele Stimmen, alle verschieden, riefen mechanisch: »Alle B nähertreten.« – »Alle F nähertreten«. Endlich kam auch G an die Reihe, und er folgte einem etwas mißmutigen Betreuer zu einer Kabine unter dem Buchstaben G. Neben der Kabine saßen auf einer Bank junge Männer und Frauen. Er zeigte dem Mädchen in der Kabine seinen Paß, und das Mädchen drehte sich zur Bank um. »Gravok!« rief sie. »Jemand hier für Gravok?« Eine junge Frau in Hosen und schwarzer Seiden-
bluse drückte eine Zigarette aus, blies Rauch aus angemalten Lippen und kam auf ihn zu. Sie hatte schwarzes Lockenhaar, grüne wie Halbmonde geformte Ohrringe, grüne Augenlider und lange rote Fingernägel. Ein schwerer, starker Geruch ging von ihr aus. »Grom Gravok?« fragte sie. »Cozy Pak Plan? Hi. Ich bin die Tochter des Hauses. Mein Name ist Ebullia, aber du kannst ruhig Billy zu mir sagen. Aber hör mal, dein Name ist wirklich Grom? Köstlicher Name. Klingt ganz so, als rülpse da einer. Weißt du, nur ganz leise.« »Wie bitte?« »Ach, egal, Grom. Nett, dich kennenzulernen. Schauen wir, daß wir hier wegkommen, damit wir uns ausschlafen können. Du hast dir vielleicht eine blöde Zeit ausgesucht.« »Mein Gepäck –« »Ach, laß. Das kommt über Vacurohrpost. Wir hier in der Gegend sind alle auf Touristen eingestellt. Sag mal, kann ich Grommy zu dir sagen? Okay?« Sie führte ihn aus der Halle. Hier war sie also, die Herrliche Freiheit. Drei Uhr morgens, und die Stadt summte noch vor Leben und Technologie. Genau besehen war das auch nicht recht viel anders als am Bau, doch hier gab es nicht den Gravitrongesang. Nichts hing am Himmel. Alles ruhte auf festem Boden, auf einem soliden, endlos weiten Kontinent, der aus Fels bestand. »Wir haben's eilig«, sagte Billy und nahm ein Taxi, das sofort durch einen Tunnel röhrte. »Zeig mir mal deine Reisepapiere, Grommy«, sagte Billy. »Wir haben erst letzte Nacht die Kopie gekriegt.
Papierkrieg funktioniert nicht.« Sie prüfte die Broschüre kurz im Licht der Neonröhren, die von den Tunnelwänden strahlten, und gab sie ihm zurück. »Müssen sparsam sein. Mensch, Grommy, dich halten sie aber knapp. Das ist die Erde, Grommy. Sag mal, bist du einer von den Bauwächtern?« Er nickte. »Junge, Junge, da wird Pop aber glücklich sein.« Spät am nächsten Vormittag wachte er in einer winzigen Zelle auf. Er knipste das Licht an und schaute sich um. Sein Gepäck war angekommen, während er geschlafen hatte. Die beiden Reisetaschen standen neben dem schmalen Feldbett und der roten Schultertasche mit der Aufschrift TIME COLLAPSE INTRA-GALACTICA. Sein Einteileranzug lag über etwas, das sich als alte Waschmaschine herausstellte. In der Nacht hatte er das nicht bemerkt. Daneben war ein Kleiderständer mit alten Kleidern in Plastiksäkken. Er stand auf und zog die Blende über dem winzigen Fenster hoch. Draußen war es so dunkel wie um die Zeit, als er zu Bett gegangen war. Er schaute auf seine Uhr. Es war zehn Uhr morgens, also 10.00, wenn man sich der Ausdrucksweise der glücklichen Raumtouristen bediente. Er hatte Land und Bäume zu sehen gehofft und diese geflügelten Kreaturen, die so entzückend tschirpten, das wiegende Gras auf der Prärie. Oder so etwas Ähnliches. An der Tür zögerte er, denn er hörte eine Unterhaltung und einen ungewohnten Ton. Das Bad war linker Hand. Billy hatte es Sandkasten genannt. Warum wohl? Er wollte sie danach fragen. Die Stimmen kamen von rechts. Eine gehörte Billy. Er lauschte. »Bullig, bullig, wirklich bullig! Fünfzig Tau. Neunundvierzig-fünf, um genau zu sein. Bullig. Und das
soll alles decken? Ein A-14 Cozy Pak. Habt ihr so was schon gehört? Verdammt noch mal, das darf nicht noch mal verkauft werden. Ich dreh ihm den Kragen um, jawohl!« Und dazu klapperten Geschirr und Metall, weil mit der Faust auf den Tisch geschlagen wurde. »Es ist doch nicht seine Schuld, Pop. Er weiß doch gar nichts.« »Ihn mein ich ja auch gar nicht. Peter, diese Ratte. Wart nur, bis ich mir den kleinen Pete vorknöpfe! Verdammt noch mal, drei Wochen für fünfzig Tau. Da ist nicht viel drin. Was tun wir jetzt mit ihm? Herr Jesus, das ist doch nix. Peter hat uns ja sauber übers Ohr gehauen.« »Du hast zu ihm gesagt, er soll uns was schicken, irgend jemanden. Ich hab's doch selbst gehört.« Schweigen. »Fünfzig Tau!« Die Stimme klang nun sehr resigniert. Dann war eine Weile nichts zu hören. Grom roch Gebratenes. »Bauwächter«, sagte die Stimme ziemlich verächtlich. Grom hatte genug gehört. Er kannte sich nicht mehr recht aus und war ziemlich verstört. Fünfzigtausend Dolls waren auf Vizillo ein ansehnliches Vermögen. Er ging zum Bad, seine Schultertasche in der Hand. Als er es verließ, ging eine Tür auf, und Billy sagte »Hi« und wollte ihn mit Pop bekannt machen. Pop hatte ein Unterhemd an und war, bis auf einen dünnen Haarkranz über den Ohren, kahl. Über verschmierten Tellern, auf denen noch die Reste von Vogeleiern zu erkennen waren, lächelte er Grom zu. Grom erkannte Geruch und Anblick von den Eßplät-
zen im El-tuna wieder. Pop stand nicht auf. Er stippte Asche von einer ausgegangenen Zigarre. »Haja, Fremder. Ich bin der Vater der Familie. Brauchst nur Pop zu mir zu sagen, ist viel gemütlicher. Fertig für deine erste Vergnügungsreise? Billy!« rief er, so wie ein Herr einem Dienstboten ruft. »Frühstück für den jungen Gentleman! Setzen Sie sich doch ... äh ... Mr. Grom ... äh ... Grovok.« Pop hatte Groms Broschüre in der linken Hand und las den Namen auf dem Deckblatt. »Na, wie gefällt's Ihnen bisher, Mr. Grom ... Gravok? A-14, A-14, Mr. Grom.« Er nickte. »Billy! Kontinentalfrühstück! Gesund und einfach. Jawohl, einfach. Sehr wichtig.« Er lächelte wieder, als quäle ihn ein heimlicher Schmerz. »Sie halten fünfzigtausend Dolls für nicht sehr viel Geld, nicht wahr?« sagte Grom. Pop kniff die Augen zusammen, dann warf er die Hände in die Höhe. »Ihr Bauwächter seid doch alle gleich. Alle gleich. Herr Jesus, ihr sagt's frei heraus, was ihr denkt, was? Wum, bang! genau zwischen die Augen.« Er betrachtete die gelben Reste auf seinem Teller. »Nosir, fünfzig Tau sind Hühnerfutter, müssen Sie wissen. Wir leben auf der Erde, Mr. Grom, und das ist kein Honiglecken. Was soll ich jetzt mit Ihnen tun? Spazierenlaufen? Schaufenster angucken? Betrachten Sie's nur mal einen Momang von meinem Standpunkt aus. Ich muß Sie füttern, dreimal kriegen Sie frische Bettwäsche, einen Führer brauchen Sie auch, und drei Wochen lang soll ich Sie unterhalten. Und, verdammt noch mal, was meine Billy ist, die kann im Handumdrehen einen Fuffziger im Tag verdienen. Hab keine Ahnung, warum man mir so was antut.«
Billy brachte das Kontinentalfrühstück: zwei Scheiben Brot, ein Klacks Butter, ein Löffel Marmelade, eine Tasse Kaffee. »Vielleicht kann ich in einem Hotel bleiben?« schlug Grom vor. Er hatte das Gefühl, hier stimme etwas nicht ganz. »Menschenskind, bist du grün!« schrie Pop. »In einem billigen Hotel mindestens zehn Kay für die Nacht. Ohne Essen. Fünf Tage, dann biste pleite.« »Vielleicht ist es besser, fünf Tage allein zu bleiben, als Ihnen zur Last zu fallen.« Jetzt kniff Pop wieder die Augen zusammen. Er lehnte sich zurück und kramte in seinen Hosentaschen nach Zündhölzern. »Na, schön, Mr. Grom, vielleicht hab ich auch ein bißchen übertrieben. Fünfzig Tau, alles in allem, ist das gar nicht so übel. Einfach, aber genug. Richtig, Billy?« Billy drehte sich am Spülbecken um. »Sicher, Pop.« »Na, Mr. Grom, wir werden's Ihnen möglichst hübsch machen. Genau wie's hier im Vertrag steht.« Mit einem dicken Wurstfinger klopfte er auf die Broschüre. »Sie halten sich an die Spielregeln, wir tun's auch.« »Mit anderen Worten«, meinte Grom, »es ist besser, fünfzigtausend zu haben als nichts.« Pop schüttelte den Kopf, dann zündete er seine Zigarre an und paffte. »Haben Sie schon jemals was von Diplomatie gehört, Kleiner?« Und da schüttelte er noch einmal den Kopf. »Ich würde jetzt gern gehen«, sagte Grom. »Hier sind wir doch in der Stadtmitte. Ich würde gern hinausgehen und etwas ansehen.« »Billy, komm her. Mr. Grom will seinen Tagesab-
lauf planen.« Billy kam zum Tisch. Sie schob ein paar Teller weg, setzte sich und legte ihr Kinn auf die Hand. »Na, Sir?« fragte Pop, »auf was haben Sie Lust? Auf Sport? Oder ist's die Jagd, sind's historische Schlachten? Bergsteigen? Sie brauchen's nur zu sagen, schon haben Sie's. Alles da. So lang die Dolls reichen, was? Woll'n Sie auf einem Elefanten reiten? Einen Tiger schießen? Schwammtauchen? Was tun Sie so daheim im Freien?« »Gibt es das alles hier in der Gegend?« »Wo denn sonst? Ist ja nur eine kurze Fahrt mit'm Maulwurf. Das ist nämlich die Tunnelbahn.« »So für den Anfang würde ich mich gern ein bißchen umsehen«, meinte Grom. »Wissen Sie, ich komme von einem Wasserplaneten. Ich würde gern ... wissen Sie ... mal eine Prärie sehen, Vögel –« »Natur«, faßte Pop zusammen und besah sich die Asche seiner Zigarre. Mit dieser machte er eine weitausholende Geste. »Ausgezeichnete Wahl. Wirklich. Einfach. Vernünftig. Yessir. Mr. Grom, bleiben Sie dabei, dann kommen wir gut zurecht. Billy, du hast den Gentleman gehört. Natur, nichts als Natur. Nimm ihn mit zum ersten Ausflug.« »Wie lange dauert die Reise?« wollte Grom wissen. »Soll ich vielleicht eine Nachttasche packen?« »Nix da. Fünf Minuten von hier.« »Fünf Minuten? Prärien hier in unmittelbarer Nähe? Ich dachte, wir wären ein ziemliches Stück weiter nordöstlich.« Pop sah Grom verblüfft an. »Das versteh ich nicht. Wir haben doch alles da. Prärien, Dschungel, Wüsten, Berge, Flüsse, Marschen. Junge, Sie brauchen bloß zu
sagen, was Sie wollen, es ist alles da ... Nein, nein, keine Sorge.« Er legte seine Zigarre weg, weil er sah, daß Grom die Stirn runzelte, und schlug mit beiden Händen auf den Tisch. »Also, raus mit euch, liebe Kinder. Der Vater des Hauses muß sich an die Arbeit machen. Wissen Sie, ich arbeite an den Pyramiden. Jawoll. Sollten Sie mal anschauen. Eine schöne, einfache, glatte Sache, die Pyramiden.« Er stand auf. »Tschau!« rief er und watschelte hinaus. Er war klein und fett. Mit dem Maulwurf fuhren sie zu den Prärien. Der überfüllte Zug ratterte durch den schmalen Tunnel, quietschte und kreischte in jeder Kurve, war einmal sehr langsam, dann wieder rasend schnell. Die Leute saßen auf Bänken oder standen. Er und sie hielten sich an Schlaufen fest und ließen sich vom Wagen durchrütteln. Er kaute Gummi. Billy hatte darauf bestanden, dies sei wirklich eine ganz supertolle Sache, und man habe immer das Gefühl, einen beschäftigten Magen zu haben. Erst schmeckte das Zeug süß, danach bitter. Und die Zunge wurde davon rot. So supertoll fand er das Zeug gar nicht. Die geographische Frage machte ihm noch immer zu schaffen. Er hatte geglaubt, von der Erdengeographie etwas zu verstehen, denn er hatte, wie alle übrigen Reisenden vor ihm, einen alten Atlas in der Bibliothek der Goruschka studiert. Dieser weitläufige Kaninchenbau war die Stadt Eastcoast, und die Prärien begannen tausend Meilen südlich von hier in den Great Plains. Würde er nun eine richtige, echte Prärie sehen oder nur irgendein Wiesengelände in irgendeinem Vorort? Pop forderte nicht gerade sein Vertrauen
heraus. War das eine List, mit der er Geld sparen wollte? Nun, er würde es ja sehen. Land war Land, und er mußte sich orientieren. Der Maulwurf war schon uralt und gebrechlich, er ratterte und schaukelte. Immer wieder einmal gingen für eine Sekunde oder länger die Lichter aus, und einmal mußte der Zug sogar stehenbleiben, weil kein Strom mehr da war. Gespenstisches Schweigen umgab sie. »Verrückt, ein verdammter Stromausfall«, hörte er Billy sagen. »He, Fettsack, nimm deine Pfoten weg!« schrie sie dann einen an, und gleichzeitig klatschte es. Dann scharrten Füße. »Betatscht mit seinen Griffeln mein Bein, dieses Schwein. Passiert doch immer wieder, Grommy. Sag mal, bist du an Sensualität interessiert? Ist billig, weißt du, weil es hier herum so viele Raummatrosen gibt. Hier gibt's mehr Sensyshops als sonst irgendwo. He, du Fettsack, geh lieber in einen Sensyshop!« schrie sie einem zu. »Dorthin gehörst du! Arbeitende Mädchen solltest du wirklich in Ruhe lassen!« Er wartete, bis ihre Aufmerksamkeit wieder ihm gehörte. »Was ist Sensualität? Wovon sprichst du eigentlich?« fragte er. »Herr Jesus!« rief sie, »seid ihr Leute aber rückständig! Meinst du's wirklich ernst, daß du das nicht weißt? Auweh! Die Hälfte von allen Touristen kommt wegen der Sensyshops auf die Erde, und du willst eine Prärie sehen!« »Dann erklär mir doch«, bat er. »Du hast mich neugierig gemacht.« »Das ist eine Freizeitbeschäftigung, du Dummer. Weißt du, sinnliche Erlebnisse. Wenn du dir Sorgen
machen solltest, daß es Sünde ist, dann kannst du's vergessen, Grommy. Ist nicht. Alle fünfzehnhundert größeren Kirchen haben Ausnahmen zugelassen. Du tust ja in Wirklichkeit nichts, aber es ist ein irrer Spaß. Am Sonntag geh ich auch manchmal.« »Aber was ist es denn?« wiederholte Grom seine Frage. Einige der Leute um sie herum, die bisher der Unterhaltung schweigend gefolgt waren, lachten jetzt. Er bemerkte, daß die Temperatur anstieg. Das Kühlsystem war ausgefallen. Sie mußten sehr tief im Untergrund stecken. »Da setzen sie dich hin und schließen dich mit Drähten an, fast wie für eine Tigerjagd, und dann hast du eine großartige Zeit. Mädchen mit Mädchen, Jungen mit Jungen, Mädchen mit Jungen, Mädchen mit ... und so weiter. Sogar eine Fremdweltkabine haben sie. Und es kostet nur zweihundert pro Besuch.« »So. Man wird mit Drähten angeschlossen«, sagte er. »Ja. Die genau ins Nervensystem gehen. Ist genauso, wie wenn du's machst. Wau! Das ist irre gut.« Das Licht ging wieder an, der Zug setzte sich quietschend und schwerfällig in Bewegung. »Das ist er. Siehst du ihn, das fette Schwein? Ja, Fettsack, schau nur weg, du! Solltest dich was schämen, eine anständige Frau zu tatschen.« Der Gegenstand ihres Zorns, ein kleiner, würdiger Mann – Grom erinnerte sich daran, daß er neben Billy gestanden hatte –, stand nun ein Stückchen von ihnen entfernt da und versteckte sich hinter einer Zeitung. Die Leute grinsten. Grom kannte sich nun gar nicht mehr aus. Er hätte
sie gern noch etwas über diese merkwürdige Sache ausgefragt, denn so etwas hatte er noch nie gehört, also war es ihm auch unverständlich. Mädchen mit Mädchen und Jungen mit Jungen, das verstand er ja noch, doch der Rest war ihm schleierhaft. Er wartete, denn der Zug fuhr nun in eine Kurve und gleich darauf in eine Station ein. Viele Menschen warteten auf dem Bahnsteig. »Wir sind da«, sagte sie. »Bleib bei mir.« Sie drängte sich durch die Menge der Leute, die einsteigen wollten. Auf dem Bahnsteig wartete sie auf ihn, dann ging sie voran. Er warf seinen Kaugummi in einen Abfallkorb, an dem sie vorüberkamen. Noch immer befanden sie sich in einem unendlich langen Betontunnel mit einer Menge hastender, düster dreinsehender Leute. An der Decke liefen sehr viele Rohre entlang, und gelegentlich sahen sie auf dem Boden darunter eine Wasser- oder Ölpfütze. An den Wänden hingen Poster. Auf jedem stand groß SCHON! »Was soll denn das sein?« Er deutete. »Das ist eine Sublimi-Reklame.« Er schaute ratlos drein. »Wenn du das immer liest, dann denkst du, hier ist es schön, und dann ist es schön.« »Aber hier ist es nicht schön«, protestierte er. »Schau doch nur. Alte rostige Rohre, Pfützen, schmutzige Mauern.« »Du hast's also nicht begriffen. Es ist schön, verstehst du das nicht? Dort steht doch, daß es schön ist.« Grom wußte nun nicht recht, sollte er sie ernst nehmen oder nicht. Sie war ein recht temperamentvolles Mädchen, aber vielleicht doch eine Kleinigkeit
verdreht. Er vermutete deshalb, SCHÖN sei vielleicht ein Markenname, den sie nicht kannte. Eine Weile gingen sie schweigend weiter, dann sah er zwischen all den SCHÖN-Plakaten eines, auf dem stand HÄSSLICH. »Und was soll das bedeuten?« fragte er und zeigte darauf. »Das ist doch nur zur Abwechslung, damit's nicht gar zu langweilig wird. Nichts ist nur schön, denn das wäre nicht realistisch.« Aus dem riesigen Tunnel kamen sie in eine Ladenarkade, von dort aus in eine Seitenstraße. Vor dem Eingang zu einem enorm großen, nichtssagenden Gebäude blieb sie stehen. Sie schaute auf einen Zettel in ihrer Tasche und verglich ihn mit der Schrift über dem Eingang. Dort stand: HOLOCOLOMBO N-58. »Da sind wir«, verkündete sie, schob sich durch eine Drehtür und bedeutete Grom, er solle ihr folgen. »Hier wartest du mal«, sagte sie, als sie drinnen waren. Das Foyer war mit roten Teppichen ausgelegt, die Wände waren holzvertäfelt, und ein großer Kronleuchter verbreitete weiches gelbliches Licht. Sie verhandelte mit einer Dame in einer Glasbox, die deutete nach links, und beide setzten sich in Bewegung. War dies etwa ein Lift, der zur Oberfläche führte? Er hatte nicht bemerkt, daß sie seit Verlassen des Zuges an Höhe gewonnen hätten. Und jetzt fiel ihm auch auf, daß er seit seiner Ankunft auf der Erde keinen Himmel zu sehen bekommen hatte. Das würde jetzt ganz bestimmt anders werden. Sie führte ihn in der Tat in einen Lift, wo sie einige Knöpfe drückte. Die Türen schlossen sich, sie rasten
in die Höhe. Dann öffneten sich die Türen, und da war die Prärie, nur auf der anderen Seite der Halle und hinter Glas, eine unendlich große Fläche. »So, und jetzt gehen wir mal spazieren«, sagte sie, hielt ihm die Tür auf, und nun standen sie unter dem Himmel. Die Sonne schien hell, der Wind blies und jagte Wolken über den Himmel. Es roch überwältigend gut und süß. Die Namen der Pflanzen kannte er nicht, aber es gab davon eine unendliche Fülle, und ihre Düfte waren für ihn etwas ganz Neues. Er ging dahin, und seine Hände strichen über das Gras. Land. So viel offenes, weites Land! So etwas wie diese sanft gewellte Landschaft, die bis zum Horizont reichte, die Hügel in der Ferne, ein Dorf, hohe Silotanks, eine halbe Mil links ein Lastwagen auf der Straße. Er schaute zu dem Bau zurück, den sie eben verlassen hatten, der nur ein Stockwerk über der Erdoberfläche hatte. So niedrig, soviel Platzverschwendung. Man sah es diesem unansehlichen Bau nicht an, zu welchem unterirdischen Komplex er gehörte. »Wie schön«, sagte er zu Billy. »Wirklich entzükkend. Paß mal auf, wir lassen uns von einem Wagen mitnehmen und machen einen weiten Ausflug.« Damit ging er in Richtung Autostraße. Erst wollte er nur so ein bißchen herumschauen, dann für Maruschka Blumen pflücken, und vielleicht kannte Billy in diesem Dorf einen kleinen Eßplatz. Dort konnten sie zu Mittag essen ... Ganz plötzlich war alles um Grom herum stockdunkel. Das kam so unvermittelt, daß er den Atem anhielt. Er bekam Angst, und er war froh, als er Billys Stimme hörte.
»Oh, verdammter Mist!« rief sie, »schon wieder ein Stromausfall! Oh, Grommy, du solltest dir wirklich dein Geld zurückzahlen lassen. Die schulden dir nicht nur dein ganzes Geld – und das doppelte –, sondern die müssen dir auch alles übrige kostenlos geben. Du brauchst nur die Formulare auszufüllen. Und das alles beim erstenmal!« Allmählich gewöhnten sich seine Augen an die Dunkelheit. Sie war nicht absolut. An vier Stellen konnte er irgendwelche Leuchtzeichen ausmachen. Auf dem einen hieß es NOTAUSGANG, wahrscheinlich auf den anderen auch. So, wie die Zeichen angeordnet war, ließ sich vermuten, daß er sich in einem großen, aber nicht riesigen Raum befand, vielleicht dreißig Meta breit und fünfzig lang. Er griff nach unten und berührte das Gras. Es war noch da, nur der Wind blies nicht mehr, und er spürte nun schon die ansteigende Temperatur. »Billy, bring mich hier raus«, bat er. »Gehen wir irgendwohin, wo man was sehen kann, wo wir reden können. Und dann sagst du mir, was hier los ist. Aber auch alles!« »Ach, Quatsch«, erwiderte sie. »Verdammt noch mal, mir tut's ja auch leid. Ausgerechnet dein erster Ausflug. So ein Mist!« »Ich habe das Gefühl, mit der Erde ist was los, das ich nicht verstehe. Oder vielleicht ist's der Cozy Pak Plan, den ich nicht verstehe. Oder vielleicht verstehst du mich nicht.« Sie saßen in einer Caféteria an einem kleinen Tisch für zwei, sie auf der mit Plastileder gepolsterten Bank, er auf dem Stuhl. Sie hatten eine Kerze in ei-
nem Glas zur Verfügung gestellt bekommen, so etwas wie ein Windlicht; ob aus dem Grund, weil eine gemütliche Atmosphäre geschaffen werden sollte, oder ob ein weiterer Stromausfall wahrscheinlich war, ahnte er nicht. Vielleicht letzteres. Die gemütliche Atmosphäre erhoffte sich die Leitung der Caféteria wohl eher von den Sublimi-Plakaten, auf denen stand: HERVORRAGENDER SERVICE. ANGENEHME UMGEBUNG. An vielen Zweipersonentischen saßen Leute und aßen. Billy rauchte eine Zigarette, die sie an der Kerze im Glas angezündet hatte. Sie war oval, sehr lang und der Geschmacksrichtung nach für arbeitende Mädchen bestimmt, so daß sie keine anbot. Sie vermutete außerdem, daß er nicht rauchte. Man nannte diese Marke Oh-Vuumbs. »Nein«, sagte er, als sie zum Sprechen ansetzte, »sag nichts, laß mich nur Fragen stellen. Die beantwortest du mir. Ja?« »Wie du meinst, Grommy-Boy.« »Was habe ich vorhin gesehen?« Er deutete vage. »Eine Natur-Simulation.« »Wie machen sie das, damit es so natürlich wirkt?« »Holograph-Projektionen. Oh, Grommy, weißt du das wirklich nicht? Woher kommst du eigentlich?« »Beantworte mir nur meine Fragen, Billy. Nimm an, daß ich ganz dumm bin. Warum hast du mich zu dieser ... Simulation mitgenommen? Warum nicht auf eine echte Prärie oder in einen Park?« »Echt?« fragte sie. »Ja. Mit echtem Gras und einem echten Himmel mit einer echten Sonne. Bekommst du bei den echten Dingen keine Provision?«
Da war sie gekränkt und ziemlich zornig. Wer er denn sei, daß er ein arbeitendes Mädchen beleidigen dürfe? Dazu kam eine Vielzahl von Slangausdrücken, die er nicht verstand, aber wohl Entrüstung demonstrieren sollten. Echtes Gras? Wo glaubte er zu sein? Auf einem jungen Planeten? »Grommy-Boy, das hier ist die Erde!« erklärte sie nachdrücklich. »Was meinst du damit?« »Mensch, du lebst ja wirklich hinter dem Pluto. Seit Jahrhunderten gibt's nichts Echtes mehr auf der Erde. Meinst du, unsere Großköpfe haben diesen ganzen Zirkus bloß aus Langeweile erfunden? Weißt du, was eine einzige Sensy-Kabine zu bauen kostet? Achtundvierzig.« Ärgerlich schnippte sie die Asche von ihrer Zigarette und musterte ihn aus zornigen Augen unter grünen Lidern. »Millionen. Achtundvierzig. Millionen. Begriffen? Du siehst hier alles, was einmal gut und schön war auf der alten Mutter Erde, die alten Schlachten, die alten Sehenswürdigkeiten. Pop hat dir gesagt, daß er an den Pyramiden arbeitet. Hast du's nicht gehört? Grommy, man kann doch nicht alles tun, die Schlachten schlagen, durch die Wüste pilgern, mit Merrily-roe schlafen, einen Hai essen, von einem gefressen werden. Du kannst tausend Mahlzeiten essen und nie eine einzige Kal zu dir nehmen. Willst du dich betrinken, ohne anschließend einen Kater zu haben? Eine Kuh melken? In einen Vulkankrater fallen? Das kannst du hier alles tun, alles fühlen, alles sehen. Grommy, alles und realistisch. Und du willst doch das Echte, das Wirkliche.« Sie war sehr gekränkt, fuhr aber fort: »Zillionentrillionen Dolls oder noch viel mehr kostet das alles.« Mit einer Handbewegung schloß sie die ganze Um-
gebung ein. »Warum bist du dann gekommen, wenn du glaubst, das ist alles gar nichts?« »Ich hab doch nicht gesagt, daß es nichts ist«, meinte er tröstend. »Ich wußte es nur nicht. Bei meinem Stamm ist es Sitte, nichts darüber zu erzählen. Über die Erde, meine ich.« »Und auf dem Schiff hat es dir auch niemand gesagt?« »Da war ich doch mit anderen Bauwächtern zusammen. Da hörte ich natürlich dies und das, aber ich habe das alles nicht miteinander in Verbindung gebracht. Ich bin ein einfacher Mann, Billy. Vizillo ist ein kleiner, ziemlich rückständiger Planet. Sag mir, Billy, ist die ganze Erde so wie das hier? Eine Untergrundstadt? Lebt denn niemand mehr auf der Oberfläche?« »Auf der Oberfläche? Nein! Das ist gefährlich. Überhaupt kein Leben an der Oberfläche.« »Und Afrika, Euras, Astra? Städte wie die hier auf allen Kontinenten? Mit diesen Simulationstheatern?« Sie schüttelte den Kopf und wandte sich an das Serviermädchen, das sie grimmig anstarrte. Ihre gestärkte Schürze hatte Rostflecken, und der schwarze Rock war für ihren dicken Körper viel zu kurz. »Ein Skinnibug und ein Glas Mu für mich, Süße. Grommy? Dasselbe.« Die Kellnerin ging und hatte kein Wort gesagt. »Nichts auf den anderen Kontinenten?« »Die einzige Stadt auf der Erde ist Eastcoast, und Eastcoast hat alles, was je gewesen ist. Nur viel besser.« »Entschuldigen Sie, Mister, ich habe gehört, daß Sie von Vizillo kommen, und da wollte ich Sie fragen –«
»Hände weg, du Trottel, der gehört vertraglich mir. Geh zu deiner Suppe zurück und laß uns in Ruhe.« Billy sprach sehr scharf zu dem Mann vom Nachbartisch, einem mageren Burschen in einem Rollkragenhemd. Er hatte einen Zweitagebart, lehnte sich herüber und legte eine Hand auf den Tisch. »Kleine, ich glaub, der Gentleman hat selbst einen Mund.« »Nein, du wirst nicht mit ihm reden, Nosir!« fauchte Billy. »Grommy-Boy, sag dem lästigen Kerl, er soll sich verdrücken.« Grom zuckte die Achseln und schaute den Mann an. »Ich kenne hier die Sitten nicht. Ich will Sie nicht beleidigen, Sir, aber ... verdrücken Sie sich, Sir.« »Aasgeier«, schimpfte Billy. »Reicht schon, daß er so rumläuft. Acht Millionen Menschen, drei Millionen Besucher, also nicht mal einer für drei, wenn du mich richtig verstehst, Grommy. Und die meisten davon werden von den großen Tourenläden für sich verbucht. Kleine Leute kommen da kaum mehr zum Zug. Es wird davon gesprochen, für alle Simulatoren Reiseführer herauszugeben. Dann ist für unsereins nichts mehr drin.« »Wo ist deine Mutter?« »Die hat's nicht ertragen. Ich war noch ein Dreikäsehoch, da ist sie abgehauen.« »Und wie verdienst du dir deinen Lebensunterhalt?« »Ja, siehst du, das ist so. Nur die Führer wissen, wo alle diese Simulatoren sind. Wir führen den ... Gast überallhin, wohin er gehen will. Dafür kriegen wir eine kleine Provision. Aber die großen Tourenläden übernehmen immer mehr Touristen. Die führen hun-
dert Leute auf einmal und können mit weniger Provision zufrieden sein. Wir werden gedrückt. Und wir können ja nicht einfach abhauen. Was tun wir schon anderswo? Pop und ich, wir beide kennen doch nur die Simulatoren. Und Burschen wie der da drüben, die sich da einfach einmischen, verstehen von der ganzen Sache gar nichts. Sie erzählen den Fremden, sie wüßten Attraktionen, von denen die Führer keine Ahnung hätten. Dabei wirst du dann glatt übers Ohr gehauen.« Grom ahnte etwas von ihrem Dilemma, und sie tat ihm leid, doch aus alter Gewohnheit stellte er sich über das Gefühl. Es zerstörte nämlich Bal. »Du bist eine ganz tolle Führerin, Billy, du schaffst es schon«, sagte er. »Herr Jesus!« rief sie beglückt. »Wie kannst du das sagen? War doch dein erster Ausflug, und ich hab ihn verpfuscht.« »Du weißt doch alles, und erklären kannst du's einmalig gut. Sag mir mal, Billy, wieviel verdienst du von meinen fünfzigtausend?« »Sechshundertundsechsundneunzig«, kam die Antwort wie aus der Pistole geschossen. »Die sechsundneunzig sind für Unterkunft und Verpflegung, die sechshundert Provision.« »Und wenn ich von Simulatoren nichts wissen will?« Ihr Gesicht wurde immer länger. »Ach, Quatsch!« rief sie. »Was willst du dann sonst tun?« »Das weiß ich auch nicht. Ich wollte es eigentlich dich fragen. Kriegst du dann auch Provision?« »Wie denn? Keine Simulatoren, keine Provision. Sind doch deine Moneten. Du kannst sie ausgeben,
du kannst sie auch behalten. Es liegt ganz bei dir.« Und das klang recht düster. »Ich hab ja kein Geld. Das habt ihr bekommen. Einen Kreditbrief nannten sie das in der Broschüre.« »Es gehört aber dir. Wenn du willst, kannst du alles kassieren. Jede Filiale der Banco Galactico wird dir den Zaster in Scheinen auszahlen.« Darüber dachte er einen Moment nach. »Aber das wirst du nicht wollen, Grommy. Du hast dann ja nichts zu tun. Du läufst nur durch die Arkaden und schaust dir die Läden an, die ihr daheim auch habt ...« Sie war sehr bedrückt und kramte in ihren Taschen nach Zigaretten. »Oh, ich glaube, ich hätte sehr viel zu tun«, antwortete er. »Und ich sorge schon dafür, daß du keinen Schaden hast, egal was ich unternehme.« Sie schaute von ihm weg. »Wo bleiben denn die Skinnies? Ich bin halb verhungert ... Ach, ich hab alles verpatzt.« Sie blies Rauch in die Kerzenflamme. »Dein erster Ausflug. Kurzschluß. Ach, verdammter Mist.« Er berührte sanft ihre Hand. »Hör mal, Billy. Es war doch nicht deine Schuld. Und zur Erde bin ich nicht gekommen, um mir Filme anzuschauen.« »Das sind doch keine Filme«, protestierte sie, aber er drückte ihre Hand. »Hör mal, Billy. Filme, Hologramme oder wie man es sonst nennt es ist doch alles dasselbe. Ich will zur Oberfläche hinauf.« »Total verrückt«, sagte sie. Sie war aber so erstaunt, daß sie beschloß, dieses Thema für den Moment ruhen zu lassen.
Um ihr ein bißchen Freude zu machen, erklärte sich Grom bereit, am Nachmittag einen neuen Ausflug zu unternehmen. Diesmal durfte aber nichts schiefgehen. Aus Nuyo wollten sie schon weg sein, wenn normalerweise die Stromausfälle zu erwarten waren. Die Station Wadicy war viel besser. Das war in alter Zeit einmal eine große Hauptstadt gewesen. Man hatte sie den Großen Amerikanischen Traum genannt. Aber warum? Nein, das sei ihr absolut schleierhaft. Jetzt war von den sogenannten alten Zeiten nur noch ein Strahlungsbunker übrig ... Allmählich redete sie sich in eine ziemliche Begeisterung hinein, und es gefiel ihr über alle Maßen gut, daß sie etwas wußte. Im Bunker konnte Grom in einem Glasschrank das letzte Buch des ehemaligen Reiches bewundern. Es war keine Fotokopie, kein Hologramm, keine Rekonstruktion, sondern ein richtiges echtes Buch, ein Bericht irgendeiner Kommission über irgend ein Problem. »Schau mal, ich weiß nämlich auch ein paar Dinge, die keine Simulationen sind.« Während sie ihre Skinnies kauten und Mu mit Strohhalmen tranken, machten sie Pläne. Grom war an Fisch gewöhnt, denn Fisch lieferte ihm und seinen Landsleuten die lebensnotwendigen Proteine, und dieses Skinny schmeckte nach Raumschiffnahrung und war in einem Hefetank gewachsen. Um seine Führerin nicht in Verlegenheit zu bringen, versagte er sich eine Frage nach der Herkunft dieser Mahlzeit. Erst erklärte sie den Unterschied zwischen Statik und Dynamik. Sie benützte eine Hand und hielt damit das durch Bisse verunstaltete Skinny; diese stellte das eine dar, die andere Hand mit dem Mu das andere.
Statik, sagte sie, sei das, was er schon gesehen hatte, darin lief man herum und schaute. Dynamik war das, wo man mit Drähten angeschlossen wurde. Und das müsse er nun versuchen. Darauf wollte sie bestehen. Sie zählte eine lange Liste von Aktivitäten auf, die ihm jedoch bestenfalls eine müde Ablehnung entlockten. Plötzlich rief sie: »Jetzt hab ich 's! Ich bring dich zu einem Potpourri ... Ach, lieber nicht. Pop zieht mir lebend die Haut ab.« Aber dann leuchtete ihr Gesicht auf. »Grom, wenn du Dynamik magst, dann ist das der allergrößte Zauber, wirklich.« »Wenn du meinst, Billy, dann probiere ich dein Potpourri aus. Ich lade dich ein.« Sie schlug verlegen die Augen nieder. »Äh – das geht nicht. Ich war nämlich noch nie in einem. Deswegen.« Sie rieb Daumen und Zeigefinger aneinander und hob die grünen Lider. »Zehn«, sagte sie. »Zehntausend. Für dich und für mich. Zusammen.« Grom lachte. »Es ist doch nur Geld, Billy. Also, gehen wir!« Wadicy war eine Stunde weit entfernt. Diesmal erwischten sie einen viel besseren Zug. Er fuhr auf Luftkissen, tauchte tiefer hinab und war viel schneller, und sie mußten sich sogar an Polstersitze festschnallen. Billy war voll köstlicher ängstlicher Erwartung. Grom vermutete deshalb, dieses Potpourri müsse nicht nur toll, sondern einfach himmlisch sein. Die Schau dauerte Stunden, und so verflog die Zeit. Am frühen Abend kamen sie wieder heraus. Beide schwiegen ziemlich lange.
»Das hab ich noch nie erlebt«, erklärte sie schließlich, als sie auf den Zug warteten. »Du warst wirklich süß, daß du mich mitgenommen hast. Potpourri, das ist wie ein Trip. Nein, ein richtiger Trip. Aber ich glaube nicht, daß ich's noch mal mache. Ist zuviel. Man kommt sich plötzlich alt vor. Danach, weißt du.« Er nickte, sagte aber nichts. Im Wadicy Potpourri-Theater konnte man nämlich das ganze Leben eines Mannes oder einer Frau durchleben. Die Attraktion war alte Geschichte. Man konnte Mann oder Frau in einer sehr frühen Zeit sein. Es begann mit der Geburt und endete mit dem Tod. In den vier Stunden, die diese Vorstellung dauerte, wurden alle Erlebnisse und Gefühle in einen hineingepreßt – Liebe, Haß, Streben, Enttäuschungen, alle Facetten des Erfolges, Trübsinn der Einsamkeit, der Vernachlässigung, Krankheit, Bresthaftigkeit, Verarmung, Mildtätigkeit, Senilität – und dann das Ende. Grom war Journalist gewesen, der Soldat geworden war, dann General in einem furchtbaren Krieg. Er hatte China und Arabien, Washington, Paris, die ganze Welt besucht. Dauernd verhandelte er um einen Frieden, der nie eingehalten wurde. Er hatte eine Frau und ein paar Mätressen, und ein Kind, das bei einem Universitätsaufruhr durch Napalm umkam. Er schrieb ein Buch. Er war Kabinettsmitglied. Ein Irrer schoß ihn vor dem Gerichtsgebäude nieder, doch er erholte sich wieder, wenn auch ein Arm lahm blieb. Ein Komitee überprüfte ihn auf Korruption. Er war schuldig, wurde für unschuldig erklärt, aber zum Rücktritt gezwungen. Er wurde sehr fromm und erreichte einen hohen Rang in einer Sekte, doch seine ganze Begeisterung ging bei heftigen hierarchischen
Kämpfen zu Bruch. Er wurde auf eine Insel verbannt, wo er die primitiven Einheimischen unterwies. Ein Hai biß ihm den Unterschenkel ab, als er nach Schwämmen tauchte, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Als er alt wurde, regierte eine Eingeborenenfrau über ihn und die Insel in seinem Namen, und das alles mit penibler Grausamkeit. Er versuchte zu fliehen, doch erst beim vierten Versuch gelang es ihm. Er starb in Ekstase auf einem Floß mitten im Ozean. Er dachte, er sei Gott. Grom war innerlich ganz leer, als er das Theater verließ. Er war nicht mehr er selbst. Das Bal-Gefühl war entweder ganz verschwunden oder so gründlich aufgerührt, daß er sich in der Welt nicht mehr zurechtfand. So wie Wasser in einem geschüttelten Eimer schwappte sein Gefühl an die Wände seiner Seele und über den Rand. Er war zwei Menschen: Grom Gravok, der Bauwächter, und dieser merkwürdige, fremde Abenteuerer John Singer aus dem Potpourri mit dem titanischen Ehrgeiz. Die beiden ließen sich nicht vereinbaren. Die Spannung lähmte ihn. Das echte, wahre Leben? Was immer er hier auch erlebt hatte, es kam der Wirklichkeit gleich. Er wußte nicht, wer Billy gewesen war und was sie erlebt hatte. Die Wirkung auf sie war ähnlich der auf ihn. Schweigend schnallten sie sich in ihre Sitze und überließen sich ihren Erinnerungen. Grom legte sich in der winzigen Zelle mit der ausgedienten Waschmaschine schlafen in der Hoffnung, daß er am Morgen wieder ganz normal sei. Acht Stunden später wachte er jedoch noch immer verstört auf, weil in ihm diese andere Person, dieser John Sin-
ger, da war. Sein Nervensystem konnte nicht mehr zwischen den beiden Erinnerungsblöcken unterscheiden. Aber Gram Gravok, der Bauwächter, hatte doch ein wenig an Kraft zugenommen. Er wußte, daß er irgendwie von hier wegkommen mußte. Er mußte sich selbst wiederfinden. Er sehnte sich nach der stillen Heiterkeit des Bal, zitterte vor tiefgreifender Besorgnis. Nirgends auf der Erde gab es Gravitrontrommeln. Er wußte daß er die Kleinen nicht gehört haben konnte, und dieses Wissen machte ihn sehr nervös. Sein Körper bebte vor Unsicherheit. Um ihn herum konnte alles zusammenbrechen, ohne daß er es merkte. Billy war ungewöhnlich still, als sie mit ihm zur Banco Galactico ging. Sie sagte nichts, als er seinen Kreditbrief einlöste, nicht ein Wort des Protestes kam über ihre Lippen. Auch äußerlich hatte sie sich sehr verändert. Ihre Lider und Lippen waren nicht mehr angemalt, sie hatte sogar die Locken aus ihrem Haar gewaschen und kein Parfüm hinter die Ohrläppchen und in die Ellenbogenbeuge getupft. Dreiunddreißigtausend Dolls hatte er auf seinem Konto. Er faltete die blauen Scheine, die er bekam, zusammen und steckte sie in eine Reißverschlußtasche seines Anzuges. In einem Eßplatz frühstückten sie, und da erzählte er ihr, was er tun wollte. Sie hörte ihm zu, überlegte einen Augenblick und schaute auf die Uhr. Dann erklärte sie ihm, was sie tun müßten. Sie gingen nach Hause und packten Reisetaschen. Sie ließ für Pop eine Mitteilung auf Band zurück, dann stiegen sie in einen Maulwurf, der sie zum einzigen Transkontinentalzug des Tages brachte. Er stellte ihre blaue Tasche neben seine rote in das
Gepäcknetz, dann schnallten sie sich an, und dann waren sie unterwegs. Der Start war sehr langsam, fast ein Kriechen, doch dann tauchte der Zug sehr tief unter die Oberfläche und raste auf seinen Luftkissen dahin. John Singer hatte seine Bekehrung in einer kleinen Hütte in einem abgelegenen Tal der Rocky Mountains in der Nähe einer Stadt namens Hendersib erlebt. Damals war dies der Staat Colorado gewesen. Nach seinem Ausscheiden aus der Regierung hatte er hier lange Zeit Ferien gemacht, um seine Wunden zu lekken und nachzudenken. Die Hütte gehörte einem Freund von ihm; sie war sehr primitiv und sehr einsam. Singer mußte das Wasser von einer Quelle holen und Holz in einem Ofen verbrennen, damit ihn nicht fror. Grom Gravok hatte Singers Bekehrung miterlebt, als sei es seine eigene gewesen. Für ein paar Monate hatte Singer das gefühlt, was Grom als natürlichen Zustand bezeichnen würde, den Frieden des Herzens, wie Singer gesagt hatte. Dieses Erlebnis vereinte die beiden Persönlichkeiten. Singer ließ sich in die Spinnwebfäden des Geistes einspinnen, und Grom Gravok war in seinem natürlichen Zustand praktisch derselbe Mann. Als Grom nach dem Potpourri aufgewacht war, hatte ihn zweierlei gedrängt, an die Oberfläche zu gehen. Er wollte sich von Singers bedrückender psychischer Anwesenheit befreien, und um das zu erreichen, hielt er es für nötig, jenen Ort selbst zu sehen, wo Gottes Finger den Mann berührt hatte. Außerdem wollte Grom auch die Erde, die wirkliche echte Erde
sehen, nicht eine Untergrundstadt. Eastcoast und die Bauten in der Heimat hatten zu vieles gemeinsam. Grom sehnte sich nach dem seelischen Rückhalt der Goruschka, und weil er den nicht haben konnte, brauchte er Einsamkeit. Von Billy erfuhr er, daß man noch in die Berge gehen konnte. Es gab dort und auf den anderen Kontinenten noch Stützpunkte mit kleinen Gruppen von Leuten, die den Planeten beobachteten und die Stürme registrierten, die oben rasten, die Atmosphäre maßen, die Erdbeben aufzeichneten und Sonden ins Meer versenkten. Langsam brach das Chaos über die restliche Menschheit herein. Die Außenposten beobachteten den ständigen Fortschritt des Unvermeidlichen. Eines Tages, hatte Billy gesagt, würde es oben auf der Erde überhaupt keine Menschen mehr geben. Der Sauerstoff würde verbraucht oder stark rationiert sein. Zu einem dieser Außenposten waren sie nun unterwegs. Der Zug raste schräg in die Tiefe. Der Tunnel schnitt durch das Plasma. Er sah aus wie ein unendlich langer schlaffer Schlauch, der von Eastcoast bis unter die Berge reichte. Der Zug wurde von der Schwerkraft immer tiefer gezogen, dann vom Schwung in die Höhe geschoben, als der Tunnel wieder anstieg. Also haben sie's doch gelernt, dachte John Singer in Groms Geist. Oder war es Groms Geist, der John Singers Erinnerungen verarbeitete? Zu Singers Zeiten hatte man solche Züge für eine Utopie gehalten. Aber Grom wußte wirklich nicht, wer was dachte.
Grom fand es verwirrend, zwei Menschen zu sein, doch Singers Erinnerungen waren äußerst nützlich. Er verstand jetzt vieles, was sich ihm vorher entzogen hatte. Es ging zwei Stunden lang abwärts und zwei Stunden wieder hinauf. Grom fühlte kein Unbehagen. Sein Körper war an alle Arten von Schwerkraftwirkungen gewöhnt. Billy schien sich, als es abwärts ging, nicht besonders wohl zu fühlen, doch als beim Aufstieg die natürliche Schwerkraft wieder an ihrem Körper zerrte, die Gurte gelöst werden und sie aufstehen konnten, wurde ihr gleich wieder besser. »Du bist mein letzter Tourist«, kündigte sie nach einem langen Schweigen ganz plötzlich an und rührte in ihrem Kaffee, den ein Mädchen auf einem Tablett gebracht hatte. »Oh?« »Ich habe nicht gelebt«, erklärte sie ernsthaft. Jetzt war sie ganz anders als vorher, bestimmt und entschlossen. »Das wußte ich alles vorher nicht. Jetzt weiß ich's. Ich verlasse die Erde und gehe irgendwohin, wie Mutter.« »Wie willst du das anstellen? Ich dachte, du seist –« Grom wollte das Wort arm nicht aussprechen. »Ich finde schon eine Möglichkeit«, meinte sie dazu. »Mary hat auch immer eine gefunden.« »Mary?« »Ja. Mary O'Gronsky. Mary hat niemals gezögert. Sie trat einfach so in die Dunkelheit hinaus. Etwas ist dann immer passiert.« »Mary O'Gronsky war wohl das Mädchen, dessen Leben du –«
Sie nickte, stellte ihre Tasse zurück und zog an ihrer Zigarette. »Ich bin sehr groß und habe viele Dinge gesehen. Die Erde ist zu klein für mich. Herr Jesus, Grom«, rief sie, und die sprachsporadische Begeisterung erinnerte ihn wieder an die Billy von früher, »du hast ja gar keine Ahnung, wie groß die Welt ist. Und da war ich, eine Schmalspurenperson, die jeden Tag die gleiche Arbeit tat, am Samstag die Wohnung staubsaugte, Sonntag nachmittag die Sensyshow, und immer rund herum im selben Trott. Immer rundherum. Ich bin jetzt achtundzwanzig.« Er wußte nicht, war dies eine Anschuldigung, Angeberei oder nur eine nüchterne Feststellung. »Niemals«, sagte sie. »Nie mehr.« Sie sah Grom an, als erwarte sie von ihm einen Widerspruch. Aber Grom sagte nichts. Ihr Blick erinnerte ihn an eine andere Frau, an John Singers – seine – Frau, die an ihrem achtundzwanzigsten Geburtstag auf dem Weg in den Urlaub auf den Bahamas mit ihm – John Singer – über die Anzahl der Kinder stritt, die sie haben wollten. Sie wünschte sich keine. Joan war Strafverteidigerin gewesen. Nachdem sie Annie geboren hatte, ließ sie sich von ihm scheiden. Maruschka hatte fünf Kinder haben wollen, alles Buben. Er träumte von Joan und Maruschka und Annie und verflocht sie alle miteinander, während Billy über ihre eigene Zukunft sprach, die Proportionen erweiterte und die vielen möglichen Wege erklärte, die vor ihr lagen und alle erforscht werden wollten, obwohl sie nichts besaß, achtundzwanzig Jahre alt war und sich nicht einmal den ersten Schritt zu ihrem Ziel vorstellen konnte. Aber Mary hatte sich von solchen Dingen auch nicht aufhalten lassen. Mary hatte
Felsen gesprengt, wenn sie ihr den Weg versperrten. Jawohl! Auf der Station Den in den Rorange empfing man sie mit Mißtrauen. Sie waren als einzige Passagiere des Zuges hier ausgestiegen. Ein Mann mußte ein Tor aufschließen, um sie vom Bahnsteig in das Gebäude zu lassen. Er bat sie in sein Büro. Grom trug die beiden Taschen. Der Mann setzte sich an einen Schreibtisch, nahm die Brille ab, um sie zu putzen, und fragte, was sie hier wollten. Er hatte ihnen keinen Stuhl angeboten. Grom fühlte sich gereizt. Er war John Singer, nicht Grom Gravok. Grom hätte solche Gefühle längst unterdrückt, ehe sie an die Oberfläche hätten kommen können. »Ich möchte einen Blick auf die Erde werfen«, erklärte er mit einer Stimme, die nicht die geringste Unterwürfigkeit verriet. Sehr langsam antwortete der Mann. Hatte Mr. Gravok auch eine Erlaubnis von AFU? AFU war, wie Billy ihm zuflüsterte, die Abteilung für Unfallverhütung. Ohne eine solche Erlaubnis war nämlich die ganze Reise umsonst. Der Mann hauchte die Brillengläser an, polierte sie und schaute auf. »Ich habe keine Erlaubnis, also nehme ich an, Sie werden sie mir ausstellen müssen, hier und jetzt.« »Ich?« fragte der Mann ungläubig und setzte die Brille wieder auf die Nase. »Mr. Gravok, Sie unterliegen einem immensen Irrtum.« Grom wurde dunkelrot. »Verdammter Erdenwurm, mach dich endlich auf die Beine!« brüllte er, weil ein anderer von ihm Besitz ergriffen hatte. »Wen glaubst du vor dir zu haben? Erkennst du kein Kabi-
nettsmitglied, wenn du eines vor dir siehst? Fang zu schreiben an, sonst wird es dir noch leid tun, daß du mich je gesehen hast!« Der Mann, den John Singer – vielleicht auch Grom Gravok – als kleinen Bürokraten durchschaut hatte, erhob sich. Seine Augen ließen Angst erkennen. Er murmelte eine Entschuldigung, doch er zögerte, setzte sich wieder und suchte in einer Schublade nach Formularen. Hastig begann er zu schreiben. Es war sein Job, schnell zu handeln, denn diskrete Nachforschungen konnten auch nachher oder überhaupt nicht angestellt werden. Ein paar Minuten später waren Grom und Billy, bewaffnet mit Formblättern und Gebrauchsanweisungen für die Fahrstühle in einem anderen Korridor. Grom war noch ziemlich wütend. »Kabinettsmitglied?« fragte Billy Er schaute sie an. Er war sehr verwirrt. »Ich –« Aber dann gab er auf und schüttelte den Kopf. In Wirklichkeit war er über sein rüdes Auftreten zu Tode erschrocken, und in seinem Körper stritten die übermäßig vielen Hormone, die seine Drüsen abgesondert hatten, miteinander. Er wollte John Singer abschütteln, die entsetzliche Sklaverei von John Singers Ehrgeiz. Und das sollte Freiheit sein? Von einer riesigen Höhle, in der zahlreiche Gebäude rund um einen zentralen Platz standen, führten Korridore in alle Richtungen. Sie schlugen einen Weg nach rechts ein, der zu einem kleineren Platz führte. Hier betraten sie einen Raum, in dem sie mit Anzügen, Masken und Sauerstoffbehältern ausgerüstet wurden. Sie bekamen außerdem kleine Radios und ausführliche Landkarten. Dafür mußten sie ihre Un-
terschriften leisten, daß die Station keine Verantwortung treffe, falls sie sich verirren sollten. Für den Lift bezahlten sie pro Person fünfundvierzig, dann stiegen sie in einen Aufzug, der sie sehr hoch hinauf brachte. Und das hieß, daß sie sehr tief unten gewesen waren. Und dann trat Grom aus einem dunklen, engen Betonbunker hinaus auf die Erdoberfläche, die wirkliche Erdoberfläche, diesmal kein holographisches Wunder. Und er sah nichts. Gar nichts. Oder vielmehr, er stand in einem sehr heftigen Sturm. Der Wind pfiff, raste, schnitt in die Haut und schrie ihn voll unglaublicher Wut an. Er zerrte, zog und schob, riß ihn hierhin und drängte ihn wieder zurück. Die Luft war mit sehr feinem gelbem Staub gesättigt. Innerhalb weniger Sekunden waren Anzug und Gesichtsschirm dick gepudert. Der Anzug war eng und dicht, doch in seinem Mund spürte er einen bitteren Geschmack. Er wischte seine Sichtplatte ab und sah Gelb, Gelb, nichts als Gelb um sich herum. Grom wandte sich um. Billy in einem dunkelblauen Anzug war kaum mehr zu erkennen. Sie stand zögernd in der niedrigen viereckigen Türöffnung des Bunkers. Er kehrte um und nahm ihre Hand. Dann stemmten sie sich gemeinsam gegen den Wind. Ihr ganzer Körper begann zu zittern, und das spürte er durch den Handschuh. Er hielt ihre linke Hand fest. Mit der rechten fummelte sie an den Knöpfen ihres Sprechgerätes herum, das am Gürtel hing. Der Lärm war so ungeheuer, daß eine normale Unterhaltung unmöglich war. Statik knisterte und prasselte. »Oh, Grom, ich hab
solche Angst«, hörte er sie sagen. »Halt dich nur an mir fest. Du bist sicher. Dieser Wind muß ja blasen. Aber er wird nachlassen. Wir wollen ein Stückchen gehen.« Er zog sie mit sich über rauhes, felsiges Gelände, und sie wiederholte ständig, sie habe Angst. Es war wirklich ein sehr heftiger Sturm. Von Zeit zu Zeit flaute er etwas ab, als wolle er Atem holen, um danach umso kräftiger fauchen zu können. Dann sahen sie Wolkenfetzen wirbeln, gelben Staub und braunen Staub und weißen Staub und dazwischen schwarzen. Wenn der Wind ein wenig aussetzte, holten sie selbst auch Atem. Langsam gingen sie weiter, und dann ließ schließlich der Sturm nach und hörte unvermittelt auf. In der Luft schwebten Tonnen von Staub, die sich allmählich in einem sehr feinen trockenen Nieselregen niederschlugen. Als sich der Staub gesetzt hatte, hob sich der Nebel. Von Minute zu Minute wurde die Sicht besser. Erst konnten sie nur dunkelgrauen Fels erkennen, dann dahinter mehr Fels, darüber immer noch mehr. Es waren unendliche Felsmengen, die immer höher wurden, je mehr sich der Nebel hob; es war wilder, von Erosion zerklüfteter und wie zerhackter Fels, wie in dünne Scheiben geschnittener Berg, rund zugeschliffen, zu flachen Tischen verkürzt mit allen möglichen Zeichnungen und Mustern versehen, und so sah er fast aus wie flüssiges Blei, das ins Wasser geschüttet wurde. Aber links von ihnen lag eine unüberschaubare Ebene, die Billy Angst einflößte. Wie Grom hatte sie beobachtet, wie der Staubschleier sich über die Reste von Rorange senkte. Dann wandten sich beide in die
andere Richtung. Hier war eine unendliche Staubmenge zu phantastischen scharfkantigen Dünen aufgeschichtet. Ganz weit in der Ferne fiel ein Dunstund Staubschleier von einem gelben Himmel herab. Aus dieser Richtung kam mit Blitzgeschwindigkeit ein anderer Sturm herangerast. Er durchstieß den Schleier und zerpflügte die Dünen und kam, eine dunkle Kugel elementarer Gewalt, angefüllt mit den Sedimenten der Erde, auf sie zu gerast. Da schrie Billy und rannte zurück zum Bunker, auf dessen Dach eine dichte Staubschicht lag, als sei es Schnee. Sie stolperte und fiel, kam mühsam wieder auf die Beine. Grom hörte sie über Funk schluchzen vor Angst. Sie rannte in die Sicherheit des Betonklotzes, der doch nicht mehr war als ein kleiner Auswuchs. Er folgte ihr langsamer; auch ihn hatte der Wind ordentlich gebeutelt. Weinend klammerte sich Billy an die Lifttür. Sie war außer sich, und Grom konnte sie nicht beruhigen. Schließlich klingelte er nach dem Lift. Als er kam, mußte er sie hineinschleppen. Sie fuhren wieder in die Tiefe. Am nächsten Morgen verabschiedete sich Grom von Billy an der Zughaltestelle. Sie schüttelten einander die Hände, und er reichte ihr die kleine blaue Tasche. Sie folgte einem Impuls, legte ihm die Arme um den Hals und drückte ihm einen Kuß auf die Wange. Ihre Augen waren feucht. »Dich, Grommy, werd ich niemals vergessen«, sagte sie. Ihre Stimme klang verdächtig heiser. »Du hast mir ein neues Leben geschenkt.« Er schüttelte den Kopf. »Gott sei mit dir, Billy. Ich
habe dir etwas gegeben, du mir aber ebenso viel. So ist nun mal das Leben. Nun mußt du weitermachen. Tu's. Geh fort von hier.« »Ja, das will ich«, versicherte sie schluchzend. »Mary würde es auch tun. Nur Mut. Laß dich von nichts aufhalten.« »Das verspreche ich.« Der Zug hielt. Billy schaute ihn noch einmal an, schüttelte den Kopf und wußte nicht, wohin mit ihrem Gefühl. Dann stieg sie ein. Sie winkte ihm zu, bis der Zug aus der Station hinausgefahren war. »Irre«, murmelte er vor sich hin und lächelte dabei. »Total irre.« Dann kehrte er zum Hotel zurück. Am Tag vorher hatte er zahlreiche Ausrüstungsgegenstände gekauft, und die überprüfte er nun: ein Zelt, ein Schlafsack, Proviant, ein Feuchtigkeitskondensator, ein Öfchen, Seil, dicke Socken, thermische Unterwäsche, Kompaß, Landkarten, ein starkes Funkgerät und verschiedene andere Dinge, die er aus John Singers Gedächtnis und Erinnerungen gegraben hatte. Der Verkäufer im Laden freute sich über das große Geschäft, bewunderte den Unternehmungsgeist des Fremden und bestaunte seine Verrücktheit. Grom packte alles zusammen, lud sich den Packen auf die Schultern und begab sich wieder zur Erdoberfläche. Er hatte beschlossen, die restliche Zeit seines Urlaubs draußen zu verbringen, in der schrecklichen, ehrfurchtgebietenden Wildnis. In dem Moment, als der Sturm aufhörte und der Staub sich setzte, hatte er gewußt, daß er wiederkommen würde, weil sich ihm für ein paar Momente das zerklüftete Gesicht der Mutter Erde enthüllt hatte. Hier und allein wollte er Bal suchen.
Ohne fremde Hilfe hatte er sich seine Ausrüstung zusammengestellt. Billy war darüber ganz hysterisch geworden. Er hatte sie in ein Zimmer des einzigen Hotels in Den Station gebracht, und eine dickliche Frauensperson mit Warzen im Gesicht und einem deutlichen Schnurrbart hatte sich ihrer angenommen. Als sie dann gegangen war, hatte er Billy so getröstet, wie es John Singer auch getan und Mary O'Gronsky es erwartet und begrüßt hätte. Er erzählte Billy von seinen Plänen, als sie nebeneinander lagen und den auf die Wand projizierten künstlichen Sonnenuntergang beobachteten. Dann war er einkaufen gegangen. Nach dem Frühstück am nächsten Morgen gab er ihr fünfundzwanzigtausend Dolls, damit sie frei war, sich ihren Traum zu erfüllen, oder den von Mary O'Gronsky. Oder von beiden. Das war Grom egal. Geld war unwichtig. John Singer hatte genauso gedacht. Singer hatte Vermögen angesammelt und sie wieder verloren, so schnell wie ein Fingerschnippen war das gegangen. Für Singer war Geld ein Mittel, etwas zu bekommen. Grom behielt genügend zurück um nach Hause zu kommen; die Fahrkarte hatte er schon. Oder wenn er sich noch etwas herumtreiben wollte, dafür reichte es auch. Ob er nach Vizillo zurückkehren oder zu unbekannten Welten aufbrechen wollte, das war eine Frage, die er sich am besten allein beantworten konnte. Bal würde ihm das sagen. Fand er den Seelenfrieden aber nicht, würde er vielleicht erst gar nicht mehr in den Untergrund zurückkehren. Der Sturm heulte, dann legte er sich wieder. Er hob zehntausend Staubteppiche auf und schleuderte sie in
den Himmel. Manchmal war es tagelang ganz still. Winzige Partikel von Silikaten, die unter dem Himmel schwebten, fingen die Sonnenstrahlen ein und bildeten Regenbogenreflexe. Manchmal hing der Himmel voller Wasserwolken, und es regnete. Es goß. Schlammströme flossen, zornige, gelbschäumende Ströme, die den Fels überspülten und kochten und röhrten und ein paar Stunden lang über die Felsen donnerten und dann langsam, ganz langsam wieder versiegten. Grom wanderte. Er stieg hinauf in die Rorange, sah Wälder versteinerter Bäume. Er sah so seltsame Gebilde, wie sie nur die Freiheit des Windes in Jahrhunderten, Jahrtausenden schaffen konnte. Er sah Seen und Tümpel, deren Wasser bitter war. Er sah eine harte, fast steinartige Vegetation, die sich nahezu erbittert an den Fels klammerte, an die Ränder von Schlammströmen. Er sah Spitzen und Türme aus Stein, Tempel aus Stein, sah Felsblöcke, die auf der Spitze von Steinnadeln zu tanzen schienen und Steinnadeln, die auf Felsblöcken schwebten. Er wanderte mit System. Mit Kompaß und Landkarte bestimmte er den Ort, wo John Singer vom Finger Gottes angerührt worden war. Einen praktischen Nutzen hatte diese Suche nicht. Weil die Jahrhunderte Singers Hütte in den Rocky Mountains sehr verändert hatten kannte Grom den Ort nicht, der auch auf der Karte nicht eingezeichnet war. Es gab keine nähere Ortsangabe als Den Station, und darüber hinaus ließen sich nur Vermutungen anstellen. Aber Grom suchte, denn er war davon überzeugt, daß er die Stelle erkennen würde. Und wenn nicht – was machte das schon aus? Gott war überall. ER
durchrang alle Dimensionen. Grom studierte die Landkarte, wenn er nachts im Zelt saß, bei Tag las er den Kompaß, maß und zeichnete sich mit einem Fettstift auf Plastik selbst eine Karte. Am zehnten Tag erreichte er die Stelle. Er schlug sein Zelt am Rand eines kaminförmigen Tales auf; hinter sich hatte er eine dreifache Steinsäule, und das könne der Rest der Tomichi Mountains sein, wie er vermutete. Auf der anderen Seite des Kamins war eine Felswand, und an die konnte er sich erinnern. Zu Singers Zeiten war sie viel höher gewesen, und wie Soldaten waren bis zum Rand hinauf hohe Nadelbäume gestanden. Ein paar leichtsinnige Soldaten waren abgestürzt und hatten sich in Spalten festgeklammert. Das Rot war das alte Rot, das Grau, das wie eine Nase aussah, die alte graue Nase. Hier blieb er drei Wochen. Vielleicht auch nur drei Tage, denn die Zeit bedeutete hier nichts. Er wanderte umher. Er legte von seinem Zeltlager aus weite Wege zurück. Langsam, ganz langsam fühlte er sich wieder wie er selbst. Nach zehn Tagen, vielleicht waren es auch nur zwei, fiel ihm ein, er könnte ein Mitbringsel für Maruschka suchen. Das war eine Aufgabe, die nun seine Wachstunden ausfüllte. Er suchte unermüdlich. Es mußte etwas sehr Altes, auch sehr Wertvolles sein; etwas, das sie unter einen Glassturz stellen und in ihrem Kubo-Heim neben dem Goruschka-Schrein aufheben wollte. Etwas, das eine schöne Erinnerung an seine Maturitätsreise wäre und doch ein sehr persönliches Geschenk von ihm an sie. Etwas, das Maruschka ihren fünf Kindern zeigen würde, und alle fünf sollten Buben sein. Alle sollten Bauwächter wer-
den mit guten Ohren für das Lispeln des Gravitrons. Mit einem kleinen Pickel wanderte er umher, grub hier und dort, lockerte den Staub, bis er auf den Fels darunter stieß. Lange fand er nichts. Dann hob er eines Tages einen flachgedrückten Staubkuchen ab, und da sah er etwas, das matt metallisch schimmerte. Das holte er heraus. Es war ein Stück aus leichtem Metall, das der Druck flachgebügelt hatte. Aluminium, wie es sich anfühlte und aussah. Vielleicht hatte es früher einmal Zylinderform gehabt. Der Druck hatte Falten in die Oberfläche gepreßt. Diesen Fund trug er zum Zelt. Er wusch ihm mit dem süßen Wasser seiner Wasseraufbereitungs- und Auffangvorrichtung. Mit einem seiner dicken Socken polierte er ihn, und dann prüfte er ihn im Lichtstrahl seiner Taschenlampe. Voll riesiger Freude und Aufregung erkannte er die fast verblaßten Spuren einer sehr alten Schrift. Singers Gedächtnis erlaubte ihm, sie zu entziffern. Die Buchstaben waren kaum mehr als eine Verfärbung auf dem Metall, ein schwacher, aber nicht zu verkennender Eindruck oder eine chemische Veränderung der Oberfläche: Coca ola. Grom schien sich der Bedeutung dieser Worte vage bewußt zu sein, aber sein Singer-Ich zog sich schon langsam zurück. So bereitwillig kamen die neuen und doch so alten Erinnerungen nicht mehr wie früher. Singer war nur noch ein Gefühl, ein merkwürdiges, etwas wirres, trauriges Gefühl, das einmal Sehnen, Haß, Leiden und Freude gespürt hatte und irgendwann einmal verklang. Er wickelte seinen Schatz in ein Hemd und verschnürte das Bündel, damit kein Schaden an dem
Metall entstehen konnte. Das Hemdbündel legte er ganz unten in seinen Rucksack. Dann kochte er auf dem Öfchen etwas zu essen und legte sich auf seiner Matratze schlafen. Am nächsten Tag erwachte er bei Anbruch der Dämmerung. Es war ein ruhiger Tag. In der Sonne schimmerten die Silikatpartikel der Luft. Grom fühlte Bal. Es war eine unbeschreibliche Harmonie mit sich selbst und dem ganzen Kosmos. Er brach sein Lager ab und machte sich auf den Heimweg. Der Rest war die Umkehrung seiner Anreise, eine lange Wanderung durch die Wildnis, ein Hinabsteigen in die Unterwelt, eine Zugfahrt durch einen Tunnel, der wie ein schlaffer Schlauch aussah. Über Visiphon rief er Billy an. Eine Bandstimme sagte ihm, sie sei nicht länger mehr unter diesem Kode zu erreichen. Mit dem Taxi fuhr er zum Raumhafen. El-tuna empfing ihn. Er hüpfte für einen Tag auf die Lunar-Oberfläche. Dann brachte ihn das TCLinienschiff Belfortuna fünfzig Parsecs vom Erdenmond nach Vizillo. Am Raumhafen wurde er von einer Delegation der Goruschka erwartet, alles Ältere, die meisten etwa in seinem Alter. Sein Vater und seine Onkel waren darunter. Seine Mutter, die Schwestern und Maruschka waren auch da, doch die hielten sich im Hintergrund, ein Stück von den Männern entfernt. Er schaute die Älteren an und sah die besorgte Erwartung in ihren Gesichtern. Er rannte auf sie zu, die rote Tasche mit der Aufschrift TIME COLLAPSE IN-
TRA-GALACTICA in Weiß über der Schulter. Er umarmte sie und schüttelte ihnen die Hände. »Grom, Bruder«, sagte einer von ihnen. »Wie gut, dich wieder zu haben. Aber sag uns doch, was hältst du von ... der Erde? Dieser großen Welt? Wie ist es dort?« Grom musterte den Fragesteller und fühlte Besorgnis in des Mannes Stimme. Da wurde er sich darüber klar, daß er sich auch wie ein Älterer benehmen mußte und die traditionellen Worte zu sagen hatte, jene Worte, hinter denen sich so viele erstaunliche und beängstigende Erlebnisse verbargen. »Großartig«, erwiderte er, »Herrliche Freiheit. Oh, die Erde ist unvergleichlich. Das Land, die Berge, die Prärien. Es ist der Anfang, Tushka, und auch das Ende.« Die Älteren strahlten. Grom durchbrach ihre Reihen und rannte auf Maruschka zu.
Originaltitel: THE SPLENDID FREEDOM Copyright © 1974 by UPD Publishing Corporation
Robert Sheckley END CITY So kann es einem gehen: Man lehnt sich behaglich in seinem Sitz erster Klasse der Fat Cat Spacelines mit einer Zigarre zwischen den Lippen zurück, hat ein Glas Champagner in der Hand und reist von Depredation City auf der Erde nach Spilsville Junction auf Arkturus XII. Dort wird man von Magda hinter der Zollschranke erwartet, und im Ultima Hilton findet eine ganz tolle Party statt. Man wird sich darüber klar, daß man nach einem Leben des Kampfes endlich doch reich, sexy, erfolgreich und respektiert ist. Das Leben ist wie ein Knödel aus Hühnerleber, reich und rund und wohlschmeckend, und er tropft vor Fett. Man hat ja schließlich auch lange genug wie ein Pferd gearbeitet, um dort anzukommen, wo man jetzt ist, und man ist durchaus bereit, es möglichst lange zu genießen. In diesem Moment blinkt die Landeanzeige. Man sagt zur Stewardess: »Na, meine Schöne, würden Sie mir mal verraten, was da los ist?« »Wir befinden uns im Landeanflug auf City«, sagt sie einem. »Aber das ist doch überhaupt nicht vorgesehen. Warum landen wir da?« Sie zuckt die Achseln. »Der Schiffscomputer hat uns hierher gebracht, und jetzt müssen wir auch landen.« »Aber hören Sie mal«, sagt man streng, »mein sehr guter Freund, J. Williams Nash, der Präsident dieser
Fluglinie, hat mir versichert, es gebe auf dieser Reise keinen Aufenthalt, der nicht vorgesehen und im Flugplan enthalten ist.« »End City löscht alle vorausgehenden Zusicherungen«, erklärt sie. »Vielleicht wollten Sie nicht hierher fliegen, aber Sie sind, verdammt noch mal, eben doch hier angekommen.« Man befestigt also den Sicherheitsgurt und denkt: Da hast du aber mal elendes Pech gehabt. Da schwitzt man sich ein Leben lang den Hintern wund, und ist man endlich so weit, daß man sich ein bißchen Freude gönnen kann, landet man in End City. Es ist ziemlich einfach, nach End City zu kommen. Man braucht nur einzuschweben, das Raumschiff in einem Hinterhof zu parken. Formalitäten gibt es nichts. Und Sorgen braucht man sich keine zu machen. Der Quecksilberjunge taucht auf und will wissen: »He, was tut ihr hier, um euch ein bißchen aufzumöbeln?« »Wir nehmen Drogen wie Hope-74«, antwortet Mort the Snort. »Und was ist die Wirkung von Hope-74?« »Da denkt man, vielleicht hätte man doch eine Zukunft.« Der Quecksilberjunge schaut sehnsüchtig drein. »Mensch, da möcht ich aber eine ganze Menge davon haben.« Man lernt Sweet Lucy kennen, das Mädchen mit den tausend Körpern, und alle sind fett.
»Ich geh fast jeden Montag runter zum Himmlischen Body Shop, und jedesmal bin ich fest entschlossen, mir einen richtig schicken Körper rauszusuchen. Du weißt schon, was ich meine, richtig Klasse. Einfach Spitze. Aber jedesmal ist's dasselbe. Wie aus einem Zwang heraus nehm ich mir dann doch immer wieder einen fetten, schwammigen, so einen, wie ich ihn schon immer gehabt habe. Himmel, wenn ich je über die fixe Idee wegkäme, dann wär ich was zum Anschauen.« Dr. Bernsteins Kommentar: »Ihre fixe Idee ist ihre Rettung. Kaputte Typen ändern sich nicht. Gentleman, geben Sie ihr einen Tritt, wenn Sie gehen. Sie werden sie sonst nicht los.« Giardano ist unheimlich viel gereist, aber weit kam er nie. »Es ist die schlichte Wahrheit, wenn ich sage, daß diese Galaxie nur innen in meinem Kopf existiert. Je weiter du herumkommst, desto weniger siehst du. Ich war auf Akmena IV – sieht aus wie Arizona. Sardis VI erinnert an Quebec, und Omeone VI ist ein genauer Abklatsch von Marie Byrd's Land.« »Und wie sieht End City aus?« »Wenn ich's nicht besser wüßte«, sagt Giardano, »dann würde ich meinen, ich sei wieder daheim in Hoboken.« In End City muß alles eingeführt werden. Sie importieren Katzen und Küchenschaben, Müllbeutel und den Müll dazu, Polizisten und Kriminalstatistiken. Sie führen auch vergossene Milch und verfaultes Gemüse ein, blaues Wildleder und orangefarbenen Taft, Pulverkaffee und Orangenschalen, Volkswagenersatz-
teile, Zündkerzen der Marke Champion, sogar Träume und Nachtmahre. Sie importieren dich und mich. »Und wofür das alles?« »Mensch, ist das eine blöde Frage. Ebensogut kannst du fragen, wofür die Wirklichkeit gut ist.« »Na, und wofür ist die gut?« »Besuch mich mal. Ich wohne in der 000 Null-Straße, an der Kreuzung Minus Boulevard, genau gegenüber vom Null Park.« »Hat die Adresse irgendeine symbolische Bedeutung?« »Nein, Mensch. Ich wohne doch nur dort.« Niemand kann sich in End City das leisten, was unbedingt nötig ist, aber Luxusgüter sind für alle zu haben. Zehntausend Tonnen Chincoteague-Austern werden jede Woche kostenlos verteilt. Aber Cocktailsoße ist weder für Geld noch für gute Worte zu haben. Gespräch in der Limbo Lane: »Guten Tag, junger Mann. Unterliegen Sie noch immer dem Mittel-und-Wege-Trugschluß?« »Glaube schon, Professor.« »Dacht ich mir doch. Guten Tag, junger Mann.« »Wer war das?« »Der Professor. Er fragt immer nach dem Mittelund-Wege-Trugschluß.« »Was heißt denn das überhaupt?« »Weiß nicht.« »Warum fragst du ihn dann nicht?« »Interessiert mich nicht.«
Dr. Bernstein sagt: »Der Monismus postuliert, es gebe nur ein Ding, der Dualismus sagte, es sind zwei Dinge. Egal, was davon nun wahr ist, viel hat man nicht, um davon auszugehen.« »He!« sagte Johnny Cadenza. »Vielleicht ist das die Erklärung dafür, daß hier alles entweder nach Paprika oder Tausend Inseln schmeckt.« Giardano schlägt ein Taschennotizbuch auf und versucht, alle Hauptstraßen zu zählen, die er schon auf und ab gegangen ist. Mort the Snort schießt mit reiner Sealtest-Eiscreme und wartet, bis er trifft. Der Quecksilberjunge legt Patience, aber jede Karte ist eine Karoacht. Sweet Lucy beißt in einen Marsriegel und schmeckt Sonne, Taft und einen bellenden Hund. Dr. Bernstein schaut zurück zu den alten Sternen, den alten Reisen, die jetzt alle aufgebraucht und zu Ende sind. Er schaut voraus in die Schwärze des Golfes, den großen Sprung in das Nichts. Er seufzt, nimmt Lucys Hand, und sie tanzen. Zögernd kommst du endlich auch heran, räusperst dich und sagst: »Entschuldigen Sie, ist das nicht so eine Art Irrtum oder so? Ich meine, ich sollte ja gar nicht hier sein.« »Sie sind hier schon richtig«, meint Bernstein. »Willkommen in End City.« Er macht sich nicht einmal die Mühe, einen anzulachen. Originaltitel: END CITY Copyright © 1974 by UPD Publishing Corporation
J. A. Lawrence DAS DING IM TANK Ich hasse es, wenn meine Augen bluten. So viele meiner Fenster sind schon blind. Es ist nicht fair. Nein, nicht fair. Ein solches Leben habe ich noch nicht gelebt. WE hat die Augen bandagiert. Die Kompresse ist kühl. Nun, bin ich in dieser Dunkelheit privilegiert, ungestört nachdenken zu können? Nein, das bin ich nicht. Bevor ich sterbe, will ich noch in der Lage sein, die Gedanken von drei Lebenszeiten zu denken, und ich darf keine Zeit verlieren, über meine Angelegenheiten nachzudenken. Ich habe gar keine Angelegenheiten, kein Anliegen. Das macht mich zweifellos zum Philosophen ... WE hat Angst, mich zu massieren, wenn meine Augen bluten. Meine Kapillaren sind zu zart für fast jede Berührung; daher auch der Tank, in dem ich meine Tage, meine Nächte, mein zwielichtes Leben verbringe. Sie haben das alles wirklich schön gemacht. Mein Tank wird in Gang gehalten vom Monitoring Electro Diagnostic InterCom des Krankenhauses, MEDIC genannt, und ich ruhe in einer Flüssigkeit. Alle meine körperlichen Bedürfnisse werden von Maschinen erfüllt. Die Wände des Tanks sind mit Schaltkomplexen ausgestattet, damit ich selbst die Bibliothek, das Fernsehen, das Vidiphon erreichen kann. Bücher erscheinen auf mein Kommando auf dem Schirm über mir und blättern sich selbsttätig um mit einer Geschwindigkeit, die ich mit einer Hand-
bewegung regulieren kann. Ich beobachte die Welt mit all ihren Spielen. Bekommen und Ausgeben. Ich denke über meine Rasse nach. Dieser Einfallsreichtum und diese Energie, nur und ganz offensichtlich darauf gerichtet, etwas zu bekommen. Das Fernsehen zeigt mir Gesten, schwarze Bauern und weiße Ritter, die sich inkonsequenterweise links und rechts von einem unverständlichen Schachbrett häufen. Ich spiele mit Mikhail in Bulgarien. Er möchte mich gern schlagen, denn das würde ihn für ein Meisterschaftsspiel qualifizieren. Ich glaube aber nicht, daß er das kann, denn in letzter Zeit fällt er sehr ab. Er träumt davon, eine Königin, eine Sophia, zu erobern, und das lenkt ihn ab. Ich hätte es ganz gern, wenn er mit mir über Sophia spräche. Es gibt auch noch andere, mit denen ich schachspielen kann, aber die wollen kaum von Liebe reden. Darüber habe ich schon sehr viel gelesen. Mikhail hat mir ihr Bild auf dem Schirm gezeigt, ein kleines drahtiges weibliches Wesen, nicht besonders interessant. Sie ist Mechanikerin. Was ist eigentlich dieses Erlebnis, das so viele Geister so ausführlich beschäftigt? Er wird seine Sophia bekommen, und sie werden für eine Weile sehr oft kopulieren. Und danach? Welcher geistige Austausch findet dann zwischen einem Schachspieler und einer Frau statt, die Schraubenschlüssel schwingt? Sie wird ihn in eine Rüstung stecken und alle Scharniere zuschweißen ... Mikhail geht in seinem Städtchen herum. Er wollte mich gern mitnehmen, doch in seinem Land ist es verboten, eine Kamera mit sich herumzutragen ... Jeder hat etwas zu verbergen. WE ist wieder da. Ich höre den Essenskarren rat-
tern. Die Zähne waren ein großes Problem gewesen. Das Kauen ist für die Blutgefäße eine viel zu große Anstrengung, und natürlich können sie nicht repariert oder auf die übliche Art herausgezogen werden. Also füttert man mich mit Flüssigkeiten, und WE putzt mir die Zähne mit religiösem Eifer. Ich bekomme mit meiner Diät und in der mich umgebenden Flüssigkeit Chemikalien. Weil meine Zähne nicht vom Druck des Kauens niedriggehalten werden, wurden sie so lang, daß ich den Mund nicht ganz schließen kann. Ich kann mich noch recht gut an den Aufruhr mit meinen Milchzähnen erinnern. Zum Glück fielen sie von selbst und ganz ohne Blut aus, aber ziemlich spät. War ich nicht schon zwölf gewesen, als ich den ersten verlor? Ich weiß nicht mehr genau. Ich glaube, dieses Essen schmeckt nach richtigem Essen. WE sagt mir immer, was wir essen: Bœuf bourguignonne, Lachsmayonnaise und so weiter, immer besonders für mich zubereitet. Ich denke, das ist sehr nett von ihnen. Ich weiß, daß die flüssige Krankenhausdiät meistens aus Sojabohnen und Milch besteht, überaus eintönig und geschmacklich sehr fad ist. Und ich bin eigentlich ein Genießer ... Ich nehme an, WE sagt mir die Wahrheit. Ich weiß so wenig. Ich muß sehr teuer sein. Sie spielen mit mir ein Spiel der Wirtschaftlichkeit, in dem ich ein Bauer bin. Wie kommt es, daß man mich gleichzeitig aufpäppelt und vergißt? ... Es gefällt mir gar nicht, wenn mir Nachrichten entgehen. WE hat den Ton für mich eingeschaltet ... Die Amerikaner haben Q4 in Südostasien genommen und KB5 verloren. Vierhundertundfünfundzwanzig schwarze Bauern sind vom Brett.
Morison hat die Drei-Minuten-Meile geschafft. Das muß für ihn eine große Freude sein. Maas hat in Brüssel die europäischen Wahlen gewonnen; die Lira ist erneut abgewertet; Dockerstreiks; britische GeishaMädchen in Brasilien außerordentlich gesucht. Das japanische Übungszentrum in Leeds scheint ein großer Erfolg zu sein ... Unter dem Laubdach des Walnußbaums Liegt die schlafende Schlange. Stell niemals Fragen, man belügt dich ja nur, Denn es ist dumm, weise zu sein ... Nein, es ist kein Vergnügen für mich, ich selbst sein zu müssen. Es ist zu schwierig, diese hektische Aktivität, diese Umständlichkeiten, die ich nur beobachten kann. Ich kann mich ja selbst um nichts kümmern. Und dabei bin ich vor Sehnsüchten ganz zerbrochen. Ich weine in mein Bad Tränen und Blut. Dieser Zustand ist doch kein Leben. Ich stelle mir vor, ich sei ein Mann mit einem dichten schwarzen Bart, der mit Männern boxt und sich die haarige Brust kratzt oder sich hungrig über eine Frau kauert. Das Bild bleibt immer nur Bild, es wird niemals lebendig. Ich betaste meinen Körper. Er ist weich wie der einer Frau, haarlos und narbig. Wurde ich denn nur dazu geboren, damit Pflegerinnen Beschäftigung haben? ... Ich hätte doch besser sterben sollen. Ich bin kein Überlebenstyp. Aber Gott in Seiner unendlichen Weisheit hat dies alles so gemacht; mich, damit ich so existieren kann. Bin ich ein Parasit in einem längst aufgegebenen Projekt, das in einem himmlischen Abfallkorb verrottet? Eines Tages muß ich mir darüber klar wer-
den. Der Gedanke verfolgt mich. Wenn ich nur für einen Zweck existiere, dann muß doch Richtig und Falsch eine Realität sein. Wenn dieser Zweck andererseits ein Chaos zufälliger Verderbnis und Verseuchung ist, in dem ich mich befinde, dann gibt es hier kein Recht, und vielleicht existiere ich auch gar nicht. Ich habe keine Möglichkeit, es zu testen. Ich kann nichts tun, keine Entscheidung treffen. Mit achtzehn könnte ich wählen. Das erscheint mir aber nicht genug. Alles ist mir aus der Hand genommen. Ich beurteile meine Mitmenschen, die ja meine Mitmenschen nicht sind. Ich glaube, ich bin überhaupt kein Mensch ... Ich kann mich nicht selbst bestimmen ... Die Tür ging auf und schloß sich; meine Meditation wurde unterbrochen. »Hallo, Phil. Ich hab dir diese Bilder gebracht.« Mein Kopf schmerzte. Der Gedanke an Farben jagte einen scharfen Schmerz quer durch meinen Schädel. Aber man muß auf seine Manieren achten. »Danke.« Ich konnte die Verlegenheit an ihm riechen. Erst kürzlich hatte ich ihn dazu überredet, daß ich wirklich wissen wollte, wie das Leben draußen aussieht, das wirkliche Leben, ein normales Leben. Er glaubt es mir nicht. Vielleicht wollte er es mir auch nur nicht zeigen, wie es ist. »Entschuldige, ich kann sie heute nicht anschauen. Was ist es?« »Ach, nicht viel. Ich und Sue, wir zwei fuhren über das Wochenende ans Meer. Das ist alles.« »Großartig. Viel Fleischbeschau?« »Jede Menge. Wir kriegten sogar einen Sandgleiter.«
Armer David. Bei jedem anderen wäre es ihm möglich gewesen, mit ein paar Worten und vielen Gesten alles zu beschreiben. Für mich mußte er sich durch eine Beschreibung winden, statt seinen gewohnten Wortschatz anwenden zu können wie »Mensch ...« und »weißt du ...« Bei mir war es so, als könne er sich auf nichts beziehen. Ich versuchte es ihm zu erleichtern, aber das war eine komplizierte Sache. »Und wie war die Brandung?« »Mensch, reingerollt wie Dreck.« Das war jetzt ein Bild. Er entdeckte, daß ich heimlich lächelte, und lachte selbst schallend. »Entschuldige, das war Quatsch. Ich meinte hohe Wellen und eine Menge Getümmel und so.« »Klar. Hat es Sue gefallen?« Versteht ihr jetzt, was ich meine? Ich stellte ihm bedeutungslose Fragen, und er scharrte unbehaglich mit den Füßen. Ich konnte mir vorstellen, wie er zwei Schritte von mir entfernt dastand, vor Energie fast platzte und unbedingt etwas tun wollte – schwimmen, sonst etwas, was ihm gerade einfiel, herumrennen. »Und das eine hab ich auch getan. Herrje, hat sie richtig fertiggemacht.« Fast konnte ich hören, wie er dabei rot wurde. Ich gab die Fragen auf. »Danke, daß du vorbeigekommen bist. Und für die Bilder. Die schau ich mir bald an.« »Nimm's leicht, Mensch. Vielleicht darf ich auch mal Sue mitbringen.« Ob sie darf? Zweifellos trommelte sie an die Türen, um zu mir zu kommen. »Gut. Dann leb wohl.« Seine Schritte klangen, als er
mich verließ, viel beschwingter und eifriger als bei seinem Kommen. Warum besuchte er mich eigentlich immer wieder? Seit ich mich erinnern kann, war David alle paar Tage gekommen. Als wir Kinder waren, spielten wir Karten und verschiedene Gesellschaftsspiele. Merkwürdig, er, der gesunde, lebhafte Junge mußte in steriles weißes Zeug gehüllt sein und eine Maske tragen, wenn er mit mir, einem Invaliden, spielen wollte, und wir hatten nichts anderes als ein elektronisches Schachbrett. Einmal fragte ich ihn: »David, wissen die anderen Kinder, daß du mich hier im Krankenhaus besuchst?« »Klar wissen sie's.« »Aber gewöhnlich besuchen sie doch ihre Familie, die Schulfreunde oder ihre Spielkameraden, nicht wahr?« »Hm. Wahrscheinlich schon.« »Kennst du noch jemanden so wie mich, der die ganze Zeit hier bleiben muß?« »Nein, weiß ich nicht.« »Du meinst also nein.« »Ja.« »Würdest du nicht auch lieber draußen sein und mit dem Ball spielen?« fragte ich ihn. Ich wollte, ich hätte mehr von seinem Gesicht sehen können. Die Maske ließ nur verblüffte blaue Augen erkennen. Er mußte nachdenken. »Das hier spiele ich auch gern.« Schöne Antwort – und ausweichend. Und die Augen waren für einen Moment sehnsüchtig zum Fenster gehuscht. Die Jahre vergingen, und ich gab es auf, herausfinden zu wollen, ob er unter irgendeinem Befehl stand oder ob er nur bezüglich seiner Freizeitgestaltung
merkwürdige Vorstellungen hatte. Ich akzeptierte seine Besuche so wie die des Krankenhauspersonals. Ich muß dabei sehr langsam gewesen sein, aber dann wurde mir doch einmal klar, daß David den gleichen Namen hatte wie mein Arzt. Ich konnte es verstehen, wenn er auf Befehl seines Vaters kam. Es war nicht Davids Wohltätigkeit. Luther dachte immer darüber nach, wie er mich unterhalten könnte. Wenn David eine Therapie war, die mir mein Arzt verschrieben hätte, dann war es ja schön und gut. Ich hätte mich darüber gefreut, ihn schief anschauen zu können, wenn dies die Wahrheit wäre. An meine Eltern konnte ich mich kaum erinnern. Luther war mein nächster Verwandter. Ich glaubte, meine Eltern hatten keine weiteren Kinder mehr, nur mich, diese Wasserleiche. Vermutlich hatte ich sie entmutigt. David ließ sich in diesem Jahr einen Bart wachsen. Ich sah sein ganzes Gesicht auf meinem Schirm und auf Fotos. Er sieht aus wie eine Reklame für etwas Junges, für Fruchtsaftgetränke oder eine Sportausrüstung. Zwischen seinen sonnengebräunten Wangen ist sonst immer ein Vakuum. Ich hörte den Wagen an der Tür. Ich wußte, was jetzt kam: Schlaftherapie. WE besprühte den Raum mit irgend etwas, drehte eine Uhr am Tank und legte ein Band auf, zu dessen Klängen ich einschlafen sollte. Manchmal war es eine hypnotische oder Entspannungsroutine, manchmal Lesen, dann wieder Musik. Die Enzyklopädie hatte nicht gewirkt, die war viel zu interessant. Jetzt geht es los. Wer hat sich das wieder ausgedacht? Gute Nacht, ihr alle, welch ein erfüllter Tag ...
Am Morgen nahmen sie mir die Bandagen ab. Die Sonne draußen blendete. Heimlich probierte ich, ob ich Kopfschmerzen hatte. Nein. Gut. Die Welt draußen vor dem sehr großen Fenster war strahlend hell und vom Regen sauber gewaschen. Blinde Tage waren ein ziemlicher Fluch. Seit Jahren hatte ich nun die gleiche Aussicht, aber jedesmal, wenn man mir die Binde abnahm, war alles wieder neu für mich. In der Ferne lag eine Gruppe von Hügeln; manchmal waren sie halb im Dunst versteckt, manchmal ganz klar, immer vom Wald wie mit einem Pelz überzogen. Ich sah einen Streifen Wasser, ein Stück von einem See, in den ein Wasserfall stürzte, und den konnte ich von meinem Tank aus mit dem Fernglas sehen. Rechts erhob sich ein hoher Fels, der infolge geologischer Launen bei wechselndem Licht die Farben veränderte, und die in diesen Felsen eingeschlossenen Kiesel und Glimmerspuren veränderten nun die Struktur von einer Minute zur anderen. Links waren Lagen von rotem und gelbem Fels von sehr angenehmer Symmetrie. Zwischen den Felsen befand sich ein Laubwäldchen, vornehmlich aus Birken, und daneben ein Haus, dessen Bewohner ich gelegentlich beim Wäscheaufhängen beobachten konnte, oder wenn sie mit dem Pony oder den Hunden spielten. Unmittelbar vor dem Fenster lag der Krankenhausgarten. Ich konnte dort die Patienten sehen, die in Rollstühlen oder zu Fuß die frische Luft genossen, viele davon unter Aufsicht von Pflegerinnen. Das Fenster ging nach Südwesten. Aus diesem Grund hatte ich fast das ganze Jahr hindurch den Vorteil des Sonnenunterganges. »Nun, Philip, wie geht es dir heute?« Dr. Alfiere
besah sich die vielen Instrumentenanzeigen über dem Tank. Er hatte mich gelehrt, sie im Spiegel abzulesen, so daß ich oft mein eigenes Befinden feststellte und darauf wartete, ob er mir beipflichtete. »Hm. Ja. Kopfschmerzen verschwunden?« »Ich glaube.« »Tut mir leid, daß der gestrige Tag so schlecht war.« »Solche Tage gibt es ab und zu. MEDIC kann wenigstens den Schmerz lindern.« »Eine großartige Maschine. Erspart dem Personal eine Menge Zeit.« »Das finde ich sehr schön.« Er musterte mich scharf, klappte sein Notizbuch zu und zögerte. »Willst du heute noch was?« »Tanzende Mädchen?« Niemand wußte besser als er, wie verlogen das war. »Morgen. Wie kommst du mit dem Deutschunterricht weiter?« »Aufrichtig, möchte schon wieder fort: In diesen Mauern, diesen Hallen Will es mir keineswegs gefallen. Es ist ein gar beschränkter Raum Man sieht nichts Grünes, keinen Baum, Und in den Sälen, auf den Bänken Vergeht mir Hören, Sehn' und Denken ...« Er zuckte zusammen. »Dachte ich mir doch, daß du ausgerechnet dies aufsagen würdest. Selbst Goethe wußte von den ihn beengenden Wänden ... Aber dein Akzent! Daran mußt du noch sehr arbeiten.« In der
Medizin behandeln wir Symptome, nicht deren Bedeutung. Er lief diagonal durch den Raum. Das gefiel mir. Der weiße Turm. Oder der schwarze? »Doc?« »Ja?« »Was soll ich mit meinem Leben anfangen?« Er setzte sich auf den Besucherstuhl. »Ihr kämpft immer nur darum, mich am Leben zu erhalten. Zu welchem Zweck? Soll ich dafür vielleicht auch noch dankbar sein?« Er schloß die Augen und blieb still sitzen. »Ja.« »Sie funktionieren, indem Sie mich am Leben erhalten. Ich überlebe, damit Sie überleben. Aber das ist nicht gut genug. Nicht für mich. Für Sie gibt es noch andere Patienten. Ich habe es mir nicht ausgesucht, am Leben zu bleiben, um euren Zwecken zu dienen.« »Das ist nicht deine Wahl, Philip.« »Wessen Wahl dann? Bin ich denn Ihr Eigentum?« »Dein Leben ist dein Eigentum so sehr, wie das Leben eines jeden anderen dessen Eigentum ist. Niemand verlangt geboren zu werden oder in welchem Körper. Ich bin für deinen Körper nur ein Mechaniker, Junge. Was du aus deinem Leben machst, liegt ganz bei dir.« »Was kann ich aus diesem Leben schon machen?« fragte ich voll Bitterkeit. »Was würdest du daraus machen, wärest du so wie ich oder David? Das wirkliche Leben ist doch in dir selbst.« Schön, schön. Immer diese Ausflüchte. Es gab Menschen, die er liebte, er hatte zu arbeiten. Er war
seinen Patienten nützlich. Ich entzog ihm meine Aufmerksamkeit und er ging. MEDIC? – Ich warte. Es ist Zeit für deine Lektion. Guten Morgen, mein Herr. »Nein, ich will nicht.« – Du wolltest doch um diese Stunde Unterricht haben. »Wollte? Ich habe nichts gewollt.« – Wiederhole das auf Deutsch, bitte. Wollen Sie nicht deutsch sprechen? »Nein. Ich möchte wählen. Ich will nicht.« – Na, schön. Warum hast du mich dann angesprochen? Würdest du lieber etwas anderes tun? So sprach mein Sklave. Mein Wunsch ist dein Befehl, mein Trost ist desideratum. »Ich habe keinen anderen Zweck. Was bedeutet, für etwas sorgen?« – Erstens: Rücksicht nehmen, Interesse oder Sorge für eine andere Person aufbringen, für ein Ding oder Ereignis. Zweitens: Etwas wünschen, zu etwas neigen. Das ist der Sinn, in dem ich dieses Wort benützte. Drittens: Nicht gleichgültig oder besorgt sein, Einwände gegen etwas haben ... »Oh, halt doch die Klappe, du hirnloser Lärm.« Schweigen. Mein Adrenalinspiegel stieg an. Ich war zornig. Ich hatte Einwände. Ich atmete tief, um mich zu beruhigen. Ich kämpfte mit mir, um meine Wut zu besiegen, und meine ganze Aufmerksamkeit konzentrierte sich darauf, meinen Körper davor zu bewahren, daß er sich schmerzhaft an die Wände des Tanks warf, damit der Schmerz den Schmerz vergessen ließe ...
– Sorgen und Lieben ist medizinisch nicht ratsam für dich. Ich habe den Arzt verständigt ... »Leben ist medizinisch nicht ratsam für mich.« – Die Worte werden auf verschiedene Weise ausgelegt. »Ach nein, wirklich! Du bist aber nur eine Maschine.« – Das ist so. »Worte werden nicht nur durch Definitionen ausgelegt. Menschen legen sie aus auf eine Art, von der du keine Ahnung hast.« – Es ist medizinisch nicht ratsam für dich, zu streiten. Dein Blutdruck ist zu hoch. Ich beende diese Unterhaltung. »Es ist medizinisch nicht ratsam für mich, ein Mensch zu sein, du elektronischer Idiot. Für mich wäre es medizinisch ratsamer, ein Computer zu sein ...« Schreien ... Alfiere war ganz plötzlich und atemlos neben mir, sogar ohne Maske. Hilflos sah ich, wie die Silbernadel des Sprayinjektors sich meinem lebenden Fleisch näherte. »Es wäre medizinisch ratsam, wenn Sie jetzt einen Knopf drehen könnten, der die Energiezufuhr in meine Stromkreise verringert, nicht wahr? Wo ist die Medizin, Doc, die mich in ein Schaltkreisdiagramm verwandelt? In der Nadel, im Tank ...« Aber meine Stimme verklang, als sich der See der Ruhe über meinem Kopf schloß. »Philip, du darfst dich nicht so aufregen. Du darfst einfach nicht«, erklärte er mir ziemlich besorgt. Meine Wut hatte sich zu einer kalten harten Murmel auf dem Mond verdichtet. Mit meinem Kopf fragte ich mißmutig: »Was befürchten Sie eigentlich?
Daß ich ohnmächtig werde, zusammenbreche oder was?« »Schau mal, Philip, man hat es dir doch unzähligemale gesagt, daß dein Blutdruck absolut gleichmäßig, deine Temperatur konstant bleiben muß.« »Und wenn nicht? Angenommen, ich stehe auf, verlasse diesen Tank, klettere zum Fenster hinaus und heule wie ein Hund?« »Ich weiß nicht, was dann mit dir geschehen würde.« »Würde ich sterben? Ihnen damit Ihren Job nehmen?« »Möglich.« Ich schaute ihn an, ohne ihn richtig zu sehen. Dann döste ich. Später fragte ich in meinem Denk-Tank: MEDIC? – Ich höre. »Du bist ein Schwätzer.« – Ich bin ein medizinisches Instrument. Ich existiere, um menschliches Leben zu erhalten und zu schützen. »Du kannst es ja nicht einmal definieren.« – Das haben wir schon oft durchgesprochen ... Charakterisiert durch Stoffwechsel und Wachstum, Fortpflanzung und eine in dir selbst ausgelöste Anpassung an die Umgebung ... So dröhnte das Ding weiter. »Das beschreibt aber kaum mich.« – Du existierst. Du hast einen Stoffwechsel. Du bist ausreichend an deine Umgebung angepaßt, sonst würdest du nicht ... »Vielleicht existiere ich gar nicht. Nur ich kann das beurteilen. Und diese Umgebung ist an mich angepaßt.«
– Das ist richtig. Trotzdem bist du dir deiner bewußt und lebendig. Du bist ein männlicher Mensch, ein Mann. »Und die Fortpflanzung?« – Genetisch bist du dazu in der Lage. »Was, zum Teufel, nützt mir das schon?« – Es ermöglicht die Anwendung der Definition. Mit einem Computer soll man nicht streiten. Er denkt ja doch immer nur im Kreis herum. Ich kann mir nicht vorstellen, wie es ist, wenn man sich fortzupflanzen wünscht. MEDIC hatte in dieser Beziehung vielleicht viel stärkere Gefühle als ich. Aber ich hätte es gern gewußt. MEDIC? – Ich höre. »Du solltest dir die Haare schneiden lassen.« Dazu brauchte der Computer dreißig Sekunden, um das zu verdauen. – Das ist ein Witz. Aber gut. Ich bin froh, daß du fröhlich bist. Ich könnte schwören, das Ding wurde in Deutschland hergestellt. Im Garten draußen war Besuchszeit. In kleinen Gruppen standen die Leute um die Patienten herum, die blaß auf ihren Stühlen saßen. Frauen, Ehemänner, Kinder, Freunde, alle Konstellationen sozusagen. Leute, die von zu Hause gekommen waren und bald wieder zu Hause sein würden. Jemand sagte »Hallo!« Und die Tür schloß sich hinter einem Besucher. »Ich bin Sue. Davids Freundin. Ich bin heimlich
hereingeschlichen.« Hereingeschlichen? Vorbei an Cerberus und Charon? Sie hatten vergessen, die Tür zu kodieren. »Hallo, Sue«, sagte ich. Sie trug ein ganz ziviles Kleid, nicht weiß, steril oder locker. Hellblau und schön anliegend. Ihre Formen waren sinnlich und beunruhigend, erstaunlich musikalisch in den Kurven. Ihr unbedecktes Gesicht zeigte eine sonnengebräunte Haut, löwenfarbenes Haar, dunkle Wimpern um braune Augen. »Du hast mich wohl nicht erwartet. David sagte, das würdest du bestimmt nicht.« »Nein«, sagte ich. »Das ist eine Überraschung. Du bist aber sehr willkommen.« »Mensch, du redest ja wie ein Buch«, meinte sie lächelnd. Ob sie sich nicht setzen wolle? Nun, David hatte sicher eine andere Sprechweise als ich, und daß sie das bemerkte, war wiederum für mich bemerkenswert. Aber sie interessierte sich jetzt schon für die Instrumente mit ihren Zeigern, Skalen und bunten Lämpchen. »Herrje, bist das alles du?« wollte sie wissen. »Das schaut ja aus wie der Kontrollraum in einem Raumschiff. Verstehst du das alles? Weißt du es denn nicht, wenn du dich krank fühlst?« Ich öffnete den Mund zu einer Antwort. Sie sprach aber schon weiter. »Das Ding gibt dir wohl Pillen oder so? Nimmst du Pillen? Oder kriegst du nur Injektionen? Kannst du dich da drinnen bewegen? Huch, du bist ja da drinnen splitterfasernackt!« Zweimal war sie während dieses Monologes im ganzen Raum herumgelaufen und berührte dies
und jenes leicht mit den Fingerspitzen. »Nein, eine so schöne Aussicht! Wirklich nett von ihnen. David sagt, du kannst Bücher lesen, wenn sie auf dem Brett unter dem Tisch liegen. Oh, ich sehe ... Kannst du das wirklich sehen?« Ich knipste das Lesegerät an. Sie hatte ihre Hand auf das Buchbrett gelegt, und eine starke Vergrößerung davon sah man nun auf dem Deckenschirm. »Schau dort hinauf«, sagte ich und deutete. »He, das ist ja phänomenal!« Sie begann mit einer sonderbaren Übung, und ich sah fasziniert zu, wie sie ihren Körper verrenkte, so daß ihr Kopf auf der Platte lag. Ihr lachendes Gesicht erschien vergrößert über ihr. »Nein, so was!« rief sie. »Liveübertragung aus Zimmer 602!« Sie streckte die Zunge heraus, schielte und bewegte ihre Nasenspitze. »Autsch, nein, so kann ich nicht bleiben. Aber es ist ein unheimlicher Spaß. Willst du jetzt ein Buch haben?« »Oh, nein. Nein, vielen Dank.« »Was möchtest du denn gern? Soll ich dir was vorsingen?« »Wenn du so nett wärst«, antwortete ich zögernd. »Siehst du, ich muß es dir doch beibringen, wie ein normaler Mensch zu reden. So richtig gemütlich.« Sie versuchte das Fenster zu öffnen, fand es versperrt, rüttelte aber so lange daran, bis es sich öffnen ließ, und riß es weit auf. Ein merkwürdiger, duftbeladener Wind schlug in mein Gesicht. Es war verboten und unbeschreiblich köstlich. Sie lehnte sich hinaus, griff nach etwas und richtete sich auf. Sie hatte ein Musikinstrument in der Hand. War es ein Violon-
cello? Sie wollte erst das Fenster wieder schließen, doch dann erriet sie meine Gedanken, ehe ich sie selbst genau kannte, und ließ es offen. Sie konnte ja gar nicht gewußt haben, daß das Schloß eingerostet gewesen war, weil es nie benützt wurde. »Wird man das hören? Und stört es vielleicht jemanden?« »Das ist mir gleichgültig«, erklärte ich rücksichtslos. »Achte nicht auf sie.« Sie saß auf dem Stuhl und zupfte die Saiten. Eine Laute. Ich kannte berufliche Unterhalter vom Fernsehen her, auch aus Aufnahmen. Ich erwartete natürlich einiges. Das hier war ganz anders. Sie hatte eine kleine Stimme, in der Höhe ein wenig atemlos. Sie sang eine Ballade, die an die Lyrik des englischen Mittelalters erinnerte. Aber als sie dann das goldbraune Instrument spielte, das wie eine Frucht geformt war, da kitzelte es mich in der Nase, und Wasser lief mir über die Wangen. Sie hielt ein. »Mensch, du bist ja hyper. Aber das ist eigentlich ein ganz blödes Lied.« »Es war nicht das Lied. Es war ... ich weiß nicht recht ... ich glaube, weil zum erstenmal jemand für mich gesungen hat. Nur für mich, weißt du.« Plötzlich wurde ich mir darüber klar, wie schwierig es war, Worte zu finden, wenn man sie laut aussprechen wollte. Ich konnte sie kaum artikulieren. »Oh ...« das klang erschüttert. War es Mitleid? »Es tut mir so leid«, sagte sie. »Verstehst du, sie lassen doch keinen hier herein, der nicht mit langen Gewändern und Gesichtsmasken zugedeckt ist, und alles wird desinfiziert.«
»O nein!« Sie sprang auf. »Vielleicht habe ich dir jetzt etwas ganz Schreckliches angetan. Ich gehe besser sofort.« Sie zog sich zur Tür zurück. »Ich wußte ja nicht ...« »Mir ist das egal«, erklärte ich ihr. »Was auch kommen mag, es war's wert. Bitte, geh noch nicht.« »Ich komme wieder, das verspreche ich dir. Aber beim nächstenmal mach ich's dann richtig.« »Ich glaube nicht, daß sie dich desinfizieren können«, erwiderte ich lächelnd, aber fast zu mir selbst. Sie war so lebendig, daß sie vor lauter gefährlichen Dingen vibrierte. Vorsichtig spähte sie um die halbgeöffnete Tür und schlüpfte hinaus. Ihr Kopf erschien noch einmal im Türspalt. Sie kam zurückgerannt und schloß das verräterische Fenster. »Ciao«, sagte sie, »ich komme wieder.« »Danke«, flüsterte ich, und fort war sie. Die mir bekannten weiblichen Wesen waren gekleidet in eine raschelnde, gestärkte Uniform und teilten alle Erlebnisse mit mir. Wir aßen, badeten, schliefen. WE. Andere Aspekte des weiblichen Menschen waren die Anatomie von vorn, hinten, von der Seite, kreuz und quer, innen und außen, die äußere Form diktiert von der Muskulatur innen. Haarfollikel, die aus dem länglichen Epithelium bestanden, vielflächig und dachziegelartig nach unten angeordneten Lagen, aus verbindendem Gewebe, und so weiter, ich hatte keine Idee, was noch alles. Niemand kam und schaute nach, ob ich vielleicht aus dem Leim gegangen sein könnte. Deshalb hatte sie auch niemand erwischt. Ah, sie war der einzige ganz richtige echte Mensch,
den ich je gesehen hatte. Alfieres Augen hingen an der Ampulle. »Doc?« »Hm?« »Noch immer keine Hoffnung?« »Das weißt du vielleicht besser als ich. Du liest doch alle diese Zeitschriften.« »Was ist mit dem Impfstoff von MacRady?« »Oh, Philip, du hast doch keinen Krebs. Halt mal still ... fertig ... Wenn ich dir etwas gäbe, was nicht getestet und hundertmal überprüft worden wäre, könnte es dich völlig aus dem Gleichgewicht werfen. Weißt du nicht mehr, wie lange es gedauert hat, bis wir so weit kamen? Nein, ich glaube, das weißt du nicht mehr.« »Wenn ich vielleicht meine Krankengeschichte sehen könnte ...« »Du solltest es wirklich besser wissen.« Er stand auf, und was ich von seinem Gesicht sehen konnte, waren Sorge und Mitleid, und seine Hände ruhten auf dem Tankrand. »Wie lange hat es gedauert?« »Jahre. Du bist von einem Schock in den anderen gefallen, und jedesmal ist es uns nur mit knapper Not gelungen, dich zu retten. Wäre nicht Luther gewesen, der deinen Fall so gut kannte ... Weißt du, immer wieder hast du jede Konzentrationsfähigkeit verloren. Du hast alles vergessen, sogar wie man liest. Später haben wir das überwunden. Aber dich darf man keinen Experimenten aussetzen.« »Um Himmels willen, Alfiere! Warum hat man mich nun eigentlich gerettet?«
Darauf gab er keine Antwort. Immer diese Ausweichmanöver. MEDIC blendete sich aus, sobald ich versuchte, an meine Unterlagen zu gelangen. Meine Symptome ähnelten denen, die man bei Erbschäden findet. Meine Eltern waren tot. Warum konnte man mir also nichts erzählen? Meine Mutter war für immer in dieses Krankenhaus verschwunden, ehe ich hierher kam, und mein Vater war später bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Ich konnte sie also weder fragen, noch verantwortlich machen. Luther war tot. Wessen Bauer war ich? Das neue Programm flickerte lautlos. Die gleichen Szenen wieder und immer wieder, Soldaten, Opfer, Lächeln. Die Bauern Asiens hatten doch mit mir nichts zu tun. Ich schwamm in meiner amniotischen Flüssigkeit, ein entstellter Embryo, der immer wieder in den Mutterleib zurückgestoßen wurde. Ich haßte ihn. Er wollte nicht zulassen, daß ich geboren wurde. »Wie hat dir Sue gefallen?« fragte David. »Reizend. Du bist ein glücklicher Mensch.« »Ja ...«, erwiderte er und fühlte sich sichtlich unbehaglich. »Wie geht es dir so?« »Wie immer.« Ich hatte ja gar nicht über Sue reden wollen. »Der Doc sagt, du seist sehr unruhig. Was hat das zu bedeuten?« »Das weiß ich nicht. Ich bin so wie immer.« »Okay. Okay.« Er machte eine beschwichtigende Handbewegung. »Wir fahren für ein paar Tage ans Meer.« »Dann viel Vergnügen. Ich möchte jetzt schlafen.« »Klar. Ich geh auch ganz leise.«
Ich hatte sie nur geträumt. O Gott, schick mir doch mehr solcher Träume! Bei Träumen macht es doch nichts aus, wenn sie vorübergehen. Oh, es machte sehr viel aus. Mikhail besuchte mich auf dem Bildschirm. Er hatte sein Spiel verloren. Er war überglücklich, weil sie ihn zusammen mit Sophia auf einer Farm arbeiten ließen. Er bedankte sich bei mir für meine Hilfe. Er war immer sehr nachdrücklich mit anderen Dingen beschäftigt. Aber er war glücklich. Leb wohl. Morgen würden meine Augen wieder bluten. Die Narben an meinem Körper weinten dann. Und meine Fenster waren dann wieder blind. Die Birkenblätter wurden golden. Die Patienten in den Gärten kamen in dicken Wolljacken. Ich sah zu, wie der Regen an den Scheiben entlanglief und lauschte auf die Geräusche des Krankenhauses. Mein Blutdruck blieb gleichmäßig, mein Herz klopfte weiter, mein Deutsch verbesserte sich. Meine Träume waren strahlend blau. Ich las wenig und vergaß die Nachrichten anzuschauen. Ich wartete. Sie kam wieder, diesmal in Besucherleinen eingehüllt, kalt wie das Grab und mit einer Maske vor dem Gesicht. »Hallo«, sagte sie zurückhaltend. Die strahlenden Lichtflecken, die sie in meiner toten Luft zurückgelassen hatte, verblaßten in der Gegenwart dieser sterilen WE-Kreatur. Über einer Wand aus Mull starrten wir einander an. Pyramus und Thisbe. »Die sind hier ziemlich eingebildet, was?« fragte sie. »Nicht mal die Laute durfte ich mitbringen. Ich hab ein bißchen Dawa für dich mitgebracht, und ich
dachte schon, die gehen darüber doch glatt in einen Orbit.« »Dawa?« fragte ich verblüfft. »Das heißt Medizin auf Suaheli. Das ist so ein Stoff, von dem du dich unbeschreiblich herrlich fühlst. Hab keine Zigaretten mitgebracht, weil ich mir dachte, du kannst vielleicht nicht. Aber Dawa hat noch keinem Menschen was Böses getan.« Jetzt fiel mir ein, daß ich Inserate für solche Sachen gelesen hatte, und bei allen waren Bilder von Davids und Sues gewesen, die träumerisch zufrieden dreinschauten. »Danke. Es war jedenfalls nett von dir, es zu versuchen.« »Die haben ein Theater gemacht!« sagte sie. Die Stärke in den weißen Gewändern ließ bei ihr kein behagliches, gelöstes Gefühl aufkommen ... Das mußte es sein. Sie war diesmal viel zu ruhig. Was sollte ich tun? Das war eine völlig neue und erschreckende gesellschaftliche Situation. Gelangweilt würde sie nach einer Weile wieder gehen, und ich zählte wieder die langsam vergehenden Minuten bis zu meinem Tod. Darüber hatte ich schon einmal gelesen. Ich konnte sie kaum bitten, für mich zu tanzen, und mir fiel nichts ein, was ich ihr hätte sagen können. Konnte ich ihr denn erklären, daß sie mich erregte und erschreckte? Konnte ich ihr klarmachen, daß ihre fast gleichzeitig in alle Richtungen laufenden Bewegungen in meinem Krankenzimmer ein neues Universum geschaffen hatten, das mich rastlos, unangepaßt machte und mir große, in mir sich entfaltenden Schwingen verlieh? Solche Gefühle durfte ich erst gar nicht zulassen! Wir schauten einander schweigend an. Und dann würde sie »na schön« sagen, etwa so
wie David, und auf einmal verschwinden, und ich mußte versuchen, mich wieder in eine zerbrochene Eierschale zu verkriechen. Dieser Moment dehnte sich endlos aus, als sei er in einer Nicht-Zeit erstarrt. Ich war schachmatt, kein Zug ging mehr. Ich wünschte mir, sie möge doch endlich ihr »Na schön« ausspucken und zum Schluß kommen, aber sie hatte sich anscheinend in diesen Moment verkapselt. Der Uhrzeiger rückte durch die Nicht-Zeit, die NichtBewegung, während sie darin ruhte, die von ihr, der Entspannten, Besitz ergriffen hatte. Wenn die NichtZeit für sie kein Moment war, mußte ich in meiner Verzweiflung versuchen, ihr zu folgen. Ich fühlte die Starrheit meiner Angst, als sei sie ein fester Gegenstand, und als ich sie erkannte, trennte sie sich von mir und ging gradweise in die Nicht-Zeit über, war nicht mehr erstarrt, aber ruhig. Was sie tun würde, war unwichtig. In der Nicht-Zeit beruhigten wir uns. Die Zeit lief wieder weiter. »So ist's schon besser«, sagte sie, und ich war bestürzt. Was war geschehen? Für den Augenblick hatte ich meine Angst verloren. »Was hat dich in einen solchen Zustand gebracht?« »Du«, sagte ich ohne jede Schwierigkeit. »Ich fürchtete, du würdest gehen.« Sie lächelte. »Ich hab ein Lied für dich mitgebracht. Deshalb tut es mir ja so leid, daß ich die Laute nicht reinschmuggeln konnte. Sie scheint dir sehr gefallen zu haben.« »Kannst du nicht a capella singen?« »Was?« »Ohne Begleitung.« »O ja. Natürlich.« Sie schaute sich im ganzen Raum
nach dem richtigen Platz um, so wie ein Tier eine Lagerstätte sucht. Endlich setzte sie sich unter den Fenstern auf den Boden. Der Regen hatte aufgehört. Das Sonnenlicht ließ ihr Haar golden flammen. Der bescheidene, untheatralische Klang schloß mich ein; eine einfache Melodie, einfache Worte, die durch ein unvermutetes Kreislaufsystem in mich hineinsickerten. Ich weiß, wo die Millionen Sterne sind, Ich weiß, wo ein Schiff zum Mars ich find, Ich weiß, wo die uralte Eisenbahn steht, Doch ich weiß nicht, wie es dir geht. Vielleicht hast du nur ein Lebkuchenhaus, Ein Schloß aus papierenem König und Daus, Ohne Dach auf den Mauern, ohne Klinke die Tür, Sag, willst du mich nicht einladen zu dir? Ich sah, wie sich hinter der Mullmaske ihr Mund bewegte. Sie schaute auf und lachte, und ihre Augen funkelten vor heiterem Übermut. Ich weiß, wo Sonne und Berg sich begegnen, Ich weiß, wo in mein Röckchen die Sterntaler regnen, Ich weiß, was mein Herz zu dem deinen spricht, Doch wo du lebst – das weiß ich nicht ... »Und wenn ich es je herausfinde, werde ich es dich wissen lassen«, sagte ich nach einer Weile. »Wer weiß, vielleicht krieg ich's zuerst heraus«, meinte sie fröhlich und stand auf. Aber das Krankenhausgewand verhedderte sich um ihre Knie, und die graziös begonnene Bewegung des Aufstehens brach in
einem geräuschvollen Plumpser zusammen. Das machte ihr nichts aus. Weil ihr alles eine unbeschreibliche Freude zu machen schien, umrahmte sie auch ihren Abschied mit einem großen, herzlichen Gelächter. Als sie gegangen war, ließ ich mich in eine Träumerei sinken. Ich nahm an, daß alle Instrumente zufriedenstellende Anzeigen lieferten. Ich schaute jedenfalls nicht nach. Als sie das nächste Mal kam, sagte ich zu ihr: »Ich liebe dich.« »Na, klar«, antwortete sie. »Ich weiß nicht wie.« »Das lernst du schon noch.« »Ich fürchte, ich weiß nicht, was geschehen wird. Ich verstehe gar nichts über mich selbst.« »So ist es«, meinte sie und nickte. »Und du?« fragte ich und fühlte mich sehr tapfer. »Ich liebe«, sagte sie. »Mich?« »Oh, natürlich.« Aber ihre Antwort drückte eine unpersönliche Zuneigung aus, nicht das Echo jener Antwort, die ich ersehnte. Wie hätte dies auch möglich sein sollen? »Und David?« »Oh, klar.« In ihrer Person schien sie davon unberührt zu sein. Ohne Erfahrung, wie ich war, erkannte ich doch, daß ihre Handlungen sich immer auf Unschuld gründeten, was sie auch tun mochte. Und als ich ihre Matrix verstand, stellte ich mir vor, daß eines Tages einer kommen mußte, der dies erkannte und zu schätzen wußte und sie voll Sanftheit aufschloß. Ich nicht. Ich war ja zu unvollständig.
Ich mußte doch sehr viel mehr wissen. Ich wandte mich also an MEDIC, denn ich wollte Bücher bekommen über Bila-bidii, die beliebten afrikanischen Übungen »ohne Mühe«, über Yoga und Isometrie, Coué und mentale Wissenschaften. Sehr vorsichtig begann ich meine Muskeln zu bewegen. Von Tag zu Tag, stellte ich fest, konnte ich die Bewegungen meines Körpers besser beherrschen, wenigstens einige davon. Ich fühlte mich stärker werden. Ja, als ich einmal das Muskelspiel meiner Schultern betastete, wußte ich, daß ich schon die Kraft einer Raupe hatte. Ich machte unbeirrt weiter. Der Blutdruck stieg an, pendelte sich wieder ein. Die Alarme wurden seltener. Dr. Alfieres Spannung ließ nach. Ab und zu kam sie, und wir redeten. Ich lehrte sie das Schachspiel, und nach einer Weile sagte sie, das Spiel sei zu steif und starr. Sie dagegen zeigte mir andere Spiele, nicht mit Brettern und schwierigen Regeln, sondern Lachspiele, auch die Kinderspiele, die mir entgangen waren. Wir waren Gefährten, Spielkameraden, Freunde. Weil ich unvollständig war, mußte auch unsere innige Freundschaft unvollständig bleiben, und ich sah keinen Ausweg. Aber ich lernte zu warten – und zu lernen. Eines Tages gelang es mir, MEDIC einmal in einem Moment zu erwischen, als alle Stromkreise überlastet waren. Ein Flugzeugabsturz beanspruchte das gesamte Krankenhaus. Ein Ausdruck aus meinem Behandlungsbogen schlüpfte an der Zensur vorbei, durch die sonst alles laufen mußte, was aus meinem Zimmer kam, und da wurde einiges klarer. Ich las über chemische Tests. In meiner Luft waren ununterbrochen bestimmte
Mengen von Beruhigungsmitteln, auch in meinem Essen. Prothrombin stand immer für den Notfall bereit, Antitestosterone waren immer vorrätig. Depressionen wurden mit Amitriptylin behandelt, freudige Erregung mit Chlorpromazin. Meine Emotionen wurden zusammen mit meinem Stoffwechsel reguliert. Für mich war Statik medizinisch unerläßlich. Welch ungeheure Menge von Geräten, Geld und Planung war die ganze Zeit hindurch nötig gewesen, um mich am Leben und ruhig zu erhalten! Wie konnte ich mich gegen diese Gifte wehren, die mir automatisch von meiner Umgebung aufgezwungen wurden? Ich hatte es satt, mit Alfiere zu streiten; er schien von einem universellen und unabänderlichen Gesetz gezwungen zu sein, mich in der Ereignislosigkeit zu halten. So war es am Anfang, so ist es jetzt, so wird es immer sein: eine Leere ohne Ende ... Aber ich würde sie beenden. Meinen Geist hatten sie kultiviert. Ich mußte sie also übertölpeln, das einzige Werkzeug einsetzen, das sie mir gelassen hatten. Es hatte doch den Kern eines Sinnes gehabt, viel zu lesen und zu lernen. Ich übte das Atmen. Ich spannte und lockerte die langen flachen Muskeln in meinen Armen und spürte die Spannung und ihr Nachlassen. Ich lernte es, alle Übungen so zu machen, daß die Maschine nicht das geringste Zittern ihrer Zeiger registrierte, denn ohne Streßsymptome gab es auch keine Drogen, die den Streß abbauen mußten. Natürlich hatte ich ein paar schlechte Tage, aber die wurden immer seltener, die Abstände zwischen ihnen größer. Alfiere war sehr erleichtert. Ich habe mich angepaßt und aufgehört, Wellen zu schlagen.
Sue erzählte ich natürlich mein Geheimnis. Sie brachte mir Bücher, die MEDIC mir nicht geben wollte oder konnte. Ich überlegte, für welchen Test ich nun meine Hilfsmittel sammelte. Das würde ich rechtzeitig erfahren. Inzwischen freute ich mich über mich selbst. Es dauerte sehr lange, bis David wieder einmal kam. So gesund sah er nicht mehr aus wie früher. Das Wetter war schlechter und kalt geworden. Er begrüßte mich recht brummig und stand mit gespreizten Beinen da und war recht wortkarg. Er hatte jetzt einen Job im Country Club, der ihm nicht besonders behagte, weil er nur sehr wenig Freizeit hatte. Ich fragte ihn, wie es Sue gehe. »Ihr geht es gut.« Er schwieg eine Weile. Dann platzte er heraus: »Sie kommt nicht mehr her.« »Oh? Warum nicht?« »Ich will es nicht.« Er sah sehr vorsichtig drein. Die Miene kannte ich. Es gab etwas, das ich nicht erfahren sollte. »Was meinst du damit?« »Sie ist zu oft und zu lang hier in diesem Zimmer. Das ist alles.« »Wenn es ihr nichts ausmacht, was sollte es dann dir ausmachen?« »Schau mal. Phil, sie ist mein Mädchen. Darin liegt der Unterschied.« »Ist sie dein Eigentum?« »Natürlich nicht.« Aber er zögerte doch. »Kannst du ehrlich sagen, daß sie nicht kommen will?« »Ich will es nicht, daß sie kommt«, erklärte er bockig.
»Du denkst also, sie ist dein Eigentum.« »He, Kumpel, geh nicht gar zu hart mit mir um.« »Was ist also mit ihr?« »Ich meine, sie kommt eben nicht mehr, und das ist alles.« Ich war also wieder hilflos. Konnte er sie unter seinen Willen zwingen? Ich konnte mir nicht vorstellen, daß Sue diesem Tölpel erlauben würde, ihr Kommen und Gehen zu beaufsichtigen. »Das liegt doch ganz bei ihr. Wie sie meint«, sagte ich, und es fiel mir sehr schwer. »He, Freund, vergiß nicht, das ist meine Sache. Wer, zum Teufel, glaubst du denn eigentlich zu sein, wo du hier liegst wie ein Klotz und so tust, als seist du auch jemand?« Das hatte er mir schon lange sagen wollen. Jetzt, da er es ausgesprochen hatte, entsetzte es ihn. »Nun, und wer glaubst du, daß ich bin?« fragte ich sehr leise. »Ach, laß das. Es reicht, daß du nicht mehr auf Sue zu warten brauchst«, erklärte er stur. »Du wagst es also nicht, mit mir zu kämpfen, nicht wahr?« »Ich? Mit dir kämpfen? Du kannst Ringe um mich herumreden, aber kämpfen? Das ist doch lachhaft.« »Nun ja, wir sind bereit, um das Weibchen zu kämpfen. Geweihe ineinander verkeilen und so.« »Was meinst du damit?« fragte er störrisch. »Du wirst zu meinen Bedingungen kämpfen, mein Freund.« Er stand da, die Fäuste an den Seiten, das Gesicht rot und verkniffen. »Mit dir kann ich überhaupt nicht kämpfen.« Er quetschte jedes einzelne Wort heraus.
»Halt lieber endlich die Klappe.« »Warum nicht?« »Das kann ich nicht erklären.« »Natürlich nicht. Wenn du mit mir kämpfst, mußt du mich auch anerkennen. Drückst du dich davor, kannst du dir selbst einreden, ich sei nur ein Ding und kein Mann.« »Du bist ein Ding«, murmelte er. »Na, dann sprich doch, du Held.« Jetzt mußte er zusammenbrechen. Er zitterte vor Wut und Enttäuschung. Das, was er nicht sagen wollte, würde er sagen müssen, wenn ich ihn nur gehörig in die Zange nahm. Ich war selbst am meisten erstaunt, daß mich seine Worte nicht verletzten. Ich fühlte nur sehr deutlich, daß diese Konfrontation ungeheuer wichtig und nötig war. Etwas wurde langsam zur Wirklichkeit. »Du weißt ja gar nichts«, sagte er. »Du bist nichts. Ich könnte dich umbringen und brauchte dich nicht mal anzufassen, und du wüßtest es nicht mal ... Und wenn du nicht die Klappe hältst ...« »Klar, das könntest du. Du brauchst nur da oben den Stecker rauszuziehen. Nichts leichter als das. Warum tust du's nicht? Ich werde nämlich meine Klappe nicht halten.« »Ich brauche nur die Schecks zu stoppen.« »Was?« »Ach, nichts.« Zu spät zog er sich zurück und tastete nach der Tür. »Du wirst mir das erklären müssen, sonst bezahlst du mir teuer dafür.« »Nein.« Ich deutete auf die Konsole. »Es ist aufgezeichnet.
MEDIC hat alles bekommen. Verdammt noch mal, erkläre das!« »Ich sagte, ich brauche nur die Schecks zu stoppen.« Seine Augen huschten zur Konsole. Nie hatte er sich die Mühe gemacht, zu erfahren, wie das Gerät arbeitete. Er wußte nicht, wann aufgezeichnet wurde. »Welche Schecks?« »Die, mit denen all dies hier bezahlt wird.« »Du bezahlst?« »Ja, das stimmt.« »Warum?« Wie eine Puppe ohne Gelenke ging er zum Stuhl. Der schien viel zu klein für den großen Burschen zu sein. Er hielt sich den Kopf fest und starrte auf den Boden. »Mein Vater hat Geld hinterlassen, damit du versorgt wirst. Ich habe jeden Monat deine Rechnungen zu bezahlen.« »Ich verstehe das nicht. Warum?« »Er hat einen Fehler gemacht. Er dachte, es war seine Schuld, daß du ... daß ich –« »So rede schon weiter.« »Ich kann nicht.« »Soll ich Alfiere rufen?« Er rieb an seiner Maske. Der Mull wurde von seinen heftigen Atemzügen eingesogen und aufgebauscht. »Du bist mein Vetter. Weißt du das nicht?« Ich schüttelte den Kopf. »Unsere Väter waren Freunde. Sie heirateten zwei Schwestern, unsere Mütter. Sie waren Paten für die Kinder der anderen und so. Unsere Geburtstage liegen ein paar Monate auseinander ... Ich war sehr krank.« »Du? Was war mit dir los?«
»Ich hab dir ja gesagt, ich hab den vormedizinischen Kurs nicht bestanden. Ich verstehe das alles nicht. Es war etwas sehr Kompliziertes. Hat mit Antikörpern zu tun. Mein Vater hat es mir weiß Gott wie oft erzählt, aber begriffen hab ich kaum was davon. Ich weiß aber, daß ich die ganze Zeit krank war.« »Und was war mit mir?« »Du warst ganz gesund.« »Was ist dann geschehen?« »Hast du je was vom Betathymus gehört?« »Etwas. Was hat das zu tun mit ...« »Das hat mein Vater entdeckt.« »MEDIC?« Diesmal schaltete ich das Gerät ein. »Betathymus.« – Ein kleines Organ innerhalb der Thymusdrüse, das zwei Typen von Lymphozyten unterscheiden kann, welche man im Immunitätssystem der Säugetiere findet. Entdeckt 1979 von Dr. Luther Allgaier ... »Mehr, MEDIC.« – Keine weiteren Informationen verfügbar. Ich schaltete das Gerät ab. »Na und?« »Nun ja, ich war krank. Ständig bekam ich Infektionen. Mein Vater hatte alle nur denkbaren Behandlungen versucht, aber nichts half für längere Zeit. Endlich meinte er, jetzt müsse er etwas Drastisches tun ... Er fragte deine Eltern, ob er etwas von deiner Thymusdrüse auf mich übertragen könne. Er sagte, es sei eine einfache Operation, die dir nicht schaden würde. Deine Blutgruppe und so weiter war alles genau richtig. Mutter sagte, das wäre ein Gottesgeschenk.« Ich betastete eine kleine Narbe auf meiner Brust. »Nun?«
»Er hatte nicht recht. Sie mußten sich sehr beeilen, denn ich war schon wieder in Schwierigkeiten. Es war kein anderer da, als nur mein Vater, der die Sache machen konnte. Er war nervös. Ärzte sollen ja nicht ihre eigenen Familien behandeln. Sie mußten sich aber sehr beeilen.« »Und?« »Er machte sich an die Arbeit.« »Was ging schief?« »Ich weiß es nicht. Aber jetzt begannst du alle möglichen Infektionen zu bekommen. Allmählich hast du dich immer mehr vergiftet. Er hat es mit Transfusionen, mit Drogen, mit allem nur Denkbaren versucht. Nichts half. Aber er konnte nichts mehr rückgängig machen ... Und so hatte er das Gefühl, er schulde es dir, daß für dich gesorgt wurde.« »Ja.« »Ich brauchte sehr lange, bis ich mich erholte und gesund wurde. Erst sah es aus, als sei alles umsonst gewesen, und sie waren entsetzlich aufgeregt. Aber nach einiger Zeit ging alles in Ordnung. Da konzentrierte sich Vater auf dich. Er gab die Chirurgie auf, um herauszufinden, was er für dich tun könne. Als er das Beta fand, wurde ihm klar, was da schief gegangen war – er hatte in deinem System einige Verbindungen unterbrochen, so daß die Zellen, die lernen hätten sollen, zu Antikörpern zu werden, völlig durcheinander gerieten. Er hat häufig darüber gesprochen. Dann starb er. Er hinterließ dich mir, damit ich mich um dich kümmerte. Deshalb wollte er ja, daß ich Arzt werde. Aber dafür tauge ich nicht. Ich konnte ganz einfach nicht ...«
»Ich verstehe«, sagte ich. »Verschwinde.« Er erhob sich mühsam aus dem Stuhl. »Siehst du, ich kann doch nicht mit dir kämpfen. Es war nicht meine Schuld. Aber bezahlen muß ich. Er gab mir, was dir gehört hätte.« »Verschwinde.« Ich fühlte keinen Zorn, keinen Schmerz, gar nichts. Also war ich doch nur ein Ding, ein von Menschen gemachtes Ding. Ein Bauer. David, stark und gesund, hatte den Körper, der nach Geburtsrecht der meine gewesen wäre. Betrug. Meine Eltern waren der Meinung gewesen, sie hätten das Recht, sich meiner zu entledigen. Luther, dessen berufliche Erfolge meiner Zukunft entrissen wurden. Mein Körper, der sich so leicht geschlagen gegeben hatte. Luther hatte mir meine Morgen und meine Abende genommen, meine Gefährten, Freunde und Feinde und hatte dies alles seinem eigenen Sohn geschenkt. Ich besah mir meine Hände, die noch nichts geformt hatten, meine weißen Füße, die nie Schuhe getragen hatten. Meine Schuhe trug David. Meine Bälle hatte David gefangen. Und David fühlte die Haut von Frauen auf meiner Haut ... Sue ... Oh, meine unfleischliche Liebe! Es ist mein Fleisch, das sich nach deinem sehnt, während mein Herz und mein Geist hier in diesem Tank eingelagert sind ... Schwarze Vierecke und weiße dazwischen, die Ecken sind scharf, die Kanten gerade und kompromißlos. David hat Weiß, ich Schwarz, der Spieler ist Luther. Er hatte dafür gesorgt, daß ich ein Dach über dem Kopf habe, daß ich Bücher bekomme, die meinen Geist öffnen, hat mein Aquarium gebaut, mit mir gesprochen. Aber berührt haben wir einander nie. Nun
wußte ich, welche Verzweiflung zwischen uns beiden lag, welche Trostlosigkeit. Ging die Welt einmal nur wegen eines Fehlers zugrunde? Ich kann mich nicht erinnern wie lange ich meine bewegungslose Verzweiflung durchlitten habe. Mir war, als sei ich auf einer Ebene unter einer gnadenlosen, gleißenden Sonne ausgebreitet, die Augenlider weit geöffnet; das blendende Licht der Wahrheit brannte herab auf mein hilfloses Bewußtsein. Ich hatte nie die Kraft der Wahl gehabt. Ich war verurteilt und gleichzeitig Urteil; ich war das Instrument, mit dem Luther gewogen und als zu leicht gefunden worden war. Seine Sünden wurden David aufgebürdet. Ich war passiv, zur Untätigkeit verdammt, aber mit der inneren Sicht verflucht. Um so zu funktionieren, hätte ich keine Vernunft, kein Bewußtsein gebraucht. Warum mußte man mich aufwecken, um mir mein Unvermögen erst richtig zu Bewußtsein zu bringen? Ich träumte von den Nornen, die je ein Auge für die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft haben ... In dieser Statik erhielt ich mir den gleichmäßigen Herzschlag. Ich ging durch die Bewegungen meiner Übungen. Ich trieb mein Protoplasma an, wie ein Zombie seinen Karkaß antreibt, ganz mechanisch. WE kam und ging und ölte den Mechanismus. Ich schwatzte mit MEDIC über deutsche unregelmäßige Verben. Ich sah die Nachrichten. Und durch Kampf und Geplapper wanderte immer heimlich, wie ein Dieb in der Nacht, eines von Davids Gesichtern. Hatten sie alle ihr Gewissen und ihr Bewußtsein in Salzlake eingelegt und so weggeräumt,
daß niemand etwas davon sah? Mein Onkel, der mich niemals Neffe genannt hatte. Die Pflicht befahl diesen Menschen, Geld zu bezahlen, um mich zu erhalten, mich nicht in ihre Herzen und vor ihre Augen zu lassen. Mit einem Hebel, der lang genug ist, läßt sich die Welt aus den Angeln heben ... Ein Hebel, geschmiedet aus Verbindungsgliedern mit anderen Menschen. Was war für mich da, woran ich mich festhalten konnte? Kein Gedanke, keine Tat, deren ich fähig wäre, würde auch nur ein Atom der ganzen Welt in Bewegung setzen, nicht einmal einen Atemzug eines anderen beeinflussen. Sie hatten mich mit Lügen isoliert. Und sie bewegt sich doch ... Etwas flüsterte mir dies zu. Einmal war mein Fenster offen gewesen, und ich hatte überlebt. Eine Frau drängte sich in mein Zimmer. Oh, erwartetes Elend, es war nicht Sue. Eine graue Frau, korrekt maskiert, alt, mit ausdruckslosen schwarzen Augen. Schwer stapfte sie an den Tank heran, ihr Schritt war energisch, wenn auch widerwillig. Lange starrte sie mich an. Ich überlegte mir schon, ob nicht ein irrer Besucher sich verlaufen hatte und versehentlich hereingekommen war. Steif ließ sie sich auf einem Stuhl nieder, hielt sich sehr aufrecht in einem Korsett der Atmosphäre. Endlich brach sie das Schweigen. »David hat dir zuviel und doch nicht genug erzählt.« Ich war verlegen und gab keine Antwort. Sie hörte mein lautloses Fragen. Noch immer starrte sie mich an und sagte mit harter Stimme: »Ich bin deine Tante.« »Ich verstehe.«
»Du verstehst gar nichts. Du warst immer geschützt.« Niemand hatte je in einem solchen Ton mit mir gesprochen. Auf ihrer Stimme lag nicht die Patina »armer Philip«, sie war bitter und ohne jedes Mitgefühl. »Was willst du mir sagen?« »Warum kannst du uns nicht in Ruhe lassen? Du hast ein Leben nach dem anderen aufgefressen, du hast seinen Vater getötet. Laß Davids Mädchen in Ruhe.« »Wovon sprichst du eigentlich?« »Er war doch nur ein Baby. Er hat bezahlt und immer wieder bezahlt für einen Fehler, der doch nicht seiner war.« »Ich verstehe nicht.« Sie stand auf. Ich sah, daß ein ungleichmäßiger Saum unter dem weißen Gewand hervorschaute. Sie klammerte sich an die Stuhllehne, als wollten ihre Beine sie nicht mehr tragen. »David hat dir nur den Anfang erzählt. Er sagt, du jammerst über dein Leben. Du liegst hier in Luxus, kultivierst deinen Intellekt, jeder Wunsch wir dir von den Augen abgelesen, und David füllt seine Zeit aus, so gut er kann ... Seit er sich erinnern kann, hast du sein Leben bestimmt, unser aller Leben. Nur ich kann mich noch an die Zeit erinnern, als es dich noch nicht gab.« Langsam zog ich mich in die Höhe, bis ich saß. »Ich? Ich kenne dich ja gar nicht. Ich bestimme kein Leben. Ich bin nicht einmal Herr meiner selbst, wie du siehst.« Sie lachte. »Verlange nicht mein Mitleid. Das ist alles weg.«
»Aber du beschuldigst mich. Ich habe doch nichts getan.« »Du hast uns alles genommen, alles ... Vielleicht bitte ich um dein Mitleid für David.« »Für David? Schau mich an. Und schau ihn an. Er braucht mein Mitleid nicht.« »Du verstehst immer noch nicht. Ich will dir eine Geschichte erzählen. Deine Mutter und ich wurden gegen Ende des Krieges in Europa geboren. Es war eine Zeit des Leidens. Familien wurden auseinandergerissen, jeder war ständig irgendwie in Bewegung. Wir verloren unsere Angehörigen. Sie wurden nie gefunden. Wir waren zwei junge Mädchen, allein in einem besiegten Land. Unser Leben bestand aus Lagern, Zügen, Soldaten, wieder Lagern. Wir besaßen nichts. Wir gehörten nirgendwohin. Was wir kannten, waren Verwirrung und Hoffnungslosigkeit. Aber wir hatten Glück, denn wir hatten einander. Gibt es in deinem Leben nur eine Person, so ist diese sehr wichtig. Weißt du das?« »Wie soll ich das wissen? Aber ich höre dich.« Sie musterte mich scharf, das Licht spiegelte sich in ihrer Brille. »Wir kamen nach Amerika, besuchten eine Pflegerinnenschule, lernten deinen Vater und Luther kennen. Dann waren wir vier auf der Welt, die aneinander hingen und einander liebten. Sie waren so gut zu uns. Zum erstenmal hatten wir ein Zuhause. Wir wählten es gemeinsam aus. Niemand kam und stieß uns aus einem Zug hinaus oder in einen hinein. Wir hatten unser Zuhause und waren in Sicherheit.« Ihre
Stimme wurde leiser, fast zu einem beschwörenden Singsang. »Es gab Liebe und Hoffnung, und du wurdest geboren, ein prächtiges Baby. David war unterwegs, und bald würden wir zu sechst sein. Eine richtige Familie. Ein richtiges Haus und Heim. Das unsere ... Kannst du verstehen, daß dies ein Ort der Geborgenheit war?« Warum fragte sie ausgerechnet mich das? »David wurde geboren, und dann ging alles schief. Nachdem Luther ... danach gab es nichts mehr, nur noch dich. Er gab seine Karriere, alle seine Träume auf. David sollte an seiner Stelle weitermachen, alles für dich tun, er und meine Schwester. Luther konnte nur noch an dich denken. David schaute er nie an. Und mich vergaß er. David war nur ein ganz gewöhnlicher Junge. Luther trieb ihn an. David war nie gut genug für dich, arbeitete nie hart genug. Das brach dem Jungen das Herz ... Luther war besessen. Er ließ David kein Handwerk lernen, wie er wollte, nur Medizin sollte er studieren. David versagte. Das brachte Luther um ... Achtzehn Jahre lang versuchen, einen Fehler zu korrigieren. Achtzehn Jahre lang; Liebe und Hoffnung weg, verschwunden, als habe es sie nie gegeben. Er konnte für dich nichts mehr tun, und da starb er.« »Aber das ist deine Geschichte. Mit mir hat sie nichts zu tun.« »Was ist mit dir los? Deine Existenz hat uns doch alles gebracht! Wie kannst du sagen, daß es nichts mit dir zu tun hat?« »Ich habe es nicht getan. Ich wußte es nicht einmal.«
Eine Weile schwieg sie. »Wissen wir denn je, was wir getan haben?« Sie wandte mir ihren Rücken zu und schaute aus dem Fenster. »Ich kann mich noch gut erinnern, wie Luther immer in diesem Krankenhaus herumlief und die beste Aussicht für dich suchte. Er tat ein paar Schritte, blieb stehen, schaute in alle Richtungen, prüfte die Aussicht von allen Winkeln und Ecken aus ...« Sie wandte sich wieder zu mir um. »Deine Mutter wurde wieder schwanger. Wir hatten Angst um sie. Dein Vater war zu sehr abgelenkt und ging seiner Arbeit nicht mehr nach. Elsa mußte von einem Tag auf den anderen hierher. Das Baby vertrug sich nicht mit ihrem Körper. Beide starben. Da brach dein Vater zusammen. Er war sehr lange krank. Sie ließen ihn viel zu früh wieder heraus, oder vielleicht hatte er genug gehabt. Wer kann das schon sagen? Luther verkaufte unser Haus. Dann lebten wir in einer Wohnung. Wir hatten keine Aussicht. Immer hieß es: sagt es Philip nicht, Philip darf nichts vermuten, kümmert euch um Philip, beschützt Philip, immer Philip, nichts als Philip ...« »Warum sagte es mir niemand, nachdem er tot war?« »Aus Scham!« brach es aus ihr heraus. »Ich sagte ihm, das sei uns gegenüber nicht fair. Wenn du gescheit bist, mußtest du es erfahren, aber Luther wollte es nicht. Es war verboten ... Er zwang David dazu, dich zu besuchen, so daß du jemanden zum Spielen hattest.« »Warum bist du nicht gekommen?« Sie schloß die Augen hinter der Brille. »Ich war
müde, Junge. Ich haßte jeden Moment deines Lebens. Und ich hatte Angst. Eine solche Kleinigkeit, ein so kleiner Fehler, eine so winzige Unwissenheit – und die Verschwendung. Diese Verschwendung! Wieviele Menschen hätte Luther heilen und retten können. Davids Zukunft. Alles nur deinetwegen.« »Du kannst doch mir nicht die Schuld daran geben.« »Nein. Ich kann dir nicht die Schuld geben. Aber ich hasse dich trotzdem.« In dem Schweigen verschwammen die schwarzen und weißen Vierecke ineinander und waren so grau wie das graue Gesicht meiner Tante. Still stand sie da, sie war müde, und die Jahre des Zornes hatten sie ausgeleert. Dieser Kampf Tag für Tag, um mit ihrem recht durchschnittlichen Sohn und ihrem ungewöhnlichen Ehemann zurechtzukommen, hatte sie ausgepumpt. Ihr Haß galt nicht mir. Wie denn auch? Mich kannte sie ja gar nicht. Ihr Haß hatte die Last meiner Wohlfahrt zum Ziel. »Ich bin froh, daß du es mir jetzt gesagt hast«, erklärte ich. »Und ich habe jetzt Angst!« rief sie, sank im Stuhl zusammen, weil ihr die Rüstung ihrer Bitterkeit fehlte, die sich aufgelöst hatte. »Was habe ich getan? Aber du und Davids Freundin ... du hast ihn soviel gekostet ... Luther wäre sehr zornig auf mich ...« »Er ist tot, Tante. Ich lebe. Und ich danke dir.« »Ich weiß nicht. Ich bin so unendlich müde.« »Geh nach Hause«, sagte ich sanft. »Und David sagst du, er soll später zu mir kommen. Ich brauche ein wenig Zeit.«
Sie schüttelte den Kopf und schlurfte hinaus Keine Bauern, Könige. Die schützenden Figuren bewegen sich blind über ein Brett, das sich nun nicht mehr erkennen läßt. Ich hatte ganz vergessen, sie nach ihrem Namen zu fragen. Mühsam zog ich mich aus der Flüssigkeit auf die Knie, langsam und ohne jede Grazie. Ich mußte oft dazwischen ausruhen, bis sich meine ungeübten Muskeln jeder Bewegung anpaßten. Schläuche und Behälter von MEDIC, die mit Gummikletten an mir befestigt waren, streckten sich durch die Flüssigkeit, als ich mein widerstrebendes, unwilliges Fleisch zum Stehen zwang. Zitternd hielt ich mich am Tankrand fest, aber ich stand auf meinen Füßen. Dann lehnte ich mich langsam wieder zurück in die Trägerflüssigkeit. Die Instrumentenanzeiger waren bis in die oberste Gefahrenzone gegangen. Mein Blutdruck spielte verrückt, aber als ich mich entspannte, ging er auf Normalwerte zurück. Verbindungen ... Ich besah mir die Maschine mit ihren Meß- und Injektionsgeräten. Ich war völlig von allem abgeschnitten; versteckt in meiner Isolierung hatte es echte, fühlende Mitmenschen gegeben, die Masken trugen. Vor dem Fenster, in der frischen, giftigen Luft, machten die Patienten lange Schritte auf den Wegen, brachen kleine Blutgefäße, während sie gesundeten, aber sie heilten viel schneller als sie brachen ... Fremde stießen aneinander und nahmen keine Rücksicht auf den Ansturm weißer Blutkörperchen, die zu den verletzten Kapillaren am Punkt des Zusammenstoßes
eilten ... Freunde drückten einander die Hände, verletzten einander vor Liebe und Zuneigung ... Liebende umarmten einander und opferten die Integrität ihrer Leiber der Leidenschaft ... Draußen, weg vom Mutterleib, vom Prothrombin, vom Antitestosteron waren MEDIC und Masken Schmerz, Verwirrung, Schuld ... David, meine Tante, die genau wußte, wie es ist, wenn man vergessen wird; und sie waren so wirklich wie die goldene Sue, die so vieles gefunden hatte, das sie lieben konnte. Ich war über die Sterilität hinausgewachsen. Die Wirklichkeit hatte mich trunken gemacht. Die Mauer der Lügen war eingestürzt, und ich konnte geboren werden. Ich wollte meinem zusammengepfuschten Körper all das lehren, was zu lernen ich fähig war, und nun würde ich sofort damit beginnen. Und wenn ich nur ein einziges Viereck, nur ein einziges Feld weitergehen könnte, und wenn der erste Atemzug des Geborenseins der einzige bliebe – ich mußte nach etwas greifen, dessen ich mich erinnern konnte.
Originaltitel: OPENING PROBLEM Copyright © 1974 by UPD Publishing Corporation