ULLSTEIN 2000
SCIENCE FICTION STORIES 49 von Larry Niven Gerald Jonas Theodore Sturgeon Ron Goulart Arthur Sellings
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ULLSTEIN 2000
SCIENCE FICTION STORIES 49 von Larry Niven Gerald Jonas Theodore Sturgeon Ron Goulart Arthur Sellings
Ausgewählt und zusammengestellt von Walter Spiegl
ein Ullstein Buch
Ullstein Buch Nr. 3148 im Verlag Ullstein GmbH, Frankfurt/M – Berlin – Wien Aus dem Amerikanischen von Rudolf Mühlstrasser und Iannis Kumbulis
Umschlagillustration: ACE/Roehling Alle Rechte vorbehalten Alle Stories aus WORLD’S BEST SCIENCE FICTION: 1970, Copyright © 1971 by Donald A. Wollheim und Terry Carr Übersetzung © 1975 by Verlag Ullstein GmbH, Frankfurt/M – Berlin – Wien Printed in Germany 1975 Gesamtherstellung: Augsburger Druck- und Verlagshaus GmbH ISBN 3 548 03148 4
Helen hatte ihn wirklich geliebt, das Schlimmste, was einem Mann in seiner Lage passieren konnte. Sie hatten geheiratet. Eine Woche später bekam er seinen nächsten Auftrag – er würde länger als vierzig Lichtjahre im Weltraum unterwegs sein… Als er zurückkam, war Helen siebenundsechzig – er war um keine drei Jahre älter geworden. Er hatte natürlich erwartet, sie als alte Frau wiederzusehen, aber auf diese Helen war er nicht vorbereitet gewesen, die eigensinnig darauf bestanden hatte, die Zeit anzuhalten – mit allen nur denkbaren kosmetischen Eingriffen und Operationen. Und mehr noch als dieser gealterte, verbrauchte Körper hinter der künstlichen Fassade waren es die gezierten backfischhaften Gesten, die ihn vor ihr fliehen ließen. Es schmerzte ihn noch immer, wenn er daran zurückdachte. Und nun hatte er Etta kennengelernt – und er liebte sie wie keine andere vor ihr –, aber das Problem war dasselbe, auch wenn es sein letzter Flug sein würde. DIE VERABREDUNG von Arthur Sellings und weitere moderne Science-Fiction-Stories von bekannten Autoren.
Larry Niven DIE LUFT, DIE WIR ATMEN
»Es ist kein Roc«, sagte Ra Chen. Durch eine dicke Glaswand sah der Vogel sie dümmlich an. Seine Flügel waren klein und unterentwickelt; seine Beine und Füße kolossal, lächerlich. Er wog dreihundert Pfund und war an die zweieinhalb Meter groß. Ansonsten erinnerte er stark an ein Küken. »Er hat mir ‘nen Tritt versetzt«, beklagte sich Svetz. Der schlanke, feingliedrige Mann hielt sich an diesem Tag steif und etwas nach links gebeugt. »Er hat mich in die Seite getreten und vier Rippen gebrochen. Ich kam gerade noch bis zur Zeitkapsel.« »Trotzdem ist es kein Roc. Tut mir leid, Svetz. Während Sie im Krankenhaus waren, haben wir in der historischen Abteilung der Bibliothek von Beverly Hills Nachforschungen angestellt. Der Roc war nur eine Legende.« »Aber sehen Sie ihn sich doch an!« Svetz’ bulliger, rotgesichtiger Chef nickte. »So ist die Legende wahrscheinlich entstanden. Frühe Forscher in Australien sahen diese ausgewachsenen Strauße herumlaufen. Sie sagten sich: ›Wenn die Küken schon so groß sind, wie sehen dann die Erwachsenen aus?‹ Dann fuhren sie wieder heim und erzählten Geschichten von den Ausgewachsenen.« »Also habe ich mir die Rippen wegen eines fluguntüchtigen Vogels brechen lassen?«
»Nehmen Sie’s nicht so schwer, Svetz. Wir brauchen die Sache nicht total abzuschreiben. Der Strauß war ausgestorben. Er wird eine willkommene Ergänzung für das Vivarium des Generalsekretärs sein.« »Aber der Generalsekretär wollte einen Roc. Was wollen Sie ihm sagen?« Ra Chen machte ein finsteres Gesicht. »Das ist ja noch nicht alles. Wissen Sie, was der Generalsekretär jetzt will?« Wer Ra Chen zum ersten Mal sah, hatte den Eindruck, er mache pausenlos ein finsteres Gesicht, bis sie sein wirklich finsteres Gesicht sahen. Svetz hatte vermutet, daß irgend etwas Ra Chen bedrückte. Nun wußte er es. Der Generalsekretär war für jeden ein Problem. Ein rezessives Gen, das ihm seine mächtige Familie auf dem Wege der Inzucht vererbt hatte, hatte seine Intelligenz auf dem Niveau eines sechsjährigen Kindes stillstehen lassen. Ebenfalls auf dem Erbwege war er der Herrscher der Erde und ihrer Kolonien geworden. Seine Launen waren im ganzen bekannten Universum Gesetz. Was immer der Generalsekretär wollte, es war von größter Bedeutung, daß er es auch bekam. »Irgendein Idiot nahm ihn zum Tauchen nach Los Angeles mit«, sagte Ra Chen. »Nun besteht er darauf, die Stadt zu sehen, wie sie war, bevor sie unterging.« »Klingt ja gar nicht so schlimm.« »Würde es auch nicht sein, wenn das alles wäre. Ein paar aus seinem Beraterkreis bemerkten sein Interesse und beschafften ihm historische Magnetbänder von Los Angeles. Er war begeistert. Jetzt möchte er beim ersten Aufstand von Watts dabei sein.« Svetz schluckte. »Da dürfte es einige Sicherheitsprobleme geben.«
»Der Generalsekretär ist fast so reinrassig weiß, daß es gar keinen Unterschied macht.« Der Strauß neigte seinen Kopf zur Seite und betrachtete sie. Immer noch sah er aus wie das kolossale Küken eines noch größeren Vogels. Svetz konnte sich vorstellen, daß er eben aus einem Ei von der Größe eines Bungalows geschlüpft sein mochte. »Da kriegt man ja Kopfweh«, sagte er. »Warum erzählen Sie mir das alles? Sie wissen, daß ich mit Politik nichts anfangen kann.« »Überlegen Sie sich doch, was passieren würde, wenn wir den Tod des Generalsekretärs herbeiführten. Es gibt bereits mächtige Gruppen, die das Institut für Zeitforschung aufgelöst sehen möchten. Die Raumforschung zum Beispiel, sie würde uns nur allzu gern schlucken.« »Aber was können wir tun? Ein direktes Ersuchen des Generalsekretärs können wir nicht ablehnen!« »Wir können ihn ablenken.« Sie hatten ihre Stimmen zu verschwörerischem Flüstern gedämpft. Jetzt wandten sie sich von dem Strauß ab und schlenderten an der Reihe der Glaskäfige entlang. »Wie?« »Ich weiß es noch nicht. Wenn ich nur an seine Pflegerin herankäme«, stieß Ra Chen zwischen den Zähnen hervor. »Ich habe wirklich alles versucht. Vielleicht hat das IRF sie gekauft. Vielleicht ist sie ihm auch treu ergeben. Sie ist jetzt schon achtunddreißig Jahre bei ihm.« »Wie soll ich denn wissen, was sein Interesse erregen könnte? Ich bin ihm nur viermal bei formellen Anlässen begegnet. Jedenfalls weiß ich, daß seine Aufmerksamkeit etwas sprunghaft ist. Wenn wir ihn mit einem neuen Spielzeug ablenken könnten, würde er Los Angeles vergessen.« Der Käfig, an dem sie eben vorbeigingen, trug die Aufschrift:
ELEPHANT Etwa aus dem Jahre 700 Vor-Atomzeit. Gebiet: Indien, Erde AUSGESTORBEN Das runzelig-graue Tier sah sie mit einem Ausdruck schläfriger Gleichgültigkeit an. Es war nicht von Svetz gefangen worden. Doch Svetz hatte fast die Hälfte der Tiere hier gefangen, einschließlich einiger, deren Tanks halb voll Wasser waren. Svetz fürchtete sich vor Tieren. Besonders vor großen Tieren. Warum mußte Ra Chen ihn dauernd auf Tierfang schicken? Die zehn Meter lange Echse im nächsten Käfig erkannte Svetz zweifellos wieder. Sie spie ihm orange-weißes Feuer entgegen und schlug wütend mit den winzigen Fledermausflügeln, als die Flammen wirkungslos am Glas des Käfigs abprallten. Wenn sie jemals hier herauskam… Aber deswegen waren die Käfige luftdicht. Die Tiere aus der Erdenvorzeit mußten vor der Luft der Erdgegenwart geschützt werden. Svetz entsann sich des kobaltblauen Himmels der Erdenvorzeit und war wieder beruhigt. An diesem Nachmittag war der Himmel im Zenith strahlend türkisfarben, während er in Richtung zum Horizont erst pastellgrün, dann gelb und schließlich satt gelbbraun wurde. Svetz sah es und war beruhigt. Wenn der chinesische Feuerspeier jemals herauskam, würde er zu sehr damit beschäftigt sein, nach reinerer Luft zu schnappen, als daß er Svetz angreifen würde. »Was können wir für ihn besorgen? Ich glaube, er ist dieser Tiere überdrüssig. Svetz, wie wär’s mit einer Giraffe?« »Einer was?«
»Oder mit einem Hund, oder einem Satyr… Es muß etwas Ungewöhnliches sein«, murmelte Ra Chen. »Ein Teddybär?« Seine Angst vor Tieren ließ Svetz vorsichtig äußern: »Ich frage mich, ob Sie nicht doch auf dem falschen Weg sind, Sir.« »Ich? Wieso?« »Der Generalsekretär hat genug Tiere für ein Regiment von tausend Leuten. Und was noch schlimmer ist, Sie stehen in Konkurrenz mit der Raumforschung, wenn Sie komische Tiere anbringen. Die können das nämlich auch.« Ra Chen kratzte sich hinter dem Ohr. »Daran habe ich noch gar nicht gedacht. Sie haben recht. Aber irgend etwas müssen wir tun.« »Mit einer Zeitmaschine kann man doch vieles unternehmen.«
Sie hätten eine Beförderungsplattform zurück zur Zentrale nehmen können. Ra Chen zog es vor, zu gehen. So konnte er besser überlegen, sagte er. Mit gebeugtem Kopf und blinden Augen schritt Svetz neben seinem Chef dahin. Wenn er bei ähnlichen Gelegenheiten der Inspiration bedurft hatte, war sie ihm meistens auch zuteil geworden. Aber als sie den roten Sandsteinkubus der Zentrale erreicht hatten, hatte der Geistesblitz noch nicht eingeschlagen. Eine große Hand packte seinen Oberarm. »Moment«, sagte Ra Chen mit leiser Stimme. »Der Generalsekretär stattet uns einen Besuch ab.« Svetz blieb fast das Herz stehen. »Woher wissen Sie das?« »Sie müßten dieses Ding dort auf dem Gehweg erkennen«, sagte Ra Chen und deutete mit der Hand darauf. »Wir brachten es letzten Monat von Los Angeles her. Dritter Juni sechsundzwanzig nach Atom, der Tag des großen
kalifornischen Erdbebens. Es ist ein Automobil mit Hubkolbenmotor. Es gehört dem Generalsekretär.« »Was sollen wir jetzt tun?« »Wir gehen hinein und führen ihn herum«, sagte Ra Chen grimmig. »Beten Sie, daß er nicht darauf besteht, zum elften August zwanzig Nach-Atomzeit nach Watts zurückgebracht zu werden.« »Und wenn er es doch tut?« »Dann schicke ich ihn zurück, oh, nicht mit Ihnen, Svetz. Mit Zeera. Sie ist schwarz und spricht amerikanisch. Das könnte helfen.« »Wird aber nicht genügen«, sagte Svetz, aber er war bereits ruhiger. Sollte Zeera das Risiko eingehen. Sie kamen am Automobil des Generalsekretärs vorbei. Neugierig betrachtete Svetz diese seltsam eckige Karosserie, das komplizierte Armaturenbrett, die blitzenden Chromteile. Irgend jemand hatte die Motorhaube entfernt, so daß die mattschimmernde Maschine zu sehen war. »Warten Sie«, sagte Svetz plötzlich. »Gefällt es ihm?« »So kommen Sie doch.« »Gefällt dem Generalsekretär dieses Automobil?« »Natürlich, Svetz. Er ist begeistert davon.« »Besorgen Sie ihm einen anderen Wagen. Am Tag vor dem großen Erdbeben muß Kalifornien voll von Autos gewesen sein.« Ra Chen blieb plötzlich stehen. »Das könnte es sein. Es würde ihn für eine Weile in Anspruch nehmen, und wir hätten Zeit…« »Zeit für was?« Ra Chen überhörte seine Frage. »Einen Rennwagen…? Nein, damit würde er sich den Hals brechen. Seine Ratgeber würden ihm einen automatischen Chauffeur hineinsetzen. Vielleicht einen Strand-Buggy?«
»Warum fragen wir ihn nicht?« »Das ist den Versuch wert«, sagte Ra Chen. Sie stiegen die Treppe hinauf.
In der Zentrale befanden sich drei Zeitmaschinen, darunter die mit der großen Zeitkapsel, und eine Menge von Armaturentafeln mit blitzenden vielfarbigen Lichtern. Sie gefielen dem Generalsekretär. Er lächelte und kicherte, während Ra Chen ihn herumführte. Seine Leibwächter mit den starren Gesichtern wichen nicht von seiner Seite; ihre Fingerspitzen trommelten auf die Kolben ihrer Gewehre. Ra Chen stellte Svetz als seinen »besten Agenten« vor. Svetz war von der hohen Ehre so überwältigt, daß er nur noch stammeln konnte. Doch der Generalsekretär schien es nicht zu bemerken. Ob er vergessen hatte, daß er den Aufstand von Watts sehen wollte, war unsicher; jedenfalls fragte er nicht danach. Als Ra Chen Autos ins Gespräch brachte, lachte der Generalsekretär übers ganze Gesicht und nickte heftig. Angesichts der überaus reichen Auswahl – fünf oder sechs Jahrzehnte mit Dutzenden von neuen Modellen in jedem Jahr – steckte der Generalsekretär den Daumen in den Mund und dachte heftig nach. Dann traf er seine Wahl.
»›Warum fragen wir ihn nicht? Warum fragen wir ihn nicht?‹« äffte Ra Chen erbost nach, was Svetz gesagt hatte. »Jetzt wissen wir es. Das erste Auto! Er möchte das erste Auto, das jemals gebaut wurde!« »Ich dachte, er würde nach irgendeiner Automarke fragen.« Svetz rieb sich heftig die Augen. »Wie in aller Welt sollen wir
denn ein bestimmtes Auto finden? Da müssen wir ja eine Menge Jahrzehnte durcharbeiten, und das vom nordamerikanischen und europäischen Kontinent!« »So schlimm ist es nicht. Wir werden die Bücher der Bibliothek von Beverly Hills benutzen. Allerdings, schlimm genug ist es, Svetz…«
Der Überfall auf die Bücherei von Beverly Hills war am dritten Juni des Jahres sechsundzwanzig Nach-Atomzeit unter Benützung der großen Zeitkapsel und unter Mitwirkung eines Dutzends mit Betäubungswaffen ausgerüsteter Wächter erfolgt. Riesige Zeitmaschinen, verrückte Männer mit Fluggürteln – jede Zeitung und jede Fernsehstation im Land hätte es an jedem anderen Tag gebracht. Aber der dritte Juni war so etwas wie ein Glückstag des Instituts für Zeitforschung. Kein Kalifornier würde die Information weitergeben, außer an andere Kalifornier. Gelangte die Sache dennoch an die Öffentlichkeit, würde sie zwischen wichtigeren Nachrichten untergehen. Die Serie der Erdstöße würde bei Sonnenuntergang beginnen… hatte bei Sonnenuntergang begonnen… Svetz und Ra Chen und Zeera Southworth verbrachten die halbe Nacht in der historischen Abteilung der Bibliothek von Beverly Hills. Ra Chen verstand genug Weißamerikanisch, um die Titel zu lesen, aber schließlich mußte Zeera das Lesen übernehmen. Zeera Southworth war groß und schlank und sehr dunkel, gekrönt von Haar wie von einer schwarzen Pulverexplosion. Bei den Männern, die in der Zentrale arbeiteten, war sie dafür bekannt, so kalt zu sein wie die Höhlen Plutos. Sie war auch die einzige, die mit dem seltsamen prähistorischen Einhorn zurecht kam, das Svetz aus England herbeigeschafft hatte.
Anmutig, mit übergeschlagenen Beinen, saß sie da und las laut zum Thema gehörige Absätze vor, während die anderen unruhig auf und ab gingen. Die Hinweise, die sie fanden, führten sie immer wieder auf Umwege… Gegen zwei Uhr morgens waren sie schweißüberströmt und wütend. »Niemand hat das Automobil erfunden!« platzte Ra Chen plötzlich heraus. »Es ergab sich einfach so.« »Zweifellos gibt es eine ganze Reihe von Möglichkeiten«, stimmte Zeera zu. »Ich nehme an, daß wir keine Dampfautomobile wollen. Das würde Cugnot und Trevithick und die späteren englischen Dampfkutschen ausscheiden lassen.« »Danken wir der Wissenschaft, daß sich überhaupt irgend etwas ausscheiden läßt.« Svetz sagte: »Sehr viel deutet auf den Franzosen Lenoir und den Wiener Marcus hin. Allerdings können auch Daimler und Benz berechtigte Ansprüche erheben, und Seldens Patent galt jahrelang…« »Verdammt, sucht einen heraus!« »Einen Moment, Sir.« Nur Zeera wirkte noch einigermaßen gelassen. »Vielleicht ist dieser Ford das Beste, was wir finden können.« »Ford? Warum? Der erfand doch nur ein System der Massenproduktion.« Zeera hielt das Buch hoch. Svetz erkannte es: Eine Biographie, die sie schon früher gelesen hatte. »Aus diesem Buch geht hervor, daß Ford für alles verantwortlich war, daß er allein die Automobilindustrie schuf.« »Aber wir wissen, daß das nicht stimmt«, protestierte Svetz. Ra Chen machte eine beruhigende Geste. »Wir wollen nichts überstürzen. Wir nehmen Fords Wagen und lassen es durch dieses Buch bestätigen. Wer soll schon etwas dagegen haben?«
»Aber wenn jemand dieselben Nachforschungen anstellt wie wir eben – oh. Sicher. Er wird dieselben Antworten finden. Keine Antworten. Ford ist genausogut wie jeder andere.« »Besser, wenn niemand der Sache näher nachgeht«, sagte Zeera befriedigt. »Zu dumm, daß wir nicht das T-Modell nehmen können; es sieht viel zu sehr wie ein Automobil aus. Dieses Ding, mit dem er anfing, sieht viel eher wie ein Kinderspielzeug aus. Hier steht, daß er es aus alten Rohren baute.« » Oh weh«, sagte Ra Chen.
Am späten Morgen des nächsten Tages gab Ra Chen die letzten Anweisungen. »Ihr könnt nicht einfach den Wagen nehmen«, sagte er zu Zeera. »Wenn man euch stört, kommt ohne ihn zurück.« »Ja, Sir. Es wäre weniger kritisch, wenn wir ein Duplikat aus einer späteren Zeit nähmen, aus dem Smithsonian Institute zum Beispiel.« »Das Automobil muß neu sein. Seien Sie vernünftig, Zeera. Wir können dem Generalsekretär keinen Gebrauchtwagen geben!« »Nein, Sir.« »Etwa um drei Uhr morgens werden wir euch absetzen. Schluckt Infrarotpillen, um eure Sicht zu adaptieren. Zeigt keinerlei sichtbares Licht. Bei künstlichem Licht würden sie wahrscheinlich verrückt vor Angst.« »Stimmt.« »Hat man Ihnen schon gezeigt, wie…« »Ich weiß, wie man den Duplikator benutzt.« Zeera klang wie immer etwas hochnäsig. »Ich weiß auch, daß er das Bild umkehrt.«
»Machen Sie sich darüber keine Gedanken. Bringen Sie das umgekehrte Duplikat, und wir werden es einfach wieder umkehren.« »Natürlich.« Der Gedanke, daß sie nicht selbst darauf gekommen war, schien sie zu verstimmen. »Was den Dialekt betrifft…?« »Ihr sprecht Schwarz- und Weißamerikanisch, aber das ist für eine spätere Zeit. Sprecht keinen Slang. Bleibt bei Schwarz, außer wenn ihr einen Weißen beeindrucken wollt. Dann sprecht Weiß, aber langsam und deutlich, und gebraucht einfache Wörter. Sie werden annehmen, daß ihr aus einem andern Land seid. Ich hoffe es jedenfalls.« Zeera nickte eifrig. Sie bückte sich, trat in die Zeitkapsel, wandte sich um und zog den Duplikator hinein. Er war nicht groß, etwa eine Tonne. Ein Ende strahlte in weißer Leuchtfarbe. Sie sahen, wie sich die Umrisse der Zeitkapsel verwischten und sie verschwand. Sie war weiter mit dem Rest der Zeitmaschine verbunden, aber in einer Richtung, in der sich kein Licht fortpflanzte. »Nun denn!« Ra Chen rieb sich die Hände. »Ich glaube nicht, daß es ihr schwerfallen wird, Henry Fords nichtfliegende Flugmaschine zu beschaffen. Schwierig kann es nur werden, wenn der Generalsekretär sieht, was er bekommen hat.« Svetz dachte an die grauen, kontrastarmen Bilder in den Geschichtsbüchern und nickte. Fords Maschine war unansehnlich, schlampig zusammengebaut und unzuverlässig. Ein paar heimliche Retuschen würden sie für die Zwecke des Generalsekretärs verläßlich genug machen. Nichts konnte sie schön machen. »Wir brauchen noch eine andere Ablenkung«, sagte Ra Chen. »Wir haben uns nur eine Atempause verschafft, um sie zu kriegen.«
Von Zeeras kleiner Zeitmaschine kam ein Geräusch wie von zerreißendem Stoff, gedämpft, monoton, beruhigend. Ein Dutzend Arbeiter machten die große Zeitkapsel fertig. Zeera würde sie zum Transport des Automobils brauchen. »Ich möchte etwas ausprobieren«, meinte Svetz. »In welcher Hinsicht?« »Der Roc.« Ra Chen grinste. »Der Strauß, meinen Sie. Geben Sie denn niemals auf? Es gab keinen Roc, Svetz.« »Wissen Sie etwas über Neotenie?« fragte Svetz unverdrossen. »Nie davon gehört. Aber passen Sie auf, Svetz, wir werden unser Budget überschreiten wegen dieser Roc-Expedition. Nicht Ihre Schuld natürlich, aber eine weitere Expedition würde uns einfach Unsummen kosten und…« »Die Zeitmaschine brauche ich nicht.« »Oh?« »Aber die Hilfe der Palast-Veterinärin wäre mir sehr nützlich. Können Sie da ein Wort für mich einlegen?«
Die Palast-Veterinärin war eine stämmige, vollbusige Frau mit muskulären Beinen und vorspringendem Kinn. Eine mit Ausrüstungsgegenständen bepackte Schwebeplattform folgte ihr zwischen den Käfigreihen. »Ich kenne jedes einzelne dieser Biester«, sagte sie zu Svetz. »Ich dachte sogar schon daran, ihnen Namen zu geben. Ein Tier sollte einen Namen haben.« »Aber sie haben ja Namen.« »Ich habe mich dazu entschlossen. GILA MONSTER, ELEPHANT, STRAUSS«, las sie vor. »Man gibt Gilgamesch einen Namen, so daß man ihn nicht mit Gilbert verwechselt. Aber niemand würde ihn mit PFERD oder Elephant
verwechseln. Es gibt nur jeweils ein Exemplar davon. Traurig.« »Es gibt Clones.« »Wissen Sie, was wir mit den Clones tun? Wir lassen sie aufwachsen bis ins Kindesalter und frieren sie dann ein. Nur ein Vertreter der Art ist jeweils am Leben.« Vor dem Käfig mit der Aufschrift STRAUSS blieb sie stehen. »Ist das hier Ihr Vogel? Ich wollte ihm ohnehin einen Besuch abstatten.« Der Vogel trat unschlüssig von einem Bein auf das andere und neigte dann den Kopf, um das Paar auf der anderen Seite der Glaswand zu betrachten. Svetz’ Rückkehr schien ihn zu überraschen. »Sieht aus wie ein eben ausgeschlüpftes Küken«, sagte sie. »Mit Ausnahme der Beine und Füße natürlich. Haben sich offenbar so entwickelt, um das Gewicht zu tragen.« Unruhig verspürte Svetz das Bedürfnis, an zwei Orten gleichzeitig zu sein. Sein Vorschlag war der Ausgangspunkt für Zeeras Projekt gewesen. Er sollte eigentlich bei ihr sein. Dennoch – der Strauß war sein erster Fehlschlag gewesen. Er fragte: »Sieht er neotenisch aus?« »Neotenisch? Zweifellos. Neotenie ist ein häufig anzutreffender Prozeß der Evolution. Wir selbst weisen neotenische Züge auf, wie Sie wissen. Die unbehaarte Haut, obwohl alle anderen Primaten behaart sind. Als unsere Vorfahren über Stock und Stein ihren Fleischrationen nachjagten, brauchten sie ein besseres Kühlsystem als die meisten Primaten. So blieb ihnen also ein Aspekt der Unreife, die haarlose Haut.« »Der Axolotl war ein klassisches Beispiel von Neotenie…« »Der was?« »Sie wissen, was ein Salamander war, nicht wahr? Im Vorreifezustand hatte er Kiemen und Flossen. Als er erwachsen wurde, bildeten sich Lungen, und er verlor seine
Kiemen und lebte zu Lande. Der Axolotl war eine lebensfähige Nebenlinie, welche die Kiemen und Flossen behielt. Eine Genveränderung. Typisch für Neotenie.« »Von beiden nie gehört, weder von Axolotls noch von Salamandern.« »Sie sind schon seit langer Zeit ausgestorben. Sie brauchten zum Leben offene Bäche und Teiche.« Svetz nickte. Offenes Wasser war tödliches Gift – überall auf der Erde. »Das Problem ist, daß wir nicht wissen, wann Ihr Vogel seine Flugfähigkeit verlor. Irgendein zufälliger neotenischer Vorgang könnte sich vor langer Zeit ereignet haben, so daß die Flügel des Vogels sich überhaupt nicht entwickelten. Vielleicht ist er dann zu seiner jetzigen Größe gewachsen, um das zu kompensieren.« »Oh. Dann waren seine Vorfahren…« »Vielleicht nicht größer als Puten. Wollen wir hineingehen und ihn genauer ansehen?«
Irisblendenartig öffnete sich ein Zugang in der Glaswand. Svetz trat in den Käfig und spürte das Zerren des Druckvorhangs, Ängstlich wich der Strauß zurück. Die Veterinärin öffnete eine Klappe ihrer Schwebeplattform, holte ein Betäubungsgewehr hervor und schoß. Der Vogel schrie zornig auf und brach dann zusammen. Die Veterinärin ging auf ihren Patienten zu – und blieb plötzlich in der Mitte des Käfigs stehen. Sie zog die Luft ein, schnupperte dann erschreckt noch einmal. »Habe ich den Geruchssinn eingebüßt?« Svetz zog zwei Gegenstände hervor, die wie Zellophantüten aussahen, und gab ihr einen davon. »Setzen Sie das auf.« »Warum?«
»Sie könnten ersticken, wenn Sie es nicht tun.« Er zog sich das zweite Ding über den eigenen Kopf und drückte dann den unteren Rand gegen seinen Hals. Der Überzug war hermetisch dicht. »Diese Luft ist tödlich«, erklärte er. »Es ist die rekonstruierte Luft der Erde der Vergangenheit. Sie können annehmen, daß sie vor fünfzehnhundert Jahren so gewesen ist. Damals gab es so wenige Menschen, daß es genausogut nicht zur Entdeckung des Feuers hätte gekommen sein können, was die Zusammensetzung der Luft anbetrifft. Deswegen riechen Sie auch nur den Strauß. Keine Verbrennungsgase.« »Sie brauchen kein Schwefeldioxyd, um am Leben zu bleiben. Aber sie brauchen Kohlendioxyd. Eine bestimmte Konzentration von Kohlendioxyd in ihrem Blut aktiviert den Atemreflex.« Jetzt hatte auch sie ihren Filterhelm befestigt. »Ich nehme an, die Konzentration hier ist zu niedrig.« »Richtig. Sie würden vergessen zu atmen. Sie sind Luft gewöhnt, die vier Prozent Kohlendioxyd enthält. Hier hat sie kaum ein Zehntel davon.« »Der Vogel kann dieses Zeug atmen. Er muß sogar atmen, sonst stirbt er. An das, was wir in den letzten fünfzehnhundert Jahren in die Luft geblasen haben, konnten wir uns auch fünfzehnhundert Jahre lang gewöhnen. Der Strauß aus der Vergangenheit hat sich nicht daran gewöhnt.« »Ich werde mir das merken«, sagte sie kurz, so daß Svetz sich fragte, ob er jemandem eine Vorlesung gehalten hatte, der mehr wußte als er. Sie kniete neben dem bewußtlosen Strauß nieder, und die Plattform senkte sich, so daß sie in bequemer Reichweite blieb. Svetz sah ihr zu, wie sie sich an dem Strauß zu schaffen machte, Gewebsproben entnahm und die Reaktion von
Blutdruck und Herzschlag auf kleine Dosen von Hormonen und Drogen untersuchte. Er hatte eine allgemeine Vorstellung von dem, was sie tat. Es gab Techniken, die es erlaubten, die jüngsten Mutationen im genetischen Code eines Tieres rückgängig zu machen. Man bekam nicht immer, was man erwartete. Dennoch – einige Käfige weiter gab es einen homo habilis, der dem Kreis der Berater angehört hatte, bis er den Generalsekretär einen tyrannischen Kindskopf nannte. Während sie Merkmale neotenischer Entwicklung analysierte, würde sie auch Vermutungen darüber anstellen, wie das Ergebnis aussähe, wenn solche Merkmale nicht vorhanden wären. Dann war da noch das Phänomen des Metabolismus. Wenn Svetz richtig vermutete, würde die Körpermasse des Vogels sich rasch vergrößern. Er mußte intravenös ernährt, die Menge der Zufuhr gesteigert werden. Eine allgemeine Vorstellung – aber die Einzelheiten ihrer Tätigkeit waren mysteriös und auch uninteressant. Svetz merkte plötzlich, wie er prüfend ihren Filterhelm betrachtete. Voll aufgeblasen war er fast unsichtbar geworden. Durch Lichtbrechung hob sich sein goldener Rand vom gelbbraunen Himmel ab. Wollten die Raum-Leute wirklich das Institut für Zeitforschung übernehmen? Dann untermauerte dieser goldene Schimmer ihren Anspruch. Es war eine halbdurchlässige Membrane. Sie konnte Gase in beiden Richtungen derart filtern, daß eine kaum atembare Atmosphäre verträglich wurde. Das Ding stammte aus einem Lager der Raumforschung. Auch noch andere IRF-Ausrüstung war von der Raumindustrie gekommen. Flugstöcke. Betäubungsnadelgewehre. Der Antigravitationsapparat für geringe Massen in der neuen Zeitkapsel.
Aber ihr Hauptargument war etwas subtiler. Einst wimmelte es im Ozean von Leben, dachte Svetz. Jetzt ist der Kontinent so tot wie der Mond: Nur noch Städte unter Plastikblasen. Einst war dieser ganze Kontinent nichts als Wald und belebte Wüste und frisches Wasser. Wir fällten die Bäume und erschossen die Tiere und vergifteten die Flüsse und bewässerten die Wüsten, so daß sogar das dort ansässige Leben starb, und jetzt ist nichts übrig außer der Nährhefe und uns. So wenig wissen wir noch von der Vergangenheit, daß wir Tatsache nicht mehr von Legende unterscheiden können. In den letzten fünfzehnhundert Jahren haben wir die meisten Lebensformen auf der Erde vernichtet und die Zusammensetzung der Luft so sehr verändert, daß wir Angst davor haben müßten, sie wieder auf ihren Ursprungszustand zurückzuführen. Ich fürchte mich vor den unbekannten Tieren der Vergangenheit. Ich kann die Luft nicht atmen. Ich kann die eßbaren Pflanzen nicht erkennen. Ich würde Tiere nicht töten, um Nahrung zu haben. Ich weiß nicht, welches davon mich töten würde. Die Vergangenheit der Erde ist mir so fremd wie ein anderer Planet. Die Palast-Veterinärin war dabei, dem Strauß intravenöse, an verschiedenfarbige Schläuche angeschlossene Kanülen einzusetzen. Svetz’ Taschentelefon läutete. Einen wilden Moment lang dachte Svetz daran, nicht zu antworten. Aber seine guten Manieren behielten die Oberhand, Svetz öffnete das Telefon. »Wir haben Probleme«, sagte Ra Chens Bild. »Zeeras Kapsel ist auf dem Rückweg. Gleich nachdem sie um die große Zeitkapsel bat, muß sie den Rückkehrhebel gezogen haben.«
»Sie fuhr los, bevor die große Kapsel dort ankam?« »Ja«, sagte Ra Chen. »Was auch immer geschah, es muß sehr schnell gegangen sein. Da sie um die große Kapsel bat, muß sie das Automobil gehabt haben. Einen Augenblick später brach sie die Mission ab. Svetz, ich bin beunruhigt.« »Ich möchte jetzt nicht gern hier weg, Sir.« Svetz wandte sich zu dem Strauß um. In diesem Augenblick fielen sämtliche Federn des Vogels aus, und er lag nackt und plump da. Das gab den Ausschlag. »Ich kann jetzt nicht weg, Sir. In wenigen Minuten werden wir einen ausgewachsenen Roc haben.« »Was? Gut! Aber wie?« »Der Strauß war eine neotenische Seitenlinie des Rocs. Wir haben ihn rückentwickelt.« »Gut! Bleiben Sie am Ball, Svetz. Wir werden hier schon fertig.« Ra Chen schaltete ab. Die Palast-Veterinärin sagte: »Sie sollten keine Versprechungen machen, die Sie nicht halten können.« Svetz war, als stünde sein Herz still. »Schwierigkeiten?« »Nein. Bis jetzt läuft alles wunderbar.« »All seine Federn sind ausgefallen. Ist das gut?« »Machen Sie sich deswegen keine Gedanken. Sehen Sie selbst: Hier ist schon weicher Flaum. Der Strauß entwickelt sich zum Küken zurück«, sagte sie fröhlich. »Zu einem Küken, wie seine Vorfahren sie hatten. Wenn die wirklich nicht größer als Puten waren, bevor sie die Flugfähigkeit verloren, wird er sogar noch kleiner als ein Huhn.« »Und was passiert dann?« »Er ertrinkt in seinem eigenen Fett.« »Wir hätten einen Clone nehmen sollen.« »Zu spät. Sehen Sie nur, sehen Sie die Beine. Sie sind nicht annähernd so überentwickelt.«
Der Vogel war ein großes Knäuel blaßgelber Daunen. Sein Körper war geschrumpft, seine Beine aber noch weit mehr. Aufrecht stehend wäre er nicht viel größer als einen Meter zwanzig gewesen. Die überschüssige Masse hatte sich in Fett verwandelt, so daß der Strauß jetzt fast rund war; er sah aus wie ein aufgeblasenes, auf einem Haufen Federn liegendes Spielzeugtier. »Nun sieht er wirklich wie ein Küken aus«, sagte Svetz. »So ist es, Svetz. Tatsächlich ist er ja eins. Ein großes Küken. Das erwachsene Tier wird kolossal sein.« Die PalastVeterinärin sprang auf. »Svetz, wir müssen uns beeilen. Gibt es eine Hefeleitung in diesem Käfig?« »Sicher. Warum?« »Er wird verhungern, je größer er wird, es sei denn… Zeigen Sie sie mir, Svetz.« Wie alle Lebewesen ernährten sich auch die Tiere des Zoos von Hefe, die für jede Art mit speziellen Zusätzen versehen war. Durch Gehirninduktion konnte man in jedem Tier die Vorstellung erzeugen, daß es fraß, was es zu fressen gewohnt war, bevor die Zeitsonde es in die Gegenwart holte. Svetz zeigte ihr die Hefezufuhr. Sie schloß das Rohr an einen der Apparate auf ihrer Schwebeplattform an, stellte Regler ein, schaltete eine weitere Maschine zu… Der Vogel wuchs zusehends. Die Fettschicht schrumpfte, zog sich zusammen. Seine Beine und Flügel streckten sich. Der Schnabel wurde scharf und nahm eine gefährlich aussehende Hakenform an. Svetz fühlte, wie die Angst in ihm hochstieg. Unter seinen Daunenfedern war der Vogel wenig mehr als straffe Haut über langen Knochen. Die Hefe ergoß sich nun direkt in zwei Tanks auf der Schwebeplattform und von dort in die farbigen Schläuche.
Irgendwie wandelte die Palast-Veterinärin die Hefe direkt in Zuckerplasma um. »Jetzt funktioniert es«, sagte sie. »Ich war nicht sicher, ob es gehen würde. Jetzt wird ihm nichts mehr fehlen, vorausgesetzt, daß der Wachstumszyklus sich rechtzeitig verlangsamt.« Sie blickte zu ihm auf und lächelte. »Sie hatten wirklich recht. Der Strauß war ein neotenischer Roc.« In diesem Augenblick veränderte sich das Licht. Svetz wußte nicht recht, warum, aber er sah hoch – und vom Horizont bis zum Zenith erstrahlte der Himmel in lichtem Blau. »Was ist das?« Die Frau neben ihm war eher erstaunt als erschreckt. »In meinem ganzen Leben habe ich noch keine solche Farbe gesehen!« »Ich schon.« »Was ist das?« »Machen Sie sich keine Gedanken. Aber behalten Sie Ihren Filterhelm auf, besonders wenn Sie den Käfig verlassen müssen. Werden Sie das nicht vergessen?« »Natürlich nicht.« Ihre Augen verengten sich. »Sie wissen etwas über dieses Phänomen, Svetz. Es hat etwas mit der Zeit zu tun, nicht wahr?« »Ich nehme es an.« Svetz schaltete den Schlüsselstrahl ein, um weiteren Fragen auszuweichen. Die Glaswand öffnete sich, und er trat hinaus. Noch einmal wandte er sich um und blickte hinein. Die Palast-Veterinärin sah verängstigt aus. Sie mußte zuviel ahnen, als daß sie noch gelassen bleiben konnte. Aber sie machte sich wieder an ihrem Patienten zu schaffen. Der Strauß lag auf der Seite, die Augen nunmehr geöffnet. Er war jetzt von gewaltiger Größe, aber immer noch mager und knochig, trotz der Menge der intravenösen Zufuhr. Die Farbe
seiner Federn änderte sich ständig. Der ausgewachsene Vogel würde schwarz und grün sein. Er war halb so groß wie der Elephant nebenan… dessen Miene ruhiger Weisheit einem Ausdruck der Unruhe wich, während er zuschaute. Der Vogel sah gar nicht wie ein Strauß aus.
Der Himmel war lichtblau. Es war das Blau einer längst vergangenen Zeit, unterbrochen nur vom sauberen, leuchtenden Weiß federzarter Wolken. Das Blau reichte vom Horizont zum Zenith; die Atmosphäre war ohne eine Spur der Stoffe, die eigentlich in ihr erhalten sein mußten. Überall lagen bewußtlose Männer und Frauen. Svetz wagte nicht stehenzubleiben und zu helfen. Was er zu tun hatte, war wichtiger. Als er sich dem Zentrum näherte, mäßigte er seine Eile. Er spürte einen Schmerz, als stecke eine Messerklinge zwischen seinen nur halbwegs verheilten Rippen. IRF-Leute waren auf den Gehweg um das Zentrum gestürzt, nachdem sie vermutlich nur mit Mühe das Freie erreicht hatten. Und da stand das Automobil des Generalsekretärs. Hinter ihm, flach auf dem Rücken, lag Ra Chen. Was wollte er dort? Als er näherkam, hörte Svetz das Surren des Motors. Das also war es. Ra Chen mußte gehofft haben, daß die Auspuffgase ihn wiederbeleben würden. Verdammt clever; und es hätte funktionieren müssen. Warum aber hatte es nicht funktioniert? Svetz warf einen Blick auf die metallisch schimmernden Eingeweide des Motors. Der Motor hatte sich verändert… Irgendwie. Was trieb ihn jetzt an? Dampf? Elektrizität? Ein Schwungrad? Das Auspuffrohr jedenfalls, das Ra Chen gesucht hatte, war nicht mehr da.
Ra Chen lebte; sein Puls klopfte wie rasend. Aber er atmete nicht. Oder… doch. Es waren vielleicht zwei Atemzüge pro Minute, wenn sich genug Kohlendioxyd angesammelt hatte, um den Reflex zu aktivieren. Svetz ging weiter und betrat das Zentrum. Mehr als ein Dutzend Männer und Frauen waren über beleuchteten Kontrolltafeln zusammengesunken. Drei weitere Gestalten lagen in einem Durchgang: Der Generalsekretär lächelte dümmlich zur Decke hinauf; seine Wächter sahen schläfrig-bekümmert aus, die Hände noch um ihre Pistolen gekrampft. Die kleine Zeitkapsel war noch nicht zurückgekehrt. Svetz sah auf die leere Stelle in der Zeitmaschine und wurde von Schrecken gepackt. Was konnte er tun, wenn Zeera ihm nicht sagte, was falsch gelaufen war? Vom Jahr fünfzig voratomischer Zeit bis zur Gegenwart war es eine Dreißig-Minuten-Reise. Ra Chens Anruf im Zoo mußte vor weniger als dreißig Minuten gekommen sein. Seltsam, wie ein Notstand die Zeit komprimieren konnte. Außer wenn das ein Nebeneffekt des Paradoxons war. Es sei denn, das Paradoxon hätte Zeeras Zeitkapsel abgesprengt und sie in die Vergangenheit verschlagen oder in ein anderes Weltsystem oder… Ein zeitliches Paradoxon hatte es noch nie gegeben. Auch Zahlen konnten nicht helfen. Die Mathematik der Zeitversetzung steckte voller Rätsel. Im Jahr zuvor hatte jemand versucht, eine topologische Analyse des Wegs einer Zeitkapsel durchzuführen. Er hatte nicht nur bewiesen, daß Zeitversetzung unmöglich war, sondern auch, daß sich eine größere Geschwindigkeit als die des Lichts nicht erreichen ließ. In Anbetracht der Möglichkeit, daß deren Superschiffe nicht mehr funktionieren könnten, hatte
Ra Chen der Raumforschung diese Information zukommen zu lassen. Was tun? Jedermann einen Filterhelm aufsetzen? Großartig, aber die Helme lagerten nicht im Zentrum; er würde durch die ganze Stadt gehen müssen; durfte er das Zentrum verlassen? Svetz zwang sich, sich niederzusetzen.
Minuten später schreckte ihn plötzlich das Geräusch verdrängter Luft auf. Die kleine Zeitkapsel war wieder da. Zeera kam gerade durch die kreisförmige Luke heraus. »Zurück! Zurück in die Kapsel!« rief Svetz. »Schnell!« »Sie haben mir nichts zu befehlen, Svetz.« Zeera schob sich an ihm vorbei und sah sich um. »Das Auto ist nicht mehr da. Wo ist Ra Chen?« Zeeras Gesicht war bleich vor Schock und Erschöpfung, ihre Stimme tonlos heiser. Svetz packte sie am Arm. »Zeera, wir haben…« Sie riß sich los. »Wir müssen etwas tun. Der Wagen ist weg. Haben Sie mich nicht gehört?« »Haben Sie auf mich gehört? Gehen Sie in die Zeitkapsel zurück!« »Aber wir müssen entscheiden, was nun zu tun ist. Wieso kann ich nicht riechen?« Die Luft, die sie einatmete, war geruchlos, leer, tot. Ratlos sah sie sich um und bemerkte zum ersten Male, wie seltsam alles war. Dann verdrehten sich ihre Augen, und Svetz trat ihr einen Schritt entgegen, um sie aufzufangen.
In der Zeitkapsel betrachtete er ihr Gesicht. Jetzt, da sie schlief, war es ganz anders als wenn sie wach war. Weicher, verwundbarer. Und hübscher. Zeera hatte ein wirklich hübsches Gesicht.
»Sie sollten öfter mal ausspannen«, sagte er. Wo der Tritt des Straußes ihn getroffen hatte, taten seine Rippen weh. Der Schmerz schien zu pochen wie der Schlag seines Herzens. Zeera öffnete die Augen. Sie fragte: »Wieso sind wir hier?« »Die Zeitkapsel hat ihr eigenes Luftsystem«, sagte Svetz. »Die Außenluft können Sie nicht atmen.« »Warum nicht?« »Das möchte ich von Ihnen wissen.« Ihre Augen weiteten sich. »Das Automobil! Es ist fort!« »Warum?« »Ich weiß nicht. Svetz, ich schwöre, daß ich alles richtig gemacht habe. Aber als ich den Duplikator einschaltete, verschwand der Wagen!« »Das… klingt wirklich nicht gut.« Svetz bemühte sich, seiner Stimme einen gleichmütigen Ton zu geben. »Was haben Sie…« »Ich tat alles genauso, wie man es mich gelehrt hat! Ich machte das mit Leuchtfarbe bestrichene Ende am Rahmen fest, stellte unter Berücksichtigung des Schätzungsspielraums die Masse ein, las die Skalen ab…« »Irgendwie müssen Sie das falsche Ende festgemacht haben. Augenblick mal. Benutzten Sie das Infrarotlicht?« »Natürlich. Es war stockfinstere Nacht.« »Und Sie hatten die Pillen genommen, um infrarot sehen zu können.« »Denken Sie immer so schwerfällig, Svetz?« Dann wurde ihr Gesicht plötzlich fahl, und Svetz wußte, daß sie verstanden hatte. »Ich sah infrarot. Natürlich. Ich habe das falsche Ende erwischt.« »Das Duplikatorende. Kein Zweifel. Das mußte den leeren Raum duplizieren, wo ein Automobil stand. Sie mußten also an beiden Enden Leere bekommen.«
Die Arme unter den Knien verschränkt, lehnte sich Zeera gegen die gekrümmte Wand der Zeitkapsel. Dann sagte sie: »Henry Ford verkaufte dieses Auto für zweihundert Dollar, heißt es in dem Buch. Später hatte er Finanzierungsprobleme. Konnte das Geld eine so entscheidende Rolle spielen?« »Muß wohl so gewesen sein. Wieviel sind zweihundert Dollar? Dann stellte jemand anderer Automobile in Massenproduktion her. Und er muß Dampf oder Elektrizität gehabt haben.« »Dampf vermutlich. Die Dampfkraft kam zuerst.« »Sagen Sie mir eines, Svetz. Wenn die Luft sich verändert hat, warum veränderten wir uns nicht mit ihr? Wir haben uns so entwickelt, daß wir Luft mit einem gewissen Prozentsatz Kohlenmonoxyd und Schwefeldioxyd und Stickoxyd atmen können. Hätte diese Entwicklung nicht auch rückgängig gemacht werden müssen? Und überhaupt, woher haben wir diese Erinnerung?« »Auf dem Gebiet der Zeitversetzung gibt es vieles, was wir nicht wissen. Wie soll Logik stimmen, wenn Paradoxa es genauso tun?« »Heißt das, daß Sie es nicht wissen?« »Ja.« »Ich nörgle nicht, Svetz. Ich weiß es auch nicht.« Schweigen. »Die Sache ist klar«, sagte Zeera dann. »Ich werde zurückfahren müssen, um mich darauf aufmerksam zu machen, wie der Duplikator richtig anzuschließen ist.« »Das wird nicht gehen. Es ist nicht gegangen. Hätten Sie das richtige Duplikatorende erwischt, wären wir jetzt nicht in dieser fatalen Lage. Also haben Sie es nicht getan.« Irritiert sah sie ihn an. »Zu logisch. Nun, was dann?« »Vielleicht können wir Sie umgehen.«
Svetz zögerte ein wenig, bevor er seinen Plan entwickelte. »Versuchen Sie es so. Schicken Sie mich zurück bis zu einer Stunde, bevor die frühere Zeera ankommt. Das Automobil wird dann noch nicht verschwunden sein. Ich dupliziere es, dupliziere das Duplikat, bringe das umgewandelte Duplikat und das Originalauto in der großen Zeitkapsel an Ihnen vorbei. Dann können Sie das Duplikat zerstören. Sobald Sie fort sind, komme ich wieder, stelle den Originalwagen hin und komme mit dem umgewandelten Duplikat hierher zurück. Wie finden Sie das?« »Klingt großartig. Würden Sie es bitte noch einmal der Reihe nach erklären.« »Also: Ich gehe zurück zu…« Sie lachte ihn an. »Macht nichts. Aber ich muß es selber tun, Svetz. Sie würden sich nicht zurecht finden. Sie könnten nicht nach der Richtung fragen und auch die Straßenschilder nicht lesen. Sie werden hier bleiben müssen bei den Maschinen.« Widerstrebend willigte Svetz ein. Als sie der Zeitkapsel entstiegen, hörten sie einen entsetzlichen Schrei. Einen Moment lang erstarrten sie. Dann rannte Svetz um die sich dehnende Flanke der Kapsel. Zeera folgte ihm. Sie trug den Filterhelm, den sie bei einem Versuch, Fords Automobil zu duplizieren, getragen hatte. Eine Wand des Zentrums bestand aus Glas. Sie umrahmte einen Bergrücken, der sich vom Palast herüberzog, und die doppelte Reihe von Käfigen, die den Zoo bildeten. Und einen dieser Käfige sahen sie nun zerbrechen; er sprang in Stücke wie… … wie eine Eierschale. Und wie ein ausgeschlüpftes Küken stand der Roc auf den Trümmern seines Käfigs. Von neuem ertönte der Schrei. »Was ist das?« flüsterte Zeera.
»Es war ein Strauß. Jetzt möchte ich ihm keinen Namen mehr geben.« Der Vogel schien sich wie in Zeitlupe zu bewegen. Er war so riesig! Grün und schwarz, schön und häßlich, groß wie die Ewigkeit, und ein Büschel goldener Federn stand auf seiner Stirn. Sein Hakenschnabel fuhr auf einen Käfig nieder. Die Wand des Käfigs zerriß wie Papier. Zeera rüttelte ihn am Arm. »Kommen Sie jetzt! Wenn er aus dem Zoo ausgebrochen ist, brauchen wir uns keine Gedanken zu machen. Er wird ersticken, wenn wir das Auto wieder dorthin geschafft haben, wo es hingehört.« »Oh. Richtig«, sagte Svetz. Sie machten sich daran, die große Kapsel ein paar weitere Stunden in die Zeit zurückzuversetzen. Als Svetz wieder zu dem Vogel hinüberschaute, kam dieser gerade ins Freie. Seine Flügel flatterten wie Segel, schwarze Schatten auf die Häuser werfend wie Wolken. Und als der Roc voll ins Blickfeld kam, sah Svetz, daß sich etwas in seinen riesigen Klauen wand. Svetz erkannte, was es war… Und er begriff, wie kolossal groß der Roc eigentlich war. »Er hat einen Elephanten«, sagte er. Eine unerklärliche Beklemmung bedrückte sein Herz; unerklärlich, weil Svetz Tiere haßte. »Was? Los jetzt, Svetz!« »Wie? Ach ja.« Er half Zeera in die kleine Zeitkapsel und schickte sie auf den Weg. Obwohl die ganze Mannschaft schlief, schien die Maschinerie des Zentrums einwandfrei zu arbeiten. Wenn irgend etwas nicht funktionierte, würde Svetz die Arbeit von sechs Männern zu tun haben. Deshalb eilte er, argwöhnisch nach Unregelmäßigkeiten Ausschau haltend, zwischen den Schalttafeln hin und her und stellte kleinere Abweichungen richtig… Und gelegentlich sah er zum Bildfenster hinaus.
Der Roc hatte eine unglaubliche Höhe erreicht. Ein gewöhnlicher Vogel wäre längst unsichtbar gewesen. Aber der Roc war nur zu sichtbar, wie er am blauen Himmel schwebte und dabei einen Elephanten tötete und auffraß. Die Zeit verging. Zeera hatte noch zwanzig Minuten. Zeit, um zwei Duplikate des Automobils herzustellen. Um sie in die große Zeitkapsel zu laden. Um dann Svetz das Signal zu geben… Das Signal kam. Sie hatte die Wagen; sie wollte weiterbewegt werden; Svetz mußte sicher gehen und bewegte sie sechs Stunden weiter, fast bis zum Morgengrauen. Zwar konnte ein Frühaufsteher sie überraschen, aber zumindest würde Ford sein Automobil haben. Der Roc hatte sein blutiges Mahl beendet. Der Elephant war samt Haut und Knochen verschwunden. Und – Svetz sah lange hin, bis er sicher war – der Vogel kam herunter, senkte sich auf ausgestreckten Flügeln vom Himmel herab. Svetz sah, wie er größer und größer wurde, bis er das Universum zu verdunkeln schien. Wie eine Tornadowolke ließ er sich in Finsternis und Wind über dem Zentrum nieder. Wie ein doppelter Tornadowirbel setzten zwei gekrümmte Fänge auf dem Gehweg auf. Der Vogel beugte sich herab. Ein grausames Gesicht sah Svetz durch das Bildfenster an. Es füllte fast das ganze Fenster. Er kennt mich, dachte Svetz. Sogar ein Vogelhirn muß in einem Kopf von solcher Größe Intelligenz besitzen. Der riesige Kopf hob sich nachdenklich, entschwand über dem Dach seinen Blicken. Ich hatte den Strauß. Ich hätte mich damit zufriedengeben sollen, dachte Svetz. Ein Spatz in der Hand ist besser als eine Taube auf dem Dach. Das alte Sprichwort, es galt auch hier.
Um einen gekrümmten Schnabel herum zerbrach das Dach. Betontrümmer fielen krachend gegen Wände und Boden. Ein gelbes, rollendes Auge fand Svetz, aber der Schnabel konnte ihn nicht erreichen. Nicht durch dieses Loch. Der Kopf zog sich durch das Dach zurück. Drei rote Lichter. Svetz sprang zu dem Kontrollpult und begann an Knöpfen zu drehen. Zwei Lichter wurden grün, dann das dritte. Er hatte nicht daran gedacht, davonzulaufen. Der Vogel würde ihn finden, wo immer er sich auch versteckte. Da! Zeera hatte den Rückkehrhebel umgelegt. Von nun an würde alles automatisch gehen. Krach! Svetz fuhr herum und stand mit dem Rücken an der großen Zeitmaschine. Ein gelbes Auge, so groß wie er selbst, fixierte ihn. Das Dach war zur Hälfte eingedrückt, doch konnte ihn der Schnabel des Vogels immer noch nicht erreichen. Dann kam eine große Kralle durch das zerschmetterte Glas und suchte nach ihm. Das Licht veränderte sich. Svetz sackte zusammen. Durch die grünen und schwarzen Federn konnte er sehen, daß der Himmel sich zu einem blassen Gelbgrün verfärbt hatte, in dem gelbbraune Wolkenstreifen standen. Ungläubig schnaubte der Vogel. Eine besondere Aufforderung war nicht nötig. Sein Kopf zog sich durch die Decke hoch; um Bewegungsspielraum zu haben, trat er etwas vom Zentrum zurück; seine großen Flügel kamen herunter wie Gewitterwolken. Svetz ging hinaus, um ihn hochsteigen zu sehen. Er mußte sich an einer der Ziersäulen festhalten. Der Luftzug der Flügel war wie ein Hurrikan. Einmal sah der Vogel herunter, erkannte ihn, und schaute wieder weg.
Aufsteigend und Kreise beschreibend, war er noch gut zu sehen, als Zeera zu ihm trat. Gleich war auch Ra Chen bei ihnen, und seine Blicke folgten den ihren. Dann starrte die halbe Mannschaft des Zentrums ehrfürchtig staunend nach oben… während der Vogel zu einer kleinen, schwarzen Wolke wurde. Schwarz auf lichtgrün, immer höher steigend. Ein Atemzug hatte genügt. Das Gehirn des Vogels war ebenso enorm wie alles andere. Er hatte sofort begonnen aufzusteigen, ohne sich noch um seinen Nachtisch zu kümmern. Er stieg und stieg, hinaus in den Weltraum. Er brauchte saubere Luft. Der Generalsekretär stand neben Svetz und blickte verwundert lächelnd und glücklich kichernd nach oben. Stieg der Roc immer noch höher? Nein, der schwarze Schatten wurde größer, senkte sich herab. Die langsame Bewegung der Flügel hatte aufgehört. Wie sollte ein Roc wissen, daß es saubere Luft nirgends mehr gab?
Originaltitel: BIRD IN THE HAND Copyright © 1970 by Mercury Press, Inc. Aus FANTASY & SCIENCE FICTON Übersetzt von Rudolf Mühlstrasser
Gerald Jonas GERISSENE BANDE
AN: Arthur Stock, Geschäftsführender Herausgeber, Ideas illustrated, New York City, 14632008447 ABSENDER: Raymond Senter, c/o Hudson Junction Rotel, Hudson Junction, N. Y. 28997601910 INHALT: Rohfassung einer Einleitung für »Die ShakerBewegung.« Bilder, Bänder folgen. JERUSALEM WEST, N. Y. Donnerstag, 28. Juni 1995 – Unter dem schrillen Heulen der Auspuffe von Turbowagen und den verstärkten Rhythmen der »Lautesten Jag-Rock-Band der Welt« schreitet das Werk der Erlösung in diesem grünen und lieblichen Dörfchen im Hudson-Tal voran. Wo vor weniger als einem Dezennium noch wurmige Äpfel unbeachtet in verlassenen Obstgärten faulten, steht nunmehr eine neue religiöse Sekte in voller Blüte. In ihrer phantastischen vierjährigen Geschichte haben die sogenannten New Shaker – oder die Vereinigte Gesellschaft der Gläubigen, wie ihr offizieller Titel lautet – die heißeste Kontroverse der Christenheit entfesselt, seit Martin Luther am 31. Oktober 1517 seine fünfundneunzig Thesen an die Tür der Allerheiligen Kirche in Wittenberg nagelte. Den New Shakers, die sich bereits einer Mitgliedschaft von mehr als Hunderttausend rühmen, gehen pro Woche nicht weniger als neunhundert Aufnahmegesuche zu. Obwohl eine Handvoll dieser »Novizen«, in den frühen und mittleren Zwanzigern sind – und letzten Monat wurde ein Mann aus New Jersey im reifen Alter von zweiunddreißig in die Shaker-Familie in
Wildwood aufgenommen –, hat der durchschnittliche »New Shaker« seinen achtzehnten Geburtstag noch nicht gefeiert. Richard F, eines der Mitglieder der »Ersten Oktave«, die mit »unbefleckten« Shaker-Nachnamen bedacht wurden, erklärt es so: »Wir haben wirklich nichts gegen Feebies. Sie haben etwas von der göttlichen Gabe in sich wie jeder andere auch. Aber es ist schwierig für sie, uns zu verstehen. Jag-Rock tut ihren Ohren weh, und sie kommen nicht auf gleiche Wellenlänge mit dem »Vierfachen Nein«, so sehr sie es auch versuchen. Also sagen wir zu ihnen: »Vergiß es, Star. Wir sind eben verschieden gemacht. Aber wir erreichen alle ein Ziel, stimmt’s? Wir sehen uns am anderen Ende.« Es kann kaum verwundern, daß so viele »Feebies« – Menschen über dreißig – Probleme mit den Grundgeboten der »Gläubigen« haben: »Kein Haß, kein Krieg, kein Geld, kein Sex.« Offensichtlich ist in dieser letzten Dekade des zwanzigsten Jahrhunderts Heiligkeit die einzige Lebensform für die Jugend. Das »Roundhouse« in Jerusalem West ist, in gewissem Sinne, der Vatikan dieser Bewegung, die im ganzen Land Fuß gefaßt hat. Aber in vieler Hinsicht ist es typisch für die Gemeinden der »New Shakers«, die überall wie Pilze aus dem Boden schießen. Die letzte Zählung ergab einundsechzig separate Stämme, von denen einige nicht weniger als fünfzehn Familien mit je einhundertachtundzwanzig Mitgliedern enthielten. Jede Shaker-Familie bewohnt eine pliodesische Kuppel aus Armee-Überschußbeständen, die etwa dreitausend Quadratmeter nackter, aber vinylgehärteter Erde überspannt und zugleich als Schlafraum, Wohnraum, Werkstatt und heiliger Tabernakel dient. Fünfzehn Meter von dem Hauptgebäude entfernt befindet sich eine wesentlich kleinere Kuppel, die man als Nebengebäude bezeichnen könnte, was sie aber nicht ist – die New Shakers selbst nennen sie die
Sündenstadt. Gemäß ihrer allgemeinen Einstellung zu den Körperfunktionen ist die Sündenstadt der einzige Ort im Bereich von Jerusalem West, der Besuchern unzugänglich ist. So schwer dies auch den meisten Nordamerikanern begreiflich sein mag, der typische Shaker-Novize von heute stammt aus dem Milieu des wohlangesehenen, im Überfluß lebenden Bürgertums. Sie kommen nicht aus den Gettos und scheinen auch nicht unter Verhaltensstörungen zu leiden. Ihre Vorschulakten beweisen, daß diese jungen Leute sich oft bei polymorphen Spielen auszeichneten und völlig normal auf das gängige Spektrum von chemischen und elektrischen Stimmungslösern reagierten. Bis zum Alter von zehn Jahren zeichneten sich bei den Verabredungsprogrammen mit Freundinnen (die Mädchen mit Freunden) durchwegs durch besondere Aktivität aus und spielten bei der Organisation von Veranstaltungen zur multiplen Persönlichkeitsverwirklichung häufig eine führende Rolle. Später, in der Modularschule, marschierten sie bei den Unterscheidungstests stets unter den besseren fünfzig Prozent. Kurz: auf Grund des zugänglichen Zahlenmaterials hätten sie keine Schwierigkeit gehabt, am College ihrer Wahl zugelassen zu werden, oder einen Posten bei der Konsumentengemeinschaft zu erhalten, oder ein staatliches Reisestipendium zu bekommen. Aus irgendeinem Grunde jedoch wandten sie sich, an der Schwelle der Reife, von all den Vorteilen ab, für die ihre Eltern und Großeltern in der Kulturrevolution mit so viel Einsatz gekämpft hatten – und stürzten sich statt dessen in ein Leben organisierter VernunftVerweigerung. An einem typischen Sommernachmittag in Jerusalem-West, wenn die Sonne in die transparente Kuppel strahlt und das ganze Gebiet in weichen, goldenen Glanz hüllt, erinnert das Rundhaus an einen riesigen Bienenstock ohne Königin. In der chrom- und kupferblitzenden Küche surren Mixer und blubbert
der Inhalt riesiger Töpfe, während eine Schwadron weißgekleideter Speisediakone den Gemüsebrei zubereitet, der die Grundlage der Shaker-Ernährung bildet. Im schallisolierten Garagenbereich sind Werkstatt-Diakone wieder einmal dabei, einen hoffnungslos aussehenden Schrotthaufen in einen der wirtschaftlichen turbinengetriebenen »heißen Öfen« zu verwandeln, die bei Kennern in In- und Ausland bereits als »Shakerbikes« bekannt sind. Die acht Verwaltungsdiakone und ihre Assistenten besorgen in einem kleinen Raum aus Fiberglas, der einfach »das Büro« genannt wird, Angelegenheiten der Familie. Und in einem großen, mit allem Erdenklichen ausgestatteten Studio macht ein sechzehnköpfiges Orchester eine neue liturgische Aufnahme für den Abendgottesdienst – eine Aufnahme, die vielleicht einmal auf den ersten Platz der nationalen Hit-Liste landen wird, wie kürzlich das Shaker-Stück Unser Weg ist für alle breit genug. Wohin man sich auch wendet unter dieser großen Kuppel, man findet junge Leute, die vor sich hinsummen, sich rhythmisch bewegen oder plötzlich laut ein Stück eines Liedes singen und sich durchwegs nach dem Motto der New Shakers verhalten: »Arbeit ist Spiel«. Eins ihrer beliebtesten Lieder – eine charakteristische Verbindung von Old Shaker-Worten mit einem modernen Jag-Rock-Hintergrund schließt mit dieser nüchternen Zusammenfassung des Shaker-Lebensstils: Die Gabe schenkt uns Ruhe, Die Gabe macht uns frei. Ein Shaker lebt im Lichte Wo immer er auch sei. – WEITERES FOLGT –
XEROGRAMM: 28. Juni (23.15 Uhr) AN: Den Dekan des Skinner-Free-Institutes, Ronkonkoma, New Jersey 72441333965 ABSENDER: Raymond Center, c/o Hudson Junction Rotel, Hudson Junktion, N. Y. 28997601910 Freund! Mein Sohn Bruce Senter, vierzehn, schrieb sich in Deinem Institut für ein sechswöchiges Seminar in angewandter Physiologie mit Beginn am 10. Mai ein. Laut Mitteilung seiner Modularschule (NYC118A) hat er am 21. Juni seine Studien erfolgreich beendet. Mrs. Senter und ich haben seitdem keine Nachricht von ihm. In der Vergangenheit sprach er mit seinem Ratgeber über eine eventuelle Teilnahme an einem Forschungsprojekt über Intensivorgasmus. Ich wäre Dir für Informationen jeder Art über seinen Verbleib nach Abschluß des Seminars sehr dankbar. AN: Stock, Geschäftsf. Herausg. I. I. ABSENDER: Senter INHALT: Hintergrundmaterial. Interview mit Harry G (geborener Guardino), Mitglied der Ersten Oktave. Redigierte Fassung von 29. Juni. F: Vielleicht sagen Sie zunächst etwas über Ihre Position hier als einer der – nun, wie soll ich es nennen – Väter der ShakerBewegung? A: Jetzt holen Sie erst einmal tief Luft, Star. Das haut alles nicht hin. Es gibt hier keine Väter. Und auch keine Mütter oder irgend so was. Es gibt nur einen Vater und eine Mutter, und sie sind überall und nirgends, verstehen Sie? F: Was ich meinte, ist dies: Als Mitglied der Ersten Oktave haben Sie eine gewisse Verantwortung und bestimmte Verpflichtungen…
A: Wie ich schon sagte, Star, hier ist jedermann gleich. F: Ich hatte den Eindruck, daß in Ihren Regeln großes Gewicht auf Gehorsam gegenüber der Hierarchie gelegt wird. A: Ja, Ordnung muß sein, natürlich, aber es ist nichts Persönliches dabei. Wenn man mit ‘nem Computer umgehen kann, ist man bei den Büro-Diakonen. Wenn man mit Rädern umgehen kann, dann macht man sich in ‘ner Werkstatt nützlich. Was mich betrifft, ich schlag am Morgen mein Bett auf, spiel ‘n heißes Horn im Orchester und rede mit Reportern, wenn sie nach mir fragen. Deswegen bin ich noch lange nicht Papst. F: Was können Sie über die Ehren-Nomenklatur sagen? A: Was ist das? F: Die Initialen. Statt der Familiennamen. A: Ach ja. Die haben wir als ein Zeichen gekriegt. Wollen Sie wissen wofür? F: Bitte. A: Ein Zeichen, daß keiner so zu bleiben braucht, wie er geboren ist. Natürlich, Sie gehen vielleicht mit ‘nem Sechszylinder an den Start, und ich muß ‘nen Toyota fahren. Das ist eben Glück oder Pech. Aber jeder von uns braucht die Funken im Zylinder, damit er vom Fleck kommt. Und das ist die Gabe. Und wenn eben alles gut abgestimmt ist und ich richtig steure, dann laß ich Sie vielleicht einfach stehen. Stimmt’s? F: Wie steht’s mit dem Getto? A: Sogar die Schwarzen haben etwas von der Gabe. Was sie damit anfangen, ist ihre Sache. F: Es gibt in letzter Zeit eine heftige Kontroverse darüber, ob Ihre Bewegung wirklich christlich ist – in einem religiösen Sinn. Möchten Sie dazu etwas sagen? A: Sie meinen wie Jesus Christus, der Sohn Gottes? Sicher, das glauben wir. Und wir glauben an Harry G, den Sohn
Gottes und Richard F, den Sohn Gottes und – wie ist Ihr Name, Star? – Raymond Senter, den Sohn Gottes. Das ist die Gabe. Genau darum geht’s. Jesus fand die Gabe in sich. Genau wie Buddha, Mutter Anna, sogar Malcolm X – wir machen uns nicht zu viele Gedanken darüber, wer was zuerst sagte. Zuerst finden Sie die Gabe – und dann leben Sie sie. Unser Weg ist für alle breit genug. F: Warum legen Sie dann so viel Gewicht auf Ihre Glaubensgrundsätze und Ihr Glaubensbekenntnis und Ihre Kleidung? A: Hören Sie, Star, jede Maschine hat so ihre Eigenheiten. Fahren Sie mit uns, dann lernen Sie uns kennen. Bei uns bleiben das Chrom glänzend und die Zylinder sauber. Und wir mögen keine Unfälle. F: Ihre Verbote von Geld und Sex… A: Verbote ist ein Feebie-Wort. Wir sind frei von Geld und Sex. Das Vierfache Nein ist wie eine Unabhängigkeitserklärung. Schauen Sie, jeder ist wirklich frei geboren – er muß es nur wissen. Wir räumen also niemanden die Wiege aus. Wir sagen: Laß sie aufwachsen, laß sie lernen, worum es geht – die Pille, den Rauch, den Gefühlsautomaten – das ganze Drum und Dran. Dann wenn sie fünfzehn oder sechzehn sind und immer noch diese Ketten tragen wollen, okay. Wenn nicht, dann wissen sie, wo wir zu finden sind. F: Wie steht es mit denen, die unterschreiben und es sich dann anders überlegen? A: Wir haben keine Ketten – wenn Sie das meinen. F: Sie unternehmen nichts, um sie zu halten? A: Wenn man einmal wirklich die Gabe in sich gefunden hat, dann überlegt man es sich nicht mehr anders. F: Wie stehen Sie zu den Old Shakers? Die starben doch wegen Nachwuchsmangel aus? A: Alles wird geboren und stirbt und wird wiedergeboren.
F: Harry, was würde geschehen, wenn dieses mal sich die ganze Welt den Shakers anschlösse? A: Keine Sorge, Star, das werden wir nicht erleben. – WEITERES FOLGT –
XEROGRAMM: 29. Juni (22.43 Uhr) AN: Connie Fine, Direktor, Lager der Begegnung, Wentworth, Maine, 47119650018 ABSENDER: Raymond Senter, Hudson Junction Rotel, Hudson Junction, N. Y. 28997601910 Connie! Ist Bruce schon angekommen? Arlene und ich haben in der letzten Woche die Verbindung mit ihm verloren, und mir kam der Gedanke, daß er vielleicht schon vorzeitig ins Lager gefahren ist und einfach vergessen hat, uns anzurufen – er dachte an nichts anderes mehr, als daß er in dieser Saison selbständiger Führer-Ratgeber seiner eigenen T-Gruppe ist. Würdest Du mich jedenfalls so bald wie möglich unter der obigen Nummer anrufen? Du weißt, wie Mütter dazu neigen, ihren Sorge-Kreislauf zu erhitzen, bis sie ganz bestimmt wissen, daß ihr kleiner Gauner gut aufgehoben ist. Freude Dir und den Deinen Ray AN: Stock, Geschäftsf. Herausg. I.I. ABSENDER: Senter INHALT: Kurze Geschichte der Old Shakers * Gründerin – Mutter Ann Lee, geb. 29. Feb. 1736, Manchester, England * Vorläufer – Frühe puritanische »Sucher« (Quäker), französische »Propheten« (Camisards).
* Ursprung – Nach unglücklicher Ehe – vier Kinder, alle früh verstorben – beginnt Mutter Ann zu predigen, daß Begehrlichkeit die Wurzel allen Übels sei. Verfolgungen und Einkehrung. * 1774 – Mutter Ann und sieben der ersten Schüler segeln auf der Mariah nach Amerika. Die Gruppe läßt sich bei Albany nieder. Öffentliche Predigten gegen die Begehrlichkeit. Weitere Verfolgungen. Weitere Bekehrungen. Exstatische, rauschhafte Gottesdienste. Mutter Anns »Wunder«. * 1784 – Mutter Ann stirbt. * 1787 – Mutter Anns Nachfolger, Vater Josef und Mutter Lucy, versammeln ihre Jünger in mönchischen Gemeinschaften und trennten sich von der sündigen Welt. * 1787 – 1794 – Ausdehnung der Sekte in New York State und New England. * 1806 – 1826 – Ausdehnung der Sekte über die Westgrenze – Ohio, Kentucky, Indiana. * 1837 – 1845 – Massenausbruch von Spiritualismus. Segnun gen, Gesänge, Geisterbeschwörungen, geschäftliche Ratschläge, die verstorbene Anführer aus dem Mund lebender »Instrumente« erteilen. * 1850 ff – Höhepunkt der Gemeinschaft. Sechstausend Mitglieder, achtzehn Gemeinden, achtundfünfzig Familien. * Nachweisbare Gesamtmitgliedschaft – vom Ende des acht zehnten bis zum Ende des zwanzigsten Jahrhunderts – ungefähr siebzehntausend. * Old Shakers besonders stark vertreten in folgenden Branchen: Postversand von Pflaumen, Samen, Handwerk (Besen, Körbe und Kisten), Möbelherstellung. * Zugeschriebene Erfindungen: Stecknadel, Reißnägel, Turbinen-Wasserrad, dampfbetriebene Waschmaschine.
* Liturgie – Akzent auf gemeinsamen Gesängen und Tänzen. Die frühe »konvulsive« Phase mündet im neunzehnten Jahrhundert in hochorganisierte Zeremonien und Prozessionen – Ringtänze, Formationstänze. * Glauben und Gebote – Zölibat, Gottesdualität (Gott Vater und Gott Mutter), Gleichheit der Geschlechter, Gleichheit der Arbeit, Gleichheit des Eigentums. Fortbestehen der Gemeinschaft durch »Aufnahme von ernsthaften Persönlichkeiten und Adoption von Kindern.« * Motto – »Die Hände der Arbeit, die Herzen Gott.« – WEITERES FOLGT –
XEROGRAMM: 30. Juni (8.15 Uhr) AN: Mrs. Rosemary Collins, 133 Excorial Drive, Baywater, Florida, 92635776901 ABSENDER: Raymond Senter, Hudson Junction Rotel, Hudson Junction, N. Y. 28997601910 Liebe Rosie! Hat sich unser kleiner Gauner in letzter Zeit bei Dir sehen lassen? Bruce befindet sich wieder einmal unangekündigt auf Fahrt, und ich dachte daran, daß er vielleicht einen Ausflug nach Süden gemacht haben könnte, um seine Lieblingstante zu besuchen. Nicht zu reden von seiner Lieblingscousine! Wie geht’s der braungebrannten Zuckerpuppe? Gib ihr ‘nen großen Kuß von mir – Du weißt schon wohin! Und falls Bruce sich melden sollte, rufe mich bitte unter obiger Nummer an. Dein dich liebender Bruder Ray
AN: Stock, Geschäftsf. Herausg. I.I. ABSENDER: Senter INHALT: Vorspann für den Film über Gottesdienste. JERUSALEM WEST, Samstag, 30. Juni – ich stehe am Eingang zum inneren Heiligtum des riesigen Rundhauses hier, dem sogenannten Versammlungszentrum, das nur bei wichtigen Zeremonien benutzt wird – wie zum Beispiel für den Samstagabend-Tanz, der in genau fünf Minuten beginnen soll. Im Heiligen Korridor zu meiner Rechten hat sich bereits die gesamte Kongregation in zwei Reihen versammelt, eine bestehend aus Jungen und eine aus Mädchen, Seite an Seite, aber ohne sich zu berühren. Während der Woche ist das Versammlungszentrum von den Arbeits- und Wohngebieten durch geschwungene transparente Zwischenwände abgeteilt, die zusammen eine kleine Kuppel in der Kuppel ergeben. Bei Sonnenuntergang am Samstagabend aber werden die Zwischenwände entfernt und geben eine kreisförmige Tanzfläche frei, die übrigens genau im Mittelpunkt des Gebäudes liegt. Von dieser leicht erhöhten Plattform aus schimmerndem Fasermaterial kann ich in jeden der strahlenförmig hier zusammenlaufenden Korridore hinuntersehen – vorbei an den Reihen sauber aufgeschlagener Betten in den Schlafräumen, vorbei an den abgedeckten Maschinen in den Werkstätten, vorbei an den noch nicht fertiggestellten Shakerbikes in der Garage, vorbei an den sauber geschrubbten Tischen in der Küche – bis zu der schwachen Linie am Horizont, wo die Kuppel auf dem Heiligen Boden von Jerusalem West ruht. Alle künstliche Beleuchtung ist für die Sabbatfeier gelöscht worden. Das einzige Licht kommt von den letzten Strahlen der Sonne, einer verlöschenden Fackel, die das Material der
Kuppel selbst in Brand gesetzt zu haben scheint. Es ist ein wenig, als stünde man mit einhundertachtundzwanzig furchtlosen Propheten des Herrn in Nebuchadnezzars Feuerofen. Die Stille ist buchstäblich vollkommen – kein Husten, nicht das leiseste Rascheln von Stoff ist zu hören. Sogar die Ventilation ist abgeschaltet worden – zumindest für den Augenblick. Ich werde mir des rauhen Geräusches meines eigenen Atems bewußt. Genau um acht Uhr beginnen die beiden unten aufgestellten Reihen, sich aus dem Heiligen Korridor vorwärts zu bewegen. Sie umschreiten die Tanzfläche, die Jungen rechts, die Mädchen links herum. Tatsächlich ist es schwer, sie auseinanderzuhalten. Die Shakers verzichten auf jeglichen Körperschmuck – keine Schminke, keine Perücken, keine Edelsteine, keine Broschen, keinerlei Flitter, keinerlei Tand. Alle haben kurzes Haar, als sei es mit Hilfe einer übergestülpten Schüssel geschnitten. Und alle tragen irgendeine Abart des gleichen Shakergewandes: – ein lose hängendes, langärmeliges, knopf- und kragenloses Hemd mit einem fünf Zoll langen Schlitz am Nacken, unter dem sich eine weite, an den Knöcheln durch ein verborgenes Elastikband befestigte Hose befindet. Die Kleidung wirkt ein wenig nordafrikanisch. Sie besteht aus weichem Dynalen in einer Reihe von Pastellfarben. Ein Mädchen trägt etwa ein blaßrotes Ober- und ein hellblaues Unterteil. Der Junge ihr gegenüber trägt dann die gleichen Farben, nur umgekehrt. Andere in der Prozession haben Kombinationen von Flieder- und Pfirsichfarbe, elfenbein und zitronengelb, türkis und nußbraun gewählt. Die Skala der Farben scheint endlos, doch sind sie von stets neuer Intensität, so daß das gesamte Schauspiel eine lebende Demonstration eines der elementaren Glaubensartikel der Shaker-Bewegung darstellt – Verschiedenheit in der Einheitlichkeit.
Jetzt ist die Prozession zum Stillstand gekommen. Die Andächtigen haben in zwei gleichen Bogen Aufstellung genommen, vierundsechzig Jungen auf einer Seite, vierundsechzig Mädchen auf der anderen, alle genau auf Armeslänge von ihren Nachbarn entfernt. Alle sind barfuß. Alle haben den gleichen Gesichtsausdruck – ein Lächeln, das so bescheiden ist, daß es nicht wahrnehmbar wäre, würde es nicht einhundertachtundzwanzigmal rundum im rituellen Kreis gespiegelt und wiedergespiegelt. Die Farbe der Kuppel wird nun zu einem dunkleren, stärkeren Purpur. Ob das natürliche Zwielicht künstlich gefördert wird – sei es von innen oder von außerhalb des Gebäudes –, ist unmöglich zu sagen. Aller Augen sind nach oben gerichtet zu einem Punkt etwa zehn Meter über dem Mittelpunkt der Fläche, wo ein achtseitiger Lautsprecher an einem verchromten Kabel vom Zentrum der Kuppel herabhängt. Die Luft beginnt sich mit einer durchdringenden Vibration zu füllen, vergleichbar dem entfernten Grollen eines Rennwagens, der in der Nacht auf einen zurast. Und dann explodiert die Musik mitten hinein in die überhitzte Luft. Auf der Stelle ist die Fläche voll zuckender, sich windender Körper – als sei jeder Akkord ein elektrischer Impuls, der direkt auf die Nervenenden der Tänzer wirkt –, und die Musik ist unglaublich laut. Die Kuppel wirkt wie ein riesiger Schallreflektor. Ich kann die Vibrationen in meinen Füßen fühlen, und meine Zähne klappern im Takt, aber so wild der Tanz auch ist, der Kreis bleibt noch bestehen. Jeder Shaker tanzt an seinem eigenen Platz. Einige stoßen unverständliche Schreie aus, das heilige Gestammel, das die Shakers die Gabe der Zungen nennen – exstatische Prophezeiungen, die das wortlose Wort der Gottheit symbolisieren. Ein junges Mädchen mit einem fahlen, aber schönen Gesicht heult wie ein Kojote. Ein anderes grunzt
wie ein Schwein. Ein drittes spuckt abwesend in die Luft und schlägt dann ihre eigenen Wangen heftig mit beiden Händen. Auf der anderen Seite der Fläche hat sich ein großer, schmaler Junge aus dem Kreis losgerissen. Sich rasch um sich selbst drehend, seinen Kopf zurückwerfend, so daß seine Augen die purpurne Membran der Kuppel fixieren, scheint er sich auf Umwegen dem Mittelpunkt der Tanzfläche zuzubewegen. Und jetzt verfärbt sich die Kuppel erneut und nimmt ein tieferes Purpur an – wie die Farbe eines späten Abendhimmels, aber von scharlachroten Sternen durchsetzt, die, von eigenem Leben erfüllt, herumzuschießen scheinen, zusammenprallend, sich vereinend, sich neu formend. Jetzt hat sich relative Ruhe über die Tänzer gebreitet. Sie stehen mit den Händen in den Hüften da – nur ihre Köpfe bewegen sich, sich erst auf eine Seite neigend, dann auf die andere, im Takt des neuen, unaufdringlichen Rhythmus’ der Musik. Der hochgewachsene Junge in der Mitte hat begonnen, sich auf der Stelle um sich selbst zu drehen, mit jeder Rotation schneller werdend, jetzt schon beinahe mit der Geschwindigkeit eines Kreisels, den Kopf immer noch im Nacken, mit blind starrenden Augen. Sein rechter Arm schnellt vom Körper, der Ellbogen ist steif, die Finger gerade, die Handfläche flach, es ist, was die Shaker das Pfeilzeichen nennen, ein Hinweis auf die Gabe der Prophezeiung, direkt inspiriert von der doppelten Gottheit, Vater Kraft und Mutter Weisheit. Der Junge ist das »Instrument«, und gleich wird er eine Botschaft von oben empfangen. Sein Kopf neigt sich nach vorn. Jetzt dreht er sich langsamer. Den rechten Arm in Richtung auf ein kleines, rothaariges Mädchen ausgestreckt, kommt er zum Stehen. Das Mädchen beginnt am ganzen Körper zu zittern wie in hohem Fieber. Die Musik verstärkt sich zu ohrenbetäubendem Crescendo und bricht abrupt ab.
»Jeder ist ein Spiegel«, ruft der Junge. »Sauber, sauber, sauber – – oh, laßt ihn scheinen! Was an mir schmutzig ist, ist mir nicht eigen, aber es befleckt die Erde. Und die Erde ist mir nicht eigen – die Mutter und der Vater sind Licht über dem Licht, aber das Licht kann allein nicht scheinen. Nur ein Spiegel kann scheinen, scheinen, scheinen. Der Spiegel soll mein sein, mein, mein!« Das rothaarige Mädchen zittert derartig, daß ihre Glieder wie Peitschen um sich schlagen. Ihr Mund hat sich geöffnet, und sie beginnt zu stöhnen, zunächst kaum hörbar. Was sie äußert, könnte ein einsilbiges Wort sein wie »rein« oder »mein« oder »Schein«, so rasch wiederholt, daß die Konsonanten in sich zusammenfallen und die Selbstlaute in einen endlosen Strom der Stimme münden. Aber sie wird lauter und lauter und noch lauter, wie das Heulen einer Luftschutzsirene, bis alle Ähnlichkeit mit Sprache verschwindet und es unmöglich scheint, daß solch ein Klang aus einer menschlichen Kehle kommen kann. Man glaubt fast, die Blutgefäße hören zu können, angestrengt, berstend. Dann fällt plötzlich wieder der Lautsprecher ein mit dem lautesten, wildesten Jag-Rock-Riff, das ich je gehört habe, nur ist es nichts Hörbares mehr – es ist in einem oder man ist in ihm. Und die Kuppel hat sich in farbige, farbige Blüten aufgelöst! Ein stroboskopisches Feuerwerk verwischt alle Umrisse und zerstört die Perspektive, und es ist nicht zu erkennen, ob sich die Tänzer ganz, ganz langsam oder sehr, sehr schnell bewegen. Die Bewegung ist so perfekt mit dem Klang und der Klang so vollkommen mit der Farbe synchronisiert, daß kein fester Bezugspunkt mehr zu existieren scheint. Man kann nur sagen: »Es gibt Farbe, es gibt Klang, es gibt Bewegung…«
Dies ist die Gabe der Besessenheit, welche die New Shakers so preisen – – und ob sie echt mystisch ist, wie sie behaupten, oder auto-hypnotisch oder durch Drogen verursacht, wie einige Kritiker behaupten, oder eine Kombination von all diesem oder etwas völlig anderes, es ist ein unzweifelhaft wirkliches – und zutiefst verwirrendes – Erlebnis. – WEITERES FOLGT –
XEROGRAMM: 1. Juli (7.27 Uhr) AN: Frederick Rickover, Geschäftsführer, Sonsomat-Ges. Baltimore, Maryland, 6503477502 ABSENDER: Raymond Senter, Hudson Junction Rotel, Hudson Junction, N. Y. 28997601910 (WARNUNG: PERSÖNLICHER UMSCHLAG, INHALT ZERFÄLLT BEI UNBEFUGTER ÖFFNUNG) Fred! Ich fürchte, ich muß Dich wieder einmal um Hilfe bitten. Ich brauche eine Überprüfung von Code DNA No. 75/62/HR/tl/49-065. Ich muß wissen, ob der Träger der Codenummer sich in den letzten beiden Wochen irgendwo an einen Sensomat angeschlossen hat. Es ist eine Familienangelegenheit, nichts Geschäftliches, ruf mich also nur unter obiger Nummer an. Ich werde es Dir nicht vergessen. In Dankbarkeit, Ray
AN: Stock, Geschäftsf. Herausg. I.I. ABSENDER: Senter INHALT: Drei Bänder. New-Shaker-Zeugnisse. Redigierte Aufnahmen, 1. Juli.
BAND I (Shaker Name »Farmer Brown«): Was ist denn das für ein Mikrofon? Im Ernst, ich wußte nicht, daß es so kleine gibt. Chinesisch? Ah – so. Also dann – ich bin geboren am 17. April 1974 in Ellsworth, Saskatchewan. Mein Atem-Vater ist Vorarbeiter in einer großen Raffinerie dort. Meine AtemMutter war Verbraucherin und Hausfrau. Sie ist jetzt tot. Es fällt mir ziemlich schwer, mich an Einzelheiten zu erinnern. Als ich noch richtig klein war, habe ich, glaube ich, gesehen, wie die Bundespolizei auf den Stufen des Rathauses einen Bombenwerfer schnappte. Aber vielleicht habe ich das nur irgendwo in 2-D gesehen. Die Schule war – na ja, Sie wissen, das Übliche. Oh, einmal kriegten ein paar von uns frische Samen aus der Raffinerie in die Hand – ich glaube, wir haben sie irgendwie gestohlen. Jedenfalls, es gab noch ‘ne Menge offenes Land, und wir pflanzten sie ein und zogen uns unseren eigenen Stoff. Eine ganze Woche lang brachte ich kein Bein mehr auf die Erde. Das ist meine Erfahrung als Farmer. (GELÄCHTER). An meinem fünfzehnten Geburtstag bewarb ich mich um ein Gammlerstipendium, bekam einen Zweijahresvertrag und schoß am nächsten Tag los zur Sonne! Warten Sie mal – Minneapolis, Kansas City, Mexico – was für ein Trip! In den kleinen Städten dort unten gab es nicht so viele Sensomaten, und ich steckte bis zu den Ohren in dem harten Stoff, den man damals kriegen konnte – LSD, Opium, Kokain, Mary-Anna – ich glaube, das einzige, was ich nie versucht habe, war Morphium, und es gab Augenblicke, wo nicht mehr viel dazu fehlte. Als das Stipendium ausgelaufen war, gammelte ich einfach auf eigene Faust herum. Zunächst glaubt man, daß es ganz einfach ist. Die Hälfte der Leute, die man trifft, stehen noch unter Kontrakt und teilen mit einem. Dann verschwinden die alten Freunde schneller, als man neue finden kann, und es ist eine ganz neue Generation auf der Straße. Und man fühlt sich
mehr und mehr wie ein Feebie und verhält sich auch so. Ich hatte Glück, weil ich diese süße kleine Taube in Nashville traf – sie hatte ein audiovisuelles Diplom, aber sie war ‘ne Fee für Gammler, speziell für ausgeflippte. Jedenfalls, eines Tages kommt sie in ihren Schlag zurück mit einem neuen Band und legt es auf und sagt: »Das geht dir einfach durch und durch. Ist ‘ne wilde neue Gruppe. Heißen die Shakers.« Von den Shakers hatte sie nicht die leiseste Ahnung und ich auch nicht – die ersten Shaker-Bänder kamen damals gerade ‘raus. Also, ich kann Ihnen sagen, dieser irre Sound, es war wie im Trip. Ich meine, es war größer als Op, größer als Koks, bloß, man blieb auf den Beinen statt auf dem Rücken. Ich hatte dieses Gefühl, daß ich mehr hören mußte. Ich besorgte mir alle Bänder, die auf dem Markt waren, aber es genügte mir nicht. Also machte ich mich eines Nachts nach Wildwood auf, und bevor ich’s richtig merkte, war ich in einem Vorbereitungsmeeting, und dann war ich zu Hause, frei – wissen Sie, irgendwie hoffe ich immer noch, daß die kleine Taube zurecht kommt – ach ja, die Band… Also, ich bin einer der Musik-Diakone, man nennt das eine Opfer-Gabe, weil es bedeutet, daß man die Bücher führen muß – und da ist man zu nahe an den Haken und Ösen, als daß es angenehm wäre. Aber irgend jemand muß es ja machen. In einer unreinen Welt kann man nicht am Leben bleiben, ohne sich ein bißchen zu beflecken, und wenn Außenseiter uns zu Millionären machen wollen wegen unserer Bikes und unserer Bänder, dann ist das ein notwendiges Übel. Aber wir verteilen das Risiko nicht gern in der Familie. Die Diakone unterzeichnen also die Schecks und verhandeln mit den Agenten, und so sind nur wir befleckt. Und jeder betet noch etwas mehr, um die Sache beim Vater und bei der Mutter wieder in Ordnung zu bringen.
BAND II (Shaker Name »Mariah Moses«): Ich bin geboren in Darien, Connecticut. Ich bin Wassermann mit LöweAszendent. Wollen Sie meinen Atem-Namen? Es macht mir nichts aus – Cathy Ginsberg. Meine Atem-Eltern sind beide Vollzeit-Konsumenten, und ich hatte wohl keine sehr interessante Kindheit. Ich ging zur zentralen Modularschule von Darien. Ich war eine ziemlich gute Schülerin – mein bestes Fach war Weltkultur. Bei meiner dritten Verabredung kam es zu Verkehr, was etwa durchschnittlich war für meine Klasse, wie ich hörte. Wollen Sie das wirklich alles wissen? Ich glaube, das Größte, was mir jemals passierte, war der zweite Preis im Maxwell-Hasch-Aufsatz-Wettbewerb, als ich vierzehn war. Das Thema war Die Freuden des heimlichen Beobachters und der Preis ein programmiertes Wochenende in Hawaii für zwei. Ich weiß nicht mehr, mit wem ich hinfuhr. Aber Hawaii war wirklich nett. All diese braunen Jungen – am Samstagabend gingen wir zu ‘nem großen Luau. Das ist so ‘ne Eingeborenen-Orgie. Sie brachte mir Dinge bei, die wir nicht mal auf der Schule lernten. Ich weiß noch, wie ich dachte: Oh, Star, das ist einfach die Spitze! Aber als alles vorbei war, dachte ich noch etwas anderes. Wenn das die absolute Spitze war: – was kam dann? Ich weiß nicht, ob es der gegrillte Schweinebraten war oder irgend so was – jedenfalls fühlte ich mich ein paar Tage gar nicht gut. Am Abend, als wir zurückkamen – Herbie! Das war der Name meines Partners, Herbie. Alcott – er hatte so lockiges Haar auf dem ganzen Rücken –, jedenfalls am Abend, als wir zurückkehrten, holten mich meine Atem-Eltern am Flughafen ab, und auf dem Weg zurück nach Darien fingen sie an, mich zu fragen, was ich mit meinem Leben anfangen wollte. Sie versuchten einfach, mir zu helfen, verstehen Sie. Ich meine, sie wären natürlich enttäuscht gewesen, wenn ich irgendwie in die Produktion gegangen wäre, wenn sie es auch
nicht sagten. Sie fragten mich nur, wie ich mir die Zukunft so vorstellte. Ich konnte wählen zwischen dem College oder dem Konsumenten-Corps oder einem Reisestipendium – sie fragten mich sogar, ob Herbie und ich ernste Absichten hätten und ob wir vielleicht ein Baby wollten –, denn die Warteliste im Heiratsbüro war bereits sechs Monate lang und wurde immer länger. Das Dumme war, daß ich immer noch an das Luau dachte und den Schweinebraten, und ich fühlte mich richtig ausgebrannt. Wie ein Stück Holzkohle, das noch völlig heil aussieht, aber nur aus weißer Asche besteht – wenn man es anrührt, fällt es einfach zusammen und fliegt fort. Ich sagte also, ich würd’s mir überlegen, aber in Wirklichkeit dachte ich nur: So schnell kommen solche Orgien nicht wieder in Frage! Und ein paar Tage später geschah das Wunder. Ein Mädchen in unserer Klasse war verschwunden, und eine Freundin von ihr hörte jemanden sagen, daß sie ein Shaker geworden war. Ich sagte: »Was ist das?« Meine Freundin sagte: »Es ist eine Religion, die an die Abkehr von Haß, Krieg, Geld und Sex glaubt.« Und ich fühlte, wie dieses Prickeln durch mich ging. Und obwohl ich damals nicht wußte, was es bedeutete, war das der Moment, wo ich meine Gabe entdeckte. Es war ein so warmes Gefühl, wie wenn etwas Weiches und Ruhiges in einem wächst und wartet. Und an dem Tag, als ich fünfzehn wurde, fuhr ich hinüber nach Jerusalem und nie mehr nach Hause. Das war vor elf Monaten… Oh, man kann gar nicht beschreiben, was in einem Vorbereitungsmeeting geschieht. Was in einem vorgeht, das ist, was zählt. Zum Beispiel jetzt, wenn ich an alle meine alten Freunde in Darien denke, dann spreche ich ein kleines Gebet. Vater Kraft, Mutter Weisheit, berühre ihre Gaben, setze sie frei.
BAND III (Shaker-Name »Earnest Truth«): Ich bin zweifellos so etwas wie eine Seltenheit hier. Vermutlich haben Sie mich deswegen um ein Zeugnis gebeten. Aber ich möchte nicht, daß Sie mich als Shaker-Intellektuellen oder Shaker-Theologen oder irgend so etwas betrachten. Ich diene als Rechtsdiakon, weil das meine Gabe ist. Aber ich gehöre auch zur Reinigungstruppe im Korridor Drei, und das ist ebenfalls meine Gabe. Ich wäre ein ebenso guter Shaker, wenn meine Tätigkeit nur in Bodenreinigen bestände und in sonst nichts. Ist das klar? Gut. Nun denn, so kurz wie möglich: (LIEST VORBEREITETEN TEXT) Ich bin vierundzwanzig Jahre alt, als Berkeley, California. Meine Atem-Eltern lehrten an der Universität; sie kamen bei einem Flugzeugabsturz um, als ich zehn war. Der Staat übernahm meine Erziehung. Pacific Highlands Modular-Schule: Erster Platz. Konsumenten-Corps: Medienhelfer erster Klasse. Mit siebzehn auf der Universität. 1990 erstes juristisches Examen mit Magna cum laude. Absolvierte den vierjährigen Studiengang in drei Jahren. Im letzten Jahr erwachte mein Interesse an religiöser Literatur – oder, genauer gesagt, mystischer Literatur – möglicherweise als Gegengewicht zur wachsenden Bedeutung formaler Aspekte in meinem Studium. Einfach zur intellektuellen Ablenkung begann ich die Lektüre des Heiligen Johannes vom Kreuz, von George Fox, den Vedas, Tao, Zen, der Kabbala, der Sufis. Aber als ich dann an die frühen Shaker geriet, beeindruckte mich sofort die Kühnheit und Klarheit dieser rein amerikanischen Variante. Das Ziel aller Mystiker ist geistige Vereinigung mit dem Leeren, dem Namenlosen, dem Formlosen, dem Unsagbaren. Aber die kleine Gruppe der Shaker-Pilger, konfrontiert mit einer gewaltigen, ja scheinbar grenzenlosen Wildnis, machten einen wunderbaren Quantensprung des Glaubens, indem sie feststellten, daß diese Einheit bereits erreicht worden war. Die Wildnis, das war das
Leere. Wer Augen hatte zu sehen, erkannte, daß dieses Gottes Reich war. Und indem sie totalen Kommunismus, totale Enthaltsamkeit, totale Hingabe praktizierten, machten sie zweihundert Jahre lang einen Garten aus der Wildnis. Dann aber verschwanden sie, unfähig, sich der Methodologie der Industriellen Revolution anzupassen; es war, als hätte ihre sanfte Gesinnung einen endgültigen Ruheplatz gefunden im Design ihrer äußerst einfachen und äußerst schönen hölzernen Möbel – jedes Exemplar davon ist inzwischen ein Sammlerstück geworden. Als ich begann, Bücher über die Old Shakers zu lesen, hatte ich natürlich von den New Shakers gehört – aber ich nahm an, daß es sich bei ihnen nur um eine so exzentrische Fundamentalistensekte handelte wie bei den Holy Rollers oder den Snake Handlers, um einen Versuch, die Frömmigkeit einer einfacheren Zeit in die jetzige Epoche des Überflusses herüberzuretten. Schließlich aber drängte mich die Neugier – so verstand ich es jedenfalls im Augenblick –, einem Vorbereitungsmeeting beizuwohnen, das in Jefferstown stattfand. Und ich fand meine Gabe. Das Erlebnis ist von Individuum zu Individuum unterschiedlich. Für mich war es die Erkenntnis, daß die komplizierte Maschine, die wir die Überflußgesellschaft nennen, der wirkliche Anachronismus ist. Alle die Euphoriemittel, die wir in uns hineinstopfen, können nichts an der Tatsache ändern, daß die Maschinerie des Überflusses schon längst ihre Grenze erreicht hat und nun an ihren eigenen Abfallprodukten erstickt – Umweltverschmutzung, Übervölkerung, Entmenschlichung. Weil davon entfernt, ein Durchbruch zu sein, war die sogenannte Naturrevolution nur ein letztes Aufbäumen der alten Ordnung, die sich behaupten wollte, indem sie privateste menschliche Empfindungen in Maschinen programmierte. Und die kindischen Bombenwerfer waren nichts als verspätete Romantiker, ein Anachronismus innerhalb eines
Anachronismus. An diesem Scheideweg der Geschichte bietet nur die Shaker-Bewegung eine wirkliche Alternative – in dem so ungemein einfachen und deshalb so ungemein tiefen Vierfachen Nein. Gewöhnlich lobt uns die Welt für unsere Ablehnung von Haß und Krieg und verspottet uns wegen unserer Ablehnung von Geld und Sex. Aber das Vierfache Nein stellt eine wunderbar ausgeglichene ethische Gleichung dar, in der jedes Element eine Funktion der anderen drei ist. Einfach zu verwirklichende Utopien gibt es nicht. Nicht Shaker fragen oft: Was würde geschehen, wenn jedermann ein Shaker würde? Wäre das nicht das Ende der menschlichen Rasse? Meine persönliche Antwort ist die: Die Gesellschaft leidet an einer tödlichen Krankheit – einer Epidemie, die man Verzweiflung nennt. Das Shakertum ist das einzige Heilmittel. Solange diese Epidemie grassiert, werden mehr und mehr Menschen die Kraft finden, die notwendige Medizin zu nehmen, ganz gleich, wie bitter sie schmeckt. Vielleicht wird irgendwann in der Zukunft gerade die Verbreitung des Shakertums die Gesellschaft wiedergesunden lassen, so daß das Shakertum sich bis zu einem gewissen Grade selbst überflüssig macht. Vielleicht wird sich dieser Zyklus wiederholen. Vielleicht auch nicht. Wir können nicht wissen, was der Vater und die Mutter mit ihren Kindern vorhaben. Nur eines ist sicher. Die letzte Prophetin der alten Shaker schrieb 1956: »Die Flamme mag flackern, aber der Funke darf nie verglimmen, bis die Erlösung der Welt vollendet ist.« Ich glaube nicht, daß Sie die Flamme hier flackern sehen. – WEITERES FOLGT –
XEROGRAMM: 1. Juli (23.30 Uhr) AN: Stock, Geschäftsf. Herausg. I.I. ABSENDER: Raymond Senter, c/o Hudson Junction Rotel (WARNUNG: PERSÖNLICHER UMSCHLAG. INHALT ZERFÄLLT BEI UNBEFUGTER ÖFFNUNG) Art, Grenzenlose Hilfsbereitschaft hier – bis ich sage »Vorbereitungsmeeting«. Dann werden sie alle stumm. Zu heilig für unreine Ohren. Man erfährt nicht einmal wo oder wann. Arbeitshypothese: Es ist ein obligatorischer Akt der Abkehr. Die Rekruten müssen offensichtlich allen weltlichen Gewohnheiten entsagen, bevor sie ihre letzten Gelübde ablegen. Große Frage: Wie geschieht das? Bewußt oder unbewußt? Hypnosuggestion oder wirklich neue Erkenntnisse? Ist es legal oder illegal? Morgen zapfe ich den Empfangsdiakon an. Wenn Sie einverstanden sind, werde ich vermehrten Druck ausüben. Die Grundlagen sind erarbeitet. Vielleicht bekommen wir noch eine Story. Roy
XEROGRAMM: 2. Juli (2.15 Uhr) AN: Joseph Harger, Koordinator, Konsumenten-Kontrolle des Staates New York, Albany N. A. 31118002311 ABSENDER: Raymond Senter, c/o Hudson Junction Rotel, Hudson Junction, N. Y. 28997601910 Warnung: PERSÖNLICHER UMSCHLAG. INHALT ZERFÄLLT BEI UNBEFUGTER ÖFFNUNG) Joe! Ich danke Ihnen für Ihr persönliches Interesse an dieser Sache. Offensichtlich hat meine Frau dem Kontrolleur, an den sie sich wandte, den falschen Eindruck vermittelt. Sie neigt
etwas zu Hysterie. Ungeachtet dessen, was sie vielleicht gesagt hat, versichere ich Ihnen, daß die Einstellung meines Sohnes zum Getto eine völlig gesunde Mischung aus Verachtung und Mitleid war. Bruce besichtigte einmal mit mir die Mauer von Harlem – er muß sechs oder sieben gewesen sein – und Koordinator Bill Quaite ließ ihn ein paar Minuten im Aufseherstuhl sitzen. Er hörte den Ruf eines Muezzins von einem dieser baufälligen Türme. Er sah, wie die wilden Ratten sich durch die stinkenden Abfälle wühlten. Er beobachtete auch, wie nackte Kinder mit hölzernen Messern um ein Stück farbiges Glas kämpften. Ich höre, daß es heutzutage junge Leute gibt, die dumm genug sind, anzunehmen, ein Blick über die Mauer sei ein Abenteuer, und daß der Prozeß umkehrbar sei – aber mein Sohn gehört ganz bestimmt nicht zu ihnen. Und zweifellos ist er auch kein Bombenwerfer. Ich weiß, daß Sie immer den Standpunkt meiner Zeitschrift geteilt haben, daß eine dosierte Konfrontation mit den unangenehmeren Seiten des Lebens bessere Konsumenten erzeugt. Ich hoffe, daß unsere bisherige Vertrauensbasis damit wieder hergestellt ist. Ich wiederhole: Es gibt nicht das geringste Anzeichen dafür, daß mein Sohn zu den Schwarzen übergelaufen sein könnte. Tatsächlich habe ich guten Grund zu der Annahme, daß er in Bälde wieder auftauchen wird und alle Ungereimtheiten sich aufklären werden. Aber ich brauche etwas Zeit. Eine Vermißtenmeldung würde die Dinge im Augenblick nur erschweren. Mir ist klar, daß meine Frau es war, die die Anzeigen aufgab. Aber ich wäre sehr dankbar, wenn die Sache für achtundvierzig Stunden abhanden kommen könnte. Ich für meinen Teil werde mich um alles Nötige kümmern. Ich zähle auf Ihre Diskretion. Ray
AN: Stock, Geschäftsf. Herausg. I.I. ABSENDER: Senter INHALT: Interview mit Antonia Cross, 19, Empfangsdiakon in Jerusalem West. Redigierte Aufnahme, 2. Juli. F: (Ich wartete, daß sie selbst beginnen würde.) A: Bevor wir anfangen, sollten wir wohl einige Dinge klarstellen. Das wird uns auf lange Sicht Zeit und Ärger ersparen. Zunächst: Im Gegensatz zu dem, was Ihre Zeitschrift und andere vielleicht in der Vergangenheit geschrieben haben, wollen wir niemanden bekehren. Niemanden. Verwenden Sie also bitte nicht dieses Wort. Wir versuchen nur, unsere Gabe zu leben – und wenn sich andere Menschen zu uns hingezogen fühlen, dann ist das das Werk des Vaters und der Mutter, nicht unseres. Wir brauchen nicht zu predigen. Wenn jemand bis zum Hals im Dreck sitzt, dann braucht er keinen Prediger, der ihm sagt, daß er stinkt. Er muß nur wissen, daß es irgendwo einen sauberen Ort gibt. Zweitens: Im Gegensatz zu allen anderslautenden Gerüchten hindern wir niemanden daran, uns zu verlassen. In den letzten vier Jahren haben wir genau drei Abtrünnige gehabt. Sie fanden, daß unsere Sache nicht ihre Sache sei, und gingen. F: Sagen Sie mir ihren Namen. A: Es gibt kein Gesetz, daß wir die Namen von Rückfälligen preisgeben müssen. Finden Sie sie selbst heraus. Das sollte nicht allzu schwierig sein. F: Sie überschätzen die Macht der Presse. A: Falsche Bescheidenheit gilt bei uns Shakern nicht als Tugend. F: Sie erwähnten drei Rückfällige. Wieviele Bewerber werden abgewiesen, bevor sie die letzten Gelübde ablegen? A: Der genaue Prozentsatz ist unwesentlich. Manche Bewerbungen sind ernsthafter als andere. Unsere Aufnahmeprozedur ist kein großes Geheimnis. Sie haben
schon den Ausdruck »Weekend-Shaker« gehört. Jeder kann sich das Nötige besorgen und tanzen und singen und ein paar Tage rein bleiben. Das wird sogar als »Trip« betrachtet, wie ich höre. Wir stellen sicher, daß diejenigen, die zu uns kommen, sich klar sind über den Unterschied zwischen einem Wochenende und einem ganzen Leben. Wir erklären die Gabe, den Glauben, die Glaubensartikel. Dann fragen wir sie, warum sie zu uns gekommen sind. Wir setzen ihnen ziemlich zu. Wenn am Ende ihre Absicht noch ernsthaft ist, kommen sie für eine Weile zu einem Vorbereitungsmeeting, bis eine Familie bereit ist, sie aufzunehmen. F: Wie lange ist eine Weile? A: Das Vorbereitungsmeeting kann Tage oder Wochen dauern. Oder länger. F: Sind sie während dieser Zeit bereits richtige Shaker? A: Der Augenblick der Induktion ist ein geistiges, kein zeitliches Phänomen. F: Aber Sie unterrichten die Behörden erst, nachdem ein Novize in eine Familie aufgenommen wurde? A: Wir erfüllen voll die Forderungen des OffenlegungsGesetzes. F: Was geschieht, wenn ein Novize nicht volljährig ist und dies verheimlicht? Überprüfen Sie das regelmäßig? A: Wir halten uns an das Gesetz. F: Aber ein Novize bei einem Vorbereitungsmeeting ist kein Shaker, und somit brauchen Sie seine Anwesenheit nicht zu melden. Trifft das zu? A: In vier Jahren wurden genau neun Beschwerden gegen uns erhoben. Nicht eine war stichhaltig. F: Dann warten Sie also mit der Aufnahme, bis Klarheit über die Identität eines Novizen besteht?
A: Das habe ich nicht gesagt. Wir glauben an das Recht jedes einzelnen, sich neu zu definieren. Verwaltungsdetails erledigen sich meistens von selbst. F: Wie? Ich verstehe nicht. A: Die Wege des Vaters und der Mutter sind manchmal unerforschlich. F: Wie Sie sagen, wollen Sie niemanden bekehren; sind aber Ihre Musikbänder nicht eine Art von Predigt? Kommen nicht die meisten Ihrer Rekruten wegen dieser Musik zu Ihnen? Und müssen nicht die meisten von ihnen erst irgendeiner Sucht entsagen, bevor Sie sie überhaupt einlassen? A: Die Welt – Ihre Welt – ist Schmutz. Von oben bis unten. Wir versuchen, uns so fern davon zu halten wie möglich. Aber wir müssen essen. Deshalb verkaufen wir Ihnen unsere Musikbänder und unsere Shakerbikes. Wir laufen ein kalkuliertes Risiko der Verunreinigung. Aber die Sache wirkt auch in entgegengesetzter Richtung. Schmutz kann durch Reinheit angegriffen werden. Das ist es, was man als Erlösung bezeichnet. Es ist wie ein Tauziehen. Wir werden sehen, wer das größere Risiko läuft. F: Deswegen bin ich hier – um es aus erster Hand zu erfahren. Wo findet das Vorbereitungsmeeting von Jerusalem West statt? A: Vorbereitungsmeetings sind privat. Zum Schutz aller Beteiligten. F: Sie meinen geheim? Geschehen bei diesen Meetings nicht Dinge, die Sie vor der Öffentlichkeit verbergen wollen? A: Wenn die Öffentlichkeit nichts vom Leben des Geistes weiß, ist das schwerlich unsere Schuld. F: Manche Leute glauben, daß Ihre Novizen mit Drogen oder Elektroschocks »vorbereitet« werden. A: Manche Leute glauben, Shaker-Speisen seien voll Salpeter. Wollen Sie das auch drucken?
F: Man hat Sie der Gehirnwäsche beschuldigt. Das ist ein ernster Vorwurf. Und wenn Sie sich nicht bald kooperationswilliger zeigen als bisher, werde ich annehmen müssen, daß Sie etwas Ernstes zu verbergen haben. A: Niemand hat je gesagt, daß Sie alles sehen können. Sie müssen einfach unsere – Führung – in religiösen Fragen dieser Art akzeptieren. F: Darf ich Ihnen etwas Führung angedeihen lassen, Miss Cross. Ihr habt schon viele Feinde in dieser schmutzigen Welt, die Ihr verachtet, daß ein unfreundlicher Artikel in Ideas Illustrated das Tüpfelchen auf dem i sein könnte. A: Die Macht der Presse? Das werden wir ja sehen. F: Was wollen Sie tun, wenn die Polizei Sie hochnimmt? A: Wir fürchten uns nicht vor dem Tod. Und die Kontrollbehörden haben erkannt, daß es ihnen mehr schadet als nützt, wenn sie uns einsperren. Wir scheinen die anderen Gefangenen unruhig zu machen. F: Miss Cross… A: Hier bei uns gibt es keine Titel. Mein Name ist Antonia. F: Sie sind zweifellos eine intelligente und engagierte junge Frau. Ich würde lieber mit Ihnen zusammenarbeiten als gegen Sie. Warum versuchen wir nicht, einen Kompromiß zu finden? Für mich als Journalisten sind menschliche Dinge das Hauptgebiet. Was geschieht mit einem jungen Novizen, der dabei ist, ein richtiger Shaker zu werden? Sie wollen mich in kein Vorbereitungsmeeting lassen, um mich selbst davon zu überzeugen. Gut, Sie haben Ihre Gründe, und ich respektiere sie. Aber ich bitte Sie, auch die meinen zu respektieren. Wenn ich Ihre Aufnahmelisten durchsehen darf – die letzten zwei oder drei Wochen würden schon genügen –, dann könnte ich mir ein Bild machen, welche Art von Rohmaterial sich von Ihnen angezogen fühlt. Sie können natürlich die Namen unkenntlich machen.
A: Vielleicht können wir Ihnen eine statistische Aufstellung geben. F: Mit einer Statistik kann ich nichts anfangen. Ich möchte Fotos sehen, Stimmen hören – Sie sagen, Sie setzen den Novizen ziemlich zu beim ersten Interview. Das ist es, was ich brauche: die Reaktion unter Druck, der Unterschied zwischen denen, die es durchstehen, und den anderen. A: Woher sollen wir wissen, daß Sie nicht auf Dinge persönlicher Art aus sind – um uns in Verlegenheit zu bringen? F: Um Gottes willen, ich bin einer der bekanntesten Reporter im Lande. Warum wollen Sie mir nicht im Zweifelsfall die Möglichkeit geben? A: Sie rufen eine Gottheit an, die Ihnen nichts bedeutet. F: Tut mir leid. A: Das einzige, was ich tun kann, ist, Ihre Bitte der Oktav selbst zu übermitteln. Jede Entscheidung in einer solchen Angelegenheit müßte von einer Vollversammlung kommen. F: Wie lange wird das dauern? A: Die Oktav tritt morgen zusammen, vor dem Abendgottesdienst. F: Gut. Bis dahin kann ich warten. Ich sollte mich wohl noch einmal wegen meiner Unbeherrschtheit von vorhin entschuldigen. In meinem Beruf kommt das manchmal vor, fürchte ich. A: Wir alle haben unsere Gabe. – WEITERES FOLGT –
AN: Stock, Geschäftsf. Herausg. I.I. ABSENDER: Senter INHALT: Erster Nachtrag zur Shaker-Bewegung; 3. Juli.
Es ist unklar, ob die acht Teenager – sechs Jungen und zwei Mädchen – die sich an jenem bedeutungsvollen Abend im Frühling 1991 zusammentaten, um eine Jag-Rock-Combo namens »The Shakers« zu gründen, eine Vorstellung von der religiösen Bedeutung des Namens hatten. Einem frühen Artikel im Riß-Magazin zufolge dachten die acht lediglich an eine klassische Rock and Roll-Nummer aus den fünfziger Jahren namens Shake, Rattle and Roll (der Titel ist nicht ohne sexuelle wie auch musikwissenschaftliche Obertöne). Andererseits steht fest, daß Harry G, schon bevor er im Alter von fünfzehn Jahren sein Zuhause verließ, sich für Astrologie, Palmistrie, Scientologie und andere Formen modernen Okkultismus interessierte (Harry G wurde am 18. Dezember 1974 in Schoodic, Maine, unter dem Namen Harry Guardino als Sohn eines Krabbenfischers geboren). Wie viele seiner Generation, bewarb er sich nach dem Abschluß der ModularSchule um ein Reisestipendium und erhielt den normalen Zwei-Jahres-Kontrakt. Im Gegensatz zu den meisten anderen Gammlern jedoch machte sich Harry nicht sofort auf die Reise zu den dunklen Stellen der Vereinigten Staaten. Statt dessen trampte er nach New York City, wo er sich auf der Westseite einen kleinen Keller einrichtete, der alsbald eine beliebte Zwischenstation für andere ruhelosere Gammler wurde, die durch die Stadt kamen. Über diese Zeit gibt es keine verläßlichen Berichte. Gerüchte, er habe sich in einer örtlichen Bombenwerfergruppe betätigt, scheinen der Grundlage zu entbehren. Bekannt ist hingegen, daß irgendwann im Frühling des Jahres 1991 sich eine Gruppe von Gammlern, deren Stipendium sich dem Ende näherte, bei Harry G versammelte, um die Zukunft zu besprechen. Durch Zufall oder Fügung spiegelten die acht jungen Leute, die an diesem Abend von überall her im Lande dort zusammenkamen, alle irgendein Instrument und hatten eine gemeinsame Leidenschaft für Jag-
Rock. Und als sie gemeinsam überlegten, wie Erfolg und Glück wohl am besten zu erreichen seien, begann ihnen zu dämmern, daß ihre Geschicke vielleicht miteinander verknüpft waren – oder, wie Harry G selbst es ausdrückte: »Wir spürten, daß wir zusammen schöne Musik machen konnten. Die Zeit hat uns zu einer Einheit werden lassen.« Es ist nie leicht gewesen, sich auf dem Jag-Rock-Markt eine Reputation aufzubauen – nicht einmal mit göttlichem Zutun. Während der nächsten zwei Monate bemühten sich die »Shaker« verzweifelt um Arbeit und spielten stundenweise in Verbraucherzentren, Schulen, bei gesellschaftlichen Veranstaltungen – wo immer man einen Live-Auftritt wollte und willens war, die Gruppe zu nehmen. Die »Shaker« reisten in einem gebrauchten Kombiwagen, den nur die heroischen Bemühungen des Elektrogitarrenspielers der Gruppe, Richard Fitzgerald, zum Laufen brachten (der später – als Richard F – bei der Entwicklung der verbesserten Version des Turboadapters mitwirkte, der die Basis des heutigen Shakerbike bildet). Am Abend des 1. Juni kam die Gruppe in Hancock, Massachusetts an, wo sie am folgenden Abend beim Abschlußball der Grady L. Parker Modular-Schule auftreten sollten. Es war ihr erstes Engagement seit drei Tagen, und ihre finanzielle Situation hatte ein höchst kritisches Stadium erreicht – sie hatten nur noch vier Gammler-Stipendien unter sich aufzuteilen, da die anderen vier Kontrakte in den vorhergegangenen Wochen ausgelaufen waren. Die acht hatten von Anfang an alles zusammen getan – sie bestanden sogar darauf, miteinander in einem Raum zu schlafen, da sie befürchteten, durch eine Unterbrechung des gegenseitigen Kontaktes erzeugte »schlechte Schwingungen« könnten ihre Musik ungünstig beeinflussen. Wie sich herausstellte, besaß das örtliche
Holyday Inn kein Zimmer hinreichender Größe, so daß der Rektor der Modular-Schule ihnen nach langwierigen Verhandlungen zur Möglichkeit verhalf, auf dem Gelände des örtlichen Shaker-Museums zu kampieren, einem in aufwendiger Kleinarbeit wieder aufgebauten Shakerkomplex von 1790. Belustigt, wenn auch nicht übermäßig beeindruckt durch die zufällige Namensgleichheit, legten sich die acht »Shaker« in Sichtweite des berühmtesten Gebäudes des ganzen Museums zur Nachtruhe nieder, der Runden Steinscheune, errichtet 1826 von den echten Shakern. Was nun wirklich zwischen Mitternacht und Morgengrauen auf dieser nebelverhangenen Wiese in Neuengland geschah, wird man vielleicht nie wissen – die Untersuchung mystischer Erfahrung ist ja von Natur heraus eine ziemlich unexakte Wissenschaft. Nach dem Zeugnis von Shakern jedenfalls berührte der Geist Mutter Annas, der heiligen Gründerin der ursprünglichen Sekte, die Gaben der acht, wo sie lagen, und eröffnete ihnen in einer Vision der Zukunft – die Amelia D später »so klar und hell wie eine Holographie« nannte –, warum sie auserwählt worden waren: Die Zeit für eine allgemeine Wiederbelebung von Glauben und Lebensweise der Shaker war gekommen. Die acht Teenager erwachten im gleichen Augenblick, verglichen ihre Visionen, erkannten sie als identisch und weinten gemeinsam vor Freude. Den Rest des Tages verbrachten sie im Gebet um Führung und machten Pläne. Ihr erster Entschluß war, wie vorgesehen, beim Abschlußball der Grady L. ParkerSchule zu spielen. »Wir beschlossen, genau das weiter zu tun, was wir vorher getan hatten – nur noch mehr«, erklärte Amelia D später. »Außerdem, glaube ich, brauchten wir das Geld.« Aus welchem Grund auch immer, die Gruppe spielte offenbar wie noch nie zuvor. Ihre Musik eröffnete einen Zugang zu neuen Arten des Hörens und Fühlens – so schien es jedenfalls
den Absolventen, die sich begeistert um das Orchesterpodium drängten, als die ersten Stücke gespielt waren. Ohne es vorher beabsichtigt zu haben, so behauptete er zumindest später, stand Harry Guardino auf und verkündete die Welterkenntnis der neuen Shaker einschließlich der Grundsätze der Gläubigen (das Vierfache Nein) und eine etwas verstümmelte Version der Glaubensartikel der Vereinigten Erneuerungsbewegung: »Alles muß sauber und in Ordnung sein«, »Verschiedenheit in der Gleichheit«, und »Arbeit ist Spiel«. Der Zeitung von Hancock zufolge verließen siebzehn Mitglieder der Abschlußklasse am folgenden Morgen zusammen mit den Shakern die Stadt – in drei Autos, die sie von ihren Eltern »entliehen« hatten und später zurückbrachten. Geführt durch die Gabe der Reise kam die kleine Pilgergruppe zu dem ruhigen Fleckchen in New York State, der nun als Jerusalem West bekannt ist, kauften etwas Land – mit Geld, das sie von anonymen Wohltätern erhalten hatten – und ließen sich nieder, um ihr seltsames Experiment eines monastischen und asketischen Kommunismus durchzuführen. Über die tatsächlichen geschichtlichen Zusammenhänge zwischen den Old Shakers und den New Shakers gibt es nur Vermutungen. Beispielsweise ist nicht klar, ob Harry G und seine Gefährten Gelegenheit hatten, die im Museum von Hancock ausgestellten Dokumente anzusehen. Es gibt keinen Zweifel, daß der Erste Glaubensartikel der ShakerErneuerungsbewegung wortwörtlich dem ersten Teil einer frühen Shaker-Grundsatzerklärung entspricht. Allerdings hat er neuerdings eine leicht abweichende Interpretation erfahren. Und wenn viele der Lehren und Übungen der New Shakers auf die allgemeinen Grundsätze traditionellen Shakertums zurückgeführt werden können, so sind sie doch heutzutage oft ganz frei und manchmal äußerst eigenwillig umgeformt worden. Alles in allem scheint die neue Shaker-Bewegung sehr
wohl ein Produkt unserer modernen Zeit zu sein. Es gibt sogar bedeutende Evolutionsforscher, die in ihr einen Teil des natürlichen Ausleseprozesses sehen, der diejenigen eliminiert, die nicht in der Lage sind, vollkonsumierende Mitglieder der Überflußgesellschaft zu sein. Sie führen an, daß die ShakerBewegung in dieser Hinsicht einen eindeutigen Fortschritt gegenüber dem Kult der jugendlichen Bombenwerfer darstelle, gegen den in früheren Tagen scharfe Maßnahmen hatten ergriffen werden müssen. Es gibt jedoch andere Beobachter, die einen eher unheilverkündenden Trend am Werk sehen. Sie weisen besonders auf die gravierenden rechtlichen Fragen hin, die durch das Bemühen der Shaker um Massenbekehrungen aufgeworfen werden. Der siebenundzwanzigste Zusatz der Bundesverfassung garantiert das Recht jedes weißen Bürgers über fünfzehn, sich seiner Sinne und Gefühle frei und uneingeschränkt zu erfreuen, vorausgesetzt, daß er dabei weder Umfang noch Intensität des Sinnesgenusses irgendeines anderen Bürgers beeinträchtigt. Es ist anzunehmen, daß diese Schutzklausel auch das Recht jedes weißen Bürgers betrifft, sich die üblichen Vergnügungen zu versagen. Welcher aber ist der Status von institutionalisierten Gemeinschaften, deren Ziel eine Unterdrückung dieser Vergnügungen ist? Wie bindend ist zum Beispiel der Eid eines Shaker-Novizen auf die Glaubensartikel? Wie wird die Vierfache Verneinung in der Sekte durchgesetzt? Angenommen, zwei Shaker fühlen sich körperlich zueinander hingezogen und beschließen, sich zu vereinigen – hat die Erneuerungsbewegung der Gläubigen ein Recht, ihnen Hindernisse in den Weg zu legen? Dies sind Fragen von größter Bedeutung, auf die die Kontrollbehörden noch eine Antwort geben müssen. Allerdings gibt es in Washington einflußreiche Männer, die im siebenundzwanzigsten Zusatzartikel der Verfassung eine
Verpflichtung der Regierung sehen nicht nur zum Schutz des Rechts des einzelnen auf Sinnesfreude, sondern auch zur Hilfe bei ihrer größtmöglichen Verwirklichung. Und in ihren Augen stehen die Shaker auf schwankendem Boden. – WEITERES FOLGT –
AN: Stock, Geschäftsf. Herausg. I.I. ABSENDER: Senter (WARNUNG: UNREDIGIERTES BAND. VERTRAULICH. NICHT ZUR VERÖFFENTLICHUNG BESTIMMT. INHALT ZERFÄLLT BEI UNBEFUGTER ÖFFNUNG) ERSTE STIMME: Bruce? Bist du es? ZWEITE STIMME: Ich bin es. ERSTE: Um Gottes willen, komm herein! Schließ die Tür. Mein Gott, ich dachte, du seist in diesem Vorbereitungsmeeting eingesperrt. Ich glaubte… ZWEITE: Es ist kein Gefängnis. Als ich hörte, daß du hier in der Stadt herumstreichst, wußte ich, daß ich mit dir sprechen muß. ERSTE: Du hast es dir also anders überlegt? ZWEITE: Das darfst du nicht glauben. Ich wollte nur sicherstellen, daß du keine Lügen verbreitest. ERSTE: Wissen sie, daß du hier bist? ZWEITE: Mir ist niemand gefolgt, wenn du das meinst. Man weiß nicht einmal, wer ich bin. Ich habe mich neu definiert, wie wir sagen. ERSTE: Aber sie überprüfen alles. Das sind keine Narren. Bald werden sie alles herausfinden – wenn das nicht schon geschehen ist.
ZWEITE: Sie überprüfen nichts. Auch das ist eine Lüge. Außerdem, nach meiner Aufnahme werde ich ihnen sowieso alles sagen. ERSTE: Bruce – es ist noch nicht zu spät. Wir möchten, daß du wieder nach Hause kommst. ZWEITE: Du kannst Arlene sagen, daß ihr kleines Baby gesund und munter ist. Wie geht es ihr? Weint Mutter weiter über sich selbst wie gewöhnlich? ERSTE: Daß du weggelaufen bist, hat sie ziemlich mitgenommen. ZWEITE: Warum? Hat sie Angst, daß sie beim Sensomaten keinen Kredit mehr kriegt, weil sie zugelassen hat, daß wieder ein möglicher Konsument sich freigemacht hat? ERSTE: Du hättest es nicht gewagt, zu mir zu kommen, wenn du nicht Zweifel hättest. Du könntest einen fürchterlichen Fehler machen. ZWEITE: Ich bin zu dir gekommen, weil ich weiß, daß du anderer Leute Worte verdrehen kannst. Nimmst du dies auf Band? ERSTE: Ja. ZWEITE: Gut. Dann geh jetzt – laß uns bitte in Ruhe. ERSTE: Weißt du, daß sie etwas mit deinem Gehirn angestellt haben? ZWEITE: Hast du in letzter Zeit euer Trinkwasser versucht? ERSTE: Komm mit mir nach Hause. ZWEITE: Ich bin zu Hause. ERSTE: Du hast noch nicht genug von der Welt gesehen, um ihr den Rücken zu kehren. ZWEITE: Ich habe dich und Arlene gesehen. ERSTE: Und ist unser Leben so schrecklich? ZWEITE: Was ihr beide habt, ist kein Leben. Es ist der Wirklichkeit gewordene Amerikanische Traum. Du bist
verzweifelt und weißt es nicht einmal. Das ist das Allerschlimmste. ERSTE: Du wiederholst diese Parolen, als ob du sie selbst glaubtest. ZWEITE: Wieso nimmst du an, daß ich sie nicht glaube? ZWEITE: Du bist mein Fleisch und Blut. Ich kenne dich. ZWEITE: Das tust du nicht. Du weißt nur, daß deine Freude und dein Stolz wegrannte, um ein Mönch zu werden. Arlene ist zu alt, um zum Großen Rat zu gehen und einen zweiten Sohn zu erbitten. ERSTE: Hör zu – auch mir ist Auflehnung nicht ganz unbekannt. Zu meiner Zeit war sie mir durchaus nicht fremd. Sie ist gesund, sie ist natürlich – ich bin ganz dafür. Aber nicht im Übermaß. Wenn die erste Begeisterung vorbei ist, sitzt du hier fest. Und du bist zu smart, um dich in einem Loch wie diesem einsperren zu lassen. ZWEITE: Es ist doch mein Leben, oder? In genau einer Stunde und zehn Minuten bin ich frei, weiß und fünfzehn. Es ist der Unabhängigkeitstag, stimmt’s? Man kann an keinem schöneren Tag geboren sein – das beste, was du und Arlene für mich tatet. ERSTE: Brucie, wir wollen dich wieder haben. Tu was immer du möchtest – sag es nur, und wenn es in meiner Macht steht, werde ich versuchen, es möglich zu machen. Ich habe Freunde, die helfen können. ZWEITE: Ich möchte nichts von dir. Wir sind quitt – kannst du das nicht verstehen? Das einzige, was wir jetzt gemeinsam haben, ist dies: »GERÄUSCH HEFTIGEN ATMENS«. Das ist es. Und wenn du das zurückhaben willst, kannst du es nehmen. Du brauchst nur die Hand auf meinen Mund zu legen und mir für fünf Minuten die Nase zuhalten. Das genügt. ERSTE: Wie kannst du über so etwas Witze machen?
ZWEITE: Warum nicht? Hast du denn nicht gehört? Für meine Generation gibt es nur zwei Wege – Shaker oder das Getto. Wie würde ich wohl mit schwarzem Gesicht aussehen, mit buschigem Haar und einer Gorillanase? Oder ist dir meine erste Wahl lieber? ERSTE: Ich warne dich, man wird bei beidem nicht mehr lange zusehen. Es wird Ärger geben – ich möchte nicht, daß du drinsteckst, wenn er losgeht. ZWEITE: Was werden die Feebies tun? Unsere Arbeit vollenden? ERSTE: Dann ist es also das, was du willst, Selbstmord? ZWEITE: Nicht ganz. Das haben die Bombenwerfer getan. Wir wollen euren Selbstmord begehen. ERSTE: (Worte unverständlich.) ZWEITE: Das wirft dich aber um, wie? Du sprichst von Auflehnung, als verstündest du etwas davon, weil du einmal Perlenketten getragen hast und mit Transparenten herumgelaufen bist. ERSTE: Wir haben den Lauf der Geschichte verändert. ZWEITE: Du hast gar nichts verändert. Du wurdest geschluckt, genau wie die Bombenwerfer. Der einzige Unterschied ist, daß du lebend geschluckt wurdest. ERSTE: Bruce… ZWEITE: Könntest du deine grauen Zellen mal ein wenig anstrengen und versuchen, dir vorzustellen, wie eine wirkliche Revolution aussehen würde? Es wären nicht bloß diese Sprechchöre von »gebt uns, gebt uns, gebt uns…«, sondern die absolute Negation alles Bisherigen? Das Vierfache Nein verbunden in Einem Großen Nein! ERSTE: Brucie – ich mache dir einen Vorschlag… ZWEITE: Niemals zuvor ist alles zu einem verschmolzen worden. Ich erwarte nicht von dir, daß du das siehst. Selbst hier weiß eine Menge Leute nicht, was geschieht. Sühne! Nur
darum geht es! Die Jungen büßen die Sünden ihrer Väter und Mütter! Aber die Jungen sind stets so lebenshungrig, daß sie auf Abwege geraten, bevor sie das Werk vollenden können. Denk an all die armen verdammten Rebellen der Geschichte, immer, wenn sie zu stark wurden, als daß man sie noch hätte vernichten können, kauften die Feebies sie, indem sie ihnen erlaubten, mitzumachen. Zuckerbrot oder Peitsche, und dann – alles wie eh und je. Deine Generation hat sich mehr verkauft als alle anderen. Das Lustige daran ist, daß ihr glaubtet, ihr hättet gewonnen. Und jetzt habt ihr kein Zuckerbrot mehr anzubieten, weil ihr es schon mit uns geteilt habt – bevor wir alt wurden. Und wir sind stark genug, über eure Peitsche zu lachen. Und deswegen wird die Welt zum ersten Male sehen, was totale Revolution ist. ERSTE: Ich dachte, du glaubtest nicht an Gewalt und Haß? ZWEITE: Oh, unsere Kraft ist nicht von dieser Welt. Du kannst die Musikbänder vergessen und die Shakerbikes und die Tänze – das ist die unreine Schale, deren wir uns entledigen müssen. Wenn ihr die Wirklichkeit sehen wollt, dann stellt euch vor, wie wir – alle eure kostbaren kleinen Gen-Maschinen – einen Kreis bilden, unsere Häupter zum Gebet neigen, den Atem anhalten und einer nach dem andern hinübergehen. Meinst du nicht, daß das ein wunderschönes Ende dieser Welt ist? Kein Knall, kein Weinen – nur ein langes, atemloses Amen?
AN: Stock, Geschäftsf. Herausg. I.I. ABSENDER: Senter INHALT: Neuer erster Teil über die. »Shaker-Bewegung« (frühere Sendung löschen; neue Einleitung folgt). JERUSALEM WEST, N. Y. Mittwoch, 4. Juli – Ein früherer Kritiker der Old Shakers, ein robuster Pamphletist, der zehn
Monate lang Mitglied der Sekte gewesen war, schrieb im Jahre 1782 diese prophetischen Sätze über seine früheren Gefährten: »Wenn wir die Unterprivilegiertheit des amerikanischen Bürgers seit der Revolution betrachten, dann wird klar, daß jede Beeinträchtigung des menschlichen Naturrechts, jeder Versuch, unsere ursprüngliche Verfassung zu unterminieren, sei es im weltlichen oder kirchlichen Bereich, die Grundlagen der Unabhängigkeit untergräbt.« In diesem Winter wurde Mutter Anna, die Gründerin der Shaker, in Petersham, Massachusetts, von einer Miliztruppe gefangen genommen, die nach einer zeitgenössischen Darstellung »feststellen wollte, ob sie eine Frau war oder nicht«. Verschiedene andere Shaker-Führer wurden ausgepeitscht, eingekerkert, geteert und gefedert und von den aufgebrachten Bürgern aus einer Stadt von Neuengland nach der anderen vertrieben. Diese grausamen Verfolgungen, die noch über die Jahrhundertwende hinweg andauerten, waren das fast unvermeidliche Ergebnis des Konflikts zwischen den selbstgerechten, unnatürlichen, kompromißlosen Lehren der Shaker – und der pragmatischen, demokratischen, vorwärts gerichteten Mentalität der um ihren Bestand kämpfenden neuen Nation, die eines Tages zusammengefaßt werden würde in diesem stolzen Begriff: The American Way of Life. Dieser Konflikt ist heute nicht weniger heftig. Bis jetzt hat man den New Shakers das zugestanden, was man im Zweifelsfalle jeder anderen harmlosen Randgruppe einräumt. Aber es gibt Beweise dafür, daß sich die Stimmung im Lande ändert – und zwar rasch. Führende Erzieher und Politiker, angesehene Kirchenmänner und prominente Konsumentenberater prangern immer deutlicher die entzweiende Wirkung an, die dieser neue Fanatismus auf das ganze Land ausübt. Seit der Zeit der Bombenwerfer in den späten Siebzigern kam es nicht mehr dazu, daß ein einziges
Problem die informierte öffentliche Meinung so sehr einte. Und ein Chor verzweifelter Eltern beginnt erst jetzt, sich Gehör zu verschaffen – ihre Wehklagen erschüttern wie die Klagen Rachels in der Wüste. Angesichts der fortwährend kritischer werdenden internationalen Lage und des ungelösten Problems der Gettos spricht man in einigen Kontrollbehörden schon von neuen einschränkenden Vorschriften für alle Mönchssekten – nicht in der Absicht, die religiöse Freiheit zu beschneiden, aber aus dem Bemühen heraus, die verfassungsmäßigen Garantien freier Persönlichkeitsverwirklichung und freien Konsums zu gewährleisten. Nicht wenige sind der Ansicht, daß es, handelt die Regierung nicht rasch und bestimmt, schwieriger und schwieriger werden wird, zornige Eltern – und andere Bürger mit legitimen Anliegen – daran zu hindern, selbst das Gesetz in die Hand zu nehmen. – WEITERES FOLGT –
Originaltitel: THE SHAKER REVIVAL Copyright © 1970 by Gerold Jonas Aus GALAXY Übersetzt von Rudolf Mühlstrasser
Theodore Sturgeon DAS ERWACHEN
1 Er wußte nicht, wer sie eigentlich war, als sie ihm zum erstenmal begegnete – nun, das ist eigentlich bei den meisten Menschen der Fall, wenn sie sich zum erstenmal begegnen. Er war oben im Obstgarten und arbeitete unter einem Pfirsichbaum. Das Land roch nach Spätsommer und Wind und – ja, nach Bronze, es roch, wie vielleicht Bronze riechen könnte. Er blickte von seiner Arbeit auf und sah ein Mädchen vor sich stehen, irgendwie resolut, selbstsicher, etwa Mitte Zwanzig, mit einem Gesicht, das so gar nicht ängstlich war, und mit Augen, die dieselbe Farbe hatten wie ihr Haar, – was recht ungewöhnlich war, weil sie rotgoldene Haare hatte. Sie blickte auf einen Mann herunter, der in den Vierzigern war, dessen Haut vom Wetter wie gegerbt aussah, und der ein Goldblatt-Elektroskop in der Hand hielt – und sie kam sich wie ein Eindringling vor. »Oh«, sagte sie, und damit hatte sie offenbar den richtigen Ton getroffen, denn er nickte und sagte nur: »Malten Sie das…« und da konnte man sich natürlich nicht mehr gut als Eindringling fühlen. Sie kniete sich neben ihn nieder, nahm das Instrument und hielt es genau über die Stelle, die er ihr zeigte. Er ging ein paar
Schritte zurück und schlug mit einer Stimmgabel an seine Knie. »Was macht es jetzt?« Er hatte eine schöne Stimme, die sogar Fremde aufhorchen ließ. Sie blickte auf die beiden dünnen Goldblätter in dem Glasgefäß. »Sie bewegen sich auseinander.« Er schlug die Gabel ein zweitesmal an, und die Goldblätter wurden wieder auseinandergedrückt. »Viel?« »Ungefähr 45 Grad, wenn Sie die Gabel anschlagen.« »Gut, das dürfte das Äußerste sein, was wir erreichen können.« Aus einer Tasche seiner Buschjacke zog er ein Säckchen mit Kreidestaub und streute etwas von der Kreide auf die Stelle, auf der er stand. »Ich werde jetzt weitergehen. Sie bleiben hier und sagen mir jedesmal, wie weit sich die Blätter auseinanderbewegen.« Er ging im Zickzack um den Baum herum und schlug immer wieder seine Stimmgabel an. Sie rief ihm jedesmal eine Zahl zu – zehn Grad, dreißig, fünf, zwanzig, null. Jedesmal, wenn die Goldblätter am weitesten auseinandergedrückt wurden – das Maximum lag etwa bei 40 Grad oder etwas mehr –, streute er etwas Kreide auf den Boden. Als er fertig war, war der Baum von einem Oval weißer Punkte umgeben. Er zog ein Notizbuch heraus, machte eine Zeichnung von dem Oval und dem Baum, dann steckte er das Buch ein und nahm das Elektroskop aus ihren Händen. »Haben Sie hier etwas Bestimmtes gesucht?« fragte er sie. »Nein«, sagte sie. »Ja.« Er konnte tatsächlich lächeln. Und obwohl dieses Lächeln nicht lange dauerte, fand sie den Ausdruck irgendwie überraschend auf seinem Gesicht.
»Das ist nicht gerade das, was man vor Gericht eine zutreffende Antwort nennt.« Ihr Blick schweifte zu den Hügeln hinüber, die unter dem flach einfallenden Licht metallisch glänzten. Es gab nicht sehr viel zu sehen – Felsen, Unkraut, das der Sommer schon verdorrt hatte, da und dort einen Baum und den Obstgarten. Jeder, der hier war, mußte einen ziemlich langen Weg hinter sich haben. »Es war keine einfache Frage«, sagte sie und versuchte dabei zu lächeln, aber statt dessen brach sie dabei in Tränen aus. Es tat ihr leid, und sie sagte es ihm auch. »Warum?« fragte er. Und hier machte sie zum erstenmal Bekanntschaft mit seiner Art, immer gleich die nächste Frage zu stellen. Das verwirrte sie. Es würde sie immer wieder verwirren – und oft noch viel mehr als diesmal. »Nun – man hat eben keine solchen Gefühlsausbrüche in Gegenwart anderer.« »Sie hatten aber welche. Diesen ›man‹, von dem Sie sprachen, kenne ich nicht.« »Ich – ich fürchte, ich kenne ihn auch nicht, jetzt, da Sie es sagen.« »Also dann sagen Sie die Wahrheit. Es hat keinen Sinn, immer nur herumzureden – er wird denken, daß ich… oder so etwas Ähnliches. Ich denke sowieso, was ich denke, gleichgültig, was Sie sagen. Andernfalls gehen Sie wieder den Berg hinunter, wo Sie hergekommen sind, und sagen Sie nichts mehr.« Sie machte aber keine Anstalten dazu, also sprach er weiter: »Versuchen Sie es also mit der Wahrheit. Wenn es wichtig ist, ist es auch einfach. Und wenn es einfach ist, kann man es auch mit ganz einfachen Worten sagen.« »Ich werde sterben«, schluchzte sie. »Das werde ich auch.«
»Ich habe einen Tumor in der Brust.« »Kommen Sie mit ins Haus, und ich werde ihn mir ansehen.« Ohne ein weiteres Wort zu sagen, drehte er sich um und ging durch den Obstgarten voran. Sie stand da und sah ihm nach, verblüfft, sprachlos, entrüstet und zugleich voll wilder Hoffnung – sogar ein erstauntes Lachen wollte in ihr aufsteigen. Dann wurde ihr bewußt, daß sie schon eine Weile hinter ihm herlief (wie komme ich eigentlich dazu?). Am oberen Ende des Obstgartens hatte sie ihn schließlich eingeholt. »Sind Sie Arzt?« Er schien nicht bemerkt zu haben, daß sie erst gewartet hatte und ihm dann nachgelaufen war. »Nein«, sagte er und ging weiter. Er schien auch jetzt nicht zu merken, daß sie wieder stehen blieb, nervös an ihrer Unterlippe zupfte und dann wieder lief, um ihn einzuholen. »Ich muß verrückt sein«, sagte sie sich und holte ihn schließlich auf dem schmalen Gartenweg ein. Sie hatte es zu sich selbst gesagt, und das mußte er gewußt haben, denn er gab keine Antwort. Überall im Garten blühten wilde Chrysanthemen, und in einem kleinen Teich sah sie das gelegentliche Aufblitzen der beiden Goldfische – das heißt, es waren eigentlich schon fast Silberfische –, die größten, die sie je gesehen hatte. Dann standen sie vor dem Haus. Auf den ersten Blick schien es ein Teil des Gartens zu sein, mit seiner Säulenveranda – aber dann, als sie die aus großen Felsbrocken gemauerten Wände sah, schien es eher ein Teil des Berges zu sein. Es stand am Hang und war zugleich in den Hügel hineingebaut. Die Dächer verliefen parallel zu den aufstrebenden Senkrechten der Vorder- und Seitenwände, und ein Teil davon verband sich mit einem vorspringenden kahlen Felsen des Hügels. Die Tür war aus mächtigen Balken mit Beschlägen verstärkt, und sie sah, daß sie zwei kleine Schlitze
hatte, die wie Schießscharten aussahen. Die Tür öffnete sich langsam, aber sie sah niemand, der sie öffnete. Als sie sich hinter ihnen wieder schloß, geschah das völlig geräuschlos, was die Welt und die Dinge, die hinter ihnen lagen, nur um so nachdrücklicher ausschloß – nachdrücklicher, als wenn sie mit einem Klicken oder mit Getöse ins Schloß gefallen wäre. Sie lehnte sich mit dem Rücken gegen die Tür und sah ihm nach, wie er eine freie Fläche überquerte, die ihr wie der Mittelpunkt des Hauses vorkam, wenigstens dieses Teils des Hauses. Es war ein kleiner Innenhof, in dessen Mittelpunkt eine Art Atrium stand, auf allen fünf Seiten von Glaswänden umgeben und nur nach oben hin zum Himmel offen. In ihm stand ein Baum, eine Zypresse, eine Art Wacholderstrauch, knorrig und verwachsen in jener typischen Windung, daß er wie eine Holzskulptur wirkte, die die Japaner bonsai nennen. »Wollen Sie nicht mitkommen?« rief er und hielt eine Tür auf, die in den kleinen Atriumbau führte. »Bonsai werden doch keine fünf Meter groß«, sagte sie. »Dieser schon.« Sie ging langsam an dem Baum vorbei und betrachtete ihn. »Wie lange haben Sie ihn schon?« Am Klang seiner Antwort merkte sie, daß ihm ihre Frage sehr gefallen hatte. Es ist nämlich etwas unhöflich, den Besitzer eines Bonsai zu fragen, wie alt der Baum ist – denn damit fragt man ihn zugleich, ob das allein seine Arbeit sei, oder ob er ihn übernommen und damit nur das Konzept eines anderen fortgeführt habe. Man bringt ihn möglicherweise in Versuchung, die mühselige Arbeit eines anderen als seine eigene auszugeben, und es ist keine schöne Sache, einem Mann zu verstehen zu geben, daß man ihm nicht ganz glaubt. Wie lange haben Sie ihn denn schon? – das ist höflich und rücksichtsvoll. »Mein halbes Leben lang«, antwortete er.
Sie sah sich den Baum an. Solche Bäume kann man manchmal finden, nicht gerade auf Abfallhaufen, aber ganz vergessen, eingepflanzt in rostige Blechkübel, in entlegenen weniger geschäftstüchtigen Gärtnereien, und sie werden nur deswegen nicht verkauft, weil ihr Wuchs zu bizarr ist, weil sie da und dort schon abgestorbene Äste haben und weil sie teilweise oder als ganzes zu langsam gewachsen sind. Das sind dann diejenigen, die einmal die interessantesten Stämme entwickeln werden und eine Widerstandskraft, die sie selbst auf dem allerkargsten Boden noch ausharren läßt. Dieser Baum war viel älter als das halbe Leben dieses Mannes, vielleicht älter als sein ganzes. Sie sah den Baum wieder an und erschrak bei dem absurden Gedanken, daß Feuer, eine Eichhörnchenfamilie, irgendwelche Würmer oder Termiten aus der Erde dieser Schönheit ein Ende machen könnten, Mächte, die außerhalb jedes Konzepts lagen, die nichts mit Rechtschaffenheit oder Gerechtigkeit – oder Anstand zu tun hatten. Sie sah den Mann an. »Kommen Sie mit?« fragte er. »Ja«, sagte sie und folgte ihm in sein Labor. »Setzen Sie sich dorthin und ruhen Sie sich aus«, sagte er zu ihr. »Es kann eine Weile dauern.« Er deutete auf einen großen Ledersessel neben einem Bücherregal. Die Bücher offenbarten ein ganzes Spektrum von Wissens- und Interessengebieten – Nachschlagewerke über Medizin, Technik, Atomphysik, Chemie, Biologie, Psychiatrie. Aber auch Tennis, Gymnastik, Schach, das orientalische Kriegsspiel GO und Golf. Und dann Dramen und Titel wie Die Technik des Romans, Modern English Usage, The American Language mit Ergänzungsbändern, Woods und Walkers Reimlexikon und eine ganze Reihe anderer Lexika und Enzyklopädien, dazu eine stattliche Reihe von Biographien.
»Sie haben eine große Bibliothek.« Seine Antwort war ziemlich kurz. Offenbar wollte er nicht sprechen, denn er war gerade sehr beschäftigt. Er brummte nur: »Ja, das stimmt – vielleicht können Sie sie bei Gelegenheit ansehen.« Es blieb ihr überlassen, herauszufinden, was er damit gemeint hatte. Das konnte doch nur bedeuten, daß er die Bücher, die in diesem Regal standen, griffbereit für seine Arbeit brauchte, und daß die eigentliche Bibliothek woanders war, dachte sie und warf ihm einen beinahe ehrfürchtigen Blick zu. Sie saß da und sah ihm bei der Arbeit zu. Es gefiel ihr, wie er sich bewegte – schnell, entschlossen. Ganz klar, er wußte genau, was er in jedem Augenblick tat. Er hantierte mit einigen Instrumenten, die sie erkannte – einem gläsernen Destillierkolben, einem Titriergerät und einer Zentrifuge. Zwei Kühlschränke waren vorhanden, das heißt, einer sah zwar so aus, schien aber kein Kühlschrank zu sein, wenn man der Skala an der Tür Glauben schenken konnte. Sie zeigte 21 Grad Wärme an. Sie kam auf den Gedanken, daß ein modernes Kühlaggregat vollkommen den Erfordernissen angepaßt werden konnte and die Temperatur konstant hielt, ob die Umgebung nun zu warm war oder zu kalt. Aber all das – und noch dazu eine ganze Reihe von Geräten, die sie nicht kannte – waren nur tote Gegenstände. Der Mann war es, der sie interessierte und ihre Aufmerksamkeit in Anspruch nahm, daß sie nicht einmal auf den Gedanken kam, sich näher mit den Büchern zu beschäftigen. Schließlich hatte er eine Reihe von Geräten hintereinander auf dem Arbeitstisch aufgebaut und miteinander verbunden. Er schaltete sie nacheinander ein, dann nahm er sich einen hohen Hocker und kam zu ihr herüber. Er setzte sich darauf, hakte seine Absätze hinter eine Quersprosse und legte seine breiten braunen Hände auf die Knie.
»Angst.« So wie er es sagte, klang es eher wie eine Feststellung. »Ich glaube schon.« »Sie brauchen nicht hierzubleiben.« »Wenn ich an die andere Möglichkeit denke…« sagte sie tapfer, aber der mutige Klang in ihrer Stimme war bald verschwunden. »Sehr viel schlimmer kann es nicht mehr werden.« »Sehr vernünftig«, sagte er fast fröhlich. »Ich kann mich noch erinnern, als ich ein kleines Kind war –, da brach in dem Haus, in dem wir lebten, Feuer aus, und alle gerieten in Panik. Es gab ein wüstes Durcheinander, denn jeder wollte hinaus. Mein zehnjähriger Bruder stand auf einmal ganz allein mitten auf der Straße mit seinem Wecker unterm Arm. Der Wecker war alt, und er ging auch nicht mehr – aber unter all den Dingen, die er im Augenblick der Gefahr hätte mitnehmen können, war seine Wahl ausgerechnet auf diese wertlose Uhr gefallen. Er konnte mir nie sagen, warum.« »Wissen Sie es vielleicht?« »Nicht, warum er gerade dieses Ding mitnahm – das nicht. Aber ich glaube, ich weiß, warum er etwas so Irrationales getan hat. Sehen Sie, Panik ist ein besonderer Zustand. Wie es einen bestimmten Zusammenhang gibt zwischen Flucht und Furcht, zwischen Wut und Handgreiflichkeit, so war das einfach eine Reaktion auf eine extreme Gefahrensituation. Möglicherweise drückt sich hier der Wille zum Überleben aus. Das Besondere daran ist nur, daß es so irrational ist. Jetzt erklären Sie mir, warum das Ausschalten jeglicher Vernunft ein Überlebensmechanismus sein kann.« Sie dachte angestrengt nach. Wieder war es die Bestimmtheit dieses Mannes, die ein ernsthaftes Nachdenken geradezu herausforderte.
»Ich kann es mir nicht denken«, sagte sie schließlich. »Es sei denn in Situationen, wo die Vernunft tatsächlich nicht mehr weiterhilft.« »Aber sicher können Sie es sich denken«, sagte er und strahlte wieder dieses starke Mitgefühl aus, das sie so angenehm berührte. »Sie haben es ja gerade getan. Wenn Sie in Gefahr sind und versuchen es mit der Vernunft, und die Vernunft nützt Ihnen nichts, dann werfen Sie sie gewissermaßen über Bord. Sie können doch nicht sagen, daß es unintelligent ist, etwas über Bord zu werfen, was Ihnen im Moment nichts nützt, nicht wahr? Also geraten Sie in Panik. Sie fangen an, ›zufällig‹ zu handeln. Die meisten dieser Handlungen – bei weitem die meisten – werden Ihnen nichts nützen. Einige können für Sie sogar sehr gefährlich sein. Aber das macht nichts, denn Sie befinden sich ja ohnehin schon in Gefahr. Wenn sie unbewußt so handeln, dann deshalb, weil Sie überleben wollen und überzeugt sind, daß eine Chance von 1:1000000 besser ist als gar keine. Sie sitzen hier. Sie haben Angst, und Sie können jederzeit davonlaufen. Irgend etwas redet Ihnen zu, davonzulaufen, aber Sie wollen nicht.« Sie nickte. »Sie haben ein Geschwür in Ihrer Brust entdeckt«, fuhr er fort. »Sie sind zu einem Arzt gegangen, der hat einige Untersuchungen angestellt und Ihnen dann die Hiobsbotschaft mitgeteilt. Vielleicht sind Sie dann noch zu einem anderen Arzt gegangen, und der hat den Befund des ersten Arztes bestätigt. Dann haben Sie sich etwas umgehört und herausgefunden, was als nächstes geschehen würde. – Operative Entfernung, fragwürdige Genesung, die endlose Marter bis zu der Erkenntnis, ein sogenannter hoffnungsloser Fall zu sein. Da haben Sie durchgedreht. Sie haben Dinge getan – und hoffen jetzt, daß ich Sie nicht danach fragen werde. Sie sind weggefahren, irgendwohin, plötzlich sind Sie
zufällig in meinem Obstgarten aufgetaucht.« Er hob die Hände und spreizte die Finger, dann ließ er sie wieder auf seine Knie sinken. »Panik. Deswegen stehen kleine Jungen mitten in der Nacht im Nachthemd auf der Straße mit einem kaputten Wecker unter dem Arm – und deshalb gibt es auch überall Quacksalber.« Auf dem Arbeitstisch kochte etwas und schäumte über. Er lächelte ihr zu und wandte sich wieder seiner Arbeit zu. Über die Schulter sagte er: »Nebenbei bemerkt, ich bin kein Quacksalber. Um sich als Quacksalber zu etablieren, müßte ich vorgeben, ein Arzt zu sein. Das will ich nicht.« Sie sah ihm bei der Arbeit zu, wie er da etwas einschaltete, wieder abschaltete, dort umrührte, abmaß, ausrechnete, als ob er ein kleines Orchester aus komplizierten Instrumenten zu dirigieren hätte, tutti, soli, es sirrte, zischte, kochte und blubberte. Sie wollte lachen, weinen, sogar schreien. Sie tat nichts dergleichen – aus Angst, sie könnte niemals mehr aufhören. Als er sich wieder zu ihr setzte, hatte sich ihre innere Erregung gelegt, die Spannungen und Gegensätze hatten sich ausgeglichen, so daß sie apathisch und wie gelähmt dasaß. Alles, was sie noch tun konnte, war, vor Schreck die Augen weit aufzureißen, als sie die Instrumente in seinen Händen sah. Sie vergaß zu atmen. »Es stimmt schon, es ist eine Nadel«, sagte er, und es klang fast belustigt. »Eine schöne lange funkelnagelneue spitze Nadel. Jetzt sagen Sie mir bloß nicht, daß Sie zu den Leuten gehören, die Angst vor einer Nadel haben.« Er flippte den langen Schlauch, der an das hintere Ende der Injektionsspritze angeschlossen war, etwas zur Seite und angelte mit dem Fuß nach seinem Hocker. »Möchten Sie vorher etwas zur Beruhigung?«
Sie konnte nicht sprechen vor Angst. Die Hülle, die ihr Selbst noch zusammenhielt, war sehr dünn und brüchig und zum Zerreißen gespannt. »Es ist mir auch lieber so«, sagte er, »denn die Medizin, die ich Ihnen jetzt gebe, ist an sich schon sehr komplex. Aber wenn Sie es trotzdem brauchen…« Irgendwie brachte sie es fertig, den Kopf zu schütteln, und sofort fühlte sie wieder diese große, aufrichtige Zuneigung seinerseits. Es gab tausend Fragen, die sie stellen wollte – die sie hatte stellen wollen –, die so wichtig für sie waren. Was war in der Injektionsspritze? Wie oft mußte sie behandelt werden? Und wie würden diese Behandlungen sein? Wie lange mußte sie bleiben und wo? Und was am wichtigsten war, – würde sie am Leben bleiben, durfte sie am Leben bleiben?
2 Es schien, als würde ihn nur eine dieser unausgesprochenen Fragen interessieren. »Es handelt sich dabei um Kaliumisotope. Wenn ich Ihnen alles erzählen würde, was ich darüber weiß und wie ich das erste Mal darauf kam, es würde mehr Zeit in Anspruch nehmen als wir haben. Aber den Grundgedanken kann ich Ihnen darlegen. Theoretisch ist jedes Atom elektrisch neutral – abgesehen von einigen bekannten Ausnahmen. Dementsprechend müßten auch alle elektrischen Ladungen eines Moleküls ausgeglichen sein – soviele Plus, ebensoviele Minus, gibt insgesamt Null. Zufällig bin ich auf die Tatsache gestoßen, daß die elektrischen Ladungen einer wildwuchernden Zelle sich nicht gegenseitig aufheben – wenigstens nicht ganz. Es ist, als ob sich in dem Molekülgefüge ein winziges submikroskopisches Gewitter
entladen würde – mit Blitzen, die hin und her zucken und die Signale verändern, das Kommunikationssystem in den Zellen stören«, sagte er und stieß, als ob er seinen Worten Nachdruck verleihen wollte, mit der Injektionsspritze in die Luft. »… und das ist es, worauf es ankommt. Wenn dieses Kommunikationssystem durch irgend etwas gestört wird – vor allem der RNA-Mechanismus, der das Signal gibt: Lies diese Schaltkreiszeichnung, baue entsprechend dieser Zeichnung und höre auf, wenn es fertig ist! –, wenn also diese Botschaft in Unordnung gerät, entstehen falsche, einseitige Gebilde, Zellen, die nicht im Gleichgewicht sind, die nur zum Teil ihre Funktionen erfüllen, die nur ungenau arbeiten. Es sind wilde Zellen, und die Botschaften, die sie weitergeben, sind ebenfalls wilde Impulse. Es ist von zweitrangiger Bedeutung, ob diese ›Gewitterstürme‹ von einem Virus, von Chemikalien, Strahlung, einem physischen Trauma – oder auch nur von Angst – ausgelöst werden. Sie werden es vielleicht nicht für möglich halten, daß einfache Angst solche Störungen auslösen könnte, aber es ist der Fall. Worauf es ankommt ist, diese Zellen zu finden und so zu beeinflussen, daß der Gewittersturm gar nicht erst auftreten kann. Wenn das gelingt, dann haben die Zellen von sich aus die Fähigkeit, sich zu regenerieren und den entstandenen Schaden zu beheben. Biologische Systeme sind nicht wie Tischtennisbälle mit einer statischen Ladung, die nur darauf warten, daß sie die Ladung abgeben oder über einen geerdeten Draht abführen können. Sie haben eine Art Toleranzvermögen – ich nenne es einfach Großzügigkeit –, mit dem sie auch einmal etwas weniger oder mehr Ladung aufnehmen können und trotzdem richtig funktionieren. Nehmen wir einmal einen wildwachsenden Zellenverband an und nehmen wir weiter an, daß diese Zellen einen Überschuß von hundert Einheiten positiver Ladung besitzen. Dann werden
zwar die gesunden Zellen in der unmittelbaren Umgebung berührt, nicht aber die in der nächsten Schicht oder in der übernächsten. Wenn man nun auch diese Zellen für diesen Überschuß an Ladung heranziehen könnte – also wenn sie praktisch mithelfen könnten, diesen Überschuß auf eine größere Anzahl zu verteilen –, dann könnten die kranken Zellen gewissermaßen von ihrem Übermaß an Ladung entlastet werden. Verstehen Sie, was ich meine? Sie wären durchaus in der Lage, dieses kleine Mehr an Ladung zu verkraften, oder, wenn notwendig, an andere Zellen weiterzugeben. Mit anderen Worten: wenn es mir gelingt, Ihren Körper mit einem Medium zu durchsetzen, das diesen Ladungsüberschuß verteilt, gewissermaßen seine Konzentration verdünnt, dann können die normalen Widerstandskräfte ihres Körpers leicht mit den kranken Zellen allein fertig werden. Und das ist genau das, was ich hier habe.« Er klemmte sich die Injektionsnadel zwischen die Knie und zog aus einer Tasche seines Labormantels eine kleine Plastikschachtel. Er öffnete sie und nahm einen mit Alkohol getränkten Schwamm heraus. Während er immer noch begeistert weitersprach, nahm er ihren vor Angst gefühllos gewordenen Arm und rieb mit dem Schwämmchen ihre Armbeuge ab. »Ich würde nicht eine Sekunde lang behaupten, daß die Kernladung eines Atoms etwa mit statischer Ladung zu vergleichen sei. Dazu sind sie viel zu verschieden. Aber trotzdem hat dieser Vergleich etwas für sich. Und ich könnte sogar noch einen anderen Vergleich wählen. Ich könnte dieses Ladungsgleichgewicht in den wilden Zellen mit einer Konzentration von Fettsäuren vergleichen und diese Flüssigkeit, die ich hier in der Spritze habe, mit einem Lösungsmittel, das diese Säuren spaltet und soweit verdünnt,
bis sie nicht mehr feststellbar sind. Aber eine Nebenwirkung, die ich ganz zufällig entdeckt habe, läßt mich eher an der Analogie zu der statischen Elektrizität festhalten: Organismen, die mit diesem Stoff geimpft werden, bilden ein äußerst starkes elektrostatisches Feld aus. Es ist zwar nur eine Nebenwirkung, und aus bestimmten Gründen ist es für mich vorläufig auch nur eine Theorie, aber zwischen diesen Fällen und dem hörbaren Spektrum, also Stimmgabeln und dergleichen, scheint irgendein Zusammenhang zu bestehen. Damit war ich auch gerade beschäftigt, als ich Sie traf. Jener Baum wurde getränkt mit diesem Präparat. Früher hatte er immer Wucherungen, die auf kranke Zellen zurückzuführen waren. Jetzt ist er wieder vollkommen gesund.« Er lächelte ihr aufmunternd zu, aber sein Gesicht wurde rasch wieder ernst, als er die Injektionsnadel nach oben hielt und prüfend etwas Flüssigkeit herausspritzte. Seine andere Hand legte sich um ihren linken Bizeps und knetete ihn vorsichtig durch. Dann senkte er die Nadel, setzte sie an und ließ sie so vorsichtig in die große Vene gleiten, daß sie laut nach Luft keuchte – nicht weil es weh tat, sondern gerade weil sie überhaupt nichts gespürt hatte. Aufmerksam beobachtete er den Glastubus, der aus dem schwarzen Halter etwas vorstand. Er zog den Kolben um einen Bruchteil zurück und sah, wie vom hinteren Ende der Nadel eine kleine rote Blutwolke in die färblose Flüssigkeit quirlte. Dann schob er den Kolben ganz langsam, aber stetig nach vorn. »Bitte, bewegen Sie sich jetzt nicht. Es tut mir leid, aber es wird etwas länger dauern. Ich muß ziemlich viel von dieser Flüssigkeit in Sie hineinpumpen. Das ist nämlich gut, wissen Sie«, sagte er und verfiel wieder in den Tonfall, mit dem er ihr vorher die Sache mit dem Spektrum der hörbaren Töne erklärt hatte.
»Denn, Nebeneffekt oder nicht, es besteht ein gewisser Zusammenhang: Gesunde Biosysteme bauen ein starkes elektrostatisches Feld auf, während kranke ein schwaches oder gar keins aufbauen. Mit einem so primitiven und einfachen Instrument wie diesem kleinen Elektroskop hier läßt sich feststellen, ob irgendein Teil des Organismus’ von wild wuchernden Zellen befallen ist. Wenn ja, dann zeigt es auch genau die Lage, den Umfang und die Intensität der Wucherung an.« Vorsichtig veränderte er seinen Griff am Spritzenhalter, ohne jedoch im geringsten die Lage der Nadel oder den Kolbendruck zu verändern. Es fing allmählich an, unbequem zu werden – ein Schmerz, der langsam zu einem stetigen Druck wurde. »Sie werden sich sicher fragen, warum diese Injektionsnadel ein Gehäuse hat, in das ein Draht führt. – Obwohl ich wetten möchte, daß Sie es überhaupt nicht interessiert und daß Sie genauso gut wissen wie ich, daß das ganze Gerede Sie nur ablenken soll. Ich will es Ihnen trotzdem sagen. Es ist nichts weiter als eine Spule, durch die ein hochfrequenter Wechselstrom geschickt wird. Dieses Wechselfeld sorgt dafür, daß die Flüssigkeit magnetisch und elektrostatisch neutral bleibt.« Plötzlich und ohne daß sie etwas spürte, zog er die Nadel heraus, legte den kleinen Wattebausch auf die Einstichstelle und ließ sie ihren Arm abbeugen. »Das hat mir noch niemand nach einer Behandlung gesagt«, sagte sie. »Was?« »Das kostet nichts«, sagte sie. Wieder konnte sie seinen Beifall fühlen, diesmal war er sogar in Worte gekleidet: »Mir gefällt Ihre Art. Wie fühlen Sie sich?«
Sie suchte nach passenden Worten. »Wie jemand, der von der Schlafkrankheit befallen ist, der alle Welt bittet, ihn nicht aufzuwecken.« Er lachte. »Warten Sie nur, es wird nicht lange dauern, und Sie werden sich so sonderbar fühlen, daß Sie gar keine Zeit für Hysterie haben werden.« Er stand auf, rollte das Kabel ein und legte die Nadel auf den Tisch zurück. Dann schaltete er das Wechselfeld ab und kam mit einer großen Glasschüssel und einer Sperrholzplatte zurück. Er drehte die Schüssel um, stellte sie neben ihr auf den Boden und legte die Platte darauf. »Ich kann mich an so etwas Ähnliches erinnern«, sagte sie. »Es war auf dem Gymnasium. Wir erzeugten damals künstliche Blitze mit einem – lassen Sie mich überlegen – ja, über zwei Rollen lief ein langes Band, und dieses Band lief an einer kleinen Drahtbürste vorbei, und darüber war eine große kupferne Kugel.« »Ein Van de Graf-Generator.« »Stimmt. Wir haben alles mögliche mit ihm gemacht. Ich kann mich noch gut erinnern, wie ich auf einem Brett stand, das über eine Schüssel gelegt war, und wie sie mich mit dem Generator aufgeladen haben. Ich habe nicht viel dabei gespürt, nur das Haar stand mir vom Kopf weg. Alle haben darüber gelacht, ich muß ausgesehen haben wie ein Struwwelpeter. Sie haben mir dann gesagt, daß ich mit vierzigtausend Volt geladen gewesen wäre.« »Das ist gut. Es freut mich, daß Sie sich daran noch erinnern. Unser Experiment wird ein klein wenig anders sein. Es kommen noch etwa vierzigtausend Volt dazu.« »Oh!« »Haben Sie keine Angst! Solange Sie gut isoliert sind und geerdete oder indirekt geerdete Dinge – wie ich zum Beispiel –
in ausreichender Entfernung von Ihnen bleiben, wird es kaum zu einem Feuerwerk kommen.« »Werden Sie dazu auch so einen Generator nehmen?« »Nein, Sie sind in diesem Fall der Generator.« »Ich bin – was?« Sie hatte ihren Arm von der Sessellehne erhoben und sofort sprühten knisternde Funken. Die Luft roch nach Ozon. »Sie sind schon soweit – und stärker als ich dachte. Stehen Sie jetzt auf.« Sie wollte sich langsam vom Stuhl erheben, doch sie beendete dieses Manöver schneller als sie vorgehabt hatte. Kaum hatte sich ihr Körper von dem Stuhl gelöst, als sie für den Bruchteil einer Sekunde auf einem Polster aus sprühenden blauweißen Funkenfäden zu sitzen schien. Entweder waren die Funken oder sie selbst daran schuld, daß sie eineinhalb Meter nach vorn gerissen wurde. Sie war im wahrsten Sinn des Wortes so schockiert, daß sie fast gestürzt wäre. »Bleiben Sie auf den Füßen!« rief er. Entsetzt nach Luft ringend erholte sie sich langsam wieder. Er trat einen Schritt zurück. »Stellen Sie sich jetzt auf das Brett! Aber bitte schnell!« Sie tat, was er ihr befohlen hatte, und die zwei Schritte, die sie gehen mußte, hinterließen auf dem Boden schnell verlöschende Abdrucke aus blauen Funken. Vorsichtig stieg sie auf das Brett, und sofort begann ihr Haar nach allen Seiten wegzustehen. »Was geschieht jetzt mit mir?« rief sie. »Sie werden noch weiter aufgeladen«, sagte er gutgelaunt, aber dieses Mal hatte sie wenig Lust, nach einer schlagfertigen Antwort zu suchen. »Was geschieht denn mit mir?« rief sie wieder. »Es ist ganz in Ordnung so«, sagte er beschwichtigend.
Er ging zu seinem Arbeitstisch zurück und schaltete einen Tongenerator ein. Ein tiefes Summen im Bereich zwischen 100 und 300 Hertz setzte ein. Er erhöhte die Lautstärke und verstellte etwas die Tonhöhe. Der Apparat heulte auf, und ihr rotgoldenes Haar reckte sich noch weiter, schien zu flattern, es war, als würde jedes einzelne Haar versuchen, von seinem Nachbar so weit wie möglich Abstand zu halten. Er steigerte die Tonhöhe bis auf etwa zehntausend Hertz und ließ sie dann wieder abfallen bis zu kaum hörbaren und Bauchschmerzen verursachenden elf Hertz. Bei den beiden extremen Tonhöhen war ihr Haar jeweils wieder zusammengefallen, aber bei etwa elfhundert Hertz stand es senkrecht weg wie bei einem Struwwelpeter und so, wie sie es beschrieben hatte. Sie konnte es direkt fühlen. Er drehte die Lautstärke herunter auf ein erträgliches Maß und nahm das Elektroskop. Lächelnd näherte er sich ihr. »Sie sind ein Elektroskop, wissen Sie das? Und ein lebender Van de Graf-Generator. Und ein Struwwelpeter!« »Erlauben Sie mir, daß ich mich wieder hinsetze«, war alles, was sie sagen konnte. »Noch nicht. Bitte bleiben Sie so stehen. Das Spannungsdifferential zwischen Ihnen und allem anderen hier im Raum ist so hoch, daß Sie sich schlagartig entladen würden, wenn Sie nur in die Nähe eines dieser Gegenstände kommen würden. Es könnte Ihnen zwar nicht viel geschehen – denn die Stromstärke ist nicht sehr hoch – aber Sie könnten Verbrennungen erleiden und einen Nervenschock.« Er hielt das Elektroskop in ihre Richtung. Selbst auf diese Entfernung – und in ihrer Todesangst – konnte sie sehen, wie die Goldblättchen auseinanderstrebten. Er ging im Kreis um sie herum, wobei er die Blätter aufmerksam beobachtete und das Instrument einmal näher und einmal weiter von ihr weghielt. Ab und zu ging er zu dem Tongenerator und drosselte ihn noch
weiter. »Sie senden ein so starkes Feld aus, daß ich gar keine Veränderungen wahrnehmen kann«, erklärte er und näherte sich wieder, diesmal aber etwas mehr. »Ich kann nicht… länger… ich kann nicht«, murmelte sie. Er hatte es nicht gehört oder kümmerte sich nicht darum. Er bewegte das Elektroskop vor ihrer Brust auf und ab und dann von einer Seite zur anderen. »Aha, da ist er ja«, rief er triumphierend und hielt das Gerät nahe an ihre rechte Brust. »Was?« wimmerte sie. »Ihr Krebs. Rechte Brust, ziemlich tief, in der Nähe der Achselhöhle.« Er pfiff durch die Zähne. »Und ein ganz gemeiner noch dazu. Bösartig wie der Teufel.« Sie schwankte und fiel vornüber zu Boden. Ihr wurde schwarz vor den Augen, doch bevor sich die Schwärze endgültig und bleischwer auf sie legte, schien ihr Gesichtsfeld in einem blauweißen Funkenregen zu explodieren. Ein Ort, an dem Wand und Decke zusammentreffen. Eine andere Decke. Eine andere Wand. Hab ich bisher noch nie gesehen. Macht nichts. Denk dir nichts dabei. Schlafe. Ein Ort, an dem Wand und Decke zusammentreffen. Etwas steht im Weg. Sein Gesicht, nahe, angespannt, müde – – aber die Augen sind wach und durchdringend. Macht nichts. Kümmere dich nicht darum. Schlafe. Ein Ort, an dem Wand und Decke zusammentreffen. Etwas unterhalb Sonnenlicht. Weiter drüben rostgoldene Chrysanthemen in einer goldgrünen Glasschale. Irgend etwas ist wieder dazwischen – sein Gesicht. »Können Sie mich hören?«
Ja, aber antworte nicht. Beweg dich nicht. Sprich nicht. Schlafe. Es ist ein Zimmer, eine Wand, ein Tisch, ein Mann geht auf und ab – ein Nachtfenster und Chrysanthemen, du glaubst noch, sie blühten, aber weißt du nicht, daß sie abgeschnitten wurden und verwelken? Wissen sie das? »Wie geht es Ihnen?« Dringend! Dringend! »Durstig.« Kälte und ein bitterer Geschmack, der ihr in den Kinnmuskeln weh tat. Grapefruitsaft. Er stützte sie mit einem Arm, in der anderen Hand hielt er das Glas. O nein, das ist nicht… »Danke. Vielen Dank…« Versuch dich aufzusetzen! Die Bettdecke – mein Kleid! »Tut mir leid«, sagte dieser Beinahe-Gedankenleser, »es gibt Dinge, die getan werden müssen, und bei denen ein Minirock und Unterwäsche keine Rolle mehr spielen. Aber alles ist gewaschen und getrocknet und jederzeit für Sie bereit. Dort drüben.« Das braune Wollkleid und die Höschen und die Schuhe lagen auf dem Stuhl. Er ist sehr rücksichtsvoll, er tritt etwas zurück und stellt das Glas neben eine Karaffe auf dem Nachttisch. »Welche Dinge?« »Erbrechen, Urinieren«, sagte er ganz offen. Unter dem Schutz der Decke, unter der sich mein Körper verstecken kann, aber – ach – nicht verwirrt sein. »Ach, das tut mir leid. Ich muß ja…« Jetzt schüttle den Kopf, und sein Bild schwimmt hin und her. »Sie hatten einen Schock und sind jetzt erst wieder erwacht.«
Er zögerte. Es war das erste Mal, daß sie ihn vor irgend etwas zögern sah. Jetzt wurde sie einen Augenblick lang zum Beinahe-Gedankenleser. Soll ich ihr überhaupt sagen, was ich jetzt denke? Natürlich sollte er. Und er tat es auch. »Sie wollten gar nicht mehr erwachen.« »Es ist alles wie weggeflogen.« »Der Pfirsichbaum, das Elektroskop, die Injektion, die elektrostatische Aufladung.« – »Nein«, sagte sie unbewußt – und dann bewußt: »Nein!« »Nicht nachgeben!« rief er, und das nächste, woran sie sich erinnern konnte, war, daß er sich über sie beugte, mit seinen harten Händen ihren Kopf packte und schüttelte. »Weichen Sie nicht wieder aus. Sie können damit fertig werden. Sie können damit fertig werden, weil jetzt alles vorüber ist! Es ist alles in Ordnung, verstehen Sie das? Ihnen fehlt nichts mehr!« »Sie sagten, ich hätte Krebs.« Sie sagte es schmollend und vorwurfsvoll. Er lachte, wirklich, er lachte. »Das haben Sie mir gesagt.« »Aber ich wußte es gar nicht.« »Das erklärt es dann ja«, sagte er erleichtert. »Nichts in meiner Behandlung hätte diese dreitägige Ohnmacht bei Ihnen bewirken können. Es mußte schon an Ihnen selbst gelegen haben.« »Drei Tage?« Er nickte nur und sprach weiter. »Von Zeit zu Zeit werde ich immer etwas überheblich«, sagte er so gewinnend wie möglich. »Das kommt davon, daß ich die meiste Zeit recht habe. Ich habe ein bißchen mehr als gegeben vorausgesetzt als ich sollte, nicht wahr? Weil ich annahm, daß Sie bei einem Arzt waren und möglicherweise auch eine Biopsie durchführen ließen. Das haben Sie aber nicht getan, nicht wahr?«
»Ich hatte Angst«, sagte sie. Sie sah ihn an. »Meine Mutter ist daran gestorben… und meine Tante… und meiner Schwester haben sie die Brust entfernt. Ich konnte es einfach nicht ertragen. Und als Sie dann…« »… als ich Ihnen sagte, was Sie schon längst wußten und was Sie nur nicht hören wollten, da war es zuviel für Sie. Sie sind zusammengebrochen, einfach in Ohnmacht gefallen. Und das hatte nichts zu tun mit den über siebzigtausend Volt, mit denen Sie aufgeladen waren. Ich konnte Sie gerade noch auffangen.« Er streckte die Arme aus. Seine Unter- und Oberarme waren auf der Innenseite über und über mit Brandwunden bedeckt. »Etwa neun Zehntel dieser Spannung haben mich auch noch umgeworfen. Aber wenigstens haben Sie sich nichts dabei gebrochen.« »Ich danke Ihnen«, sagte sie leise, dann begann sie zu weinen. »Was soll ich jetzt machen?« »Machen? Sie gehen wieder nach Hause, wo immer das auch ist – Sie leben weiter wie bisher.« »Aber Sie sagten doch…« »Wann wird das endlich in Ihren Kopf hineingehen, daß das, was ich mit Ihnen gemacht habe, keine Untersuchung war.« »Wollen Sie… soll das heißen, daß ich geheilt bin?« »Ich würde es so ausdrücken: Sie heilen sich jetzt selbst. Ich habe Ihnen doch vorher alles erklärt. Erinnern Sie sich noch daran?« »Nicht ganz, aber… doch.« Heimlich – aber doch nicht ganz unbemerkt, denn er hatte es gesehen – tastete sie unter der Decke nach dem Knoten in ihrer Brust. »Es ist immer noch da.« »Wenn ich Ihnen mit einem Knüppel auf den Kopf schlage«, sagte er, »dann hätten Sie eine schöne Beule auf dem Kopf. Und sie wäre auch morgen noch da und am Tag darauf. Am dritten Tag wäre sie vielleicht schon etwas kleiner, und in einer
Woche würden Sie sie immer noch fühlen, aber sie wäre schon fast weg. Und so ist es hier auch.« Schließlich ließ sie sich doch von der Ungeheuerlichkeit dieser Vorstellung bewegen. »Eine einzelne, einmalige Behandlung gegen Krebs.« »Ach du meine Güte«, sagte er grob. »Wenn ich Sie jetzt so ansehe, dann weiß ich schon, was für ein Sermon kommt, aber ich habe keine Lust, ihn mir anzuhören.« »Welchen Sermon?« fragte sie überrascht. »Der über meine Pflicht der Menschheit gegenüber. Er läuft in zwei Etappen ab und hat viele Nuancen. Etappe eins handelt von meiner Pflicht der Menschheit gegenüber und meint in Wirklichkeit, daß wir damit das Geschäft unseres Lebens machen könnten. Etappe zwei handelt ausschließlich von meiner Pflicht der Menschheit gegenüber, und diese höre ich eigentlich nicht sehr häufig. Diese Phase rechnet nämlich prinzipiell nicht mit der Abneigung der Menschheit, nützliche und gute Neuerungen anzunehmen, es sei denn, sie kommen von anerkannten und respektablen Kapazitäten. Etappe eins ist sich dieser Tatsache völlig bewußt, aber sie findet immer wieder Wege, diese Schwierigkeiten zu umgehen.« »Aber ich habe doch mit keinem Wort…« sagte sie, doch er ließ sie nicht ausreden. »Und die Nuancen«, sagte er noch lauter, »kommen geradezu im Licht einer Offenbarung, mit oder ohne Religion, mystisch verklärt oder nicht. Oder sie werden feierlich aufs ethischphilosophische Podest gestellt und sollen mich zwingen, mich zu ergeben – aus einem Schuldbewußtsein heraus, oder aus Mitleid, oder aus beiden zusammen.« »Aber ich wollte doch nur…« »Sie«, sagte er und deutete mit seinem langen Zeigefinger auf ihre Brust. »Sie haben sich ja selbst des schlagendsten Beweises beraubt, für alles was ich Ihnen vorhin gesagt habe.
Wenn meine Vermutungen richtig waren und tatsächlich Ihren lieben alten Hausarzt konsultiert haben –, der hat natürlich Krebs diagnostiziert und Sie zu einem Spezialisten geschickt, der genau das Gleiche getan hat und der Sie dann wiederum zu einem Kollegen geschickt hat – bis Sie in Ihrer Panik dann zufällig in meine Hände gefallen sind und geheilt wurden. Wissen Sie, was diese Kapazitäten sagen würden, wenn Sie jetzt zurückkämen und von diesem Wunder berichten? ›Spontane Rückbildung‹ oder so etwas, das wäre alles, was man Ihnen sagen würde. Und so würden nicht nur die Ärzte reden«, fuhr er fort und schien plötzlich so zornig geworden zu sein, daß sie sich am liebsten unter der Bettdecke verkrochen hätte. »Jeder von Ihnen hätte eine Ausrede aus stupider Berufsroutine parat. Der sogenannte Ernährungswissenschaftler wird weise über seinen Weizenkeimen oder seinen makrobiotischen Reistörtchen nicken, Ihr Pfarrer wird – vielleicht – ein Knie beugen und einen flüchtigen Blick zum Himmel werfen, der Genetiker hat sicher eine passende Theorie zur Hand, über genetische Sprünge und dergleichen, und er wird Ihnen versichern, daß wahrscheinlich schon Ihre Großeltern spontane Rückbildungen hatten, ohne etwas davon zu wissen.« »Bitte!« rief Sie, aber er hörte ihr nicht zu. »Wissen Sie eigentlich, was ich bin? Ich bin Ingenieur, sogar ein zweifacher, Maschinenbau und Elektronik –, und ich habe noch einen juristischen Grad. Wenn Sie verrückt genug sind, irgend jemandem zu erzählen, was hier geschehen ist – ich hoffe, Sie sind es nicht, aber sollten Sie es trotzdem sein, so wüßte ich schon, wie ich mich zu schützen hätte –, so könnte man mich ins Gefängnis werfen, weil ich ohne Erlaubnis einen ärztlichen Beruf ausgeübt habe. Sie könnten mich wegen Körperverletzung belangen, weil ich eine Nadel in Ihren Arm gestochen habe und sogar wegen Kidnapping –, vorausgesetzt,
Sie könnten beweisen, daß ich Sie vom Labor in dieses Zimmer hier getragen habe. Alle würden sich einen Dreck darum scheren, daß ich Ihren Krebs geheilt habe. Sie wissen nicht, wer ich bin, nicht wahr?« »Nein, ich kenne ja nicht einmal Ihren Namen.« »Den werde ich Ihnen auch nicht sagen. Außerdem kenne ich Ihren Namen auch nicht…« »Oh! Entschuldigen Sie…« »Sagen Sie ihn nicht! Sagen Sie ihn mir nicht. Ich möchte ihn nicht hören. Ich wollte mich nur mit Ihrem Tumor beschäftigen, und die Gelegenheit dazu hatte ich. Und jetzt möchte ich, daß Sie und Ihr Tumor so schnell wie möglich wieder verschwinden. Habe ich mich deutlich genug ausgedrückt?« »Lassen Sie mich nur meine Kleider anziehen«, sagte sie gepreßt. »Ich werde sofort gehen.« »Ohne darüber zu reden?« »Ohne darüber zu reden!« Ihre Wut war plötzlich wieder verschwunden, und sie fühlte sich elend. »Ich wollte Ihnen vorhin sagen, wie dankbar ich Ihnen bin. Wäre Ihnen das recht gewesen, Sir?« Aber auch sein Zorn schien mit einemmal verflogen zu sein, denn er trat ganz nahe ans Bett heran und kauerte sich auf seinen Absätzen vor sie hin, so daß ihre Gesichter auf gleicher Höhe waren. »Das war sehr schön. Obwohl – vielleicht wären Sie mir erst nach einiger Zeit wirklich dankbar, wenn Ihnen die ersten ärztlichen Befunde über ihre sogenannte ›spontane Rückbildung‹ vorgelegen hätten – vielleicht erst nach sechs Monaten oder einem Jahr, oder nach zwei oder fünf, wenn die Folgeuntersuchungen immer noch einen negativen Befund ergeben.« Hinter diesen Worten stand soviel Bitterkeit und Enttäuschung, daß sie unwillkürlich nach seiner Hand griff,
mit der er sich an der Bettkante festhielt. Er zog sie nicht zurück, aber er schien auch nicht sehr erfreut über die Berührung zu sein. »Warum kann ich nicht jetzt dankbar sein?« »Das wäre ein Zeichen von Anhänglichkeit«, sagte er bitter, »und das kommt kein zweitesmal vor – wenn es überhaupt vorgekommen ist.« Er stand auf und ging zur Tür. »Bitte gehen Sie heute nacht noch nicht«, sagte er. »Es ist dunkel, und Sie kennen den Weg nicht. Ich werde am Morgen wiederkommen.« Als er am nächsten Morgen kam, stand die Tür zu ihrem Zimmer offen. Das Bett war gemacht, und die Laken lagen sauber gefaltet mit den Kissenbezügen und den Handtüchern, die sie benutzt hatte, auf dem Stuhl. Sie selbst war verschwunden. Er trat hinaus in den Vorhof und betrachtete seinen Bonsai. Die frühe Morgensonne hatte einen goldenen Rauhreif über die oberen, waagrecht wachsenden Zweige des alten Baumes gelegt, und die knorrigen Äste zeichneten sich scharf und deutlich in diesem Licht ab, ein intensives Graubraun, wie in Samt gebettet. Nur der wahre Freund eines Bonsai – es gibt natürlich auch Besitzer von Bonsai, aber das ist eine minderwertige Rasse – wird diese eigenartige Beziehung ganz verstehen. Da gibt es ein ganz ausschließliches und individuelles »Baumsein«, denn ein Baum ist schließlich ein lebendiges Wesen, und Lebewesen ändern sich. – Es gibt ganz bestimmte Richtungen, in die sich ein Baum ändern will. Ein Mann sieht den Baum und vollzieht in seiner Phantasie bestimmte Verlängerungen und Extrapolationen von dem, was er sieht und dann geht er daran, sie zu verwirklichen. Der Baum wiederum wird nur das tun, was ein Baum tun kann, er wird mit aller Kraft jedem Versuch widerstehen, etwas zu tun, was er nicht tun kann, oder es in einer kürzeren Zeit zu tun, als
er dazu braucht. Die Formung eines Bonsai ist deswegen immer ein Kompromiß, ein Produkt der Zusammenarbeit und des gegenseitigen Verständnisses. Ein Mann kann keinen Bonsai schaffen – und ein Baum auch nicht. Es sind beide dazu nötig, ein Mensch und ein Baum und sie müssen sich gut verstehen – und es ist auch sehr viel Zeit dazu nötig. Seinen Bonsai hat man immer fest eingeprägt im Gedächtnis, jeden noch so kleinen Zweig, die Richtung eines jeden Risses, einer jeden Nadel – manchmal liegt man nachts wach und erinnert sich an diese oder jene Linie oder Form, man macht Pläne, prüft Möglichkeiten. Mit Draht, Wasser und Lichteinfall, durch Beschneiden und durch die Anpflanzung von Unkraut, das viel Wasser braucht, oder eines dichten, wurzelschonenden Grasteppichs wird er dem Baum klar machen, was er will. Und wenn die Erklärung deutlich genug ist und auf Verständnis stößt, wird sich der Baum bereit zeigen und gehorchen – in den meisten Fällen wenigstens. Aber er wird immer seine eigene, höchst individuelle, sein Selbstvertrauen bestätigende Variante entwickeln: sehr gut, ich werde tun, was du willst, aber ich werde es auf meine Weise tun. Auch wird der Baum immer bereit sein, für jede dieser Varianten eine klare und logische Erklärung zu geben, und er wird es dem Menschen erklären – vielleicht sogar mit dem Anflug eines Lächelns –, daß sich diese ganze Mühe hätte vermeiden lassen, wenn er ihn von Anfang an besser verstanden hätte. Es ist wohl die langsamste und langwierigste Bildhauerarbeit, die es auf der Welt gibt, und manchmal ist es gar nicht so sicher, wer eigentlich das Werkstück ist, der Mensch oder der Baum. So stand er ungefähr zehn Minuten da und sah zu, wie das Gold in den oberen Zweigen spielte. Dann ging er zu einer großen Holzkiste, öffnete den Deckel und nahm ein paar
Bahnen billigen Baumwollrupfen heraus. Er öffnete die Verglasung auf einer Seite des Atriums und breitete den Rupfen an einer bestimmten Stella über Wurzeln und Erde aus. Alles übrige ließ er unbedeckt, daß Wind und Wasser freien Zugang hatten. Es würde seine Zeit dauern – vielleicht einen, vielleicht zwei Monate –, dann würde ein ganz bestimmter Schößling am obersten Ast den Hinweis empfangen und das ungleichmäßige Hinaufströmen der Feuchtigkeit im Kambium würde ihn schließlich dazu bewegen, sein senkrechtes Streben aufzugeben und horizontal weiterzuwachsen. Aber vielleicht auch nicht –, dann bedürfte es allerdings der deutlicheren Sprache des Festbindens mit Draht. Aber vielleicht hatte dann auch er etwas zu sagen, etwa, daß seine Art, senkrecht in die Höhe zu wachsen, richtig sei, und er würde den Menschen vielleicht überzeugen. – Wie gesagt, es ist ein geduldiges, tiefsinniges und lohnendes Zwiegespräch. »Guten Morgen.« »O verdammt!« fuhr er erschrocken hoch. »Jetzt hätte ich mir beinahe auf die Zunge gebissen. Entschuldigen Sie. Ich dachte schon, Sie wären gegangen.« »Das wollte ich auch.« Sie kauerte im Schatten mit dem Rücken gegen die Wand, den Blick aufs Atrium gerichtet. »Aber dann blieb ich noch etwas und leistete dem Baum Gesellschaft.« »Und?« »Ich habe viel nachgedacht.« »Worüber?« »Über Sie.« »Erst jetzt?« »Sehen Sie«, sagte sie mit fester Stimme. »Ich werde zu keinem Arzt gehen und mich untersuchen lassen. Ich wollte nicht gehen, ohne Ihnen das gesagt zu haben, und ich möchte sicher sein, daß Sie es mir glauben.«
»Kommen Sie herein, wir machen uns etwas zu essen.« Sie kicherte. »Ich kann nicht. Meine Füße sind eingeschlafen.« Ohne zu zögern ging er zu ihr und hob sie vom Boden auf. Sie legte den Arm um seine Schultern und fragte: »Glauben Sie mir wirklich?« Er ging mit ihr am Atrium vorbei zu der Holzkiste und setzte sie dort ab. Er sah ihr in die Augen. »Ich glaube Ihnen. Ich weiß zwar nicht, warum Sie sich so entschieden haben, aber ich bin bereit, Ihnen zu glauben.« Er setzte sie auf die Kiste und trat einen Schritt zurück. »Es ist diese Anhänglichkeit, von der Sie gesprochen haben«, sagte sie ernst. »Ich dachte, Sie sollten sie wenigstens einmal in Ihrem Leben kennenlernen, damit Sie nie wieder sagen können, was Sie gesagt haben.« Sie setzte ihre Füße vorsichtig auf den Boden. »Au!« Sie verzog das Gesicht. »Wie spitze Nadeln.« »Sie müssen ziemlich lange nachgedacht haben.« »Ja. Wollen Sie mehr hören?« »Aber sicher.« »Sie sind ein zorniger, verbitterter Mann.« Ihre Feststellung schien ihn zu belustigen. »Sagen Sie mir ruhig alles!« sagte er lächelnd. »Nein«, entgegnete sie ruhig. »Sie werden es mir sagen. Mir ist es sehr ernst damit. Warum sind Sie so verbittert?« »Ich bin es nicht.« »Warum sind Sie so verbittert?« »Ich sagte Ihnen doch, daß ich es nicht bin. Obwohl«, fügte er gutmütig hinzu, »Sie mich direkt dazu treiben.« »Also dann, warum?« Er sah sie an, und ihr schien es, als würde er sich wirklich sehr viel Zeit lassen. »Sie wollen es also wirklich wissen?«
Sie nickte. Er machte mit der Hand eine unbestimmte Bewegung. »Woher glauben Sie, kommt das alles: das Haus, der Garten, die Einrichtung?« Sie wartete. »Ein Abgas-System«, sagte er, und seine Stimme wurde rauh. »Ich hatte einen Weg gefunden, die Abgase von Verbrennungsmotoren so zu leiten, daß sie dabei gewissermaßen zentrifugiert wurden. Die unverbrannten Feststoffe setzten sich dabei an den Außenwänden in einer Art Glasfiberfilter ab, der als Ganzes leicht auszuwechseln war und nur alle paar tausend Kilometer erneuert werden mußte. Die restlichen Auspuffgase wurden durch einen Funken nochmals gezündet, und was an ihnen noch brennbar war, wurde verbrannt. Die Hitze, die dabei entstand, benutzte ich dazu, den Treibstoff vorzuwärmen. Der Rest ging durch einen zweiten Filter, der nur alle fünftausend Kilometer ausgewechselt werden mußte. Was schließlich an die Luft gelangte, war nach heutigen Begriffen ziemlich sauber. Und mit dem vorgewärmten Treibstoff holte man auch mehr Leistung aus dem Motor heraus.« »Und damit haben Sie eine Menge Geld verdient.« »Damit habe ich eine Menge Geld verdient«, wiederholte er. »Aber nicht deshalb, weil sie meine Erfindung gegen die Luftverschmutzung eingesetzt hätten. Ich habe das Geld bekommen, weil eine Automobilfirma sie gekauft hat, um sie in einer Schublade zu begraben. Sie hatten etwas gegen dies Erfindung. Weil es eine Kleinigkeit kostete, sie in die neuen Modelle einzubauen. Und einige ihrer Freunde in den Ölkonzernen hatten auch etwas dagegen, weil sich damit auch unraffinierte Treibstoffe restlos ausnutzen ließen. Nun, das ist soweit in Ordnung, ich wußte es eben damals nicht besser, aber ich werde diesen Fehler kein zweitesmal mehr machen. Aber ja
– ich bin zornig. Und ich war auch damals zornig, als ich noch ein Junge war und auf einem Tankschiff die Schotten putzen mußte. Man gab mir einen Lumpen und einen Eimer Schmierseife. Ich ging an Land, kaufte mir ein Lösungsmittel und versuchte es damit. Es ging viel besser, viel schneller und es war billiger. Also habe ich es dem Maat gesagt, der mir daraufhin eins in die Fresse gab, weil er glaubte, ich wollte damit sagen, ich verstünde mehr von seiner Arbeit als er. Nun, er war damals betrunken, aber das dicke Ende kam noch nach, denn die älteren Matrosen verbündeten sich gegen mich – sie hielten mich für einen ›Company-Man‹ – und das ist ungefähr das letzte Schimpfwort auf einem Schiff. Ich konnte einfach nicht verstehen, warum sich die Menschen immer dem Fortschritt in den Weg stellen müssen. Eigentlich habe ich das mein ganzes Leben lang bekämpft. Irgend etwas geht in meinem Kopf vor, das sich einfach nicht abstellen läßt. Ich habe die besondere Art, immer wieder neue Fragen zu stellen: warum ist das ausgerechnet so und so und nicht anders? Es gibt immer wieder neue Fragen, die gestellt werden müssen – besonders wenn man unbedingt eine Antwort haben will und diese Antwort wieder neue Fragen aufwirft. Und wir leben in einer Welt, in der die Menschen keine Fragen mehr stellen wollen. Ich habe soviel Geld bekommen, wie ich nur haben wollte, und immer nur für Dinge, die niemals gebaut wurden, und wenn ich deswegen so verrückt bin, dann ist es wirklich mein Fehler – das gebe ich gern zu –, nur weil ich einfach nicht aufhören kann, die nächste Frage zu stellen und darauf immer wieder eine neue Antwort zu suchen. Ich habe hier im Labor ein halbes Dutzend Erfindungen, bei denen es der Fachwelt wirklich den Atem verschlagen würde, und ein weiteres halbes Hundert in meinem Kopf. Aber was wollen Sie damit in einer Welt machen, in der sich die Menschen in der Wüste noch
immer gegenseitig umbringen, selbst wenn man ihnen zeigen würde, wie man aus eben dieser Wüste eine grüne, blühende Landschaft machen kann – wo sie sich überstürzen in dem Bemühen, immer neue Ölquellen zu erschließen, obwohl hundert und tausendmal bewiesen wurde, daß dieses Öl uns noch alle umbringen wird. Ja, ich bin zornig. Muß ich es denn nicht sein?« Sie wartete, bis das Echo seiner Worte im Hof und an den Glaswänden des Atriums verklungen war, und sie wartete noch länger, damit er merkte, daß er nicht allein war mit sich selbst und seinem Zorn, daß schließlich auch sie da war. Als er es bemerkte, lächelte er verlegen. »Vielleicht haben Sie immer nur die nächste Frage gestellt und niemals die richtige«, sagte sie schließlich. »Ich glaube, daß Menschen, die ihr Leben nach alten Weisheiten ausrichten, gar nicht erst in Versuchung geraten, viel zu denken. Aber ich kenne eine Weisheit, über die man ruhig etwas nachdenken könnte. Sie heißt folgendermaßen: Wenn man eine Frage richtig stellt, so schließt sie schon die Antwort mit ein.« Sie machte eine Pause, um zu sehen, ob er ihr auch wirklich zuhörte. Er tat es. »Ich will damit sagen, wenn Sie zum Beispiel Ihre Hand auf eine glühende Herdplatte legen, dann fragen Sie sich doch wahrscheinlich, wie kann ich es verhindern, daß meine Hand jetzt verbrennt? Und die Antwort ist ziemlich einfach, nicht wahr? Wenn die Menschen immer wieder zurückweisen, was Sie ihnen zu geben haben, dann gibt es auch eine Art der Fragestellung, die die Antwort bereits einschließt.« »Die Antwort ist einfach«, sagte er knapp. »Die Leute sind dumm.« »Das ist nicht die Antwort, und das wissen Sie auch«, sagte sie. »Wie heißt sie dann?«
»Oh, das kann ich Ihnen nicht sagen! Ich kann Ihnen nur sagen, daß die Art, wie Sie etwas tun, vor allem, wenn Sie es mit Menschen zu tun haben, wichtiger ist, als was sie tun, wenn Sie damit Erfolg haben wollen. Also, ich will sagen – wenn Sie etwas von dem Baum haben wollen, dann wissen Sie schon ganz genau, wie Sie es anstellen müssen, nicht wahr?« »Mich soll doch der Teufel…« »Auch Menschen sind Lebewesen, sie wachsen, entwickeln sich. Ich weiß nicht ein Hundertstel von dem, was Sie über Bonsai wissen, aber eines weiß ich: Wenn Sie es mit einem versuchen, dann nehmen Sie doch nicht den starken, den gesunden. Der Verkrüppelte, der anscheinend kranke wird sich vielleicht am schönsten entwickeln. Daran sollten Sie vielleicht auch denken, wenn Sie vorhaben, die Menschheit zu verändern.« »Ich weiß nicht, soll ich Ihnen jetzt ins Gesicht lachen oder Ihnen eine ‘runterhauen!« Sie stand auf. Es war ihm bisher gar nicht aufgefallen, wie groß sie eigentlich war. »Ich glaube, es ist besser, ich gehe jetzt.« »Jetzt nehmen Sie es doch nicht so tragisch. Sie wissen doch, daß ich es nicht ernst gemeint habe.« »Oh, ich habe das nicht als Drohung aufgefaßt. Aber… ich glaube, es ist trotzdem besser, wenn ich gehe.« »Oder haben Sie nur Angst, die nächste Frage zu stellen?« »Ja, entsetzlich«, gestand sie. »Stellen Sie sie trotzdem!« »Nein.« »Dann werde ich es für Sie tun. Sie sagten, ich sei verbittert – und ich hätte Angst. Wollen Sie wissen, wovor ich Angst habe?« »Ja.« »Vor Ihnen. Ich hatte Todesangst vor Ihnen.«
»Hatten Sie das wirklich?« »Sie haben so eine Art, bei der man ehrlich bleiben muß«, sagte er mit einiger Überwindung. »Ich sage Ihnen jetzt, was Sie denken: Ich habe Angst vor näheren Beziehungen zu den Menschen. Ich habe einfach Angst vor etwas, was ich nicht mit einem Schraubenzieher, einem Massenspektroskop oder einer Cosinus-Tafel zerlegen kann. Ich weiß nicht, wie ich mich davor verhalten soll.« Er hatte es scherzend gesagt, aber seine Hände zitterten. »Manchmal geben Sie ihm auf der einen Seite etwas mehr. Wasser«, sagte sie mit sanfter Stimme, »oder sie setzen ihn ganz der Sonne aus. Sie behandeln ihn, als sei er etwas Lebendiges, eine besondere Art – oder eine Frau – oder ein Bonsai. Und er wird genauso werden, wie Sie es wollen, wenn Sie ihn nur sich selbst sein lassen und sich die Zeit und die Mühe dazu nehmen.« »Ich glaube«, sagte er, »das klingt fast wie ein Angebot. Warum?« »Ich bin hier fast die ganze Nacht gesessen«, sagte sie, »und ich hatte eine ganz verrückte Vorstellung. Glauben Sie, daß zwei kranke verkrüppelte Bäume sich jemals zu einem Bonsai ergänzen könnten?«
Originaltitel: SLOW SCULPTURE Copyright © 1970 by Galaxy Publishing Corp. Aus GALAXY Übersetzt von Iannis Kumbulis
Ron Goulart DIE KILLER-PILLE
Der kleine, gedrungene Mann schlug mit der Faust auf den Tisch. Dann sah er erwartungsvoll über den Tisch hinweg Joe Silvera an. »So ungefähr habe ich es immer gemacht.« »Grundsätzlich«, sagte der große breitschultrige Silvera, »habe ich gegen die Art, wie du auf den Tisch schlägst, keine Einwände.« Hugo Kohinoor erhob seine noch immer zur Faust geballte Hand und rieb sich damit seinen vorstehenden Bauch. »Kein besonders großartiger Schlag, nicht wahr, Joe?« Silvera betrachtete gelassen den blauen Nachmittagshimmel und strich sich mit dem Rand seines Bierkrugs übers Kinn. »Wenn ich annehme, daß es tatsächlich ein Problem gab, dann nicht das, wie du auf den Tisch schlugst, sondern wann. Vorausgesetzt natürlich, daß der Fehler nicht in der Rede selbst gelegen hat, die ich dir geschrieben habe.« Ein Kellner in weißem Flanellüberwurf kam herbeigetrabt. »Es ist wirklich nicht nötig, daß Sie auf den Tisch schlagen, Sir. Ich wollte gerade kommen.« »Aber wir haben nicht Sie gemeint«, sagte Kohinoor. »Ich habe nur etwas geübt.« Der Kellner beugte sich vor und betrachtete den kleinen Mann genauer. »Sie sind doch Hugo Kohinoor, oberster Chef des Kulturpflegeausschusses für unseren Planeten Murdstone.« Aus einer Art Umhängetasche zog er einen zitronengelben Kneifer und setzte ihn umständlich auf. »Sie sehen in
Wirklichkeit gar nicht so schwabbelig aus wie sonst immer hinter dem Rednerpult.« »Oh, vielen Dank«, sagte der oberste Chef des Kulturpflegeausschusses. »Noch ein Bier«, murmelte Silvera. Rosafarbene Möwen zogen in weiten, fallenden Spiralen über den Himmel und ließen sich in weißen Schaumstreifen auf dem ruhigen Wasser der Bucht nieder. »Ich muß Ihnen gestehen, Mr. Kohinoor«, sagte der Kellner, »daß mich Ihre letzte Rede vor dem Melazo Country Club zutiefst bewegt hat. Im allgemeinen verschwende ich meine Aufmerksamkeit nicht an kleine dicke Menschen. Aber Sie hatten etwas zu sagen, und Sie haben es gut gesagt.« »Und wie fanden Sie das, als ich mit der Faust aufs Pult schlug? Hat das die Leute aufmerksam gemacht?« »Ja, das war genau an dem Tag, als ich Sie gehört habe«, antwortete der Kellner. »Sie haben nämlich bei dieser Gelegenheit die Wasserkaraffe vom Pult gestoßen.« Er verbeugte sich. »Ich werde jetzt Ihre Bestellung ausführen. Noch ein Bier? Sehr wohl! Und führen Sie Ihre prächtige Arbeit fort, Mr. Kohinoor.« Kohinoor lächelte zu Silvera hinüber. »Er scheint mich wirklich zu mögen.« »Die Rede war schon in Ordnung«, sagte Silvera. »Also gib mir schon das restliche Geld.« »Zuerst dachte ich, fünfzehnhundert Dollar für nur drei Reden gegen die… wie hast du sie gleich genannt?« »Presselords. Du schuldest mir noch siebenhundertfünfzig Dollar.« »Die Freiheit unserer Presse ist ein flammendes Schwert… so hieß es doch, oder? Die Freiheit unserer Presse ist ein flammendes Schwert, und ich, Gentlemen, ich sage Ihnen, daß
die Presselords daraus einen Rasenmäher gemacht haben, der jeder Blüte freiheitlichen Denkens schon im Ansatz den Kopf abschlägt… Ja, das war richtig gesagt.« Silvera nickte und nahm den frischen Krug Bier, den ihm der Kellner gebracht hatte. »So, wie du es jetzt eben vorgetragen hast, hast du bei ich und bei Rasenmäher auf den Tisch geschlagen.« »War das nicht richtig?« »Bei flammendes Schwert hättest du deine Hand in die Luft stoßen müssen. Dann, bei Kopf abschlägt, läßt du sie krachend auf das Pult fallen. Das gibt Applaus.« »Sie haben alle bei Rasenmäher geklatscht, und ich habe mich schon gefragt, warum? Wenn man so viel auf dem Planeten herumreist wie ich, ist man oft ganz durcheinander. Das Melazo-Territorium ist doch in der Hauptsache ein Erholungsgebiet, und so etwas wie eine Rasenmäherindustrie gibt’s hier auch nicht. Aber jetzt verstehe ich alles.« »In bar wäre es mir lieber.« Kohinoor zog seine Brieftasche heraus. »Es tut mir leid, Joe, daß ich soviel an den Reden herumkritisiert habe. Hast in Wirklichkeit ganz gute Arbeit geleistet. Ist es so recht, ein Fünfziger und sieben Hunderter?« »Ja.« Silvera nahm das Geld, legte es auf den Tisch und seine Hand darauf. Er wollte eben nach seiner Brieftasche greifen, als ein dreistöckiges Holzhaus über ihre Köpfe hinwegflog. Er sprang auf und lief zum Marmorzaun des Hotelpatios. Das schwarze Haus flog in einer Höhe von mehr als dreihundert Metern dahin. Silvera schüttelte den Kopf und kehrte wieder an den Tisch zurück. »Diese Gauner«, sagte er und setzte sich wieder. »Wer? Die Blackhawk-Gruppe?« »Ja! Kennst du sie?«
»Ich bin eng mit Professor Burton Prester-Johns befreundet«, sagte Kohinoor. »Und mit McLew Scribbeley, der, wie ich annehme, der rechtmäßige Besitzer von Blackhawk-Manor ist, habe ich schon einige Differenzen gehabt. In der Hauptsache wegen seines Scribbeley-Verlags. Obwohl mir allerdings grundsätzlich alle Schriftsteller der Blackhawk-Gruppe ganz gut gefallen.« »McLew Scribbeley schuldet mir noch zweitausend Dollar.« »Ich dachte, es gehörte zu deinen Prinzipien als freier Schriftsteller, immer sofort zu kassieren.« »Das tue ich ja auch. Aber diese Blackhawk-Leute verschwinden immer samt dem Haus.« »Das ist ja eine köstliche Neuheit. Fliegende Häuser. In sowas möchte ich mich eines Tages auch zur Ruhe setzen.« »Bis jetzt bin ich seiner Spur durch drei verschiedene Länder auf Murdstone gefolgt.« »Hast du denn irgend etwas für diesen üblen ScribbeleyVerlag geschrieben?« »Ja, drei Bekenntnisse«, sagte Silvera. »Bekenntnisse eines Rücksichtslosen, Mein abscheuliches Sexleben und Ich bin ein Schuft, sind alle von mir.« Kohinoor blinzelte mit seinen kleinen blauen Augen. »Das heißt also, daß du ›eine hochgestellte Persönlichkeit‹, ›Dr. X.‹ ›unser Anonymus‹ bist? Ich hatte sie als drei verschiedene Autoren auf meiner Liste.« »Ich kann in verschiedenen Stilen schreiben.« »Zum Beispiel der von Mein abscheuliches Sexualleben«, sagte Kohinoor. »Aber diesen Stil fand ich wirklich… abscheulich.« »Weißt du vielleicht, wo sie mit ihrem verdammten Haus diesmal vor Anker gehen?« »Ja, oben auf dem Port Road Hill. Und ich bin sogar zufällig heute abend dort zum Dinner eingeladen.«
Silvera runzelte die Stirn. »Ich werde mitkommen.« Zweihundert Fahrräder kamen klappernd und schleppend von der Hügelkuppe herunter und direkt auf sie zugeschossen. Und auf jedem hing ein gestikulierender, laut schreiender Halbwüchsiger. Silvera erwischte den kleinen Kohinoor gerade noch am Pelzkragen seiner Amtsweste und riß ihn zurück in den Schutz des Kreuzers, mit dem sie eben gelandet waren. Aber auch so wurde der oberste Chef des Kulturüberwachungsausschusses von einer Lenkstange empfindlich am Ellenbogen gestreift. »Lang lebe Prester-Johns!« schrie die halbwüchsige Horde, als sie am Blackhawk Manor vorbei, hügelabwärts sauste. »Die ganze Jugend auf Murdstone scheint von der Zyklomanie befallen zu sein«, sagte Kohonoor. »Ja, und ich habe gestern noch deinen Freund Prester-Johns im Fernsehen gesehen, wie er darüber gesprochen hat.« »Jaha, der alte P.-J. Auf den hört die Jugend noch, und dabei ist er schon bald sechzig. Natürlich liegt das an seiner Größe. Man strahlt einfach mehr Charisma aus, wenn man größer gewachsen ist.« Als der letzte von den Radfahrern vorüber war, überquerten sie die breite, schmutzige Fahrspur und gingen zu dem eisernen Tor, das jetzt vor der Lichtung stand, auf der sich das Blackhawk Manor niedergelassen hatte. Ein gebrechlicher alter Mann im Schlosserkittel spähte über eine Hecke. »Benutzen Sie diesen Eingang nicht, Gentlemen.« »Und warum nicht?« »Das Tor ist noch nicht am Zaun festgeschraubt«, erklärte der Arbeiter. »Ich hab bis jetzt gebraucht, um das Ding auszupacken. Nichts als Ärger! Angefangen hat’s damit, daß sie die Kiste mit den rasiermesserscharfen Zaunspitzen verlegt hatten. Und was noch schlimmer ist, diese Idioten von Packern haben mir die ganzen Glasscherben weggeworfen, die ich
hinten auf der Steinmauer auslegen sollte. Wahrscheinlich haben sie die Kiste aufgemacht und das zerbrochene Glas gesehen. Natürlich dachten sie, sie seien schuld an dem Bruch und haben die ganze Kiste verschwinden lassen. Also, kommen Sie schon – hier geht’s lang.« »Haben Sie vielen Dank«, sagte der kleine Kohinoor. Silvera half ihm über die Hecke auf den Weg. »Hallo! Meine Herren!« rief ihnen der Schlosser nach, als sie den gewundenen Kiesweg zum Haus hinaufgingen, »Sie sind die letzten Gäste heute abend. Sie könnten oben Bescheid sagen, daß sie in einer Viertelstunde die Wachhunde einschalten können. Bis dahin werde ich fertig sein.« »Scribbeley und P.-J. haben ein Dutzend Roboterhunde«, bemerkte Kohinoor. »Ich habe schon mit ihnen Bekanntschaft gemacht.« »Ist dir nicht auch aufgefallen, Joe, daß einige von den jungen Mädchen auf den Fahrrädern fast gar nichts anhatten?« »Ja, ein paar von ihnen waren sogar ganz nackt.« »Wenn ich nur wüßte, ob ich jetzt dafür oder dagegen sein soll. Die Kinder halten ihr großes alljährliches Bike-in ab, keine drei Meilen von hier, die ganze Woche lang. Vielleicht sollte ich einen Lagebericht herausgeben. Du könntest doch einen für mich schreiben. Hast du irgendwelche Erfahrungen im Nacktfahrradfahren?« »Ich bin selber schon gefahren.« Sie stiegen die roten Steinstufen zu dem dunklen Holzhaus hinauf. »Oh, ist das wahr? Na ja, du als freier Schriftsteller hast ja auch viel mehr Zeit für solche Späße.« Der Türklopfer war aus Gold und hatte die Form eines Falkenkopfes. Kohinoor ließ ihn schwer gegen die Tür fallen. Der Butler, der ihnen öffnete, war bleich und in verwaschenes Grau gekleidet. »Guten Abend, Mr. Kohinoor«, sagte er, dann schaute er Silvera an. »Um Himmels willen!« Er
machte auf der Stelle kehrt und rannte wie von allen Teufeln gehetzt den langen Gang zurück. »Auch mit ihm hatte ich schon einmal die Ehre.« Silvera trat ins Haus. In einem großen eichengetäfelten Raum waren einige Leute versammelt. Dorthin war der Butler aber nicht geflüchtet –, vermutlich war er die geschwungene Treppe hinauf in das obere Stockwerk gerannt. In dem getäfelten Raum hörte das Klavierspiel auf, und ein großer, muskulöser Mann im Tweedanzug trat heraus in die Eingangshalle. Er hatte ein vorspringendes Kinn, bleckte ein mächtiges Gebiß, und um seinen Kopf flatterte wild zerrauftes blondes Haar. »He, Kohinoor, du alter Teufel! Hast du dem guten Dwiggins diesen Schrecken eingejagt?« »Aber Henry.« Er deutete mit dem Daumen auf Silvera. »Das ist mein Freund, Joe Silvera. Und allein sein Anblick hat Dwiggins so verstört.« »Silvera, Silvera«, sagte der Mann im Tweed. »Sie schreiben doch, stimmt’s?« »Richtig, Dobbs.« Henry Verner Dobbs nickte, sein Kinn hüpfte kräftig auf und ab. »Wissen Sie, wer ich bin? Wissen Sie das? – Oh, Sie müssen mich kennen, oder vielmehr meine Werke! Ich bin Henry Verner Dobbs, der Schriftsteller. Meine Spezialität sind Luxusausgaben – Bücher über den Krieg. Sie müssen auch mein Foto gesehen haben. Es ist auf dem Schutzumschlag meines letzten Bestsellers, Das Nachttischbrevier der Handgranaten. Ein prächtiger Wälzer, wiegt ganze elf Pfund. Wir – also ich und meine Verleger – haben es drucken lassen, von Zombies. Diese verdammten kleinen Zombies machen erstklassige Farbdrucke – und billig!«
Silvera ging um Dobbs herum ins Wohnzimmer. Scribbeley, der Verleger, der ihm noch zweitausend Dollar schuldete, war nicht da. Am Flügel saß ein Mädchen, sehr hübsch. Silvera schätzte sie auf etwa sechsundzwanzig. Sie war eine große temperamentvolle Brünette, hatte eine stark gebräunte Haut und kam Silvera im Moment leicht überhitzt vor. »Hallo, wenn das nicht Joe Silvera ist«, sagte die liebliche Erscheinung. Ihre Stimme hatte einen angenehmen, kehligen Klang. »Ich gehörte schon zu Ihren Verehrern, als ich noch auf der Klosterschule war.« »Sie haben die Bücher dieses Burschen gelesen?« fragte der hagere weißhaarige Mann, der neben dem Flügel stand. »Nein, seine Bücher habe ich nicht gelesen, nicht ein einziges. Auch keines von anderen Schriftstellern. Aber ich habe ein Foto von Mr. Silvera auf einem Buchumschlag gesehen. Ich habe das Buch damals gestohlen und mir das Foto ausgeschnitten und in mein Brevier geklebt. Die meisten Schriftsteller sehen immer so unglücklich aus, aber Mr. Silvera – groß, stattlich, kräftig. Ich bin Willa de Aragon, Mr. Silvera.« Sie erhob sich von ihrem gepolsterten Klavierschemel und trat auf ihn zu. Ganz leicht legte sie ihre Fingerspitzen auf seine Hand und lächelte. »Haben Sie Fieber?« fragte Silvera. »Aber nein, ich bin nur von Natur aus etwas hitzig, und das scheint auch meine Körpertemperatur etwas zu beeinflussen. Was führt Sie nach Blackhawk Manor, Mr. Silvera? Meine Einladung erstreckte sich eigentlich nicht auf Sie.« »Sind Sie nicht der Kerl, der…?« fragte der hagere Alte. Kohinoor kam herbeigeeilt. »Das ist Joe Silvera; P.-J.-Joe, das ist Burton Prester-Johns, einer unserer führenden Philosophen.« »Sind Sie nicht der Kerl, der Dwiggins aus dem Gewächshaus gefeuert hat?«
»Ich würde sagen, hinein«, sagte Silvera. »Die Richtung spielt gar keine Rolle. Es war nur verheerend für die Glasscheiben. Wir mußten das Gewächshaus tatsächlich zurücklassen. Es hatte nämlich ein Fundament und konnte nicht fliegen. Ja – Sie sind der Kerl gewesen!« »Ja, Joe ist sehr begabt, und er ist ein höflicher Mensch.« Kohinoor streckte einen Arm aus und stützte sich auf den Flügel. »Ich habe ihn heute abend mitgebracht. P.-J. damit er und Scribbeley ihre Differenzen ein für allemal und gütlich beilegen können.« »Ein netter Mensch, der Butler durch die Scheiben von Gewächshäusern wirft«, brummte Prester-Johns. »Nicht gerade jemand, dem man vertrauen kann. Ja, ist es da wirklich noch ein Wunder, wenn unsere Jugend mehr Vertrauen zu ihren Fahrrädern hat als zu uns Alten?« Er kratzte sich mit dem Zeigefinger die andere Hand. »So wie ich die gegenwärtige Situation des Bikokratismus sehe, liegt die Verantwortung allein…« »Soll ich ihn, soll ich ihn ‘rausschmeißen?« Dobbs war wieder zurück ins Wohnzimmer gesprungen. »Nun, er dürfte wohl nicht gerade zu den Menschen gehören, mit denen man gern handgreiflich wird.« Kohinoor hieb mit der Faust auf den Flügel. »Sie sollten wirklich etwas weniger mißtrauisch sein, P.-J. Nur weil der Kommando-Killer noch immer sein Unwesen treibt, brauchen Sie sich doch nicht gleich so ängstlich gebärden.« Prester-Johns atmete so heftig die Luft ein, daß er beinahe vornüber gekippt wäre. Er schlug sich mit der Hand erschrocken auf sein spitzes Kinn. Dobbs sagte nur: »Uh!« Willas heißer Atem streichelte Silveras Ohr. »Es ist hier ein ungeschriebenes Gesetz, innerhalb dieser Wände niemals über den Kommando-Killer zu sprechen«, flüsterte sie.
»Und warum nicht?« »Ist es nicht auffällig, daß dieser Verbrecher, der nun schon seit über einem Jahr auf Murdstone sein Unwesen treibt, seine Opfer immer in der nächsten Nachbarschaft von Blackhawk Manor gesucht hat. Und wenn Sie überlegen, wie mobil Blackhawk Manor ist, dann können Sie sich auch vorstellen, wie mobil der Killer sein muß.« Unter dem bogenförmig geschwungenen Eingang zum Salon war ein dicker Mann in weißem Anzug erschienen. Er hatte einen feuerroten borstigen Schnurrbart und eine Glatze mit vorstehenden Adern. »Schmeißt diesen feindlichen Ausländer raus!« sagte er und deutete auf Silvera. »Haha, Ausländer.« Er kicherte. »War nur Spaß, Joe. Wer schert sich schon drum, daß du ein Südländer bist.« Er kam auf Silvera zu. »Das mit dem Tritt in den Hintern ist allerdings nicht gelogen. Dwiggins ist schon unterwegs und holt ein paar von meinen Polacken. Ist ja auch nur Spaß. Ich werfe doch niemanden seine Nationalität vor.« Plötzlich fuhr seine Hand hoch, und er kniff Willa in den Po. »Ha, da bist du ja, du kleiner Sexteufel! Hab nur Spaß gemacht, Willa.« Silvera hatte bemerkt, daß Scribbeleys Anzug schon die modischen breiten Revers hatte. An diesen packte er ihn und hob ihn vom Boden hoch. Zweitausend Dollar. »Joe, was habe ich deiner Agentin gesagt, dieser süßen kleinen Jenny Jennings?« »Nichts. Du hast sie in den Oberschenkel gezwickt, und das war alles.« »Ich habe aber auf ihren Po gezielt. Schau, Joe, ich gebe ja zu, daß ich manchmal das Verlangen habe, Mädchen irgendwohin zu zwicken. Aber ich schwöre dir, Joe, das ist mein einziger Fehler. Ich habe es deiner Agentin schon gesagt und ich sage es dir jetzt wieder: Ich habe selbst von den Sortimentern noch kein Geld bekommen. Nimm doch nur den
einen Titel von dir, Mein abscheuliches Sexleben. Wir haben haufenweise negative Zuschriften bekommen, und die Leute behaupten, es sei gar nicht so abscheulich. Noch mehr solcher Mißgriffe, und die Leute verlieren ihr Vertrauen in den Scribbeley-Verlag.« »Zweitausend Dollar«, wiederholte Silvera ungerührt und stellte Scribbeley wieder auf den Boden zurück. »Joe, ich könnte dir 86000 ungebundene Exemplare von Ich bin ein Schuft überlassen. Du könntest sie schön binden lassen und über den Postversand ein Vermögen verdienen.« »Ich will es jetzt – und bar«, sagte Silvera barsch. Dann krachte irgend etwas auf seinen Kopf. Einmal – und dann noch ein paarmal, und dann ging er zu Boden.
Als er wieder aufwachte, war er im Freien. Er steckte kopfüber in einem Haufen frischgeschnittenem Unterholz, Zweigen und trockenem Laub, etwa hundert Meter von Blackhawk Manor entfernt. Durch das Gestrüpp um seinen Kopf sah er gerade noch, wie drei von Scribbeleys Gefolgsleuten zum Haus zurückgingen. Vorsichtig befreite er seinen linken Arm aus der Umklammerung von Dornen und schob sich vorsichtig die Dornenzweige aus dem Gesicht. Grunzend stemmte er sich schließlich aus dem Haufen heraus. Kaum war er wieder auf den Beinen, als ihn ein schwarzer Hund ansprang und ins Bein biß. Seine Zähne waren aus gehärtetem Stahl und gruben sich ziemlich tief ins Fleisch. Silvera zog aus einer seiner Taschen eine kleine Werkzeugtasche, und anhand einer Konstruktionszeichnung, die er sich am Nachmittag noch in der Melago Territory Free Library besorgt hatte, machte er den Roboterhund bewegungsunfähig und zerlegte ihn.
Die Einzelteile warf er in die umliegenden Haufen aus Holz und Gebüsch, die übriggeblieben waren, als man den Landeplatz für Blackhawk Manor gerodet hatte. Silvera nickte mit dem Kopf, sah prüfend zum eben aufgegangenen Mond hinüber und schritt dann auf ein Pinienwäldchen zu, das fast das ganze Haus umgab. Er ging langsam und vorsichtig, mit Rücksicht auf sein verletztes Bein. Nach einiger Zeit war er an der Hinterseite des Hauses angelangt. Durch die beleuchteten Küchenfenster sah er den Konditor-Roboter, der gerade Cremeröllchen füllte. Silvera ließ sich auf die Knie nieder und kroch langsam zu den Stufen, die zur Küchentür führten. Drei nagelneue Roboterhunde kamen um die Hausecke gefegt und griffen ihn an. Sie bellten nicht, sondern gaben statt dessen einen hohen, schrillen Sirenenton von sich. Einer von ihnen hatte sogar gelblich phosphoreszierende Augen. Silvera rannte, so schnell er nur konnte. Zweimal hetzten sie ihn um eine große Sonnenuhr und dann quer durch den Fischteich, der Gott sei Dank noch leer war. »Schnell, hier herein, Mr. Silvera!« rief ihm aus einer Tür, die sich unterhalb der Küchentreppe geöffnet hatte, eine süße Stimme zu. Er gehorchte, duckte sich durch den niedrigen Eingang, und Willa de Aragon warf mit aller Kraft die schwere Tür hinter ihm ins Schloß, direkt auf die vinylgepolsterte Schnauze des Hundes mit den Phosphoraugen. »Danke«, keuchte Silvera. Das Mädchen richtete die Taschenlampe auf sein gebissenes Bein. »Sie sind ja verwundet, Mr. Silvera. Haben Sie ein Glück gehabt, daß man die Präparate mit den Tollwutbazillen und den anderen Giften noch nicht ausgepackt hat, mit denen sie sonst immer die Fänge der Hunde präparieren.« »Sind Sie meinetwegen hier herausgekommen?«
»Ich habe mir Sorgen gemacht, und ich habe mir gedacht, ich könnte Ihnen helfen. Ihr Freund, Mr. Kohinoor, hat gesagt, er würde Sie zurückbringen. Aber nichts dergleichen geschah.« Ihre heiße Hand berührte seine Wange. »Jedesmal, wenn ich auf Blackhawk Manor zu Gast bin, bestehe ich darauf, ein Zimmer mit einem Geheimausgang zu bekommen.« Anmutig ging sie ihm durch den Moder und das Gerümpel voran und wies schließlich auf ein schwarzes Loch in der Wand. Hier war ein Teil der Holzwand beiseite geschoben worden. »Diese schmale Treppe führt direkt in mein Schlafzimmer. Und neben meinem Schlafzimmer ist ein Bad, dort werde ich mich um Ihre Wunden kümmern können.« »Okay«, sagte Silvera. Das Mädchen lächelte und verschwand in der dunklen Öffnung. Er folgte ihr. »Werden die anderen Sie nicht vermissen?« »Ich kann mich ja später beim Dinner wieder blicken lassen«, sagte das freundliche Wesen. Ihr Schlafgemach war sehr groß, mit Rosenblütentapeten und einer Schäferszene, die auf die sanft gewölbte Decke gemalt war. Überall dicke Teppiche, Vorhänge, Gobelins und ein gewaltiges, geschnitztes Bett. Auf einem Marmortisch neben dem Bett stand ein sechsarmiger Kandelaber. Als Silvera ins Zimmer trat, hörte er draußen ein seltsames Klappern. Vorsichtig zog er den schweren weinroten Vorhang etwas zur Seite und sah hinaus. Ein hochgewachsener junger Mann schob sein Fahrrad aus dem Hof und verschwand in dem Pinienwäldchen. Kurz darauf kehrte er wieder zurück, ohne Fahrrad, ging an der Sonnenuhr vorbei und war dann außer Sichtweite. Die Hunde hatten ihm nichts getan. »Sie werden Ihre Hosen ausziehen müssen«, sagte Willa. »Bevor ich Schriftstellerin wurde, habe ich als Krankenpflegerin gearbeitet. In einem Satelliten-Spielkasino
um Tarragon. Sie werden sehen, Mr. Silvera, ich werde Ihre Wunden fachgerecht behandeln.« Er trat vom Fenster zurück und folgte dem Mädchen in das veilchenblau gekachelte Bad. An der Schwelle blieb er stehen. Er knöpfte seine Hosenträger los, dann zog er die Stiefel aus und ließ die Hose fallen. »Was schreiben Sie denn eigentlich, Willa?« Sie schob ihm einen kniehohen weißen Wäschekorb hin. »Hier, setzen Sie sich. Also, Mr. Silvera, es gibt da eine bestimmte Art von Romanen, die im Augenblick auf Murdstone sehr populär sind. Mittelalterliche Geschichten, ich weiß auch nicht, warum man sie so nennt. Sie handeln im Prinzip alle von empfindsamen jungen Mädchen, die von fremden, finsteren Gesellen in finstere alte Gemäuer an abgelegenen Orten entführt werden.« »Ja, genau, davon habe ich auch Dutzende geschrieben, als dieses ›mittelalterliche‹ Fieber vor fünf Jahren auf Barnum grassierte«, sagte er und setzte sich hin. Die Wunde, die ihm der Roboterhund zugefügt hatte, sah besser aus, als er befürchtet hatte. »Unter Ihrem richtigen Namen?« sie begann die Wunde sorgfältig auszutupfen. »Nein, damals war ich…« und er versuchte sich zu erinnern, »… damals nannte ich mich Anna Mary Windmiller.« Willa unterbrach ihre Arbeit. »Du meine Güte, Mr. Silvera. Sie wollen doch nicht sagen, daß Sie Anna Mary Windmiller waren?« »Ein dutzendmal mindestens«, sagte er. »Ich bekam fünfzehnhundert Dollar für ein Buch.« »Sie waren für mich eine Quelle der Inspiration – die Bücher natürlich. Ich schleppe immer noch ein paar völlig zerlesene Exemplare mit mir herum. Ganz besonders hat mir ja das Gespensterschloß über dem alten Friedhof gefallen, obwohl –
Die Rückkehr zum Gespensterschloß ist fast ebenso spannend. Ich finde schon die ersten Zeilen – des ersteren – einfach überwältigend, beispielhaft. ›Ich muß bekennen, daß ein dunkler Schauer mein junges, soeben der behütenden Wärme eines stillen Mädchenpensionats beraubtes Wesen befiel, als ich zum ersten Male die Tür jenes halbverfallenen Hauses öffnete und über den leblosen Körper unseres Gemeindevikar stolperte.‹ Das finde ich brillant geschrieben. Ach, ich wollte, meine Romane wären nur halb so gut geschrieben.« Sie hatte den Verband fertig und trat einen Schritt zurück. »Wollen Sie jetzt hinuntergehen und sich das Geld holen?« »Nicht unbedingt. Die zweitausend Dollar von Scribbeley entgehen mir nicht. Warum fragen Sie?« »Es wäre doch eigentlich eine Schande. Jetzt, wo Sie schon die Hosen ausgezogen haben, könnten wir doch auch ebensogut miteinander ins Bett gehen, finden Sie nicht auch?« Silvera erhob sich vom Wäschekorb. »Für ein Mädchen, das Romane für brave Ladies schreibt, sind Sie bemerkenswert aggressiv.« »Ja«, gab Willa zu, »und ich fürchte sogar, es schlägt sich manchmal in meinen Büchern nieder.« Silvera lächelte. Er nahm sie in die Arme, hob sie auf und trug sie ins Schlafzimmer hinüber. Silvera verließ Willas Zimmer erst am nächsten Morgen. Als er sich anschickte, die Treppe zum Salon hinunterzugehen, lief er einem uniformierten Polizeileutnant in die Arme. Der Polizist, der ihm auf der breiten, geschwungenen Treppe so unerwartet entgegenkam, sagte: »Sie können sich auch gleich unten zu den anderen Verdächtigen stellen, Sir. Wissen Sie zufällig, wo Miss de Aragon im Augenblick ist?« »Sie zieht sich eben an. Verdächtige – weswegen?«
»Mord, Sir«, sagte der Mann in der seegrünen Uniform. »Der Inspektor wartet unten im Salon. Und, versuchen Sie nicht zu entkommen. Wir haben scharfe Hunde draußen.« »Die Hunde kenne ich.« »Nein, nicht diese Robotpinscher, die Sie vielleicht meinen. Wir haben echte.« Silvera zuckte mit den Schultern und ging hinunter. Als er den Salon betrat, rief McLew Scribbeley laut: »Hallo, Killer.« Silvera blieb wie angewurzelt neben einem Marmorfaun stehen. »Wer voreilig Schlüsse zieht, begibt sich zumeist auf unsicheren Boden«, sagte ein Mann mit rundem Gesicht und einem weiten Schottenplaidumhang. »Ich hab ja nur Spaß gemacht«, sagte Scribbeley. »Ich bin Inspektor Ludd«, sagte der Mann mit dem runden Gesicht. »Und ich würde gern wissen, wer Sie sind.« »Das ist der Kerl, den der Ermordete mitgebracht hat«, dröhnte Prester-Johns, der an diesem Morgen einen Morgenrock – ebenfalls aus Schottenstoff – trug. »Ich bin Joe Silvera. – Soll das heißen, Kohinoor ist ermordet worden?« »Der Tod ist wie ein lockerer Ziegel, der jedem auf den Kopf fallen kann, der darunter vorbeigeht. Ja, Hugo Kohinoor ist tot. Offenbar ein weiteres Opfer des Kommando-Killers.« Der Inspektor hatte einen schleifenden Gang, und als er sich Silvera näherte, machte er eine vornehm gleitende Bewegung. »Unser Gedächtnis gleicht manchmal einem Müllauto. Unter Kaffeesatz und Wassermelonenrinden liegen dort oft Kostbarkeiten begraben, die ganz zu Unrecht in diese Umgebung geraten sind. Verzeihen Sie mir, daß ich Sie nicht gleich erkannt habe, Silvera.« »Da wir uns noch nie kennengelernt haben, finde ich das ganz natürlich.«
»Und Sie sind derselbe Jose Silvera, der für das Interplanetarische Kriminalmuseum so überaus hervorragende Beiträge geschrieben hat?« »Ja, ich habe damals für dieses Magazin eine ganze Reihe geschrieben – zum Beispiel über Mörder, die nach einem bestimmten Muster vorgesehen.« »Oh, Ihre Bescheidenheit ist hier ebenso angebracht wie eine Bananenstaude in einer Löwengrube. Ich würde es als eine Auszeichnung betrachten, Silvera, wenn ich bei der Aufklärung dieses Falls auf Ihre Hilfe zählen könnte.« Dobbs sprang wieder in den Salon. Er knabberte an einer Waffel. »Wahrscheinlich ist er der Mörder. Ich glaube nicht, daß er eine große Hilfe für Sie sein wird.« »Silvera, würden Sie mich zum Tatort begleiten«, schlug der Inspektor vor. »Ich werde die Vernehmungen später fortsetzen.« »Aber… ich habe heute nachmittag eine Autogrammstunde in einer Buchhandlung«, sagte der Kriegsbuchautor. »Sie haben dort noch ein paar hundert Remittenten von meiner Geschichte des Gaskriegs in Bildern.« »Ein Mord, auch wenn er spät kommt, findet immer den besten Platz an der Tafel«, sagte Inspektor Ludd mit einem sauren Lächeln. »Was soll das heißen?« »Es soll heißen, Mr. Dobbs, daß keiner Blackhawk Manor verläßt, bis die Untersuchung abgeschlossen ist.« Und zu Scribbeley: »Das heißt natürlich auch, daß die Umgebung dieselbe bleibt. Also kommen Sie nicht auf den Gedanken, Ihr schönes fliegendes Haus von hier wegfliegen zu lassen.« »Wir haben diesen Platz für einen Monat gemietet«, sagte Prester-Johns. »Ich werde hier eine Woche lang auf dem Bikein Vorlesungen halten. Und dann werde ich für die jungen Leute am Wochenende etwas Fahrradtrampen.«
»Vielleicht«, sagte der Inspektor und begleitete Silvera hinaus.
Sie standen auf freiem Feld vor dem Pinienwäldchen. Inspektor Ludd sagte: »Jetzt können Sie sehen, warum man diesen Mörder den Kommando-Killer nennt. Sehen Sie sich nur einmal an, wie er das Bajonett eingesetzt hat und die Garrotte. Und da sind noch ein paar andere Kleinigkeiten, die diesen militärischen Kniff haben. Sie waren die ganze Nacht über hier, Silvera?« »Ja. Wann wurde Kohinoor ermordet?« »Wahrscheinlich zwischen drei Uhr früh und der Morgendämmerung. Ist Ihnen irgend etwas Ungewöhnliches aufgefallen?« »Da muß ich gerade geschlafen haben, als der Mord passierte.« Silvera kniete sich neben die Leiche Kohinoors nieder. »Da steckt ja ein Fetzen Papier zwischen seinem Daumen und Zeigefinger.« »Ja, die Ecke einer 100-Dollar-Murdstonenote. Den dazugehörigen Schein werden wir hoffentlich bald finden.« »Was sagen die im Haus?« Silvera stand wieder auf. »Kohinoor blieb noch bis zum Dinner, obwohl er wütend war, weil man Sie so schlecht behandelt hatte. Die meisten zogen sich dann gegen Mitternacht auf ihre Zimmer zurück. Jeder behauptet, nie einen Fuß vors Haus gesetzt zu haben. Einer der Arbeiter, die da neue Gewächshaus aufstellen sollten, fand den Leichnam heute morgen vor dem Frühstück. Und Sie waren die Nacht über bei Miss Aragon?« »Ja.« »Das habe ich sowohl daraus geschlossen, was ich über Sie gehört habe, als auch daraus, daß man mir berichtet hat, Miss de Aragon hätte an dem Essen nicht teilgenommen. Angesichts
der Tatsache, daß Sie immer noch hier sind, Stunden nachdem man Sie hinausgeworfen hat, glaube ich nicht, daß Sie es waren, der Kohinoor wegen einer lumpigen Honorarforderung massakriert hat.« »So etwas mache ich niemals, nein«, sagte Silvera. »Entweder komme ich zu meinem Geld, oder ich habe das Nachsehen. Aber meistens komme ich dazu.« »Ja, ja, ein freier Schriftsteller«, seufzte der Inspektor. »Sehen Sie. Ich habe gleich die Sicherheit des Beamtenberufs vorgezogen; bevor ich es mit der Schriftstellerei versuchte. Vielleicht ist es Ihnen aufgefallen, wie oft ich meine Rede mit Aphorismen würze?« »Ja, das habe ich bemerkt.« »Das sind so die Überbleibsel meines Talents. Ich hatte einmal den Ehrgeiz, ein Lyriker zu werden«, sagte Inspektor Ludd. »Wußten Sie eigentlich, daß es eine Beschreibung des Kommando-Killers gibt, nachdem er vor zwei Monaten im Esfola-Territorium zugeschlagen hat?« »Nein, in den Nachrichten hörte ich nichts darüber.« »Bis jetzt noch nicht«, sagte der Inspektor. »Aber irgendwie ist es trotzdem deprimierend. Dieses Blackhawk-Haus liegt jedesmal in der allernächsten Umgebung des Orts, an dem der Kommando-Killer zuschlägt, und weder ich, noch andere, konnten es jemals in einen direkten Zusammenhang mit diesem Verbrecher bringen.« »Fingerabdrücke, Fußspuren?« »Keine Fingerabdrücke, aber wir haben hier eine Fußspur gefunden. Und wir haben einen Abguß davon gemacht.« »Und sie paßt zu niemandem im Haus?« »Die Fußspur stammt von einem alten Kommißstiefel, ziemlich groß. Bis jetzt haben wir noch keinen gefunden, der so etwas trägt. Aber meine Leute suchen noch. Die Beschreibungen und die Phantomzeichnungen nach
Augenzeugenberichten bin ich schon durchgegangen. Aber sie passen auf niemanden hier.« »Vielleicht eine Maske?« »Nein«, sagte Ludd. »Sehen Sie sich diesen Stiefelabdruck an. Der Kerl ist ein Riese, ein brutaler Totschlägertyp.« Er seufzte. »Wir haben unsere ganze Kartei auf den Kopf gestellt und nichts gefunden. Bleibt nur noch eine Möglichkeit…« »Welche wäre das?« »Sie erinnern sich sicher auch an den berühmten NolanAnmar-Fall auf der Venus vor gut dreißig Jahren?« »Der Doppelgänger? Nolan hat sich mit einem von ihm selbst erfundenen Präparat in Anmar verwandelt.« »Genau das ist es«, sagte Ludd. »Und ich habe das Gefühl, daß hier etwas ähnliches im Spiel ist. Obwohl ich keine Beweise dafür habe.« Silvera kratzte nachdenklich seinen Nacken. »Der Kerl mit dem Fahrrad«, sagte er. »Wir haben Reifenspuren im Wald gefunden, das stimmt. Aber in allen anderen Fällen hat es weder einen Radfahrer noch ein Fahrrad gegeben, und von den anderen im Haus weiß keiner etwas von einem derartigen Besucher. Was wissen Sie darüber?« »Ich könnte Ihnen etwas über den Jungen erzählen. Ich sah ihn gestern nacht, gegen neun. Er stellte sein Rad in dem Wäldchen ab, dann schlich er sich durch den Hintereingang ins Blackhawk Manor. Und noch etwas: es war einer von den Burschen, die vorher an uns vorbeigefahren sind, als sie zu ihrem Bike-in unterwegs waren.« »Würden Sie ihn wiedererkennen?« »Aber sicher.« »Gut, dann sehen wir uns mal dieses Bike-in an«, sagte der Inspektor. »Manchmal rollt sich aus einem Fadenende, an dem man es am wenigsten vermutet hätte, der ganze Pullover auf.«
Er lächelte Silvera an. »Auch ein Beispiel aus meiner Aphorismensammlung.« Silvera lächelte zurück und nickte dem Inspektor höflich zu. An Hunderten von abgestellten Fahrrädern vorbei, an Gruppen vorbei, die Fahrradlieder sangen, an Gruppen, die sich gegenseitig auszogen, und anderen, die ihre Fahrräder zerlegten oder wieder zusammensetzten, schlenderte Silvera über eine hügelige grasbewachsene Ebene, die an einer Seite von einer breiten Fahrspur begrenzt war. »Für einen Biker sehen Sie schon schrecklich alt aus«, sagte ein halbnacktes Mädchen, das auf einem Einrad hockte. »Das habe ich mir auch gedacht«, antwortete Silvera, »bis ich einmal eine von Burton Prester-Johns Reden hörte.« »Dieser alte Bock«, sagte das Mädchen und rieb sich ihren nackten, rotgesprenkelten Bauch. »Das ist doch zum Kotzen. Jedesmal, wenn ich einen sehe, der über dreißig ist und noch Fahrrad fährt, dreht sich mir der Magen um.« »Das sind ja ganz interessante Symptome.« Silvera wandte sich von dem Mädchen ab und erspähte Inspektor Ludd, der sich vom anderen Ende her durch die Menge schob. »Ich suche einen bestimmten Burschen, der ein schwarzes 10-Gang-Martian-Wollter-Fahrrad fährt. Hagerer Typ, sandfarbenes Haar, kleiner Schnurrbart.« »Sind Sie von der Sitte? Die verursachen bei mir nämlich Magenkrämpfe.« »Ich bin Schriftsteller. Und ich möchte gern etwas Authentisches über die Biker schreiben.« »Also, das finde ich ja das letzte, wenn Leute über dreißig noch vorgeben, sie wollten die Jugend verstehen. Das macht mich manchmal ganz elend.« »Vielleicht sollten Sie doch lieber zu Hause sein und unter der Bettdecke stecken.«
»Das ist wohl so ziemlich das Einzige, was ihr alten Knacker euch noch vorstellen könnt.« Silvera ging weiter. Im Schatten eines Erfrischungsstands entdeckte er den Jungen mit dem sandfarbenen Haar. Er suchte den Blick des Inspektor und nickte zu dem Stand hinüber. Sie bahnten sich einen Weg durch die Menge zu dem Jungen, der mit einem Ellbogen gegen die gelbe Wand der Bretterbude gestützt ein Glas Bowle trank. Er mußte ihr Kommen irgendwie gefühlt haben, obwohl Silvera noch mehr als dreißig Meter von ihm entfernt war. Als er den Inspektor entdeckte, drehte er sich auf der Stelle um und rannte davon. Auch Silvera begann zu laufen. Mit den Schultern stieß er die Umstehenden zur Seite. Ein dicklicher, plumper Albinojunge schüttete ihm ein Glas Bowle ins Gesicht. Silvera lief weiter und wischte sich im Laufen die Erdbeeren aus dem Gesicht. Er bog um die Ecke des Erfrischungsstands und sah gerade noch, wie der Junge auf seinem schwarzen 10-Gang-Fahrrad den Hang hinauf zur Straße fuhr. Silvera blieb stehen und holte sich aus dem Haufen geparkter Fahrräder ein einfaches 3Gang-Fahrrad. Er war noch keine zehn Meter weit gefahren, als ein Mädchen schrie: »Seht euch das an! Der alte Knacker klaut mein Fahrrad! Haltet ihn!« Drei von den Sängern sprangen auf und schwangen drohend ihre Flöten und Mandolinen. Silvera legte sich hart in die Pedale. Vier Jungen verfolgten ihn. Sie rempelten ihn so hart an, so daß er vom Fahrrad fiel. Gut fünf Meter weiter schlug er im Gras auf. Bevor einer von den vier Burschen sich auf ihn werfen konnte, rollte er weiter, mitten durch ein Picknickset für drei. Dann erst kam er wieder auf die Beine. Im Zickzack rennend setzte er seine Verfolgung fort.
Er wurde wieder angerempelt. Dieses Mal waren es drei stämmige Jungfrauen in blauen Westen. »He! Du altes Ekel«, sagte die eine und hieb ihm die Fahrradpumpe hinters Ohr. »Ich bin doch erst dreiunddreißig«, versuchte er zu erklären und duckte sich gerade noch rechtzeitig, sonst hätte er einen zweiten Schlag erwischt. »Das ist schon viel zu alt.« »Halt!« »Was?« fragte das Mädchen, das sich eben mit angezogenen Knien auf Silveras Bauch stürzen wollte. Inspektor Ludd sagte keuchend: »Das soll heißen, daß derjenige, der sich die Perücke des Richters aufsetzen will, auch wissen muß, ob sie ihm paßt.« »Lassen Sie diese Aphorismen«, sagte Silvera, »und sagen Sie ihnen, daß Sie von der Polizei sind.« Die drei stämmigen Mädchen ließen von Silvera ab. »Stimmt das, Opa, daß du von der Polente bist?« »Ich bin Inspektor Ludd, von der Landpolizei«, sagte Ludd. »Und ich wollte Ihnen nur zu verstehen geben, daß Sie die Exekutive mir überlassen sollten.« Als die Mädchen sich schließlich getrollt hatten, stemmte sich Silvera aus dem Gras hoch. »Das war der Junge, den ich letzte Nacht gesehen habe. Jetzt ist er uns wohl entwischt.« »Ich weiß, wo er ist«, sagte Inspektor Ludd. »Und das bringt uns der Lösung einen Schritt näher.« Silvera setzte sich wieder ins Gras. »Die größten Tage beginnen oft damit, daß man einen Fuß aus dem Bett streckt«, sagte er und begann sich den Staub von den Kleidern zu klopfen.
Der Tag ging zu Ende, und mit der Dunkelheit kam der Regen. Ein rauher Wind kam auf, fuhr heulend durch das
Pinienwäldchen und rüttelte an den Giebeln und Schindeln von Blackhawk Manor. Im Salon fauchte das Feuer im Kamin. Inspektor Ludd hatte seinen Schottenumhang abgelegt und ging in seinem dunkelblauen Zivilanzug auf und ab. »Wie sollen wir das Verbrechen rekonstruieren, Inspektor?« fragte Dobbs und nippte an dem Glas Wein, das ihm Dwiggins serviert hatte. »Wir sind doch ziemlich sicher, daß der Kommando-Killer jemand ist, der nicht zum Haus gehört. Und es ist mehr oder weniger ein Zufall – ein Zufall, der sich zwar öfters wiederholt hat –, daß er seine Verbrechen immer wieder in unserer nächsten Umgebung begeht. Ich bin kein Kriminalist wie Sie oder Ihr Knappe Silvera hier. Nein, wirklich nicht. Meine Zeit habe ich bedeutend wichtigeren Studien gewidmet. Militärischen Studien. In meinem neuen Werk zum Beispiel behandle ich die Geschichte des Grabenkrieges in Bildern.« Als jeder endlich einen Drink erhalten hatte, sagte der Inspektor: »Zuerst, Silvera, erzählen Sie ihnen mal, was wir herausgefunden haben.« Silvera lehnte am Flügel neben Willa. Er nahm seine Hand von ihrer Schulter und sagte: »Ein junger Mann namens Roberto Koop ist gestern abend mit seinem Fahrrad hierhergekommen.« »Freund von Ihnen, nicht wahr?« fragte Scribbeley seinen philosophisch angehauchten Hausfreund. »Nicht jeder, der auf einem Fahrrad fährt, ist ein guter Freund von mir«, sagte Prester-Johns. »Es ist möglich, daß ich diesen jungen Menschen schon einmal gesehen habe, bei einer meiner Ansprachen vielleicht, die ich auf die neue Bikokratie gehalten habe. Wieso, was sagte er denn?« »Dieser junge Mensch wird im Augenblick gesucht«, erklärte Inspektor Ludd.
»Der springende Punkt ist der«, fuhr Silvera fort, »daß Koop einen Onkel hat, Professor LeRoy Koop. Und Professor LeRoy Koop hat für die Vereinigten Streitkräfte von Murdstone einige Forschungsaufträge ausgeführt.« »Warten Sie mal«, unterbrach ihn Dobbs. »Ist das nicht sehr geheim?« »Inspektor Ludd hatte die Erlaubnis, an einigen dieser Ausschußsitzungen teilzunehmen«, sagte Silvera. »Er weiß also, daß Koops Onkel eine neue Droge entwickelt hat, man nennt sie vorläufig die Nahkampfpille.« »Diese Nahkampfpille«, erklärte der Inspektor, »macht aus einem durchschnittlichen Rekruten eine gigantische, unüberwindliche Kampf maschine.« »Davon habe ich noch nie etwas gehört«, sagte Dobbs. »Diese Nahkampfpillen sind seit ihrer Entwicklung pausenlos getestet worden und vor drei Jahren wurden sie zum begrenzten Verbrauch freigegeben«, erklärte der Inspektor. »Daß sie innerhalb der Streitkräfte noch keine weitere Verbreitung gefunden haben, liegt daran, daß sich unsere Vereinigten Streitkräfte zur Zeit mehr mit ethischen Problemen herumzuschlagen haben.« »Wir haben uns heute nachmittag mit Professor Koop unterhalten«, sagte Silvera. Er hatte bis jetzt von dem Wein nichts getrunken und stellte das Glas wieder auf den Flügel zurück. »Er hat bestätigt, daß ihm der junge Roberto Koop vor Jahren möglicherweise ein paar hundert dieser Nahkampfpillen entwendet haben könnte – und sich seitdem versteckt hält. Er hat herausgefunden, wie man das Zeug herstellt, und verkauft es wahrscheinlich im Untergrund. Möglicherweise nehmen einige seiner Kunden sogar höhere gesellschaftliche Positionen ein, und einer von diesen, die der Droge verfallen sind, befindet sich hier im Haus.«
Inspektor Ludd sagte: »Professor Koop hat uns freundlicherweise einige dieser Pillen überlassen.« Er lächelte wieder sein schiefes Lächeln. »Und darüber hinaus hat Silvera ein entscheidendes Beweisstück sichergestellt. Er hat herausgefunden, wo der Kommando-Killer seine Stiefel versteckt hat. Wir haben sie jetzt.« »Und worauf wollen Sie hinaus?« fragte Prester-Johns. »Der Kommando-Killer«, sagte Silvera, »ist einer von Ihnen. Er schluckt die Pillen und verwandelt sich in einen gemeingefährlichen Killer. Alles, was wir jetzt noch zu tun haben, ist ganz einfach. Wir müssen nur herausfinden, wem die Stiefel passen.« »Sie werden keinem passen«, sagte Willa. »Vorausgesetzt, dieser Killer ist eine gespaltene Persönlichkeit, wie Sie vermuten. Sie müßten dann nämlich seinen zweiten Fuß finden.« »Das stimmt genau«, sagte der Inspektor. »Und deswegen haben wir auch ein paar dieser – übrigens vollkommen geschmacklosen – Pillen in den Wein getan. Sie werden bemerkt haben, daß wir uns genauso lange unterhielten, bis jeder sein Glas Wein ausgetrunken hatte. Für diejenigen, die an die Droge gewöhnt sind, setzt die Wirkung nach etwa einer Viertelstunde ein und hält etwa zwei bis drei Stunden an.« Auf einmal gingen alle Lichter aus. Silvera lief quer durch den Salon und zu einer Seitentür hinaus. Das gehörte zu dem Plan, den er sich zurechtgelegt hatte. Er lief durch einen dunklen Gang und fand schließlich eine bestimmte Tür. Er öffnete sie und stand in einem ebenso dunklen Raum. Nach kurzem Zögern versteckte er sich hinter einem Vorhang, der bis zum Boden reichte. Es dauerte keine Minute, und ein Teil der Wandtäfelung schob sich zur Seite. McLew Scribbeley betrat das Zimmer. Er schaltete die Schreibtischlampe ein, dann ließ er sich vor dem
großen Stand-Globus des Planeten Murdstone auf die Knie nieder. Er drehte den Globus dreimal nach links, dann dreimal nach rechts und noch einmal nach links. Dann drückte er gleichzeitig mit fünf Fingern auf fünf verschiedene Städte, und die obere Globushälfte klappte auf. Scirbbeley steckte seine Hand hinein, holte ein paar Bündel Banknoten heraus, dann ein paar Säcke mit Münzen und zuletzt ein Paar übergroße lehmverschmierte Kommißstiefel. »Das ist doch verrückt«, murmelte er. »Die sind noch da.« »Wir haben ja auch nur Spaß gemacht«, sagte Silvera und trat hinter dem Vorhang hervor. Er hielt eine kleine Pistole auf den knienden Scribbeley gerichtet. »Ich hatte schon immer den Verdacht, daß Sie es gewesen sind. Wir wollten endlich wissen, wo Sie diese verdammten Stiefel verstecken. Also haben wir behauptet, wir hätten sie schon gefunden, und Sie konnten sich nicht beherrschen, sich persönlich davon zu überzeugen.« »Was wissen Sie?« fragte Scribbeley. »Wie kamen Sie überhaupt darauf, daß ich es sein könnte?« »Für keinen der Morde gibt es ein Motiv«, sagte Silvera. »Und als Sie von diesen Pillen süchtig geworden waren, gab es für Sie keine Rettung mehr. Vielleicht haben Sie sie am Anfang tatsächlich nur genommen, um Ihre Männlichkeit etwas aufzupäppeln, aber die Pillen haben eben nicht nur in diesem Sinn gewirkt. Allerdings hatten Sie letzte Nacht tatsächlich einen Grund, jemanden zu töten. Ich nehme an, Kohinoor ist zu Ihnen gegangen und hat Sie ein wenig erpreßt. Er war wütend über die Art, wie Sie meine Forderungen zu behandeln beliebten. Vielleicht hat er Ihnen gedroht, Ihren Verlag zu ruinieren, wenn Sie nicht einlenken wollten. Also haben Sie ihm gesagt, Sie würden ihm die zweitausend Dollar geben, die Sie mir schuldeten. Sie haben sich mit ihm draußen
im Wäldchen getroffen, ihm die zweitausend Dollar gegeben, und dann haben Sie sich in den Killer verwandelt.« »Sie Teufel, Sie…!« sagte Scribbeley, noch immer auf den Knien. »Sie kommen sich wohl sehr klug vor, Sie Scheißer, was? – Nun, zu Ihrer Beruhigung kann ich Ihnen sagen, daß es genauso gewesen ist, wie Sie vermuten, nur haben Sie eins übersehen. Ich werde mich jetzt in den Kommando-Killer verwandeln, und da wird Ihnen Ihre Spielzeugpistole wenig nützen.« Er stand auf und stürzte sich brüllend auf Silvera. Auf halbem Weg blieb er plötzlich stehen und sah stirnrunzelnd seine Hände an. »Das ist doch… ich verwandle mich ja gar nicht, obwohl ihr Pillen in den Wein getan habt.« »Auch hier haben wir uns einen kleinen Spaß erlaubt«, sagte Silvera lächelnd. Inspektor Ludd kam mit seinem Leutnant herein. »Auch ein Schuß, der blind abgefeuert wird, findet manchmal sein Ziel.« Sie führten Scribbeley hinaus. Als Willa kurz darauf ins Zimmer kam, fand sie Silvera vor dem Globus kniend. »Geht es Ihnen gut, Mr. Silvera?« »Können Sie noch solange warten, bis ich mir hier die zweitausend Dollar abgezählt habe?« »Was? Sie haben das ganze Geld vor sich und nehmen nur zweitausend?« »Er hat mir ja nicht mehr geschuldet.«
Originaltitel: CONFESSIONS Copyright © 1970 by Mercury Press, Inc. Aus FANTASTIC Übersetzt von Iannis Kumbulis
Arthur Sellings DIE VERABREDUNG
1 Er meldete ihnen seine Rückkehr, als er noch zwölf Lichtjahre entfernt war und gerade die Höchstgeschwindigkeit erreichte. Die Computerstationen auf der Erde würden, wenn seine Nachricht sie schließlich erreicht hatte, seine Ankunft auf etwa 48 Stunden genau berechnen. Sie richteten sich dabei nach der besonderen Form des Signals und einer Art Parallaxe. Durch die Verwerfung des Kontinuums erhielt nämlich jeder Flugkörper, der sich mit Lichtgeschwindigkeit bewegte, ein doppeltes Abbild. Die Computer brauchten eine ganze Woche, um alles durchzurechnen und sicherheitshalber ein zweitesmal nachzuprüfen. Dann ging das Band in die FahrplanDatenspeicher, und alle lokalen Flüge wurden für die nächsten sechs Monate neu geordnet oder verschoben – nur um das Landefeld und den Raum für seine Ankunft freizuhalten. Sein Schiff würde zwar außerhalb der Ekliptik wieder zum Vorschein kommen, aber ein DCP – Direct-ContinuumProplusion-Schiff – brauchte viel Platz. Und den sollte es haben. Er kam aus der ewigen Nacht des Weltalls in die kurze vergängliche Nacht seines Heimatplaneten. Aber Sheppard Field war taghell erleuchtet. Als er auf dem Boden aufsetzte, erloschen die Lichter des Flugfelds fast ganz. Das war bei
jeder Landung so, und es war schon fast eine Art Begrüßung. In Wirklichkeit war es aber eine Geste der Company an die Zuschauer, damit sie die seltsamen Lichterscheinungen besser sehen konnten, die bei der Landung um den Rumpf des Raumschiffs spielten. Als die Bodenkontrollen fertig waren, erlosch das Flammenspiel langsam, und er öffnete die Luke und stieg heraus. Sofort flammten die Lichter des Flugfeldes wieder auf in ihrem gleißenden Schein. Hinter der Absperrung waren die Gesichter wie weiße verschwommene Flecke. Ein fernes, undeutliches Rauschen konnte ebenso gut ein Hurrarufen sein. Und das war es auch wahrscheinlich. Reporter umringten ihn in dichten Trauben und sprachen auf ihn ein. Die uniformierte Flughafenpolizei hielt sie mühsam zurück und machte Platz für einen kleinen Mann mit Bürstenhaarschnitt und einem wiegenden Gang, der wohl zeigen sollte, daß der kleine Mann genauso schnell marschieren konnte wie ein großer. Und dementsprechend auch alles andere ebenso gut machen konnte. Er streckte die Hand aus, und sofort klickten die Kameraverschlüsse und surrten die Motoren der Filmkameras. »Grant?« Grant mußte innerlich lächeln über diese unausgesprochene Frage. Aber sie waren ja Fremde, trotz allem, er und der Mann in dem malvenfarbenen Anzug. »Ich bin Bassick, Chef der Flugprogrammierung. Hatten Sie einen guten Flug?« »Gut?« Über Grants Gesicht huschte ein kleines Lächeln. »Das kommt darauf an, was Ihre Analytiker aus den Daten machen, die ich mitgebracht habe. Es sind jedenfalls eine ganze Menge. In den Speichern war nicht mehr viel Platz, als ich meine Arbeit beendete.« Bassick nickte zufrieden.
»Ich habe auch noch einige Proben mitgebracht, die vielleicht interessant sein könnten.« »Irgendwelche Gegenstände?« Bassick verzog säuerlich den Mund, als Grant verneinend den Kopf schüttelte. »Meistens Mineralien. Es gibt überhaupt wenig Leben da draußen. Überraschend wenig. Und der Planet hatte vielversprechend ausgesehen. Alle Voraussetzungen für eine reichhaltige Ökologie schienen gegeben, und dann war keine da. Aber ich habe alle Daten darüber gespeichert.« »Nun, auch negative Berichte können manchmal nützlich sein.« Der kleine Mann wandte sich an die Reporter. »Okay, Jungs, ihr habt ihn jetzt gesehen. Und ihr habt auch die Ausführungen unserer Gesellschaft zur Kenntnis genommen. Wollen wir dem Jungen nicht eine kleine Ruhepause gönnen? Er hat immerhin einen Flug von vierzehn Jahren hinter sich.« Gelächter stieg auf. Der Witz war für sie anscheinend noch neu, im Gegensatz zu Grant. »Die Pressekonferenz ist morgen um 15 Uhr, wie vorgesehen.« Gut gelaunt zerstreuten sich die Reporter, und die Fotografen schossen noch einige Bilder, als Bassick Grant am Arm nahm und ihn zum Verwaltungsgebäude führte. »Wir haben einen Wagen bereitstellen lassen«, sagte Bassick. »Aber ich habe mir gedacht, Sie wollten vielleicht gern wieder Ihre Planetenbeine ausprobieren.« Er hatte den Raumfahrerausdruck mit der salbungsvollen Selbstbewußtheit eines Mannes gebraucht, der noch nie die Erde verlassen hat. Grant dachte sich, daß er Bassick nicht sonderlich leiden konnte – aber auch, daß er sich deswegen keine grauen Haare wachsen lassen wollte. »Was ist aus Goodman geworden?« Der „andere sah zu ihm auf mit einem Ausdruck unpersönlichen Bedauerns. »Er ist vor elf Jahren gestorben. Es war das Herz. Man hat ihn sofort in ein
Transplantationszentrum gebracht, aber sein Körper hat das neue Herz nicht angenommen. Ich war bei ihm. Ich glaube auch, irgendwie wollte er es gar nicht.« Das sah ihm ähnlich, dachte Grant. Goodman war immer stolz gewesen auf seinen gesunden Körper und seine Vitalität. Ein unabhängiger, gesunder Mensch in einer Welt, die sich immer mehr auf künstliche Präparate und Hilfsmittel verließ. Sein eigener Körper hatte ihn im Stich gelassen, und auf einen neuen wollte er sich nicht mehr verlassen. »Ich dachte, sein Sohn wäre an der Reihe gewesen, seinen Platz einzunehmen. War es nicht der junge… Paul?« »Das sollte er auch. Ich hatte mehrere verantwortliche Stellen zu besetzen. Er hat aber die Gesellschaft verlassen. Jetzt ist er bei irgendeiner interplanetarischen Fluggesellschaft, glaube ich.« »Und meine – Kameraden?« Grant sprach das Wort sehr ironisch aus. Einen hatte er nie kennengelernt, und den anderen hatte er seit seiner Trainingszeit nicht mehr gesehen, und das war vor zweihundert Jahren – Erdzeit. »Kroll geht’s gut. Hazlitt ist nach seinem letzten Trip nicht mehr geflogen. Für ihn fliegt jetzt ein jüngerer, er heißt Ebsen: Tut mir leid wegen Hazlitt. Hatte nur noch einen Flug zu machen. Aber er wollte nicht mehr. Hat jetzt eine Farm in Brasilien.« Sie gingen eine Weile schweigsam nebeneinander her. »Haben Sie schon bestimmte Pläne?« »Wieso – für den Fall, daß ich bei der medizinischen Untersuchung durchfalle?« »Es ist ja auch Ihr letzter Flug gewesen. Aber das habe ich damit nicht gemeint. Sie scheinen noch ganz gut in Form zu sein. Nein, ich meinte, wenn Sie Ihre letzte Mission erfüllt haben.« »Da habe ich noch viel Zeit, mir etwas zu überlegen. Aber als Farmer in Brasilien oder sonstwo kann ich mich schlecht
vorstellen.« Grants Gesicht verzog sich zu einem spöttischen Lächeln. »Könnte mir ja eine kleine Raumfahrtfirma kaufen und selbst Leute ein- und ausstellen, wie es mir paßt.« Obwohl er scherzte, fühlte er, wie ihm eine lächerliche Angst den Hals zuschnürte, als sie die Verwaltung betraten. Wenn er seinen Dienst verkürzte, so machte das einen gewaltigen Unterschied in seinen Finanzen aus. Und das war etwas, wogegen man sich nicht versichern konnte. Bei den riesigen Investitionen, die die Gesellschaft in ein DCP-Schiff und seinen Piloten steckte – eingerechnet der Zeitspanne, bis brauchbare Ereignisse vorlagen – war es nur logisch, daß im Vertrag bestimmte Strafklauseln eingebaut waren, für den Fall, daß er vorzeitig aufhören wollte. Das machte dieses Leben natürlich zu einem Glücksspiel. Nicht draußen, das war ja die Ironie dabei, sondern dort, wohin ein Mann immer zurückkehrte. Vor seinem ersten Trip hatten sie noch alberne Witze gemacht, ob von der Erde überhaupt noch etwas da sein würde, wenn er zurückkäme und so ähnlich. Mit dem Weltraumflug hatte die Menschheit zugleich einen Punkt ihrer Entwicklung erreicht, von dem aus sie sich und den ganzen Planeten zerstören konnte. Aber es war alles wieder besser geworden in den letzten zweihundert Jahren. Nach jeder Rückkehr hatte die Welt für ihn äußerlich zwar immer verrückter ausgesehen, aber im Inneren schien sie gesünder und vernünftiger geworden zu sein, und darauf kam es ja an. Er ärgerte sich, daß er wieder ans Geld dachte. Schließlich war es ja nicht das Geld gewesen, was ihn an dieser Arbeit so angezogen hatte. Es mußten schon andere, viel kompliziertere Gründe sein, die einen Mann nach einer solchen Karriere greifen ließen. Er hatte die besten Jahre seines Lebens geopfert für eine Existenz der Kontaktlosigkeit und Diskontinuität isoliert von allen anderen – mehr durch die Zeit
als durch räumliche Entfernungen. Die Psychiater der Gesellschaft gaben sich sehr viel Mühe, bei ihren Kandidaten auch nur die geringsten Anzeichen eines solchen Wunsches zu entdecken. Und wenn es ihnen einmal gelungen war, dann war dieser Bewerber schon wieder draußen, bevor er überhaupt angefangen hatte. Sie suchten nach Idealisten, ganz bestimmten Einzelgängern. Wie gesagt, eine besondere Art von Mensch, aber davon gab es ziemlich viele. Daß sich darüber hinaus in einer perfekten körperlichen Verfassung sein mußten, schränkte die Auswahl schon etwas ein. Und dann sollten sie ihren Doktor in den Naturwissenschaften so früh gemacht haben, daß sie nach der anschließenden Spezialausbildung nicht viel älter als fünfundzwanzig Jahre alt waren. Das reduzierte die Anzahl der Bewerber praktisch auf ein Minimum, selten mehr als die Gesellschaft brauchen konnte. Als er anfing, waren es genau zwei gewesen. Selbst jetzt gab es insgesamt erst drei Schiffe. Und das war für die Gesellschaft schon eine ziemlich kostspielige Angelegenheit. Aber auch einen Mann konnte es teuer zu stehen kommen, wieder in eine Welt zurückzukehren, in der die Zeit normal verlief und die Zukunft nicht vorauszusehen war. Ein paar Männer der interstellaren Fluglinie saßen in ihrem mitternachtsblauen Dreß gelangweilt in der Empfangshalle. Als sie Grants salbeigrüne Uniform sahen, blickten sie von ihren Drinks auf. Einige von ihnen winkten ihm müde zu. In ihren Blicken lag die übliche Mischung, das hatte sich seit Generationen nicht geändert, aus – es war eigentlich schwer zu sagen – etwas Neid, etwas – fein – daß – du – wieder – da bist – Jack, etwas Ärger – und ein großer Teil FeierabendErleichterung, daß sie jetzt endlich wieder in ihren eigenen Hühnerstall durften.
Grant winkte ihnen flüchtig zu – warum eigentlich? An ihrer Kameraderie konnte er sowieso nicht teilnehmen – und bog in den vertrauten Korridor zu den Untersuchungsräumen ein. Dort wurde er schon erwartet.
Zwei Stunden später war er wieder draußen mit einem glänzenden Attest und frei von der Angst, sich an jene zweite Möglichkeit mit allen ihren Risiken halten zu müssen. Bassick stand schon da und wartete. »Ich hab Ihnen eine Suite im Venus reservieren lassen.« »Was ist das? Hört sich an wie ein gehobenes Stundenhotel. Gibt’s das Universal nicht mehr?« »Sie haben es vor zwanzig Jahren abgerissen, um Platz für ein Frei-Fall-Center zu schaffen. Venus ist das Neueste und das Beste, was wir in der Stadt haben.« Bassick strich sich über seinen Bürstenhaarschnitt. »Das andere – äh, nebenbei gesagt – steht natürlich auch zu Ihrer Verfügung. Auch das soll angeblich das Beste in der ganzen Stadt sein.« Grant schnitt eine Grimasse. Da hatte die Zusammenarbeit mit Goodman schon mehr Spaß gemacht; der hatte gleich eine ganze Auswahl Weiber, sortiert nach Größe und Haarfarbe, mit aufs Rollfeld gebracht. »Daran muß man sich erst langsam wieder gewöhnen. Alles, was ich im Augenblick will, ist ein handfestes Essen, ein ordentlicher Schluck zu trinken und ein richtiges Bett. Für mich allein.« Eine Stunde vor der Pressekonferenz versammelten sie sich alle in seiner Suite. Die übliche endlose Kette von Fakten und Bildern, Stereofilmen, Kommentaren zu Hunderten von Einzelnachrichten und Dokumentationen – und Top-Modellen, die den letzten Schrei der gegenwärtigen Mode vorführten.
Die Urbarmachung der Sahara war eben abgeschlossen, die Transaustralische Einschienenbahn war eröffnet worden. In Cousteaupolis unter dem Mittelmeer hatte mittlerweile die dritte Generation das Licht der Welt erblickt, und es war ein Kind dabei gewesen, das die Wissenschaftler in helle Aufregung versetzt hatte, weil es angeblich Ansätze zu einer Kiemenbildung zeigte. Andere behaupteten allerdings, es seien nur zufällige Mißbildungen gewesen. Ein Mann war in den roten Fleck des Jupiter hinuntergestiegen und wieder heil herausgekommen. Das allgemeine Interesse an Organtransplantationen hatte seit dem letztenmal nicht nachgelassen, obwohl längst bekannt war, daß sie ein normales Leben nur unwesentlich verlängerten. Sie bewirkten lediglich, daß jetzt alle Menschen ein etwa gleich hohes Alter erreichten. Das Äußerste schien man bis jetzt mit der Operation eines indonesischen Milliardärs erreicht zu haben. Daß er allerdings nur sechs Monate überlebte, schrieb man eher seiner übergroßen Aufregung über das Gelingen der Operation zu als irgendwelchen organischen Pannen. Die Produktion menschenähnlicher Roboter schien nun in greifbare Nähe gerückt zu sein. Das war allerdings vor dreißig Jahren auch schon der Fall. Die Röcke waren wieder so kurz – oder so lang – wie um Einundzwanzigfünfzig. Man trug wieder Strumpfbänder dazu, was Grant geradezu scheußlich empfand. An diesem Urteil änderte sich auch nichts, als eines der Mannequins ein Miniaturradio in ihrem Strumpfband einschaltete. Kurzum, er gab sein Bestes, um zu den Reportern, die um Punkt fünfzehn Uhr eingelassen wurden, höflich zu sein. Es war eine reine Routine-Angelegenheit, die ihm jedoch ziemlich Nerven kostete – aber die Gesellschaft hielt es nun einmal für eine gute PR.
Selbstverständlich, auch er fand, daß Frauen in der neuen Mode besonders feminin aussahen. Und auch der Schnitt der neuen malvenfarbenen Anzüge gefiel ihm. Nein, er hatte nicht die Absicht, sich in diesem Urlaub einen zu kaufen. Er hatte noch genügend Anzüge im Schrank. Sicher, einige von ihnen würden schon ziemlich altmodisch aussehen, aber – und er deutete auf seine Kleidung, dunkle Jacke und weite Hosen – das sähe doch auch noch ganz passabel aus. Ja, er war auch davon überzeugt, daß die Produktion menschenähnlicher Roboter in greifbare Nähe gerückt sei. Ob er glaube, daß sie jemals den Menschen in einem Raumschiff ersetzen könnten? Möglich wäre es schon, aber er würde es nicht so persönlich auffassen. Ein Raumschiff war jetzt schon zu 99 % ein Roboter, wenn auch nicht in menschenähnlicher Gestalt. Aber es gehörte immer noch ein Mensch dazu, der kontrollierte, vor allem improvisierte und die Befehle gab. Zu den Kiemen konnte er leider keinen Kommentar abgeben – das gehörte nicht in sein Fach. Auf Proxima Centauri II hatte er eine primitive Rasse vorgefunden, die anscheinend den Kampf, an Land Fuß zu fassen, aufgegeben hatte und wieder zu ihrem Leben im Meer zurückgekehrt war. Aber das war schon vor fast zweihundert Jahren gewesen. – Derselbe abgestandene Witz, dasselbe saure Gelächter. Er kam sich vor – und der Gedanke überfiel ihn nicht zum erstenmal – wie ein Besucher auf einer fremden Welt. Das war Ihre siebente Reise Captain. Die nächste macht das Soll voll, nicht wahr? Nun ja, auf die Anzahl kommt es nicht an. Die Zeit ist es, die zählt. Zwanzig Jahre. Je weiter wir die Grenzen ausdehnen, desto länger werden die Reisen dauern. Mein Nachfolger wird entweder weniger Fahrten unternehmen, oder sich für einen längeren Zeitraum verpflichten. (Er drehte sich zu Bassick um,
der die Handflächen nach oben drehte zum Zeichen, daß er damit nichts zu tun hatte.) Wird es draußen für den Menschen jemals echte Grenzen geben? Er beantwortete diese Frage mit einem ehrlichen Ja, wie es seine Gesellschaft verlangte, obwohl er persönlich manchmal Zweifel hatte. Aber möglicherweise werden Sie es nicht mehr erleben, wahrscheinlich nicht einmal mehr ich. Wieder dasselbe Gelächter, diesmal aber etwas gequält – es war das Ressentiment derer, deren Lebensspanne begrenzter war als der jener seltsamen Elite von Männern, deren Leben ganze Jahrhunderte überspannte. Aber wenn man ihnen die Wahl gelassen hätte, wieviele hätten sich schon so entschieden wie er – vor zweihundert Jahren? Nein, wo es das nächste Mal hingeht, weiß ich noch nicht. Und danach? Ich habe mich noch nicht entschieden. Einer der inneren Planeten? Das glaube ich nicht. Meine Pläne für diesen Urlaub? Familie? Nein, ich habe keine Familie. (Das war zwar nicht ganz richtig, mußte er sich schmerzlich eingestehen, aber es war doch beinahe die Wahrheit.) Auch keine Heimatstadt – sie wurde überflutet, als vor einem Jahrhundert ein Stausee errichtet wurde. Ich werde mich etwas herumtreiben, mit der Welt wieder Bekanntschaft schließen. Noch weitere Fragen? Keine mehr.
Gerade als sie aufstanden und gehen wollten, betrat ein Mann den Raum, und Grant erkannte ihn sofort, selbst in dem modischen purpurnen Anzug, den dieser trug. Die Firma Vandeleer & Vandeleer machte es eben weit weniger umständlich als die Deep Space Inc. Grant schüttelte ihm die Hand. »Der achte?« erkundige er sich höflich. »Der neunte«, verbesserte ihn der andere.
Grant lächelte entschuldigend. »Mein Gedächtnis läßt allmählich nach.« »Aber nicht im geringsten. Leider ist mein Vater gestorben. Tragisch. Er war erst achtundzwanzig. Der TW-Clipper, mit dem er reiste, stieß über dem Kaukasus mit einem Frachter zusammen.« »Das tut mir aber leid. Ganz besonders, weil ich ihn nie kennengelernt habe. Ich hätte es eigentlich sofort wissen sollen. Ich dachte mir schon, daß Sie ziemlich jung aussehen.« »Gerade diesen Eindruck versuche ich zu vermeiden«, lachte Richard Vandeleer IX. »Ihr Fall hat mir in den letzten drei Jahren vorzeitig ein paar graue Haare eingebracht.« Der Raum war jetzt leer, der letzte, der ging, war Bassick gewesen. Er hatte den Wagen mit den Getränken hinausgeschoben. »Also, wie stehen die Aktien?« »Nun, zuerst hat es eine Abwertung gegeben.« »Abwertung? Gegenüber was? Ich dachte, wir hätten schon längst eine Weltwährung.« »Gegenüber dem Gold. Die Integration brachte so ihre Probleme mit sich. Irgendeine Art von Standard mußte aufrecht erhalten werden.« »Das kommt mir für die heutige Zeit ziemlich primitiv vor. Habe ich viel dabei verloren?« Richard IX. grinste. »Es mag schon richtig sein, daß man mich in früher Jugend zu diesem Geschäft prügeln mußte, aber uns Vandeleers liegt es eben im Blut. Ich hatte den richtigen Riecher und kaufte eurasisches Vorzugsgold, drei Monate bevor der Hahn zugedreht wurde. Sie haben sogar daran verdient. Mit den neuen Steuergesetzen, die sie anschließend verabschiedeten, war es schon etwas schwieriger. Sie sollten ursprünglich die Steuersätze für alle Bewohner der inneren Planeten auf den gleichen Nenner bringen. Da gab es Fälle,
daß jemand plötzlich doppelt soviel Steuern zahlen mußte wie vorher, und das ganze System wurde zur Groteske, als ein Fall bekannt wurde, wo jemand viermal soviel Steuern zahlen sollte, als vorher, also doppelt soviel wie er verdiente. Ich möchte jetzt nicht in die Einzelheiten gehen, aber diese Steueränderung hätte für Sie bedeutet, daß Sie hier alle Ihre Steuererleichterungen verloren hätten, ohne anderswo neue zu bekommen. Ich möchte das, was ich geleistet habe, nicht überbewerten, aber es war ein ziemlich mühsames Stück Arbeit. Wenn die Maschine schon die Berechnungen für eine Minorität von fünfzigtausend richtig stellt, dann will sie nicht noch zusätzlich belästigt werden mit Änderungsanträgen für eine noch wesentlich kleinere Minorität von dreien.« »Besonders«, bemerkte Grant sarkastisch, »wenn diese besagte Minorität bei den Wahlen nur selten zu Hause ist.« »Genau. Ich habe also etwas Lobby betrieben und bis zu einem gewissen Grad…« er machte mit der Hand eine gewisse Bewegung. »Bestechung?« »Nennen Sie es lieber Programmierung. Ein ziemlich kostspieliges Programmieren. Die richtigen Fragen zur rechten Zeit am richtigen Ort zu placieren. Ich war schon fast soweit, vor den Höchsten Gerichtshof zu gehen, falls es notwendig werden sollte, aber das wäre noch teurer gewesen und hätte noch länger gedauert. Aber schließlich habe ich es doch auf meine Art geschafft, rechtzeitig zu Ihrer Rückkehr.« Er zog einen Umschlag aus seinem Aktenkoffer. »Trotz all dieser Ausgaben haben Sie mit einer halben Million mehr abgeschlossen als vor zweiunddreißig Jahren. Das heißt also, wenn man den unvermeidlichen Kaufkraftverlust abzieht, sind Sie immer noch 17,25 Punkte vorn. Das ist allerdings nicht sehr viel, fürchte ich, für eine so lange Zeit, aber in Anbetracht…«
Grant unterbrach seine Entschuldigung mit einer großzügigen Handbewegung. »Sie haben gute Arbeit geleistet. Ich bin zufrieden.« Der andere war jung genug, um zu zeigen, wie erleichtert er war. »Hier habe ich noch einige Papiere für Sie zum Unterschreiben.« Er hielt ihm einen Federhalter hin, und Grant unterschrieb, ohne die Papiere im einzelnen zu lesen. Er hatte volles Vertrauen zu der Firma Vandeleer. Er wartete, daß er ihm auch das letzte zum Unterschreiben gab, aber Richard behielt es in der Hand. »Und das hier – ich hätte es Ihnen schon früher sagen sollen.« Er sah ziemlich gedrückt aus. »Ich bin zwar in finanziellen Dingen recht geschickt, aber wenn es um persönliche Angelegenheiten geht… Das hier ist eine Quittung über den Nachlaß Ihres einzigen Enkels. Er… er ist vor fünf Jahren gestorben, ohne Nachkommen.« »Ich habe nie erwartet, daß er Nachkommen haben würde.« Grants Lachen klang hohl. »Wenn das das richtige Personalpronomen ist. – Nachlaß sagten Sie?« »Nur ein paar hundert Dollar, nach allen Abzügen.« »Nun, damit wäre diese Angelegenheit auch zu Ende.« Er sah die Überraschung auf dem Gesicht seines jungen Gegenübers. Er erinnerte sich, daß Richard ein Glied einer eng verflochtenen Dynastie war, in der Familienstreitigkeiten tabu sein mußten. »Das tut mir leid. Ich habe kein Recht, so verbittert zu sein. Es war mein Fehler, aber keine Angst, das wird mir schon kein zweites Mal passieren.« Ein Fehler? Das war wohl eine Untertreibung. Es war im Urlaub geschehen, zwischen seinem vierten und fünften Trip, und er verstand immer noch nicht, welcher Teufel ihn damals geritten hatte. Frauen hatte es immer genügend gegeben. Über seine Erscheinung gab er sich keinen besonderen Illusionen
hin. Er wußte, daß er für die meisten Frauen nur eine Erfahrung unter mehreren war. Ein fremdartiges, rätselhaftes Wesen, mit schwarzen, brennenden Pupillen, die aus einer unwahrscheinlich hellen Iris hervorstachen, mit ausgeblichenem Haar und tiefbrauner Hautfarbe, die von der starken Strahlung im Weltall herrührte. Eine rauhe und auffallende Erscheinung, das wußte er, und so war es auch besser. Wenn alles vorbei war, gingen die meisten Frauen wieder ihre eigenen Wege, ohne mehr von ihm zu wollen. Dann gab es natürlich noch die Goldgräberinnen, angelockt von dem sagenhaften Reichtum der DCP-Männer, über den ab und zu in den Zeitungen geschrieben wurde. Aber die Goldgräberinnen beschäftigten Anwälte, die allzu bald herausfanden, daß dieser Reichtum nur potentiell war, aber kein realer. Die Strafklauseln sicherten der Gesellschaft bis zu dem Tag, an dem der DCP-Mann den Dienst ordnungsgemäß quittierte, den Löwenanteil an seinem Einkommen. Außerdem konnte kein noch so gewieftes Planen den Mann um sein Geld bringen, weil er ja in jedem Fall ganze Generationen von Goldgräberinnen überleben würde. Helene gehörte eigentlich in keine der beiden Kategorien. Natürlich hatte auch sie keine Fragen gestellt und nichts verlangt, aber gerade das machte es für ihn um so schlimmer, denn sie hatte sich hoffnungslos in ihn verliebt. Damit hatte sie in ihm das schlimmste Gefühl hervorgerufen, das für einen Mann in seiner Position denkbar war: das Gefühl der Verantwortung. Er hatte versucht, dem zu widerstehen, es vernünftig zu erklären mit der Überzeugung, daß er sie ja auch liebte. Sie heirateten in einem kleinen Dorf in den Catskills. Eine Woche später schickte ihm seine Gesellschaft ein Telegramm mit seinem nächsten Auftrag. Es war ein langer Trip – der längste, den er bisher zu machen hatte. Es war eine Entscheidung der Gesellschaft, hervorgegangen aus Hunderten
von Konferenzen, Zeitfaktoren, Abwägungen – und diese Entscheidung bedeutete für ihn, daß er länger als vierzig Jahre unterwegs sein würde. Als er zurückkam, war Helen siebenundsechzig. Sie hatte sich die traurige Mühe gemacht, ihren Sohn zum Ebenbild seines Vaters zu stilisieren, er sollte sogar dieselbe Laufbahn einschlagen. Der Sohn hatte drei Nervenzusammenbrüche gehabt, und mit vierzig war er ein bedauernswerter Mensch und in jeder Hinsicht älter als sein Vater. Sein einziger Versuch, sich im Leben und mit Geld, das ihnen Grant ausgesetzt hatte, nützlich zu machen, war, daß er zehntklassige Bilder malte. – Das alles wäre noch zu ertragen gewesen. Kein Mensch konnte wissen, wie seine Nachkommen einmal werden würden. Aber mit Helen war es noch schlimmer gewesen. Er hatte natürlich erwartet, sie als alte Frau wiederzutreffen, er hatte sich vorgenommen, alles zu tun, um sie glücklich zu machen, ihr dieses unnatürliche Leben, dem er sie ausgesetzt hatte, so gut wie möglich zu erleichtern. Aber auf diese Helen war er nicht vorbereitet gewesen – eine Helen, die eigensinnig darauf bestanden hatte, die Zeit anzuhalten. Sie hatte sich allen nur denkbaren kosmetischen Behandlungen und Operationen, die im zweiundzwanzigsten Jahrhundert möglich waren, unterzogen und versuchte, ihn in den verführerischsten Negligees, die eine ihm fremde Welt ersonnen hatte, aufs neue zu becircen. Es war grotesk gewesen. Und dieser Widerspruch war es – der Versuch, die Uhr rückwärts zu drehen und dennoch auf die neueste Mode angewiesen zu sein, um sich ein gewisses Gefühl von Jugendlichkeit zu erhalten –, der die Kluft schließlich unüberbrückbar machte. Mehr als dieser gealterte, verbrauchte Körper hinter der kosmetischen Fassade waren es jedoch die backfischhaft gezierten, flehenden Gesten, die ihn von ihr fliehen ließen.
Dieser jahrelange grausame Irrtum war jetzt endgültig abgeschlossen. Es schmerzte ihn noch immer, wenn er daran zurückdachte, und er kam sich wie ein Henker vor, als er die Quittung unterschrieb. Er seufzte schwer. »Also, wenn das alles war, dann gehen wir doch hinunter und trinken einen. Sie sind doch alt genug, um einen zu trinken, oder?« Richard Vandeleer IX. sah ihn an, als er den Reißverschluß seines Aktenköfferchens zuzog. »Versuchen Sie’s herauszubekommen.«
Nach dem zweiten Dreistöckigen fühlte sich Grant keinen Deut besser. Auch die Umgebung, fluoreszierende Muster, die über die Wände und den Bartresen huschten, brachten ihn nicht auf andere Gedanken. Meinetwegen war das der letzte Schrei in der Dekoration, aber die Augen kamen nirgendwo zur Ruhe, und er hatte auch nicht die nötigen Jahrzehnte Zeit gehabt, sie daran zu gewöhnen. Die Gegenwart war es nicht, die ihn so beunruhigte – und er war sich auch nicht sicher, ob es die Vergangenheit oder die Zukunft war. Dreißig, vierzig Jahren Erdzeit – zwei oder drei Jahre seines eigenen Lebens – würde er für immer hier auf der Erde sein. Der Vergleich, der ihm bei der Pressekonferenz zufällig in den Kopf gekommen war – er sei ein Fremder in einem fremden Land – tauchte wieder auf. Gewiß, man konnte ein paar Monate in einem fremden Land verbringen, seinen Spaß dabei finden an den verschiedenen Gebräuchen, an der fremden Sprache. Aber für immer dort zu leben? Er stürzte seinen Drink hinunter; dafür gab es eine Medizin, wenngleich sie im Grunde keine Antwort auf seine Frage war. Die alte Serumtherapie – man impfte sich eine winzige Dosis
einer großen Seuche ein. Er schnalzte mit den Fingern nach einem Ober. Der Mann kam sofort herbeigeeilt. »Ein Gazetteer«, sagte Grant zu ihm. Der Mann blinzelte verständnislos. »Tut mir leid, Sir. Wenn das ein neumodisches Mixgetränk sein soll – oder vielleicht ein altes, ich fürchte, Sir, ich – ach so, Sie meinen ein Ortslexikon!« Grant nickte. »Wenn möglich von der ganzen Welt.« »Ich bin nicht sicher, Sir, ob wir im Hotel eins haben.« Grant hielt ihm eine Hundert-Dollar-Note unter die Augen. »Versuchen Sie es trotzdem.« Fünf Minuten später lag es vor ihm auf dem Tisch, ein druckfrisches, nagelneues Exemplar aus einer Buchhandlung. Grant schlug eine beliebige Seite auf, deutete blind mit dem Finger auf eine Stelle der Seite. »Biarritz, Departement Basses – Pyrenees. Historischer Ferienort, in Mode gekommen durch die Engländer seit dem 19. Jahrhundert. Bevölkerung…« Er sah Richard an. Richard erwiderte seinen Blick und lächelte ihm sympathisch zu. Grant spürte, daß der junge Mann seinen Jahren weit voraus war. »Ich werde den Flug für Sie arrangieren und Ihnen ein gutes Hotel besorgen.« Er trank sein Glas aus. »Das gehört alles zu unserem Service.« »Ich sehe, Sie sind ein echter Vandeleer«, lobte ihn Grant. »Eine Bitte hätte ich noch.« Die Wände waren jetzt in orangefarbenes Licht getaucht. »Sehen Sie zu, daß es ein kleines Hotel ist.«
3 Zwei Wochen in Frankreich hatten viel dazu beigetragen, seine Lebensgeister wieder zu wecken. Der Himmel mochte wissen, wo Richard dieses Hotel entdeckt hatte, Auberge Basque. Es war gewiß viel zu klein, um in irgendeinem Reiseführer erwähnt zu sein. Ein Familienbetrieb, mit einem Dutzend Zimmer, einer großen, mit Kupferblech verkleideten Bar und einem kleinen Restaurant. Der Besitzer, M. Vidal, war ein kleiner drahtiger Mann, der schwarze französische Zigaretten in einer Zigarettenspitze rauchte, die ewig in seinem Mundwinkel hing. Er nahm sie nur heraus, wenn er servierte, oder aß – und zwar Menüs, die sein asketisches Äußeres Lügen straften. Das Lokal war typisch für das ganze Städtchen. In einer Welt, die schon längst international geworden war, hatte es immer noch seine besondere französische Lebensart behalten. Obwohl es einst einer der führenden internationalen Erholungsorte war – einige der älteren Häuser trugen immer noch englische Namen –, war die Zeit darüber hinweggegangen. Nur wenige Hochhäuser hatten sich hier ansiedeln können. Es war September, und er fiel hier weniger auf, weil fast alle von der Sonne tief gebräunt waren. Und die Freizeitmode schien hier auch längst nicht so großen Schwankungen unterworfen zu sein wie die verrückte New Yorker Mode, die ihm jedesmal in den Augen wehtat, wenn er zurückkam. Die meiste Zeit verbrachte er damit, am Strand spazierenzugehen und zuzuschauen, wenn die Flut hereinkam. Manchmal, wenn er Lust dazu hatte, lieh er sich auch ein Brett und fuhr hinaus zum Wellenreiten. Abends saß er in einem der Cafes, trank etwas und hörte den Jungen zu, die auf der Gitarre alte
französische Lieder spielten. Sein Gaumen gewöhnte sich allmählich an den bitteren Geschmack der schwarzen Zigaretten, deren Duft unlösbar mit diesem Ort verbunden war, und an den Anisgeschmack des Pernod. Es war ein friedliches Leben, in dem schon ein paar bescheidene Einsätze am Roulettetisch des örtlichen Kasinos den Höhepunkt der Aufregung bedeuteten. Das wesentlich größere, riskantere Spiel, sein Leben, seine Zukunft, rückte in immer weitere Fernen, bis eines Tages… Er kam abends zum Essen zurück ins Hotel und mußte an ihrem Tisch vorbei, um zu dem seinen zu gelangen. Das Lokal war sehr klein, und die Tische standen eng beieinander. »Pardonnez-moi, Madame«, sagte er in seinem armseligen Französisch und dann hängte er nachträglich noch die Endung »oiselle« an, was insgesamt ein recht groteskes Wort ergab – aber wie gesagt, er war im Französischen wie in den hiesigen Umgangsformen, ziemlich unsicher. Der Kopf mit dem goldenfunkelnden Haar drehte sich nach ihm um – er sah zwei bernsteinfarbene Augen und rote Lippen, die sich zu einem freundlichen Lächeln öffneten. »Je vous en prie«, sagte sie. Nach dem Essen war an der Bar nur noch ein einziger Platz frei, und zwar neben ihr. »C’est libre?« fragte er, und sie antwortete: »Bitte, setzen Sie sich doch.« Die Worte klangen zwar amerikanisch, aber der Tonfall war einwandfrei englisch. So einfach hatte es also angefangen. Und so unausweichlich. Sie hieß Etta – Etta Waring. Eine ihrer Vorfahren vor dem ersten Weltkrieg hatte ein Tagebuch geschrieben über die Zeit, die sie hier verbracht hatte. Sie selbst kam gerade von einem internationalen Kongreß in Barcelona zurück und war hier, weil sie neugierig war. Sie war Anthropologin, Doktor.
Er sagte ihr, daß er auch ein Doktor sei, Physiker. Und sie sagte: »Da fällt mir eine kleine Geschichte ein – von Thurber, glaube ich, einer von den klassischen Satirikern – nein, von Leacock. Er war Doktor der Literaturwissenschaft und befand sich auf einem Schiff; eine blonde Schönheit hatte sich den Knöchel verstaucht, und man rief nach einem Doktor. Leacock rannte los zu ihrer Kabine, wurde aber um Nasenlänge von einem Doktor der Theologie geschlagen.« Sie mußten beide lachen, und die gefährliche Klippe – nämlich, die Frage was man für einen Beruf hatte – lag hinter ihnen, ohne daß er ihr über die wahre Natur seiner Arbeit etwas hätte offenbaren oder verheimlichen müssen. Sie gingen zusammen Wellenreiten oder ließen sich in den ruhigeren Wassern der Bucht von St. Jean-de-Luz treiben, oder sie bummelten im alten Hafen von Bayonne herum und sahen den Fischern zu, wie sie ihre Boote ausluden. Es waren einfache Freuden, aber die Tage kamen ihm reich und erfüllt vor. Eines Tages fuhren sie mit ihrem nachgebauten Jaguar E in die Pyrenäen, vorbei an klaren eiskalten Wasserfällen und durch uralte Dörfer. In einem dieser Dörfer blieben sie, in einem Gasthof, der noch kleiner war als die Auberge Basque, in einem Zimmer, das noch geschnitzte Balken hatte. Er hatte die schmerzliche Gewißheit, daß der Teufelskreis wieder von vorn beginnen würde – bittere, traurige Erinnerungen an Berge, die nicht so hoch waren wie diese, an ein Dorf, das nicht so alt war wie dieses, an ein Gasthaus… Und diesmal schien es sogar noch schlimmer zu werden, denn alles war über die Maßen schön, und diesmal war er wirklich verliebt. Beim Frühstück wurde er sich darüber klar, daß er es ihr sagen mußte. Was sonst immer eine Zeit der ungestört-ruhigen Zweisamkeit war, ohne viele Worte, wo bestenfalls über die croissants, über die Kirschmarmelade und
über den Kaffee gesprochen wurde, mußte er jetzt über ein so schockierendes und unpassendes Thema wie seine Arbeit sprechen.
Er schob seinen Teller beiseite und bestellte sich, obwohl es noch ziemlich früh war, einen Cognac. Etta hob nur kurz die Augenbrauen, aber sonst ließ sie sich nichts anmerken. Er versuchte, den richtigen Tonfall zu finden, aber die Worte kamen hoffnungslos bedeutungsschwer über seine Zunge. »Weißt du – wer ich bin? Also, was für einen Beruf ich habe. Hast du nicht…« Sie lächelte. »Was? Ob ich ab und zu Zeitschriften lese? Nein, nie. Ich wußte wirklich nicht, wer du bist. Jetzt weiß ich es. Ich habe nach Hause geschrieben und meinen Leuten von dir erzählt. Hoffentlich hast du nichts dagegen. Sie haben es mir gesagt. Sie kannten deinen Namen und erkannten dich an der Beschreibung, die ich ihnen von dir gab.« »Und? Was sagten sie?« »Warum sollten sie etwas sagen?« Sie lächelte wieder. »Ich bin doch ein erwachsenes Mädchen. Ich bin schon dreiunddreißig.« »Dreiunddreißig«, sagte er und sah sie nachdenklich an. »Ja, das hast du mir schon gesagt. Aber du kennst offenbar nicht die ganze Geschichte, sonst würdest du nicht so ruhig darüber reden.« »Was – den subjektiven Zeitfaktor? Aber natürlich.« »Aber du kannst unmöglich wissen, was das bedeutet. Für uns. Es sei denn… du fühlst darüber genauso wie ich, oder nicht?« »Mußt du immer fragen?«
»Wir tun doch die ganze Zeit nichts anderes – als immer wieder fragen. Es gibt keine Antwort darauf, das weißt du doch?« »Auf jede Frage gibt es eine Antwort.« »Und das sagst du, eine Wissenschaftlerin?« »Gerade deswegen – ja: Aber alles zu seiner Zeit.« »Sag so etwas nie wieder.« Er versuchte zu lächeln. »Könnte ich dich auf dieser letzten Fahrt nicht begleiten? Mit meiner wissenschaftlichen Ausbildung könnte ich doch…« »Du wärst nur eine überflüssige Last. Anthropologie wäre wohl so ungefähr das letzte, für das sie etwas ausgeben würden. Es wirft keinen Profit ab.« »Profit? Ich dachte, es sei ein Regierungsprojekt. Soll das heißen, daß es rein kommerziell ist?« »Bis jetzt schon. Keine einzige Regierung ist bis jetzt daran beteiligt, im Gegensatz zum interplanetarischen Verkehr. Es sind eben noch Überbleibsel eines rein militärischen oder nationalen Denkens. Vollkommen unnötig, nicht wahr, aber irgendwie hängen gewisse Machtblöcke noch sehr daran, und zwar zu ihrem eigenen Schaden. In jedem Parlament der Welt gibt es eine einflußreiche Antiraumfahrtlobby. Es gibt kaum eine Regierung, die, wenn sie an der Macht bleiben wollte, es sich leisten könnte, das Risiko der Großraumfahrt auf sich zu nehmen.« Es war geradezu erleichternd, im Augenblick über so unpersönliche Dinge sprechen zu können. »Denn die Deep Space Inc. ist ein ausgesprochenes Langzeitprojekt, auf so lange Zeit angelegt und mit einem Milliardenetat ausgerüstet, daß sie nach zweihundert Jahren noch immer die einzige im Geschäft ist. Die Daten, die wir von unseren Reisen zurückbringen, verkaufen sie weiter an Denkfabriken, Universitäten, Stiftungen, aber das bringt nicht einmal die Hälfte der Kosten ein. Es ist ganz einfach ihr
Einsatz, einmal die ersten zu sein, mit einer vollkommenen Technik, bereit zu sein für den Tag, an dem es wirklich losgeht. – Wenn es jemals losgeht. Wie gesagt, ein Spiel mit hohem Einsatz. Wir verbessern dabei unsere Techniken, erweitern unser Wissen über den Weltraum – System für System. Wenn einer von uns da draußen auf eine Kultur wie die unsere stoßen würde, könnte sich alles unendlich beschleunigen. Es weiß doch heute jeder, daß das der wahre Grund ist, der hinter dem Wunsch stand, fremde Planeten zu entdecken: eine andere, womöglich verwandte Rasse zu finden, einen Berührungspunkt, meinetwegen Lichtjahre entfernt. Wenn auch nur die Überbleibsel einer solchen. Aber nichts war zu finden. Jedenfalls nichts auf den näheren Sternsystemen. Einzelne primitive Spezies, höchstens für Biologen von Interesse, aber nichts, das so hochentwickelt wäre, daß es für dein Fachgebiet von Interesse sein könnte…« Er kam wieder auf ihre persönliche Frage zu sprechen, denn sie duldete keinen Aufschub. »Ich allein bin schon Ballast genug. Jeder noch so kleine Gegenstand wurde mehrmals berechnet, ob sich nicht doch noch ein paar Cents einsparen ließen. Auch meine Bezahlung ist nicht besonders hoch, wenn man objektive Zeitmaßstäbe anlegt. Sie sammelt sich nur an in der Zeit, in der ich unterwegs bin. Ich könnte es mir gar nicht leisten, vorzuschlagen, noch einen Passagier mitzunehmen – nicht einmal dich.« »Könntest du nicht jetzt schon aufhören?« »Das könnte ich.« Er erklärte ihr mit kurzen Worten die Sache mit den Strafklauseln. »Es würde dann heißen, daß ich mit ein paar tausend Dollar dastünde – und praktisch finanziell wieder von vorn anfangen müßte.«
»So wichtig ist das mit dem Geld nicht. Ich habe ja schließlich auch Geld.« »Nein – das Geld ist es nicht, es ist jedenfalls nicht der Hauptgrund. Ich möchte meine Aufgabe zu Ende führen. Ich will nicht gerade von mir behaupten, daß ich ein Mann der Gesellschaft bin – alle Gesellschaften dieser Welt werden da draußen im Weltraum ziemlich klein und unbedeutend – aber ich habe mich dieser Aufgabe verschrieben. Ich muß damit fertig werden.« »Ich verstehe«, sagte sie ruhig. »Ich könnte meine Arbeit auch nicht aufgeben – auch nicht für uns.« »In deinem Fall würde es nicht dasselbe bedeuten – nicht dieses Entweder-Oder; wir würden einen Kompromiß finden. Aber hier gibt es keinen Kompromiß.« Er schlug mit der Faust in die andere Handfläche, wütend über seine Hilflosigkeit. Warum mußte das gerade jetzt passieren? Jetzt, vor dem letzten Flug? Sie legte ihre Hand auf die seine »Es ist hart – furchtbar hart. Ich wußte es schon seit drei Tagen. Ich wußte, daß es schwer sein würde, aber ich wollte uns dadurch unsere gemeinsame Zeit nicht zerstören lassen.« »Aber du wußtest längst nicht alles.« »Ich wußte genug. Und ich möchte auch jetzt nicht, daß es uns unsere Zeit hier zerstört.« »Dann betrachtest du es, betrachtest du – unsere Beziehung – als etwas Vorübergehendes?« »Das will ich nicht sagen. Wie lange – wirst du weg sein? Zwanzig, dreißig Jahre. Ich bin darauf vorbereitet, daß…« »Nein. Das habe ich schon einmal versucht. Das geht nicht. Das kann nicht gut gehen.« Er stand auf und begann, in dem kleinen Zimmer auf und ab zu gehen. Die Sonne, die hinter einem Berggipfel aufgetaucht
war, warf ihre Strahlen durch das offene Fenster und tauchte das Zimmer in ein warmes Licht. Auch sie war aufgestanden und hatte sich neben ihn gestellt. Im Gegenlicht der Sonne sah ihr Haar wie goldener Dunst aus. »Dann müssen wir eben damit fertig werden«, sagte sie ruhig. »Nichts als Worte.« »Ich weiß, Liebster. Einfach und schrecklich unangemessen. Aber was können wir sonst sagen? Oder tun? Wir haben unsere Erinnerungen. Ach, zum Teufel, warum müssen die einfachsten und aufrichtigsten Dinge immer so unbeholfen klingen! Aber wir müssen damit auskommen. Und wir werden es auch…« Sie unterbrach sich plötzlich. »Wieviel Zeit haben wir denn noch?« »Vier, fünf Wochen. Wenigstens ich«, sagte er, und der Gedanke gab ihm einen Stich ins Herz. »Dann habe ich auch noch solange Zeit. Das neue Studienjahr fängt zwar schon früher an, aber die Universität kann sicher so lange ohne mich auskommen. Und ich ohne die Universität.« Sie sagte es scherzend, aber als sie ihn ansah, lag mehr als nur Zärtlichkeit in ihren Augen. Er schloß sie in die Arme; sie zitterte. »Bisher war ich immer froh, wenn ich wieder in den Weltraum zurückkehren konnte. Jedesmal bin ich mir auf der Erde fremder vorgekommen. Aber diesmal wird es wohl draußen sehr einsam werden.« Er lachte gequält. »Es ist ein einsam schöner Ort, doch niemand wird dich dort umarmen…« »Das ist nicht ganz das, was der Dichter gesagt hat.« »Ich weiß. Er meinte das Grab. Es ist der Ort, an dem alle Zeiten eins sind. Der einzige.« »Wir sollten nicht solchen Gedanken nachhängen.« Sie gab ihm einen langen Kuß.
»Wir haben noch viel von unserem Leben vor uns. Komm, fahren wir in die Stadt zurück!« Aber sie war mit ihren Gedanken woanders, sie sagte kaum ein Wort, es sei denn, er stellte ihr eine Frage, und auch dann waren ihre Antworten sehr einsilbig. Den ganzen Weg in die Stadt zurück über die schmale, gewundene Bergstraße saß sie wie ein Automat hinter dem Steuer. Als sie wieder im Hotel waren, wartete ein Telegramm auf ihn. Er war sicher, daß sie es gesehen hatte, und er war auch sicher, daß sie erraten hatte, was in ihm stand, aber sie sagte nichts. Oben in seinem Zimmer öffnete er es. Er rechnete kurz nach, und das ging schnell, weil er schon Übung darin hatte. Er würde vierunddreißig Jahre – Erdzeit – unterwegs sein. Zweieinhalb Jahre seines eigenen Lebens. Es hätte schlimmer kommen können. Wenn er das nächste Mal zurückkam, würde er fünfundvierzig sein – und Etta siebenundsechzig, genauso alt wie damals Helen.
Am nächsten Morgen war er schon vor acht auf. Er klopfte an ihre Tür, aber er erhielt keine Antwort. Er zuckte mit den Schultern. Obwohl es noch ziemlich früh war, mußte sie schon vor ihm zum Frühstück hinuntergegangen sein. Er ging zu dem Tisch, an dem sie seither immer gesessen hatten, aber auch da war sie nicht, nur ein Umschlag mit seinem Namen lag auf seinem Platz. Er fühlte sich plötzlich sehr leer. Er schob die Vorhänge zurück, auch ihr Auto stand nicht mehr auf dem einzigen kiesbedeckten Parkplatz. Schließlich öffnete er den Umschlag. Liebster, ich habe die Nachtmaschine nach London genommen. Ich weiß nicht, wie lange ich dort bleiben muß. Ich hoffe, nicht
länger als vierzehn Tage. Es tut mir leid, daß ich unsere gemeinsame Zeit so unterbrechen mußte, aber es dient einer guten Sache, glaube mir. Ich kann dir erst mehr darüber sagen, wenn ich wieder zurück bin, und vielleicht auch dann nicht, wenn es nicht geklappt hat. Nimm dich in acht vor blonden englischen Anthropologinnen, während ich weg bin. Und vor den anderen Blondinen auch! Und bitte – warte auf mich, Liebster. Etta
4 Die Tage kamen ihm wie verstümmelt vor und zogen sich endlos hin. Er trank etwas mehr Pernod als sonst, spielte etwas häufiger im Kasino, und fand heraus, daß er den Anblick des Meeres nicht ertragen konnte. Diese endlose Leere erinnerte ihn zu sehr an die, die er in seinem Inneren fühlte. Nach zwölf Tagen war sie wieder da, genauso plötzlich wie sie gegangen war. Ihr Wagen stand wieder auf dem Parkplatz, und sie wartete auf ihn an ihrem Tisch, als er zum Essen herunterkam. Sie sahen sich nur einen Moment lang an. Dann sprang sie auf und flog ihm in die Arme. »Liebling! Liebling!« Die Franzosen im Speiseraum lächelten, wie sie immer lächeln, wenn sie Liebende sehen, voller Anteilnahme und Sympathie – und die älteren etwas wehmütig. »Hier können wir nicht sprechen«, sagte er. »Hast du schon gegessen?« Sie schüttelte den Kopf. »Ich konnte nicht.« »Ich kann jetzt auch nicht.« Er ging mit ihr auf die Terrasse hinaus. Irgend jemand brachte ihnen Gläser und eine Flasche Pernod. Grant goß ein und sah zu, wie die Flüssigkeit in den
Gläsern milchig trüb wurde, als er Wasser und Eis dazugab. Dann blickte er ihr in die Augen. »Ich habe mich entschlossen – nein, ich konnte mich doch nicht selbst entschließen – ich bin bereit, dir die Entscheidung zu überlassen. Wenn du willst, werde ich meinen Vertrag lösen. Ich habe viel Zeit gehabt, darüber nachzudenken, während du weg warst. Für die Gesellschaft wird es kein großer Verlust sein. Sie haben immer einen Reservepiloten parat. Ich…« Sie schüttelte langsam den Kopf und gebot ihm zu schweigen. »Das ist etwas, was ich nie von dir hören wollte. Vorher nicht und jetzt auch nicht. Außerdem, Liebling, ist es zu spät.« »Zu spät? Was war los? Warum hattest du es plötzlich so eilig, nach London zu fliegen?« »Wegen einer illegalen Operation.« Sie sprach die Worte ganz gelassen aus. »Eine – was?« »Also, nicht direkt illegal, aber sie wird doch alles andere als befürwortet. Es ist ein neues Verfahren, und alle möglichen sozialen Probleme werden davon berührt. Du weißt doch, daß wir Engländer immer vorsichtig sind. Die ganze Angelegenheit hat nur fünf Tage gedauert – von der Voruntersuchung bis zur abschließenden, bei der sich ein positives Resultat ergab. Aber eine ganze Woche habe ich gebraucht, um die Ärzte dazu zu überreden, es zu tun.« »Bitte, rede jetzt nicht um die Sache herum. Operation? Was für eine Operation? Was hast du mit dir machen lassen?« »So wie du es sagst, klingt es wie etwas Schreckliches.« Sie lächelte. »Und wie etwas Trauriges. Aber das ist es nicht, wenn du erfährst, warum ich es habe machen lassen – obwohl du auch recht haben könntest.« Ihr Lächeln wirkte etwas gequält. »Der Vorteil dieses Verfahrens besteht darin, daß die
Intelligenz erhalten und weitergegeben wird. Es ist wirklich Ironie, daß es in diesem Fall den Vorteil zweier Liebender dienen soll.« »Um Himmels willen. Du und dein vornehm unterkühltes Englisch…« »Es ist nicht leicht zu erklären. Kurzum: Ich habe es so eingerichtet, daß du mich bei deiner Rückkehr nach vielen Jahren unverändert vorfinden wirst.« Mit Entsetzen mußte er plötzlich an Helen denken und ihre einfältigen Versuche, die Zeit anzuhalten. »Das geht nicht. Ich werde vierunddreißig Jahre unterwegs sein.« Ihr Lächeln war rätselhaft, und sie tat so, als würde sie etwas an den Fingern abzählen. »Fein. Ich werde sogar eine etwas jüngere Etta sein, die dann auf dich wartet. Ein paar Monate jünger.« »Was ist denn mit dir los? Ich dachte, ich würde dich kennen. Seit wann hast du diese sadistischen Anwandlungen?« Seine Stimme klang eher überrascht als verbittert. »Es tut mir leid, Liebster, wirklich. Aber ich bin nicht sadistisch – nur etwas verlegen. Ich glaube, ich muß es jetzt wohl sagen. Ich erwarte ein Baby.« »Du erwartest – was?« »Sei nicht so entsetzt. Hör genau zu, wenn ich es wiederhole. Ich erwarte ein Baby – nicht von dir.« »Aber…« »Ich sagte dir doch, daß das ein neues Verfahren ist. Muß ich es dir bis ins Detail erklären?« Sie seufzte. »Also, ich glaube doch! Nun, so neu ist dieses Verfahren gar nicht – neu daran ist nur, daß es jetzt auf den Menschen angewandt wird. Es wurde zum erstenmal etwa 1960 von einem Oxforder Team unter der Leitung von einem Dr. Gurdon ausprobiert, und zwar – wenn ich das auch sagen darf – an Fröschen. Sie hatten entdeckt, daß
der Zellkern einer gewöhnlichen Körperzelle, die in eine Eizelle verpflanzt wurde, deren eigener Zellkern abgetötet worden war, sich in dieser Zelle genauso entwickelte, als wäre sie befruchtet worden: Also Zelle und Ei aus demselben Körper. Und es ist noch gar nicht lange her, daß man entdeckt hat, wie sich dieses Verfahren auch erfolgreich bei Menschen anwenden läßt. Verstehst du jetzt?« Aber noch sträubte sich alles in ihm dagegen. Er konnte es nicht verstehen. Sie sprach weiter, und er hörte ihr wie benommen zu. »Ich habe dir doch gesagt, daß ich auf dich warten werde. Und das stimmt. Sie wird ich sein – genau dieselbe! Selbst der Name wird stimmen. Ich werde sie natürlich Etta taufen. Und mach dir keine Sorgen, daß es vielleicht kein Mädchen sein könnte. Das macht heute die geringsten Schwierigkeiten, wie bei normalen Geburten auch.« Allmählich begriff er – und er kam sich wie geblendet vor. »Aber – das wirst nicht du sein. Für mich schon, aber…« »Das ist aber auch alles. Wir können uns nicht beide wiedersehen, aber auf diese Weise kann es wenigstens einer von uns.« Sie lachte, aber er merkte, daß sie den Tränen nahe war. »Wenn du verstehst, was ich meine. Für einen von uns kann es wahr werden.« »Ich finde keine Worte.« »Versuch es nicht, mein Liebster.« »Aber ich muß! Ich komme mir so schrecklich selbstsüchtig vor – selbstsüchtiger als jemals ein Mensch sich fühlen könnte. Du bist einfach gegangen und hast – das – getan! Und ich bin nicht einmal zu einer Entscheidung gelangt, während du weg warst, – es sei denn zu der, dir die Entscheidung zu überlassen. Ich komme mir vor wie der letzte…« Sie legte ihren Finger auf seine Lippen. »Nicht, Liebster. Du bist nicht der Letzte von irgend etwas! Du bist der Erste und
der Beste von etwas ganz Besonderem! Und du bist nicht selbstsüchtig! Unsere Gesellschaft ist selbstsüchtig, weil sie immer mehr von euch verlangt, ohne das Ausmaß eures Opfers zu erkennen. Und sie…« »Nein«, sagte er. »Nach allem, was du getan hast, darfst du dieses Wort nicht auf mich anwenden. Du hast das Opfer gebracht. Ich bin nicht…« »Bitte, laß mich ausreden! Ich bestehe darauf! Und sie behandeln dich wie ein Monstrum, wie eine Laune der Natur, wie ein Weltwunder. Im Krankenhaus hatte ich viel Zeit, und ich habe mir einmal die gängigen Zeitschriften angesehen. Und ich hatte Zeit genug, mir darüber klar zu werden, was das Leben für dich bisher wohl gewesen ist. Das hat mich in meinem Entschluß nur bestärkt. Ich bin froh, daß ich das getan habe – von Herzen froh. Also sträube dich nicht länger. Es war die einzige Möglichkeit – und ich war froh, daß es sie gab und daß ich davon wußte und daß ich immerhin soviel Einfluß hatte, mein Vorhaben durchzusetzen.« »Aber – ich sträube mich ja gar nicht dagegen – aber woher willst du wissen, ob sie mich überhaupt mögen wird? Ein Opfer ist schon genug. Du kannst doch nicht ein Kind dazu verdammen, heranzuwachsen, nur für einen einzigen bestimmten Zweck! Einen schrecklicheren Zwang kann es für einen Menschen doch gar nicht geben.« Sie lächelte, aber ihre Lippen zitterten. »Es wird kein Zwang sein, Liebster, sondern ein Traum, für den zu leben es sich lohnt, um ihn schließlich zu verwirklichen. Sie wird mir gegenüber sogar im Vorteil sein. Ich wußte nichts, ich habe meine Jahre gelebt und auf das gewartet, was eben kommen würde. Sie aber wird es wissen. Sie wird sich genauso in dich verlieben, wie ich es tat, weil sie ich sein wird. Kein gewöhnliches Kind mit all den genetischen
Komplikationen einer normalen Elternschaft, sondern ein Abbild meiner selbst.« Er starrte sie an. »Aber sie wird nicht dein Bewußtsein haben, deine Erinnerung – an alles – an uns.« »Wie glaubst du, werde ich meine Tage verbringen, wenn du weg bist? Ich werde sie lebendig erhalten und meiner Tochter weitergeben. Meiner Tochter. Es ist schade, daß es nicht unsere Tochter sein wird. Aber wenn du wieder zurück bist, kannst du vielleicht auch das wahr werden lassen.« Plötzlich wandte sie ihr Gesicht ab und verbarg es im kühlen Schatten der Zweige, die über die Terrasse hingen. Als sie ihn dann – es schien eine Ewigkeit vergangen zu sein – wieder ansah, versuchte sie zu lächeln. »Und wer weiß? Die Untersuchungen darüber sind noch nicht ganz abgeschlossen. – Möglicherweise wird die Erinnerung, das Bewußtsein bei dieser Art von Fortpflanzung direkt mit den Genen übertragen. Auch ein Teil von mir wird also auf dich warten. Also, sprechen wir nicht mehr von Opfern. Es gibt noch so viele Erinnerungen, die erst noch gemacht werden müssen. Wir haben noch nicht einmal getrunken. Sieh, das Eis ist schon fast geschmolzen.« Sie hob ihr Glas und wartete, bis auch er zögernd das seine hob.
Originaltitel: THE LAST TIME AROUND Copyright © 1970 by Galaxy Publishing Corp. Aus IF Übersetzt von Iannis Kumbulis