Cyfals, der Forstbeamte, lag tot auf seinem Lager. Sein Kopf hing über den Rand des Feldbettes herab, seine Kehle war h...
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Cyfals, der Forstbeamte, lag tot auf seinem Lager. Sein Kopf hing über den Rand des Feldbettes herab, seine Kehle war herausgerissen. Aus der Wunde quoll noch Blut und tropfte langsam von der Schulter auf den Boden. Balank zwang sich, neben ihn zu treten. In einer von Cyfals Händen entdeckte er ein Stückchen grauen Felles. Der Werwolf! Balank griff in Todesangst nach seinem Hals. Er lief zur Tür und griff nach dem Lasergewehr. Draußen stand der Mond am Himmel. Der Roboter kam ihm über die Lichtung entgegen. Mensch und Maschine auf der Jagd nach dem Feind, dem Werwolf. Doch wer war wirklich wessen Feind? DIE STÄRKERE NATUR von Brian W. Aldiss und weitere Science-Fiction-Stories bekannter Autoren
In der Reihe der Ullstein Bücher: SCIENCE FICTION STORIES 33 (Ullstein Buch 3021) Erzählungen von Isaac Asimov, Richard Wilson, Samuel R. Delany, Colin Kapp und R. A. Lafferty SCIENCE FICTION STORIES 34 (Ullstein Buch 3029) Erzählungen von Lewis Padgett, Edmond Hamilton, John D. MacDonald, Henry Kuttner, Milton Lesser, Peter Phillis und Murray Leinster SCIENCE FICTION STORIES 35 (Ullstein Buch 3034) Erzählungen von Robert Silverberg, Thomas M. Disch, Roger Zelazny, Andrew J. Offutt Harlan Ellison und D. G. Compton SCIENCE FICTION STORIES 36 (Ullstein Buch 3046) Erzählungen von Keith Roberts, James Triptree, Suzette Haden Elgin, Eric Frank Russell und Walter M. Miller Jr. SCIENCE FICTION STORIES 37 (Ullstein Buch 3054) 16 Erzählungen von Arthur C. Clarke SCIENCE FICTION STORIES 38 (Ullstein Buch 3060) Erzählungen von Harlan Ellison, Bruce McAllister, Ursula K. LeGuin und Fritz Leiber
Ullstein Buch Nr. 3067 im Verlag Ullstein GmbH, Frankfurt/M – Berlin – Wien Aus dem Amerikanischen übersetzt von Leni Sobez Umschlagillustration: Fawcett Alle Rechte vorbehalten Alle Stories aus WORLD'S BEST SCIENCE FICTION: 1968 Copyright © 1968 by Donald A. Wollheim und Terry Carr Übersetzung © 1974 by Verlag Ullstein GmbH, Frankfurt/M – Berlin – Wien Printed in Germany 1974 Gesamtherstellung: Augsburger Druck- und Verlagshaus GmbH ISBN 3-548-13067-4
Science-FictionStories 39 von Ron Goulart Keith Roberts R. A. Lafferty Larry Niven Brian W. Aldiss
Herausgegeben von Walter Spiegl
ein Ullstein Buch Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!
INHALT Der Gummimann Ron Goulart ........................................................
6
Die Eis-Hexe Keith Roberts ......................................................
56
Wir drehen am Rad der Geschichte R. A. Lafferty ......................................................
92
Wes Geistes Kind? Larry Niven ........................................................ 112 Die stärkere Natur Brian W. Aldiss .................................................. 156
Ron Goulart DER GUMMIMANN Der alte Mann tanzte an der Wand. Er wurde größer, flimmerte und war verschwunden. Das pfirsichfarbene Büro wurde hell; der Projektor hörte zu surren auf, und der »Kopf« blinzelte mit den runden, großen Augen. »Ich werd dir jetzt verraten, wer das war«, sagte er, schnippte eine gelbe Tablette aus einer Filigranpillenschachtel und legte sie auf die Zunge. Ben Jolson lümmelte auf der Besucherseite des niederen schwarzen Tisches. »Das ist der Mann, den Sie verkörpert sehen wollen«, antwortete er. »Genau«, bestätigte »Kopf« Mickens, schluckte und strahlte. Er legte eine Fingerspitze auf den Spannungspunkt unter seinem linken Auge. »Der Druck, der von diesem Job ausgeht, Ben, hat sich in letzter Zeit sehr vergrößert. Dieser ganze Ärger im Kriegsbüro ...« »Diese verschwundenen Leute.« »Genau. Erst General Moosman, dann Admiral Rockisle, eine Woche später Bascom Lamar Taffler, der Vater des Nervengases Nummer 26. Und heute früh bei Tagesanbruch Dean Swift persönlich.« Jolson richtete sich ruckartig auf. »Was? Der Vorsitzende des Kriegsbüros ist verschwunden?« »In den Nachrichten ist es noch nicht gekommen, aber du solltest es gleich erfahren, Ben. Zuletzt hat man Swift in der Nordecke seines Rosengartens gesehen. Er ist ein großer Rosenfreund.« »Darüber hab ich mal einen Bericht gesehen. Habt
ihr euch vom Politischen Spionagebüro wegen der Verschwundenen an das Chamäleonkorps gewandt?« »Ja.« Mickens nickte. Er wickelte ein blau-goldenes Spantial aus und ließ die Folie in die Abfallrutsche neben seinem Schreibtisch fallen. »Eine explosive Situation, Ben. Das Barnum-Planeten-System kann sich eine weitere Friedenswunde nicht leisten. Darüber braucht man wirklich kein Wort zu verlieren.« »Vermuten Sie Pazifisten?« Mickens steckte den Daumen ins Ohr und drehte seine Handfläche halb um. »Wir haben nicht viel, auf das wir uns stützen können. Eigentlich sogar verdammt wenig. Zugegeben, beim PSB besteht die Tendenz, überall Pazifisten zu sehen. Du weißt ja, es paßt lange nicht allen, wie das Kriegsbüro die Kolonisierung der Terra-Planeten handhabt.« »Besonders seit sie Nordkarolina verwüstet haben.« »Nur ein kleiner Staat.« Mickens schnippte das Spantial in den Mund. »Jedenfalls mußt du zugeben, wenn die Schlüsselfiguren aus dem Kriegsbüro und seinen Unterorganisationen verschwinden ... Nun ja, es könnten vielleicht Pazifisten dahinter stecken.« »Wer war der alte Mann im Film?« »Leonard F. Gabney«, erwiderte Mickens. Mit gespreizten Fingern trommelte er auf den Tisch. »Ich muß was gegen die Nebenwirkungen nehmen.« Jolson griff nach unten und hob ein Pillenröhrchen vom pfirsichfarbenen Teppich auf. »Die da?« fragte er und warf sie dem »Kopf« zu. »Hoffentlich sind's die richtigen. Hm. Ja. Gabney selbst ist ja nicht wichtig. Nur ein alter Gentleman, den du verkörpern wirst. Du bekommst ein Schlaf-
briefing verpaßt. Und jetzt der Auftrag selbst.« Mikkens holte eine Pille aus dem Röhrchen. »Der wichtige Mann hier ist Wilson A. S. Kimbrough.« »Warten Sie.« Jolson schüttelte den Kopf. »Kimbrough ist doch der Botschafter auf dem Planeten Esperanza, oder?« »Ja. Er leitet die Barnum-Gesandtschaft in der dortigen Hauptstadt.« »Ich will aber nicht nach Esperanza gehen.« »Was? Du willst nicht?« fragte der »Kopf«. »Du wirst aber gehen müssen. Es steht in deinem Kontrakt. Ist man einmal ein CK-Mann, dann bleibt man immer einer. Erst die Pflicht, dann das Geschäft. Sonst gibt es eine Konventionalstrafe. Und wir können den Mietvertrag für deine keramische Werkstatt kündigen.« Wenn er nicht gerade einen Auftrag für das Chamäleonkorps auszuführen hatte, arbeitete Jolson in seiner keramischen Fabrik in einem Vorort von Keystone City. Für das CK hatte man ihn verpflichtet, als er zwölf war. Nach einem guten Dutzend Jahren des Trainings und der Vorbereitung wurde er ein vollwertiger Chamäleonagent. Das lag nun zehn Jahre zurück. Es gab keine Möglichkeit, sich aus diesen Verpflichtungen zurückzuziehen. »Esperanza vernichtet mein ganzes normales Leben«, beklagte sich Jolson und sackte in sich zusammen. »Irgendwo müssen ja die Leute beerdigt werden, Ben.« »Aber ein ganzer Planet, der nichts als ein großer Friedhof ist«, wandte Jolson ein. »Auf Esperanza gibt es fünfhunderttausend Men-
schen«, erklärte ihm Mickens. »Lebende Menschen. Von den mindestens zehn Millionen Touristen und ungefähr sechs Millionen Trauergästen, die jährlich Esperanza besuchen, gar nicht zu reden.« Er hielt eine Aktennotiz in die Höhe. Jolson schaute sie aber gar nicht an. »Der ganze Planet riecht nach verwelkten Kränzen und Buketts.« »Ich will dir mal kurz das Problem schildern«, sagte Mickens. »Es besteht eine geringe Möglichkeit – sie stützt sich auf Material, das vom PSB aus allen Ekken zusammengetragen wurde –, daß Botschafter Kimbrough mit dieser Welle des Verschwindens zu tun hat. Admiral Rockisle war auch tatsächlich auf Esperanza, als er verschwand.« »Wahrscheinlich ist er nur weggegangen, um einen Kranz am Grab des Unbekannten Kommandos niederzulegen«, antwortete Jolson. »So was weiß ich doch.« »Wenn Kimbrough ein schwaches Glied ist, müssen wir das feststellen. Und das ist einer der wenigen Hinweise, denen wir nachgehen müssen. Von nächster Woche an wird er bei der Nepenthe, Inc. einen Urlaub verbringen. Die liegt knapp außerhalb von Esperanza City.« »Nepenthe, Inc., die Jugendplantage für alternde Wirtschaftskapitäne?« »Eine Zuflucht für überanstrengte und ältere industrielle und politische Führerpersönlichkeiten, jawohl. Du impersonifizierst diesen alten Knaben Gabney, und wir schmuggeln dich nach Nepenthe hinein. Es macht dir doch keine Schwierigkeiten, dich in den alten Gabney zu verwandeln, oder?« Das Chamäleonkorps hatte Jolson zu einem Ge-
staltwechsler konditioniert. Er konnte sich in fast jede Person verwandeln. »Nein«, antwortete er und beugte den Kopf über seine Faust. »Sie wollen wahrscheinlich, daß ich nur zuhöre, was?« »Nein. Wir wollen, daß du allein zu Kimbrough gehst und ihm eine ganze Portion Wahrheitsdrogen applizierst. Du sollst 'rausfinden, was er weiß und mit wem er liiert ist.« Jolson lehnte sich zurück. »Okay. Wahrscheinlich muß ich's ja doch tun. Und wer ist mein Kontakt auf Esperanza?« »Aus Sicherheitsgründen kann ich dir das im Moment noch nicht sagen. Man wird dort auf dich zukommen.« »Wie?« Mickens tastete seinen Schreibtisch ab. »Hier irgendwo hab ich doch einen Identifikationssatz.« Er fand endlich einen blauen Zettel. »Hier. 15-6-1-24-269-6. Jemand wird dir diese Nummer sagen. Vermutlich aber zuflüstern.« »Wieso plötzlich ein solcher Ziffernsalat? Was ist denn auf einmal schlecht an den Reimen?« »Der Sicherheitsdienst meinte, sie seien viel zu widersprüchlich. Und es ist auch gar nicht männlich, wenn Agenten herumrennen und sagen: ›Oh, Mond, wie kletterst du mit müden Schritten den Himmel auf und ab‹ und so.« »Und wie lange muß ich bei der Nepenthe, Inc. bleiben?« »Wir haben dich für eine Woche gebucht«, antwortete der »Kopf«. »Natürlich erwarten wir vorher Resultate. Viel früher sogar.« Er bemerkte eine grüne
Karteikarte. »Ben, ein Zimmer kostet dort zehntausend Dollar pro Woche. Wir mußten das Geld aus dem PSB direkt herausquetschen, um diese Woche bezahlen zu können.« »Aha, der neue Handballspielplatz ist dann also im Eimer.« »Von dem warmen Mittagstisch für die Computerprogrammierer ganz zu schweigen. Wir stecken in einer Krise. Aber wo hätten wir heutzutage keine Krisen? Ben, jetzt kannst du dich bei der Briefingzentrale melden. Aber zuerst suchst du mir noch dieses Fläschchen mit der erdbeerfarbenen Flüssigkeit. Vor einer halben Stunde hätte ich davon einen Kaffeelöffel voll nehmen sollen.« Beide suchten auf Händen und Knien nach dem lebensrettenden Fläschchen. Er bewohnte eine Suite für alte Bürger im Esperanza Plaza Hotel, wo man ihn nur Opa nannte. Jolson schien jetzt vierundachtzig Jahre alt zu sein, war ziemlich gebeugt und altersfleckig und lag in einem Lehnstuhl auf dem Balkon seines Wohnzimmers. Er hatte – wie anscheinend sehr viele alte Männer – eine Aussicht verlangt, die etwas anderes bot als nur die Friedhöfe außerhalb der Stadt. Der wirkliche Gabney kontrollierte die Telekinese für alle Barnum-Planeten, und allein sein Name hatte ihm die Suite mit Ausblick auf das Geschäftsviertel gesichert. Bei Einbruch der Nacht sollte ein Schiff der Nepenthe, Inc. Jolson abholen. »Andenkenpostkarten, Opa?« fragte es aus dem Lautsprecher unter seinem Stuhl. »Künstlerische Ansichten von elf berühmten Grabdenkmälern. Mit be-
sonderer perspektivischer Tiefe.« »Dummes Geschwätz«, krächzte Jolson mit Gabneys dünner Altersstimme. »Wo ist der Drink, den ich bestellt habe?« »Auf deiner ärztlichen Karteikarte ist vermerkt, daß du keine harten Getränke bekommen darfst, Opa«, erwiderte der Lautsprecher. »Warum versuchst du's nicht mal mit dem Suppenautomaten in deinem Schlafzimmer, Opa?« »Zum Donner noch mal«, sagte Jolson. »Spezialität heute Venus-Gumbo. Oder wäre dir vielleicht eine Portion London-Grütze lieber?« Jolson trommelte mit den Fingern seiner fleckigen Hand auf die Armstütze des Lehnstuhls. »Ich kann mich an eine Suite im Ritz von Keystone erinnern, wo man die Robotservos bestechen konnte.« »Na, dann steck mal zehn Dollar in den Schlitz des Schuhputzers, Uropa«, forderte ihn der Lautsprecher auf. »Dann liefere ich vielleicht einen Scotch on the rocks.« Jolson bediente sich seines Ebenholzstockes, um sich aus dem Lehnstuhl zu stemmen. Er bückte sich gerade über den Einwurfschlitz des Schuhputzautomaten, als der Türsummer der Suite ertönte. »Ja?« krächzte er. »Willkommen auf Esperanza im Namen der Barnum-Botschaft«, rief eine Mädchenstimme. »Ich habe einen Korb mit wiederhergestelltem Obst, Mr. Gabney. Für Sie, Mr. Gabney.« »Gut, gut«, sagte Jolson, als er die Tür öffnete. Da stand vor ihm auf den Zehenspitzen eine junge, schlanke Brünette. Sie hatte ausgeprägt hohe Wangenknochen und kurzes, glattes Haar. Ihr Kleid war
zitronengelb, und am Arm trug sie ein Armband der Barnum-Botschaft. Quer über die ganze Stirn war mit Lippenstift geschrieben: 15-6-1-24-26-9-6. Sie blinzelte vielsagend und wischte sich die sonnenbraune Stirn mit einem Papiertaschentuch ab. »Wir kommen und begrüßen alle wichtigen Barnum-Besucher auf Esperanza«, erklärte sie und schob sich seitlich in die Suite hinein. »Ich bin Jennifer Hark, Mr. Gabney.« »Und das sind Sie wirklich, meine Liebe«, antwortete Jolson. Die Tür schloß sich hinter ihr. »Und?« fragte er. Sie schüttelte den Kopf und ging hinaus auf den Balkon. Der leichte Nachmittagswind spielte in ihrem Haar. Sie stellte den Obstkorb auf den Lehnstuhl und bedeutete Jolson, er solle auch kommen. »Der Korb ist nämlich ein Antilauscher. Er absorbiert und vernichtet alle Geräusche.« »Wer sollte mich schon belauschen wollen?« fragte er. »Außer den Robotern der Seniorenstadt«, fügte er hinzu. »Wir müssen Vorsichtsmaßnahmen treffen.« »Das Hotel könnte mißtrauisch werden.« »Ich bleibe ja nur ein paar Minuten«, sagte sie und reichte ihm eine sehr kleine Aprikose. »Die behalten Sie. Wenn Sie in Nepenthe Schwierigkeiten bekommen, brauchen Sie sie nur zu drücken, und ich helfe Ihnen sofort heraus.« »Warten Sie«, bat Jolson. »Ich brauche keine tollkühnen jungen Damen, die mir helfen müssen.« Er schnippte die Frucht mit den Fingern zu ihr zurück. Sie rollte sie ihm erneut entgegen. »Befehl, Mr. Gabney. Die behalten sie und tragen sie immer bei sich.«
»Da seh ich aber blöd aus, wenn ich immer so 'ne lausige Aprikose mit mir 'rumtragen muß.« »Dann sagen Sie den Leuten eben, das sei ein Fetisch. Alte Männer haben eine ganze Menge von solchem Zeug.« Jennifer legte den Kopf schief und musterte ihn. »Ha! Sie sind herrlich gemacht. Wie neunzig sehen Sie aus.« »Wie vierundachtzig, bitte ich mir aus. Und sagen Sie nur ja nicht Opa zu mir.« Eine schlanke, langfingrige Hand berührte sein Gesicht. »Oh, Sie scheinen ja tatsächlich alt zu sein. Wie machen Sie das nur?« »Natürlich ist da ein Dreh dahinter. Aber zwölf Jahre Übung ...« »Das Chamäleonkorps jagt mich von einem Staunen ins andere.« Sie klatschte in die Hände. »Ich hab was herausgefunden. Wir sind ein paar verschleierten Referenzen auf der Spur, die auf etwas hindeuten, das sich Gruppe A nennt.« »Vielleicht hinter den Entführungen?« »Möglich. Müssen mal sehen, was Kimbrough sagt.« »Arbeiten Sie wirklich für seine Botschaft?« »Meine Tarnung«, antwortete das Mädchen und zuckte die Achseln. »Na, dann viel Glück bei Ihrem Auftrag. Wenn alles gut geht, melden Sie sich bei mir, bevor Sie nach Barnum zurückkehren. Sie gehen in den neuen Blumenladen Rudolph am Weg der Einsamkeit und sagen die Nummer auf. Haben Sie's?« »Klar«, erwiderte Jolson. »Wenn Sie in dieser Jugendplantage in Schwierigkeiten geraten sollten, schreien Sie um Hilfe.« Jolson gab ihr den Obstkorb zurück. »Vielen Dank
für Ihren Besuch, meine Liebe. Ich fürchte, jetzt ist es Zeit für mein Nickerchen.« »Sehr überzeugend«, murmelte sie und ging. Jolson stieg aus dem Schiff und landete direkt in einem Tümpel aus heißem Schlamm. Bis zum Kinn sank er ein, stieg dann wieder in die Höhe und bemerkte einen blonden Mann mit viereckigem Gesicht, der lachend am Tümpel hockte. Der Mann streckte eine Hand aus. »Wir auf Nepenthe fangen gleich richtig an. Dieses Schlammtauchbad hat Ihnen, Mr. Gabney, bereits Wochen Ihres Alters genommen. Ich bin Franklin T. Tripp, Koordinator und Mitbegründer.« Jolson reichte Tripp eine schlammige Hand. Sein Pilot hatte ihn vorher ausgezogen; also hatte er auch etwas ähnliches erwartet. »Sir, ich bewundere Ihre Tüchtigkeit.« »Wissen Sie, Mr. Gabney, ich bin ja selbst fast sechzig«, vertraute Tripp ihm mit pfefferminzduftender Stimme an. »Seh ich vielleicht so aus?« »Höchstens wie vierzig.« »Immer, wenn ich eine Möglichkeit dazu sehe, gehe ich hier her und nehme ein Schlammbad.« Tripp zog Jolson aus dem Tümpel und führte ihn einen plattenbelegten Pfad entlang. Es war schon Nacht und ganz dunkel, und Nepenthe lag mit seinen niederen, blaßblauen Häusern auf einem Plateau, ein paar Meilen von Esperanza City entfernt. Der Wind, der über das Plateau strich, war warm und trocken. »Ich bringe Sie hinein und mache Sie mit den Leuten bekannt.« Hinter ihnen lud ein Wärter in blauem Trainings-
anzug Jolsons Gepäck aus. Jolson warf dem Hitzepolsterkasten, der den Wahrheitsapparat enthielt, einen Blick zu und schaute dann Tripp an. »Wissen Sie, wenn ich nackt und schlammig bin, komme ich mir nicht besonders gesellig vor.« »Hier gibt es keine Konventionen«, sagte Tripp. »Aber Sie können duschen und einen unserer Universalmäntel anziehen. Danach melden Sie sich in der Gesundheitsbar im ersten Stock.« Er rubbelte etwas halbtrockenen Schlamm vom Glas seiner Uhr. »Und dann gehen Sie zu Bett. Hier in Nepenthe stehen wir um die Morgendämmerung auf. Ich habe es tatsächlich dem Frühaufstehen zu verdanken, Mr. Gabney, daß ich noch den Körper und Geist eines Jungen habe.« »Und dem Schlamm, Mr. Tripp.« »Genau.« Tripp schob ihn durch eine Bronzetür, über der in großen Buchstaben WILLKOMMENSDUSCHE stand. Der Duschraum war lang und sehr grün, der Boden weich und warm. Links und rechts vom Mittelgang waren je ein Dutzend Duschen. Sonst war der Raum leer. Vor der Tür am anderen Ende des langen Mittelganges saß auf einem geraden Fastholzstuhl mit hoher Lehne ein breiter, kurzgeschorener Mann in einem blauen Coverall. Auf den Knien hatte er ein altmodisches Papiertuch wie ein Dach aufgestellt. »Alter, wo sind deine Gesundheitssandalen?« fragte er. »Ich bin ja eben erst gekommen, Junger«, antwortete Jolson. Der Mann stand auf, streckte verschiedene Körperteile und legte vorsichtig das offene Buch auf den Stuhl-
sitz. »Nat Hockering heiße ich, Alter. Wo sind deine Gesundheitssandalen, hab ich dich gefragt, Alter?« Jolson rang die sehnigen, faltigen Hände und nahm eine demütige Haltung ein. »Ich bin doch eben erst angekommen. Mr. Tripp hat mich hergebracht.« »Keiner nimmt hier eine Dusche ohne Gesundheitssandalen. Sonst ist sie nämlich ein gesundheitliches Risiko.« »Ich möchte doch nur den Schlamm abwaschen.« »Klar, Alter. Aber das wirst du nicht tun. Du verschwindest jetzt durch die Tür, durch die du gekommen bist.« »Vielleicht könnte ich«, sagte Jolson und atmete tief durch, »vielleicht könnte ich also die richtigen Schuhe kaufen.« Er wollte seine Tarnung noch lange nicht lüften. Wenn er diesem Hockering einen Fußtritt in den Hintern versetzte, wäre es aus damit. »Wo hast du dein Geld versteckt, Opa?« »Ich brauche nicht eigens darauf hinzuweisen, daß ein armer Teufel überhaupt nicht hierher käme.« »Gib mir einen Zwanziger morgen um Punkt sieben vor dem Hinderniskurs. Abgemacht, Alter?« »Darauf das Wort von Leonard F. Gabney.« »Weil das schon was wert ist.« Hockering griff um den Türrahmen herum und brachte ein Paar Kombosandalen zum Vorschein, die er Jolson entgegenschlittern ließ. »Punkt sieben.« Jolson bückte sich und zog die Schuhe an. »Ich hätte wirklich ein bißchen mehr Herzlichkeit erwartet«, beklagte er sich. »Die kriegst du, Alter, wenn auch nicht von mir. Ich schlage ja hier nur die Zeit tot, bis ich auf eine gute akkreditierte Universität gehen und Architektur
studieren kann.« Er wedelte mit dem Buch. »Weißt du was über Balustraden?« »Das, was jeder weiß.« Jolson ging unter eine Dusche. Der Schlamm trocknete schon sehr. Er kratzte sich den vorgewölbten Bauch und drückte auf den Einschaltknopf. Nichts passierte. »Was muß ich denn da tun, damit Wasser kommt?« fragte er. »Heiß oder kalt?« wollte Hockering wissen, der sich wieder auf seinen Stuhl gesetzt hatte. »Warm.« »Fünf Dollar für warmes Wasser nach der offiziellen Schlußzeit.« »Wann schließen denn die Duschräume?« »Fünf Minuten bevor du gekommen bist.« »Schreib's auf meine Rechnung.« »Na, ich glaub, ich kann dir trauen«, meinte Hokkering. Drei alte Männer befanden sich in der Gesundheitsbar des ersten Stockes; es war ein grauer Kuppelraum mit Stahlrohrstühlen und einem Saftautomaten. »Ich heiße Leonard F. Gabney«, sagte Jolson, ließ sich auf einen Stuhl sinken und zupfte seinen knielangen grauen Einheitsmantel zurecht. »Eben erst angekommen. Heimatplanet Barnum.« Der jüngste der alten Männer war rund und rosig und lachte gutmütig. Mit seinem Saftglas machte er eine Bewegung, die wohl Prost bedeuten sollte. »Phels H. K. Sulu aus Barafunda. In der Moorentwicklung. Und Sie?« »Telekinese.« »Und wo stehen Sie?« fragte ein bronzefarbener alter Mann, der sich stocksteif hielt.
»Stehen?« »Egal. Fangen Sie irgendwo an«, sagte der Stocksteife. »Später müssen wir eben das Profil komplettieren.« »Das ist Geschwaderkommandant Eberhardt«, erklärte Sulu. »Er beschäftigt sich mit Vorliebe mit politischen Schattierungen. Ist jetzt auf Kosten seiner Familie seit fünfeinhalb Jahren hier.« »Nehmen wir als Thema einmal unsere Einstellung zur Situation der Erde«, sagte der Geschwaderkommandant. »Wie drücken Sie zu dieser Sache Ihre Gefühle aus, Sir?« »Ich stimme vermutlich mit Ihnen überein«, antwortete Jolson vorsichtig. »Und wo stehen Sie in bezug auf die Tatsache, daß ein kleiner grüner Käfer auf Ihrer Nase entlangkrabbelt?« Jolson schnippte den Käfer weg. Geschwaderkommandant Eberhardt erhob sich. »Ich glaube, es ist Zeit, sich zurückzuziehen«, sagte er. »Das heißt, falls es keine Opposition gegen diese Feststellung gibt.« Er nickte den anderen zu und verließ die Gesundheitsbar. »Ich möchte Sie willkommen heißen«, meldete sich nun der dritte alte Mann. Er war lang und mager und sah mit seinem kurzgeschnittenen grauen Haar fast ein wenig staubig aus. »Bis jetzt hatte ich keine Möglichkeit, etwas zu sagen. Ich stamme auch aus Barnum und freue mich, Sie begrüßen zu können. Ich bin Wilson A. S. Kimbrough und diene als Botschafter hier auf Esperanza. Es wird mir ein Vergnügen sein, Ihnen in jeder Weise behilflich zu sein, wo ich kann, Mr. Gabney.« Jolson lächelte.
Als sie beide über die niedere Hürde sprangen, sagte Franklin T. Tripp: »Rennen und Springen, Mr. Gabney. Täten wir das nur häufiger! Ich glaube wirklich, daß man mich sehr oft für einen jungen Mann von achtundzwanzig hält, weil ich soviel renne und springe.« Jolson ließ sich auf das Gras fallen und keuchte pfeifend wie ein alter Mann. »Ich stelle mir vor, daß das Schwitzen etwas damit zu tun hat.« Mindestens ein Dutzend alter Männer tummelte sich auf der Halbmeilenbahn, die mit Hürden und Wasserhindernissen gespickt war. Alle Männer trugen leichte himmelblaue Trainingsanzüge. »Schwitzen«, bestätigte Tripp, der nicht im geringsten atemlos zu sein schien. »Vier Jahre meines Alters wurden glatt ausgelöscht, nur weil ich regelmäßig tüchtig schwitzte, Mr. Gabney.« Ein alter Mann, der sich beim Frühstück am Morgen als Olden Grilse vorgestellt hatte, schrie irgendwo hinter ihnen. Tripp machte im Stand Laufbewegungen. »Grilse hat wieder einen Anfall«, erklärte er. »Sie laufen jetzt allein weiter, und ich hole den alten Mann von der Bahn herunter.« Jolson zog davon, um Kimbrough einzuholen, der ein paar hundert Yards vor ihm lag. Er sprang über eine Metallbarriere von drei Fuß Höhe, sprintete und nahm eine Buchshecke, und da hatte er Geschwaderkommandant Eberhardt eingeholt. »Und wie stehen Sie zu Thermometern?« fragte der Geschwaderkommandant. »Da bin ich neutral.« Der Geschwaderkommandant schwang beim Laufen die Ellbogen bis in Kinnhöhe. »Bei Sonnenauf-
gang haben sie mir eines hinten hineingesteckt. Behaupten, mit einem im Mund könne man mir nicht trauen. Würde das Ende abbeißen.« »Haben Sie Fieber?« »Nein. So was kann ich nicht brauchen.« Jolson zog davon und sprang über einen flachen Graben. Mit Kimbrough zu sprechen gelang ihm erst, als sie am Nachmittag Seite an Seite in der Dampfkabine schwitzten. »Ist eigentlich der ganze Tag für uns programmiert?« fragte er den Botschafter. »Nach dem Pflichtmittagsschlaf gibt es eine kurze freie Erholungspause«, antwortete der dampfende Kimbrough. »Sind Sie vielleicht zufällig Bogenschütze, Gabney?« »Meine größte Liebe, Kimbrough«, erklärte Jolson. »Ich hab, den Teufel, bisher noch keinen gefunden, der mit mir ins Übungsgelände hinausginge. Gestern hatte ich das ganze Gebiet für mich allein.« »Oh, tatsächlich?« sagte Jolson. »Vielleicht könnten wir diesen Nachmittag dann zusammen verbringen. Um die Sache interessanter zu gestalten, könnten wir ja vielleicht ein Preisschießen auf die Scheibe veranstalten.« »Ausgezeichnet«, antwortete der Botschafter. Dichter Nebel wogte und wallte zwischen ihnen und der Zielscheibe vor dem dicken Strohpolster. Jolson konnte links noch drei große, reichverzweigte Bäume erkennen. Unter dem blauen Sporthemd hatte er das hereingeschmuggelte Wahrheitsgerät angeklebt. Er strich die Pfeilkerbe über seine Vorderzähne und sagte: »Vielleicht etwas zum Knochenwärmen gefällig?«
Kimbroughs Bogen machte twäng, und sein Pfeil verschwand im Nebel. »Wenn ich den Aufschlag gehört habe.« Sie warteten; der Nebel wurde immer dichter, aber kein Aufschlag war zu hören. Jolson holte ein kleines, sehr kleines Fläschchen aus dem metallgrauen Behälter. »Brandy?« »Nun ja«, meinte der Botschafter Kimbrough, »ein Schlückchen Brandy würde einem jetzt ganz gut tun.« Er nahm das Fläschchen, schraubte den Verschluß ab und trank. »Sie?« »Ich hab das immer für Freunde dabei«, antwortete Jolson und steckte das Fläschchen weg. Kimbrough räusperte sich und legte einen neuen Pfeil auf die Bogensehne. »Wissen Sie, Gabney«, sagte er und senkte den Bogen, »als ich ein Junge war, besuchte ich die John Foster Dulles Akademie auf der Erde. Ich denke, das sollte ich Ihnen erzählen. Hier ist es ein Geheimnis, Gabney. Mit dreizehn bezahlte ich Norman L. Matson fünf Dollar, damit er mir meine Aufgabe über die Schwarzen Bretter im ausgehenden zwanzigsten Jahrhundert schrieb.« »Und was ist mit Gruppe A?« wollte Jolson wissen. Er griff nach dem Ellbogen des Botschafters und führte ihn zu den Bäumen. »Vierzehn war ich, als ich Estelle Banderman in der Gerätekammer des städtischen Wohnturms ihrer Großmutter mütterlicherseits küßte. Was sagen Sie dazu, Gabney?« »Gruppe A«, drängte Jolson. »Dean Swift. General Moosman, Admiral Rockisle.« Der Nebelwind raschelte mit den dürren Blättern. »Das ist die Wahrheit«, erwiderte Kimbrough und
musterte Jolson aus zusammengekniffenen Augen. »Ich habe tatsächlich diesen Diktattisch auf Barafunda geborgt. Beim Hearing sagte ich, davon hätte ich nie etwas gehört. Jawohl, Gabney.« »Wissen Sie etwas darüber, Botschafter, daß jemand Mitglieder des Kriegsbüros entführt?« Jolson zögerte ein wenig und entnahm dem Behälter eine Injektionsnadel, die er in den weichen Oberarmmuskel des Botschafters stieß. »Diese Wahl-Diners auf Barnum«, fuhr Kimbrough fort, der schon ein wenig schwankte. »Ich nahm das ganze Spendengeld und kaufte davon auf Murdstone ein Motel mit solarer Energieversorgung. Das Ding dreht sich wie ein Karussell, wenn die Sonne scheint. Den Touristen gefällt es. Ich habe nie das Geld für meinen Wahlkampf ausgegeben.« Kimbrough trat so weit zurück, bis er an einen Baum stieß. »Swift.« »Nun ja«, sagte der Botschafter, »die Information habe ich natürlich weitergegeben. Das Geld war eben zu verlockend. Natürlich weiß ich, wer im Kriegsbüro ein- und ausgeht.« Jolson näherte sich ihm. PSB hatte recht. »Wem haben Sie das erzählt?« »Wem? Dem Rand.« »Wo?« »Esperanza City. Stadtrand. Einem jungen Mann.« »Dessen Name?« »Son Brewster Junior. Er ist wirklich ein wundervoller und ganz köstlicher Unterhalter. Kaum zwanzig und viel ehrlicher und aufrichtiger als unsere Generation, Gabney. Ich gebe die Nachrichten weiter an Son Brewster Junior.«
»Warum?« Kimbrough atmete jetzt mit offenem Mund. Er schwankte. »Erde, Gabney.« »Hä?« »Erde. Oberhoheit. Eines Tages wollen sie die Oberhoheit der Erde über alles.« »Ist Brewster der Boss?« »Nein. A. Gruppe A. Keine Namen.« »Wo ist Gruppe A?« Kimbrough straffte sich, und seine Augenlider und Nasenflügel flatterten. »Komische Sache. Bin jetzt gar keinen unverdünnten Alkohol mehr gewöhnt.« »Kimbrough, die Erholungspause ist fast um«, sagte Jolson. »Wir gehen besser zurück.« »Erst noch was«, bat der Botschafter. »Ja?« »Erst möchte ich mal nachschauen, ob mein Pfeil getroffen hat.« Er lachte leise und trottete in den Nebel hinein. Nat Hockering schob den Haartrockner quer durch die kleine graue Kabine. »Sport kann einiges ausrichten, Mr. Gabney. Und auch eine intelligente Ernährung. Aber beileibe nicht alles, Mr. Gabney. Wenn wir wirklich die Jahre wegbügeln wollen, müssen wir auf kosmetische Hilfen zurückgreifen.« Jolson lag in einem Kippstuhl und hatte den Kopf unter einem Hahn und über einem Becken. »Und was kostet mich das, Hockering?« »Mr. Gabney, lassen Sie sich von meiner gestrigen Brummigkeit nicht aus der Ruhe bringen«, sagte er. »Bei Tageslicht und in den frühen Abendstunden bin ich ein ganz umgänglicher Mensch.« Er massierte Seife in Jolsons dünnes weißes Haar und drückte seinen
Kopf weiter zurück. »Da kribbelt einem ja der ganze Kopf«, bemerkte Jolson. Hockering ließ eine Hand leicht auf Jolsons Hals liegen. »Ich möchte Ihnen nur eines sagen.« »Ja?« »Fingerabdrücke.« Jolson verkrampfte sich. »Oh?« »Sie haben etwas übersehen. Sie haben nicht die Fingerabdrücke des richtigen Leonard F. Gabney.« Seine langen, dicken Finger legten sich ein wenig fester um Jolsons Adamsapfel. »Wir haben einen Mann, der hat Zugang zum Abfallbunker des PSB. Er hat das Triplikat einer Aktennotiz gefunden, mit der ein Mann vom Chamäleonkorps angefordert wird, der einen Fall aus dem Kriegsbüro bearbeiten soll. Ich habe schon immer darauf gewartet, daß uns einer von den PSB-Leuten mal auf die Spur kommt.« »Steckt Tripp auch mit drin?« stotterte Jolson verblüfft. »Wir beide. Und der alte Kimbrough.« Er hob die andere Hand, um Jolsons Finger abzuwehren. »Und Sie werde ich jetzt erwürgen, Sie falscher Mr. Gabney. Und dann werfe ich Sie in den Schlammtümpel. Ha, der ist gut für die jugendliche Erscheinung, Mr. Gabney.« Jolson dachte scharf nach und konzentrierte sich. Sein Hals straffte sich, wurde länger, zog sich aus Hockerings Griff langsam zurück. Er streckte die Finger aus und stieß sie dem Dicken in die Augen. Es hatte schon gewisse Vorteile, vom Chamäleonkorps ausgebildet worden zu sein. Jolson schrumpfte nun etwa um Fußeslänge zusammen und duckte sich
aus dem Stuhl. Am Haartrockner sicherte er sich das Gleichgewicht, griff fest um das Metallbein und schwang das Gerät. Die Haube traf Hockerings Schädel ziemlich hart. Hockerings Kinn fand Widerstand am Beckenrand; er rutschte an der Wand entlang auf den Boden und seine tastenden Hände beschrieben kleine, ungeschickte Kreise auf den Fliesen. Jolson rannte in den Korridor hinaus und mischte sich in seinem himmelblauen Trainingsanzug unter die Leute. Er strebte einem Ausgang entgegen, verließ das Hauptgebäude und jagte im Laufschritt über das Gelände, um zu einem luftgeparkten Schiff zu gelangen. Jemand rief ihm Zahlen entgegen. Aus dem zwielichtigen Himmel ließ sich ein Privatflitzer herab, von dem eine Strickleiter herunterbaumelte. »Wer?« schrie Jolson hinauf. »Ich. Jennifer Hark. Schnell raufkommen!« »Ah, verdammt!« schrie Jolson, sprang und erwischte die Strickleiter. Als er in der kleinen Kabine verschnaufen konnte, keuchte er: »Ich hab Ihnen doch gesagt, Sie sollten sich nicht einmischen.« »Sie haben sie doch gedrückt.« »Wie? Was?« Er quetschte sich auf einen Passagiersitz. »Die Aprikose mit dem Warngerät.« Sie zog den Flitzer in langsamem Steigflug über Nepenthe hinweg. »Sie hat mir eine Warnung gesendet. Vor guten drei Stunden. Und ich bin sofort gekommen, um Sie 'rauszuboxen.« Jolson machte sich nicht die Mühe, sie zu fragen, wie das funktioniert haben könnte. »Ich hab doch das Ding überhaupt nicht angerührt«, behauptete er. »Sie
müssen mein Gepäck durchgeschnüffelt haben, und da haben sie dann mit dem Ding gespielt.« Jennifer lachte verschmitzt, und dieses Lachen ließ ihre Wangenknochen noch deutlicher hervortreten. »Sie hatten es aber doch bei sich.« »Ich hab nicht einmal Gelegenheit gehabt, eine Aprikose anzufassen, seit Sie zuletzt bei mir waren.« »Konnten Sie Botschafter Kimbrough ausfragen?« Jetzt flogen sie hoch über den bunten Scheinwerfern der Friedhöfe zurück nach Esperanza City. »Klar«, antwortete Jolson. Ausführlich erzählte er dem Mädchen von Tripp und Hockering und berichtete alles, was er aus dem Botschafter herausgequetscht hatte. »Ich habe ein Kodememo von Mickens bekommen. Sie sollen jede von Ihnen gefundene Spur bis zum logischen Ende verfolgen und jede zweckmäßige Identität annehmen.« »Weiß ich. Das tu ich sowieso immer«, erwiderte Jolson. »Übrigens hab ich diese steife Förmlichkeit satt, verstehst du? Jennifer, du berichtest PSB, sie sollen Nepenthe beobachten, Tripp und Hockering verfolgen, falls sie unterzutauchen versuchen, was sie vermutlich tun werden. Aber ich will nicht, daß sie sofort eingebracht werden. Erst will ich noch einiges über die Gruppe A herausfinden.« »Wir haben zwei Agenten in einem Grabmal versteckt. Die leben nur von belegten Broten und Beobachtungen.« Sie schnippte den Schalter eines Handfunkgerätes. »Mit denen nehme ich jetzt Kontakt auf.« Jolson lümmelte sich behaglich in den Sitz und schloß die Augen, während sie sich mit den Agenten unterhielt. Dann sagte er: »Ich möchte, daß du mich am Rand absetzt.«
»Da mußt du aber jung sein, um hineinzupassen«, gab Jennifer zu bedenken. »Und außerdem solltest du erst mal etwas über den Stil und die Mode dieser Leute erfahren.« »Ich passe mich schon an.« Jolson legte sein Gesicht in die gewölbten Hände, atmete tief ein, dann aus und wurde zwanzig. »Das ist schon in Ordnung.« Sie sah ihn an, hob die Brauen und machte große Augen. »Daran bin ich aber noch nicht gewöhnt. Laß mal sehen. Dein Haar ist länger. Ein bißchen strähnig. Links gescheitelt. Und was ist mit deinen Sachen?« »Du könntest mir ja ein bißchen Geld leihen, dann kauf ich mir etwas zum Anziehen am Rand.« »Sag mal, bekommt man dich überhaupt jemals so zu sehen, wie du wirklich bist? Als Ben Jolson?« Jolson beobachtete die bunten Lichter unten. »Später«, sagte er. Die beiden mechanischen Klaviere stießen auf dem diamantförmigen Tanzboden der Bar zur letzten Bremse zusammen, und das Fußpedal des orangefarbenen Instruments schnellte heraus, traf die alte Frau, die Halluzinationen verkaufte, und schleuderte sie in ihren Karren. Die anderen drei Klaviere rasten weiter im niederen Kellerraum im Kreis herum, und jedes Instrument spielte ein anderes Stück. Jolson bestellte Antihistamine und beobachtete das Mädchen, das von der Decke herabhing und die Pedale ihres silberfarbenen Fahrrades trat. »Gott zum Gruß, du Hohlkopftäubchen«, sagte ein Mann mit einem Umlegkragen, der sich an einem Stuhl neben Jolsons grünbezogenem Tisch festhielt, um im Gleichgewicht zu bleiben. »Dich haben meine
Guckerchen noch gar nicht erblickt. Neu, was?« »Verschwinde, du Herbstratsche«, riet ihm Jolson und bediente sich eines neuen Wortes, das er in den letzten zwei Tagen, die er am Rand verbracht hatte, aufgeschnappt hatte. »Ich bin ein Mann der neuesten Mode.« Er war klein, hatte eine breite, gewölbte Brust, und sein Kinn wabbelte. »Ich möchte nur dasitzen und ein bißchen mit dir schwatzen.« »Aber gib acht, daß du mein Nervengerüst nicht überlastest.« »Mich heißen sie Rev Cockspur«, sagte der Reverend. Er plumpste in den leeren Stuhl und kratzte ein wenig angetrocknetes Rührei von seinem fadenscheinigen Ellbogen. »Netten Feger, den du dir da aufgetan hast.« »Hab ich nur ein bißchen bebrudert.« Rev Cockspur lächelte und massierte sich seinen fetten Hals. »Junge, Junge, wir haben alle unsere Schwächen.« »Rev, was tust du so?« »Erst mal bestell ich mir einen Bingo.« »Aber nicht auf meine Rechnung.« Der Reverend wehrte mit beiden Händen ab. »Hier in der letzten Bremse hab ich eine Sondervergünstigung. Alles frei.« Er winkte der chromplattierten Kellnerin zu. Bald kam sein Drink. »Ich fürchte, dir liegt nicht viel daran, bekehrt zu werden«, begann er vorsichtig. Jolson schüttelte den Kopf so heftig, daß seine langen Haare flogen. »Ist das vielleicht deine Beschäftigung?« »Ursprünglich, ja«, antwortete Rev Cockspur und
goß, das Glas mit beiden Händen haltend, den grünen Alkohol in sich hinein. »Vor drei Jahren bin ich nach Esparanza gekommen. Von meiner religiösen Kongregation geschickt. Sollte die jungen Leute hier vom Rand bekehren. Sie unter die Schwingen der Glucke Kirche zurückbringen.« Er winkte der Kellnerin und bestellte einen neuen Drink, dann kniff er sich zweimal in die Nase und wackelte mit dem Kopf. »Wär fein, wenn ich ein bißchen Balsam hätte. Dann könnt ich wenigstens meinen Gedankennebel in Bewegung bringen.« »Bist du süchtig?« Der Reverend schaute in sein Glas. »Na, ja. Ursprünglich war es so, daß ich dachte, ich müßte den Slang der jungen Leute lernen, damit ich Kontakt mit ihnen bekäme und sie bekehren könnte. Sonst hätte sie mich ja für einen Bescheuerten gehalten. Also hab ich mir ihre Redeweise angewöhnt. Dann legte ich mir ihre Trinkgewohnheiten zu, und tatsächlich, ich kam ihnen näher. Um ihnen noch näher zu kommen und sie viel besser zu verstehen, begann ich auch dieselben Drogen zu nehmen wie sie. Jetzt bin ich also an einem Punkt angelangt, wo ich tatsächlich mit ihnen reden kann, und ich bin Alkoholiker, süchtig, ein Tablettenfresser und lebe zusammen mit zwei Albino-Nymphomaninnen in einem Getto an der Straße.« Jolson schob die Antihistamintablette im Mund herum. »Ist ja wirklich ein Rückschlag, Rev.« »Aber eine gute Erfahrung«, antwortete Rev Cockspur. Er warf den Kopf zurück und lachte schallend. »Da ist ja der alte Son persönlich.« Durch den Perlvorhang der Tür war ein schlanker Junge getreten. Sein weißes Haar war in Zöpfe ge-
flochten und mit scharlachroten Bändern zusammengehalten. Er trug eine mit Silberflicken besetzte Hose und Jacke und braune Lederstiefel. Auf dem Rücken hatte er eine Mandoline hängen, in seiner linken Hand schwang ein Verstärker. »Son Brewster?« fragte Jolson. »Kein anderer«, bestätigte Rev Cockspur. »Wer sonst hätte einen solchen Griff in der Hand wie er?« »Klappe halten«, sagte Son Brewster Junior zornig und schwang seine Mandoline vor die Brust. Den Verstärker ließ er auf die Treppe fallen. »Er wird jetzt wieder protestieren«, flüsterte der Reverend. Die herumfahrenden Klaviere verzogen sich schnell in ihre Nischen, und Son zupfte an der Mandoline herum. »Ich saß auf der Straße und ließ mir die Haare stutzen«, sang er. »Und der Bartscherer hat mir ein heißes, nasses Handtuch in meinen verdammten Kragen geschoben. Welch ein Universum habt ihr elenden Geldscharrerbastarde geschaffen, wo so was passieren kann?« »Köstlich«, bemerkte Rev Cockspur. »Aber warum reimt sich da überhaupt nichts?« Der Reverend beugte sich ihm entgegen. »Ja, das ist wohl eine recht merkwürdige Frage.« Son kam auf den Tisch der beiden zu. »Hallo, Rev. Willst du 'ne Prise?« »Könnt ich brauchen, Son. Ich hab einen richtigen Nebel. Den könnt ich auf die Reise schicken. Tät ihm gut.« »Dann halt deine Pfoten auf, daß ich dir ein paar Fetzen 'reinlegen kann, Rev.« Son nahm ein Päckchen Geldscheine aus seinem Hosenschlitz und reichte es
Rev Cockspur. »Wer ist der Sam da neben dir?« »Ein Freund.« Der ehrwürdige Herr schob die Scheine in seine Tunika. »Ich bin Will Roxbury«, sagte Jolson. »Und du?« »Son Brewster Junior«, antwortete der Junge, saugte seine Wangen nach innen und kniff die Augen zusammen. »Wohl neu am Rand, was?« »Hm. Ja.« »Spielst du ein Zenit mit mir?« Jolson zuckte die Achseln. »Wieviel? Blech oder Tasse?« »Mindestens zehn. Tassen natürlich«, erwiderte Son. Er zog sich vorsichtig den Mandolinengurt über den Kopf. »Paß auf das Ding auf, Rev«, sagte er und wandte sich dann an das gute Dutzend junger Leute im halbdunklen Raum. »Der Sam da mit dem komischen Frack und ich spielen jetzt schnell ein Zenit.« Das Mädchen, das von der Decke hing, hörte auf, die Pedale zu treten, und ein rothaariger Junge sagte: »Schnitzel ihn, Son.« Zenit stellte sich als ein Satz quadratischer Karten heraus, die statt der üblichen Figuren oder Zahlen Bilder der größten Friedhöfe trugen. Die warf man an die Wand, und wer einem vorher bezeichneten Ziel am nächsten kam, gewann den Wurf. Eine halbe Stunde später hatte Jolson achtzig Dollar gewonnen. »Genug?« fragte er Son. Son zupfte an einem seiner Zöpfe und saugte schmatzend an den Lippen. Er nahm Jolson die Karten ab und kehrte zu seiner Mandoline zurück. Gegenüber von Rev Cockspur setzte er sich an den Tisch und begann zu singen. »Als ich heute früh in die Freie Informationsbücherei von Barnum marschierte,
sagten sie mir, ich hätte die Bücher drei Tage zu lange behalten, huhu. Welch ein saudummes Universum haben wir da, wenn einem so was passieren kann?« Er reichte dem Reverend die Mandoline und kehrte zu Jolson zurück, der an einem Klavier lehnte. »Hast du heute abend was vor?« »Nein«, sagte Jolson. »Warum?« »Weißt du, wo die Kneipe Zum liegenden Eklektriker ist?« »Natürlich.« »Dann sei dort um die Abendessenszeit und warte auf mich. Wir trinken einen Bingo und einen Schotten zusammen. Okay?« Jolson drehte sich um. »Vielleicht«, meinte er, zuckte die Achseln und ging zur Tür. Auf der Seitenstraße vor der Bar stieß er gegen eine alte Frau, die gebrauchte Kränze verkaufte. »Wenn du einen Verschiedenen namens Axminster kennst, dann hätt ich ein Geschäft für dich«, schlug die alte Frau vor. Jolson griff nach ihrem Arm und zog sie mit zur hellen Straße. »Jennifer, dein Make-up taugt nicht viel. Ich hab dir doch gesagt, du sollst aufhören mir nachzuschleichen.« »Du solltest meinen Namen nicht so laut schreien, ohne vorher die Zahlenkombination zu sagen«, tadelte sie ihn. »Warum denn? Ich weiß doch, wer in dieser lausigen Verkleidung steckt. Und jetzt geh, zum Teufel noch mal, zu deinem Botschafter, bevor Brewster und die anderen alle aus Gruppe A dich überfallen.« »Tripp, Hockering und der Botschafter sind jetzt auch am Rand und haben sich da verkrochen.«
»Um so mehr Grund. Und jetzt ab mit dir.« »Machst du Fortschritte?« »Einige«, antwortete Jolson. Auf der Straße landete eine Touristenbarke, und er wartete, bis sich die Türen geöffnet hatten. »Schnell, tauch in der Menge unter.« »Ihr vom CK seid ja wirklich unabhängig«, sagte sie und reichte ihm eine Nelke. »Wie hast du eigentlich gewußt, daß ich es bin?« »Du hast so hübsche Wangenknochen. Die kannst du unter weißem Puder nicht verstecken.« Er lehnte die Nelke ab und ging. Zwei Touristen riefen ihm zu, er solle ihnen für ein Foto posieren, aber er hörte nicht auf sie. Son Brewster Junior schnippte seinen Fingernagel mit einem Mandolinenzupfer. »Keine schlechte Kneipe, was man so Kneipe nennt, was?« fragte er. Jolson lehnte sich zurück. Sie saßen in einer Nische und schauten den gut zwanzig jungen Leuten zu, die sich in dem Raum verteilten, der, erstaunlich genug, mit richtigem Holz getäfelt war. »Hübsch«, bestätigte er. »Wirklich hübsch.« »Da kommt 'ne Harfe, die kenn ich«, sagte Son und winkte einem großen dunkelhaarigen Mädchen zu, das sich ihnen näherte. »Wer ist denn der Sam?« fragte sie und setzte sich auf die Tischkante. »Er sagt, er sei draußen in den Subs auf dem besten Weg ein wichtiger Mann zu werden.« »Tanzen?« fragte das Mädchen Jolson. Sie legte ihm eine warme Hand auf die Wange. »Woher kommst du, Hase?«
»Tarragon«, antwortete Jolson. »Gut. Von dort kenn ich alle Tänze.« Jolson kannte sie nicht, und besonders angenehm war die Hopserei auf dem herzförmigen Tanzboden nicht. Nach dem Tanz war Son Brewster nicht mehr in der Nische. »Ich geh jetzt lieber zur Venus und verdien mir ein bißchen Stoff und so. Bis dann, Will.« »Okay.« Jolson sah ihr zu, als sie wegging. »Freunde von mir«, sagte Son, als er sich wieder in der Nische einfand. Er deutete zur schwarzen Plattform, auf der gerade vier weißhaarige junge Männer die Mädchengruppe ablösten. Die Jungen waren alle groß und breit und trugen ihr Haar wie Son. Sie hatten goldfarbene Kostüme und elfenbeinfarbene Stiefel an. »Die nennen sich die Ford Foundation. Führen meistens mein Zeug auf. Protest und so.« »Vor zwei Wochen besuchte ich eine Caféteria und bestellte Hasch«, sang das Quartett. »Und da sagten sie, daß sie keins hätten. In welch gottverdammtem Universum leben wir, in dem man einem so was sagen kann?« Die Zuhörer applaudierten, aber ungefähr zehn von ihnen standen auf und gingen nacheinander hinaus. Nach der zweiten Protestnummer waren nur noch zwei Venusianer in der Kneipe Zum liegenden Eklektiker. Als auch sie noch gingen, nickte Son zur Plattform hinauf. Die Ford Foundation ließ die Instrumente sinken und sprang herab. Sie umringten die Nische und zückten glänzende Messer.
»Will, du bist ein Schwindler.« Son stand auf. »Tripp hat mich gewarnt, daß da einer von CK frei 'rumläuft. Deshalb hab ich die Fremden getestet. Du hast Zenit mit ganz falschen Regeln gespielt und mich niemals korrigiert. Du hast zu Mimi gesagt, du kämst von Tarragon, aber dann hat sie mit dir zu tanzen versucht, nur daß du keine Ahnung von den Tänzen hattest. Nicht mal unser Spezialgetränk aus Sekt und Bier kennst du und weißt auch nicht, wie man's trinkt.« Jolson war auf die Bank gesprungen, auf der er gesessen hatte. Im nächsten Moment stand er schon in der Nachbarnische. »Schnitzelt ihn!« schrie Son. Jolson rannte über die Tanzfläche und sprang auf die Plattform. Die Ford Foundation folgte ihm gemesseneren Schrittes. Er griff nach einer illuminierten Baßgeige und schwang sie, als der erste aus dem Quartett nach ihm zu greifen versuchte. »He, der zieht ja einen Mingus«, sagte Son, der noch immer in der Nische stand. Der zweite Quartettler hielt sein Messer in der hocherhobenen Hand. Jolson sprang auf den Boden und schrumpfte größenmäßig ein ganzes Stück. Er stellte sich mit gespreizten Beinen hin und schwang die Fäuste. Der Junge kreischte und krümmte sich zusammen. Die beiden restlichen Foundation-Knaben kamen mit gezückten Messern. Jolson streckte seinen linken Arm aus und schlang ihn in mehreren Windungen einem der beiden um den Hals. Dann zog er ihn so plötzlich zurück, daß der Junge wie ein Kreisel rotierte und gegen seinen Partner knallte. Das Paar
wälzte sich auf dem Boden und versuchte die Gliedmaßen zu entwirren, und da wuchs Jolson wieder zu normaler Größe empor und veranstaltete einen gekonnten Steptanz auf ihren Köpfen. Und schließlich hob er sie einen nach dem andern auf und schleuderte sie den beiden ersten entgegen. Dann strich er sich das Haar aus der Stirn und wandte sich an Son Brewster. »Ich protestiere nur«, sagte Son. »Ich kämpfe nicht.« Jolson griff mit einem langen Arm aus und wikkelte ihn um Son. »Du erzählst mir jetzt von Gruppe A.« »Nein.« Jolson verstärkte seinen Griff. »Na, komm schon.« »Laß doch los! Sie haben dein Mädchen geschnappt.« »Was?« »Die mit den komischen Wangenknochen. Jennifer Hark. Wir haben sie erwischt, als sie hier 'rumgeschnüffelt hat.« »Wo ist sie?« »Sag ich nicht.« »Wo ist sie?« »Au! Unterwegs zur Insel.« »Zu welcher Insel?« »Hinter den Friedhöfen. Dreihundert Meilen von hier. Wo sie die Gefrorenen aufheben. Die Insel.« »Wer hat sie erwischt?« »Sam, laß jetzt endlich los. Vor über einer Stunde haben sie sie eingefroren, und wenn du frech wirst, lassen sie sie bis in alle Ewigkeit eingefroren.« Jolson erwürgte den Burschen fast, und endlich gab
Son den Widerstand auf und wurde ganz schlaff. »Wer hat sie dorthin gebracht?« fragte Jolson noch einmal. »Ein paar von der Gruppe A. In einem Leichenwagen. Die lassen keinen einzigen Flitzer über die Friedhöfe fliegen, weil sie die Touristen stören könnten. Spät am Abend wird sie dort ankommen. Oder vielleicht erst morgen früh.« »Und was hast du damit zu tun?« »Wenn die Greifer das Ziel wissen, besorg ich den Transport. Wir benützen dazu ein paar lizensierte Leichenwagen, die am Rand arbeiten. Und die Gefrorenen bringen wir dann zur Insel.« »Und wer ist auf der Insel?« »Kann ich nicht sagen.« »Kannst du schon sagen.« »Verdammt«, sagte Son und versuchte zu schlukken. »Er heißt Purviance. Maxwell Purviance. Und er glaubt an die Überlegenheit der Erde.« »Und was will er? Den Frieden?« »Weiß ich nicht. Ganz bestimmt nicht. Au! Ich weiß wirklich nichts.« Jolson streichelte den Jungen ziemlich heftig, so daß er ohnmächtig wurde. Sein Wahrheitskästchen enthielt auch eine ganz problemlose Knockoutdroge, und er ließ sich Zeit, allen vieren eine Dosis zu verpassen. Dann schleppte er einen nach dem anderen in eine Vorratskammer hinter der Plattform. Es würde einige Stunden dauern, bis sich einer von ihnen über die rüde Behandlung beschweren konnte. Eine Stunde später verließ er in einem Trauerbus den Rand.
An den Fenstern schossen rote, gelbe und grüne Grabsteine vorüber. Das hier war einer der reicheren Friedhöfe, den man vor einem halben Jahrhundert angelegt hatte, als gerade Reiterstandbilder modern waren. Zu beiden Seiten der dunklen Straße erstreckten sich lange und zahlreiche Reihen von Gestalten auf allen möglichen Reittieren, und ihr künstlicher Marmor schimmerte in der Farbe der Flutleuchten von Rot zu Gelb und Grün, wenn die Scheinwerfer rotierten. Die Frau mit dem Doppelkinn, die neben Jolson saß, schluchzte in ihr wiederverwendbares Trauertaschentuch. »Sie besuchen wohl nahe Verwandte?« erkundigte sich Jolson teilnahmsvoll bei dem Versuch, sie zu trösten. »Nein. Ich kenne keinen einzigen auf dem ganzen Planeten.« »Aber ich habe bemerkt, daß Sie schluchzten.« »Ich mag die Pferde so gern. Ich breche zusammen, wenn ich so viele auf einmal sehe.« Vor ihnen saß ein kahlköpfiger Mann, der sich nun zu ihnen umdrehte. »Seid ihr zwei mit Econ da?« »Nein«, antwortete Jolson. »Ich bin auf einer Dreiwochentour zu den Drei Planeten.« Die schluchzende Frau mit dem Doppelkinn betupfte ihre verquollenen Augen. »Ich heiße Löwenkopf«, sagte der Kahlkopf. Im Licht der Scheinwerfer wurde sein Schädel grün. »Ich habe eine Econ nach Esperanza gebucht. Einmal im Jahr mach ich das, wenn in meinem Pornoladen gerade Flaute ist. Bin von Barafunda. Dieses Jahr mach ich die Chemiker.« »Chemiker?« wunderte sich Jolson und hielt nach
einem freien Platz weiter hinten Ausschau. »Ich besuche die Gräber von berühmten Chemikern. Vergangenes Jahr machte ich Schauspieler. Hab sogar von Hasselbads Krypta einen Stein rausgepolkt. Hasselbad, den kennen Sie doch bestimmt, oder? Der Mann mit den Kußohren, das ist er. In meiner Jugend war er TV-Star.« »Ich komme immer wegen den Blumen«, sagte die Frau. »Blumen und Pferde sind mein ganzer Lebensinhalt.« »Einmal bin ich nur Berg- und Talbahn gefahren«, sagte der Kahlkopf und drehte sich wieder nach vorn. »Palomino«, bemerkte die Frau verzückt und drückte ihre Nase am Fenster platt. Nachdem sie am Grab des Unbekannten Kommandos vorbei waren und die dicke Frau laut die Inschrift DIE GANZE NACHT GEÖFFNET gelesen hatte, bog der Bus von der Straße ab. In einer Sackgasse zwischen zwei weitläufigen Friedhöfen war ein niederes, ländliches Gasthaus. Es war das Motel ZUM EWIGEN SCHLAF. »Sechs Stunden Aufenthalt zum Ausruhen und zur Erfrischung«, rief der Busfahrer, der ganz in Schwarz gekleidet war. Als Jolson an ihm vorbeiging, fragte er: »Und was dann, wenn ich weiter möchte?« »Dann nehmen Sie den nächsten Expreß, der durch die billigen Friedhöfe fährt. Aber der kommt erst gegen Morgen an. Eine Stunde später fahren wir auch weiter.« »Verdammt«, sagte Jolson. »Hier geht's ganz lustig zu«, tröstete er Jolson. »Da ist die ganze Nacht was los.«
Jolson trat in die Nacht hinaus. In einer halbdunklen, verräucherten Ecke des Gasthauses trank Jolson sein dunkles, öliges Bier, möglichst weit weg vom Geschwätz und Gekreische der Leute. Als die Kellnerin mit einem Tablett voll Beerdigungsfleisch kam, schüttelte er den Kopf. Er beobachtete einen ledergesichtigen, sehnigen Mann, der an der Bartheke aus dunklem Holz lehnte. Dieser Mann war erst vor wenigen Minuten gekommen und hatte etwas von einem Lastwagen voll Blumen gesagt, der draußen stehe. Wenn sich keine andere Transportmöglichkeit ergeben sollte, war Jolson bereit, den Laster zu klauen und damit wegzufahren. Jemand stieß an ihn. Jolson drehte sich zu der Gruppe rechts von ihm um. Die Leute waren alle mit Kameras und Tonaufnahmegeräten behängt. »Ja?« fragte er. Noch immer sah er wie ein Zwanzigjähriger aus, und so weit vom Rand entfernt konnte es Leute geben, die keine Jungen mochten. »Macht es Ihnen was aus«, sagte die blonde Frau, die ihn angestoßen hatte, »wenn ich Sie bitte, mir die Filmrolle aufzuheben, die unter Ihren Fuß gerollt ist, junger Mann?« Jolson bückte sich und hob die Filmrolle auf. »Seid ihr Zeitungsleute?« fragte er. »Sie könnten älteren Leuten schon ein wenig mehr Respekt erweisen«, mahnte ihn der älteste der drei Männer. »Bert mag keine großen Trauerreden«, erklärte die Frau lächelnd. Sie war ungefähr vierzig und auf bescheidene Art sogar ganz nett. Ein Magerer in viel zu engen Sachen sagte: »Mir
macht es gar nichts aus, Ihnen zu sagen, wer ich bin. Ich heiße Floyd Janeway.« Er hob sein Bierglas und leerte es mit einem Zug. »Ich bin in besonderem Auftrag hier. Und der Auftrag ist von der Art, die mich weltweit bekannt gemacht hat. Richtig?« »Richtig«, bestätigte die Frau. »Aber jetzt halt doch lieber den Mund.« »Kleiner, verzieh dich lieber«, sagte der, der die Jugend nicht mochte. Oder Jolson. Der dritte Mann war sommersprossig und tat geschäftig. Er bestellte weiteres Bier, sogar ein Glas für Jolson. »Sei nur ruhig, Floyd. Kleiner, trink ein Bier mit uns. Aber dann verschwindest du, ja?« »Warum so diplomatisch sein?« quengelte der Dikke. »Sie haben sicher schon von mir gehört, nicht wahr?« fragte Janeway, als das frische Bier gebracht wurde. »Na sicher«, bestätigte Jolson. »Journalist. Sie arbeiten für die Neun-Planeten-Nachrichten im Erdsystem und Barnum Telecom hier heraußen. Was gehört noch alles dazu?« »Größer als Janeway MIT DEN BARAFUNDAINSURGENTEN. Größer als Janeway ERKLÄRT DAS FIASKO VOM HAFEN TARRAGON. Größer als Janeway LEBT EINEN MONAT LANG MIT DEN REBELLEN VON TURMERIC.« »Sei doch endlich ruhig, Floyd«, wisperte die Blonde. »Janeway interviewt Purviance. Haben Sie davon noch nichts gehört? Zwei Wochen, nein, Monate an Vorbereitungen, an Fäden ziehen und so, bis man alles hinkriegt. Wird bald ganz groß 'rauskommen.«
»Verschwinde, Kleiner«, sagte der Dicke. Janeway goß Bier in sich hinein. »Terry, wir wechseln das Thema. Kleiner, bist du im Spielen gut?« »In einigen.« »Spielt ihr jungen Spunde hier noch Zenit?« Jolson lachte. »Klar. Soll das eine Aufforderung sein?« Janeway stand auf. »Wir spielen drüben an der Theke. Als Karten können wir einige Grabsteinpostkarten verwenden.« »Spiel doch und red nicht immer«, mahnte Jerry ungeduldig. »Wann soll das Purviance-Interview stattfinden, Sir?« erkundigte sich Jolson höflich, als er neben dem Reporter herging. »Morgen. Geht am Nachmittag los. Ich gehe ganz solo 'rein. Nur Janeway mit seinem goldenen Verstand. Nach dem Mittagessen verziehen wir uns aus diesem Loch. In den Morgenstunden tauge ich nicht viel.« Jolson stolperte, hielt sich an Janeway fest, verlängerte seine Finger und entzog dem Mann aus der Innentasche seiner Jacke sein Ausweispaket. »Entschuldigen Sie, ich bin gerutscht.« »Da mußt du aber viel wacher sein, Kleiner, wenn du mich beim Zenit schlagen willst.« Sie spielten fast eine halbe Stunde, und da wurde Jolson wieder einmal unbeholfen. Sein Wahrheitskästchen rutschte ihm aus der Jacke und knallte Janeway gegen die Brust. »Ihr jungen Leute mit euren Drogen«, meinte lächelnd der Reporter. Er reichte Jolson das Kästchen zurück. Jolson gewann dreiundsechzig Dollar von Janeway,
obwohl er Zenit genau nach den Regeln spielte. Er sagte gute Nacht, ging hinaus und klaute den Wagen des Blumenhändlers. In der Tasche hatte er Janeways Ausweise und überdies auch noch die Fingerabdrükke der rechten Hand. Als er zur Autostraße kam, die ihn direkt zur Insel bringen sollte, war er Floyd Janeway bis zu den Fingerspitzen. Der See war glatt und sah sehr blau und sehr kühl aus. In der Mitte war ein mit kreisenden weißen Vögeln gepunktetes grünes Inselchen zu sehen. Hier gab es Farne, Palmen, reiche Ranken und die üppigsten und buntesten Blumen, und alles zeichnete sich im frühen Morgenlicht klar und scharf ab. Auf einer kleinen Anhöhe stand ein mattgelbes Gebäude mit Säulen, viel Stuck und kunstvoll geränderten Marmorblättern. Strahlend weiße Schwäne ließen sich über das stille Wasser treiben. Auf einer Mole saß ein bärtiger Mann. Er war klein und trug einen dicken braunen Mantel. Als er Jolsons Schritte auf dem gepflasterten Weg hörte, schaute er über eine wattierte Schulter. »Na, bringen Sie eine Ladung Eislutscher zum Übersetzen?« fragte der Mann. »Ich bin ein bißchen zu früh dran für meine Verabredung«, sagte Jolson. »Ich bin Floyd Janeway.« Der Bärtige suchte in einem Steinhäufchen zwischen seinen Stiefeln einen flachen Kiesel; den flippte er so über das Wasser, daß er über einen Schwan hüpfte. »Wir haben hier doch nur ein Lager für eingefrorene Leichen, Mister.« »Floyd Janeway, der Reporter«, sagte Jolson. »Sagen Sie Purviance, daß ich hier bin.« Der Mann stieß sich mit den Ellbogen ab und
stand. Seine faltigen Stiefel zerstörten das Häufchen flacher Steine. »Bleiben Sie hier stehen«, sagte er. »Dann nehmen Sie ganz langsam Ihre Ausweise heraus und schieben sie zu mir herüber, Mister. In diesem Augenblick sind drei Laser auf Ihren verlängerten Rücken gerichtet, von den zweien, die auf Ihren Kopf zielen, ganz zu schweigen.« Jolson schob ihm das Päckchen Ausweise zu. »Ist das an Ihrer Hand eine Tätowierung?« Der kleine Bärtige hob Jolson die Hand entgegen, damit dieser sie genauer betrachten konnte, und sah dabei die Ausweise durch. »Mein ganzer Körper ist tätowiert, Mister. Alles Bilder von Gräbern und Grabsteinen und so. In meiner Jugend hatte ich eine morbide Ader. Na, ist auch jetzt noch ein ganz schönes memento mori. Früher mal war ich eine richtige Touristenattraktion.« »Unter einem roten Punktscheinwerfer müssen Sie ja großartig aussehen.« Der Bärtige rückte ein wenig näher an Jolson heran. »Mister, halten Sie mal Ihren rechten Daumen in die Höhe.« Er verglich das Ausweispaket mit Jolsons Daumen. Eine Taube flatterte herab und landete auf der linken Polsterschulter des Kleinen. Der Mann griff mit der tätowierten Hand hinauf und zog die Brust des Tierchens auf. Ein kleines Mikrophon schob sich heraus. »Er ist der, der er sein will. Schickt einen Kreuzer rüber.« Jolson wartete auf der Mole. »Ich dusche jetzt nicht mehr so oft«, sagte der Kleine unvermittelt. »Mich deprimiert es immer so, wenn ich mich abseife.« »Das habe ich mir gedacht«, antwortete Jolson. Vom Säulenhaus stieg ein scharlachfarbener Kreu-
zer auf. Er blieb über Jolson in der Luft hängen. Der Schaukelstuhl war ganz und gar mit Adlern bestückt. Sie verschlangen sich ineinander, einer überlagerte den anderen, breiteten die Schwingen aus oder duckten sich, aber alle waren schwarz. Der Stuhl schaukelte langsam vor und zurück. In ihm saß ein Mann mit verkniffenem Mund. Er trug Hosen aus einem Pullovermaterial und einen breitrandigen Strohhut. Seine Finger waren glatt und viereckig und hielten eine gelbe, bauchige Pfeife. Er war groß und breit, hatte ein großes und breites Gesicht und hielt sich sogar im Schaukelstuhl sehr straff. »Ich will Sie nicht beleidigen, verstehen Sie«, sagte er, und weil er dabei die Pfeife zwischen den Zähnen behielt, hüpfte sie bei jedem Wort auf und ab. »Aber meine Annahme ist doch richtig, daß Sie nicht auf der Erde geboren sind?« Jolson rutschte ein wenig auf dem dick gepolsterten Stuhl gegenüber von Maxwell Purviance herum. Janeway war auf Barnum geboren. »Ja«, antwortete er. Der kleine Raum war über und über mit Stoffen behängt. Auf dem Boden lagen dicke Teppiche mit Blumenmustern, schwere Behänge verhüllten die Wände. Hinter Purviances Schaukelstuhl stand ein ganzer Satz vierbeiniger, geschnitzter, eingelegter Tische von sehr kunstvoller Machart und kompliziertester Form. Genau hinter seinem Kopf hing ein reichgesticktes Emblem OBERHOHEIT ERDE. »Das weiß ich immer, denn solche Sachen rieche ich«, sagte er und blähte die Nasenflügel. »Das, was Sie riechen, ist wahrscheinlich die tote
Katze unter Ihrem Stuhl«, schlug Jolson vor. »Nein, das ist eine sehr frische Katze«, erklärte Purviance. »Ich benütze die Tiere nämlich, um damit meine Mahlzeiten zu testen. Mein Frühstück scheint also vergiftet gewesen zu sein. Eine Person zu vergiften ist immer leichter als eine ganze organisierte Regierung. Es gibt zum Beispiel neunzehn verschiedene Gifte für das Leitungswasser. Zehn bringen Sie um wenn Sie aus der Reihe tanzen, fünf veranlassen Sie, eine dekadente Lebensweise einzuschlagen, unkonventionelle Tanzschritte zu machen und dergleichen, und vier überreden Sie dazu, für Kandidaten mit sozialistischen Stimmrekorden zu stimmen. Ich trinke niemals Wasser.« »Was trinken Sie dann?« Purviance klopfte mit seinem Siegelring an einen Krug, der auf dem Tisch neben ihm stand. »Apfelmost. Ein altes Erdengetränk. Universumslebensmittel esse und trinke ich nicht. Mr. Janeway. Nur und ausschließlich Erdennahrung. Sie haben bemerkt, hoffe ich, daß ich Sie respektvoll mit Mister anrede, obwohl sie eine ausgesprochene Außenplanetenaura abgeben. Ich habe in meinen Unterlagen sämtliche Planeten klassifiziert und zwar nach dem Geruch ihrer Einwohner. Natürlich haben die Planeten im System Erde einen viel angenehmeren Geruch.« »Es gibt keinen schöneren Duft als den der Erde«, erklärte Jolson. »Und wie sind Ihre Pläne für den Rest des Universums, Mr. Purviance?« »Bevor ich es übernehme oder danach?« »Erzählen Sie mir erst über das Vorher.« Purviance nahm einen Grashalm aus seiner Hemdtasche und zog ihn zwischen die unteren
Schneidezähne. »Nun ja, Sir, das Universum sollte ja eigentlich von der Erde aus regiert werden. Aber infolge einer unglücklichen sogenannten Intelligenzverzögerung von zwanzigtausend Jahren wurde die Erde von anderen Planetensystemen schamlos ausgebeutet. Meine Aufgabe ist es sozusagen, alle anderen Planeten zurückzuholen und sie von der Erde aus regieren zu lassen. Ich glaube an eine starke Erde als Zentrum des Universums, Mr. Janeway, und an die Rechte der Erde. Ich bin aber auch gegen jede Steuer auf eines Mannes Einkommen, gegen die meisten Zahnpastamarken, und vor allem bin ich gegen Parkuhren.« »Ah, das dachte ich mir«, bemerkte Jolson und beobachtete den Leiter der Gruppe A, wie er langsam schaukelte. »Sie sind doch so etwas wie ein Pazifist, ein Mann also, der es sich zum Ziel gesetzt hat, Kriege auf ein Mindestmaß zu beschränken.« »Natürlich bin ich daran interessiert, jene Kriege einzuschränken, die ich nicht selber anfange, Sir«, bestätigte Purviance. Eine Locke seines Haares hatte sich über seine breite Stirn geschoben, und er tätschelte sie mit liebevoller Hand. »Ich sage Ihnen etwas ganz aus der Reihe, Mr. Janeway. Ich stelle eine sehr große Gruppe von militärischen Ratgebern auf. Ich ließ mir auch einen sehr bekannten Modeschöpfer teleportieren. Er kommt von einem Ort auf der Erde, der Paris heißt. Er soll eine Uniform für die Gruppe A kreieren. Herrjeh, das war vielleicht ein Theater, bis wir ihn bekamen! Ich habe nämlich meinen Leutnants gegenüber darauf bestanden, daß dieser Mann keine Fee zu sein hat. Ich wollte einen außergewöhnlichen maskulinen Modeschöpfer.«
»Und den haben Sie gefunden?« »Offen gestanden, aus Paris kommt er in Wirklichkeit nicht sondern aus einer Ortschaft, die Nebraska heißt. Aber er hat seine Ferien in Paris verbracht, und dort haben wir ihn aufgegriffen. Ha, Sie müßten mal sehen, was er alles mit Epauletten hervorbringt! Ein wahrer Zauberer.« »Wieviele Menschen leben hier bei Ihnen?« Purviance griff geistesabwesend nach unten und streichelte der toten Katze den Kopf. »Ich möchte einen Apfelmost trinken aber ich habe keinen, an dem ich ihn ausprobieren kann. Nehme ich richtig an, daß vielleicht Sie ...?« »Nein«, sagte Jolson. »Und jetzt zu diesen militärischen Ratgebern. Und zu den Modeschöpfern.« »Jawohl, Sir«, antwortete Purviance. »Die habe ich hier. Tiefgefroren.« »Hä? Tiefgefroren?« »Das ist doch meine Tarnung. Diese Gefrieranlage habe ich von meinem verstorbenen Vater geerbt. Den haben wir zwar auch in einer Kühltruhe, aber er ist unwiderruflich tot. Auf der Truhe steckt aber ein Täfelchen, und das trägt die Inschrift UNSER GRÜNDER. Und ganz im Vertrauen erzähle ich Ihnen noch etwas, Mr. Janeway. Tote mag ich nämlich gar nicht. Nicht einmal tiefgefrorene Tote. Da überläuft mich immer eine Gänsehaut. Aber wir stehen eben immer noch im Budget, hier wohne ich mietfrei und verdiene auch ein bißchen was, von dem das Finanzamt keine Ahnung hat. Aber manchmal schmeiß ich am Morgen den ganzen Zauber von mir und sage zu mir selbst: ›Maxwell‹, sage ich, ›soweit das Auge reicht, gibt's hier nichts als Steifgefrorene.‹ Das nagt allmäh-
lich an einem, Mr. Janeway.« Jolson knetete das Kinn seines Janeway-Gesichtes. »Könnten wir vielleicht einmal einen Blick in Ihren Betrieb werfen?« »In einen Teil wenigstens, den nicht geheimen«, versprach Purviance und erhob sich aus dem schwarzen Schaukelstuhl. »Aber vergessen Sie nicht, daß Sie unausgesetzt beobachtet werden. Sie sollten keine falsche Bewegung machen, da Sie sonst in die Gefahr geraten, sofort desintegriert zu werden.« »Wieviele Leute umfaßt denn die Gruppe A?« Purviance ging zur Tür. »Zahlen sind Schall und Rauch, Mr. Janeway. Eines kann ich Ihnen sagen: Mengen. Ganze Mengen.« Er ging hinaus in den eisgekühlten Korridor, und Jolson folgte ihm. Der Lagerraum war kalt und pastoral. Nebelschwaden kamen von Purviances Lippen. »Diese Mauern waren meines Vaters Idee«, sagte er. »Alle Räume sehen etwa gleich aus, bis auf diese Muster hier. Das hier ist der Sylvanische Raum mit Schäferinnen, Feldern und Lämmchen. Dann haben wir einen Wüstenraum, zwei Dschungelräume, dann einen Berühmte Gerüche der Erdgeschichte, einen mit Berühmtheiten und einen mit Pelztieren.« »Warum?« »Ach, ich glaube, das hat meinen Vater eben aufgeheitert. Mir hat er das allerdings nicht gesagt.« Purviance berührte die Tür eines viereckigen Behälters. »Ich glaube, wenn die Wände alle weiß wären, würde man ganz in sich zusammenschrumpfen und sein Leben in einem Eisschrank verbringen.« Jolson musterte den hohen, nebelverhangenen
Raum. »Wo sind denn die Burschen, die ihre Waffen auf uns gerichtet haben?« fragte er. »Oh, die können Sie nicht sehen. Sie sind viel zu raffiniert versteckt.« Purviance klopfte mit den Fingern ein Signal auf das Türchen. »Hier drin habe ich einen sehr berühmten Baseballspieler. Im Wartezustand.« Jolson rückte ein wenig näher an den Führer der Gruppe A heran. »Wie lange denn schon und noch?« »Wir haben Auftrag, ihn zu Beginn des nächsten Jahrhunderts aufzutauen«, erklärte Purviance. »Während der Baseballsaison.« Jolson sprang, machte sich ganz dünn und schlüpfte zwischen Purviance und die Wand. Er legte einen Arm um den Hals des Mannes und wirbelte ihn so herum, daß Purviance ihn wie ein Schild schützte. Er hatte solange gewartet, bis sie in der Nähe einer ungeschmückten Ecke waren, und in diese Ecke schob er Purviance nun. Jolson arrangierte seinen Körper so, daß nichts davon über den des Führers der Gruppe A hinausragte. »Ich will das Mädchen haben, Jennifer Hark, und die Männer vom Kriegsbüro. Sie geben sofort Befehl, sie aufzutauen und sie herbringen zu lassen. Sonst erwürge ich Sie.« »Ihr Parajournalisten habt aber seltsame Methoden, Mr. Janeway«, keuchte Purviance. »Hören Sie endlich auf mich zu würgen, oder Sie werden zu Staub zerblasen.« »Aber nur zusammen mit Ihnen.« »Ja, das stimmt.« Jolson drückte noch ein wenig fester zu. »Na, kommen Sie schon. Das Mädchen und die anderen. Sagen Sie Ihren Männern, sie sollen alle hier herein-
kommen und ihre Waffen abgeben.« »Alle meine Männer?« »Anfangen können wir mit denen hinter den Wänden hier.« »Wer sind Sie denn eigentlich? PSB? Oder CK?« Jolson drückte ein wenig stärker. »Jetzt!« Die gelbe Pfeife fiel auf den mit dünnem Eisschnee überzogenen Boden, als Purviance würgend röchelte. »Ich kann veranlassen, daß sie uns beide mit Strahlen braten.« »Vergessen Sie nicht, daß Sie ja den Tod nicht mögen.« Purviance hustete. »Vielleicht sollte ich was erklären.« »Befehl erteilen. Schnell.« »Rackstraw, komm herein!« Eines der unteren viereckigen Türchen flog auf, und der dünne Mann im dicken Mantel kam herein. Sehr vorsichtig trug er ein Strahlengewehr vor sich her. »Tyler nimmt gerade ein Bad«, berichtete er. »Wer ist Tyler?« wollte Jolson wissen. »Er hat Sie im Kreuzer 'rübergeflogen«, sagte Purviance und versuchte sein Kinn zu senken. »Er ist mein anderer Mann.« »Wieso anderer Mann?« »Wir sind hier doch nur sowas wie eine Skelettgruppe«, erklärte Purviance. »Nur Rackstraw, Tyler, ich und Mrs. Nash, die für uns kocht und aufräumt.« »Purviance, versuchen Sie nur ja nicht, mich übers Ohr zu hauen. Die Gruppe A besteht nicht nur aus vier Leuten.« »Nein. Wir haben sogar viele Mitglieder. Aber nur ein paar davon leben hier. Das Problem ist das, daß
der größte Teil des Geldes, das ich mit der Gefrieranlage verdiene, für die Bezahlung der Kidnapper und Mörder draufgeht und für Schmiergelder an die Politiker. Ich habe einfach nicht soviel Geld, daß ich eine größere ständige Armee unterhalten kann. Das kommt schon noch. Wenn ich erst einmal alle kriegsbewußten Geister des ganzen Systems gesammelt habe, oder, um genau zu sein, in allen Systemen, wenn ich sie dann alle geschluckt und verdaut habe, dann gibt es keine Schwierigkeiten mehr für mich. Dann habe ich eine Kriegsmaschinerie und Tausende von Leuten. Dann strömt auch das Geld herein.« »Und wie lange soll das alles dauern?« »Das spielt doch keine Rolle«, antwortete Purviance. »Ich kann mich immer noch vereisen lassen, während meine Anhänger die Einzelheiten des Planes für die Eroberung des Universums ausarbeiten.« »Na, eine große Drohung sind Sie dann nicht«, meinte Jolson. »Und ein Pazifist sind Sie auch nicht, sondern nur ein ganz und gar unwichtiger Spinner.« »Ich denke nicht daran, Sie zu widerlegen, Sir. Es ist viel zu schwierig, eine vernünftige Diskussion über große Themen zu führen, wenn man stranguliert wird.« »Rackstraw«, befahl Jolson, »wirf mir dein Strahlengewehr rüber, und dann fängst du sofort mit der Wiederbelebung der Gefangenen an.« »Schön«, antwortete der bärtige Rackstraw. »Ich komme mir wie ein Verräter an der Gruppe A vor, aber irgendwie spricht das meine morbide Seite an.« Er reichte Jolson die Waffe und ging. »Das wird eine Stunde dauern«, sagte Purviance. »Können wir nicht wieder ins Warme zurückkehren
und im Schaukelstuhl sitzen?« Jolson schob Purviance weg und legte das Gewehr auf ihn an. »Sie setzen sich auf den Boden. Und hier warten wir.« Purviance setzte sich. Der Boden war sehr kalt. Der Sand war fein und weiß, der Ozean von einem wundervollen weichen Blaugrün. Jennifer Hark hatte die Hände auf ihre schlanken Hüften gelegt. »Siehst du? Keine Aussicht auf Friedhöfe, Städte oder sogar Menschen.« Jolson lief barfuß zum Wasser hinab. »Dieser verdammte Purviance«, sagte er. »Jetzt ist er doch eingesperrt«, bemerkte das Mädchen. »Die Gruppe A ist fast völlig isoliert.« Jolson kniff die Augen zusammen und schaute in die Sonne. »Ich habe gehofft, daß er wirklich eine Möglichkeit sähe, die Kriege zu verhindern. Oder daß er das mindestens vorhätte.« »Das wird vermutlich niemals geschehen«, sagte Jennifer. »Ist auch nur wieder so ein Irrer«, stellte Jolson fest. Er ging ein paar Schritte weiter und folgte dem Wasserrand. »Ich bin ja sehr froh, daß du mich gerettet hast«, sagte Jennifer. »Und ich bin auch sehr froh, daß du noch ein paar Tage auf Esperanza bleiben willst, damit ich dir etwas zeigen kann.« »Solange ›Kopf‹ Mickens nichts dagegen hat.« »Und ich bin froh«, sagte sie und nahm seine Hand, »daß du Ben Jolson bist.« »Was?« »So wie du jetzt aussiehst. Jetzt bist du doch du
selbst, oder nicht?« Jolson hob die Hand und betastete sein Gesicht. »Vermutlich ja«, antwortete er und ging weiter.
Originaltitel: THE SWORD SWALLOWER Copyright © 1967 by Ron Goulart
Keith Roberts DIE EIS-HEXE In der großen Spaltenstadt Brershill gab es eine Frau, die für schön galt. Das war wenigstens die Meinung jener Schicht einer Gesellschaft von niedrigem Niveau, deren ungekrönte Königin sie war. Es gab jedoch auch einige, vorwiegend ältere Leute, die ihre Schönheit verabscheuten, weil ihr Ruhm eine Herausforderung für alle war, die sich eines bescheidenen, arbeitsamen Lebens befleißigten. Alte Gewohnheiten hielten sich lange in Brershill, der konservativsten, vielleicht sogar rückschrittlichsten oder zurückgebliebensten der acht Städte der Ebene, der unermeßlichen Eissteppe, die von den Menschen früherer Zeiten einmal Matto Grosso genannt worden war. Es stimmte: Coranda war eine Herausforderung und Beleidigung für viele. Schön war sie, das ließ sich nicht leugnen, aber sie war ebenso eitel und so kalt wie die Eisebenen, welche die Welt umgaben. In ihrer Eitelkeit hatte sie sogar das am höchsten geschätzte Opfer an die große Eismutter immer hinausgeschoben, das Erstblut, das der Göttin allein gehörte. Lange schon lag die Zeit der Pubertät hinter ihr, auch die Zeremonien der Weibschaft waren vollzogen und noch immer wartete die Eismutter auf ihr Opfer. In den Schneestürmen, die über der Spalte tosten, in den rasenden Winterwinden war ihre Klage zu hören; mit Drohungen und Versprechungen ließ sie das Blut in den Adern gefrieren. Alle Menschen wußten, daß ihr Leben allein von der Barmherzigkeit der Eis-
mutter abhing, daß eines Tages, vielleicht schon sehr bald, die Welt aufhören würde zu bestehen, daß sie für alle Ewigkeit in ihren glitzernden Eismantel gehüllt sein würde. Coranda, flüsterte man; Coranda halte ihrer aller Leben in ihrer hohlen Hand. Coranda hörte das Flüstern und lachte. Sie war erst zwanzig, groß, schlank und schwarzhaarig. Sie lag auf einer mit weißen Fellen bezogenen Couch, spielte mit einem Weinbecher und spöttelte über die jungen Männer aus den Städten, die ihr den Hof machten. Arand, dem Sohn des reichsten Kaufmanns aus Brershill, vertraute sie ihren Glauben an, daß sie die Auserwählte der Mutter sei und daher der Geringfügigkeit des Opfers nicht unterliege. »Denn«, sagte sie und glättete dabei ihr langes schwarzes Haar, »ist nicht die Mutter zu Recht berühmt für ihre Schönheit, für die Vollkommenheit ihrer Haut, die frischgefallenem Schnee gleichkommt? Für die Dunkelheit ihrer Augen, die alles sehen, die Schlankheit ihrer Hände, die uns alle führen? Und habe ich nicht« – sie warf ihren schönen Kopf zurück – »unter euch wenigstens den Ruf, hübsch zu sein?« Sie errötete und senkte bescheiden die Augen. »Ich weiß, die Ewige Mutter verbietet es, der Sünde des Hochmuts zu erliegen.« Arand war mehr als nur ein wenig betrunken und sprudelte die Versicherung ihrer Göttlichkeit heraus. Er sprach die häretischen Worte mit der Leichtigkeit langer Übung oder Dummheit, bis sie sich angewidert von ihm zurückzog und zornig darüber war, daß er in ihrer Gegenwart so leichtfertig von der Gottheit sprach.
»Wird nicht der Zorn der Mutter über mein Haupt ebenso kommen wie über das seine?« wandte sie sich klagend an Maitran von Friesgalt. »Willst du mich beschützen vor den Blitzen, die in den Stürmen fliegen? Vor den Blitzen, die von solchen Worten herbeibeschworen werden?« Das hatte sich Coranda schlau ausgedacht, denn jeder wußte, wie scheel die meisten Friesgaltaner auf das Volk von Brershill schauten. Sofort blitzte Maitrans Messerklinge, und sicher hätte er der Eismutter ein würdiges Opfer dargebracht, hätten nicht Brershills stämmige Burschen die Kämpfer festgehalten und entwaffnet. Sicher wurde auch einiges Blut vergossen, doch es rann aus getroffenen Nasen und angeschlagenen Mündern, während Coranda interessiert den ineinander verknäulten Haufen musterte. »Jetzt muß ich, glaube ich, meines Vaters Männer rufen, damit sie die Schuldigen bestrafen«, sagte sie. »Bedeute ich euch allen, die ihr hier in mein Haus kommt, so wenig, daß ihr immerzu miteinander kämpfen müßt?« Sie lief zum Gong, der neben der Kammertür hing, und hätte sicherlich auch einen unerbittlichen Wächter herbeigerufen, wären nicht alle mit dringenden Bitten und ernstlichen Versprechen auf sie eingedrungen. »Nun gut«, sagte sie und warf wieder ihren Kopf zurück. »Ihr scheint alle zuviel Mut zu haben und ganz gewiß viel zuviel Energie für meine Behaglichkeit und eure Sicherheit. Ich denke, man sollte sich eine kleine Beschäftigung für euch ausdenken, etwas, das eure Wildheit dämpft und euch ohne Zweifel auch eine ansprechende Belohnung verheißt.«
Nun schwiegen alle gespannt, denn sie hatte schon vorher angedeutet, daß die Heirat mit einem reichen und würdigen jungen Mann den Wünschen der Eismutter entsprechen würde. Mit einem Mal grübelte sie vor sich hin, strich sich nachdenklich über ihr Gewand, so daß der dünne Stoff die Wölbungen von Brüsten, Bauch und Schenkeln nachzeichnete. Mit gesenktem Blick kehrte sie zur Couch zurück. Sie machten ihr willig Platz, auch ein wenig unsicher und vorsichtig. Reich waren sie alle, denn keiner von ihnen hätte sonst die eisenbeschlagene Tür von ihres Vaters Haus durchschritten. Aber wer wurde als würdig angesehen? Würdig einer Coranda, deren Schönheit sicher nicht geringer war als die der Eismutter? Sie klatschte in die Hände; einer der Diener des Hauses in blauer Livree erschien und legte neben sie ein Kästchen. Es war aus Holz gemacht, der seltensten aller Substanzen, und mit Streifen aus Elfenbein und Knochen eingelegt. Mit einer trägen Bewegung öffnete sie es; innen lag auf einem gesteppten Kissen aus weißem Nylon eine dünne Harpune. Sie hob sie heraus, spielte ein wenig mit dem schlanken Schaft, und ihre Finger strichen zärtlich über die rasiermesserscharfen Haken. »Wer will sich selbst prüfen?« rief sie scheinbar in die Luft. »Wer will das annehmen, was der Mutter gebührt, wenn Coranda von Brershill zu heiraten gedenkt?« Sofort erhob sich ein Durcheinander von Stimmen. Karl Stromberg und Mard Lipsill von Abersgalt meldeten laut ihre Bereitschaft. Frey Skalter, den Keltshillaner, der in seinen juwelengeschmückten Pelzen
fast barbarisch aussah, gelang es, ihren Fuß zu küssen. Sie zog ihn geschickt zurück und trat ihm heftig gegen die Kehle. Skalter verlor das Gleichgewicht, fluchte heftig und spie Wein über den hellen Boden. Die anderen lachten. Scharf gebot sie ihnen Schweigen und hob erneut die kleine Harpune; unter halb geschlossenen, schwarz umrandeten Lidern und durch den dichten Schleier ihrer langen dunklen Wimpern musterte sie ihre Verehrer. Dann lehnte sie sich entspannt zurück und starrte, die Waffe noch immer in der Hand haltend, in das bläuliche Flackern der Deckenlichter. »Einmal, vor sehr langer Zeit«, begann sie, »wurde weit im Süden unseres Landes ein Walfänger vom Sturm von seinem Kurs geblasen. Als der Zorn der Eismutter verraucht war und sie mit dem Sonnenschein zugleich auch die Vögel wieder sandte konnte niemand feststellen, wohin ihr kalter Atem das Schiff verschlagen hatte. Es war da eine Ebene, eine weite, glatte Eisebene, mit Bergen an ihrem Rand, von denen einige rauchten. Und sie sagten, diese rauchenden Berge würfen Asche und heiße Winde in die Luft. Ein sehr merkwürdiger Ort war das in der Tat, und dort gab es, wie sie sagten, pelzige Barbaren und Tiere wie sie in den Märchenbüchern der Kinder geschildert werden und die noch viel seltsamer sind als Menschen je zu glauben vermochten. Dort jagten und töteten sie, bis all ihre Lagerräume voll waren und sie nach Norden segelten, wo ihre Heimat war. Und sie kehrten aus dem Land der merkwürdigsten Wunder zurück.« Es war so still, daß das leise Summen der ewigen Leuchtröhren laut klang. Skalter goß für sich noch
etwas Wein ein, und das tat er sorgfältig und ließ dabei die Augen nicht vom Gesicht des Mädchens. Arand und Maitran hörten auf, einander kriegerisch anzufunkeln. Stromberg wischte sich nachdenklich einen roten Spritzer von der Nase. »Im Halbdunkel der Dämmerung«, fuhr Coranda träumerisch fort, »in der grauen Zeit, wenn Männer und Schiffe nichts sind als nur Schatten ohne Gewicht und Substanz, begegnete ihnen das Schicksal, das die Eismutter ihnen schickte, um sie für ihre Untaten zu bestrafen. Es kreiste sie ein, springend, flackernd, lautlos wie Schnee und unheimlich wie der Tod selbst. Überall auf der ganzen Ebene, rund um ihr Schiff, als sie so dahinsegelten, waren Tiere. Sie rannten und bewegten sich spielerisch; ganze Herden und kleine Gruppen von Tieren, Bullen, Kälber und Kühe. Ihre Körper, sagten sie, waren grau und schlängelten sich wie die von Seehunden. Ihre Augen waren sehr schön und musterten klug das Schiff. Aber sie waren ohne Zweifel Geister von der Eismutter Hof, die sie geschickt hatte, zu warnen und zu zerstören, denn als sie so herumsprangen, sahen die Männer, daß sie nur ein Horn hatten, das sehr lang und gedreht war und das Licht fing und zurückwarf.« Sie wartete und schien ihre Zuhörer vergessen zu haben. Nach einiger Zeit brach Lipsill das Schweigen. »Coranda ... was war mit dem Schiff?« Sie hob die schönen Schultern und spielte noch immer mit den Widerhaken der Harpune. »Zwei Männer kehrten zurück. Ihre Gesichter waren schwarz verbrannt vom Atem der Eismutter und sahen wie Marmor aus. Ihre Hände waren zu ver-
schmorten Haken geworden. Sie lebten noch lange genug, um diese Geschichte zu erzählen.« Sie warteten. »Ein Mann, der mich liebt«, fuhr sie fort, »und der mich in seinem Bett haben möchte und sich dessen für würdig hält, würde ins Land der Schatten am Rand unserer Welt gehen. Und er würde mir ein Geschenk mitbringen, das von seiner Reise erzählt.« Nun machte sie die Augen groß und sah von einem zum anderen. »Einen Kopf ...« sagte sie leise. »Den Kopf eines Einhorns.« Wieder schwiegen sie, und dann ertönte ein wilder Schrei. »Eismutter, höre mich!« rief Skalter. »Ich werde das Spielzeug für dich holen ...« »Ich auch ...« »Und ich auch ...« Alle versuchten, sie auf sich aufmerksam zu machen. Sie winkte Skalter herbei. Er trat auf sie zu, fiel auf ein Knie und beugte sein zerklüftetes Gesicht über ihr glattes. Sie nahm seine Hand, hob sie, schloß die Finger sanft um die scharfe Spitze der Harpune. Sie starrte ihn groß an. »Du würdest wirklich gehen?« fragte sie. »Dann darf keine Weichheit in dir sein, Frey Skalter, keine Wankelmütigkeit des Geistes, kein Nachlassen des Mutes. Hart wie das Eis mußt du sein und ebenso erbarmungslos. Meinetwegen, allein meinetwegen.« Sie legte ihre Hand auf die seine, streichelte seine Finger und lächelte dazu ihr Katzenlächeln. »Du willst wirklich für mich gehen?« Er nickte, denn zu sprechen vermochte er nicht. Und langsam, ganz langsam und noch immer lä-
chelnd drückte ihre Hand auf die seine. Er verspannte sich, und sein Atem kam wie ein Zischen aus seinem Mund. Dann lief Blut an seinem Arm entlang und tropfte hell auf den Schaft der Waffe. »Mit diesem Zeichen bist du mein Mann«, sagte sie. »Und das sollt ihr alle sein. Die Eismutter wird in ihrer Barmherzigkeit entscheiden.« Der frühe Tag brannte über den Eisfeldern. Im Osten stieg die Sonne über die weiße, weite Ebene und warf rote Strahlen und meilenlange Schatten von den Booten und Männern. Darüber kämpfte die Dämmerung noch mit der Dunkelheit. Das brennende Rot verblaßte zu Violettgrau, das Grau wurde zu leuchtendem Blau. Hoch im Blau schwammen weiße Wolken, und der Zenit glühte wie die Haut des Türkisfisches. In der Ferne hob sich dunkel und wie gestochen der Mastwald des Docks vor dem hellen Horizont ab. Dort lagen die Schoner und die kleinen Boote der Kaufleute eng zusammengedrängt im Windschatten der langen, aus Eisblöcken errichteten Molen. Im Vordergrund prunkten die Yachten vor dem glühenden Himmel: Arands Chaser, Maitrans schlankes Auslegerboot Catamaran, Lipsills prächtiger Eisgeist. Karl Strombergs Schneeprinzessin zerrte ein wenig an den Tauen, als der Wind gegen ihren gewölbten Leib drückte. Hinter ihr lagen zwei gedrungene Boote aus Djobhabn und eines aus Fyorsgep, das einen eisernen Schnabel hatte und den düsterhumorigen Namen Blutbringer trug. Hinter ihm lag Skalters Easy Girl, ein wildes, großartiges Ding, das über und über dekoriert war mit Haarlocken, Skalps und struppigen Pelzstreifen. Ihre Zwillingsmasten wiesen eine originelle Verschnürung aus Nylonseilen
auf. Das ganze Schanzdeck war mit gebleichten Tierschädeln bedeckt, deren Augenhöhlen mit leuchtend bunter Seide gefüllt waren. Selbst die Kufen waren geschnitzt, und die Langrunen erzählten die geheimnisvolle Geschichte von der Begegnung der Eismutter mit dem Himmelsvater und der Geburt und dem Tod des Sohnes, dessen Name nicht genannt werden konnte. Das Leid der Mutter hatte die Eisfelder gezeugt; ihr Zorn sollte sich nicht beruhigen, bis die Erde, für immer ausgekühlt, zur Ruhe käme. Dreimal hatte sie sich schon genähert, und dreimal war sie von den Feuerriesen abgewiesen worden, die in den Höhlen unter dem Eis hausten. Aber man konnte ihre Existenz nicht ableugnen, und kommen würde sie einmal. Bald schon, und dann würde alles eine einzige Weiße und Stille sein. Dann erst würde der Sohn auferstehen, in Donnergrollen und Glorie, und über die Seelen der Menschen richten. Der Priester zog fröstelnd seinen pelzgefütterten Schal enger um sich und ging von einem Boot zum anderen, es segnend berührend. An den Bug eines jeden schmierte er ein wenig Blut und Milch. Der Wind fing sich im Takelwerk und zerrte an den Kleidern der dick vermummten Frauen, die zusahen; und das offene Haar flog ihnen ums Gesicht. Die Handlampen schwangen an ihren Pfosten und glühten vor den geflickten Rümpfen. Der Schatten des Priesters hüpfte umher wie der Schatten eines Vogels. Die Yachten zerrten an ihren Vertäuungen; die Wimpel flatterten, die Seile knarrten und die Kufen kratzten kreischend auf dem Eis. Die Schiffe waren vom Halbleben mechanischer Dinge erfüllt. Die Vorbereitungen waren
abgeschlossen, die Vorräte eingeladen, und dem Eis hatte man Blut und Samen geopfert, um es gnädig zu stimmen. Die Jäger brummten und stampften mit den Füßen, und sie schwangen die Arme in der scharfen Luft, weil sie ungeduldig und ein wenig unsicher waren. Einem jeden von ihnen schienen Corandas Augen Liebe zu versprechen und damit die Segnungen ihres schönen, schwellenden Körpers. Endlich war die Zeremonie vorüber. Der Priester zog sich in sein mit Seidenquasten geschmücktes Zelt zurück, und die Pfostenträger hoben ihre Lasten und trotteten über das Eis zurück. Die Boote wurden von dick vermummten Männern in den Wind gedreht, bis der scharf geschwungene Bug eines jeden nach Süden zeigte. Dann ein Schrei; Lipsills Boot war das erste, dessen Segel aufblähte. Das weiße bemalte Tuch blähte sich und knatterte um den Mast. Dann war Skalters etwas plump aussehender Catamaran, der Rahsegler, so weit, doch die Plumpheit täuschte. Ein scharfer Schnitt trennte das Tau, und Lipsill legte ab. Die Kufen kratzten dünne Furchen ins Eis und sprühten flaumfederigen Schnee auf. Nun folgte Stromberg vom fernen Ende der Reihe und querte seine Spur, als Skalter am Bug der Schneeprinzessin vorbeizog. Dann ein lautes Kommando, und der Keltshillaner kroch davon und entkam nur knapp einem Unglück. Er schüttelte die Faust, und Karl lachte. Dann tauchten die Boote in das Dämmerlicht des Morgens ein, schwangen aus und kreuzten, da jeder die Führung zu übernehmen versuchte. Wenn diese großartige Darbietung Coranda innerlich berührte, gab sie es nicht zu erkennen. Lächelnd stand sie da; kalt und amüsiert berechnete sie den
möglichen Ausgang dieses Wettkampfes, bis der Kältedunst des Horizonts sie verschluckte und die Schreie sich im Wind verloren. Den ganzen Tag hindurch bewegten sich die Yachten gleichmäßig voran, strebten unter der hohen, grellen Sonne dem Süden entgegen, und ihre Schatten liefen auf der weißen Glätte der Ebene neben oder hinter ihnen her. Der Rahsegler machte gute Fahrt. Gegen Abend war er rumpfunter, und seine Segel schimmerten als helle Funken am Horizont. Stromberg blieb der Schneeprinzessin knapp auf den Fersen. Hinter ihnen, jetzt weit auseinandergezogen, folgten die anderen. Die Kufen zischten über das Eis, die Lateinsegel blähten sich. Die Kälte biß mit nadelscharfen Zähnen. Schneekristalle stäubten im Wind und stachen in die Wangen, bis sie glühten und setzten sich in den dicken Pelzkrägen der Sturmjacken fest. Lipsill arbeitete sich seitlich voran; die Eisgeist bockte und stürmte weiter. Karl hob seine Hand und lachte seinem Freund zu, aber in diesem Moment schoß ihm der schauerliche Gedanke durch den Kopf, daß er eines Tages Corandas wegen Lipsill töten könnte – oder Lipsill ihn. Alle, bis auf Skalter, der Meilen vor ihnen lag, kampierten zusammen in stillschweigendem Einverständnis. Hier, weit entfernt von der ewigen Wärme der Spaltenstädte, mußten sie ihre Brennstoffvorräte schonen. Sie drängten sich um das rotglühende Öfchen, dessen Licht ihre Gesichter in roten Schein tauchte und weithin über das Eis leuchtete. Die im Halbkreis aufgestellten Yachten bewahrten sie mit ihren zerschrammten Rümpfen vor dem schlimmsten Wind. Außerhalb des Lichtkreises heulten die Wölfe
schauerlich nach Beute, im Lager herrschte Fröhlichkeit; Lieder und Geschichten machten die Runde, bis einer nach dem anderen einen letzten wärmenden Schluck aus der Flasche nahm, die Taue und Ankerhaken prüfte und sich zur Ruhe begab. Am nächsten Morgen waren sie früh auf den Beinen; ein jeder hoffte, der Easy Girl ein wenig näher zu kommen; es nützte nichts, denn Skalter lag immer noch weit vorn. Nach einer Stunde kamen sie an seinem Lager vorbei, und die Eisgeist zerquetschte die Reste seines Kohlenfeuers, die noch eine Weile auf dem Eis schwelten. Ein Gleiter durchschnitt auch das noch und sandte einen Funken- und Aschenregen in den Wind. Einmal sahen sie seine Segel im Wind, und dann verschwanden sie wieder hinter dem Vorhang aufgewirbelten Schnees. Sie näherten sich nun der breiten Spalte von Fyorsgep, weit im Süden der Städte der Ebene. Das glatte Eis war hier kreuz und quer von den Spuren zahlreicher Schiffe gezeichnet. Da sie vorsichtig waren, verkürzten sie die Segel, blieben in Rufweite und hängten Laternen in das Takelwerk. Dann richteten sie sich nach dem Kompaß und segelten bei Fakkellicht weiter, da sie keine Lust hatten, zu lagern und noch weiter hinter Skalter zurückzubleiben. Schneeprinzessin und Eisgeist lagen Seite an Seite in kaum einer Schiffslänge Entfernung. Es war Stromberg, der zuerst das schwache Donnern hinter ihnen hörte. Er lauschte, legte den Kopf schief und runzelte die dichten Brauen. Dann winkte er und deutete mit einem wuchtigen Arm nach hinten. Der Lärm kam erneut, ein dumpfes, unheildrohendes Hallen. Lipsill lachte und zog sein Boot noch
ein wenig näher heran. Karl schaute zurück und sah eine unglaublich riesige, spukhafte Erscheinung, doppelt unheimlich im Wabern der Fackeln, das den Vorhang aus aufgewirbeltem Eis und Kältedunst nicht zu durchdringen vermochte. Er sah den ausladenden Bugspriet, den riesigen Klüverbaum, die Höhlenaugen eines Landwalschädels; sie blieben vorsichtig auf Kurs, als das Schiff aufholte, hörten die Nebelgongs und das ratternde Dröhnen der Ausleger auf dem Eis. Nun konnte Stromberg auch die großen geschnitzten Buchstaben am Bug lesen; es war die Sweet Lady, ein Walschiff aus Friesgalt, sicher unterwegs zu den Ankerplätzen des Südens und vielleicht zu einem nächtlichen Gelage. Der Klüverbaum tauchte zwischen den Booten auf und zerrte an der Takelage, ehe sie gesehen wurden. Von oben kam ein entsetztes Heulen; Laternen wurden geschwenkt, und dunkle Gestalten tauchten an der Reling auf. Im letzten Moment öffneten die Yachten eine Gasse, und die Sweet Lady raste rumpelnd durch. Die langen Greifer der Eisanker kratzten an den Rümpfen. Sie sahen das von Fackeln erhellte Deck, das Feuer im Krähennest, die Takelage. Die l angen Schlitze der Bilgen, in denen sich die Ketten der paarweise angeordneten Anker bewegten, das trübe Licht, in dem das ganze Schiff glühte, ließen den Rumpf wie einen halb aufgeschnittenen Wall erscheinen. Ein letztes donnerndes Bellen erreichte sie, als die Sweet Lady in den grauen Dunst vor ihnen tauchte. »Diese Abersgalter-Bastarde ...« Der Skipper hatte also die großen Insignien an den Mastköpfen gesehen. Diese Lady war alles andere als süß ...
Das Nachtlager brachte beinahe neues Unheil. Maitram kam sehr spät und schlecht gelaunt herein, denn am Ausleger war eine Strebe geknickt und nur notdürftig mit einem Nylonseil umwickelt worden. Eine zufällige Bemerkung von Arand ließ ihn auf die Füße springen, und schon blitzte das Messer in seiner Hand. Mit der nach oben gereckten Messerspitze forderte er seinen Feind heraus. Arand war totenblaß geworden, stand auf und wickelte eine Bärenhaut um einen Unterarm. Eine schnelle Finte, ein blitzschneller Stoß, ein Zurückweichen; und Lipsill, der beim Feuer saß, sprach ruhig auf sie ein. »Der Preis, Friesgaltaner, steht auf dem Kopf des Einhorns. Unser Freund würde sich an Corandas Wand sicher recht gut ausnehmen, aber deine Energie würdest du nur nutzlos vertun.« Maitran zischte etwas zwischen den Zähnen und wagte nicht, sich umzusehen. »Auf jeden Fall riskierst du den Zorn der Eismutter«, fuhr der Abergaltaner fort und griff hinter sich in seinen Pack. »Denn wenn unsere Lady tatsächlich ihr Diener ist, dann ist diese Jagd eindeutig ihr Plan und soll ihr Glorie bringen. Alles andere ist Eitelkeit, eine Beleidigung ihrer Majestät.« Hansan, der Mann aus Fyorsgep, dunkelgesichtig und schwarzhaarig, nickte düster. »Das ist wahr«, sagte er. »Blutvergießen bringt keine Ehre, wenn es gegen den Willen der Mutter ist.« Nun wurde Maitran unsicher, und Lipsills Arm schwang nach oben und zurück. Der Harpunenkopf, mit sicherer Kraft geschleudert, riß ihm die Wange auf. In einem Gewirr aus Armen und Beinen ging er zu Boden, und sofort war Stromberg über ihm, hielt
ihn fest; Lipsill wandte sich, das Messer in der Hand, zu Arand um. »Aber, aber, Breshillaner«, sagte er sanft, denn der andere hätte sich, in Wut gebracht, sicher auf seinen Feind geworfen und Rache an ihm geübt. »Nichts mehr von diesem Unsinn, oder du wirst dich vor uns allen zu verantworten haben.« Arand steckte seinen Dolch ein; er war sichtlich erschüttert, und seine Blicke ließen das Gesicht des Friesgaltaners nicht los. Maitran durfte nun aufstehen. Und Lipsill sah ihn scharf an. »Das war sehr schlecht«, sagte er. »Unser Kampf gilt dem Wind und dem unendlichen Eis, nicht den Kameraden. Nimm dein Boot und halte dich von uns fern.« In Strombergs Geist formte sich der erste Zweifel. Am nächsten Morgen kamen sie gut voran. Sie hofften darauf, etwas von Skalters Yacht zu sehen. Aber der Wind hatte die ganze Nacht hindurch gerast und seine Spuren mit frischem Schnee unkenntlich gemacht. Das Eis erstreckt sich weiß, ungezeichnet und schimmernd bis zum Horizont. Jetzt hatten sie die äußersten Grenzen der Zivilisation hinter sich gelassen, die riesigen südlichen Eisflächen, auf denen die Walherden trieben und die Jäger sie verfolgten. Hier und da gab es warme Teiche, die mit bräunlichem und grünem Tang angefüllt waren. Sie sahen Tiere wie Wolf und Otter, einmal auch eine Herde struppiger weißer Bisons von den Ebenen. Aber von dem geisterhaften Wesen, das sie suchten, entdeckten sie nichts. Das plumpe Auslegerboot zog den anderen voran; der Friesgaltaner war zornig und ungestüm und segelte so nahe an Stromberg dahin, daß dieser, einge-
denk der gesplitterten Strebe, ein stilles Gebet zum Himmel sandte. Maitrans Glück hielt bis zum Mittag an; dann brach die Verstrebung ganz entzwei, plötzlich und ohne jede Warnung. Alle sahen, wie das Boot vom Kurs abkam. Es brach aus und schlitterte über das Eis. Für einen Augenblick schien es, als komme das Schiff ohne weiteren Schaden wieder zur Ruhe; dann brachen nacheinander die überbeanspruchten Elfenbeinbrassen, und das Boot fiel auseinander. Ein Teil des Rumpfes überschlug sich und verstreute Bruchstücke und Splitter, der andere Teil drehte sich, behindert vom fallenden Mast mit den Segeln, um sich selbst, und Maitran wurde in hohem Bogen auf das Eis geschleudert. Sofort war er wieder auf den Beinen, schien unverletzt zu sein, rannte und winkte den anderen zu, sie sollten sich schnell entfernen. In Arands Seele brannte noch der Haß. Er wußte, wie sie alle gewußt hatten, daß er in einem Kampf kein gleichwertiger Gegner für den Friesgaltaner war. Maitran hätte ihn gestochen und geschnitten, bis er am Boden lag und sein Leben auf dem Eis stöhnend verröchelte. In der Nacht vorher hatten sie ihn gerettet, doch er hatte seine Ehre verloren. Jetzt überfiel ihn die Wut und führte seine Hände, bis sie aus sich selbst heraus zu leben schienen. Heftig schwang er die Ruderpinne herum; die Chaser schwankte, raste dem Wrack entgegen. Maitran schrie auf. Im letzten Moment schien ihm klar zu werden, daß der andere nicht abdrehen würde. Er versuchte zu rennen. Er verfing sich mit einem Fuß, und er stürzte auf das Eis. Ein dumpfer Aufprall, ein Splittern am Bug der Chaser, und sie war am Wrack vorüber; sie gierte aus, als
sie den Körper mitschleifte. Nach fünfzig Yards kam sie mit flatternden Segeln zum Stehen. Von der Kufe lief eine schwache, unregelmäßige Spur zurück; ihr Deck war bespritzt mit dem roten Blut des Friesgaltaners. Die anderen sammelten sich. Stromberg und die Djobhabnaner waren wie vor den Kopf geschlagen; Arand sah bleich aus und murmelte ständig etwas vor sich hin. Leben war nicht mehr in Maitran, und sie konnten nichts mehr tun. Schweigend machten sie über ihm das Zeichen der Eismutter und wandten sich bedrückt ab. Die Leiche mußten sie für ihre Diener, die Vögel, zurücklassen. Später am gleichen Tag wurden sie ein wenig aufgeheitert, als sie weit voraus im Süden Skalters Segel schimmern sahen. Aber das Lager wurde eine recht düstere Angelegenheit. Sie ankerten in einiger Entfernung voneinander, und jeder saß an seinem eigenen Feuer. Stromberg glaubte, daß sein ganzes vergangenes Leben nichts galt; alle wurden sie von den Regeln des Eises beherrscht, von jenem Gesetz, das Männer töten oder getötet werden läßt, egal wie. Er erinnerte sich seiner Jahre der Freundschaft mit Lipsill, einer Freundschaft, die jetzt zu Ende gegangen zu sein schien. Nach all dem, was er am Morgen gesehen hatte, würde er Mard niemals mehr zu trauen wagen. In der Nacht versuchte er, sich Corandas warmen, schönen Körper vorzustellen, aber das Bild der Hexe entzog sich ihm. Er fiel in einen unruhigen Schlaf und träumte, er sähe die Höhlen der Feuerriesen tief unter dem Eis. Aber dort gab es keine glühenden Götter und Dämonen, nur riesige, schwarze Maschinen, die summten und von Kraft und Macht sangen. Diese Vi-
sion verstörte ihn. Im halben Dämmerlicht schnitt er sich eine Wunde in den Arm, um mit seinem Blut die Mutter zu besänftigen. Aber ihm schien, sie wende ihm trotzdem den Rücken zu. Der Morgen war grau und kalt und ohne Freude und Behagen. Er trank etwas, um das Leben in seine Glieder zurückzuholen, brachte sein Schiff in Ordnung und fuhr hinter Lipsill her, als dieser sie weiter über die riesige Ebene führte. Allmählich veränderte sich nun das Aussehen des Landes, über das sie segelten. Die warmen Teiche wurden zahlreicher. Oft hing über ihnen dicker Nebel. Manchmal schlitterte die Schneeprinzessin nun durch Wasser, und von ihren Kufen stiegen links und rechts glitzernde Fontänen auf. Beim Frühstück waren die Djobhabnaner ziemlich schweigsam gewesen; sie hatten sich von den anderen ferngehalten und miteinander gemurmelt. Jetzt zogen sie von den anderen weg. Der Abstand zwischen ihnen und den anderen vergrößerte sich schnell; bald waren sie nur noch graue Schatten auf dem Eis, und als der Abend anbrach, waren sie außer Sicht. Die vier Boote rasten weiter durch eine wirbelnde Dampfsee. Lange Streifen klaren Wassers drohten zu beiden Seiten; sie rutschten und schwankten und entgingen wiederholt dem Unheil nur um Kufenbreite. Stromberg lag rechts außen, neben ihm der Fyorsgepaner, dann Lipsill; hinter der Eisgeist blähten sich Arands Segel, nur schemenhaft erkennbar durch den ziehenden Nebel. Keines der Boote wollte zurückfallen oder gar aufgeben. Karl klammerte sich an die Ruderspinne und spürte das Rattern der Kufen. Dieses Rattern erschien ihm als Vorbote nahenden Unheils.
Als die Dämmerung anbrach, zeigte sich voraus eine lange Strecke offenen Wassers. Er änderte den Kurs. Dann drehte er sich nach einer Bewegung an seiner linken Seite um. Blutbringer war zurückgefallen. Ihr dunkler Rumpf versperrte ihm nicht mehr die Sicht. Mard hielt noch seinen Kurs, und die Chaser lief parallel zu ihm auf das Wasser zu. Nun begriff Stromberg Lipsills Absicht; er schrie, sah, wie Arand verzweifelt abzudrehen versuchte. Es war zu spät; hinter ihm, nur eine Schiffslänge entfernt, ragte des Fyorsgepianers eiserne Ramme heraus. In einem letzten Versuch, dem Hindernis zu entkommen, drehte sich die Yacht; Kufen knirschten, Verstrebungen splitterten; einen Moment lang schien sie hoch über dem Golf zu stehen, dann schlug sie mit einem donnernden Krach auf dem Wasser auf. Sie versank fast sofort, denn durch den Aufprall war der Rumpf aufgerissen worden. Bleich und rund war die Bilge noch zu sehen, dann war sie verschwunden. Der Rest war ein wirbelnder Sog, an dessen Rand ein paar Trümmer schaukelten. Einmal tauchte Arand noch auf, winkte verzweifelt und verschwand wieder. Die Sonne sank hinter den Eisrand, und sie warf meilenlange Schatten der Schiffe, die wie Unheilsvögel aussahen. Im kurzen Zwielicht holten sie die Easy Girl ein. Skalter hing in der Takelage, scherte langsam eine Falleine ein, winkte und rief ihnen zu, als sie an ihm vorüberzogen. Alle drei Boote kehrten um, Stromberg und Lipsill in einer kurzen Wende, Hansan in einem weiten Bogen, der ihn mit flappenden Segeln hundert Yards weiter zum Stehen brachte. Die Eisanker wurden her-
abgelassen, und als sie sicher griffen, sprangen die Männer auf das Eis und schritten voll stoischer Ruhe zum Schiff des Keltshillaners. Er begrüßte sie fröhlich und schwang sich vom hohen Mast herab auf Deck. »Na, ihr tüchtigen Segler, wo sind eure Freunde?« fragte er. »Fraskall und Ulsenn sind umgekehrt«, antwortete Lipsill kurz. »Maitran und Arand sind tot. Maitran starb von Arands Händen, Arand in einem Eisbruch.« Er schaute Stromberg herausfordernd an. »Es war der Wille der Mutter, Karl. Sie hätte ihn an Land treiben lassen können. Sie wollte es nicht.« Stromberg antwortete darauf nicht. »Nun«, sagte Skalter leichthin, »die Mutter war mit ihren Anhängern immer sehr streng. So möge es bleiben.« Er machte das Zeichen des Segens; ein wenig nachlässig beschrieb er mit der Handfläche einen Kreis auf dem Eis. Dann strich er mit den Fingern durch sein wildes blondes Haar und lachte. »Heute werdet ihr an meinem Feuer sitzen, Abersgaltaner; auch du, Hansan aus Fyorsgep. Morgen? Wer weiß? Morgen erreichen wir vielleicht den Hof der Mutter und segeln ins Märchenland.« Sie scharten sich um das Feuer, aber sie schwiegen, da ein jeder mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt war. Skalter schärfte methodisch die Widerhaken einer Harpune, probierte die Kanten an seinem Daumen aus, und sein narbiges Gesicht wirkte sehr nachdenklich im roten Licht des Feuers. Endlich sah er auf, ein wenig düster, ein bißchen fragend; seine Ohrringe baumelten und glitzerten, wenn sich sein Kopf bewegte. »Mir scheint, die Mutter läßt uns auf besondere Art wissen, welche Wahl
sie getroffen hat. Arand und Maitran waren beide Narren – gewissermaßen wenigstens, und beide taugten ganz sicher nicht für das Bett der Dame, der wir dienen. Die Djobhabnaner aber sind schwachherzig. Jetzt sind wir noch vier. Wer unter uns wird wohl den strahlenden Preis gewinnen?« Stromberg gab einen kehligen Laut von sich, der vom dicken, vorgehaltenen Handschuh gedämpft wurde. Skalter musterte ihn eindringlich. »Hast du etwas gesagt, Abersgaltaner?« »Er meint, wir hätten Arand ermordet«, sagte Lipsill brummig. »Nachdem er seinerseits Maitran getötet hatte.« Der Keltshillaner lachte laut und wild. »Seit wann war Mitleid so wichtig? Mitleid oder ein Vorwurf? Freunde, wir sind zum Ewigen Eis unterwegs, zur Kälte, die sich noch steigern wird und uns vielleicht besiegt, die uns allen in die Knochen geht. Ist nicht alle menschliche Anstrengung vergebens, alles Leben dazu verdammt, einmal zu Ende zu gehen? Ich sage euch, Corandas Blut, dieser strahlende Preis und ihre geheime Süße sind nur eine Schneeflocke im ewigen Wind. Ich bin der Eismutter Diener, durch mich spricht sie. Wir wollen nicht mehr reden von Schuld und Weichheit. Es dreht mir den Magen um, davon zu hören.« Die Harpune sauste, mit unbändiger Kraft geschleudert, plötzlich durch die Luft und stand zitternd zwischen ihnen da, ins Eis verkrallt. »Eis ist die Wirklichkeit!« schrie Skalter und sprang auf. »Eis und Blut. Alles andere ist Illusion, Spielzeug für Schwächlinge und Narren.« Seine Ohrringe klirrten leise, als er in die Dunkel-
heit davonstapfte. Die anderen kehrten wenig später zu ihren Booten zurück. Stromberg lag da und warf sich auf seinem Lager herum, bis die frühe Dämmerung perlfarbene Streifen an den Himmel malte und die Vögel riefen, die nach dem Süden unterwegs waren. Am südlichen Rand fiel das Plateau sanft ab. Die Yachten machten gute Fahrt, und ihre Kufen zogen zischend und sirrend über durchscheinendes Eis und unzählige trügerische Spalten, und der Wind, der noch immer von achtern blies, füllte die Segel. Für die, welche zurückkehren würden, standen schwere Tage bevor. Falls überhaupt jemand zurückkehrte; denn Stromberg hegte nun ehrliche Zweifel, und mit jedem Tag und jeder Stunde wurden sie größer. Ihm war, als habe Wahnsinn sie alle ergriffen, der sie immer tiefer in unbekanntes Land zog. Die Zone der warmen Teiche lag nun schon weit zurück, und vor ihnen wuchsen unter einer blassen Sonne die Schatten. Es gab Berge, die Feuer spien, wie die Sage erzählte. Und es gab breite, merkwürdig geformte Risse und Spalten, zerklüftete Plateaus deren Eiskanten im harten weißen Winterlicht wie Kristall funkelten. Aber Skalter führte sie an. Die Glöckchen an seinen Masten klingelten und klirrten, und seine barbarischen Segel blähten sich majestätisch. Stur blieben sie auf Kurs. Die Schatten hielten Schritt mit ihnen, während sie nach Süden rasten. Am Fuß des langen Abhanges trennten sie sich vom Fyorsgepaner. Er hatte eine Gegebenheit des Geländes ausgenützt und lag nun mit seinem Blutbringer mehrere hundert Yards vor den anderen. Sie sahen, wie das Boot einen Satz tat. Der glatte Hang
endete in zerrissenem Gelände, das von zahlreichen mannshohen Rippen durchzogen war. Hansans Kufen wurden von der ersten Rippe völlig vom Rumpf gerissen. Dieser Unfall hatte etwas Tragikomisches an sich. Das Schanzdeck splitterte, der Mast lockerte sich und drehte sich vor dem Himmel wie eine übergroße Harpune. Der Fyorsgepaner, festgehalten von einem Schulterharnisch, blieb an seinem Platz, während das Boot um ihn herum wie ein leichtes Kinderspielzeug auseinanderfiel. Die Trümmer kreisten mit großer Geschwindigkeit, bis sie in einem Eisschauer zur Ruhe kamen. Die Überlebenden wichen taumelnd dem Wrack aus. Hansan schüttelte noch halb betäubt den Kopf und schaute dem Segel nach, das mit dem Rest der Schiffsleiche davonjagte und bald nur noch ein winziger Punkt war der sich schnell auf dem graugrünen Eisbruch verlor. Im Wrack waren noch Lebensmittel. Der Fyorsgepaner würde leben oder sterben, wie die Eismutter es wünschte. Zum erstenmal in jener Nacht war der Horizont um ihr Lager von Hügeln und Tälern durchbrochen. Das noch immer eisige Land wurde wellig. Es gab versteckte Klippen, Spalten, Rinnen und Löcher, in denen Wasser gurgelte und plätscherte. Es war ein spukhaftes, gefährliches und schönes Land. Sie hatten auch fremdartige Tiere gesehen, nicht aber das geringste Zeichen, das auf Barbaren oder die Tiere wies, die sie suchten. Zur Zeit der Dämmerung sprach Stromberg wieder mit Skalter, während sich Lipsill an der Takelage seines Bootes zu schaffen machte. Ihn schien etwas Zwingendes anzutreiben; alles, die Berge ebenso wie der Himmel, hatte sich verschworen, ihm das Blut zu
wärmen. »Mir scheint«, sagte er ruhig, »wir sollten besser umkehren.« Nachdenklich stand der Keltshillaner da und wärmte sich die Hände am Kohlenöfchen. Er musterte den niedrigen Himmel, schnupperte in den Wind. Er gab einen Laut von sich, der ein Husten, aber auch ein Lachen sein konnte, aber er wendete sein Boot nicht. Stromberg berührte einen Schädel unter dem Bug der Easy Girl, strich über die vom Wind geglätteten Augenhöhlen und wußte nicht, was er tun sollte. »Vergangene Nacht träumte ich«, sagte er. »Mir schien, wie es schon früher geschienen hatte, daß die Riesen keine Götter, sondern Menschen seien und wir ihre Kinder. Daß wir belogen wurden, die Große Mutter sei tot. Eine solche Häresie sollte eine Warnung sein.« Skalter lachte wieder, spuckte auf die glühenden Kohlen und rieb sich die mit breiten Kupferringen besteckten Arme. »Du hast von Liebe geträumt«, sagte er. »Du hast deine Pelze genäßt mit heißen Gedanken an Coranda. Betrogen bist du, Lipsgaltaner. Zügle deine Phantasie.« »Skalter«, warnte Karl ein wenig unsicher, »der Preis ist hoch. Viel zu hoch für eine Frau.« Zum erstenmal wandte sich ihm der andere nun voll zu, und seine blaßfarbenen Augen glühten dunkel im scharfgeschnittenen Gesicht. Stromberg redete schnell weiter. »Mein Leben lang schien es mir, als seiest du nicht wie andere Männer. Und jetzt sage ich, hier riecht es nach Tod. Nach Tod vielleicht für uns alle. Frey, kehre um. Der Preis ist viel geringer als dein Wert.«
Der andere musterte den starken Rumpf seines Schiffes und streichelte mit schwieliger Hand über das Schanzdeck, um die seidige Glätte des Elfenbeins zu fühlen. »Der Preis der Geburt ist der Tod«, antwortete er düster. »Auch das ist eine riesige Summe, die bezahlt werden muß.« »Was treibt dich an, Skalter?« fragte Stromberg leise. »Wenn doch die Frau so wenig gilt? Warum strebst du voran, wenn das Leben so zwecklos ist?« »Ich tue das, was mir zu tun aufgegeben ist«, erwiderte Skalter kurz. Er griff fester um den Bootsrand und sprang. Die Kufen der Easy Girl kreischten auf dem Eis, als er sich hinaufschwang. »Mich treibt die Wut«, sagte er von oben herab. »Wisse das, Karl Stromberg von Abersgalt: daß es Skalter von Kelshill nach dem Tod gelüstet. Wenn er stirbt, stirbt mit ihm der Tod.« Er klatschte die Falleinen gegen den Achtermast und löste damit einen Eisschauer aus. »Ich habe auch geträumt«, fuhr er fort. »Mein Traum war der eines süßen und reichen Lebens. Ich folge der Mutter. In ihr werde ich meinen Lohn finden.« Er wollte nichts weiter mehr sagen, sondern stapfte vorwärts und bückte sich, um die langen Seile in Schlingen zu legen. An jenem Morgen sichteten sie ihre Beute. Erst vermochte Stromberg gar nicht daran zu glauben; aber dann sah er sich doch gezwungen, seinen Augen zu trauen. Die Einhörner spielten und tanzten, und das Sonnenlicht fing sich an ihren Flanken, und die Hörner schienen glühende Lichter zu sprühen. Er hätte ihnen den ganzen Tag folgen, sie beobachten und über sie nachdenken mögen. Aber Skalters hoher Schrei rief ihn zum Kurswechsel, als die Easy Girl ei-
nem mutierten Narwal entgegeneilte. Schon schwang der Keltshillaner seine lange Harpune und schüttelte die Seilschlingen aus, als er mit gesperrtem Ruder der Herde entgegenflog. Es war so, wie die Sagen berichtet hatten; die Kreaturen umrundeten die Boote, sie rannten und sprangen und beobachteten sie mit ihren schönen, ruhigen Augen. Auch Lipsill links von Karl schien wie betäubt zu sein. Skalter stemmte die Füße auf Deck ein, spannte die Muskeln und ließ den Schaft durch die Luft zischen. Er hatte gut gezielt; die Harpune traf einen großen grauen Bullen, und die Haken sanken tief in den dicken Pelz. Sofort entstand große Verwirrung. Das verwundete Tier bäumte sich schnaubend auf und griff an. Die Easy Girl trieb vom Kurs ab, und der Keltshillaner zerrte verzweifelt am Seil. Boot und Tier prallten in einer Schneewolke aufeinander. Der Narwal tat einen Satz und zerrte die Yacht mit sich. Karl sah die Eisfedern fliegen, als die Anker fielen und sich in das Eis bissen. Panik brach in der Herde aus, die rennend und springend in der Ferne verschwand. Die Schneeprinzessin, die noch immer gute Fahrt machte, durchschnitt um ein Haar die Harpunenleinen, als Stromberg klarzukommen versuchte. Er sah einmal kurz Skalter auf dem Eis, das Blitzen eines Entermessers als die Kreatur einen Satz tat, um ihren Peiniger mit dem riesigen Horn aufzuspießen. Er schwang die Ruderpinne herum; die Schneeprinzessin beschrieb mit quietschenden Kufen eine Kreis und kam fünfzig Meter vom Kampfplatz entfernt zum Stehen. Die Eisgeist hatte schon gestoppt, und Lipsill rannte mit dem Entermesser in der Hand. Karl hörte Skalter brüllen,
in Triumph oder Schmerz. Er ließ die Anker fallen und griff nach seinem eigenen Schwert. Dann rannte er über das Eis zur Easy Girl und hörte nun das wütende Trompeten des Bullen. Das riesige Tier hatte den Keltshillaner an die Bootsflanke gespießt. Er sah den mächtigen Kopf, der das Horn immer tiefer in das Fleisch trieb. Die Yacht schwankte heftig unter der ungeheuren Kraft und Wut des Tieres. Das schnarrende Keuchen des Narwals war sehr laut. Dann hatte sich die Kreatur mit einer letzten Anstrengung losgerissen und brüllte hinter der verschwundenen Herde drein. Es gab viel Blut auf dem Eis und der Schiffsflanke. Skalter hockte blaß und stöhnend da und preßte die Hände auf den Bauch. Zwischen seinen Fingern quoll Blut heraus, das in der Sonne rubinrot leuchtete. Die Sehnen an seinem Hals traten wie Seile hervor. Seine weißen Zähne blitzten, als sein Kopf vor Schmerz rollte. Lipsill war im nächsten Moment bei ihm. Man versuchte vergeblich, die Hände von seinem Magen zu ziehen. Skalter hatte die Augen geschlossen, doch er stemmte sich gegen sie. Sein Atem pfiff zwischen den zusammengebissenen Zähnen. »Ich habe gesagt, ich hätte geträumt.« Jedes einzelne Wort klang gequält und schwer von unendlicher Pein. »Ich sah die Mutter. Sie kam in der Nacht und schmeichelte mir. Ihre Glieder waren weiß wie Schnee und heiß wie Feuer. Es war ein Omen. Aber ich verstand es nicht zu deuten ...« Sein Kopf sank ihm auf die Brust. Er stöhnte vor Anstrengung. Nun konnten sie die Hände von seinem Magen nehmen, die seifig waren von seinem Blut. Sie fühlten seinen
letzten, starken Griff und sahen, wie seine Augen unter den Lidern rollten. Krämpfe schüttelten ihn. Sie dachten schon, nun sei er tot, doch er sprach noch einmal. »Blut und Eis«, flüsterte er angestrengt. »Die sind wirklich. Das sind die Worte der Mutter. Wenn die Welt dunkel ist, wird sie zu mir kommen ...« Sein Leib bäumte sich auf. Lipsill griff in das gelbe Haar. »Die Mutter holt dich, Skalter«, sagte er. »Sie belohnt ihre treuen Diener.« Sie warteten, aber es kam nichts mehr. Schweigend verankerten sie ihre Boote und kehrten an den Unglücksplatz zurück. Das Blut war zu Eis gefroren, das in rosafarbenen Kristallen unter der niedrigen Sonne funkelte. »Er war ein großer Prinz«, sagte Lipsill schließlich. »Der Rest ist Kleinheit. Er sollte sich nicht zwischen uns stellen.« Stromberg nickte. Mit Worten vermochte er nicht zu antworten. Dann begannen sie zu arbeiten. Sie zerbrachen die Easy Girl, zerschlugen Schanzkleid und Kufen, zerhackten ihr Gerüst und die Elfenbeinstreben, damit ihr Geist frei wurde, um sich mit Skalters Geist vereinen zu können, der schon über das Ewige Eis schweifte. Zwei Tage lang arbeiteten sie und türmten einen Berg aus Eis über dem Wrack auf. Skalter legten sie auf das Deck, und seine Füße zeigten nach Norden zur Domäne der Mutter. So konnte er, wenn der letzte Morgen dämmerte, aufspringen und sich ihr stellen, ein getreuer Diener und Krieger. Als sie fertig waren und der Wind über den schimmernden Eisberg raste, ruhten sie aus. Am dritten Morgen fuhren sie weiter nach Süden. Sie sprachen nicht, segelten verbittert und weit
auseinandergezogen im endlosen Wirbeln des Schnees dem fernen Horizont entgegen. Zwei Tage später sichteten sie ihre Beute erneut. Die beiden Boote scherten noch weiter aus, und wieder schauten ihnen die merkwürdigen Tiere mit ihren sanften Augen entgegen. Die Schäfte der Harpunen schimmerten. Die von Lipsill klirrte über das Eis, die Strombergs verfehlte den Bullen, für den sie gedacht war, und traf ein Kalb in die Seite. Das Tier wand sich heulend in betäubender Qual. Die Herde ging, wie beim erstenmal, durch. Die Schneeprinzessin drehte sich um sich selbst, als die erschreckte Kreatur sich loszureißen versuchte; sie bäumte sich auf und jagte mit dem Schiff im Schlepptau über die Ebene davon. Das Kalb hatte nur etwa die halbe Länge der erwachsenen Tiere, war aber noch immer so lang wie das ganze Boot. Stromberg klammerte sich an die Ruderspinne, als die Schneeprinzessin hüpfte und schleifte, denn er war entschlossen, Skalters Fehler, auf das Eis zu springen, nicht zu wiederholen. Eine Meile weiter kam die Harpune klar, doch das Tier war erschöpft. Eine zweite Harpune nagelte das Tier am Eis fest. Es zitterte in gewaltigen Krämpfen, und die Yacht war ganz mit Blut bespritzt. Die Schneeprinzessin flog erneut dahin, und die Ankerhaken kratzten über das Eis. Das Tier bäumte sich auf und schrie und versuchte mit den Halbflossen das peinigende Ding von seinem Rücken zu streifen. Aber es wickelte dabei nur die Leine um sich. Schließlich stand es nahe am Boot und schaute es mit verständnislosen, sich allmählich verschleiernden Augen an. Es war nahe genug, und Stromberg
brauchte nur das Messer in die Flanke zu stoßen, um sein Leben auszulöschen. Das Tier gab einen jammernden, fast menschlichen Laut von sich, brach zusammen, rülpste und spie gewaltige Mengen Blut und Tang aus. Dicke klebrige Tränen liefen aus seinen Augen und rannen langsam über das große runde Gesicht. Karl stand zitternd und keuchend dabei und wußte, daß nun kein Schwert mehr nötig war. Die Anker der Eisgeist kreischten; sie pflügten einen breiten Streifen in das Eis und sandten sprühende Arkaden aus Eisbrocken und Schnee nach beiden Seiten, doch ihr Tempo war kaum geringer geworden. Sie hatte einen riesigen Bullen harpuniert. Neben der stehenden Schneeprinzessin legten sich Boot und Tier auf die Seite. Stromberg kappte die Leinen und ließ die bunten Harpunenwimpel über dem gewaltigen Tier flattern. In der nächsten halben Stunde schien es manchmal, als könne er Lipsill überholen; aber immer zog das andere Boot wieder davon. Der Narwal ließ eine dikke Blutspur zurück, doch seine Energie schien kaum nachzulassen. Donnernd knallte immer wieder die Leine auf das Eis. Das Gelände vor ihm war sehr zerklüftet. Weite Spalten gähnten, und die Sonne funkelte in den grünen, eisigen Wänden. Die Schneeprinzessin holperte dahin, und krachend schlugen die Kufen nach jedem Hindernis auf. Die Jagd führte sie nun in einem weitgezogenen Bogen nach Osten. Der Wind, erst querab, griff immer weiter voraus. Stromberg fiel schließlich zurück; eine halbe Meile trennte die Boote als sie ein weites Tal erreichten, das wie eine Schüssel geformt war, mehr als eine Meile Durchmesser hatte und zu beiden Seiten von nadelscharfen
Eistürmen bewacht wurde. Vorne formte sich der glitzernde Grund zu einer runden Lippe. Die Horizontlinie zeichnete sich scharf vor dem Himmel ab. Die Eisgeist, noch immer mit ihrer Beute im Schlepptau, nahm den Hang mit kaum nachlassender Geschwindigkeit. Stromberg brüllte eine Warnung, doch umsonst. Lipsill schien an der Ruderpinne festgefroren zu sein und machte keinen Versuch, die Leine zu kappen. Das Boot raste den Hang hinauf, hing einen Moment lang wie eine dunkle Silhouette vor dem strahlenden Licht und verschwand dann abrupt wie durch einen Zaubertrick. Die Anker der Schneeprinzessin warfen die Schneefedern bis zur Mastspitze hinauf. Schwankend kam sie zwanzig Meter vor dem Rand der Eislippe zum Stehen. Stromberg ging vorsichtig weiter. Als er den Kamm erreichte, ließ ihn der Anblick den Atem anhalten. Er stand am Rand der riesigsten Spalte, die er je gesehen hatte. Links und rechts von ihm bog sie sich zur Hufeisenform zurück und schloß das Tal wie eine weiße Zunge ein. Hundert Meter weiter glühte der gegenüberliegende Rand in der Sonne, und darüber lag der zerrissene Schatten der diesseitigen Wand. Er beugte sich ein wenig vorwärts. Unter ihm verschwanden die Eismauern in düsterem, unheimlichem Blaugrün. Dort unten war Nebel, und der Lärm tosenden Wassers drang herauf. Und weit unten, aufgespießt auf einem schwarzen Eispfahl, sah er das Wrack von Lipsills Boot. Mard wurde noch von seinem Harnisch festgehalten und lag quer über dem Heck. Sein Gesicht leuchtete vom Blut. Er bewegte
sich ein wenig, als Stromberg hinabschaute, und er schien sich aufrichten zu wollen. Er hob eine Hand. Karl wandte sich ab. Er war krank vor ohnmächtigem Schmerz. Da wußte er, daß er gewonnen hatte. Er kehrte zur Schneeprinzessin zurück, doch er ließ den Kopf hängen, und seine Füße schlurften über das Eis. Er schwang sich auf sein Schiff, öffnete die Bugtruhe und warf Geräte und Vorräte auf Deck. Dort hatte er Seile und eine Winde. Er wählte das dickste, beste Seil aus, verknotete es und befestigte es am Heck des Bootes. Mit dem Seil ging er zum Golf zurück und ließ es hinab. Das Seilende pendelte einen Meter über Lipsills Kopf. Wieder ging er zur Schneeprinzessin zurück. Sie stand mit ein wenig Schlagseite quer zum Hang. Er wählte die beste, kräftigste Winde aus und brachte mit ihrer Hilfe die Yacht so in Stellung, daß ihr Bug hangabwärts wies. Der Wind kam stoßweise vom Golf her. Der Hang bot eine gewisse Sicherheit. Würde sie genügen? Er reffte die Segel, soweit er es wagen konnte, überlegte und biß sich auf die Lippen. Bei jedem Windstoß ächzte und knirschten die Anker, die sich aus dem Eis loszureißen drohten, um das Boot über den Hang schlittern zu lassen. Wieder kletterte er in die Truhe und holte neues Seil heraus; ein leichteres diesmal, das bis zum Wrack reichen sollte. Er knüpfte den letzten Knoten und ließ die zweite Schlinge hinabfallen. Jetzt arbeitete er fieberhaft; das schwere Tau zog er vom Heck aus das Schanzdeck entlang zu einem Pflock und sicherte die Ruderpinne. Die Anker wurden von Winden emporgezogen, die
unmittelbar über dem Deck saßen. Dann zog er Seile von ihnen zur kleinen Winde im Bug, legte die Ratsche ein und drehte die Trommel, bis die Seile straff gespannt waren. Der Griff schnappte ein, stand aufrecht da und deutete leicht nach vorn in Richtung Vordersteven. Dann prüfte er die improvisierte Bremse; sie schien sicher zu sein. Er ließ beide Seile vorsichtig durch die Hände laufen und zog sich fast bis zum Rand der Klippe zurück. Mard schien nun zu begreifen, was er vorhatte. Krächzend rief er zu ihm hinauf und versuchte sich zu bewegen. Das Wrack krachte und rutschte noch ein Stück tiefer in die Spalte. Stromberg ließ nun das schwere Seil um seine Schenkel und um einen Knöchel laufen, so daß er das dicke Tau in der Wölbung zwischen Sohle und Absatz hatte. So ließ er sich hinab in den Golf. Es war gespenstisch. Der Druck des Windes schien sich immer mehr zu steigern, so daß er wie ein Pendel schwang, dabei aber auch immer wieder an die Eiswand prallte. Der sonnenbeschienene Rand über ihm trat zurück. Er schaute nach unten, und sofort schien sich der breite Riß zu drehen. Die Eismauern liefen zusammen und verschwanden in unheimlicher Schwärze. Der Wind heulte hier tief und klagend, und sein eisiger Atem biß in seine Wangen. Er schwitzte und blieb hängen, bis die Benommenheit vorüber war, drückte sich dann ab und spürte, wie seine Absätze das Deck berührten. Er ließ sich so leicht wie möglich darauf hinab und schwang ein wenig seitlich aus, um in die Takelage greifen zu können. Das Wrack krachte in allen noch vorhandenen Fugen und schwankte bedenklich. Wieder tropfte ihm der Schweiß von der Stirn, als er versuchte, der
Bewegung Einhalt zu gebieten. Endlich beruhigte sich das Deck mit einem letzten Ächzen. Vorsichtig bewegte er sich nun weiter seitlich, bis er unter Lipsills Armen ein Seil durchziehen und festmachen konnte. Der andere half dabei, so gut er es vermochte, und hob seinen Körper ein wenig an. Stromberg prüfte die Knoten und verknüpfte den Harnisch mit dem Hauptseil. Noch eine Minute angestrengter Arbeit, und beide waren sicher angebunden. Dann holte er tief Atem und griff nach dem zweiten Seil. Noch war die Gefahr nicht vorüber. Wenn sich die Eisgeist bewegte, würde sie beide mit in den Golf reißen. Er griff nach dem Seil und zog. Nichts. Wieder zog er. Er fühlte eine panische Angst in sich aufsteigen. Wenn der Trick nicht gelang, dann, und das wußte er, würde er nie die Kraft finden, nach oben zu klettern. Er wartete. Dann spürte er ein Vibrieren im Seil. Wieder eine Pause. Dann wurde er langsam die Klippe hinaufgezogen. Er schwang gegen das felsharte Eis, als sich die Bewegung beschleunigte. Die Spaltenwände schienen ihm entgegenzufliegen; dann ein letzter Anprall, eine harte Erschütterung, und nun wurde er über ebenes Eis gezogen, das am Seil sägte. Er sah, wie sich einige Seilstränge lösten; endlich lag er still da in einer gesegneten Bewegungslosigkeit. Lipsill neben ihm färbte den Schnee mit seinem Blut. Die Schneeprinzessin war nun von ihrer einseitigen Last befreit. Sie drehte sich in einem weiten Halbkreis, bis die Anker faßten und kam dann zur Ruhe.
Die Spalte von Brershill lag grau und still im ersten Morgenlicht da. An der Glaseisseite waberten Fakkeln, warfen hüpfende Lichter auf die einzelnen Höhenwege und streuten bunte Funken auf den frischgefallenen Schnee. Stromberg zog manchmal seine Last, und manchmal schob er sie, und dann mußte er sich wieder hinten anhängen und bremsen, wenn der Pfad ein wenig abfiel. Ein Wächter rief ihn verschlafen an, doch den beachtete er nicht. Auf dem Weg über Corandas Haus blieb er stehen, hob das große Ding vom Schlitten und trug es zum Rand des Pfades. Dann richtete er sich auf, wischte sich das Gesicht trocken und schrie. Seine Stimme klang dünn und zittrig und kam als Echo von den kaum erkennbaren Mauern zurück. »Maitran ...« Ein Vogel flatterte kreischend irgendwo in der Tiefe. Der Name warf sich zu ihm zurück; die Eismutter antwortete mit tausend Stimmen. »Arand ...« Wieder ließ sich dieser Spottchor vernehmen, und eine Wirrnis aus Klang und Stimme und irrem Echo tönte aus der breiten Spalte. »Hansan ...« »Skalter ...« Namen der Toten, der Verschollenen; eine grausame Benediktion, eine Antwort an das Eis. Er beugte sich hinab zu dem Ding auf dem Pfad. Er hob es an, ließ es fallen; Fleisch plumpste. Der Kopf des Einhorns schlug auf dem Weg vor Corandas Haus auf, hüpfte zweimal und spritzte einen blutigen Stern an Corandas Tür.
Dann richtete er sich auf und keuchte. Von irgendwoher vernahm er das Echo eines schrillen Schreis. Er stand da und lauschte noch einen Moment, ehe er zu klettern begann. Und nun dankte er der Eismutter, die ihm seine Seele zurückgegeben hatte.
Originaltitel: CORANDA Copyright © 1967 by New Worlds SF
R. A. Lafferty WIR DREHEN AM RAD DER GESCHICHTE »Wir hatten ein paar ganz große Ideen«, sagte Gregory Smirnow vom Institut, »aber noch nie haben wir am Rand einer größeren Sache gestanden als hier, und auch keiner mit erschütternderen Aussichten. Aber wenn die Kalkulationen von Epiktistes richtig sind, wird das jetzt gelingen.« »Leute, es wird gelingen«, sagte Epikt. War das wirklich Epiktistes, die Ktistec-Maschine? Wer hätte das geglaubt! Die Hauptmasse von Epikt befand sich fünf Stockwerke unter ihnen, aber er hatte sich selbst bis zur gemütlichen Penthousediele verlängert. Dazu war lediglich ein Kabel im Durchmesser von einem Meter nötig und an dessen Ende ein aufgesetzter Funktionskopf. Und welchen Kopf er ausgewählt hatte! Es war der einer Seeschlange, ein Drachenkopf, fast zwei Meter lang und nach einem alten Karnevalstich modelliert. Epikt hatte sich selbst auch eine Art menschlicher Sprache gegeben, eine Mischung aus Irisch, Jiddisch und Holländisch nach dem Muster eines uralten Singspiels. Epikt war bis zum allerletzten DIN-Relais ein Komiker, wenn er seinen riesigen glotzäugigen Kopf mit dem kessen Kamm auf den Tisch legte und die längsten und dicksten Zigarren rauchte, die es je gegeben hatte. Aber mit seinem Projekt meinte er es ernst. »Wir haben perfekte Testbedingungen«, sagte die
Maschine Epikt, als wolle sie die anderen zur Ordnung rufen. »Wir setzen Grundtexte aus und nehmen die Welt sehr genau so auf, wie sie ist. Ändert sich die Welt, dann müßten sich auch die Texte vor euren Augen verändern. Sozusagen als Testpiloten haben wir jenen Teil unserer Stadt gewählt, den wir von diesem ausgezeichneten Aussichtspunkt sehen. Wenn die Welt durch unsere Einmischung in ihrer Vergangenheits-Gegenwart-Kontinuität verändert wird, muß sich auch das Angesicht unserer Stadt verändern, noch während wir sie beobachten. Wir haben hier die besten Denker und die unbestechlichsten Richter der ganzen Welt zusammengerufen: acht Menschen und eine Ktistec-Maschine – ich. Vergeßt nicht, daß wir neun sind. Das könnte einmal wichtig werden.« Die neun besten Denker waren: Epiktistes, die ausgezeichnete Maschine, die das K in Ktistec beisteuerte; Gregory Smirnow, der Direktor des Instituts mit der großen Seele; Valery Mok, eine Wissenschaftlerin voll glühender Begeisterung; ihr überschatteter und überintelligenter Ehemann Charles Cogsworth; der humorlose und unfehlbare Glasser; Aloysius Shiplap, der geniale Biologe; Willy McGilly, ein Mann ungewöhnlicher Fähigkeiten – den sehenden dritten Finger seiner linken Hand hatte er auf einem der Planeten vom Kapteynschen Stern entdeckt – und ohne falsche Bescheidenheit; Audifax O'Hanlon und Diogenes Pontifex. Die beiden letztgenannten waren nicht Mitglieder des Instituts, aber wenn sich die besten Denker der Welt versammelt hatten, konnten diese beiden nicht ausgelassen werden. »Wir werden also an einem kleinen Detail der Ge-
schichte herumpfuschen und die Wirkung notieren«, sagte Gregory. »Das ist noch niemals offen getan worden. Wir gehen zurück in eine Ära, die man ›einen Lichtfleck in der Dunkelheit‹ nannte, zur Zeit Karls des Großen. Wir überlegen uns, warum dieses Licht ausging und kein anderes entzündete. Vierhundert Jahre hat die Welt verloren, weil die Flamme erlosch, und dabei war der Zunder für sie doch offensichtlich ganz trocken. Wir gehen also zurück zur Dämmerung Europas und versuchen festzustellen, wo wer versagt hat. Es ist das Jahr 778, das Land Spanien. Karl der Große hatte damals eine Allianz geschlossen mit Marsilies, dem arabischen König von Zaragossa, gegen den Kalifen Abd ar-Rahmen von Cordova. Karl der Große eroberte Städte wie Pamplona, Huesca und Gerona und säuberte den Weg zu Marsilies in Zaragossa. Der Kalif akzeptierte die Situation. Zaragossa sollte unabhängig werden, eine Stadt, die für Moslems ebenso offen war wie für Christen. Die nördlichen Lande bis zu Frankreichs Grenzen sollten das Christentum behalten dürfen, und für alle sollte es Frieden geben. Dieser Marsilies hatte schon lange die Christen von Zaragossa als Gleichberechtigte behandelt, und jetzt sollte es also eine offene Straße für den Islam ins Fränkische Reich geben. Marsilies schenkte Karl dem Großen dreiunddreißig Gelehrte – Moslems, Juden und Christen – und einige spanische Maultiere, um den Handel zu besiegeln. Man sprach von einer gegenseitigen kulturellen Befruchtung. Aber bei Roncesvalles war die Straße gesperrt. Dort wurde die Nachhut Karls des Großen aus dem Hin-
terhalt überfallen und auf dem Weg nach Frankreich vernichtet. Die Angreifer waren mehr Basken als Moslems, aber Karl der Große schloß nun das Pyrenäentor und tat den Schwur, daß fortan nicht einmal ein Vogel mehr die Grenzen überfliegen dürfte. Er hielt die Straße geschlossen; auch sein Sohn und seine Enkel öffneten sie nicht. Als er aber die Welt der Moslems abriegelte, tat er das gleichzeitig auch für seine eigene Kultur. In späteren Jahren versuchte er die Wiederbelebung der Zivilisation und bediente sich dazu eines Lumpenpacks irischer verkrachter Studenten, griechischer Vagabunden und römischer Abschreiber, die an das alte Rom erinnerten. Diese Leute genügten nicht zur Wiederbelebung der Zivilisation, und doch tat sich Karl der Große mit ihnen zusammen. Wäre das Tor zum Islam offengeblieben, dann hätte eine wirkliche Erneuerung schon damals stattfinden können, statt erst vierhundert Jahre später. Nun werden wir es so arrangieren, daß bei Roncesvalles kein Hinterhalt gelegt wurde und daß die Tür zwischen den beiden Zivilisationen offenblieb. Wir werden dann sehen, was mit uns geschieht.« »Das Eindringen eines Einbrechers«, sagte Epikt. »Wer ist ein Einbrecher?« fragte Glasser. »Ich«, erwiderte Epikt. »Das sind wir doch alle. Es stammt aus einem alten Gedicht, nur weiß ich nicht mehr, wer es geschrieben hat. Unten in meiner Datenbank habe ich es greifbar, falls ihr daran interessiert seid.« »Wir haben einen Grundtext von Hilarius angesetzt«, fuhr Gregory fort. »Wir müssen genau auf ihn achtgeben und dürfen nie vergessen, daß es so ist.
Vielleicht sehr bald können wir sagen, daß es so war. Ich glaube, daß sich die Worte auf dieser Seite des Buches verändern, während wir sie ansehen. Das heißt, sobald wir das getan haben, was wir zu tun vorhatten.« Der Text im aufgeschlagenen Buch – er war angezeichnet – lautete wie folgt: Der Verräter Gano spielte ein mehrseitiges Spiel. Mit dem Geld des Kalifen von Cordoba warb er baskische Christen an (die sich als Mauren aus Zaragossa verkleideten), welche der Nachhut der fränkischen Heere auflauerten. Um dies tun zu können, war es notwendig, daß Gano engen Kontakt mit den Basken hielt und zu gleicher Zeit der Nachhut der Franken den Weg erschwerte, um sie aufzuhalten. Gano aber diente beiden als Führer und den Franken als Kundschafter. Der Hinterhalt wurde gelegt. Karl der Große verlor seine spanischen Maultiere. Und er verschloß die Tür zur Welt der Moslems. Das war Hilarius' Text. »Wenn wir also jetzt den Knopf drücken« – er nickte Epiktistes zu – »dann wird dies alles hier verändert«, sagte Gregory. »Epikt wird durch einen Komplex von ihm zusammengestellter Geräte einen Avatar aussenden (teils mechanischer, teils gedanklicher Konstruktion), und dann wird gegen Sonnenuntergang eines ganz bestimmten Abends dem Verräter Gano auf der Straße nach Roncesvalles etwas zugestoßen sein.« »Ich hoffe, dieser Avatar ist nicht sehr teuer«, bemerkte Willy McGilly. »Als ich ein Junge war, mach-
ten wir das mit einem Pfeil, den wir aus aalglattem Ulmenholz geschnitzt hatten.« »Jetzt ist nicht die richtige Zeit für diese Art Humor«, protestierte Glasser. »Wen hast du als Junge denn wirklich rechtzeitig umgelegt, Willy?« »Viele. Eine ganze Menge. König Wu der Manchu, Papst Adrian VIII, Präsident Hardy aus unserem eigenen Land, König Marcel von der Auvergne, den Philosophen Gabriel Toeplitz und so weiter. Es war sehr gut, daß wir sie alle kriegten. War eine schlimme Bande.« »Aber von denen habe ich nie etwas gehört, Willy«, beharrte Glasser. »Natürlich nicht. Wir haben sie ja auch umgelegt, als sie noch Buben waren.« »Willy, das Herumalbern reicht jetzt wieder«, mahnte Gregory. »Willy albert nicht herum«, meldete sich die Maschine Epikt. »Woher, glaubt ihr, hätte ich sonst die Idee?« »Schaut euch doch nur die Welt an«, warf Aloysius leise ein. »Wir sehen da unsere eigene Stadt mittlerer Größe mit einem halben Dutzend pastellfarbener Ziegeltürme. Wir werden sie beobachten, wenn sie sich ausdehen oder schrumpfen. Sie werden sich verändern, wenn sich die Welt verändert.« »In der Stadt gibt es zwei Shows, die ich noch nicht gesehen habe«, bemerkte Valery. »Die dürfen uns nicht weggenommen werden! Schließlich gibt es in der ganzen Stadt ganze drei Shows.« »Wir behalten die Schönen Künste im Auge, und auch dafür haben wir einen Grundtext«, sagte Audifax O'Hanlon. »Ihr könnt dazu sagen, was ihr wollt,
aber die Künste waren nie schlimmer dran als heute. Für die Malerei gibt es ganze drei Schulen, und eine ist schlechter als die andere. Bildhauerei – heutzutage eine Schule für die Verwendung rostiger Metallteile und obszöner Kesselflickereffekte. Die einzige populäre Kunst, Sgraffito auf Mingitoriwänden, wurde einfallslos, allzu sehr stilisiert und häßlich. Die einzigen Denker, die des Nachdenkens wert sind, heißen Teilhard de Chardin, Sartre, Zielinski und Aichinger. Ah, wenn ihr glaubt lachen zu müssen, hat es keinen Zweck, weiterzumachen.« »Wir alle sind hier irgendwie Fachleute«, sagte Cogsworth. »Die meisten von uns sind sogar in jeder Beziehung und in allem Experten. Wir kennen die Welt, wie sie ist. Wir wollen also das tun, was wir zu, tun vorhaben, und uns dann die Welt wieder anschauen.« »Epikt, drück den Knopf!« befahl Gregory Smirnow. Aus ihren Tiefen schickte Epiktistes, die KtistecMaschine einen Avatar aus, teils von mechanischer, teils von gedanklicher Konsistenz. Gegen Sonnenuntergang eines ganz bestimmten Tages, am 14. August des Jahres 778, wurde der Verräter Gano von der Straße von Pamplona nach Roncesvalles ergriffen und an einem Johannisbrotbaum aufgehängt. Es war der einzige Baum dieser Art zwischen all den Eichen und Buchen. Und alles, was danach kam, wurde ganz anders. »Ist es gelungen, Epikt? Ist es passiert?« fragte Louis Lobaschewski. »Ich kann nirgends eine Veränderung feststellen.«
»Der Avatar ist zurück und berichtet, seine Mission sei vollendet«, stellte Epikt fest. »Ich kann aber auch nirgends eine Veränderung feststellen.« »Wir wollen uns einmal die Beweise vornehmen«, schlug Gregory vor. Sie waren dreizehn; zehn Menschen und die Ktistec-, Chresmoeidec- und Proaisthematic-Maschinen, und sie prüften die Beweise und wurden immer enttäuschter. »Im Hilarius-Text ist nicht ein Wort verändert«, brummte Gregory, und das stimmte, denn der Text lautete genau wie vorher: Der König Marsilies von Zaragossa spielte ein mehrfaches Spiel. Er nahm Geld vom Kalifen von Cordova, weil er Karl den Großen überredet hatte, von der Eroberung Spaniens Abstand zu nehmen (die Karl der Große nie in Betracht gezogen hatte und auch nie hätte durchführen können); er nahm Geld von Karl dem Großen als Entschädigung dafür, daß die Städte der nördlichen Ebenen sich wieder den christlichen Regeln unterwarfen (obwohl Marsilies diese Städte niemals regiert hatte); und er nahm Geld von jedem als Tribut aus dem neuen Handel, der durch seine Stadt führte. Marsilies gab nichts auf als dreiunddreißig Gelehrte, die gleiche Anzahl von Mauleseln und ein paar Wagenladungen von Buchmanuskripten aus den alten hellenistischen Büchereien. Aber eine Straße über die Berge öffnete sich zwischen den beiden Welten, und auch ein Abschnitt der Mittelmeerküste wurden offen für beide. So tat sich zwischen den beiden Welten eine begrenzte Öffnung auf, und in jeder fand bis zu einem bestimmten Grad eine Neubelebung der Zivilisation statt. »Nein, hier ist nicht ein einziges Wort des Textes verändert«, brummte Gregory. »Die Geschichte folgte
dem alten Kurs. Wie konnte unser Experiment nur mißlingen? Wir versuchten doch auf eine etwas umwölkte Art die Trächtigkeitsperiode für die Neugeburt abzukürzen. Aber sie läßt sich wohl nicht abkürzen.« »Die Stadt hat sich nicht im geringsten verändert«, sagte Aloysius Shiplap. »Es ist immer noch eine schöne, große Stadt mit zwei Dutzend imposanten Türmen aus verschiedenfarbenen Ziegeln und Marmor. Und es ist eine sehr lebendige Hauptstadt, die wir alle lieben, aber sie ist jetzt genauso wie vorher.« »Es gibt noch zwei Dutzend gute Shows in der Stadt, die ich noch nicht gesehen habe«, stellte Valery fröhlich fest, als sie die Anschlagtafeln der Vergnügungsanzeiger musterte. »Ich habe schon gefürchtet, mit ihnen könne etwas passiert sein.« »Nichts hat sich verändert bezüglich der Schönen Künste, wie in den Überblicken beschrieben, die wir in die Grundtexte aufgenommen haben«, sagte Audifax O'Hanlon. »Ihr könnt sagen, was ihr wollt, aber die Kunst stand nie zuvor in schönerer Blüte.« »Das ist doch nur ein Ring Wurst«, sagte die Maschine Chresmoeidy. »›Und der kennt die Straße nicht, der sie nicht dreimal lief‹, sagte die Maschine Proaisth. Das stammt aus einem alten Vers. Den Dichter habe ich vergessen. Er ist aber in meinem Hauptgehirn in England gespeichert, wenn ihr's wissen wollt.« »Ach ja, das ist doch die Dreiecksgeschichte, die dort endet, wo sie beginnt«, sagte die Maschine Epiktistes. »Aber es ist eine gute Wurst, und wir sollten sie uns schmecken lassen. Viele Zeitalter haben nicht einmal so viel.«
»Was quatscht ihr denn da?« fragte Audifax, ohne es richtig wissen zu wollen. »Die Kunst des Malens steht auf dem Höhepunkt ihrer Blüte. Die Schulen sind wie Sternenhaufen, und die Hälfte der Leute tut diese Arbeit mindestens zum Teil aus reinem Vergnügen. Skandinavische und Maori-Reliefs tun sich schwer, ihre dominierende Stellung auf diesem Gebiet zu behaupten, wo doch praktisch alles außerordentlich ist. Der impassionierte Komiker hat die Musik aus fast allen Beschränkungen entlassen. Seit die spekulative Mathematik und die Psychologie zu den populären bildenden Künsten gestoßen sind, bietet das Leben wesentlich mehr Spaß. Hier wird eben ein Stück über Pete Teilhard gespielt, in dem er als talentierter Science-FictionSchreiber mit Schwergewicht auf saftige Burleske herausgestellt wird. Das Motiv Weltgehirn wurde überzogen, als er sich damit beschäftigte, aber welch eine komische Extravaganz hat er daraus gemacht! Und da ist auch noch Muldoom, Zielinski und Popper, da sind Gander, Aichinger, Whitecrow und Hornwhanger – ach, diese Kultisten sind der wahre Saft des Lebens, und wir haben ihnen unendlich viel zu verdanken. Auf der allgemeinen Linie gibt es eine wahre Überfülle großer Romane und Romanschreiber. Jede beliebte und bekannte Kunstrichtung, zum Beispiel Sgraffito auf Mingitorio-Mauern, ist ausgezeichnet bis zur Vollkommenheit. Travel Unlimited bietet eine Neunundneunzig-Tage-Kunstreise rund um die Welt an, und in eigenen Ruheräumen kann man die erlesensten und großartigsten Miniaturen bewundern. Ah, in welch einer Welt köstlichster
Überfülle wir doch leben!« »Es gibt mehr Weiden, als wir abgrasen können«, meinte Willy McGilly. »Erstaunlich, was wir alles erreicht haben. Ah, ich möchte wissen, ob meine Worte nicht irgendwie mehrdeutig sind und eine Rache herausfordern. Das Experiment war natürlich ein Fiasko, und eigentlich bin ich darüber froh. Ich liebe eine volle Welt.« »Wir wollen das Experiment lieber kein Fiasko nennen, da wir es ja nur zu einem Drittel durchgeführt haben«, steuerte Gregory bei. »Morgen werden wir unseren zweiten Versuch mit der Vergangenheit durchführen. Und wenn uns danach noch eine Gegenwart bleibt, dann werden wir einen dritten Versuch eben übermorgen machen.« »Genügt schon, meine Lieben, genügt schon«, wehrte die Maschine Epiktistes ab. »Morgen werden wir hier wieder zusammenkommen. Ihr könnt euch jetzt eurem Vergnügen widmen, und wir dem unseren.« Den Abend verbrachten die Leute nicht mit den Maschinen. So konnten sie wenigstens närrische Mutmaßungen anstellen, ohne von den Maschinen ausgelacht zu werden. »Jetzt wollen wir irgendeine Karte aus dem Päckchen ziehen und damit weitermachen«, schlug Louis Lobaschewski vor. »Wir wollen einen rein intellektuellen Aufhänger einer späteren Zeit nehmen und sehen, ob dessen Veränderung die Welt verändert.« »Ich schlage Ockham vor«, sagte Johnny Konduly. »Warum?« wollte Valery wissen. »Er war doch der letzte und mindeste aller mittelalterlichen Gelehrten.
Wie sollte etwas, das er tat oder nicht tat, irgend etwas bewirken?« »Oh, nein, er hielt der Zeit das Rasiermesser an die Kehle«, sagte Gregory. »Er hätte auch die Ader durchschnitten, wenn ihm nicht das Messer aus der Hand gewunden worden wäre. Obwohl ... Hier fehlt etwas. Es ist so, als erinnere ich mich, daß bis zu einem gewissen Grad Ockhams Terminalismus nicht genau das ausdrückte, was wir glauben, daß er ausdrücken sollte und wollte.« »Klar, dann laßt uns doch die Kehle durchschneiden«, sagte Willy. »Dann wollen wir herausfinden, was die logische Termination des Terminalismus ist und sehen, wie tief Ockhams Rasiermesser schneiden kann.« »Das werden wir auch tun«, versprach Gregory. »Unsere Welt ist so etwas wie ein fettiger Morast geworden. Alles klebt und zieht einen hinab. Den ganzen Abend hindurch hat es mich schon gestört. Nun, wir werden herausfinden, ob eine rein intellektuelle Haltung etwas bewirkt. Die Einzelheiten werden wir Epikt überlassen, aber ich glaube, der Angelpunkt war das Jahr 1323, denn da kam John Lutterell von Oxford nach Avignon, wo damals der Heilige See lag. Er brachte sechsundfünfzig Vorschläge mit, die er Ockhams Kommentaren zu den Urteilen entnommen hatte, und er schlug ihre Verwerfung vor. Sie wurden zwar nicht sofort verworfen, aber Ockham wurde in diesem ersten Ansturm ordentlich ausgepeitscht, und erholt hat er sich davon niemals mehr. Lutterell bewies, daß Ockhams Nihilismus nur ein Haufen Nichtigkeiten war. Und die Ockhamsche Lehre siechte langsam dahin. Sie fand noch ein schwaches Echo an
kleinen deutschen Höfen, wo Ockham seine Waren verhökerte, aber auf den großen Märkten hatte er schon lange nichts mehr zu suchen. Aber seine Ansichten hätten die Welt zum Untergang bringen können, wenn intellektuelle Verhaltensweisen tatsächlich wirksam wären.« »Wir hätten Lutterell nicht gemocht«, sagte Aloysius. »Er war humorlos, hatte kein Feuer in sich, behielt aber immer recht. Ockham dagegen hätten wir geliebt. Er war charmant, hatte unrecht, und vielleicht gelingt es uns noch, die Welt zu zerstören. Wir haben die Chance, daß wir unsere Reaktion bekommen, wenn wir Ockham freie Hand lassen. China war für Tausende von Jahren durch eine intellektuelle Haltung eingefroren, die nicht annähernd so welterschütternd war wie die Ockhams. Indien ist hypnotisiert in eine seltsame Stasis, die sich selbst revolutionär nennt, die sich aber nicht bewegt; auch Indien ist hypnotisiert von einer intellektuellen Haltung. Aber eine solche wie die Ockhams gab es nie.« So beschlossen sie also, daß der ehemalige Kanzler von Oxford, John Lutterell, der von jeher ein kranker Mann gewesen war, von einer weiteren Krankheit befallen werden sollte, und zwar auf der Straße nach Avignon in Frankreich, so daß er dort nicht ankommen sollte, um die Angelegenheit Ockham tödlich zu treffen, ehe sie die Welt infizieren konnte. »Fangen wir an, liebe Leute«, rumpelte Epikt am nächsten Tag. »Was mich betrifft, ich werde einen Mann aufhalten, der im Jahr 1323 von Oxford nach Avignon reist. Na, kommt schon, nehmt eure Plätze ein und fangen wir endlich an.« Und Epiktistes gro-
ßes Seeschlangenhaupt glühte in allen Farben, als er eine siebenfach verzweigte Pooka-Dooka rauchte und den Raum mit ihrem wundervollen Aroma füllte. »Alle so weit, sich die Kehle durchschneiden zu lassen?« fragte Gregory übermütig. »Na, dann schneide doch«, meinte Diogenes Pontifex. »Aber viel Hoffnung habe ich nicht. Wenn unser gestriger Versuch nichts nützte, dann sehe ich keine Möglichkeit, mir davon etwas zu versprechen, wenn ein englischer Schulmeister einen anderen verfolgt, um ihn in miserablem Latein an einem italienischen Hof in Frankreich mit sechsundfünfzig unwissenschaftlichen, abstrakten Beweisgründen herauszufordern – und das vor nahezu siebenhundert Jahren.« »Wir haben hier perfekte Testbedingungen«, sagte die Maschine Epikt. »Wir haben einen Grundtext aus Cobblestones Geschichte der Philosophie ausgelegt. Wenn unser Test erfolgreich verläuft, dann wird sich der Text vor unseren Augen verändern. Das wird mit jedem anderen Text ebenso geschehen wie mit der übrigen Welt. Hier haben wir die besten und geschliffensten Denker der ganzen Welt versammelt; es sind zehn Menschen und drei Maschinen. Vergeßt nicht, daß wir dreizehn sind. Es könnte sehr wichtig werden.« »Betrachtet die Welt«, sagte Aloysius Shiplap. »Das riet ich schon gestern, aber es ist unerläßlich, daß ich es jetzt wieder erwähne. Wir haben die Welt in unseren Augen und unseren Erinnerungen. Wenn sie sich irgendwie verändert, werden wir das wissen.« »Drück den Knopf, Epikt«, befahl Gregory Smirnow. Aus ihren Tiefen schickte Epiktistes, die Ktistec-
Maschine, einen Avatar aus, der teils von mechanischer und teils von gedanklicher Konstruktion war. Und gegen Sonnenuntergang wurde eines Tages im Jahre 1323 im alten Distrikt Languedoc in Frankreich auf der Straße von Mende nach Avignon John Lutterell von einer weiteren Krankheit befallen. Man brachte ihn in ein kleines Gasthaus irgendwo im Bergland, und vielleicht ist er dort auch gestorben. Jedenfalls kam er nicht in Avignon an. »Nun, ist es gelungen, Epikt? Haben wir es endlich geschafft?« fragte Aloysius. »Wir wollen einmal die Beweise prüfen«, antwortete Gregory. Vier von ihnen, drei Menschen und der Geist Epikt, der eine Kachenko-Maske mit einer Sprachröhre war, wandte sich in immer größer werdender Enttäuschung dem Beweis zu. »Der Stock ist noch da und hat noch immer die fünf Kerben«, stellte Gregory fest. »Das war unser Teststock. Nichts auf der Welt hat sich verändert.« »Die Künste sind genauso wie sie waren«, sagte Aloysius. »Unser Bild hier auf dem Stein, an dem wir so viele Monate gearbeitet haben, ist so wie früher. Wir haben die Bären schwarz, die Büffel rot und die Menschen blau gemalt. Wenn wir eine Möglichkeit finden, eine neue Farbe herzustellen, können wir auch Vögel darstellen. Ich hatte gehofft, daß unser Experiment uns diese andere Farbe bescheren würde. Ich hatte sogar davon geträumt, daß Vögel auf dem Felsen im Bild erscheinen würden – vor unseren Augen.« »Da ist noch ein Skunk da, aber sonst haben wir
nichts zu essen«, bemerkte Valery. »Und ich hatte gehofft, daß unser Experiment uns wenigstens einen Rehschlegel einbringen würde.« »Es ist noch nicht alles verloren«, redete ihnen Aloysius zu. »Wir haben doch noch die Hickorynüsse. Das war mein letztes Gebet, ehe wir unser Experiment begannen. ›Bitte, sie dürfen uns nicht die Nüsse wegnehmen‹, habe ich gebetet.« Sie saßen um den Konferenztisch, und das war ein großer, runder, flacher, gewachsener Stein, und darauf lagen aufgeschlagene Hickorynüsse und steinerne Fausthämmer. Die Menschen waren splitterfasernackt, und die Welt war so, wie sie immer gewesen war. Und sie hatten doch gehofft, daß ein Zauber sie verändern möge. »Epikt hat uns sehr enttäuscht«, klagte Gregory. »Wir haben seinen Rahmen aus den besten Stöcken gebaut, und sein Gesicht haben wir aus den feinsten Gräsern und Binsen geflochten. Wir haben ihn mit Magie vollgestopft und seine Wangentaschen mit unseren Schätzen gefüllt. Also, was soll jetzt diese magische Maske für uns noch tun können?« »Dann frag sie doch«, riet ihm Valery. Sie waren die vier besten Denker der ganzen Welt – drei Menschen, nämlich Gregory, Aloysius und Valery (die einzigen menschlichen Wesen der Welt, wenn man nicht die in den anderen Tälern mitrechnete), und der Geist Epikt, eine Kachenko-Maske mit einer Sprachröhre. »Was tun wir jetzt, Epikt?« fragte Gregory. Dann trat er hinter Epikt, wo dieser seine Sprachröhre hatte. »Ich erinnere mich einer Frau, die hatte eine Wurst
in ihre Nase gesteckt«, sagte Epikt in Gregorys Stimme. »Nützt das etwas?« »Vielleicht nützt das etwas«, antwortete Gregory, nachdem er wieder seinen Platz an dem Konferenztisch aus einem flachen, gewachsenen Felsen eingenommen hatte. »Das stammt aus einem alten Volksmärchen (was ist eigentlich so alt daran? Ich habe es mir doch erst heute morgen ausgedacht!), das von drei Wünschen handelt.« »Epikt soll erzählen«, sagte Valery. »Er kann das viel besser als du.« Valery trat hinter Epikt, wo sich die Sprachröhre befand, und blies Rauch durch sie, der von einer langen, dünnen, groben Zigarre aus Schwarzblattlaub stammte, die sie rauchte. »Die Frau verschleudert einen Wunsch für eine Wurst«, erzählte Epikt in Valerys Stimme. »Eine Wurst ist ein Stück Wildfleisch, das in ein Stück eines Tiermagens gewickelt ist. Der Mann ist sehr böse, weil die Frau einen Wunsch verschwendet, denn sie hätte sich ja ein ganzes Stück Wild wünschen können, aus dem sich sehr viele Würste hätten machen lassen. Er wird so böse, daß er wünscht, die Wurst solle für immer in ihrer Nase stecken bleiben. Das tut die Wurst auch. Die Frau jammert, und dem Mann wird klar, daß er den zweiten Wunsch verschleudert hat. Den Rest habe ich vergessen.« »Den kannst du nicht vergessen, Epikt!« rief Aloysius erschreckt. »Die Zukunft der Welt mag davon abhängen, daß du dich erinnern kannst. Hier, laßt mich mit dieser verdammten Zaubermaske ein paar ernste Worte reden!« Damit begab sich Aloysius hinter Epikt, wo er seine Sprachröhre hatte. »Oh, ja, nun fällt es mir wieder ein«, sagte Epikt
mit Aloysius' Stimme. »Der Mann benützte den dritten Wunsch dazu die Wurst aus der Nase der Frau zu zaubern. Auf die Art war alles wieder genauso wie vorher.« »Aber wir wollen es doch gar nicht so haben wie vorher!« heulte Valery. »Wir haben doch nur einen Skunk zu essen, und anzuziehen habe ich außer dem altmodischen Affenmantel auch nichts. Wir wollen es besser haben! Wir wollen Bärenfelle und Antilopenhäute.« »Entweder ihr nehmt mich jetzt als Zauber – oder überhaupt ganz und gar nicht«, erklärte Epikt entschieden. »Wenn auch die Welt schon immer so war, so habe ich doch eine vage Ahnung von anderen Dingen«, sagte Gregory. »Welcher Volksheld war es, der den Pfeil erfand? Und woraus hat er ihn hergestellt?« »Dieser Volksheld war Willy McGilly«, sagte Epikt in Valerys Stimme, die kaum noch rechtzeitig zur Sprachröhre gelangt war. »Und er hat ihn aus aalglattem Ulmenholz gemacht.« »Könnten wir vielleicht einen Pfeil machen, so wie der Volksheld Willy ihn gemacht hat?« fragte Aloysius. »Müssen wir wohl«, antwortete Epikt. »Und könnten wir vielleicht eine Schleuder machen und ihn aus dem Zusammenhang hinausschleudern in ...« »Könnten wir damit einen Avatar töten, bevor er sonst etwas tötet oder auch jemanden?« fragte Gregory aufgeregt. »Das werden wir ganz sicher versuchen«, erwi-
derte der Geist Epikt, der nichts anderes war als eine Kachenko-Maske mit einer Sprachröhre. »Ich mochte diese Avatare sowieso niemals.« Ihr denkt also, Epikt sei nichts anderes gewesen als eine Kachenko-Maske mit einem Rohr, durch das man sprechen konnte! Oh, er war sehr viel mehr. Er hatte rote Granatsteine in seinem Bauch und echtes, richtiges Seesalz. Und Pulver aus Biberaugen. Und Klappern von Klapperschlangen. Und den Panzer eines Gürteltieres. Er war die erste Ktistec-Maschine. »Gib mir das Wort, Epikt!« schrie Aloysius ein paar Momente später, als er den Pfeil auf die Schleuder legte. »Schieß los!« heulte Epikt. »Hol dir diesen verdammten Angeber!« Gegen Sonnenuntergang eines Tages in einem nicht näher bezeichneten Jahr fiel auf einer Straße von Nirgendwo nach Äon ein Avatar zu Boden, der einen aalglatten Ulmenpfeil im Herzen hatte. »Ist es gelungen, Epikt? Haben wir's geschafft?« fragte Charles Cogsworth aufgeregt. »Es muß gelungen sein. Ich bin hier. Beim letztenmal war ich nicht da.« »Sehen wir uns die Beweise an«, schlug Gregory ruhig vor. »Diese verdammten Beweise!« schimpfte Willy McGilly. »Denk doch daran, wo und wann du das zum erstenmal gehört hast.« »Hat es noch nicht angefangen?« erkundigte sich Glasser. »Ist es zu Ende?« wollte Audifax O'Hanlon wissen. »Drück auf den Knopf, Epikt!« bellte Diogenes.
»Ich glaube, ich habe einen Teil davon nicht mitgekriegt. Wir wollen es noch einmal versuchen.« »Oh, nein, nein, nein!« heulte Valery. »Nein, nicht noch einmal! Dann gibt es wieder nur Skunkfleisch und Irrsinn!«
Originaltitel: THUS WE FRUSTRATE CHARLEMAGNE Copyright © 1967 by Galaxy Publishing Corp.
Larry Niven WES GEISTES KIND? 1 Wir flogen auf Himmelsrädern über eine rote Wüste unter der weichen, roten Sonne von Down. Ich ließ Jilson immer vorausfliegen. Er war mein Führer, und ich konnte das Himmelsrad noch nicht sehr gut steuern. Ich stamme aus dem Flachland und habe die längste Zeit meines Lebens in den Städten der Erde verbracht, wo jedes Fluggerät als ungesetzlich gilt, wenn es nicht voll automatisiert ist. Ich flog sehr gern, wenn ich auch noch ein wenig ungeschickt war, aber die Wüste unter mir bot genug Platz, um Fehler zu machen. »Da«, sagte Jilson und deutete. »Wo?« »Dort unten. Folge mir.« Sein Himmelsrad schwang in einem eleganten Bogen nach links, wurde langsam und sank. Ich folgte ein wenig schwerfälliger, übersteuerte und blieb ein Stück zurück. Wenig später sah ich dann etwas. »Dieser kleine Kegel?« »Ja, genau der.« Von hier oben aus wirkte die Wüste tot, ohne jedes Leben. Aber sie war es nicht; die Wüsten der meisten bewohnten Welten sind belebt. Dort unten gab es, wenn auch von der Höhe aus unerkennbar, dornige Trockenpflanzen, die in ihrem Mark Wasser speicherten; es gab Blumen, die nach einem Regen auf-
blühten und deren Samen ein Jahr oder auch zehn Jahre auf den nächsten Regen warten konnten und da waren Insektenwesen mit vier Beinen ohne Gelenke, völlig ungegliedert; und vierfüßige, häutige, magere Warmblütler, die höchstens so groß wurden wie ein Fuchs und immer hungrig waren. Und es gab auch einen haarigen Kegel von etwa zwei Meter Länge, mit einem kahlen, runden oberen Ende. Nur sein Schatten machte ihn uns sichtbar, als wir herabgingen. Das dünne Haar hatte genau die Farbe des rötlichen Sandes. Wir landeten in unmittelbarer Nähe des Kegels und stiegen ab. Ich dachte schon, da hätte ich mich zum Narren halten lassen, denn das Ding sah auf keinen Fall wie ein Tier aus, eher wie ein großer Kaktus. Manchmal hat ein Kaktus genau die gleichen Haare. »Wir sind hinter ihm«, sagte Jilson. Er war dunkel, massiv und schweigsam. Professionelle Führer gab es auf Down nicht. Ich hatte Jilson dazu überredet, mich für gutes Geld in die Wüste zu führen, aber seine Freundschaft hatte ich mir dafür nicht kaufen können. Ich glaube, er hat versucht, mir das eindeutig klar zu machen. »Komm herum, nach vorn«, sagte er. Wir gingen also um den haarigen Kegel herum, und ich begann zu lachen. Das Grog hatte nur fünf Merkmale. Wo er den flachen Fels berührte, maß der Boden des Kegels etwa vier Fuß in Länge und Breite. Langes, glattes Haar floß auf den Stein wie ein bodenlanger Rock. Etwa eine Handbreite darüber kamen durch den Haarvorhang zwei weit auseinanderstehende, sehr kleine Pfoten. Sie waren etwa von der
Größe und der Form der Vorderpfoten einer Dänischen Dogge, aber nackt und rosa. Etwa einen Meter höher stießen zwei weitere Pfoten durch die Haare. An diesen oberen Pfoten waren die Zehen zu gebogenen, nutzlosen Fingern verlängert; und darüber war dann noch ein Schlitz von einem Maul von etwa einem Meter Länge; es war lippenlos, an den Winkeln leicht nach oben gebogen, und verschwand fast völlig im Haar. Augen waren nicht zu sehen. Dieser Kegel hatte große Ähnlichkeit mit einem Steinzeitidol oder auch mit der Karikatur eines fetten Mönches. Geduldig wartete Jilson, daß ich zu lachen aufhörte. »Ja, komisch ist es schon«, gab er ein wenig widerstrebend zu. »Aber es ist auch intelligent, das Tier. Unter diesem kahlen oberen Ende ist ein Gehirn, das größer ist als deines und meines zusammen.« »Hat es denn nie versucht, sich mit euch zu verständigen?« »Mit mir nicht und auch mit keinem anderen.« »Macht es Werkzeuge?« »Womit denn? Schau dir doch mal die Hände an!« Er musterte mich amüsiert. »Das wolltest du doch sehen, oder nicht?« »Ja. Jetzt habe ich einen so weiten Weg völlig umsonst zurückgelegt.« »Nun, jedenfalls hast du's gesehen.« Ich lachte wieder. Das Ding saß ohne Augen, bewegungslos und wie ein fauler, fetter, bettelnder Schoßhund da und sollte also mein potentieller Kunde sein. »Na, komm schon, laß uns zurückkehren«, sagte ich.
2 Verlorene Zeit und Mühe also. Zwei Wochen hatte ich im Hyperraum verbracht, um hierher zu kommen. Sicher, die Passage ging auf Geschäftskosten, aber im Ende mußte ich doch dafür bezahlen. Eines Tages würde mir ja das Geschäft gehören. Jilson nahm den Scheck ohne Kommentar entgegen, faltete ihn zweimal und steckte ihn in die Tasche, in der er sein Feuerzeug hatte. »Kann ich dir einen Drink kaufen?« fragte er. »Natürlich«, antwortete ich. Wir ließen unsere gemieteten Himmelsräder an der Grenze zur Innenstadt zurück und bestiegen einen Rollweg. Jilson führte mich von einer Kreuzung zur anderen, bis wir an einem riesigen Silberwürfel mit einem sich schlängelnden blauen Zeichen vorüberglitten; CZILLERS IRISCHES KAFFEEHAUS las ich. Auch innen war das Lokal ein Würfel, ein einstökkiges Gebäude von guten vierzig Meter Höhe. Reichgepolsterte und kissenbelegte hufeisenförmige Sofas bedeckten den ganzen Boden so dicht, daß man sich zwischen ihnen kaum durchquetschen konnte. In der Hufeisenöffnung hatte gerade ein winziger runder Tisch Platz. Aus dem Boden erhob sich die Abstraktion eines hohen Baumes, der mit allerlei Flitter behängt war. Der Baum breitete seine langen schillernden Arme schützend über die Gäste, und er reichte bis zur Decke hinauf. Etwa auf halber Höhe befand sich die ganze Maschinerie der Bartheke, der gesamte Bedienungsapparat. »Interessanter Ort«, sagte Jilson. »Diese Sofas sollten eigentlich schweben.« Er wartete darauf, daß ich
mein Erstaunen ausdrückte, doch ich sagte nichts. »Aber es hat dann doch nicht geklappt«, fuhr er fort. »Obwohl ... Eigentlich eine reizende Idee. Die Stühle und Sofas schwebten durch die Luft, und wenn sich Leute vom einen Tisch mit Gästen an einem anderen treffen wollten, dann brauchten sie nur ihre Sofas nebeneinander in der Luft zu parken und sie magnetisch aneinander zu schließen.« »Klingt ja wirklich spaßig.« »Es war auch ein großer Spaß. Aber der Bursche, der sich das ausgedacht hat, muß wohl vergessen haben, daß die Leute in eine Bar gehen, um sich zu betrinken. Sie sind mit den Sofas zusammengestoßen wie mit Autoscooters. Sie gingen so hoch hinauf wie sie konnten, und dann gossen sie ihre Drinks aus. Die Leute darunter mochten das gar nicht, und da gab es dann öfter Raufereien. Ich erinnere mich daran, daß ein Bursche einmal von einem Sofa geworfen wurde. Er hätte sich zu Tode gestürzt, wäre er nicht an einem Arm des Mittelstücks hängen geblieben. Ein anderer soll auf diese Art aber zu Tode gekommen sein. Er hat die Zweige verfehlt.« »Deshalb haben sie also nun die Sofas auf dem Boden gelassen?« »Nein. Erst versuchten sie noch, den Kurs automatisch zu steuern. Aber man konnte ja noch immer Drinks auf die Leute darunter schütten, und darin wurden die Gäste immer geschickter. Man machte schließlich einen richtigen Sport daraus. Dann kam in einer Nacht ein Idiot darauf, wie man den Autopiloten kurzschließen kann. Aber er vergaß, daß die Handsteuerung nicht angeschlossen war. Sein Sofa landete also auf einem anderen und verletzte drei
sehr wichtige Persönlichkeiten. Und da stellten sie dann die Sofas fest auf den Boden.« Ein Schwebetablett versorgte uns mit zwei gefrosteten Gläsern und einer Flasche Blaues Feuer 2728. Die Bar war zu zwei Dritteln leer und sehr ruhig. Der Betrieb begann hier erst später. Als der gefrierdestillierte Wein zur Hälfte ausgetrunken war, erklärte ich, weshalb man Blaues Feuer auch den Friedensstifter der Crashlands nannte: die flexible Plastikflasche hatte einen sehr schmalen Hals und eine breit ausladende Öffnung, und wenn sie voll war, gab sie wegen des Flüssigkeitsgewichtes eine ausgezeichnete Keule ab. Sie war sehr gefährlich. Jetzt, da ich nicht mehr sein Arbeitgeber war, wurde Jilson fast streitsüchtig. Und er redete auch sehr viel. Ich auch. Dabei war mir gar nicht danach zumute. Nun ja, zum Teufel, ich war schließlich Lichtjahre von der Erde entfernt, von meinem Geschäft und von den netten Leuten, die ich dort kannte, und hier war ich sozusagen ganz am äußersten Rand des von der Menschheit besiedelten Raumes. Ich war auf Down; es war eine fast leere frühere Kzinti-Welt mit ein paar weit gestreuten Fleckchen Zivilisation und einigen großen Wunden früherer Kriege, eine Welt, auf der die Farmer ultraviolette Lampen benützen mußten, um überhaupt Ernten zu erzielen, weil die rote Zwerg-Sonne viel zu schwach war. Hier war ich also. Und ich sollte es genießen. Ich genoß es auch. Jilson war ein guter Gesellschafter, und das Blaue Feuer richtete keinen Schaden an. Wir bestellten eine zweite Flasche. Als die Cocktailstunde näherrückte, wurde es viel lauter in der Bar.
»Hab mir was überlegt«, sagte Jilson. »Macht es dir was aus, wenn wir über Geschäfte reden?« »Nein, absolut nicht. Über wessen Geschäfte?« »Über die deinen.« »Natürlich nicht. Warum fragst du?« »Bei uns ist das so üblich. Manche Leute verraten ihre Geschäftsgeheimnisse nicht gern. Und andere wollen ihre Arbeit für ein paar Stunden völlig vergessen.« »Das ist doch ganz vernünftig. Worum geht es denn?« »So wie du Handikap aussprichst, würdest du es nur mit Großbuchstaben schreiben. Warum eigentlich?« »Nun, wenn ich es anders aussprechen würde, könntest du ja glauben, ich meinte Menschen. Oder nicht? Potentielle Paranoiker. Albino-Crashländer, Abgas-Allergiker, Leute mit fehlenden Gliedmaßen, die transplantatenresistent sind, Leute also, die gehandikapt sind.« »Jaaaa ...« »Ich habe aber mit fühlenden Wesen zu tun, die zwar mit Geist gesegnet sind, nicht aber mit etwas, das als Hand dienen kann.« »Oh ... Wie Delphine etwa?« »Richtig. Gibt es auf Down Delphine?« »Ah, selbstverständlich. Wie sollten wir sonst unsere Fischindustrie betreiben?« »Kennst du diese Dinger, mit denen ihr sie bezahlt? Sie sehen aus wie ein Motor mit Einspritzdüsen, die man für Motorboote verwendet; sie haben zwei gepolsterte Metallhände.« »Ja, die Delphinhände. Natürlich. Wir verkaufen
ihnen auch andere Sachen, Werkzeuge und sonische Instrumente, mit denen sie die Fischschwärme dirigieren können. Aber Delphinhände brauchen sie am meisten.« »Die mache ich.« Jilsons Augen weiteten sich erstaunt. Dann fühlte ich, wie er sich innerlich vor mir zurückzog, als ihm klar wurde, daß der Mann, der ihm gegenüber saß, vielleicht ganz Down kaufen könnte Verdammt! Was konnte ich sonst tun, als diese Tatsache einfach zu übersehen? »Eigentlich hätte ich ja sagen sollen, die Firma meines Vaters stellt sie her. Eines Tages werde ich die Garvey Limited leiten, aber erst muß mein Urgroßvater sterben. Ich zweifle daran, daß er dies jemals tun wird.« Jilson lächelte ein wenig angestrengt. »Ich kenne auch solche Leute.« »Ja. Manche Leute scheinen nur auszutrocknen, wenn sie älter werden. Sie werden nicht fett, sondern trockener und zäher, bis man glaubt, sie könnten sich jetzt wirklich nicht mehr ändern; aber sie scheinen immer energischer zu werden, so etwa, als hätten sie eine thermonukleare Kraftquelle in sich. Gee-Squared ist so. Ein großer alter Mann. Ich sehe ihn viel zu selten.« »Du scheinst sehr stolz auf ihn zu sein. Warum muß er denn überhaupt sterben?« »Das ist so eine Art Tradition. Jetzt führt mein Vater das Geschäft. Wenn er in Schwierigkeiten kommt, kann er zu seinem Vater gehen, der die Firma vor ihm führte. Wenn Gee-Prime damit nicht fertig wird, gehen sie beide zu Gee-Squared.«
»Merkwürdige Namen.« »Für mich nicht. Das ist auch so eine Art Tradition.« »Entschuldige. Was tust du auf Down?« »Wir handeln nicht nur mit Delphinen.« Das Blaue Feuer verführte mich zum Dozieren. »Schau mal, Jilson. Wir kennen doch drei fühlende Lebewesen ohne Hände. Stimmt doch?« »Mehr noch. Puppenspieler benützen auch ihre Münder. Und Außenseiter ...« »Verdammt noch mal, sie bauen doch ihre eigenen Werkzeuge. Ich rede von Tieren, die sich nicht mal selbst eine Handaxt zurechtmachen können; oder solche, die nicht imstande sind Feuer zu machen. Delphine, Bandersnatchi ... und das Ding, das wir heute gesehen haben.« »Das Grog? Na, und?« »Verstehst du denn nicht, daß es in der ganzen Galaxis Spezies mit solchen Handikaps geben muß? Gehirne ja, aber keine Hände. Ich sage dir, Jilson, da läuft mir eine Gänsehaut über den Rücken. Je weiter wir uns nämlich ausbreiten, je mehr Sterne wir besiedeln und besuchen, desto mehr fühlende und denkende Wesen werden wir kennenlernen, die keine Hände und Werkzeuge haben, also hilflose Zivilisationen sind. Manchmal erkennen wir sie nicht einmal. Was sollen wir nun mit ihnen anfangen?« »Dann bau doch Delphinhände für sie.« »Schön. Aber verschenken können wir sie schließlich auch nicht. Sobald eine Spezies damit anfängt, sich auf eine andere zu verlassen, wird sie zum Parasiten.« »Und was ist mit den Bandersnatchi? Baust du
auch Hände für Bandersnatchi?« »Ja. Natürlich sehr viel größer.« Ein Bandersnatch hat die doppelte Größe eines Brontosauriers. Das Skelett ist sehr biegsam, hat aber keine Gelenke. Die einzigen Unterbrechungen in der glatten weißen Haut sind die Büschel sensorischer Grannen zu beiden Seiten des spitz zulaufenden blanken Schädels. Es bewegt sich auf einem sich rippelnden Bauchfuß. Diese Kreaturen leben in den Tieflanden von Jinx und nähren sich vom grauen Schaum der Küstenlinien. Man sollte meinen, sie seien die hilflosesten Wesen im ganzen uns bekannten Weltraum ... bis man einmal sah, oder erlebte, wie eines angreift, wie ein Berg greifen sie an. Einmal beobachtete ich, wie ein alter Panzerwagen plattgedrückt wurde an einem Fels im Tiefland, und zusammengepreßt wurde er von den gebrochenen Knochen des Tieres, das ihn überrannte. »Okay. Wie bezahlen sie für ihre Maschinen?« »Mit Jagdprivilegien. Sie werden gejagt.« Jilson schaute entsetzt drein. »Nein, das glaube ich dir nicht.« »Ich konnte es ja selbst nicht glauben, aber es stimmt.« Ich stemmte meine Ellbogen auf den winzigen Tisch und beugte mich vor. »Weißt du, das spielt sich so ab: Die Bandersnatchi müssen eine Bevölkerungskontrolle ausüben. Im Tiefland gibt es nur soundsoviele Küstenlinien, wo sie ihre Nahrung finden. Und sie müssen auch dafür sorgen, daß keine Langeweile aufkommt. Kannst du dir nicht vorstellen, wie sehr sie sich gelangweilt haben müssen, ehe die Menschen nach Jinx kamen? Was haben sie da getan? Sie machten einen Vertrag mit der Regierung von Jinx. Sagen wir einmal, ein Mensch braucht ein Ban-
dersnatch-Skelett. Er will vielleicht einen Trophäenraum einrichten. Er geht also zur Regierung von Jinx und bekommt eine Lizenz. Diese Lizenz schreibt ihm genau vor, welche Ausrüstung er in das Tiefland mitnehmen kann, das ausschließlich von Bandersnatchi bewohnt ist, weil dort der atmosphärische Druck so hoch ist, daß er die Lunge eines Menschen glatt zerdrückt. Und die Temperatur ist so, daß er gekocht wird. Erwischt man ihn dabei, daß er andere Waffen mitnimmt, geht er für lange Zeit ins Gefängnis. Vielleicht gelingt es ihm, ein Bandersnatch zu erlegen, vielleicht auch nicht, und vielleicht kommt er selbst nicht zurück. Seine Ausrüstung gibt ihm Chancen sechzig zu vierzig. Egal, wie es ausgeht, die Bandersnatchi bekommen achtzig Prozent der Gebühr, und die beträgt glatte tausend Stars netto. Und damit kaufen sie, was sie brauchen.« »Zum Beispiel Hände.« »Richtig. Oh, und noch etwas. Ein Delphin kann seine Hände mit der Zunge kontrollieren, doch ein Bandersnatch kann das nicht. Wir müssen also das Kontrollgerät chirurgisch in sein Nervensystem einbauen. Das ist nicht sehr schwierig.« Jilson schüttelte den Kopf und bestellte eine dritte Flasche. »Sie tun andere Dinge«, sagte ich. »Das Institut des Wissens hat Instrumente in den Tieflanden. Laboratorien und so. Und das Institut möchte einiges darüber erfahren, was unter den Druck- und Temperaturverhältnissen des Tieflands geschieht. Die Bandersnatchi machen all diese Experimente und bedienen sich dabei der mechanischen Hände.«
»Du bist also wegen eines neuen Marktes gekommen.« »Man sagte mir, auf Down gebe es eine neue denkende Lebensform, die keine Werkzeuge benützt.« »Hast du deine Absicht geändert?« »Bin gerade dabei. Jilson, wie kommst du darauf, daß sie vernunftbegabt sind?« »Ihre Gehirne. Die sind riesig.« »Sonst nichts?« »Nein.« »Ihre Gehirne arbeiten vielleicht nicht so wie die unseren. Die Nervenzellen könnten ganz anders konstruiert sein.« »Schau mal, jetzt werden wir technisch. Geben wir das Thema doch lieber für heute abend auf.« Damit schob Jilson die Gläser und Flaschen weg und sprang auf den Tisch. Er schaute sich langsam und betont genau in Czillers Irischem Kaffeehaus um und beschrieb dabei mit seinem Kopf einen langsamen Bogen. »Ha, Garvey, ich habe eine Kusine von mir gesehen. Sie ist mit einer Freundin da. Wir setzen uns zu ihnen. Es ist sowieso gleich Abendessenszeit.« Ich glaubte, wir würden sie zum Essen ausführen, aber das taten wir nicht. Sharon und Lois kochten uns unser Abendessen persönlich, und alles, was dazu nötig war, kauften wir in einem Spezialgeschäft ein. Zum erstenmal sah ich nun rohes Fleisch, wie es aus einem toten Tier herausgeschnitten worden war, und rohe Pflanzen, wie sie aus dem Boden wuchsen. Das ekelte mich an, und ich hatte Mühe, es mir nicht anmerken zu lassen. Aber das Essen schmeckte köstlich. Danach schwatzten und tranken wir noch ein we-
nig nett und höflich miteinander und kehrten ins Hotel zurück. Ich ging schlafen mit dem festen Vorsatz, am folgenden Morgen ein Schiff zu nehmen. Gegen vier Uhr morgens wachte ich in völliger Dunkelheit auf, starrte zur unsichtbaren Decke hinauf und sah den Kegel mit der abgerundeten Spitze und dem glatten rötlichen Haar, und der Schlitzmund lächelte ein wenig. Ja, ein wenig spöttisch lächelte er. Der Kegel hatte also Geheimnisse. Am Nachmittag war ich mit meinen Vermutungen einem dieser Geheimnisse wahrscheinlich ziemlich nahe gekommen; ich hatte etwas gesehen, aber ohne es zu bemerken ... Fragt mich nur nicht, woher ich das wußte. Ich wußte es einfach mit kristallener Klarheit, und ein Zweifel daran war nicht möglich. Aber mir fiel nicht ein, was ich gesehen hatte. Ich stand auf und wählte die Küche an, um etwas heiße Schokolade und ein Thunfischbrot zu bekommen. Warum sollten sie intelligent sein? Warum sollten Kegel mit sitzender Lebensweise ein Gehirn entwikkeln? Ich dachte nach, wie sie sich wohl vermehren könnten. Sicher nicht bisexuell; sie konnten ja gar nicht zueinander kommen. Wenn nicht ... Aber natürlich mußte es bei ihnen auch einen Zustand der Bewegung geben. Diese Pfotenrudimente ... Was mochten sie essen? Nahrung konnten sie doch nicht finden. Sie mußten also warten, bis die Nahrung zu ihnen kam, so wie andere ortsfeste Tiere; Seemuscheln zum Beispiel, Seeanemonen oder die Dummidgy-Orchidee, die ich in meinem Wohnzimmer halte und mit denen ich meinen Gästen einen fürch-
terlichen Schrecken einjagen kann. Sie hatten ein Gehirn. Warum? Was taten sie damit? Nur dasitzen und über all das nachdenken, was ihnen fehlte? Ich brauchte Daten. Morgen wollte ich mich an Jilson wenden ...
3 Um elf Uhr am folgenden Morgen waren wir im Stadtzoo. Hinter einem Repulsorfeld schnappte und fauchte etwas nach uns; etwas, das aussah wie eines irren Gottes Versuch, eine haarige Bulldogge zu machen. Das Tier hatte keine Nase, und das Maul war ein flacher, lippenloser Schlitz, der zwei zerklüftete hufeisenförmige Schneidewerkzeuge verbarg. Das lange, grobe Haar war von der Farbe des Sandes, wenn rotes Sonnenlicht darauf fällt. Die Vorderpfoten hatten vier lange gespreizte Zehen, so daß sie wie Hühnerfüße aussahen. »Diese Füße sind mir schon bekannt«, sagte ich. »Ja«, antwortete Jilson. »Das ist ein junges Grog. In diesem Alter und Zustand paaren sie sich. Dann sucht sich das Weibchen einen Stein und bleibt dort sitzen. Wenn sie groß genug ist, beginnt sie Kinder zu haben. Das ist die Theorie. In Gefangenschaft tun sie es nicht.« »Und die Männchen?« »Die sind im nächsten Käfig.« Zwei Männchen waren von der Größe von Chihuahuas und etwa vom gleichen Temperament wie sie. Aber sie hatten die scharfkantigen Hufeisenzähne
und das grobe rötliche Haar. »Jilson, wenn sie doch intelligent sind, warum sind sie dann in Käfigen?« »Wenn du glaubst, das sei schlecht, dann warte nur, bis du das Labor siehst. Schau mal, Garvey, du darfst niemals vergessen, daß bisher kein Mensch ihre Intelligenz bewiesen hat. Bis es jemand tut, sind sie Versuchstiere.« Sie strömten einen seltsamen, eigentlich fast angenehmen Geruch aus, der so schwach war, daß man ihn nach zwei oder drei Sekunden schon nicht mehr bemerkte. Ich spähte zum schnappenden, noch bewegungsfähigen Weibchen hinein. »Und was geschieht dann? Schämen sich dann vielleicht plötzlich alle?« »Das möchte ich bezweifeln. Weißt du zufällig, was Lilly und seine Leute mit den Delphinen taten, während sie zu beweisen versuchten, daß sie intelligent sind?« »Gehirnproben und Gefangenschaft. Aber das ist schon sehr lange her.« »Lilly versuchte zu beweisen, daß Delphine intelligent sind, aber er behandelte sie wie Versuchstiere. Und warum nicht? Das ist doch vernünftig. Hat er recht, dann hat er der Spezies einen Dienst erwiesen. Hat er nicht recht, hat er nur seine Zeit an Tiere verschwendet. Und er hat den Delphinen einen ganz verdammten Antrieb gegeben, zu beweisen, daß er recht hatte.« Kurz nach der Mittagszeit erreichten wir das Labor für xenobiologische Forschung, ein langgestrecktes Gebäude jenseits der Stadtgrenzen, umgeben von
braunen Feldern mit ultravioletten Lampen auf hohen Pfosten. In der Ferne sahen wir den Ho-Fluß, auf dem sich ganze Herden von Wasserskiläufern hinter den Motorbooten tummelten. Ein Dr. Fuller führte uns durch das Labor. Zweifellos war er ein Crashländer, ein über zwei Meter großer Albino, sehr schlank, ein wenig gebückt, mit fast skelettartigen Gliedmaßen. »Sie sind an den Grogs interessiert?« erkundigte er sich. »Wissen Sie, das wundert mich nicht. Es ist sehr schwierig, sie zu studieren. Aus ihrem Verhalten läßt sich gar nichts schließen. Sie sitzen nur. Wenn etwas vorbeikommt, essen sie es auf. Und dann bekommen sie Junge.« Er hatte einige Exemplare aus der vor-sitzenden Zeit, die bulldoggegroßen Vierfüßler, und er hielt sie in Käfigen. In einem weiteren Käfig hielt er zwei Männchen. Sie bellten oder fauchten ihn nicht an, und er behandelte sie mit Zärtlichkeit, die schon fast an Liebe grenzte. Er schien mir ein glücklicher Mann zu sein. Für einen Albino aus der Welt WIR HABEN ES GESCHAFFT mußte Down das reinste Paradies sein. Man konnte das ganze Jahr hindurch im Freien herumlaufen, der Boden ließ etwas wachsen, und unter der roten Sonne brauchte man keine Tanninpillen. »Sie lernen sehr schnell«, erklärte er ernsthaft. »Das heißt, in der Freiheit kommen sie sehr gut zurecht. Intelligent sind sie aber ganz sicher nicht. Oder vielleicht so intelligent wie ein Hund Sie wachsen schnell und fressen sehr viel. Sehen Sie sich das hier einmal an.« Er hob ein sehr fettes Weibchen mit runder Sitzfläche auf. »In ein paar Tagen wird sie sich einen
Platz suchen, auf dem sie sich festsetzen kann.« »Was werden Sie dann tun? Das Weibchen freilassen?« »Wir werden sie außerhalb des Labors halten; einen sehr schönen Ankerfelsen haben wir für sie schon beschafft und einen Käfig um ihn herum gebaut. Im Käfig bleibt sie, bis sie die Form ändert, und dann entfernen wir ihn. Das haben wir schon früher mehrmals versucht, nur hatten wir bisher kein Glück damit. Alle sind gestorben. Sie wollen nicht mehr fressen, nicht einmal dann, wenn wir ihnen lebendes Fleisch anbieten.« »Was läßt Sie hoffen, daß gerade dieses Weibchen überleben wird?« »Nun, wir müssen es immer wieder versuchen. Vielleicht finden wir heraus, was wir bisher verkehrt gemacht haben.« »Hat ein Grog je einen Menschen angegriffen?« »Noch nie, soviel mir bekannt ist.« Das war so gut wie NEIN, weil ich herausfinden wollte, ob sie intelligent waren. Man denke doch einmal an die Zeit, als man zum erstenmal vermutete, daß die Wale die zweite intelligente Lebensform der Erde seien. Damals wußte man, daß die Delphine sehr oft in Schwierigkeiten geratenen Schwimmern geholfen hatten, daß von einem Angriff von Delphinen auf Menschen nichts, überhaupt nichts bekannt war. Nun, worin bestand eigentlich der Unterschied, ob sie nun überhaupt keine Menschen angegriffen hatten oder nur dann nicht, wenn man sie dabei erwischen konnte? Beide Feststellungen waren ja an sich schon Intelligenzbeweise. »Natürlich ist ein Mensch wahrscheinlich zu groß
für ein Grog, um ihn aufzufressen«, meinte Dr. Fuller. Er deutete auf den Schirm eines Mikroskops. »Schauen Sie sich das einmal an.« Auf dem Schirm war der Ausschnitt einer Nervenzelle zu sehen. »Das ist ein Bild aus dem Nervensystem eines Grogs, genau gesagt, aus seinem Gehirn. Wir haben in dieser Beziehung unsere Forschungen weit vorangetrieben. Die Nerven übertragen Impulse langsamer als die menschlichen, wenn auch der Unterschied nicht sehr groß ist. Wir haben entdeckt, daß ein sehr stark stimulierter Nerv den Nachbarnerv ebenso anzuregen vermag, wie dies beim menschlichen Nervensystem der Fall ist.« »Sind Ihrer Meinung nach also die Kegel intelligent?« Das wußte Dr. Fuller selbst nicht zu sagen; er erklärte es sehr ausführlich und umständlich, und ich sah, daß es ihn selbst recht betrübte. Seine Ohren wurden unter der transparenten Haut feuerrot. Er hätte es selbst allzu gern gewußt. Vielleicht war er der Meinung, ein Recht auf dieses Wissen zu haben. »Dann sagen Sie mir bitte das. Gibt es irgendeinen evolutionären Grund dafür, daß sie vielleicht Intelligenz entwickelt haben könnten?« »Das ist eine viel bessere Frage.« Trotzdem zögerte er mit der Antwort. »Das kann ich Ihnen sagen. Es gibt auf der Erde ein Wassertier, das sein Leben als freischwimmender Wurm mit einem Notochord beginnt. Später wird es seßhaft, und gleichzeitig gibt es diesen Rückenstrang wieder auf.« »Erstaunlich! Und was genau ist dieses Notochord?« Er lachte. »Nun, ein Rückenstrang, wie ich schon
sagte. Er entspricht dem menschlichen Rückgrat. Es ist ein Strang nervlicher Verbindungen zu den Stammnerven des Körpers. Primitivere Formen haben sensorische Verbindungen, die aber ohne erkennbares System angeordnet sind. Fortgeschrittenere Lebensformen wickeln sozusagen den Rückenstrang ein und machen ihn so zur Wirbelsäule.« »Und dieses Tier gibt also seinen Rückenstrang auf.« »Ja. Es ist eine Rückbildung.« »Aber die Grogs sind doch anders.« »Das ist richtig. Sie entwickeln ihr großes Gehirn nicht, solange sie sich nicht festsetzen. Nein, einen evolutionären Grund kann ich Ihnen nicht nennen. Sie brauchten ja eigentlich gar kein Gehirn. Und sie sollten auch keines haben. Was tun sie denn anderes als dasitzen und auf einen Happen warten, der zufällig vorüberkommt?« »Sie werden ja fast zum Dichter, wenn sie über Grogs sprechen.« »Vielen Dank, aber ich denke nur über sie nach. Mr. Garvey, wollen Sie mit mir kommen, bitte? Sie auch, Jil. Ich möchte Ihnen das Zentralnervensystem eines Grogs vorführen. Dann werden Sie ebenso erstaunt – und verwirrt sein wie ich.« Das Gehirn war sehr groß, kugelförmig und von merkwürdiger Farbe, fast so grau wie die Gehirnzellen des Menschen, nur mit einem Gelbstich. Vielleicht kam dieser Gelbstich aber von der Konservierungsflüssigkeit. Das Kleingehirn war kaum zu bemerken, und das Rückenmark erwies sich als schlaffer weißer, sehr dünner Strang, der sich nahezu zu einem Faden verdünnte, ehe er sich in viele Zweige auflöste. Was
konnte dieses monströse Gehirn kontrollieren, wenn praktisch kein Rückenmark da war, das Botschaften weiterleiten konnte? »Ich nehme an, die meisten Nerven, die zum Körper führen, laufen nicht durch den Rückenstrang.« »Da haben Sie, glaube ich, nicht recht, Mr. Garvey. Ich habe vergeblich versucht, ergänzende Nerven zu finden.« Er lächelte ein wenig. Nun hatte ich einen Teil des Problems serviert bekommen und begriffen. Wir hätten Nächte darüber diskutieren können. »Ist das Nervenmaterial anders bei der beweglichen Form?« »Nein. Die bewegliche Form hat ein kleineres Gehirn und einen kräftigeren Rückenstrang. Ich sagte ja schon, deren Intelligenz entspricht etwa der eines Hundes. Das Gehirn ist da ein wenig größer, aber das ist ja zu erwarten, wenn man überlegt, daß die Impulse langsamer weitergeleitet werden.« »Richtig. Nützt es Ihnen etwas, zu wissen, daß Sie mir den ganzen Tag verdorben haben?« »Oh, natürlich.« Er lachte mich an. Wir waren Freunde. Er fühlte sich geschmeichelt, weil ich begriff, worüber er sprach. Sonst hätte ich nicht so verständnislos dreingesehen. Die weiche rote Sonne senkte sich schon dem Horizont entgegen, als wir herauskamen. Wir blieben noch ein wenig vor dem Käfig stehen, den Dr. Fuller außen hatte errichten lassen. Ein großer Felsbrocken lag darin, um den Sand gehäuft war und das alles war von einem weiten Zaun mit einer Gittertür umgeben. Unmittelbar am Zaun war ein kleiner Käfig mit einer Kolonie weißer Häschen. »Noch eine letzte Frage, Doktor. Wie essen sie ei-
gentlich? Sie können doch nicht nur dasitzen und darauf warten, daß ihnen die Nahrung in die Münder hüpft.« »Nein. Sie haben eine sehr lange, dünne Zunge. Ich wollte ich könnte einmal zusehen, wenn sie sich ihrer bedienen. In Gefangenschaft essen sie nichts, und das tun sie auch sonst nicht, wenn ein menschliches Wesen in ihrer Nähe ist.« Wir verabschiedeten uns und flogen mit unseren Himmelsrädern weg. »Es ist erst drei Uhr vorüber«, sagte Jilson. »Willst du noch mal ein wildes Grog sehen, ehe du Down den Rücken kehrst?« »Ich glaube ja.« »Wir könnten in die Wüste fliegen. Vor Sonnenuntergang wären wir wieder zurück.« Also wandten wir uns nach Westen. Der Fluß Ho trieb gemächlich unter uns dahin, und dann überflogen wir weite Gebiete kultivierten Landes.
4 Sie können nicht intelligent sein, dachte ich. Nein, sie können nicht. »Was?« »Entschuldige, Jilson. Habe ich denn laut gedacht?« »Ja. Du hast das Gehirn gesehen, nicht wahr?« »Ja.« »Wie kannst du dann sagen, daß sie nicht intelligent sind?« »Sie haben keine Verwendung für Intelligenz.« »Hat ein Delphin Verwendung dafür? Oder ein
Narwal? Oder ein Bandersnatch?« »Ja, natürlich. Nein ... Denk es doch durch. Ein Delphin muß seine Nahrung jagen. Er muß hungrige Killerwale übertölpeln. Auch ein Narwal hat das Killerwalproblem, oder hatte es mindestens. Und dann die Walfangschiffe. Je klüger sie waren, desto länger konnten sie leben. Vergiß nicht, die Wale sind Säugetiere. Sie haben an Land Intelligenz entwickelt. Als sie ins Meer zurückkehrten, wuchsen sie, und auch ihre Gehirne wuchsen mit. Je besser ihre Gehirne waren, desto besser konnten sie auch ihre Muskeln kontrollieren, und desto lebhafter waren sie im Wasser. Sie brauchten Intelligenz, und das war ihr Vorteil.« »Und die Bandersnatchi?« »Du weißt recht gut, daß die Bandersnatchi nicht von der Evolution geschaffen wurden.« Er starrte mich entgeistert an. »Waaaaas?« »Weißt du das wirklich nicht?« »Ich habe noch nie von einer Lebensform gehört, die nicht durch Evolution entstanden wäre. Wie ist es dann geschehen?« Ich erzählte es ihm. Es war einmal ... Aber das war kein Märchen, sondern es gab tatsächlich vor eineinhalb Milliarden Jahren eine intelligente zweibeinige Spezies. Intelligent, wenn auch nicht sehr. Aber sie hatte eine natürliche Fähigkeit, die Gedanken aller vernunftbegabten Rassen zu beeinflussen, die ihnen begegneten. Heute nennen wir sie Sklavenhalter. Das Reich der Sklavenhalter umfaßte auf dem Höhepunkt seiner Blüte fast die gesamte Galaxis. Eine ihrer Sklavenrassen waren die Tnuctip, eine
weit entwickelte, hochintelligente Spezies, die schon biologische Ingenieursarbeit leistete, als die Sklavenhalter sie entdeckten. Die gewährten ihnen eine begrenzte Freiheit, nachdem sie herausgefunden hatten, wie sehr ihnen diese hochentwickelten Gehirne nützen konnten. Als Gegenleistung bauten ihnen die Tnuctip biologische Werkzeuge, Aniplantagen für ihre Raumschiffe, Stufenbäume mit einem Präzisionsmark aus festen Raketentreibstoffen, züchteten Tiere für Rennen und die Bandersnatchi. Das Bandersnatch war ein Fleischtier. Es fraß alles und war, bis auf das Skelett, restlos genießbar. Dann kam vor fast eineinhalb Millionen Jahren der Tag, da die Sklavenhalter herausfanden, daß die meisten der Tnuctip-Gaben trojanische Pferde waren. Die Rebellion war von langer Hand vorbereitet, und die Sklavenhalter hatten ihre Sklaven unterschätzt. Um den Krieg zu gewinnen, mußten sie sich einer Waffe bedienen, welche nicht nur die Tnuctip vernichtete, sondern auch alle anderen vernunftbegabten Spezies, die es damals in der Galaxis gab. Ohne Sklaven starben aber auch die Sklavenhalter. Über den ganzen bekannten Raum verteilt befanden sich auf verschiedenen unbekannten oder merkwürdigen Welten zwischen den Sternen die Reste des Sklavenhalterreiches. Einige waren SklavenhalterArtifakte, die durch Stasisfelder gegen die Zeit geschützt waren. Andere waren mehr oder weniger Mutationen und Tnuctip-Kreationen: Sonnenblumen, Stufenbäume Schiffsluftpflanzen, die nackt in Blasen im Raum schwammen – und Bandersnatchi. Die waren eine der Fallen der Tnuctip gewesen. Sie waren als denkende Wesen gebaut worden, so daß
man sie als Spione verwenden konnte. Irgendwie war es den Tnuctip gelungen, sie gegen die Macht der Sklavenhalter immun zu machen, und so hatten sie die Revolution überlebt ... Wofür? Die Bandersnatchi von Jinx verbrachten ihr Leben in einem suppigen Nebel, der unter hohem Druck stand; sie nährten sich von dem alten Nahrungsmittelschaum, der noch immer wie ein grauer, käsiger Brei in Fußhöhe den Ozean bedeckte. Nichts erreichte ihre Sinne als der Geschmack und Geruch dieses heftigen Schaumes und der unaufhörliche graue Nebel. Sie hatten denkfähige Gehirne, aber nichts zu denken ... bis der Mensch kam. »Und mutieren kann das Bandersnatch nicht«, schloß ich. »Also kann man es vergessen. Es ist die berühmte Ausnahme, welche die Regel bestätigt. Alle anderen bekannten Handikaps brauchten Gehirne, ehe sich ihr Gehirn entwickeln konnte.« »Und alle gehören den Walfamilien aus den Ozeanen der Erde an.« »Nun ja ...« Jilson schniefte. Zum Teufel, wie sehr hatte er doch recht! Alle waren Wale ... Das kultivierte Land hatten wir weit hinter uns. Allmählich wurden die Ebenen zur Wüste. Jetzt fühlte ich mich doch schon behaglicher mit dem Himmelsrad unter mir, dieser Plattform mit Sattel und einem übergroßen Lebensrettungsmotor, einer Luftpumpe und einem Kraftfeldgenerator, um den Wind unwirksam zu machen. Jetzt, da ich nicht mehr so sehr befürchten mußte, daß ich einen Fehler machte, konnte
ich auch niedriger fliegen. Aus dieser geringen Höhe gesehen wirkte die Wüste recht lebendig. Vor dem Wind rollend gab es hier einen wilden Vetter der Steppenhexe; hier war es ein gerader Stengel mit orangefarbenen Blättern unten am Fuß. Diese fleischigen Blätter waren mit rasiermesserscharfen Kanten ausgerüstet, um Grasfresser abzuschrecken. Aber da beobachtete ich einen fuchsgroßen Pflanzenfresser, der mitten aus einem Blatt fraß. Er schaute auf, sah uns und rannte davon. Und dann war da ein scharlachroter Blitz; eine Wüstenpflanze war in diesem Moment aufgeblüht. Die weiche rote Sonne ließ alles wie die Dekoration in einem Nachtklub erscheinen, den ich von zu Hause her kannte. Er ist so dekoriert, wie der Mars angeblich ausgesehen hatte – vor dem Zeitalter der Raumfahrt. Die Illusion von Entfernung: roter Sand, schnurgerade Kanäle, in denen unwahrscheinlich klares Wasser lief, kristallene Türme, die hoch, sehr hoch in den Himmel ragten, und unglaublich pralle, leuchtende Mondsicheln. Plötzlich brauchte ich einen Drink. Ich wühlte in meinen Satteltaschen und hoffte eine Flasche zu finden. Es war auch eine da und noch ziemlich voll. Ich öffnete den Verschluß, setzte die Flasche an die Lippen – und wäre fast erstickt. Martini! Ein wenig zu süß zwar, aber noch viel kälter als eiskalt. Ich nippte zweimal ganz wenig daran und steckte die Flasche wieder weg. »Ich mag die Downer«, sagte ich. »Gut. Und warum?« »Kein Flachländer würde daran denken, einen Martini in ein gemietetes Himmelsrad zu stecken, wenn man es nicht ausdrücklich verlangt hätte.«
»Harry ist ein netter Kerl. Hoppla, da ist ein Kegel!« Ich schaute hinab, und richtig, da saß ein Grog in seinem eigenen Schatten, und das sandfarbene Haar hob sich kaum vom Sand ab. Und jetzt wußte ich auch plötzlich, weshalb ich am Morgen so unvermittelt vor Tagesanbruch erwacht war. »Was ist denn los?« fragte Jilson. Mir wurde klar, daß ich vor Staunen gestöhnt hatte. »Nichts, Jilson. Ich weiß nur noch lange nicht alles, was ich über die Tiere auf Down wissen müßte. Scheiden sie feste Stoffe aus?« »Ob sie was ...? He, das hast du aber vornehm ausgedrückt. Ja, das tun sie.« Er steuerte den Kegel an. Er saß fest auf einem geneigten flachen Stein, der mit einer Seitenkante aus dem Sand ragte. Der Fels war absolut sauber. »Dann tun es diese Grogs doch auch.« »Richtig.« Jilson landete. Ich ließ mich neben ihm zu Boden treiben, hopste dabei aber ein wenig, als ich aufkam. Das Grog sah uns an und lächelte freundlich. »Und der Beweis? Wer macht hier sauber?« Jilson kratzte sich den Kopf. Er ging um das Grog herum kam zurück und sah recht verblüfft drein. »Komisch. Daran habe ich noch nie gedacht. Aasvögel oder so?« »Möglich.« »Ist das denn sehr wichtig?« »Möglich. Die meisten seßhaften Tiere leben im Wasser. Das Wasser trägt alles weg.« »Es gibt ein seßhaftes Wesen auf Gummidgy, bei dem das nicht zutrifft.«
»Ein solches habe ich. Aber das Orchideending wohnt doch in Bäumen. Es klammert sich an einen schönen dicken Horizontalast und läßt den Schwanz darüber herunterhängen.« »Hm.« Er schien nicht sehr interessiert zu sein. Zweifellos hatte er recht. Es mußte ein Aasvogel sein, der hinter dem Grog oder für das Grog aufräumte. Aber für mich klang das unwahrscheinlich. Warum sollte ein Aasvogel oder ein Straßenkehrertier so gute Arbeit tun? Das Grog und ich sahen einander an. In der Regel leidet ein Handikap-Wesen an sensorischen Unzulänglichkeiten. Wale leben unter Wasser; Bandersnatchi in heißem Nebel, der unter starkem Druck steht. Vielleicht war es noch zu früh, bestimmte Regeln aufzustellen, aber eines ist sicher: ein Handikap-Wesen kann nicht leicht mit seiner Umgebung experimentieren; Experimente bedürfen im allgemeinen der Werkzeuge. Aber das Grog hatte wirkliche Schwierigkeiten. Blind, gefühllos in allen Extremitäten infolge eines nahezu nutzlosen Rückenstranges, nicht in der Lage, den Weg selbst zu einer anderen nahen Örtlichkeit zurückzulegen – welches Bild vom Universum konnte sich ein solches Wesen wohl machen? Ich ertappte mich dabei, wie ich die Hände des Grog anstarrte. Hände. Zu nichts nütze, natürlich nicht. Aber Hände. Vier Finger mit winzigen Klauen, die um eine winzige Handfläche lagen, etwa so angeordnet wie bei einem kleinen mechanischen Greifer. »Es hat sich nicht entwickelt, sondern zurückgebildet!«
Jilson starrte mich entgeistert an. Er benützte sein Himmelsrad als Sitzgelegenheit, weil in meilenweitem Umkreis keine andere verfügbar war. »Wovon redest du eigentlich?« »Vom Grog. Es hat verkümmerte Hände. Diese Spezies muß einmal von höherer Lebensform gewesen sein.« »Oder es war ein Klettertier – wie ein Affe.« »Das glaube ich nicht. Eher denke ich, es hatte ein Gehirn, Hände und Beweglichkeit. Und dann passierte etwas, und es verlor seine Zivilisation. Und jetzt hat es auch noch seine Beweglichkeit und die Hände eingebüßt ...« »Warum hat es denn aufgehört, sich zu bewegen?« »Vielleicht wurde die Nahrung knapp. Wenn man sich nicht bewegt, spart man Energie.« Doch ich wußte, daß das reine Vermutung war, und fügte deshalb an: »Oder vielleicht hat es zuviel Dreide-TV gesehen. Ich kenne Leute, die sich wochenlang nicht vom Gerät weg bewegen.« »Während der Interwelt-Spiele hat mein Vetter Ernie ... Ach, zum Teufel damit! Meinst du vielleicht wirklich, das könnte die Antwort sein?« »Ja. Eine Falle, keine Augen, keine sensorische Aufnahmemöglichkeit, auch keine Möglichkeit, etwas mit dem anzufangen, worüber es nachdenkt. Es ist wie bei einem blind-taubstummen Baby, dessen Tastempfinden am ganzen Körper gestört ist. Der sogenannte Handschuheffekt.« »Aber es hat doch noch das Gehirn, die Intelligenz.« »Wie du deinen Blinddarm hast. Die Intelligenz verliert es dann auch noch, weil sie ja nicht entwickelt
werden kann.« »Aber du hast dir doch ehrliche Sorgen über die Handikap-Wesen gemacht. Kannst du nichts für sie tun?« »Euthanasie vielleicht. Nein, nicht einmal das ... Wir wollen lieber nach Downtown zurückkehren.« Ich stapfte durch den Sand zu meinem Himmelsrad und war maßlos enttäuscht und entmutigt. Die Bandersnatchi hatten Menschen gebraucht, die ihnen von den Sternen erzählten. Aber was kann man einem haarigen Kegel erzählen? Nein, ich mußte nach Downtown zurück, dann zur Erde. Auch dort gibt es zu tun; Menschen, denen kein Arzt und kein Psychiater mehr helfen kann. Und überall gibt es Spezies, die jenseits aller Hilfsmöglichkeiten sind. Bei den Grogs konnte man da nicht anfangen. Ein paar Schritte vom Himmelsrad entfernt hockte ich mich auf gekreuzten Beinen in den Sand. Jilson ließ sich neben mir nieder. Wir saßen dem Grog gegenüber und warteten. »Worauf warten wir eigentlich?« fragte Jilson von Zeit zu Zeit. Ich zuckte die Achseln, denn ich wußte es auch nicht. Aber Jilson bewegte sich ebensowenig vom Fleck wie ich. Mit kristallklarer Sicherheit wußte ich, daß wir das Richtige taten. Gleichzeitig wandten wir uns vom Grog ab und schauten in die Wüste hinaus. Ein Tier von Rattengröße hoppelte uns entgegen; es wirbelte dabei ein wenig Staub auf. Dahinter kam noch eins, ein zweites ein drittes. Sie sprangen ziem-
lich hoch oder hoppelten über den Sand und standen im Halbkreis um das Grog herum und schauten es an. Das Grog wandte sich ihnen zu; wir Menschen oder andere Wirbeltiere würden den Hals drehen, doch das Grog drehte den ganzen Kegel, und das sah fast aus, als winde man ein Tischtuch aus. Das Grog sah blicklos die Sandratten an, und diese hockten sich auf ihre Hinterkeulen und schauten zurück. Der Mund des Grog öffnete sich. Es war eine Höhle, und die Zunge war auf dem rosafarbenen Boden zusammengeringelt. Sie bewegte sich wie ein Blitz, unsichtbar schnell; zwei der Ratten waren verschwunden. Der Mund, der so groß war, daß er vielleicht sogar einen Menschen hätte verschlucken können, klappte zu und lächelte sanft, satt und zufrieden. Die dritte Ratte saß auf den Hinterkeulen. Keine hatte davonzurennen versucht. Es wäre ihnen ohne weiteres möglich gewesen. Wieder klappte das Grogmaul auf. Und dann tat die letzte Sandratte einen Sprung mit Anlauf und landete direkt auf der zusammengeringelten Zunge. Der Mund schloß sich zum letztenmal, und der Kegel drehte sich wieder uns zu. Ich hatte nun alle Antworten; alle auf einmal, intuitiv, überzeugend. Es war so eindeutig und selbstverständlich wie die Tatsache, daß ich auf gekreuzten Beinen im Sand hockte. Das Grog verfügte über so etwas wie parapsychologische Kräfte. Es konnte Gedanken kontrollieren, selbst so unpersönliche wie die von Sandratten. Das war also der Zweck des großen Grog-Gehirns. Seine Intelligenz war eine Nebenwirkung seiner
Kraft. Seit Äonen mußten die Grogs ihre Nahrung zu sich gerufen haben. Nach ihrer Kindheit brauchten sie nicht zu jagen. Nach der abgeschlossenen Entwicklung ihres Gehirns brauchten sie sich niemals mehr zu bewegen. Sie brauchten auch keine Augen und bedurften keiner anderen sensorischen Wahrnehmungen. Sie bedienten sich der Sinne anderer Tiere. Sie riefen ihre Straßenkehrer und Aasvögel, die ihren Felsen reinigen mußten, auch ihren Pelz, wenn es nötig war. Ihre Gedankenkontrolle brachte Fleischtiere zu ihren vor-seßhaften Weibchen, dirigierte ihre Brutgewohnheiten und führte sie zum richtigen Ankerfelsen. Und jetzt gaben sie Informationen direkt in mein Gehirn ein. Ich sagte: »Aber warum gerade ich?« Mit der »kristallklaren Sicherheit« wußte ich, daß ich verstehen und erkennen lernen mußte. Die Grogs wußten genau, was ihnen fehlte. Sie hatten die Gedanken von Vorübergehenden gelesen: erst die von Kzinti-Kriegern, dann von menschlichen Forschern, Erzgräbern, Ausflüglern; und mein Geschäft war die Versorgung der Handikap-Wesen. Sie hatten von den Delphin-Händen erfahren. Sie hatten Jilson und andere wissen lassen, wenn auch ohne Beweis, daß die Grogs denkende Wesen waren, und das auch zu sagen, wenn die richtige Person erschiene. Ohne Beweis ... Das war wichtig. Sie mußten wissen, was auf sie zukam, ehe sie sich selbst zu erkennen gaben oder engagierten. Menschen wie Dr. Fuller konnten die Spezies erforschen, wenn sie wollten. Es sähe ver-
dächtig aus, würde man sie daran hindern. Aber etwas hielt sie davor zurück, diese handähnlichen Dinger, diese winzigen Vorderpfoten zu bemerken, dieses Fehlen biologischen Abfalls in der Umgebung eines wilden Grog. Konnte ich ihnen helfen? Diese Frage wurde allmählich zur Besessenheit. Ich schüttelte heftig den Kopf, weil ich die Frage abschütteln wollte. »Ich weiß nicht«, sagte ich. »Warum habt ihr so lange gewartet, bis ihr euch zu erkennen gabt?« Angst ... »Warum? Sind wir so furchterregend?« Ich wartete auf eine Antwort, doch es kam keine. In meinem Gehirn war keine plötzliche absolut überzeugende Meinung zu finden, auch keine Daten, keine Erklärungen und dergleichen. Dann fürchteten sie sich also sogar vor mir. Vor mir, der ich doch hilflos war vor einer blitzschnell zuckenden Zunge und einem eisernen Gehirn. Warum wohl? Ich war davon überzeugt, daß die Grogs sich aus einer höheren, zweibeinigen Lebensform entwickelt hatten. Die winzigen Hände, die wie mechanische Greifer aussahen, waren dafür doch charakteristisch. Und ebenso bezeichnend war die spukhafte, unheimliche Gedankenkontrolle ... Ich versuchte aufzustehen, davonzurennen, doch meine Beine gehorchten mir nicht. Ich versuchte eine Mattscheibe aus meinem Geist zu machen, um das zu verstecken, was ich vermutete, doch es gelang mir nicht. Sie konnten meine Gedanken lesen, und sie wußten also ...
»Es ist die Macht der Sklavenhalter. Eure Vorfahren waren Sklavenhalter.« Und da saß ich nun, und mein Geist war weit offen und hilflos ... Es war tröstlich, als ich mit kristallklarer Gewißheit erkannte, daß die Grogs nichts von Sklavenhaltern wußten. Daß sie, soviel sie wußten, immer dagewesen waren. Die Grogs konnten gar nicht idiotisch genug sein, sich selbst anzubiedern. Sie waren seßhaft. Sie konnten sich nicht bewegen. Ihre übrig gebliebene Sklavenhalterkraft konnte nicht einmal um die halbe Welt reichen, so daß nicht alle Grogs zu einer Zusammenarbeit aufgefordert werden konnten. Wie könnten sie daher davon träumen, eine Spezies anzugreifen, die den ganzen Raum in einem Durchmesser von dreißig Lichtjahren Raumzeit beherrschte? Die Angst allein war es gewesen, die sie hinderte, den Menschen wissen zu lassen, was sie waren. Die Angst vor der Ausrottung. »Du könntest lügen darüber, wie weit du reichen kannst. Ich würde es niemals wissen, wenn du lügst.« Nichts. Gar nichts berührte meinen Geist. Ich stand auf. Jilson beobachtete mich, stand dann ebenfalls auf und klopfte sich mechanisch den Sand ab. Er schaute das Grog an, öffnete den Mund und schloß ihn wieder. Dann schluckte er heftig. »Garvey«, sagte er, »was hat das Ding mit uns gemacht?« »Hat es dir das nicht gesagt?« Im gleichen Moment wußte ich aber ganz bestimmt, daß es das nicht getan hatte. »Es hat mich zum Hinsetzen veranlaßt und eine Schau mit Sandratten aufgezogen ... Das hast du doch
auch gesehen, nicht wahr?« »Ja.« »Und dann mußten wir eine Weile sitzen bleiben. Du hast mit ihm geredet. Und dann konnten wir ganz plötzlich wieder aufstehen.« »Das stimmt. Aber es hat auch mit mir gesprochen.« »Ich habe dir doch gesagt, daß es intelligent ist!« »Jilson, kannst du morgen früh hierher zurückfinden?« »Nicht absolut sicher. Aber ich stelle an deinem Himmelsrad den Kursschreiber ein, so daß du jederzeit hierher zurückkommen kannst, sobald du willst.« »Das will ich zwar nicht, aber ich möchte es tun können.« Und da war dann die Sonne ein rauchrotes Glühen im Westen, das langsam über einem schwarzblauen Horizont verblaßte. Ich hatte gelacht. Das Hotel hatte keine richtigen Betten oder ähnliche Geräte. Wenn man überhaupt schlief, dann tat man das auf einer flachen, kissenlosen Oberfläche, und man mochte es sogar. Vergangene Nacht hatte ich ausgezeichnet geschlafen, bis der Ruf des Grog kam und mich vor Einbruch der Dämmerung aufweckte. Doch wie sollte ich jetzt schlafen können? Ich hatte nicht geahnt, daß Sharon und Lois uns zum Essen erwarteten. Jilson hatte mit ihnen telefoniert, ehe wir zum Zoo aufbrachen. Wir hatten abends schon gegessen, jeder einen kleinen delikaten Vogel. Anschließend wagte man gar nichts mehr anderes anzurühren, weil man gefürchtet hätte, diesen herrlichen Geschmack zu verlieren; erst mußte man
sich außerdem auch die Hände an heißfeuchten Handtüchern abwischen. Wir sprachen über die Grogs. Der Kegel hatte Jilsons Geist kaum berührt, und so hatte er eine unbeeinflußte Meinung. Die sagte ihm, daß er niemals und aus gar keinem Grund mehr dorthin zurückgehen würde, und ich solle es besser auch unterlassen. Die Mädchen pflichteten ihm bei. Ich hatte das Grog ausgelacht. Wer würde es nicht tun? Delphine, Bandersnatchi, Grogs – man lacht sie aus, diese Handikap-Wesen. Man lacht über einen Delphin, denn er ist der größte Clown im bekannten Raum. Man lacht auch, wenn man zum erstenmal ein Bandersnatch sieht. Es sieht aus, als habe der liebe Gott vergessen, es fertig zu machen. Es gibt nur einen weißen körperlichen Umriß, aber keine Einzelheiten. Man lacht, aber größtenteils aus Nervosität, weil dieser bewegliche weiße Mund dich kaum mehr bemerken würde, als ein Panzerfahrzeug von einer Schnekke unter seinen Panzerketten Notiz nähme. Und du lachst über ein Grog. Ohne Nervosität. Ein Grog ist eine Karikatur. Wie ein Arzt, der eine Magenpumpe zum umgekehrten Zweck benützt, so hatte mir das Grog seine Informationen in die Kehle gestopft. Ich fühlte dieses Wissen wie Eisklümpchen in meinem Gehirn schwimmen. Natürlich konnte ich an dem, was mir gesagt worden war, zweifeln. Zum Beispiel konnte ich daran zweifeln, daß keins von allen Grogs auf Down nicht ausgreifen würde oder könnte nach menschlichen Gehirnen auf – sagen wir einmal – Jinx. Ich konnte an ihrer Angst, an ihrer Hilflosigkeit zweifeln, an ihrer
flehentlichen Bitte um meine Hilfe. Aber ich müßte mir die Zweifel ununterbrochen selbst einbläuen, sonst würden sie spurlos verschwinden, und zurück blieben nur die Eisstückchen der Gewißheit. Das war kein Spaß mehr, ganz bestimmt nicht. Wir müßten sie ausrotten. Jetzt sofort. Alle Menschen von Down wegholen. Und dann etwas mit dieser Sonne tun. Oder wir könnten ein altmodisches Bombenschiff mit Aufschlagzünder heranfliegen, es irgendwie unbemannt zur Landung bringen und den ganzen Planeten von innen nach außen kehren. Aber: Sie waren zu mir gekommen. Zu mir. Mich hatten sie um Hilfe gebeten. Sie hatten eine so tödliche Angst, als wilde, wieder auferstandene Sklavenhalter behandelt zu werden, daß sie es ganz geheim hatten tun müssen. Hätte man Dr. Fuller nur die halbe Wahrheit gesagt, so hätte er sofort seine Experimente eingestellt. Oder die ausgreifenden Gedanken der Grogs hätten seine Arbeit unterbrechen können. Aber nein; sie zogen das Verhungern vor, nur um ihr Geheimnis zu wahren. Aber zu mir waren sie gekommen, als sich die erste Möglichkeit dazu geboten hatte. Die Grogs waren geistig sehr rege. Himmel, welch ein Zufall hatte sich ihnen da geboten! Sie brauchten etwas, das ihnen nur die Menschheit bieten konnte. Ich wußte nur noch nicht, was es sein könnte, aber eines wußte ich ganz gewiß: Sie wollten ein Geschäft machen. Das hier war ein aufnahmefähiger Markt. Eine Garantie für ihren guten Willen und ihre Zuverlässigkeit gab es zwar nicht, aber die konnte man ausarbeiten und durchbringen. Und immer schwammen die Eisstückchen kristall-
klarer Gewißheit in meinem Geist. Ich wollte nichts, gar nichts mehr davon verlieren. Ich stand auf und bestellte mir Erdnußbutter, Schinken, Tomaten und Salat. Alles kam ohne Mayonnaise. Deshalb versuchte ich, sie noch nachzubestellen, doch in der Küche hatte man von Mayonnaise noch nie etwas gehört. Es war ausgezeichnet, daß die Grogs sich nicht an die Kzinti gewandt hatten, als der Planet noch von den Kzinti besetzt gewesen war. Die hätten sie ausgerottet, oder – noch schlimmer – sie dazu gezwungen, als Verbündete sich gegen die menschliche Rasse im Raum zu wenden. Hatten die Kzinti die Grogs auch gegessen? Wenn, dann ... Aber nein. Die Grogs waren keine besonders aufregende Beute. Sie konnten ja nicht rennen. Vor meinen Augen flackerte es noch immer rot, so daß die Sterne jenseits der Veranda hell und blau über der schwarzen Ebene standen. Sollte ich zum Raumhafen gehen und einen Platz auf einem vor Anker liegenden Schiff buchen? Dann müßte ich wenigstens diesen Himmel, diese Sterne nicht sehen. Ach, Quatsch ... Ich konnte den Grogs nicht mehr gegenübertreten, solange sie mit mir nur auf diese Weise sprechen konnten ... Ja, das war ein Teil der Antwort, die ich suchte. Ich rief den Empfangscomputer an und gab dort meine Wünsche auf. Allmählich kamen weitere Antworten herein, eine nach der anderen. Es gab da ein Hybriden-Alfafagras, das auch im Licht einer roten Sonne wuchs; die Sa-
men waren im Laderaum jenes Schiffes, mit dem ich gekommen war. Sie gehörten zum landwirtschaftlichen Programm von Down. Nun ja ...
5 Am folgenden Morgen flog ich allein in die Wüste. Der Bursche, dem die Himmelsräder gehörten, hatte das meine beiseite gestellt. Der Kurs war also noch im Computer, und ich konnte meinen Weg leicht finden. Das Grog war da. Oder ich hatte vielleicht zufällig ein anderes gefunden. Das wußte ich nicht, aber es war ja auch belang los. Ich ging mit dem Rad herab und stellte es ab. Dann wartete ich ein wenig darauf, daß zarte Fühler nach meinem Geist ausgriffen. Nichts. Gar nichts spürte ich. Doch ich war davon überzeugt, daß es meine Gedanken las, nur konnte ich das nicht fühlen. Und dann kam mit der alten kristallklaren Gewißheit wieder das Wissen, daß ich willkommen war. »Komm heraus«, sagte ich. »Komm heraus und bleib da.« Das Grog tat nichts. Aber die Überzeugung blieb so sicher wie gestern: ich war willkommen. Willkommen. Großartig. Ich suchte in meinen Satteltaschen nach einem schweren, flachen Gegenstand. »Es fiel mir gar nicht leicht, das hier zu finden«, sagte ich zu dem Grog. »Es ist ein Museumsstück. Wenn die Leute auf Down nicht so verteufelt darauf aus wären, alles mit ihren Händen zu tun, hätte ich es überhaupt nicht finden können.« Ich öffnete den Behälter ein paar Schritte von des
Grogs Mund entfernt, führte einen Bogen Papier ein und schloß ein Kabel an einer Handbatterie an. »Mein Geist wird euch allen jetzt sagen, wie das Gerät hier arbeitet. Und jetzt wollen wir sehen, wie gut deine Zunge ist.« Ich hielt nach einem guten Sitzplatz Ausschau und lehnte mich schließlich an das Grog, direkt unter seinem Mund. Ich hatte kein Gefühl majestätischer Überlegenheit. Falls das Grog mich verspeisen wollte, gehörte ich ihm. Punktum. Die Zunge zuckte unglaublich schnell heraus. Bitte, lasse deine Augen auf die Schreibmaschine gerichtet, schrieb sie. Sonst kann ich sie nicht sehen. Würdest du bitte die Maschine eine Kleinigkeit weiter weg schieben? Das tat ich. »Ist es so besser?« Ja, das ist gut. Du bist besorgt, daß dein Geheimnis gewahrt bleibt. »Vielleicht. Aber so scheint es zu gehen. Nun, ehe wir anfangen, könntest du bitte in meinem Geist lesen über Ramm-Bagger-Motoren?« Ja, ich verstehe ... Überleg, was du erklären willst. »Das werde ich. Was könnt ihr uns als Handelsware bieten?« Genau das, was du denkst. Wir können euer Vieh hüten. Später gibt es vielleicht auch noch andere Möglichkeiten. Wir können die Gesundheit eurer Zootiere überwachen und gleichzeitig ausgestellt werden. Wir können Polizeiarbeit tun, ganz Down bewachen. Ein Feind könnte nie auf Down eindringen, es höchstens von außen her vernichten. Obwohl die Zunge blitzschnell zuckte, tippte das Grog so langsam und sorgfältig wie ein ungeübter Anfänger. »Okay. Ihr hättet auch nichts dagegen, wenn wir euren Grund und Boden mit Hybridgras besäen?«
Nein. Wir haben auch nichts dagegen, wenn ihr euer Vieh auf unser Gebiet treibt. Natürlich werden wir etwas von dem Vieh für unsere Ernährung brauchen, und wir hätten auch sehr gern, daß die heimischen Wüstentiere bleiben. Wir möchten nichts von unserem derzeitigen Territorium verlieren. »Braucht ihr neues Land?« Nein. Für uns ist es leicht, unseren Nachwuchs zu planen. Wir brauchen nur die Vor-Seßhaften einzuschränken. »Ihr müßt aber wissen, daß wir euch nicht vertrauen. Wir werden also Schritte tun müssen, die sicherstellen, daß ihr keine menschlichen Gedanken kontrolliert. Wenn ich nach Hause komme, werde ich mich selbst sehr gründlich überprüfen lassen.« Natürlich. Du wirst froh sein, zu wissen, daß wir diese Welt nicht ohne besonderen Schutz verlassen können. Ultraviolett würde uns töten. Wenn ihr also ein Grog in irdischen Zoos halten wollt ... »Das ist eine gute Idee, und wir können durchaus für euer Wohlergehen sorgen. Und jetzt – was können wir für euch tun? Wie wäre es mit einer DelphinHand, die speziell auf euch zugeschnitten wird?« Nein, danke sehr. Ein Wüstentier mit etwas, das einer Hand ähnelt, wäre besser. Was wir wollen und brauchen ist Wissen. Eine Band-Enzyklopädie, Zugang zu menschlichen Bibliotheken. Oder noch besser, menschliche Gastlektoren, denen es nichts ausmacht, wenn ihre Gedanken gelesen werden. »Gastlektoren werden teuer sein.« Wie teuer? Was sind unsere Dienste als Hirten wert? »Eine ausgezeichnete Frage.« Ich lehnte mich ein wenig bequemer an den haarigen Leib des Grog. »Okay. Dann wollen wir von Geschäften reden.«
6 Ein Jahr später kam ich wieder nach Down. Damals war dann die Garvey Limited fast so weit, Gewinn abzuwerfen. Ich hatte die härteste Zeit hinter mir, die man sich denken kann. Soweit es um den Planeten Down ging, hatte die Garvey Limited ein Monopol auf die Grogs. Sie hätten nicht einmal eine einzige Zigarette kaufen können, wenn nicht durch uns. Wir bezahlten der Menschenregierung von Down dicke Steuern, aber diese Ausgaben waren vergleichsweise niedrig. Wir hatten ungeheure Kosten zu verdauen. Am schlimmsten war die Publicity. Ich hatte keinen Versuch gemacht, mein Geheimnis über die psychische Kraft der Grogs zu wahren. Es wäre auch nicht möglich gewesen. Und diese Kraft war ein wenig unheimlich. Unsere einzige Abwehrmöglichkeit gegen eine mögliche Panik, die sich wie eine Decke über den von Menschen besiedelten Raum hätte legen können, lag bei den Grogs selbst. Oh, sie waren komisch. Ich überschwemmte die Welt mit Bildern. Grogs an der Schreibmaschine; Grogs, welche die immer größer werdenden Viehherden auf Down bewachten und führten; Grogs in der Kabine eines Raumkreuzers; ein Grog, das bei einer sehr schwierigen Operation an einem kranken Kodiak-Bären assistierte; immer sahen sie gleich aus, diese Grogs. Sah man einen, dann lachte man, denn zu fürchten brauchte man sie ja nicht ... außer wenn da diese kristallklaren Gewißheiten waren, die sich in die innersten Gehirnfalten bohrten.
Die wichtigste Tätigkeit der Grogs war die, ins Bewußtsein der Menschen zu kommen. Wunderland hatte bereits seine Gesetze dahin geändert, daß Grogs auch bei Gericht als eine Art Lügendetektoren zugelassen waren. Ein Grog sollte bei der nächsten Gipfelkonferenz zwischen Menschen und Kzinti anwesend sein. Schiffe, die in unbekannte Raumzonen vorstießen, sollten in Zukunft Grogs an Bord haben, falls man auf fremde Lebensformen stieß und Dolmetscher brauchte. In den Spielzeugläden wurden niedliche GrogPuppen verkauft. Daran verdienten wir keinen Cent, aber wir würden für die Zukunft Nutzen daraus ziehen. Nach meiner Ankunft auf Down legte ich einen Ruhetag ein, um Jilson, Sharon und Lois die Hände zu schütteln. Am folgenden Morgen flog ich in die Wüste hinaus. Nun waren große Strecken des einst unfruchtbaren Sandbodens mit Gras bewachsen. Ich fand unter mir einen weißen Fleck und ging tiefer hinab, weil ich eine ganz bestimmte Ahnung hatte. Der weiße Fleck war eine Schafherde, in deren Mitte ein Grog Wache hielt. »Willkommen, Garvey!« »Vielen Dank«, antwortete ich und mußte mich bemühen, nicht zu brüllen. Das Grog würde ja sowieso meine Gedanken lesen und mir durch ein in das Nervensystem eingebautes Vokalgerät antworten. Dieses Gerät hatten wir vor guten zwei Monaten in Produktion genommen und stellten es in großen Mengen her. Auch das hatte sehr viel Geld gekostet, aber die Ausgabe war nötig gewesen. »Was ist mit diesen Puppen?«
»Daran verdienen wir keinen Cent. Auf die GrogForm gibt es ja kein Copyright.« Ich zog mit dem Himmelsrad eine Ehrenrunde, landete und stieg ab. Wir sprachen auch über andere Dinge, nicht nur über Geschäfte. Dieses Grog wollte eine Grog-Puppe haben, und ich versprach sie ihm. Wir gingen eine Liste von Lektoren durch und ordneten sie nach ihrer Priorität. Nun, man mußte sie für die Reise bezahlen und die Zeit, die sie hier verbrachten, aber zu reden brauchte keiner von ihnen. Von der Baggerramme wurde niemals mehr gesprochen. Auf Down gab es so etwas nicht. Man brauchte nur eine Waffe dorthin zu bringen, und die Grogs machten sie zu ihrer eigenen; Waffen waren keine Abwehrmittel. Waffen schickten wir in eine Umlaufbahn um die Sonne von Down, und der Abstand war ein wenig geringer als der des Merkur von unserer Sonne. Wenn die Grogs je eine Gefahr werden sollten, dann wurde das elektromagnetische Feld der Baggerramme zu einer ernstlichen Drohung; und dann würde sich die rote Sonne von Down recht merkwürdig benehmen. Keiner von uns erwähnte sie je. Wofür auch? Sie kannten ja meine Gründe. Es war ja nicht so, daß ich die Grogs gefürchtet hätte. Eher fürchtete ich mich selbst. Die Ramme war da, um mir zu beweisen, daß man mir erlaubt hatte, gegen die Interessen der Grogs zu handeln. Daß ich ein für mich selbst und allein verantwortlicher Mann war. Trotzdem war ich nie ganz sicher. Konnte es nicht sein, daß der letzte Mann an Bord den Motor sabo-
tiert hatte? Konnten die Grogs vielleicht so weit ausgreifen? Es gab keine Möglichkeit, das herauszufinden. Wenn es stimmte, dann konnte jeder, der an Bord dieses alten Schiffes ging, alles in schönster Ordnung finden und sagen: Garvey, zerbrech dir nicht den Kopf. Vergiß es ruhig und schlaf gut. Vielleicht werde ich das auch tun. Es ist leicht, zu glauben, daß die Grogs eine harmlose, hilfsbereite Spezies sind, die sich nur verzweifelt nach Freundschaft sehnt. Was wird nun als Nächstes kommen?
Originaltitel: HANDICAP Copyright © 1967 by Galaxy Publishing Corp.
Brian W. Aldiss DIE STÄRKERE NATUR Die Schatten der endlosen Bäume wurden, als es auf den Abend zuging, immer länger und verschwanden schließlich, denn die Sonne wurde von einem großen Wolkenhaufen knapp über dem Horizont verschluckt. Balank fühlte sich unbehaglich. Er nahm sein Lasergewehr vom Robotroller und klemmte es unter den Arm, obwohl er nun noch mehr Gewicht bergauf zu schleppen hatte und er allmählich müde wurde. Der Rollwagen wurde nie müde; nun, das war bei einem Roboter nicht anders zu erwarten. Sie hatten fast den ganzen Tag hindurch einen Hügel nach dem anderen erstiegen, und seine Schenkel schmerzten von der Überanstrengung. Dazu mußte er unter den dichtstehenden Eichen sehr gebückt dahinlaufen; die Maschine hielt mit ihm Schritt. Die Instrumente hatten ihnen fast den ganzen Tag hindurch berichtet, daß der Werwolf sehr nahe war. Balank stand immer unter gespannter Aufmerksamkeit. Jeden Baum beargwöhnte er. Aber während der letzten halben Stunde war die Geruchsspur nahezu verblaßt. Wenn sie den Kamm dieses Hügels erreichten, wollten sie rasten. Das heißt, der Mann wollte ausruhen, denn der Roboter hatte es nicht nötig. Die Lichtung auf dem Kamm war nun ziemlich nahe. Die Schicht toten Laubs unter Balanks Stiefeln wurde dünner. Er war zu lange über den braungoldenen Teppich
gelaufen, und nun ermüdeten sogar seine Augen. Auch seine Nackenmuskeln schmerzten, weil er fast ununterbrochen den Kopf gesenkt halten mußte. Doch nun blieb er stehen, atmete tief die frische, klare Luft ein und schaute sich um. Die Aussicht hinter ihm war großartig; das Land war sehr zerklüftet und fast unbewohnt, aber Balank hatte kein Auge für die düstere Schönheit. Der Rollwagen gab Infrarotwarnung, und die Maschine fuhr einen dünnen Stab aus, mit dem sie auf die mannsgroße Wärmequelle vor ihnen deutete. Fast im gleichen Moment sah Balank den Mann auch. Der Fremde stand halb versteckt hinter einem dikken Baumstamm und sah unsicher Balank und dem Roboter entgegen. Als Balank dann die Hand zu einem Gruß hob, erwiderte ihn der Fremde nur zögernd. Dann rief Balank seine Kennzahl; vorsichtig trat der Mann hinter dem Baumstamm hervor und nannte seine eigene Erkennungsnummer. Der Rollwagen prüfte die Information in seiner Datenbank, gab sein Okay, und sie bewegten sich weiter. Dann waren sie auf gleicher Höhe mit dem Mann. Jetzt sahen sie erst, daß er eine kleine mobile Hütte hinter sich stehen hatte. Die Männer schüttelten einander die Hände, und der Fremde gab seinen Namen mit Cyfal an. Balank war ein großer, schlanker, fast haarloser Mensch mit dem etwas verschlossenen Gesichtsausdruck, der für seine Epoche als charakteristisch gelten konnte. Auch Cyfal war sehr schlank, doch er wirkte gedrungener, weil er kleiner war. Ein dichter Haarschopf bedeckte seinen Schädel und reichte ihm bis in die Stirn. Etwas in seiner Art, vielleicht auch der Au-
genausdruck oder die winzigen Fältchen um seine Augen, wiesen ihn als einen der wenigen Männer aus, die ihr Leben größtenteils außerhalb der Städte verbrachten. »Ich bin der Forstbeamte dieser Region«, stellte er sich vor und deutete auf sein Armbandfunkgerät. »Man hat mich davon unterrichtet daß Sie in diesem Gebiet sein könnten, Balank.« »Dann wissen Sie ja sicher auch, daß ich hinter dem Werwolf her bin.« »Hinter dem Werwolf? Hier in dieser Region schleichen viele herum, seit die menschliche Bevölkerung fast ausschließlich in den Städten konzentriert ist.« Etwas im Ton dieser Bemerkung klang für Balank wie eine Sozialkritik. Er sah den Rollwagen an, ohne darauf zu antworten. »Jedenfalls haben Sie sich eine sehr gute Nacht für die Jagd ausgesucht«, sagte Cyfal. »Wie meinen Sie das?« »Vollmond.« Auch darauf antwortete Balank nicht. Er glaubte es besser zu wissen als Cyfal, daß die Werwölfe dann ihre größte Macht erreichten, wenn der Mond voll war. Der Rollwagen hielt sich in der Nähe auf, und seine Antenne drehte sich langsam. Balank wurde die Unruhe nicht los, und er folgte dem Roboter. Mann und Maschine standen nebeneinander am Rand einer kleinen Felswand hinter der Hütte. Diese Klippe sah wie Schaumgeriesel aus, das vom höchsten Punkt des Gebirges herabquoll. Auf der anderen Seite fiel der Fels tief in ein Tal ab. Der Aufstieg war mit Eichen gesäumt gewesen, während die andere Seite völlig
mit Buchen bestanden war. »Das dort ist das Tal der Pracha. Den Fluß kann man aber von hier aus nicht erkennen«, erklärte Cyfal, der hinter Balank getreten war. »Haben Sie jemanden gesehen, der ein Werwolf sein könnte? Sein richtiger Name ist Gondalug, Kennzahl YB-5921/AS25061, Stadt Zagrad.« »Heute früh sah ich jemanden kommen. Aber ich glaube, es waren mehrere, nicht nur einer«, erwiderte Cyfal. Etwas in seinem Benehmen veranlaßte Balank, den Mann genauer zu mustern. »Aber ich habe mit keinem von ihnen gesprochen; sie sagten auch zu mir nichts.« »Kannten Sie die Leute?« »Ich habe hier in den schweigenden Wäldern mit vielen Männern gesprochen und später entdeckt, daß sie Werwölfe waren. Aber sie taten mir niemals etwas zuleide.« »Aber Sie fürchten sie doch?« fragte Balank. Diese auf eine Frage vorweggenommene Antwort durchbrach Cyfals Reserve. »Natürlich fürchte ich sie. Sie sind ja nicht menschlich; keine richtigen Menschen, sondern Feinde der Menschen. Das sind sie doch, nicht wahr? Und sie haben Kräfte, welche die unseren weit übersteigen.« »Man kann sie töten. Sie haben ja keine Maschinen, so wie wir. Eine ernstliche Bedrohung sind sie nicht.« »Nun, Sie reden wie ein Stadtmensch! Wie lange pirschen Sie schon hinter diesem her?« »Acht Tage. Einmal habe ich mit dem Laser auf ihn geschossen, aber da war er schon weg. Er ist ein grauer Mann, sehr haarig und mit scharfen Gesichtszügen.«
»Bleiben Sie und essen Sie mit mir? Bitte! Ich brauche mal einen Menschen, mit dem ich reden kann.« Cyfal aß ein Stück eines wilden Tieres, das er gekocht hatte. Balank fühlte sich davon angewidert und verzehrte seine eigenen Rationen aus dem Robotroller. Nicht nur in dieser Beziehung war Cyfal ein Anachronismus. In den Städten brauchte man kaum einmal mehr Holz; Bauholz war schon seit Jahren völlig überholt. Da und dort verwendete man noch etwas Holz, so daß man immer noch ein paar Forstbeamte brauchte, deren Hauptaufgabe es war, alte Bäume zu kennzeichnen, die entweder ungünstig standen oder zu stürzen drohten; diese Bäume wurden dann von Bergungsmaschinen, welche die Wälder überflogen, wie faule Zähne ausgerissen. Forstbeamte wurden zunehmend von Maschinen abgelöst, und in jeder Generation gab es weniger Männer, die einen so gefährlichen und einsamen Job weit abseits der Städte anzunehmen bereit waren. Seit unendlichen Zeiten, und man konnte die Aufzeichnungen der Geschichte sehr weit zurückverfolgen, hatte die Menschheit Maschinen gebaut, die alle Städte zu herrlichen Orten machten. Maschinen hatten dem Menschen die Arbeit abgenommen. Die alten Steindschungel aus der kurzen Pubertätszeit der Kultur lagen so tief in der Erinnerung der Menschheit vergraben wie die Wälder der Karbonzeit. Vor langer Zeit hatten Mensch und Maschine herausgefunden, wie Leben entstand. Neue Nahrungsmittel wurden produziert; sie waren nicht Fleisch und nicht Pflanze, und das uralte Rad der Vergangenheit war für immer zerbrochen, denn jetzt war das Bindeglied zwischen Mensch und Land durchschnitten:
Der Ackerbau, Adams Auftrag, war ebenso tot wie das Dampfschiff. Die Geisteshaltung wurde von körperlichen Veränderungen geformt. Da die Städte sich allmählich autark machten, brauchte die Menschheit nur noch Städte und die Hilfsquellen dieser Städte. Die Verkehrsverbindungen von Stadt zu Stadt wurden so ausgezeichnet, daß Reisen zur Überwindung von Entfernungen gar nicht mehr nötig waren. Eine Stadt war von der anderen von wilder Vegetation so sicher getrennt wie ein Planet vom andern. Nur wenige der haarlosen Stadtbürger dachten jemals an das, was außerhalb der Städte lag. Jene, die Reisen oder Ausflüge in die Gebiete außerhalb unternahmen, hatten sicher einen Hang zum Abnormen. »Die Werwölfe wachsen ebenso in den Städten auf wie wir«, sagte Balank. »Erst in ihrer späten Jugend brechen sie aus, wenn sie schon fast erwachsen sind, und suchen die Wildnis. Ich nehme an, daß Sie das wissen?« Das Deckenlicht über Cyfal flackerte, und das wirkte störend. »Wir wollen nach Sonnenuntergang lieber nicht über Werwölfe sprechen«, bat er. »Die Maschinen werden sie alle jagen und erlegen.« »Seien Sie dessen nicht allzu sicher. Maschinen sind eher weniger tüchtig als die Menschen, wenn es darum geht, einen Werwolf zu entdecken.« »Ich denke, Sie wissen, daß dies eine Sozialkritik ist, Cyfal. Oder nicht?« Cyfal zog ein langes, säuerliches Gesicht und schaltete etwas unhöflich sein Handphon an. Wenig später tat Balank es ihm nach. Die Vermittlung mel-
dete sich sofort, und er bat darum, an die Satellitennachrichten angeschlossen zu werden. Er hätte zu gern etwas über das gerade laufende Zeitforschungsprojekt gesehen, aber es lag nichts Neues vor. Man sagte ihm, er solle die Vermittlung in einer Stunde wieder anwählen. Cyfal hatte eine Tanzschau eingeschaltet. Balank konnte die sich drehenden Figürchen von seinem Platz aus nur sehr verzerrt sehen. Er stand auf und ging zur Hüttentür. Der Roboter stand draußen, ignorierte ihn jedoch. Über der Lichtung lag ein merkwürdiges Licht; es herrschte tiefes Zwielicht, aber der Mond ging gerade auf und goß gespenstisches Licht über den Hügel. Balank war erstaunt, wie schnell der Tag vergangen war. Plötzlich wurde er sich seiner bewußt als lebende Einheit mit einer begrenzten Lebensspanne, von der ein großer Teil schon unbeachtet und nicht voll ausgekostet versickert war. Dieser nach innen schauende Blick war ihm selbst so ungewohnt, daß er sich ängstigte. Er sagte sich selbst, daß es nun höchste Zeit sei, den Werwolf aufzuspüren und zur Stadt zurückzukehren; zuviel Einsamkeit erweckte in ihm morbide Gefühle. Als er so dastand, hörte er, wie Cyfal hinter ihm herankam. »Es tut mir leid«, sagte er, »daß ich vorher so ungehalten war obwohl ich mich doch so freute, Sie zu sehen. Wissen Sie, ich bin eben nicht an die Denkweise der Städter gewöhnt. Sie dürfen deshalb nicht gekränkt sein, ich bitte Sie. Und ich fürchte, Sie könnten nun glauben, ich selbst sei ein Werwolf.« »Das ist doch Wahnsinn! Wir unternahmen einen Bluttest, sobald Sie in unsere Sichtweite kamen.«
Trotzdem fühlte er sich in Cyfals Gegenwart nicht wohl. Deshalb ging er dorthin, wo der Roboter die Tür bewachte, griff nach seinem Lasergewehr und klemmte es unter den Arm. »Nur so für alle Fälle«, bemerkte er. »Natürlich. Sie glauben also, Gondalug, der Werwolf, könnte hier in der Gegend sein? Oder vielleicht sogar Ihnen folgen, statt Sie ihm?« »Sie sagten ja selbst, daß Vollmond ist. Außerdem hat er seit Tagen nicht gegessen. Werwölfe rühren doch keine synthetische Nahrung an, wenn sich erst einmal das Lykanthrop-Gen durchgesetzt hat, wissen Sie.« »Ah, deshalb essen sie gelegentlich auch Menschen?« Cyfal stand eine Weile schweigend und nachdenklich da. »Aber sie gehören doch zur menschlichen Rasse«, fuhr er fort. »Das heißt, wenn man sie als Menschen akzeptiert, die sich in Wölfe verwandeln, und nicht als Wölfe, die Menschengestalt angenommen haben. Ich will damit sagen, daß sie näher mit uns verwandt sind als Tiere oder Maschinen.« »Nicht als Maschinen!« Balanks Stimme klang erschüttert. »Wie sollten wir ohne Maschinen überleben?« »Für mich werden die Menschen sowieso mehr und mehr zu Maschinen«, bemerkte Cyfal. »Ich würde es vorziehen, ein Werwolf zu werden.« Irgendwo zwischen den Bäumen erklang ein Schrei und wurde wiederholt. »Eine Nachteule«, sagte Cyfal. Der Schrei brachte ihn wieder in die Gegenwart zurück, und er bat Balank, in die Hütte zu kommen und die Tür zu schlie-
ßen. Er stellte Wein auf den Tisch, den er wärmte, salzte und den sie zusammen tranken. »Die Sonne ist meine Uhr«, sagte er einmal, nachdem sie sich eine Weile unterhalten hatten. »Ich gehe sehr bald zu Bett. Sie werden doch auch schlafen?« »Ich brauche nicht zu schlafen, ich habe einen Frischhalter.« »Diese Operation ließ ich an mir nie machen. Wollen Sie wieder weiter? Wollen Sie mich wirklich in dieser Vollmondnacht hier allein zurücklassen?« Er griff nach Balanks Ärmel, doch dann zog er unvermittelt die Hand zurück. »Wenn sich Gondalug hier in der Gegend herumtreibt, will ich ihn diese Nacht noch töten. Ich muß ja wieder zur Stadt zurück.« Aber er sah, daß Cyfal Angst hatte, und der kleine Mann tat ihm leid. »Nun, eigentlich könnte ich mir eine Stunde Auffrischung erlauben. Seit drei Tagen hatte ich keine mehr.« »Wollen Sie sie hier nehmen?« »Natürlich. Aber Sie sind doch bewaffnet, nicht wahr?« »Das nützt auch nicht immer.« Während der kleine Mann sein Bett richtete, schaltete Balank wieder sein Handgerät ein. Fast sofort kam auch die Nachrichtensendung, und Balank wurde unvermittelt in eine ferne und sehr schreckliche Zukunft geworfen. Den Maschinen war es gelungen, ihre Zeitforschung mehr als acht Millionen Jahre voranzutreiben; dann hatte eine Quantenabweichung des elektromagnetischen Spektrums das weitere Vordringen aufgehalten. Der Grund dafür war bis jetzt unklar geblieben, schien jedoch von der ihre Natur verändernden
Sonne auszugehen, welche die Zeitstruktur ihrer Raum-Umgebung überaus stark beeinflußte. Balank war sehr gespannt, wie die Maschinen, wenn überhaupt, das Problem lösen würden. Bis jetzt schien es ihnen nicht gelungen zu sein, denn die Hauptnachricht des Tages war die, Plattform Eins habe entschieden, daß die Operationen auf jene Zeitspanne begrenzt bleiben sollten, die bereits erschlossen worden war. Plattform Eins war der Name der Maschinenzivilisation, die viele Jahrhunderte in der Zukunft lag, sich aber als erste durch die Zeitbarriere gekämpft und lange vor ihrer eigenen Epoche mit allen maschinenbeherrschten Zivilisationen Kontakt aufgenommen hatte. Welch eine Enttäuschung darüber, daß nur die elektronischen Sinne von Maschinen in der Zeit pendeln konnten! Balank hätte zu gern eine der riesigen Städte der fernen Zukunft besucht. Eine gewisse Entschädigung dafür war die Tatsache, daß die Zeitforschungsmaschinen Videobilder jener Welt in die eigene Zeit zurückschicken konnten. Die fremdartigen Landschaften erweckten in Balank einen Hunger nach mehr, geradezu eine manische Gier. Er schaute immer, sobald er eine Gelegenheit dazu fand. Selbst auf der Jagd nach dem Werwolf, die seine ganzen Fähigkeiten bis zum Äußersten anspannte, hatte er jede Ruhepause ausgenützt, um in dieser unerreichbaren, schrecklichen Realität zu schwelgen, die so weit voraus im selben Zeitstrom trieb, der auch seine eigene Welt mittrug. Er hatte die erste Übertragung noch nicht zu Ende gesehen, als er vor der Hütte ein Geräusch hörte. Sofort sprang Balank auf, griff nach seinem Laserge-
wehr und riß die Tür auf. Doch dann spähte er, die Hand noch auf dem Türgriff und das Gerät eingeschaltet, vorsichtig in die Dunkelheit. Der unermüdliche, immer funktionierende Rollwagen stand draußen und fixierte ihn mit einem Indikator, als mißtraue er ihm. Ein paar Blätter schwebten von den Zweigen herab. Niemals war es hier absolut still, etwa so wie in den nächtlichen Städten. In diesen kartographisch nicht registrierbaren Wäldern lebte und starb immer etwas. Als seine Augen die Dunkelheit zu durchdringen versuchten, fiel sein Blick auf das blaßglühende Gerät an seinem Arm. Natürlich sah der Rollwagen – und auch der Werwolf, wie man sagte – wesentlich schärfer als er, das durfte er nicht vergessen. Aber als er die beiden Lebensbereiche seiner eigenen Welt sah, die einander so unvereinbar konträr gegenüber standen, kam ihm zu Bewußtsein, daß der eine der Bereiche mit seiner ganzen Struktur völlig anderer Sinne bedurfte, wenn man überleben wollte, als der andere. Zufrieden, wenn auch noch immer sehr mißtrauisch, schloß Balank die Tür und setzte sich, um die Sendung anzusehen. Als sie vorüber war, wählte er deren Wiederholung. Cyfal, der von seinem Lager aus alles beobachtete, wählte dasselbe Programm. Über den eisigen Wüsten der Erde schien eine blaue Sonne. Sie war zu klein, als daß man sie noch als Scheibe hätte erkennen können, und von diesem Lichtkrümel aus wurden alle irdischen Veränderungen bewirkt. Das Licht dieser winzigen Sonne war etwa so hell wie das des Vollmondes und ebenso kalt. Die Vegetation war sehr spärlich, fremdartig und verkümmert. Die alte primitive Flora war längst ver-
schwunden. Bäume, die so lange die absoluten Herrscherformen der irdischen Pflanzenwelt gewesen waren, gab es nicht mehr. Auch Tiere waren nicht mehr zu sehen; die Vögel waren vom Himmel verschwunden. Nur in den Bergseen existierten noch ein paar Lebensformen. Diese späte Erde war von neuen Kräften beherrscht; es war die Zeit der majestätischen Aurorae, der nahezu absoluten Null-Nächte und der Schneestürme, die jahrelang ununterbrochen tobten. Doch Städte gab es noch immer. Ihre Lichter strahlten heller als die kümmerliche Sonne. Und da waren ja auch die Maschinen. Sie waren monströs, diese Maschinen einer fernen Zukunft, komplexe Dinge, langsam und gepanzert, und sie glichen den Dinosauriern. Sie durchschnüffelten die nackte, ausgeplünderte Landschaft auf ihren eigenen, unabwendbaren Streifzügen. Sie kletterten auf die Berge, ja sogar in den Raum drangen sie vor, und bauten dort immense Spinnennetzarme, die sich weit über den Erdorbit hinausschoben, um Energie hereinzuholen und die armselige Sonne durch ein unermeßlich großes Fischernetz magnetischer Kraftstationen zu ersetzen. Daß sich die Sonne jetzt im Stadium eines weißen Zwergs befand, war der natürliche Lauf ihrer Evolution. Die Phase des gelben Sterns, während der sich Wirbeltiere entwickeln und am Leben halten konnten, war sehr kurz gewesen und längst vorbei. Jetzt bewegte sie sich der Zeit der Vollreife entgegen, die aber auch noch in sehr weiter Ferne lag; dann wurde sie zu einem roten Zwergstern. Als sich die Maschinen in ihren hornigen Skeletten der Sonne näherten,
befand sie sich gerade in einer Periode der Ruhe, die nach Milliarden von Jahren zu messen war, und da übergoß sie ihren dritten Planeten mit dem Licht eines ewigen Vollmondes. Die Dokumentation war von einem Kommentar begleitet, der vorwiegend die technischen Schwierigkeiten schilderte, denen sich Plattform Eins gegenübersah, unter denen jedoch auch die anderen Maschinenzivilisationen gleichzeitig zu leiden hatten. Balank verstand nur wenig davon, weil die Materie so ungeheuer kompliziert war, doch sie fesselte ihn. Als er einmal aufschaute, sah er, daß Cyfal auf seinem Lager eingeschlafen war. An seinem Handgelenk, das sich an sein gelocktes Haar schmiegte, brannte noch immer eine Schrumpfsonne. Ein paar Augenblicke lang stand Balank da und schaute nachdenklich auf den Forstbeamten herab. Ihn störte es, daß dieser Mann die Maschinen kritisiert hatte. Natürlich, die Leute kritisierten sie immer, aber die Menschheit wurde immer abhängiger von ihnen, und die Mäkelei blieb mehr oder weniger doch an der Oberfläche. Cyfal schien jedoch grundsätzlich die Rolle und den Wert der Maschinen anzuzweifeln. Es war auch sehr schwierig, sich selbst darüber klar zu werden, wieviel Wahrheit in allem lag. Ein Beispiel: die Werwölfe. Sie waren von jeher die Feinde der Menschheit gewesen, und das war vermutlich auch der Grund, weshalb die Maschinen sie mit so erbarmungsloser Härte jagten – der Menschen wegen. Aber in der Patrouillenschule hatte er gelernt, daß diese Kreaturen trotzdem zunahmen. Hatten sie tatsächlich magische Kräfte? Kräfte also, die über die
menschlichen hinausgingen, so daß sie überleben und gedeihen konnten, wo es der Mensch schon lange nicht mehr schaffte, obwohl ihm alle Hilfsmittel der Städte zur Verfügung standen? Man nannte den Werwolf den dunklen Bruder, weil er der Nachtseite des Menschen entsprach. Aber er war kein Mensch. Niemand vermochte jedoch zu sagen, worin er sich von den Menschen unterschied; man wußte nur, daß er dort überlebte, wo es der Mensch nicht mehr konnte. Balank runzelte die Brauen, ging zur Tür und schaute hinaus. Der Mond stand schon ziemlich hoch am Himmel und warf fahles Licht durch das im leichten Wind flüsternde Blattwerk der Bäume, und auf dem Boden tanzten die Lichtkringel. Das erinnerte Balank an den fernen Tag, da die Sonne kaum mehr Wärme abgeben würde. Der Rollwagen war auf Übertragung geschaltet. Mit wem mochte er in Verbindung stehen? Möglicherweise mit der Zentrale, vielleicht um Bericht zu erstatten oder neue Befehle entgegenzunehmen. »Ich lege jetzt eine Stunde mit dem Frischhalter ein«, sagte er. »In Ordnung?« »Das kannst du tun, ich halte Wache«, antwortete der Roboter. In der Hütte legte sich Balank das Frischhaltegerät quer über die Stirn. Sofort verfiel er in Bewußtlosigkeit. Diese künstlich bewirkte Bewußtlosigkeit führte ihm Energie zu, genau wie der Schlaf, und sogar Träume erfrischten ihn. Eine Stunde mit dem Frischhalter garantierten ihm zweiundsiebzig Stunden körperlicher und geistiger Leistungsfähigkeit. Nach einer Stunde wachte er auf, aber da wurde ihm bewußt,
daß in seinem Schädel eine ungewohnte und unangenehme Verwirrung geherrscht hatte. Ehe er noch seinen Kopf hob, war auch der Gedanke schon da: In dieser frostigen Zukunft haben wir niemals menschliche Wesen gesehen ... Abrupt richtete er sich auf. Natürlich, das war ja nur ein Zufall gewesen, eine störende Erinnerung an das gesehene Programm! Menschen waren lange nicht so wichtig wie die Maschinen, und für die Zukunft galt das in noch höherem Maße als für die Gegenwart. Aber die letzten Dokumentationen hatten wirklich keine Menschen gezeigt, nicht einmal in den riesigen Städten. Das war absurd. Natürlich mußte es ungeheuer viele Menschen geben. Die Maschinen hatten zur Zeit der historischen Emanzipation fest zugesagt, daß sie die menschliche Rasse immer beschützen würden. Ach, Unsinn, sagte Balank zu sich selbst. Diese subversiven Bemerkungen, die Cyfal immer wieder gemacht hatte, waren wohl die Ursache für seinen Mißmut und das deutliche Unbehagen. Instinktiv warf er dem Forstbeamten einen prüfenden Blick zu. Cyfal lag tot auf seinem Lager. Sein Kopf hing über den Rand des Feldbettes herab, seine Kehle war herausgerissen. Aus der Wunde quoll noch Blut und tropfte langsam von der Schulter auf den Boden. Balank zwang sich, neben ihn zu treten. In einer von Cyfals Händen entdeckte er ein Stückchen grauen Felles. Der Werwolf! Balank griff in Todesangst nach seinem Hals. Offensichtlich war er gerade rechtzeitig erwacht, so daß die Kreatur geflohen und er selbst am Leben geblieben war.
Lange stand er so da und schaute voll Mitleid und Entsetzen den toten Mann an, ehe er ihm das Stückchen Fell aus der Hand nahm. Angewidert musterte er es. Dieses Fellstückchen war viel weicher, als er sich Wolfsfell vorgestellt hatte. Er drehte es um; mit dem Haar hatte Cyfal einen Fetzen Haut abgerissen, das er sich nun genauer besah. Ein Buchstabe war auf der Haut zu erkennen. Er war nur schwach sichtbar, aber immerhin ein deutliches S ziemlich am Rand des Fetzens. Nein, vielleicht war es ein natürlicher Fleck, eine Quetschung, irgend etwas, aber kein Buchstabe. Das würde also bedeuten, daß dieses Fellstückchen synthetischer Natur und für Balank zurückgelassen worden war, um ihn in die Irre zu führen ... Er lief zur Tür, griff nach dem Lasergewehr und rannte hinaus. Der Mond stand jetzt sehr hoch, und der Rollwagen kam ihm über die Lichtung entgegen. »Wo warst du?« rief er. »Auf Streife. Ich hatte etwas zwischen den Bäumen gehört und flüchtig auch einen großen grauen Wolf gesehen, doch den konnte ich nicht vernichten. Warum hast du solche Angst? Ich bemerke in deinen Adern einen sehr großen Adrenalinüberschuß.« »Komm herein und sieh dir das an. Etwas oder jemand hat den Forstbeamten getötet.« Die Maschine kam in die Hütte und fuhr über der Leiche auf dem Feldbett ein paar Stäbe aus. Balank sah zu und schob das Pelzstückchen in seine Tasche. »Cyfal ist tot. Seine Kehle ist herausgerissen. Es ist das Werk eines großen Tieres. Balank, wenn du ausgeruht bist, müssen wir den Werwolf verfolgen, diesen Gondalug, Kennzahl YB-5921/ AS25061. Er hat
dieses Verbrechen begangen.« Sie gingen hinaus. Balank bemerkte, daß er zitterte. »Sollten wir den armen Kerl nicht begraben?« fragte er. »Wenn es nötig ist, können wir bei Tageslicht zurückkommen.« Mit Rollwagen zu streiten war sinnlos; außerdem hatte er sich schon in Marsch gesetzt, und so war Balank genötigt, ihm zu folgen. Es ging bergab, dem Fluß Pracha entgegen. Es war ein ziemlich schwieriger Abstieg, so daß sich Balank darauf konzentrieren mußte und an nichts anderes mehr zu denken vermochte. Sie waren Gondalug bis hierher gefolgt, und sehr viel weiter würde er jetzt nicht mehr kommen. Hinter dem Fluß lag karges, kahles Bergland, in dem es keine Versteckmöglichkeiten gab. In diesem zerklüfteten Tal mußte Gondalug in der Hoffnung, sich vor ihnen verstecken zu können, über den Boden kriechen. Aber ihre Instrumente würden sich an seine Spur heften, sie würden ihn stellen, damit er vernichtet werden konnte. Wenn sie einiges Glück hatten, konnten sie auch Höhlen entdecken, wo andere Männer, Frauen und vermutlich sogar Kinder hausten und sich weigerten, in Städten zu leben. Ja, die konnte man dann ausrotten ... Zwei Stunden brauchten sie, bis sie die Talsohle erreichten. Riesige Felsblöcke und dicke Steinplatten waren von den Bergen herabgestürzt und ragten nun als Findlingsblöcke aus dem sandigen, steinigen Boden am Fuß senkrecht aufsteigender Klippen. Nur ein bißchen Laubwerk milderte die zerklüftete Rauheit. Der Pracha selbst verschwand immer wieder in
schmalen Schluchten, und die Felsen wiesen unzählige Risse und Höhlen auf. Es war ein ideales Land für solche, die sich verstecken wollten. »Ich muß einen Moment ausruhen«, keuchte Balank. Der Roboter blieb sofort stehen. Er bewegte sich auch im schwierigsten Gelände ungemein geschickt, denn er konnte kurze gefederte Beine ausfahren, die sich automatisch jeder Bodenunebenheit anglichen. Sie standen nebeneinander; ein recht ungleiches Paar bildeten sie im blassen Mondlicht, und der kleine Bergfluß rauschte in seinem Felsenbett. »Du sendest doch wieder, nicht wahr? Mit wem stehst du in Verbindung?« »Warum hast du das Stückchen Wolfsfell versteckt, das du in der Hand des Forstbeamten gefunden hast?« fragte die Maschine. Da rannte Balank schon und versteckte sich hinter der nächsten Felsplatte. Der Länge nach lag er auf dem Boden und sah den Hitzestrahl über sich hinwegzischen. Dann drückte er sich um die Kante herum. Hier verlief der Pracha in einer sehr steilwandigen Klamm. Die Angst verlieh ihm Kräfte, und so rannte Balank und setzte mit einem gewaltigen Sprung über den Abgrund. Er fiel in die Schatten auf der anderen Seite, kroch hinter einen riesigen Felsblock, der sehr viel höher war als der Mensch. Ganz oben stand eine sterbende Fichte. Von der anderen Flußseite her rief der Roboter: »Balank, Balank, in deinem Kopf ist etwas nicht in Ordnung!« »Geh nach Hause!« schrie ihm Balank zu. »Hier werdet ihr mich nie finden!« »Warum hast du das Stück Wolfsfell versteckt, das
du aus der Hand des Forstbeamten genommen hattest?« »Wie konntest du von dem Stück Fell wissen, wenn du es ihm nicht selbst in die Hand gegeben hast? Du hast Cyfal getötet, weil er Dinge über die Maschinen wußte, von denen ich keine Ahnung hatte! So war es doch, nicht wahr? Und du wolltest mich glauben machen, es sei der Werwolf gewesen. Oder nicht? Die Maschinen töten doch nach und nach alle Menschen. Das stimmt doch. Und Werwölfe gibt es doch gar keine.« »Balank, du irrst. Es gibt Werwölfe, selbstverständlich gibt es die. Weil die Menschen nie an ihre Existenz geglaubt haben, konnten sie überleben. Aber wir glauben, daß es sie gibt, und für uns sind sie eine viel größere Bedrohung als es die Menschheit je sein könnte. So ergib dich also und komm zu mir zurück. Wir werden nach Gondalug suchen.« Er antwortete nicht, sondern duckte sich und lauschte auf die Maschine auf der anderen Seite der Schlucht. Oben, auf der abgeflachten Kuppe des Felsblocks, lag ein Mann. Er war sehr sehnig und hatte einen abgeflachten Schädel. Als er die Szene, die sich unter ihm abspielte, beobachtete, gab er mit mehr als menschlicher Schlauheit darauf acht, daß er auch die letzte Möglichkeit der Deckung ausnützte. Sein Gehirn spulte sämtliche Möglichkeiten dieser Situation ebenso schnell und geschickt ab, wie seine Beine ihn durch wildes Gras trugen. Er wartete, ohne sich zu bewegen, und sein Gesicht war grau, ernst und wachsam.
Die Maschine kam zu einem Entschluß. Da sie von dem Menschen keine Antwort bekam, schlich sie um den Felsen herum und näherte sich dem Rand der Klamm, durch die der Fluß lief. Probend sandte er einen Hitzestrahl zur anderen Seite hinüber und schickt ihm einen kurzen Hagel von Kugeln nach. »Balank?« rief der Roboter. Aber Balank antwortete nicht. Der Roboter war jedoch davon überzeugt, daß er den Menschen nicht getötet hatte. Jetzt mußte er irgendwie die Kluft überqueren, über die Balank gesprungen war. Er überlegte schon, ob er über Funkruf Hilfe anfordern sollte, aber Zagrad, die nächste Stadt, war sehr weit weg. Der Roboter streckte also die Teleskopbeine so weit wie möglich aus, bis die mit Klauen versehenen Füße gerade den anderen Rand erreichen konnten. Aber hier bröckelte der Fels ein wenig ab und konnte das volle Gewicht der Maschine nicht tragen. Also trottete der Roboter die Schlucht entlang, um einen besseren Platz für die Überquerung zu finden. Balank beobachtete aus seinem Versteck heraus den Roboter, der im Mondlicht drohend schimmerte. Er griff nach einem großen, kantigen Stein und wußte, was er zu tun hatte. Dieser Stein war die beste, vielleicht überhaupt die einzige Möglichkeit, die Maschine zu zerstören. Sobald sie über der Klamm hing, mußte er rennen. In diesem Moment konnte der Roboter seinen Laser nicht einsetzen, denn er war vollauf damit beschäftigt, über den Fluß zu kommen. Balank brauchte also nur den Stein zu schleudern, dann stürzte das Ungeheuer in den Fluß.
Aber die Maschine war schnell und klug; ihm blieb nur der Bruchteil einer Sekunde für den Wurf. Seine Muskeln spannten sich schon an, und er biß die Zähne zusammen; seine Augen funkelten dem verhaßten Feind entgegen. Seine Zeit mußte nun kommen. Mensch – oder Maschine ... Gondalug beobachtete aufmerksam die Szene. Er sah, was der Mann vorhatte und wußte, daß er im nächsten Moment handeln mußte. Seine eigene Rasse, des Menschen dunkler Bruder, reagierte anders als dieser. Er und seine Artgenossen sahen weiter voraus, wie sie es schon immer getan hatten, wie es sich der Mensch Homo sapiens, nie hatte vorstellen können. Für Gondalug war der Ausgang dieses kleinen Kampfes unwichtig. Er wußte, daß seine Art den Kampf gegen die Menschheit schon gewonnen hatte. Und er wußte auch, daß sie den großen Kampf gegen die Maschinen noch bestehen mußte. Auch diese Zeit würde kommen. Und dann würde er die Maschinen besiegen. In den langen Tagen, da die Sonne ewig über der gesegneten Erde wie ein voller Mond scheinen würde, in diesen künftigen Tagen würde für seine Rasse die unendliche Wartezeit zu Ende sein. Dann würden sie unangefochten von Mensch und Maschine über ihr eigenes wildes Königreich herrschen. Originaltitel: FULL SUN Copyright © 1967 by G. P. Putnam's Sons für ORBIT 2