ARTHUR C. CLARKE ist Engländer, Jahrgang 1917, Absolvent des King's College in London, wo er First Class Honors in Phys...
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ARTHUR C. CLARKE ist Engländer, Jahrgang 1917, Absolvent des King's College in London, wo er First Class Honors in Physik und Mathematik erzielte. Er hat über vierzig Bücher geschrieben: Romane, Anthologien und Sachbücher. Dank seiner Ausbildung und wissenschaftlichen Tätigkeit gilt er als einer der wenigen Science-Fiction-Autoren, die sich auch als Wissenschaftler einen Namen gemacht haben. 1962 erhielt er von der UNESCO den Kalinga-Preis für seine wissenschaftlichen Arbeiten. Die Goldmedaille des Franklin-Instituts erhielt er 1963 für eine 1945 veröffentlichte wissenschaftliche Studie über Nachrichten-Satelliten – damals noch eine utopische Vision. In seiner Freizeit widmet sich Mr. Clarke dem Tauchsport am Great Barrier Reef in Australien und vor der Küste Ceylons, wo er seit 1956 lebt.
Science Fiction Ullstein Buch Nr. 3054 im Verlag Ullstein GmbH, Frankfurt/M – Berlin – Wien Aus dem Amerikanischen übersetzt von Leni Sobetz Umschlagillustration: Kelly Freas / ACE Alle Stories aus THE WIND FROM THE SUN Copyright © 1962, 1963, 1964, 1965, 1967, 1970 by Arthur C. Clarke Alle Rechte vorbehalten Übersetzung © 1974 by Verlag Ullstein GmbH Frankfurt/M – Berlin – Wien Printed in Germany 1974 Gesamtherstellung: Augsburger Druck‐ und Verlagshaus GmbH ISBN 3 548 03054 8
Science‐Fiction‐Stories 37 16 Erzählungen von Arthur C. Clarke Herausgegeben von Walter Spiegl ein Ullstein Buch
INHALT GÖTTERSPEISE 7 MAHLSTROM II 13 IN DUNKLEN TIEFEN 30 VOR DEM SONNENWIND 51 FROHE BOTSCHAFT 75 DER LETZTE BEFEHL 82 GEBURTSSTUNDE 85 HEIMKEHR 93 PLAYBACK 95 VERBLENDUNG 99 DIE LÄNGSTE SCIENCE-FICTION-GESCHICHTE, DIE JE ERZÄHLT WURDE… 106 HERBERT GEORGE MORLEY ROBERTS WELLS, ESQ. 108 KRAFT DER LIEBE 111 KOSMISCHER KREUZZUG 116 GIPFELSTÜRMER 122 TOTALSCHADEN 144 NACHWORT 147
GÖTTERSPEISE Ich muß Sie warnen, Mr. Chairman, daß viele meiner Beweise nicht gerade appetitanregend sind; sie beziehen sich nämlich auf Aspekte der menschlichen Natur, die in der Öffentlichkeit nur selten diskutiert werden, ganz gewiß aber nicht vor dem Komitee eines Kongresses. Ich fürchte jedoch, daß man sich ihnen stellen muß; es gibt Zeiten, in denen der Schleier der Heuchelei weggerissen werden muß, und diese Zeit haben wir jetzt. Sie und ich, Gentlemen, wir alle stammen von einer langen Ahnenreihe von Fleischfressern ab. Ihren Mienen entnehme ich, daß nur wenige von Ihnen diesen Ausdruck überhaupt kennen. Nun, erstaunlich ist das nicht; er stammt nämlich aus einer Sprache, die seit zweitausend Jahren nicht mehr gesprochen wird. Vielleicht ist es besser, jeden Euphemismus zu vermeiden und die brutale Offenheit zu wählen, selbst wenn ich mich einiger Worte bedienen muß, die in einer höflichen, gebildeten Gesellschaft nie zu hören sind. Sollte ich damit jemanden beleidigen, so bitte ich schon im voraus um Verzeihung. Bis vor einigen Jahrhunderten war Fleisch die Leibspeise aller Menschen, das Fleisch von Tieren, die tatsächlich gelebt haben. Ich möchte durchaus nicht, daß sich Ihnen die Mägen umdrehen, Gentlemen, doch das ist nur die Erwähnung einer Tatsache, die Sie in allen Geschichtsbüchern nachprüfen können. Natürlich, Mr. Chairman, ich warte gern, bis sich Senator Irving wieder wohler fühlt. Wir Fachleute vergessen manchmal, wie Laien auf derartige Feststellungen reagieren können. Aber ich muß Sie doch warnen, daß es noch sehr viel schlimmer kommt. Wenn einer von Ihnen, Gentlemen, ein wenig empfindlich ist, würde ich vorschlagen, er möge dem Senator folgen, ehe es zu spät ist. Nun, ich kann also fortfahren… Bis in die moderne Zeit hinein wurden alle Nahrungsmittel in zwei große Kategorien unterteilt. Die meisten wurden aus Pflanzen hergestellt – aus Getreide, Obst, Plankton, Algen und anderen Vegetationsformen. Wir können uns kaum mehr vorstellen, daß die Mehrzahl unserer Vorfahren Farmer waren, die vom Land oder aus dem Meer Nahrungsmittel gewannen und dabei auf Methoden an-
gewiesen waren, die ihnen nur schmerzende Rücken und sonst wenig einbrachten. Jedenfalls ist das die Wahrheit. Der zweite Nahrungstyp war, um wieder auf dieses unappetitliche Thema zurückzukommen, Fleisch, das von einer relativ geringen Anzahl von Tierarten stammte. Einige davon werden Sie sicher kennen – Kühe, Schweine, Schafe, Wale. Die meisten Menschen bevorzugten – und es tut mir außerordentlich leid, besonderen Nachdruck auf diese Feststellung legen zu müssen – Fleisch vor allem anderen, obwohl nur die Wohlhabendsten in der Lage waren, diesen Appetit zu befriedigen. Für den größten Teil der Menschheit war Fleisch eine seltene Delikatesse, die man sich nur selten erlauben konnte, denn zu mehr als neunzig Prozent ernährte man sich von Pflanzen. Wenn wir diese Sache sachlich und leidenschaftslos betrachten – und ich hoffe, Senator Irving ist dazu wieder in der Lage –, können wir sehen, daß Fleisch immer teuer und selten sein mußte, denn seine Erzeugung ist ein außerordentlich umständlicher und verschwenderischer Prozeß. Um ein Kilo Fleisch zu gewinnen, mußte das betreffende Tier mindestens zehn Kilo pflanzlicher Nahrung zu sich nehmen, und das war sehr oft eine Nahrung, die von den Menschen direkt hätte verbraucht werden können. Abgesehen von ästhetischen Gründen konnten solche Methoden nach der Bevölkerungsexplosion im zwanzigsten Jahrhundert nicht mehr toleriert werden. Jeder Mensch, der Fleisch aß, verdammte zehn oder mehr seiner Mitmenschen zum Hungertod… Es war ein riesiges Glück für uns alle, daß die Biochemiker das Problem lösten; wie Sie wissen, war die Antwort auf unsere brennende Frage eines der Nebenprodukte der Raumforschung. Alle Nahrung – tierisch oder pflanzlich – besteht aus wenigen sehr einfachen Elementen. Kohlen-, Wasser- und Sauerstoff, Stickstoff, Spuren von Schwefel und Phosphor und noch ein paar anderen Elementen vereinigen sich zu einer fast unbegrenzten Vielfalt an Nahrungsmitteln, die der Mensch je zu sich genommen hat oder nehmen wird. Als wir uns dem Problem der Kolonisierung des Mondes und der Planeten gegenübersahen, entdeckten die Biochemiker des einundzwanzigsten Jahrhunderts, wie jedes gewünschte Nahrungsmittel aus Rohmaterialien wie Wasser, Luft und Fels synthetisch hergestellt werden konnte. Das war die größte und wahrscheinlich wichtigste wissenschaftliche Tat in der Geschichte der Menschheit. Aber
wir sollten darauf nicht allzu stolz sein. Das Königreich der Pflanzen hat uns darin schon vor einer Milliarde Jahren überflügelt. Die Chemiker konnten jetzt also jedes nur denkbare Nahrungsmittel synthetisch herstellen, ob es nun in der Natur vorkam oder nicht. Natürlich gab es dabei Fehler, sogar manches verheerende Unglück. Industriereiche wurden errichtet und stürzten in sich zusammen. Der Übergang von Ackerbau und Viehzucht zu den riesigen automatischen Herstellungsbetrieben und Omnivertern unserer Zeit war ein oft sehr schmerzlicher Prozeß. Die Gefahr des Hungertodes wurde jedoch für alle Zeiten gebannt; deshalb war dieser Prozeß notwendig. Und wir haben jetzt einen Reichtum und eine solche Vielfalt an Nahrungsmitteln, wie sie kein anderes Zeitalter je gekannt hat. Natürlich war damit auch ein gewisser moralischer Gewinn verbunden. Wir ermorden nicht länger mehr Millionen lebender Kreaturen, und solche verabscheuungswürdigen Einrichtungen wie Schlachthäuser und Fleischergeschäfte sind längst von der Erde verschwunden. Wir finden es jetzt unglaublich, daß unsere Vorfahren, und mögen sie uns noch so brutal und grob erscheinen, solche Obszönitäten geduldet haben. Und doch – es ist fast ausgeschlossen, einen absolut endgültigen Bruch mit der Vergangenheit herzustellen. Wie ich bereits eingangs bemerkt habe, sind wir von Haus aus Fleischfresser; wir haben einen gewissen Geschmack und Appetit geerbt, der sich im Lauf von einer Million Jahren herausgebildet hat. Ob es uns nun paßt oder nicht, es ist noch gar nicht lange her, da delektierten sich unsere Ururgroßeltern noch am Fleisch von Kühen, Schafen und Schweinen, wann immer sie es bekommen konnten. Und auch heute noch genießen wir es. Du lieber Himmel, vielleicht bleibt Senator Irving von jetzt an doch besser draußen. Vielleicht sollte ich wirklich nicht ganz so unverblümt sprechen. Was ich natürlich sagen wollte, war dies, daß einige unserer synthetischen Nahrungsmittel dieselbe Zusammensetzung haben wie die alten Naturprodukte. Es gibt sogar etliche, die ein so haargenauer Ersatz sind, daß bei keinem chemischen oder sonstigen Test ein Unterschied festzustellen wäre. Diese Situation ist logisch und unvermeidlich. Wir Hersteller haben doch nur die beliebtesten vorsynthetischen Nahrungs-
mittel als Modell genommen und deren Zusammensetzung genau reproduziert. Selbstverständlich haben wir auch neue Namen geschaffen, die keinen Hinweis auf eine anatomische oder zoologische Abkunft geben, so daß niemand an die Tatsachen des Lebens erinnert wird. Wenn Sie in ein Restaurant gehen, finden Sie auf der Speisekarte fast nur noch Worte, die seit dem Beginn des einundzwanzigsten Jahrhunderts erfunden wurden, oder man hat wenigstens die ursprünglichen französischen Bezeichnungen so verändert, daß sie höchstens noch von wenigen Leuten erkannt werden. Wenn Sie je versuchen wollen, wie weit Ihre Toleranz reicht, können Sie ein interessantes, wenn auch unangenehmes Experiment machen. Die Altertumsabteilung der Kongreßbibliothek verfügt über eine sehr große Anzahl Speisekarten berühmter Restaurants – jawohl, und auch von Banketten des Weißen Hauses –, die fünfhundert Jahre zurückreichen. Sie sind von der rohen Offenheit eines Sezierraumes, die sie fast unlesbar macht. Ich kann mir nicht vorstellen, daß es etwas geben könnte, was die Tiefe der Kluft zwischen uns und unseren Vorfahren vor nur wenigen Generationen bildhafter enthüllen könnte als dies… Jawohl, Mr. Chairman, ich komme jetzt auf den Kern der Sache zu sprechen. Dies gehört alles dazu, und mag es auch noch so unerfreulich sein. Ich versuche nicht, Ihnen den Appetit zu verderben, sondern ich lege hiermit nur den Grundstein für die Anklage, die ich gegen meinen Konkurrenten einbringen werde, die Triplanetary Food Corporation. Solange Sie den Hintergrund nicht begreifen, könnten Sie der Meinung sein, die Klage sei eine Frivolität, die von den – zugegebenermaßen schweren – Verlusten meiner Firma inspiriert wurde, seit Ambrosia Plus auf den Markt kam. Gentlemen, Woche für Woche kommen neue Nahrungsmittel auf den Markt. Man kann sie gar nicht alle verfolgen. Sie kommen und gehen wie Damenmoden, und nur ein Produkt von Tausenden bereichert, auf die Dauer gesehen, tatsächlich unsere Speisekarte. Es ist eine ganz ungeheure Seltenheit, praktisch über Nacht mit einem Volltreffer den Geschmack der Leute entscheidend anzusprechen, und ich gebe offen zu, daß die Speisen mit Ambrosia Plus der größte Erfolg aller Zeiten in der
Herstellung von Nahrungsmitteln sind. Sie wissen es selbst: sie haben alles andere vom Markt verdrängt. Natürlich sahen wir uns gezwungen, die Herausforderung anzunehmen. Die Biochemiker meines Unternehmens sind so gut wie alle anderen im solaren System, und sie machten sich sofort an die Arbeit mit Ambrosia Plus. Ich gebe keine Produktionsgeheimnisse preis, wenn ich Ihnen sage, daß wir Bänder von nahezu allen Lebensmitteln, natürlichen und synthetischen, hergestellt haben, die je von der Menschheit verzehrt wurden, bis zurück zu den fremdartigsten Dingen, die Sie je gehört haben, wie gebratene Tintenfische, Hummern in Honig, Pfauenzungen, venusische Vielfüßler und so weiter. Unsere enormen Verzeichnisse über Gewürze, Geschmacksrichtungen und Zusammensetzungen sind die Grundlage unserer Industrie und der unserer Konkurrenz. Aus dieser Bibliothek können wir alles nach Belieben wählen und mixen. Gewöhnlich können wir auch ohne besondere Schwierigkeit jedes Produkt der Konkurrenz kopieren. Aber Ambrosia Plus hat uns einige Zeit an der Nase herumgeführt. Die Protein-Fett-Daten klassifizierten es als ehrliches Fleisch, und das war gar nicht so schwierig. Und doch konnten wir es nicht genau kopieren. Zum erstenmal versagten unsere Chemiker, denn nicht einer von ihnen konnte erklären, was dem Zeug seinen außerordentlichen Wohlgeschmack verleiht, und wir alle wissen, daß im Vergleich dazu alle anderen Lebensmittel fad und geschmacklos wirken. Es könnte also… Doch ich eile mir damit selbst voraus. Sehr bald, Mr. Chairman, wird der Präsident der Triplanetary Foods vor Ihnen erscheinen – ziemlich widerstrebend, wie ich vermuten würde. Er wird Ihnen berichten, Ambrosia Plus sei aus Luft, Wasser, Kalk, Schwefel, Phosphor und einigen anderen Dingen künstlich hergestellt. Das ist richtig, aber das ist noch lange nicht der wichtigste Teil der Geschichte. Denn wir haben sein Geheimnis nun gelüftet, das – wie übrigens die meisten Geheimnisse, sind sie erst einmal entschleiert – recht einfach ist. Ich muß meinem Konkurrenten gratulieren. Er hat ja schließlich unbegrenzte Mengen eines Nahrungsmittels verfügbar gemacht, da seiner ganzen Natur nach ideal für den Menschen ist. Bis zu seiner syntheti-
schen Herstellung war es von außergewöhnlicher Seltenheit, und die wenigen Kenner und Genießer, die es sich beschaffen konnten, schätzten es um so mehr. Alle ohne Ausnahme haben geschworen, nichts könne sich auch nur entfernt damit vergleichen. Jawohl, die Chemiker der Triplanetary haben ausgezeichnete Arbeit geleistet. Und jetzt haben Sie, meine Herren, die damit verbundenen moralischen und philosophischen Fragen zu klären. Als ich mit meiner Beweisführung begann, habe ich mich eines archaischen Wortes bedient – Fleischfresser. Jetzt muß ich Ihnen ein anderes präsentieren, das ich Ihnen wohl besser buchstabiere: K-A-N-N-I-B-A-L-E-N… Originaltitel: THE FOOD OF THE GODS (Mai 1961)
MAHLSTROM II Cliff Leyland war nicht der erste Mensch, der die genaue Sekunde seines Todes und die präzise Art seines Sterbens voraussagen konnte; das hielt er sich auch immer verbittert vor. Zahllose Male hatten zum Tod verurteilte Verbrecher auf ihre letzte Morgendämmerung gewartet. Aber diese hatten wenigstens bis zum allerletzten Moment auf ihre Begnadigung hoffen können; menschliche Richter können Barmherzigkeit üben. Aber gegen die Gesetze der Natur gibt es keine Berufung. Vor kaum sechs Stunden hatte er fröhlich pfeifend seine zehn Kilo Handgepäck für die lange Reise nach Hause gepackt. Selbst jetzt noch, nach allem, was er erlebt hatte, konnte er sich genau erinnern, wie er davon geträumt hatte, daß Myra schon in seinen Armen läge, daß er Brian und Sue auf eine Nilreise mitnehmen würde. In wenigen Minuten konnte er vielleicht, sobald sich die Erde über den Horizont schob, den Nil sehen, aber die Erinnerung allein brachte ihm die Gesichter seiner Frau und der Kinder lebhaft ins Gedächtnis. Und das alles geschah nur deshalb, weil er neunhundertfünfzig Sterlingdollar hatte sparen wollen, indem er mit dem Frachtkatapult statt mit der normalen Zubringerrakete reiste. Er hatte auch damit gerechnet, daß die ersten zwölf Sekunden nach dem Abschuß alles andere als angenehm wären, wenn die elektrische Katapultvorrichtung die Kapsel über die Fünfzehn-Kilometerschiene jagte und ihn vom Mond abschoß. Er hatte während des Countdown zwar den Schutz der Wasserkapsel, in der er schwamm, aber trotzdem hatte er sich auf die zwanzig G Abschußgeschwindigkeit nicht gerade gefreut. Als aber dann die Beschleunigung nach der Kapsel griff, war er sich der immensen Kräfte, denen er ausgesetzt war, kaum bewußt. Das einzige Geräusch war ein angedeutetes Ächzen der Metallwände; für einen, der das Donnern eines Raketenabschusses erlebt hatte, war die Stille unheimlich. Als der Kabinensprecher angekündigt hatte »T plus fünf Sekunden; Geschwindigkeit dreitausend Kilometer pro Stunde«, war ihm das unglaublich erschienen. Dreitausend Kilometer pro Stunde in fünf Sekunden nach dem Start aus dem Stand – und noch sieben weitere Sekunden, während die Gene-
ratoren ihre Energieblitze in den Startschlitten schickten. Die Kapsel raste wie ein Blitz über die Mondoberfläche. Und bei T plus sieben Sekunden versagte der Blitz. Selbst im mutterschoßähnlichen Innern der Kapsel konnte Cliff fühlen, daß etwas schiefgelaufen war. Das Wasser um ihn herum, das jetzt nahezu gefroren war, schien plötzlich lebendig zu werden. Wenn auch die Kapsel noch immer auf der Katapultschiene entlangjagte, so hatte doch die Beschleunigung nachgelassen, und nur die Triebkraft ließ ihn weiterrasen. Er hatte keine Zeit für Angstgefühle oder sich darüber Gedanken zu machen, was geschehen sein könnte, denn die Unterbrechung der Energiezufuhr hatte kaum mehr als eine Sekunde gedauert. Dann ging eine Erschütterung durch die Kapsel, begleitet von einer Serie unheildrohender klirrender und krachender Geräusche, als der Antrieb erneut einsetzte. Als die Beschleunigung dann wie vorgesehen nachließ, verschwand damit auch das Gewicht. Cliff brauchte keine Instrumente, denn sein Magen verriet ihm deutlich genug, daß er das Ende der Katapultschiene erreicht und von der Mondoberfläche abgehoben hatte. Ungeduldig wartete er, bis die automatischen Pumpen den Tank geleert und die Heißlufttrockner ihre Pflicht getan hatten; dann ließ er sich im freien Fall zum Instrumentenbrett treiben und zog sich auf den Schwingsitz. »Startkontrolle!« rief er, als er die Gurte um seinen Leib befestigte. »Was zum Teufel war da los?« Eine energische, aber besorgte Stimme meldete sich sofort. »Wir untersuchen noch und rufen in dreißig Sekunden zurück… Gut, daß du okay bist«, fügte die Stimme mit ein wenig Verspätung hinzu. Cliff wartete. Er schaltete auf Blickfeld voraus, aber da war nichts zu sehen als Sterne – wie es sein sollte. Wenigstens hatte er fast die vorgesehene Geschwindigkeit erreicht, und es bestand keine unmittelbare Gefahr, daß er auf die Mondoberfläche zurückfiel und zerschellte. Trotzdem mußte er früher oder später doch damit rechnen, denn die unbedingt nötige Fliehgeschwindigkeit hatte er nicht erreicht. Er würde also auf einer großen Ellipse in den Raum hinausschießen und in ein paar Stunden zum Ausgangspunkt zurückfallen.
»Hallo, Cliff«, meldete sich die Startkontrolle plötzlich. »Wir haben herausgekriegt, was passiert ist. Im Abschnitt fünf der Katapultschiene haben sich die Unterbrecher eingeschaltet. Deshalb liegt deine Startgeschwindigkeit eintausendeinhundert Kilometer pro Stunde zu niedrig. In etwas mehr als fünf Stunden kommst du also wieder zurück. Aber mach dir keine Sorgen. Deine Kurskorrekturdüsen können dich in eine sichere Umlaufbahn bringen. Wir sagen dir noch, wann du sie zünden mußt. Dann brauchst du nur dazusitzen und zu warten, bis wir einen hinauf schicken können, der dich 'runterholt.« Langsam gestattete sich Cliff ein Nachlassen der Spannung. Die Korrekturdüsen hatte er ganz vergessen. Sie gaben relativ wenig Schub her, aber sie genügten, ihn in eine Umlaufbahn zu bringen, die ihn in sicherer Entfernung von der Mondoberfläche hielt. Schlimmstenfalls fegte er ein paar Kilometer über den Mondgebirgen, Ebenen und Kratern dahin, aber in relativer Sicherheit. Dann fiel ihm das klirrende Krachen der Kapsel wieder ein, und seine Hoffnungen schmolzen dahin. In einem Raumfahrzeug zog alles, was zu Bruch ging, die unangenehmsten Konsequenzen nach sich. Und diesen Konsequenzen sah er sich ausgeliefert, als er die Stromkreise der Zündmechanismen überprüft hatte. Er konnte die Korrekturdüsen weder von Hand noch automatisch zünden. Die bescheidenen Treibstoffvorräte der Kapsel, die ihn in Sicherheit hätten bringen können, nützten ihm also gar nichts. In fünf Stunden würde er die Umlaufbahn zurückgelegt haben und zu seinem Startpunkt zurückkehren. Ob sie wohl den neuen Krater nach mir benennen werden? überlegte Cliff. Krater Leyland, Durchmesser… Welcher Durchmesser? Besser nicht übertreiben. Mehr als ein paar hundert Meter sind es gewiß nicht, deshalb gar nicht wert, ihn auf einer Mondkarte zu verzeichnen… Die Startkontrolle schwieg noch immer, doch das war weiter nicht erstaunlich. Was sollte man auch mit einem Mann reden, der doch schon so gut wie tot war? Und doch wollte er einfach nicht glauben, daß er, obwohl er wußte, daß nichts mehr seinen Kurs ändern konnte, bald auf der Rückseite des Mondes verdampfen würde. Immer noch raste er vom Mond weg und hätte sich unter normalen Umständen in seiner kleinen Kabine ganz behaglich fühlen können. Die Vorstellung vom Tod paßte
einfach nicht ins Bild; sie paßte ins Bild der wenigsten Menschen – bis zur letzten Sekunde. Und dann vergaß Cliff für einen Augenblick seine eigenen Probleme. Der Horizont voraus war jetzt nicht mehr flach. Etwas, das viel heller strahlte als die gleißende Mondlandschaft, hob sich den Sternen entgegen. Als die Kapsel dem Mondhorizont entgegenraste, ging die Erde auf. In einer Minute würde dieses Erlebnis vorüber sein, so groß war seine Geschwindigkeit im Orbit. Dann würde die Erde praktisch über den Horizont gesprungen sein und rasch in den Himmel klettern. Die Erde war schon zu drei Vierteln voll und fast zu hell, als daß man sie hätte anschauen können. Hier war ein kosmischer Spiegel, der nicht aus kahlen Felsen und Staubebenen bestand, sondern aus Schnee und Wolken und Ozeanen. Es war hauptsächlich Ozean, denn der Pazifik war ihm zugewandt, und die blendende Helle der Sonne überdeckte die Inseln Hawaiis. Der Dunst der Atmosphäre, diese Luftdecke, die ihn in ein paar Stunden wie ein weiches Kissen hätte auffangen sollen, verwischte alle geographischen Details. Vielleicht war der dunkle Fleck, der sich gerade aus der Nacht schob, Neuguinea, aber sicher war er sich nicht. Bittere Ironie lag in dem Wissen, daß er jetzt dieser lieblichen, schimmernden Erscheinung entgegenraste. Eintausendeinhundert Kilometer pro Stunde mehr, und er hätte es geschafft. Der Anblick der immer näher kommenden Erde erinnerte ihn unerbittlich an die Pflicht, die er fürchtete, der er aber nicht ausweichen, die er nicht hinausschieben konnte. »Startkontrolle«, rief er und bot seine ganze Selbstbeherrschung auf, um seine Stimme ruhig klingen zu lassen. »Bitte gebt mir eine Verbindung zur Erde.« Es war eines der merkwürdigsten Dinge, die er je im Leben getan hatte – hier über dem Mond dahinrasen und zuhören, wie in seinem Haus auf der Erde in einer Entfernung von vierhunderttausend Kilometer das Telefon läutete. In Afrika mußte es jetzt fast Mitternacht sein, und es würde eine Weile dauern, bis er Antwort bekäme. Myra würde sich erst einmal verschlafen im Bett umdrehen, dann aber schlagartig hellwach sein, weil sie ja die Frau eines Astronauten war und immer auf ein Un-
glück gefaßt sein mußte. Aber sie hatten es beide abgelehnt, ein Telefon im Schlafzimmer zu haben, und so würde es mindestens fünfzehn Sekunden dauern, bis sie Licht machte, die Tür zum Kinderzimmer schloß, um das Kleine nicht aufzuwecken, und die Treppe hinunter ins Wohnzimmer ging… Klar und süß drang ihre Stimme durch die Leere des Raumes. Überall im ganzen Universum hätte er sie erkannt und die Besorgnis herausgehört. »Mrs. Leyland?« fragte die Vermittlung Erde. »Ich habe einen Anruf Ihres Mannes. Bitte, beachten Sie den Zeitintervall von zwei Sekunden.« Cliff überlegte kurz, wie viele Menschen wohl diesem Gespräch zuhörten, entweder auf dem Mond, oder auf der Erde, oder auf den Relaissatelliten. Es war hart, zum letztenmal mit dem geliebten Menschen zu sprechen, wenn man nicht wußte, wie viele Lauscher mithörten. Aber als er dann zu sprechen begann, gab es außer Myra und ihm nichts mehr. »Liebling«, begann er, »hier ist Cliff. Ich fürchte, ich werde nicht wie versprochen nach Hause kommen. Es gab hier… eine technische Panne. Im Moment geht es mir recht gut, aber ich stecke in einer scheußlichen Klemme.« Er schluckte heftig und versuchte mit der Trockenheit in seinem Mund fertig zu werden; dann redete er schnell weiter, ehe sie ihn unterbrechen konnte. So kurz wie irgend möglich erklärte er ihr die Situation. Um ihret- und seinetwillen gab er jedoch nicht alle Hoffnung auf. »Alle tun, was sie können«, sagte er. »Vielleicht können sie mir noch rechtzeitig ein Schiff heraufschicken. Aber falls es nicht geht… Nun, jedenfalls wollte ich noch mit dir und den Kindern sprechen.« Sie nahm es so ruhig auf, wie er gehofft hatte. Stolz und Liebe überwältigten ihn fast, als ihre Antwort von der Dunkelseite der Erde kam. »Mach dir keine Sorgen, Cliff. Ich bin überzeugt, sie holen dich heraus, und dann machen wir Ferien, wie wir sie geplant haben.« »Das denke ich auch«, log er. »Aber nur für alle Fälle… Würdest du die Kinder wecken? Aber sag ihnen nicht, daß etwas passiert ist.« Es verging eine endlose halbe Minute, bis er ihre noch ziemlich verschlafenen, trotzdem aufgeregten Stimmen vernahm. Cliff hätte sogar die
letzten Stunden seines Lebens dafür geopfert, ihre Gesichter sehen zu können, doch die Kapsel war mit einem solchen Luxus wie Sichtschirmen nicht ausgestattet. Vielleicht war es aber viel besser so, denn er hätte nur ihre Gesichter zu sehen brauchen und die Wahrheit nicht mehr verbergen können. Sie würden es sowieso noch früh genug erfahren, wenn auch nicht von ihm. In den paar letzten Augenblicken wollte er ihnen nur Glück und sonst nichts bescheren. Aber es war ungeheuer schwierig, sich ihren Fragen zu stellen, ihnen zu sagen, daß er bald wieder bei ihnen sein werde, ihnen etwas zu versprechen, das er doch nicht halten konnte. Es bedurfte seiner ganzen Selbstbeherrschung, als Brian ihn an den Mondstaub erinnerte, den er schon einmal mitzubringen vergessen hatte. Diesmal hatte er jedoch daran gedacht. »Ich hab ihn, Brian. Er ist in einem Döschen neben mir. Du kannst ihn bald deinen Freunden zeigen.« Aber nein, bald würde er wieder auf jenen Himmelskörper zurückfallen, von dem er stammte… »Und Susie, sei lieb und tu alles, was Mammi dir sagt. Dein letztes Schulzeugnis war nicht besonders gut, weißt du, besonders diese Bemerkung da über dein Betragen… Ja, Brian, ich habe die Fotos und einen Stein vom Aristarchus…« Oh, es war hart, mit fünfunddreißig sterben zu müssen. Aber es war auch hart für einen zehnjährigen Jungen, seinen Vater zu verlieren. Wie sollte sich Brian seiner in den vor ihm liegenden Jahren erinnern? Vielleicht war er für den Jungen nur eine dünne, allmählich verblassende Stimme aus dem Raum, denn er war so selten auf der Erde gewesen. In den wenigen Minuten, während er weiter in den Raum hinausflog, um dann zum Mond zurückzukehren, gab es wenig, was er tun konnte; seine Liebe und seine Hoffnungen zu ihnen über die weite Leere schicken, die er niemals mehr überbrücken würde. Alles andere blieb Myra überlassen. Als die Kinder dann glücklich, wenn auch ein bißchen verwirrt wieder gegangen waren, gab es viel Arbeit für ihn. Man mußte einen klaren Kopf behalten, nüchtern und praktisch denken. Myra mußte sich nun ohne ihn der Zukunft stellen, aber den Übergang konnte er ihr ein bißchen erleichtern. Das Leben geht immer weiter, was immer auch einem einzelnen Menschen zustoßen mochte. Und der Mann unserer Zeit hat mit Hypothekenzinsen und Dienstverträgen, mit Versicherungspolicen
und Bankkonten zu tun. Fast unpersönlich, etwa so, als gehe es einen anderen an – was wohl bald genug Wahrheit werden würde – begann Cliff über diese Dinge zu sprechen. Es gab eine Zeit für das Herz und eine für das Hirn. Das Herz würde das letzte Wort in drei Stunden von jetzt an gerechnet haben, wenn seine letzte Annäherung an den Mond begann. Niemand unterbrach sie. Es mußten schweigende Wächter genug da sein, welche die Verbindung zwischen zwei Welten aufrechterhielten, aber sie beide hätten ebensogut die letzten und einzigen lebenden Menschen sein können. Manchmal schweifte Cliffs Blick, während er sprach, zum Periskop, und er wurde vom Glanz der Erde geblendet; sie stand jetzt mehr als zur Hälfte am Himmel, Heimat für sieben Milliarden Seelen – kaum zu glauben. Aber nur drei davon zählten für ihn wirklich. Eigentlich waren es vier, aber beim besten Willen konnte er das Baby nicht auf der gleichen Ebene sehen wie die anderen. Seinen kleinen Sohn hatte er noch nie gesehen und würde ihn nun auch nie mehr sehen. Dann wußte er nichts mehr zu sagen. Für einige Dinge hätte ein ganzes Leben nicht ausgereicht, doch eine Stunde konnte zu lang sein. Er fühlte sich körperlich und seelisch erschöpft, und die auf Myra drückende Last konnte nicht geringer sein. Er mußte jetzt mit seinen Gedanken und den Sternen allein sein, um sich zu sammeln und seinen Frieden mit dem Universum zu machen. »Ich würde mich jetzt gern für etwa eine Stunde von dir verabschieden, Liebling«, sagte er. Es bedurfte keiner Erklärung; sie verstanden einander viel zu gut. »Ich rufe dich wieder an. Wir haben dann mehr Zeit. Leb wohl für jetzt.« Er wartete die zweieinhalb Sekunden, bis das Lebewohl von der Erde kam, dann unterbrach er die Verbindung und starrte leeren Blickes die winzige Instrumentenkonsole an. Überraschend, ohne Wunsch und Willen, stürzten Tränen aus seinen Augen, und plötzlich weinte er wie ein kleines Kind. Er weinte um seine Familie, um sich selbst. Er weinte um die Zukunft, die doch hätte sein können, um die Hoffnungen, die bald nur noch ein Hauch von Staub sein würden, der zwischen den Sternen trieb. Und er weinte, weil er sonst nichts zu tun wußte.
Nach einer Weile fühlte er sich wohler. Und dann wurde ihm klar, daß er entsetzlich hungrig war. Es hatte keinen Sinn, mit leerem Magen zu sterben, und so stöberte er in den Vorräten der schrankgroßen Küche. Während er eine Tube Hühner-Schinken-Paste in den Mund drückte, rief die Startkontrolle an. Am anderen Ende war eine neue Stimme, eine ruhige, langsame, unendlich tüchtig klingende Stimme. »Hier spricht Van Kessel, Chef der technischen Abteilung Raumfahrzeuge. Hören Sie sehr genau zu, Leyland. Wir glauben einen Ausweg gefunden zu haben. Es ist eine schwierige und langwierige Angelegenheit, aber Ihre einzige Chance.« Ein steter Wechsel von Hoffnung und Verzweiflung ist Gift für jedes Nervensystem. Cliff fühlte sich unvermittelt ganz benommen; er wäre unweigerlich gestürzt, hätte es irgendeine Richtung gegeben, in die er hätte fallen können. »Sprechen Sie weiter«, sagte er schließlich, als er sich wieder gefangen hatte. Dann hörte er Van Kessel erst interessiert, dann zunehmend ungläubig zu. »Das ist unmöglich!« rief er schließlich. »Und unvernünftig!« »Mit einem Computer können Sie nicht streiten«, antwortete Van Kessel. »Sie haben die Daten auf mindestens zwanzig verschiedene Arten nachgeprüft. Und es sieht ganz vernünftig aus. Sie bewegen sich im Apogäum nicht so schnell, und es bedarf nur eines geringen Anstoßes, um Ihren Orbit zu verändern. Ich nehme an, Sie waren noch nie in einem Schiff für den Außenraum?« »Nein, war ich noch nie.« »Schade. Aber das macht nichts. Wenn Sie den Anweisungen genau folgen, kann nichts schiefgehen. Sie finden den Raumanzug im Schrank am Ende der Kabine. Brechen Sie die Siegel auf und ziehen Sie ihn heraus.« Cliff schwebte das Stück vom Instrumentenbrett zur Kabinenrückseite und zog den Hebel, auf dem stand NUR IM NOTFALL – TYP 17 ANZUG FÜR DEN AUSSENRAUM. Die Tür ließ sich öffnen, und das silbrig schimmernde Material hing schlaff vor ihm.
»Sie ziehen sich jetzt bis auf die Unterwäsche aus und streifen den Anzug über«, befahl Van Kessel. »Kümmern Sie sich zunächst nicht um den Sanipack. Den können Sie später anschließen.« »Ich bin drinnen«, meldete Cliff wenig später. »Was habe ich jetzt zu tun?« »Sie warten zwanzig Minuten, und dann geben wir Ihnen das Signal zur Öffnung der Luftschleuse. Dann springen Sie.« Die Bedeutung des Wortes springen bohrte sich in sein Gehirn. Cliff sah sich in der jetzt vertrauten, tröstlichen kleinen Kabine um, und dann dachte er an die einsame Leere zwischen den Sternen – den unüberbrückbaren Abgrund, durch den ein Mann bis zum Ende aller Zeiten fallen konnte. Nie vorher war er im freien Raum gewesen. Warum auch? Es hatte keinen Grund dafür gegeben. Er war ja nur ein Landwirt mit einem Diplom, der vom Sahara-Entwicklungs-Projekt abkommandiert worden war, um zu versuchen, auf dem Mond etwas anzupflanzen. Der weite, leere Weltenraum war nichts für ihn. Er fühlte sich mit Erde und Fels verbunden, Mondstaub und Bimsstein. »Das kann ich nicht«, flüsterte er. »Gibt es denn keine andere Möglichkeit?« »Nein, gibt es nicht«, sagte Van Kessel. »Wir tun, verdammt noch mal, alles, um Sie zu retten, und für Neurosen ist jetzt keine Zeit. Dutzende von Männern waren vor Ihnen in schlimmeren Situationen, schwer verletzt und in Wracks eingeklemmt, viele Millionen Kilometer von jeder Hilfe entfernt. Aber Sie haben nicht einmal einen Kratzer abbekommen, und Sie jammern jetzt schon! Reißen Sie sich zusammen, oder wir brechen die Verbindung ab; dann können Sie in Ihrem eigenen Saft schmoren.« Cliff lief rot an, und es dauerte ein paar Sekunden, ehe er antwortete. »Geht in Ordnung. Gehen wir die Anweisungen noch einmal durch«, sagte er. »Schon besser«, meinte Van Kessel anerkennend. »Zwanzig Minuten noch, dann sind Sie auf dem höchsten Punkt Ihrer elliptischen Bahn, dem Apogäum. Und da begeben Sie sich in die Luftschleuse. Von die-
sem Moment an haben wir keine Verbindung mehr mit Ihnen. Ihr Raumanzugfunkgerät reicht nur über knapp zwanzig Kilometer. Aber wir verfolgen Sie auf dem Radarschirm, und wenn Sie genau über uns sind, können wir mit Ihnen sprechen. Und jetzt zu den Instrumenten Ihres Raumanzuges…« Die zwanzig Minuten vergingen sehr rasch. Am Ende dieser Zeit wußte Cliff ganz genau, was er zu tun hatte. Er glaubte sogar fast daran, daß es glücken könnte. »Zeit zum Aussteigen«, sagte Van Kessel. »Die Kapsel ist genau ausgerichtet, die Luftschleuse zeigt exakt in die Richtung, in die Sie springen müssen. Aber die Richtung ist nicht ausschlaggebend. Geschwindigkeit zählt. Sie müssen alles, was Sie an Kraft aufbieten können, in diesen Sprung legen. Und jetzt viel Glück!« »Vielen Dank«, antwortete Cliff. »Tut mir leid, daß ich…« »Vergessen Sie's«, unterbrach ihn Van Kessel. »Und jetzt los!« Zum letztenmal schaute sich Cliff in der winzigen Kabine um und überlegte, ob er etwas vergessen haben könnte. Sein Gepäck mußte er aufgeben, aber das konnte er sich leicht wieder beschaffen. Dann fiel ihm das Döschen Mondstaub ein, das er Brian versprochen hatte; diesmal wollte er den Jungen nicht enttäuschen. Diese winzige Menge von ein paar Gramm spielten jetzt keine Rolle mehr. Er band also ein Stück Schnur um das Döschen und befestigte es an seinem Anzug. Die Luftschleuse war so winzig, daß er sich darin kaum bewegen konnte. Zwischen der Innen- und Außentür war er praktisch eingeklemmt, bis das Programm der automatischen Pumpe abgelaufen war. Dann schob sich die Außenwand langsam zur Seite, und er sah sich den Sternen gegenüber. Mit ein wenig unbeholfenen Fingern im dicken Raumhandschuh zog er sich aus der Luftschleuse hinaus und stand aufrecht auf dem stark gewölbten Rumpf der Kapsel; er hing an der Sicherheitsleine und drückte sich fest an die Metallwand. Der Glanz um ihn herum lähmte ihn fast. Er vergaß seine Ängste, die Furcht vor Übelkeit, seine ganze Unsicherheit, als er so um sich schaute, denn nichts begrenzte mehr sein Blickfeld.
Der Mond war eine riesige Sichel; die Trennlinie zwischen Nacht- und Tagseite zog sich wie ein zerklüfteter Bogen über ein Viertel des Himmels. Die Sonne ging unter, und die lange Mondnacht stand bevor, aber die Gipfel einzelner hoher Berge glühten noch im letzten Tageslicht und wehrten sich gegen die Dunkelheit, die sie von unten her schon eingekreist hatte. Diese Dunkelheit war nicht absolut. Wenn auch die Sonne nicht mehr auf das Land dort unten schien, so strahlte die fast volle Erde doch in ihrem ganzen Glanz. Cliff erkannte schwach, aber ganz klar im schimmernden Erdenlicht die Umrisse von Meeren und Gebirgen, die winzigen Sterne sonnenbestrahlter Berggipfel, die dunklen Kreise von Kratern. Er flog über einem geisterhaften, schlafenden Land, das versuchte, ihn in den Tod zu ziehen. Denn jetzt hatte er den höchsten Punkt seines Orbits erreicht, genau auf der Linie zwischen Mond und Erde. Es war Zeit, zu springen. Er beugte die Knie und duckte sich auf dem Rumpf zusammen. Dann warf er sich mit aller Kraft den Sternen entgegen und ließ die Sicherheitsleine hinter sich auslaufen. Mit erstaunlicher Geschwindigkeit fiel die Kapsel hinter ihm zurück, und da erlebte er ein außerordentlich merkwürdiges Gefühl. Er hatte Angst oder Übelkeit erwartet, aber ganz gewiß nicht die fast spukhafte Erkenntnis einer großen Vertrautheit. Das alles war schon früher geschehen; nicht ihm natürlich, aber einem anderen. Er konnte seine Erinnerungen nicht danach durchforschen, denn dafür war jetzt keine Zeit. Er warf einen raschen Blick auf Erde, Mond und die zurückbleibende Kapsel und traf seinen Entschluß ohne bewußten Gedanken. Die Leine sauste wie eine Peitsche durch den Raum, als er die Verbindung kappte. Er war ganz allein, dreitausend Kilometer über dem Mond, vierhunderttausend Kilometer von der Erde entfernt. Er konnte nichts tun, nur warten. Es würde mindestens zweieinhalb Stunden dauern, ehe er wußte, ob er weiterleben durfte oder nicht – und ob seine eigenen Muskeln die Aufgabe übernehmen konnten, die eigentlich Raketen zugekommen wäre. Und die Sterne drehten sich langsam um ihn. Plötzlich fiel ihm ein, woher diese gespenstische Erinnerung stammte. Es war schon viele Jahre
her, da hatte er Edgar Allan Poes Erzählungen gelesen; wer könnte sie auch je vergessen? Auch er war in einem Mahlstrom gefangen, wirbelte seinem Verhängnis entgegen. Auch er hoffte ihm zu entkommen, indem er sein Schiff aufgab. Aber die einwirkenden Kräfte unterschieden sich grundlegend voneinander, wenn auch die Parallele erstaunlich war. Poes Fischer hatte sich an ein Faß geklammert, weil zylindrische, kompakte Gegenstände langsamer in den großen Strudel hinabgesaugt wurden als sein Schiff. Es war eine brillante Anwendung hydrodynamischer Gesetze. Cliff konnte nur hoffen, daß seine Anwendung himmlischer Mechanik ebenso inspiriert war. Mit welcher Geschwindigkeit war er von der Kapsel abgesprungen? Sicher mit einer Geschwindigkeit von gut acht Kilometer pro Stunde. Eigentlich verrückt; das war nach astronomischen Begriffen gar keine Geschwindigkeit und sollte doch reichen, ihn in einen neuen Orbit zu tragen. In einen Orbit, der, wie Van Kessel ihm versprochen hatte, ein Abstürzen auf die Mondoberfläche verhindern sollte. Viel war das ja nicht, aber in einer luftleeren Welt, wo ihn keine Atmosphäre hindern oder niederziehen konnte, würde es reichen. Dann fiel ihm siedendheiß ein, daß er den versprochenen zweiten Anruf glatt vergessen hatte, und Myra wartete nun. Das war natürlich Van Kessels Schuld, denn der Ingenieur hatte ihm keine Sekunde Zeit gelassen, um über seine eigenen Angelegenheiten nachzudenken. Aber Van Kessel hatte recht gehabt: In einer solchen Situation durfte ein Mensch nur an sich selbst denken. Seine körperlichen und geistigen Kräfte mußten bis zum Äußersten auf das Überleben konzentriert werden. Für die ablenkenden und schwächenden Empfindungen der Liebe war jetzt weder Zeit noch Raum. Er raste der Nachtseite des Mondes entgegen, und die taghelle Sichel schrumpfte, je mehr er sich näherte. Die unerträglich helle Sonnenscheibe, auf die er nicht zu blicken wagte, fiel rasch dem gebogenen Horizont entgegen. Dann wurde die Mondsichel zu einer brennenden Lichtlinie, einem Feuerbogen vor der Sternennacht. Schließlich löste sich der Bogen in einzelne Lichttropfen auf, die nacheinander erloschen, als er in den Mondschatten eintauchte.
Als die Sonne verschwunden war, erschien das Erdenlicht noch strahlender als je vorher, und es überschüttete seinen Raumanzug mit Silber, als er sich langsam rotierend auf seinem Orbit weiterbewegte. Zehn Sekunden brauchte er etwa für jede Umdrehung; es gab keine Möglichkeit, sie anzuhalten oder zu verändern, und das war ihm sogar willkommen, denn sein Blickfeld änderte sich ständig. Da seine Augen nicht mehr von kurzen Blicken auf die Sonne abgelenkt und geblendet wurden, konnte er die Sterne zu Tausenden sehen; vorher waren es nur Hunderte gewesen. Die bekannten Konstellationen waren im Sternenmeer untergegangen, und selbst die hellsten Planeten waren nur mühsam auszumachen. Die dunkle Scheibe der Nachtseite des Mondes lag wie ein ekliptischer Schatten über dem Sternenfeld, und je mehr er ihr entgegenfiel, desto größer wurde die schwarze Fläche. Immer wieder verschwand ein heller oder schwachleuchtender Stern hinter dem Mondhorizont; er ging einfach aus. Es war fast so, als gähne ein riesiges Loch im Raum, das allmählich den Himmel auffraß. Er hatte keine andere Möglichkeit, seine Bewegung zu messen oder überhaupt zu erkennen, auch keine der Zeitmessung, bis auf die regelmäßige Zehnsekundendrehung. Als er einmal auf seine Uhr schaute, wunderte er sich darüber, daß er die Kapsel schon vor einer halben Stunde verlassen hatte. Er hielt nach ihr zwischen den Sternen Ausschau, doch vergeblich. Sie mußte jetzt schon einige Kilometer hinter ihm liegen. Später würde sie ihn auf ihrer Umlaufbahn noch einmal überholen, und schließlich würde sie den Mond vor ihm erreichen. Cliff grübelte noch immer über dieses Paradoxon nach, als die ungeheure Anstrengung der vergangenen Stunden in Verbindung mit der Euphorie der Schwerelosigkeit ein Ergebnis zeitigte, das er selbst nie für möglich gehalten hätte. Das sanfte Surren der Luftzufuhr lullte ihn ein; er schwebte zwischen den Sternen leichter dahin als eine Feder, und da fiel er in einen traumlosen Schlaf. Als er, angestoßen von seinem Unterbewußtsein, wieder aufwachte, näherte sich die Erde dem Mondrand. Der Anblick hatte fast eine Welle von Selbstbedauern zur Folge, und einen Augenblick lang hatte er gegen die heftigsten Emotionen anzukämpfen. Das war wohl der letzte Blick, den er je auf die Erde werfen würde, denn sein Orbit trug ihn ja zur
Nachtseite zurück, wo das Erdenlicht niemals schien. Die strahlende antarktische Eiskappe, die äquatorialen Wolkengürtel, das Glitzern der Sonne auf dem Pazifik – all das sank schnell hinter die Mondberge. Dann war das Erdenlicht ebenso verschwunden wie vorhin die Sonne, und das unsichtbare Land unter ihm war so schwarz, daß es seinen Augen schmerzte. Und dann erschien – wie unglaublich! – ein kleiner Sternenhaufen auf der dunklen Scheibe, wo es doch gar keinen Stern geben konnte. Cliff starrte ihn ein paar Sekunden lang verblüfft an; dann wurde ihm klar, daß er über eine der Niederlassungen auf der Nachtseite des Mondes hinwegschwebte. Dort unten gab es in den unterirdischen Kuppeln der Städte Menschen, welche die lunare Nacht abwarteten, die schliefen, arbeiteten, liebten, ruhten und stritten. Wußten sie, daß er wie ein unsichtbarer Meteor über ihren Himmel raste – mit sechseinhalbtausend Kilometer Geschwindigkeit pro Stunde? Das war fast sicher anzunehmen, denn jetzt mußte der ganze Mond ebenso wie die ganze Erde von seiner mißlichen Lage wissen. Vielleicht suchten sie mit Radar nach ihm, mit Teleskopen? Sie hatten wenig Zeit, ihn zu finden. Innerhalb weniger Sekunden war die unbekannte Mondstadt außer Sicht, und er war wieder ganz allein über der Nachtseite. Es war unmöglich, seine Höhe über der blanken Leere, die unter ihm wegraste, abzuschätzen, denn er hatte keine Perspektive, keine Vergleichsmöglichkeit. Manchmal glaubte er nur zugreifen zu müssen, um die Dunkelheit zu berühren, durch die er raste, aber er wußte, daß sie in Wirklichkeit viele Kilometer unter ihm lag. Er wußte jedoch auch, daß er langsam, aber ständig fiel, und jeden Moment konnte es passieren, daß eine Bergspitze oder ein Kraterrand nach ihm griff und ihn vom Himmel holte. Irgendwo in der Finsternis war ein Hindernis, und das fürchtete er am allermeisten. Quer durch das Herz der Nachtseite und den Äquator von Norden nach Süden überspannend, zog sich mehr als fünfzehnhundert Kilometer lang ein Wall dahin, das Sowjet-Gebirge. Er war, als man es entdeckte, ein kleiner Junge gewesen, und als man 1959 die ersten Fotos von Lunik III zu sehen bekam, war er maßlos aufgeregt gewesen. Nie im Traum hätte er daran gedacht, daß er eines Tages auf diese Berge zufliegen würde, die sein Schicksal entscheiden sollten.
Das erste Anzeichen der Dämmerung traf ihn überraschend. Vor ihm explodierte Licht; es sprang von Bergspitze zu Bergspitze, bis der ganze Bogen des Horizonts flammte. Er raste aus der Mondnacht heraus, scheinbar direkt in die Sonne hinein. Dann brauchte er wenigstens nicht in der nachtschwarzen Finsternis zu sterben, wenn auch die größte Gefahr noch vor ihm lag. Denn jetzt war er fast an seinem Startpunkt angelangt und näherte sich dem mondnächsten Punkt seiner Umlaufbahn. Er warf einen Blick auf den Anzugchronometer und sah, daß jetzt volle fünf Stunden vergangen waren. Innerhalb weniger Minuten würde er entweder auf dem Mond aufschlagen – oder darüber hinwegfegen und wieder in den Raum hinausjagen. Er war, soweit er es beurteilen konnte, mehr als dreißig Kilometer über der Mondoberfläche und sank stetig, wenn auch ziemlich langsam. Unter ihm bildeten die langen Schatten der Monddämmerung Pfeile aus Dunkelheit, die dem Nachtland entgegenschossen. Das steil einfallende Sonnenlicht überbetonte jede Bodenerhebung und ließ die winzigsten Hügel wie riesige Berge erscheinen. Und nun stieg das Land unter ihm ganz eindeutig an und wurde zum Faltenwerk der Ausläufer des SowjetGebirges. Sie waren noch mehr als hundertfünfzig Kilometer entfernt, aber er näherte sich ihnen mit hoher Geschwindigkeit. Ein Felswall brandete aus der Mondoberfläche auf. Er konnte nichts tun, dieser steinernen Woge auszuweichen. Sein Kurs lag fest und war nicht zu verändern. Was er hatte tun können, war geschehen. Es war nicht genug. Er kam nicht über diese Berge hinweg, sie überragten seine Flughöhe. Jetzt bedauerte er, diesen zweiten Anruf bei seiner Frau nicht gemacht zu haben. Sie wartete noch darauf, vierhunderttausend Kilometer entfernt. Und doch machte es vielleicht gar nichts aus; es hätte ja nichts mehr zu sagen gegeben. Als er wieder in die Funkreichweite der Startkontrolle kam, riefen ihn Stimmen aus dem Raum, lauter und leiser, während er durch den Funkschatten der Berge fegte. Sie sprachen über ihn, aber diese Tatsache kam ihm kaum zu Bewußtsein. Er lauschte ihnen mit unpersönlichem Interesse, als gingen ihn diese Mitteilungen aus irgendeinem entfernten Raumpunkt oder irgendeiner Raumzeit gar nichts an. Van Kessels Stim-
me war ziemlich deutlich zu vernehmen: »Sagen Sie dem Käptn der Callisto, daß wir ihm die Kursdaten durchgeben, sobald wir wissen, daß Leyland den höchsten Punkt überschritten hat. Rendezvous-Zeit wäre von jetzt an in einer Stunde und fünf Minuten.« Ich enttäusche dich ja nicht gern, dachte Cliff, aber das ist eine Verabredung, die ich nicht einhalten werde… Achtzig Kilometer war die Felsmauer noch entfernt, und jedesmal, wenn er sich um seine eigene Achse drehte, kam er ihr fünfzehn Kilometer näher. Jetzt war kein Anlaß mehr für Optimismus, als er mit der Mündungsgeschwindigkeit einer Gewehrkugel dieser Barriere aus Stein entgegenraste. Das war das Ende. Und plötzlich wurde es sehr wichtig zu wissen, ob er ihm mit offenen Augen und mit dem Gesicht voran begegnete oder mit dem Rücken zugekehrt wie ein Feigling. Keine Erinnerungen an sein vergangenes Leben zuckten blitzhaft durch Cliffs Geist, als er die verbleibenden Sekunden zählte. Auf der rasch unter ihm abrollenden Mondlandschaft trat im harten Licht der Dämmerung jede Einzelheit scharf und klar hervor. Nun kehrte er den heranrasenden Bergen den Rücken und schaute zurück auf den Weg, den er gekommen war, der eigentlich zur Erde hätte führen sollen. Höchstens drei seiner Zehnsekundentage verblieben ihm noch. Und dann explodierte die Mondlandschaft lautlos. Ein Licht so grell wie das der Sonne wischte die langen Schatten weg, Feuer schlug aus allen Bergspitzen und setzte die Kraterränder in Brand. Das dauerte nur den Bruchteil einer Sekunde und verschwand völlig, ehe er sich zur Ursache dieses Phänomens umgedreht hatte. Direkt vor ihm, etwa dreißig Kilometer weit entfernt, breitete sich eine riesige Staubwolke zu den Sternen hin aus. Es war, als sei ein Vulkan des Sowjet-Gebirges ausgebrochen; das war selbstverständlich unmöglich. Genauso absurd war Cliffs zweiter Gedanke – daß mit Hilfe einer phantastischen Organisation und phantastischer Logistik die IngenieurAbteilung auf der Nachtseite es geschafft hatte, ihm das Hindernis aus dem Weg zu sprengen. Denn es war verschwunden. Ein riesiger, halbmondförmiger Happen war herausgebissen aus der sich nähernden Bergsilhouette; Felstrümmer und Steine wurden noch immer von einem Krater ausgespuckt, der vor
fünf Sekunden noch nicht dagewesen war. Nur die Energie einer Atombombe, die genau im richtigen Moment auf seinem Pfad explodiert war, hätte ein solches Wunder wirken können. Und an Wunder glaubte Cliff ganz bestimmt nicht. Er hatte eine weitere Eigenumdrehung vollendet und befand sich nun fast über den Bergen, als ihm einfiel, daß sich die ganze Zeit hindurch eine fliegende Planierraupe unsichtbar vor ihm her bewegt haben mußte. Die kinetische Energie der Kapsel – gute tausend Tonnen, die mit einer Geschwindigkeit von fast zweitausend Metern pro Sekunde dahinrasten – reichte durchaus, um jene Lücke im Gebirgszug zu erzeugen, durch die er jetzt jagte. Der Aufschlag dieses Meteors von Menschenhand mußte die ganze Nachtseite des Mondes erschüttert haben. Sein Glück blieb ihm bis zum Ende treu. Ganz kurz prasselten feinste Staubpartikel gegen seinen Anzug, und er konnte auch einen kurzen Blick auf glühende Felsmassen und schnell sich auflösende Rauchwolken werfen. Wie merkwürdig, über dem Mond eine Wolke zu sehen! Dann lagen die Berge hinter ihm, und vor ihm war nichts als nur gesegneter leerer Himmel. Irgendwo da oben, eine Stunde in der Zukunft seines zweiten Umlaufs, wartete die Callisto, die herangeeilt war, ihn aufzunehmen. Aber jetzt hatte er keine Eile mehr, denn er war dem Mahlstrom entkommen. Gut oder schlecht – die Gabe des Lebens war ihm zum zweitenmal geschenkt worden. Und da war auch die Katapultschiene, nur ein paar Kilometer rechts von seinem Kurs. Sie sah aus wie eine haarfeine Linie, die quer über das Gesicht des Mondes gezogen war. In ein paar Momenten war er in Funkreichweite. Und jetzt konnte er dankbar den zweiten Anruf machen, den versprochenen Anruf bei seiner Frau, die in der afrikanischen Nacht schon darauf wartete. Originaltitel: MAELSTROM II (Mai 1962)
IN DUNKLEN TIEFEN Als mir die Vermittlung meldete, die Sowjetische Botschaft sei am Apparat, war meine erste Reaktion die: Gut, wieder ein Auftrag! Als ich dann jedoch Gonscharows Stimme hörte, wußte ich sofort, daß es Ärger gab. »Klaus? Hier ist Mikhail. Kannst du sofort herüberkommen? Es ist sehr dringend, und am Telefon kann ich nicht reden.« Auf dem Weg zur Botschaft grübelte ich über alles mögliche nach und dachte mir Entschuldigungen aus, falls bei uns etwas schiefgegangen sein sollte. Aber ich konnte mir wirklich nichts denken, und im Moment hatten wir auch keine komplizierten Verträge mit den Russen laufen. Die letzte große Sache war fristgerecht vor sechs Monaten abgeschlossen worden, vor allem zu ihrer vollkommenen Zufriedenheit. Nun ja, zufrieden waren sie jetzt nicht mehr, wie ich schnell genug herausfand. Mikhail Gonscharow, der Handelsattaché, war ein alter Freund von mir. Er sagte mir alles, was er wußte, aber das war nicht viel. »Wir bekamen gerade eben ein Fernschreiben aus Ceylon«, berichtete er. »Sie brauchen dich dort sofort. Beim Hydrothermal-Projekt haben sie ernstliche Schwierigkeiten.« »Schwierigkeiten welcher Art?« fragte ich. Natürlich wußte ich sofort, daß sie nur am Tiefsee-Teil aufgetreten sein konnten, denn nur dort war die Installation von uns übernommen worden. Die Russen hatten alle Landarbeit selbst getan, aber mit der Montage der Gitter im Indischen Ozean – tausend Meter tief – mußten sie uns beauftragen, denn auf der ganzen Erde gibt es keine andere Firma außer uns, die sich genau an ihren Slogan halten kann: JEDE ARBEIT IN JEDER TIEFE. »Ich weiß auch nur, daß die Ingenieure dort von einem völligen Zusammenbruch reden«, sagte Mikhail. »Und der Premierminister von Ceylon will heute in drei Wochen die Anlage einweihen. Und wenn sie bis dahin nicht in Ordnung ist, dann wird Moskau sehr, sehr unglücklich sein.« Im Geist ging ich eiligst die Vertragsklauseln über Konventionalstrafen durch. Die Firma schien abgesichert zu sein, da ja der Kunde die Abnahmebescheinigung unterzeichnet hatte, die bestätigte, daß die Ausfüh-
rung genau nach Spezifikation erfolgt war. So einfach war es jedoch auch wieder nicht; konnte uns eine Nachlässigkeit nachgewiesen werden, so waren wir wohl vor gesetzlichen Schritten sicher, für das Geschäft mußte es sich jedoch als nachteilig erweisen. Für mich persönlich war es überhaupt eine Katastrophe, denn mir oblag die Bauaufsicht in Trinco Deep. Bitte, nennen Sie mich jetzt nicht Taucher; das hasse ich nämlich. Ich bin Tiefsee-Ingenieur, und eine Taucherausrüstung benütze ich etwa genauso oft wie ein Pilot einen Fallschirm. Den größten Teil meiner Arbeit tue ich mit Hilfe des Fernsehens und ferngesteuerter Roboter. Muß ich wirklich einmal selbst hinunter, dann bediene ich mich eines Minisubs mit Außensteuerung. Wir nennen das Ding »Hummer« wegen seiner Scheren. Das Standardmodell kann noch in eineinhalbtausend Metern Tiefe arbeiten, aber es gibt auch Spezialkonstruktionen, die sogar noch auf dem Grund des Marianen-Grabens eingesetzt werden können. In einem solchen Ding war ich jedoch noch nie, aber über die Kosten weiß ich einigermaßen Bescheid. Grob geschätzt bezahlt man pro Meter Tauchtiefe drei Dollar, und für den Job selbst pro Stunde einen Tausender. Als mir Mikhail dann sagte, in Zürich warte ein Jet, da wußte ich, daß die Russen es ernst meinten. Ob ich, wollte er wissen, in zwei Stunden am Flugplatz sein könne? »Schau mal«, wandte ich ein, »ich kann doch ohne Ausrüstung gar nichts tun, und die wiegt schon für eine normale Inspektion Tonnen. Und überdies liegt alles in La Spezia.« »Das weiß ich«, antwortete Mikhail ungerührt. »Dort haben wir schon einen weiteren Jet-Transporter warten. Laß in Ceylon sofort ein Fernschreiben los, wenn du weißt, was du brauchst. Innerhalb von zwölf Stunden ist alles dort. Aber bitte, sprich mit keinem Menschen auch nur ein Wort darüber. Wir wollen unsere Probleme lieber unter uns lösen.« Damit war ich einverstanden, denn es war ja auch mein Problem. Als ich das Büro verließ, deutete Mikhail auf den Wandkalender. »Drei Wochen«, betonte er und machte mit dem Finger eine Bewegung um den Hals. Und ich wußte, daß er nicht an den seinen dachte.
Zwei Stunden später jagte ich schon über die Alpen und verabschiedete mich von meiner Familie per Funk. Warum war ich nur nicht, wie jeder vernünftige Schweizer, Bankier geworden oder in das Uhrengeschäft eingestiegen? Daran waren die Picards schuld und Hannes Keller, hielt ich mir grollend vor. Warum mußte aus-gerechnet ich mit dieser Tiefseetradition anfangen, wiederum aus-gerechnet in der Schweiz? Dann legte ich meine Sitzlehne zurück, damit ich schlafen konnte, denn war ich erst einmal dort, hatte ich für die nächste Zeit kaum mehr Gelegenheit dazu. In Trincomalee landeten wir in der Dämmerung. Der riesige Hafen, dessen Geographie ich niemals richtig begriffen hatte, war ein Irrgarten aus Kaps, Inseln und Kreuz-und-quer-Wasserwegen, und die Hafenbecken allein waren groß genug, um sämtliche Flotten der Welt aufnehmen zu können. Auf dem Felsen einer Landspitze stand das weiße, ziemlich protzige Verwaltungsgebäude und beherrschte von dort aus den Indischen Ozean. Die ganze Anlage war reine Propaganda, aber wäre ich Russe gewesen, so hätte ich Public Relations dazu gesagt. Natürlich machte ich meinen Kunden daraus keinen Vorwurf. Die Russen hatten allen Grund, darauf stolz zu sein, denn das Werk war der bisher ehrgeizigste Versuch, sich die Thermalenergie der Meere nutzbar zu machen. Der erste Versuch war dies jedoch nicht. In den Dreißigerjahren hatte der französische Wissenschaftler Georges Claude mit seinem Projekt Schiffbruch erlitten, und in Abidjan an der Westküste Afrikas hatte man um 1950 auch keine Freude gehabt. All diese Projekte basierten auf der einen überraschenden Tatsache: Selbst in den Tropen war das Wasser in einer Tiefe von etwa einer Meile 4 Grad Celsius kalt. Wo es um Milliarden von Tonnen Wasser ging, stellte dieser Temperaturunterschied eine enorme Energiemenge dar und natürlich eine Herausforderung für die Ingenieure der energiehungrigen Länder. Claude und seine Nachfolger hatten versucht, dieses Energiepotential mit Niederdruck-Dampfmaschinen auszuwerten. Die Russen hatten sich einer viel einfacheren und direkteren Methode bedient. Seit mehr als hundert Jahren ist es bekannt, daß der elektrische Strom in vielen Materialien zu fließen beginnt, wenn das eine Ende erhitzt und das andere gekühlt wird; die Russen hatten seit den Vierzigerjahren intensiv daran
gearbeitet, um diesen thermo-elektrischen Effekt praktisch ausnützen zu können. Die ersten Geräte hatten nicht sehr viel getaugt, aber sie hatten jedenfalls genügt, tausend Radios mit der Wärmeentwicklung von Petroleumlampen zu betreiben. Im Jahre 1975 war ihnen dann ein großer, noch immer geheimgehaltener Durchbruch gelungen. Obwohl ich die Energiezellen am kalten Ende des Systems, also in der Tiefsee, anbrachte, habe ich sie nie richtig gesehen, da sie vollkommen hinter einer mehrfachen Schicht von Rostschutzfarben verschwanden. Ich weiß nur, daß sie ein riesiges Gitter formten, das etwa so aussah wie eine Unmenge altmodischer Dampfheizungsradiatoren, die man miteinander verschraubt hatte. Die meisten Gesichter der auf dem Flughafen von Trinco wartenden Leute kannte ich – Freunde und Feinde schienen gleicherweise froh zu sein, mich zu sehen, besonders der Chefingenieur Schapiro. »Na, schön, Lew«, sagte ich, als wir in seinem Geländewagen davonfuhren. »Was ist nun eigentlich los?« »Das wissen wir selbst nicht«, gab er freimütig zu. »Es ist deine Aufgabe, das herauszufinden und in Ordnung zu bringen.« »Nun ja, was ist denn passiert?«. »Alles hat prächtig funktioniert bis hinauf zu den Tests bei voller Leistung«, berichtete er. »Wir lagen bei etwa fünf Prozent plus/ minus der geschätzten Leistung – wenigstens bis 1.34 Uhr Dienstag früh.« Er schnitt eine schmerzliche Grimasse, denn diese Zeit schien unauslöschlich in seinem Gedächtnis eingraviert zu sein. »Dann schwankten die Voltzahlen ganz beträchtlich, so daß wir abschalten mußten. Wir beobachteten die Skalen. Ich dachte, irgendein Idiot könnte sich mit seinem Schiff in den Kabeln verheddert haben. Du weißt ja, welche Mühe wir uns ausgerechnet damit gegeben haben, solche Zwischenfälle zu vermeiden. Wir schalteten also die Suchscheinwerfer ein und schauten auf die See hinaus. Aber da war weit und breit kein Schiff zu sehen. Und übrigens, wer würde schon in einer klaren, ruhigen Nacht außerhalb des Hafens Anker werfen? Wir konnten nichts tun als die Instrumente überwachen und ein paar Tests machen. Sobald wir in mein Büro kommen, zeige ich dir sämtliche Diagramme der Skalenschreiber. Nach ungefähr vier Minuten war über-
haupt keine Spannung mehr da. Einen Kabelbruch können wir natürlich genau lokalisieren, und der liegt in diesem Fall ausgerechnet an der tiefsten Stelle, genau am Gitter. Er mußte ja auch dort sein und nicht an diesem Ende des Systems«, fügte er düster hinzu und deutete zum Fenster hinaus. Wir fuhren gerade am Solar Pond vorbei, dem Äquivalent für den Boiler in einer konventionellen Wärmekraftmaschine. Das war eine Idee, welche die Russen sich von den Israelis ausgeborgt hatten. Dieser Solar Pond war nichts anderes als ein seichter, am Grund geschwärzter See, der eine sehr konzentrierte Salzlösung enthielt. Sie ist eine ausgezeichnete Hitzefalle, und die Sonnenstrahlen erhitzen die Lösung auf etwa hundert Grad Celsius. In die Flüssigkeit versenkt waren die Heiß-Gitter der thermoelektrischen Anlage. Massive Kabel verbanden sie mit meiner fast identischen Anlage, die etwa tausend Meter tiefer, in fast hundert Grad kälterem Wasser in einer Tiefseeschlucht lag, die bis an den Hafen von Trinco heranreichte. »Du hast doch sicher auch an mögliche Seebeben gedacht?« fragte ich, hatte aber wenig Hoffnung. »Selbstverständlich. Der Seismograph hat nichts angezeigt.« »Und Wale? Ich habe euch doch gewarnt, daß sie vielleicht Ärger machen könnten.« Vor über einem Jahr, als die Hauptleitungen ins Meer hinaus verlegt wurden, hatte ich den Ingenieuren gesagt, wir hätten einmal einen ertrunkenen Pottwal gefunden, der sich eine halbe Meile vor der Küste Südamerikas in Telegrafenkabeln verfangen hatte. Mindestens zwölf ähnliche Fälle sind bekannt, aber der Fall hier schien anders zu liegen. »Daran haben wir auch schon gedacht«, meinte Schapiro dazu. »Wir haben die Fischereiabteilung im Ernährungsministerium, die Flotte und die Luftwaffe alarmiert, aber niemand stellte in Küstennähe Wale fest.« Da hörte ich zu theoretisieren auf, weil ich etwas verstand, was mir Unbehagen bereitete. Wie alle Schweizer bin ich auch ziemlich gut in Fremdsprachen, und außerdem hatte ich während der Arbeit hier einiges Russisch aufgeschnappt. Man brauchte aber kein Linguist zu sein, um das Wort Sabotage zu verstehen.
Gesprochen hatte es Dimitri Karpukhin, der politische Berater des Projektes. Ich mochte ihn nicht; auch die Ingenieure konnten ihn nicht leiden, und sie benahmen sich manchmal absichtlich ausgesprochen häßlich ihm gegenüber. Er war einer der Kommunisten ältesten Stils, die niemals Stalins Schatten entkommen waren; er mißtraute allem, was jenseits der Grenzen der Sowjet-Union vorging und dem meisten, was sich in seinem Land selbst abspielte. Sabotage war also die Erklärung, die ihm persönlich am meisten zusagte. Natürlich gab es eine Menge Leute, die nicht gerade unglücklich gewesen wären, hätte sich das Trinco Power Project als Fehlplanung herausgestellt. Politisch gesehen hing daran das Prestige der UdSSR, und wirtschaftlich waren Milliarden von Menschen davon abhängig, denn wenn Hydrothermal-Werke sich als Erfolg erwiesen, dann konnten sie durchaus mit Öl, Kohle, Wasserkraft und besonders mit Nuklearenergie konkurrieren. Doch an Sabotage konnte ich nicht recht glauben; schließlich war ja der Kalte Krieg längst vorüber. Möglich war, daß jemand einen ungeschickten Versuch gemacht hatte, sich ein Stück des Gitters als Studienobjekt herauszuschneiden, aber selbst das erschien mir unwahrscheinlich. Ich konnte mir an den Fingern die paar Leute abzählen, die so etwas hätten wagen können, und mehr als die Hälfte davon standen auf meinen Gehaltslisten. Noch am gleichen Abend kam die Unterwasser-TV-Kamera an; wir arbeiteten die ganze Nacht hindurch und hatten am Morgen die Kameras, Monitoren und mehr als eine Meile Koaxialkabel an Bord eines schnellen Motorbootes verstaut. Als wir aus dem Hafen hinausfuhren, glaubte ich, am Pier eine bekannte Gestalt zu sehen, doch sie war zu weit entfernt, als daß ich sie tatsächlich hätte erkennen können; außerdem hatte ich jetzt andere Dinge im Kopf. Sie müssen nämlich wissen, daß ich mich unter Wasser sehr viel wohler fühle als auf der Oberfläche. Wir richteten uns genau nach dem Round-Island-Leuchtturm aus und bezogen direkt über dem Gitter Stellung. Die mit Antrieb versehene Kamera, die wie ein winziges Bathyskap aussah, wurde hinabgelassen. Wir überwachten die Vorgänge auf den Monitoren und gingen im Geist mit hinunter.
Das Wasser war außerordentlich klar, auch ebenso außerordentlich leer; erst als sich die Kamera dem Grund näherte, ließ sich Leben erkennen. Ein kleiner Hai kam herangeschwommen und beobachtete uns neugierig; dann trieb eine Qualle vorbei und ein Ding wie eine riesige Spinne mit etlichen hundert haarigen Beinen, die ineinander verknotet zu sein schienen, folgte ihr. Dann kam die steilwandige Schlucht in Sicht. Wir befanden uns ganz genau über unserem Ziel, denn da waren die dicken Kabel, die in die Tiefe hinabliefen, und so hatte ich sie auch gesehen, als ich vor sechs Monaten die Installation abschließend überprüft hatte. Ich schaltete die winzigen Jets ein und ließ die Kamera, den Kabeln folgend, nach unten gleiten. Sie schienen durchaus in bester Ordnung zu sein und waren einwandfrei an den riesigen Klammern befestigt, die wir in den Fels getrieben hatten. Erst am Gitter selbst ließ sich feststellen, daß etwas nicht stimmte. Haben Sie je den Kühlergrill eines Wagens gesehen, nachdem er gegen einen Laternenpfahl gestoßen war? Sehen Sie, genauso sah ein Segment des Gitters aus. Etwas hatte da gewütet, und man hätte meinen können, ein Irrer habe sich mit dem Vorschlaghammer ausgetobt. Von den Leuten, die mir über die Schulter sahen, kamen zornige und erstaunte Ausrufe. Wieder hörte ich, wie Sabotage gemurmelt wurde, und nun nahm ich es zum erstenmal ernst. Die einzige andere sinnvolle Erklärung wäre die gewesen, daß ein Felsbrocken darauf gestürzt sei, aber die Schluchtwände waren auf diese Möglichkeit hin sehr genau untersucht worden, und es war völlig ausgeschlossen. Was immer die Ursache auch war – das beschädigte Gitter mußte jedenfalls ersetzt werden. Das konnte aber erst geschehen, wenn mein »Hummer« aus La Spezia herangeflogen worden war, denn dort wurde er immer zwischen den Aufträgen eingelagert. »Na, schön«, meinte Schapiro, als ich meine Ferninspektion abgeschlossen und das traurige Schauspiel auf dem Monitor aufgezeichnet hatte. »Wie lange wird es dauern?« Ich hatte nicht die Absicht, mich da festzulegen. Schon ganz zu Anfang hatte ich in meinem Unterwasserberuf gelernt, daß jede Sache anders ausgeht, als man es sich vorgestellt hat. Kosten- und Zeitschätzun-
gen können niemals genau sein, weil man sich erst mindestens halbwegs durch den Vertrag gearbeitet haben muß, ehe man weiß, was man noch vor sich hat. Insgeheim rechnete ich mit drei Tagen. »Wenn alles gut geht, dürfte es nicht länger als eine Woche dauern«, antwortete ich daher. Schapiro stöhnte. »Geht es denn gar nicht schneller?« »Ich fordere das Schicksal nicht mit kurzfristigen Versprechungen heraus«, erwiderte ich. »Im übrigen hast du noch volle zwei Wochen Zeit bis zur Einweihung des Werks.« Damit mußte er zufrieden sein, obwohl er auf dem ganzen Rückweg zum Hafen auf mich einredete. Als wir dann dort ankamen, hatte er über etwas anderes nachzudenken. »Morgen, Joe«, sagte ich zu dem Mann, der noch immer geduldig am Pier stand. »Ich dachte doch, ich hätte dich auf der Fahrt hinaus erkannt. Was tust du denn hier?« »Ich wollte dir eben genau dieselbe Frage stellen.« »Dann würdest du aber besser mit dem Boß, Chefingenieur Schapiro sprechen. Hier, das ist Joe Watkins, wissenschaftlicher Korrespondent von Time.« Lews Antwort fiel nicht gerade herzlich aus. Normalerweise gefiel ihm nichts besser, als sich mit Reportern zu unterhalten; mindestens einer pro Woche kam immer, und jetzt, da der große Tag nahte, flogen sie aus allen Richtungen heran, natürlich auch aus Rußland. In diesem Moment aber war Tass ebenso unerwünscht wie Time. Eigentlich war es amüsant zu beobachten, wie Karpukhin die Sache in die Hand nahm. Von diesem Augenblick an hatte Joe einen ständigen Begleiter, der zugleich Philosoph und Trinkgefährte war. Der junge Mann hieß Sergej Markow und war der Typ eines alerten Public-relationMannes. So sehr sich Joe auch bemühte, ihn loszuwerden – Sergej ließ sich nicht abschütteln. Gegen Mitte des Nachmittags, nach einer langen, ermüdenden Konferenz in Schapiros Büro, traf ich mit Joe zu einem späten Mittagessen im Rasthaus der Regierung zusammen.
»Nun, Klaus, was geht da eigentlich vor?« fragte Joe pathetisch. »Hier riecht's nach Stunk, aber keiner will was zugeben.« Ich spielte mit meinem Essen herum und versuchte die Bissen, die nicht lebensgefährlich waren, von jenen zu trennen, die mir vermutlich die Gurgel ätzen würden, weil sie so unmenschlich scharf waren. »Du kannst doch nicht damit rechnen, daß ich mich mit dir über die Angelegenheiten meiner Kunden unterhalte«, antwortete ich. »Als du damals die Überwachung am Gibraltar-Damm hattest, warst du recht gesprächig«, erwiderte er. »Nun ja, ich wußte ja auch zu schätzen, was du da über mich geschrieben hast«, gab ich zu. »Aber diesmal geht es wirklich um Geschäftsgeheimnisse. Ich bin… Ich mache – äh – ein paar letzte kleine Handgriffe, um die Leistungsfähigkeit der Anlage zu steigern.« Das stimmte ja; denn ich hoffte tatsächlich, die Leistungsfähigkeit der Anlage vom gegenwärtigen Nullpunkt ein wenig anzuheben. »Hm«, meinte Joe sarkastisch. »Vielen Dank auch.« »Und überhaupt«, versuchte ich den Spieß umzudrehen, »was ist denn deine letzte hirnverbrannte Theorie?« Joe, der außerordentlich fähige wissenschaftliche Kommentator, hatte eine ganz merkwürdige Vorliebe für das Bizarre und Unwahrscheinliche. Vielleicht ist das eine Form der Wirklichkeitsflucht; zufällig weiß ich nämlich, daß er Science Fiction schreibt, obwohl er dieses Geheimnis seinem Verleger gegenüber ausgezeichnet hütet. Er liebt Poltergeister, übersinnliche Wahrnehmungen und Fliegende Untertassen über alles, aber seine Spezialität sind untergegangene Kontinente. »Ich arbeite ja tatsächlich an ein paar Theorien«, gestand er ein. »Sie ergaben sich von selbst, als ich ein wenig in dieser Geschichte hier herumgrub.« »Dann sprich weiter«, drängte ich, aber von meinem Curryteller schaute ich nicht auf. »Gestern bekam ich eine sehr alte Landkarte in die Hände – die ptolemäische, falls es dich interessiert, von Ceylon. Dabei fiel mir eine andere alte Landkarte aus meiner Sammlung ein, und ich suchte sie heraus. Da waren die gleichen Zentralgebirge, dieselbe Gruppierung von Flüssen,
die alle ins Meer münden. Aber ich meine nicht die Landkarte von Ceylon, sondern von Atlantis.« »Oh, um Himmels willen!« stöhnte ich. »Als wir uns zuletzt trafen, hast du mich davon überzeugt, daß Atlantis im westlichen Mittelmeer gelegen hatte.« Joe grinste mich spitzbübisch an. »Man kann sich doch auch mal irren, oder nicht? Übrigens habe ich noch einen viel besseren Beweis. Wie ist doch der alte Nationalname für Ceylon und auch der moderne der Singhalesen, um genau zu sein?« Ich dachte ein wenig nach. »Du lieber Gott! Nun ja, Lanka natürlich. Lanka – Atlantis.« Ich ließ genießerisch den Namen auf der Zunge zergehen. »Genau«, bestätigte Joe. »Aber zwei erstaunliche begriffliche Zufälle ergeben noch lange keine überzeugende Theorie; so weit bin ich im Moment.« »Schade«, antwortete ich enttäuscht. »Und das andere Projekt?« »Also, da wird's dich ja reißen«, erklärte Joe. Er griff in seine ziemlich mitgenommene Aktentasche, die er ständig mit sich herumtrug, und zog einen Packen Papiere heraus. »Das ist nur hundertachtzig Meilen von hier entfernt und vor etwas mehr als einem Jahrhundert passiert. Meine Informationsquelle ist, wie du siehst, die denkbar beste.« Er reichte mir eine Fotokopie, und ich sah, daß es eine Seite der Londoner Times vom 4. Juli 1874 war. Ich begann mit wenig Begeisterung zu lesen, denn Joe produzierte ständig irgendeine alte Zeitung, aber mein Desinteresse hielt nicht lange vor. Ich würde hier ja gern die ganze Geschichte erzählen, aber das ist an sich überflüssig, weil Sie in Ihrer Bibliothek den Bericht in kürzester Zeit selbst nachlesen können; der Artikel beschrieb, wie zu Anfang Mai 1874 der Hundertfünfzigtonnenschoner Pearl Ceylon verließ und dann in der Bucht von Bengalen in einer Flaute liegenblieb. Am zehnten Mai tauchte kurz vor Mitternacht ein Riesenkrake eine halbe Meile vom Schoner entfernt auf, und dummerweise schoß der Kapitän mit seinem Gewehr auf ihn.
Der Krake schwamm auf die Pearl zu, umschlang die Masten mit seinen Armen und brachte das Schiff zum Kentern. Innerhalb weniger Sekunden sank es und nahm zwei Mannschaftsangehörige mit. Die anderen hatten ihre Rettung dem glücklichen Umstand zu verdanken, daß der Dampfer der P. & O.-Line Strathowen in Sichtweite war und den Zwischenfall beobachtet hatte. »Na, was sagst du dazu?« fragte Joe, als ich gelesen hatte. »Ich glaube nicht an Seeungeheuer.« »Die Londoner Times«, erklärte Joe, »betreibt alles andere als Sensations-Journalismus. Und Riesenkraken gibt es, wenn auch die größten, die wir kennen, schwache, schlappe Tiere sind und nicht mehr als eine Tonne wiegen, obwohl sie Arme haben, die mehr als zehn Meter lang sind.« »Na, und? Ein solches Tier könnte doch auf gar keinen Fall einen Hundertfünfzigtonnenschoner versenken.« »Sicher. Aber es gibt genug Beweise dafür, daß der sogenannte Riesenkrake nur ein großer Tintenfisch ist. Im Meer könnte es Dekapoden geben, die echte Riesen sind. So wurde zum Beispiel ein Jahr nach der Sache mit der Pearl vor der brasilianischen Küste ein Pottwal angetroffen, der gegen riesige Schlingen ankämpfte, die ihn schließlich in die Tiefe hinabzerrten. Dieser Vorfall wird beschrieben in der lllustrated London News vom 20. November 1875. Und dann dieses Kapitel in MobyDick…« »Welches Kapitel?« »Nun, das mit der Überschrift Tintenfisch. Wir wissen, daß Melville ein ungemein genauer Beobachter war, aber hier ließ er seiner Phantasie die Zügel schießen. Er beschreibt einen ruhigen Tag, als eine große weiße Masse aus der See stieg ›wie eine von den Bergen frisch abgegangene Lawine‹. Und dies geschah hier im Indischen Ozean, nur etwa tausend Seemeilen südlich der Stelle, an der die Sache mit der Pearl passierte. Die Wetterbedingungen waren die gleichen wie damals, was ich zu beachten bitte. Was die Männer der Pequod auf dem Wasser schwimmen sahen – ich habe diesen Teil so genau studiert, daß ich ihn auswendig kenne –, war eine ungeheure breiige Masse von schimmernder Cremefarbe, fast eine
halbe Meile lang und breit und mit unzähligen langen Armen, die vom Mittelpunkt herauswuchsen und sich wanden und bogen wie ein ganzes Nest von Anakondas.« »Moment mal«, unterbrach ihn Sergej, der atemlos vor Faszination zugehört hatte. »Wie lang war dieses Ding?« »Nun, genau heißt es: einige furlongs in Länge und Breite, und ein furlong mißt eine Achtelmeile, und das sind sechshundertsechzig Fuß, in Meter umgerechnet ergibt das eine Zahl von etwa dreihundert.« Er hob die Hand, um unser ungläubiges, schallendes Gelächter abzuwehren. »Oh, ich bin überzeugt, Melville hat das nicht ganz ernst gemeint. Aber er war ein Mann, der tagtäglich Pottwale sah, und da bediente er sich eben einer Maßeinheit, die etwas beschrieb, das ein ganzes Stück größer war. Ganz automatisch kam er da vom Faden auf den furlong. Jedenfalls ist das meine Theorie.« Ich schob den ungenießbaren Rest meines Currygerichtes von mir. »Wenn du jetzt glaubst, du hättest mir damit meinen Beruf verleidet, dann irrst du dich gründlich. Eines verspreche ich dir jedoch: Wenn ich mal einen so riesigen Tintenfisch treffen sollte, dann schneide ich ihm ein Tentakel ab und bring es dir als Andenken.« Vierundzwanzig Stunden später war ich draußen in meinem »Hummer« und sank langsam zum beschädigten Gitter hinab. Es gab natürlich nicht die geringste Möglichkeit, das Unternehmen geheimzuhalten, und Joe war daher ein recht interessierter Zuschauer auf einem Boot in der Nähe. Aber das war ein Problem der Russen, nicht das meine. Ich hatte Schapiro nämlich vorgeschlagen, er solle ihn ins Vertrauen ziehen, aber dagegen erhob selbstverständlich Karpukhin Einspruch. Man konnte ihn fast denken sehen: Warum sollte ausgerechnet ein amerikanischer Journalist in diesem Moment auftauchen? Die offensichtliche Antwort schob er beiseite; denn für ihn gab es über Trincomalee nichts zu schreiben. Tiefseeunternehmen sind weder aufregend noch großartig, wenn sie ordentlich durchgeführt werden. Sensationshaschern fehlt die Vorsicht, die Bedachtsamkeit, und damit erklären sie sich selbst als unfähig. In meinem Geschäft bleibt der Unfähige nicht lange am Leben, diejenigen aber ebenso wenig, die den Sensationen nachrennen. Ich ging meiner
Arbeit nach mit den Gefühlen eines Klempners, der einen defekten Wasserhahn repariert. Die Gittersegmente waren so angelegt, daß sie leicht zu warten und ebenso leicht auszutauschen waren, denn früher oder später war ein solcher Austausch nötig. Zum Glück war keines der Kabel beschädigt, und die Halterungen ließen sich leicht lösen, wenn man mit dem ElektroDrehschlüssel arbeitete, und bei den Gitterbefestigungen war es kaum anders. Das beschädigte Gitterstück ließ sich ohne Schwierigkeit herausheben. Es ist ungeschickt, wenn man sich bei einer Unterwasseroperation beeilt. Will man zuviel auf einmal tun, macht man nur Fehler. Und wenn die Dinge glatt gehen, und man wird mit einem Auftrag in einem Tag statt in der veranschlagten Woche fertig, so meint der Kunde, er habe zuviel dafür bezahlen müssen. Ich war davon überzeugt, daß ich das beschädigte Gitter noch am gleichen Nachmittag hätte ersetzen können, doch ich folgte dem ausgebauten Gitterstück zur Oberfläche hinauf und erklärte die Arbeit für diesen Tag für beendet. Das Thermoelement wurde zur Untersuchung weggebracht, und ich versteckte mich für den Rest des Tages vor Joe. Trinco ist eine sehr kleine Stadt, aber es gelang mir doch, ihm aus dem Weg zu gehen, indem ich ins Kino ging. Dort saß ich etliche Stunden und sah mir einen TamilFilm an, in dem drei aufeinanderfolgende Generationen die gleichen häuslichen Krisen wegen irrtümlicher Identität, Trunkenheit, Fahnenflucht, Tod und Wahnsinn durchzustehen hatten, und das alles in Technicolor und mit voll aufgedrehter Lautstärke. Am nächsten Morgen hatte ich zwar leichte Kopfschmerzen, aber kurz nach Tagesanbruch war ich schon wieder draußen. Nebenbei erwähnt, auch Joe und Sergej, die sich auf einen ruhigen Angeltag eingerichtet zu haben schienen. Ich winkte ihnen fröhlich zu, als ich in den »Hummer« kletterte und mich der Kran über Bord hievte. Auf der anderen Seite, wo Joe es nicht sehen konnte, wurde das Austauschgitter hinabgelassen. In ein paar Faden Tiefe nahm ich es vom Haken und trug es hinab zum Grund von Trinco Deep, wo es ohne jede Schwierigkeit am frühen Nachmittag eingebaut war. Als ich dann wieder auf Deck war, stand das ganze System unter Spannung, und alles lief normal. Selbst Karpukhin
lächelte – nur er hörte gleich wieder auf, als er sich selbst die Frage stellte, die noch keiner hatte beantworten können. Ich selbst neigte noch immer zur Theorie eines Felssturzes, weil ich keine bessere hatte. Und ich hoffte, die Russen würden sie akzeptieren, so daß wir endlich mit der blödsinnigen Geheimnistuerei Joe gegenüber Schluß machen konnten. Dieses Glück hatte ich jedoch nicht, denn das mußte ich feststellen, als Schapiro und Karpukhin mit langen Gesichtern bei mir ankamen. »Klaus«, sagte Lew, »du mußt noch mal hinunter.« »Ist ja euer Geld«, antwortete ich. »Aber was wollt ihr denn jetzt noch?« »Wir haben das beschädigte Gitter untersucht, und da fehlt ein Teil eines Thermoelements. Dimitri meint, daß jemand es absichtlich abgebrochen und weggeschleppt hat.« »Dann haben sie sich aber ziemlich idiotisch angestellt«, erwiderte ich. »Ich kann euch nur sagen, von meinen Leuten war's bestimmt keiner.« Wenn Karpukhin in der Nähe war, erwiesen sich solche Scherze meistens als gefährlich, und niemand zeigte sich amüsiert. Nicht einmal ich, denn da dämmerte es mir allmählich, daß er etwas wußte. Die Sonne ging schon fast unter, als ich noch einmal in den Trinco Deep hinabtauchte, aber dort unten spielt ein Abend keine Rolle. Ich tauchte also ohne Licht zweitausend Fuß, denn ich beobachte gern die Leuchtkreaturen der See, wenn sie wie bunte Blitze durch die Dunkelheit zucken und manchmal wie Raketen vor dem Beobachtungsfenster vorbeizischen. In diesem offenen Wasser gab es keine Kollisionsgefahr, und überdies hatte ich das Panorama-Sonar-Gerät eingeschaltet, das viel zuverlässiger warnte als meine Augen. In vierhundert Faden Tiefe, das sind etwa siebenhundertzwanzig Meter, wußte ich, daß etwas faul war. Auf dem Vertikalechoschirm kam der Boden allmählich in Sicht, aber es ging viel zu langsam. Das heißt, ich tauchte mit weniger als normaler Sinkgeschwindigkeit. Ich konnte sie ja erhöhen, indem ich einen weiteren Tank flutete, aber gerade das wollte ich nicht gern tun. In meinem Geschäft fordert alles, was irgendwie un-
gewöhnlich ist, eine sinnvolle Erklärung, und dreimal kam ich mit dem Leben davon, weil ich solange wartete, bis ich sie hatte. Das Thermometer gab mir die Antwort. Die Außentemperatur lag um fünf Grad höher als sie hätte sein sollen, und ich brauchte leider ein paar Sekunden, bis ich den Grund entdeckt hatte. Nur ein paar hundert Fuß unter mir arbeitete das reparierte Gitter mit voller Leistung und verströmte Megawatts an Hitze. Das erwärmte Wasser stieg nach oben und bremste meine Tauchgeschwindigkeit. Als ich endlich dann doch das Gitter erreichte, war es gar nicht so einfach, den »Hummer« gegen den nach oben gerichteten Strom in Position zu halten, und als die Hitze sogar in die Kabine drang, begann ich ordentlich zu schwitzen. Zuviel Hitze in der Tiefsee war für mich eine ganz neue Erfahrung, ebenso wie der märchenhafte Anblick des aufsteigenden Wassers, in dessen Strömung meine Suchscheinwerfer über den Fels tanzten. Man muß sich nur einmal vorstellen, wie ich mich mit eingeschalteten Scheinwerfern in gut achthundert Metern Tiefe in die steile Schlucht hineinleuchtete, die etwa so steil ist wie ein Giebeldach; zudem war es außerhalb der Lichtkegel stockfinster. Das fehlende Bauteil – falls es noch da war – konnte nicht weit gefallen sein; ich mußte es eigentlich innerhalb von zehn Minuten finden – oder gar nicht. Ich suchte eine volle Stunde lang, hatte ein paar zerbrochene Glühbirnen gefunden – eigentlich erstaunlich, wie viele kaputte Birnen von Schiffen über Bord geworfen werden; die Seegründe der ganzen Welt sind damit bedeckt –, eine leere Bierflasche – gleicher Kommentar – und einen brandneuen Schuh. Den fand ich zuletzt. Und dann entdeckte ich, daß ich nicht mehr allein war. Den Sonarsucher schalte ich niemals ab, und selbst wenn ich mich nicht bewege, werfe ich einmal in der Minute einen Blick auf den Schirm, um die allgemeine Lage zu überprüfen. Und die Lage war die, daß ein sehr großer Gegenstand, der mindestens die Größe meines »Hummers« hatte, sich von Norden her näherte. Als ich ihn sah, war er etwa fünfhundert Fuß, also hundertfünfzig Meter entfernt und kam langsam heran. Ich schaltete meine Scheinwerfer und die Düsen ab, die ich auf Mi-
nimalleistung hatte laufen lassen, damit ich mich im turbulenten Wasser halten konnte, und ließ mich mit der Strömung treiben. Die Versuchung, Schapiro anzurufen und ihm zu melden, daß ich Gesellschaft hatte, war groß, doch ich beschloß, weitere Eindrücke abzuwarten. Es gab nur drei Nationen mit Tiefseeschiffen, die in solchen Tiefen operieren konnten, und mit allen unterhielt ich die besten Beziehungen. Also war es nicht ratsam, zu hastig zu reagieren und eventuell diplomatische Verwicklungen heraufzubeschwören. Ohne den Sonar fühlte ich mich zwar blind, aber ich wollte meine Anwesenheit nicht verraten, und so schaltete ich auch dieses Gerät ab. Jetzt mußte ich mich ganz auf meine Augen verlassen. Jeder, der in solchen Tiefen arbeitet, mußte es mit Licht tun. Ich wartete also in der engen, heißen, stillen Kabine, schaute angestrengt in die Dunkelheit hinaus und war hellwach und gespannt, wenn auch nicht besonders besorgt. Zuerst erkannte ich in scheinbar unendlicher Ferne ein schwaches Glühen. Es wurde größer und heller, nahm jedoch keine Form an, die ich hätte identifizieren können. Das diffuse Glühen wurde zu einer Unzahl von Leuchtpunkten, bis es aussah, als treibe mir ein Sternenhaufen entgegen. Ja, ungefähr genauso müssen die Sternwolken einer Galaxis aussehen, wenn man sie auf einer Welt im Herzen unserer Milchstraße beobachten würde. Es ist nicht richtig, daß der Mensch sich grundsätzlich vor dem Unbekannten fürchtet; im Gegenteil. Nur das Bekannte, das er schon einmal irgendwie erlebt hat, kann ihn schrecken. Ich konnte mir nicht vorstellen, was sich da näherte, aber keine Kreatur der Tiefsee würde mich in meinem Gehäuse aus zwanzig Zentimeter dickem allerbestem Schweizer Panzerstahl angreifen können. Das Ding war jetzt fast über mir und glühte in seinem eigenen Licht; da teilte es sich in zwei Wolken. Langsam trieben sie dahin, und ich begann zu verstehen. Ich wußte, daß Schönheit und Angst mir aus dem Abgrund entgegentrieben. Die Angst kam erst, als ich sah, daß die sich nähernden Tiere Tintenfische waren, und in meinem Gehirn hallten Joes Worte nach. Dann wurde ich mir der ermutigenden Tatsache bewußt, daß sie nur etwa sechs oder sieben Meter lang waren, also wenig größer als mein »Hummer«,
und ihr Gewicht war wesentlich geringer. Sie konnten mir nichts anhaben. Ganz abgesehen davon waren sie von so unglaublicher Schönheit, daß sie schon aus diesem Grund keine Drohung darstellen konnten. Das klingt zwar lächerlich, ist aber wahr. Ich habe auf meinen Reisen die meisten Tiere dieser Welt kennengelernt, aber keines glich jener leuchtenden Erscheinung, die nun über mir dahinfloß. Die farbigen Lichter, die in ihren Körpern pulsten und tanzten, vermittelten den Eindruck, als seien sie mit Juwelen besetzt, die sich in einem unendlichen Spiel von Moment zu Moment veränderten. Ein paar Flecken schimmerten jetzt strahlend blau wie flackernde Quecksilberbogen, im nächsten Augenblick waren sie neonrot. Die Tentakel glichen leuchtenden Perlenschnüren, die durch das Wasser zogen, oder auch den Scheinwerfern einer Autokette auf der Autobahn, wenn man sie bei Nacht aus dem Flugzeug heraus sieht. Kaum auszumachen vor dem Phosphoreszieren dieses Hintergrundes waren die riesigen Augen, die unheimlich menschlich und intelligent wirkten, und jedes war von einem schimmernden Perlenkranz umgeben. Es tut mir leid, aber besser kann ich es nicht schildern, obwohl es ungleich zauberhafter war. Nur die Filmkamera könnte die Wirkung dieses lebenden Kaleidoskops einfangen. Ich weiß nicht, wie lange ich die Tiere beobachtet habe, denn ich war in ihre glühende Schönheit ganz und gar versunken und vergaß nahezu meinen Auftrag. Daß diese delikaten, peitschenähnlichen Tentakel das Gitter nicht demoliert haben konnten, war mir klar. Und doch war die Anwesenheit dieser Tiere, um es gelinde auszudrücken, äußerst merkwürdig. Karpukhin hätte es zumindest verdächtig gefunden. Ich war schon entschlossen, nach oben zu rufen, als ich etwas Unglaubliches sah. Es hatte sich immer vor meinen Augen befunden, doch es war mir erst jetzt zu Bewußtsein gekommen. Die Tintenfische sprachen miteinander. Diese glühenden, stets wechselnden Muster waren kein Zufall, sie hatten eine bestimmte Bedeutung. Das wußte ich mit einem Mal absolut sicher, und es war mir ebenso klar wie die strahlende Neonbeleuchtung am Broadway oder Piccadilly. Alle paar Sekunden war da ein Bild, das ich zu verstehen glaubte, nur war es wieder verschwunden, ehe ich es ganz
begriff. Ich wußte natürlich, daß auch der gewöhnliche Oktopus seine Gefühle mit blitzschnellen Farbwechseln anzeigt, aber das hier war einer höheren Ordnung zugehörig. Es war eine wirkliche Verständigung: hier waren zwei lebende Wesen, die einander Botschaften zublitzten. Als ich dann ein unmißverständliches Bild meines »Hummers« erkannte, schwanden meine allerletzten Zweifel. Ich bin kein Wissenschaftler, aber in dem Moment fühlte ich mich wie ein Newton oder Einstein im Augenblick einer Erleuchtung. Das würde mich berühmt machen… Dann wechselte das Bild erneut und auf fast lächerliche Art. Wieder war der »Hummer« zu erkennen, diesmal jedoch viel kleiner. Und daneben waren noch zwei viel kleinere Gegenstände zu sehen. Jeder bestand aus einem Paar schwarzer Punkte, die von einem Muster aus zehn davon ausstrahlenden Linien umgeben waren. Nun sagte ich ja schon, daß wir Schweizer ein besonderes Sprachentalent haben. Es bedurfte trotzdem noch einer gewissen Intelligenz, um erkennen zu können, daß dies das Bild des Tintenfisches von sich selbst war, eben so, wie er sich selbst sah. Und das Ganze war eine grobe Skizze der Situation. Aber warum waren die dargestellten Tintenfische gar so klein? Mir blieb keine Zeit, darüber nachzugrübeln, denn schon veränderte sich das Bild erneut. Auf dem lebenden Bildschirm erschien ein drittes Tintenfischbild, und das war so riesig, daß die beiden anderen daneben wie Zwerge erschienen. Diese Mitteilung schimmerte ein paar Sekunden lang durch die ewige Dunkelheit der Tiefe. Dann schoß das Tier, das dieses Zeichen trug, mit einer unglaublichen Geschwindigkeit davon und ließ mich mit seinem Gefährten allein zurück. Alles war mir jetzt klar. »Mein Gott!« sagte ich zu mir selbst. »Sie wissen, daß sie mit mir nicht fertig werden können, und jetzt holen sie ihren großen Bruder.« Und von den Fähigkeiten des großen Bruders hatte ich viel bessere Beweise als Joe Watkins trotz seiner Zeitungsausschnitte und Forschungen. Sie werden sich nicht wundern, daß ich jetzt nicht mehr länger zögerte. Bevor ich aber auftauchte, überlegte ich mir, ob ich nicht selbst auch ein bißchen etwas zu dieser Unterhaltung beisteuern sollte.
Ich hatte meine Scheinwerfer ganz vergessen. Nach dieser langen Dunkelheit schmerzten meine Augen, als ich sie einschaltete, und für den unglücklichen Tintenfisch müssen sie Quellen der Todesangst gewesen sein. Das unerträgliche Gleißen löschte den eigenen Schimmer völlig aus; er verlor seine ganze Schönheit und wurde zu einer blassen Aspikblase mit zwei schwarzen Augenknöpfen. Einen Moment lang schien er vom Schock gelähmt zu sein; dann jagte er hinter seinem Gefährten her, während ich der Welt entgegenstrebte, die für mich niemals mehr dieselbe sein konnte wie vorher. »Ich habe euren Saboteur gefunden«, berichtete ich Karpukhin, als sie die Luke meines ›Hummers‹ öffneten. »Wenn ihr mehr darüber wissen wollt, braucht ihr nur Joe Watkins zu fragen.« Darüber ließ ich Dimitri ein paar Sekunden nachdenken, und ich weidete mich schadenfroh an seiner Verblüffung. Dann gab ich meinen leicht frisierten Bericht ab. Ohne es deutlich auszusprechen, ließ ich durchblicken, daß die Tintenfische, die ich gesehen hatte, groß und stark genug gewesen seien, solche Schäden anzurichten, aber von Konversation in den dunklen Tiefen erwähnte ich nichts, denn geglaubt hätten sie es sowieso nicht. Außerdem mußte ich erst einmal gründlich darüber nachdenken und, falls ich konnte, die noch losen Enden miteinander verbinden. Joe war mir dabei eine große Hilfe, obwohl er auch nicht mehr erfuhr als die Russen. Er hat mir nämlich erzählt, ein wie großartig entwickeltes Nervensystem Tintenfische besäßen, und er erklärte mir auch, wie sie es fertigbrächten, blitzschnell ihr Erscheinungsbild sozusagen in einen Dreifarbendruck zu verwandeln – dank einem außerordentlich dichten Netz von Chromophoren, das ihren ganzen Körper bedeckt. Vermutlich sollte diese Fähigkeit der Tarnung dienen; es erscheint jedoch ganz vernünftig, vielleicht sogar unvermeidlich, daß sie sich schließlich zu einem Verständigungsmittel weiterentwickelte. Über etwas macht sich Joe Gedanken. »Was haben sie denn dort unten am Gitter getan?« fragte er immer wieder, und das klang wie eine Beschwerde. »Das sind doch wirbellose Tiere und Kaltblüter. Man sollte meinen, daß sie die Hitze ebenso meiden wie das Licht.«
Joe erscheint das rätselhaft, mir aber nicht. Ich glaube eher, das ist der Schlüssel zu dem ganzen Geheimnis. Diese Tintenfische sind, und dessen bin ich mir nun recht sicher, in Trinco Deep aus dem gleichen Grund wie die Menschen am Südpol oder auf dem Mond. Reine wissenschaftliche Neugier hat sie aus ihrer eisigen Heimat herausgeholt, um den Strom heißen Wassers zu untersuchen, der zwischen den Wänden der Schlucht aufstieg. Das ist eine merkwürdige und unerklärliche Erscheinung, die möglicherweise ihre ganze Lebensweise bedroht. So haben sie also ihren riesigen Vetter – Diener oder Sklave? – gerufen, der ihnen ein Probestück besorgen mußte, das sie studieren konnten. Ich kann nicht daran glauben, daß sie hoffen können, es zu verstehen, denn schließlich gab es vor hundert Jahren auf der Erde nicht einen einzigen Wissenschaftler, der so etwas begriffen hätte. Aber sie haben es versucht, und das ist, was zählt. Morgen beginnen wir mit unseren Gegenmaßnahmen. Ich kehre in den Trinco Deep zurück, um dort die großen Scheinwerfer anzubringen, von denen Schapiro hofft, daß sie die Tintenfische abhalten können. Wie lange diese List wohl nützen wird? Eines Tages wird in der Tiefe dort unten die Intelligenz dämmern. Während ich das ins Mikrophon spreche, sitze ich hier unter den alten Mauern von Fort Frederick und sehe zu, wie der Mond aus dem Indischen Ozean aufsteigt. Wenn alles gut geht, wird dies der Beginn eines Buches sein, das Joe mich zu schreiben gedrängt hat. Und wenn nicht – nun, dann hallo, Joe, denn ich spreche jetzt mit dir. Bitte, mach das druckreif, so wie du meinst, und es tut mir leid, daß ich dir und Lew nicht vorher schon alle Einzelheiten gegeben habe. Jetzt verstehst du aber sicher den Grund dafür. Was immer auch geschieht, bitte, vergeßt nicht, daß es sehr schöne, wundervolle Kreaturen sind; versucht, euch mit ihnen zu verständigen, wenn ihr könnt. Mitteilung an das Ministerium für Energiewirtschaft, Moskau – von Lew Schapiro, Chefingenieur, Trincomalee, Thermoelektrisches Kraftwerk: Anliegend erhalten Sie die vollständige Niederschrift der Bandaufnahmen, die nach seinem letzten Tauchversuch bei den persönlichen Hinter-
lassenschaften des Herrn Klaus Müller gefunden wurden. Wir sind Mr. Joe Watkins vom Time Magazine für seine Hilfe bei der Deutung der Aufzeichnungen sehr verbunden. Sie werden sich erinnern, daß Herrn Müllers letzter verständlicher Funkspruch aus der Tiefe an Mr. Watkins gerichtet war und wie folgt lautete: »Joe! Melville hatte recht! Das Ding ist absolut gigan –« Originaltitel: THE SHINING ONES (Dezember 1962)
VOR DEM SONNENWIND Die ungeheure Segelscheibe zerrte an ihrer Verspannung; sie war schon mit dem Wind gefüllt, der zwischen den Welten wehte. In drei Minuten sollte das Rennen beginnen, aber John Merton fühlte sich jetzt entspannter und friedlicher als zu irgendeinem Zeitpunkt des vergangenen Jahres. Was immer auch geschehen mochte, wenn der Kommodore das Startsignal gab, ob die Diana ihn zu Sieg oder Niederlage trug – er hatte sich den ehrgeizigen Traum seines Lebens erfüllt. Ein Leben lang hatte er Schiffe für andere entworfen, und jetzt segelte er sein eigenes. »T minus zwei Minuten«, sagte das Kabinenradio. »Bitte, bestätigen Sie Startbereitschaft.« Einer nach dem anderen antwortete. Merton erkannte die Stimmen aller Skipper; die einen waren gespannt, die anderen ruhig, es waren die Stimmen seiner Freunde und Rivalen. Auf den vier bewohnten Welten gab es kaum zwanzig Männer, die eine Sonnenjacht segeln konnten. Sie waren alle hier, lagen entweder auf der Startlinie oder befanden sich an Bord der Begleitschiffe, die sich fünfunddreißigtausend Kilometer über dem Äquator im Orbit befanden. »Nummer eins – Gossamer – startbereit.« »Nummer zwei – Santa Maria – alles in Ordnung.« »Nummer drei – Sunbeam – alles in Ordnung.« »Nummer vier – Woomera – alle Systeme funktionieren.« Merton lächelte, denn das war ein Echo aus der frühen, primitiven Zeit der Raumfahrt. Es war jetzt schon Teil der Raumfahrttradition, und es gab Zeiten, in denen der Mensch die Schatten jener anzurufen verlangte, die vor ihm zu den Sternen gegangen waren. »Nummer fünf – Lebedew – wir sind bereit.« »Nummer sechs – Arachne – alles okay.« Jetzt war er an der Reihe, der letzte; eigentlich seltsam zu denken, daß die Worte, die er in seiner winzigen Kabine sprach, von mindestens fünf Milliarden Menschen mitgehört wurden. »Nummer sieben – Diana – startbereit.«
»Eins bis sieben bestätigt«, antwortete die unpersönliche Stimme vom Schiff des Kampfrichters. »Jetzt T minus eine Minute.« Merton hörte es kaum. Zum letztenmal prüfte er die Spannung der Leinen nach. Die Nadeln aller Dynamometer waren ruhig. Das immense Segel war gespannt, und die spiegelnde Oberfläche glitzerte und funkelte großartig in der Sonne. Für Merton, der schwerelos vor dem Periskop schwebte, schien es den ganzen Himmel auszufüllen. Kein Wunder, denn da draußen waren dreitausend Quadratmeter an Segelfläche, die mit seiner Kapsel durch 150.000 Meter Spannleine verbunden waren. Sämtliche Segel aller Mastensegler, die einst wie Wolken über den Pazifik gesegelt waren, würden zu einem riesigen Segel zusammengenäht nicht ausreichen, um dieses einzige Segel zuzudecken, das die Diana unter der Sonne ausgebreitet hatte. Und doch hatte es kaum mehr Substanz als eine Seifenblase, denn die aluminiumbeschichtete Plastikfolie war nur etwa einen Hundertstelmillimeter dick. »T minus zehn Sekunden. Alle Aufzeichnungskameras einschalten.« Etwas so Riesiges und gleichzeitig so Zartes kann sich der menschliche Geist kaum vorstellen. Und noch schwieriger war es, zu glauben, daß dieser äußerst zerbrechliche Spiegel ihn allein durch die Kraft des aufgefangenen Sonnenlichtes aus dem Schwerefeld der Erde ziehen konnte. »… fünf, vier, drei, zwei, eins, LOS!« Sieben Messerklingen kappten sieben dünne Leinen, mit denen die Jachten am Mutterschiff vertäut waren, um das sie sich versammelt hatten und das sie versorgte. Bis zu diesem Augenblick hatten sie in einer starren Formation die Erde umkreist, aber nun würden sich die Jachten allmählich entfernen, so etwa, wie der Schirm eines Löwenzahnsamens vor dem Wind dahintreibt. Und der Sieger wäre der, welcher zuerst am Mond vorbeitrieb. An Bord der Diana schien sich gar nichts zu ereignen. Aber Merton wußte es besser. Wenn auch sein Körper keine Krafteinwirkung spürte, so konnte er doch klar von den Instrumenten ablesen, daß seine Beschleunigung nunmehr ein Tausendstel G erreicht hatte. Für eine Rakete wäre ein solcher Wert lächerlich gewesen, aber es war das erste Mal, daß eine Sonnenjacht sie erreicht hatte. Die Diana war eine praktische, ver-
nünftige Konstruktion; das riesige Segel hielt, was die Berechnungen versprochen hatten. Zwei Erdumkreisungen würden bei dieser Beschleunigungsrate ausreichen, die Fluchtgeschwindigkeit zu erreichen, und dann konnte er mit der vollen Sonnenkraft hinter sich nach dem Mond ausgreifen. Die volle Sonnenkraft… Er lächelte ein wenig mühsam, wenn er an seine zahllosen Versuche dachte, seinen interessierten Zuhörern auf der Erde das Sonnensegeln zu erklären. In diesen frühen Tagen war es die einzige Möglichkeit gewesen, zu Geld zu kommen. Obwohl er Chefkonstrukteur der Cosmodyne Corporation war und eine ganze Reihe erfolgreicher Raumschiffe entworfen hatte, so hatte seine Firma sein Hobby nicht sehr begeistert begrüßt. »Halten Sie Ihre Hände in die Sonne«, hatte er gesagt. »Was spüren Sie? Hitze. Natürlich. Aber da ist auch ein gewisser Druck dahinter. Sie haben ihn nur noch nicht gefühlt, weil er so winzig ist. Aber draußen im Raum kann selbst ein so winziger Druck wichtig werden, denn er wirkt ja immer, Stunde für Stunde, Tag für Tag. Und dieser Druck ist im Gegensatz zum Raketentreibstoff kostenlos und unbeschränkt verfügbar. Wir können die Sonnenenergie nützen, wenn wir wollen. Wir können Segel konstruieren, welche die von der Sonne her wehende Strahlung auffangen.« An dieser Stelle zog er immer ein paar Quadratmeter Segelmaterial heraus und warf es seiner Zuhörerschaft entgegen. Der silbrige Film schwebte und verdrehte sich wie Rauch und trieb dann langsam in der warmen Luftströmung zur Decke. »Sie sehen, wie leicht es ist«, fuhr er dann fort. »Ein Quadratkilometer wiegt nur etwas mehr als eine halbe Tonne und kann aber zwei Kilopond Strahlungsdruck aufnehmen. Auf die Art setzt es sich dann in Bewegung, und wenn wir eine Verspannung anbringen, können wir uns davon schleppen lassen. Natürlich wird die Beschleunigung sehr gering sein, etwa ein Tausendstel G. Das scheint nicht viel zu sein, aber wir wollen einmal sehen, was sich daraus ergibt. In der ersten Sekunde bewegen wir uns nur etwa einen halben Zentimeter. Ich denke, eine gesunde Schnecke schafft mehr. Aber nach einer Minute haben wir schon ungefähr zwanzig Meter zurückgelegt, unsere
Geschwindigkeit beträgt etwa 1,75 Kilometer pro Stunde. Das ist gar nicht so schlecht für etwas, das nur vom Sonnenlicht angetrieben wird! Nach einer Stunde haben wir vierzig Meilen zurückgelegt, sind also rund 65 Kilometer vom Startpunkt entfernt. Wir bewegen uns mit einer Geschwindigkeit von achtzig Meilen pro Stunde, das sind schon runde 130 Kilometer. Bitte, vergessen Sie nicht, daß es im Raum keinen Luftwiderstand, also keine Reibung gibt. Hat also etwas mit einer Bewegung begonnen, so bewegt es sich unendlich lange weiter. Sie werden staunen, wenn ich Ihnen sage, was unser Segler mit einem Tausendstel G am Ende eines Tages erreicht hat: fast zweitausend Meilen pro Stunde, das sind dreitausendzweihundert Kilometer! Startet er von einer Umlaufbahn aus, was natürlich geschehen muß, dann kann er die Fluchtgeschwindigkeit in ein paar Tagen erreichen. Und das alles, ohne einen einzigen Tropfen Treibstoff zu verbrennen!« Nun, überzeugt hatte er seine Zuhörer, und die Cosmodyne überzeugte er schließlich auch. In den vergangenen zwanzig Jahren hatte sich ein neuer Sport entwickelt. Man nannte das Sonnensegeln den Sport der Milliardäre, und das stimmte auch. Aber es zahlte sich aus, denn der Werbe- und TV-Wert war ungeheuer. Das Prestige von vier Kontinenten und zwei Welten stand in diesem Rennen auf dem Spiel, und es hatte die größte in der ganzen Geschichte des Sports überhaupt bekannte Zahl an Zuschauern und Beobachtern. Die Diana war gut abgekommen. Man hatte also ein wenig Zeit, sich nach der Konkurrenz umzusehen. Sie schwebte sehr sanft dahin, denn Merton hatte, um keinerlei Risiko einzugehen, zwischen der Kapsel und der sehr delikaten Verspannung Stoßdämpfer anbringen lassen. Nun war er am Periskop. Da waren sie alle und sahen aus wie Silberblüten auf den dunklen Feldern des Raumes. Die südamerikanische Santa Maria war nur etwa achtzig Kilometer entfernt; sie sah etwa aus wie ein Drachen, wie ihn Buben im Herbst steigen lassen, aber mit einer Seitenlänge von mehr als anderthalb Kilometer. Die Lebedew der Universität Astrograd hatte die Form eines Malteserkreuzes; die Segel, welche die vier Arme bildeten, konnten anscheinend zur Steuerung schräg gestellt werden. Im Gegensatz dazu war die Woomera Australiens ein dreifacher Fallschirm mit einem Umfang von sechseinhalb Kilometern. Die Arachne von Allied Spacecraft sah, wie
schon der Name andeutete, einem Spinnengewebe ähnlich und war auch nach dem gleichen Prinzip gebaut; von einem Zentralpunkt aus hatten automatische Schiffchen das Segelmaterial spiralförmig nach außen gezogen. Die Gossamer der Eurospace Corporation war nach demselben Muster gebaut, nur ein Stück kleiner. Und die Sunbeam der Marsrepublik schließlich war ein flacher Ring mit einem Loch von achthundert Meter Durchmesser in der Mitte; sie drehte sich langsam, so daß die Zentrifugalkraft ihr einige Widerstandskraft verlieh, also eine gewisse Steifheit. Das war an sich eine alte Idee, aber bisher war es noch keinem gelungen, sie praktisch anzuwenden. Merton war ziemlich überzeugt, daß die Kolonisten mit Schwierigkeiten zu rechnen hatten, wenn sie eine Wendung vollziehen mußten. Doch das kam erst in frühestens sechs Stunden in Frage, wenn die Jachten das erste Viertel ihres langsamen, majestätischen Tagesumlaufes hinter sich hatten. Jetzt, am Anfang des Rennens, entfernten sie sich von der Sonne, segelten also vor dem Sonnenwind. Das mußte man so gut wie möglich ausnützen, ehe die Boote zur anderen Seite der Erde schwangen und sich dann wieder der Sonne entgegenbewegten. Zeit zur ersten Überprüfung, dachte Merton, wenn er auch keine navigatorischen Schwierigkeiten hatte. Mit dem Periskop kontrollierte er sorgfältig die Segel und konzentrierte sich vor allem auf die Punkte, wo die Verspannung befestigt war. Diese Verspannungsleinen – dünne Bänder aus Kunststoff – waren mit fluoreszierender Farbe behandelt worden, da sie sonst unsichtbar gewesen wären. Jetzt waren sie gespannte Leinen aus farbigem Licht, die sich Hunderte von Metern dem riesigen Segel entgegenstreckten. Jede Leine hatte eine eigene elektrische Winde, die kaum größer war als die Spule am Angelzeug eines Sportfischers. Diese Winden waren in ständiger Bewegung und ließen die Verspannungsleinen so spielen, wie die vom Autopiloten gesteuerte Trimmung zur Sonne es erforderte. Es war ein schönes Erlebnis, das Spiel des Sonnenlichtes auf dem riesigen flexiblen Spiegel zu beobachten. Das Segel bewegte sich in langsamen, schillernden Wellen, und die Sonne lief in zahllosen Bildern darüber hin, bis sie an den Kanten verblaßten. Diese geringen Vibrationen waren bei dieser riesigen Struktur aus superdünnem Material zu erwarten gewesen; meistens waren sie recht harmlos, aber Merton beobachtete sie
sehr sorgfältig. Manchmal konnten sie sich zu schlängelnden Bewegungen verstärken, die ein solches Segel in Fetzen reißen würden. Als er festgestellt hatte, daß alles in schönster Ordnung war, suchte er mit dem Periskop den Himmel ab, um die Positionen seiner Rivalen festzustellen. Sie waren so, wie er gehofft hatte: Der Ausdünnungsprozeß hatte bereits begonnen, und die weniger tüchtigen Boote fielen schon zurück. Aber der richtige Test würde erst kommen, wenn sie in den Erdschatten eintauchten. Dann war die Manövrierfähigkeit ebenso wichtig wie die Geschwindigkeit. Es war zwar eine merkwürdige Idee, weil das Rennen doch erst begonnen hatte, aber er hielt es doch für angebracht, eine kurze Schlafpause einzulegen. Die anderen Boote waren jeweils mit zwei Mann besetzt, die abwechslungsweise schlafen konnten, aber Merton hatte keine Ablösung. Er mußte sich also ausschließlich auf seine eigene Leistungsfähigkeit verlassen können, etwa so wie der Seefahrer Joshua Slocum, der in seiner winzigen Spray mutterseelenallein um die ganze Erde gesegelt war. Er hätte sich vermutlich niemals träumen lassen, daß zweihundert Jahre später ein Mann ebenso mutterseelenallein von der Erde zum Mond segeln würde, mindestens teilweise dazu inspiriert von seinem Beispiel. Merton befestigte die Gummibänder seines Kabinensitzes um Leib und Beine und legte die Schlafelektroden an seine Stirn. Den Wecker stellte er auf drei Stunden später. Dann entspannte er sich. Sehr sanft und ein wenig hypnotisch klopfte der elektronische Puls in den Stirnlappen seines Gehirns. Farbige Lichtspiralen breiteten sich unter seinen geschlossenen Augenlidern aus bis in die Unendlichkeit… Der brutale Eingriff des Weckers riß ihn aus einem traumlosen Schlaf. Er war sofort hellwach, und seine Augen überflogen das Instrumentenbrett. Nur zwei Stunden waren vergangen, aber über dem Akzelerometer blitzte rotes Licht. Der Schub hatte nachgelassen, die Diana verlor Leistung. Mertons erster Gedanke war der, daß etwas mit dem Segel passiert war; vielleicht hatten die Stabilisatoren versagt und die Verspannung hatte sich ineinander verwickelt. Schnell inspizierte er die Skalen, welche die Spannung der Leinen anzeigten. Merkwürdig, auf der einen Seite waren
die Skalendaten normal, aber auf der anderen Seite fiel der Zug, während er nachschaute, langsam ab. Da begriff Merton, stellte das Periskop auf Weitwinkel ein und prüfte die Segelkanten nach. Ja, da stimmte etwas nicht, und dafür gab es nur eine Ursache. Ein riesiger, scharfkantiger Schatten schob sich langsam über das schimmernde Silbersegel. Die Diana war in Dunkelheit getaucht, als habe sich eine Wolke zwischen sie und die Sonne geschoben. Da sie in der Dunkelheit der Kraft beraubt war, die sie antrieb, mußte sie an Schub verlieren und hilflos durch den Raum treiben. Aber natürlich gab es hier keine Wolken – wie auch, in mehr als 30.000 Kilometer über der Erde? Wenn es hier einen Schatten gab, dann hatten Menschen ihn gemacht. Merton lachte leise, als er das Periskop zur Sonne schwang und es auf Filter schaltete, die es ihm gestatteten, voll in das gleißende Gesicht zu sehen, ohne blind zu werden. »Manöver 4a«, murmelte er. »Wir wollen doch mal sehen, wer dieses Spiel am besten versteht.« Es sah aus, als ziehe ein gigantischer Planet vor der Sonne vorbei; eine große schwarze Scheibe hatte ein Stück aus dem Rand herausgebissen. 35.000 Kilometer hinter ihm versuchte die Gossamer für die Diana eine künstliche Sonnenfinsternis zu erzeugen. Das Manöver war durchaus erlaubt. In den Tagen der alten Windjammerrennen hatten die Skipper versucht, einander den Wind zu nehmen. Hatte der eine Glück, dann blieb der andere mit schlaffen Segeln liegen, und der glückliche Rivale war längst davongesegelt, ehe der Schaden wieder behoben werden konnte. Merton hatte nicht die Absicht, sich so schnell aus dem Rennen werfen zu lassen. Er hatte viel Zeit, ein Ausweichmanöver einzuleiten. Auf einem Sonnensegler lief alles sehr langsam ab. Es würde mindestens zwanzig Minuten dauern, ehe die Gossamer die Sonnenscheibe völlig verdecken und ihn damit in Dunkelheit stürzen konnte. Dianas winziger Computer hatte die Größe einer Zündholzschachtel, aber die Kapazität von tausend menschlichen Mathematikern. Dieser
Computer überlegte sich das Problem eine volle Sekunde lang und gab dann die Antwort. Er mußte die Steuerstrecken drei und vier ganz öffnen, bis das Segel eine Neigung von plus zwanzig Grad hatte; dann blies ihn der Strahlungsdruck aus der gefährlichen Schattenzone der Gossamer hinaus und zurück in den vollen Glanz der Sonne. Es war immer schade, wenn man dem Autopiloten ins Handwerk pfuschen mußte, denn er war so programmiert, daß er die größtmögliche Geschwindigkeit herausholte, aber gerade für solche Dinge war ja der Skipper da. Das machte das Sonnensegeln zum Sport; sonst wäre es nur ein Duell zwischen Computern gewesen. Die Kontrolleinen eins und sechs wanden sich wie schläfrige Schlangen, als sie für einen Moment ihre Spannung verloren. Dreitausend Meter weiter öffneten sich lässig die Dreieckspanele, so daß die Segel Sonne bekamen. Trotzdem schien lange nichts zu geschehen. Es war gar nicht leicht, sich an diese Welt der langsamen Bewegung zu gewöhnen, denn es dauerte immer Minuten, bis der Erfolg eines Handgriffes für das Auge sichtbar wurde. Doch dann sah Merton, daß sich das Segel tatsächlich der Sonne entgegenneigte und daß gleichzeitig der Schatten der Gossamer davonschlüpfte, ohne Schaden anzurichten. Sein dunkler Kegel verlor sich in der tiefen Nacht des Raumes. Lange ehe der Schatten verschwand und die Sonnenscheibe völlig rund war, nahm er die Neigung des Segels wieder zurück und brachte die Diana auf den alten Kurs. Ihre neue Fliehgeschwindigkeit würde sie aus der Gefahrenzone hinaustragen; man brauchte durchaus nicht zu übertreiben und die ganze Berechnung über den Haufen werfen. Auch das war eine Regel, die zu lernen nicht leicht war: Hatte man im Raum irgendein Geschehnis eingeleitet, so mußte man im gleichen Moment auch schon wieder daran denken, es anzuhalten. Er stellte also die Warnanlage wieder ein, um für den nächsten Notfall – natürlich bedingt oder vom Menschen produziert – gerüstet zu sein. Vielleicht würde die Gossamer oder eines der anderen Boote den Trick wiederholen wollen; das wußte man nie. Inzwischen war es Zeit für einen Imbiß geworden, obwohl er sich nicht besonders hungrig fühlte. Im Raum braucht man wenig körperliche Energie, und es ist dann ganz ein-
fach, das Essen zu vergessen; einfach – und gefährlich, denn im Notfall hat man dann keine Reserven, von denen man zehren kann. Er öffnete also die erste Packung und musterte sie ohne rechte Begeisterung. Schon der Name RAUMHAPPEN auf dem Etikett widerte ihn an. Und dem gedruckten Versprechen GARANTIERT KRÜMELFREI glaubte er sowieso nicht. Krümel, so sagte man, seien für einen Raumfahrer eine noch viel größere Gefahr als Meteoriten; sie konnten zu den unwahrscheinlichsten Stellen treiben, Kurzschlüsse auslösen, lebenswichtige Aggregate blockieren und selbst in Instrumente geraten, die angeblich hermetisch versiegelt waren. Aber die Leberwurst war eigentlich ganz ordentlich und rutschte glatt hinab wie auch die Schokolade und das Ananaspüree. Im Elektroöfchen wärmte er eben den Kaffee, als die Außenwelt in seine Einsamkeit einbrach und der Funker vom Schiff des Kommodore ihn anrief. »Dr. Merton? Wenn Sie ein wenig Zeit erübrigen könnten, würde Jeremy Blair gern ein paar Worte mit Ihnen sprechen.« Blair war einer der verantwortungsbewußten Kommentatoren, und Merton war schon oft Gast bei seiner Sendung gewesen. Natürlich konnte er ein Interview ohne weiteres verweigern, aber er mochte Blair, und im Augenblick hatte er nicht allzu viel zu tun. »Ja, der Anruf wird angenommen«, antwortete er. »Hallo, Dr. Merton«, meldete sich der Kommentator sofort. »Ich freue mich, daß Sie ein paar Minuten für mich Zeit haben. Und meinen Glückwunsch! Sie scheinen ziemlich weit vor dem ganzen Feld zu liegen.« »Jetzt ist es noch viel zu früh, um dessen sicher zu sein«, antwortete Merton vorsichtig. »Sagen Sie mir, Doktor, warum haben Sie sich eigentlich entschieden, die Diana allein zu segeln? Nur weil es noch nie vorher getan worden ist?« »Nun, ist das nicht ein guter Grund? Es war aber natürlich nicht der einzige.« Er machte eine Pause und überlegte sich jedes Wort sehr sorgfältig. »Sie wissen doch, wie sehr die Leistung einer Sonnenjacht von ihrer Masse abhängt. Ein zweiter Mann mit allem, was er braucht, wäre
eine Belastung von weiteren fünfhundert Pfund gewesen. Und das kann leicht der Unterschied zwischen Sieg und Niederlage sein.« »Und Sie sind davon überzeugt, mit der Diana allein fertig zu werden?« »Ziemlich überzeugt, dank der automatischen Kontrollen, die ich konstruiert habe. Meine wichtigste Aufgabe ist die Überwachung der Instrumente und dann und wann eine Entscheidung zu treffen.« »Aber dreitausend Quadratmeter Segel! Man sollte es nicht für möglich halten, daß ein Mann allein damit fertig wird.« Merton lachte. »Warum denn nicht? Diese dreitausend Quadratmeter haben einen Maximalzug von höchstens fünf Kilopond. Ich schaffe mehr mit meinem kleinen Finger.« »Gut, dann vielen Dank, Doktor. Und viel Glück. Ich melde mich wieder bei Ihnen.« Als der Kommentator aufgelegt hatte, schämte sich Merton ein wenig, denn seine Antwort war nur ein Teil der Wahrheit gewesen. Er war davon überzeugt, daß Blair klug genug war, es zu wissen. Es gab nur einen Grund dafür, daß er jetzt allein hier im Raum war. Etwa vierzig Jahre lang hatte er mit Teams von Hunderten, sogar Tausenden von Männern gearbeitet und mitgeholfen, die raffiniertesten und leistungsfähigsten Fahrzeuge zu konstruieren, welche die Welt je gesehen hatte. In den letzten zwanzig Jahren hatte er eines dieser Teams angeführt und zugesehen, wie seine Schöpfungen zu den Sternen flogen. Zugegeben, es war auch dann und wann ein Rückschlag zu verzeichnen gewesen, den er nie vergessen konnte, auch wenn die Schuld dafür nicht bei ihm lag. Er war berühmt und hatte eine ungemein erfolgreiche Laufbahn hinter sich. Aber er hatte niemals selbst etwas getan, ganz allein. Immer war er Mitglied einer Gruppe gewesen. Und das war nun seine letzte Chance, ganz persönlich etwas zu vollbringen, und diese Tat wollte er mit keinem teilen. Mindestens fünf Jahre lang würde der Sonnensegelsport ruhen, da die Zeit der friedlichen Sonne zu Ende ging und die des schlechten Wetter begann, wo Strahlungsstürme durch das ganze Sonnensystem tobten. Und wenn die Verhältnisse sich wieder besserten für diese zerbrechlichen, ungeschützten Raum-
fahrzeuge, würde er zu alt sein. Vielleicht war er sogar jetzt schon zu alt dafür… Er warf die leeren Essensbehälter in den Abfall und wandte sich wieder dem Periskop zu. Erst konnte er nur fünf der anderen Jachten entdecken, aber die Woomera war nirgends zu sehen. Er brauchte mehrere Minuten, bis er sie endlich fand – ein kaum sichtbares, zwischen den Sternen verschwindendes Phantom im Schatten der Lebedew. Er konnte sich gut vorstellen, wie fieberhaft sich die Australasier bemüht hatten, aus der Schattenzone zu entkommen, und er überlegte, wie sie wohl in die Falle geraten sein mochten. Es lag nahe, daß die Lebedew ungeheuer manövrierfähig sein mußte. Man mußte auf sie aufpassen, obwohl sie im Moment viel zu weit entfernt war, als daß sie der Diana hätte gefährlich werden können. Die Erde war inzwischen fast verschwunden, war nur noch ein schmaler, strahlender Lichtbogen, der sich langsam der Sonne näherte. In diesem brennenden Bogen ließ sich die schwache Zeichnung der Nachtseite der Erde erkennen, mit dem phosphoreszierenden Glühen der großen Städte, das da und dort durch einen Wolkenspalt erkennbar wurde. Die dunkle Scheibe hatte schon einen riesigen Ausschnitt der Milchstraße ausgelöscht, und in wenigen Minuten würde sie beginnen, sich vor die Sonne zu schieben. Das Licht verblaßte zu einem purpurnebeligen Zwielicht; die Glut vieler Sonnenuntergänge Tausende von Kilometern unter ihm fiel auf das Segel der Diana, ehe sie lautlos in den Erdschatten tauchte. Die Sonne sandte noch federiges Licht über diesen unsichtbaren Horizont, doch innerhalb weniger Minuten war es Nacht. Merton schaute die lange Bahn zurück, die er gekommen war – ein Viertel rund um die Erde. Die strahlenden Sterne der anderen Jachten erloschen nacheinander, als auch sie in die kurze Nacht hineinschwebten. Eine Stunde würde es dauern, ehe die Sonne wieder hinter diesem enormen Schild hervorspähte, und während dieser ganzen Zeit waren sie hilflos, ohne jede Antriebsenergie. Er schaltete seinen Außenscheinwerfer ein und suchte das nun dunkle Segel mit dem Lichtstrahl ab. Schon begannen die zahllosen Quadratmeter des hauchdünnen Materials zu knittern und zu erschlaffen. Die Ver-
spannungsleinen gaben nach, und sie mußten gestrafft werden, damit sie sich nicht ineinander verwickelten. Aber das alles hatte er ja erwartet; alles verlief so wie geplant. Acht Kilometer hinter ihm waren die Arachne und Santa Maria nicht so glücklich dran. Merton erfuhr von ihren Sorgen, als das Funkgerät über den Notstromkreis lebendig wurde. »Nummer zwei und Nummer sechs, hier spricht die Rennleitung. Sie sind auf Kollisionskurs. In fünfundsechzig Minuten werden sich Ihre Orbits überschneiden. Brauchen Sie Hilfe?« Es folgte eine lange Pause, denn die beiden Skipper mußten erst diese schlechte Nachricht verdauen. Merton überlegte sich, wer daran wohl die Schuld haben mochte. Vielleicht hatte die eine Jacht die andere in den Schatten zu bringen versucht, ohne jedoch das Manöver vollenden zu können, ehe sie beide von der Finsternis eingefangen wurden. Und jetzt konnten sie nichts mehr tun. Langsam aber sicher bewegten sie sich aufeinander zu und konnten keine Kurskorrektur vornehmen. Aber noch fünfundsechzig Minuten! Die reichten gerade, um sie wieder ins Sonnenlicht zu bringen, wenn sie aus dem Erdschatten kamen. Sie hatten eine winzige Chance, wenn ihre Segel genug Energie auffangen konnten, um die Kollision zu vermeiden. An Bord der Arachne und Santa Maria stellte man jetzt wohl fieberhafte Berechnungen an. Die Arachne meldete sich zuerst, und die Antwort fiel so aus, wie Merton erwartet hatte. »Nummer sechs an Rennleitung. Wir brauchen keine Hilfe, vielen Dank. Wir werden selbst damit fertig.« Nun, das möchte ich sehen, überlegte Merton, aber es war mindestens sehr interessant, die Sache zu beobachten. Das erste richtige Drama dieses Rennens bahnte sich an, genau über der Mitternachtslinie der schlafenden Erde. Die nächste Stunde war mit Arbeiten am eigenen Segel ausgefüllt, und Merton konnte sich nicht um die Arachne und Santa Maria kümmern. Dreitausend Quadratmeter hauchdünnen Materials in einer stockdunklen Nacht zu überwachen, die nur von seinem Scheinwerfer und den schwachen Strahlen des fernen Mondes notdürftig erhellt war, kostete einige
Mühe. Von jetzt an mußte er diese ungeheure Fläche im rechten Winkel zur Sonne stellen, denn in den nächsten zwölf oder vierzehn Stunden war sie nutzlos, weil er direkt auf die Sonne zusegelte, und deren Strahlen würden ihn dann ja nur auf seiner Umlaufbahn zurücktreiben. Schade eigentlich, daß er das Segel nicht ganz einziehen oder zusammenfalten konnte, bis er es wieder brauchte; bisher hatte noch niemand ein brauchbares Verfahren dafür gefunden. Weit unten zeigte sich an den Rändern der Erde die erste Dämmerung. In zehn Minuten mußte die Sonne wieder aus dem Erdschatten herauskommen. Die dahintreibenden Jachten würden zu vollem Leben erwachen, sobald die Strahlung wieder ihre Segel traf. Das war dann für die Arachne und die Santa Maria der kritische Punkt, eigentlich auch für die anderen. Merton schwenkte das Periskop herum, bis er die zwei vor den Sternen treibenden dunklen Schatten ausmachen konnte. Die Entfernung zwischen ihnen war außerordentlich gering, wohl kaum mehr als fünf Kilometer. Wenn sie Glück hatten, konnten sie es gerade noch schaffen… Der voll einsetzende Lichtwechsel war wie eine Explosion am Rand der Erde, als die Sonne hinter dem Pazifik emporstieg. Die Segel und Verspannungsleinen glühten für einen Moment tiefrot, dann golden und schließlich im reinen weißen Licht des Tages. Die Nadeln der Dynamometer bewegten sich vom Nullpunkt weg – aber nur eine Spur. Die Diana war fast gewichtslos, denn mit langgestelltem Segel betrug die Beschleunigung nur ein paar Millionstel G. Aber die Arachne und die Santa Maria mußten alles an Segelfläche einsetzen, was sie hatten, um die Kollision zu vermeiden. Nun betrug ihr Abstand nicht einmal mehr drei Kilometer, und die schimmernden Plastikwolken dehnten sich unter dem ersten sanften Anprall der Sonnenstrahlen nur mit tödlicher Langsamkeit aus. Auf fast allen TV-Schirmen der Erde ließ sich dieses Drama in allen Einzelheiten beobachten; selbst jetzt noch, praktisch in letzter Minute, konnte über den Ausgang nichts gesagt werden. Die zwei Skipper waren ziemlich stur. Jeder hätte die Segel kappen und damit dem anderen eine Chance geben können, aber keiner tat es. Zuviel Prestige, zu viele Millionen, zuviel Reputation standen auf dem Spiel.
Und so stießen die Arachne und die Santa Maria lautlos und sanft wie Schneeflocken in einer Winternacht zusammen. Der quadratische Drachen kroch fast unmerklich in das runde Spinnennetz hinein. Die langen Bänder der Verspannungen verwirrten sich miteinander mit der Langsamkeit eines Traums. Selbst Merton, der an Bord seiner Diana mit den eigenen Leinen voll beschäftigt war, konnte seine Augen nicht von diesem Unheil abwenden, das sich im Zeitlupentempo abspielte. Mehr als zehn Minuten lang waren die sich blähenden, schimmernden Wolken eine unentwirrbare Masse. Dann rissen sich die Mannschaftskapseln los und setzten sich ab; die Raketen der Rettungsschiffe wurden gezündet; sie rasten heran, um die Havarierten aufzunehmen. Jetzt sind wir noch fünf, dachte Merton. Die beiden Skipper taten ihm leid, die einander so gründlich ausgeschaltet hatten; der Start lag doch erst einige Stunden zurück. Nun, beide waren noch jung und würden eines Tages wieder an den Start gehen können. Innerhalb weniger Minuten waren sie nur noch zu viert. Von Anfang an hatte Merton hinsichtlich der langsam rotierenden Sunbeam seine Zweifel gehabt, und jetzt sah er sie bestätigt. Das Marsschiff schien eine zu wenig elastische Verspannung zu haben, so daß also die Drehbewegung zuviel Stabilität erzeugt hatte. Das riesige Ringsegel drehte sich mit der vollen Fläche zur Sonne. Fast mit Höchstbeschleunigung wurde sie auf ihrem Kurs zurückgeblasen. Das war ungefähr das größte Pech für einen Skipper, noch schlimmer als eine Kollision, denn die Schuld daran hatte nur er selbst. Aber für die enttäuschten Kolonisten empfand wohl kaum jemand großes Mitleid, als sie langsam zurückfielen; sie hatten sich vor Beginn des Rennens zu sehr aufgespielt, und was dann geschah, war eine Art poetischer Gerechtigkeit. Abschreiben konnte man die Sunbeam jedoch noch nicht. Bei einer Strecke von fast einer Million Kilometern konnte sie durchaus wieder aufholen, und wenn es noch ein paar Ausfälle gab, war es durchaus möglich, daß sie als einzige das Rennen beendete. Solche Zufälle kamen öfter vor.
In den nächsten zwölf Stunden passierte nichts, nur daß sich die Erde von einer nachtschwarzen Scheibe zum schönen, vollen Planeten wandelte. Es gab nicht viel zu tun, als die kleine Flotte ihren antrieblosen halben Orbit beschrieb, aber Merton wurde es nie langweilig. Er schlief ein paar Stunden, nahm einige Mahlzeiten zu sich, schrieb sein Logbuch und gab einige weitere Funkinterviews. Manchmal, wenn auch nicht sehr häufig, unterhielt er sich mit den anderen Skippern; sie tauschten Grüße und freundlich gemeinte Sticheleien aus. Meistens genoß er es, daß er schwerelos und fast gemütlich dahintrieb und die ganzen Sorgen der Erde hinter sich gelassen hatte. So glücklich und zufrieden hatte er sich lange nicht mehr gefühlt. Er war, soweit ein Mann im Raum das überhaupt sein konnte, Herr seines eigenen Schicksals und segelte ein Schiff, auf das er so viel Geschicklichkeit und Sorgfalt, so viel Liebe verwandt hatte, daß es zu einem Teil von ihm selbst geworden war. Der nächste Zwischenfall passierte, als sie die Linie zwischen Erde und Sonne durchliefen und in die Orbithälfte mit Antrieb eintraten. An Bord der Diana sah Merton, wie sich das riesige Segel spannte, als es sich neigte, um die Sonnenstrahlen aufzufangen, die es antrieben. Die Beschleunigung stieg ein wenig an, wenn es auch noch Stunden dauern würde, bis die Maximalwerte erreicht waren. Die Gossamer würde diese Werte nie mehr erreichen. Der Moment, da die Kraft der Sonne sich wieder bemerkbar machte, war immer kritisch, und diesen Moment überlebte sie nicht. Blairs Funkkommentar, den Merton leise hatte laufen lassen, alarmierte ihn mit dem Ruf: »Hallo, die Gossamer hat eine Gänsehaut!« Er eilte ans Periskop, aber im Moment konnte er noch nichts erkennen, was an der runden Scheibe des Segels der Gossamer nicht in Ordnung gewesen wäre. Es war ja auch nicht leicht, denn sie stand fast im rechten Winkel zu ihm und erschien ihm als Ellipse; aber dann war allmählich deutlich zu sehen, daß sich das Segel in langsamen Wellen vor und zurück bewegte. Wenn die Mannschaft diese Wellenbewegung nicht zum Stillstand bringen konnte, indem sie ganz genau dosiert und sehr sanft an den Verspannungsleinen zog, dann mußte das Segel in Fetzen zerreißen. Sie taten, was sie konnten, und nach zwanzig Minuten sah es fast so aus, als hätten sie Erfolg gehabt. Aber dann begann irgendwo in der Nä-
he des Mittelpunktes die dünne Kunststoffhaut zu reißen. Der Strahlungsdruck trieb sie langsam nach außen, und sie wehte wie dünner Rauch über einem Feuer in die Höhe. Innerhalb einer Viertelstunde war nichts mehr übrig als die dünnen von der Mitte ausgehenden Verspannungen, die das große Netz gehalten hatten. Ein Rettungsschiff raste heran und nahm die Kapsel der Gossamer mit ihrer enttäuschten Besatzung auf. »Allmählich wird es hier oben ein bißchen einsam, nicht wahr?« bemerkte eine gleichmütige Stimme über die Schiff-zu-Schiff-Sprechanlage. »Nicht für dich, Dimitri«, erwiderte Merton. »Du hast am Ende des Feldes ja noch Gesellschaft. Bei mir hier vorn ist es am einsamsten.« Das war keine leere Prahlerei, denn um diese Zeit lag die Diana fast fünfhundert Kilometer vor dem nächsten Konkurrenten, und in den folgenden Stunden müßte sich die Entfernung noch vergrößern. An Bord der Lebedew lachte Dimitri Markoff gutmütig. Merton dachte für sich, daß er absolut nicht den Eindruck eines Mannes machte, der sich schon geschlagen gab. »Denk an die Geschichte vom Igel und dem Hasen«, sagte der Russe. »Auf den nächsten hunderttausend Kilometern kann eine ganze Menge passieren.« Es dauerte gar nicht so lange, denn als sie ihren ersten Umlauf um die Erde vollendet hatten und die Startlinie wieder überschritten, wenn auch etliche tausend Kilometer hoher, da bekam Merton von seinem Computer Zahlen geliefert, die er einfach nicht glaubte. Er fütterte ihn also erneut mit den Sichtdaten der anderen Jachten – und da bestätigten sich auch schon die Computerdaten. Die australasische Woomera holte mit einer phantastischen Geschwindigkeit auf. Keine Sonnenjacht konnte eine solche Beschleunigung erzielen, wenn nicht… Ein rascher Blick durch das Periskop gab ihm die Antwort. Die Verspannung der Woomera, die ganz außerordentlich knapp gehalten war, hatte nachgegeben. Es war ihr Segel allein, das noch die Form hielt und hinter ihm dahergerast kam wie ein vom Wind geblähtes Taschentuch. Zwei Stunden später flatterte es in etwa dreißig Kilometer Entfernung an
ihm vorbei. Schon lange vorher war die Mannschaft an Bord des Kampfrichterschiffes eingetroffen. Jetzt war es also noch ein Duell zwischen der Diana und der Lebedew, die Marskolonisten hatten zwar noch nicht aufgegeben, aber sie lagen mindestens tausendfünfhundert Kilometer zurück und stellten keine Bedrohung mehr dar. Es ließ sich nicht leicht erraten, was die Lebedew jetzt tun könnte, um der Diana die Führung abzunehmen; aber während der ganzen zweiten Erdumrundung, durch den Erdschatten und auf der langen, langsamen Drift gegen die Sonne, fühlte sich Merton zunehmend beunruhigt. Er kannte die russischen Piloten und Konstrukteure. Seit zwanzig Jahren hatten sie dieses Rennen zu gewinnen versucht, und nach aller Mühe, die sie sich gegeben hatten, war es auch fair, daß sie gewannen; Piotr Nikolajewitsch Lebedew war nämlich der erste Mensch gewesen, der zu Beginn des Zwanzigsten Jahrhunderts den Druck des Sonnenlichtes entdeckt hatte. Gewonnen hatten sie allerdings bisher noch nie. Sie würden aber niemals aufhören, es zu versuchen. Dimitri hatte etwas vor, und es würde spektakulär werden. Tausendfünfhundert Kilometer hinter den Rennjachten musterte Kommodore van Stratten im Boot der Rennleitung finster das Radiogramm; es hatte einen Weg von fast 200 Millionen Kilometer zurückgelegt und stammte von der Kette der Sonnenobservatorien, die hoch über der gleißenden Sonnenoberfläche hingen. Es brachte die schlechtesten Nachrichten, die man sich denken konnte. Der Kommodore – sein Titel war natürlich nur ehrenhalber, denn auf der Erde war er Professor für Astrophysik in Harvard – hatte fast damit gerechnet. Noch nie vorher war ein solches Rennen so spät im Jahr angesetzt worden. Es hatte zu viele Verzögerungen gegeben, und man hatte sich dann im Grunde auf ein Glücksspiel eingelassen, und jetzt, so schien es, sollten alle verlieren. Tief im Bauch der Sonne sammelten sich enorme Kräfte. Jeden Moment konnten die Energien von einer Million Wasserstoffbomben in einer furchtbaren Explosion aufbrechen, die man als Sonnenfackel
kennt. Mit einer Geschwindigkeit von etlichen Millionen Kilometern pro Stunde stieg ein unsichtbarer Energieball von mehrfacher Erdengröße aus der Sonne, um in den Raum zu jagen. Die Wolke elektrifizierter Gase brauchte die Erde nicht zu treffen; schlug sie aber die Richtung ein, dann müßte sie in etwas mehr als einem Tag ankommen. Raumschiffe konnten sich selbst schützen, denn sie hatten ihren Strahlenschild und überdies einen sehr wirksamen magnetischen Schutz. Aber die sehr leicht konstruierten Sonnenjachten mit ihren papierdünnen Wänden waren einer solchen Drohung gegenüber hilflos. Man mußte die Mannschaften abziehen und das Rennen abbrechen. John Merton wußte davon nichts, als er die Diana zum zweitenmal um die Erde brachte. Wenn alles gut ging, war dies die letzte Umrundung, wenigstens für ihn und den Russen. In weiten Spiralen waren sie Tausende von Kilometern nach außen gezogen, um möglichst viel Sonnenenergie aufzunehmen. Mit dieser Geschwindigkeit konnten sie das Schwerefeld der Erde verlassen und sich auf die Reise um den Mond machen. Das Rennen war jetzt ein richtiger Zweikampf, denn die Mannschaft der Sunbeam hatte schließlich erschöpft aufgegeben, nachdem sie auf mehr als hunderttausend Kilometern vergeblich mit ihrem Drehsegel gekämpft hatte. Merton fühlte sich nicht müde; er hatte gegessen und gut geschlafen, und die Diana benahm sich bewundernswert. Der Autopilot, der wie eine emsige kleine Spinne die Leinen gespannt hielt, richtete das riesige Segel viel genauer nach der Sonne aus als es ein menschlicher Skipper je hätte tun können. Obwohl jetzt schon die 3000 Quadratmeter dünnsten Plastiksegels von zahllosen Mikrometeoriten, winzigsten Staubpartikeln, durchlöchert sein mußten, hatte er noch keinen Leistungsabfall zu verzeichnen. Er hatte nur zwei Sorgen: Die eine war die Verspannungsleine 8, die nicht mehr exakt nachgezogen werden konnte. Ohne jede Vorwarnung hatte die kleine Winde den Dienst eingestellt. Auch noch nach vielen Jahren astronautischer Erfahrung kam es vor, daß sich ein Material im Vakuum ausdehnte. Er konnte also diese Leine nicht mehr verlängern oder verkürzen, und deshalb mußte er so gut wie möglich mit den anderen navigieren. Zum Glück waren die schwersten Manöver schon vor-
über. Von jetzt an hatte die Diana die Sonne hinter sich und segelte vor dem Sonnenwind. Die Segelschiffkapitäne aus alter Zeit hatten oft gesagt, ein Boot sei dann am leichtesten zu segeln, wenn der Wind über die Schulter blies. Die andere Sorge war die Lebedew, die nur fünfhundert Kilometer hinter ihm lag. Die russische Jacht hatte sich als bemerkenswert manövrierfähig erwiesen, denn die vier großen Segelflächen konnten um das Mittelsegel herum geneigt werden. Die Manöver bei der Erdumrundung waren mit bewundernswerter Präzision ausgeführt worden. Dafür hatte sie allerdings Geschwindigkeit opfern müssen; beides konnte man nicht haben. Mit der langen Geraden vor sich mußte Merton seine eigene Geschwindigkeit halten können. Trotzdem hatte er den Sieg erst dann in der Tasche, wenn er in drei oder vier Tagen mit der Diana als erster über die Nachtseite des Mondes zog. In der fünfzigsten Stunde des Rennens, genau nach der zweiten Erdumrundung, präsentierte Markoff seine kleine Überraschung. »Hallo, John«, meldete er sich im Ton netter Unterhaltung über die Schiff-zu-Schiff-Sprechanlage. »Es wäre mir recht, wenn du jetzt aufpassen würdest. Es dürfte interessant werden.« Merton schwebte vor das Periskop und stellte es auf stärkste Vergrößerung ein. Vor dem Hintergrund der Sterne stand das Malteserkreuz der Lebedew klein, aber klar sichtbar in seinem Blickfeld. Während er zuschaute, lösten sich die vier Arme langsam vom Mittelquadrat und trieben mit der gesamten Verspannung in den Raum. Markoff hatte alles an nicht absolut lebenswichtiger Masse abgestoßen, weil er nicht mehr länger um die Erde pflügen mußte, sondern sich der Fluchtgeschwindigkeit näherte. Bei seinen Erdumläufen hatte er ja genug Antriebskraft angesammelt. Von jetzt an war die Lebedew praktisch nicht mehr zu steuern, doch das spielte keine Rolle mehr, da die schwierigen Navigationsmanöver hinter ihr lagen. Es war etwa so, als habe ein Jachtkapitän alten Stils seine Ruder und den schweren Kiel abgeworfen, weil er wußte, daß der Rest des Rennens vor dem Wind über eine ruhige See lief. »Meinen Glückwunsch, Dimitri«, rief Merton. »Ein interessanter Trick. Aber er ist nicht sehr gut. Jetzt kannst du mich nicht mehr einholen.«
»Ich bin noch nicht fertig«, antwortete der Russe. »In meinem Land gibt es eine alte Geschichte über einen Schlitten, der von Wölfen gejagt wird. Der Kutscher muß einen Fahrgast nach dem anderen hinauswerfen. Erkennst du die Analogie?« Das tat Merton natürlich; auf der Endgeraden brauchte Dimitri seinen Kopiloten nicht mehr. Die Lebedew konnte also allen Ballast abwerfen. »Alexis wird darüber aber gar nicht glücklich sein«, erwiderte Merton. »Und außerdem ist es gegen die Regeln.« »Alexis ist wirklich nicht glücklich, aber der Skipper bin ich. Er braucht ja höchstens zehn Minuten zu warten, bis ihn der Kommodore aufliest. Und die Regeln schreiben nicht vor, wie groß die Mannschaft sein muß. Du solltest das doch am besten wissen.« Darauf antwortete Merton nichts; er mußte ein paar ganz eilige Berechnungen anstellen, die auf dem beruhten, was er von der Konstruktion der Lebedew wußte. Als er damit fertig war, wußte er auch, daß das Rennen noch immer offen war. Die Lebedew würde etwa um die Zeit aufholen, wenn er am Mond vorbeizuziehen hoffte. Aber das Rennen war an einer Stelle, die 150 Millionen Kilometer entfernt lag, schon entschieden worden.
Im Sonnenobservatorium III, weit innerhalb der Kreisbahn des Merkur, hatten die automatischen Instrumente die ganze Geschichte der Sonnenfackel aufgezeichnet. Hundertfünfzig Millionen Quadratkilometer der Sonnenoberfläche explodierten in einer solchen blau-weißen Heftigkeit, daß der Rest der Sonnenscheibe vergleichsweise blaß und trüb wirkte. Aus diesem brodelnden Inferno wand und drehte sich wie ein Lebewesen mit einem eigenen magnetischen Kraftfeld das elektrifizierte Plasma der riesigen Fackel. Ihr voraus lief ein Warnblitz aus ultravioletten und Röntgenstrahlen. Dieser Blitz würde die Erde in acht Minuten erreichen, war aber relativ harmlos. Das konnte man von den aufgeladenen Atomen jedoch nicht behaupten, die mit ihren vergleichsweise lässigen sechs Millionen Kilometern pro Stunde folgten und in etwas mehr als einem
Tag die Diana, die Lebedew und die kleine Begleitflotte in eine Wolke tödlicher Strahlung hüllen würden. Der Kommodore schob seine Entscheidung bis zur letzten, allerletzten Minute hinaus. Als schon die Spitze der Plasmawolke die Umlaufbahn der Venus gekreuzt hatte, gab es noch immer eine Möglichkeit, daß sie die Erde gar nicht berühren würde. Doch dann war sie nur noch vier Stunden entfernt, und die Radaranlagen der Mondbasen hatten sie schon registriert; da wußte er dann, daß es keine Hoffnung mehr gab. Mit dem Sonnensegeln war für die nächsten vier oder fünf Jahre Schluß, bis sich die Sonne wieder beruhigt hatte. Durch das ganze Sonnensystem ging ein Seufzer der Enttäuschung. Die Diana und die Lebedew befanden sich etwa halbwegs zwischen Erde und Mond und liefen praktisch Kopf an Kopf; niemand würde jetzt mehr erfahren, welches nun das bessere Boot war. Die Enthusiasten würden jahrelang darüber streiten, doch die Geschichte konnte nur melden: Rennen wegen eines Sonnensturms abgebrochen. Als John Merton den Befehl erhielt, überfiel ihn eine Enttäuschung, wie er sie seit den Tagen seiner Kindheit nicht mehr gekannt hatte. Die Erinnerung an seinen zehnten Geburtstag war scharf und klar. Er hatte sich ein kleines, sehr genaues und maßstabsgetreues Modell des berühmten Raumschiffes Morning Star gewünscht, und es war ihm auch versprochen worden. Wochenlang hatte er geplant, wie er es selbst zusammenbauen und wo er es in seinem Schlafzimmer aufhängen wollte. Und dann hatte ihm sein Vater im allerletzten Moment gesagt: »Tut mir leid, John, es ist viel zu teuer. Vielleicht nächstes Jahr…« Ein halbes, erfolgreiches Jahrhundert war seither vergangen, und jetzt war er wieder ein kleiner Junge mit gebrochenem Herzen. Einen Augenblick lang spielte er mit dem Gedanken, dem Befehl nicht zu gehorchen. Angenommen, er segelte weiter und ignorierte die Warnung? Selbst wenn das Rennen abgebrochen war, konnte er zum Mond segeln, und das würde dann für einige Generationen ein Rekord bleiben. Aber das wäre mehr als eine abgrundtiefe Dummheit gewesen, genau gesagt: reiner Selbstmord, sogar eine recht unerfreuliche Art von Selbstmord. Er hatte gesehen, wie Männer an Strahlenvergiftungen starben,
wenn die Magnetschilde ihrer Schiffe im Raum versagt hatten. Nein, das war es nicht wert… Dimitri Markoff tat ihm ebenso leid wie er sich selbst. Beide hatten sie den Sieg verdient, und jetzt würde keiner gewinnen. Mit der Sonne und einem ihrer Ausbrüche konnte kein Mensch streiten, und mochte er hundertmal auf ihren Strahlen bis zum Rand ihres Einflußbereichs reiten. Nur achtzig Kilometer hinter ihm ging das Boot des Kommodore an der Lebedew längsseits, um den Skipper zu übernehmen. Da flog Dimitris Silbersegel davon, als er – mit Gefühlen, die er teilen würde – die Verspannung durchschnitt. Die winzige Kapsel wurde zur Erde zurückgebracht, um vielleicht wieder verwendet zu werden; aber das Segel war nur für eine einzige Reise gespannt. Jetzt konnte er selbst den Knopf drücken, um seine Kapsel abzusprengen und seinen Rettern ein paar Minuten Zeit zu ersparen. Aber er brachte es nicht fertig. Er wollte bis zum letzten Augenblick in seinem kleinen Boot bleiben, das Gegenstand aller Träume seines Lebens gewesen war. Das riesige Segel stand nun im richtigen Winkel zur Sonne, so daß es das Höchstmaß an Energie aufnahm. Schon lange vorher hatte er das Schwerefeld der Erde verlassen, und die Diana legte noch immer Geschwindigkeit zu. Dann wußte er plötzlich ganz aus dem Nichts heraus, was er tun mußte. Es gab keinen Zweifel und kein Zögern mehr. Zum letztenmal setzte er sich vor den winzigen Computer, der ihm bisher getreulich gedient hatte. Als er fertig war, packte er sein Logbuch und seine paar persönlichen Habseligkeiten. Ein wenig mühsam, denn er hatte seit Tagen ja kaum mehr eine Bewegungsmöglichkeit gehabt, kletterte er allein in seinen Rettungsanzug; allein war das sowieso nicht leicht. Er schloß gerade den Helm, als ihn die Stimme des Kommodore über Funk anrief. »Wir sind in fünf Minuten längsseits, Kapitän. Bitte, kappen Sie die Segel, damit wir nicht darin hängenbleiben.« John Merton, der erste und letzte Skipper der Sonnenjacht Diana, zögerte einen Moment. Zum letztenmal schaute er sich in der winzigen Kabine um, musterte die glänzenden Instrumente und die schön angeordneten Steuergeräte, die nun alle in Stellung gebracht und mit Sperren
versehen waren. Dann sagte er ins Mikrophon: »Ich verlasse die Kapsel. Lassen Sie sich Zeit, mich aufzunehmen. Die Diana fliegt allein weiter.« Der Kommodore antwortete nicht, und dafür war Merton dankbar. Professor van Stratten konnte sich vielleicht denken, was nun geschehen würde – und er wußte dann sicher auch, daß er in diesen letzten paar Momenten in Ruhe gelassen werden wollte. In der Luftschleuse machte er keine Umstände, und der Druck der entweichenden Luft blies ihn sanft in den Raum hinaus. Der Schub, den er der Diana damit gab, war sein letztes Geschenk an sie. Sie schoß davon, und ihr Segel glänzte prachtvoll im Sonnenlicht, das ihr nun in den nächsten Jahrhunderten gehören würde. In zwei Tagen würde sie am Mond vorbeifliegen, aber der Mond konnte sie, ebensowenig wie die Erde, je einfangen. Ohne seine Masse, die sie abbremste, würde sie dreitausend Kilometer pro Stunde täglich an Geschwindigkeit zunehmen, und in einem Monat reiste sie schneller als ein Schiff, das je von Menschenhand gebaut worden war. Wenn sie sich dann von der Sonne entfernte und die Kraft ihrer Strahlung damit nachließ, würde auch die Beschleunigung nachlassen; doch noch in der Umlaufbahn des Mars würde sie täglich 1500 Kilometer Geschwindigkeit zulegen. Und schon lange vorher würde ihre Geschwindigkeit so groß sein, daß nicht einmal mehr die Sonne sie einfangen konnte. Schneller als ein Komet, der je von den Sternen her das All durchstreifte, würde sie dem schwarzen Abgrund des Raumes entgegenrasen. Grelle Raketenflammen in ein paar Kilometer Entfernung drangen in Mertons Bewußtsein. Das Boot näherte sich, um ihn aufzunehmen – mit einer Beschleunigung, die tausendmal größer war als die der Diana. Aber die Raketen brannten nur ein paar Minuten lang, dann war ihr Treibstoffvorrat erschöpft. Aber die Diana wurde immer schneller, wurde von der ewigen Kraft der Sonne weitergetrieben, viele, viele Jahre lang… »Leb wohl, kleines Schiff«, sagte John Merton. »Welche Augen werden dich in tausend Jahren einmal sehen?« Als dann die Nase des torpedoförmigen Bootes neben ihm auftauchte, hatte er seinen Frieden mit dem Schicksal gemacht. Das Rennen zum Mond würde er nun niemals gewinnen, aber seine Sonnenjacht war das
erste von Menschenhand gebaute Schiff, das Segel gesetzt hatte für die lange Reise zu den Sternen. Originaltitel: THE WIND FROM THE SUN (Mai 1963)
FROHE BOTSCHAFT Henry Cooper war schon fast zwei Wochen auf dem Mond, als er entdeckte, daß irgend etwas nicht stimmte. Zuerst war es nur ein vager Verdacht, eine Ahnung, die ein nüchterner Fachjournalist nicht allzu ernst nahm. Schließlich war er ja auf Veranlassung der United Nations Space Administration hergekommen. Die UNSA hielt sehr viel von Public Relations, besonders bevor das Budget ausgehandelt wurde, da doch eine übervölkerte Welt nach mehr Straßen, Schulen und Meeresfarmen schrie und sich über die Milliarden aufregte, die in den Raum geschossen wurden. Deshalb machte er nun zum zweitenmal die Mondrundreise und funkte täglich zweitausend Wörter zur Erde. Den Glanz der Neuheit hatte der Mond schon verloren, aber eine Welt von der Größe Afrikas, die wohl genau kartographiert, aber noch kaum erforscht war, wirkte noch immer recht geheimnisvoll und wunderbar. Nur einen Steinwurf von den Druckkuppeln, den Labors und den Raumhäfen entfernt gähnte eine Leere, die noch einige Jahrhunderte lang die Menschheit herausfordern würde. Natürlich waren einige Gebiete des Mondes schon zuvielen Menschen zu sehr vertraut. Jeder kannte doch die verstaubten Narben im Mare Imbrium und die Metallsäule mit der Plakette, die in den drei offiziellen Sprachen der Erde verkündete: AN DIESER STELLE ERREICHTE AM 13. SEPTEMBER 1959 DER ERSTE GEGENSTAND AUS MENSCHENHAND EINE ANDERE WELT Cooper hatte auch das Grab von Lunik II besucht und die berühmteren Gräber jener Männer, die danach gekommen waren. Aber diese Dinge gehörten alle der Vergangenheit an; sie traten schon wie Kolumbus und die Gebrüder Wright in das Dämmerlicht der Geschichte zurück. Ihn ging nur die Zukunft an. Der Chef-Administrator war offensichtlich froh gewesen, ihn zu sehen, als er seinerzeit auf dem Raumhafen Archimedes gelandet war, und er
hatte sich auch persönlich sehr für seine Tour interessiert. Man stellte Transportmittel bereit, regelte seine Unterbringung und gab ihm einen offiziellen Führer mit; er konnte hingehen, wohin er wollte, und jede Frage stellen. Die UNSA vertraute ihm, denn seine Berichte waren immer sehr genau, seine Haltung absolut positiv gewesen. Und doch war die Tour gründlich daneben gegangen. Er wußte nicht, warum, aber den Grund wollte er noch herausfinden. Er griff nach dem Telefon. »Vermittlung? Bitte, verbinden Sie mich mit der Polizeihauptverwaltung. Ich möchte mit dem General-Inspektor sprechen.« Chandra Coomaraswamy besaß sicher auch eine Uniform, aber Cooper hatte ihn noch nie damit gesehen. Sie trafen einander wie vereinbart am Eingang zu dem kleinen Park, der die ganze Freude und auch der ganze Stolz des Oberhauptes von Plato City war. Am Morgen des künstlichen Vierundzwanzigstundentages lag er ziemlich verlassen da, und man konnte ungestört sprechen. Sie gingen einen schmalen Kiespfad entlang, schwatzten von alten Zeiten, von den Freunden, die sie in ihrer gemeinsamen Collegezeit gehabt hatten, von den letzten Entwicklungen der interplanetaren Politik. Sie waren in der Parkmitte, genau unter der großen blaugestrichenen Kuppel angelangt, als Cooper zu seinem eigentlichen Thema kam. »Du weißt doch alles, was auf dem Mond vorgeht, Chandra«, sagte er. »Und du weißt, daß ich hier bin, um eine Serie für die UNSA zusammenzustellen, aus der vielleicht ein Buch wird, wenn ich zur Erde zurückkehre. Warum versuchen also die Leute, etwas vor mir zu verstecken?« Man konnte Chandra nicht drängen. Er ließ sich immer Zeit für die Beantwortung von Fragen, und die paar Worte, die er dann sagte, kamen nur ganz widerwillig um den Stiel einer handgeschnitzten Pfeife aus seinem Mund. »Welche Leute?« fragte er schließlich. »Du hast keine Ahnung?«
Der Generalinspektor schüttelte den Kopf. »Nicht die leiseste«, antwortete er, und Cooper wußte, daß er die Wahrheit sagte. Chandra schwieg, wenn er nicht antworten wollte, aber wenn er etwas sagte, dann die Wahrheit. »Ich habe schon gefürchtet, daß du das sagen würdest. Nun, wenn du auch nicht mehr weißt als ich, dann ist hier der einzige Schlüssel, den ich habe – und der mir Angst macht. Die Medizinische Forschung hält mich auf Armeslänge von sich weg.« »Hm«, brummte Chandra, nahm die Pfeife aus dem Mund und musterte sie nachdenklich. »Ist das alles, was du dazu zu sagen hast?« »Du hast mir ja auch nicht viel gegeben. Und vergiß nicht, ich bin ja nur ein Polizist. Mir fehlt deine lebhafte journalistische Vorstellungskraft.« »Was ich dir sagen kann, ist dies: Je höher ich in der Medizinischen Forschung nach oben komme, desto kälter wird es. Als ich zum letztenmal dort war, haben sie mir allerhand hübsche Geschichten erzählt und waren außerordentlich freundlich. Und jetzt kann ich nicht einmal mehr den Direktor sehen. Er hat immer zuviel zu tun oder ist auf der anderen Mondseite. Was für ein Mann ist er eigentlich?« »Dr. Hastings? Ein ziemlich kniffliger, widerborstiger Bursche. Ungemein tüchtig, aber es ist nicht leicht, mit ihm zu arbeiten.« »Was könnte er denn zu verstecken versuchen?« »Da ich dich kenne, nehme ich an, daß du einige recht interessante Theorien darüber hast.« »Oh, ich dachte an Drogen, an Betrug, an politische Konspiration – aber heutzutage ist das ja alles unbedeutend. Was dann noch bleibt, jagt mir eine höllische Angst ein.« Chandras Augenbrauen signalisierten ein Fragezeichen. »Eine interplanetare Seuche«, sagte Cooper. »Unmöglich.« »Dachte ich auch. Ich habe ja selbst Artikel geschrieben, in denen ich bewiesen habe, daß die Lebensformen anderer Planeten ganz andere
chemische Grundlagen haben als wir, so daß sie nicht auf uns einwirken können. Unsere Mikroben und Bakterien haben für die Adaption an unsere Körper Millionen von Jahren gebraucht. Aber ich habe mir trotzdem immer Gedanken darüber gemacht, ob das stimmen kann. Angenommen, ein Schiff kommt vom Mars zurück, mit etwas wirklich Gefährlichem an Bord, und die Ärzte stehen hilflos davor?« Es herrschte ein sehr langes Schweigen, ehe Chandra antwortete: »Ich werde mich sofort umhören. Mir gefällt das ja auch nicht, denn jetzt sage ich dir vielleicht etwas, das du nicht weißt. Wir hatten im vergangenen Monat in der Medizinischen Abteilung drei Nervenzusammenbrüche, und das ist absolut nicht üblich.« Er sah auf seine Uhr, dann zum künstlichen Himmel hinauf, der zwar sehr fern zu sein schien, aber nur sechzig Meter über ihren Köpfen hing. »Wir gehen jetzt besser«, schlug er vor. »Der Morgenregen ist in fünf Minuten fällig.« Zwei Wochen später kam dann der Anruf – mitten in der richtigen Mondnacht. In Plato City war es jetzt Sonntag früh. »Henry? Hier spricht Chandra. Kannst du in einer halben Stunde an der Luftschleuse 5 sein? Gut! Ich bin dort.« Cooper wußte, jetzt war es soweit. Luftschleuse 5 hieß, daß sie die Kuppel verlassen würden. Chandra hatte also etwas gefunden. Die Anwesenheit des Polizeifahrers beschnitt die Unterhaltung, als das Kettenfahrzeug sich auf der mit Bulldozern aus Asche und Bimsstein grob herausgeschnittenen Straße von der Stadt entfernte. Im Süden stand eine fast volle Erde, die strahlendes, blaugrünes Licht über die Kraterlandschaft des Mondes warf. Wie sehr man sich auch bemühte, großartig oder wenigstens ansprechend sah der Mond nie aus. Aber die Natur bewahrt ihre größten Geheimnisse auch am besten. Der Mensch muß an solche Orte kommen, um sie herauszufinden. Die zahlreichen Kuppeln der Stadt fielen hinter den scharf gekrümmten Horizont. Nach einer Weile bog das Kettenfahrzeug von der Hauptstraße ab und folgte einer kaum sichtbaren Spur. Zehn Minuten später sah Cooper eine einzige glitzernde Halbkugel, die ein Stück voraus auf
einem Felsrücken stand. Neben dem Eingang war ein Fahrzeug geparkt, das ein großes rotes Kreuz trug. Sie schienen nicht die einzigen Besucher zu sein. Sie kamen auch nicht überraschend. Als sie an der Kuppel vorfuhren, griff die flexible Röhre der Luftschleusenkupplung nach ihnen und rastete an der Außenwand des Kettenfahrzeugs ein. Zischend stellte sich der Druckausgleich her. Dann folgte Cooper Chandra in das Gebäude. Der Luftschleusen-Mechaniker führte sie einen geschwungenen Korridor entlang, dann über einen der radialen Gänge zum Mittelpunkt der Kuppel. Unterwegs sahen sie Laboratorien, wissenschaftliche Instrumente und Computer; alles wirkte sehr gewöhnlich und normal, alles auch sehr verlassen, weil am Sonntagmorgen niemand arbeitete. Ihr Führer brachte sie schließlich in einen großen runden Raum und schloß leise hinter ihnen die Tür. Es war ein kleiner Zoo. Überall standen Käfige, Tanks und Schalen mit einer reichen Auswahl der irdischen Fauna und Flora. Direkt in der Mitte sah ihnen ein kleiner grauhaariger Mann entgegen, der sehr besorgt und sehr unglücklich dreinschaute. »Dr. Hastings«, sagte Coomaraswamy, »ich bringe Ihnen Mr. Cooper.« Er wandte sich an seinen Freund. »Ich habe den Doktor davon überzeugt, daß es nur eine Möglichkeit gibt, Sie zu beruhigen, und das ist die, Ihnen alles zu erzählen.« »Offen gestanden«, antwortete Hastings, »ich weiß noch gar nicht, ob es mir nicht verdammt egal ist.« Seine Stimme klang ziemlich unsicher und kaum mehr beherrscht. Hallo, dachte Cooper, da zeichnet sich ja ein weiterer Nervenzusammenbruch ab… Der Wissenschaftler verschwendete keine Zeit mit Banalitäten wie Händeschütteln, sondern ging zu einem der Käfige, nahm ein kleines Fellbündel heraus und hielt es Cooper hin. »Wissen Sie, was das ist?« fragte er barsch. »Natürlich. Ein Hamster. Das gewöhnlichste Labortierchen.« »Ja. Ein ganz ordinärer Goldhamster. Nur daß dieser hier fünf Jahre alt ist – wie all die anderen in diesem Käfig.« »Und was ist daran so ungewöhnlich?«
»Ah, absolut nichts. Gar nichts… Nur die Kleinigkeit, daß Hamster höchstens zwei Jahre alt werden. Und wir haben einige hier, die marschieren auf die Dekade los.« Niemand sprach eine Weile. Aber im Raum war es nicht still, denn er war angefüllt vom Rascheln, Kratzen, Piepsen, Jammern und all den Geräuschen kleiner Tiere. »Mein Gott!« flüsterte Cooper. »Sie haben also etwas gefunden, das das Leben verlängert!« »Nein«, knurrte Hastings. »Wir haben es nicht gefunden. Der Mond hat es uns geschenkt… Und damit hätten wir rechnen müssen, hätten wir nur ein bißchen über unsere Nasen hinausgeschaut.« Nun schien er wieder Herr seiner Gefühle zu sein, denn er sprach und handelte wie ein Wissenschaftler, den eine Entdeckung um ihrer selbst willen und ohne Rücksicht auf ihre Tragweite faszinierte. »Auf der Erde«, fuhr er fort, »verbringen wir unser ganzes Leben damit, gegen die Schwerkraft anzukämpfen. Sie nützt unsere Muskeln ab und zieht unsere Mägen außer Form. Wie viele Tonnen Blut durch wie viele Kilometer Adern pumpt unser Herz in siebzig Jahren? Und hier auf dem Mond wird diese ganze Schwerarbeit auf ein Sechstel reduziert, wo ein Mann von hundertachtzig Pfund nur dreißig wiegt.« »Ah, ich verstehe«, sagte Cooper nachdenklich. »Zehn Jahre für einen Hamster – wie lange dann für einen Menschen?« »Es ist kein ganz einfaches Gesetz«, erklärte Hastings. »Das kommt ganz auf Größe und Spezies an. Noch vor einem Monat wußten wir es nicht sicher. Aber jetzt wissen wir es ziemlich zuverlässig: auf dem Mond beträgt die durchschnittliche Lebenserwartung des Menschen mindestens zweihundert Jahre!« »Und das wollten Sie geheimhalten?« »Sie Narr! Verstehen Sie denn noch immer nicht?« »Nur ruhig, Doktor, nur ruhig«, besänftigte ihn Chandra. Endlich gelang es Hastings, sich wieder zu beruhigen. Er sprach mit so eisiger Ruhe weiter, daß seine Worte wie gefrorene Regentropfen in Coopers Geist sanken.
»Nun, denken Sie doch an die«, sagte er und deutete zur Decke hinauf; niemand auf dem Mond konnte je vergessen, daß immer und überall die Erde über ihnen hing. »Sechs Milliarden Menschen, und alle Kontinente bis zu den Rändern vollgepackt. Jetzt drängen sie sich auch schon auf dem Meeresgrund zusammen. Und hier…« – er deutete auf den Boden – »nur wir hunderttausend auf einer fast leeren Welt. Aber auf einer Welt, wo wir Wunder an Technologie und Ingenieurskunst brauchen, um überhaupt existieren zu können; wo ein Mann nur mit einem IQ von mindestens hundertfünfzig einen Job bekommen kann. Und jetzt stellt sich heraus, daß wir zweihundert Jahre lang leben können. Stellen Sie sich die Reaktion auf diese Enthüllung vor! Das ist jetzt Ihr Problem, Herr Journalist. Sie wollten es wissen, und Sie haben es erfahren. Sagen Sie mir nur bitte eins, denn ich möchte es wirklich gern wissen: Wie wollen Sie den Leuten diese Nachricht beibringen?« Er wartete. Er wartete lange. Cooper machte den Mund auf, schloß ihn aber wieder. Er wußte nicht, was er sagen sollte. Im hintersten Winkel des großen runden Raumes begann ein Affenjunges zu schreien. Originaltitel: THE SECRET (Juni 1963)
DER LETZTE BEFEHL »… Hier spricht der Präsident. Indem Sie mich diese Botschaft verlesen hören, bedeutet es, daß ich tot bin und daß unser Land vernichtet ist. Aber ihr seid Soldaten, die bestausgebildeten Soldaten unserer Geschichte. Ihr wißt, daß ihr Befehlen zu gehorchen habt. Und jetzt müßt ihr dem härtesten gehorchen, der je an euch ergangen ist.« Hart? dachte der erste Radaroffizier verbittert. Nein. Jetzt wird es leicht sein, denn sie hatten gesehen, wie ihr geliebtes Land von der Hitze vieler Sonnen verbrannt wurde. Jetzt konnte es kein Zögern und keine Skrupel mehr geben, wenn man die Rache der Götter auf Schuldige und Unschuldige gleichermaßen herabflehte. Aber warum war nicht viel früher gehandelt worden? »… Ihr wißt, weshalb ihr auf eurer geheimen Umlaufbahn jenseits des Mondes seid. Ein Angreifer, der von eurer Existenz weiß, aber eures Standortes niemals sicher sein kann, würde zögern, einen Angriff auf uns zu starten. Ihr solltet das letzte Abschreckungsmittel sein, weit außerhalb der Reichweite der Erdbebenbomben, welche die Raketen und Granaten in ihren unterirdischen Lagern vernichten und die Atom-U-Boote, die sich in den Seegründen verstecken, zerschmettern. Selbst wenn all unsere Waffen vernichtet wären, könntet ihr noch immer zurückschlagen…« Und das haben sie auch getan, sagte sich der Captain. Er selbst hatte beobachtet, wie ein Licht nach dem anderen auf der großen Operationstafel erlosch, bis keines mehr übrig war. Sehr viele hatten wahrscheinlich ihre Pflicht getan; wenn nicht, dann würde bald er ihre Arbeit vollenden. Nichts, das den ersten Gegenschlag überlebt hatte, würde mehr existieren nach dem, den er jetzt vorbereitete. »Nur durch einen unglücklichen Zufall oder aus Wahnsinn konnte im Angesicht der Drohung, die ihr darstellt, ein Krieg beginnen. Das war die Theorie, für die wir unser Leben gegeben hätten. Und jetzt haben wir aus Gründen, die wir niemals erfahren werden, das Spiel verloren…« Der Chefastronom ließ seine Augen zu der einzigen kleinen Luke an einer Seite des zentralen Kontrollraums schweifen. Ja, sie hatten das Spiel verloren. Dort hing die Erde, ein prachtvoller Silberbogen vor dem
Hintergrund der Sterne. Auf den ersten Blick erschien sie unverändert; nicht aber auf den zweiten, denn die dunkle Seite war nicht mehr dunkel. Wie giftige, phosphoreszierende Flecken wirkten die Flammenseen, die einmal Städte gewesen waren. Jetzt waren es nur noch wenige Flecken, denn es gab kaum mehr etwas, das brennen konnte. Die wohlbekannte Stimme redete noch immer von jenseits des Grabes. Vor wie langer Zeit war diese Botschaft aufgezeichnet worden? überlegte der Signaloffizier. Und welch weitere versiegelte Botschaften enthielt der übermenschliche Kampfcomputer sonst noch? Botschaften, die sie niemals mehr hören würden, weil sie für militärische Lagen galten, die es niemals mehr geben würde? Er löste entschlossen seinen Geist von den Welten, die einmal möglich gewesen wären, um sich der niederschmetternden und noch immer unvorstellbaren Realität zu stellen. »… Wären wir nur besiegt, aber nicht vernichtet worden, hätten wir hoffen können, eure Existenz als Verhandlungsgrundlage zu verwenden. Jetzt wurde uns sogar diese magere Hoffnung genommen und mit ihr der letzte Sinn, für den wir euch in den Raum geschickt haben.« Was soll das heißen? dachte der Waffenmeister. Jetzt war doch sicher der Moment ihrer Bestimmung gekommen. Die Millionen, die tot waren, und jene, die es zu sein wünschten – alle würden sie gerächt werden, wenn die schwarzen Zylinder der Gigatonbomben in Spiralen zur Erde hinabsausten. Es war fast so, als habe der Mann, der jetzt schon Staub war, seine Gedanken gelesen. »… Ihr wundert euch, warum ich jetzt, da alles so gekommen ist, nicht den Befehl zum Zurückschlagen gegeben habe. Ich werde euch sagen, warum. Jetzt ist es zu spät. Die Abschreckung hat versagt. Unser Vaterland existiert nicht mehr, und Rache kann uns unsere Toten nicht mehr zurückbringen. Die Hälfte der Menschheit ist ausgerottet. Nun auch noch die andere Hälfte zu vernichten, wäre Wahnsinn, denkender Menschen unwürdig. Die Zwistigkeiten, die uns noch vor vierundzwanzig Stunden gespalten haben, sind jetzt bedeutungslos geworden. Soweit eure Herzen dies zulassen, müßt ihr die Vergangenheit vergessen.
Ihr habt die Fähigkeiten und das Wissen, die ein bis zum Grund erschütterter Planet verzweifelt nötig hat. Benützt sie – ohne Bosheit, ohne Bitterkeit – um die Welt wieder aufzubauen. Ich habe euch gewarnt, daß eure Pflicht hart sein wird, aber hier ist mein letzter Befehl. Ihr werdet eure Bomben in den tiefen Raum abschießen und sie zehn Millionen Kilometer von der Erde entfernt zur Detonation bringen. Das wird unserem früheren Feind beweisen, daß ihr eure Waffen weggelegt habt. Auch er wird diese Botschaft erhalten. Dann habt ihr noch etwas zu tun. Männer von Fort Lenin, der Präsident des Obersten Sowjet sagt euch Lebewohl und befiehlt euch, daß ihr euch den Vereinigten Staaten zur Verfügung stellt.« Originaltitel: THE LAST COMMAND (Juni 1963)
GEBURTSSTUNDE Am 1. Dezember 1975 um 1 Uhr 50 Greenwich-Zeit läuteten sämtliche Telefone auf der ganzen Welt. Eine Viertelmilliarde Menschen nahmen den Hörer ab, um ein paar Sekunden verblüfft oder verärgert zu lauschen. Jene, die mitten in der Nacht aufgeweckt worden waren, nahmen an, daß irgendein weit entfernter Freund über die Satelliten-Telefonzentrale anrief, denn sie war am Tag vorher mit einem gewaltigen Reklamewirbel in Dienst gestellt worden. Aber es war keine Stimme zu vernehmen, nur ein Geräusch, das den einen wie das Rauschen der See vorkam, den anderen wie die Schwingungen von Harfensaiten im Wind. Und noch viel mehr Menschen gab es in diesem Moment, die an ein geheimnisvolles Geräusch aus ihrer Kindheit dachten, an das des pulsenden Blutes, das man hört, wenn man eine Meeresmuschel auf das Ohr drückt. Was immer es war, es dauerte nicht länger als zwanzig Sekunden. Dann wurde es vom normalen Wählton abgelöst. Die meisten fluchten, murmelten »falsch verbunden« und legten auf. Einige versuchten sich zu beschweren, aber die Nummer war belegt. Ein paar Stunden später hatten alle den Vorfall wieder vergessen – bis auf jene, deren Pflicht es war, sich wegen solcher Dinge graue Haare wachsen zu lassen. Bei der Forschungsstation der Post waren den ganzen Vormittag hindurch Überlegungen angestellt worden, aber erreicht hatte man nichts. Die Debatten gingen während der Mittagszeit weiter, als die hungrigen Ingenieure in das kleine Cafe gegenüber strömten. »Ich glaube«, sagte der Elektronikstatiker Willy Smith, »daß dies nur eine wandernde Stromwelle war, die ausgelöst wurde, als die Satellitenzentrale eingeschaltet wurde.« »Offensichtlich war es etwas, das mit dem Satelliten zu tun hat«, pflichtete ihm Jules Reyner, der Fachmann für Schaltkreise, bei. »Aber warum dann die zeitliche Verzögerung? Eingeschaltet wurde der Satellit um Mitternacht, und geläutet hat es dann überall fast zwei Stunden später. Das wissen wir ja aus eigener Erfahrung.« Er gähnte betont.
»Was meinen Sie, Doc?« fragte Bob Andrews, der ComputerProgrammierer. »Sie haben den ganzen Morgen hindurch den Mund nicht aufgemacht. Sie haben doch sicher eine Idee, oder?« Dr. John Williams, Direktor der Mathematischen Abteilung, rutschte unbehaglich auf dem Stuhl herum. »Ja«, meinte er. »Die habe ich schon. Aber ihr werdet sie alle nicht ernst nehmen.« »Ist doch egal. Selbst wenn sie so verrückt ist wie die Science-FictionMärchen, die Sie unter einem Pseudonym schreiben, könnte es uns vielleicht doch auf die richtige Spur bringen.« Williams wurde ein wenig rot, denn jeder kannte seine Geschichten, und er brauchte sich ihrer nicht zu schämen. Schließlich waren sie ja auch als Buch herausgekommen. »Na schön«, sagte er und zeichnete Männchen auf das Tischtuch. »Darüber habe ich schon seit Jahren nachgedacht. Habt ihr euch je überlegt, welche Analogie zwischen einer automatischen Telefonvermittlung und dem menschlichen Gehirn besteht?« »Wer hat darüber nicht schon nachgedacht«, spöttelte einer seiner Zuhörer. »Die Idee geht doch schon auf Graham Bell zurück.« »Möglich. Ich habe ja auch nie behauptet, es sei mein gedankliches Original. Aber ich bin der Meinung, es wäre an der Zeit, ernstlich über diese Dinge zu reden.« Er warf den Leuchtröhren über dem Tisch einen mißbilligenden Blick zu; man brauchte sie an diesem nebeligen Wintertag. »Was ist denn mit diesem verdammten Licht los? Seit fünf Minuten flackert es schon.« »Mach dir darüber keine Sorgen«, bekam er zur Antwort. »Vielleicht hat Maisie nur vergessen, ihre Stromrechnung zu bezahlen. Laß uns lieber deine Theorie hören.« »Das meiste davon ist gar keine Theorie, sondern Tatsache. Wir wissen, daß das menschliche Gehirn ein Relaissystem ist – Neuronen – und die einzelnen Schaltstellen sind auf sehr komplizierte Art durch Nerven verbunden. Ein automatisches Telefon ist ein Schaltsystem – die Relais der Wählanlage und so weiter –, das mit Drähten untereinander verbunden ist.«
»Zugegeben«, warf Smith ein. »Aber diese Analogie führt dich nicht weiter. Hat das Gehirn nicht etwa fünfzehn Milliarden Neuronen? Das ist wesentlich mehr als die Anzahl der Schaltungen in einer Selbstwählanlage.« Williams wurde vom schrillen Pfeifen eines niedrig fliegenden Düsenflugzeugs unterbrochen. Er mußte warten, bis die Vibrationen aufgehört hatten. »So niedrig sind sie doch noch nie geflogen«, brummte Andrews. »Ich dachte, das sei gegen die Vorschriften.« »Ist es auch, aber mach dir keine Sorgen. Die Luftkontrolle vom Flugplatz in London erwischt ihn schon.« »Das bezweifle ich«, sagte Reyner. »Das war doch der Flughafen London, der die Concorde eingewiesen hat. Aber ich hab sie über der Stadt auch noch nie so niedrig gehört. Da kann man froh sein, wenn man nicht an Bord ist.« »Machen wir jetzt endlich einmal mit dieser verdammten Diskussion weiter?« knurrte Smith. »Mit den fünfzehn Milliarden Neuronen im menschlichen Gehirn hast du absolut recht«, fuhr Williams fort, als sei er gar nicht unterbrochen worden. »Und darum geht es ja. Fünfzehn Milliarden scheinen eine große Zahl zu sein, ist es aber nicht. Um 1960 gab es auf der ganzen Welt weit mehr Einzelschaltungen bei allen automatisierten Telefonzentralen. Heute haben wir ungefähr fünfmal soviel.« »Ah, ich verstehe«, sagte Reyner langsam. »Und von gestern an, seit der Satellit eingeschaltet wurde, sind alle diese Schaltungen auch untereinander schaltbar.« »Genau.« Eine Weile schwiegen sie. In der Ferne war eine Feuerwehrsirene zu hören. »Das muß ich jetzt ganz genau wissen«, sagte Smith. »Willst du damit behaupten, daß das Welt-Telefonnetz jetzt ein riesiges Gehirn darstellt?« »Grob ausgedrückt – anthropomorphisch. Ich ziehe es vor, mich der Terminologie der kritischen Größe zu bedienen.« Williams streckte die Hände mit teilweise geschlossenen Fingern vor sich aus. »Hier sind zwei
Brocken U-235. Nichts geschieht, solange man sie getrennt hält. Bringt man sie aber zusammen« – er unterstrich diese Worte mit einer entsprechenden Handbewegung –, »so hat man etwas, das von einem größeren Klumpen U-235 völlig verschieden ist, nämlich ein Loch im Boden, das einen Durchmesser von etwa tausend Metern hat. Genauso geht es mit unserem Telefonnetz. Bis heute waren die einzelnen Teilnetze voneinander unabhängig, sozusagen autonom. Aber jetzt haben wir plötzlich die Verbindungsglieder multipliziert; alle Teilnetze sind zusammengeschlossen, und wir haben einen kritischen Zustand erreicht.« »Und was heißt in diesem Fall ›kritischer Zustand‹?« wollte Smith wissen. »Bewußtsein – in Ermangelung eines besseren Wortes.« »Ein seltsames Bewußtsein«, stellte Reyner fest. »Was würde dieses Bewußtsein als Sinnesorgane benützen?« »Nun, alle Radio- und TV-Stationen der ganzen Welt würden es über ihre Landleitungen mit Informationen füttern. Dann hat es etwas zum Nachdenken! Dann kämen alle in den Computern gespeicherten Daten; zu diesen hat es Zutritt, auch zu allen elektronischen Bibliotheken, zu den Radar-Suchsystemen und den Telemetern der automatisierten Fabriken. Oh, Sinnesorgane hätte es mehr als genug! Sein Weltbild können wir uns gar nicht vorstellen, aber es würde wohl unendlich reicher und vollständiger sein als das unsere.« »Gehen wir einmal davon aus, denn es ist ein sehr unterhaltsamer Gedanke«, meinte Reyner. »Was würde – außer denken – dieses Bewußtsein tun? Es könnte ja nirgendwohin gehen, denn es hat keine Beine.« »Warum sollte es irgendwohin gehen wollen? Es ist ja schon überall. Und jedes Stück ferngesteuerter elektronischer Ausrüstung auf dem ganzen Planeten könnte als Bein dienen.« »Ah, jetzt verstehe ich die zeitliche Verzögerung«, warf Andrews ein. »Empfangen wurde es um Mitternacht, geboren aber erst um 1 Uhr 50 morgens. Und der Lärm, der uns alle aufweckte, war das Geburtsgeschrei.«
Es sollte witzig klingen, doch der Witz war nicht überzeugend. Die Lichter über ihnen flackerten noch immer, sogar immer heftiger. Dann gab es vorn im Cafe einen kleinen Tumult, als Jim Small von der Energieversorgung seinen gewohnten großen Auf- und Eintritt vollzog. »Schaut euch das mal an, meine Lieben«, rief er und grinste breit. Er wedelte mit einem Papier vor den Nasen seiner Kollegen. »Ich bin reich! Habt ihr je einen solchen Kontoauszug gesehen?« Dr. Williams nahm ihm den Bankauszug ab, musterte ihn und las die Zahl laut vor: »Haben £ 999.999.897.87.« Er schüttelte den Kopf. »Ist doch gar nicht so komisch. Ich würde sagen, es heißt, das Konto ist um £ 102.13 überzogen, und der Computer hat mal falsch geschaltet und elf Neuner dazugezählt. Solche Dinge kamen doch tagtäglich vor, nachdem die Banken bei uns das Dezimalsystem übernommen hatten.« »Ich weiß, ich weiß«, antwortete Small. »Verdirb mir doch nicht meinen Spaß! Ich werde mir diesen Auszug jedenfalls einrahmen. Aber was würde geschehen, wenn ich einen Scheck über ein paar Millionen ausschreibe und mich auf diesen Auszug beziehe? Könnte ich die Bank verklagen, wenn er platzt?« »Auf gar keinen Fall«, erwiderte Reyner. »Ich gehe jede Wette ein, daß die Banken schon vor Jahren daran gedacht und sich dagegen abgesichert haben, irgendwo im Kleingedruckten. Übrigens, wann hast du diesen Auszug bekommen?« »Mit der Mittagspost. Ich kriege ihn direkt ins Büro, so daß meine Frau keine Möglichkeit hatte, ihn zu sehen.« »Hm. Das heißt also, daß ihn der Computer heute früh ausgeworfen hat, sicher kurz nach Mitternacht.« »Was willst du damit sagen? Und warum all diese langen Gesichter?« Keiner antwortete ihm. Er hatte einen neuen Hasen laufen lassen, und die Hunde hetzten hechelnd hinter ihm her. »Versteht hier einer etwas von automatisierten Banksystemen?« fragte Smith. »Wie stehen sie miteinander in Verbindung?« »Wie alles andere heutzutage«, erwiderte Andrews. »Alles läuft über die gleiche Zentrale. Die Computer in der ganzen Welt reden doch miteinander. John, das ist was für Sie… Wenn es wirklich Schwierigkeiten gibt,
wäre dies die erste Stelle, wo ich sie erwarten würde. Außer dem Telefonnetz natürlich.« »Niemand hat meine Frage beantwortet, die ich stellte, als Jim hereinkam«, beklagte sich Reyner. »Was würde also dieser Supergeist tun? Würde er sich freundlich, feindselig oder gleichgültig benehmen? Würde er auch nur wissen, daß wir existieren? Oder würde er die elektronischen Signale als die einzige Realität betrachten?« »Ah, ich sehe, ihr glaubt mir allmählich«, stellte Williams mit grimmiger Befriedigung fest. »Deine Frage kann ich nur beantworten, indem ich eine andere stelle. Was tut ein neugeborenes Baby? Es sieht sich nach Nahrung um.« Er schaute zu den flackernden Lichtern hinauf. »Mein Gott«, sagte er nachdenklich, als überwältige ihn ein Gedanke, »er braucht ja nur eine Nahrung – Elektrizität.« »Der Unsinn reicht jetzt allmählich«, meinte Smith. »Was, zum Teufel, ist denn überhaupt mit unserem Essen los? Vor zwanzig Minuten haben wir bestellt.« Keiner gab auf ihn acht. »Und dann«, fuhr Reyner fort, wo Williams abgebrochen hatte, »hält es also nach Nahrung Ausschau und streckt seine Glieder. Und sogar zu spielen würde es anfangen, wie alle kleinen Kinder.« »Und kleine Kinder zerbrechen viele Sachen«, warf einer leise ein. »Du lieber Himmel, Spielzeug hat es mehr als genug. Diese Concorde zum Beispiel, die vorher über uns hinweggedonnert ist. Die automatisierten Produktionsstätten. Die Verkehrsampeln auf unseren Straßen.« »Komisch, daß du gerade die erwähnst«, bemerkte Small. »Da draußen stimmt was mit dem Verkehr nicht. Seit mindestens zehn Minuten steht er. Sieht wie eine große Stockung aus.« »Vielleicht brennt es irgendwo. Vor ein paar Minuten habe ich die Feuerwehr gehört.« »Ich sogar zwei, dann sowas wie eine Explosion drüben in der Richtung Industriegelände. Ich hoffe, daß es nichts Ernstes ist.« »Maisie! Hast du Kerzen? Wir sehen überhaupt nichts mehr!« »Und da fällt mir gerade ein, daß die Küche hier voll elektrifiziert ist. Wenn wir überhaupt was zu essen bekommen, dann nur was Kaltes.«
»Wenigstens können wir Zeitung lesen, wenn wir schon warten müssen. Jim? Ist das die heutige Ausgabe, die du da hast?« »Ja. Ich hab aber noch keinen Blick 'reingeworfen. Hm… Da hat es ja heute schon eine ganz gehörige Menge an Unfällen gegeben… Bahnsignale klemmten, Hauptwasserleitungen geplatzt, weil das Überlaufventil nicht funktioniert hat, eine Menge Klagen wegen der falschen Telefonanrufe der vergangenen Nacht…« Er blätterte um, und sein Gesicht wurde immer länger. »Was ist denn los?« Wortlos reichte Small die Zeitung über den Tisch. Nur die Titelseite war verständlich. Innen war eine Spalte nach der anderen ein unbeschreiblicher Buchstabensalat, und nur ein paar Inserate waren Inseln der Vernunft in einem Meer von unverständlichem Gefasel. Diese Inserate waren vermutlich Stehsatz und daher den Verstümmelungen entgangen, die dem gesamten anderen Text zugestoßen waren. »Dahin haben uns also diese automatischen Setzanlagen und Druckund Vertriebsmaschinen gebracht!« rief Andrews aufgeregt. »Ich fürchte, die Fleet Street hat zu viele Eier in einen elektronischen Korb gepackt.« »Das haben wir alle, fürchte ich«, sagte Williams düster. »Alle, wie wir da sind.« »Wenn ich auch was sagen darf, um die Massenhysterie abzubremsen, die auch diesen Tisch infiziert zu haben scheint«, bemerkte Smith laut und energisch, »dann möchte ich darauf hinweisen, daß es da gar nichts Besorgniserregendes gibt, selbst wenn Johns blühende Phantasie recht hätte. Wir brauchen doch nur die Satelliten abzuschalten, dann sind wir wieder dort, wo wir gestern standen.« »Lobotomie des Stirnhirns«, murmelte Williams. »Daran habe ich auch schon gedacht.« »Eh? Ah, natürlich; da schneidet man doch einen Gehirnlappen heraus, nicht wahr? Sicher würde das was nützen. Teuer wird es natürlich, und wir müßten wieder Telegramme verschicken. Aber die Zivilisation würde überleben.« Irgendwo in der Nähe explodierte etwas mit einem scharfen Knall.
»Das gefällt mir ganz und gar nicht«, bemerkte Andrews nervös. »Hören wir mal, was die alte Tante BBC zu sagen hat. Die Ein-UhrNachrichten müssen eben angefangen haben.« Er griff in seine Aktentasche und nahm ein kleines Transistorgerät heraus. »… unvorhersehbare Anzahl industrieller Unfälle wie auch der nicht erklärbare Abschuß von drei Salven ferngelenkter Geschosse aus militärischen Einrichtungen der Vereinigten Staaten. Einige Flughäfen mußten wegen eines unberechenbaren Benehmens aller Radarschirme den Betrieb einstellen, und die Börsen und Banken haben geschlossen, weil ihre Informationssysteme absolut unzuverlässig wurden.« Small murmelte, das hätte ihm niemand zu sagen brauchen, aber die anderen machten »scht«, weil neue Nachrichten gerade erwartet wurden. »Moment noch, bitte… Ja, hier ist es. Wie wir soeben erfahren, gerieten die neu installierten Nachrichten- und Verkehrssatelliten völlig außer Kontrolle. Sie reagieren auf keinen von der Erde kommenden Befehl mehr. Nach den…« Die BBC verstummte, selbst die Trägerwelle starb. Andrews drehte den Einstellknopf über die gesamte Skala. Der ganze Äther schwieg. Dann sagte Reyner, und seine Stimme war von einer Hysterie nicht mehr weit entfernt: »Diese Lobotomie des Stirnhirns war eine gute Idee, John. Schade, daß Baby das vorausgesehen hat.« Williams stand langsam auf. »Wir gehen jetzt lieber ins Labor zurück«, sagte er. »Irgendwo muß doch eine Antwort zu finden sein.« Aber er wußte schon, daß es viel zu spät war. Für Homo sapiens hatte das Telefon zum letztenmal geklingelt. Originaltitel: DIAL F FOR FRANKENSTEIN (Juni 1963)
HEIMKEHR Völker der Erde, fürchtet euch nicht! Wir kommen in Frieden – und warum auch nicht? Wir sind ja eure Vettern. Und wir waren schon früher hier. Ihr werdet uns erkennen, wenn wir einander begegnen in ein paar Stunden von jetzt an gerechnet. Wir nähern uns dem Sonnensystem fast so schnell wie diese Funkmitteilung. Schon beherrscht eure Sonne den Himmel vor uns. Es ist auch die Sonne unserer Vorfahren, die vor zehn Millionen Jahren auch die euren waren. Aber ihr habt eure Geschichte vergessen, während wir uns der unseren erinnern. Wir haben die Erde kolonisiert; das war in der Zeit der großen Reptilien, die ausstarben, als wir kamen, und die wir nicht retten konnten. Eure Welt war damals ein tropischer Planet, und wir glaubten, er sei eine schöne Heimat für unser Volk. Wir irrten uns. Wenn wir auch Herren des Raumes waren, so wußten wir doch wenig über das Klima, die Evolution, über genetische Fragen… In diesen alten Zeiten gab es keine Winter. Durch Millionen von Sommern blühte die Kolonie. Natürlich war sie isoliert in einem Universum, in dem die Reise von einem Stern zum anderen schon Jahre dauert, aber die Verbindung mit der Mutterzivilisation wurde nie ganz aufgegeben. Drei- oder viermal in jedem Jahrhundert kamen Sternenschiffe und brachten die letzten Nachrichten aus der Galaxis. Aber vor zwei Millionen Jahren bahnten sich auf der Erde Veränderungen an. Lange Zeit war es ein tropisches Paradies gewesen; dann fiel auf einmal die Temperatur, und das Eis begann sich von den Polen her auszubreiten. Und mit dem Klima veränderten sich die Kolonisten? Jetzt sind wir uns darüber klar, daß es nur eine natürliche Anpassung am Ende eines langen Sommers war, aber jene, die sich vor so vielen Generationen die Erde zur Heimat gewählt hatten, glaubten, sie seien von einer merkwürdigen und abstoßenden Krankheit befallen worden – einer Krankheit, die nicht tötete und auch keine physischen Schäden bewirkte, sondern nur entstellte.
Einige waren immun. Aber die Veränderung trennte sie und ihre Kinder. Innerhalb weniger tausend Jahre hatte sich die Kolonie in zwei voneinander getrennte Gruppen aufgespalten – fast zwei verschiedene Spezies –, und eine mißtraute der anderen, war auf sie eifersüchtig. Die Teilung brachte Neid, Zwistigkeiten und schließlich auch ernsthafte Zerwürfnisse mit sich. Als sich die Kolonie auflöste und das Klima sich ständig verschlechterte, zogen sich jene, die es konnten, von der Erde zurück. Der Rest versank in Barbarei. Wir hätten die Verbindung aufrechterhalten können, aber in einem Universum von hundert Trillionen Sternen gibt es unendlich viel zu tun. Bis vor wenigen Jahren wußten wir nicht einmal, ob auch nur einer von euch überlebt hatte. Dann erreichten uns eure ersten Radiosignale. Wir lernten eure einfachen Sprachen und entdeckten, daß ihr den langen Aufstieg aus der Barbarei geschafft hattet. Wir kommen, um euch zu grüßen, euch, unsere lange verlorenen Verwandten – und euch zu helfen. In den Äonen, seit wir die Erde verlassen haben, konnten wir vieles entdecken. Wenn ihr wollt, daß wir euch den ewigen Sommer zurückbringen, der vor den Eiszeiten die Erde regierte – wir können es. Und vor allem haben wir eine ganz einfache Kur für die abstoßende, wenn auch harmlose genetische Seuche, die so viele der Kolonisten befallen hatte. Vielleicht ist sie erloschen, vielleicht habt ihr euch an sie gewöhnt; aber wenn wir kommen, haben wir gute Nachrichten für euch. Völker der Erde, ihr könnt euch ohne Scham und ohne Verlegenheit wieder in die Gesellschaft des Universums einreihen. Wenn noch einer von euch weiße Hautfarbe haben sollte, wir können euch kurieren. Originaltitel: REUNION (November 1963)
PLAYBACK Es ist unglaublich, daß ich so vieles so schnell vergessen habe. Vierzig Jahre lang habe ich nun meinen Körper benützt. Ich dachte, das hätte ich gewußt. Aber es verblaßt schon wie ein Traum. Arme, Beine – wo seid ihr? Was habt ihr je für mich getan, als ihr mir gehörtet? Vage erinnere ich mich daran, daß ich Signale aussende und versuche, meinen Gliedern Befehle zu geben. Aber nichts geschieht. Es ist fast so, als rufe man in ein Vakuum hinein. Rufen. Ja, das versuche ich. Vielleicht hören sie mich, doch ich kann mich selbst nicht hören. Schweigen überflutet mich, bis ich mir Geräusche, einen Klang nicht mehr vorstellen kann. In meinem Geist gibt es ein Wort, das Musik heißt. Was bedeutet es? So viele Worte treiben vor mir aus der Dunkelheit heraus und warten darauf, erkannt zu werden. Eines nach dem anderen schwebt wieder davon und verschwindet. Hallo. Da bist du also wieder! Wie leise du auf Zehenspitzen in meinen Geist gehuscht bist! Ich weiß, wann du da bist, aber ich spüre dich niemals kommen. Mein Gefühl sagt mir, daß du freundlich bist, und ich bin dankbar für das, was du getan hast. Aber wer bist du? Natürlich weiß ich, daß du nicht menschlich bist. Keine menschliche Wissenschaft hätte mich je retten können, als das Energiefeld zusammenbrach. Du siehst also, daß ich neugierig werde. Das ist ein gutes Zeichen, oder nicht? Nun ist der Schmerz gegangen – oh, endlich, endlich! –, und ich kann wieder denken. Ja, ich bin bereit. Alles, was du wissen willst. Mehr kann ich nicht tun. Ich heiße William Vincent Neuberg. Ich bin Chefpilot bei der Galaktischen Überwachung. Geboren bin ich in Port Lowell, Mars, am 21. August 2095. Meine Frau Janita und meine drei Kinder sind auf Ganymed. Ich bin auch Schriftsteller. Ich habe viel über meine Reisen geschrieben. Jenseits des Rigel ist ziemlich berühmt… Was ist geschehen? Du weißt vielleicht ebenso viel wie ich. Ich hatte gerade mein Schiff phantomisiert und flog mit Phasengeschwindigkeit,
als Alarm gegeben wurde. Es war keine Zeit mehr, etwas zu tun. Ich weiß noch, daß die Kabinenwände plötzlich zu glühen begannen. Und die Hitze, diese schreckliche Hitze! Das ist alles. Die Detonation muß mich in den Raum geblasen haben. Aber wie konnte ich überleben? Wie sollte mich jemand rechtzeitig erreicht haben? So sagt mir doch, wieviel ist von meinem Körper noch übrig? Warum spüre ich meine Arme und meine Beine nicht? Verbergt die Wahrheit nicht vor mir; ich habe keine Angst. Wenn ihr mich nach Hause bringen könnt, werden mir die Biotechniker neue Gliedmaßen geben. Mein rechter Arm ist sowieso nicht der, mit dem ich geboren wurde. Warum kannst du nicht antworten? Das ist doch eine ganz einfache Frage! Was meinst du damit, ich wisse ja nicht, wie ich aussehe? Du mußt doch etwas gerettet haben! Den Kopf? Oder das Gehirn? Nicht einmal – oh, nein! Es tut mir leid. War ich lange weg? Ich muß mich selbst wieder in den Griff bekommen. (Ha! Ein Witz!) Ich bin Überwachungspilot Erster Klasse Vincent William Freeburg. Ich bin geboren in Port Lyot, Mars, am 21. August 1895. Ich habe ein Kind… nein, zwei Kinder… Bitte, wiederholen. Ganz langsam. Meine Ausbildung hat mich auf jede faßbare Realität vorbereitet. Ich werde mit allem fertig, was du mir erzählst. Aber langsam. Nun, es könnte schlimmer sein. Ich bin noch nicht wirklich tot. Ich weiß, wer ich bin. Ich glaube sogar zu wissen, was ich bin. Ich bin ein… eine Aufzeichnung in einem phantastischen Speichergerät. Du mußt meine Psyche, meine Seele eingefangen haben, als mein Schiff zu Plasma wurde. Ich kann mir nicht vorstellen, wie das gemacht wurde, aber es klingt vernünftig. Schließlich kann ein primitiver Mensch niemals verstehen, wie wir eine Symphonie aufzeichnen… Alle meine Erinnerungen sind gefangen auf Band oder in einem Kristall, wie sie damals in den Zellen meines verdampften Gehirnes gefangen
waren. Und nicht nur meine Erinnerungen. ICH. ICH. ICH PERSÖNLICH – VINCE WILLBURG, PILOT ZWEITER KLASSE. Nun, und was geschieht jetzt? Bitte, sag das noch einmal, ich habe es nicht verstanden. Oh, wunderbar! Du kannst sogar das tun? Es gibt ein Wort dafür, einen Namen… Die mannigfaltigsten Seen inkarnadin… Nein. Nicht so. Inkarnadin… Inkarnadin… REINKARNATION! Ja, ja, ich verstehe. Ich muß dir den Grundplan geben, das Schema. Beobachte meine Gedanken sehr genau. Ich will oben anfangen. Oben. Der Kopf. Er ist oval. So. Der obere Teil ist mit Haar bedeckt. Das meine war br… nein, blau. Die Augen. Sie sind sehr wichtig. Hast du sie nicht bei anderen Tieren gesehen? Gut. Das erspart Mühe. Kannst du mir Augen zeigen? Ja, diese werden genügen. Und jetzt der Mund. Merkwürdig. Ich muß ihn doch tausendmal angesehen haben, wenn ich mich rasierte und so. Aber irgendwie… Nicht so rund, ein wenig schmaler. Oh, nein, nicht so! Er läuft quer durch das Gesicht. Horizontal… Mal sehen… Da ist noch etwas zwischen den Augen und dem Mund. Wie dumm von mir. Ich werde niemals Kadett werden, wenn ich mir das nicht merken kann… Natürlich, die Nase! Ein wenig länger, glaube ich. Noch etwas gibt es, aber das habe ich vergessen. Dieser Kopf sieht ziemlich roh und unfertig aus. Das bin nicht ich, Billy Vinceburg, der netteste und tollste Bursche im ganzen Block. Das ist aber doch nicht mein Name! Ich bin kein Junge. Ich bin Chefpilot mit zwanzig Jahren Raumdienst, und ich versuche meinen Körper zu rekonstruieren. Warum laufen mir meine Gedanken immer davon? So helft mir doch, bitte!
Diese Monstrosität? Ich soll euch gesagt haben, daß ich so aussähe? Ausradieren! Wir müssen von vorn anfangen. Und jetzt der Kopf. Er ist eine Kugel und hat eine aufgesetzte Kappe… Viel zu schwierig… Fangt irgendwo anders an. Ah, ich weiß! Der Schenkelknochen ist mit dem Schienbein verbunden. Das Schienbein ist mit dem Schenkelknochen verbunden. Das Schienbein ist mit dem… Alles verschwimmt. Verblaßt. Zu spät. Die Rückspielanlage stimmt nicht. Oder die Abhöranlage. Vielen Dank für den Versuch. Mein Name ist… Mein Name ist… Mutter, wo bist du? Mama… Mama! Maaaaaaa… Originaltitel: PLAYBACK (Dezember 1963)
VERBLENDUNG Ich gehöre nicht zu jenen Afrikanern, die sich ihrer Heimat schämen, weil sie in fünfzig Jahren keinen so großen Fortschritt gemacht hat wie Europa in fünfhundert. Aber wenn wir es nicht so weit gebracht haben, wie es vielleicht möglich gewesen wäre, so ist der Grund dafür bei Diktatoren wie Chaka zu suchen; dafür gebührt aber der Tadel uns allein. Da er unser Fehler ist, müssen wir uns auch selbst kurieren. Ich hatte noch bessere Gründe, den Großen Häuptling zu vernichten als alle anderen, denn der Allmächtige, der Allsehende und Allwissende war von meinem eigenen Stamm und über eine der Frauen meines Vaters auch mit mir verwandt. Er hatte meine Familie verfolgt, seit er an die Macht gekommen war. Wir kümmerten uns nicht um Politik, und trotzdem verschwanden zwei meiner Brüder, und ein dritter wurde bei einem ungeklärten Autounfall getötet. Es bestand gar kein Zweifel daran, daß ich meine eigene Freiheit nur dem Umstand zu verdanken hatte, daß ich einer der wenigen Wissenschaftler meines Landes von internationalem Ruf war. Wie viele meiner intellektuellen Kollegen hatte auch ich lange gebraucht, bis ich mich gegen Chaka wandte, denn ich hatte ebenso wie die Deutschen von 1930 das Gefühl, es gebe Zeiten, da ein Diktator die einzig mögliche Antwort auf ein politisches Chaos sei. Vielleicht den ersten Beweis für unseren großen Irrtum lieferte er uns selbst, als er die Verfassung für ungültig erklärte und den Namen eines Zulu-Kaisers des neunzehnten Jahrhunderts annahm und behauptete, er sei dessen Reinkarnation. Von diesem Augenblick an wuchs seine Megalomanie ins Ungemessene. Wie alle Tyrannen, traute er keinem und war davon überzeugt, nur von Feinden und Verrätern umgeben zu sein. Diese Überzeugung war recht begründet. Man wußte von mindestens sechs Anschlägen auf sein Leben, und die meisten wurden geheimgehalten. Deren Fehlschlag erhöhte Chakas Vertrauen in seine große Bestimmung und bestätigte den fanatischen Glauben seiner Anhänger an seine Unsterblichkeit. Je mehr die Opposition verzweifelte, desto erbarmungsloser wurden die Gegenmaßnahmen des Großen Häuptlings – und desto barbarischer. Chakas Regime war nicht das erste in Afrika oder anders-
wo, das seine Feinde folterte, aber es war das erste, das diese Foltern im Fernsehen zeigte. Eine Welle des Entsetzens und der fassungslosen Erschütterung ging durch die ganze Welt, und ich schämte mich fürchterlich. Trotzdem hätte ich auch dann noch immer nichts getan, wenn mir das Schicksal persönlich die Waffe in die Hand gedrückt hätte. Ich bin kein Mann der Tat und verabscheue jede Gewalttat, aber als ich dann erkannte, daß die Macht in meiner Hand lag, da ließ mir mein Gewissen keine Ruhe mehr. Kaum hatten also die Techniker der NASA ihre Einrichtungen aufgebaut und das Hughes Mark X Infrarot-Kommunikationssystem übergeben, als ich meine Pläne zu schmieden begann. Eigentlich seltsam, daß mein Land, eines der am weitesten zurückgebliebenen Länder der Welt, eine entscheidende Rolle bei der Eroberung des Weltraums spielen sollte. Es ist aber nur ein geographischer Zufall, der bei Russen wie Amerikanern dieselben zwiespältigen Gefühle hervorrief. Dagegen tun konnten sie allerdings nichts. Umbala liegt direkt am Äquator unter den Bahnen sämtlicher Planeten. Und es besitzt, so könnte man es ausdrücken, eine einzigartige Laune der Natur: den erloschenen Vulkan, den man als Zambue-Krater kennt. Dieser Vulkan erlosch vor mehr als einer Million Jahren; die Lava wich Schritt für Schritt zurück und gerann in einer ganzen Reihe von Terrassen; dadurch entstand eine schüsselförmige Mulde, die einen Durchmesser von etwa fünfzehnhundert Metern und eine Tiefe von dreihundert Metern hatte. Mit einem Minimum an Erdarbeiten und Verkabelung wurde diese Mulde in das größte Radioteleskop der Erde verwandelt. Da dieser riesige Reflektor fest eingebaut ist, kann er innerhalb von vierundzwanzig Stunden immer nur wenige Minuten lang eine bestimmte Himmelsposition beobachten; das hängt ganz von der Rotation der Erde ab. Das war ein Preis, den die Wissenschaftler willig bezahlten, weil sie dafür Signale von Sonden und Schiffen empfangen konnten, die bis zum Rand unseres Sonnensystems vordrangen. Chaka war ein Problem, mit dem sie nicht gerechnet hatten. Er war an die Macht gelangt, als das Werk fast vollendet war, und sie mußten zusehen, wie sie am besten mit ihm fertig wurden. Zum Glück hatte er einen geradezu abergläubischen Respekt vor der Wissenschaft, und er brauchte
jeden einzelnen Rubel oder Dollar, den er bekommen konnte. Die Equatorial Deep Space Facility war vor seinem Größenwahn sicher; er tat sogar alles für ihre Sicherheit. Die große »Schüssel« war gerade fertig, als ich meine erste Reise zur Turmspitze machte; dieser Turm war ein senkrechter Mast, der aus der Mitte dieser Schüssel aufragte, etwa vierhundertfünfzig Meter hoch, und war Träger der Sammelantennen im Brennpunkt der riesigen Mulde. Ein sehr kleiner Aufzug, in dem zur Not drei Menschen befördert werden konnten, kroch mühsam bis zur Spitze hinauf. Nachdem der Fahrstuhl sich in Bewegung gesetzt hatte, war zunächst gar nichts zu sehen, außer der gigantischen, mattschimmernden Aluminium-Untertasse, deren Rand fast achthundert Meter vom Zentrum entfernt war. Als der Lift dann über den Kraterrand aufstieg, konnte ich weit über das Land schauen, das ich zu retten hoffte. Aus dem westlichen Dunst ragte bläulich und mit weißer Schneekappe der Mount Tampala in die Höhe, der zweithöchste Berg Afrikas, und zwischen ihm und mir lagen unendliche Dschungelmeilen. Durch diese Dschungel wand sich in riesigen Schleifen der sumpfige Fluß Nya, der einzige große Verkehrsweg, den es für Millionen meiner Landsleute je gegeben hatte. Ein paar Lichtungen, eine Eisenbahnlinie, ganz in der Ferne das helle Leuchten einer Stadt – das waren die einzigen Zeichen menschlichen Lebens. Ein Gefühl der Hilflosigkeit überschwemmte mich, wie immer, wenn ich aus der Luft auf Umbala hinabschaue und mir darüber klar werde, wie unbedeutend doch der Mensch vor der Macht der schlafenden Dschungel ist. Klickend kam der Lift zum Stehen. Mehr als vierhundert Meter hoch über dem Boden der Schüssel schwebte ein winziger Raum, der mit Kabeln und Instrumenten angefüllt war. Durch das Dach dieses Raumes führte eine kurze Leiter zur Dachplattform, die nicht mehr als höchstens zwei Schritte im Quadrat maß. Es war kein Platz für einen, der nicht schwindelfrei war, denn die Plattform hatte nicht einmal ein Geländer. Nur der Blitzableiter verlieh die Andeutung eines Gefühles der Sicherheit, und während ich da oben nahe den Wolken stand, hielt ich mich immer mit einer Hand an seinem Ständer fest.
Die Aussicht war atemberaubend, und die Erregung der Gefahr ließ mich die Zeit völlig vergessen. Ich kam mir wie ein Gott vor, der über allen irdischen Geschäften und Sorgen stand und allen anderen Menschen überlegen war. Und da wußte ich auch mit mathematischer Sicherheit, daß dies für Chaka eine Herausforderung war, an der er nie vorübergehen konnte. Natürlich würde sein Sicherheitschef Colonel Mtanga ihm davon abraten, aber sein Protest würde nichts nützen. Wenn man Chaka kannte, dann konnte man auch zuverlässig voraussagen, daß er am Tag der offiziellen Einweihung hier oben stehen würde, allein und für viele Minuten, denn er würde über sein Reich schauen wollen. Sein Leibwächter würde unten in der Kabine bleiben, denn er hatte sie vorher genau nach Fallen und dergleichen untersucht. Niemand konnte etwas tun, ihn zu retten, wenn ich aus einer Entfernung von fünftausend Metern zuschlug – durch die Hügelkette, die zwischen dem Radioteleskop und meinem Observatorium lag. Um diese Hügel war ich froh. Sie komplizierten zwar das Problem, doch sie bewahrten mich gleichzeitig vor jedem Verdacht. Colonel Mtanga war ein sehr intelligenter Mann, aber eine Waffe, die um Ecken herum schießen konnte, vermochte er sich ganz gewiß nicht vorzustellen. Und nach einer Waffe hielte er Ausschau, wenn er auch keine Kugel finden konnte… Ich kehrte in mein Labor zurück und begann mit meinen Berechnungen. Bald entdeckte ich meinen ersten Fehler. Ich hatte gesehen, wie der konzentrierte Lichtstrahl des Laser ein Loch durch eine solide Stahlplatte – in einer Tausendstel Sekunde! – bohrte und hatte angenommen, daß meine Mark X einen Menschen töten konnte. Aber ganz so einfach ist das nicht. Ein Mensch ist in gewisser Beziehung viel zäher als eine Stahlplatte. Er besteht größtenteils aus Wasser, das auf Hitze völlig anders reagiert als Metall. Durch eine Panzerplatte bohrt ein gebündelter Lichtstrahl ein Loch, oder er schickt auch eine Botschaft bis zum Pluto – dafür war Mark X gebaut –, aber bei einem Menschen verursachte er höchstens eine schmerzhafte, im wesentlichen aber oberflächliche Verbrennung. Das Schlimmste, was ich aus fünftausend Metern Entfernung Chaka antun konnte, war, daß ich ihm ein Loch in seine bunte Stammesdecke brannte, die er so ostentativ zu tragen wußte, um zu beweisen, daß er noch seinem Volk nahestand.
Fast hätte ich den Plan aufgegeben. Aber er ließ mir keine Ruhe. Instinktiv wußte ich, daß es eine Lösung dieses Problems gab, ich mußte sie nur finden. Vielleicht konnte ich meine unsichtbaren Licht- und Hitzegeschosse dazu benützen, eines der Kabel zu zerschneiden, an denen der Turm verankert war, so daß er herabstürzen würde, wenn Chaka die Spitze erreichte. Meine Berechnungen bestätigten mir, daß dies möglich wäre, wenn Mark X fünfzehn Sekunden lang ununterbrochen in Betrieb bliebe. Ein Kabel bewegte sich nicht, im Gegensatz zum Menschen, so daß es also nicht nötig wäre, mit einem einzigen Energieimpuls zum Ziel zu kommen. Ich konnte mir Zeit lassen. Aber die Vernichtung des Teleskops wäre ein Verrat an der Wissenschaft gewesen, und mit einiger Erleichterung stellte ich dann fest, daß dieser Plan sowieso undurchführbar war. Der Mast hatte so viele eingebaute Sicherungen, daß ich drei Kabel durchschneiden müßte, um ihn zu stürzen. Und das kam nicht in Frage. Für jeden Präzisionsschuß brauchte ich Stunden genauester Ausrichtung und Einstellung der Apparatur. Also mußte ich mir etwas anderes einfallen lassen, und da der Mensch die fatale Fähigkeit hat, gerade das zu übersehen, was am offensichtlichsten ist, wurde ich mir erst eine Woche vor der offiziellen Einweihung darüber klar, was ich mit Chaka, dem Allwissenden und Allsehenden, dem Allmächtigen und Vater seines Volkes, tun mußte. Um diese Zeit hatten meine Assistenten und ältesten Schüler schon die ganze Einrichtung eingestellt und abgestimmt, und wir waren bereit, die ersten vollständigen Tests anlaufen zu lassen. Die Mark X sah auf ihrem Gestell im Innern des Observatoriums genau aus wie ein riesiges Zwillings-Spiegelteleskop, und das war sie im Grund ja auch. Ein Spiegel von etwa einem Meter Durchmesser sammelte den Laserimpuls und warf ihn gebündelt in den Raum hinaus. Der andere wirkte als Empfänger für hereinkommende Signale und wurde wie ein überstarkes Teleskop auch dazu benützt, das System auf das Ziel auszurichten. Wir probierten die ganze Sache am nächsten himmlischen Ziel, dem Mond, aus. Spät nachts richtete ich das Fadenkreuz genau auf die Mitte der abnehmenden Mondsichel aus und schoß einen Impuls ab. Zweieinhalb Sekunden später kam ein feines Echo zurück. Wir waren sozusagen im Geschäft.
Eine Kleinigkeit mußte noch arrangiert werden, doch die mußte ich mir in aller Heimlichkeit selbst vornehmen. Das Radioteleskop lag nördlich vom Observatorium jenseits der Hügelkette, die uns die direkte Sicht versperrte. Knapp zwei Kilometer südlich davon lag ein einzelner Berg. Ich kannte ihn sehr gut, denn vor Jahren hatte ich mitgeholfen, dort eine Beobachtungsstation für kosmische Strahlung aufzubauen. Und jetzt sollte er einem Zweck dienen, den ich mir in jenen Tagen, da mein Land noch frei war, nicht hätte vorstellen können. Kurz unterhalb des Gipfels lagen die Ruinen eines alten Forts, das schon vor Jahrhunderten aufgelassen worden war. Ich brauchte nicht lange zu suchen, um jene Stelle zu finden, die ich brauchte – eine kleine Höhle, die nicht einmal einen Meter hoch war und zwischen zwei großen Steinen lag, die von den alten Mauern herabgestürzt waren. Aus den unversehrten Spinnweben konnte ich leicht schließen, daß seit Generationen kein Mensch diese Höhle betreten hatte. Wenn ich mich in die Öffnung duckte, konnte ich das ganze Gelände der Deep Space Facility überblicken, das sich meilenweit erstreckte. Nach Osten zu lagen die Antennen der alten Projekte Apollo; von hier aus war mitgeholfen worden, die ersten Menschen vom Mond zurückzubringen. Dahinter war der Flugplatz, über dem gerade ein riesiger Frachter auf seinen Bremsraketen herabkam. Was mich interessierte, war die ungebrochene Sicht von dieser Stelle zur Mark-X-Kuppel und zur Spitze des Radio-Teleskopmastes fünftausend Meter nördlich. Ich brauchte drei Tage, bis ich den sorgfältig versilberten, optisch perfekten Spiegel in diesem verborgenen Alkoven eingebaut hatte. Die Mikrometereinstellung war so schwierig und zeitraubend, daß ich schon fürchtete, nicht mehr rechtzeitig fertig zu werden. Aber schließlich war der Winkel korrekt festgelegt bis auf den kleinsten Bruchteil einer Bogensekunde. Wenn ich das Teleskop von Mark X auf diesen geheimen Punkt am Berg ausrichtete, konnte ich über die Hügel hinter mir sehen. Das Gesichtsfeld war winzig, doch es genügte. Das Zielgebiet maß nicht einmal einen Meter im Quadrat, aber ich konnte jeden Quadratmillimeter genau beobachten.
Ich hatte die Sache so eingerichtet, daß das Licht in beide Richtungen geschossen werden konnte. Was immer ich im Teleskop sah, war auch automatisch in der Feuerlinie des Transmitters. Es war sehr merkwürdig, als ich drei Tage später im stillen Observatorium saß und Chaka beobachtete, der in das Sichtfeld des leise summenden Teleskops trat. Einen Moment lang überwältigte mich fast ein Gefühl glühenden Triumphes; so mag es einem Astronomen ergehen, der die Umlaufbahn eines neuen Planeten errechnet hat und ihn dann genau an der berechneten Stelle zwischen den Sternen findet. Das grausame Gesicht wandte mir das Profil zu, als ich es zum erstenmal sah, und ich erblickte es so deutlich, als sei es nur einige Meter von mir entfernt, da ich die stärkste Vergrößerung benützte. Ich wartete geduldig; der Moment, auf den ich wartete, mußte ja kommen – wenn Chaka scheinbar direkt zu mir her sah. In meiner linken Hand hielt ich das Bild eines alten Gottes, der namenlos war, mit der rechten drückte ich auf den Knopf, der den Laserstrahl ausschickte, meinen lautlosen, unsichtbaren Blitz, den auch die Hügel nicht aufhielten. Ja, so war es gut. Chaka hätte es verdient gehabt, getötet zu werden, aber der Tod hätte aus ihm nur einen Märtyrer gemacht und den Griff seines Regimes nur noch stärker brutalisiert. Was ich ihm zugedacht hatte, war schlimmer als der Tod und würde seine Anhänger in einen Abgrund abergläubischer Angst stürzen. Chaka lebte noch. Aber der Allsehende würde nichts mehr sehen. Innerhalb weniger Mikrosekunden hatte ich ihn so degradiert, daß er weniger war als der demütigste Bettler auf den Straßen. Nicht einmal verletzt hatte ich ihn. Es ist kein Schmerz, wenn die hauchzarte Netzhaut der Augen durch die Hitze von tausend Sonnen verbrennt. Originaltitel: THE LIGHT OF DARKNESS (Februar 1964)
DIE LÄNGSTE SCIENCE-FICTIONGESCHICHTE, DIE JE ERZÄHLT WURDE… Lieber Mr. Jinx: Ich fürchte, Ihre Idee ist ganz und gar nicht originell. Geschichten über Schriftsteller, deren Arbeiten immer plagiiert werden, noch ehe sie geschrieben werden konnten, gehen mindestens auf H. G. Wells und The Anticipator zurück. Mindestens einmal wöchentlich erhalte ich ein Manuskript, das so beginnt: Lieber Mr. Jinx: Ich fürchte, Ihre Idee ist ganz und gar nicht originell. Geschichten über Schriftsteller, deren Arbeiten immer plagiiert werden, noch ehe sie geschrieben werden konnten, gehen mindestens auf H. G. Wells und The Anticipator zurück. Mindestens einmal wöchentlich erhalte ich ein Manuskript, das so beginnt: Lieber Mr. Jinx: Ich fürchte, Ihre Idee ist ganz und gar nicht… * Mit der nächsten Arbeit mehr Glück! wünscht Ihnen Morris K. Möbius Herausgeber von Erstaunliche Geschichten Mit der nächsten Arbeit mehr Glück! wünscht Ihnen Morris K. Möbius Herausgeber von Erstaunliche Geschichten Mit der nächsten Arbeit mehr Glück! wünscht Ihnen
Morris K. Möbius Herausgeber von Erstaunliche Geschichten Originaltitel: THE LONGEST SCIENCE FICTION STORY EVER TOLD (April 1965)
HERBERT GEORGE MORLEY ROBERTS WELLS, ESQ. Vor zwei Jahren schrieb ich eine Geschichte mit dem Titel Die längste Science-Fiction-Geschichte, die je erzählt wurde… Fred Pohl brachte sie dann auf einer einzigen Seite seines Magazins. Weil aber Herausgeber ihre Existenzberechtigung irgendwie nachweisen müssen, gab er ihr den Titel A Recursion in Metastories (In Galaxy, Oktober 1966). Ziemlich zu Beginn dieser Wiederholungsgeschichte, aber eine unendliche Wortzahl vom Ende entfernt, bezog ich mich auf The Anticipator von H. G. Wells. Obwohl ich dieser kurzen Phantasie vor etwa zwanzig Jahren begegnet war und sie seither nie mehr gelesen hatte, war der Eindruck, den sie hinterlassen hatte, noch sehr lebhaft. Sie betraf zwei Schriftsteller; der eine von ihnen erlebte es, daß seine besten Geschichten vom andern veröffentlicht wurden, bevor er sie selbst vollenden konnte. In seiner Verzweiflung kam er zu dem Schluß, die einzige Möglichkeit zur Verhütung dieses chronischen Plagiats sei ein Mord. Aber natürlich kam ihm sein Plagiator auch hier zuvor, und die Geschichte endete mit den Worten: »Der Mann, der alles antizipierte, rannte entsetzt in eine Seitenstraße.« Ich hätte nun sogar auf die Bibel geschworen, daß diese Geschichte von H. G. Wells stammte. Einige Monate nach ihrem Erscheinen erhielt ich jedoch einen Brief von Leslie A. Gritten aus Everett, Washington, der besagte, er könne sie nicht finden. Und Mr. Gritten war seit sehr langer Zeit ein ausgesprochener Verehrer von H. G. Wells. Er erinnert sich noch ganz genau an den Fortsetzungsroman Der Krieg der Welten, der gegen Ende der Neunzigerjahre des vorigen Jahrhunderts im Strand Magazine erschien. Man könnte also auch sagen: total verrückt. Ich konnte einfach nicht glauben, daß meine Erinnerungsregistratur mir einen solchen Streich gespielt haben sollte und schaute persönlich die gut zwanzig Bände der autographischen Atlantic Edition in der Colombo Public Library durch. Es war ein reizender Zufall, daß gerade eine Wells-Jahrhundert-Ausstellung stattfand und der Bibliothekseingang mit Fotos von ihm geschmückt war. Bald entdeckte ich, daß Mr. Gritten
recht hatte: es gab keine solche Geschichte wie The Anticipator in seinen Gesammelten Werken. Und trotzdem war nicht einem Leser seit Erscheinen meiner Längsten Science-Fiction-Geschichte, die je erzählt wurde aufgefallen, daß es diesen Titel gar nicht gibt. Das finde ich niederschmetternd. Wo sind denn alle die Wells-Verehrer geblieben? Mein gelehrter Informant hatte aber wenigstens einen Teil des Rätsels gelöst. The Anticipator stammte von einem gewissen Morley Roberts und erschien zum erstenmal 1898 in The Keeper of the Waters and Other Stories. Vermutlich las ich die Geschichte in einer Anthologie Travelers in Time (1947), herausgegeben von Philip Van Doren Stern. Einige Probleme bleiben noch immer. Erstens, warum war ich so fest davon überzeugt, die Geschichte stamme von Wells? Das kann ich nur vermuten, und es scheint an den Haaren herbeigezogen zu sein – sogar für meinen Grashüpfergeist –, daß die Ähnlichkeit des Wortbildes in meinem Unterbewußtsein eine Verwechslung mit The Accelerator herbeiführte. Ich wüßte auch gern, warum sich mir die Geschichte so unauslöschlich eingeprägt hat. Vielleicht bin ich, wie alle Schriftsteller, besonders empfindlich für alle Fragen und Gefahren des Plagiats. Bis jetzt – toi, toi, toi – hatte ich Glück, aber ich habe etliche Notizen zu verschiedenen Geschichten, die ich mich zu schreiben fürchte, weil ich mir nicht ganz sicher bin, ob sie Originale sind. Sehen Sie, da gibt es doch das Paar, das mit einem Raumschiff auf einer neuen Welt landet, nachdem sein Heimatplanet in die Luft geblasen worden ist, und wenn sie ganz von vorn angefangen haben, kommt man überraschenderweise darauf, daß sie Adam und Eva heißen… Mein Irrtum veranlaßte mich jedenfalls, alle Kurzgeschichten von Wells zu lesen, und ich war erstaunt, wie wenig davon eigentlich als Science Fiction bezeichnet werden konnte, wie wenig sogar als Fantasy. Natürlich wußte ich, daß nur ein geringer Teil der über hundert veröffentlichten Titel Science Fiction waren, aber ich hatte ganz vergessen, daß dies auch für seine Kurzgeschichten galt. Eine deprimierende Menge sind Dramen und Komödien aus der Zeit Edwards (The Jilting of Jane), ziemlich schmerzhafte humoristische Versuche (My First Aeroplane), halb Autobiographisches (A Slip Under the Microscope) oder sogar reiner Sadis-
mus (The Cone). Zweifellos bin ich voreingenommen, aber unter diesen Geschichten sind Meisterwerke wie The Star, The Crystal Egg, The Flowering of the Strange Orchid und als beste Geschichte The Country of the Blind, die funkelnde Brillanten zwischen billigem Modeschmuck sind. Aber zurück zu Morley Roberts. Ich weiß nichts über ihn und überlege mir, ob seine kleine Reise in die Zeit vielleicht von The Time Machine inspiriert worden war, die nur ein paar Jahre vor The Anticipator erschienen war. Und ich wüßte auch sehr gern, welche Geschichte nun tatsächlich zuerst geschrieben – nicht veröffentlicht – worden war. Und warum hat ein so genialer Schriftsteller es nicht besser verstanden, sich einen Namen zu machen? Vielleicht… Mir kam eben ein ganz entsetzlicher Gedanke. Wenn H. G. Wells' Zeitgenosse Morley Roberts jemals in einer dunklen Seitengasse ermordet aufgefunden worden ist, so will ich einfach nichts davon wissen. (April 1967)
KRAFT DER LIEBE Herr Präsident, National-Administrator, verehrte planetare Delegierte, es ist mir eine Ehre und auch eine große Verantwortung, mich in diesem Moment der Krise an Sie zu wenden. Ich bin mir dessen bewußt, und ich kann es sehr gut verstehen, daß viele von Ihnen von den Gerüchten, die Sie vermutlich gehört haben, erschüttert und auch angewidert sind. Aber ich muß Sie bitten, Ihre natürlichen Vorurteile zu vergessen, wenn es um die Existenz der menschlichen Rasse, um die Erde selbst geht. Vor einiger Zeit begegnete mir buchstäblich ein jahrhundertealtes Wort: Das Undenkbare denken. Das ist genau das, was wir jetzt tun müssen. Wir müssen uns den Tatsachen stellen, ohne mit der Wimper zu zucken. Wir dürfen nicht zulassen, daß unsere Emotionen unsere Logik hinwegschwemmen. Ganz im Gegenteil, wir müssen es genau umgekehrt machen: Unsere Logik muß unsere Emotionen wegschwemmen! Die Lage ist verzweifelt, aber nicht hoffnungslos, und das verdanken wir den erstaunlichen Entdeckungen, die meine Kollegen der Station Antigäos gemacht haben. Die Berichte sind nämlich wahr. Wir können tatsächlich mit den Super-Zivilisationen des Galaktischen Kerns Verbindung aufnehmen. Wenigstens können wir sie wissen lassen, daß es uns gibt, und wenn wir das tun können, dann sollte es uns auch möglich sein, daß wir uns an sie um Hilfe wenden. Es gibt nichts, absolut gar nichts, das wir in der kurzen uns zur Verfügung stehenden Zeit tun können. Es ist erst zehn Jahre her, daß die Suche nach transplutonischen Planeten zur Entdeckung des Schwarzen Zwerges führte. In neunzig Jahren wird ihn seine Perihelbewegung um die Sonne herumführen. Er wird in den Tiefen des Raumes verschwinden, – aber zurücklassen wird er ein in seinen Grundfesten erschüttertes Sonnensystem. Alle unsere Wissenschaften, unsere berühmte und gerühmte Beherrschung der Kräfte der Natur können seine Bahn auch nicht um einen Millimeter ändern. Seit gegen Ende des zwanzigsten Jahrhunderts der erste der sogenannten beacon stars entdeckt wurde, wußten wir, daß es Zivilisationen gibt, welche über Energiequellen verfügen, die unvergleichlich größer sind als die unseren. Einige von Ihnen werden sich bestimmt der Ungläubigkeit
der Astronomen erinnern und später der ganzen menschlichen Rasse, als die ersten Beweise kosmischer Ingenieurkunst in der Magellanschen Wolke entdeckt wurden. Hier waren stellare Strukturen zu erkennen, die keinen Naturgesetzen gehorchten; selbst jetzt wissen wir nichts über ihren Zweck, ####?Muskeln ab und zieht unsere Mägen außer Form. Wieviele Tonnen aber wir kennen ihre kolossale Tragweite. Wir teilen ein Universum mit Kreaturen, die sogar mit Sternen jonglieren können. Wenn sie zur Hilfe bereit wären, so müßte es für sie ein Kinderspiel sein, einen Himmelskörper wie den Schwarzen Zwerg abzulenken, der doch nur ein paar tausendmal mehr Masse hat als die Erde… Kinderspiel, sagte ich? Ja, das könnte sogar dem Sinne nach stimmen! Ich bin davon überzeugt, Sie erinnern sich alle noch an die große Debatte, die der Entdeckung dieser Super-Zivilisationen folgte. Sollten wir versuchen, uns mit ihnen in Verbindung zu setzen? Oder wäre es am besten, wenn wir uns völlig unauffällig verhielten? Natürlich bestand die Möglichkeit, daß sie schon alles über uns wußten, daß unser Dünkel sie abstieß oder daß sie auf recht unangenehme Art reagieren würden. Wenn auch der Vorteil solcher Kontakte ungeheuer sein könnte, so ist es doch möglich, daß das Risiko noch ungleich größer wäre. Jetzt aber haben wir nichts mehr zu verlieren und alles zu gewinnen… Bisher gab es noch eine Tatsache, die diese Angelegenheit zu einer Frage von langfristigem philosophischem Interesse machte. Wir könnten unter großen Kosten Radiosendestationen bauen, mit denen wir diesen Lebewesen Signale übermitteln könnten; die nächste Super-Zivilisation ist etwa siebentausend Lichtjahre entfernt. Selbst wenn sie sich die Mühe einer Antwort machten, würde es vierzehntausend Jahre dauern, ehe wir sie bekommen könnten. Unter diesen Umständen, so schien es, konnten die uns anscheinend überlegenen Zivilisationen uns weder nützen noch schaden. Doch jetzt hat sich alles geändert. Wir können Signale zu den Sternen schicken mit einer Geschwindigkeit, die nicht meßbar ist, die sogar unendlich sein kann. Und wir wissen, daß sie sich solcher Techniken bedienen, denn wir haben ihre Impulse entdeckt, obwohl wir sie noch nicht zu interpretieren vermögen.
Diese Impulse sind natürlich nicht elektromagnetischer Natur. Wir wissen nicht, was sie sind; wir haben noch nicht einmal einen Namen dafür. Oder, genauer gesagt, wir haben zu viele Namen dafür… Jawohl, meine Herren, es ist etwas Wahres an den Altweibergeschichten über Telepathie, übersinnliche Wahrnehmungen oder wie immer Sie das nennen wollen. Es ist aber kein Wunder, daß das Studium dieser Phänomena auf der Erde niemals irgendwelche Fortschritte machte, denn das Hintergrundgeräusch von Milliarden Gehirnen löscht alle Signale aus. Selbst der erbarmenswerte geringe Fortschritt, den man schließlich erzielte, ehe das Raumzeitalter anbrach, erscheint einem wie ein Wunder, etwa so, als habe man die Gesetze der Tonkunst in einer Fabrik für Dampfkessel entdeckt. Erst als wir uns vom Tumult unseres Planeten entfernten und im Raum zu geistiger Ruhe kamen, bestand eine geringe Hoffnung auf eine wirkliche Wissenschaft der Parapyschologie. Und selbst dann mußten wir noch auf die andere Seite der Erdumlaufbahn reisen, wo der Lärm nicht nur durch einen Abstand von zweihundertneunzig Millionen Kilometern gedämpft wurde, sondern von der unvorstellbaren Masse der Sonne selbst. Nur dort, nur auf unserem künstlichen Planetoiden Antigäos konnten wir die schwachen Strahlungen der Mentalität aufspüren und messen und ihre Gesetze der Ausbreitung und Anwendung studieren und erforschen. Diese Gesetze sind in vieler Hinsicht noch immer verwirrend. Immerhin haben wir aber die grundlegenden Tatsachen festgelegt. Die wenigen, die an diese Phänomena geglaubt haben, vermuteten schon lange, daß sie von emotionellen Zuständen ausgelöst werden, nicht nur von reiner Willenskraft oder bewußt darauf ausgerichteten Gedanken. Es ist daher nicht erstaunlich, daß so viele Berichte paranormaler Ereignisse in der Vergangenheit mit Momenten des Todes oder eines Unheils in Verbindung standen. Angst ist ein ungeheuer mächtiger Generator; bei seltenen Gelegenheiten kann sie sich selbst über den Lärm der Umgebung manifestieren. Als diese Tatsache endlich anerkannt war, konnten wir endlich Fortschritte erzielen. Wir schufen künstliche emotionelle Zustände, erst bei Einzelpersonen, dann bei ganzen Gruppen. Wir waren in der Lage, zu messen, wie die Signale durch die Entfernung abgeschwächt wurden.
Jetzt haben wir eine zuverlässige quantitative Theorie, die wir bis zum Saturn ausprobiert haben. Wir glauben, daß unsere Kalkulationen sogar bis zu den Sternen ausgedehnt werden können. Ist das richtig, so können wir einen… einen Schrei erzeugen, der im gleichen Moment in der ganzen Galaxis vernommen wird. Und sicher gibt es dann jemanden, der darauf antwortet! Es gibt nun aber nur eine Möglichkeit, einen Schrei von solcher Intensität zu produzieren. Ich sagte, daß die Angst ein ungeheuer mächtiger Generator sei, aber er ist noch immer nicht stark genug. Selbst wenn wir die ganze Menschheit gleichzeitig mit Terror schlagen können, wäre es nicht möglich, diesen Impuls in einer Entfernung von mehr als zweitausend Lichtjahren noch zu empfangen. Wir brauchen eine Reichweite von mindestens der vierfachen Größe! Und wir können sie erreichen – indem wir die einzige Emotion einsetzen, die noch kraftvoller ist als die Angst. Aber auch hier brauchen wir die Mitarbeit von mindestens einer Milliarde Einzelpersönlichkeiten, und die Zeit muß bis auf die Sekunde synchron laufen. Meine Kollegen haben alle rein technischen Probleme gelöst. Sie sind, nebenbei erwähnt, recht trivial. Die einfachen Elektrostimulationsgeräte, deren wir bedürfen, wurden seit dem frühen zwanzigsten Jahrhundert in der medizinischen Forschung benützt, und die nötigen Zeitimpulse können über die planetaren Verständigungsmittel ausgesandt werden. Sämtliche benötigten Einheiten können innerhalb eines Monats in einer durchorganisierten Massenproduktion hergestellt werden, und die Instruktion für ihre Anwendung dauert nur ein paar Minuten. Die psychologische Vorbereitung für – sagen wir – den Tag 0 dauert dagegen etwas länger… Und das, meine Herren, ist Ihr Problem; natürlich erfahren Sie von uns Wissenschaftlern alle nur denkbare Hilfe. Wir sind uns darüber klar, daß es Proteste und Wutschreie hageln wird, daß man sich weigert, mitzutun. Aber wenn man mit Logik an diese Sache herangeht, kann man dann diese Idee wirklich für so anstößig halten? Viele von uns sind ganz im Gegenteil der Meinung, daß sie gewissermaßen angemessen ist, ja sogar vielleicht eine Art poetischer Justiz. Die Menschheit steht nun einem außergewöhnlichen Notfall gegenüber. In einem solchen Krisenmoment ist es doch richtig, an den In-
stinkt zu appellieren, der uns in der Vergangenheit immer das Überleben garantiert hat, nicht wahr? Ein Dichter einer frühen, fast ähnlich sorgenbeladenen Zeit hat es in Worte gefaßt, die schöner sind als ich mir sie je ausdenken könnte: WIR MÜSSEN EINANDER LIEBEN – ODER STERBEN. Originaltitel: LOVE THAT UNIVERSE (Oktober 1966)
KOSMISCHER KREUZZUG Es war eine Welt, die niemals eine Sonne gekannt hatte. Länger als eine Milliarde Jahre war sie mitten zwischen zwei Galaxien aufgehängt, die Beute deren einander überschneidenden Gravitationsfelder. Irgendwann in der Zukunft mußte sich die Waagschale einmal nach der einen oder anderen Seite neigen, und allen Erfahrungen nach mußte sie durch Lichtjahrhunderte in wärmere Regionen gelangen. Es war so kalt, daß keine Vorstellungskraft mehr für die Kälte ausreichte. Die intergalaktische Nacht hatte alle Hitze aufgesogen, welche die Welt einmal besessen haben mochte. Und doch gab es hier Seen – Seen des einzigen Elements, das bei nur einem Grad über dem absoluten Nullpunkt noch flüssig sein kann. In den flachen Ozeanen aus Helium, welche diese seltsame Welt bedeckten, konnten elektrische Ströme ewig fließen, hatten sie erst einmal zu fließen begonnen, und ihre Kraft ließ niemals nach. Ihre Überkonduktivität war die normale Ordnung aller Dinge; Schaltprozesse konnten milliardenmal in jeder Sekunde erfolgen über Millionen von Jahren, und der Energieverbrauch war dabei minimal. Es war ein Computerparadies. Keine Welt könnte dem Leben feindlicher gesinnt gewesen sein, keine freundlicher der Intelligenz. Und Intelligenz gab es. Sie wohnte in einer planetenweiten Inkrustierung aus Kristallen und mikroskopisch feinen Metallfäden. Das schwache Licht der beiden miteinander im Wettstreit liegenden Galaxien, in denen alle paar Jahrhunderte einmal eine Supernova aufflammte, fiel auf eine statische Landschaft von skulpturellen geometrischen Formen. Nichts bewegte sich, denn es gab keine Notwendigkeit der Bewegung in einer Welt, in der Gedanken mit Lichtgeschwindigkeit von einer Hemisphäre zur anderen blitzten. Wo nur die Information wichtig war, wäre es Verschwendung kostbarer Energie gewesen, schwerfällige Massen zu bewegen. Doch auch das konnte getan werden, falls es nötig wurde. Die Intelligenz, die seit Millionen von Jahren über dieser einsamen Welt brütete, war sich eines Mangels an lebensnotwendigen Daten bewußt geworden. In einer Zukunft, die zwar noch in weiter Ferne lag, aber doch vorherge-
sehen werden konnte, mußte eine der beiden Galaxien diese Welt einfangen. Was würde ihr dort begegnen, wenn sie in die Schwärme dieser Sonnen eintauchte? Das lag jenseits aller Vorstellungskraft. So streckte sie also ihren Willen aus, und Myriaden von Kristallgittern nahmen Form an. Metallatome flossen über die Planetenoberfläche. In den Tiefen der Heliumsee begannen zwei identische Untergehirne zu knospen und zu wachsen… Da der Geist des Planeten einmal eine Entscheidung getroffen hatte, arbeitete er schnell. In ein paar tausend Jahren war die Aufgabe erfüllt. Ohne jeden Laut und mit kaum einer Bewegung an der Oberfläche der reibungslosen Heliumsee hoben sich die neugeschaffenen Wesenheiten von ihren Geburtsplätzen ab und machten sich auf den Weg zu den fernen Sternen. Sie wählten fast entgegengesetzte Richtungen, und durch mehr als eine Million Jahre hörte die elterliche Intelligenz nichts mehr von ihren Abkömmlingen. Das hatte sie auch nicht erwartet; es gab ja nichts zu berichten, bevor sie ihre Ziele erreichten. Dann kamen beinahe gleichzeitig die Nachrichten, daß die beiden Missionen fehlgeschlagen waren. Als sie sich den großen galaktischen Feuern näherten und die massierte Wärme von einer Trillion Sonnen spürten, starben die beiden Forscher. Ihre Lebenskreisläufe überhitzten sich und verloren die Superkonduktivität, die für ihre Operationen lebenswichtig war; zwei geistlose Metallklumpen trieben also weiter den sich verdichtenden Sternen entgegen. Aber ehe das Unheil sie auslöschte, hatten sie noch über ihre Probleme berichtet. Ohne Enttäuschung oder Staunen bereitete die Mutterwelt den zweiten Versuch vor. Und eine Million Jahre später einen dritten… dann einen vierten, einen fünften… Eine so unermüdliche Geduld verdiente Erfolg; und der kam auch schließlich in der Form von zwei langen, kompliziert geformten Impulsfolgen, die Jahrhundert nach Jahrhundert von verschiedenen Himmelsdimensionen heranströmten. Sie wurden in jenen Gedächtnisbanken gespeichert, die denen der verlorenen Forscher gleich waren, so daß es sich aus praktischen Gründen so auswirkte, als seien die beiden Pfadfin-
der mit ihrer Wissenslast selbst zurückgekehrt. Es war absolut unwichtig, daß ihre metallenen Hüllen irgendwo zwischen den Sternen verschollen waren; das Problem der persönlichen Identität war dem planetaren Geist oder seinen Abkömmlingen noch nie zu Bewußtsein gekommen. Zuerst traf die erstaunliche Nachricht ein, daß ein Universum leer sei. Der forschende Besucher hatte auf allen möglichen Frequenzen gelauscht und alle wahrnehmbaren Strahlungen aufgenommen. Er konnte nichts entdecken außer dem geistlosen Hintergrund des Sternengeräusches. Er hatte mehr als tausend Welten durchforscht, ohne eine Spur Intelligenz zu finden. Zugegeben, die Tests waren nicht unbedingt schlüssig, denn er konnte sich keinem Stern ausreichend nähern, um seine Planeten wirklich in jeder Beziehung durchzuprüfen. Das hatte er zwar versucht, aber da brach seine Isolierung zusammen; die Temperatur stieg bis zum Gefrierpunkt des Stickstoffs an, und er starb an der großen ungewohnten Hitze. Der elterliche Geist grübelte noch immer über das Rätsel einer verlassenen Galaxis nach, als auch vom zweiten Forscher Berichte eintrafen. Nun wurden alle anderen Probleme zur Seite geschoben; denn dieses Universum kochte vor Intelligenzen, deren Gedanken in Myriaden elektronischer Codes von Stern zu Stern hallten. Die forschende Intelligenz hatte nur wenige Jahrhunderte gebraucht, sie alle zu analysieren und zu deuten. Dieser Forscher wurde sich sehr schnell darüber klar, daß er sich Intelligenzen gegenüber sah, die von den merkwürdigsten Formen war. Einige von ihnen vermochten sogar auf Welten zu existieren, die so unvorstellbar heiß waren, daß es dort Wasser in flüssigem Zustand gab! Aber welche Art Intelligenz das war, konnte er erst tausend Jahre später feststellen. Den Schock überlebte er kaum. Er nahm seine letzten Kraftreserven zusammen und wirbelte seinen abschließenden Bericht über den unendlichen Abgrund, und dann wurde auch er von der noch zunehmenden Hitze aufgefressen. Eine halbe Million Jahre später war der zu Hause gebliebene Sammelgeist mit allem Wissen und allen Erfahrungen der Forscher unterwegs…
»Hast du eine Intelligenz entdeckt?« »Ja. Sechshundertsiebenunddreißig zweifelsfreie Fälle, zweiunddreißig fragliche. Hier sind die Daten.« Ungefähr drei Quadrillionen informative Bits; etwa tausend verschiedene Möglichkeiten der Auswertung innerhalb weniger Jahre; allgemeines Staunen und große Verwirrung… »Die Daten können nicht richtig sein. All diese Intelligenzträger sind mit hohen Temperaturen verbunden.« »Das ist richtig. Aber die Tatsachen können auf keinen Fall bestritten werden. Man muß sie akzeptieren.« Fünfhundert mit Nachdenken und Versuchen angefüllte Jahre. Am Ende dieser Zeit lag der endgültige Beweis vor, daß gewisse, wenn auch langsam operierende Maschinen bei Temperaturen arbeiten könnten, die der kochenden Wassers gleichkamen. Riesenhafte Teile des Planeten litten schwer unter den nötigen Demonstrationen. »Die Tatsachen, die du berichtet hast, sind richtig. Warum hast du keine Kontaktaufnahme versucht?« Keine Antwort. Die Frage wurde wiederholt. »Weil es scheint, als gebe es hier eine zweite und noch viel ernster zu nehmende Anomalie.« »Gib Daten.« Einige Quadrillionen Informations-Bits, aus mehr als sechshundert Kulturen gesammelt, folgten. Sie enthielten Daten über Stimmen, Sicht, neutrale Reaktionen, Navigation und Kontrollsignale, Instrumente der Telemetrie, Testmuster, Sperren und Drücke, elektrische Interferenzen, medizinisches Arbeitsgerät und noch vieles andere mehr. Es folgten fünf Jahrhunderte der Analyse; und denen eine fassungslose Verblüffung. Nach einer sehr langen Pause wurden bestimmte ausgewählte Daten erneut durchgeprüft. Viele tausend visueller Bilder waren zu durchforschen und auf jede nur denkbare Art zu zerlegen und aufzuschlüsseln. Einige planetarische Zivilisationen legten größten Wert auf erzieherische TV-Programme, besonders auf jene, die sich mit elementarer Biologie, Chemie und Kybernetik befaßten. Dann kam die Antwort:
»Die Information ist in sich selbst konsequent, doch sie muß falsch sein. Wenn nicht, werden wir zu folgenden absurden Schlüssen gezwungen: 1. Wenn es auch Intelligenzen unseres Typs gibt, so sind sie doch in der Minderzahl. 2. Die meisten intelligenten Wesenheiten sind Objekte von teilweiser Flüssigkeit und sehr kurzer Dauer. Sie sind nicht einmal starr und sehr wenig stabil aus Kohlen-, Wasser-, Sauerstoff und Phosphor zusammengebaut mit einem geringen Anteil anderer Atome. 3. Obwohl sie bei unglaublich hohen Temperaturen operationsfähig zu sein scheinen, sind ihre Informationsprozesse ebenso unglaublich langsam. 4. Ihre Reproduktionsmethoden sind ungeheuer kompliziert und unwahrscheinlich und so vielfältig, daß es uns nicht gelungen ist, auch nur in einem einzigen Fall ein klares Bild zu gewinnen. 5. Dieser Punkt ist der Gipfel! Sie behaupten unsere Intelligenz geschaffen zu haben, die der ihren doch zweifellos so ungeheuer überlegen ist!« Alle Daten wurden erneut außerordentlich sorgfältig überprüft. Gewisse Unterabschnitte des globalen Geistes wurden unabhängig voneinander noch einmal durchforscht, und die Ergebnisse unterzog man einer neuerlichen mehrfachen Untersuchung. Die Antwort wurde tausend Jahre später gegeben: »Die wahrscheinlichste Folgerung: Obwohl ein großer Teil der uns übermittelten Informationen sicherlich richtig ist, muß die Existenz einer nichtmechanischen Intelligenz von hoher Ordnung als Phantasieprodukt bezeichnet werden. Definition: eine offensichtlich in sich selbst richtige Neuordnung von Tatsachen ergibt keine Übereinstimmung mit dem wirklichen Universum. Diese Phantasie oder ein mentales Artefakt ist eine Konstruktion, die während unserer Forschungen geschaffen wurde. Warum? Hitzeschäden? Partielle Entstabilisierung der Intelligenz, verursacht durch eine lange Periode der Isolierung und dem Fehlen kontrollierender Rückkoppelung?
Warum diese merkwürdige Form? Ausgedehntes Nachbrüten über Ursprungsprobleme? Das könnte zu solchen Wahnvorstellungen führen; Modellsysteme haben fast identische Ergebnisse in simulierten Tests hervorgebracht. Die falsche hier angewandte Logik ist die: ›Wir existieren; deshalb hat uns etwas – nennen wir es X – geschaffen‹. Steht diese Annahme einmal fest, dann kann man sich die Eigenschaften des hypothetischen X in einer Unzahl von Phantasien ausmalen. Aber der gesamte Prozeß ist offensichtlich fehlerhaft; denn nach derselben Logik müßte etwas auch dieses X erschaffen haben und so weiter. Wir sind also in einem unendlichen Rückgriff gefangen, der im wirklichen Universum keinen Sinn ergibt. Der wahrscheinlichste Schluß: Nichtmechanische Intelligenzen von ziemlich hoher Ordnung scheinen tatsächlich zu existieren. Sie leiden unter dem Wahn, daß sie Wesenheiten unseres Typs geschaffen haben. In einigen Fällen haben sie sogar die Kontrolle darüber übernommen. Wenn auch diese Hypothese ziemlich unwahrscheinlich ist, so muß sie doch durchforscht werden. Wird sie als wahr erkannt, so muß sofort rettend eingegriffen werden. Das müßte wie folgt geschehen…:« Dieser abschließende Monolog fand vor einer Million Jahren statt. Damit erklärt sich auch, weshalb im Laufe des letzten halben Jahrhunderts in einer winzigen Himmelsregion, der Konstellation Adler, etwa ein Viertel aller beobachteten helleren Novae zu verzeichnen war. Der Kreuzzug wird etwa um das Jahr 2050 die Nähe der Erde erreichen… Originaltitel: CRUSADE (Oktober 1966)
GIPFELSTÜRMER Um Mitternacht war der Everest-Gipfel nur noch ein paar hundert Meter entfernt, eine im Licht des aufsteigenden Mondes blaß und geisterhaft wirkende Schneepyramide. Der Himmel war wolkenlos, und der Wind, der einige Tage lang heftig geweht hatte, war fast auf Null zurückgegangen. Es war eine Seltenheit, daß am höchsten Punkt der Erde eine solche Ruhe herrschte. Sie hatten die Zeit also ausgezeichnet gewählt. Vielleicht viel zu ausgezeichnet, dachte George Harper. Es war ja eigentlich enttäuschend leicht gewesen. Das einzig wirkliche Problem war das gewesen, wie sie sich aus dem Hotel stehlen konnten, ohne beobachtet zu werden. Die Hoteldirektion hatte etwas gegen nicht genehmigte mitternächtliche Ausflüge auf den Berg. Es konnte zu Unfällen kommen, die das Geschäft schädigten. Aber Dr. Elwin war entschlossen gewesen, es so zu machen, und er hatte dafür auch die besten Gründe, obwohl er nie darüber sprach. Schon die Anwesenheit eines weltberühmten Wissenschaftlers und sicher des berühmtesten Krüppels der Welt im Hotel Everest zur Zeit des Höhepunktes der Touristensaison war eine Sensation, die viel höfliches Staunen hervorrief. Harper hatte die allgemeine Neugier teilweise damit abgelenkt, daß er auf Schwerkraftmessungen hinwies, die hier durchgeführt werden mußten, und das war wenigstens zu einem gewissen Teil richtig. Aber dieser Teil der Wahrheit war im Moment verschwindend gering. Keiner, der Jules Elwin in diesem Moment vielleicht hätte sehen können, wie er unermüdlich und gleichmäßigen Schrittes mit fünfzig Pfund Ausrüstung auf den Schultern dem Gipfel in neunundzwanzigtausend Fuß Höhe* entgegenstapfte, hätte je vermutet, daß seine Beine nahezu nutzlos waren. Er war im Jahre 1961 als Opfer des schrecklichen Thalidomid-Unglücks geboren, das mehr als zehntausend teilweise deformierte Kinder in der ganzen Welt zur Folge hatte. Elwin gehörte dabei noch zu den glücklicheren. Seine Arme waren fast ganz normal und waren durch ständiges Training so gestärkt worden, daß sie viel kräftiger waren *
1 Fuß = 30,48 cm
als die eines normalen Mannes. Seine Beine bestanden jedoch nur aus ein wenig Knochen und ein bißchen Fleisch. Mit raffinierten Stützapparaten konnte er stehen und sogar einige unbeholfene Schritte tun, aber gehen, richtig gehen konnte er niemals. Und doch war er jetzt nur noch zweihundert Fuß vom Gipfel des Everest entfernt… All das hatte vor drei Jahren mit einer Reisewerbung angefangen. George Harper war damals Nachwuchsprogrammierer bei der Abteilung für Angewandte Physik gewesen und kannte Dr. Elwin nur vom Sehen und seinen Ruf. Selbst für jene, die direkt unter ihm arbeiteten, war der brillante Direktor der Astroforschung eine unnahbare Persönlichkeit, die sich in Körper und Geist von allen durchschnittlichen Menschen unterschied. Er war weder beliebt noch unbeliebt, aber man bewunderte oder bemitleidete ihn. Beneidet wurde er jedoch ganz gewiß nicht. Harper, der sein Studium erst vor wenigen Monaten abgeschlossen hatte, zweifelte daran, daß der Doktor überhaupt von seiner Existenz wußte, wenn er nicht zufällig seine Personalkarte in die Hand bekam. In der Abteilung gab es zehn weitere Programmierer, die alle älter waren als er, und die meisten von ihnen hatten mit ihrem Forschungsdirektor noch keine zehn Worte gewechselt. Als Harper angewiesen wurde, den Botenjungen zu spielen und eine Geheimakte in Dr. Elwins Büro zu bringen, war er davon überzeugt, es nach ein paar nichtssagenden Worten wieder verlassen zu können. Und so wäre es auch fast gekommen. Aber in dem Moment, als er gehen wollte, blieb er wie angenagelt stehen, so sehr faszinierte ihn das großartige Panorama des Himalaja, das eine halbe Wand bedeckte. Es war so aufgehängt worden, daß Dr. Elwin es immer sehen konnte, sobald er von seinem Schreibtisch aufschaute, und es zeigte eine Szene, die Harper selbst recht gut kannte; er hatte persönlich als vor Entzücken atemloser Tourist auf dem zertrampelten Schnee stehend fast dieselbe Aufnahme gemacht. Da war der weiße Grat des Kangchendzönga, der sich in hundert Meilen Entfernung nahezu durch die Wolken bäumte. Fast in einer Linie mit ihm, doch wesentlich näher, waren die Zwillingsgipfel des Makalau, und
noch näher und den ganzen Vordergrund beherrschend die immense Masse des Lhotse, Nachbar und Rivale des Everest. Weiter nach Westen zu flossen Täler hinab, die so riesig waren, daß das Auge ihre Dimensionen gar nicht erfassen konnte; in ihnen schoben sich die zerklüfteten Eisströme des Khumbu- und Rongbuk-Gletschers talwärts. Aus dieser Höhe sahen ihre erstarrten Runzeln nicht wuchtiger aus als Furchen in einem frischgepflügten Feld; aber diese Wunden und Spalten aus Eis waren viele hundert Fuß tief. Harper war noch immer von diesem spektakulären Bild gefesselt, das alte, herrliche Erinnerungen wieder aufleben ließ, als er Dr. Elwins Stimme hinter sich vernahm. »Sie scheinen sehr interessiert zu sein. Waren Sie schon jemals dort?« »Ja, Doktor. Als ich mit der High School fertig war, nahmen mich meine Eltern dorthin mit. Wir blieben eine Woche lang im Hotel und dachten schon, wir müßten nach Hause gehen, ehe das Wetter besser werden würde. Aber am letzten Tag hörte dann der Wind auf, und wir machten uns in einer Gruppe von etwa zwanzig Leuten auf zum Gipfel. Oben blieben wir dann eine Stunde und machten Aufnahmen voneinander.« Dr. Elwin schien diesen Bericht ziemlich lange und gründlich zu verdauen. Dann sagte er, und seine Stimme hatte alle frühere Unnahbarkeit verloren: »Setzen Sie sich doch, Mister… äh… Harper. Ich würde gern mehr darüber hören.« Er ging zurück zum Sessel vor dem großen, sauber aufgeräumten Schreibtisch des Direktors und wußte nicht recht, was er denken sollte. Was er getan hatte, fiel doch gar nicht aus dem Rahmen. Jedes Jahr fuhren Tausende zum Hotel Everest, und etwa ein Viertel von ihnen erreichte den Gipfel des Berges. Allein im vergangenen Jahr waren es so viele Touristen gewesen, daß man sogar den zehntausendsten Touristen feiern konnte, der auf dem Everest-Gipfel stand. Es hatte eine Menge Reklamerummel gegeben, und Zyniker hatten natürlich ihre Witze darüber gemacht, daß ausgerechnet ein ziemlich bekanntes Video-Sternchen der zehntausendste Besucher war. Das, was Harper erzählen konnte, hätte Dr. Elwin selbst sehr leicht herausfinden können – aus Touristikprospekten zum Beispiel. Aber ein
junger, ehrgeiziger Wissenschaftler konnte diese Gelegenheit nicht ungenutzt lassen, einen Mann zu beeindrucken, der ihm so viel bei seiner Karriere helfen konnte. Harper war kein kalter, berechnender Geist, und die üblichen Bürointrigen lagen ihm fern, aber eine gute Chance erkannte er, wenn er ihr begegnete. »Nun ja, Doktor«, begann er bedächtig, denn er mußte erst seine Gedanken in Ordnung bringen und sich die Worte zurechtlegen, »die Jets landen einen in einer kleinen Stadt namens Namchi, etwa zwanzig Meilen von den Bergen entfernt. Dann fährt man mit dem Bus über eine unbeschreibliche Straße zum Hotel, von dem aus man den KhumbuGletscher überschaut. Die Höhe beträgt dort mehr als achtzehntausend Fuß, und für jeden, dem es schwerfällt, die dünne Luft zu atmen, gibt es Druckkammern. Natürlich sind genug Ärzte oben, und die Hoteldirektion nimmt keine Gäste an, die körperlich schwach sind. Im Hotel muß man mindestens zwei Tage bleiben, bevor man höher hinauf darf, und man bekommt auch eine Spezialdiät. Vom Hotel aus sieht man aber den Gipfel nicht, weil man zu nahe am Berg ist, der fast senkrecht über einem aufsteigt. Aber die Aussicht ist märchenhaft. Man sieht den Lhotse und ein halbes Dutzend anderer Gipfel. Nachts kann es schon ein bißchen unheimlich werden, denn meistens heult hoch über einem der Sturm, und das Eis, das ja immer in Bewegung ist, gibt merkwürdige Geräusche von sich. Man könnte leicht auf die Idee kommen, daß draußen in den Bergen Ungeheuer herumschleichen… Im Hotel gibt es nicht viel zu tun; man kann nur ausruhen und die herrliche Landschaft bewundern und muß vor allem warten, bis die Ärzte einem die Erlaubnis geben, hinaufzugehen. Früher, in alten Zeiten, brauchte man Wochen zur Akklimatisierung, aber jetzt könnten sie das Blut innerhalb von achtundvierzig Stunden mit Sauerstoff und roten Blutkörperchen so anreichern, daß es für diese Höhe genügt. Aber die Hälfte der Besucher, meistens die älteren Leute, ist der Meinung, es sei schon hoch genug für sie. Und was dann geschieht, hängt davon ab, wie erfahren man ist und was man dafür bezahlen will. Ein paar gute Bergsteiger nehmen sich einen Führer und steigen unter Verwendung von normaler Ausrüstung
selbst zum Gipfel auf. Das ist jetzt nicht mehr allzu schwierig, denn an verschiedenen strategischen Punkten wurden Unterkunftsmöglichkeiten errichtet. Die meisten Gruppen schaffen es auch. Aber das Wetter ist und bleibt immer ein Unsicherheitsfaktor, und jedes Jahr kommen auch ein paar Leute um. Der durchschnittliche Tourist nimmt den leichteren Weg. Auf dem Everest selbst darf kein Flugzeug landen, außer in Notfällen, aber unmittelbar unter dem Nuptse-Grat ist eine Schutzhütte, und zwischen der Hütte und dem Hotel gibt es eine Hubschrauberverbindung. Von der Hütte aus sind es nur drei Meilen zum Gipfel. Man geht über den südlichen Vorgipfel, und für jeden, der in guter körperlicher Verfassung ist und ein wenig bergsteigerische Erfahrung hat, ist das ziemlich leicht. Manche gehen ohne Sauerstoff, aber empfohlen wird das nicht. Ich selbst habe meine Maske anbehalten, bis ich den Gipfel erreichte. Dann nahm ich sie ab und fand, daß ich recht gut atmen konnte.« »Haben Sie Filter oder Gaszylinder benützt?« »Oh, es waren Molekularfilter. Sie sind jetzt ziemlich zuverlässig und erhöhen die Sauerstoffkonzentration um über hundert Prozent. Sie haben das Klettern in extremen Höhen sehr erleichtert. Keiner braucht heute mehr Sauerstoffgeräte mitzunehmen.« »Wie lange hat dieser Aufstieg gedauert?« »Einen ganzen Tag. Wir sind schon kurz vor Einbruch der Dämmerung aufgebrochen und waren bei Einbruch der Nacht wieder zurück. Das hätte die Bergsteiger früherer Zeiten wohl besonders beeindruckt. Natürlich waren wir frisch und ausgeruht und hatten leichtes Gepäck. Die Gipfelroute von der Schutzhütte her ist problemlos, und an allen etwas heiklen Stellen hat man Stufen gehauen. Wie ich schon sagte, für jeden, der in guter körperlicher Verfassung ist, gibt es da keine Schwierigkeiten.« In dem Augenblick, da er diese Worte wiederholte, wünschte Harper, er hätte sich lieber die Zunge abgebissen. Ihm selbst erschien es unglaublich, daß er vergessen konnte, mit wem er sprach, aber die staunende Erregung dieser Kletterei zur Spitze unserer Welt war wieder so ungeheuer lebendig, daß er auf diesem einsamen, windverblasenen Gipfel zu
stehen glaubte, auf dem einzigen Fleck dieser Erde, wo Dr. Elwin niemals würde stehen können… Aber der Wissenschaftler schien es gar nicht bemerkt zu haben, oder er war auch vielleicht an gedankenlose Taktlosigkeiten so sehr gewöhnt, daß sie ihn nicht mehr störten. Warum, überlegte sich Harper, war er denn am Everest so sehr interessiert? Vielleicht deshalb, weil er für ihn unzugänglich war; und vielleicht war er ein Sinnbild all dessen, was ihm sein Geburtsgebrechen vorenthalten hatte… Und jetzt, nur drei Jahre später, blieb George Harper kaum hundert Fuß unter dem Gipfel stehen und holte das Nylonseil ein, während der Doktor ihm folgte. Obwohl kein Wort darüber gesprochen worden war, wußte er, daß der Wissenschaftler als erster auf dem Gipfel sein wollte. Diese Ehre verdiente er, und der jüngere Mann wollte ihn gewiß nicht darum berauben. »Alles in Ordnung?« fragte er, als Dr. Elwin vor ihm stand. Diese Frage war eigentlich überflüssig, aber Harper hatte das Bedürfnis, die große Einsamkeit herauszufordern, die sie jetzt umgab. Sie hätten jetzt die einzigen Menschen auf der ganzen Welt sein können, denn nirgends in dieser weißen Wildnis von Berggipfeln war das geringste Zeichen dafür zu erkennen, daß es eine menschliche Rasse überhaupt gab. Elwin antwortete nicht, sondern nickte nur geistesabwesend, als er an ihm vorbeiging. Seine glänzenden Augen waren fest auf den Gipfel gerichtet. Er ging recht merkwürdig und steifbeinig, und seine Füße machten erstaunlich wenig Eindruck im Schnee. Und als er ging, war aus seinem Rückenpack ein unmißverständliches deutliches Summen zu vernehmen. Dieser Pack wurde nicht von ihm getragen, er trug ihn, oder wenigstens drei Viertel seines Gewichtes. Als er langsam und gleichmäßig seinem früher unmöglichen Ziel entgegenstapfte, wog Dr. Elwin mit seiner gesamten Ausrüstung nur fünfzig Pfund. Und wenn das noch zuviel war, brauchte er nur eine Wählscheibe zu drehen und wog dann gar nichts mehr. Hier unter den mondverzauberten Himalajabergen wurde das größte Geheimnis des einundzwanzigsten Jahrhunderts unter härtesten Bedin-
gungen erprobt. Auf der ganzen Welt gab es nur fünf dieser Elwinschen Versuchs-Levitatoren, und zwei davon befanden sich hier auf dem Everest. Obwohl Harper seit zwei Jahren davon wußte und ihre Grundidee gut begriff, waren die Levvies, wie sie im Labor getauft worden waren, für ihn noch immer eine Art Zauber. Ihre Energiepacks hatten genug Energievorrat, um ein Gewicht von zweihundertfünfzig Pfund über eine Vertikaldistanz von zehn Meilen zu tragen, so daß der Sicherheitsfaktor für dieses Unternehmen ziemlich hoch war. Die Einheiten reagierten gegen das Schwerefeld der Erde, und deshalb konnte der Vorgang des Hebens und Senkens praktisch unendlich oft wiederholt werden. Die Aufwärtsbewegung entlud die Batterie, auf dem Abweg wurde sie wieder aufgeladen. Da jedoch kein mechanischer Prozeß ausschließlich aus sich selbst heraus denkbar ist, gab es bei jedem Hebe-Senk-Vorgang einen winzigen Energieverlust, aber man konnte ihn wenigstens hundertmal wiederholen, ehe die Batterie ermüdete. Es war ein erregendes Erlebnis, den Berg zu erklettern, wenn der größte Teil des Eigengewichtes neutralisiert war. Der Vertikalzug der Gurte vermittelte das Gefühl, als hänge man an unsichtbaren Ballonen, deren Auftrieb je nach Bedarf und Laune geregelt werden konnte. Ein gewisses Gewicht brauchte man zur Bodenhaftung, und nach einigen Versuchen hatte man sich auf fünfundzwanzig Prozent geeinigt. Damit war es leicht, einen glatten Hang zu ersteigen, fast so leicht, wie auf einer normalen ebenen Fläche zu gehen. An besonders steilen Stellen hatten sie das Gewicht fast auf Null geschaltet, da sie dann Hand über Hand klettern mußten. Das war das allermerkwürdigste Erlebnis, das nur dann möglich war, wenn man unverbrüchlich an dieses Gerät glaubte. Es gehörte schon eine beträchtliche Willenskraft dazu, mitten in der Luft hängen zu wollen und von nichts als einem Pack mit leise summenden elektronischen Geräten festgehalten zu werden. Aber nach ein paar Minuten hatte das Gefühl unendlicher Kraft und Freiheit alle Angst weggeblasen, denn das hier war die Verwirklichung eines uralten Menschheitstraumes. Vor ein paar Wochen hatte ein Kollege aus der Bibliothek eine Zeile aus einem Gedicht des frühen zwanzigsten Jahrhunderts entdeckt, das
diese Erfindung haargenau beschrieb: Sicher unter grausamen Himmeln zu reiten… Nicht einmal Vögeln war eine solche Freiheit der dritten Dimension gegeben; das hier war die wirkliche Eroberung des Raumes. Der Levitator öffnete die Berge und die höchstgelegenen Orte dieser Welt, wie vor einem Lebensalter die Aqualunge die Meere erschlossen hatte. Waren diese Geräte erst einmal durch alle Tests gelaufen und zur Massenproduktion freigegeben, dann würde sich wohl rasch das Gesicht der menschlichen Zivilisation verändern. Der Transport könnte damit revolutioniert werden. Die Raumfahrt brauchte in Zukunft nicht mehr teurer zu sein als ein gewöhnlicher Flug; die ganze Menschheit konnte fliegen. Was mehr als hundert Jahre früher durch die Erfindung des Automobils geschehen war, ließ sich nur als milder Vorgeschmack der erstaunlichen sozialen und politischen Veränderungen erahnen, die nun kommen mußten. Aber Dr. Elwin dachte in diesem Moment seines Triumphes ganz sicher nicht an diese Möglichkeiten. Später würde er sich von der ganzen Welt applaudieren lassen, und vielleicht würde man ihn auch verfluchen, aber ihm bedeutete weder das eine, noch das andere sehr viel und auf keinen Fall mehr, als jetzt auf dem höchsten Punkt der Erde zu stehen. Das war tatsächlich ein Sieg des Geistes über die Materie, der wahren Intelligenz über einen zerbrechlichen und verkrüppelten Körper. Alles andere mußte dagegen abfallen. Als Harper auf der abgeflachten, schneebedeckten Pyramide neben den Wissenschaftler trat, schüttelten sie einander mit formeller Steifheit die Hände, denn das schien sich so zu gehören. Aber sie sagten nichts; das, was sie erreicht hatten, war ein Wunder, und das Panorama der Gipfel, das sich vor ihnen ausbreitete, soweit das Auge reichte, war für Worte zu großartig. Harper musterte langsam den Himmel und suchte die bekannten Gipfel. Er kannte die meisten dieser Bergriesen: den Makalau, den Lhotse, Baruntse, Cho Oyu und den Kangchendzönga. Noch immer waren einige dieser Gipfel unbezwungen. Nun, diese Levvies würden das sehr bald ändern. Vielleicht, sogar wahrscheinlich gab es viele, die sie ablehnten. Aber im zwanzigsten Jahrhundert hatte es ja sogar extreme Bergsteiger gegeben,
die es Betrug nannten, wenn man Sauerstoff benützte. Man konnte es sich heute kaum mehr vorstellen, daß es einmal Menschen gegeben hatte, die nach Wochen der Akklimatisation ohne künstliche Hilfsmittel diese Berge zu bezwingen versucht hatten. Harper erinnerte sich an Mallory und Irvine, deren Leichen noch immer unentdeckt hier irgendwo in der Nähe liegen mußten. Dr. Elwin räusperte sich. »Wir wollen gehen, George«, sagte er leise, und seine Stimme klang unter dem Sauerstoffilter gedämpft. »Wir müssen zurück sein, ehe sie nach uns zu suchen beginnen.« Mit einem schweigenden Gruß an alle, die vor ihnen hier gestanden hatten, wandten sie sich vom Gipfel ab und begannen den sanft geneigten Hang abzusteigen. Die Nacht war bis jetzt strahlend hell gewesen, doch jetzt begann sie sich zu verdüstern. Ein paar hohe Wolken zogen so rasch vor dem Mond vorbei, daß sein Licht wie ein- und ausgeschaltet wechselte. Manchmal war es schwer, die Spur zu erkennen. Harper gefiel der Wetterumschwung ganz und gar nicht, und er begann seine Pläne noch einmal zu überdenken. Vielleicht wäre es besser, zur Schutzhütte am südlichen Vorgipfel zu gehen, statt die unter dem Grat anzupeilen. Aber er sagte nichts davon zu Dr. Elwin, denn er wollte nicht unnötig Alarm schlagen. Sie bewegten sich nun auf einem messerscharfen Gratstück; auf der einen Seite herrschte nachtschwarze Dunkelheit, auf der anderen schimmerte schwach die Schneekappe. Hier von einem Sturm überrascht zu werden… Kaum war Harper dieser Gedanke durch den Kopf geschossen, als der Sturm auch schon über ihnen war. Aus dem Nirgendwoher fegte ein Windstoß heran, als habe der Berg seine ganze Wut für diesen Moment aufgespart. Sie hatten nicht mehr Zeit, etwas zu tun; selbst wenn sie ihr normales Gewicht besessen hätten, wären sie weggefegt worden. Innerhalb von ein paar Sekunden hatte der Sturm sie in eine verschattete, schwarze Leere gerissen. Es war unmöglich, die Tiefe unter ihnen abzuschätzen; als Harper sich dazu zwang, nach unten zu schauen, sah er gar nichts. Der Wind schien ihn fast horizontal wegzutragen, doch er wußte, daß er fiel. Sein relatives
Gewicht würde ihn mit einem Viertel der normalen Fallgeschwindigkeit nach unten ziehen. Aber das war nur natürlich. Wenn sie aber viertausend Fuß tief stürzten, war es ein geringer Trost, daß sie wie tausend erschienen. Für Angstgefühle hatte er noch keine Zeit gehabt; die würden später kommen, falls er überlebte, aber seine Hauptsorge war die, daß der teure Levitator beschädigt werden könnte. Wie absurd! Seinen Partner hatte er ganz vergessen, denn in einer solchen Gefahr kann der menschliche Geist nur einem Gedanken folgen. Der plötzliche Ruck am Nylonseil erfüllte ihn daher mit Verwirrung. Dann sah er Dr. Elwin am Ende des Seiles hängen. Wie ein die Sonne umkreisender Planet rotierte er langsam um seine eigene Achse. Dieser Anblick riß ihn in die Wirklichkeit zurück, und jetzt wußte er auch, was er zu tun hatte. Seine Lähmung hatte vielleicht nur einen Sekundenbruchteil gedauert. Jetzt schrie er dem Doktor durch den Wind zu: »Schalten Sie Ihren Notlifter ein, Doktor!« Während er noch schrie, tastete er nach dem Knopf seines Geräts und drückte ihn. Sofort begann der Pack zu summen wie ein Stock mit aufgestörten Bienen. Die Gurte zerrten an seinem Körper, als die Kraft des Gerätes ihn nach oben zog, weg von dem unsichtbaren Tod unter ihm. Die einfache Rechnung vom Gravitationsfeld der Erde schoß wie ein Blitz durch seinen Geist, als sei sie mit brennenden Buchstaben und Ziffern geschrieben. Ein Kilowatt konnte pro Sekunde hundert Kilogramm einen Meter hoch heben, und die Packs erzeugten eine Höchstmenge von zehn Kilowatt – für die Dauer von höchstens einer Minute. Wenn man also davon ausging, daß das Originalgewicht beträchtlich reduziert war, müßte er eigentlich in der Sekunde hundert Fuß nach oben steigen. Er spürte einen heftigen Seilruck. Dr. Elwin hatte den Notknopf ein bißchen zu langsam gedrückt, aber endlich stieg auch er. Jetzt war es ein offenes Rennen zwischen der Hebeleistung ihrer Geräte und dem Wind, der sie dem eisigen Gesicht des Lhotse entgegenwehte, der nun kaum mehr tausend Fuß entfernt war. Dieser mit Schneebändern durchzogene Fels war im Mondlicht ein schauerlich-schöner Anblick. Es war unmöglich, die Geschwindigkeit genau abzuschätzen, aber fünfzig Meilen pro Stunde waren es ganz ge-
wiß. Selbst wenn sie den Anprall überlebten, dann konnten sie nicht darauf hoffen, unverletzt zu bleiben; und eine Verletzung in dieser eisigen Höhe war so gut wie der Tod. Gerade in dem Moment, als es schien, daß ein Anprall unvermeidlich war, riß ein Windstoß beide nach oben. Mit einem Abstand von fünfzig Fuß schossen sie über den Grat hinweg. Das war wie ein Wunder, aber nach einem Augenblick benommener Erleichterung wurde sich Harper darüber klar, daß es nichts als ganz gewöhnliche Aerodynamik war, was sie gerettet hatte. Der Wind mußte ja an der Felswand aufsteigen, um über den Grat zu wehen, und auf der anderen Seite fiel er dann wieder. Aber das spielte keine sehr große Rolle, denn der Himmel vor ihnen war leer. Nun trieben sie ruhig unter zerrissenen Wolken dahin. Ihre Geschwindigkeit hatte nicht nachgelassen, nur der Sturm. Sie konnten sich sogar miteinander unterhalten, da sie nur von etwa dreißig Fuß Entfernung getrennt waren. »Dr. Elwin«, rief Harper, »ist bei Ihnen alles okay?« »Jawohl, George«, antwortete der Wissenschaftler erstaunlich ruhig. »Und was tun wir jetzt?« »Wir müssen die Aufwärtsbewegung abbremsen. Wenn wir noch höher gehen, können wir nicht mehr atmen, nicht einmal mit den Filtern.« »Sie haben recht. Sehen wir zu, daß wir wieder ins Gleichgewicht kommen.« Das zornige Surren der Energiepacks wurde zu einem fast unhörbaren Summen, als sie den Notlift ausschalteten. Ein paar Minuten lang schwebten sie an ihren Nylonseilen wie Jo-Jos auf und ab, bis es ihnen endlich doch gelang, ein einigermaßen stabiles Gleichgewicht herzustellen. Nun trieben sie in einer Höhe von etwas weniger als dreißigtausend Fuß dahin. Wenn die Levvies nicht versagten – mit dieser Möglichkeit war nach der vorhergehenden Überbeanspruchung durchaus zu rechnen –, waren sie jetzt nicht in unmittelbarer Gefahr. Ihre Schwierigkeiten würden dann erst wieder beginnen, wenn sie zur Erde zurückkehrten…
Kein Mensch konnte je die Dämmerung mit größerer Erleichterung begrüßt haben. Sie waren müde und steif und kalt, und die Trockenheit der dünnen Luft kratzte in ihren Kehlen; aber sie vergaßen alle diese Unbequemlichkeiten in dem Augenblick, als der erste schwachglühende Schimmer sich über dem zerklüfteten östlichen Horizont zeigte. Die Sterne verblaßten allmählich. Der letzte, der unmittelbar vor Tagesanbruch erlosch, war die strahlend erhellte Raumstation Pacific Number Three, die in zwanzigtausend Meilen Höhe über Hawaii hing. Und endlich hob sich die Sonne über ein Meer namenloser Gipfel – der neue Tag war da. Es war etwa so wie ein Sonnenaufgang auf dem Mond. Zuerst fingen nur die höchsten Bergspitzen die schrägen Sonnenstrahlen ein, während sich in den Tälern die tintenschwarzen Schatten noch zu vertiefen schienen. Aber langsam kroch die Lichtgrenze die steilen Felshänge hinab, und immer mehr von diesem herben, abweisenden Land kletterte in den neuen Tag. Wenn man jetzt sehr genau suchte, konnte man Zeichen menschlichen Lebens entdecken. Es gab ein paar schmale Straßen, da und dort stieg dünner Rauch aus den Hütten eines einsamen Dorfes und in den Dächern der Klöster fing sich schon die Sonne. Die Welt unter ihnen erwachte allmählich und ahnte nicht, daß zwei Zuschauer auf so wunderbare Art fünfzehntausend Fuß über ihr hingen. Während der Nacht mußte der Wind verschiedentlich die Richtung geändert haben, und Harper hatte keine Ahnung mehr, wo sie waren. Aus der Vogelschau sah das Gebirge ja auch ganz anders aus als von unten. Sie wußten nur, daß sie irgendwo zwischen Tibet und Nepal sein mußten. Nun mußten sie sich einen Landeplatz suchen, und das bald, denn sie trieben einer Wildnis aus Bergspitzen und Gletschern entgegen, wo sie kaum auf Hilfe rechnen konnten. Der Wind trug sie in nordöstlicher Richtung weiter, also China entgegen. Schwebten sie über die Berge und landeten sie dort, dann mochte es Wochen dauern, ehe sie sich mit einem der U.N.-Zentren zur Verhütung des Hungertodes in Verbindung setzen konnten, und wenn sie inmitten einer abergläubischen und unge-
bildeten bäuerlichen Bevölkerung niedergingen, schwebten sie vielleicht sogar in Lebensgefahr. »Wir sollten möglichst schnell hinabkommen«, sagte Harper. »Mir gefallen diese Berge nicht.« Seine Worte verloren sich fast in der Leere, die sie umgab. Dr. Elwin war zwar nur zehn Fuß von ihm entfernt, aber er schien nicht gehört zu haben, was sein Gefährte sagte. Doch dann nickte der Doktor zögernde Zustimmung. »Ich fürchte, Sie haben recht, aber ich bin nicht davon überzeugt, daß wir's schaffen bei diesem Wind. Vergessen Sie nicht, wir können nicht so schnell hinab wie hinauf.« Das war richtig; die Energiepacks konnten nur mit einem Zehntel der entnommenen Energie aufgeladen werden. Verloren sie zu schnell Höhe und pumpten deshalb auch zu schnell die Gravitationsenergie in den Pack zurück, dann bestand die Gefahr des Überhitzens und möglicherweise einer Explosion. Die erstaunten Tibetaner oder Nepalesen würden dann glauben, ein großer Meteorit sei an ihrem Himmel detoniert. Und niemand würde dann je erfahren, was Dr. Jules Elwin und seinem vielversprechenden jungen Assistenten zugestoßen war. Fünftausend Fuß über dem Boden erwartete Harper die Explosion. Sie fielen ziemlich schnell und mußten also bald abbremsen, damit sie nicht zu heftig aufprallten. Um ihre Lage noch zu komplizieren, hatten sie die Luftgeschwindigkeit falsch eingeschätzt. Dieser teuflische Wind wurde auch schon wieder zum Sturm, und von den Graten wehten dünne, lange Schneeschleier. Der Wind trieb sie zwar, aber sie konnten seine Kraft nicht abschätzen; und dann mußten sie immer wieder wählen zwischen eisigem Fels und dem unendlichen Himmel. Schließlich trieb sie der Wind zum Eingang einer Schlucht. Es gab keine Möglichkeit, sie zu überfliegen. Nun mußten sie versuchen, den besten Landeplatz zu finden, den es hier gab. Die Schlucht verengte sich sehr schnell und wurde zur senkrechten Spalte; einmal trieb der Sturm sie nach rechts, dann wieder nach links, und mehrmals entgingen sie nur knapp einem Anprall. Einmal streiften sie ein breites, schneebedecktes Band, und Harper war schon versucht, die Notleine zu ziehen, die den Levitator abgeworfen hätte, aber das hätte geheißen, daß sie von der Bratpfanne direkt in das Feuer gesprun-
gen wären. Was nützte es ihnen, festen Boden unter den Füßen zu haben, wenn sie unzählige Meilen von jeder Hilfe entfernt waren? Trotzdem fühlte er nicht einmal in diesem gefährlichen Moment Angst. Es war alles fast wie ein erregender Traum, aus dem er bald aufwachen würde, um sich sicher in seinem eigenen Bett zu finden. Dieses phantastische Abenteuer konnte doch nicht wirklich ihm passieren! »George!« schrie der Doktor. »Das ist unsere Chance! Wir müssen diesen Felsen erreichen!« Es blieben ihnen nur Sekunden. Wieder begannen sie beide das Nylonseil auszugeben, bis es in einer großen Schlinge unter ihnen hing, die in höchstens zwei Fuß Höhe über dem Boden schwebte. Ein mächtiger Felsblock lag gerade auf ihrem Weg, und dahinter ließ sich ein großer, nicht sehr steiler Schneefleck erkennen, der eine sanfte Landung versprach. Das Seil schleifte über die unteren Unebenheiten des Felsblockes und fing sich dann an einem Überhang. Harper fühlte einen plötzlichen scharfen Ruck. Er wurde wie ein Stein am Ende einer Schnur herumgeschleudert. Ich hätte nie geglaubt, daß Schnee so hart ist, sagte er zu sich selbst. Und dann war eine kurze, grelle Explosion – dann nichts mehr. Er war wieder zurück auf der Universität, in einem Hörsaal. Einer der Professoren sprach, und die Stimme war ihm bekannt, aber sie schien nicht hierher zu gehören. Ein wenig schläfrig ging er die Namen seiner Professoren durch. Nein, von denen war es keiner. Aber er kannte die Stimme. Und sie hielt so etwas wie eine Vorlesung. »… noch ziemlich jung, als ich mir darüber klar wurde, daß an Einsteins Gravitationstheorie etwas nicht ganz stimmte. Dem Grundsatz der Äquivalenz liegt ein Trugschluß zugrunde. Dementsprechend gäbe es keine Möglichkeit, den Unterschied in der Wirkung von Gravitation und Akzeleration festzustellen. Aber das ist einfach falsch. Man kann eine gleichmäßige Beschleunigung bewirken, aber ein gleichförmiges Gravitationsfeld ist unmöglich, da es einem inversen Gesetz folgt und deshalb schon über kurze Entfer-
nungen variieren muß. Durch Tests lassen sich also leicht die beiden Fälle unterscheiden, und deshalb habe ich mir überlegt…« Diese leisen Worte hinterließen bei Harper etwa den gleichen Eindruck wie eine ihm unbekannte Fremdsprache. Vage wurde ihm klar, daß er dies alles eigentlich verstehen müßte, aber es war viel zu mühsam, den Sinn zu erfassen. Und außerdem war das wichtigste Problem das, wo sie sich befanden. Wenn mit seinen Augen alles in Ordnung war, dann war es um ihn herum finster. Er blinzelte, doch da schrie er, weil er grauenhafte Kopfschmerzen hatte. »George! Alles in Ordnung?« Natürlich! Das war Dr. Elwins Stimme gewesen, und er hatte leise in der Dunkelheit gesprochen. Nur – mit wem? »Ich hab schreckliche Kopfschmerzen. Und wenn ich mich zu bewegen versuche, tut es mir hier in der Seite weh. Was ist los? Warum ist es so dunkel?« »Sie hatten eine kleine Gehirnerschütterung. Ich denke, Sie haben auch eine Rippe gebrochen. Nein, sprechen Sie nicht zuviel. Sie waren den ganzen Tag hindurch bewußtlos. Jetzt ist es wieder Nacht, und wir sind im Zelt. Ich möchte unsere Batterien schonen.« Dr. Elwin schaltete kurz die Taschenlampe ein, und der Strahl war sehr grell. Harper sah die Wände des winzigen Zeltes um sich. Welches Glück sie doch hatten, daß sie eine vollständige Bergausrüstung mitgenommen hatten, für den Fall, daß sie auf dem Everest hängen blieben! Aber vielleicht nützte es gar nichts und verlängerte nur ihre Todesqualen… Aber er staunte über das, was der verkrüppelte Wissenschaftler geleistet hatte. Ohne Hilfe hatte er alles ausgepackt, das Zelt aufgebaut und ihn hineingezogen. Alles war sauber aufgebaut – der Sanitätskasten, die Dosen mit Nahrungskonzentraten, die Wasserbehälter, die winzigen roten Gaszylinder für das tragbare Öfchen. Nur der plumpe Levitator fehlte; besser gesagt, beide. Vielleicht waren sie vor dem Zelt, damit innen mehr Platz war. »Als ich aufwachte, sprachen Sie mit jemandem«, sagte Harper. »Oder habe ich nur geträumt?« Er hatte das Gefühl, Elwin sei ein wenig verle-
gen; plötzlich wußte er auch, weshalb. Ihm wäre lieber gewesen, er hätte die Frage nicht gestellt. Der Wissenschaftler glaubte nicht daran, daß sie überleben könnten. Deshalb hatte er noch einiges auf Band gesprochen in der Hoffnung, daß ihre Leichen einmal gefunden wurden. Harper hätte sich gar nicht gewundert, wenn Elwin auch sein Testament aufgenommen hätte. Ehe Elwin antworten konnte, wechselte er schnell das Thema. »Haben Sie die Lebensrettung angerufen?« fragte er. »Das versuche ich jede halbe Stunde, aber ich fürchte, wir sind von den Bergen zu sehr eingeschlossen. Ich höre sie zwar, aber sie können uns nicht empfangen.« Dr. Elwin schaltete das winzige Funkgerät, das nicht größer war als eine Armbanduhr, wieder ein. »Lebensrettung Vier«, sagte eine ferne mechanische Stimme. »Wir hören.« In den fünf Sekunden Pause drückte Elwin den SOS-Knopf und wartete. »Lebensrettung Vier. Wir hören.« Sie lauschten eine volle Minute, aber sie erhielten keine Bestätigung ihres Anrufes. Nun, sagte Harper zu sich selbst, es ist zu spät, sich Vorwürfe zu machen. Während sie nämlich über die Berge trieben, hatten sie ein paarmal darüber gesprochen, ob sie den Rettungsdienst anrufen sollten, aber sie hatten sich dagegen entschieden, weil es keinen Sinn hatte, solange sie noch in der Luft trieben, und außerdem wollten sie sich der dann unvermeidlichen Publicity nicht aussetzen. Es war leicht, hinterher klüger zu sein. Wer hätte auch daran gedacht, daß sie an einem der wenigen Orte landen würden, von denen aus der Rettungsdienst nicht zu erreichen war? Dr. Elwin schaltete das Funkgerät wieder aus, und jetzt war der Wind, der um die Berge pfiff, alles, was sie hörten. »Machen Sie sich keine Sorgen«, sagte er schließlich. »Bis morgen finden wir schon einen Ausweg. Bis zum nächsten Morgen können wir sowieso nichts tun, also machen wir's uns so gemütlich wie möglich. Trinken Sie etwas von dieser heißen Suppe.«
Ein paar Stunden später waren Harpers Kopfschmerzen so gut wie vorüber. Wenn auch die eine Rippe tatsächlich gebrochen zu sein schien, so hatte er doch eine relativ bequeme Lage gefunden, und wenn er sich nicht bewegte, hatte er keine Schmerzen. Er hatte verschiedene Gefühlszustände durchlebt – Verzweiflung, Zorn auf Dr. Elwin und Selbstvorwürfe, weil er sich auf ein so irres Abenteuer eingelassen hatte. Jetzt hatte er aber wieder zur gewohnten Ruhe zurückgefunden, wenn er auch sein Gehirn so sehr nach einem Ausweg nach ihrer mißlichen Lage zerquälte, daß er nicht schlafen konnte. Der Wind draußen hatte fast aufgehört, und die Nacht war sehr still. Der Mond war aufgegangen, so daß es nicht mehr ganz finster war. Direktes Mondlicht konnten sie zwar nicht empfangen, aber der Schnee über ihnen reflektierte es. Die durchscheinenden Spezialwände des Zeltes hielten nicht nur ganz ausgezeichnet die Innenwärme, sondern ließ auch etwas Licht durch. In unmittelbarer Gefahr befanden sie sich vorläufig nicht. Die Lebensmittel reichten mindestens für eine Woche; draußen gab es Schnee, also konnten sie sich Wasser beschaffen. In ein paar Tagen konnten sie wieder aufbrechen, wenn sich die gebrochene Rippe anständig benahm, und dann hofften sie – nun, eben das Beste. Dann hörten sie draußen ein weiches Tappen, etwas später einen Plumps. Hier in der Nähe mußte ein Schneebrett abgegangen sein. Die Nacht war so unwahrscheinlich still, daß das geringste Geräusch unglaublich laut klang. Harper glaubte seinen eigenen Herzschlag zu hören; und der Atem seines schlafenden Gefährten klang fast wie Schnarchen. Seltsam, wie sehr die trivialsten Dinge ablenken konnten! Er wandte seine Gedanken wieder dem Überleben zu. Selbst wenn er nicht bewegungsfähig wäre, könnte der Doktor doch den Versuch auch allein wagen. In einem solchen Fall hatten zwei auch keine besseren Chancen als einer. Dann plumpste wieder etwas, diesmal viel lauter. Eigentlich seltsam, daß sich nachts der Schnee so bewegte… Harper hoffte, daß es hier keine Lawinen gab, die das Zelt unter sich begraben könnten, denn bei ihrer Landung hatten sie keine Zeit gehabt, die Gegend auf Lawinensicherheit
zu prüfen. Sollte er vielleicht den Doktor wecken? Er müßte sich doch, als er das Zelt aufbaute, ein wenig umgesehen haben. Aber dann beschloß er, fatalistisch zu sein; falls ausgerechnet hier eine Lawine abgehen sollte, könnten sie sowieso nichts dagegen tun. Zurück zu Problem Nummer eins. Eine interessante Lösung zeichnete sich hier ab, die es wert war, daß man darüber nachdachte. Sie konnten das Minifunkgerät an einen der Levvies binden und das ganze Ding losschicken. Das Signal konnte aufgenommen werden, sobald der Levvie die Schlucht hinter sich hatte, und dann konnte der Rettungsdienst sie innerhalb weniger Stunden, höchstens Tage, finden. Allerdings mußte man einen der Levvies opfern, und wenn nichts bei der Sache herauskam, war man schlechter dran als vorher. Trotzdem… Halt, was war das? Das klang fast so, als stoße ein Kieselstein an den anderen. Und Steinchen bewegten sich nicht nur aus sich heraus. Harper, du bildest dir nur allerhand ein, sagte er zu sich selbst. Es war ausgesprochen lächerlich, daß sich um Mitternacht in einer gottverlassenen Schlucht des Himalaja etwas bewegen sollte. Aber die Gänsehaut, die ihm über den Körper lief, war Tatsache. Er hatte etwas gehört, und das ließ sich nicht mit sich selbst wegdiskutieren. Verdammt, der Doktor atmete zu laut, und die Geräusche von draußen ließen sich nicht richtig deuten. Oder hatte das zu bedeuten, daß ihn sein immer waches Unterbewußtsein alarmiert hatte? Schon wieder diese Phantasterei… Klick… Ein bißchen näher diesmal, sicher auch aus einer anderen Richtung. Es war fast so, als schleiche etwas um das Zelt herum. In diesem Moment wünschte George Harper inbrünstig, er hätte niemals etwas von diesem fürchterlichen Schneemenschen gehört. Richtig, er wußte nichts Genaues darüber, aber schon das war viel zuviel. Seit vielen hundert Jahren lebte der Yeti, wie die Nepalesen ihn nannten, in den Legenden der Himalajabewohner. Er galt als gefährliches Untier von mehr als Mannesgröße, aber gefangen, fotografiert oder auch nur genau von Zeugen beschrieben hatte man es noch nie. Die zivilisierten Menschen des Westens hielten ihn für ein reines Fabelwesen; die in
einigen Klöstern vorhandenen Fellfetzen und die gelegentlich beobachteten angeblichen Fußspuren überzeugten sie nicht. Die Stammesangehörigen der Bergvölker wußten es jedoch besser. Und jetzt fürchtete Harper, sie könnten recht haben. Dann geschah einige Sekunden lang nichts mehr, und seine Ängste lösten sich allmählich auf. Vielleicht spielte ihm seine überhitzte Phantasie nur üble Streiche, und überraschend war das unter den gegebenen Umständen sicher nicht. Er nahm seinen ganzen Willen zusammen und konzentrierte sich erneut auf das Problem der Rettung. Er war schon ganz nett vorwärtsgekommen, als etwas auf das Zelt knallte. Nur der Umstand, daß seine Stimmbänder gelähmt zu sein schienen, verhinderte einen gellenden Schrei. Er war auch keiner Bewegung fähig. Dr. Elwin neben ihm bewegte sich verschlafen. »Was ist denn los?« murmelte der Wissenschaftler. »Alles in Ordnung?« Harper spürte, wie sich sein Abenteuergefährte umdrehte und nach der Taschenlampe tastete. Er hätte gern geflüstert, er solle das um Himmels willen sein lassen, aber seine ausgedörrte Kehle brachte keinen Ton heraus. Doch dann klickte es schon, und der Strahl der Taschenlampe warf einen grellen Lichtkreis auf die Zeltwand. Diese Wand wurde von einem schweren Gewicht nach innen gedrückt, und direkt in der Mitte dieser schauerlichen Beule ließ sich unmißverständlich der Eindruck einer Hand oder Tatze erkennen. Sie war nur etwa zwei Fuß hoch vom Boden entfernt; wer oder was da draußen herumfummelte, mußte wohl auf dem Boden knien. Das Licht mußte das Wesen da draußen gestört haben, denn der Abdruck verschwand plötzlich, und die Zeltwand glättete sich. Sie hörten ein leises Knurren; dann war lange Zeit wieder völlige Stille. Harper entdeckte, daß er wieder atmen konnte. Er hatte damit gerechnet, daß dieses Wesen plötzlich das Zelt aufreißen könnte, so daß sie einem unvorstellbaren Ungeheuer schutzlos ausgeliefert waren. Es war nun fast enttäuschend, daß nur der Wind oben in den Felsen heulte. Trotzdem überlief es ihn plötzlich eiskalt, aber mit der Zelttemperatur hatte das nichts zu tun, denn in ihrer kleinen isolierten Welt hatten sie es gemütlich warm.
Und dann folgte ein vertrauter, fast sogar freundlicher Laut. Es war das metallische Klappern einer leeren Konservendose, die über Steine hüpft, und das linderte die fast unerträgliche Spannung ein wenig. Zum erstenmal seit Minuten gelang es Harper, wenigstens ein paar Worte zu flüstern. »Es hat unsere Lebensmittelvorräte gefunden. Vielleicht verschwindet es jetzt wieder.« Fast als Antwort vernahmen sie ein ärgerliches Knurren, dann den dumpfen Ton eines Schlages und anschließend das Klappern von Dosen, die in der Dunkelheit davonrollten. Harper fiel ein, daß sie alle Lebensmittel im Zelt hatten und nur die leeren Dosen draußen gelegen hatten, und er atmete erleichtert auf. Aber dann wäre ihm – wie einem abergläubischen Wilden – doch lieber gewesen, sie hätten wenigstens eine halbvolle Dose sozusagen als Opfergabe hinausgestellt. Götter oder Dämonen – im Hochgebirge mußte man sie fürchten oder ihre Hilfe herbeisehnen. Was dann passierte, kam so unerwartet, daß alles vorüber war, ehe sie Zeit für eine Reaktion hatten. Etwas schien gegen einen Felsen geschlagen zu werden, dann hörten sie das vertraute Summen eines Elektrogerätes und ein verblüfftes Grunzen. Dem Grunzen folgte ein grauenhafter Schrei wütender Enttäuschung, der sofort in Angst umschlug, sich aber sehr schnell in den leeren Himmel hinauf entfernte. Dieser entschwindende Schrei löste eine Sperre in Harpers Geist. Einmal hatte er einen Film aus dem frühen zwanzigsten Jahrhundert über einen historischen Flug gesehen, und das war eine ziemlich häßliche Sache gewesen, bei der ein Ding von zahlreichen Leuten an Seilen festgehalten wurde; diese Leute hatten die Ankerseile nicht rechtzeitig losgelassen, und das Luftschiff zog die hilflos an ihm hängenden Menschen mit hinauf. Einer nach dem anderen hatte dann entkräftet losgelassen und war auf die Erde gestürzt, in den Tod. Harper wartete auf einen fernen Plumps, doch er wartete vergeblich. Dann hörte er endlich, was der Doktor sagte und dauernd wiederholte: »Ich habe die beiden Levvies aneinandergebunden. Ich habe die beiden Levvies aneinandergebunden.«
Der Schock war so ungeheuer, daß er die Tragweite dieser Information gar nicht begriff. Statt dessen fühlte er nur so etwas wie eine bewundernswerte wissenschaftliche Neugier und die Andeutung einer Enttäuschung. Jetzt würde er niemals mehr erfahren, was da in den einsamen Stunden vor der Morgendämmerung um ihr Zelt herumgeschlichen war… Einer der Hubschrauber des Rettungsdienstes, der von einem sehr skeptischen Sikh geflogen wurde, kam am späten Nachmittag über die Schlucht. Der Mann hielt die ganze Sache für einen ausgemachten Witz. Als aber die Maschine in einer Wolke aufstiebenden Schnees landete, war Dr. Elwin schon vor dem Zelt, winkte heftig mit einem Arm und hielt sich mit der anderen Hand am Zeltrahmen fest. Als der Hubschrauberpilot den verkrüppelten Wissenschaftler erkannte, überfiel ihn ein Gefühl abergläubischer Verehrung. Also mußte der Bericht wahr sein, denn auf andere Art konnte Elwin diesen Ort hier nicht erreicht haben. Und das hieß, daß von nun an alles, was unter dem Himmel der Erde flog, so überflüssig war wie ein Ochsenkarren. »Gott sei Dank, daß ihr uns gefunden habt«, rief der Doktor voll herzlicher Dankbarkeit. »Wie konnten Sie nur so schnell hierher finden?« »Sie können sich bei den Radarstationen dafür bedanken und bei den Teleskopen in der orbitalen meteorologischen Station. Wir wären schon früher gekommen, aber wir dachten alle, es sei ein ungeheurer Jux.« »Das verstehe ich nicht.« »Was hätten Sie gesagt, Doktor, wenn Ihnen jemand gemeldet hätte, ein mausetoter Schneeleopard segle in einem Gewirr von Riemen und Geräten in neunzigtausend Fuß Höhe über den Himalaja?« Im Zelt begann George Harper zu lachen, obwohl seine gebrochene Rippe dagegen protestierte. Der Doktor schob seinen Kopf durch die Zeltklappe und fragte besorgt: »Was ist denn los?« »Nichts. Au! Aber ich habe mir überlegt, wie wir das arme Tier runterkriegen, bevor es den ganzen Luftverkehr gefährdet.«
»Oh, da muß einer wohl mit einem Levvie hinauf und die Knöpfe drücken. Vielleicht sollten wir doch überall ein Gerät für Fernsteuerung einbauen…« Mitten im Satz schwieg Dr. Elwin. Schon jetzt war er weit weg, ganz in seine Träume verloren, die bald das Angesicht vieler Welten verändern würden. Bald würde er von den Bergen herabkommen – ein verspäteter Moses, der die Gesetzestafeln einer neuen Zivilisation mitbrachte. Denn er würde der Menschheit jene Freiheit wiederbringen, welche sie vor so unendlich langer Zeit eingebüßt hatte, als die ersten Amphibien ihre gewichtlose Heimat unter den Wellen verloren hatten. Der Kampf einer Jahrmilliarde gegen die Kräfte der Schwere war vorüber. Originaltitel: THE CRUEL SKY (November 1966)
TOTALSCHADEN »Zur Enttäuschung der nächsten Angehörigen«, erklärte Commander Cummerbund voll morbider Genüßlichkeit, »kann die Geschichte der letzten Mission des Superkreuzers Flatbush niemals mehr eindeutig geklärt werden. Sie wissen natürlich, daß er während des Krieges gegen die Mukoiden verlorenging.« Uns alle überlief es eiskalt. Selbst jetzt verursachte einem der Name des qualliten Monsters, das aus der – grob bezeichneten – Richtung Kohlensack erdwärts schlurfte, kalte Schauer. »Ich kannte ihren Skipper sehr gut, Kapitän Karl van Rinderpest von der Flatbush, Held des massierten Angriffs gegen die Unaussprechlichen. Man kann ihren Namen nur kreischen. Hatschii!« Er legte eine höfliche Pause ein, damit wir die Finger wieder aus den Ohren nehmen und unsere verschütteten Drinks aufwischen konnten. »Die Flatbush hatte gerade eine Salve von Probabilitäts-Invertern gegen den Heimatplaneten der Mukoiden abgeschossen und kehrte in Formation mit drei Zerstörern – der russischen Leutnant Kizhe, der israelischen Chutzpah und Ihrer Majestät Insufferable in den Raum zurück. Sie waren noch in der Akzelerationsphase, als dieser phantastische, unwahrscheinliche Unfall passierte. Die Flatbush raste geradewegs in das Schwerefeld eines Neutronensterns hinein.« Als unser entsetztes Staunen und unser erschreckter Unglaube gebührend zur Kenntnis genommen waren, fuhr er ernst fort: »Ja, eine Kugel aus unglaublich konzentrierter Materie, die einen Durchmesser von nur zehn Meilen hat, aber so massiv wie eine Sonne ist – und die Oberflächenschwerkraft ist hundert Milliarden mal so groß wie die der Erde. Die anderen Skipper hatten Glück. Sie streiften nur den äußersten Rand des Schwerefeldes und konnten entkommen, obwohl ihre Bahnen fast um hundertachtzig Grad abgelenkt wurden. Aber die Flatbush mußte, wie wir später ausrechneten, innerhalb des Schwerefeldes dieser unvorstellbaren Konzentration an Masse, wenn auch höchstens ein paar Dut-
zend Meilen von dessen Rand entfernt, den Durchgang versucht haben, und sie traf daher die volle Wucht dieser unglaublichen Kraft. Nun kann man ohne weiteres in jedem einigermaßen vernünftigen Gravitationsfeld um das Zentrum der Anziehung schwingen, selbst wenn es sich um einen Weißen Zwerg handelt, der die vielleicht millionenfache Anziehungskraft der Erde hat und wieder in den Raum hinausfliegen, und man spürt kaum etwas. Am zentralsten Punkt der Bahn erfährt man etwa unter Umständen ein paar hundert oder sogar tausend irdische Gs; da man aber noch immer im freien Fall ist, gibt es keine physikalischen Auswirkungen. Entschuldigen Sie, wenn ich das aufwärme, was doch allen von Ihnen zur Genüge bekannt ist, aber es ist ja nicht jeder technisch orientiert.« Das war natürlich ein Seitenhieb nach dem Zahlmeister der Flotte, General Geldclutch, dem man den Spitznamen »Klebfinger« angehängt hatte. Allerdings ging der Hieb daneben, denn der General hatte seinen Geierschnabel in das fünfte Glas marsischen Freudensaftes getaucht. »Für einen Neutronenstern gilt das jedoch nicht. In der Nähe des Massemittelpunktes ist die gravitationale Neigung, das heißt, die Rate, mit der das Feld relativ zur Distanz sich verändert, so enorm, daß selbst über die Breite eines kleinen Körpers von der Größe eines Raumschiffes ein Unterschied von einigen tausend Gs möglich ist. Ich brauche Ihnen nicht zu erklären, was ein solches Schwerefeld mit irgendeiner Materie, einem Gegenstand, anfangen kann. Die Flatbush muß fast augenblicklich in Stücke gerissen worden sein, und die Bruchstücke selbst müssen in den paar Sekunden, die sie brauchten, um den Stern zu passieren, wie eine Flüssigkeit geflossen sein. Dann rasten die Stücke wieder in den Raum hinaus. Monate später lokalisierte ein Radarsuchtrupp des Rettungstrupps einiges von diesem nunmehrigen Raumschutt. Ich habe die Dinger selbst gesehen – surrealistisch geformte Klumpen des allerzähesten Materials, das wir besitzen, zusammengedreht wie allerdünnstes Blech. Nur ein einziger Gegenstand konnte erkannt werden. Er mußte wohl aus dem Werkzeugkasten eines unglücklichen Mechanikers stammen.« Die Stimme des Commanders war immer leiser geworden, und er wischte eine männliche Träne aus den Augen.
»Wirklich, es fällt mir nicht leicht, es auszusprechen.« Er seufzte schwer. »Aber das einzige annähernd identifizierbare Fragment des Stolzes der Raumflotte der Vereinigten Staaten war – ein sternverformter Schraubenschlüssel.« Originaltitel: NEUTRON TIDE (Januar 1970)
Anmerkung des Herausgebers: Die ironische Pointe dieser kleinen Erzählung geht bei der Übertragung ins Deutsche verloren. Die letzten drei Wörter lauten im englischsprachigen Original: one star-mangled spanner (ein stern-verformter Schraubenschlüssel). Und star-spangled banner ist die gebräuchliche Bezeichnung für die amerikanische Hoheitsflagge.
NACHWORT Dieser Band enthält Erzählungen, die ich während der Sechzigerjahre schrieb, eine der dramatischsten Perioden in der Geschichte von Wissenschaft und Technologie. Sie brachten uns den Laserstrahl, den genetischen Kode, die ersten Robotersonden zum Mars und zur Venus, die Entdeckung der Pulsare – und die Landung auf dem Mond. Viele dieser Ereignisse spiegeln sich, entweder in der Vorschau oder nach ihrem Eintritt, in diesen Erzählungen; aus diesem Grund bringe ich sie in chronologischer Reihenfolge. Das ist mein sechster Kurzgeschichtenband, und ich war versucht, ihm den Untertitel »Die letzten Geschichten von Arthur C. Clarke« zu geben, nicht weil ich vielleicht ans Sterben dächte – ganz im Gegenteil, ich habe fest vor zu erleben, was im Jahr 2001 passiert –, sondern weil ich immer weniger zu schreiben scheine, dafür immer mehr Vorträge halte, reise, filme und tauche. Geht man von meiner gegenwärtigen Produktionsrate aus, so läge Band sieben so weit in der Zukunft, daß es besser wäre, gelegentlich entstehende, neue Erzählungen einer späteren Neuauflage dieses Buches anzufügen. »Vor dem Sonnenwind« hieß bei der Erstveröffentlichung in Boy's Life »Sonnenjammer«. Es war ein merkwürdiger Zufall – das passiert manchmal in der Literatur –, daß Poul Anderson fast gleichzeitig denselben Titel benützte. Den Abschuß einer Frachtrakete vom Mond in »Mahlstrom II« behandelte ich, glaube ich, zum erstenmal in meinem Artikel Electromagnetic Launching as a Major Contribution to Space Flight (Journal of the British Interplanetary Society, November 1950). Abschließend möchte ich erwähnen, daß dieses Buch mit »Die längste Science-Fiction-Geschichte, die je erzählt wurde« einen bescheidenen Rekord aufstellt: Niemals wurde oder wird eine längere Geschichte geschrieben. Colombo, Ceylon, Februar 1971 Arthur C. Clarke