Bevölkerungsexplosion und zunehmender Nahrungsmittelmangel hatten zu dem Experiment geführt. Die Teilnehmer – junge Men...
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Bevölkerungsexplosion und zunehmender Nahrungsmittelmangel hatten zu dem Experiment geführt. Die Teilnehmer – junge Menschen – hatten sich freiwillig dazu bereiterklärt. In einem mächtigen Wohnturm, – von außen mit allem Lebensnotwendigen versorgt –, sollten sie von der Außenwelt völlig abgeschnitten, aber durch Fernsehkameras in allen Räumen beobachtet, in der totalen Umwelt leben. Die Ergebnisse übertrafen schon nach kurzer Zeit die Erwartungen der Initiatoren. Das Leben in dieser totalen Umwelt nahm seinen Lauf nach völlig eigenen und anderen Gesetzen. Innerhalb von wenigen Jahren traten Mutationen ein, die den Lebensrhythmus veränderten, ließen eine Welt entstehen, die mit der draußen nichts mehr zu tun haben wollte ... trotz Rückfalls in die schlimmste Barbarei. TOTALE UMWELT von Brian W. Aldiss und weitere Science-Fiction-Stories bekannter Autoren.
In der Reihe der Ullstein Bücher: SCIENCE-FICTION-STORIES Band 1 bis Band 46 SCIENCE-FICTION-STORIES 47 (Ullstein Buch 3130) Erzählungen von Eric Frank Russell, John W. Campbell, Arthur Conan Doyle, Arthur C. Clarke SCIENCE-FICTION-STORIES 48 (Ullstein Buch 3139) Erzählungen von Robert Silverberg, Isaac Asimov. Neal Barrett jr., Clifford D. Simak SCIENCE-FICTION-STORIES 49 (Ullstein Buch 3148) Erzählungen von Larry Niven, Gerald Jonas, Theodore Sturgeon, Ron Goulart, Arthur Sellings SCIENCE-FICTION-STORIES 50 (Ullstein Buch 3153) Erzählungen von Larry Niven, James Tiptree jr., Frederik Pohl SCIENCE-FICTION-STORIES 51 (Ullstein Buch 3159) Erzählungen von Robert Sheckley, Burt Filer, Poul Anderson, Robert Silverberg, Brian W. Aldiss, Damon Knight, Samuel D. Delany, E. G. Von Wald SCIENCE-FICTION-STORIES 52 (Ullstein Buch 3166) Erzählungen von Colin Kapp, R. A. Lafferty, Sidney van Scyoc, Laurence Yep, Ryu Mitsuse SCIENCE-FICTION-STORIES 53 (Ullstein Buch 3178) Vier Erzählungen von Eric Frank Russell
Ullstein Buch Nr. 3187 im Verlag Ullstein GmbH, Frankfurt/M – Berlin – Wien Aus dem Amerikanischen von Dolf Strasser Umschlagillustration: ACE/Roehling Alle Rechte vorbehalten Alle Stories aus WORLD'S BEST SCIENCE FICTION: 1969 Copyright © 1969 by Donald A. Wollheim und Terry Carr Übersetzung © 1975 by Verlag Ullstein GmbH, Frankfurt/M – Berlin – Wien Printed in Germany 1975 Gesamtherstellung: Augsburger Druck- und Verlagshaus GmbH ISBN 3-548-03187-0
Science-FictionStories 54 von Brian W. Aldiss Fred Saberhagen Katherine MacLean Terry Carr H. H. Hollis
Herausgegeben von Walter Spiegl
ein Ullstein Buch Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!
INHALT Totale Umwelt Brian W. Aldiss ..................................................
6
Sternenlied Fred Saberhagen ................................................
75
Der Angstdetektor Katherine MacLean ............................................
94
Der Tanz des Verwandelten und der Drei Terry Carr ........................................................... 136 Schwertspiel H. H. Hollis ........................................................ 161
Brian W. Aldiss TOTALE UMWELT 1 »Was ist das für ein Gedicht über diese ›Höhlen, die für den Menschen ohne Ende sind‹?« fragte Thomas Dixit. Seine Stimme hallte in den Höhlen wider; die Frage blieb unbeantwortet. Peter Crawley, der ein oder zwei Schritte hinter ihm ging, sagte nichts, in seinen eigenen Gedanken versunken. Seit über einem Jahr war Dixit hier gefangen. Er hatte sich vom Wiederbesiedlungsgebiet beurlauben lassen, um hierher zu kommen und sich alles noch einmal anzusehen, bevor es endgültig zerstört wurde. In diesem großen Bau bewegten sich noch Menschen – hauptsächlich indische Techniker –, die Werkzeuge und Instrumente und oft auch ihre eigenen Lampen trugen. Überall lagen Kabel herum. Menschen waren hier hereingeströmt wie Wasser in eine unterirdische Höhle; mit ihnen war ihr Leben hereingeströmt, verborgen, vergessen. Der Gedanke an all das Leben bewegte Dixit ungemein. Er, fast er allein, war der Mann, der sich in all das hineingestürzt hatte und doch überlebte. Alter Ärger kam wieder hoch, und er wandte sich um und redete seinen Begleiter an: »Welch ein Denkmal menschlichen Leidens! Man sollte diesen Ort erhalten als ewiges Denkmal des Geschehenen.« Der weiße Mann sagte: »Die Regierung in Delhi weigert sich, derartiges auch nur in Betracht zu zie-
hen. Ich verstehe ihren Standpunkt; andererseits ergäbe sich hier ohne jeden Zweifel eine bemerkenswerte Touristenattraktion!« »Touristenattraktion, Mann! Ist das alles, was es Ihnen bedeutet?« Crawley lachte. »Sie sind wie immer ein wenig zu empfindlich, Thomas. Ich nehme die ganze Sache bei weitem nicht so leicht, wie Sie annehmen. Nur: Tourismus, ist für mich einfach interessanter als menschliches Leiden.« Sie gingen Seite an Seite. Sie konnten sich niemals einigen. Die narbigen Gesichter von Häusern – jetzt leer, früher einmal strotzend von Leben – sahen jetzt von beiden Seiten auf sie herab, und die Türen standen offen wie die Münder alter Männer im Schlaf. Der Raum schien riesig zu sein; die Schatten und Echos, die zu diesem Raum gehörten, schienen sich endlos fortzusetzen. Und doch, vorher ... man hatte hier kaum Raum genug zum Atmen gehabt. »Ich erinnere mich noch daran, was Ihr Freund, Senator Byrnes, sagte«, bemerkte Crawley. »Er legte dar, wie sowohl der Osten als auch der Westen aus diesem Experiment gelernt haben. Natürlich, die Soziologen sind immer noch an der Arbeit; einige bemerkenswerte Formeln für soziale Gruppen zeichnen sich bereits ab. Aber die Menschen, die hier lebten und starben, kämpften um die Beherrschung des Bereiches des Ultra-Kleinen, und auf diesem Gebiet sind die größten Fortschritte erzielt worden. Sie waren bereits dabei, die Kontrolle über ihr eigenes genetisches Material zu gewinnen. Noch eine Generation, und sie hätten vielleicht den Gipfel der automatischen Ge-
burtenkontrolle erreicht: Anoestrus, wo zu große Nähe zu anderen Exemplaren der Art zur Reabsorbtion des Embryo-Materials in der Frau führt. Unsere Wissenschaftler konnten ihnen da helfen, und Genetiker sagen voraus, daß in weiteren zehn Jahren ...« »Ja, ja, alles zugegeben. Fortschritt ist wunderbar.« Er war sich bewußt, daß er unhöflich war. Diese Dinge waren wichtig, von revolutionärer Bedeutung für eine übervölkerte Erde. Dennoch wünschte er, er hätte allein durch diese erodierten Gänge schreiten können. Gewiß, Peter Crawley hatte recht, wenn er sagte, daß auch Indien dazugelernt hatte. Der Hinduismus war hier auf die Probe gestellt worden und hatte seine großen Stärken und Schwächen gezeigt. In diesen Labyrinthen waren die Menschen auch unter tödlichen Bedingungen nicht zerbrochen – noch hatten sie daran gedacht, sich ihrem Schicksal zu entziehen. Dharma – die Pflicht – war stärker gewesen als Menschlichkeit. Und diese Erkenntnis veränderte bereits Denken und Schicksal eines Sechstels der menschlichen Rasse. Er sagte: »Fortschritt ist wunderbar. Aber was sich hier ereignet hat, war im wesentlichen eine religiöse Erfahrung.« Crawleys kurzes Lachen verhallte in den Schatten eines großen, düsteren Treppenschachts. »Ich wette, Sie dachten anders, als wir Sie vor einem Jahr hierherschickten!« Wie hatte er damals gedacht? Er blieb stehen und starrte in das Dunkel der Treppe hinauf. Und es kam die Erinnerung an jene erschreckende Flut von Leben und an die Menschen, die ein Teil davon gewesen
waren, deren kurze Jahre in diesen Höhlen verflogen waren, deren Füße endlos über diese labyrinthischen Wege gehuscht waren, diesen Boden, diese verfallenden Gänge ... 2 Die Betonstufen führten hinauf in die Dunkelheit. Sie waren breit, und zahllose Kinder saßen darauf, apathisch gegeneinander gelehnt. Um diese Stunde herrschte wenig Leben und Treiben, und sogar die Schreie der kleinen Kinder waren jetzt weniger laut. Dennoch, es herrschte keine Stille auf den Stufen; niemals gab es hier völlige Stille. Stets waren im Hintergrund Stimmen zu vernehmen. Stimmen und noch mehr Stimmen. Niemals Stille. Shamim war bejahrt und zog es deshalb vor, ihre Gänge um diese Tageszeit zu unternehmen, wo das Gedränge in der totalen Umwelt geringer war. Sie verweilte bei einem schläfrigen Verkäufer von Lebens-Objekten am Fuße der Stufen, besah sich die kleinen Artefakte und stieß von Zeit zu Zeit einen halblauten Ruf aus. Der Händler kannte sie, wußte, daß sie zu arm war, um zu kaufen, drängte sie gar nicht dazu. Shamims älteste Tochter Malti wartete am Fuße der Stufen auf ihre Mutter. Von der obersten Stufe aus beobachtete jemand Malti und ihre Mutter. Ein Licht brannte am oberen Ende der Treppe. Durch ein starkes Drahtgitter vor Beschädigung geschützt, brannte es seit fünfundzwanzig Jahren dort. In letzter Zeit freilich hatte man es mit Dung und
Schmutz beworfen, die es fast völlig bedeckten, so daß das obere Ende der Treppe im Dunkeln blieb. Ein Mann namens Narayan Farhad kauerte dort verstohlen und sah hinunter, ein Schatten in den Schatten. Vor einem Monat hatte sich Shamim in einem der dumpfen engen Räume beim Großen Balkon ihres Decks einer illegalen Operation unterzogen. Die Nachwirkungen dieser Operation waren noch nicht überwunden; unter ihrem einfachen Baumwoll-Sari war ihr dünner, dunkelhäutiger alter Körper gebeugt. Ihr Lebensmaß war jetzt noch geringer als zuvor. Malti war ihre zweitälteste Tochter, ein bescheidenes Mädchen, das noch nicht empfangen war, als das Experiment mit der totalen Umwelt begann. Aber selbst ihre Demut hatte Grenzen. Als sie ihre Mutter so sinnlos herumstehen sah, murmelte Malti ein paar ungeduldige Worte und ging weiter, stieg zwischen den zahllosen Kindern hindurch die Stufen hinauf, bestrebt, nach Hause zu kommen. Auszüge aus Thomas Dixits Bericht an Senator Jacob Byrnes: Um das Habitat aufzulockern, ist das Environment in zehn »Decks« aufgeteilt worden. Jedes Deck ist fünf Stock hoch, was da und dort einen winzigen freien Raum ermöglicht. Die Architektur der einzelnen Decks ist verschieden. Auf einem befindet sich eine Art vergrößertes indisches Dorf; auf einem anderen sind die Häuser groß und scheinen einzeln zu stehen, obgleich sie zwischen die Decks eingezwängt sind – ich brauche wohl nicht zu erwähnen, daß sie jetzt hoffnungslos überfüllt sind. In den meisten Decks ist der verfügbare Raum völlig mit Wohnungen ausgefüllt. Trotz dieser Bemühung um Abwechslung hat eine völlige Verballhornung östli-
chen und westlichen Architekturstils und die Tatsache, daß alles aus wirtschaftlichen Gründen aus Beton oder Parastyren erstellt wurde, zu einer erschreckenden Monotonie geführt. Ich kann mir keine den geistigen Werten des Lebens feindlichere Umgebung vorstellen. Der Schatten in den Schatten bewegte sich. Vorsichtig sah er hinauf zu dem Licht, das auch ein Guckloch enthielt. Bald würde es eine öffentliche Verwarnung geben, Sprays würden den Dreck beseitigen, den er auf die Anlage geworfen hatte. Für den Augenblick aber war er unbeobachtet. Narayan entblößte seine alten Zähne, als Malti zwischen den Kindern hindurch die Treppe heraufkam. Sie war zu alt, um auf dem Sklavenmarkt einen wirklich guten Preis zu erzielen, aber immer noch kräftig; er würde sie sicherlich sofort loskriegen. Natürlich wußte er etwas über ihre Geschichte, obwohl sie in einem anderen Deck lebte. »Malti!« Er rief den Namen aus, und gleichzeitig stürzte er sich auf sie. Wenn Narayan auch alt war, so war er doch flink. Er trug nur seinen Dhoti, und seine Arme umfingen die ihren, hoben sie hoch mit einem Ruck. Jetzt rannte er die restlichen Stufen hinauf, verschloß ihr mit einer Hand den Mund, um ihren Angstschrei zu ersticken. Cleverer alter Narayan! In den vier Ecken der totalen Umwelt verbinden Treppen Deck mit Deck. Die ursprüngliche Plastikverkleidung ist längst heruntergerissen worden, so daß der darunterliegende Stahl und Beton einen unwirtlichen Eindruck machen. Diese Treppen sind die schwachen Punkte der kleinen,
vergänglichen und brutalen Herrschaftssysteme, die sich auf jedem Deck formen. Sie sind stets bewacht, aber Wachen kann man bestechen. Manchmal bemächtigen sich Banden oder »Vereinigungen« einer Treppe, entweder durch Übereinkunft oder Blutvergießen. Shamims Schrei beantwortete den ihrer Tochter. Sie begann, so schnell sie konnte, die Treppen hinaufzukeuchen, stolperte über Kinderfüße, zog einen Dolch aus ihrem Sari hervor. Es war ein Plastikdolch, gemacht aus einem Stück des Environments. Sie rief Maltis Namen, rief um Hilfe, während sie lief. Als sie den Treppenabsatz erreicht hatte, war sie im obersten Stockwerk ihres Decks, des neunten, wo sie lebte. Viele Menschen waren hier stehend oder kauernd aneinander gedrängt. Sie wandten ihren Blick von Shamim ab, Leute mit blinden Gesichtern. So oft schon hatte sie sich ähnlich verhalten, wenn andere in Gefahr waren. Nach Atem ringend blieb sie stehen und starrte zum Dach des Decks empor. Es war blau bemalt, um ein Stück Himmel zu simulieren, und unregelmäßige Risse durchzogen es. Die Treppe führte noch weiter, hinauf zum obersten Deck. Sie sah Beine, sah gelbe Fußsohlen verschwinden, Gesichter, die feindlich auf sie herab starrten. Als sie zum Fuß der Treppe rannte, bewarf man sie von oben mit Gegenständen. Eine Scherbe traf sie an der Wange, brachte ihr einen Schnitt bei. Blut rann ihr über das Gesicht hinab, und sie begann zu heulen. Sie wandte sich um und eilte zwischen den Menschen hindurch zum Raum ihrer Familie.
Einen Monat lang habe ich mit dem Studium der Unterlagen verbracht. Manchmal wird ein ganzes Deck unter einem starken Führer vereinigt. Auf Deck neun zum Beispiel geschah dies unter einem Mann namens Ullhas. Er war ein starker Mann, aber auch ein Prahler. Das war vor einiger Zeit, als die Bedingungen noch nicht so katastrophal waren wie jetzt. Ullhas könnte sich heute nicht mehr halten. Mit fortschreitendem Verfall des Environments werden die Führer immer despotischer. Die Gruppendynamik ist so, daß es einem Deck niemals genügt, einfach vereint zu sein; die Aggression der jungen Männer richtet sich stets zwangsläufig nach außen. Deshalb sucht der Führer eines starken Decks stets, das Deck unter oder über ihm zu tyrannisieren, je nach dem, welches das schwächere ist. Ein sehr unglücklicher Zustand. Meistens kommt es dann dazu, daß mitten in einem Überfall ein Gegenangriff von einem der anderen Decks her erfolgt. Zerstörung und Blutvergießen ist die Folge. Und wieder bricht ein erbärmliches Herrschaftssystem zusammen. Meine Aufgabe ist es, diese ständige Verschlechterung der menschlichen Lebensumstände zu stoppen. Wie gewöhnlich war ihr Familienraum überfüllt. Wenn auch keines von Shamims eigenen Kindern anwesend war, waren doch Enkel da – darunter die lahme Enkelin Shirin – sechs Urenkel, keiner davon älter als drei Jahre. Shamims dritter Mann Gita war nicht hier. Im vertrauten Elend ihres Raumes brach Shamim in Tränen aus, während Shirin versuchte, sie zu trösten und ihr die Kleinen vom Leibe zu halten. »Gita besorgt etwas zu essen. Ich werde ihn holen«, sagte Shirin.
Als die UDF – Ultra-Dichte-Forschung – vor fünfundzwanzig Jahren mit ihrem Projekt begann, mußten alle für das Leben im totalen Environment ausgewählten Paare unter zwanzig sein. Bevor sie in das Environment eingeschlossen wurden, wurden sie gegen sämtliche Krankheiten geimpft. Zu diesem Zeitpunkt gab es für jedes Paar viel Platz; sie hatten ganze Wohnungen für sich und erhielten die beste Ernährung. Eine Möglichkeit der Geburtenkontrolle bestand nicht. Diese erste Generation ist nunmehr bereits beträchtlich gealtert. Es sind alte Leute von fünfundvierzig Jahren. Der ganze Lebenszyklus hat sich beschleunigt – frühe Pubertät und frühes Altern –, die zweite und dritte Generation hat sich bemerkenswert adaptationstüchtig gezeigt; eine vierte Generation ist bereits vorhanden; diese Kleinen werden sich reproduzieren, bevor sie ein zweistelliges Alter erreichen, wenn die gegenwärtige Entwicklung anhält. Wenn man es ihr erlaubt, anzuhalten. Gita war jünger als Shamim, ein kleiner, drahtiger Mann, der wußte, was er tat. Obgleich kein Held, hatte er doch einen gewissen Stil. Sein Lebens-Objekt trug er kühn an einer Halskette, statt es zu verbergen, wie die meisten es taten. Während er sich um Lebensmittel anstellte, plauderte er mit Freunden. Gita verstand es geschickt, Bündnisse herzustellen. Mit einigen von seinen Freunden hatte er eine kleine Vereinigung geschaffen, die dafür sorgte, daß sie ihre Lebensmittel sicher nach Hause brachten. Dadurch gab es im allgemeinen keine Zwischenfälle in den überfüllten Gängen von Deck neun. Das komplexe Kräfteverhältnis im Deck neun war im Moment ziemlich ausgewogen. Aus diesem Grun-
de herrschte vergleichsweise Ruhe, die über mehrere Wochen anhalten konnte, wenn der starke Mann vom obersten Deck sich nicht einmischte. In jedem Stock jedes Decks sind in den Wänden Gitter angebracht, durch die Nahrungsmittel verabreicht werden. Vor jeder Ausgabe ertönen zwei Gongschläge. Nach dem zweiten öffnen sich die Luken, und dampfende Nahrung kommt aus den Gittern: Berge von Reis, mit Fleisch und Gewürzen abgeschmeckt. Chappattis fallen aus einem separaten Schlitz. Während sich die Menschen mit ihren Behältern drängen, segnen im allgemeinen Heilige Männer die Nahrung. Im Herzen des riesigen Turmes bewegen sich dröhnende Vorratsaufzüge und versorgen alle Stockwerke mit Rationen. Auch Alkohol wurde in früheren Jahren ausgegeben. Dies wurde gestoppt, als es zu Unzuträglichkeiten kam. Was nicht bedeutet, daß er innerhalb des Environments nicht heimlich hergestellt würde. Von Anfang an waren die UDF-Rationen großzügig bemessen und sind pro Kopf der Bevölkerung immer die gleichen geblieben, obgleich, wie Sie wissen, die Nahrung jetzt zu fünfundneunzig Prozent in Fabriken hergestellt wird. Niemand wäre jemals verhungert, wenn sie im Turm gleichmäßig und gerecht verteilt worden wäre. In manchen Decks wird sie das zeitweise auch heute noch. Jamsu, einer von Gitas Söhnen, hatte den Entführer Narayan gesehen, wie er sich mit der sich heftig wehrenden Malti zum obersten Deck davonmachte. Mit vor Erregung leuchtenden Augen drängte er sich in die Schlange der Wartenden und packte seinen Vater am Arm. Jamsu hatte etwas von seinem Vater an sich;
er blieb lieber da, wo die große Zahl ihm Sicherheit gewährleistete, statt davonzulaufen wie seine Brüder und Schwestern, um zu heiraten und um einen Raum oder auch nur einen kleinen Platz für sich zu kämpfen. Er war gerade dabei, seinem Vater zu erzählen, was geschehen war, als Shirin daherhinkte und ihrerseits die Nachricht brachte. Gita sagte mit grimmigem Nicken: »Bleib bei uns, Shirin, während ich Essen hole.« Er schaufelte seine Portion in den Familieneimer. Jamsu nahm sich eine Handvoll Reis. »Es war ein dreckiger, schrumpeliger Mann vom obersten Deck namens Narayan Farhad«, sagte Jamsu schmatzend. »Er ist einer der Banditen, die am Hemdzipfel von ...« Er verstummte. »Du bist Malti nicht zu Hilfe gekommen. Schande über dich!« sagte Shirin. »Es hätte seinen Tod bedeuten können«, sagte Gita, als sie sich durch die Menge hindurch zu ihrem Familienraum schoben. »Sie werden so stark im obersten Deck«, sagte Jamsu. »Ich weiß genau Bescheid! Wir dürfen sie nicht provozieren, oder sie greifen an. Es heißt, eine richtige Armee formiere sich ...« Shirin schnaubte ungeduldig. »Du großes Kind! Los, nenne den Mann! Prahlad Patel ist es, dessen Namen du nicht einmal auszusprechen wagst, nicht wahr? Ist er ein Gott oder so etwas, um Schiwas Willen? Sogar auf diese Entfernung fürchtest du dich vor ihm!« »Laß den Jungen in Ruhe«, sagte Gita. In seiner riesigen gemischten Familie den Frieden zu bewahren,
war eine große, fast zu große Aufgabe. Als er in den Familienraum eintrat, sagte er ruhig zu Jamsu und Shirin: »Malti war eine von Shamims Lieblingstöchtern, und jetzt hat sie sie verlassen. Wir aber werden uns an diesem Narayan Farhad rächen. Jamsu, du und ich werden heute abend zu Vazifdar, dem Heiligen Mann, gehen. Er wird für das Nötige sorgen, und dann wird sogar der große Patel gewarnt sein.« Nachträglich sah er auf sein Lebens-Objekt hinunter. Heute abend, sagte er zu sich selbst, muß ich mich allein aufmachen und mein Leben für Shamim aufs Spiel setzen. Prahlad Patels Union ist gewachsen und gediehen, und jetzt beherrscht er das ganze oberste Deck. Auch drei oder vier Decks darunter ist sein Name, wie wir zu wissen glauben, bekannt und gefürchtet. Gegenwärtig ist er der stärkste – wenn auch in verschiedener Hinsicht auf seltsame Weise der am meisten gemäßigte – Herrscher im totalen Environment. Obgleich er brutal sein kann, scheint Patel dem Frieden zuzuneigen. Natürlich können wir nicht alles abhören; vielleicht hat er geheime Pläne, denn unsere Abhörpraxis ist ihm bekannt. Indessen nehmen wir an, daß seine Absichten nicht auf Eroberung hinauslaufen. Nach unserer Zählung ist er erst neunzehn Jahre alt, aber schon grauhaarig, und sein Anblick soll die Lippen seiner Anhänger zum Schweigen erstarren lassen. Seit ich diese Aufgabe übernommen habe, habe ich ihn viele Stunden lang über die Überwachungsanlage beobachtet. Patel hat im totalen Environment einen großen Vorteil. Er lebt im zehnten Deck, dem obersten des Gebäudes. Deswegen kann er nur von unten her angegriffen werden, und das
neunte Deck stellt zum gegenwärtigen Zeitpunkt keine sonderliche Bedrohung dar. Vielmehr orientiert es sich hauptsächlich an einer einflußreichen Gruppe von Heiligen Männern, aus denen ein gewisser Vazifdar hervorzuheben ist. Die Treppen, welche die einzelnen Decks miteinander verbinden, sind stets Gefahrenherde. Kein Deck-Führer war jemals stark genug, Angriffen von oben und unten zu widerstehen. Die Treppen werden auch von einzelnen Unruhestiftern, Dieben, politischen Flüchtlingen, Prostituierten, flüchtigen Sklaven und Geiseln benützt. Die Wachen können immer bestochen sein oder ihre zahlreiche Verwandtschaft bevorzugen oder aus dem einen oder anderen Grunde zum Feind überwechseln. Im obersten Deck hat Patel nur auf vier schwache Punkte zu achten und nicht auf acht. Vazifdar war erstaunlich heilig und bemerkenswert einflußreich. Es wurde geflüstert, daß sein LebensObjekt das komplizierteste im ganzen Environment sei, wenngleich niemand behaupten konnte, es jemals gesehen zu haben. Auf Grund seines Rufes suchten viele Leute von Gitas Deck – ja sogar von anderen – Vazifdars Hilfe. Stets bewegte sich ein Strom von Männern und Frauen durch seinen Raum, selbst wenn er gerade meditierte und weit entfernt war von dieser Welt. Der Heilige Mann hatte eine Wohnung, deren Balkon zur Mitte des Decks hinausging. Viele Verwandte und Schüler lebten dort mit ihm, weswegen die Zimmer durch zahlreiche dünne Schirme unterteilt waren. Den ganzen Tag lang zwitscherten die jüngsten Schüler wie Vögel auf den Balkonen, während
Vazifdar Hof hielt, und diskutierten die immense Weisheit seiner Aussprüche. Alle seine Schüler, alle seine Verwandten liebten Vazifdar. Es gab Verwandte, die Vazifdar nicht liebten, aber sie waren im Schlafe gestorben. Gita selbst war ein entfernter Verwandter Vazifdars und näherte sich jetzt dem Heiligen Manne mit seinen Geschenken: frischem Wasser und einem langen Stück synthetischen Gewebes, genug für eine Robe. Vazifdars Stirn und Wangen waren mit weißen Zeichen bemalt, die seine hohe Kaste auswiesen. Der Stoff und das Wasser fanden gnädige Aufnahme, und er lächelte Gita so an, daß der – und hinter ihm Jamsu – Mut faßte. Nach den Maßstäben der Außenwelt war Vazifdar dreizehn Jahre alt. Reichliches Essen und Mangel an Bewegung hatten ihn prall und fett gemacht. Sein brauner Körper glänzte von Öl; jeden Morgen massierten und manipulierten ihn junge Frauen. Er sprach mit verhaltener Stimme, so leise, daß er durch den im Raum herrschenden Lärm kaum zu verstehen war. »Es betrübt mich, daß dieses Ungemach dein Stiefkind Malti befallen hat«, sagte er. »Sie war eine gute Frau, wenn auch unfruchtbar.« »In sehr jungem Alter wurde sie vergewaltigt, was ihren Organen Schaden zufügte, lieber Vazifdar. Du hast sicher davon gehört. Ihre Eltern fürchteten, daß sie sterben würde. Sie konnte kein Leben mehr hervorbringen. Das Übel überschattete ihr Leben. Und nun befällt sie dieses zweite Ungemach.« »Ich sehe, daß es Maltis Rolle in der Welt nur war, ihrer Mutter eine Gefährtin zu sein. Nicht alle, die
den Bazaar besuchen, können auch kaufen.« In jedem Stockwerk gibt es Bazaare, die sich durch die Korridore bis auf die Balkone erstrecken, und einen Haupt-Bazaar auf jedem Deck. Die Männer sammeln sich an solchen Orten, selbst wenn sie nichts kaufen oder verkaufen wollen, und plaudern. Wie überall sonst wimmelt es auch in den Bazaaren von Menschen bis hinunter zu den Kleinsten, die gerade laufen können – und manchmal tragen sogar die noch nackte, jüngere Kinder, welche sich um ihren Hals klammern. Die Bazaare sind Zentren des Skandals. Hier sind auch unsere größten Bildschirme. Sie leuchten hinter ihren Sicherheitsgittern und bringen speziell Programme von der Außenwelt, unserer Außenwelt, die nur wenig Realitätsgehalt haben kann wenn sie gegen die dicken Sicherheitswände des Environments prallt und dann zu den Bildschirmen durchsickert. Unter den Bildschirmen wimmelt es von unbezähmbarem fruchtbarem Leben mit all seiner Gewalt. Gita lag auf den Knien und sagte demütig: »Wenn du Malti ihrer Mutter Shamim wiedergeben könntest, die sie betrauert wäre unsere Dankbarkeit unendlich, lieber Vazifdar. Malti ist zu alt für das Bett eines Mannes, und im obersten Deck müssen Erniedrigungen aller Art auf sie warten.« Vazifdar schüttelte würdevoll den Kopf. »Du weißt, daß ich euch Malti nicht zurückgeben kann, lieber Anverwandter. Welche Taten können je ungeschehen gemacht werden? Solange wir Sklaverei haben, solange müssen wir es ertragen, daß diejenigen, die wir lieben, versklavt werden. Du mußt zu einer
mystischen, verzichtenden Haltung dem Leben gegenüber gelangen und Shamim stets dazu auffordern, das nämliche zu tun.« »Shamim ist auf ihre Weise mystischer als ich; sie verlangt nicht viel, arbeitet immer, arbeitet und betet. Deswegen hat sie dieses Unglück nicht verdient.« Beifällig nickend sagte Vazifdar: »Es ist gut. Ich weiß, daß sie eine gute Frau ist. Die Zukunft wird anderes bringen, was sie für dieses traurige Vorkommnis entschädigen mag.« Aus Jamsu, der sich bisher, hinter seinem Vater stehend, in Zaum gehalten hatte, brach es plötzlich heraus: »Onkel Vazifdar, kannst du Narayan Farhad nicht für die Sünde bestrafen, die arme Malti auf der Treppe gestohlen zu haben. Soll ihm gestattet werden, in Patels Deck zu entkommen und dort in Freuden mit Malti zu leben?« »Schsch, Sohn!« Gita blickte bestürzt zu Vazifdar, um zu sehen, ob Jasmus Ausbruch ihn verärgert habe; Vazifdar aber lächelte freundlich. »Jamsu, du mußt wissen, daß wir alle die machtlosen Geschöpfe Schiwas, des Herrn sind. Nein, nein, widersprich nicht! Auch ich bin machtlos in seiner Hand. Einen Raum zu haben heißt nicht, das ganze Haus zu besitzen. Aber ...« Es war ein langes, lastendes Aber. Als Vazifdars schwere Lider sich über seine Augen senkten, zitterte Gita, denn er erinnerte sich früherer Besuche bei seinem mächtigen Verwandten, wo Vazifdars Lider sich ebenso über seine Augen gesenkt hatten, als schlösse er die ganze Außenwelt mit der Kraft seines eigenen Fleisches aus, wenn er geruhte über irgendein Problem nachzudenken.
»Narayan Farhad soll mit mehr als nur seinem Gewissen zu kämpfen haben.« Während er sprach, erschienen, violett und schwarz, die Pupillen seiner Augen wieder. Sie sahen durch Gita hindurch, hinaus über die Grenzen seiner unmittelbaren Umgebung. »Heute nacht noch sollen ihn böse Träume heimsuchen.« »Die Nacht-Visionen!« rief Gita und Jamsu voll Furcht und Erregung. Jetzt neigte Vazifdar sein eindrucksvolles Haupt und sah direkt Gita an, sah ihm tief in die Augen. Gita war ein kleiner Mann; auch innerlich sah er sich klein. Noch kleiner wurde er jetzt unter diesem unbarmherzig prüfenden Blick. »Ja, die Nacht-Visionen«, sagte der Heilige Mann. »Du weißt, was das bedeutet, Gita. Du mußt hinauf zum obersten Deck, um Narayans Lebens-Objekt zu holen. Bring es mir, und ich verspreche, daß noch heute die Nacht-Visionen Narayan heimsuchen werden. Krank ist er, und er soll geheilt werden.« 3 Keinen Augenblick hören die Frauen auf zu plaudern, während sich die langen Reihen der Bittsteller an den Heiligen Männern vorbeischieben. Bewundernswert, wie sie sich mit ihrem Schicksal in diesem scheußlichen Gefängnis abfinden! Wenn sie sich jemals über mehr als die kleinen Begleitumstände ihres Lebens beklagen, wenn sie sich jemals über das ungeheure Übel beklagen, das sie alle befallen hat – ich habe nie etwas davon gehört. Stets geht es um harmlose Dinge in ihren Gesprächen, die
kleine nervöse Ängste verraten, den auf ihnen lastenden Druck, den sie trotz allem ein wenig zu bemerken scheinen. Das Geplauder der Frauen übertönt praktisch den Lärm ihrer Kinder. Zumeist allerdings wird man nicht im Zweifel gelassen, daß das totale Environment hauptsächlich aus Kindern besteht. Deswegen bin ich dafür das Experiment abzuschließen; die Kinder würden sich unserer Welt an passen. Vor allem in dieser vierten Generation werden die Auswirkungen der Übervölkerung sichtbar. Wer immer in den Decks herrschen mag, es sind die Kinder, die unzähligen Kinder, die herumstolpern, lachen, sterben, urinieren, drängen, schreien – die unzähligen Kinder, denen das Environment wirklich gehört. Ihre Mütter sind meistens Frauen, die – im gleichen Alter und in einem begünstigteren Teil des Globus – gerade erst Teenager geworden wären und noch jungfräulich zur Schule gingen. Narayan Farhad wickelte sich in eine Decke und kauerte sich in einer Ecke des überfüllten Raumes nieder. Da es fast Schlafenszeit war, mußte er seinen gemieteten Platz einnehmen, bevor einer der verhaßten Dasguptas ihn stahl. Narayan haßt die Familie der Dasguptas, ihre speichelleckerischen Männer, die Frauen mit den schrillen Stimmen, die unruhigen Kinder – die zahllos herumkriechenden Babys, die Größeren mit ihren Nervenkrankheiten, die stahlen oder ihn verspotteten. Es war die gemeinste Familie im obersten Deck, wie Narayan oft behauptete; er tolerierte sie nur, weil er sich selbst gemein vorkam. Nichts, was er anfing, gelang ihm. Vor einer Stunde erst, als er sich durch die Menge drängte, hatte er sein Lebens-Objekt aus seiner Tasche verloren – oder es
war ihm gestohlen worden, aber an diese Möglichkeit wagte er gar nicht zu denken! Sogar sein planloser Entführungs-Versuch war gescheitert. Dieses Mädchen, das er sich heute morgen geholt hatte – Malti. Er hatte vorgehabt, sie zu vergewaltigen, bevor er sie verkaufte, aber als er sie hier hereingeschleppt hatte, hatten ihn ein paar junge Dasguptas ausgelacht und zu nervös gemacht. Nicht einmal günstig verkauft hatte er sie. Patel hatte seinen Preis gedrückt, und Narayan hatte den Mut nicht besessen, mit ihm zu handeln. Vielleicht sollte er dieses Deck verlassen und hinunter in eins von den chaotischeren ziehen. Die mittleren Decks wurden immer chaotischer. In Nummer sechs zog sich seit einiger Zeit ein Drei-Fronten-Krieg hin, wodurch Nummer fünf ein lohnendes Jagdgebiet sein mußte, mit Horden von Flüchtlingen, die man ausnehmen konnte. ... Und was für ein Narr er gewesen war, sich ein so altes Mädchen zu schnappen – praktisch eine alte Frau! Mit verkniffenen Augen kauerte Narayan in seiner Ecke, und ein bitterer Geschmack brannte in seinem Mund. Selbst wenn seine Gedanken Ruhe gaben und ihn schlafen ließen, verhinderten diese Dasguptas jede wirkliche Entspannung. Der alte Dasgupta zum Beispiel – er war wie eine Ratte, ohne jede Selbstbeherrschung, überhaupt kein richtiger Hindu, der es offen mit seinen Töchtern trieb. Im totalen Environment gab es viele Männer wie ihn, Männer, die sonst nichts im Leben hatten. Dreckige Schweine! Glückspilze! Vor vielen Monaten schon hatten ihn Narayans Töchter hinausgeworfen, als er es probierte! Und weiter nagten seine Kümmernisse an ihm.
Aber er saß gesammelt da, wehrte mit dem einen bloßen Fuß die widerlichen kleinen Bälge ab, die ihn bedrängten, und starrte auf den Bildschirm, der hinter seinem Schutzgitter von der Wand flimmerte. Er mochte die Bildschirme und sah gern den Wahnsinn der Außenwelt. Was für eine Welt war das da draußen! Diese Hitze, und der Zwang zur Arbeit, und die Komplikationen des Lebens! Allein schon die Größe der Welt – die hätte er nicht ertragen können, hätte sie unter keinen Umständen gewollt. Er verstand nicht die Hälfte von dem, was er sah. Immerhin war er hier geboren. Sein Vater war vielleicht draußen geboren, wer immer sein Vater war; aber keine Legende war von draußen zu ihm gedrungen: Nur die Verzerrungen des allgemeinen Geschwätzes, und das Zeug auf den Schirmen. Nun, da er darüber nachdachte, wurde ihm bewußt, daß die Leute nicht mehr sehr auf die Bildschirme achteten. Nicht einmal er selbst. Aber er konnte nicht schlafen. Triefäugig sah er auf pflügeziehende Rinder, auf Felder, die durch die schmutzigen Gitter vor den Bildschirmen in Würfel geschnitten wurden. Er hatte bereits begriffen, daß es sich in dieser Sendung um Veränderungen in der heutigen Welt handelte. ... »Kommt es jetzt zu einem Nachgeben gegenüber dieser ...« hörte er die Stimme des Kommentators durch den Lärm im Raum der Dasguptas. Die Kinder lebten hier wie Vögel. Gestelle standen an die Wände gelehnt, und auf diesen gebrechlichen Dingern hockten viele kleine Dasguptas wie Vögel. »... Lebensmittelfabriken automatisch geschützt gegen Infektionsgefahr ...« blablabla.
»Rindergewebe-Kulturen wachsen direkt in Plastikpackungen ...« Aufnahmen aus irgendeiner großen Halle, wo Fleisch, tropfend und ziemlich schrecklich aussehend, aus Rohren kam und in viereckige Packungen gepreßt wurde. Wie sahen Kühe jetzt eigentlich aus? Draußen mußte also wirklich die Hölle los sein! Dann »... denn die neue Fabriknahrung bedeutet endlich Hoffnung für Indiens Zukunft in der ...« Gelächter und Kreischen von den Kindern. Einmal hatte jemand ihre Schlafgestelle vor dem Bildschirm aufgebaut – aber eines Nachts brach das ganze klapprige Gestell zusammen, und drei Kinder verletzten sich. Keines kam um – nichts zu machen! Patel hätte mehr für dieses Mädchen bezahlen müssen. Nichts war mehr so wie früher. Hin und wieder waren doch tatsächlich Sex-Filme auf den Bildschirmen gezeigt worden – richtig schmutziges Zeug, das sogar Narayan erregte. Damals war er noch jünger. Richtig schmutziges Zeug, erinnerte er sich, und hübsche Mädchen taten es. Aber es mußte – oh, lange Zeit her sein, seit es das nicht mehr gab. Auf den Bildschirmen ging es jetzt langweilig zu. Die Leute sahen schon gar nicht mehr hin. Unter seiner dreckigen Decke in die Ecke gekauert, schlief Narayan einen unruhigen Schlaf. Schließlich schlief der ganze dreckige Raum. Dokumentar- und andere Filme für das Environment werden nicht mehr von der UDF eigens für interne Verwendung hergestellt. Als die UNO vor acht Jahren ihren jährlichen Beitrag für den UDF drastisch zusammenstrich, war das private Fernsehstudio einer der
Zweige, die gekappt werden mußten. Und jetzt bringen wir alte, bei den großen Gesellschaften eingekaufte Programme. Die Absicht ist, die elenden Gefangenen im Environment auf diese Weise in Kontakt mit der Außenwelt zu halten; aber es kann kein Zweifel bestehen, daß dies nicht gelingt. Der Grad des Verständnisses zwischen drinnen und draußen wird auf beiden Seiten eindeutig geringer, und zwar in einer exponentialen Kurve. Meiner Ansicht nach besteht eine sich ständig weitende Kluft der Isolierung zwischen den beiden Environments, wie wenn sie sich von einander in verschiedene Raum-Zeit-Kontinua bewegten. Ich wünschte, ich hätte Grund zu der Annahme, daß die führenden Leute hier – besonders Crawley – nicht nur diese Tatsache erfassen, sondern auch begreifen, daß sofortige Abhilfe geboten ist. Shamim konnte vor Kummer nicht schlafen. Gita konnte vor Sorge nicht schlafen. Jamsu konnte vor Erregung nicht schlafen. Vazifdar schlief auch nicht. Vazifdar schloß seine Heiligkeit in einen Schrank ein, senkte seine Lider über seine Augen und begann, ein Denkmuster zu konstruieren, das der durch Narayan Farhads gestohlenes Lebens-Objekt präsentierten Matrix entsprach. Als er damit fertig war, begann Vazifdar behutsam, ein Element des Bösen in das Gedankenmuster einzusetzen ... Narayan schlief. Was ihn weckte, war die Stille. Es war das erste Mal, daß im totalen Environment je völlige Stille herrschte. Zuerst glaubte er, daß ihm totale Stille guttun würde. Aber sie bekam so viel Masse, nahm so viel Ge-
wicht an ... Die Hände in seine Decke verkrampft, setzte er sich auf. Der Raum war leer, der Bildschirm dunkel. Beides war noch nie vorgekommen, konnte gar nicht vorkommen! Und die Stille! Lieber Schiwa, irgendein furchtbarer Affengott mußte diese Stille in der Finsternis herausgemeißelt und in die Welt geworfen haben, und jetzt überrollte sie alles! Etwas wie Läuten war in dieser Stille – ein Gong! Nein, nein, kein Gong! Schritte! Es waren Schritte. Schiwa, o Herr, laß es keine Schritte sein! Das totale Environment war leer. Die Prophezeiung war wohl erfüllt, die besagte, daß das totale Environment eines Tages leer sein würde. Alle waren fort außer dem armen Narayan. Und das, was diese Schritte machte, kam zu ihm, der wehrlos in seiner Ecke kauerte ... Stieg herauf durch die Kellerräume seiner Existenz. Bald würde es da sein. Krampfhaft zitternd stand Narayan auf, preßte den Rand der Decke an seinen Hals. Er wollte dem Ding nicht ins Auge sehen. Seine Gedanken überstürzten sich. Konnte er es noch am ehesten ertragen, wenn es wie ein Mensch oder wenn es nicht wie ein Mensch aussah? Sicher war es der Tod – aber wie würde er aussehen? Nur der Tod – sein Herzschlag raste! – nur der Tod konnte es sein, der so kam ... Seine Hilflosigkeit ... Nirgends konnte er sich verstecken! Er öffnete den Mund, konnte nicht schreien, seine Finger krallten sich in die Decke; er spürte, daß er sich naß machte, als wäre er wieder ein Kind. Dann kam das Bild – das Kind, dickbäuchig kriechend,
winzig, seine Mutter schwarz vor Wut, deren große weiße Zähne knirschten, als sie ihn mit aller Kraft ins Gesicht schlug, spuckend ... Es war verschwunden, und er fand sich wieder dem gongartigen Ton gegenüber, allein in dem großen dunklen Turm. In der trockenen Luft Vibrationen seiner Gegenwart. Er schrie ihn an rief, er dürfe nicht kommen. Aber er kam. Er kam mit majestätischer Trägheit, vergleichbar dem Herzschlag fötalen Schlummers, kam durch die Tür, schob Finsternis vor sich her. Er war wie ein Mensch, doch zu groß, um ein Mensch zu sein. Und er hatte Maltis Gesicht, dieses Übelkeit erregende, unschuldige Lächeln, mit dem sie die Treppe heraufgekommen war! Nein, das war es nicht – oh, er stürzte auf den nassen Boden: Es war nicht wie diese Frau, ganz und gar nicht. Weicht, Unmöglichkeiten! Es war ein Mann, großartig und schrecklich. Sein ebenholzschwarzer Schädel glänzte. Gebieterisch fordernd streckte er die Hand nach ihm aus. Der gräßliche, entsetzliche Augenblick! Auch der Tod war ein unauslöschlicher Schlag ins Gesicht. Einer der auf den Gestellen schlummernden Dasguptas weinte auf, als der Fußtritt des Mannes ihn traf, erwachte für einen Moment, sah das beruhigende, sinnlose Flackern des Bildschirms, sah Narayan unter seiner Decke zittern. Dann glitt er wieder in den Schlaf hinüber. Erst am Morgen bemerkten sie, daß es Narayans letztes Zittern gewesen war. Ich weiß, daß ich ein unbeteiligter Beobachter sein sollte. Keine Empfindungen, keine Gefühle. Wissenschaftliche
Kühle ist jedoch eine Einstellung, die viel zu der im Environment festzustellenden Inhumanität beigetragen hat. Wie wollen wir trotz aller unserer Überwachungsgeräte wissen, welch furchtbaren, geheimen Alpträumen die Menschen dort ausgeliefert sind? Jedenfalls bin ich erfreut zu hören, daß Sie herüberfliegen. Morgen muß ich selbst in das Environment gehen. 4 Die Hauptbüros der UDF waren groß und häßlich. Als sie und der Turm des totalen Environments gebaut wurden, kam für die indische Regierung nichts anderes in Frage. Sichtbeton wollte sie haben, und den bekam sie auch. Durch das Fenster im Bürogebäude konnte Thomas Dixit in einer Richtung das endlose Land sehen, und in der anderen den gigantischen TE-Turm. Und auch die elenden Buden, die sich immer zahlreicher zwischen dem Fuß den Turmes und den anderen UDFGebäuden angesiedelt hatten. Einen Augenblick lang erlaubte er es sich, den hinter ihm stehenden Projekt-Organisator zu ignorieren und auf das hinunterzuschauen, was er vom brettebenen Gebiet des großen Ganges-Deltas sehen konnte. Kein schlechter Ort zur Verwirklichung menschlicher Machtphantasien, dachte er. Und doch bist du ein Narr, dich in all dies verwickeln zu lassen, Thomas! Sogar für sich selbst war er niemals nur Tom. Ich werde bezahlt, gut bezahlt, um eine bestimmte
Aufgabe zu erfüllen. Jetzt aber erlaube ich verschwommenen humanitären Ideen, den Lauf der Dinge zu behindern. Im Grunde bin ich ein ganz leerer Mensch. Keine Mitte. Der Vater Bengali, die Mutter Engländerin, das ganze Leben in den Staaten verbracht. Ich habe eine Entschuldigung ... Andere Leute akzeptieren sie; warum kann ich es nicht? Seufzend überdachte er seine so unbefriedigende Lage. Trotz seiner langen Jahre dort gehörte er nicht richtig zum Westen, andererseits aber auch bestimmt nicht zu Indien. Eigentlich mochte er Indien gar nicht besonders. Vielleicht war der beste Platz für ihn wirklich drinnen im Environment-Turm. Ungeduldig wandte er sich um und sagte: »Wir können gehen, Peter.« Peter Crawley, SpezialprojektOrganisator der UDF, war ein ziemlich strenger Bostoner. Er nahm die Hornbrille von seiner Nase und sagte: »Gut! Obwohl wir den Drill schon oftmals durchgemacht haben, Thomas, muß ich Ihnen dies noch einmal sagen, bevor wir gehen. Die ganze ...« »Ja, ja, ich weiß, Peter! Sie brauchen nicht drum herumzureden. Das ganze Projekt könnte abgebrochen werden, wenn ich einen falschen Schritt tue. Ich bin mir dessen bewußt.« Ohne Indignation sagte Crawley: »Ich wollte sagen, daß wir Ihnen alle die Daumen halten. Wir wissen das Risiko, das Sie eingehen, zu schätzen. Wo immer Sie sind, werden wir durch das Überwachungssystem bei Ihnen sein.« »Und was auch immer Sie sehen, Sie können nichts tun.« »Seien Sie fair; wir haben Hilfsmaßnahmen vorbereitet!«
»Tut mir leid, Peter.« Er mochte Crawley und seine dezente Reserviertheit. Crawley klappte seine Brille zusammen, steckte sie in ein ledernes Etui und stand auf. »Die UNO, ganz zu schweigen von Unterorganisationen wie der WGO oder auch der indischen Regierung, haben uns das Messer an die Gurgel gesetzt, Thomas. Sie wollen unser Projekt beenden und das Environment evakuieren. Und sie werden es tun, wenn Sie nicht den Beweis erbringen können, daß sich im Environment Formen außersinnlicher Wahrnehmungen entwickeln. Lassen Sie sich drinnen nicht umbringen. Der Mann, den wir vor Ihnen hineinschickten, benahm sich ungeschickt und kam nie wieder zurück.« Er hob eine Augenbraue und fügte trocken hinzu: »So etwas bringt uns in Verruf, wissen Sie!« »Wie die Pornofilme vor einer Weile.« Crawley nahm die Hände hinter seinen Rücken. »Mein Vorgänger hier entschied, daß die Sendung unmoralischer Filme in das Environment die Geburtenrate dort erhöhen würde. Ob er nun recht hatte oder nicht, seit das Gespenst der weltweiten Hungersnot gebannt ist, hat sich die allgemeine Ansicht darüber geändert. Vor acht Jahren hörten wir mit den Filmen auf, aber in der UNO hat man, wie ich fürchte, ein langes Gedächtnis. Man erlaubt Gefühlen, der wissenschaftlichen Forschung in die Quere zu kommen.« »Spüren Sie niemals Mitleid für die Tausende von Menschen, die dazu verdammt sind, ihr kurzes Leben in diesem Turm zu verbringen?« Prüfend musterten sie sich gegenseitig.
»Sie sind nicht mehr auf unserer Seite, Thomas, nicht wahr? Sie möchten doch, daß unsere Ergebnisse negativ sind, daß die UNO unser Projekt stoppt?« Dixit lachte. »Ich bin auf keiner Seite, Peter. Ich bin neutral. Ich gehe in das Environment, um nach Beweisen für ESP zu suchen, die nur der direkte Kontakt erbringen kann. Was der direkte Kontakt sonst noch erbringen wird, kann keiner von uns beiden jetzt sagen.« »Aber Sie glauben, daß es Elend sein wird. Und Sie werden das in Ihrer Untersuchung betonen.« »Also – gehen wir's an, Peter.« Einen Augenblick lang sah Dixit ihrer beider kontrastierende Bilder klar vor sich im Raum stehen. Er selbst hielt sich ziemlich nachlässig, ließ seine Schultern hängen, gestikulierte gern (zu viel?). Seine Kleidung – ein fadenscheiniges Hemd und Shorts – war die eines Einwohners des Environments. Crawley hingegen hielt sich steif und gerade. Seine Bewegungen waren sparsam, und er gestikulierte kaum, wenn er sprach. Seine Kleidung war makellos. Aber es war nicht nötig, zu großen Respekt vor Crawley zu haben oder ihn zu beneiden. Crawley war gehemmt, hatte Angst vor Gefühlen, verriet die Trockenheit seines Charakters jedem, der nur etwas genauer hinsah. Außerdem fürchtete Crawley um seinen Job. »Gut, packen wir's an.« Er ging um seinen Schreibtisch herum. »Aber ich wäre Ihnen dankbar, Thomas, wenn Sie daran dächten, daß die Leute im Turm Freiwillige oder die Abkömmlinge von Freiwilligen sind. Als die UDF vor einem Vierteljahrhundert, also um
1978 herum, begann, waren nur Freiwillige in das totale Environment zugelassen. Es waren fünfhundert junge, verheiratete indische Paare mit den Kindern, die sie schon hatten. Der Turm war damals ein Zufluchtsort, frei von Hunger, geschützt gegen alle Krankheiten. Sie waren glücklich, von Herzen glücklich, hineinzukommen, glücklich über alles, was das Environment ihnen bot und noch bietet. Diejenigen, die nicht zugelassen wurden, revoltierten. Wir dürfen das nicht vergessen. 1978 war Indien ein anderes Land. Es hatte die Hoffnung aufgegeben. Eine Krise nach der anderen, eine Hungersnot nach der anderen, Mißernten, Hungertote, und dennoch ein rasender Bevölkerungszuwachs von einer Million pro Monat. Heute allerdings sieht das Bild Gott sei Dank ganz anders aus. Synthetische Produkte haben das Ernährungsproblem behoben, wir brauchen das karge Land nicht mehr. Und endlich haben die Hindus und Moslems die Idee der Geburtenkontrolle begriffen. Erst jetzt, wo das Leben in diesem Todeskessel von einem Subkontinent wieder etwas menschlicher wird, wagte es die UNO, sich über die Unmenschlichkeit von UDF zu beklagen.« Dixit sagte nichts. Ihm schien, daß dieser geschichtliche Abriß nur auf eine Selbstrechtfertigung Crawleys hinauslief. Die Gedanken, die er enthielt, waren weiß Gott real genug; für Crawley allerdings hatten sie nur Bedeutung, soweit es seine eigene Existenz betraf. Dixit fühlte Mitleid und Ungeduld, als Crawley mit seiner Erzählung fortfuhr. »Unser Ziel hier muß unabänderlich das gleiche sein wie am Anfang. Es liegen Beweise vor, daß ner-
vöse Störungen einer bestimmten Art zu extrasensorischer Perzeption führen – Telepathie und so weiter –, und vielleicht zu Arten von ESP, die wir noch gar nicht erkennen. Bevölkerungen hoher Dichte mit annehmbaren Ernährungsbedingungen entwickeln besondere nervöse Instabilitäten, die den ESP-Spektren verwandt sein könnten. Ziel der UDF war es auch, die Wahrscheinlichkeit der Entwicklung von ESP zu fördern. Vergessen Sie das nicht. Man kann annehmen, daß die Leute im Environment ESP besitzen; darin liegt ja doch der Sinn des ganzen Unternehmens. Sicher, vom humanitären Standpunkt läßt sich vieles dagegen sagen. Das wissen wir. Aber Sie betrifft das nicht. Sie sollen hineingehen und Beweise für ESP finden, für etwas, was über die Überwachungsanlagen nicht wahrnehmbar ist. Dann kann UDF weitermachen.« Dixit schickte sich an zu gehen. »Wenn sich in einem Vierteljahrhundert nichts ergeben hat ...« »Es ist da drinnen! Ich weiß es, daß es dort drinnen ist! Der Fehler liegt im Überwachungssystem. Ich spüre, wie es über die Bildschirme zu mir kommt – irgend etwas Geheimnisvolles, was wir so nicht erfassen können! Wenn ich es nur beweisen könnte! Wenn ich nur selbst hineingehen könnte!« Interessant, dachte Dixit. Crawleys Job war wohl nur etwas für eine Art von Voyeur, dem es nichts ausmachte, ohne Unterlaß diese elenden Leute zu bespitzeln. »Zu dumm, daß Sie weißhäutig sind, wie?« sagte er beiläufig. Er ging zur Tür. Sie öffnete sich, und er trat hinaus auf den Korridor. Crawley lief ihm nach und packte ihn an der
Schulter. »Ich weiß, was Sie denken. Ich bin nicht nur ein ausgestopftes Hemd, Thomas, nicht ganz ohne Mitleidsgefühle. Tut mir leid, wenn ich Sie geärgert habe. Es war nicht meine Absicht.« Dixit senkte den Blick. »Ich sollte mich entschuldigen, Peter. Wenn im Turm irgend etwas Ungewöhnliches vorgeht, werde ich es herausfinden, seien Sie sicher!« Ohne sich richtig in die Augen sehen zu können, schüttelten sie sich die Hände. 5 Dixit verließ das Bürogebäude und ging dann – die Sonne schien – allein zu dem hochaufragenden Turm hinüber, der das totale Environment beherbergte. An seinen Sohlen spürt er die Hitze des staubigen Betonbodens. Die Sonne war das einzige Gute, was Indien hatte, dachte er: Die schöne, brennende Sonne, die wirkliche Beherrscherin Indiens, mochten kleine Tyrannen kommen und gehen. Die Sonne strahlte sengend auf den Turm hernieder; nur im Innern des Turmes schien sie nicht. Der nüchterne Umriß des Turmes war überlagert von Leitungen, Rohren und Schächten an seiner Außenseite. Der Turm war zum Hineinsehen gebaut, nicht zum Herausschauen. In den schlechten Jahren der Vergangenheit hatte man Bildaufzeichnungen aus dem Environment redigiert und jeden Abend weltweit ausgestrahlt; aber all das war gestoppt worden, als sich die Zustände im Environment verschlechterten und die öffentliche Meinung in den Demokratien,
die das grandiose Experiment finanziell trugen, sich gegen die Ausbeutung von Menschenmaterial wandte. Eine Monitorstation stand neben dem Turm. Von hier aus wurden die Vorgänge im Inneren ständig beobachtet. Unweit der Station begann das Durcheinander der Souvenir- und Erfrischungsstände, die es auch jetzt noch gab, obwohl dieser Tourismus jetzt eher behindert als gefördert wurde. Zwei Sicherheitspolizisten kamen hinzu und geleiteten Dixit zum Fuß des Turmes. Fast feierlich trat er in den Aufzug. Als er die Tür schloß, wurde er mit Germiziden besprüht, wodurch gewährleistet war, daß er keine gefährlichen Mikroorganismen in das Environment einschleppen konnte. Der Aufzug brachte ihn zum obersten Deck, so war es schon vor einer Weile festgelegt worden. Der Aufzug war mit doppelten Stahltüren versehen. Als er zum Stillstand kam, zeigte ihm ein Bildschirm, was jenseits der Türen vorging. Als er aus der Attrappe einer Klimaanlage hinter einer dicken Säule hervortrat, war er in Patels Reich. Das furchtbare Gewicht der drangvollen Enge traf Dixit mit all seinem Lärm und Gestank. Er setzte sich am Fuß der Säule nieder, um seinen Sinnen Zeit zur Anpassung zu lassen. Und er dachte: Mit mir hat man den Falschen geschickt; in meinem Innersten ist stets dieses Mitleid für die Leiden der Menschheit; nie konnte ich unparteiisch sein; ich muß dafür sorgen, daß dieses schreckliche Experiment beendet wird. Er befand sich am Ende eines langen Balkons, auf den sich viele Türen öffneten. Eine Rampe führte vom anderen Ende aus nach unten. Die Türöffnungen
gähnten ihm entgegen, wenngleich manche mit Stoff verhangen waren. Die meisten Türen hatte man von den Angeln genommen und als den Balkon unterteilende Zwischenwände verwendet, derart Platz für anders nicht mehr unterzubringende Familienmitglieder schaffend. Überall rannten Kinder herum, und ihre hellen Stimmen waren der dominierende Ton im allgemeinen Lärm. Dixit sah auf dem Balkon nach unten und nahm den beängstigenden Anblick des anonymen Menschengewimmels in sich auf; wer mit dem Elend der Menschen litt, mußte nicht ihre ungeheure Vielzahl lieben. Schon oft hatte Dixit dieses Panorama mit Hilfe des Überwachungssystem beobachtet. Er kannte all die erstaunlichen Zahlen – fünfzehnhundert Menschen am Anfang, und jetzt etwa fünfundsiebzigtausend, ein großer Teil davon unter vier Jahren. Aber Bilder und Zahlen blieben blasse Abstraktionen neben der Wirklichkeit, die sie darstellen sollten. Kinder, die Schmutz nach ihm warfen, trieben ihn schließlich aus seiner Erstarrung. Langsam ging Dixit davon, mit starrem Gesicht und an den Körper gepreßten Ellenbogen nach Art der Menschen um ihn herum. Mutatis mutandis wirkte es wie Crawleys gehemmtes Gebaren. Selbst die Kinder rannten in dieser vorsichtig-kontrollierten Haltung zwischen den Beinen ihrer Eltern herum. Sobald er die schützende Säule hinter sich gelassen hatte, trug ihn ein Strom plappernder Leute, die sich zwischen den Zimmern und den Zwischenwänden auf dem Balkon hindurchzwängten, mit sich fort. Sie bewegten sich sehr langsam. Auch Händler waren in der Menge; und manche
von ihnen priesen ihre Waren von den jämmerlichen Balkonschuppen aus an. Dixit versuchte, sich seine Neugierde nicht anmerken zu lassen. Die Bilder der Überwachungsanlage hatten nur undeutlich erkennen lassen, was für Waren hier angeboten wurden. Hier waren die seltenen Modelle, die, als er dem UDF-Projekt zugeteilt worden war, sogleich seine Aufmerksamkeit erregt hatten. Ein Mann mit orangen Ziegenaugen, vermutlich nicht älter als dreizehn, hier aber ein erprobter Veteran, war an Dixits Seite. Als Dixit ihn anstarrte, einen Augenblick lang argwöhnend, daß er beobachtet werde, verschwand der Ziegenäugige in der Menge; und Dixit wandte sich, um sein Gesicht zu verbergen, dem nächsten Händler zu. Im nächsten Moment untersuchte er eifrig die angebotenen Dinge, uneingedenk dessen, wie verwundbar er in dieser Lage war. All die seltsamen Modelle waren außerordentlich klein. Dixit führte dies auf die Materialknappheit zurück – zu unrecht, wie sich später erwies. Das größte Modell, das der Händler hatte, war nicht höher als zwei Zoll. Nichtsdestoweniger bestand es aus verschiedenen Materialien, vor allem aus mehreren Arten Kunststoff. Einige Modelle waren einfach und schienen nichts anderes zu sein als Tughra oder Monogramme, die als an der Kleidung zu befestigender Schmuck dienen konnten. Andere schienen, wenn man in ihre Zwischenräume schaute, den Blick auf eine andere Dimension freizugeben. Alle hatten etwas ausgesprochen Attraktives an sich. Der Händler drängte Dixit zum Kauf. Er nannte seine Modelle »Lebens-Objekte«. Als er bemerkte, daß das Interesse seines potentiellen Kunden beson-
ders einem davon galt, nahm er es vorsichtig und hielt es hoch: Ein erstaunlich anzusehendes Wunder der Handwerkskunst, das auf irgendeine Weise Dixit ebenso viel Schmerz wie Freude bereitete. Der Händler nannte den Preis. Obwohl Dixit genügend Geld zur Verfügung hatte, schüttelte er automatisch den Kopf. »Zu teuer.« »Schau, Meister, ich zeige dir, wie dieses LebensObjekt geht!« Der Mann nestelte an seinem Lendenschurz herum und holte eine kleine, durchlöcherte Silberdose hervor. Er öffnete den Deckel, entnahm ihr eine lebende Holzlaus und steckte sie unter einen mit einem Scharnier angelegten Teil des Modells. Das strampelnde Insekt bewegte ein winziges Rad; das Innere des Modells begann zu rotieren, wobei sich verschiedene kleine Ebenen gegeneinander bewegten. »Dieses Lebens-Objekt gehörte einem sehr religiösen Mann, Meister.« Fasziniert sagte Dixit: »Werden sie alle auf diese Weise mit Energie versorgt?« »Nein, Meister, nur ganz besondere. Dies war ein perfektes Modell von Bakush Bancholi, Meister von letzter Generation vom dritten Deck, sehr, sehr feines und meisterliches Stück, erste Qualität. Ich habe auch noch Besseres, betrieben von einer Körperlaus, wenn Sie wollen sehen.« Aus einem Reflex heraus sagte Dixit: »Die Preise sind zu hoch.« Er entzog sich der drohenden Debatte und ließ sich von der Menge forttragen; der Händler rief hinter ihm her. Andere Händler, die sein Interesse an ihren Waren spürten, sprachen ihn an. Er sah wirklich schöne Arbeiten, alle winzig klein, und nicht nur Le-
bens-Objekte, sondern erstaunlich kleine Uhren, die nicht nur Sekundenzeiger, sondern auch Millisekundenzeiger hatten. In einigen Fällen war der Millisekundenzeiger der größte; in anderen fehlte der Stundenzeiger oder war durch einen Tageszeiger ersetzt. Und die Uhren hatten viele ungewöhnliche Formen Tetrakishexaeder und andere, bis hin zu derjenigen der Lebens-Objekte. Zustimmend dachte Dixit: Die Uhrenindustrie erfüllt ein menschliches Bedürfnis nach Feinheit und Präzision der Arbeit, während sie gleichzeitig nur eines Minimums an Material bedarf. Diese Leute im totalen Environment sind die großartigsten Handwerker der Welt. Über eine seltsame Uhr gebeugt, deren Farbe sich veränderte, spürte er plötzlich, daß er in Gefahr war. Über seine Schulter blickend sah er den Mann mit den unangenehmen Orangenaugen, der zum Schlag gegen ihn ausgeholt hatte. Dixit machte eine Ausweichbewegung, ohne den Schlag ganz vermeiden zu können. Als der Schlag ihn seitlich am Halse traf, stolperte er und stürzte – fiel unter die mahlenden Füße. 6 Hernach konnte Dixit kaum sagen, daß er völlig bewußtlos gewesen sei. Er hatte bemerkt, daß Hände ihn wegzerrten, daß man ihn teilweise trug, hatte viele Stimmen gehört und wiederholt den Namen »Patel« ... Und als er wieder ganz zu sich gekommen war, lag er in einem engen Raum, und ein Wächter mit einem schmutzigen Turban auf dem Kopf stand
an der Tür. Sein erster, nebelhafter Gedanke war, daß er sich in einer Schiffskabine befinde. Dann wurde ihm freilich klar, daß es sich um einen für hiesige Maßstäbe großen Raum für nur eine Person handelte. Er war Gefangener im totalen Environment. Eine Art selbstironischer Furcht befiel ihn. Er hatte den Schlag fast erwartet, wie er sich jetzt erinnerte. Unruhig sah er sich nach der versteckten Kamera um, die ihm die Gewißheit geben würde, daß seine UDFFreunde draußen über seine Situation nicht im unklaren waren. Aber nirgends war ein Objektiv zu entdecken. Der Grund war ihm bald klar: Der Raum war von einem größeren abgeteilt worden, und die Überwachungskamera war offensichtlich im anderen Teil – ob zufällig oder durch Absicht, konnte er nicht ergründen. Der Wächter war jetzt verschwunden. Durch die Tür war Flüstern zu hören. Dixit spürte die lastende Gegenwart vieler Leute draußen. Dann kam eine Frau herein und schloß die Tür. Sie ging gebückt und trug einen Blechnapf mit Wasser. Obwohl ihr Gesicht voller Falten war, konnte man noch sehen, daß sie einmal schön, vielleicht sogar stolz gewesen war. Jetzt drückte ihr ganzes Verhalten die Niederlage ihres Lebens aus. Und die Frau war vielleicht nicht älter als achtzehn! Eine der schrecklichen Besonderheiten des Environments war die Art, wie die Einschließung von Anfang an Lebensvorgänge beschleunigt und das Leben verkürzt hatte. Unwillkürlich wich Dixit vor der Frau zurück. Sie lächelte. »Haben Sie keine Angst, Sir. Ich bin fast ebenso sehr eine Gefangene wie Sie. Glauben Sie auch nicht, daß Sie entkommen können, wenn Sie
mich niederschlagen. Ich versichere Ihnen, draußen vor der Tür sind fünfzig Leute, die alle begierig sind, Prahlad Patel zu imponieren, indem sie Sie einfangen, sollen Sie zu entkommen versuchen.« Also hält mich Patel in seinen Klauen, dachte er. Laut sagte er: »Ich werde Ihnen nichts tun. Ich möchte Patel sehen. Wenn auch Sie eine Gefangene sind, sagen Sie mir Ihren Namen, vielleicht kann ich Ihnen helfen.« Als sie ihm den Napf reichte und er trank, sagte sie leise: »Ich beklage mich nicht, denn mein Los könnte noch viel schlimmer sein, als es ist. Bitte sagen Sie nichts von mir zu Patel, sonst wirft er mich vielleicht aus seinem Haushalt. Mein Name ist Malti.« »Vielleicht könnte ich Ihnen bald helfen und allen Ihren Leidensgenossinnen. Ihr seid hier in einer Art Gefangenschaft, auch der große Patel, und aus ihr hoffe ich euch zu befreien.« Dann sah er Angst in ihren Augen. »Sie sind wirklich ein Spion von draußen!« hauchte sie. »Aber wir möchten nicht, daß jemand in unsere arme kleine Welt eindringt! Ihr habt so viel, laßt uns das Wenige, was wir haben!« Sie wich von ihm zurück, schlüpfte durch die Tür hinaus und ließ Dixit zurück mit dem Eindruck ihrer melancholischen Augen, deren matter Blick die Bürde verriet, die auf ihr lastete. Von draußen war weiter ein Gewirr von Stimmen zu vernehmen. Obwohl er sich immer noch unwohl fühlte, setzte er sich auf und ließ seinen Gedanken freien Lauf. »Ihr habt so viel – laßt uns das Wenige, was wir haben ...« Alle ihre Werte waren pervertiert
worden. Die Armen – sie waren sich weder der Kleinheit ihrer eigenen Welt noch der Größe der Außenwelt bewußt. – Dieser Misthaufen war für sie der Inbegriff des Schönen und Wertvollen. Zwei Wächter kamen, die reinsten Kinder. Er hätte ihnen die Köpfe zusammenstoßen können, aber Mitleid ergriff ihn. Sie führten ihn durch einen Raum voll aufgeregter Leute; über ihren glänzenden Gesichtern flackerte fahl der Bildschirm hinter seinem Maschengitter. Dixit sah, wie schwach das Bild der Außenwelt war. Man führte ihn in einen anderen abgeteilten Raum. Zwei Männer sprachen dort miteinander. Die Szene beeindruckte Dixit auf eigentümliche Weise, und nicht nur deswegen, weil er in einer mißlichen Lage war. Es war ein fremdartiger Anblick. Die Ärmlichkeit selbst der schönsten Einrichtungsgegenstände, das verstümmelte Hindi, das hier gesprochen wurde, alles bestärkte den Eindruck von Fremdartigkeit. Und die Ausstrahlung von Patels Charakter füllte den Raum. Es konnte kein Zweifel bestehen, wer Patel war. Der dickliche, katzenbuckelnde Kerl, der händeringend protestierte, war nicht Patel. Patel war der stämmige weißhaarige Mann mit der schweren Unterlippe und der hohen Stirn. Dixit hatte ihn über die Monitoranlage in genau diesem Raum gesehen. Aber als Gefangener darauf zu warten, daß er ihn eines Blickes würdigte, war eine Erfahrung ganz anderer Art. Dixit versuchte, den ersten Eindruck zu analysieren, den Patel auf ihn machte, aber es gelang ihm nicht.
Kaum vorstellbar, daß Patel nach den Maßstäben der Außenwelt nicht viel älter als neunzehn oder zwanzig sein konnte. Hier war die Zeit komprimiert unter dem psychischen Druck des totalen Environments. Wie die Hieroglyphen dieser neuen Relativität hingen große, detaillierte Pläne des Environments an einer der Wände, während auf die anderen Zahlen und Namen geschrieben waren. Der Raum war das Nervenzentrum des obersten Decks. Aus den Unterlagen der UDF wußte er einiges über Patel. Mit Gewalt hatte er sich schon in jungen Jahren zum Beherrscher des obersten Decks gemacht. Beobachter der UDF hatte er dadurch überrascht, daß er nicht die üblichen Eroberungszüge in andere Decks unternahm. Patel sagte gerade zu dem katzenbuckelnden Mann: »Sei ruhig! Du versuchst, die Wahrheit mit Argumenten zu vernebeln. Du hast die Zeugen gehört, die gegen dich aussagten. Während deiner Wache auf den Stufen hat dich ein Mann vom neunten Deck bestochen, und du ließest ihn hier herauf.« »Nur für winzige siebzehn Minuten, Sir Patel!« »Ich weiß, daß jeden Tag solche Dinge passieren, verworfener Raital. Aber der Kerl, den du durchließest, stahl das Lebens-Objekt Narayan Farhads, und deswegen ist Narayan Farhad heute nacht im Schlafe gestorben. Narayan war nicht wichtiger als du es bist, aber er war mir nützlich. Und deshalb ist es geboten, daß er gerächt werde.« »Was immer Sie wünschen, Sir Patel!« »Schweig, verworfener Raital!« Während er sprach, beobachtete Patel Raital mit Interesse. Und er sprach mit fester, überlegter Stimme, die Dixit mehr beein-
druckte, als wenn er geschrien hätte. »Du sollst Narayan rächen, Raital, weil du seinen Tod verursacht hast. Geh jetzt. Du wirst nicht bestraft werden. Du wirst gehen und das Lebens-Objekt des Burschen stehlen, von dem du dich bestechen ließest. Dieses Lebens-Objekt wirst du mir bringen. Du hast einen Tag Zeit. Andernfalls werden meine Mörder dich finden, wo immer du dich versteckst, und sei es unten in Deck eins.« »Oh, ja, in der Tat, Sir Patel, alle Menschen wissen ...« Raital beugte sich fast bis zum Boden hinunter, während er irgendeine Formel murmelte, um sein Gesicht zu wahren. Er drehte sich um und trippelte davon, als Patel ihn entließ. Stärke, dachte Dixit, Stärke und auch Schläue. Das ist es, was Patel ausstrahlt. Eindrucksvolle, bestehende Subtilität. Der Satz gefiel ihm, schien etwas Wirkliches auszudrücken, das er bei Patel entdeckt hatte. Eindrucksvolle, bestechende Subtilität. Zweifellos lag es in Patels Absicht, daß Dixit dieser Demonstration seiner Methoden beiwohnen sollte. Patel wandte sich ab, verschränkte die Arme und betrachtete aus nächster Nähe ein kahles Stück Wand. Er verharrte bewegungslos. Die Wachen zwangen Dixit, sich still zu halten, aber Patel hielt sich noch stiller. Minutenlang geschah nichts. Dixit begann, das normale Zeitgefühl zu verlieren. Patels Gewohnheit, sich abzuwenden und die Wand anzustarren – er war nicht der einzige, der das tat – wirklich unheimlich; über die Monitoranlage hatte Dixit ihn mehrere Male dabei beobachtet. Diese Gewohnheit war es vielleicht, dachte er, die Crawley auf die Idee gebracht hatte, im
Turm gebe es ESP-Phänomene. Seltsam, daß er jetzt an Crawley dachte. Obwohl Crawley vielleicht in diesem Moment Dixits Gesicht auf dem Monitor beobachtete, war Crawley jetzt für ihn nicht mehr als eine Hypothese. Malti brachte Bewegung in das erstarrte Bild. Mit einem feuchten Tuch auf einem Tablett betrat sie den Raum und wartete geduldig darauf, daß Patel sie bemerkte. Abrupt wandte er sich von der Wand ab, die er eben noch bewegungslos angestarrt hatte, und bedeutete den Wachen, sie sollten gehen. Ohne Dixit eines Blickes zu würdigen, setzte er sich auf einen Stuhl und ließ Malti das feuchte Tuch um seinen Hals legen. Das Tuch strömte einen aromatischen Geruch aus. »Das Handtuch ist nicht kühl genug, Malti, und auch nicht feucht genug. Du wirst mich ordentlich bedienen bei dieser Morgensitzung, oder du wirst diese leichte Arbeit verlieren.« Plötzlich ging sein Blick, der jetzt schwarz und forschend war, zu Dixit. »Nun, Spion«, sagte er, »Sie wissen, daß ich hier der Herr bin. Sie fragen sich wohl, warum ich alte Frauen wie diese hier bei mir dulde, wo ich mich doch von jungen und lieblichen Mädchen umschmeicheln lassen könnte?« Dixit sagte nichts, und der selbsternannte Herr fuhr fort: »Junge Mädchen würden mich durch den Altersunterschied nur an meine fortgeschrittenen Jahre erinnern. Dieser alte Sack aber – den ich erst gestern kaufte – dieser alte Sack ist nur ein wenig jünger als ich und läßt mich im Vergleich gut aussehen. Sie begreifen, in diesem Gefängnis-Universum sind wir Meister der Philosophie; Meister des materiellen
Reichtums wie ihr draußen können wir nicht sein!« Wieder sagte Dixit nichts; die Haltung, die der Mann Frauen gegenüber einnahm, widerte ihn an. Ein wuchtiger Schlag traf ihn plötzlich in den Magen. Er schrie auf und stürzte zu Boden. »Stehen Sie auf, Spion!« sagte Patel. Seine Bewegung war blitzschnell gewesen. Er setzte sich wieder auf seinen Stuhl und ließ Malti seine Nackenmuskeln massieren. 7 Während Dixit sich hochrappelte, sagte Patel: »Sie leugnen nicht, daß Sie von draußen sind?« »Ich habe nie versucht, es zu leugnen. Ich komme von draußen, um mit Ihnen zu sprechen.« »Sie sagen nichts, bis man Sie auffordert zu sprechen. Eure Leute haben in den letzten paar Monaten mehrere Spione zu uns hereingesandt. Warum?« Noch ganz benommen von dem Schlag sagte Dixit: »Sie sollten begreifen, daß wir Ihre Freunde sind und nicht Ihre Feinde, und unsere Männer Gesandte und keine Spione.« »Pah! Ihr seid alle Spione! Sitzt ihr nicht herum und bespitzelt uns in jedem Raum? Ihr lebt in einer komischen, kleinen, langweiligen Welt da draußen, nicht wahr? So sehr interessiert ihr euch für uns, daß ihr an nichts anderes mehr denken könnt! Weiter so, Malti! Kleiner Spion, wissen Sie, was all den andern Spionen passierte, die Ihre neugierigen Leute uns hereinschickten?« »Sie starben«, sagte Dixit.
»Genau. Sie starben. Aber Sie sind der erste, den man in Patels Deck geschickt hat. Was anderes als den Tod erwarten Sie hier?« »Noch ein Todesfall wird meine Vorgesetzten sehr befremden, Patel. Sie mögen, was mich betrifft, über Leben und Tod entscheiden; die Leute draußen aber haben die gleiche Gewalt über Sie und Ihre ganze Welt. Wollen Sie, daß ich es Ihnen vorführe?« Patel stand auf, warf das Handtuch von sich und sagte: »Führen Sie es vor!« Es muß sein, dachte Dixit. Mit festem Blick in Patels Augen hob er seine rechte Hand über den Kopf und machte eine Bewegung mit seinem Daumen. Gebe der Himmel, daß sie zusehen – und Gott sei Dank ist dieser Bereich des abgeteilten Raumes derjenige, wo sich die Monitor-Kamera befindet! Gespannt starrte Patel ihn an, wippte auf seinen Zehen. Auch Malti starrte ihn an. Nichts geschah. Dann ging etwas wie ein Schaudern durch das Environment. Es begann langsam, hörbar als ein Gemisch von Stöhnen und Schreien. Als die Luft in diesem nicht so überfüllten Raum heiß und stickig zu werden begann, wurde der Grund dafür deutlich. Dixits Signal war also angekommen; Crawley beobachtete ihn, und die Klimaanlage pumpte heißes Kohlendioxyd herein. »Sehen Sie? Sogar die Luft, die Sie hier atmen, haben wir unter Kontrolle!« sagte Dixit. Er ließ seinen Arm sinken, und langsam wurde die Luft wieder normal, obgleich es mindestens eine Stunde dauern würde, bis sich unten in den Gängen die Furcht wieder legte. Welchen Eindruck diese Demonstration auch auf
Patel gemacht haben mochte, seine Miene verriet nichts davon. Vielmehr sagte er: »Ihr kontrolliert die Luft, sehr gut. Aber ihr kontrolliert nicht den Willen, sie für dauernd abzustellen – und somit kontrolliert ihr nicht die Luft. Spion, eure Drohung ist leer! Aus irgendeinem Grund braucht ihr uns zum Leben. Wir sind im Besitz eines Geheimnisses, nicht wahr?« »Ich sehe keinen Grund, warum ich Ihnen gegenüber nicht aufrichtig sein sollte, Patel. Eure besondere Umwelt muß besondere Talente in euch erzeugt haben. Wir sind interessiert an diesen Talenten; aber auch nicht mehr als das.« Patel kam näher und starrte in Dixits Gesicht, so wie er vorher die kahle Wand angestarrt hatte. Zorn brodelte in ihm; Gesicht und Hals verfärbten sich dunkel. Endlich sprach er. »Wir sind der Mittelpunkt eurer Welt dort draußen, nicht wahr? Wir wissen, daß ihr uns die ganze Zeit beobachtet. Wir wissen, daß ihr viel mehr als nur ›interessiert‹ seid! Für euch geht es hier um eine Angelegenheit von Leben und Tod, nicht wahr?« Das war mehr, als Dixit erwartet hatte. »Vier Generationen, Patel, vier Generationen sind im Environment eingekerkert.« Seine Stimme bebte. »Vier Generationen, und trotz unserer guten Absichten verliert ihr den Kontakt mit der Realität. Ihr lebt in einem einzigen, relativ kleinen Gebäude auf einem ziemlich großen Planeten. Also könnt ihr für die Welt als Ganzes nur von beschränktem Interesse sein.« »Malti!« Patel wandte sich der Sklavin zu. »Welche ist größer, die Außenwelt oder unsere?« Sie machte ein verwirrtes Gesicht, verharrte zögernd bei der Tür, als wollte sie fliehen. »Die Außen-
welt war groß, Meister, aber sie hat uns das Leben geschenkt, und wir sind gewachsen und wachsen weiter und werden stärker. Das Kind hat jetzt fast die Größe des Vaters. So sagt Jamsu, der Sohn meines Stiefvaters, und er ist klug.« Patel wandte sich zu Dixit, und ein hochmütiger Ausdruck lag auf seinem Gesicht. Er sagte nichts, als reichten die Worte eines unwissenden Mädchens hin, seine Aussage zu beweisen. »Alles, was Sie und das Mädchen sagen, unterstreicht in meinen Augen nur, wie sehr ihr der Hilfe bedürft, Patel. Die Welt draußen ist groß und wohlhabend; Ihr müßt ihr erlauben, euch durch mich Hilfe zu leisten. Wir sind nicht eure Feinde.« Wieder machte sich Patels cholerischer Zorn bemerkbar und verlieh seinen Worten Nachdruck. »Was solltet ihr sonst sein, Spion? Euer Leben dort draußen ist elend und sinnlos, nicht wahr? Ihr beneidet uns, weil wir uns über euch hinausentwickeln! Unser Volk – vielleicht sind wir arm, und vielleicht glaubt ihr, uns in eurer Gewalt zu haben. Aber wir regieren unser eigenes Universum. Dieses Universum dehnt sich aus und kommt Tag für Tag mehr unter unsere Kontrolle. Unsere Forscher haben sich Eingang in die Welt des Ultra-Kleinen verschafft. Wir entdecken neue Welten, neue Lebensweisen. Nach euren Maßstäben sind wir vielleicht wissenschaftliche Bauern. Aber ich bin sicher, daß wir Kenntnisse von den Wegen des Blutes und den ewigen Gesetzen des Zellenaustausches kennen, die ihr nicht verstehen könnt. Ihr haltet uns alle für Gefangene, wie? Und doch seid ihr Gefangene der Notwendigkeit, uns mit Luft und Nahrungsmitteln und Wasser zu versorgen.
Wir sind frei. Wir sind arm, und dennoch begehrt ihr unseren Reichtum. Wir werden ständig bespitzelt, und dennoch haben wir unser Geheimnis. Für euch ist es nötig, uns zu verstehen, wir aber brauchen euch nicht zu verstehen. Ihr seid in unserer Gewalt, Spion!« »Bestimmt nicht in einer sehr wesentlichen Hinsicht, Patel. Ihr werdet genauso wie wir von historischen Notwendigkeiten beherrscht. Dieses Environment wurde vor fünfundzwanzig unserer Jahre erstellt. Nicht nur hier drinnen, sondern auch draußen hat es Veränderungen gegeben. Die Nationen der Welt sind nicht länger bereit, dieses Projekt zu finanzieren. Es wird völlig gestoppt werden, und ihr werdet draußen leben müssen. Wenn Sie das aber nicht wollen, sollten Sie mit uns zusammenarbeiten und auch die Führer der anderen Decks dazu überreden.« Würden Drohungen auf Patel wirken? Sein Blick bohrte sich in Dixit wie eine Schwertspitze. Nach einer tödlichen Pause klatschte er in die Hände. Sofort erschienen zwei Wächter. »Führt den Spion ab«, sagte Patel. Dann drehte er ihm den Rücken zu. Ein cleverer Mann, dachte Dixit. Er saß allein in der Zelle und meditierte. Es schien, als sollte es zu einem intellektuellen Kräftemessen zwischen ihm und Patel kommen. Nun, er war gut vorbereitet. Er vertraute seinem ersten Eindruck, daß Patel ein Mann von bestechender Subtilität sei. Es war nicht anzunehmen, daß er alles genauso meinte, wie er es sagte. In Gedanken ging Dixit noch einmal ihre Unterhaltung durch. Man hatte ihm die geheimnisvollen Lebens-Objekte vorgeführt. Und Patel hatte geflis-
sentlich die Außenwelt herabgesetzt: »komische, langweilige kleine Welt« hatte er sie genannt. Er hatte Malti veranlaßt, ihre primitive Ansicht vorzubringen, daß das Environment wachse, die sehr gut zu seiner eigenen Prahlerei paßte. Was darauf schließen ließ, daß er ihre Ansicht bereits kannte. Andererseits hatte er sie erst am Vortag gekauft. Warum sollte ein vielbeschäftigter Mann, ein Führer, sich die Zeit nehmen, eine unwissende Sklavin nach ihrer Meinung über die Außenwelt zu befragen, wenn er nicht ein starkes Bedürfnis nach Nachrichten über diese Welt hatte, ja nach ihnen lechzte. Ja, nickte Dixit sich selber zu. Patel war besessen von der Außenwelt und versuchte, diese Besessenheit zu verbergen. Aber verschiedene kleine Widersprüche in seinen Äußerungen hatten sie offenbar gemacht. Natürlich war es möglich, daß Maltis Fehlmeinungen so sehr denen der anderen Bewohner des Environments entsprachen, daß ihr Inhalt unschwer vorherzusagen war. Dennoch, er konnte noch nicht sicher sein, daß er Patel zu verstehen begann. Zum Teil waren seine Äußerungen durchaus einleuchtend gewesen. Diese armen Teufel erforschten die Welt des Ultra-Kleinen. Es war die einzige Landschaft auf der Karte, die für sie übrig blieb. Sie waren Menschen, und in ihnen brannte immer noch dieser unstillbare Durst des Menschen nach neuer Erkenntnis. Auf diesem Gebiet also wußten sie etwas. Gut möglich, daß sie, wie Crawley angenommen hatte, ein mehr oder weniger verläßliches System von ESP besaßen, das anders war als die wild fluktuierenden
telepathischen Strahlungen in der Außenwelt. Er fühlte sich zuversichtlich, voll von Engagement. Hier gab es noch viel zu erforschen. Das ausgeklügelte und oft mißbrauchte Überwachungssystem erwies sich jetzt als völlig wirkungslos, die Überwacher hatten nicht in das Problem eindringen können. Es war immer noch ihr Problem, aber nicht ihr Leben. Erforderlich war, daß ein ganzes Team in das Environment kam und hier lebte, vielleicht sogar eines in jedem Deck, Anthropologen und so weiter. Da dies unmöglich war, gab es nur eine Alternative: Die Bewohner des Environments mußten aus ihrer Gefangenschaft entlassen werden. Diejenigen, die nicht willens waren, weit von hier fortzuziehen, sollten in neuen Dörfern in der Gangesebene angesiedelt werden. Und während sie sich dort an die wirkliche Welt anpaßten, konnten Beobachter mit ihnen leben und in Bescheidenheit etwas über die Gaben lernen, die sie sich hinter den dicken Mauern des totalen Environments unter so großen Entbehrungen angeeignet hatten. Während Dixit in Gedanken versunken dasaß, brachte ein Wächter ihm eine Mahlzeit. Dankbar aß er und begann dann von neuem mit seinen Überlegungen. Das Wenige, was er bis jetzt erlebt hatte – die schauderhafte Beengtheit des Lebensraumes, die Sklaverei, das abartige Denken, zu dem man die Leute zwang, der Despotismus der kleinen Herrscher – alles hatte ihn in der Ansicht bestärkt, daß dieses Experiment in seiner gegenwärtigen Form sofort beendet werden mußte. Die UNO bedurfte seines negativen Berichts, um handeln zu können; sie würde ihn
bekommen, sobald er das Environment wieder verlassen hatte. Und wenn er den Bericht sorgfältig formulierte, betonte, daß diese Leute viele Talente anzubieten hatten, dann würden vielleicht auch Crawley und seine Gesinnungsgenossen zufrieden sein. Es stand in seiner Macht, alle Parteien zufriedenzustellen, wenn er wieder hinauskam. Darauf kam es jetzt an: Wieder hinauszugelangen. Der Wächter kam zurück, um die leere Schüssel zu holen. »Wann wird Patel wieder mit mir sprechen?« Der Wächter sagte: »Wenn er nach Ihnen schickt, um Sie für immer zum Schweigen zu bringen.« Da dachte Dixit nicht länger an die Formulierungen seines Berichts. 8 Geraume Zeit verstrich, bis Dixit wieder Besuch bekam, und dann war es nur die demütige Malti, die ihm ein Glas Wasser brachte. »Ich möchte mit dir reden«, sagte Dixit drängend. »Nein, nein, ich kann nicht sprechen! Er wird mich schlagen. Jetzt ist die Stunde, wo wir schlafen und wo die Alten sterben. Sie sollten jetzt schlafen, und Patel wird am Morgen mit Ihnen sprechen.« Er versuchte, ihre Hand zu berühren, aber sie zog sie zurück. »Du bist ein gutes Mädchen, Malti. Du leidest in Patels Haushalt.« »Er hat viele Frauen, viele Bedienstete. Ich bin nicht allein.«
»Kannst du nicht zurück zu deiner Familie gehen?« Sie senkte den Blick. »Es würde meiner Familie Unannehmlichkeiten bringen. Die Sklaverei ist das Los vieler Frauen. Sie gehört nun einmal zum Leben.« »Nicht in der Welt, aus der ich komme!« Ihre Augen blitzten. »Ihre Welt interessiert uns nicht!« Als sie gegangen war, dachte Dixit: Sie hat Angst vor unserer Welt. Mit Recht. In dieser Nacht schlief er nur wenig. Selbst hier, in Patels verbarrikadierter Festung, konnte er immer noch die Geräusche des Environments hören: Nicht nur die Stimmen, die verstummten, auch Gurgeln und Zischen von Rohren in den Wänden. Am Morgen wurde er in einen größeren Raum gebracht, wo Patel einer Anzahl Untergebener Befehle für den kommenden Tag erteilte. In einer Ecke wartend, verfolgte Dixit alles mit Interesse. Es wuchs noch, als der unglückliche Wächter Raital erschien. Er stürzte herein und wartete darauf, daß Patel ihn schlage. Statt dessen stieß ihn Patel mit dem Fuß. »Hast du ausgeführt, was ich dir gestern befahl?« Sofort begann Raital, weinend die Hände zu ringen. »Sir Patel, ich tat, wie Sie mir befahlen, und noch mehr, und mußte große Schmerzen erleiden und mich die Treppe hinunterprügeln lassen, wo die Leute vom neunten Deck mich beim Plündern erwischten. Sie müssen sie angreifen, Sir, und sie lehren, nicht unverfroren Ihrer getreuen Wächter zu spotten, die all dies nur tun ...« »Schweig, du Hundefresser! Bringst du mir das, was ich gestern von dir verlangte?«
Aus einer Tasche seines abgerissenen Hemdes holte der unglückliche Wächter einen kleinen Gegenstand, den er Patel hinhielt. »Natürlich habe ich Ihren Befehlen gehorcht, Sir Patel. Um diesen Gegenstand zu sichern, als die Leute mich ergriffen, schluckte ich ihn ganz, Sir, hinunter in meinen Magen, damit ihm nichts geschah und damit sie nicht wußten, was ich vorhatte. Dann gab meine Frau mir eine scharfe Medizin, so daß ich es wieder ausspie und sicher zu Ihnen bringen konnte.« »Leg das schmutzige Ding auf das Bett dort drüben! Glaubst du, ich will es berühren, wenn es in deinem wurmigen Bauch war, Sklave?« Mit demütigen Gesten tat der Wächter, wie ihm geheißen. »Du bist sicher, daß es das Lebens-Objekt des Mannes ist, der Narayan Farhads Lebens-Objekt stahl, und daß es niemand anderem gehört?« »Ja, wirklich, Sir Patel! Es gehört einem Mann namens Gita, dem nämlichen, der Narayans LebensObjekt stahl, heute nacht werden Sie sehen, daß er an Nacht-Visionen stirbt!« »Hinaus!« Als der Wächter davoneilte, versetzte ihm Patel noch einen schnellen Tritt in das Gesäß. Eine Reihe von Leuten wartete darauf, mit ihm sprechen zu dürfen oder ihm Bitten vorzutragen. Während Patel sich mit ihnen beschäftigte, zeigte er sich besserer Laune als seinem unglücklichen Wächter gegenüber. Für Dixit war die Szene von eigenartigem Interesse; mehr als einmal hatte er in der UDFMonitor-Station zusammen mit Crawley Patels Mor-
genaudienz beobachtet. Jetzt war er ein Gefangener, der unruhig in einer Ecke des Raumes wartete, und die ganze Atmosphäre war anders. Er spürte die außerordentliche Intensität des Lebens dieser Leute, die Dichte ihrer Emotionen. Patel selbst weinte mehrmals, wenn ihm von einem unglücklichen Schicksal berichtet wurde. Nichts blieb unter den Gesprächspartnern. Alle standen um ihn herum, hörten allem zu. Ihr Leben mochte kurz sein; aber die Leere, die oft ein normales Leben durchzieht, und durch die man bedrückende Armut und Düsternis, wenn nicht noch Schlimmeres erahnt, schien hier nicht zu existieren. Das totale Environment hatte seinen Leuten totale Integration beschert. Was immer geschah, sie waren vereint wie Bienen in ihrem Stock. Schließlich wurde eine Pause verkündet. Die Unglücklichen, die noch keine Gelegenheit gehabt hatten, mit Patel zu sprechen, wurden weggeschickt. Malti kam und behandelte Patel mit ihrem feuchten Handtuch. Später entließ er sie und nahm ein frugales Mahl zu sich. Erst als es beendet war und nachdem er kurz in Gedanken verharrt hatte, wandte er seine grüblerische Aufmerksamkeit Dixit zu. Er bedeutete Dixit, er solle das Objekt herbeiholen, das Raital auf einem Brett abgelegt hatte. Dixit tat es und stellte es vor Patel hin. Es mit Interesse betrachtend, sah er, daß es ein kompliziertes kleines Modell war, ähnlich denen, die auf dem Balkon zum Verkauf gestanden hatten. »Sehen Sie es sich gut an«, sagte Patel. »Es ist das Lebens-Objekt eines Mannes. Habt ihr diese« – er machte eine vage Geste – »draußen?« »Nein.«
»Wissen Sie, was das ist?« »Nein.« »In dieser unserer Welt, Mr. Dixit, haben wir viele Heilige Männer. Ich habe hier einen Heiligen Mann, der unter meinem Schutz steht. In dem Deck unter uns gibt es einen sehr berühmten Heiligen Mann, Vazifdar. Diese Männer sind im Besitz von Kräften vieler Art. Heute abend werde ich meinem Heiligen Mann dieses Lebens-Objekt geben, und damit wird er in der Lage sein, in das Wesen des Mannes, dem es gehört, zum Guten oder zum Schlechten einzudringen – in diesem Falle zum Schlechten, denn er wird einen Tod durch einen Tod rächen.« Dixit starrte das kleine Objekt an, eine verwirrende, dreidimensionale Konstruktion aus Silber- und Plastikstreifen, und versuchte, Patels Worte zu verstehen. »Dies ist also eine Art Schlüssel zum Wesen seines Besitzers?« »Nein, nein, kein Schlüssel, und nicht zu seinem Wesen. Es ist ein – nun, wir haben kein wissenschaftliches Wort dafür, und unser Wort würde für Sie nichts bedeuten – ich kann also nicht sagen, was es ist. Es ist, sagen wir, eine Kopie, eine Substitution für das Sein des Mannes. Nicht für sein Wesen, für sein Sein. In diesem Fall handelt es sich um einen Mann namens Gita. Das interessiert Sie sehr, nicht wahr?« »Hat jeder eins davon?« »Selbst die Ärmsten und auch die älteren Kinder. Ein Weiser arbeitet mit einem Schmied zusammen und stellt jedes einzelne Lebens-Objekt her.« »Aber es kann gestohlen werden; dann kann ein Heiliger Mann mit bösen Absichten es dazu benut-
zen, um seinen Eigentümer zu töten. Warum werden sie dann angefertigt? Ich verstehe das nicht.« Lächelnd machte Patel eine kleine Bewegung der Ungeduld. »Was man von sich selbst entdeckt, hält man fest. So werden diese Dinge gemacht. Sie dienen nicht als Schmuck; sie halten fest, was ein Mensch von sich selbst entdeckt hat.« Dixit schüttelte den Kopf. »Wenn es etwas so Persönliches ist, warum werden dann so viele von Straßenhändlern als Schmuckgegenstände angeboten?« »Menschen sterben. Dann haben ihre LebensObjekte keinen Wert mehr, außer als Schmuckgegenstände. Außerdem verleihen sie dem Volksglauben nach ... nun, Persönlichkeit. Überdies gibt es eine große Anzahl von Fälschungen, die die Leute kaufen, weil sie sie gern haben möchten, einfach zur Dekoration.« Nach kurzem Schweigen sagte Dixit: »Es sind also unschuldige Dinge, aber Sie gebrauchen sie, um Böses zu tun.« »Ich brauche sie zur Erhaltung eines Kräftegleichgewichts. Einer meiner Männer namens Narayan wurde durch Gita vom neunten Deck zum Schweigen gebracht. Warum, spielt keine Rolle. Also bringe ich heute nacht Gita zum Schweigen, um das Gleichgewicht aufrechtzuerhalten.« Er verstummte und sah Dixit so durchdringend an, daß dieser sich der Ausstrahlung dieser rätselhaften Persönlichkeit nicht entziehen konnte. Er öffnete seine Hand und sagte, immer noch Dixit fixierend: »Der Tod sitzt in meiner Hand, Mr. Dixit. Heute abend werde ich auch Sie zum Verstummen gebracht haben, wenn auch mit für Ihre Augen konventionelleren
Methoden.« Seine Hände ineinander pressend, sagte Dixit: »Sie erzählen mir von den Lebens-Objekten, und dennoch behaupten Sie, daß Sie mich töten werden.« Patel deutete zu einer der Ecken des Raumes hinauf. »Dort sind Augen und Ohren, und Ihre gierig spionierenden Freunde saugen die Tatsache dieser Welt in sich ein. Sehen Sie, ich kann ihnen – ich kann ihnen noch so viel sagen, und sie werden unser Leben nicht verstehen. Das Wichtige kann man nicht sagen, und deshalb werden sie es nicht erfahren. Heute abend aber können sie Sie sterben sehen, und das werden sie verstehen. Vielleicht werden sie es dann aufgeben, Spione zu uns zu senden.« Er klatschte in die Hände. Wächter kamen und führten Dixit ab. Als er zu seiner Zelle zurückging, hörte er Patel nach Malti rufen. 9 Die Stunden vergingen in düsterer Monotonie. Weder die UNO noch die UDF würde ihn retten; die Charta des Environments erlaubte nicht, daß mehr als ein Vertreter der Außenwelt aktiv wurde. Um sich herum konnte Dixit das pulsierende Leben hören und fühlen, und es erschütterte ihn. Er versuchte, an die Lebens-Objekte zu denken. Vermutlich hatte Crawley ihr letztes Gespräch mitgehört und würde nun wissen, daß die Heiligen Männer, wie Patel sie nannte, imstande waren, aus der Entfernung zu töten. Das war der Beweis für ESP, den Crawley suchte: Telecid, oder wie immer man es
nennen wollte. Und dieses Wissen half niemand, wie Patel selbst erklärt hatte. Schon lange war bekannt gewesen, daß afrikanische Zauberer Menschen verhexen und aus der Entfernung töten konnten. Wie sie es taten, war aber nie geklärt worden, ja der Westen, der sich mit so viel Aufwand um neue Tötungsmethoden bemühte, hatte sich nicht einmal richtig damit beschäftigt. Es gab Dinge, die eine Zivilisation nicht von der anderen lernen konnte. Dixit begriff, daß die ganze Angelegenheit mit den Lebens-Objekten so etwas sein würde: Unendlich faszinierend, völlig unlösbar ... Und Patel war ihm noch immer ein Rätsel. Aber es hat keinen Sinn, hier nur ratlos herumzusitzen. Hier bin ich und warte darauf, ein Messer zwischen die Rippen zu bekommen. Es muß jetzt Nacht sein. Ich muß hier heraus. Aber es war unmöglich, aus dem Raum zu kommen. Ruhelos ging er auf und ab. Man brachte ihm nichts zu essen, was ein schlimmes Omen war. Lange später sperrte jemand die Tür auf und öffnete sie. Es war Malti. Mit erhobenem Finger bedeutete sie ihm zu schweigen, und schloß die Tür hinter sich. »Ist es Zeit für mich ...?« fragte Dixit. Schnell kam sie zu ihm herüber, starrte ihn an, ohne ihn zu berühren. Obwohl sie häßlich und verzagt war, war Schönheit in ihren Augen, die so viel gesehen hatten. »Ich kann Ihnen zur Flucht verhelfen, Dixit. Patel schläft jetzt, und ich habe mich der Hilfe der Wächter hier versichert. Vorkehrungen sind getroffen worden, um Sie hinunter zu meinem eigenen Deck zu
schmuggeln, von wo aus Sie vielleicht zurück in die Außenwelt gelangen können, in die Sie gehören. Hier gibt es viele geheime Arrangements. Aber Sie müssen sich beeilen. Sind Sie bereit?« »Er wird dich töten, wenn er es herausbekommt!« Sie zuckte die Achseln. »Vielleicht auch nicht. Es könnte sein, daß er mich mag. Prahlad Patel ist nicht unmenschlich, was immer Sie von ihm halten.« »Nein? Aber er hat vor, heute nacht auch noch jemand anderen zu töten. Er hat sich das Lebens-Objekt irgendeines armen Kerls verschafft und beabsichtigt, ihn von seinem Heiligen Mann mit Nachtvisionen töten zu lassen, was immer das sein mag.« Sie sagte: »Alle Menschen müssen sterben. Aber Sie haben Glück. Sie werden nicht sterben, nicht heute nacht.« »Wenn du die Dinge so fatalistisch siehst, warum willst du mir dann helfen?« In ihren Augen sah er jetzt einen trotzigen Ausdruck. »Weil Sie für mich eine Nachricht hinausbringen müssen.« »Hinaus? Eine Nachricht an wen?« »An alle, an alle, die uns hier fortwährend bespitzeln und diese Welt zerstören wollen. Sagen Sie ihnen, sie sollen sich fortscheren und uns unsere eigene Welt bauen lassen. Vergeßt uns! Das ist meine Botschaft! Bringen Sie sie hinaus und verkünden Sie sie mit all dem Nachdruck, dessen Sie fähig sind. Es ist unsere Welt – nicht eure!« Ihre Heftigkeit und ihre Unwissenheit ließen ihn verstummen. Sie geleitete ihn aus dem Raum hinaus. An der äußeren Tür standen Wachen. Starr und mit ge-
schlossenen Augen standen sie da und sahen nichts Böses, und Malti schlüpfte, Dixit führend, zwischen ihnen hindurch und öffnete die Tür. Sie eilten hinaus auf den Balkon, der bevölkert war wie immer – überall lagen Leute herum in den erbarmungswürdigen Stellungen derer, die ohne Bett sind und im Freien schlafen müssen. Jetzt, ohne den Trubel und Lärm des Tages, wirkte das totale Environment wie das kalte Gefängnis, das es war. Als Malti davoneilen wollte, packte Dixit sie am Handgelenk. »Ich muß zurück«, sagte sie. »Gehen Sie schnell zur Treppe hinunter zum neunten Deck. Es sind drei Absätze; der mittlere ist bewacht; die Wachen werden Sie durchlassen, sie erwarten Sie.« »Malti, ich muß versuchen, diesem anderen Mann zu helfen, der sterben soll. Kennst du vielleicht jemand namens Gita?« Erschreckt klammerte sie sich an ihn. »Gita?« »Gita vom neunten Deck. Patel hat Gitas LebensObjekt, und heute nacht soll er sterben.« »Gita ist mein Stiefvater und der dritte Mann meiner Mutter. Ein guter Mann! Oh, er darf nicht sterben, um meiner Mutter willen.« »Heute nacht soll er sterben. Malti, ich kann dir und Gita helfen. Ich kann verstehen, was du der Außenwelt gegenüber empfindest, aber du bist im Irrtum. Ihr würdet frei sein auf eine Weise, die ihr gar nicht verstehen könnt! Bring mich zu Gita, und wir werden alle drei den Weg nach draußen finden!« Widerstreitende Gefühle spiegelten sich auf ihrem Gesicht. »Sind Sie sicher, daß Gita sterben soll?« »Komm mit und sieh nach, ob er sein Lebens-
Objekt noch hat!« Ohne ihre Entscheidung abzuwarten – fast sah es so aus, als wolle sie auf der Stelle in Patels Behausung zurück – packte Dixit sie und zog sie mit sich davon, hindurch zwischen den vielen Schlafenden. Rampen gingen in langem Zickzack von Balkon zu Balkon. Trotz der Menschenmassen – selbst auf den Rampen fanden sich ganze Schwärme von schlafenden Kindern – erschien das totale Environment jetzt viel größer, als es im Monitor-Raum gewirkt hatte. Immer wieder sah er sich um, um sicher zu sein, daß sie nicht verfolgt wurden; es erschien ihm unwahrscheinlich, daß ihre Flucht gelingen könnte. Doch jetzt hatten sie die Treppe erreicht, die zum Deck neun hinunterführte. Ach ja, dachte er, auf die Korruption konnte man sich verlassen, sie war das allgemein verbreitete orientalische System, das es dem kleinen Mann ermöglichte, mit der Unterdrükkung zu leben. Sobald die Wächter ihn und Malti sahen, verharrten sie bewegungslos und schlossen die Augen. Unter ihnen war der elende Raital, der sich hastig mit den Händen die Augen verdeckte, als sie näher kamen. »Ich muß zurück zu Patel«, flüsterte Malti. »Warum? Du weißt, daß er dich töten wird«, sagte Dixit. Seine Hand umklammerte ihren dünnen Unterarm. »All diese Zeugen, die gesehen haben, wie du mich in die Freiheit führtest – du kannst nicht annehmen, daß das, was du getan hast, ihm nicht zur Kenntnis kommt. Eilen wir zu Gita.« Er schob sie die Treppe hinunter. Unten waren Wächter von Deck neun. Sie lächelten und grüßten Malti und ließen sie vorbei. Augenscheinlich hatte sie
sich damit abgefunden, sich in Dixits Willen zu fügen, und führte ihn weiter, die Rampe zu einem tieferen Stockwerk hinunter. Hier sah es noch trostloser aus als oben, wie Dixit bemerkte. Dies war ein Deck ohne einen starken Führer, und das war deutlich zu sehen. Genauso ein Bild mußte er schon einmal im vollklimatisierten Komfort der UDF-Büros auf dem Überwachungs-Monitor gesehen haben, und war vergleichsweise unbewegt geblieben. Man mußte mitten drin stecken, um es zu spüren. Dann erfaßte man auch das Aroma des Environments. Man konnte es nur als stechend scharf und beißend bezeichnen. Als sie sich langsam zwischen hingekauerten Gestalten, denen die Übermüdung im Gesicht stand, hindurchzwängten, sah er, daß ein Leichnam langsam auf einem Scheiterhaufen verbrannte. Es war die Leiche eines Kindes. In gleichmäßigen Spiralen stieg Rauch auf, bis er durch einen Wandventilator abgesaugt wurde. Eine Mutter kauerte neben dem Körper, das Gesicht hinter einer skelettdürren Hand verborgen. »Es ist die Zeit, wo die Alten sterben«, hatte Malti über die vorhergehende Nacht gesagt; doch die Jungen mußten dem gleichen Ruf Folge leisten. Das war die Art der Inder, sich der Inhumanität des Environments zu stellen: Mit ihrer jahrtausendealten Resignation und Leidensfähigkeit. Wären Angehörige einer der weißen Rassen hier eingeschlossen worden, um sich in unerträglichem Maß zu vermehren, wäre es zu einem allgemeinen Massaker gekommen. Dixit, der Mischling, erlaubte sich kein Urteil darüber, welcher dieser Haltungen er mehr zuneigte. Maltis Blicke blieben auf den abgewetzten Beton-
boden geheftet, als sie an der Leiche vorbei die Rampe hinuntergingen. Unten angekommen, führte sie ihn von neuem wortlos weiter. Schließlich erreichte sie eine verschrammte Tür. Malti sah Dixit an, schlüpfte dann hinein zu ihrer Familie. Ihre Mutter schlief noch nicht. Über eine Waschschüssel gebeugt, stieß sie einen Schrei aus und fiel in Maltis Arme. Brüder und Schwestern und Halbbrüder und Halbschwestern und Vettern und Neffen wachten auf, kreischten. Dixit war, als hätte man ihn vergessen. Nervös und doch voller Hoffnung stand er wartend im Korridor. Viele Minuten vergingen, bis Malti herauskam und ihn in den überfüllten kleinen Raum geleitete. Sie stellte ihn Shamim vor, ihrer Mutter, die einen Knicks machte und dann rasch verschwand, und auch ihrem Stiefvater Gita. Der kleine, drahtige Mann scheuchte alles aus einer Ecke des Raumes und zog Dixit dorthin. Dann bot er seinem Besucher höflich ein Glas Wein an. Während er daran nippte, sagte Dixit: »Wenn Ihre Stieftochter die Lage erklärt hat, Gita, möchte ich Sie und Malti hier herausschaffen, denn sonst ist euer beider Leben nicht mehr viel wert. Ich kann mich dafür verbürgen, daß Sie draußen aufs Zuvorkommendste empfangen werden.« Würdig entgegnete Gita: »Sir, die ganze sehr unangenehme Angelegenheit ist mir von meiner Stieftochter erläutert worden. Es ist sehr liebenswürdig von Ihnen, daß Sie all diese Mühe auf sich nehmen, doch leider können wir Ihnen nicht helfen.« »Sie, oder vielmehr Malti, haben mir geholfen. Jetzt bin ich an der Reihe, Ihnen zu helfen. Ich möchte Sie
hier heraus und an einen sicheren Ort bringen. Ist Ihnen klar, daß Ihnen bald der Tod droht? Ich brauche Ihnen wohl nicht zu sagen, daß Prahlad Patel ein unbarmherziger Mann ist.« »Er ist sehr, sehr unbarmherzig, Sir«, sagte Gita unglücklich. »Aber wir können hier nicht fort. Ich kann es nicht – sehen Sie sich all diese kleinen Menschen an, die mich brauchen. Wer würde sich um sie kümmern, wenn ich nicht mehr hier wäre?« »Aber wenn Ihre Stunden gezählt sind?« »Und wenn mir nur noch eine Minute bliebe, könnte ich die nicht verlassen, die von mir abhängig sind.« Dixit wandte sich Malti zu. »Sie, Malti – Sie tragen weniger Verantwortung. Patel wird sich an Ihnen rächen. Kommen Sie mit mir, bringen Sie sich in Sicherheit!« Sie schüttelte den Kopf. »Käme ich mit Ihnen, die Sorge um das Schicksal der Meinen hier würde mich so bedrücken, daß ich daran stürbe.« Hoffnungslos sah er sich um. Die absolute blinde gegenseitige Abhängigkeit, die dieser überfüllte Lebensraum erzeugt hatte, war stärker als er – beinahe. Noch konnte er eine Karte ausspielen. »Wenn ich das Environment verlasse – was ich muß – muß ich meinen Vorgesetzten Bericht erstatten. Sie sind diejenigen, die – diejenigen, die wirklich die Verantwortung für alles hier tragen. Sie versorgen Sie mit Licht, mit Luft, mit Nahrungsmitteln. Sie thronen wie Götter über euch mit der Macht, jedem Menschen hier auf jedem Deck den Tod zu bringen – vielleicht ist das der Grund, warum ihr kaum an sie glauben könnt. Sie erkennen bereits, daß das totale
Environment ein Fehler ist, ein Verbrechen gegen eure Menschlichkeit. Ich werde Ihnen erklären müssen, wie ich über die Sache denke. Und ich kann Ihnen sagen, was meine Ansicht ist: Das Leben jedes Einzelnen von euch Leuten hier ist ebenso kostbar wie irgendein Leben außerhalb dieser Mauern. Das Experiment muß abgebrochen, ihr müßt befreit werden. Möglicherweise verstehen Sie nicht zur Gänze, was ich meine, vielleicht aber haben es Ihnen die Bildschirme ermöglicht, es zu erfassen. Man wird euch versorgen, euch schulen. Sehr bald werden alle die Decks verlassen können. Ihr beide könnt also mit mir kommen und euer Leben retten; und dann, vielleicht schon in einer Woche, werdet ihr wieder mit eurer Familie vereint. Patel wird dann keine Macht mehr haben. Und jetzt überdenkt noch einmal eure Entscheidung zum Wohle derer, die von euch abhängig sind, und kommt mit in die Freiheit.« Malti und Gita sahen einander ratlos an, fielen sich hilfesuchend in die Arme. Shamim gesellte sich dazu und Jamsu und der lahme Shirin und immer mehr Mitglieder des Stammes, und ein lautes, erregtes Stimmengewirr erhob sich. Nervös wartete Dixit. Endlich trat Stille ein. Gita sagte: »Sir, zweifellos sind Sie in freundlicher Absicht gekommen. Aber Sie haben vergessen, daß Malti Sie beauftragt hat, eine Botschaft nach draußen zu bringen. Die Botschaft besagt, daß die Leute draußen uns in Frieden unsere eigene Welt schaffen und lassen sollen. Vielleicht verstehen Sie diese Botschaft nicht und können sie deshalb nicht überbringen. Dann werde ich Ihnen meine Botschaft geben, und die können Sie Ihren Vorgesetzten melden.«
Dixit neigte sein Haupt. »Sagen Sie ihnen, Ihren Vorgesetzten und allen, die uns ständig beobachten und sich in unsere Angelegenheiten einmischen, sagen Sie ihnen, daß wir unser eigenes Leben leben. Wir wissen, was kommen muß, und kennen die vielfältigen Probleme, die eine so zahlreiche junge Generation mit sich bringt. Aber wir haben Vertrauen in diese Generation. Wir glauben, daß sie viele neue Talente haben wird, die wir nicht besitzen, so wie wir Talente haben, die unsere Väter nicht besaßen. Wir wissen, daß Sie uns weiter mit Nahrung und Luft versorgen werden, denn dieser Verpflichtung können Sie sich nicht entziehen. Wir wissen auch, daß Sie im Unterbewußtsein unser Scheitern und unseren Tod wünschen. Sie wollen sehen, wie wir zerbrechen, um zu sehen, was dann geschehen wird. Sie haben keine Liebe für uns. Sie empfinden Angst und Verwirrung und Haß. Wir werden nicht zerbrechen. Wir aber lernen hinzu und bauen eine neue Art von Welt. Wenn Sie uns von hier fortbrächten, würden wir sterben. Gehen Sie hin und sagen Sie das Ihren Vorgesetzten und allen, die uns bespitzeln. Bitte – lassen Sie uns unser eigenes Leben leben, für das wir unsere eigenen Gebote haben.« Dixit konnte darauf nichts antworten. Er schaute Malti an, konnte aber sehen, daß sie unnachgiebig war, schwach und bleich und unnachgiebig. Das war es, was die UDF erzeugt hatte: Völligen Mangel an Verständnis. Er wandte sich um und ging. Er hatte seinen Schlüssel. Er wußte den geheimen Ort in jedem Deck, wo er in einen der Fluchtlifts schlüpfen konnte. Als er sich durch die schmutzigen
Gänge drängte, sah er vor Tränen kaum mehr seinen Weg. 10 Alles verlief sehr formlos. Vor einem Ausschuß von sechs Mitgliedern der UDF-Verwaltung (darunter der Spezialprojekt-Organisator Peter Crawley) erstattete Dixit seinen Bericht. Zwei Beobachtern war gestattet worden, dabei zu sein: Einer großen Dame, welche die indische Regierung vertrat, und Dixits altem Freund Senator Jacob Byrnes, der die Vereinten Nationen repräsentierte. Dixit erstattete seinen Bericht und fügte die Empfehlung hinzu, unverzüglich Rehabilitationseinrichtungen zu schaffen und das Environment-Experiment abzubrechen. Crawley erhob sich und sagte in starrer Haltung: »Sie geben selbst zu, daß sich die Menschen im Environment verzweifelt an das Wenige klammern, was sie haben. Wie furchtbar und elend ihnen dieses Wenige auch erscheinen mag, sie sind akklimatisiert an das, was sie haben. Sie haben sich von der Außenwelt abgewandt und wollen nicht heraus.« Dixit sagte: »Wir werden sie an die Außenwelt gewöhnen, sie umschulen, ihnen Wohnstätten bauen, wo sie weiter in der vertrauten Großfamilie leben können, wo man ihnen zurückhelfen kann ins normale Leben.« »Aber aus Ihren eigenen Ausführungen geht hervor, daß sie bei der Konfrontierung mit der Außenwelt und ihrer gigantischen Größe einen lähmenden
Schock erleiden würden.« »Nicht wenn Patel ihr Führer bleibt.« Ein Gemurmel erhob sich; offenkundig hielten die Ausschußmitglieder dies für eine Absurdität. Heftig gestikulierend, als habe sein Standpunkt bereits obsiegt, setzte sich Crawley nieder und sagte: »Diese Art von Tyrannen ist es, die verantwortlich ist für das Elend im Environment.« »Das einzige, was sie brauchen, wenn sie in die Freiheit gelangen, ist ein starker Führer, den sie kennen. Gentlemen, unsere Hoffnungen ruhen auf Patel. Sein großer Vorzug ist, daß er sich bereits auf die Außenwelt hin orientiert.« »Und was soll das heißen?« fragte eines der Ausschußmitglieder? »Es heißt, daß Patel ein kluger Mann ist. Wie ich glaube, hat er es ermöglicht, daß Malti mir zur Flucht aus meiner Zelle verhalf. Die Absicht mich zu töten hatte er nie; das war ein in seiner Wirkung genau berechneter Bluff. Die kleine, unterdrückte Malti war einfach nicht die Frau, die eine Initiative ergriffen hätte. Was Patel wahrscheinlich nicht vorhersah, war, daß ich ihr gegenüber Gita namentlich erwähnen würde, oder daß Gita überhaupt nahe mit ihr verwandt ist. Aber wegen ihres Fatalismus wurde sein Plan in keiner Weise gestört.« »Warum hätte Patel Ihnen zur Flucht verhelfen sollen?« »In vielem, was er sagte und tat, verriet er brennendes Interesse an der Außenwelt, auch wenn er es zu verbergen trachtete. Er konfrontierte mich mit Aspekten seiner Kultur, um meine Reaktion zu testen – um mir Zustimmung oder Ablehnung zu entlocken
wie einem Kind. Auch einen Angriff auf andere Decks – den althergebrachten Sport von Environment-Tyrannen – hat er nicht im Sinn. Vielmehr gilt seine Aufmerksamkeit letztlich uns. Patel ist intelligent genug, um zu wissen, daß wir echte Macht in Händen haben. Er hat nie den Kontakt mit der Realität verloren, ganz im Gegensatz zu seinen Günstlingen. Deshalb möchte er heraus. Dies war sein Kalkül: Wenn ich, scheinbar dem Tode entronnen, vor Sie treten würde, würde ich einen Bericht erstatten, der den sofortigen Abbruch dieses Experiments nachgerade erzwingt.« »Was Sie auch tun«, sagte Crawley. »Was ich tue. Nicht aus Patels Gründen, sondern aus humanitären Gründen. Und auch aus Nützlichkeitserwägungen – denen Mr. Crawley vielleicht mehr abgewinnt. Gentlemen, Sie hatten recht. Es gibt mentale Fähigkeiten im Environment, für die die Welt Verwendung hätte und von denen die unattraktivste sicherlich noch der Telecid ist. Und die UDF hat die Allgemeinheit Millionen und Abermillionen von Dollars gekostet. Die werden wir durch diese neuen Fortschritte wieder einbringen müssen. Diese Fortschritte können wir uns aber nur zunutze machen, wenn wir sie in einer Atmosphäre studieren, die frei ist von Haß und Neid – mit anderen Worten, indem wir diesen schwarzen Turm öffnen.« Die Sitzung war beendet. Natürlich konnte er für die nächsten paar Tage nichts von größerer Tragweite erwarten. Senator Byrnes kam herüber. »Sie sind nicht nur ein guter Anwalt Ihrer Sache gewesen, Thomas; Sie haben die Geschichte auf Ihrer
Seite. Die Welt ist eben dabei, einen schlimmen Zeitabschnitt hinter sich zu lassen, und dieser schwarze Turm, wie Sie ihn nennen, ist ein Symbol für die schlimme Zeit, und deswegen muß er weg.« Innerlich hatte Dixit seine Einwände gegen diese Bemerkung. Aber sie gingen hinüber zum Fenster und sahen hinaus auf den ungeschlachten Environment-Turm. »Er ist mehr als ein Symbol. Er ist ebenso voll von Leid und Hoffnung wie unsere eigene Welt. Aber er ist ein von Menschen geschaffenes Ungeheuer – er muß weg.« Byrnes nickte. »Keine Sorge. Wir werden ihn wegkriegen. Ich bin sicher, daß die geschichtliche Notwendigkeit, dieser blinde evolutionäre Prozeß, bereits entschieden hat. Die Tage der UDF sind gezählt. Bleiben Sie am Ball. In ein paar Wochen wird es Ihnen möglich sein, bei der Rehabilitation von Maltis Familie mitzuhelfen. Und jetzt werde ich noch ein paar Worte mit dem Vorsitzenden dieses Ausschusses reden.« Er gab Dixit einen Schlag auf die Schulter und ging davon. Dort drinnen, das wußte er, würden Lichter brennen und Menschen sich drängen in der einzigen Welt, die sie kannten. Dort drinnen würden in dieser Nacht Kinder geboren werden und Männer vor Alter sterben oder durch Nachtvisionen ... Draußen begann der Monsunregen auf das weite indische Land zu fallen.
Originaltitel: TOTAL ENVIRONMENT Copyright © 1968 by Galaxy Publishing Corp.
Fred Saberhagen STERNENLIED Die Erkämpfung der Durchfahrt durch den dunklen Nebel Taynarus kostete die Menschen drei Kampfschiffe, und dann hatten sie noch die Verluste einer dreitägigen Schlacht hinzunehmen, als ihre Stoßtrupps in die Hölle vordrangen. Vom Anfang bis zum Ende der Aktion fürchtete der Kommandeur der Kampfgruppe, daß der kommandierende Computer auf der Berserker-Seite in einer letzten Götterdämmerung von Vernichtungsladungen die ganze Umgebung und mit ihr die lebenden Invasoren zerstören würde. Indessen konnte er hoffen, daß die von seinen Männern mitgeführten Dämpffeld-Projektoren Kernexplosionen verhindern würden. Er ließ lebende Menschen angreifen, weil angenommen wurde, daß es in der Hölle lebende menschliche Gefangene gebe. Seine Hoffnungen erfüllten sich; zumindest gab es, aus welchem Grunde auch immer, keine Nuklearexplosion. Für die Annahmen bezüglich der Gefangenen war nicht leicht eine Bestätigung zu erhalten. Ercul, der Kybernetik-Psychologe, der nach Beendigung des Kampfes seine Nachforschungen anstellte, fand zweifellos Menschen dort. In gewisser Weise. Teilweise. Einzelne Organe, die irgendwie funktionierten, verbunden mit dem Nicht-Menschlichen und dem NichtLebenden. Die meisten der Organe waren menschliche Gehirne, die in Kulturen gezüchtet worden waren unter Verwendung der Techniken, welche die Berser-
ker auf einigen unserer Hospitalschiffe vorgefunden haben mußten. Unsere menschlichen Laboratorien züchten die Gehirn-Kulturen aus menschlichem Embryo-Gewebe, bringen sie bis auf Erwachsenengröße und zerschneiden sie dann je nach Bedarf. Ein Arzt schneidet zum Beispiel einen Stirnlappen ab und pflanzt ihn in den Schädel des Mannes ein, dessen entsprechender Gehirnteil durch Krankheit oder äußere Einwirkung zerstört wurde. Das Kulturhirn-Material dient als Matrix für die Erneuerung, als Rohmaterial, in dem sich die alte Persönlichkeit wieder ausprägen kann. Die in Glasbehältern gezüchteten Kulturhirne sind nur potentiell menschlich. Selbst ein Laie kann sie auf Grund des deutlich sichtbaren Fehlers feinerer Oberflächenfurchung von einem normal entwickelten Gehirn unterscheiden. Die Kulturgehirne können nicht menschlich sein in dem Sinne, daß sie der Empfindung fähigen menschlichen Geist beherbergen. Bestimmte Hormone und andere chemische Körperfaktoren sind für die Entwicklung eines Gehirns mit Persönlichkeit erforderlich – ganz zu schweigen von den Stimuli der Erfahrung und der ständigen Einwirkungen der Sinnesempfindungen. Tatsächlich ist ein gewisses Maß an sensorischem Input erforderlich, wenn das Kulturgehirn sich auch nur bis hin zu einer für den Arzt verwendbaren Schablone entwickeln soll. Für diesen Input wird gemeinhin Musik verwendet. Die Berserker hatten zweifellos gelernt, außer Gehirnen auch Leber und Herzen und Geschlechtsdrüsen in Kulturen zu züchten, indessen war es nur die menschliche Denkfähigkeit, die sie wirklich stark in-
teressierte. Sie mußte ihre Computer-Entsprechung von Ehrfurcht empfunden haben vor der Gedächtniskapazität und der Entscheidungskraft, die die Natur in die paar hundert Kubikzentimeter des menschlichen Nervensystems hatte hineinpacken können. Immer wieder hatten die Berserker während ihres langen Krieges mit den Menschen versucht, menschliche Gehirne in ihre eigenen Schaltkreise einzubauen. Niemals war ihnen ein befriedigender Erfolg gelungen. Aber sie gaben nicht auf. Berserker selbst natürlich versahen nichts mit Namen. Die Menschen aber, die dieses Zentrum ihrer Forschungsbemühungen »Hölle« nannten, übertrieben damit nicht allzu sehr. Diese Hölle lag im Zentrum des dunklen Taynarus-Nebels verborgen, der sich seinerseits etwa in der Mitte eines durch die Systeme Zitz, Toxx und Yaty gebildeten Dreiecks befand. Seit Jahren hatten die Menschen gewußt, was die Hölle war und wo sie ungefähr lag, bevor sie in diesem Teil ihres Sektors der Galaxis genügend kampfkräftig waren, um sich dorthin zu begeben, sie zu finden und zu vernichten. »Ich bestätige, daß sich in diesem Behälter kein menschliches Leben befindet«, murmelte Ercul, der Kybernetik-Psychologe, während er eben diese Worte auf das vor ihm stehende Glassit-Becken stempelte. Auf ein Zeichen von Erculs Assistenten stellte der sie begleitende Helfer die Energieversorgung ab und ließ das Ding im Tank anfangen zu sterben. Dies war kein Kulturgehirn, sondern war einmal das Nervensystem eines lebenden Gefangenen gewesen. Es war stark beschädigt worden, nicht nur durch
die Entfernung des größten Teiles seines zugehörigen menschlichen Körpers, sondern auch dadurch, daß es mit einer Menge elektronischer und mikromechanischer Apparaturen verbunden worden war. Mit Hilfe irgendeines Trainingsprogramms, das vermutlich aus einer Kombination von Belohnung und Strafe bestand, hatte der Berserker dann diesem Gehirn beigebracht, gewisse Computer-Operationen mit großer Geschwindigkeit und niedriger Irrtumswahrscheinlichkeit auszuführen. Es schien, daß jedesmal, wenn eine Operation beendet war, der im Behälter mit dem Gehirn befindliche Mechanismus sofort alle Zähler auf Null gestellt und von Neuem den gleichen Input eingeleitet hatte, worauf die Aufgabe des Gehirns von vorne begann. Das Gehirn schien jetzt nicht mehr in der Lage zu sein, etwas anderes zu tun als dies; und wenn es sich hier wirklich um eine Art menschlichen Lebens handelte – eine Möglichkeit, die Ercul keineswegs laut aussprechen wollte –, so war es seiner Meinung nach eine Art deren Leben man besser so bald wie möglich ein Ende setzen sollte. »Nächster Fall?« fragte er den Helfer. Dann begriff er, daß er eben ein schreckliches Wortspiel auf seine Richterrolle gemacht hatte. Aber keiner von den anderen, die hier mit ihm die Hölle durchforschten, schien es bemerkt zu haben. Nur noch ein paar Tage in diesem Job, dachte er, und wir werden Dinge finden, über die wir lachen können. Jedenfalls mußte er vorwärts kommen bei seinem Auftrag, gerettete Gefangene – zwei waren bereits bestätigt worden und würden vielleicht eines Tages wieder wie Menschen aussehen – von einer Kollektion in Flaschen eingeschlossener, wenn auch mehr
oder minder funktionierender Organe zu unterscheiden. Als man ihm den nächsten Fall brachte, kam ein schlimmer Moment für ihn, schlimm sogar für diesen Tag, als er etwas von seiner eigenen Arbeit wiedererkannte. Begonnen hatte die Geschichte vor mehr als einem Standard-Jahr auf dem nicht allzu fernen Planeten Zitz in einer riesigen, reich dekorierten Halle, in der sich aus fröhlichem Anlaß die Menschen drängten. »Glücklich, Liebling?« fragte Ordell Callison seine Braut, als es ihm im Tumult der Hochzeitsfeier einen Augenblick gelang, ihre Hand zu nehmen und mit ihr zu sprechen. Nicht, daß er irgendwelche Zweifel gehabt hätte an ihrem Glück. Die banale Frage war nur die beste Art, sich zu artikulieren, die ihm einfiel – außer natürlich, er hätte gesungen. »Ohhh, glücklich, ja!« In diesem Augenblick konnte sich Eury auch nicht differenzierter ausdrücken als er. Aber die Aufrichtigkeit ihrer Worte verriet sich in ihrer Stimme und ihren Augen, die wunderbar waren wie ein Lied, das Ordell hätte schreiben und singen können. Natürlich würde man ihn nicht gehen lassen, ohne daß er zumindest ein Lied gesungen hätte, auch nicht in die Flitterwochen. »Singen Sie etwas, Ordell!« Das war Hyman Bolf auf der anderen Seite des großen Bankett-Tisches, wo er sein Glas aus dem kristallenen Punschbrunnen füllte. Der berühmte Multi-Glaubenserneuerer war vom Yaty-System gekommen, um die Vermählungszeremonie durchzuführen. Sein privates Schiff hatte sich bei der Landung seltsam verhalten: Die Wasser-
stofflampe hatte so stark gebrannt, daß der Rauch angesengten Isoliermaterials ihn mit entzündeten Augen der Kabine entsteigen ließ. Nach diesem bösen Omen jedoch war für den Rest des Tages alles gut verlaufen. Sogleich fielen andere Stimmen ein. »Singen Sie, Ordell!« »Ja, Sie müssen. Singen Sie!« »Aber es ist meine eigene Hochzeit, und ich glaube nicht ...« Seine Einwände wurden niedergeschrien. Der Mann war Musik, und in der Tat war sein Glücksgefühl heute so groß, daß er fast glaubte, zerplatzen zu müssen, wenn er ihm nicht Ausdruck verleihen konnte. Also erhob er sich, und einer seiner vertrautesten Diener, der vorhergesehen hatte, daß Ordell singen würde, stand bereit, um ihm sein selbsterfundenes Instrument zu bringen. In einen kleinen Kasten gezwängt, den Ordell sich wie ein Akkordeon um den Hals hängen konnte, befand sich ein Lautsprechersystem vom Tief- bis zum Hochtöner zusammen mit einer ganzen Menge Elektronik. Auf der ebenen Oberfläche des Kastens waren zehn Punkte, auf denen Ordells zehn Finger spielen konnten. Er nannte es seine »Musikbox«, denn irgendeinen Namen mußte das Ding ja haben. Ordells Nachahmer hatten sich größere, ansehnlichere und bessere Musikboxen machen lassen; dennoch hielten es überraschend wenig Menschen, selbst unter den Mädchen zwischen zwölf und zwanzig, für der Mühe wert, sich Ordells Nachahmer anzuhören. So sang Ordell Dallison auf seiner eigenen Hochzeit, und seine Zuhörer standen in seinem Bann wie
immer. Noch niemals hatte Musik, auch nicht die all der früheren Aufnahmen, die man kannte, Menschen so verzaubert. Die anspruchsvollen Musikkritiker saßen hingerissen auf ihren Ehrenplätzen am Kopftisch. Die kultivierten und nicht so kultivierten Geldleute von Zitz und Toxx und Yaty, von denen einige in ihren privaten Rennschiffen gekommen waren, und die gewöhnlicheren Gäste, sie alle erfüllte sein Lied mit einem Glücksgefühl, das kein Wein ihnen hätte geben können. Und die heranwachsenden Mädchen, die Ordell-Fans, die sich wie immer vor den Türen drängten, verloren sich so sehr in seiner Musik, daß sie in Ohnmacht fielen und noch mehr. Ein paar Wochen später waren Ordell und Eury und seine neuen Freunde der letzten schnellen Jahre, der Jahre des Erfolgs und des überwältigenden Reichtums, in ihren sportlichen Einsitzerschiffen draußen im Raum, um das Spiel zu spielen, das sie »Tag« nannten. Ordell spielte es dieses Mal auf gewissermaßen umgekehrte Art, indem er in einer Ecke des zur Verfügung stehenden Raumes Ausweichbewegungen machte und versuchte, den vorbeifliegenden Mädchen-Schiffen auszuweichen, statt ihnen nachzusetzen. Er hatte nach Eurys Schiff Ausschau gehalten und war, nachdem er es nicht finden konnte, etwas besorgt geworden, als aus dem Nichts plötzlich ein anderes Jungen-Schiff auf Ordell zugeschossen kam, dessen Notsignale ihm durch das Spektrum entgegenstrahlten. Augenblicklich hörten alle zu spielen auf. Die Bildschirme in den kleinen Schiffen zeigten das Gesicht Artys, des jungen Mannes, dessen Renner
eben neben Ordells Schiff zum Stehen gekommen war. Arty stammelte: »Ich versuchte, Ordell – ich meine, ich wollte nicht – ich wollte ihr keinen Schaden zufügen – Sie werden sie zurückholen – es war nicht meine Schuld, daß sie ...« Allmählich wurde klar, was geschehen war. Arty hatte Eurys Schiff verfolgt und überholt, wie es dem Spiel entsprach. Dann hatte er an ihr Schiff angelegt und war umgestiegen, um sich den üblichen Preis zu holen. Eury indessen war jetzt natürlich verheiratet, und das bedeutete viel für sie, wie auch für Ordell, der heute den Mädchenfang nur gespielt hatte. Irgendwie hatten beide geglaubt, jedermann müßte sehen, wie die Welt sich seit ihrer Heirat verändert hatte, wie die Regeln des Tag-Spiels von nun an für sie geändert werden müßten. Unfähig, Arty mit Worten von der neuen Lage der Dinge zu überzeugen, hatte Eury sich auch durch Taten verteidigen müssen. Irgendwie hatte sie sich bei dem Versuch, ihm in der kleinen Kabine auszuweichen, am Fuß verletzt. Er hingegen verlangte weiter hartnäckig seinen Preis. Später kam heraus, daß er sich nur bereit erklärt hatte, in sein eigenes Schiff zurückzukehren, um einen Verbandskasten zu holen (sie hatte geschworen, daß der ihre abhanden gekommen war), nachdem sie vorgegeben hatte, er könne bei seiner Rückkehr haben, was er wollte. Sobald er sich aber in seinem Schiff befand, machte sie ihren eigenen Renner frei und floh. Und er setzte ihr nach. Trieb sie in eine Ecke, gegen die Begrenzung der Sicherheitszone, die von automatischen Kriegsschiffen gegen mögliche Berserkerangriffe bewacht wurde.
Um Arty zu entkommen, überschritt sie diese Grenze in einer weitgeschwungenen Kurve. Zweifellos hatte sie vorgehabt, noch innerhalb von zehntausend Meilen wieder die Sicherheitszone zu erreichen. Sie schaffte es nicht. Als ihr kleiner Renner in die Nähe einer dem dunklen Taynarus vorgelagerten Sternwolke kam, schlug die Berserker-Maschine, die dort gelauert hatte, zu. Natürlich hörte Ordell die Geschichte nicht in so zusammenhängender Form, aber was er hörte, war genug. Auf den Bildschirmen der anderen kleinen Schiffe schien sich sein Gesicht erst zu versteinern. Dann aber wurde sein Blick plötzlich wild und irre. Arty schlich sich davon, aber Ordell hielt sich keinen Moment mit ihm auf. Vielmehr raste er mit Höchstgeschwindigkeit dorthin, wo seine Frau verschwunden war. Er schoß durch die Zone der Schutz-Patrouillen, deren Aufgabe es war, Eindringlinge abzuwehren, nicht aber, Unvorsichtige oder Verrückte zurückzuhalten, die hinaus wollten. Er tauchte zwischen vorgelagerte Staubwolken, um in eine der riesigen Spalten zu dringen, die in das Herz von Taynarus führten, in das Labyrinth, wo Schiffe und Maschinen sich nur langsam fortbewegen konnten und aus dem seit der Einrichtung der Hölle kein lebendes menschliches Wesen zurückgekommen war. Stunden später schwärmten Vorposten der Berserker um sein kleines Schiff und verlangten in ihrer gut gelernten menschlichen Sprache, daß er anhalte und sich ergebe. Er aber begnügte sich damit, die Fahrt seines kleinen Schiffes noch mehr zu verlangsamen, und fing an, dem Berserker über das Radio vorzusin-
gen, wobei er seine Hände von der Steuerung nahm, um seine Finger auf die Tasten seiner Musikbox legen zu können. Steuerlos trieb sein Schiff weg von der Mitte der befahrbaren Passage, geriet an die Nebelwand und erlitt Mikrokollisionen mit ihrem Gas und Staub, die auf der Außenhaut seines Schiffes Pockennarben erscheinen ließen. Doch bevor sein Schiff zerstört wurde, gaben die Wachanlagen des Berserkers auf, ihm Funkkommandos zuzurufen, und sandten ein Kommando von Entermaschinen aus. Von den Gedächtnisbänken der Hölle hatten sie eine gewisse Kenntnis von Wahnsinn und den bizarren Formen menschlichen Verhaltens. Sie durchsuchten den Renner nach Waffen, durchsuchten Ordell – erlaubten ihm, seine Musikbox zu behalten, als sie ebenfalls durchsucht worden war und er sie um keinen Preis hergeben wollte – und überstellten ihn der Jurisdiktion der inneren Wachen als Gefangenen. Die Hölle, eine Masse verstärkten Metalls von mehreren Meilen Durchmesser, empfing ihn und sein Rennschiff durch das Haupttor. Als er ausstieg, stellte er fest, daß er atmen und gehen und sehen konnte, wohin er ging; die physische Umgebung in der Hölle war größtenteils angenehm, da Gefangene in der Regel nicht sehr lange überlebten und die ComputerGehirne des Berserkers ihnen keine unnötigen Belastungen zumuten wollten. Die Berserker-Apparate, die die unmittelbare Kontrolle über die Routine-Operationen in der Hölle ausübten, waren selbst großenteils organisch und enthielten für diesen Zweck gezüchtete Kulturgehirne sowie einige umerzogene Gefangenenhirne. Diese
waren Beispiele der höchsten Leistungen des Berserkers bei seinen Bemühungen um umgekehrte Kybernation. Bevor Ordell sich ein Dutzend Schritte von seinem Schiff entfernt hatte, hielt eines dieser Monstren ihn an und stellte ihm Fragen. Zur Hälfte aus Stahl und Schaltkreisen, zur Hälfte aus Kulturfleisch bestehend, enthielt es in drei Kristallkugeln seine drei potentiell menschlichen Gehirne, deren zu glatte Oberfläche von einer Nährlösung umschlossen und von haarfeinen Drähten durchzogen war. »Warum sind Sie hierher gekommen?« fragte ihn das Monstrum durch eine Blendenöffnung in seiner Mitte. Erst jetzt begann Ordell überhaupt einen bewußten Plan zu machen. Der Kernpunkt seiner Überlegungen war, daß in den Berserker-Laboratorien Musik zur Einstimmung der Kulturgehirne verwendet wurde und daß seine eigene Musik für diesen Zweck aller sonstigen ebenso überlegen war wie in jeder anderen Hinsicht. Dem dreiköpfigen Monstrum sang er nun auf ganz einfache Art vor, er sei nur hierher gekommen, um seine junge Frau zu suchen: Nur ein Unfall hatte sie vorzeitig ans Ende ihres Lebens gebracht. In einer der alten, förmlichen Sprachen, in denen er so gut von profunden Dingen sang, flehte er die Macht an, die dieses Reich des Schreckens, dieses Königtum des Schweigens und der ungeborenen Geschöpfe beherrschte, Eurys Lebensfaden wieder neu zu knüpfen. Wenn mir dies verweigert wird, sang er, so kann ich nicht allein zurückkehren in die Welt des Lebens, und dann habt ihr uns beide hier.
Diese Musik, die den kalten Computergehirnen nichts als ihre mathematischen Elemente hatte mitteilen können, brachte die Entschlossenheit der inneren, halbmenschlichen Wächter ins Wanken. Das dreihirnige Monstrum reichte ihn an andere weiter, die sich ihrerseits dem unbekannten Eindruck von Schönheit nicht entziehen konnten, und in denen Melodie und Harmonie die verschütteten menschlichen Wesenszüge wachriefen, die über die Logik hinausgingen. Immer weiter stieß er in die Hölle vor, und sie konnten ihm nicht widerstehen. Durch Audio-Input drang seine Musik in hundert Experimentiersäle ein, vibrierte schwach und durch die Wände der GlassitKästen, wurde durch die Veränderungen in Induktion und Kapazität, die rhythmisch aus Ordells Musikbox kamen, von gequälten Nervenzellen verspürt. Gehirne die nichts anderes gekannt hatten, als bis zur Grenze ihres Vermögens zu sinnlosen Rechnungen gezwungen zu werden – Gehirne, die durch rasende, mittels einer Sonde in sie eingeleitete elektrische Impulse in den Wahnsinn getrieben worden waren – sie hörten seine Musik, fühlten sie, spürten sie, jedes mit seiner eigenen individuellen Perzeption, und reagierten. Hundert Experimente wurden unterbrochen, wurden unzuverlässig in ihren Ergebnissen, völlig ruiniert. Die Überwacher, selbst zur Hälfte Fleisch, versagten bei ihren einprogrammierten Aktionen und entschieden dann, daß die Gefangene wie gefordert herbeigebracht und befreit werden solle. Der oberste Kontroll-Computer – nichts als kaltes Metall, völlig immun gegen diese seltsamen Geräu-
sche, die in seinem Laboratorium alles durcheinander brachten – ließ sich endlich herbei, seine überaus weitreichenden strategischen Planungen zu unterbrechen und nach dem Rechten zu sehen. Dann verwandte er sogleich seine ganze Energie darauf, die Kontrolle über das zurückzugewinnen, was im Herzen der Hölle vor sich ging. Aber es war vergeblich, zumindest für den Moment. Er hatte seinen halblebendigen Geschöpfen zu viel Kraft gegeben, hatte wankelmütigem Protoplasma zu viel Beständigkeit zugetraut. Ordell stand zwischen den beiden miteinander verbundenen potentiell menschlichen Gehirnen, die unter den Berserkern selbst die Herren der Hölle waren. Diese beiden und alle, die ihnen untergeordnet waren, hatten sich Ordells Musik nicht verschließen können und waren weich geworden; und jetzt wehrten sie sich mit aller ihnen zur Verfügung stehenden elektrischen Kraft gegen den Versuch ihres kalten Herren, sie wieder in seine Gewalt zu bekommen. Sie verteidigten magnetische Relais gegen den Berserker wie Festungen; sie behielten die Kontrolle über Ferritkerne, die ihre vorgeschobenen Stellungen waren; sie kämpften verzweifelt, um eine Linie zu halten, die an manchen Stellen immer wieder durchbrochen wurde. »Dann nimm sie hin«, sagte die Stimme dieser aufrührerischen Wesen zu Ordell Callison. »Doch höre nicht auf zu singen, hole nicht länger als eine Sekunde Atem, bis du in deinem Schiff bist und das äußerste Tor der Hölle hinter dir gelassen hast.« Ordell sang weiter, sang von seiner neuen Freude über die wundervolle Hoffnung, die sie ihm gaben.
Hinter ihm öffnete sich zischend eine Tür, und als er sich umwandte, sah er Eury durch sie hereinkommen. Sie hinkte mit ihrem verletzten Fuß, der nicht versorgt worden war, doch konnte er sehen, daß ihr sonst nichts fehlte. Die Maschinen hatten noch nicht begonnen, ihren Schädel zu öffnen. »Nicht aufhören!« bellte ihn eine Stimme an. »Weiter!« Eury stöhnte beim Anblick ihres Mannes auf und streckte ihre Arme nach ihm aus; und obgleich sein Lied zu einem Gesang triumphierender Freude anschwoll, wagte er nur, ihr mit einer Kopfbewegung ein Zeichen zu geben, sie solle ihm folgen. Er ging hinaus durch die enge Passage, durch die er gekommen war, und bewegte sich jetzt in einer Richtung, die noch nie jemand eingeschlagen hatte. Der Weg war so eng, daß er vorausgehen mußte, während Eury ihm folgte. Nicht einmal den Kopf konnte er umwenden, um sie anzusehen, so sehr mußte er sich auf seine Musik konzentrieren bei jedem neuen Wächter, der sich halb lebendig und fragend vor ihm aufpflanzte; und jeder von ihnen öffnete ihnen schließlich die Tür. Hinter sich hörte er das Schluchzen einer Frau und den schleppenden Schritt ihres verletzten Fußes. »Ordell? Ordell, lebst du, bist du es wirklich? Ich kann es einfach nicht glauben.« Vor ihnen drohte die letzte Gefahr: Die dreihirnige Wache des äußeren Tores, beauftragt, ihnen den Weg zu versperren, ragte vor ihnen auf. Ordell sang von der Freiheit, in einem menschlichen Körper zu leben, von der Unbeschwertheit eines Streifzuges über sonnenbeschienene, uneingezäunte Wiesen. Wieder
drehte sich der Türhüter zur Seite und gab ihnen den Weg frei. »Liebling? Dreh dich um und sieh mich an; sag mir, daß dies nicht irgendein Streich ist, den sie uns spielen. Wenn du mich lieb hast, dreh dich um zu mir!« Als er sich umwandte, sah er sie zum ersten Mal, seit sie die Hölle betreten hatte, klar und deutlich. Für Ordell war ihre Schönheit so überwältigend, daß sie nicht nur die Zeit anhielt, sondern auch das Lied aus seiner Kehle und seine Finger auf den Tasten. Ein einziger Augenblick, frei von dem seltsamen Einfluß, der seine Kreaturen pervertiert hatte, war alles, was der Berserker brauchte, um die Lage wieder fast völlig unter seine Kontrolle zu bringen. Das dreiköpfige Ding packte Eury und trug sie weg von ihrem Gatten, entführte sie zurück durch immer neue Tore der Finsternis – so schnell, daß ihr letzter Abschiedsschrei kaum die Ohren ihres Mannes erreichte. »Leb wohl ... Geliebter ...« Er schrie auf und rannte ihr nach, trommelte verzweifelt an ein massives Tor, das sich unmittelbar vor ihm schloß. Lange Zeit verharrte er dort und schrie und bat um eine einzige Chance, seine Frau wieder mit sich fortzunehmen. Wieder sang er, aber der eisige Berserker war schon wieder zu sehr Herr der Lage – allerdings hatte er das Geschehen noch nicht völlig unter Kontrolle bekommen, denn wenn die halblebendigen Aufseher auch Ordell nicht länger gehorchten, so belästigten sie ihn doch auch nicht. Sie versperrten ihm nicht den Weg nach draußen. Etwa sieben Tage verweilte er an diesem Tor, bald in seinem Schiff, bald außerhalb, ohne Nahrung und Schlaf, und sang vergeblich, bis seine Stimme ver-
sagte. Dann brach er in seinem Schiff zusammen. Endlich steuerte er, oder vielmehr sein Autopilot, das Rennschiff fort vom Berserker und zurück in die Freiheit. Die Verteidigungskräfte des Berserkers nahmen das kleine Schiff, das da herauskam, kaum zur Kenntnis. Vermutlich nahmen sie an, es sei eines von ihren eigenen. Aus der Hölle war noch nie jemand entkommen. Als er auf den Planeten Zitz zurückkehrte, begrüßten ihn seine Manager, als sei er von den Toten auferstanden. Ein paar Tage später schon sollte er ein Konzert geben, das schon lange geplant und ausverkauft war. Und schon am Tag darauf würde er durch seine Manager und Promoter die ersten Honorare erhalten. Er kooperierte nicht richtig mit den Ärzten, die versuchten, seine Kräfte wieder herzustellen, widersetzte sich ihnen aber auch nicht. Sobald er wieder im Besitz seiner Stimme war, begann er von neuem zu singen; er sang fast ständig, außer wenn man ihn mit medizinischen Mitteln zum Schlafen brachte. Und es war ihm gleich, ob man ihn wieder auf eine Bühne schicken würde, damit er dort singe. Bei seinem Auftritt handelte es sich um ein PopKonzert, was in der Praxis hieß, daß eine Halle zum Bersten gefüllt war mit zehntausend heranwachsenden Mädchen, die, weit erregter noch als sonst, ganz außer sich waren über Ordells schmerzlichen Verlust, seine Wiederauferstehung und seine gespenstische Erscheinung. Während der ersten paar Lieder waren die Mädchen noch befangen und relativ still, ruhig genug,
daß man Ordells Stimme noch hören konnte. Dann – nun, eines von den zehntausend Mädchen schrie es laut: »Du gehörst wieder uns!« In gewisser Weise hatten sie ihm seine Heirat verübelt. Wie unbeteiligt über sie hinwegsehend, lächelte er aus Gewohnheit und begann zu singen, wie sehr er sie haßte und verachtete und daß er in ihnen nichts anderes sah als hoffnungslose Häßlichkeit. Für Augenblicke glichen die Wogen der Erregung im Saal einander aus, so daß der Eindruck von Stille entstand. Ordells tödliche Stimme war klar. Dann aber brach die Reaktion los wie ein Sturm. Ordell war nicht mehr zu hören. Die Gewalt von Haß und Lust, Wut und Verlangen riß alle mit sich fort. Die Ordnungsleute, die sich bei einem Konzert Callisons stets bemühten, eine Barrikade um ihn herum zu bilden, wurden sofort von den zehntausend Mädchen überrannt. In einer Minute war der Aufruhr vorüber, beendet von der Polizei. Ordell selbst war halb tot. Ärztliche Hilfe kam gerade noch rechtzeitig, um das Leben in seinen Gehirnzellen zu retten. Am nächsten Tag zogen Ordell Callisons Ärzte den führenden Kybernetik-Psychologen von Zitz hinzu. Sie hatten gerettet, was von Ordells Leben übriggeblieben war, waren aber nicht imstande gewesen, eine Brücke der Kommunikation mit ihm zu errichten. Ercul, der Psychologe, senkte Sonden direkt in Ordells Gehirn, so daß ihm diese Information übermittelt werden konnte. Dann verband er sein Sprachzentrum mit einer elektronischen Anlage, die Aufnahmen von Ordells eigener Stimme enthielt, so daß
Töne entstanden wie jene, die einst aus seiner Kehle gekommen waren. Und – in Erfüllung der ersten Bitte des Schwerverletzten – wurden in das motorische Zentrum, das Ordells Finger dirigiert hatte, Sonden gesenkt, die es mit seiner Musikbox verbanden. Danach begann er sofort zu singen. Man brachte ihn zum Raumhafen. Mit dem sein Leben erhaltenden System von Rohren und Nahrung und Elektrizität setzten sie ihn in sein Rennschiff. Der Autopilot wurde programmiert, wie er es wünschte, und dann schickte man ihn los – auf den Kurs, den er gewählt hatte. Ercul erkannte Ordell und Eury, als er sie zusammen in derselben Experimentierbox fand. Die Spuren seiner eigenen Arbeit an Ordell gaben ihm Gewißheit, noch bevor er die Elektroencephalogramme mit seinen früher gemachten verglich. Von beiden war nicht viel übrig geblieben. »Dolus nur zwei Punkte über Grundniveau«, las der Assistent des Psychologen näselnd seine Werte ab, nicht ahnend, wessen Schmerzempfindung er hier festzustellen versuchte. »Keines von beiden scheint zu reagieren. Jedenfalls nicht im Moment.« Mit schwerer Hand hob Ercul seinen Stempel und drückte ihn auf die Box. Ich erkläre, daß dieser Behälter kein menschliches Leben enthält. Etwas überrascht ob dieser schnellen Entscheidung blickte der Assistent auf. »Irgendwie, würde ich sagen, scheint eine gewisse Beziehung zwischen den beiden Objekten hier zu bestehen.« Er sagte es mit sachlicher bis fröhlicher Stimme. So viele Stunden hatte er jetzt schon in diesem Job verbracht, daß er
sich allmählich in die Arbeit hineinzuleben begann. Doch Ercul würde sich nie mehr daran gewöhnen können.
Originaltitel: STARSONG Copyright © 1967 by Galaxy Publishing Corp.
Katherine MacLean DER ANGSTDETEKTOR Hungern ist gar nicht so schlecht. Ein paar Jungs, die sich mit Zen und Jaine-Yoga auskannten, hatten mir gesagt, daß sie dreißig Tage lang ohne Nahrung auskommen könnten. Sie zeigten mir, wie es geht. Die einzige Schwierigkeit ist, daß man zittert, wenn man Mahlzeiten überspringt. Wenn ich ein Gebäude berührte, war es, als ob die Welt bebte. Wenn ich dem Arbeitsamt meldete, daß mein Studienstipendium verbraucht sei, würde es mir Erwachsenenunterstützung auszahlen und eine Fahrkarte geben, damit ich New York verließe und nie zurückkäme. Aber ich würde es ihnen nicht melden. Mit schnellen, schwingenden Schritten seiner schlanken Beine kam mir Ahmed der Araber auf dem Gehsteig entgegen. Als wir noch klein waren, war Ahmed der König der Bande unseres Blocks, und manchmal bat er mich, ihm zu helfen. Dieses Jahr hatte Ahmed einen Job bei der Nothilfe. Vielleicht würde er mir erlauben, ihm zu helfen; vielleicht könnte er mir einen Job verschaffen. Ich gab ihm ein Zeichen, als er näher kam. »Ahmed.« Eilends ging er an mir vorüber. »Okay, George, komm mit.« Ich fiel in seinen Schritt ein. »Warum so eilig?« »Sieh dir die Wolken an, Mann. Irgend was braut sich da zusammen. Wir müssen es stoppen.« Ich sah zu den Wolken hinauf. Etwas, was meinen
Gefühlen entsprach, war über den ganzen Himmel geschmiert. Dunkle, drohende, dreckige Wolken türmten sich über der Stadt und sahen aus, als wollten sie jeden Moment zerplatzen und Feuer und Schmutz ausspeien. Im Psychologie-Kurs der High School hatte man uns gesagt, daß Leute gewöhnlich ihren Stimmungen entsprechen. Meine Stimmung war schlecht, das konnte ich sehen, aber immer noch wußte ich nicht, wie der Himmel in Wirklichkeit aussah – dunkel vermutlich, aber harmlos. »Was ist es?« fragte ich. »Ist es Smog?« Ahmed blieb stehen und sah mir ins Gesicht. »Nein. Es ist Angst.« Er hatte recht. Angst lag in der Luft wie Nebel. Angst hing in den drohenden Wolken und in der Dunkelheit auf den Gesichtern der Leute. Unter dem schweren Himmel gingen Leute vorbei, zusammengebuckelt wie unter kaltem Regen. Wolkenkratzer über uns schienen sich nach außen zu neigen. Ich schloß die Augen, doch ein Gebäude schien sich noch weiter nach außen zu neigen. Letztes Jahr, als Ahmed für die Nothilfe ausgebildet wurde, hatte er ein Buch mit Anweisungen genommen und versucht, mir etwas über den Unterschied zwischen innerer und äußerer Realität zu erklären und wie Menschenmengen in Panik geraten können, wenn alle derselbe Gedanke packt. Ich machte die Augen auf und beobachtete die Leute in der Menschenmasse, die auf mich zu, an mir vorbei und von mir wegrannten. Menschenmengen rennen immer in New York. Sahen auch sie, daß sich die Gebäude neigten und einzustürzen drohten? Hatten sie Angst, es zu sagen?
»Ahmed, du Nothilfe-Spitzel«, sagte ich, »was würde passieren, wenn wir ganz laut ›ein Erdbeben‹ riefen? Würden sie alle in Panik geraten?« »Wahrscheinlich.« Aus seinem schmalen Gesicht sahen mich Ahmeds schwarze Augen interessiert und aufmerksam an. »Wie fühlst du dich, George? Du siehst aus, als sei dir schlecht.« »Ich fühl mich miserabel. Irgend was stimmt nicht in meinem Kopf. Schwindlig.« Darüber zu reden machte es noch schlimmer. Mit den Händen stützte ich mich gegen eine Wand, die Mauern schwankten, mir kam es vor, als läge ich platt am Boden, obwohl ich doch immer noch stand. »Was in aller Welt stimmt nicht mit mir?« fragte ich. »Wenn ich 'ne Mahlzeit auslasse, kann ich davon doch nicht krank werden, oder?« Bei der Erwähnung von Essen bekam ich ein seltsames hohles, trockenes Gefühl im Magen. Plötzlich dachte ich an den Tod. »Ich habe nicht einmal Hunger«, sagte ich zu Ahmed. »Bin ich krank?« Als wir Kinder waren, war Ahmed der König unserer Bande gewesen. Er wußte auf alles 'ne Antwort. »Mann, du bist sehr sensibel.« Ahmed musterte mein Gesicht. »Irgend jemand hier in der Nähe ist in Schwierigkeiten, und du spürst es.« Er sah zum Himmel hinauf, erst nach Osten, dann nach Westen. »In welcher Richtung ist es am schlimmsten? Wir müssen ihn schnell finden.« Ich sah die Fifth Avenue hinauf. Die riesigen gläsernen Bürogebäude blitzten unheildrohend, ließen Wolken dunkelgrün durchscheinen und reflektierten andere in grau, als lösten sie sich selbst am Himmel auf. Ich blickte zu den riesigen Bögen des Transport-
Centers in der Forty-second Street hinüber. Ich schaute die Fifth Avenue hinunter, an den steinernen Rillen der Bibliothek vorbei, und dann weiter nach Westen zu den Neonlichtern des Amüsierviertels. Die Dunkelheit drohte mich zu packen wie ein riesiges Maul. Schwer zu beschreiben. »Mann, das ist schlimm.« Ich war ganz erschüttert. »Schlimm in allen Richtungen. Es ist die ganze Stadt!« »Kann es nicht sein«, sagte Ahmed. »Es ist laut; wir müssen in der Nähe des Opfers sein.« Er hob sein Armband-Funkgerät zum Mund und drückte den Signalknopf. »Statistik bitte.« Eine Stimme antwortete. »Statistik.« Ahmed artikulierte sorgfältig. »Vorrangiger Ruf. Rettungsplakette 54 B. Geben Sir mir den heutigen Trend bei den Hospitalzugängen, alles über Sigma reziprok 30. Ich brauche das Zentrum aller Gebiete mit einem scharfen Ansteigen von ...« – er musterte mich forschend – »... Schwindel, Erschöpfung und akuter Depression.« Sein Blick ruhte weiter auf mir. »Und wie steht es mit allgemeinen Angst-Syndromen und Hypochondrie?« Er wartete auf die Zahlen des statistischen Amtes. Ich wußte nicht, ob ich stolz oder beschämt sein oder mich einfach krank fühlen sollte. Er wartete – schlank, agil, ungeduldig, mit schwarzen Augenbrauen und schwarzen, durchdringenden Augen. Er hatte fast genauso ausgesehen, als er zehn war und ich neun. Er stammte aus einer Emigrantenfamilie. Die Leute sprachen irgendeine nichtamerikanische Sprache, waren aber sehr stolz. Andere würden brennen vor Haß oder Liebe zu Mädchen, aber Ahmed entbrannte für Ideen. Seine Idee von Abenteuern machte ihn zum König der Bande unseres
Häuserblocks. Er führte uns in seltsame Abenteuer und an Orte, wo der Zutritt verboten war, nur damit wir alles kennenlernten, und wenn wir festsaßen, zog er ein Kartenspiel zu Rate oder ein paar Würfel und führte uns aus der Gefahrenzone – wie wenn er eine Landkarte hätte. Er glaubte, daß das Aussehen eines Ortes und das Gefühl, das er einem gab, einem sein Schicksal verriet; ein Ort, wo einem das Pech verfolgte, sah schlecht aus. Wenn er mich um Rat fragte oder von mir wissen wollte, wie mir ein Ort vorkam, war ich sehr stolz. Er hatte uns hinter sich gelassen. Wir alle waren vorzeitig von der High School abgegangen; Ahmed der Araber jedoch bekam gute Noten, machte sein Examen und qualifizierte sich für weitere Ausbildung. Alle Mitglieder unserer Bande hatten sich ihre Erwachsenenpensionen geholt und die Stadt verlassen, außer mir und Ahmed dem Araber – und ich hörte, daß Ahmed der beste Detektor in der Nothilfe sei. Aus dem Armband-Funkgerät kam ein Pfeifton, und er hielt ihn ans Ohr. Prasselnd kamen Zahlen und statistische Begriffe aus dem Lautsprecher. Überrascht schaute Ahmed auf die vorbeigehenden Leute, sah mich dann einigermaßen respektvoll an. »Es ist überall in Manhattan. Frauen kommen mit psychosomatischer Schwangerschaft. Schwangere Frauen mit Alpträumen. Männer kommen mit imaginären Geschwüren und Tumoren. Eine Menge von Selbstmorden und Hospitaleinlieferungen wegen akuter suizidaler Melancholie. Du hast recht. Die ganze Stadt ist tief in der Tinte.« Schnellen Schrittes begann er die Forty-second
Street hinunterzugehen in Richtung Sixth Avenue. »Brauchen mehr Hilfe. Versucht verschiedene Techniken.« Ein Aushängeschild verkündete ZigeunerTeeraum, Orientalischer Tee, Exotisches Gebäck, Auskünfte über Ihre Persönlichkeit und Ihre Zukunft. Ahmed eilte durch eine Schwingtür und dann, zwei Stufen gleichzeitig nehmend, eine Rolltreppe hinauf. Ich blieb dicht hinter ihm. Dann waren wir in der Mitte eines großen Restaurants mit niedriger Decke, kleinen Tischen und spindelbeinigen Stühlen. Vier alte Damen saßen an einem der Tische, aßen Kuchen und unterhielten sich. Ein Geschäftsmann saß an einem Tisch am Fenster und las das Wall Street Journal. Zwei Studentinnen lehnten sich gegen die gläserne Wand und sahen hinunter zur Forty-second Street und ihrem Menschengewimmel. Eine fette Frau saß an einem Tisch in der Ecke und hielt sich eine Zeitschrift vor das Gesicht. Sie senkte sie und sah uns über den Rand hinweg an. Die vier alten Damen verstummten, und der Geschäftsmann faltete sein Wall Street Journal zusammen und legte es weg, als seien Ahmed und ich Überbringer schlimmer Nachrichten. Sie alle fühlten sich genauso elend und nervös wie ich – erwarteten das Schlimmste für eine zum Tode verurteilte Welt. Ahmed ging zwischen den Tischen hindurch hinüber in die Ecke, wo die fette Frau saß. Als wir näher kamen, legte sie ihre Zeitschrift auf einen Nebentisch. Ihr Gesicht hatte überall Lachfalten und war rund und angenehm. Sie nickte und lächelte mir zu, nicht aber Ahmed; vielmehr starrte sie ihm unverwandt in die Augen, als er sich ihr gegenüber niedersetzte. Er lehnte sich über den Tisch. »Also, Bessy, du
spürst es auch. Hast du festgestellt, wo es ist?« Sie sprach mit leiser und dennoch nachdrücklicher Stimme, als wage sie nicht, lauter zu sprechen: »Ich spürte es sofort, als ich heute morgen aufwachte, Ahmed. Ich versuchte, es für die Nothilfe zu orten. Aber es wird von zu vielen anderen Leuten reflektiert, weil sie sich ständig die Gründe überlegen, warum sie sich so fühlen ...« Sie verstummte, und ich wußte, was sie zu beschreiben versuchte. Der Versuch einer Beschreibung machte es noch schlimmer. Jetzt sprach sie mit noch leiserer Stimme, und ihr rundes Gesicht verriet ihre Besorgnis. »Die schlimmen Träume haben alle gepackt, Ahmed. Ich weiß nicht, ob ich ...« Sie wollte nicht darüber sprechen, doch Ahmed hatte schon den Mund zu einer Frage geöffnet, und weil sie mir leid tat, ging ich dazwischen. »Es wird von anderen Leuten reflektiert ... Wie meinen Sie das? Wie kommt es, daß all diese Leute ...« Mit einer vagen Handbewegung wies ich auf die Stadt und die Leute. Aufgabe der Nothilfe war, verlorene Menschen zu retten. Die Stadt war nicht verloren. Ahmed sah mich ungeduldig an. »Erwachsene bedienen sich nicht gern der Telepathie. Sie tun, als könnten sie es nicht. Aber nimm einmal an, jemand fällt in einen Aufzugschacht und bricht sich das Bein. Niemand findet ihn, und weil er kein Telefon hat, wird er verzweifelt und fängt an, zu beten und seine Sinneskräfte zu benutzen. Er wird versuchen, seine Gedanken auszusenden, so laut er kann. Er weiß nicht, wie laut er sie aussenden kann. Aber der Kerl sendet nicht seinen Namen und wo er ist, er sendet
nur: ›Hilfe, ich habe mir das Bein gebrochen!‹ Sie hinken in die Notkliniken und kriegen Röntgenbilder von Beinen, die in Ordnung sind. Die Ärzte sagen, sie sollen nach Hause gehen. Aber sie empfangen den Gedanken: ›Hilfe! Ich sterbe, wenn mir niemand hilft!‹, und so treiben sie sich in den Kliniken herum und belästigen die Ärzte. Sie haben Angst. Die Nothilfe benützt sie als Spürhunde. Wann immer es eine abnorme Welle von Leuten in einem Distrikt gibt, die Hilfe wollen, versuchen wir, das Zentrum der Welle zu finden und stoßen auf jemanden, der wirklich in Schwierigkeiten ist.« Je mehr er redete, desto besser fühlte ich mich. Es dämmte mich ab gegen die schlechte Stimmung des Tages, und allmählich kam es mir vor, als sei die Nothilfe etwas für mich. Ich weiß, wie Leute sich fühlen – es genügt, wenn ich in ihrer Nähe bin. Vielleicht würde mich die Nothilfe aufnehmen, wenn ich zeigte, daß ich Leute aufspüren konnte. »Großartig«, sagte ich. »Und wie ist es mit Mordverhütung? Wie macht ihr das?« Ahmed holte seine Silberplakette hervor und sah sie an. »Ich gebe dir ein Beispiel. Stell dir einen intelligenten, sensiblen Jungen mit lebhafter Phantasie vor. Er steht unter der Fuchtel seines stupiden Vaters. Er widersetzt sich nicht; er stellt sich nur vor, was er mit dem großen Mann anfangen wird, wenn er selbst einmal groß ist. Und jedesmal, wenn der Alte ihm die Hölle heiß macht, ballt er die Fäuste und lächelt und legt alles, was er hat, hinein in einen Ausbruch geistiger Energie, wobei er sich vorstellt, daß er den Schädel des Alten mit einer Axt spaltet. Er denkt laut. Viele Leute in seiner Umgebung haben nicht viel zu
tun, nicht viel zu überlegen. Sie haben keine besonderen Vorstellungen, machen keine Pläne und handeln nach den wenigen Gedanken, die ihnen kommen. Verstehst du?« »Sie führen aus, was er denkt«, grinste ich. Ahmed quittierte mein Grinsen mit angewiderter Miene und wandte sich wieder der fetten Frau zu. »Bessy, wir müssen dieses Opfer orten. Was sagen die Teeblätter über den Ort aus, wo sie sich befindet?« »Ich habe nicht gefragt.« Vom Nebentisch holte sie eine leere Tasse herüber, auf deren Grund ein paar nasse Teeblätter lagen. »Ich hoffte, daß ihr sie finden würdet.« Mühsam kam sie auf die Beine und watschelte in die Küche. Ich stand immer noch. Ahmed sah mich verärgert an. »Hör auf, ständig das Thema zu wechseln. Möchtest du helfen, jemand zu retten, oder nicht?« Bessy kam mit einer Teekanne und einer frischen Tasse auf einem Tablett zurück. Sie stellte das Tablett auf den Tisch, füllte die Tasse, schüttete dann die Hälfte des dampfenden Tees zurück in die Kanne. Mir fiel ein, daß eine Möglichkeit, Informationen aus dem Kollektivbewußtsein zu erhalten, darin besteht, daß man beobachtet, wie Leute spezielle Formen wie Tintenkleckse oder Teeblätter interpretieren, und verharrte schweigend, um sie nicht zu stören. Sie sank langsam auf ihren Stuhl, schwenkte den Tee in der Tasse und sah hinein. Wir warteten. Sie schüttelte die Tasse, sah wieder hinein; dann schloß sie die Augen und stellte die Tasse nieder. Still saß sie da, die Augen geschlossen, die Lider fest zusammengepreßt. »Was war es?« fragte Ahmed mit leiser Stimme.
»Nichts, nichts, nur ein ...« Sie verstummte, hustete. »Nur ein verdammter, lausiger, madiger Schädel.« Das mußte ein noch schlimmeres Zeichen sein, als wenn man beim Abheben Kreuz As erwischt. Tod. Wieder hatte ich dieses widerwärtige Gefühl. Tod für Bessy? »Tut mir leid«, sagte Ahmed. »Aber mache weiter, Bessy. Versuch es aus einem anderen Winkel. Wir brauchen den Namen und die Adresse.« »Sie dachte nicht an ihren Namen und ihre Adresse.« Bessys Augen waren noch fest geschlossen. Plötzlich sprach Ahmed mit einer ganz eigentümlichen Stimme. Ich hatte diese Stimme vor Jahren gehört, als er der Anführer unserer Bande war – als er einen anderen Jungen hypnotisierte. Die Stimme war tief und weich und drang einem tief in die Seele. »Du brauchst Hilfe, und niemand kommt, dir zu helfen. Was denkst du?« Die Frage bohrte sich in meinen Kopf. Eine Antwort bildete sich, und ich schickte mich an, sie auszusprechen, doch Bessy antwortete zuerst. »Wenn ich nicht denke, nur meine Augen schließe und stillhalte, spüre ich nichts; alles ist weit weg. Wenn die schlimmen Dinge beginnen, kann ich weit weg bleiben und mich weigern, zurückzukommen.« Bessys Stimme war träumerisch. Die gleichen dunklen, schläfrigen Ideen hatten sich in meinem eigenen Kopf geformt. Sie sprach sie für mich aus. Plötzlich hatte ich Angst, die Dunkelheit würde mich verschlingen. Sie war wie eine Nachtwolke, oder wie ein Kissen, das tief herunter schwebte und mich einlud, hinzugehen und meinen Kopf darauf zu legen, aber dann bewegte sie sich ein
wenig und drehte sich und zeigte zwei Reihen Haifischzähne, und man wußte, daß es ein Haifisch war, der jeden auffressen wollte, der ihm nahe kam. Bessy machte einmal die Augen auf und setzte sich gerade, die Augen so weit geöffnet, daß das Weiße rund herum sichtbar war. Sie hatte Angst vor dem Schlaf. Ich war froh, daß sie sich losgerissen hatte. Sie war schon hineingetrieben in das einladende Dunkel, hin zu dem schwarzen Ungeheuer. »Wenn Sie sich zu tief hinein versenken, könnten Sie tot aufwachen«, sagte ich und legte Ahmed die Hand auf die Schulter, um ihm zu bedeuten, er solle langsamer vorgehen. »Es ist mir gleich, wer von euch beiden für sie spricht«, sagte er, ohne sich umzuwenden. »Aber ihr müßt lernen, eure Gedanken von den ihren zu trennen. Nicht ihr denkt ans Sterben – das Opfer tut es. Irgendwo ist es in Todesgefahr.« Wieder lehnte er sich über den Tisch zu Bessie hinüber. »Wo ist es?« Ich packte Ahmeds Schulter noch fester; Bessy jedoch nahm gehorsam die Teetasse in die fetten Finger und schaute wieder hinein. Ihr Gesicht war rund und unschuldig; dennoch schien sie mir tapferer zu sein als ich selbst. Ich ging um den Tisch herum zu Bessy und sah über ihre Schulter hinweg in die Teetasse. Ein paar Teeblätter waren auf dem Grund der Tasse und trieben in obskuren Mustern herum. Vorsichtig klopfte sie mit einem Finger an die Seite der Tasse. Das Muster änderte sich. Die Blätter ergaben irgendeine Art Bild, aber ich konnte nicht genau ausmachen, was es war. Es sah aus, als ob es etwas bedeutete, aber ich konnte es nicht klar sehen.
Bessy sagte mitleidig: »Du hast Durst, nicht wahr? Bleib ganz ruhig. Wir werden es finden. Wir haben dich nicht vergessen. Denk nur daran, wo du bist, und wir werden ...« Ihre Stimme erstarb zu immer leiser werdendem Gemurmel wie ein Aufziehspielzeug, dessen Federwerk abläuft. Sie setzte die Tasse ab und stützte den Kopf in ihre Hände. Ich hörte ein Flüstern. »Müde des Kampfes und müde des Lächelns. Laß sterben. Hol den Tod. Der Tod wird kommen und die Welt zerstören, die wertlose, vertrocknete, verrottete ...« Ahmed packte sie an beiden Schultern und schüttelte sie. »Bessy, komme zu dir. Das bist nicht du. Es ist die andere.« Als Bessy ihren Kopf aus den Händen hob, hatte sich ihr Gesicht verwandelt. Es war nicht mehr rundlich und lächelnd, sondern hatte tiefe, kummervolle Falten wie ein alter Bluthund. Sie murmelte: »Es ist wahr. Warum auf jemanden warten, der einem hilft und einen liebt? Wir werden geboren und sterben. Niemand kann etwas dagegen tun. Kein Grund für Hoffnung. Hoffnung tut weh. Die Hoffnung hat ihr wehgetan.« Mir war es unangenehm, Bessy so reden zu hören. Es war, als sei sie tot. Ein sprechender Leichnam. Bessy schien sich zusammenzunehmen und sich auf Ahmed zu konzentrieren, um ihm zu berichten. Aber dann ging ihr Blick ins Leere, und sie schien ihn nicht zu sehen. Sie sagte: »Hoffnung tut weh. Sie haßt die Hoffnung. Sie versucht sie zu töten. Sie spürte meine Gedanken und dachte, meine Gefühle des Lebens und der Hoffnung seien die ihren. Als ich mich erinnerte,
wie Harry mir immer half, brach sie aus in Schwärze und Haß ...« Wieder verbarg sie ihr Gesicht in den Händen. »Ahmed, er ist tot. Sie hat Harrys Geist in meinem Herzen getötet. Er wird nie mehr zurückkommen, nicht einmal im Traum.« Ihr Gesicht war tot, wie eine Maske. Wieder streckte er den Arm aus und schüttelte sie an der Schulter. »Bessy, schäm dich; komm zu dir.« Sie richtete sich auf und sah ihn verächtlich an. »Es ist wahr. Alle Männer sind Tiere. Keiner hilft einer Frau. Du willst, daß ich dir bei deinem Job helfe, damit du für die Auffindung dieses Mädchens noch eine Medaille verliehen bekommst, nicht wahr? Aber sie ist dir gleichgültig.« Ihre Miene verdüsterte sich, veränderte sich zu etwas Schlimmem, das mich an die schwarzen Wolkengebilde erinnerte. Ich mußte sie wieder zu sich bringen, wußte aber nicht wie. Ahmed klopfte mit dem Teelöffel heftig gegen die Tasse und sagte laut, doch in beiläufigem Ton: »Wie geht das Restaurant, Bessy? Machen die neuen Mädchen sich gut?« Überrascht sah sie auf die Tasse nieder und blickte dann ziellos im Restaurant herum. »Nicht viele Kunden im Augenblick. Wird gerade eine ruhige Stunde sein. Die Mädchen sind in der Küche.« Ihr Gesicht begann wieder, ihre eigenen Züge anzunehmen, eine verbindliche Restaurant-Service-Maske, rund und stets bereit zu lächeln. »Sollen die Mädchen dir etwas bringen, Ahmed?« Mit ungespielter Freundlichkeit wandte sie sich zu mir, und ihre Worte klangen weniger mechanisch. »Möchten Sie irgend etwas, junger Mann? Sie sehen
sehr energisch aus, wie Sie so dastehen! Die meisten jungen Leute mögen unser türkisches Honiggebäck.« Innerlich hatte sie sich immer noch nicht mir zugewendet, sah mich eigentlich gar nicht, aber – ich lächelte zurück, froh darüber, daß es ihr besser ging. »Nein, danke«, sagte ich und schaute zu Ahmed hinüber, um zu sehen, was er als nächstes tun würde. »Bessys Honiggebäck ist berühmt«, sagte Ahmed. »Es tropft vor Honig und hat einen solchen Mandelgeschmack, daß es dir den Mund verbrennt.« Er sah richtig fahl aus, als er sich erhob. »Ich werde mir ein Dutzend Stücke davon einpacken lassen.« Die fette Frau sah blinzelnd zu ihm auf. Ihr rundes Gesicht sah nicht mehr blaß und kränklich aus, nur irgendwie verschoben und bedeutungslos, so wie einem das eigene Gesicht am Morgen aus dem Spiegel entgegensieht. »Türkisches Honig- und Mandelgebäck«, wiederholte sie. »Ein Dutzend Stücke.« Sie läutete eine kleine Glocke in der Mitte des Tisches und stand auf. »Warte unten auf mich«, sagte Ahmed zu mir. Er wandte sich zu Bessy. »Erinnerst du dich noch, als diese ShrinersKonvention herein kam und alle auf der Stelle Hummer und Handlesen wollten? Wo hattest du denn so viele heiße Hummer her?« Sie gingen zusammen zu der Theke mit Kuchen und Gebäck. Ein hübsches Mädchen in einer Spitzenschürze kam aus der Küche und blieb wartend hinter der Theke stehen. Bessy lachte, kichernd-nervös erst und dann im tiefen Hoho eines Weihnachtsmanns. »Und ob ich mich erinnere! Was für ein Aufruhr! Stell dir vor: Ich hänge am Telefon und versuche, innerhalb von zehn Minu-
ten zwanzig Handleser herzukriegen. Ich war wirklich dankbar, als du mir diese zwanzig jungen Leute 'rüberschicktest, die meinen Shriners aus der Hand lesen konnten. Ich war furchtbar nervös, bis ich sah, daß ihre Zuhörer richtig die Ohren spitzten, gespannt auf das nächste Wort warteten. Ich dachte, du hättest eine ganze Zigeunersippe aus dem Gefrierschrank geholt. Ho-ho. Was ich nicht wußte, war, daß du eine ganze Polizeiklasse für Analyse verdächtiger Persönlichkeiten hierher geschickt hattest.« Ich ging zur Tür hinaus, hinunter auf die Straße. Ein paar Minuten später kam Ahmed mir, zwei Treppenstufen auf einmal nehmend, nachgerannt. »Hier, nimm das.« Er warf mir die Papiertüte mit türkischem Honiggebäck zu. Der warme, süße Geruch war gut. Ich nahm die Tüte und steckte die Hand hinein. »Du sollst sie tragen. Iß nichts davon.« Ich folgte Ahmed hinunter zum Gehweg der ersten unterirdischen Verkehrsebene. Ich fühlte mich so zittrig, daß ich langsam eine Stufe nach der anderen nahm statt zwei auf einmal. Als ich Ahmed wieder erreichte, besah er sich die Wegweiser zu den verschiedenen Stadtteilen. Zum ersten Mal bemerkte ich, daß er unsicher und bedrückt war. Er wußte nicht wohin. Daß Ahmed nicht wußte, wohin er sich wenden sollte, berührte mich seltsam. Denn das hieß, daß er gelaufen war, ohne zu wissen, wohin. Er dachte laut: »Wir wissen, daß das Opfer ein weiblicher Erwachsener ist, jünger als Bessy, wahrscheinlich schwanger, daß sie irgendwo festsitzt, wo es weder Nahrung noch Wasser gibt. Sie erwartet Hilfe von den Menschen, die sie liebt, und wurde enttäuscht. Und jetzt macht der Gedanke an Liebe sie
wütend, und sie sperrt sich dagegen, daß jemand ihr hilft.« Ich dachte daran, wie Bessys Gesicht plötzlich fahl und schlaff geworden war, als das Opfer sich gegen ihren Gedanken an Hilfeleistung gewehrt hatte. Wütend schien die Untertreibung des Jahres zu sein. Ich dachte an den beängstigend drohenden Himmel und beobachtete die Menschen, die bleich und verängstigt vorbeieilten. Zwei Mädchen kamen vorüber. Sie sahen nicht gut aus. Eine hielt sich den Bauch und murmelte etwas von Alkaseltzer, und die andere hatte gerötete Augen, als ob sie eben geweint hätte. Kann ein Mensch, der sich in Gefahr befindet, das einer ganzen Stadt voll Leuten antun? »Wer ist sie, Ahmed?« fragte ich. »Ich meine, was ist sie überhaupt?« »Ich verstehe es selbst nicht«, sagte Ahmed. Plötzlich überfiel er mich wieder mit seiner Frage, und seine tiefe, hypnotische Stimme stieß mich zurück in den schwarzen Wirbel der Todesfurcht. »Wenn du durstig wärst, sehr durstig, und wenn es nur eine Stelle in der Stadt gäbe, wo du dir etwas besorgen könntest, um deinen Durst zu löschen ...« »Ich bin nicht durstig.« Ich versuchte zu schlucken und spürte meine geschwollene Zunge; mein Mund schien trocken und voll Sand zu sein, und mein Hals voll trockenem Kies. Die Welt neigte sich zur Seite. Mit Mühe konnte ich mich aufrecht halten. »Ich bin durstig. Wie hast du das gemacht? Ich möchte zur White Horse Tavern in der Bleeker Street gehen und einen Liter Ginger Ale trinken und eine Flasche dunkles Bier.« »Du bist mein Kompaß. Wir müssen dorthin. Ich
werde dir das kaufen.« Ahmed rannte die Stufen der Eighth Avenue Subway zur Sesselbahn hinunter. Ich rannte hinterdrein, wobei ich die Tüte mit süßem Gebäck umklammerte, als wäre sie ein schwerer Koffer voller Steine. Der Geruch machte mich hungrig und schwach. Ich konnte noch gehen, doch war ich ziemlich sicher, daß man mich, wenn Ahmed mich nur noch einmal in diese tiefschwarze Gemütsverfassung brachte, auf einer Bahre würde zurücktragen müssen. Auf der Bahn koppelten wir unsere Sessel, und Ahmed steuerte sie von einem Zugseil zum anderen, bis wir eine beträchtliche Geschwindigkeit erreicht hatten. Die Sessel fuhren durch die Tunnels, unter hellen Schaufenstern mit schönen Mannequins hindurch, die tanzten und Waren vorführten. Normalerweise sah ich hoch, wenn wir zum brennenden Wald und den dreidimensionalen Wasserfällen kamen, doch heute tat ich es nicht. Ich saß mit hängendem Kopf da, die Arme um die Knie geschlungen. Ahmed musterte mich aufmerksam; seine Augenbrauen waren zusammengezogen, während er mich prüfend ansah. »Mann, jetzt möchte ich die Selbstmordstatistik sehen. Ich brauche dich nur anzuschauen, dann weiß ich, wie schlimm sie ist!« Ich hatte noch genug Leben im mir, um ärgerlich zu werden. »Ich habe meine eigenen Gefühle, nicht nur die Gefühle von irgend 'nem Mädchen. Den ganzen Tag fühle ich mich schon schlecht. Ein Virus oder sowas.« »Verdammt, kannst du denn überhaupt nicht verstehen? Wir müssen dieses Mädchen retten, weil sie
sendet. Sie sendet, daß sie krank ist!« Ich schaute auf den Boden zwischen meinen Füßen. »Ist das ein Grund? Warum kannst du sie nicht einfach deswegen retten, weil sie in Schwierigkeiten ist? Laß sie senden. Im Psychologie-Kurs hieß es, daß jeder sendet.« »Hör zu ...« Ahmed beugte sich nach vorn, um mir eine Idee mitzuteilen. Seine Augen begannen zu glänzen, als die Idee von ihm Besitz ergriff. »Vielleicht sendet sie zu laut. Die Statistiker haben Daten über Trends und Verlauf von Massenbewegungen gesammelt. Sie glauben, daß Leute, die zu laut senden, solche Massenbewegungen verursachen können.« »Das versteh ich nicht Ahmed.« »Also sie veranlassen zum Beispiel einen Haufen Leute, bei einem Regentag zum Strand von Coney Island zu fahren. Dann sind nicht genügend Untergrundbahnwagen da, und der Verkehr bricht zusammen. Sie vergleichen diesen Tag mit anderen Regentagen mit der gleichen Temperatur zur gleichen Jahreszeit und versuchen, die Ursache herauszubekommen. Manchmal sind es Betriebsferien; manchmal ist es aber auch nur ein einziger Mann, der einen einzigen Tag freinimmt und an den Strand fährt. Und tausend Leute aus der ganzen Stadt, Leute, die ihn nicht kennen, melden sich plötzlich krank und fahren an den Strand. Manchmal kommen sie beinahe gleichzeitig an, verstopfen eine Stunde lang die Untergrundbahn und bringen die Leute von der Verkehrsflußkontrolle in Kalamitäten.« »Ist das ein Klub?« Ich versuchte zu verstehen, was er meinte, kam aber nicht darauf, womit das alles zu
tun haben sollte. »Nein«, sagte er. »Sie kannten einander nicht. Das hat man überprüft. Die Verkehrsflußexperten müssen wissen, womit sie zu rechnen haben. Sie fingen an, die Namen solcher Leute zu notieren. Sie stellten fest, daß die meisten Arbeiter mit einem IQ von unter 100 sind, die aber im Leben gut zurecht kommen. Es scheint, daß die ganze Bewegung jeweils von einem einzigen Mann kontrolliert wurde, der aus irgendeinem Grund diese Richtung einschlug. Die Statistiker nennen ihn den Archetypus. Das ist ein altgriechisches Wort. Das Original, von dem sich andere Leute wie Kopien ableiten – ein wirklicher Mann und tausend Echos.« Der Gedanke, daß manche Menschen Echos sein konnten, beunruhigte mich. Jemand ein Echo zu nennen, schien mir eine Beleidigung zu sein. »Die müssen sich täuschen«, sagte ich. »Hör zu ...« Ahmed beugte sich nach vorn, und seine Augen leuchteten auf. »Sie glauben, sie haben recht – ein Mann und tausend Echos. Sie haben das Leben der Männer überprüft, die das Zentrum solcher Bewegungen bilden. Die Archetypen sind gewöhnliche, energische Menschen, die ein durchschnittliches Leben führen. Wenn für den Archetypus alles normal verläuft, verhält er sich normal, und alle, die er kontrolliert, verhalten sich ebenso normal. Verstehst du?« Ich verstand es nicht, es gefiel mir nicht. »Ein durchschnittlicher, gesunder Mensch ist harmlos. Es würde ihm gar nicht einfallen, jemand kontrollieren zu wollen«, sagte ich. Aber ich wußte, daß das eine Beschönigung war. Menschen können schlecht sein. Menschen lieben es, Macht über andere Menschen
auszuüben. »Ja«, sagte ich, »manche Leute lassen sich gern beraten. Vielleicht ist es so etwas wie Beratung?« Ahmed lehnte sich zurück und strich sich über das Kinn. »Das würde ins Bild passen. Du meinst Beratung durch ESP. Vielleicht weiß der Archetypus nicht, daß er sendet. Er tut einfach, was ein durchschnittlicher Mensch tun möchte. Löst dieselben Probleme – aber besser. Er sendet laute, angenehme, einfache Gedanken, und es fällt nicht schwer, ihnen zuzuhören, wenn man das gleiche Leben führt und dieselben Probleme hat. Vielleicht hat mehr als die Hälfte der Leute mit einem IQ unter hundert eine Sensitivität für Telepathie entwickelt und läßt die Archetypen für sie denken.« Ahmed überdachte erregt das Bild, das sich vor seinen Augen formte. »Vielleicht wissen die Leute, die ihr Leben von Archetypen gestalten lassen, gar nicht, daß sie den Gedanken anderer folgen. Irgendwie finden sie einfach diese gesunden, problemlösenden Gedanken in einer Ecke ihres Bewußtseins. Vergiß nicht: Der Durchschnittsmensch glaubt, Denken bedeutet, daß man stillsitzt und in die Ferne schaut und sein Kinn in die Hand stützt, wie jemand, der einer fernen Musik zuhört. Manchmal sagen sie: ›Wenn zuviel Lärm ist, kann ich mich nicht denken hören.‹ Wenn aber ein Intellektueller denkt, ein wirklicher Denker ...« Seine Stimme war lauter und erregter geworden, je mehr der Gedanke ihn gepackt hatte. Er beugte sich wieder nach vorn, und seine Augen glänzten. Lachend unterbrach ich ihn. »Wenn ein Intellektueller denkt, schaltet er in den höchsten Gang, beugt sich nach vorn, stiert dich an und geht praktisch bei
jedem Wort die Wand hoch, wie du, Ahmed. Bist du ein Archetypus?« Er schüttelte den Kopf. »Nur für meine Art von Persönlichkeit. Wenn ein Durchschnittsmensch meine Gedanken auffinge, würden sie seine Probleme nicht lösen – also würde er keine Notiz von ihnen nehmen.« Mein lautes Lachen ließ ihn verstummen. Das Lachen vertrieb die Gespenster der Verzweiflung, die an meinem Herzen nagten. »Deine Art von Persönlichkeit! Ho ho. Zeig mir eine. Ha ha. Keine Notiz davon nehmen? Mensch, wenn jemand deine Gedanken im Kopf hätte, würde er zum Psychiater gehen. Er würde glauben, er hätte 'nen Klaps.« Vor uns sahen wir die große »14«, welche die Fourteenth Street anzeigte. Ich griff zum Ganghebel des Sessels, und wir bewegten uns seitwärts von einem Zugkabel zum nächstlangsameren, bis wir standen. Auf der ersten Fahrbahn näherte sich ein Sessel, auf dem ein Mädchen seitwärts gewandt kniete. Ich dachte, sie wollte sich ein Schuhband binden, doch dann sah ich, daß sie zusammengekauert dalag, die Knie unter dem Kinn, den Daumen im Mund. Regression. Rückzug in die Kindheit. Kapitulation. Irgendwie erfüllte es mich mit einem Schauder der Angst. So leicht durfte man nicht kapitulieren. Ahmed war von seinem Sessel aufgesprungen, war schon halb bei der Treppe. »Ahmed!« rief ich. Er wandte sich um und sah das Mädchen. Ihr Sessel trug sie langsam in der ersten Fahrspur vorbei. Er bedeutete mir, ihm zu folgen, und eilte die Rolltreppe hinauf. »Los«, rief er zurück, »bevor es
schlimmer wird!« Als ich oben war, sah ich Ahmed in der White Horse Tavern verschwinden. Ich rannte die Straße hinunter und folgte ihm in den kühlen, holzgetäfelten Raum. Nichts schien sich zu bewegen. Langsam paßten sich meine Augen an, und ich sah Ahmed, der mit auf die Theke gestützten Ellenbogen ein Bier trank und sich mit dem Barkeeper über das Wetter unterhielt. Es war zuviel für mich. Die Welt war auf eine Weise aus den Fugen, und Ahmed auf eine andere Weise. Ich kapierte es nicht und war drauf und dran, ihm eins über den Kopf zu geben. Ich hatte Durst, aber es hatte keinen Sinn, wenn ich versuchte, etwas zu trinken oder zu essen, wenn dieser Verrückte in der Nähe war. In größtmöglichem Abstand von Ahmed legte ich die Ellenbogen auf die Theke und rief dem Barmann zu: »Einen Bock zum Mitnehmen.« Mit einer Kopfbewegung deutete ich auf Ahmed. »Er bezahlt es.« Es klang ganz normal; aber der Barmann veranlaßte es zu hektischer Aktivität. Er ließ eine Flasche in eine braune Papiertüte fallen und rieb die Theke vor mir mit Holzpolitur ein. »Schönes Wetter heute«, sagte er und sah sich mit hochgezogenen Schultern in seinem Lokal um. »Ich wünschte, ich könnte draußen in der frischen Luft sein. Waren Sie schon einmal hier?« »Einmal«, sagte ich und nahm die Tüte. »Hat mir gefallen.« Die Leute, die mich auf das Lokal aufmerksam gemacht hatten, fielen mir ein. Jean Fitzpatrick – auf einer Party hatte sie mir einige von ihren Gedichten gezeigt – und ihr Mann, ein netter Kerl. Mort
Fitzpatrick hatte auf einer Flöte eigene Melodien gespielt, als wir zu der Taverne hinüberspaziert waren, und ein paar bärtige Freunde von ihnen gingen mit uns und sprachen von seltsamer Philosophie und merkwürdigen Trips, die sie gemeinsam gemacht hatten. Das Mädchen sagte mir, daß sie und ihr Mann ein Haus in der Nachbarschaft hatten und luden mich dorthin zu einer Party ein, was ich ablehnte, und meinte dann, ich könne jederzeit vorbeikommen. Ich wußte, daß sie das ernst meinte. Sie waren Bohemiens von der Art, die Kunst sammelt und seltene Bücher und eigenartige Menschen. Solche Leute haben immer eine offene Tür für Menschen mit einer ungewöhnlichen Geschichte, und sie haben immer eine Kanne Kaffee bereit, die sie mit einem teilen. »Leben Jean Fitzpatrick und Mort Fitzpatrick noch in der Gegend?« fragte ich den Barkeeper. »Ich sehe sie manchmal. Hier sind sie in letzter Zeit nicht gewesen.« Er fing an, die Theke in Richtung auf Ahmed hin abzuwischen und zu polieren. »Schon möglich, daß sie umgezogen sind.« Ahmed trank sein Bier und sah uns von der Seite an wie ein Fremder. Ich trat hinaus in den grauen Tag, die Papiertüte mit der Bockbierflasche unter dem Arm. Ich konnte ihn aufgeben, diesen verrückten Job eines Detektors, der mich richtig krank machte. Ich konnte jemand wie Jean Fitzpatrick aufsuchen und ihr sagen, wie scheußlich der Tag gewesen war und daß es mir zuviel wurde und ich ausgeflippt war, bis die Geschichte sich lustiger ausnahm und die Welt ein Ort wurde, den ich ertragen konnte. Ahmed holte mich ein und legte die Hand auf mei-
nen Arm. Es hätte nicht viel gefehlt und ich wäre herumgefahren und hätte ihm einen Faustschlag versetzt. So blieb ich einfach stehen und schaute stur geradeaus. »Wütend?« fragte er und ging um mich herum, um mir ins Gesicht zu sehen. »Wie fühlst du dich?« »Ahmed, wie ich mich fühle, ist meine Sache. Okay? Hier gibt es ein Mädchen, das ich besuchen möchte. Ich möchte sicher gehen, daß ihr nichts fehlt. Okay? Laß dich von mir nicht von deinen Pflichten für die Nothilfe abhalten. Warte nicht auf mich. Okay?« Ich wandte mich wieder zum Gehen, aber der lästige Kerl war nicht abzuschütteln. Ich hatte klar und deutlich gesagt, daß ich keine Begleitung wünschte. Niederschlagen wollte ich ihn nicht, denn bei anderen Gelegenheiten hatte er sich als mein Freund erwiesen. »Darf ich mitkommen?« fragte er höflich. »Vielleicht kann ich helfen.« Ich zuckte die Achseln und ging in Richtung zum Fluß. Was machte es schon aus. Ich war müde, und es war zu viel los in New York City. Ahmed würde bald seinen eigenen Angelegenheiten nachgehen. Die Vorstellung, mit dem Mädchen zu sprechen, war warm, dunkel, beruhigend. Wir würden zusammen Kaffee trinken, einander verrückte kleine Witze erzählen und die Welt vergessen. Das Haus der Fitzpatricks war eines jener kleinen, hundert Jahre alten schiefen Häuser aus der Zeit, als die Stadt noch überschaubar war. Es war in Handarbeit liebevoll wiederhergestellt und von vielen freiwilligen Helfern mit einer Menge Farbe wieder
schmuck gemacht worden. Es war leuchtend weiß, hatte rote Türen und rote Fensterläden mit Blumenkästen unter jedem Fenster, mit wildem Wein und Blumen und Grün aller Art. Das ganze Haus wurde überragt von den riesigen Trägern der Hudson-RiverAutobahn, von der der Verkehr zu ihnen herunterzischte und -dröhnte und der den Boden unter ihnen erzittern ließ. Ich klopfte an die hellrot gestrichene Tür. Niemand rührte sich. An der Seite fand ich einen offenbar selten benützten Klingelknopf und drückte darauf. Vielstimmiges Geläute ertönte, doch drinnen rührte sich nichts. In Greenwich Village hat man meistens Gäste. Tag und Nacht ist irgend jemand da: Künstler ohne Geld, Reisende, Hitchhiker, angeschlagene, harmlos aussehende Flüchtlinge aus der Welt der Studenten oder Forscher, die versuchten, ihren Nervenzusammenbruch hinauszuschieben, indem sie sich hier dem Druck von außen entzogen – ausspannten. Es war durchaus üblich, den Kopf hineinzustecken und nach jemand zu rufen, wenn Klopfen und Läuten zu nichts führten. Ich faßte den Türknopf, um einzutreten. Aber er ließ sich nicht drehen. Die Tür war verschlossen. Mir kam es vor, als hätten sie die Tür versperrt, als sie mich kommen sahen. Muskelkopf George kommt, sperr die Tür zu. Ein schlechter Tag war das; aber ich konnte nicht mehr weiter. Außer hierher konnte ich nirgends mehr hin. Ich rüttelte idiotisch an dem Knopf, versuchte ihn zu drehen. Es gab ein prasselndes Geräusch wie von Ketten, wie von der Alarmglocke in einem Krankenhaus. Das Geräusch ging mir durch Mark und Bein
und ließ fast meine Hand erstarren. Ich glaubte, etwas sei hinter der Tür, und dachte, sie würde sich öffnen und ein Ungeheuer mit fleischlosem Schädel würde mich erwarten. Ich drehte mich um und stieg still und vorsichtig die zwei Stufen zum Gehsteig hinunter. Ich war dermaßen aus den Fugen, daß ich glaubte, die Tür sich hinter mir öffnen zu hören und den kalten Hauch von jemandem zu spüren, der seine Hand ausstreckte, um mich zu packen. Ich sah mich nicht um, ging einfach weg in der gleichen Richtung wie vorher, tat so, als hätte ich diese Tür nur unabsichtlich berührt. Ahmed trottete neben mir her, seitwärts und etwas rückwärts gewandt wie eine große Krabbe, um mein Gesicht zu sehen. »Was ist los? Was ist?« »Sie ist nicht ... Niemand war ...« Es war eine Lüge. Jemand oder etwas war in diesem Haus. Denk nicht daran, geh schneller. »Wo wollen wir jetzt hin?« fragte Ahmed. »Direkt in den Fluß«, sagte ich und lachte. Es klang merkwürdig und schmerzte mich in der Brust wie ein schwerer Husten. »Das Wasser ist eine Luftspiegelung in der Wüste, man marschiert durch den trockenen Sand und sucht nach Wasser, in dem man ertrinken kann. Der Sand ist bedeckt mit all den verlorenen, vertrockneten Dingen, die außer Sicht gesunken sind. Du stirbst auf dem trockenen Sand, kriechst, suchst nach Wasser. Niemand sieht dich. Leute sehen über dich hinweg und sehen die Spiegelung des Himmels in den falschen Wellen. Taucher kommen und finden deine vertrocknete Mumie auf dem
Grund und machen Notizen, weil sie glauben, im Fluß sei Wasser. Aber es ist alles Lüge.« Ich verstummte. Die riesigen Hafenanlagen waren vor uns, und zwischen ihnen die kleinen Kais. Es hatte keinen Sinn, in diese Richtung zu gehen oder in irgendeine andere. Die Welt war alt und eingeschrumpft, mit dem Staub von Jahrtausenden auf ihrer Oberfläche – ein Mumiensarg. Und während ich dastand, wurde die Welt kleiner, senkte sich auf mich wie ein Sargdeckel. Ich lag tot auf dem Gehsteig und stand trotzdem aufrecht. Ich konnte mich nicht bewegen. »Ahmed«, sagte ich und hörte meine Stimme aus weiter Entfernung, »hol mich da heraus. Wozu hat man einen Freund?« Er tanzte um mich herum wie ein garstiger Kobold. »Warum kannst du dir nicht selbst helfen?« »Ich kann mich nicht bewegen«, antwortete ich bemerkenswert vernünftig. Er umkreiste mich, sah sich mein Gesicht an und die Art, wie ich dastand. Immer wieder von neuem blieb er stehen und hielt inne wie eine Wanze, die nach einer Stelle sucht, wo sie zubeißen kann. Ich dachte daran, wie es wäre, eine Dose Insektengift auf ihn abzusprühen. Plötzlich machte er Gebrauch von der Stimme, der klaren, tiefen, hypnotischen Stimme, die in die dunkle, private Welt eindringt, in der ich lebe, wenn ich schlafe und träume. »Warum kannst du dich nicht bewegen?« Unter meinen Füßen öffnete sich ein Abgrund. »Weil ich fallen würde«, sagte ich. Wieder machte er Gebrauch von der Stimme, und sie drang ein in eine innere Welt, wo die Träume leb-
ten und stets Wirklichkeit waren. Müde und schwach lag ich auf dem Staub und alten Stoffetzen. Ein staubiger, übler Geruch stieg in meine Nase, und ich sah hinab in einen Abgrund, aus dem die Luft heraufkam. Die Luft von unten roch besser. So blieb es lange Zeit. Dann erreichte mich Ahmeds Stimme, fragte ... »Wie weit würdest du fallen?« Meine Augen maßen die Entfernung. Ich war müde, und das Denken bereitete mir große Anstrengung. Ich falle drei oder vier Meter bis zum nächsten Absatz, dann mit den Füßen auf die Leiter, die dort steht, dann die nächste steile Treppenflucht hinunter ... Unten wartete der Tod. »Sehr weit«, antwortete ich. »Ich bin zu schwer. Die Stufen sind steil.« »Dein Mund ist trocken«, sagte er. Ich spürte den Durst wie Flammen, die meine Kehle austrockneten und meine Zunge anschwellen ließen, als er die Frage stellte, die Frage aller Fragen. »Sag mir: Wie ist dein Name?« Ich versuchte, meinen richtigen Namen zu sagen – George Sanford. Dann hörte ich eine Stimme krächzen. »Jean Dalais.« »Wo wohnst du?« fragte er mit der durchdringlichen Stimme, die in meinem Schädel widerhallte und in die böse andere Welt hineindröhnte, wo ich, oder irgend jemand, auf dem Boden lag und auf ewig die modrige Luft einatmete. »Drunten«, hörte ich mich antworten. »Wo bist du jetzt?« fragte er mit der gleichen durchdringenden Stimme. »In der Hölle«, antwortete die Stimme aus meinem Kopf.
Sorgfältig gezielt hieb ich zu, um ihn mit dem einen Schlag niederzustrecken. Er war gefährlich. Ich mußte ihn stoppen, und zwar für immer. Ich schlug gezielt zu und voller Haß. Er fiel rücklings um, und ich fing an zu laufen. Ich lief einen Häuserblock weit, zwei Häuserblocks. Meine Beine gehörten mir, mein Körper gehörte mir, mein Geist gehörte mir. Ich war George Sanford und konnte mich bewegen, ohne fürchten zu müssen, daß ich fallen würde. Niemand war hinter mir. Niemand war vor mir. Die Sonne schien durch Wolken, der frische Wind wehte über die leeren Gehsteige. Ich war allein. Ich hatte die winzige Welt tödlichen Schreckens hinter mir stehengelassen wie eine verlassene Telefonzelle. Dieses Mal wußte ich, was ich tun mußte, um mich herauszuhalten. Nicht mehr daran denken. Nicht mehr daran denken, was Ahmed zu tun versuchte. Sich nicht um irgend jemandes Rettung kümmern. Im dunstigen Sonnenschein einen Spaziergang entlang den Piers machen und fröhliche Gedanken denken, oder überhaupt keine Gedanken. Ich sah mich um, und Ahmed saß in einiger Entfernung auf dem Gehsteig. Ich dachte daran, daß ich außerordentlich stark war und daß der Trainer mich ermahnt hatte, mich zurückzuhalten, wenn ich zuschlug. Sogar Ahmed? Aber er hatte unvorsichtig gedacht und mir zugehört. Was hatte ich gesagt? Jean Dalais. Jean Fitzpatrick hatte mir ein paar von ihren Gedichten gezeigt, und das war der Name gewesen, mit dem sie unterzeichnet waren. War Jean Dalais wirklich Jean Fitzpatrick? Wahrscheinlich war das ihr Name gewesen, bevor sie Mort Fitzpatrick geheiratet hatte.
Ich war an dem weißen Haus mit den roten Fensterläden vorbeigerannt. Ich schaute zurück. Es war nur einen halben Häuserblock hinter mir. Ich ging zurück, bevor die Angst mich wieder packen konnte, rüttelte an dem Türknopf, drückte gegen die rote Tür, besah mir das Schloß. Dann war Ahmed wieder bei mir. »Weißt du, wie man Schlösser aufkriegt?« fragte ich ihn. »Das dauert zu lange«, antwortete er mit leiser Stimme. »Versuchen wir's durch die Fenster.« Er hatte recht. Das erste Fenster, gegen das wir drückten, wurde nur durch den New Yorker Ruß zugehalten. Mit schwarzen, rußverschmierten Händen kletterten wir in die Küche. Sie war sauber aufgeräumt bis auf eine Schüssel mit vertrocknetem Salat. Die Spüle war trocken, die Luft stickig. Es gehörte zum guten Ton, unser Eindringen laut kundzutun. »Jean!« schrie ich. Ich hörte Echos und Stille und etwas Kleines, was im oberen Stock zu Boden fiel. In meiner Vorstellung erhoben sich wieder die Geister, standen mit ausgestreckten Klauen hinter mir. Ich schaute über die Schulter zurück und sah nur die leere Küche. Meine Haut prickelte. Ich hatte Angst, ein Geräusch zu machen. Angst, daß der Tod mich hören würde. Ich mußte schreien; ich hatte Angst davor, zu schreien. Mußte mich bewegen; hatte Angst, mich zu bewegen. Starb vor Feigheit. Die Gedanken von jemand anderem mit dem Geruch der Krankheit, dem Brennen des Durstes, der Macht des Zornes. Beklemmung packte mich. Ich stützte mich mit einer Hand auf den Küchen-
tisch. »Oben im Speicher«, sagte ich. Ich wußte jetzt, was mir fehlte. Jean Dalais war ein Archetypus. Sie war im Delirium und träumte, sie sei ich. Oder ich war in Wirklichkeit Jean Dalais, die eben einen weiteren Traum von Rettung durchlitt, und ich träumte, daß fremde Leute unten in meiner Küche seien und nach mir suchten. Ich, Jean, haßte diese Halluzinationen. Ich schlug ein auf die Traumbilder von Menschen mit dem echten Gefühl von Schwäche und Krankheit, mit der Erinnerung an die Zeit, die vergangen war, ohne daß jemand mir half, und mit dem Haß auf eine Welt, die einem in die Falle lockte und die Hoffnung zu einer Lüge machte. Die Halluzination George Sanford sank auf dem Küchenboden in eine hockende Stellung zusammen. Die Flasche Bockbier in seiner Papiertüte schlug schwer neben ihm auf den Boden; es klang fast echt. »Geh hinauf, Ahmed«, sagte George Sanfords Mund. Die andere Traumfigur beugte sich nieder und stellte ein Telefon auf den Boden. Auch es prallte mit dumpfem Geräusch auf das Linoleum und mit einem musikalisch läutenden Klang, der oben gehört zu werden schien. »Die Halluzinationen werden realer. Ich kann sie jetzt hören«, murmelte Sanfords Ich – »oder war es Jean Dalais, die da dachte?« »Wenn ich schreie, wählst du 0 und bittest die Nothilfe zu kommen.« Ahmed nahm die Papiertüte mit der Bierflasche. »Okay, George?« Er begann, in den Küchenschubladen nach etwas zu suchen. »Großartige Sache, Bier. Gibt nichts Besseres für extreme Dehydration. Enthält Salz. Bewahrt das System vor einem Flüssigkeitsschock.« Er fand den Flaschenöffner und ließ ihn in seine
Hosentasche gleiten. »Ein Flüssigkeitsschock kommt von plötzlichen Veränderungen im Wasser-Salz-Verhältnis«, erklärte er und ging leise die Treppe hinauf, zwei Stufen auf einmal nehmend. Dann verschwand er, und ich hörte seinen leisen, forschen Gang. Selbst Ahmed fürchtete sich davor, Geister zu wecken. Was hatte Bessy über das Opfer gesagt? »Hoffnung tut weh.« Sie hatte versucht, dem Opfer Hoffnung zu geben, und das Opfer hatte ihr den Dolch des Hasses und der gemeinsamen Verzweiflung ins Herz gestoßen. Deswegen saß ich hier auf dem Boden! Gefahr, George, nicht denken! Ich schloß die Augen und hörte auf zu denken. Der Traum von Rettung und die menschlichen Bilder waren verflogen. Ich war Jean Dalais, die hinunter sank ins Dunkel, ein warmes, samtenes Dunkel, ohne Gefühl, ohne Gedanken, nur mit dem leichten, wie aus der Ferne kommenden Druck des Speicherbodens gegen mein Gesicht. Ein seltsames Poltern ließ den Boden erzittern, und ein kratzendes Geräusch nagte an meiner Neugierde. Ich begann wieder zu erwachen. Es war ein vertrautes Geräusch, vertraut aus der anderen Welt und dem anderen Land, vor sechs Tagen, vor einer Ewigkeit, fast vergessen. Staubig riechend drückte der Speicherboden gegen mein Gesicht. Das Poltern kam wieder und das Kratzen, Metall gegen Holz. Ich war neugierig. Ich öffnete trockene, sandgefüllte Augen und hob den Kopf, und die Bewegung erweckte meinen Körper hinein in eine Hölle von Durst und in den Schmerz der Schwäche. Ich sah die beiden Enden der Aluminiumleiter
durch die Falltür des Speichers lugen. Die Leiter war jetzt wieder da. Vor langer Zeit war sie gefallen. Und jetzt war sie wieder da, sah mich an, wartete darauf, daß ich auf ihr hinunterstieg. Ich verfluchte die Leiter mit einem geistigen Blitz des Hasses. Was nützt eine Leiter, wenn man sich nicht bewegen kann? Schon lange hatte ich herausgefunden, daß Bewegung Wehen brachte. Nicht gut, hier ein Baby zu bekommen. Es war besser, stillzuhalten. Ich hörte eine Stimme. »Sie ist hier. George. Ruf die Nothilfe.« Ich haßte die Stimme. Noch eine imaginäre Stimme in dem langen Alptraum imaginärer Rettung. Wer war »George«? Ich war Jean Dalais. George. Jemand hatte gerufen. »George.« Drunten in der kleinen eingebildeten Küche bildete ich mir das kleine Bild eines Mannes ein, dessen Hand ein Telefon neben sich auf dem Boden suchte. Ungelenk wählte er »0«. Eine weibliche Stimme stellte eine Frage. Das Bild des Mannes sagte »Nothilfe« – zögernd. Im Telefon klickte und summte es und dann sagte eine tiefe Stimme: »Rettungsmannschaft.« Ich war im Speicher und wußte, wie ein Traum von der Rettungsmannschaft gehen mußte. Ich hatte ihn schon vorher geträumt. Ich sprach durch das kleine Menschen-Bild. »Mein Name ist Jean Fitzpatrick. Ich bin in der Washington Street 29. Ich sitze ohne Wasser in meinem Speicher fest. Wenn ihr keine Narren wärt, hättet ihr mich schon lange gefunden. Beeilt euch. Ich bin schwanger.« Sie ließ durch das MannBild den Hörer fallen. Der Traum vom Untergeschoß schwand wieder, als das Mann-Bild sein Gesicht in den Händen vergrub. Meine trockenen Augen waren geschlossen, und
der Speicherboden drückte wieder gegen mein Gesicht. Ganz nahe bei mir ächzten die Leitersprossen unter einem Gewicht, und dann ächzte der Speicherboden, als sich etwas Schweres vorsichtig auf ihm bewegte; dann das Rascheln von Kleidung, als sich jemand bewegte; das Klicken eines an eine Verschlußkapsel angesetzten Flaschenöffners; das Scheppern der Verschlußkappe, die auf den Boden fiel; das Schäumen und Zischen einer sprudelnden, kühlen Flüssigkeit. Eine Hand hob vorsichtig meinen Kopf, eine andere setzte die Öffnung einer kalten Flasche an meinen Mund. Ich öffnete meinen Mund, und die kühle Flüssigkeit strömte hinein und hinunter in meine trockene Kehle. Ich fing an zu schlucken. George Sanford, ich, nahm die Hände von seinen Augen und sah hinunter zu dem Telefon. Ich lag nicht; ich trank nicht; ich war nicht durstig. Hatte ich die Nummer der Nothilfe gewählt, als Ahmed mich rief? Ein kleines Männchen in Jean Fitzpatricks Vorstellung hatte angerufen und aufgehängt, aber das Männchen war ich, George Sanford – einen Meter vierundachtzig groß. Ich bin nicht die Marionette einer Frau. Telepathie gewinnt ihre Kraft als starke Empfindung und Not, und der Frau dort oben fehlte es nicht an starker Empfindung und Not; doch niemand hätte das mit mir machen können, hätte ich nicht helfen wollen. Niemand. Der musikalische Doppelton einer Sirene, die näher kam, lauter wurde. Vor der Tür verstummte sie. Ich hörte lautes Klopfen an der Tür. Ich fühlte mich soweit gut, war aber noch schwindlig und nicht recht in der Lage, mich zu bewegen. »Herein«, krächzte ich. Sie rüttelten am Türknopf.
Ich erhob mich und ließ sie ein. Dann stand ich nur da und hielt mich an einer Stuhllehne fest. Die Leute von der Nothilfe in Blau und Weiß. »Fehlt Ihnen etwas?« »Nicht mir, der Frau oben.« Ich deutete nach oben, und sie eilten mit ihrer Bahre und ihrem Arztbesteck hinauf. Sie hatte jetzt keinen Durst mehr, kein Bedürfnis, das ihre Empfindungen intensivierte. Dennoch waren wir weiter irgendwie verbunden, denn ich spürte die Spitze einer Nadel in meinem Schenkel. Und dann verflog das letzte Schwindelgefühl und die letzte Furcht, die Welt stabilisierte sich in einer guten, aufrechten Position, die Küche war kein staubiger Speicher, sondern nur eine saubere, leere Küche, und der Sonnenschein der ganzen Welt kam durch die Fenster herein. Ich atmete tief ein, streckte mich, fühlte die starken, ausdauernden Muskeln in meinen Armen und Beinen. Ich ging hinauf ins Obergeschoß und hielt die Leiter für die Nothilfe, während sie den bewußtlosen Körper einer jungen Frau vom Speicher heruntertrugen. Sie hatte lockiges Haar und schmutzige Tränenspuren im Gesicht und dünne Arme und Beine. Ihr Leib war dick und aufgetrieben. Sie war schwanger wie ein Kürbis. Dann sah ich den blau-weißen Wagen der Nothilfe wegfahren. »Möchtest du mitkommen, wenn ich meinen Bericht schreibe?« fragte Ahmed. Bevor wir die Küche verließen, suchte ich nach
dem türkischen Honiggebäck, aber die Tüte war weg. Wahrscheinlich hatte ich sie irgendwo fallenlassen. Wir gingen ein paar Straßen in südlicher Richtung bis zur nächsten Polizeistation. Ahmed setzte sich an einen freien Schreibtisch, um seinen Bericht zu schreiben, und ich fand einen Stoß Comichefte im Wartezimmer und nahm dasjenige mit der meisten Action auf dem Umschlag. Meine Hände zitterten ein wenig, denn ich war hungrig, doch ich fühlte mich glücklich und wichtig. Ahmed füllte den Kopf des Formulares aus, schrieb ein paar Zeilen und begann dann, mit dem Kalkulator auf dem Schreibtisch zu rechnen. Er hielt inne, starrte ins Leere, schaute mich an und begann wieder zu schreiben, wobei er mich immer wieder ansah. Ich fragte mich, was er wohl über mich schrieb. Die Bürokraten von der Nothilfe sollten Gutes über mich lesen, damit sie mich für einen Job anheuerten. »Ich hab ein Gespür für solche Sachen, nicht wahr, Ahmed?« »Ja.« Er füllte ein Kästchen aus, las die Erläuterungen für die nächste Frage und fing dann an, am Ende seines Bleistifts herumzukauen und die Decke anzustarren. »Wäre ich ein guter Detektor?« fragte ich. »Auf der High School – was für eine Note hattest du da in Wahrscheinlichkeitsrechnung?« »Hab ich nie belegt. Bin in 6 B in Algebra durchgefallen.« »Die Nothilfe möchte Berichte von dir, die sie den Statistikmaschinen einfüttern kann. Schau her ...« Ich ging hinüber, und er zeigte mir ein Kästchen, in das er einige Zahlen und ein komisches Symbol wie ein
umgefallenes »d« eingesetzt hatte – »... kannst du das lesen, George?« »Was heißt das?« »Hier steht Wahrscheinlichkeit .005. Das heißt, die Wahrscheinlichkeit, daß du zufällig die White Horse Tavern finden würdest, in die diese Fitzpatrick gewöhnlich ging, war eins zu zweihundert. Das ergibt sich aus der ungefähren Anzahl von Bars im Telefonbuch. Mehr als zweihundert falsche Bars, und du gingst nur zu einer einzigen. Zweihundert geteilt durch eins, also zweihundert. Wenn du es bei zwei Bars versucht hättest, bevor du die richtige fandest, wären deine Aussichten, die falsche zu erwischen, gleich zweihundert geteilt durch zwei gewesen. Das gibt einhundert. Dein Erfolgsquotient war gleich deiner Irrtumswahrscheinlichkeit oder reziprok zu deiner Chance eines Zufallstreffers. Dein Ergebnis ist zweihundert. Verstehst du? Im allgemeinen hält man hier vierzig schon für ein gutes Ergebnis.« Ich starrte ihn offenen Mundes an. In der Schule hatten es ganze Scharen von Lehrern und Tutoren drei Semester lang mit mir versucht, bevor sie es aufgaben. Ich konnte in all dem keinen Sinn finden. Es schien nichts mit Menschen zu tun zu haben. Ohne Wahrscheinlichkeitsrechnung und Statistik wollten sie mich nicht Psychologie B, Geschichte, Sozialdynamik, Systemanalyse, Wirtschaftslehre, Programmieren oder Sozialarbeit belegen lassen. Nicht einmal Verkehrspolizist hätte ich werden können. Elektronik-Techniker wäre möglich gewesen, aber ich wollte mit Leuten arbeiten, nicht mit Fernsehapparaten. Also ging ich vorzeitig ab. Was ich auf der Schule tun sollte, konnte ich nicht; doch das, was die Nothilfe
wollte, konnte ich. »Ahmed, die Nothilfe – das wäre etwas für mich. Ich brauche keine Statistik. Erinnerst du dich noch, wie ich sagte, daß du Bessy zu tief da hineinzogst? Ich hatte recht, nicht wahr? Und du hattest unrecht. Das zeigt, daß ich keine besondere Ausbildung mehr brauche.« Ahmed sagte mit bedauernder Miene: »George, dafür kriegst du gar nichts. Jeder weichherzige Trottel kriegt Angst, wenn er sieht, wenn jemand in der subjektiven Welt in einen dramatischen Bereich gerät. Er wird immer versuchen, ihn zurückzuhalten. Du hättest in jedem Fall gesagt, daß ich sie zu tief hineinzog, selbst wenn du unrecht gehabt hättest.« »Aber ich hatte recht.« Es schien, als wollte Ahmed aufspringen, doch dann beruhigte er sich wieder. Er lehnte sich zurück und kniff die Lippen zu einem schmalen Strich zusammen. »Es spielt keine Rolle, ob du recht hattest, außer wenn es gegen die Wahrscheinlichkeit ist. Es zählt, wenn du die White Horse Tavern unter allen anderen herausfindest, und es zählt, wenn du unter allen nur denkbaren Adressen das Haus des Mädchens findest. Ich werde die beiden Zahlen miteinander multiplizieren. Dann hast du wahrscheinlich ein Ergebnis von über achtzigtausend. Das ist ganz enorm.« »Aber zu der Bar ging ich nur, weil ich Durst hatte. Das kannst du mir nicht gutschreiben. Du machtest mich irgendwie durstig. Und zum Haus des Mädchens ging ich, weil ich sie sehen wollte. Vielleicht hat sie irgendwie auf mich eingewirkt.« »Mir ist ganz gleich, was die Gründe waren! Du
gingst an die richtige Stelle, nicht wahr? Du hast sie gefunden, oder?« Ahmed stand auf und schrie: »Du redest wie ein Simpel. In welcher Zeit, glaubst du, leben wir? 1950 oder als deine Großmutter einen Kramladen hatte? Was für Gründe du hast, ist mir gleich; kein Mensch kümmert sich mehr um die Gründe. Nur die Ergebnisse zählen, verstehst du? Wir wissen nicht, warum die Dinge passieren, aber wenn alle gute Berichte darüber machen, mit klaren Statistiken, können wir sie den Maschinen eingeben, und die Maschinen werden uns genau sagen, was los ist, und damit können wir arbeiten, denn das sind Fakten, das ist die wirkliche Welt. Ich weiß, daß du Leute finden kannst; deine Gründe sind unwichtig. Wissenschaftliche Theorien über die Gründe sind überflüssig!« Er war ganz rot im Gesicht und schrie, wie wenn ich etwas gegen seine Religion oder so etwas gesagt hätte. »Ich wollte, wir könnten ein paar theoretische Grundlagen finden. Aber wenn die Statistik sagt, daß, wenn hier etwas Komisches passiert, sich anderswo auch immer etwas Seltsames ereignet, dann brauchen wir gar nicht zu wissen, wie das zusammenhängt. Wir brauchen nur auf das zweite zu warten, wenn das erste geschehen ist. Verstehst du?« Ich wußte nicht, wovon er redete. Meine Tutoren hatten mir so etwas erzählt, aber Ahmed machte das so elend, daß er brüllte. Ahmed war ein Freund. »Ahmed«, sagte ich, »wäre ich ein guter Detektor?« »Du wärst ein großartiger Detektor, du Schafskopf!« Er schaute auf seinen Bericht. »Aber du kannst nicht zur Nothilfe. In den Vorschriften steht, daß du ein Hirn im Kopf haben mußt, und keinen Ziegelstein. Ich werde dir helfen, irgendwo anders einen
Job zu finden. Und jetzt mußt du noch ein wenig warten. Ich leihe dir fünfzig Dollar, wenn ich mit diesem Bericht fertig bin. Lies einstweilen.« Ich fühlte mich elend, kämpfte aber dagegen an, denn dies war meine letzte Chance, einen richtigen Job zu kriegen, und irgendwie war das richtig, was ich zu tun versuchte. Die Nothilfe brauchte mich. Verlorene Menschen würden mich brauchen. »Ahmed«, sagte ich und versuchte, mich ganz unmißverständlich auszudrücken. »Ich sollte zu deinen Leuten gehören. Du mußt irgendeinen Weg finden, um mich da reinzubringen.« Es ist gar nicht ganz leicht, mit anzusehen, wie ein starker, selbstbewußter Junge eine solche Veränderung durchmacht. Im allgemeinen weiß Ahmed, was er tut, stellt sich nie in Frage. Jetzt starrte er auf seinen Bericht, hielt den Atem an – so angestrengt dachte er nach. Dann stand er von seinem Schreibtisch auf und begann, hin- und herzugehen. »Was zum Teufel ist mit mir los? Ich glaube, ich schnappe allmählich über. Dieser Papierkram verblödet mich regelrecht.« Er nahm seinen Bericht. »Zum Kuckuck mit den Vorschriften. Wir werden mit den Leuten im Rathaus ein Wörtchen reden.« »Wir können Ihren Freund nicht einstellen.« Der Direktor der Nothilfe schüttelt den Kopf. »Er würde die Tests nicht bestehen. Sie sagten es selbst.« »Die Vorschriften besagen, daß George die Papierund Bleistifttests bestehen muß.« Ahmed beugte sich nach vorn und schlug, jedes seiner Worte unterstreichend, mit der Hand auf den Schreibtisch. »Diese Regeln sind dämliche Regeln, gemacht von dämlichen
Bürokraten, damit niemand einen Job kriegen kann außer alten Jungfern wie sie selber! Regeln können wir brauchen für Leute, die wir nicht kennen und die uns gleichgültig sind. Wir kennen George, und wir wissen, daß wir ihn haben wollen! Wie also fälschen wir die Tests?« Der Chef streckte eine Hand aus, die Handfläche nach unten. »Langsam, Ahmed. Nichts gegen Enthusiasmus, aber vielleicht können wir George auf legitime Art hereinbekommen. Ich weiß, daß er eine Epidemie von psychosomatischer Hysterie in den Hospitälern verhinderte und ihnen damit eine Menge Zeit und Geld ersparte. Wenn er so weitermachen kann, können wir ihn gut gebrauchen. Aber wir wollen deswegen nicht unser System durchbrechen. Wir können es uns zunutze machen.« Der Chef drückte den Knopf der Sprechanlage und sagte in den summenden Kasten: »Geben Sie mir die Buchhaltung.« Nach einer Weile hörte man eine Antwort, und der Chef sprach wieder. Er war ein großer, vierschrötiger Mann, der zur Dicklichkeit neigte. Seine Haut saß locker und wirkte ein wenig grau. »Ja, hören Sie zu. Wir brauchen die Dienste eines bestimmten Experten. Wir können ihn nicht einstellen. Er erfüllt nicht die Mindestanforderungen an Größe und Gewicht oder irgend so etwas. Wie bezahlen wir ihn?« Der Mann am anderen Ende antwortete mit ein paar Fachausdrücken: »... unvorhergesehene Ausgaben ... Leistungen ... Gebühren ... Berater. Führen Sie die einzelnen Leistungen auf, mit Zeit und Ergebnis. Dazu statistische Zahlen über die Wahrscheinlichkeit durch Fremdhilfe eingesparter Kosten und Einspa-
rungen der Stadt durch Aktionen der Nothilfe et cetera. Haben Sie's mitgekriegt?« »Okay, danke.« Er schaltete die Gegensprechanlage ab und sagte zu Ahmed: »Es klappt. Ihr Freund ist eingestellt.« Meine Beine waren müde vom langen Stehen. Meine Hände zitterten ein wenig, so daß ich sie in die Tasche steckte. Ich dachte nur noch an Restaurants, an die guten, wo es die größten Portionen für wenig Geld gab. »Wann werde ich bezahlt?« »Nächsten Monat«, sagte Ahmed. »Du kriegst dein Geld am Ende jeden Monats für die einzelnen Fälle, die du bearbeitet hast. Schau nicht so enttäuscht drein. Du bist jetzt beratender Experte. Du stehst auf meinem Spesenkonto. Ich kann dir dein Essen bezahlen und die Fahrt zum Ort des Verbrechens, wenn ich dich zu Rate ziehe.« »Zieh mich jetzt zu Rate«, sagte ich. Wir aßen großartig in einem altmodischen italienischen Restaurant: Lasagne, Antipasti, Weißbrot in dicken, festen Scheiben, viel Butter, vier Tassen heißen, schwarzen Kaffee und zum Nachtisch Spumoni, schwer und süß. Alles schmeckte frisch und genau richtig zubereitet, und es gab große Portionen. Nach der zweiten Tasse Kaffee hörte ich auf zu zittern. Irgend etwas war merkwürdig an diesem Restaurant. Jemand plante einen Mord, aber ich würde es Ahmed nicht sagen bis nach dem Dessert. Sonst würde er von mir verlangen, jemand zu retten, statt zu essen. Originaltitel: FEAR HOUND Copyright © 1968 by the Conde Nast Publications, Inc.
Terry Carr DER TANZ DES VERWANDELTEN UND DER DREI All dies geschah vor Äonen in der Tiefe des Weltraums, wo sich Galaxien schwerfällig durch die Finsternis bewegen wie stille helle Rhinozerosse. Es war vor so langer Zeit, daß, als das Licht von Loarrs Galaxis nach Millionen von Lichtjahren schließlich die Erde erreichte, niemand da war, der es sehen konnte, ausgenommen ein paar Dinge in den Ozeanen, die zu sehr mit ihren sinnlosen, monotonen Einzellerreaktionen beschäftigt waren, um irgend etwas anderes zu bemerken. Dennoch, so lange all dieses zurückliegt, die heutigen Loarra erinnern sich noch an diese Geschichte und erzählen sie, wenn immer einer der neu Verwandelten darum bittet, in komplizierten Wellentänzen. Die Wellentänzer würden Ihnen nicht viel sagen, wenn Sie sie sähen, und wahrscheinlich auch nicht die Geschichte selbst, wenn ich sie einfach so erzählte, wie sie geschah. Betrachten Sie also dies als eine Übersetzung, und sehen Sie darüber hinweg, daß ich, wenn ich »Wasser« sage, nicht unser Gemisch aus Wasserstoff und Sauerstoff meine. Es gibt auch keinen eigentlichen »Himmel« auf Loarr, und die Loarra waren – sind – keine Geschöpfe, die in der gleichen Weise »denken« oder »fühlen« wie wir. Tatsächlich könnten Sie meine Geschichte als pure Fiktion nehmen, denn sie enthält verdammt wenige wirkliche
Fakten – aber ich weiß es besser (oder schlimmer), denn ich weiß, wie wahr sie ist. Und das hat sehr viel damit zu tun, warum ich wieder hier auf der Erde bin, während zweiundvierzig Freunde und Mitarbeiter tot auf Loarr blieben. Sie hatten nicht die geringste Chance. Es gab einen Verwandelten, der drei Lebenszyklen mit der Planung eines besonderen Zykloklimax verbracht hatte, und für den nun der Augenblick des Handelns kam. Er hieß nicht wirklich Minnearo, doch werde ich ihn so nennen, weil dies dem Tun, den Gefühlsmomenten und allen Gedankenverbindungen, die seinen Namen zugrunde lagen, am nächsten kommt. Als er seine Entscheidung getroffen hatte, wandte er sich von der Küste des Loarranischen Ozeans hochragenden Felsenklippe ab, auf der er gestanden hatte, und ging schnell zu den PersönlichkeitsHeimen von dreien seiner besten Freunde. Zum ersten Freund, Asterrea, sagte er: »Ich werde Selbstmord begehen« wobei er seinen Wellentanz in festlichstem Tone ausführte. Sein Freund lachte, wie Minnearo gehofft hatte, aber nur kurz. Dann drehte er sich um und ließ Minnearo allein, denn es hatte in letzter Zeit schon mehrere Selbstmorde gegeben, und die Sache wurde etwas monoton. Minnearo grüßte seinen zweiten Freund, indem er mit übertriebener Genauigkeit sämtliche sechzig Sequenzen eines Gelöbnistanzes durchführte, und sagte: »Morgen werde ich meinen Körper in den Ozean versenken, falls irgend jemand zusehen will.«
Sein zweiter Freund lächelte gutmütig und sagte, er werde kommen und sich die Vorstellung ansehen. Seinem dritten Freund beschrieb Minnearo mit vielen aufgeregten Sprüngen, was ihm seiner Vorstellung nach passieren würde, nachdem er in den Wellen des Ozeans versunken sein würde. Sein Tanz war kompliziert und sogar sehr phantasievoll; Minnearo hatte den größten Teil dieses dritten Lebenszyklus damit verbracht, ihn auszuarbeiten. Er verwandte Bewegung und Farbe und Klang und eine andere, dem Geruch ähnliche Empfindung, um die Beschreibung des Falles zu geben, des Aufschlags auf das Wasser, der schnellen Auflösung und Vermischung mit den Strömen des Ozeans, Schwinden und Verlust des Bewußtseins, der Dunkelheit und schließlich des Erwachens der vollendeten Verwandlung. Minnearo war ziemlich romantisch veranlagt, und so stellte er sich vor, er würde sich wieder um den Lebenskern von einem von Loarrs größten Helden, Krollim, verdichten und sich nach Krollims Muster neu formen. Und sein Tanz endete sogar mit Vorstellungen von Ruhm und Nachahmung seines Handelns durch andere, was zweifellos anmaßend war. Aber der Freund, für den er den Tanz ausführte nickte doch mehrere Male zustimmend. »Wenn nur die Hälfte von dem eintrifft, was du vorhersiehst«, sagte dieser Freund, Pur, »dann beneide ich dich, man kann nie wissen.« »Da hast du wohl recht«, sagte Minnearo eher trübsinnig. Und er zögerte, bevor er ging, denn Pur war etwas, was ich vielleicht weiblich nennen sollte, und Minnearo hatte gehofft, sie würde bei seinem Sprung in den Ozean mitmachen. Aber wenn sie das wirklich
erwog, dann ließ sie es sich nicht anmerken und sah Minnearo nur ruhig an, wartete darauf, daß er gehe. Und so ging er schließlich. Und zur entsprechenden Zeit tanzte Minnearo seinen letzten Wellentanz als Minnearo, während sein Freund Fless ihm vom Rand der Felsenklippe aus zusah. Ziemlich erregt und unkoordiniert – was freilich in dieser Situation verständlich war – näherte sich dann der Felskante, sprang und fiel taumelnd hinunter. Er machte nicht weniger als zwei Dutzend Umdrehungen in verschiedenen Richtungen, bevor er auf das Wasser schlug. Fless eilte zurück und beschrieb Asterrea und Pur den Selbstmord. Beide lachten und applaudierten in den meisten Fällen an der richtigen Stelle, und so war es insgesamt ein Erfolg. Dann setzten sich die drei hin und begannen, Minnearos Rache zu planen. Also gut, ich weiß, daß vieles von all dem keinen Sinn ergibt. Vielleicht kommt das daher, daß ich versuche, Ihnen mit menschlichen Begriffen von den Loarra zu erzählen, was bei Geschöpfen, die so fremdartig wie sie sind, einfach falsch ist. Tatsächlich sind die Loarra fast zur Gänze eine energetische Lebensform. Ihr Bewußtsein verdichtet sich in jedem Lebenszyklus um ein Raumzentrum, das sie »Lebenskern« nennen, so daß sie, wenn man die von ihnen gebildeten Energiemuster sehen könnte (was ich mit Hilfe eines von unserer Expedition für diesen Zweck entwickelten Filters konnte), manchmal mehr oder weniger wie ein Spiralnebel aussehen, manchmal wie Eisenfeilspäne in den Kraftlinien eines Magneten, zuweilen auch wie eine halb geschmolzene Schneeflocke. (Das war vermutlich Minnearos Ausse-
hen an jenem Tage, denn die Selbstmordkandidaten und die Alten sehen so aus.) Natürlich ändert sich ihre Form andauernd, doch gewöhnlich entfernt sich ein Individuum nicht wesentlich von einem bestimmten Muster. Loarr selbst ist ein gigantischer Gasplanet, dessen Umlaufbahn so nahe um sein Zentralgestirn verläuft, daß sein Jahr nur etwa siebenunddreißig Erdentage lang ist. (In unserem Sonnensystem würde seine Umlaufbahn beträchtlich innerhalb der von Venus liegen.) Der Planet besitzt einen massiven Kern und viele harte, inselähnliche Stellen an der Oberfläche. Der größte Teil der Oberfläche jedoch ist in flüssigem oder gasförmigem Zustand und wirbelt und gischtet, während Winde und Stürme darüber heulen. Für menschliche Wesen ist dieser Planet nicht gerade sehr einladend, doch gibt es dort etwas, was ihm die Aufmerksamkeit von Unicentral sicherte: Bergbau. Können Sie sich vorstellen, was Bergbau auf einem Planeten bedeutet, wo die meisten Metalle wegen der Hitze und/oder des Drucks flüssig sind? Die meisten haben noch nicht viel darüber gehört, weil so etwas relativ selten vorkommt. Auf Loarr allerdings gab es so etwas, und es war sehr, sehr interessant. Unsere Analysen bewiesen das Vorhandensein einiger Elemente, die bis dahin nur in Computer-Theorien existiert hatten – Elemente, von denen man zum Beispiel annahm, daß es sie nur im Kern von Sonnen gab. Und wenn wir einiger davon habhaft werden konnten ... nun, Sie verstehen, was ich meine. Dieser Bergbau bot in der Tat sehr interessante Möglichkeiten. Natürlich würde das halbe Vermögen des Erdensystems nötig sein, um eine vollwertige Expedition
dorthin auszurüsten. Aber Unicentral summte 2,8 Sekunden lang und lieferte dann detaillierte Instruktionen, wie alles arrangiert werden mußte. Also machten wir uns auf die Reise. Und dann, ein Standardjahr später (vor fünf Standardjahren also), saß ich dort in einem Berg aus künstlicher Erde, der auf eine von Loarrs »Inseln« gesetzt worden war, und fragte mich, was in aller Welt ich hier zu suchen hatte. Denn ich bin kein Bergbauingenieur, auch kein Physiker oder ComputerTechniker eigentlich überhaupt nichts, wozu technische Ausbildung nötig ist. Ich bin ein PublicRelations-Mann, und letztlich gab es überhaupt keinen Grund, mich auf einen so höllischen, unmöglichen, gottverlassenen, unvorstellbaren und einfach unbewohnbaren Planeten wie Loarr zu schicken. Natürlich – es gab doch einen Grund, und das waren die Loarra. Sie lebten (»lebten«) dort, und sie waren intelligent. Deshalb mußten wir mit ihnen verhandeln. Ergo: Ich. Während ich nun in dem folgenden Jahr mit ihnen verhandelte und wir unsere Pläne machten und ich als Vermittler fungierte, lernte ich eine Menge über sie. Immerhin genug, um, wenn auch nicht adäquat, den Wellentanz des Verwandelten und der Drei zu übersetzen, was ihr Gegenstück eines klassischen Volkshelden-Mythos ist, oder wäre, wenn es bei ihnen ein echtes Äquivalent gäbe zu etwas, was es bei uns gibt. Also weiter: Fless war dafür, daß die Drei einen Pakt schließen sollten, gemäß dem sie nacheinander und unter vor-
sätzlicher Vermeidung der eigentlich gebotenen Grußbewegungen in genau derselben Weise wie Minnearo Selbstmord begehen würden. »So können wir diesen Selbstmord vernichten«, kam in erregten Wellenbewegungen Fless' Erklärung. Aber Pur war praktischer eingestellt. »Auf diese Weise«, korrigierte sie ihn, »würden wir nur diesen Selbstmord vernichten. Das wäre phantasielos, eine bloße Routineangelegenheit. Minneraro hat Besseres verdient.« Asterrea schien unentschieden zu sein; er sprang herum, sprühte Funken und verschwand und erschien Zentimeter daneben in einer anderen Farbe wieder. Sie warteten auf seine Stellungnahme, und schließlich stabilisierte er sich, blieb in der Luft stehen, ließ sich auf den Boden nieder und verweilte dort. Dann sagte er in langsamen, gemessenen Bewegungen: »Ich weiß nicht, ob er eine besondere Rache verdient. Es war ja kein neuer Selbstmord. Und er soll uns rächen?« Ein einzelner Funke sprang von ihm ab. »Wer soll uns rächen?« wiederholte er, dieses Mal mit markanteren Bewegungen. »Vielleicht«, sagte Pur langsam, »brauchen wir keine Rache – wenn unser Akt groß genug ist.« Die beiden anderen hielten in ihren Wellenbewegungen inne und überdachten dies. Fless' Farbe ging von blau über grün in ein helles Rot über, das sich zu Gelb verdunkelte. Asterrea pulsierte in tiefem Ultraviolett. »Bisher ist noch jeder gerächt worden«, sagte Fless schließlich. »Was du da meinst, ist abwegig.« »Aber wenn wir etwas tun, was groß genug ist«, sagte Pur; und jetzt begann sie Hitze auszustrahlen,
durch die die beiden anderen, wenn auch widerstrebend, zu ihr hingezogen wurden. »Etwas, was noch nie getan worden ist, in keiner Form. Etwas, wofür es keine Rache geben kann, weil es etwas Positives sein wird – keine Todes-Verwandlung, keine Vernichtung, kein Verschwinden, kein Vergessen. Etwas Positives.« Asterreas Ultraviolett wurde dunkler und dunkler, bis er nur mehr ein Loch in der Luft zu sein schien. »Gefährlich, gefährlich, gefährlich«, dröhnte er und bewegte sich träge hin und her. »Du weißt, daß dies ein unmögliches Ansinnen ist – wir müßten alle unsere zukünftigen Lebenszyklen aufgeben. Denn etwas Positives in der Welt ...« Er löste sich in Dunkelheit auf und erschien lange Sekunden nicht wieder. Als er es tat, blieb er ganz still und pulsierte schwach, gewann aber nach und nach wieder an Kraft. Pur wartete, bis Farbe und Ton zeigten, daß das Bewußtsein zurückgekehrt war. Dann bewegte sie sich in einer leichten Wellenbewegung, die die beiden anderen wieder zu ruhigem, vernünftigem Gespräch zurückbringen sollte. »Seit sechs Lebenszyklen denke ich schon darüber nach«, tanzte sie. »Ich kann mich nicht irren – niemand hat schon derart lange an einem Problem gearbeitet. Etwas Positives wäre nicht gefährlich, ganz gleich, was die Drei- und VierZyklus-Theorien sagen. Es wäre wohltuend und vorteilhaft.« Sie hielt inne und hing orange in der Luft. »Und es wäre neu«, sagte sie mit einer schnellen Spirale. »Oh, wie neu!« Und so fanden sie sich schließlich bereit, ihrem Plan zu folgen. In kurzen Zügen war ihr Plan der: Auf einer entfernten Insel im tiefsten Teil des Ozeans von Loarr, wo unbändige Stürme geschmolzenes
Metall zu blendendem Gischt verwirbelten, gab es einen Wirbel von Kräften, den jeder Loarra mied, denn er hätte ihm unweigerlich die endgültige TodesVerwandlung gebracht. Die ältesten Wellentänze dieser alten Zeit besagten, daß der Wirbel schon immer dort gewesen war, daß die Loarra selbst dort geboren oder von dort entkommen waren oder in irgendeiner Weise die Gesetze umgangen hatten, die dort herrschten. Wie auch immer sich das in Wahrheit verhielt, dieser Wirbel war ein Energiefresser, der schon von weitem jeden Loarra oder andere Wesen, die in seinen Einflußbereich gerieten, an sich zog und verschlang. Denn alles Leben auf Loarr basiert auf Energie, sogar das der empfindungs- und verstandlosen Futtertiere – Geschöpfe von stumpfer Farbe ohne innere Bewegungen, ohne Geruch oder Ton und ohne jeglichen Eigenwillen. Ihre Funktion im loarranischen System ist und war buchstäblich nur die von Nahrung. Und obwohl in den meisten Regionen des Planeten zahllose Futtertiere in der Luft trieben, bemerkten die Loarrer sie kaum jemals. Sie aßen sie, wenn sie hungrig waren, und sahen den Rest der Zeit an ihnen vorbei. »Dann willst du also, daß wir den Wirbel zerstören?« rief Fless und tanzte erregt hin und her. »Nicht zerstören«, sagte Pur ruhig. »Es wird eine Lebens-Verwandlung sein, keine Zerstörung.« »Lebens-Verwandlung?« sagte Asterrea schwach und erbebte in der Luft. Und sie sagte es wieder: »Lebens-Verwandlung.« Denn der Wirbel hatte einst die Ältesten der Loarra geschaffen, oder sie irgendwie erschaffen dürfen, diese Wesen von vor so vielen Zyklen, die sich zahllose
Male verbunden und getrennt und verändert hatten, um die jetzigen Loarra zu werden. Und wenn sich einmal in diesem Wirbel Schöpfung ereignen konnte, dann konnte sie sich wieder ereignen. »Aber wie?« fragte Fless, der jetzt versuchte, vernünftig zu sein, und die Frage präzise und in ständigem grünen Farbton tanzte. »Wir werden Hilfe brauchen«, sagte Pur und erklärte dann, daß sie von einem Windvogel – einem Geschöpf mit geringer Intelligenz, aber perfektem Gedächtnis – gehört habe, einer der Ältesten lebe immer noch seinen ersten Lebens-Zyklus in einem Persönlichkeits-Heim irgendwo in der Nähe des Wirbels. In jener Urzeit der Rasse, als der Selbstmord als extremes Mittel zum Zyklus-Wechsel betrachtet wurde, hatte dieser Älteste seine Verwandlung durch eine Art negativen Selbstmord bewirkt – er hatte seinen Zyklus eingefroren, so daß sein Bewußtsein und seine Form sich in nie endender Folge wiederholten, während seine Freunde sich wandelten und wuchsen und lernten, während sie Lebens-Zyklus nach LebensZyklus durchmaßen. Sie wurden andere Wesen mit gewöhnlichem Gedächtnis, die auf diese Art den Schritt in die Zukunft taten, während er, der letzte Älteste weiter noch ganz am Anfang stand. Er sah nur den Anfang, erinnerte sich nur an den Anfang, verstand nur den Anfang. Und aus diesem Grund war seine Verwandlung die tragischste aller Loarranischen Verwandlungen gewesen. (Der Windvogel hatte von acht verschiedenen Seiten gehört – was er alles Wort für Wort Pur wiederholte – daß in der Zeit seit dieser Verwandlung
mehr als hundertmal hundert Loarra den Ältesten zu rächen versucht hatten, freilich immer ohne Erfolg). Diese Verwandlung war nie wiederholt worden, so daß dieser Älteste der einzige Älteste war. Und aus diesem Grunde war er wichtig für ihre Vorhaben, erklärte Pur. Mit perplexem Wachsen und Schrumpfen, Hellerund Dunklerwerden fragte Asterrea: »Aber wie können wir in der Nähe des Wirbels leben, ohne von ihm verschlungen zu werden?« »Das ist ein kritischer Punkt, den wir noch klären müssen«, sagte Pur. Und nach den gebotenen Begrüßungsritualen machten sich die Drei auf den Weg, um den Ältesten zu suchen. Traditionell verwendet der Wellentanz des Verwandelten und der Drei an diesem Punkt beträchtliche Zeit darauf, in Ausbrüchen von Farbe und Licht und subtil verwendeten Dunkelwolken, verwoben mit Sprüngen und Schwüngen in allen Richtungen, die Szene zu beschreiben, wo Pur, Fless und Asterrea sich auf den Weg über dieses alte, geschmolzene Meer machten. Zahllose Male habe ich diesen Tanz gesehen, und jedes Mal glaubte ich auf sinnverwirrende Weise dem Verständnis der Bedeutung näher zu kommen, die dieser Tanz für die Loarra selbst hat. Wolken spien ziellose, leblose Energie aus über einer wogenden See, deren wirbelnden Tiefen an den Drei zu zerren schienen, als sie darüber hinwegschwebten und in komplexen Bahnen sich umeinander bewegten wie Elektronen, die um einen unsichtbaren Nukleus herum ständig wechselnde Figuren bilden. Von den auf ihrer unwirtlichen Heimatinsel gebliebenen Verwandelten kam lautes Klagen, und Kichern von de-
nen, die sich vor kurzem verwandelt hatten. Und dann die Farben der Drei selbst: Brennend rot Asterrea, Fless in glühendem Grün und Pur beständiges Gold. Ich sehe und höre sie, aber ich empfinde nur eine seltsame Art fremder Schönheit, nicht die ehrfurchtgebietende Großartigkeit, die sie für die Loarra haben. Als die Drei die Luftbewegungen spürten, die ihnen verrieten, daß sie dem Wirbel näher kamen, hielten sie in ihrem Flug inne und verweilten in einer nach mehreren Mustern zugleich ausgerichteten Bewegungssequenz über der dunklen, aufgewühlten See. Sie sprachen nur in kurzen Farbveränderungen, da sie sich präzise an ihre Bewegungsmuster halten mußten, um der bereits sehr starken Anziehungskraft des Strudels zu widerstehen. »Irgendwo hier?« fragte Asterrea in schnell pulsierendem Grün. »Noch näher am Wirbel, glaube ich«, sagte Pur in einer Sequenz von rot und violett. »Können wir sicher sein?« fragte Fless; aber von Pur kam keine Antwort, und von Asterrea hatte er keine erwartet. Der Ozean schlug hohe schäumende Wellen; die Luft umbrauste sie heulend. Und der Wirbel zerrte an ihnen. Plötzlich spürten sie, wie ihre Bewegungssequenz sich gegen ihren Willen änderte, und während endlos langer Augenblicke fürchteten alle Drei, die Anziehungskraft des Wirbels sei der Grund dafür. Sie blieben näher beieinander und wirbelten noch schneller in noch komplizierteren Bahnen, aber es half nichts. Unwiderstehlich zog es sie wieder auseinander, und
gleichzeitig bewegten sie sich, ohne etwas dagegen tun zu können, auf den Wirbel zu. Und dann spürten sie, daß der Älteste unter ihnen war. Er hatte sich in ihre Bewegungssequenz eingeschaltet. Das mußte der Grund sein, warum die Sequenz sich gelockert, geändert hatte: damit Platz für ihn entstand. Wirbelnd und blitzend führte der Älteste sie weiter über die furchterregende See. Inmitten des tosenden Sturms strömte er Wärme aus, und während sie ihm folgten, oder folgen mußten, studierten sie ihn voll Erstaunen. Kaum war er als einer der ihren zu erkennen, dieser Älteste. Er war ... eigentlich nicht mehr Energie. Zur Hälfte war er Materie, trug die fremdartige Masse mit der unbeholfenen Anmut des Alters. Seine Außenseite, welche die Bürde seines gefrorenen Zentrums hielt und durch die Luft trug, war fast starr. (Er sah beinahe aus wie eine halb aufgelöste Schneeflokke, ja, nur dunkel, wie eine Schneeflocke voller Kohlenstaub.) Und er war, zumindest jetzt, vollkommen still. Erst als er die Drei sicher in die Ruhe seines kargen Persönlichkeits-Heims auf einem kleinen, an der Küste sich schräg erhebenden Felsen gebracht hatte, sprach er. Dort, auf einer Insel der Stille, gegen die der Ozean ansprang und wieder zurückfiel, erstarben die Winde, und sogar die Kraft des Wirbels war ausgeschaltet. Müde sagte der Älteste: »Ihr seid also gekommen.« Er sprach mit einer langsamen Hin- und Herbewegung, verstärkt nur durch schwachrote Färbung. Die Drei wußten nicht, was sie darauf sagen soll-
ten, und Pur fragte schließlich: »Hast du auf uns gewartet?« Ein-, zweimal pulsierte der Älteste in etwas hellerem Rot. Hielt dann inne. Sagte schließlich: »Ich warte nicht – es gibt nichts, worauf ich warten könnte.« Wieder das Pulsieren des helleren Rots. »Man wartet auf die Zukunft. Aber ihr wißt ja, daß es keine Zukunft gibt.« »Nicht für ihn«, sagte Pur leise zu ihren Gefährten, und Fless und Asterrea senkten sich schwankend auf den Steinboden des Heims des Ältesten, wo sie sich hin- und herbewegten. Der Älteste tat es ihnen gleich, aber als er den Boden erreichte, verharrte er bewegungslos. Pur schwebte über den anderen und blieb in Bewegung, und ihre Farbe blieb ein gleichmäßiges Blau-Grün. Sie sagte zum Ältesten: »Aber du wußtest, daß wir kommen würden.« »Kommen würden? Kommen würden? Ja, daß ihr wirklich gekommen seid, daß ihr kamt und jetzt da seid. Für mich gibt es nur das Heute. Ich werde der Älteste sein, wenn die anderen an mir vorüberziehen. Ich werde mich nie ändern, und auch meine Welt nicht.« »Aber die anderen sind schon an dir vorübergezogen«, sagte Fless. »Wir sind viele Lebens-Zyklen hinter dir, Ältester – so viele, daß die Windvögel sie nicht zählen können.« Der Älteste schien seinem materiellen Ich eine aufrechtere Positur zu verleihen, wobei er seinen Energiefluß sorgfältig um sich herum ordnete. Zu seiner roten Strahlung kam ein leises, fast unhörbar zitterndes Summen, als er sagte: »Nichts ist hinter mir hier
auf dem Felsen. Wenn ihr hierher kommt, kommt ihr außerhalb der Zeit, wie auch ich es tat. Jetzt seid ihr seit jeher hier gewesen und werdet immer hier sein, so lange ihr hier seid.« Asterrea sprühte plötzlich gelbe Funken und tanzte hoch hinauf in die unbewegte Luft. Während Fless zu ihm hinauf starrte und Pur sich schnell zu ihm gesellte, um ihn zu beruhigen, trieb er sich immer und immer wieder gegen den Rand der Zone der Ruhe, die das Refugium des Ältesten war. Jedesmal prallte er zurück, und jedesmal warf er sich von neuem gegen den Rand der Sturmzone, versuchte in sie einzudringen. Er blitzte und brannte in zahllosen Farben, und seltsame Klangfrequenzen wurden hörbar, bis er schließlich unter Purs fester Führung, und während Fless' verständnisloser Blick auf ihm ruhte, müde wieder auf den Steinboden sank. »Eine Falle, eine Falle«, pulsierte er. »Das ist er, das ist der Wirbel selbst! Wir hätten es wissen müssen! Niemals mehr werden wir ihm entkommen.« Der Älteste hatte Asterrea keine Aufmerksamkeit geschenkt. Er sagte langsam: »Und weil ich außerhalb der Zeit bin, kann der Wirbel mir nichts anhaben. Und weil ich außerhalb der Zeit bin, weiß ich, was der Wirbel ist, denn ich erinnere mich daran, daß ich in ihm geboren bin.« Pur überließ Asterrea wieder sich selbst und näherte sich dem Ältesten. In blauen Vibrationen denkend hing sie über ihm, fragte ihn dann: »Kannst du uns sagen, wie du geboren wurdest? – was Schöpfung ist? – wie Neues gemacht wird?« Sie verstummte einen Moment und sagte dann: »Und was ist der Wirbel?«
Der Älteste schien sich nach vorn zu beugen, schien müde zu sein. Seine Farbe war jetzt wieder in dunkelstes Rot übergegangen, und die Drei konnten klar und deutlich jedes Atom in seinem Energiefeld sehen. Er sagte: »So viele Fragen, um eine Frage auszudrükken.« Und er sagte ihnen die Antwort auf diese Frage. Und ich kann Ihnen die Antwort nicht sagen, weil ich sie nicht weiß. Niemand weiß sie heute, nicht einmal die jetzigen Loarra, welche die Drei nach tausend Millionen Milliarden Lebens-Zyklen sind. Weil die Loarra wirklich anders werden ... andere »Personen«, wenn sie von einem Zyklus in den anderen überwechseln. Und nach so vielen Verwandlungen wird Gedächtnis bedeutungslos. (»Versuche es einmal«, sagte einer der Loarra einmal mittels seines Wellentanzes zu mir, und nichts ließ darauf schließen, daß er dies für einen Scherz hielt.) Heute zum Beispiel kommen die Drei immer selbst, tausend Millionen Milliarden Male von sich selbst entfernt, aber immer noch, wie sie behaupten, sie selbst, um den Tanz des Verwandelten und der Drei zu sehen, und obwohl er von ihnen selbst handelt, erregt und bewegt er sie immer noch, als sei er eine noch nie gehörte, geschweige denn erlebte Geschichte. Und doch, bei der geringsten falschen Bewegung oder Farbe, bei dem leisesten falschen Klang korrigieren die Drei den Tänzer. (Und auch der legendäre Verwandelte selbst, Minnearo, der am Anfang dieser Geschichte steht, hat diesen Tänzen oft beigewohnt – obgleich er sich häufig nach der Neu-Schöpfung seines Selbstmordtanzes entfernt.) Übrigens ist es manchmal schwierig, einen be-
stimmten Loarra von allen anderen zu unterscheiden, trotz der komplizierten und subtilen Technologie von Unicentral, die mich mit allen möglichen Sinnesfiltern ausgerüstet hat, außerdem mit FrequenzSimulatoren, Elektronenbahn-Sichtgeräten, speziellen Gravitations-Induktoren und einem Mini-Computer, der mehr als die Hälfte meiner kleinen Erdinsel auf Loarr in Anspruch nimmt und in zwei Sekunden mehr Gedanken- und Analysearbeit leisten kann, als ich in fünfzig Jahren. In meinen vier Jahren auf Loarr lernte ich mehrere Loarra »kennen«; dennoch war ich selbst gegen Ende meines Aufenthaltes nie ganz sicher, mit wem ich gerade »sprach«. Ich konnte siebzehn oder achtzehn Tests durchführen und die Sinnesfilter mit dem Mini-Computer verbinden, und auf diese Weise eine eindeutige Antwort erhalten. Aber die Loarra ermangeln ein wenig der Geduld, und bevor ich das alles bewerkstelligt hatte, fuhren sie schon längst funkensprühend in den höllischen Dämpfen herum, die sie Luft nennen. Gewöhnlich führte ich also meine Forschungen oder Verhandlungen, worum es sich auch gerade handelte, mit irgend jemand durch, der mir gerade Aufmerksamkeit schenken wollte, und ich entdeckte, daß es nicht von großer Bedeutung war, mit wem ich jeweils sprach: Alles blieb mir stets gleich unverständlich. Soweit es mich betraf und betrifft, sind sie alle völlig verrückt, unverständlich, dumm, albern und taugen einfach zu gar nichts. Wenn das verbittert klingt, dann deswegen, weil ich es bin. Zweiundvierzig ermordete Männer haben mich verbittert gemacht. Aber zurück zur großen Legende einer alten und ehrwürdigen fremden Rasse:
Als der Älteste ihnen gesagt hatte, was sie wissen wollten, begannen die Drei unter Lichtblitzen lebhaft zu hüpfen und in der Luft zu tanzen – Pur ebenso wie die beiden anderen. Das war es, was sie erhofft hatten. Mehr noch: Es war die vollständige Antwort auf ihre Frage und ihr Problem. Es würde sie in die Lage versetzen, einen Schöpfungsakt zu vollbringen, jeden negativen Zyklo-Klimax zu überwinden, den sie sich vorstellen konnten. Nach einer Weile kamen die Drei zu sich und dachten an die Rituale. »Wir entbieten dir unseren Dank im Namen von Minnearo, dessen Selbstmord wir rächen«, sagte Fless feierlich, seine Botschaft in respektvollen, tiefblauen Spiralen verkündend. »Wir danken dir auch in unserem eigenen Namen«, sagte Asterrea. »Und wir danken dir im Namen von nichts und niemand«, sagte Pur, »denn das ist der größte denkbare Dank.« Aber der Älteste saß nur dunkelrot pulsierend da, und die Drei wurden ein wenig ratlos. Endlich sagte er: »Dank anzunehmen, heißt Verantwortung annehmen, und im Nur-Heute, wo ich mich befinde, kann es das nicht geben, weil es keine neue Handlung geben kann. Ihr wißt ja, daß ich mich außerhalb der Zeit befinde, und das bedeutet beinahe: Außerhalb des Lebens. All das, was ich euch gesagt habe, habe ich euch schon oft vorher gesagt, und ich werde es euch wieder sagen.« Nichtsdestoweniger gingen die Drei durch sämtliche Dankesrituale, die sie mit makelloser Anmut ausführten: Farb- und Klangdemonstrationen, Tänze,
Anbetung ihrer eigenen Energie und so fort. Und Pur sagte: »Es ist möglich, Dank zu sagen für einen langen zurückliegenden Akt, ja sogar für einen unbedachten Reflex, und wir tun es in höchstem Maße.« Der Älteste pulsierte in dunklem Rot und antwortete nicht. Nach einer Weile verabschiedeten sich die Drei von ihm. Ausgestattet mit dem Wissen, das er ihnen gegeben hatte, hatten sie keine Schwierigkeiten, die das Persönlichkeits-Heim des Ältesten schützende Barriere zu überwinden. Augenblicke später waren sie wieder allein mit sich selbst in dem tosenden Sturm, der den Wirbel umtobte. Lange Minuten hingen sie in eng verschlungenen Bewegungsmustern in der Luft, während der Sturm sie peitschte und der Wirbel an ihnen zerrte. Abrupt lösten sie dann ihre Bewegungsmuster auf und warfen sich absichtlich in das Herz des Wirbels selbst. Augenblicklich waren sie verschwunden. Sie schienen weder Bewegung noch Zeit zu empfinden, als sie in den Wirbel fielen. Es war eine Veränderung, die sie nicht bemerkten, nicht empfanden – ein Übergang vom Ich zum Nicht-Ich, von der Existenz ins Nichts. Sie wußten nur, daß sie sich dem Wirbel ergeben hatten, daß sie sich plötzlich in Dunkelheit, in einer sie umgebenden Leere verloren, die keine Dimension hatte. Ohne zu denken, wußten sie, daß Leute hier ohne Echo geblieben wären, daß ein Funke, ja sogar eine helle Flamme nirgends einen Widerschein hervorgebracht hätte. Denn dies war der Ort des Ursprungs allen Lebens, und er war leer. Ihnen kam es zu, ihn zu füllen, wenn er gefüllt werden sollte. Und so gebrauchten sie das Geheimnis, das der
Älteste ihnen anvertraut hatte, das Geheimnis, das denen, welche am Anfang zugegen waren, zufällig entdeckt hatten und dessen nur der Älteste sich noch entsinnen konnte. Bevor sie sich in den Wirbel warfen, hatten sie sich darauf eingestellt, und jetzt spielten sie ihre Rollen automatisch – selbstlose, unbewußte, fast zufällige Akte, wie sogar unbelebte Energie sie ausführen kann. Und als sie alle ihre Rollen korrekt und genau gespielt hatten, genau zur rechten Zeit und in genau der richtigen Folge, fand die Schöpfung statt. Es war ein Futtertier. In der Leere vor ihnen nahm es Gestalt an, wuchs und leuchtete in seinem trüben Glühen, bis es vollständig war. Einen Augenblick lang trieb es dort und wurde dann plötzlich aus dem Wirbel geschleudert, hinausgesprengt mit der Heftigkeit einer Explosion – fort von dem Nichts dort drinnen, weg von Dunkelheit und Stille in den draußen tosenden Sturm. Und bei ihm waren die Drei, ausgespien mit dem primitiven Stück Leben, das sie gemacht hatten. Draußen im Sturm gingen die Drei automatisch in ihre engste Bewegungs-Sequenz über, umwirbelten einander in dem verzweifelten Bemühen, sich zu behaupten gegenüber den unbändigen Gewalten. Und von neuem spürten sie das wilde Zerren des Vulkans, der sie jetzt von neuem packte, und sie wußten, daß der Wirbel sie von neuem in sich hineinziehen würde, und dieses Mal für immer, wenn sie die Kraft nicht aufbrachten, ihm zu widerstehen. Aber sie mußten feststellen, daß sie sich fast verausgabt hatten; im Wirbel hatten sie mehr verloren, als sie je für möglich gehalten hätten. Sie fühlten sich jetzt halb tot, doch
irgendwie mußten sie den gigantischen Kräften des Sturms und des Wirbels widerstehen. Sie mußten so eng verschlungene Bewegungsbahnen eingehen, daß es ihnen möglich wurde, sich wieder von hier zu entfernen und in einen Bereich der Ruhe und Sicherheit zurückzugelangen. Und es gab nur eine Möglichkeit, sich dafür hinreichend zu kräftigen. Gleichzeitig stießen sie auf das empfindungslose Futtertier zu, das sie eben geschaffen hatten, und aßen es auf. Das ist eigentlich noch nicht das Ende des Tanzes des Verwandelten und der Drei – er geht noch eine Weile weiter, berichtet von den Ehren, die den Drei bei ihrer Rückkehr zuteil wurden, und von Minnearos Reaktion, als er seine Verwandlung vollendete, indem er um den von einem sterbenden Windvogel zurückgelassenen Lebenskern wiedererschien. Und weiter erzählt er, wie die Drei alle Ehren zurückwiesen und fast zugleich ihre nächste Veränderung durchmachten. Aber meiner Aufmerksamkeit gelingt es nie, dem Rest ganz zu folgen. Immer bleibe ich stecken an jenem Punkt der Geschichte, bei jenem erhaben widersprüchlichen Augenblick, da die Drei zerstörten, was sie geschaffen hatten, da sie mit nicht mehr wiederkehrten, als sie mit sich genommen hatten. Es wirkt nicht einmal ironisch, und doch ist es für die Loarra der emotionale Höhepunkt des Tanzes. Tatsächlich ist genau das der Inhalt des Tanzes, wie sie mir mit helleren Funken und Lichtentladungen sagten, als sie sie bei jedem anderen Thema benutzen. Und wenn die Drei es geschafft hätten, dort wieder herauszukom-
men, ohne ihr Futtertier zu essen, dann hätte man ihrer Leistung die gebührende Aufmerksamkeit geschenkt, um Beifall zu spenden. Die Neuverwandelten hätten darüber gelacht, und dann hätte man sie innerhalb von zwei Lebenszyklen vergessen. Das also sind die Geschöpfe, mit denen ich mich befassen mußte, und deren Rechte zu schützen mir oblag. Ich war Botschafter auf einem Planeten voll Dingen, die mir mit unbewegter Miene sagten, daß zwei und zwei orange sei. Ja, deswegen bin ich jetzt zurück auf der Erde – deswegen ist auch der Rest der Expedition, der noch am Leben geblieben ist, jetzt wieder hier. Wenn Sie den fünfzehn Mikrobänder umfassenden Bericht lesen könnten, den ich Unicentral gab (was sie übrigens nicht können: Unicentral hält seine Mißerfolge immer geheim), er würde Ihnen auch nicht mehr über die Loarra sagen, als ich Ihnen eben in der Geschichte des Tanzes gesagt habe. Eigentlich eher weniger. Denn obgleich der Bericht eine Unzahl harter Daten über die Loarra enthielt und außerdem jede Theorie, die ich selbst aufstellen oder dem MiniComputer entlocken konnte, sagte er nicht viel über den Tanz. Und nur aus solchen Dingen, VerhältnisDaten und nicht I.Q.-Indizes, psychologischen Analysen und so fort kann man zur Gänze ermessen, womit wir es auf Loarr zu tun hatten. Nachdem wir vier Standard-Jahre auf dem Planeten gewesen waren, nachdem wir Kontakt mit den Loarra aufgenommen und Geschenke und Informationen mit ihnen ausgetauscht hatten, nachdem wir unsere Bergbau-Operation gestartet und ohne Behinderung über drei Jahre durchgeführt hatten – nach all
dem geschah der Überfall. Eines Tages kam eine Wand tief purpurnen Lichts vom Horizont her auf uns zu, und als sie näherkam, konnte ich sehen, daß es eine ganze Kolonie von Loarra war, deren verschiedene Farben und Fluktuationen sich zu dieser purpurnen Masse vermengten. Ich war im Berge, nicht draußen mit den Bergbau-Extensoren, und so sah ich alles, durchlebte alles. Sie fielen über uns her wie Heuschrecken, stürzten sich zuerst auf den Raupenschlepper und die Bagger. Rot erglühte das Metall, dann weiß, dann schmolz es. Dann war es nur noch Gas, das sich, zu wogenden Wolken geballt, zum Himmel erhob. Irgendwo in diesen Wolken befanden sich die Elemente, aus denen siebzehn menschliche Wesen bestanden hatten, die sich jetzt ebenfalls in Dampf verwandelt hatten. Ich betätigte den Alarm und rief alle herein, aber nur wenige schafften es. Den Rest erwischte es in den Tunnels, wo die Loarra sich auf sie stürzten; auch sie lösten sich in Dampfwolken auf. Dann gingen die automatischen Schleusen zu, und der Berg war hermetisch abgeschlossen. Und sechs von uns saßen da und sahen auf den Bildschirmen, wie die Loarra draußen hin und herzuckten und mit allem aufräumten, was ihnen vorher entkommen war. Ich schickte drei meiner »Augen« hinaus, aber auch sie verdampften sofort. Und dann warteten wir darauf, daß sie den Berg selbst attackieren würden ... Ein halbes Dutzend angsterfüllter Männer, die zusammengedrängt und ohne ein Wort zu sagen im Computer-Raum saßen. Und nur schwitzten. Aber sie kamen nicht. Sie schwärmten zusammen
in eine geschlossene spiralige Formation, flogen dreimal um den Berg herum und machten eine letzte Gruß-Verbeugung, wirbelten dann senkrecht nach oben und außer Sichtweite. Eine Handvoll von ihnen war draußen zurückgeblieben. Nach einer Weile sandte ich ein viertes »Auge« hinaus. Einer der Loarra kam hinzu, schwirrte wie ein Leuchtkäfer um es herum, nahm nacheinander alle Farben des Spektrums an und verharrte schließlich davor, um mit uns zu sprechen. Es war Pur – natürlich tausend Millionen Milliarden Lebens-Zyklen entfernt von der Pur, die wir kennen und lieben, aber nichtsdestoweniger immer noch Pur. Ich sandte eine Sequenz von Licht und Bewegung hinaus, die man ungefähr mit »Warum zum Teufel habt ihr das getan?« übersetzen könnte. Und Pur erglühte sekundenlang in fahlem Gelb und gab mir dann eine Antwort, die unübersetzbar ist. Oder die, wenn sie übersetzbar ist, einfach bedeutet: »Deswegen.« Dann stellte ich, mit anderen Ausdrücken, die Frage erneut, und sie gab mir mit anderen Ausdrücken die gleiche Antwort. Ich fragte ein drittes und viertes Mal, immer mit dem gleichen Ergebnis. Die Variationen des Tanzes schienen ihr Vergnügen zu machen; vielleicht glaubte sie, daß wir spielten. Nun ... Zu diesem Zeitpunkt hatten wir bereits unser Notsignal ausgesandt. Wir konnten also nichts weiter tun, als auf ein Hilfsschiff zu warten und hoffen, daß sie vor seiner Ankunft nicht mehr angreifen würden. Denn bei einem Kampf gegen sie hatten wir keine Chance – wir waren Bergleute, keine Militärexpedition. Was irgendeine Militärexpedition gegen
Energiewesen hätte ausrichten können, weiß ohnehin nur Gott. Während wir warteten, schickte ich weiter die »Augen« hinaus und sprach mit einem Loarra nach dem anderen. Drei Wochen dauerte es, bis das Schiff kam, und währenddessen mußte ich mit über hundert von ihnen gesprochen haben. Und das Resümee dessen, was ich erfuhr, ist dies: Der Grund, warum sie unsere Expedition vernichteten, war unübersetzbar. Nein, sie waren nicht verrückt. Nein, sie wollten nicht, daß wir den Planeten verließen. Nein, sie hatten nichts dagegen, daß wir dieses Zeug aus den Tiefen des Loarranischen Ozeans holten. Und das Wichtigste: Nein, sie konnten mir nicht sagen, ob sie ihren Angriff jemals wiederholen würden oder nicht. Wir machten uns also auf, hinkten gewissermaßen zurück zur Erde, gaben Unicentral unsere Berichte. Wie ich schon sagte, enthielten sie alle nur denkbaren Daten einschließlich einer Schätzung des Wertes der neuen Elemente auf Loarr – sie belief sich auf etwa den sechsfachen Wert des Erdensystems. Und wir überließen Unicentral die Entscheidung, ob wir uns noch einmal auf Loarr begeben sollten oder nicht. Seit zehn Monaten summt und klickt Unicentral jetzt. Eine Entscheidung hat er noch nicht getroffen.
Originaltitel: THE DANCE OF THE CHANGER AND THE THREE Copyright © 1968 by Joseph Elder
H. H. Hollis SCHWERTSPIEL Am Spätnachmittag eines scheußlichen Herbsttages stolperte ein vierzigjähriger Topologe, Mathematikdozent an einer Universität, die ihm widerwärtig war, gelangweilt von seinen Studenten und bedrückt von dem beängstigenden Gedanken, alles Wesentliche in seinem Leben bereits getan zu haben, kopfüber in eine Gruppe von Studenten, die Blumen und Flugblätter verteilten. Bevor er sich die ihm entfallene Büchermappe zurückholen und seinen Weg unter Formulierung eines denkwürdigen Entlassungsgesuches fortsetzen konnte, war sein Auge auf einen verschlampt aussehenden Teenager gefallen, dessen Augenblick ihn über alle Maßen gefangennahm. Um den Bann zu brechen, sagte er kühn zu ihr: »Sind Sie nicht in meinem Kurs für elementare Topologie?« Sie lutschte an dem Erdbeereis in ihrer Linken und antwortete ohne die Spur eines Lächelns: »Sie sind wohl verrückt. Ich bin keine Studentin, nur eine wahrsagende Zigeunerin.« Sie hielt ihm ihr Eis hin. »Können wir irgendwo hingehen, damit ich Ihnen die Zukunft wahrsagen kann?« Der Mathematiker wußte, daß sie keine Zigeunerin war, denn die modernen, verstädterten Zigeuner sind nie so schmutzig, wie sie es war. Er hatte keinen Zweifel, daß sie ihn irgendwie hereinlegen wollte; aber in seiner verzweifelten Langeweile sagte er: »Irre, Zigeunerin! So folge mir denn, und wir werden
weis- und andere Lügen sagen, bis die Welt dahinschmilzt.« Hand in Hand gingen sie unter den Blikken von vierzig Zeugen davon. Die Studenten indessen beachteten im Rahmen ihrer Kultur einen strengen Kode; und sie wären eher gestorben, als die Polizei oder auch nur den Dekan der Fakultät zu unterrichten. Und so blieb die Tatsache, daß der Professor alle Grenzen des Anstandes überschritt, indem er eine Studentin mit sich nahm, unbemerkt und unberichtet. Als er sie ausgezogen hatte, erwies sich das Mädchen um keinen Deut weniger schmutzig, als es ausgesehen hatte. Aber das bestärkte ihn nur in seinem Entschluß, sich ihrer zu bedienen. Später überredete er sie dazu, ein Bad zu nehmen, indem er ihr versprach, mit ihr zu baden; und als sie ging, sah sie mit ihrem rumfarbenen, gescheitelten Haar aus wie eine frisch geschrubbte Pfadfinderin. Die Kruste, die sie bedeckte, war das Gegenstück zum Make-up, das Spießer gebrauchen. Als er am nächsten Tage am Campus vorbei kam, war sie so herrlich schmutzig wie eh und je. In der Hand hielt sie wieder ein Eis, das mit dunkelrotem Sirup übergossen war. Die beiden nahmen sich an der Hand und gingen direkt in sein Appartement. Die junge Frau sagte kaum ein Wort, bis sie spät abends zusammen gebadet hatten. Sie rieb sich gerade das Haar trocken, und durch das Handtuch hindurch hörte man undeutlich die Worte: »Ich war heute beim Dekan und habe ihm von uns erzählt.« Ganz gegen seine sonstige Art war der Professor so befriedigt, daß er den Ruin seiner akademischen Kar-
riere mit Vergnügen hinnahm. »Na schön, du Großmaul. Und wovon sollen wir leben?« »In Wirklichkeit bin ich keine Zigeunerin«, sagte sie, »aber früher, als ich mal weggelaufen bin, war ich wirklich auf einem Rummelplatz. Ich kann mich in einen Kasten einsperren lassen, durch den man Schwerter steckt. Könntest du nicht ein ostindischer Schwertkünstler werden? Wir könnten uns irgendeiner Show anschließen und mit ihr herumreisen.« »Bei Gott«, rief der Topologe. »Ich kann noch mehr! Zwar ist es schon lange her, daß ich Ingenieurarbeiten gemacht habe, aber ich habe eine kleine Laboratoriums-Kuriosität, die genau das Passende ist. Komm mit mir zum Tierhaus im Keller der psychologischen Fakultät, und ich zeige dir etwas, was du nicht glauben wirst.« »Versuch es, Baby«, erwiderte seine Inamorata. »Du würdest dich wundern, was ich alles glauben kann.« Sie begaben sich zu den Käfigen, in denen sich die Versuchstiere befanden, und der Professor holte eine kräftige Maus heraus. Aus einem Regal nahm er einige längliche Stücke durchsichtigen Plastikmaterials, zündete einen Bunsenbrenner an und öffnete einen Behälter mit Plastikkleber. In wenigen Minuten hatte der Topologe einen Behälter gemacht, dessen genaue Form festzustellen dem Auge nicht möglich war, der aber mehr oder weniger wie ein unregelmäßiger Zylinder aussah. Im Nu hatte er die Maus hineingesteckt und die quadratische Oberseite zugeklappt. Durch das Plastikmaterial hindurch konnte man die Maus sehen. Sie verharrte in einer starren Haltung und schien in der Luft zu schweben, und ihre Beine
und ihr Schwanz waren ausgestreckt wie in dem Moment, da der Professor sie hineingesteckt hatte. Mittels eines glühenden Metallstabs bohrte er nun erst in die eine, dann in die andere Seite des Zylinders ein Loch. Dann, als die lange Nadel wieder abgekühlt war, steckte er den Stab wieder in das Loch, und die scharfe Spitze drang so durch das Herz des Nagetiers, daß sie durch das zweite Loch wieder herauskam. Mit einer schnellen Bewegung führte der Professor den Zylinder über die Hand des Mädchens hinweg, und ein kleiner Tropfen hellen, arteriellen Mäuseblutes fiel auf ihr Handgelenk. Als sie den roten Tropfen besah, traten glitzernde Tränen in ihre Augen. »Großartig«, sagte sie. »Mäusemord. Eine wilde Maus würde sich wohl nicht in dieses Plastikrohr verirren. Oder?« »Herz meines Herzens«, erwiderte er. »Es ist kein Rohr. Es ist nicht einmal ein Zylinder, und schon gar keine Mausefalle. Hättest du jemals ein wenn auch nur populärwissenschaftliches Werk über Topologie gelesen, dann wüßtest du, daß dies ein Tesserakt ist.« »Schon gut, ich weiß, was ein Tesserakt ist: Ein erweiterter Kubus, ein Kubus mit einem Kubus an jeder seiner Seiten. Aber für mich sieht dieser Mäusekäfig nicht aus wie sechs Kuben um einen siebten herum.« »Nein, sonst wäre unsere Maus mausetot. Dieser Tesserakt ist eine zeitliche Illusion.« »Eine zeitliche Illusion!« »Ja, meine Liebe«, sagte er, »eine zeitliche Illusion. Die Topologie lehrt uns, daß mathematische Eigenschaften ganz unabhängig von scheinbarer Form sein können. Ein Kreis ist immer noch ein Kreis, selbst wenn er wie ein gezackter Kuchenboden aussieht –
und das kann der Fall sein, wenn man ihn auf eine wellige Fläche zeichnet. Dieser Mäusekäfig ist ein gewürfelter Würfel, dessen Position in der Zeitdimension teilweise verschoben ist. Deswegen sieht er formlos und immer wieder anders aus. Hier, fühl das.« Kein Zweifel, die Berührung erwies ihn als fest: Ein Kubus an einem Kubus an jeder seiner Seiten. Aber selbst wenn man es in der Hand hielt und mit dem Tastsinn spürte, erschien das Objekt ein in seiner Form veränderter Zylinder zu sein, und die Maus war immer noch starr und bewegungslos. »Diese Maus ist doch tot. Jih!« sagte sie. Mit flinken Fingern zog der Topologe das kleine Schwert heraus, nahm den Deckel ab und schüttelte die Maus in seine Hand, wo das süße kleine Kerlchen sich sogleich auf die Hinterbeine setzte und mit den Vorderpfoten ruderte, als bettle es um Käse. »Wie hast du das denn gemacht?« rief das Mädchen. »Eigentlich ganz einfach«, erwiderte der Denker. »Der subtilen Formgebung wegen flackert das Äußere dieses Behälters in den zeitlichen Augenblick herein und wieder aus ihm hinaus. Das Innere aber ist zeitlich fixiert, weil viel von der inneren Masse sich ganz um das sehr große, aber endliche Raum-ZeitKontinuum erstreckt, das unser Universum bildet. Die Zeit dieses kleinen Schurken ist so langsam vergangen, daß die starken Regenerationsprozesse seines Körpers geradezu augenblicklich wirkten, und die scheinbar tödliche Wunde war für ihn nicht mehr als ein kleiner Nadelstich. Glaubst du, du könntest in einen großen Tesserakt wie diesen steigen und mich ei-
nen Säbel durch dich hindurchstoßen lassen ... in dem Bewußtsein, daß er dir keinen Schaden zufügen wird?« Sie klatschte begeistert in die Hände. »Oh ja, Liebling! Was ist dagegen ein alter Weidenkorb, in dem ich, wie jedermann weiß, den Säbeln ausweiche.« So eilten sie denn zu einem Plastikwaren-Geschäft und von dort zu einer Hunde- und Pony-Show in der Nachbarschaft, und für lange Zeit ging alles wie ein Trip unter der Führung von Tim Leary. Die Zuschauer bewunderten staunend die Schönheit des Mädchens. Unter den schwierigen Bedingungen ihres Wanderlebens war sie jetzt beträchtlich sauberer denn damals, als Seife und Wasser stets in Reichweite waren, und wenn der Topologe die scharfe Klinge durch ihren lieblichen Körper stieß, der so leicht bekleidet war, wie es die örtliche Sitte erlaubte, verschlug es den Zuschauern den Atem. Wenn dann das Behältnis herumgedreht wurde, so daß die rote Spitze der Klinge sichtbar wurde, fielen starke Männer in Ohnmacht. Später dann drängten sie sich, um pro Person einen Dollar zu bezahlen und die kleine Wunde zu begutachten, die sich schloß und verschwand – gewöhnlich in der Mitte ihres so schön geformten Oberkörpers. Das Leben auf dem Rummelplatz war eine Idylle. Dennoch, wenn man mit vierzig Jahren auch nicht alt ist, so ist man doch nicht mehr ganz jung, und allmählich konnte den Doktor der Mathematik nichts mehr darüber hinwegtäuschen, daß er sich wieder langweilte. Der Wortschatz des Mädchens hatte sich nicht nennenswert erweitert, und Erdbeereis zu
schlecken war ihre Lieblingsbeschäftigung geblieben. Der Altersunterschied zwischen ihnen reichte hin, um ihr sexuelles Grundverhalten unvereinbar zu machen. Für ihn war ein gewisser Unterton des Verbotenen höchstens Stimulans körperlicher Liebe; für sie hingegen war Sex ganz einfach eine natürliche Funktion wie die Atmung, so daß ihre Vereinigung auf der Ebene einer gewissen technischen Fertigkeit steckenblieb. Nach Art ihrer Generation war sie treu. Später konnte es andere geben, das ließ ihre spielerische Art erkennen. Im Augenblick aber hatten andere keinen Zugang zu ihrer Gunst. Selbst das saure Gewürz der Eifersucht blieb ihm verwehrt. Nach ihrer letzten Abendvorstellung trug sie oft nur durchsichtige Hosen und einen kleinen Slip, und so bald sie ihr Quartier erreicht hatten, hob sie die Arme, stampfte ein wenig mit den nackten Füßen auf wie eine Haremstänzerin und sagte: »Hilf mir, mich für das Bad herzurichten, Liebster.« Wenn er dann begann, das Gürtelband ihrer Satinhose herunterzurollen, ließ sie ihre Arme sinken und fing an, auch ihn zu entkleiden. Dann badeten sie einander. Sonst hatten sie fast keine Konversation. Schließlich wurde das Idyll für den Professor zur Sklaverei. Eine Atempause wurde ihm zuteil, als er erfuhr, daß ein indischer Fakir, ein Nachbar in der Show, der auf Nägeln schlief, flüssiges Blei in seine Augen goß und so fort, ein gescheiterter Doktor der Mathematik von der Universität von Rawalpindi war. Das Gespräch mit ihm bewirkte, daß der Topologe nicht völlig verrückt wurde. Dennoch, er war ein wenig angeknackst. Er haßte das Mädchen und träumte
nur noch davon, was er tun würde, wenn sie ihn verließe; aber sie wollte ihn nicht verlassen, sondern fuhr vielmehr fort, die Arme zu heben und mit den Füßen aufzustampfen, was ihm Überdruß bereitete wie einem Mann, der nicht weiter mit einem Kätzchen spielen möchte, das sich aber dennoch weiter in seinen Socken verkrallt. Nichts, was er jetzt tat, war mehr gut, auch ihr Auftritt in der Show nicht, der ihn ohnehin nicht mehr sonderlich interessierte, seit er den großen Tesserakt zusammengebaut hatte. Einmal verfehlte er das Loch beim Säbelstoß, und das Plastikmaterial lenkte die Klingenspitze in seine Zehe ab. Es war eine wirkliche Wunde in der wirklichen Zeit, nicht verteilt im Raum-Zeit-Kontinuum, und eine Woche lang bereitete sie ihm große Schmerzen. Jedesmal, wenn er mit dem verletzten Fuß auftrat, bestärkte ihn die Pein in dem Entschluß, sich ihrer zu entledigen, bis schließlich sein fruchtbarer topologischer Sinn den Weg erkannte. Er hatte eine regelrechte Sammlung von Stichwaffen, die er bei ihrem gemeinsamen Auftritt verwendete, und eines Abends legte er eine ganz passable Imitation eines römischen Kurzschwertes griffbereit neben ihr Bett. Seinerzeit hatte dieses Design einen großen technologischen Durchbruch der Waffenmacher bedeutet, und es war wie geschaffen für einen vernichtenden Stich. Als sie an jenem Abend nach Hause kamen, befreite er sie mit schwungvoller Bewegung von ihrem geschmacklosen Cape, und als sie ihre runden Arme hob und mit einem Fuß aufstampfte, entledigte er sie mit extravaganter Geste des Unterteils ihrer Kleidung
und ließ ihr dann das Vergnügen, ihn einzufangen und ihrerseits aus seiner Gewandung zu befreien. Als sie, nach rituellem Bad und ebensolcher Beiwohnung, einander abtrockneten, küßte er sie zart, aber doch irgendwie abwesend, und sagte: »Liebstes, hättest du etwas dagegen, wenn ich diesen letzten Teil unseres Auftritts ein wenig übte? Wie es scheint, habe ich Schwierigkeiten, mit der Klinge richtig zu treffen.« Erfreut darüber, daß er wieder guter Laune war, schlüpfte sie in den Reserve-Tesserakt, den sie in ihrem Quartier hatten; ein paar Tropfen des Badewassers glitzerten noch auf ihrem Körper. Sie hob ihr Gesicht zu ihm mit einem Lächeln, das ihn fast wieder abbrachte von dem irreversiblen Akt, den er vorhatte. Dann dachte er an die Monate der Langeweile, und sein Herz verhärtete sich. Entschlossen klappte er den Deckel zu. Ohne zu zittern stieß er das römische Schwert so präzise in ihr Herz, wie die leichte Zeitverschiebung im Tesserakt es ihm erlaubte. Dann brach er die Klinge ab, so daß das Schwert ebenfalls der verlangsamten Wirkung des sich bewegenden Zeitfeldes unterlag. Schließlich gab er der Konstruktion einen geschickten Fußtritt oder zwei, die sie in sich zusammenstürzen ließen. Statt wie ein knotiger Zylinder – so hatte sie ausgesehen, als sie ein erweiterter, der Zeitverschiebung unterliegender Kubus gewesen war – schien sie nun ein einfacher Kubus von etwa sechs Zoll Seitenlänge mit einem abstrakten Muster auf jeder Seite zu sein. Der kollabierte Kubus war viel schwerer, als er aussah, aber nicht annähernd so schwer wie das Mädchen, denn ein beträchtlicher Teil ihrer Masse war in der Gesamtheit des zylindrisch-sphärischen
Raum-Zeit-Kontinuums verteilt. Als er auf die spiegelnde Oberfläche einer der Kubusseiten blickte, dehnte sich ein Auge darauf aus wie ein langsam zerfließender Wassertropfen; aber als er in das Auge starrte, fand er weder Panik noch Wiedererkennen darin. Er dachte daran, daß für die Bewohnerin dieses seltsamen Gebildes seine Bewegungen so rasend schnell waren, daß sie sich völlig verwischten. Vor sich hinpfeifend, packte der Professor den gewichtigen Kubus in eine Tasche und schlenderte von dannen, nicht ohne seinem indischen Nachbarn gegenüber beiläufig zu bemerken: »Adieu, wir verlassen diesen Flohzirkus.« Indem er in der Toilette des Busbahnhofs in einen seiner normalen Anzüge schlüpfte, verschwand er als »Grax, der Schwertkünstler der Zeit« (sein Künstlername), und wurde wiedergeboren als ein Topologe beträchtlichen Talents, der eine Weile auf Bildungsurlaub gewesen war. Die Frustrationen, die ihm vor seinem Abenteuer so überaus zugesetzt hatten, schienen wie weggebrannt. Mit Vergnügen widmete er sich von neuem akademischer Routine, wurde ein Meister ihrer praktischen Realisierung. Einen wirklich vielversprechenden Studenten hatte er vielleicht einmal in fünf Jahren. Aber diese Unergiebigkeit bekümmerte ihn nicht länger. Stufe um Stufe die akademische Leiter emporklimmend, konnte er ein paar brillante Köpfe um sich sammeln. Das Leben war so schön, das wußte er jetzt, daß es schöner nicht mehr werden konnte. Der gewichtige Kubus lag jetzt als Briefbeschwerer auf dem Schreibtisch in seinem Appartement. Niemand außer ihm erkannte in den ständig wechselnden abstrakten Mustern auf seinen silbrig schim-
mernden Seiten die topologisierten Konturen eines toten menschlichen Wesens. Von Zeit zu Zeit zeichnete sich auf einer der Flächen des Körpers einer jener erkennbaren anatomischen Umrisse ab, die der Professor so gut kannte. Und dann verspürte er ein unbestimmtes Bedauern wegen seiner Tat, und das einzige Abenteuer seines Lebens brannte noch ein wenig auf seiner Seele wie Glut unter der Asche. Dann stopfte er seine Pfeife, nahm die Zeitschrift für Topologie zur Hand und versenkte sich von neuem in das geruhsam-schöne Universitätsleben. Als er sechzig Jahre alt und fast kahl war, tauchte in seiner Vorlesung der Student seiner Träume auf. Dieser verstand alles, was er über seine hermetische Wissenschaft ausführte, und wartete mit neuen, elegant formulierten Erkenntnissen in der intuitiven Mathematik auf, an der sie sich beide so sehr erfreuten. Objektiv wußte er, daß der Junge eher nett und sauber als hübsch war, subjektiv allerdings (und ganz privat natürlich: er verhielt sich jetzt streng den Konventionen entsprechend) empfand er den Jungen immer als »gutaussehend«. Dieses Gefühl gab ihm Rätsel auf, bis er eines Tages an einen Stoß alter CollegeJahrbücher geriet und darin zu schmökern begann. Plötzlich sah er sein eigenes Examensfoto. So sehr ähnelte sein bester Student seinem eigenen Jugendbilde, daß er sein Doppelgänger oder zumindest sein jüngerer Bruder hätte sein können. Nicht lange danach vertraute der Professor dem Jungen die Geschichte seiner Eskapade an. Warum er es tat, hätte er nicht sagen können, und sicher war es nicht klug. Aber der Student verriet jetzt das gleiche
unheimliche Talent, das auch der Professor besaß, topologische Abstraktionen ins Konkrete zu übersetzen; und irgendwie erzählte sich die Geschichte ganz von selbst. In der Tat empfand er jetzt eine sehr große Zuneigung zu seinem Schüler. Der Junge, der sich in der totalen Amoralität gefiel, die in seiner Generation Mode war, war nichtsdestoweniger schockiert. Dennoch, die Sache erregte seine Neugier. Er nahm das Gebilde und schüttelte es. »Vielleicht ist sie am Leben«, sagte er. »Da drinnen war das alles nur ein Augenblick. Machen wir es auf.« »Das ist doch lächerlich«, sagte der Professor, nahm ihm den Kubus wieder aus der Hand und legte ihn mit keinen Widerspruch erlaubender Geste auf seinen Schreibtisch. »Erstens ist sie nicht am Leben. Solange sie da drinnen ist, gibt es keinen Beweis für das Verbrechen. Zweitens: Wenn sie am Leben wäre, könnte sie zur Polizei gehen. Oder schlimmer noch: Sie könnte von mir erwarten, daß ich von neuem diese schrecklich langweilige Liaison mit ihr eingehe. Und drittens können wir den Würfel nicht aufmachen. Genau deswegen habe ich das Schwert abgebrochen. Der Kubus ist jetzt ein geschlossenes System, und nichts in seinem Inneren ist unserem Aspekt von Raum und Zeit zugänglich. Zu guter Letzt wird sie gleichmäßig im ganzen Universum verteilt sein. Nein, ich verbiete Ihnen, auch nur daran zu denken! Wann bekomme ich übrigens Ihre Arbeit über die topologischen Re-Intervertebraten?« Das Gespräch wurde schleppend, und der Student verabschiedete sich bald. Einen oder zwei Tage später überraschte der Professor den Jungen dabei, wie er sich mittels eines Spiegelsystems an den Kanten des
Kubus zu schaffen machte. Es gab einen ernsthaften Streit zwischen ihnen, aber nach und nach stellte sich die frühere, auf Sympathie beruhende LehrerSchüler-Beziehung wieder fast wie ehedem ein. Eines Tages erschien der Student in der Wohnung des Professors, ein kleines, glitzerndes Metallstück in der Hand, dessen Form außerordentlich schwer zu erkennen war. Das flimmernde Etwas schien in rapidem Wechsel sichtbar und unsichtbar zu sein. »Was zum Teufel haben Sie denn da?« fragte er den Jungen ungehalten. »Es ist ein verchromter, einziehbarer, umgedrehter, nahtloser Möbiusstreifen mit eigener Energieversorgung«, sagte der junge Mann. Der Professor lachte. Jeder Schuljunge weiß, daß ein Möbiusstreifen ein halb in sich verdrehtes Band ist, das, an den beiden Enden zusammengefügt, einen Ring bildet. So entsteht (versuchen Sie es) eine geometrische Figur mit nur einer Seite und einem Rand. Dem gesunden Menschenverstand sind bei der Betrachtung durchaus zwei Seiten und zwei Räder erkennbar. Dennoch, ein Bleistiftstrich in der Mitte der »einen Seite« führt wieder in sich selbst zurück, wobei sich der Strich auf »beiden Seiten« befindet ... wobei es nur eine Seite gibt, verstehen Sie? Jeder Schuljunge weiß aber auch, daß ein MöbiusStreifen nicht mehr ist als das: Eine Kuriosität, nichts weiter. Was immer man sonst noch damit macht, es wird nichts anderes daraus. Weder durch Verchromung noch durch »Energieversorgung« kann er verbessert werden. All dies erklärte der Professor seinem Studenten in reichlich überheblicher Art. Er schloß mit den Worten: »Und jetzt sagen Sie mir bloß
nicht, das hätte eine praktische Nutzanwendung.« »Doch«, sagte der Junge, »das hat es.« Und bevor der Professor ihn zurückhalten konnte, langte er über den Schreibtisch, drang mit einer Hälfte des schimmernden Möbius-Streifens in den glänzenden Kubus ein und fischte die abgebrochene Klinge eines kurzen Römerschwertes heraus. Im nächsten Augenblick war der altvertraute Zylinder wieder in voller Größe auf dem Schreibtisch, und gleich darauf war eine völlig nackte junge Frau aus ihm heraus auf den Boden gesprungen. Sprachlos vor Verblüffung sah der Professor eine rötliche, dreieckige, offensichtlich eben verheilte Narbe auf ihrer Brust und bemerkte, daß immer noch Wassertropfen auf ihrem Körper glitzerten. »Liebling!« rief sie, »was war das für ein Metzgermesser? Ich konnte ihm kaum noch ausweichen!« Und sie umfing den Studenten mit einer polypenhaften Umarmung. Dann sah sie den Professor und wich zurück. »Wer ist dieser kahlköpfige alte Knacker?« sagte sie. »Voyeure habe ich gar nicht gern, Liebling.« Ein Blinzeln, ein Nicken, und sie und der Student hatten den Professor in den erweiterten Kubus gesetzt und ließen diesen in sich zusammenstürzen. Selbst in dem endlosen Augenblick, der innerhalb dieses Gebildes herrscht, beginnt dem Topologen die Zeit lange zu werden. Er weiß, daß in der wirbelnden kaleidoskopischen Außenwelt das Mädchen und der Student längst zu Staub zerfallen sind. Er aber beginnt transparent zu werden; er weiß, daß seine Substanz sich langsam in das gesamte zylindrisch-
sphärische Raum-Zeit-Kontinuum ausdehnt. Er hat erkannt, daß, sobald er sich zur Gänze verteilt hat, das Ende des Universums gekommen sein wird. Und in Gedanken hat er bereits eine höchst bemerkenswerte Schrift ausgearbeitet, die das ganze Phänomen erklären soll. Bedauerlich für ihn ist nur, daß er niemals in der Lage sein wird, sie der Zeitschrift für Topologie zur Veröffentlichung zu übersenden.
Originaltitel: SWORD GAME Copyright © 1968 by Galaxy Publishing Corp.