ULLSTEIN 2000
SCIENCE FICTION STORIES 19 von Eric Frank Russell Robert Bloch Arthur C. Clarke
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ULLSTEIN 2000
SCIENCE FICTION STORIES 19 von Eric Frank Russell Robert Bloch Arthur C. Clarke
Ausgewählt und zusammengestellt von Walter Spiegl
ein Ullstein Buch
Ullstein Buch Nr. 2924 im Verlag Ullstein GmbH, Frankfurt/M – Berlin – Wien Aus dem Amerikanischen übersetzt von Ute Seeßlen, Ingrid Rothmann und Heinz Nagel
Umschlagillustration: ACE Alle Rechte vorbehalten Übersetzung © 1972 by Verlag Ullstein GmbH, Frankfurt/M – Berlin – Wien Printed in Germany 1972 © 1964 by Pyramid Publications, Inc. für »Five Odd«, dem die Erzählung »Plus X« von Eric Frank Russell entnommen wurde. Gesamtherstellung: Augsburger Druck- und Verlagshaus GmbH ISBN 3 548 02924 8
John Leeming war auf sich selbst gestellt. Weit hinter der Front ging sein kleines Raumschiff zu Bruch. Er mußte notlanden – auf einem Gefängnisplaneten. Sie steckten ihn auch gleich hinter Mauern, und an eine Flucht war nicht zu denken. Wollte Leeming hier herauskommen, mußte er sich etwas einfallen lassen; denn der Krieg konnte noch ewig weitergehen. Da erfand er Eustach, seinen unsichtbaren Zwilling – und zeigte sich als Meister der psychologischen Kriegsführung. DER X-FAKTOR von Eric Frank Russell Genghir war ein Träumer. Das Schicksal seines Königreiches kümmerte ihn nicht. Ihn dürstete es nach immer raffinierteren Genüssen, die ihn die Welt vergessen ließen, ihm aber Träume offenbarten, deren schreckliche Prophezeiungen eine düstere Zukunft verhießen. SCHWARZER LOTOS von Robert Bloch Die Kenntnis von der Lage der Stadt war nur wenigen vorbehalten. Zu viele hatten sich auf den Weg gemacht und waren nicht zurückgekehrt. Richard Peyton hielt nicht viel von dem Verbot, das der Weltrat erlassen hat. Er wollte die Geheimnisse ergründen, die in der Stadt verborgen lagen. Denn sie barg Thordarsens Werk, eine der genialsten Erfindungen der Menschheit, die eine neue Zukunft begründen soll. DER TRAUM VON COMARRE von Arthur C. Clarke
Eric Frank Russell DER X-FAKTOR
Eins jedenfalls stand fest: Für ihn war der Krieg aus. Für lange Zeit oder sogar für immer. In den nächsten Sekunden würde sich entscheiden, auf welche Weise er seinen Abschied nahm – als Leiche, Krüppel oder Gefangener. Das kleine Raumschiff drehte sich wieder um seine Längsachse. Hinter der vorderen Sichtscheibe drehte sich die graugrüne Oberfläche eines Planeten in entgegengesetzter Richtung. In John Leemings Kopf wirbelte alles durcheinander, und er verlor einen Augenblick die Orientierung. Die Feuerspur hinter dem Raumschiff formte sich zu einer langgezogenen Spirale. Die Oberfläche des Planeten kam rasch näher. Was zuerst nichts weiter als Farbflecken gewesen waren, entpuppten sich jetzt als Berge, Täler und Wälder. Vor seinen angestrengten Augen kippten Dächer nach unten und richteten sich dann wieder mit einer Drehung auf. Um eine Entscheidung zu treffen braucht man Zeit, wenigstens das Minimum an Zeit, das erforderlich ist, um die Lage zu überblicken. Ohne diesen Spielraum an Zeit gibt es keine Entscheidung. Leemings einzige Sorge war, das Raumschiff irgendwo zu landen, egal an welcher Stelle, und sei es auch mitten unter den Feinden, wenn es nur mit der Unterseite aufsetzte und beim Vorwärtsschliddern gegen kein Hindernis stieß. Er schaffte es mit viel Glück. Genau im richtigen Moment tauchte vor der Sichtscheibe ein sanft ansteigender Hang auf.
Er steuerte irgendwie darauf zu, senkte das beschädigte Heck und nahm die Energie weg. Dann berührte das Raumschiff den Boden und schlidderte mit einem mahlenden Geräusch in einer Wolke aus Staub und Funken den Hang hinauf. Einen Augenblick blieb er ruhig sitzen, schwitzend und frierend zugleich. Dann warf er einen Blick auf den Atmosphärenprüfer. Die Luft auf dem Planeten schien ganz in Ordnung zu sein. Leeming kletterte durch die Ausstiegsluke und lief zum Heck. Er sah sich die Antriebsdüsen an; sie waren in äußerst schlechtem Zustand. Bei fünf Strahlrohren fehlte der Belag, und sie waren durch die Hitze zusammengeschmolzen. Vier weitere hatten sich gekrümmt. Er hatte die Landung mit den restlichen sieben Düsen geschafft – eine Leistung, die fast an ein Wunder grenzte. Zu Hause hatte man ihn gewarnt, daß das Raumschiff den Anforderungen vielleicht nicht gewachsen sein könnte. »Wir geben Ihnen ein Aufklärungsschiff mit verstärkten Antriebsdüsen und einem neuartigen Belag. Das Schiff ist leicht und nicht mit Waffen ausgerüstet, dafür aber sehr schnell und besonders für große Entfernungen geeignet. Ob es allerdings eine so lange Reise übersteht, das muß die Erfahrung zeigen. Es ist das Beste, was wir Ihnen im Augenblick geben können. In vier bis fünf Jahren besitzen wir vielleicht Raumschiffe, die fünfzigmal so gut sind. Aber so lange können wir nicht warten.« »Ich verstehe.« »Sie gehen ein großes Wagnis ein. Vielleicht kehren Sie nie zurück. Trotzdem müssen wir in Erfahrung bringen, was hinter der feindlichen Front liegt, wie weit sich das Hoheitsgebiet des Feindes erstreckt und woher er seinen Nachschub bezieht. Irgend jemand muß sein Leben riskieren, um diese
Informationen einzuholen. Jemand muß sich hinter die Frontlinie wagen!« »Ich bin bereit.« Sie hatten ihm auf die Schulter geklopft und ihn unter dem Schutz von Schlachtschiffen durch das Kampfgebiet geleitet. Allein war er dann unbemerkt durch die feindliche Frontlinie gekommen, ein winziger Punkt in der Unendlichkeit des Raums. Wochenlang hatte er Berichte nach Hause gesandt, während er immer weiter in das Planetenfeld eingedrungen war, bis schließlich der ausgetrocknete und zerfetzte Belag des ersten Strahlrohrs davonwirbelte. Und als er sich daraufhin zur Heimkehr entschloß, flog der Belag des zweiten Strahlrohrs davon. Dann ein dritter. Danach konnte es sich nur noch darum handeln, möglichst rasch und unversehrt auf dem nächsten bewohnbaren Planeten zu landen. Am Fuß des Abhangs, etwa tausend Meter entfernt, lag ein großes Dorf, dessen Bewohner durch das Getöse bei der Landung lebendig geworden waren. Die kleine Garnison rückte bereits aus und bewegte sich mit schußbereit erhobenen Waffen auf das Raumschiff zu. Leeming kletterte durch die Luke zurück, warf in der winzigen Kontrollkabine einen Hebel herum, stieg rasch wieder aus und rannte den Hügel hinauf, wobei er vor sich hin zählte. Die feindlichen Truppen hielten am Fuß des Hügels an und stießen rauhe Schreie aus, gaben aber kein Feuer. »Neunundsechzig – siebzig!« keuchte Leeming und warf sich zu Boden. Das Schiff explodierte mit einem gewaltigen Knall, der die Hügel erzittern ließ. Nach allen Seiten breitete sich eine mächtige Druckwelle aus. Vom Himmel regnete es Splitter. Ein mindestens drei Kilo schweres Stück Metall schlug einen Meter von Leemings Kopf entfernt in den Boden, und er
konnte nicht mehr erkennen, welcher Teil des Raumschiffs, das an fremden Sonnen und unbekannten Sternen vorbeigeflogen war, es gewesen war. Er richtete sich auf und bemerkte, daß der Feind jetzt auf zwei Seiten stand. Eine Reihe bewaffneter Männer war von der anderen Seite über den Hügel gekommen. Ihre Waffen waren auf ihn gerichtet, und sie starrten entsetzt in den großen Krater, der sich im Hang aufgetan hatte. Unten richteten sich die Truppen aus dem Dorf wieder auf; sie hatten sich entweder zu Boden geworfen oder waren von der Druckwelle umgeworfen worden. Niemand schien verletzt zu sein. Leeming hob beide Arme als Geste der Kapitulation, die überall verstanden wird. Er hatte dabei ein bitteres Gefühl. Das Unglück folgte dem Glück auf den Fuß. Wenn er nur zwanzig Kilometer weiter entfernt gelandet wäre, hätte er sich vielleicht wochen- oder monatelang, wenn nötig auch jahrelang in den Wäldern versteckt halten können. Nun, sein Auftrag war jedenfalls beendet. Die feindlichen Soldaten kamen schnell näher. Es waren untersetzte, kräftige Zweibeiner, mit dem für solche Figuren typischen stapfenden Gang. Als sie näher herankamen, bemerkte er, daß sie eine schuppenartige Haut und lidlose, hornige Augen hatten. Der erste, der auf ihn zutrat, erinnerte Leeming an ein Reptil, das sich eine affenartige Haltung zugelegt hatte. Obwohl seine Bruchlandung und die nachfolgende Explosion sie offensichtlich nervös gemacht hatten, verhielten sie sich ihm gegenüber nicht ausgesprochen feindselig. Sie waren eher mißtrauisch und reserviert. Nach einigem Nachdenken kam er darauf, warum sie sich so verhielten. Sie hatten noch nie jemanden gesehen, der so aussah wie er, folglich wußten sie
nicht, ob er ein Verbündeter oder ein Feind war, und hielten deshalb mit ihrem Urteil noch zurück. Das war durchaus verständlich. Auf Leemings Seite kämpften achtzehn verschiedene Lebensformen als Bündnispartner, vier davon waren menschlich und fünf weitere sehr menschenähnlich. Auf der gegnerischen Seite hatten sich an die fünfundzwanzig Lebensformen, von denen zwei ebenfalls sehr menschenähnlich waren, zu einem ziemlich losen Verband zusammengeschlossen. Woher sollten diese schlangenähnlichen Wesen ohne genauere Untersuchung wissen, ob sie einen Freund oder einen Feind vor sich hatten? Ebensowenig konnten sie sagen, ob die Explosion des Raumschiffs ein Zufall oder ein absichtlicher Akt der Zerstörung gewesen war. Trotzdem gingen sie nicht das kleinste Risiko ein. Ein paar von ihnen hielten die Waffen auf ihn gerichtet, während ein Offizier sich den Krater ansah. Der Offizier kam zurück, starrte Leeming mit lidlosen Augen an und gab einen Schwall unverständlicher Worte von sich. Leeming breitete die Hände aus und zuckte mit den Schultern. Daß Leeming seine Sprache nicht verstand, änderte nichts an der Haltung des Offiziers. Er richtete ein paar Befehle an seine Leute, und sie formierten sich in Reih und Glied und marschierten mit dem Verdächtigen in ihrer Mitte ins Dorf hinunter. Dort schoben sie Leeming in das hintere Zimmer eines Steinhauses und ließen zwei Wachen bei ihm und zwei weitere draußen vor der Tür zurück. Er setzte sich auf einen niedrigen, harten Stuhl, seufzte und starrte, ohne sich zu rühren, zwei Stunden lang die Wand an. Die Wächter hatten sich ebenfalls gesetzt, beobachteten ihn mit ausdruckslosen Gesichtern und sagten kein Wort.
Dann kam ein Soldat und brachte Wasser und etwas zu essen. Das Essen schmeckte seltsam, aber es sättigte. Leeming aß und trank schweigend und starrte dann wieder zwei Stunden die Wand an. Er konnte sich vorstellen, was draußen vorging, während man ihn hier warten ließ. Der Offizier würde sich ans Telefon hängen – oder was immer sie statt dessen benutzten – und die nächste Garnisonstadt anrufen. Der ranghöchste Offizier dort würde die Verantwortung sofort auf das militärische Hauptquartier abschieben. Einer der Bonzen würde die Frage an die zentrale Funkstation weiterleiten. Und von dort würde ein Funker bei den zwei menschenähnlichen Verbündeten anfragen, ob sie in dieser Gegend ein Aufklärungsschiff vermißten. Lautete die Antwort »Nein«, dann würden die Schlauköpfe hier begreifen, daß sie mitten in ihrem Planetenbereich und bedrohlich weit entfernt von der Kampfzone einen sehr merkwürdigen Vogel gefangen hatten. Wenn etwas entweder das eine oder das andere sein kann, und es ist nicht das eine, dann muß es das andere sein. Wenn er also kein Verbündeter war, dann mußte er ein Feind sein, obwohl er in einem Bereich aufgetaucht war, in den nie zuvor ein Feind vorgedrungen war. Sie würden nicht gerade erfreut sein, wenn sie die Wahrheit erfuhren. Truppen der Etappe, die weit hinter der Front stationiert sind, nehmen am Ruhm teil, ohne etwas dafür tun zu müssen. Und sie sind froh, wenn sich an diesem Zustand nichts ändert. Das plötzliche Eindringen des Feindes in einen Bereich, in dem er nichts zu suchen hat, stört den ruhigen Gleichklang des Lebens und wird nicht mit begeistertem Kriegsgeschrei begrüßt. Außerdem kann, wo einer hindurchgeschlüpft ist, eine ganze Armee nachfolgen, und es ist ein beunruhigender Gedanke, plötzlich von hinten angegriffen zu werden.
Was würden sie mit ihm machen, wenn sie ihn als einen Angehörigen der Föderation identifiziert hatten? Er wußte es nicht, er hatte ja keine Ahnung von den Gepflogenheiten dieser Lebensform, von der er vorher noch nie gehört hatte. Eins war ziemlich sicher: Sie würden ihn wahrscheinlich nicht kurzerhand erschießen. Wenn sie ausreichend zivilisiert waren, würden sie ihn für die Dauer des Krieges gefangenhalten, und das konnte heißen, für den Rest seines Lebens. Waren sie es nicht, dann würden sie ihn wahrscheinlich mit Hilfe eines Verbündeten, der Terranisch sprach, mit den brutalsten Methoden nach Informationen ausquetschen. In der frühen Geschichte der Erde hatte es für den Fall bewaffneter Auseinandersetzungen eine allgemein anerkannte Schutzvereinbarung gegeben, die unter der Bezeichnung Genfer Konvention bekannt war. Diese Vereinbarung sorgte dafür, daß neutrale Beobachter Einblick in die Gefangenenlager erhielten, daß Briefe aus der Heimat ausgehändigt wurden und Rotkreuzpakete in die Lager geschickt werden konnten, die so manch einem Gefangenen das Leben gerettet hatten. So etwas gab es heutzutage nicht mehr. Ein Gefangener besaß nur zwei Möglichkeiten des Schutzes: seine eigene Findigkeit und die Drohung seines Landes oder seiner Verbündeten, sich an den gegnerischen Kriegsgefangenen zu rächen. Aber diese Drohung war kaum ernst zu nehmen. Wie sollte man Rache üben ohne genaue Kenntnis von tatsächlich stattgefundenen Mißhandlungen? Leeming dachte über all diese Dinge nach, als die Wachen gewechselt wurden. Inzwischen waren sechs Stunden vergangen. Er blickte auf das einzige Fenster im Raum und sah, daß die Dunkelheit hereinbrach. Er betrachtete es verstohlen und kam zu dem Schluß, daß es Selbstmord bedeuten würde, sich unter den Mündungen zweier
Gewehrläufe mit einem Sprung ins Freie begeben zu wollen. Das Fenster war schmal und lag ziemlich hoch. Das einzige Ziel eines Gefangenen ist die Flucht. Flucht – das bedeutet zunächst, geduldig abzuwarten, bis sich eine Gelegenheit ergibt. Und wenn keine Gelegenheit kommt, muß man sich eine verschaffen – mit Kraft und vor allem mit Verstand. Seine Aussichten waren nicht gerade rosig. Und in absehbarer Zeit würden sie sich noch verschlechtern. Die beste Gelegenheit für eine erfolgreiche Flucht hatte gleich nach der Landung bestanden. Wenn er nur ihre Sprache gesprochen hätte, dann hätte er sie vielleicht überlisten können. Dann hätte er sie mit schönen Worten, unerschütterlicher Selbstsicherheit und dem richtigen Maß an Arroganz dazu bringen können, daß sie sein Raumschiff reparierten und ihm zum Abschied fröhlich zuwinkten, ohne zu ahnen, daß sie einem Feind geholfen hatten. Aber die Verständigungsschwierigkeiten hatten diese Chance von Anfang an zunichte gemacht. Man kann einem Eskimo nur einen Eisschrank verkaufen, wenn man die Eskimosprache spricht. Er mußte auf eine neue Chance warten und dann blitzschnell zupacken – vorausgesetzt, sie waren so dumm, ihm noch einmal eine Chance zu bieten. Und das war ziemlich unwahrscheinlich.
Er blieb vier Tage lang in dem Haus, bekam in regelmäßigen Abständen zu essen und zu trinken, schlief nachts und dachte tagsüber stundenlang nach, wobei er ab und zu in die unbewegten Gesichter der Wachen blickte. Im Geist erfand er tausend Möglichkeiten, seine Freiheit wiederzugewinnen, prüfte sie und verwarf sie wieder, weil die meisten davon allzu phantastisch und vollkommen unausführbar waren.
Einmal ging er sogar so weit, daß er versuchte, die Wachen in hypnotische Trance zu versetzen, indem er ihnen so lange in die Augen starrte, bis ihm schwindlig wurde. Sie waren davon nicht im mindesten irritiert. Sie starrten ihn reglos wie Eidechsen an und hätten gewiß bis in alle Ewigkeit so verharren können. Am vierten Tag stapfte gegen Mittag der Offizier herein, brüllte »Amasch! Amasch!« und deutete dabei zur Tür. Sein Tonfall und seine Haltung waren ausgesprochen unfreundlich. Offenbar hatten sie erfahren, daß der Gefangene ein Spion der Föderation war. Leeming stand auf und ging hinaus, vor ihm zwei Wachen, hinter ihm zwei Wachen und als letzter der Offizier. Draußen auf der Straße wartete ein gepanzerter Wagen. Sie stießen ihn hinein und schlossen die Tür ab. Zwei Bewacher stellten sich auf die hintere Plattform, ein dritter setzte sich neben den Fahrer. Die Fahrt dauerte dreizehn Stunden, während denen der Insasse in vollständiger Dunkelheit hin- und hergeschüttelt wurde. Als der Wagen endlich hielt, hatte Leeming ein neues, ganz besonders widerwärtiges Schimpfwort erfunden. Er gebrauchte es, als die Tür geöffnet wurde. »Amasch!« brüllte die Wache, ohne den fremden Beitrag zum Schimpfwörtervokabular zu würdigen. Leeming amaschte nicht gerade würdevoll. Er bekam einen Eindruck von hohen Mauern, die sich gegen den nächtlichen Himmel abzeichneten, und von einem hellen Bereich hoch oben; dann wurde er durch ein Metallportal in einen großen Raum gestoßen. Hier erwartete ihn eine Abordnung von sechs nicht besonders vertrauenerweckenden Individuen. Einer von ihnen unterschrieb ein von Leemings Begleitung vorgelegtes Papier. Die Wachen entfernten sich, die Tür wurde
geschlossen, die sechs starrten den Besucher unliebenswürdig an. Einer von ihnen sagte etwas im Befehlston und machte dazu Gesten, die besagten, daß Leeming sich ausziehen solle. Leeming gebrauchte sein neues Schimpfwort. Das brachte ihm nichts Gutes ein. Die sechs stürzten sich auf ihn, zogen ihn aus und untersuchten jeden Fetzen seiner Kleidung, vor allem die Säume und das Futter. Keiner von ihnen bewies auch nur das geringste Interesse für Leemings fremdartigen Körper, obwohl er in seiner ganzen Blöße vor ihnen stand. All seine Besitztümer wurden auf einen Haufen gelegt – Schreibstift, Kompaß, Taschenmesser, Feuerzeug, ein Talisman und was sich sonst noch in seinen Taschen befand. Dann gaben sie ihm seine Kleider zurück. Er zog sich an, während sie in der Beute herumwühlten und miteinander redeten. Sie schienen etwas enttäuscht zu sein; wahrscheinlich überraschte es sie, daß er nichts, was einer tödlichen Waffe ähnlich sah, bei sich trug. Unter seinen Sachen befand sich eine streichholzschachtelgroße Kamera, die bei allen Primitiven Mißtrauen erregt hätte. Die sechs hatten in wenigen Minuten herausgefunden, wozu dieses Ding diente und wie es funktionierte. Offenbar waren sie in der kulturellen Entwicklung nicht so sehr weit zurück. Nachdem sie sich vergewissert hatten, daß der Gefangene nun nichts Gefährlicheres mehr bei sich hatte als seine beschmutzte Kleidung, führten sie ihn durch die rückwärtige Tür eine grobe Steintreppe hinauf und über einen langen Gang in eine Zelle. Hinter ihm fiel donnernd die Tür ins Schloß. In der Dunkelheit glitzerten vier kleine Sterne durch eine vergitterte Öffnung oben in der einen Wand. Am unteren Ende
des Spalts schimmerte schwaches gelbliches Licht, dessen Quelle sich draußen befinden mußte. Leeming tastete im Dunkeln herum und stieß an der einen Wand gegen eine Holzbank. Sie ließ sich verrücken. Er zerrte sie zu der Wand mit der Öffnung und stieg hinauf, merkte aber, daß er immer noch einen Meter zu tief stand, um hinausblicken zu können. Er wuchtete die schwere Bank hoch und lehnte sie schräg gegen die Wand. Dann kletterte er vorsichtig daran hinauf und schaute durch die Gitterstäbe hinaus. Zwölf Meter unter ihm lag ein freier, steingepflasterter Hof, der etwa fünfzig Meter breit war und sich der Länge nach auf beiden Seiten weiter erstreckte als Leeming durch die Öffnung sehen konnte. Dahinter erhob sich eine glatte Steinmauer bis zu seiner Augenhöhe. Die Mauer bildete oben eine scharfe Kante, und zwanzig Zentimeter darüber war ein straffer, glatter Draht gespannt, kein Stacheldraht. Von rechts und links flutete aus unsichtbaren Scheinwerfern gleißendes Licht über den gesamten Bereich zwischen Zellenblock und gegenüberliegender Mauer und auch über den Bereich hinter der Mauer. Nichts bewegte sich. Nirgendwo ein Zeichen von Leben. Nur die Mauer, das gleißende Licht, und darüber der Nachthimmel mit weit entfernten Sternen. »Ich sitze also im Gefängnis«, sagte er. »Ade, du liebe Welt.« Er sprang von der Bank herunter, die dadurch ins Rutschen kam und polternd umfiel. Schritte näherten sich draußen auf dem Gang, in der dicken Metalltür wurde ein Guckloch geöffnet, und Licht fiel herein. Dann wurde ein Auge sichtbar. »Sach invigia, faplap!« brüllte der Wärter. Leeming gebrauchte wieder das Wort und fügte sechs ältere, bekannte, aber immer noch wirksame Schimpfwörter hinzu. Das Guckloch wurde zugeschlagen. Er legte sich auf die Bank und versuchte zu schlafen.
Eine Stunde später hämmerte er wie wild gegen die Tür, und als das Guckloch geöffnet wurde, sagte er: »Selber faplap!« Danach schlief er ein. Das Frühstück bestand aus einer Schüssel lauwarmer Grütze, die Ähnlichkeit mit Hirsebrei hatte, und einem Krug Wasser. Beides wurde ihm mit verächtlicher Miene von einem Wärter zugeschoben und mit ebensolcher Verachtung verzehrt. Nicht lange darauf erschien ein schmallippiges Individuum in Begleitung von zwei Wärtern. In einer endlosen Folge komplizierter Gesten wurde dem Gefangenen bedeutet, daß er nun eine zivilisierte Sprache zu lernen habe, und zwar rasch. Der Unterricht würde unverzüglich beginnen. Der Lehrer packte in geschäftiger Manier einen Stapel bebilderter Kinderbücher aus und begann mit der Unterweisung, während die Wärter an der Wand lehnten und gelangweilt zuschauten. Leeming zeigte soviel Lerneifer, wie es einem Feind gegenüber angebracht ist, das heißt, er verstand jedes Wort falsch, sprach es falsch aus und tat alles, um den Eindruck zu erwecken, daß er absolut unbegabt zum Erlernen einer fremden Sprache war. Der Unterricht war gegen Mittag beendet und wurde belohnt durch die Ankunft einer weiteren Schüssel Grütze, in der ein Stück zäher, gummiartiger Masse lag, das wie das Hinterteil einer Ratte aussah. Er aß die Grütze, schlang die Fleischportion hinunter und schob die leere Schüssel beiseite. Dann dachte er über die Bedeutung ihres Entschlusses nach, ihm ihre Sprache zu lehren. Er bedeutete erstens, daß sie keine elektronischen Gedankenleser besaßen, wie sie auf der Erde benutzt wurden, und daß sie darauf angewiesen waren, Informationen durch Frage-und-Antwort-Methoden einzuholen, unterstützt durch wer weiß welche Druckmittel. Zweitens, daß sie von ihm bestimmte Dinge erfahren wollten. Und drittens, daß er gut daran tat, möglichst langsam zu
lernen, weil es dann um so länger dauern würde, bis sie ihn foltern konnten, falls sie diese Absicht hegten. Seine Überlegungen wurden unterbrochen, als Wärter die Tür öffneten und ihn herauswinkten. Sie führten ihn den Gang entlang, eine Treppe hinunter und hinaus auf einen großen Hof, auf dem es von hin- und herlaufenden Gestalten wimmelte. Die Sonne stach grell vom Himmel. Er blieb überrascht stehen. Rigelianer! Ungefähr zweitausend von ihnen. Das waren Verbündete, Mitglieder der Föderation. Er betrachtete sie mit wachsender Erregung, weil er hoffte, unter ihnen vielleicht eine vertrautere Gestalt zu erblicken. Einen Terraner womöglich oder auch einen menschenähnlichen Centaurier. Aber er fand keinen. Nur glotzäugige, gummigliedrige Rigelianer, die ziellos hin- und herschlurften in der Art von Gefangenen, die schon ein paar sinnlos vergeudete Jahre hinter sich hatten und kaum noch auf eine bessere Zukunft hofften. Während er sie noch anstarrte, hatte er das Gefühl, daß irgend etwas nicht stimmte. Sie konnten ihn ebensogut sehen wie er sie, und da er der einzige Terraner auf dem Hof war, hätte er eigentlich ihre Aufmerksamkeit erregen müssen. Er war ein Verbündeter von einem anderen Planeten. Sie hätten ihn eigentlich umringen und ausfragen müssen, um die neuesten Nachrichten vom Krieg zu erfahren, sich mit ihm unterhalten und ihm Ratschläge und Tips geben müssen. Doch sie beachteten ihn überhaupt nicht. Er ging absichtlich ganz langsam quer über den Hof. Man wich ihm aus. Einige warfen ihm verstohlene Blicke zu, aber die meisten taten so, als wäre er Luft. Niemand sprach ihn an. Es war so, als hätten sie eine Abmachung getroffen, ihn zu schneiden. Er steuerte auf eine Gruppe zu, die in einer Ecke des Hofs stand, und fragte: »Spricht einer von euch Terranisch?«
Sie blickten zum Himmel, an die Mauer oder zu Boden und schwiegen. »Oder vielleicht Centaurisch?« Keine Antwort. »Wie ist es denn mit Kosmoglotta?« Auch nichts. Er ging verärgert davon und versuchte es bei einer anderen Gruppe. Dort hatte er ebensowenig Erfolg. Dann bei einer dritten Gruppe. Wieder ohne Erfolg. Binnen einer Stunde hatte er an die fünfhundert Rigelianer angesprochen, ohne eine Antwort zu erhalten. Er gab es auf, setzte sich auf eine Steinstufe und sah zornig zu ihnen hinüber, bis ein schriller Pfiff ankündigte, daß die Hofzeit um war. Die Rigelianer stellten sich in langen Reihen auf, um in ihre Quartiere zurückzumarschieren. Leemings Wärter gaben ihm einen Tritt und bugsierten ihn zurück in seine Zelle. Dort schob er das Problem, das die so wenig verbindlichen Verbündeten darstellten, erst einmal beiseite. Darüber konnte er im Dunkeln noch nachdenken; die restlichen Stunden des Tages wollte er lieber damit nutzen, die Bilderbücher zu studieren und Fortschritte in seinen Sprachkenntnissen zu machen, natürlich ohne daß sein Lehrer etwas davon merkte. Das konnte ihm eines Tages vielleicht von Nutzen sein. Es ärgerte ihn jetzt zum Beispiel, daß er nie Rigelianisch gelernt hatte. Und so vertiefte er sich in seine Bücher, bis Bilder und Schrift vor seinen Augen verschwammen. Er aß seine abendliche Portion Grütze, streckte sich auf der Bank aus, schloß die Augen und begann nachzudenken. In seinem ganzen Leben hatte er nicht mehr als zwei Dutzend Rigelianer getroffen. Ihr Planetensystem hatte er nie besucht. Das wenige, was er über sie wußte, stammte vom Hörensagen.
Es hieß, sie seien ziemlich intelligent, technisch begabt und den Terranern seit dem ersten Kontakt freundschaftlich zugetan. Fünfzig Prozent von ihnen sprachen Kosmoglotta und ungefähr ein Prozent Terranisch. Wenn diese Angaben stimmten, hätte er sich mit mehreren Hundert von den Männern auf dem Hof in der einen oder der anderen Sprache verständigen können müssen. Weshalb hatten sie geschwiegen? Sie schienen sich gegen ihn verschworen zu haben. Warum nur? Er stellte ein Dutzend Theorien auf, wägte sie ab und verwarf sie wieder. Nach zwei Stunden fand er endlich eine annehmbare Erklärung. Die Rigelianer waren Gefangene, die vielleicht für den Rest ihres Lebens der Freiheit beraubt waren. Ein paar von ihnen mußten irgendwann einmal einen Terraner zu Gesicht bekommen haben. Doch sie alle wußten, daß es unter den Verbündeten des Feindes zwei menschenähnliche Rassen gab. Deshalb mußten sie befürchten, daß er ein Spion sei, der ihre Geheimnisse ausschnüffeln sollte. Und das wiederum bedeutete noch etwas anderes: Wenn eine große Anzahl von Gefangenen befürchtet, daß sich unter ihnen ein Spion aufhalten könnte, dann müssen sie etwas zu verbergen haben. Ja, das war’s! Er schlug sich vor Freude auf die Schenkel. Die Rigelianer planten einen Fluchtversuch und wollten dabei kein Risiko eingehen. Um einzusteigen mußte er zunächst ihr Vertrauen gewinnen. Aber wie? Am nächsten Tag versetzte ihm ein Wärter am Ende der Hofzeit den üblichen Fußtritt. Leeming erhob sich und schlug ihm ins Gesicht. Sogleich stürzten sich vier Wärter auf ihn und verprügelten ihn. Sie leisteten gute Arbeit, die kein Rigelianer, der Zeuge davon wurde, als bloße Farce auffassen konnte. Sie
erteilten ihm eine böse Lektion. Leeming mußte ohnmächtig mit blutigem Gesicht in die Zelle getragen werden. Es dauerte eine Woche, bis Leeming wieder soweit hergestellt war, daß er auf dem Hof erscheinen konnte. Sein Gesicht war noch immer sehr verunstaltet. Er schlenderte genau so wenig beachtet wie früher über den Hof, suchte sich dann einen Platz in der Sonne und setzte sich hin. Bald darauf ließ sich ein Gefangener wenige Meter entfernt auf dem Boden nieder, sah vorsichtig zu den abseits stehenden Wärtern hinüber und fragte flüsternd: »Wie bist du hierhergekommen?« Leeming erzählte es ihm. »Wie sieht es an der Front aus?« »Wir schlagen sie langsam, aber sicher zurück. Es wird aber noch eine ganze Weile dauern.« »Wie lange meinst du?« »Weiß nicht. Das kann niemand sagen.« Leeming betrachtete ihn neugierig. »Und wie seid ihr hergekommen?« »Wir sind Kolonisten. Wir hatten den Auftrag, vier neuentdeckte Planeten zu besiedeln. Wir waren im ganzen zwölftausend Mann.« Der Rigelianer schwieg einen Augenblick und sah sich vorsichtig um. »Sie haben uns überfallen. Das ist jetzt zwei Jahre her. Es war sehr einfach für sie. Wir waren überhaupt nicht vorbereitet. Wir wußten noch nicht einmal, daß Krieg war.« »Und die Planeten haben sie behalten?« »Natürlich. Und uns haben sie ins Gesicht gelacht.« Leeming nickte verständnisvoll. Die Nichtachtung des Besitzanspruchs auf einen neuentdeckten Planeten war die Ursache der Auseinandersetzung gewesen, die sich nun über einen großen Bereich der Galaxis ausgebreitet hatte. Auf einem Planeten hatte eine Kolonie heroischen Widerstand geleistet und war bis auf den letzten Mann vernichtet worden.
Das hatte Wut und Empörung ausgelöst, die Föderation hatte zurückgeschlagen, und damit war der Krieg da. »Zwölftausend, sagst du. Wo sind die andern?« »Auf verschiedene Lager verteilt. Du hast dir ein schönes Plätzchen ausgesucht, um das Ende des Krieges abzuwarten. Der Feind hat auf diesem Planeten sein Hauptgefangenenlager eingerichtet. Er ist weit entfernt von der Front und dürfte wohl kaum jemals von unseren Truppen entdeckt werden. Die hiesige Lebensform eignet sich kaum für Raumkämpfe, aber zum Bewachen von Gefangenen ist sie gut genug. Sie bauen überall riesige Gefängnisse. Wenn der Krieg lange genug dauert, wird der ganze Planet voll sein von Gefangenen der Föderation.« »Ihr seid also schon zwei Jahre hier?« »Ja.« »Und ihr habt nichts unternommen, um hier rauszukommen?« »Nicht viel«, berichtete der Rigelianer. »Gerade soviel, daß vierzig von uns bei Ausbruchsversuchen erschossen worden sind.« »Das tut mir leid«, sagte Leeming betroffen. »Denk nicht daran. Ich kann mir vorstellen, wie dir zumute ist. Die ersten Wochen sind am schlimmsten.« Er zeigte auf einen kräftig gebauten Wärter am anderen Ende des Hofs. »Vor ein paar Tagen hat dieser Hund damit geprahlt, daß jetzt schon zweihunderttausend Gefangene der Föderation auf diesem Planeten interniert seien, und in einem Jahr würden es zwei Millionen sein. Hoffentlich erlebt er das nicht mehr.« »Ich werd versuchen, hier rauszukommen«, sagte Leeming. »Wie willst du das machen?« »Das weiß ich noch nicht. Aber ich werd’s versuchen. Ich bleibe auf keinen Fall so lange hier hocken, bis ich verrottet bin.« Er wartete in der Hoffnung, irgendeine Bemerkung zu
hören, daß andere ebenso dachten wie er, eine Andeutung, daß ein neuer Ausbruchsversuch geplant wurde, an dem er sich vielleicht beteiligen konnte. Der Rigelianer stand auf und murmelte: »Nun, dann wünsche ich dir viel Glück. Du wirst es brauchen!« Er schlenderte davon. Ein schriller Pfiff ertönte, die Wärter schrien: »Merse faplaps! Amasch! Und damit war die Hofzeit beendet. In den nächsten vier Wochen unterhielt er sich noch häufig mit diesem Rigelianer und etwa zwanzig anderen und erfuhr von ihnen eine ganze Menge wichtiger Dinge, aber immer wenn das Gespräch auf das Thema Flucht kam, wurden sie seltsam ausweichend. Als er wieder einmal heimlich mit einem von ihnen sprach, fragte er: »Warum unterhaltet ihr euch immer nur heimlich und im Flüsterton mit mir? Es scheint die Wärter nicht zu interessieren, wenn wir miteinander reden.« »Du bist noch nicht verhört worden. Wenn sie merken, daß wir dir eine Menge mitzuteilen haben, werden sie alles aus dir herausquetschen wollen, was wir zu dir gesagt haben – und vor allem natürlich Dinge, die irgendeinen Hinweis auf Fluchtpläne liefern könnten.« Das war das Stichwort für Leeming. »Flucht – das ist das einzige, wofür es noch zu leben lohnt. Wenn ihr daran denkt, einen Versuch zu unternehmen, würde ich gern mitmachen. Ich biete meine Hilfe an, und ihr helft mir. Ich bin ein ausgebildeter Raumpilot – das könnte sich als nützlich erweisen.« Der andere kühlte sofort ab. »Nichts zu machen.« »Warum nicht?« »Wir sind jetzt schon lange Zeit Gefangene. Und wir haben die bittere Erfahrung gemacht, daß Fluchtpläne scheitern, wenn zu viele eingeweiht sind. Ein eingeschleuster Spion
verrät uns, oder irgendein Dummkopf drängt sich im falschen Moment ein und läßt alles auffliegen.« »Ich verstehe.« »In der Gefangenschaft bilden sich eigene Gesetze heraus«, fuhr der Rigelianer fort. »Bei uns gilt die Regel, daß ein Fluchtplan das alleinige Eigentum derjenigen ist, die ihn sich ausgedacht haben, und nur sie können versuchen, ihn auszuführen. Niemand darf eingeweiht werden. Niemand erfährt davon, bis es losgeht.« »Dann bin ich also ganz auf mich allein gestellt?« »Ich fürchte, ja. Aber das wärst du in jedem Fall. Wir liegen zu fünfzig Mann in einem Schlafsaal. Du bist ganz allein in einer Zelle. Du bist sowieso nicht in der Lage, irgend jemandem in irgendeiner Weise zu helfen.« »Dann werde ich mir eben selber helfen«, antwortete Leeming verärgert. Diesmal ging er davon.
Er war gerade dreizehn Wochen im Gefängnis, als sein Lehrer ihm eine besorgniserregende Mitteilung machte. Nach einer wenig erfolgreich verlaufenen Unterrichtsstunde preßte er seine schmalen Lippen zusammen und sah ihn streng an. »Es gefällt Ihnen wohl, sich dumm zu stellen. Aber mir können Sie nichts vormachen. Sie sind weiter fortgeschritten, als Sie zugeben. Ich werde dem Kommandanten mitteilen, daß Sie in sieben Tagen verhört werden können.« »Wie war das noch mal?« fragte Leeming mit verwirrter Miene. »Sie haben gehört, was ich gesagt habe, und Sie haben es verstanden.«
Hinter ihm fiel krachend die Tür zu. Die Grütze wurde gebracht, in der ein undefinierbares Stück einer zähen gelblichen Masse lag. Dann war Hofzeit. »In einer Woche wollen sie mich in die Zange nehmen.« »Laß dich nicht bange machen«, sagte der Rigelianer. »Sie würden dich zwar ohne mit der Wimper zu zucken umbringen, aber eins hält sie doch zurück.« »Und zwar?« »Die Tatsache, daß die Föderation auch viele Gefangene hat.« »Ja, aber was die Föderation nicht weiß, macht sie nicht heiß.« »Jemand anderem wird es noch heiß genug werden, wenn der Sieger eines Tages lebendige Kriegsgefangene gegen Leichen austauschen soll.« »Das ist wahr«, meinte Leeming. »Ich wünschte, ich hätte einen Strick mit einem schönen Henkerknoten, den ich dem Kommandanten vor die Nase halten könnte.« »Und ich wünschte, ich hätte eine große Flasche Vitz und eine hübsche Frau, die mir das Haar krault«, seufzte der Rigelianer. Dann ertönte wieder das Pfeifsignal. Intensives Sprachstudium, solange es draußen hell war. Eine Schüssel Porridgeersatz. Dunkelheit und vier kleine Sterne, die oben durch die vergitterte Öffnung hereinblickten. Leeming lag auf der Bank, und seine Gedanken überschlugen sich. Es gab absolut keinen Ort, von dem man nicht irgendwie entfliehen konnte. Mit Kraft, Verstand und genügend Zeit ließ sich immer ein Ausweg finden. Gefangene, die bei einem Fluchtversuch erschossen wurden, hatten sich entweder die falsche Stelle und den falschen Zeitpunkt ausgesucht, oder den richtigen Zeitpunkt, aber die falsche Stelle, oder aber die richtige Stelle zu einem falschen Zeitpunkt. Oder sie hatten
sich zu sehr auf ihren Verstand verlassen, ein Fehler, der häufig von Ungeduldigen gemacht wird, oder nur auf ihre Kraft, was ein Zeichen von Leichtsinn ist. Mit geschlossenen Augen überdachte er sorgfältig seine Lage. Er befand sich in einer Zelle, die von mindestens meterdicken undurchdringlichen Steinwänden umgeben war. Die einzigen Öffnungen waren ein mit fünf dicken Eisenstangen vergittertes schmales Fenster und eine schwere Metalltür, die ständig von auf und ab patrouillierenden Wärtern bewacht wurde. Er besaß weder eine Metallsäge noch einen Dietrich oder sonst ein Werkzeug – nichts als die Kleidung, die er am Leib trug. Wenn es ihm gelingen würde, die Bank auseinanderzunehmen, ohne daß man draußen ein Geräusch hörte, dann würde er in den Besitz einiger Holzbalken, Stahlschrauben und fünfzehn Zentimeter langer Nägel kommen. Aber damit konnte er weder die Tür öffnen noch bis zum Tagesanbruch die Eisenstangen durchfeilen. Und anderes Material war nicht zu beschaffen. Draußen erstreckte sich fünfzig Meter weit ein hell erleuchtetes Gelände, das er überqueren mußte, wenn er in die Freiheit gelangen wollte. Dann kam eine zwölf Meter hohe, glatte Steinmauer, deren oberer Rand spitz zulief, so daß die Füße kaum einen Halt finden würden, wenn man den Draht übersteigen wollte, der bei der geringsten Berührung die Sirenen in Alarm setzte. Diese Mauer umschloß den ganzen Gefängniskomplex. Sie bildete ein Oktaeder, und in jeder der acht Ecken stand ein Wachtturm mit Aufsehern, Maschinengewehren und Scheinwerfern. Um hinauszugelangen mußte man direkt unter den Augen der Wächter bei tagheller Beleuchtung und ohne den Draht zu berühren über die Mauer steigen. Und dann war man noch immer nicht in Sicherheit; denn hinter der Mauer
befand sich noch ein fünfzig Meter breites, hell erleuchtetes Gelände, das ebenfalls überquert werden mußte. Ja, die ganze Anlage zeigte, daß diese Burschen sich auf ihr Handwerk verstanden. Eine Flucht über die Mauer war so gut wie ausgeschlossen, obwohl sie nicht ganz unmöglich war. Wenn jemand ausgerüstet mit einem fünfzehn Meter langen Seil und einem Enterhaken aus der Zelle oder dem Schlafsaal herauskam und wenn er einen Helfer hatte, der genau im richtigen Moment in den Schalterraum eindringen und den gesamten elektrischen Strom ausschalten würde, dann konnte es gelingen. Bei vollkommener Dunkelheit konnte man die Mauer hinauf und über den toten Draht klettern. Doch in einer Einzelzelle gibt es kein fünfzehn Meter langes Seil, auch keinen Enterhaken und nichts, was man statt dessen benutzen könnte. Und es mangelt auch an einem zu allem entschlossenen, vertrauenswürdigen Helfer. Er dachte sich die abwegigsten Möglichkeiten aus, wie man die Flucht bewerkstelligen könnte, überlegte genau, welche Hilfsmittel jeweils nötig waren, und ging dann hundertmal in Gedanken alle Einzelheiten durch. Gegen zwei Uhr morgens hatte er sein Gehirn so zermartert, daß es mit den verrücktesten Ideen aufwartete. Zum Beispiel: Er konnte einen Plastikknopf von seiner Jacke abreißen und ihn in der Hoffnung hinunterschlucken, daß man ihn daraufhin in die Krankenstation bringen würde. Die Krankenstation befand sich natürlich auch noch innerhalb der Gefängnismauern, aber vielleicht boten sich von dort bessere Fluchtgelegenheiten. Dann überlegte er die Sache noch einmal und kam zu dem Ergebnis, daß ein verschluckter Plastikknopf noch lange keine Garantie dafür war, daß man ihn woanders hinbringen würde. Womöglich verabreichten sie ihm nur ein starkes Abführmittel, und dann wäre er noch schlechter dran als jetzt.
Bei Anbruch der Morgendämmerung kam er zu einem Schluß. Dreißig, vierzig oder fünfzig Rigelianer konnten sich in entschlossener, geduldiger Arbeit einen Tunnel graben, der sie unter der Mauer durch in die Freiheit führen würde. Solche Mittel waren ihm versagt. Ihm blieb nur eine einzige Möglichkeit: die List. Er seufzte laut und klagte: »Dann muß ich meinen Kopf also doppelt anstrengen.« Wenige Minuten später fuhr er hoch, blickte zum heller werdenden Himmel hinauf und rief: »Ja, natürlich, ich hab’s. Meinen Kopf doppelt!«
Als die Hofstunde kam, hatte Leeming beschlossen, daß es ganz nützlich sein könnte, ein Hilfsmittel zu benutzen. Ein Kruzifix oder eine Kristallkugel können in psychologischer Hinsicht einiges bewirken. Sein Apparat durfte jede Form und Größe haben, er konnte aus jedem erdenklichen Material bestehen, nur mußte er als Spezialapparat kenntlich sein. Außerdem würde seine Wirkung größer sein, wenn das Material, aus dem er gefertigt war, nicht aus Leemings Zelle stammte, wie zum Beispiel Teile seines Anzugs oder Stücke der Bank. Das Material für seinen Apparat sollte möglichst von anderswo stammen. Er bezweifelte, daß die Rigelianer ihm würden helfen können. Sie arbeiteten täglich sechs Stunden in den Gefängniswerkstätten, ein Los, das er teilen würde, sobald er verhört worden war und sobald man seine besonderen Fähigkeiten festgestellt hatte. Die Rigelianer fertigten Militärkleidung, Gurte und Stiefel an, außerdem einige Elektroartikel. Sie haßten es, für den Feind zu arbeiten, aber sie hatten keine andere Wahl, wenn sie nicht verhungern wollten.
Nach allem, was er erfahren hatte, bestand für sie kaum eine Möglichkeit, wirklich brauchbare Gegenstände wie Messer, Meißel, Hämmer oder Sägeblätter aus den Werkstätten herauszuschmuggeln. Am Ende der Arbeitszeit mußten sich die Gefangenen in Reih und Glied aufstellen und durften nicht eher weggehen, als bis man jede Maschine genau geprüft und jedes Werkzeug gezählt und weggeschlossen hatte. Die erste Viertelstunde der Hofzeit verbrachte Leeming damit, überall nach Gegenständen Ausschau zu halten, die er unter Umständen gebrauchen konnte. Er ging mit gesenktem Kopf herum wie ein betrübtes Kind, das nach einer verlorenen Münze sucht. Das einzige, was er fand, waren zwei Holzstücke, etwa zehn Zentimeter lang und zwei Zentimeter dick. Er steckte sie in die Tasche, ohne die geringste Vorstellung zu haben, was er mit ihnen anfangen sollte. Dann setzte er sich an die Mauer und unterhielt sich flüsternd mit zwei Rigelianern. Das Gespräch interessierte ihn nicht besonders, weil er in Gedanken mit seinem Apparat beschäftigt war, und die beiden entfernten sich, als ein Wärter in die Nähe kam. Später schlenderte ein anderer Rigelianer heran. »Na, Terraner, willst du noch immer fliehen?« »Was glaubst du wohl.« Der Rigelianer kicherte und kratzte sich hinter dem Ohr, eine Geste, mit der seine Rasse höfliche Skepsis auszudrücken pflegte. »Ich glaube, unsere Chancen sind besser als deine.« »Weshalb?« Leeming sah ihn scharf an. »Wir sind eben mehr«, wich der andere aus, so als sei ihm gerade noch rechtzeitig eingefallen, daß er fast zuviel gesagt hätte. »Was kann man allein denn schon machen?« »Bei der ersten Gelegenheit abhauen«, sagte Leeming. Er bemerkte plötzlich den Ring am ohrenkratzenden Finger des Rigelianers, und sein Interesse erwachte. Er hatte dieses
einfache Schmuckstück schon früher gesehen, bei verschiedenen Rigelianern und auch bei einigen Wärtern. Die Ringe waren aus vier- oder fünffach gewundenem Draht gefertigt, dessen Enden zu den Initialen des Trägers verschlungen waren. »Wo hast du den Schmuck her?« fragte er. »Woher ich was habe?« »Den Ring.« »Ach so, den.« Der Rigelianer betrachtete stolz seine ringgeschmückte Hand. »Wir fertigen sie in den Werkstätten an. Das ist eine kleine Abwechslung.« »Und die Wärter haben nichts dagegen?« »Sie mischen sich nicht ein. Es ist ja auch weiter nichts dabei. Außerdem haben wir eine ganze Menge davon für die Wärter selber angefertigt. Und auch eine Anzahl Feuerzeuge. Wir hätten leicht ein paar Hundert für uns machen können, aber wir haben keine Verwendung dafür.« Er hielt nachdenklich inne. »Wir vermuten, daß die Wärter ein paar Ringe und Feuerzeuge nach draußen verkauft haben. Wir hoffen es zumindest.« »Warum?« »Vielleicht entwickelt sich ein Handel daraus. Und wenn sie erst so richtig im Geschäft sind, stoppen wir die Produktion und verlangen eine Beteiligung in Form von Extrarationen und außergewöhnlichen Privilegien.« »Das habt ihr euch klug ausgedacht«, sagte Leeming. »Allen Beteiligten wäre damit gedient, wenn ein Händler den Planeten mit euren Waren bereist. Könnt ihr den Job nicht mir geben?« Der Rigelianer lächelte und fuhr fort: »Handgefertigte Sachen sind nicht so wichtig, aber wenn mal ein kleiner Schraubenzieher fehlt, dann ist gleich die Hölle los. Alle müssen sich auf der Stelle nackt ausziehen, und der Schuldige wird hart bestraft.«
»Aber es würde doch nicht auffallen, wenn eine kleine Rolle von dem Draht fehlt, oder?« »Ich glaube nicht. Sie kontrollieren das Zeug nicht. Was sollte einer mit einem Stück Draht schon Großes anfangen?« »Das weiß ich auch nicht«, meinte Leeming. »Ich möchte aber trotzdem etwas.« »Damit kriegst du nie im Leben ein Schloß auf«, sagte der Rigelianer. »Der Draht ist viel zu dünn und biegsam.« »Ich möchte mir daraus ja auch nur ein paar Zulu-Ringe machen«, erklärte Leeming. »Du kannst dir bald selbst welchen besorgen. Nach dem Verhör werden sie dich in die Werkstätten schicken.« »Ich brauche den Draht schon vorher. Ich brauche ihn so rasch wie möglich.« Der Rigelianer dachte schweigend nach und sagte schließlich: »Wenn du einen Plan hast, behalte ihn unbedingt für dich. Du darfst zu niemandem eine Andeutung machen. Sonst versucht bestimmt jemand, dir zuvorzukommen.« »Danke für den guten Rat«, sagte Leeming. »Und wie steht’s jetzt mit meinem Draht?« »Wir sehen uns morgen um die gleiche Zeit.« Der Rigelianer ließ ihn allein und mischte sich unter die Menge.
Am nächsten Tag besaß Leeming eine kleine Rolle Kupferdraht. Als er sie in der Dunkelheit der Zelle aufrollte und an seinem Körper maß, war der Draht ebenso lang wie er selbst, nämlich ein Meter achtzig. Leeming legte ihn doppelt, bog ihn in der Mitte hin und her bis er brach, und versteckte die eine Hälfte unter der Bank. Dann quälte er sich eine Stunde damit ab, einen lockeren Nagel aus der Bank herauszuziehen.
Er nahm eins von den Holzstücken, schätzte ungefähr die Mitte ab, setzte den Nagel darauf und stampfte ihn mit dem Fuß ein. Als sich Schritte näherten, schob er das Zeug rasch unter die Bank und legte sich gerade noch rechtzeitig hin, bevor das Guckloch geöffnet wurde. Ein Lichtstrahl fiel herein und ein Auge wurde sichtbar; jemand brummte etwas. Das Licht erlosch, das Guckloch wurde geschlossen. Leeming nahm seine Arbeit wieder auf, drehte den Nagel in der einen und in der anderen Richtung, preßte von Zeit zu Zeit seinen Fuß darauf und ließ nicht locker, bis er zwei Drittel tief in das Holz ein säuberliches Loch gebohrt hatte. Als nächstes nahm er das eine Stück Draht, brach es in zwei ungleich lange Teile und bog das kürzere Stück zu einer Schlinge mit etwa zehn Zentimeter langen Enden. Er gab sich Mühe, den Kreis möglichst vollkommen zu machen. Dann wickelte er das längere Stück Draht in fest anliegenden Spiralen um die Schlinge und ließ ebenfalls zehn Zentimeter lange Enden frei. Er kletterte mit Hilfe der Bank zum Fenster hinauf, prüfte sein Werk im Schimmer des Scheinwerferlichts, das von draußen hereinfiel, und brachte ein paar kleine Verbesserungen an. Er war zufrieden. Danach ritzte er mit dem Nagel zwei Kerben in den Rand der Bank, deren Abstand voneinander genau dem Durchmesser der Schlinge entsprach. Er zählte die Spiralwindungen des zweiten Drahts um die Schlinge. Es waren siebenundzwanzig. Es war wichtig, daß er sich diese Einzelheiten genau merkte für den Fall, daß er noch einmal ein solches Gerät anfertigen mußte. Es sollte möglichst gleich ausfallen. Wenn seine Feinde die Ähnlichkeit feststellten, würde es sie vielleicht beunruhigen. Von jemandem, der zweimal genau das gleiche macht, kann man mit ziemlicher Sicherheit annehmen, daß er eine ganz bestimmte Absicht verfolgt.
Zum Schluß schob er den Nagel wieder an der Stelle, an der er ihn herausgeholt hatte, in die Bank. Er würde ihn bestimmt noch einmal benötigen. Dann zwängte er die vier Enden der Schlinge in das Loch, welches er in das Holzstück gebohrt hatte, und gab ihr so einen Halt. Nun besaß er also ein Gerät, ein Mittel zu einem Zweck. Er war der Erfinder und Alleineigentümer des einzigartigen Leeming-Dingsda. Bestimmte chemische Reaktionen finden nur statt, wenn ein Katalysator hinzugefügt wird, ebenso wie eine Heirat nur durch die Anwesenheit eines Standesbeamten legalisiert wird. Manche Gleichungen lassen sich nur durch die Einführung einer unbekannten Größe X lösen. Wenn einem zu einem bestimmten Zweck etwas fehlt, muß man es irgendwie herbeischaffen. Wenn man Unterstützung von außerhalb braucht und sie ist nicht vorhanden, dann muß man sie eben erfinden. Immer wenn der Mensch seine Umgebung mit bloßen Händen nicht bewältigen konnte, mußte er sich einen Faktor X schaffen, um sie zu bezwingen. Das war von Beginn der Menschheitsgeschichte an so gewesen: der Mensch plus Werkzeug oder Waffe. Aber X mußte nicht unbedingt etwas Festes und Greifbares bedeuten, nicht einmal etwas Sichtbares. Es konnte ebensogut auch ein Traum sein, eine Idee, eine Illusion oder eine große Lüge – einfach alles. Es mußte nur wirken, dann war es richtig. Das sollte sich nun herausstellen. Es war sinnlos, Terranisch zu verwenden, außer vielleicht als Beschwörungsformel. Keiner von ihnen verstand diese Sprache; es war für sie nur ein Kauderwelsch. Außerdem war seine Verzögerungstaktik inzwischen nutzlos geworden; sie wußten jetzt, daß er ihre Sprache fast so gut beherrschte wie sie selbst.
Mit der Drahtschlinge in der Hand ging er zur Tür, preßte das Ohr gegen das geschlossene Guckloch und lauschte auf Schritte. Es dauerte etwa zwanzig Minuten, bis er das Knarren von Militärstiefeln hörte. »Bist du da?« rief er nicht sehr laut, aber so, daß man ihn hören mußte. »Bist du da?« Dann legte er sich bäuchlings auf den Boden und stellte das Gerät vor sich auf. »Bist du da?« Das Guckloch wurde geöffnet, Licht fiel in die Zelle, und ein Wärter blickte herein. Leeming tat so, als sei er ganz vertieft in seine Aufgabe, und sprach weiter durch die Drahtschlinge. »Bist du da?« »Was machst du da?« fragte der Wärter. Leeming erkannte die Stimme und sagte sich, daß diesmal das Glück auf seiner Seite war. Der Wärter war ein Bursche namens Marsin, der zwar wußte, wie man ein Gewehr hält und abfeuert und daß man um Hilfe rufen muß, wenn einem dies mißlingt. Aber ansonsten zählte er nicht gerade zur geistigen Elite. Man tat Marsin wahrscheinlich noch zuviel Ehre an, wenn man ihn einfach als Schwachkopf bezeichnete. »Was machst du da?« fragte Marsin diesmal lauter. »Ich rufe«, antwortete Leeming, der scheinbar erst jetzt die Anwesenheit des Wärters bemerkte. »Wen rufst du?« »Kümmere dich um deine eigenen Angelegenheiten«, sagte Leeming mit ungeduldiger Miene. Er drehte das Brett mit der Drahtschlinge vorsichtig um einige Grad. »Bist du da?« »Das ist verboten«, sagte Marsin. Leeming seufzte laut, wie jemand, der gezwungen ist, einen Schwachkopf mit Nachsicht zu behandeln. »Was ist verboten?« »Rufen ist verboten.«
»Stell dich nicht dümmer, als du bist!« sagte Leeming tadelnd. »Meiner Rasse ist es immer erlaubt, zu rufen. Wo wären wir wohl, wenn wir das nicht könnten, hm?« Das brachte Marsin ganz durcheinander. Er wußte nicht, welche besonderen Privilegien die Terraner als unbedingt lebensnotwendig erachteten. Und er konnte sich auch nicht vorstellen, wo sie ohne diese Privilegien wären. Außerdem wagte er nicht, einfach in die Zelle zu gehen und Leemings Tun ein Ende zu setzen. Es war den Wärtern streng verboten, allein und bewaffnet eine Zelle zu betreten, seit ein Rigelianer einmal einen Wärter niedergeschlagen, sich seine Waffe geschnappt und sechs weitere bei seinem Fluchtversuch erschossen hatte. Wenn er eingreifen wollte, mußte er zum Sergeant gehen und verlangen, daß man gegen Fremde, die durch Drahtschlingen Geräusche machten, etwas unternehmen müsse. Dieser Sergeant war ein unangenehmer Mann, der dazu neigte, überall Geschichten aus dem Privatleben anderer Leute zu verbreiten. Außerdem war es vier Uhr morgens, eine Zeit, zu der die Leber des Sergeanten besonders schlecht arbeitete. Und schließlich hatte Marsin schon allzuoft hören müssen, daß er ein verdammter Faplap sei. »Du hörst jetzt auf zu rufen und legst dich schlafen«, sagte Marsin mit einem Unterton von Verzweiflung in der Stimme, »sonst mache ich morgen früh dem Offizier vom Dienst Meldung.« »Ach, hau doch endlich ab«, sagte Leeming. Er drehte die Drahtschlinge behutsam in eine andere Richtung. »Bist du da?« »Ich hab dich gewarnt«, sagte Marsin und starrte die Schlinge an. »Verschwinde!« brüllte Leeming. Marsin klappte das Guckloch zu und verschwand.
Da Leeming fast die ganze Nacht wachgeblieben war, schlief er am Morgen länger. Er wurde unsanft geweckt. Die Tür flog krachend auf, und drei Wärter und ein Offizier stürzten herein. Die Wärter zerrten ihn von der Bank, zogen ihn aus und schoben ihn nackt auf den Gang hinaus. Dann durchsuchten sie sorgfältig seine Kleidung, während der Offizier um sie herumtrippelte und zuschaute. Nachdem sie in seiner Kleidung nichts gefunden hatten, begannen sie die Zelle zu durchsuchen. Einer von ihnen entdeckte gleich die Drahtschlinge mit dem Holzfuß und übergab sie dem Offizier, der das Gebilde mißtrauisch entgegennahm wie einen Blumenstrauß, in dem man vielleicht eine Bombe versteckt hatte. Ein anderer Wärter trat mit dem Fuß auf das zweite Holzstück und stieß es achtlos beiseite. Sie klopften den Boden und die Wände ab, um zu prüfen, ob es vielleicht irgendwo hohl klang. Sie rückten die Bank ein Stück von der Wand ab und untersuchten die Rückseite. Gerade setzten sie dazu an, die Bank umzudrehen, als Leeming beschloß, daß es an der Zeit sei, einen kleinen Spaziergang zu machen. Er ging, nackt wie er war, den Gang hinunter. Der Offizier stieß einen empörten Schrei aus und zeigte mit dem Finger auf Leeming. Die Wärter stürzten aus der Zelle und brüllten ihm zu, er solle stehenbleiben. Ein vierter Wärter tauchte am Ende des Gangs auf und richtete drohend sein Gewehr auf ihn. Leeming drehte sich um und schlenderte zurück. Der Offizier, der jetzt vor Wut kochte, stand vor der Zellentür und brüllte, während er ihm mit dem Drahtgestell vor der Nase herumwedelte: »Was ist das?« »Mein Eigentum«, erklärte Leeming würdevoll. »Als Kriegsgefangener haben Sie kein Recht darauf, irgend etwas Ihr Eigentum zu nennen.«
»Wer sagt das?« »Ich sage das!« antwortete der Offizier hitzig. »Wer sind Sie?« fragte Leeming. »Beim Schwert des Lamissim, Ihnen werde ich zeigen, wer ich bin!« drohte der Offizier. »Wärter, bringt ihn in die Zelle und – « »Sie sind hier nicht der Boss«, fiel Leeming ihm selbstsicher ins Wort. »Der Kommandant ist hier der Boss. Das sage ich, und das sagt er auch. Wenn Sie das bezweifeln, dann lassen Sie uns doch zu ihm gehen und ihn selbst fragen.« Die Wärter standen mit unentschlossenen Mienen da. Der Offizier sah Leeming verblüfft an. »Wollen Sie damit sagen, daß der Kommandant Ihnen erlaubt hat, diesen Gegenstand zu besitzen?« »Ich will damit sagen, daß er die Erlaubnis nicht verweigert hat. Und Sie sind weder berechtigt, sie zu geben, noch sie zu verweigern.« »Dann werde ich also mit dem Kommandanten darüber sprechen«, entschied der Offizier. Er wandte sich an die Wärter. »Bringt den Gefangenen zurück in die Zelle und gebt ihm sein gewöhnliches Frühstück.« »Wollen Sie mir nicht auch mein Eigentum zurückgeben?« fragte Leeming. »Das kommt nicht in Frage, bevor ich nicht mit dem Kommandanten darüber gesprochen habe.« Sie stießen ihn in die Zelle. Er zog sich an. Dann wurde das Frühstück gebracht, die unvermeidliche Schüssel Grütze. Er fluchte auf die Wärter, weil sie nicht Eier mit Schinken gebracht hatten. Er tat es mit voller Absicht. Es war jetzt angebracht, ein bißchen Selbstsicherheit und Angriffslust an den Tag zu legen, um die Sache voranzutreiben. Sein Lehrer erschien heute nicht, und so verbrachte Leeming den Vormittag damit, seine Sprachkenntnisse mit Hilfe der
Bücher zu verbessern. Mittags ließen sie ihn auf den Hof hinaus, und er hatte nicht den Eindruck, daß er dort besonders beobachtet wurde. Der Rigelianer flüsterte ihm zu: »Ich hatte Gelegenheit, noch eine Rolle Draht zu stehlen. Ich habe sie mitgenommen, weil ich mir dachte, du könntest vielleicht noch etwas gebrauchen.« Er schob ihm die Rolle zu und wartete, bis sie in Leemings Tasche verschwunden war. »Aber jetzt ist Schluß. Mehr kann ich dir nicht bringen. Du brauchst mich nicht mehr zu bitten.« »Was ist denn los? Wird es gefährlich? Haben sie Verdacht geschöpft?« »Bis jetzt ist noch alles in Ordnung.« Er sah sich wachsam um. »Aber wenn die anderen Gefangenen merken, daß ich Draht mitnehme, werden sie sich ebenfalls darauf stürzen. Sie werden ihn mit der Hoffnung stehlen, daß sie vielleicht noch darauf kommen, wofür ich ihn benutzen will, damit sie ihn zu dem gleichen Zweck benutzen können. Jedermann lauert ständig nur darauf, sich einen Vorteil zu verschaffen, ob es nun ein echter oder ein eingebildeter ist. Dieses Lagerleben bringt die schlimmsten wie die besten Eigenschaften in den Leuten zum Vorschein.« »Ich verstehe.« »Zwei kleine Rollen Draht wird man nie vermissen«, fuhr der andere fort. »Aber wenn erst mal der Run darauf einsetzt, wird massenweise Draht verschwinden. Und dann ist hier der Teufel los. Das kann ich nicht riskieren.« »Soll das heißen, daß ihr euch im Moment keine Durchsuchung leisten könnt?« fragte Leeming gezielt. Der Rigelianer zuckte erschreckt zurück. »Das habe ich nicht gesagt.« »Ich kann zwei und zwei zusammenzählen wie jeder andere auch.« Leeming zwinkerte ihm aufmunternd zu. »Und ich kann auch den Mund halten.«
Er suchte auf dem Hof nach weiteren Holzstücken, fand aber keine. Das war nicht weiter schlimm. Notfalls konnte er sich auch ohne Holz behelfen. Außerdem blieb ihm sowieso keine andere Wahl. Nachmittags beschäftigte er sich wieder mit seinen Büchern. Als die Dämmerung kam und die Sterne blaß durch die Öffnung blinkten, ging er zur Tür und stieß mit dem Fuß dagegen, so daß der ganze Block von dem Lärm widerhallte. Schritte näherten sich eilig, das Guckloch wurde aufgestoßen. Es war wieder Marsin. »Ach, du bist’s«, begrüßte Leeming ihn mit verächtlichem Schnauben. »Du hast natürlich petzen müssen. Du hattest es nötig, dich einzuschmeicheln, indem du dem Offizier alles erzählt hast.« Er richtete sich auf. »Du tust mir wirklich leid. Ich möchte nicht in deiner Haut stecken.« »Ich tu dir leid?« fragte Marsin verwirrt. »Warum?« »Du wirst dafür büßen müssen. Natürlich nicht gleich. Zuerst wirst du die übliche Zeit schrecklicher Erwartungen durchmachen müssen. Aber dann wirst du leiden.« »Es war doch meine Pflicht«, erklärte Marsin fast entschuldigend. »Das wird als strafmildernd berücksichtigt werden«, versicherte Leeming, »und deine Qualen werden entsprechend abgeschwächt werden.« »Ich versteh das nicht«, sagte Marsin, der langsam Angst bekam. »Du wirst es noch verstehen – eines schlimmen Tages. Und ebenso die vier verdammten Faplaps, die mich zusammengeschlagen haben. Du kannst ihnen von mir ausrichten, daß ihre Strafe ihnen sicher ist.« »Ich sollte eigentlich nicht mit dir sprechen«, sagte Marsin, der langsam merkte, daß er sich um so mehr verstrickte, je länger er hier stehenblieb. Er wollte das Guckloch zumachen.
»Na gut. Aber ich brauche etwas.« »Was denn?« »Ich brauche mein Bopamagilvie – das Ding, das der Offizier mitgenommen hat.« »Das geht nicht ohne die ausdrückliche Erlaubnis des Kommandanten. Er ist heute nicht da. Er kommt erst morgen früh zurück.« »Ich brauche es aber gleich.« Leeming machte eine wegwerfende Handbewegung. »Ach, laß nur. Denk nicht mehr daran. Ich werde einfach ein anderes kommen lassen.« »Das ist verboten«, wandte Marsin unsicher ein. »Ha-ha!« machte Leeming. Er wartete, bis es ganz dunkel geworden war, holte den Draht unter der Bank hervor und fertigte ein zweites Drahtgestell an, das dem ersten zum Verwechseln ähnlich sah. Er wurde zweimal bei der Arbeit unterbrochen, aber nicht entdeckt. Dann stellte er die Bank schräg gegen die Wand und kletterte zu der Fensteröffnung hinauf. Er nahm die neue Rolle Draht aus der Tasche, machte das eine Ende unten an der mittleren Eisenstange fest und ließ die Rolle draußen vor dem Fenster hängen. Er rieb das glänzende Stück Draht, das sichtbar war, mit Spucke und Staub ein, so daß man es nur noch aus allernächster Nähe erkennen konnte. Dann kletterte er wieder hinunter und rückte die Bank an ihren alten Platz. Die Fensteröffnung war so hoch oben angebracht, daß man von unten den Sims und den unteren Teil der Stangen nicht sehen konnte. Er stellte sich an die Tür, lauschte und rief im richtigen Augenblick: »Bist du da?« Als das Guckloch geöffnet worden war und Licht hereinfiel, hatte Leeming das Gefühl, daß diesmal ein ganzer Haufen
Wärter hinter der Tür stand und daß das Auge am Guckloch nicht Marsin gehörte. Ohne sich im mindesten um seine Zuschauer zu kümmern, drehte Leeming den Drahtring langsam herum und rief dabei in einem fort: »Bist du da?« Als er den Ring um etwa vierzig Grad gedreht hatte, schwieg er einen Augenblick und sagte dann mit erfreuter Stimme: »Da bist du ja endlich! Warum bleibst du nicht in der Nähe, damit wir uns unterhalten können, ohne daß ich eine Schlinge benutzen muß?« Er schwieg und tat so, als höre er aufmerksam zu. Das Auge im Guckloch weitete sich vor Erstaunen, wurde weggeschoben und durch ein anderes ersetzt. »Gut«, sagte Leeming und setzte sich gemütlich hin, »ich werde sie dir zeigen, sobald ich Gelegenheit dazu habe, und dann kannst du mit ihnen machen, was du für richtig hältst. Aber laß uns lieber in unserer Sprache miteinander reden – hier sind mir zu viele Lauscher an der Wand.« Er holte tief Luft und ratterte los: »Aufsprang das Netz geöffnet weit – der Spiegel barst in Scherben breit – der Fluch wird wahr rief ganz verstört – die Dame von – « Aufsprang die Tür geöffnet weit, und zwei Wärter stürzten herein, die in ihrem Eifer, die Beute zu greifen, fast übereinander gefallen wären. Draußen standen noch zwei Wärter und der Offizier. Marsin hielt sich ängstlich im Hintergrund. Der eine Wärter stürzte sich auf das Drahtgerät, rief: »Ich hab’s« und rannte hinaus. Der andere folgte ihm. Beide drohten vor Aufregung fast überzuschnappen. Es dauerte noch einige Sekunden, bevor die Tür wieder geschlossen wurde. Leeming nutzte die Zeit. Er stand auf, wies mit gespreiztem Zeige- und Mittelfinger auf die Gruppe und machte zustechende Bewegungen. Einem die Teufelshörner
zeigen, hatten sie dazu als Kinder gesagt. Es war die klassische Geste, mit der man den bösen Blick auf jemanden richtete. »Die da«, erklärte er mit wichtiger Stimme, »das sind die schuppenhäutigen Dummköpfe, die es nicht anders gewollt haben. Nun kannst du sie bestrafen, soviel du willst.« Der ganze Haufen sah ihn entsetzt an, bevor die Tür zugeschlagen wurde. Er legte das Ohr ans Guckloch und hörte, wie sie eifrig palaverten und davongingen. Innerhalb von zehn Minuten hatte er ein Stück Draht von der Rolle abgebrochen, die draußen vor dem Fenster hing, und mit Spucke und Staub wieder das Drahtende getarnt, an dem die Rolle befestigt war. Eine halbe Stunde später besaß er ein neues Bopamagilvie. Er hatte jetzt schon soviel Übung im Herstellen dieser Dinge, daß es ihm glatt und schnell von der Hand ging. Da kein Holz für einen Fuß da war, bohrte er mit dem Nagel ein Loch zwischen zwei Steinplatten des Zellenbodens. Er steckte die Drahtenden der Schlinge in das Loch und drehte das Ganze ein paarmal hin und her, damit seine Beschwörung nachher leichter vonstatten gehen konnte. Als der richtige Augenblick gekommen war, legte er sich wieder auf den Zellenboden und begann, durch die Schlinge hindurch den dritten Paragraphen von Vorschrift 27, Abschnitt B aus der Raumfahrtsordnung aufzusagen. Er hatte diese Stelle ausgewählt, weil sie eine Perle bürokratischer Ausdruckskunst war, ein einziger Satz, der aus tausend Wörtern bestand und dessen Bedeutung dem Himmel allein bekannt war. »Wenn in einer Notsituation Brennstoff in einer Station aufgenommen werden muß, die offiziell nicht als Heimatstation aufgeführt ist und auch nach Abschnitt A (fünf), Zusatz A (fünf) B nicht wegen außerordentlicher Umstände als Heimatstation zu betrachten ist, dann soll besagte Station so behandelt werden, als sei sie nach Abschnitt A (fünf), Zusatz A
(fünf) B als Heimatstation zu betrachten, vorausgesetzt, die erwähnte Notsituation ist in der Liste technischer Notwendigkeiten enthalten, die Abschnitt J (neunundzwanzig bis dreiunddreißig) anführt mit folgenden Zusätzen, die sich auf Heimatstationen beziehen, welche – « Das Guckloch wurde geöffnet und wieder geschlossen. Jemand rannte davon. Eine Minute später dröhnte es auf dem Gang, als käme ein ganzes Kavallerieregiment angeritten. Das Guckloch wurde wieder geöffnet und geschlossen. Dann flog die Tür auf. Diesmal zogen sie ihn aus, durchsuchten seine Kleidung und durchkämmten die Zelle von einem Ende zum andern. Sie gingen dabei mit einem erstaunlichen Mangel an Nächstenliebe vor. Sie drehten die Bank um, klopften sie ab, stießen mit den Füßen dagegen und stellten noch alles mögliche damit an – nur mit einer Lupe untersuchten sie sie nicht. Leeming schaute ihnen zu und ermunterte sie durch bösartiges Kichern. Es hatte einmal eine Zeit gegeben, wo er nicht einmal um eine Fünfzig-Punkte-Wette ein bösartiges Kichern hätte von sich geben können. Aber jetzt konnte er es. Es ist erstaunlich, wie sehr ein Mensch sich an die jeweiligen Erfordernisse anpassen kann. Ein Wärter warf ihm einen vernichtenden Blick zu, ging hinaus und kehrte mit einer Leiter zurück. Er kletterte zum Fenster hinauf und musterte es flüchtig, seine Hauptsorge galt dem Gitter. Er packte jede Stange mit beiden Händen und versuchte, daran zu rütteln. Dann stieg er befriedigt wieder hinunter und schleppte die Leiter hinaus. Sie entfernten sich. Leeming zog sich an und lauschte am Guckloch. Ganz in der Nähe waren leise Atemzüge und gelegentlich ein Rascheln zu hören. Er setzte sich auf die Bank und wartete. Nach kurzer Zeit fiel Licht in die Zelle, und das
Guckloch ging auf. Er richtete seine gespreizten Finger auf das hereinblickende Auge. Die Klappe wurde geschlossen. Schritte entfernten sich mit viel zu lautem Stampfen. Nach einer halben Stunde völliger Stille bot sich das Auge erneut dem Hexenzauber dar. Fünf Minuten später ließ es sich wieder verwünschen. Es war immer das gleiche Auge; anscheinend lechzte es nach Bestrafung. Dieses Spiel zog sich drei Stunden hin, dann wurde es dem Auge zuviel. Leeming fertigte daraufhin einen neuen Drahtring an und sprach mit lauter Stimme hindurch. Diesmal durchsuchten sie weder seine Kleidung noch die Zelle. Sie begnügten sich damit, ihm das Gerät abzunehmen. Und sie machten den Eindruck, als hätten sie langsam die Nase voll. Der restliche Draht reichte noch für eine weitere Schlinge. Leeming beschloß, ihn für künftigen Bedarf aufzuheben und sich ein wenig Schlaf zu gönnen. Unzureichende Ernährung und Mangel an Schlaf begannen allmählich seine Energie auszuhöhlen. Er legte sich auf die Bank und schloß die rotgeränderten Augen. Nach einiger Zeit begann er laut zu schnarchen, so daß es klang, als würden die Eisenstäbe durchgesägt. Das verursachte draußen auf dem Gang eine Panik, und der ganze Haufen stürzte noch einmal herein. Leeming fuhr aus dem Schlaf hoch und verwünschte alle miteinander. Dann legte er sich wieder hin. Er war vollkommen erledigt – aber sie auch. Er schlief bis zum nächsten Mittag, nur einmal gestört durch die Ankunft des wie immer miserablen Frühstücks. Kurz nach seinem Erwachen wurde ihm das übliche miserable Mittagessen serviert. Zur Hof zeit ließ man ihn nicht hinaus. Er hämmerte gegen die Tür und verlangte eine Erklärung dafür, weshalb er nicht auf den Hof gehen durfte. Sie beachteten ihn nicht.
Er setzte sich auf die Bank und dachte nach. Vielleicht war diese Einschränkung seiner einzigen Freiheit die Rache dafür, daß er sie mitten in der Nacht wie Flöhe hatte herumspringen lassen. Oder sie hatten gegen den Rigelianer einen Verdacht gefaßt und wollten jetzt jeden Kontakt verhindern. Auf jeden Fall machte er dem Feind zu schaffen. Ganz auf sich gestellt, weit hinter der Front. Das war doch immerhin etwas. Daß jemand Gefangener ist, bedeutet nicht, daß er den Kampf ganz aufgeben muß. Eingesperrt hinter Mauern und Stacheldraht kann er den Feind immer noch belästigen, kann ihm Zeit und Energie rauben, seine Moral untergraben und zumindest einen kleinen Teil seiner Männer vom Kampf abziehen. Er beschloß, daß er als nächstes den Bannfluch ausweiten mußte. Und zwar in möglichst verständlicher Form. Je weiter er ihn ausdehnte und je mehrdeutiger er ihn formulierte, desto leichter konnte er jedes Unglück, das früher oder später passieren würde, seiner Verwünschung zuschreiben. Das war auch die Technik des Wahrsagens. Die Leute neigen dazu, vieldeutigen Aussagen eine bestimmte Bedeutung zu geben, wenn gewisse Umstände diese Bedeutung nahelegen. Sie brauchen gar nicht besonders abergläubisch zu sein. Es genügt, wenn man ihnen bestimmte Erwartungen suggeriert, die dann, wenn ein entsprechendes Ereignis eingetreten ist, Erstaunen auslösen. »In naher Zukunft wird ein großer dunkler Mann Ihren Weg kreuzen.« Diesem Bild entspricht dann jeder Mann, der ein wenig größer ist als der Durchschnitt und nicht blond ist. Und fünf Minuten bis zu einem Jahr danach werden gleichermaßen als nahe Zukunft angesehen. »Mama, der Mann von der Versicherung hat mich so angelächelt. Weißt du noch, was die Zigeunerin gesagt hat?«
Leeming grinste vor sich hin, während er verschiedene Möglichkeiten und deren Chancen abwog. Nicht weit von ihm entfernt buddelten bestimmt einige Rigelianer langsam mit bloßen Händen einen unterirdischen Gang. Mit jedem Griff konnten sie nur eine armselige Handvoll abtragen. Die Fortschritte, die sie pro Nacht erzielten, waren verschwindend gering. Erde und Gestein mußten taschenweise hinausbefördert und unauffällig auf dem Hof verstreut werden. Und dazu die ständige Gefahr, verraten oder entdeckt und erschossen zu werden. Ein langwieriges Unternehmen, das binnen Minuten durch einen Schrei und das Knattern von Maschinengewehren beendet werden konnte. Doch eine abenteuerliche Flucht ist nicht der einzige Weg, um aus dem Gefängnis herauszukommen. Wenn man entschlossen, geduldig, zungenfertig und verschlagen genug ist, kann man den Feind auch dazu bringen, freiwillig die Türen zu öffnen und einen hinauszulassen. Man kann seinen von Gott gegebenen Verstand gebrauchen. Nach dem Gesetz der Wahrscheinlichkeit mußten innerhalb und außerhalb des Gefängnisses eine Reihe von Ereignissen eintreten, von denen einige für den Feind nicht sehr erfreulich sein würden. Ein Offizier würde von gräßlichem Bauchgrimmen geplagt werden, ein Aufseher konnte die Wachtturmtreppe hinunterfallen und sich das Bein brechen, jemand konnte seine Geldtasche oder seine Hose oder den Verstand verlieren. Draußen konnte eine Brücke einstürzen, ein Zug entgleisen, ein Raumschiff beim Start abstürzen, oder es gab eine Explosion in einer Munitionsfabrik, oder ein Heerführer fiel vom Schlag getroffen tot um. Leeming hätte den größten Trumpf in der Hand, wenn sie ihn als Urheber allen Unglücks betrachten würden. Er mußte seinen Ruf nur so geschickt begründen, daß sie sein Wirken
weder verhindern noch ihn dafür in einer Folterkammer bestrafen konnten. Die beste Strategie bestand darin, sie auf eine Weise von seiner Gefährlichkeit zu überzeugen, die zugleich ihre Ohnmacht deutlich machte. Wenn ihm das gelang, mußten sie zu dem Schluß kommen, daß es für sie nur einen Weg gab, sich vom Unglück zu befreien, nämlich den, Leeming so rasch wie möglich loszuwerden, und das lebendig und unversehrt. Ein solches Problem hätte er zu Hause wahrscheinlich als unlösbar abgetan. Doch jetzt hatte er drei Monate Zeit gehabt, eine Lösung auszubrüten – und die bittere Notwendigkeit ist eine gute Schule für den Geist. Er war froh, daß er schon eine Idee hatte; ihm blieben nur noch zehn Minuten, bis er sie in die Tat umsetzen konnte. Die Tür ging auf, drei Wärter blickten herein, und einer von ihnen krächzte: »Der Kommandant will dich sprechen. Amasch!« Der Kommandant saß hinter einem Schreibtisch, rechts und links von ihm ein Offizier. Er war sehr breit gebaut. Er musterte den Gefangenen mit ausdruckslosen, hornüberzogenen Augen. Leeming setzte sich gelassen auf einen Stuhl, und der rechte Offizier brüllte sofort: »Was fällt Ihnen ein! Bleiben Sie in Gegenwart des Kommandanten gefälligst stehen!« »Lassen Sie ihn sitzen«, sagte der Kommandant. Gleich zu Beginn ein Zugeständnis, dachte Leeming. Er betrachtete den dicken Aktenstoß auf dem Schreibtisch. Der Kommandant hatte sicherlich einen Bericht über Leemings sämtliche Schandtaten gelesen und beschlossen, sich erst ein Urteil zu bilden, nachdem er den Dingen auf den Grund gegangen war. Das war eine verständliche Haltung. Bei der Föderation wußte man nichts über die hiesige Lebensform. Umgekehrt
wußten seine Befrager über verschiedene Lebensformen der Föderation auch nichts, und dazu gehörte auch die terranische. Von ihrem Standpunkt aus hatten sie es mit einer unbekannten Größe zu tun. Und wie recht sie damit hatten! Eine Größe, die durch den Faktor X erweitert war. »Wie ich höre, sprechen Sie jetzt unsere Sprache«, begann der Kommandant. »Es ist zwecklos, das zu leugnen«, gestand Leeming. »Gut. Dann werden Sie uns zuerst einige Fragen zu Ihrer Person beantworten.« Er legte ein Formular vor sich auf den Tisch und nahm einen Federhalter in die Hand. »Wie ist der Name Ihres Heimatplaneten?« »Erde.« Der Kommandant schrieb den Namen nach dem Klang in seiner eigenen Schrift nieder und fuhr fort: »Und der Name Ihrer Rasse?« »Terraner.« »Der Name der Gattung?« »Homo nosipaca«, antwortete Leeming mit ungerührtem Gesicht. Der Kommandant schrieb es nieder, machte ein zweifelndes Gesicht und fragte: »Was bedeutet das?« »Raumdurchquerender Mann«, erklärte Leeming. »Hm!« Der andere war sichtlich beeindruckt. »Und wie ist Ihr persönlicher Name?« »John Leeming.« »John Leeming«, wiederholte der Kommandant und trug den Namen in das Formular ein. »Und Eustach Phenackertiban«, fügte Leeming unbekümmert hinzu. Das wurde ebenfalls eingetragen, obwohl der Kommandant Schwierigkeiten mit der phonetischen Umschrift von
»Phenackertiban« hatte. Zweimal mußte er Leeming bitten, den Namen zu wiederholen. Der Kommandant sah sich das Ergebnis an, das einem chinesischen Kochrezept glich, und fragte: »Ist es bei Ihnen üblich, zwei Namen zu haben?« »Natürlich«, versicherte Leeming. »Wir sind doch zu zweit, also brauchen wir auch zwei Namen.« Sein Gegenüber bekundete leichtes Erstaunen. »Sie wollen damit sagen, daß Sie immer paarweise gezeugt und geboren werden? Jeweils zwei identische männliche oder weibliche Wesen?« »Nein, nein, das nicht.« Leeming tat so, als handele es sich um eine altbekannte Tatsache. »Bei seiner Geburt erwirbt jeder von uns sogleich einen Eustach.« »Einen Eustach?« »Ja.« Der Kommandant runzelte die Stirn, stocherte in seinen Zähnen und sah fragend die Offiziere an. Diese machten gleichgültige Mienen, so als wären sie nur zur Gesellschaft hier. »Was ist ein Eustach?« fragte der Kommandant schließlich. Offensichtlich erstaunt über eine derartige Ignoranz sagte Leeming: »Ein unsichtbarer Teil von einem selbst.« Auf dem schuppigen Gesicht des Kommandanten dämmerte Verstehen. »Ach, Sie meinen eine Seele. Sie geben Ihrer Seele einen eigenen Namen?« »Nein, keineswegs«, erklärte Leeming. »Ich habe eine Seele, und Eustach hat auch eine Seele. Wir hoffen es jedenfalls.« Der Kommandant lehnte sich zurück und starrte ihn an. Nach langem Schweigen gestand er schließlich: »Das verstehe ich nicht.« »In dem Fall«, sagte Leeming mit aufreizend triumphierender Stimme, »in dem Fall ist klar, daß Sie keine entsprechende
Form eines Eustach besitzen. Jeder von ihnen lebt ganz allein für sich. Das ist Ihr Pech.« Der Kommandant schlug mit der Hand auf den Tisch, legte etwas mehr militärische Schärfe in seine Stimme und befahl: »Erklären Sie mir, was ein Eustach ist, und zwar so deutlich wie möglich!« »Meine Lage gestattet mir kaum, Ihnen die Auskunft zu verweigern«, sagte Leeming mit gespieltem Zögern. »Aber das ist auch nicht so wichtig. Selbst wenn Sie alles verstehen würden, könnten Sie nicht das mindeste dagegen unternehmen.« »Das wird sich zeigen«, meinte der Kommandant. »Und jetzt erzählen Sie mir endlich, was Sie über diese Eustache wissen.« »Jeder Terraner führt von Geburt an bis zu seinem Tod eine Art Doppelleben«, berichtete Leeming. »Er lebt in enger Verbindung mit einem Wesen, das sich stets Eustach Soundso nennt. Mein Eustach heißt zum Beispiel mit Nachnamen Phenackertiban.« »Können Sie dieses Wesen sehen?« »Nein, niemals. Man kann es weder sehen noch riechen oder fühlen.« »Und woher sind Sie so sicher, daß es keine Täuschung ist, der Ihre ganze Rasse unterliegt?« »Erstens, weil jeder Terraner seinen eigenen Eustach hören kann. Ich kann mit meinem lange Unterredungen führen, vorausgesetzt, er hält sich irgendwo in der Nähe auf, und ich höre in meinem Innern, wie er mir klar und vernünftig antwortet.« »Sie können ihn also nicht mit den Ohren hören?« »Nein, nur mit dem inneren Ohr.« Leeming holte tief Luft und fuhr fort: »Zweitens kann er gewisse Dinge tun, die sichtbare Spuren hinterlassen.« Er wandte sich dem Offizier zur Linken zu. »Wenn Eustach zum Beispiel etwas gegen
diesen Offizier hätte und mir seine Absicht kundtun würde, daß er ihn die Treppe hinunterfallen lassen wolle, und dieser Offizier würde nach einiger Zeit tatsächlich die Treppe hinunterfallen und sich dabei den Hals brechen, dann – « »Das könnte reiner Zufall sein«, wandte der Kommandant ein. »Möglich«, gab Leeming zu. »Aber wenn es nun zu viele solcher Zufälle gibt? Wenn ein Eustach sagt, er würde zwanzig oder fünfzig Dinge hintereinander tun, und sie treffen tatsächlich ein, dann hat er entweder das getan, was er angekündigt hat, oder er kann erstaunlich gut die Zukunft voraussagen. Unsere Eustache behaupten nicht, Propheten zu sein. Ich persönlich glaube es auch nicht. Niemand, sei er nun sichtbar oder unsichtbar, kann mit einer solchen Genauigkeit die Zukunft lesen.« »Damit haben Sie wohl recht«, meinte der Kommandant. »Erkennen Sie die Tatsache an, daß Sie Vater und Mutter haben?« »Selbstverständlich.« »Sie finden das nicht seltsam oder unnatürlich?« »Ganz und gar nicht. Es ist unvorstellbar, ohne Eltern geboren zu werden.« »So ähnlich geht es uns mit unseren Eustachen. Wir können uns nicht vorstellen, ohne sie zu leben.« Der Kommandant dachte darüber nach und sagte zu dem Offizier auf seiner rechten Seite: »Das klingt nach einer parasitären Lebensgemeinschaft. Es wäre interessant zu erfahren, welchen Nutzen beide Teile voneinander haben.« »Ich kann Ihnen nicht sagen, welchen Nutzen mein Eustach von mir hat«, schaltete sich Leeming ein. »Und zwar aus dem einfachen Grund, weil ich es nicht weiß.« »Und das soll ich Ihnen glauben?« fragte der Kommandant und fletschte die Zähne. »Sie haben selbst gesagt, daß Sie mit
ihm sprechen können. Warum haben Sie ihn nie danach gefragt?« »Wir sind des Fragens müde geworden. Wir haben das Thema fallengelassen und die Situation akzeptiert, wie sie ist.« »Weshalb?« »Wir haben immer die gleiche Antwort erhalten. Unsere Eustache geben zu, daß wir für ihre Existenz von großer Wichtigkeit sind, aber sie können uns nicht erklären, in welcher Weise, weil wir es nicht verstehen würden.« »Das könnte auch nur ein Vorwand sein«, meinte der Kommandant. »Vielleicht sagen sie es euch nicht, weil sie nicht wollen, daß ihr es wißt.« »Und was sollen wir Ihrer Meinung nach dagegen tun?« Der Kommandant überging diese Frage und fuhr fort: »Welchen Nutzen zieht ihr denn aus dieser Verbindung? Was gibt Ihr Eustach zum Beispiel Ihnen?« »Er leistet mir Gesellschaft, bietet mir Trost, Rat, Information und – « »Und was?« Leeming stützte die Hände auf die Knie, beugte sich vor und schleuderte es ihm ins Gesicht: »Wenn nötig, Rache!« Das saß. Der Kommandant zuckte zurück. Die beiden Offiziere machten besorgte Gesichter. Die Vorstellung, von einem Gespenst niedergeschlagen zu werden, konnte einem den ganzen Spaß am Krieg verderben. Der Kommandant riß sich zusammen und setzte ein grimmiges Lächeln auf. »Sie sind schon eine ganze Weile als Gefangener hier. Ihr Eustach scheint nicht viel dagegen unternommen zu haben.« »Das glauben Sie. Er hat eine ganze Menge unternommen. Und er wird noch mehr tun, alles auf seine Weise und zu dem Zeitpunkt, den er für richtig hält.« »Was denn zum Beispiel?«
»Warten Sie nur ab«, meinte Leeming zuversichtlich. Das schien sie nicht gerade zu beruhigen. »Niemand kann mehr als die eine Hälfte eines Terraners ins Gefängnis sperren«, fuhr er fort. »Die körperliche, greifbare Hälfte. Die andere Hälfte kann durch keine Macht der Welt festgehalten werden. Sie wandert frei herum, sammelt wertvolle militärische Informationen, sabotiert hier und da ein bißchen, wie es ihr gerade gefällt. Sie haben sich diese Situation selbst eingebrockt, und jetzt müssen Sie auch die Konsequenzen tragen.« »Wir könnten Sie töten«, sagte der Kommandant mit drohender Stimme. Leeming lachte laut heraus. »Das würde alles nur noch schlimmer machen.« »Was soll das heißen?« »Die Lebensspanne eines Eustachs ist länger als die eines Menschen. Wenn ein Terraner stirbt, dauert es noch fünf bis zehn Jahre, bevor sein Eustach verschwindet. Bei uns gibt es ein altes Lied, in dem es heißt: Eustache sterben nicht, sie schwinden dahin. In unserer Welt leben Tausende einsamer, abgetrennter Eustache, die langsam dahinschwinden.« »Ja, und?« »Wenn Sie mich töten, bleibt mein Eustach allein in einer feindlichen Welt zurück. Er weiß, daß seine Tage gezählt sind. Er hat nichts mehr zu verlieren, er braucht keine Rücksicht auf meine Sicherheit zu nehmen. Er kann mich aus seinen Plänen herauslassen, weil ich für immer gegangen bin.« Er sah sein Gegenüber scharf an, während er schloß: »Er wird Amok laufen und eine Vernichtungsorgie veranstalten. Denken Sie daran, daß Sie für ihn eine vollkommen fremde Lebensform sind. Er kennt Ihnen gegenüber weder Mitgefühl noch Gewissensbisse.«
Der Kommandant dachte schweigend darüber nach. Es fiel ihm schwer, diese Dinge zu glauben. Aber vor der Eroberung des Weltraums war es auch schwer gewesen, Dinge zu glauben, die inzwischen längst selbstverständlich geworden waren. Er konnte das Ganze nicht einfach als Unsinn abtun. Dummköpfe glauben alles, weil sie nun einmal leichtgläubig sind. Die Klugen glauben zwar nicht alles, was man ihnen erzählt, aber sie weisen es auch nicht von sich, wenn ihnen ihre eigene Unwissenheit bewußt ist. Und im Augenblick war dem Kommandanten nur zu deutlich bewußt, wie wenig ihm über diese terranische Lebensform bekannt war. »Das ist vielleicht alles möglich«, sagte er nach einer Weile, »aber es kommt mir sehr unwahrscheinlich vor. Unter unseren Verbündeten gibt es siebenundzwanzig verschiedene Lebensformen, darunter nicht eine einzige, von der bekannt ist, daß sie in naturgegebener Gemeinschaft mit einer anderen Form lebt.« »Die Lathiner tun es«, sagte Leeming und brachte damit die Anführer der feindlichen Streitmächte ins Gespräch, die der Anlaß zu sehr viel Opposition waren. »Sie meinen, daß sie auch Eustache besitzen?« fragte der Kommandant verblüfft. »Nein. Aber jeder Lathiner wird, ohne es zu wissen, durch ein Wesen gesteuert, das sich Piepmatz Soundso nennt. Sie wissen nichts davon, und wir würden es auch nicht wissen, wenn unsere Eustache es uns nicht berichtet hätten.« »Und woher wissen die es?« »Wie Ihnen bekannt ist, haben die meisten Schlachten in diesem Krieg im lathinischen Sektor stattgefunden. Auf beiden Seiten wurden viele Gefangene gemacht. Unsere Eustache haben uns erzählt, daß jeder lathinische Gefangene von einem Piepmatz kontrolliert wird, von dessen Existenz er jedoch nichts weiß.« Er grinste und fügte hinzu: »Es muß sich um eine
ziemlich niedrige Form von Doppelleben handeln; unsere Eustache halten nicht besonders viel von einem Piepmatz.« Der Kommandant runzelte die Stirn und meinte dann: »Das ist etwas, was wir nachprüfen können. Aber wie sollen wir das tun, wenn unsere lathinischen Verbündeten selbst nicht über den wahren Sachverhalt informiert sind?« »Ganz einfach«, sagte Leeming. »Die Lathiner haben eine Reihe terranischer Gefangener. Beauftragen Sie jemanden, diese Gefangenen zu fragen, ob die Lathiner alle einen Piepmatz haben.« »Genau das werde ich tun«, sagte der Kommandant, so als wolle er ihn damit festnageln. Er wandte sich zu dem Offizier, der rechts neben ihm saß: »Bamashin, senden Sie Signale an unseren Verbindungsmann im lathinischen Hauptquartier und teilen Sie ihm mit, er möchte die Gefangenen befragen.« »Sie können es sogar noch genauer überprüfen«, mischte sich Leeming ein. »Doppelt hält besser. Bei uns wird jeder, der mit einem unsichtbaren Wesen zusammenlebt, Depp genannt. Fragen Sie die Gefangenen, ob die Lathiner alle Deppen sind.« »Notieren Sie das und lassen Sie auch danach fragen«, befahl der Kommandant dem Offizier. Dann wandte er seine Aufmerksamkeit wieder Leeming zu. »Da Sie Ihre Notlandung und Gefangennahme nicht voraussehen konnten und seither streng bewacht worden sind, ist wohl kaum anzunehmen, daß Sie mit weit entfernten terranischen Gefangenen in geheimem Einverständnis stehen.« »Da haben Sie recht«, sagte Leeming. »Deshalb werde ich die Beurteilung Ihrer Aussage von den Antworten abhängig machen, die wir auf unsere Signale erhalten.« Er blickte sein Gegenüber durchdringend an. »Wenn die Antworten nicht mit Ihren Angaben übereinstimmen, dann steht fest, daß Sie in mancher, wahrscheinlich sogar in jeder
Beziehung gelogen haben. Wir haben hier ganz spezielle und wirksame Methoden, mit Lügnern zu verfahren.« »Das kann ich mir denken. Aber wenn meine Aussage durch die Antworten bestätigt wird, dann wissen Sie, daß ich die Wahrheit gesagt habe, nicht wahr?« »Nein«, gab der Kommandant zurück. Jetzt war Leeming an der Reihe, bestürzt zu sein. »Weshalb nicht?« Der Kommandant kniff die Lippen zusammen und antwortete: »Ich weiß genau, daß es zwischen Ihnen und den anderen terranischen Gefangenen keine direkte Verständigung gegeben haben kann. Aber das beweist noch gar nichts. Zwischen Ihrem Eustach und deren Eustachen könnte trotzdem eine Verbindung bestehen.« Er beugte sich seitlich hinab, zog eine Schublade auf und legte eine Drahtschlinge auf den Tisch. Dann noch eine und noch eine. Ein ganzes Bündel. »Nun, was haben Sie dazu zu sagen?« forderte er Leeming auf. Leeming überlegte angestrengt. Er wußte genau, worauf der andere hinauswollte. Er konnte mit seinem Eustach sprechen. Sein Eustach konnte mit anderen Eustachen sprechen. Die anderen Eustache konnten mit ihren gefangengehaltenen Partnern sprechen. Jetzt sieh zu, wie du da wieder herauskommst! Sie beobachteten sein Gesicht, zählten die Sekunden, die er brauchte, um eine Antwort zu finden. Je länger er brauchte, um so schlechter würde er dastehen. Je rascher er eine plausible Antwort fand, desto überzeugender würde es wirken. Er war schon ganz außer sich vor Anstrengung, als ihm endlich eine Idee kam. »Sie irren sich in zwei Punkten.« »Und zwar?«
»Erstens kann ein Eustach über eine so große Entfernung nicht mit einem anderen Eustach Verbindung aufnehmen. Sein Geist kann so weite Strecken nicht überbrücken. Er braucht dazu die Hilfe seines terranischen Partners, der wiederum ein Funkgerät besitzen müßte.« »Das behaupten Sie, aber können wir Ihnen das glauben?« fragte der Kommandant. »Wenn ein Eustach über unbegrenzt weite Entfernung mit einem anderen Verbindung aufnehmen könnte, dann würden Sie bestimmt versuchen, uns das zu verheimlichen.« »Ich kann Ihnen nur sagen, was ich weiß, unabhängig davon, ob Sie es glauben oder nicht.« »Ich glaube es nicht – noch nicht. Kommen Sie zu Ihrem zweiten Punkt. Hoffentlich ist er etwas überzeugender.« »Das ist er«, versicherte Leeming. »Er beruht nicht auf einer Behauptung von mir, sondern auf einer Behauptung von Ihnen.« »Unsinn!« rief der Kommandant. »Ich habe in bezug auf Eustache noch keine einzige Behauptung aufgestellt.« »Doch. Sie haben gesagt, daß zwischen ihnen eine Verbindung bestehen könnte.« »Ja – und?« »Diese Verbindung kann nur bestehen, wenn es tatsächlich Eustache gibt, und dann wäre meine Aussage wahr. Aber wenn meine Aussage falsch ist, dann gibt es keine Eustache, und zwischen Wesen, die nicht existieren, kann es auch keine Verbindung geben.« Der Kommandant saß unbeweglich da, während sein Gesicht purpurrot anlief. Er fühlte sich wie jemand, der in die eigene Falle geraten war. Der Offizier auf seiner Linken verzog das Gesicht, so als müsse er ein spöttisches Kichern unterdrücken. »Wenn Sie nicht an Eustache glauben«, fuhr Leeming fort, »dann können Sie logischerweise auch nicht an eine
Verbindung zwischen ihnen glauben. Und umgekehrt, wenn Sie an die Möglichkeit einer Verbindung zwischen ihnen glauben, dann müssen Sie auch an ihre Existenz glauben. Das heißt, natürlich nur, wenn Sie bei Verstand sind.« »Wärter!« brüllte der Kommandant und wies zornig auf Leeming. »Bringt ihn zurück in seine Zelle!« Sie wollten ihn gerade zur Tür hinausschieben, als der Kommandant seine Meinung änderte und »Halt!« schrie. Er ergriff eine Drahtschlinge und fuchtelte wild damit herum. »Woher haben Sie das Material dafür?« »Mein Eustach hat es mir gebracht. Wer sonst?« »Fort mit ihm!« »Merse, faplap!« drängten die Wärter und stießen ihm ihre Gewehrkolben in den Rücken. »Amasch! Amasch!« Den Rest dieses Tages und den ganzen nächsten Tag brachte er liegend oder sitzend auf der Bank zu und dachte über alles nach, was geschehen war, plante seine nächsten Schritte und bewunderte ab und zu seine Begabung zum Lügner. Er fragte sich, welche Chancen seine Bemühungen, sich mit Hilfe seiner Zungenfertigkeit aus dem Gefängnis zu befreien, im Vergleich zu den Anstrengungen der Rigelianer hatten, die sich mit bloßen Händen herausgraben wollten. Wer von ihnen kam schneller voran, und – was vielleicht noch wichtiger war – wer von ihnen würde, wenn er einmal in Freiheit war, auch draußen bleiben? Eins zumindest stand fest: Seine Methode war weniger anstrengend für den Körper, kostete dafür aber mehr Nerven. Einen Vorteil hatte er dadurch errungen, daß er wenigstens im Augenblick nicht nach militärischen Geheimnissen ausgepreßt worden war. Zwar waren seine Enthüllungen über die Doppelnatur der Terraner in den Augen des Feindes wahrscheinlich wichtiger als alle Auskünfte über Art der Bewaffnung und strategische Ziele von Leemings
Verbündeten, die sowieso hätten falsch sein können; doch er hatte sich ein peinliches und sicherlich schmerzhaftes Verhör erspart. Als das Guckloch sich wieder einmal öffnete, sank er auf die Knie und sagte mit lauter Stimme: »Ich danke dir, Eustach! O danke, danke!« Draußen fragte sich Marsin nervös, wer jetzt wohl wieder von Eustach bestraft worden sein mochte. Gegen Mitternacht, als Leeming kurz vorm Einschlafen war, kam ihm der Gedanke, daß es keinen Sinn hatte, halbe Sachen zu machen. Warum sollte er sich damit zufriedengeben, ein wissendes Lächeln aufzusetzen, wenn seinen Feinden ein kleines Mißgeschick passierte? Er konnte seine Macht weiter ausdehnen. Keine Lebensform war sicher vor den Launen des Zufalls. Glück und Unglück wechselten einander ständig ab. Weshalb sollte Eustach nicht für beides verantwortlich sein, weshalb sollte er, Leeming, sich nicht die Macht zuschreiben, sowohl bestrafen als auch belohnen zu können? Und das war noch immer nicht die äußerste Grenze. Glück oder Unglück sind positive Fakten. Er konnte die neutrale Zone überschreiten und die negativen Fakten ebenfalls miteinbeziehen. Durch Eustach konnte er sich sowohl die Verantwortung für gute oder schlimme Ereignisse zuschreiben, die stattgefunden hatten, als auch für solche, die nicht stattgefunden hatten. Er konnte sowohl Dinge, die geschahen, als auch solche, die nicht geschahen, für seine Zwecke benutzen. Die Versuchung, es gleich jetzt zu erproben, war unwiderstehlich. Er rollte sich von der Bank und hämmerte gegen die Tür. Die Wache war gerade abgelöst worden, denn das hereinblickende Auge gehörte Kolum, einem Wärter, der ihm vor nicht allzu langer Zeit einen Tritt versetzt hatte.
Kolum war zwar nicht gerade eine Intelligenzbestie, aber doch ein wenig gescheiter als Marsin. »O du bist’s«, sagte Leeming und tat so, als sei er sehr erleichtert. »Ich habe ihn gebeten, dich zu verschonen oder dich wenigstens noch eine Zeitlang in Ruhe zu lassen. Er ist viel zu impulsiv und heftig. Ich weiß doch, daß du intelligenter als die andern bist und dich noch bessern kannst. Bei jemand mit Verstand darf man die Hoffnung nicht so leicht aufgeben.« »Hm?« machte Kolum, der sich teils fürchtete und teils geschmeichelt fühlte. »Dann hat er dir also nichts getan«, sagte Leeming mit zufriedenem Gesichtsausdruck. »Noch nicht. Ich hoffe sehr, daß ich ihn auch weiterhin in Zaum halten kann. Nur die ganz Dummen und Brutalen haben einen langsamen Tod verdient.« »Das ist wahr«, stimmte Kolum eifrig zu. »Aber was – « »Jetzt liegt es an dir, zu beweisen, daß mein Vertrauen in dich gerechtfertigt ist«, fuhr Leeming fort. »Ich möchte, daß du dem Kommandanten eine Botschaft überbringst.« »Ich kann ihn um diese Zeit nicht stören. Das ist unmöglich. Der wachhabende Sergeant wird es nicht zulassen. Er wird – « »Es muß nicht gleich sein. Du sollst ihm die Botschaft persönlich überbringen, sobald er aufgewacht ist.« »Das ist etwas anderes«, sagte Kolum, der angefangen hatte zu schwitzen. »Aber wenn die Botschaft dem Kommandanten mißfällt, wird er dich bestrafen und nicht mich.« » Schreib!« befahl Leeming. Kolum lehnte sein Gewehr an die Korridorwand und holte Papier und Bleistift aus der Tasche. »An den letzten Toren«, begann Leeming. »Was heißt ›letzter Tor‹?« fragte Kolum, während er sich damit abquälte, die beiden terranischen Wörter in seiner Schrift festzuhalten.
»Das ist ein Titel. Er bedeutet soviel wie ›Eure Hoheit‹. Und wie hoch er ist!« Leeming kniff sich in die Nase, während der andere sich eifrig über sein Papier beugte. Er diktierte weiter: »Das Essen ist unzureichend und sehr schlecht. Ich habe viel an Gewicht verloren, und meine Rippen beginnen sich schon abzuzeichnen. Meinem Eustach gefällt das nicht; ich kann für seine Taten nicht mehr einstehen. Deshalb bitte ich Eure letzte Torheit eindringlich, sich mit dieser Angelegenheit zu befassen und möglichst eine Änderung herbeizuführen.« »Das sind so viele Wörter«, beklagte sich Kolum. »Wenn mein Dienst um ist, werde ich alles noch mal schreiben müssen, damit man es besser lesen kann.« »Ich weiß die Mühe zu schätzen, die du dir meinetwegen machst.« Leeming warf ihm einen anerkennenden Blick zu. »Deshalb bin ich auch ziemlich sicher, daß du noch so lange leben wirst, um den Auftrag auszuführen.« »Ich will aber noch länger leben«, sagte Kolum und riß dabei weit die Augen auf. »Ich habe doch ein Recht darauf zu leben, oder etwa nicht?« »Das meine ich doch auch«, antwortete Leeming wie jemand, der schon die halbe Nacht darum gekämpft hatte, diese Meinung durchzusetzen, der aber noch nicht für Erfolg bürgen kann. Er kehrte zu seiner Bank zurück. Das Licht ging aus, und das Guckloch wurde geschlossen. Vier Sterne glitzerten durch die Fensteröffnung – sie waren sehr fern, aber nicht unerreichbar.
Am nächsten Morgen wurde das Frühstück eine halbe Stunde später als sonst gebracht, bestand dafür jedoch aus einer Schüssel lauwarmem Brei, zwei dicken Scheiben Brot, die reichlich mit Fett beschmiert waren, und einer Tasse mit
Flüssigkeit, die entfernt an Kaffee erinnerte. Er schlang alles mit einem Gefühl des Triumphes hinunter. Weder an diesem noch an den folgenden Tagen wurde er zu einem weiteren Verhör geholt. Seine letzte Torheit wartete offenbar noch immer auf Antwort aus dem lathinischen Sektor und schien keine weiteren Schritte unternehmen zu wollen, bevor er sie nicht erhalten hatte. Die Mahlzeiten blieben jedoch reichhaltiger, was Leeming als Beweis dafür wertete, daß jemandem daran gelegen war, sich gegen drohendes Unheil abzusichern. Dann wurden eines Morgens die Rigelianer unruhig. Von seiner Zelle aus konnte er sie hören, aber nicht sehen. Eine Stunde nach Tagesanbruch marschierten sie jeden Morgen draußen vorbei in Richtung auf die Werkstätten. Heute morgen sangen sie dabei ein Spottlied über einen gewissen Asta Zangasta, einen schmutzigen alten Mann, der von Flöhen gebissen wurde. Die Wärter schrien sie an, sie sollten ruhig sein. Der Gesang wurde nur um so lauter und trotziger. Leeming stellte sich unter das Fenster und lauschte angestrengt. Er fragte sich, wer dieser arme, alte Asta Zangasta sein mochte. Wahrscheinlich der höchste Boss hier, der Herrscher über diese Welt. Die zweitausend Rigelianer brüllten aus vollen Kehlen und übertönten die Rufe der Wärter. Ein Warnschuß wurde abgegeben. Dann ertönten Pfiffe, Schüsse fielen, Schreie wurden laut, es klang nach einem Handgemenge. Eine Schar von Wärtern rannte unter Leemings Fenster vorbei zum Ort des Aufruhrs. Das Ganze dauerte etwa zwanzig Minuten, dann wurde es langsam still. Während der Mittagszeit hatte Leeming den Hof ganz für sich allein. Er ging niedergeschlagen auf und ab, bis er Marsin entdeckte, der Hofwache hatte.
»Was ist denn passiert? Wo sind die andern?« »Sie haben sich schlecht aufgeführt. Sie müssen in den Werkstätten bleiben, um den Verlust an Arbeitszeit wieder aufzuholen. Sie sind selbst schuld. Sie sind zu spät zur Arbeit gekommen. Wir hatten nicht einmal mehr Zeit, sie zu zählen.« Leeming grinste ihn an. »Und ein paar Wärter sind verletzt worden. Nicht schlimm, aber es reicht, um ihnen einen Vorgeschmack von dem zu geben, was auf sie zukommt. Denk mal darüber nach.« »Hm?« »Aber du bist nicht verletzt worden. Darüber kannst du auch ruhig nachdenken.« Er ging davon und ließ Marsin verwirrt zurück. Plötzlich fiel ihm ein, was Marsin gesagt hatte: »Wir hatten nicht einmal mehr Zeit, sie zu zählen.« Er kehrte noch einmal um und sagte: »Morgen werden einige von euch wünschen, sie wären nie geboren.« »Soll das eine Drohung sein?« »Nein – eine Ankündigung. Sag es deinem Offizier. Sag es auch dem Kommandanten. Auf diese Weise entgehst du vielleicht den schlimmen Folgen.« »Ich werde es ihnen sagen«, versprach Marsin dankbar und erleichtert.
Leeming hatte richtig getippt. Die Rigelianer waren viel zu klug, um sich ohne triftigen Grund zerschlagene Nasen und blutunterlaufene Augen einzuhandeln. Der Feind brauchte einen ganzen Tag, um zu demselben Ergebnis zu kommen. Eine Stunde nach Tagesanbruch mußten sich die Rigelianer, statt wie sonst in einem langen Zug, heute in Gruppen von fünfzig Mann je Schlafsaal aufstellen. Dann wurden sie nach Fünfzigergruppen gezählt. Diese einfache Rechnung wollte
jedoch nicht aufgehen, weil aus einem Schlafsaal statt fünfzig nur zwölf Gefangene herauskamen, alles Kranke, Verwundete oder Verkrüppelte. Wütend rannten die Wärter in den Schlafsaal, um die ungehorsamen restlichen achtunddreißig Mann herauszuholen. Sie waren nicht da. Das Türschloß war unbeschädigt, die Gitterstäbe an den Fenstern ebenfalls. Es dauerte eine ganze Zeit, bis sie eine hohl klingende Stelle im Fußboden entdeckt hatten und darunter den Beginn eines Tunnels. Der Tunnel war leer. Sirenen begannen zu heulen, Wärter rannten hin und her, Offiziere brüllten Befehle, das ganze Gefängnis glich einem Irrenhaus. Den Rigelianern wurde heimgezahlt, daß sie am letzten Morgen die Zählung verhindert und den Entflohenen damit einen ganzen Tag Vorsprung verschafft hatten. Sie wurden reichlich mit Stiefeltritten und Gewehrkolbenstößen bedacht, viele von ihnen mußten bewußtlos weggeschleppt werden. Der zurückgebliebene Rangälteste des fraglichen Schlafsaals, ein Leutnant mit einem Hüftleiden, wurde an die Wand gestellt und erschossen. Leeming konnte es nicht sehen, aber er hörte das heisere Kommando: »Anlegen… Achtung… Feuer!« und darauf eine Gewehrsalve. Er lief mit geballten Fäusten in seiner Zelle auf und ab und fluchte vor sich hin. Das Guckloch wurde geöffnet und hastig wieder geschlossen, bevor er jemandem ins Auge spucken konnte. Die Unruhe hielt an; wutentbrannte Wärter durchsuchten sämtliche Schlafsäle, prüften die Türen und die Fenstergitter und klopften Böden und Wände nach hohl klingenden Stellen ab. Offiziere stießen martialische Drohungen aus, sobald irgendwelche Rigelianer ihren Befehlen nicht rasch genug Folge leisteten.
Als es zu dämmern begann, wurden sieben erschöpfte und vollkommen abgerissene Rigelianer herangeschleppt, die man hatte einfangen können. Man machte kurzen Prozeß mit ihnen. »Anlegen… Achtung… Feuer!« Leeming hämmerte wie ein Wilder gegen die Zellentür, aber das Guckloch blieb geschlossen. Zwei Stunden später hatte er aus dem letzten Stück Draht eine Schlinge hergestellt. Er brachte die halbe Nacht damit zu, mit lauter Stimme Drohungen hindurchzusprechen. Niemand kümmerte sich um ihn. Am nächsten Tag gegen Mittag saß er ganz verzweifelt da und dachte über seine Lage nach. Er schätzte, daß der Ausbruch der Rigelianer seit mindestens einem Jahr vorbereitet worden war. Ergebnis: acht Tote und einunddreißig Männer, die zwar noch in Freiheit waren, aber sicherlich nicht weit kommen würden. Sie saßen auf dem Planeten fest und würden eines Tages wahrscheinlich auch eingefangen werden. Dafür mußten sich an die zweitausend Rigelianer jetzt eine besonders strenge Behandlung gefallen lassen, und Leemings eigener Plan drohte zu scheitern. Er nahm den Flüchtlingen ihre Flucht nicht übel, im Gegenteil, er wünschte ihnen von ganzem Herzen Glück. Aber hätten sie den Ausbruch nicht auch zwei Monate früher oder später machen können? Gleich nach dem Mittagessen wurde die Tür aufgerissen, und vier Wärter forderten Leeming auf, sofort mit zum Kommandanten zu kommen. Sie machten einen gereizten und leicht bedrückten Eindruck. Einer von ihnen trug einen dicken Verband um den schuppigen Schädel, ein anderer hatte ein geschwollenes Auge. Einen besseren Moment konnte sich der Kommandant wohl nicht aussuchen, dachte Leeming verdrossen. Er mußte in einer Stimmung sein, in der man kaum mit ihm würde reden können. Er würde beim geringsten Einwand vor Wut in die Luft gehen, seinen Gefühlen keinen Zwang antun und alle logischen
Argumente mißachten. Leeming würde einen schweren Stand haben. Der Kommandant saß wie beim erstenmal hinter seinem Schreibtisch, aber die beiden jungen Offiziere fehlten. Neben ihm saß statt dessen ein älterer Zivilist, der den Gefangenen aufmerksam betrachtete, während dieser sich einen Stuhl nahm. »Das hier ist Pallam«, sagte der Kommandant mit so unerwarteter Freundlichkeit, daß Leeming ganz bestürzt war. »Er ist von keinem Geringeren als Zangasta persönlich zu uns geschickt worden.« »Wohl ein Spezialist für Geisteskrankheiten?« fragte Leeming und blickte den älteren Mann dabei mißtrauisch an. »Nein, nein«, versicherte Pallam ruhig. »Ich bin nur besonders interessiert an allen Formen von Symbiose.« Leeming sträubten sich die Nackenhaare. Die Vorstellung, von einem Fachmann befragt zu werden, sagte ihm ganz und gar nicht zu. Diese Leute besaßen im Gegensatz zu den Militärs meist einen scharfen Verstand und hatten die gefährliche Angewohnheit, Widersprüche in einer erfundenen Geschichte aufzuspüren. »Pallam möchte Ihnen ein paar Fragen stellen«, sagte der Kommandant. »Aber dazu kommen wir später.« Er lehnte sich zurück und setzte eine selbstzufriedene Miene auf. »Zuerst einmal möchte ich mich bei Ihnen für die Informationen bedanken, die Sie mir bei Ihrem letzten Besuch gegeben haben.« »Wollen Sie damit sagen, daß sie Ihnen nützlich gewesen sind?« fragte Leeming, der seinen Ohren kaum zu trauen wagte. »Ja, sehr sogar. Die für Schlafsaal vierzehn verantwortlichen Wärter werden alle an die Front versetzt und müssen in Zukunft in Raumflughäfen Dienst tun, die im Angriffsbereich
liegen. Das ist ihre Strafe für grobe Pflichtverletzung.« Er blickte Leeming nachdenklich an und fuhr fort: »Mir wäre es ähnlich ergangen, wenn Zangasta den Ausbruch der Häftlinge nicht als nebensächlich angesehen hätte im Vergleich zu dem, was ich durch Sie in Erfahrung gebracht habe.« »Aber als ich Sie darum bat, dafür zu sorgen, daß ich bessere Nahrung bekomme – haben Sie sich deshalb darum gekümmert, weil Sie sich eine Belohnung davon versprachen?« »Was?« Der Kommandant machte ein verblüfftes Gesicht, doch langsam schien er zu verstehen. »Daran habe ich überhaupt nicht gedacht.« »Um so besser«, sagte Leeming mit achtungsvoller Miene. »Eine gute Tat ist erst wirklich gut, wenn man sich keinen Vorteil davon verspricht. Eustach wird Ihnen das hoch anrechnen.« »Sie meinen, seine Moralbegriffe sind mit den Ihren identisch?« warf Pallam ein. Warum mußte dieser Kerl sich eigentlich einmischen? Jetzt war Vorsicht angebracht. »Sie sind in mancher Hinsicht ähnlich, aber nicht identisch.« »Worin besteht der wesentlichste Unterschied?« »Nun ja«, sagte Leeming, der Zeit zu gewinnen versuchte, »das ist nicht so leicht zu entscheiden.« Er rieb sich die Stirn, während er angestrengt überlegte. »Ich würde sagen, in unserer Vorstellung von Rache.« »Definieren Sie den Unterschied«, forderte Pallam ihn auf. »Meiner Ansicht nach ist Eustach unnötig grausam«, sagte Leeming vorsichtig. Das gab einen guten Rahmen ab, in den er später je nach Bedarf alles mögliche hineinlegen konnte. »Und wie äußert sich das?« bohrte Pallam weiter.
»Ich ziehe es vor, rasch zu handeln und unangenehme Dinge so schnell wie möglich hinter mich zu bringen. Er neigt eher dazu, die Qualen seines Opfers in die Länge zu ziehen.« »Erläutern Sie das näher«, drängte Pallam hartnäckig wie ein Bluthund, der Lunte gerochen hat. »Wenn Sie und ich Todfeinde wären und ich besäße ein Gewehr, dann würde ich Sie auf der Stelle erschießen. Wenn aber Eustach Ihren Tod beschlossen hätte, dann würde er langsam und schrittweise an die Sache herangehen.« »Beschreiben Sie seine Methode.« »Zuerst einmal würde er Ihnen zu verstehen geben, daß Ihr Schicksal besiegelt ist. Dann würde er eine Zeitlang überhaupt nichts tun, bis Sie sich wieder sicher fühlen und glauben, das Ganze sei nur eine leere Drohung gewesen. Dann würde er Ihnen den ersten kleineren Schlag versetzen, um Sie an Ihr Schicksal zu erinnern. Sobald Sie den Schreck überwunden haben, folgt der nächste Schlag und dann noch einer und noch einer mit immer größerer Härte. Das zieht sich manchmal über Monate und Jahre hin, bis Sie es schließlich nicht mehr ertragen können und selber Ihren Untergang wünschen.« Er dachte kurz nach und fügte hinzu: »Kein Eustach hat jemals ein Lebewesen getötet. Wenn jemand durch ihn stirbt, dann stirbt er von eigener Hand.« »Sie meinen, er treibt seine Opfer zum Selbstmord?« »Ja.« »Und es gibt keine Möglichkeit, einem solchen Schicksal zu entgehen?« »O doch«, erwiderte Leeming. »Das Opfer kann jederzeit frei werden von aller Angst, wenn es das Unrecht wiedergutmacht, das es dem Partner des jeweiligen Eustachs angetan hat.« »Und wenn eine solche Wiedergutmachung stattfindet, läßt der Eustach sofort alle weiteren Rachepläne fallen?« erkundigte sich Pallam.
»Ja.« »Unabhängig davon, ob Sie damit einverstanden sind oder nicht?« »Ja. Wenn das Unrecht, das man mir angetan hat, aufgehoben ist und nur noch in meiner Einbildung besteht, erkennt mein Eustach es nicht mehr an und unternimmt auch nichts mehr dagegen.« »Das Ganze läuft also darauf hinaus, daß in seiner Handlungsweise Raum bleibt für Reue und Gnade, während das bei Ihrer Handlungsweise nicht der Fall ist«, stellte Pallam fest. »Wahrscheinlich.« »Und daß er einen ausgeglicheneren Gerechtigkeitssinn besitzt als Sie?« »Er kann verdammt unbarmherzig sein«, sagte Leeming, dem im Augenblick nichts Besseres einfiel. »Das gehört wohl nicht zur Sache.« Pallam fiel in nachdenkliches Schweigen und bemerkte dann zum Kommandanten gewandt: »Es hat den Anschein, daß es eine Verbindung zwischen ungleichartigen Partnern ist. Der unsichtbare Teil ist zugleich auch der überlegene Teil.« Dieser verschlagene alte Fuchs, dachte Leeming. Doch wenn er glaubte, den Gefangenen zu hitzigem Widerspruch provozieren zu können, dann hatte er sich geirrt. Leeming blieb ungerührt und ohne etwas zu entgegnen sitzen wie jemand, der gewogen und als zu leicht befunden worden war. Und wenn man es recht betrachtet, war es auch keine große Schande, dem eigenen Geist gegenüber als minderwertig betrachtet zu werden. Pallam fuhr mit verschlagener Miene fort: »Ich nehme an, daß Ihr Eustach erst dann Rache übt, wenn die Umstände eine angemessene Bestrafung durch Sie oder die terranische Gemeinschaft ausschließen?«
»Ja, so könnte man sagen«, räumte Leeming zögernd ein. »Mit anderen Worten, er greift nur dann ein, wenn Sie und das Gesetz versagen?« »Er schaltet sich ein, wenn es notwendig wird«, antwortete Leeming, ohne sich damit festzulegen. »Das ist im wesentlichen das, was ich gesagt habe«, erklärte Pallam kühl. Er beugte sich vor und blickte sein Gegenüber forschend an. »Nehmen wir nun einmal an, Ihr Eustach hat berechtigte Gründe, einen anderen Terraner zu bestrafen. Was unternimmt dann der Eustach des Opfers dagegen?« Leeming öffnete den Mund, und die Worte »Nicht viel« kamen wie von selbst heraus. Einen verrückten Augenblick lang hatte er das Gefühl, als ob Eustach tatsächlich anwesend sei und sich am Gespräch beteiligte. »Weshalb nicht?« »Ich habe Ihnen schon erklärt, daß kein Eustach sich auch nur für einen Moment um ein Leiden kümmert, das nur in der Einbildung besteht. Ein Terraner, der sich eines Verbrechens schuldig gemacht hat, besitzt keinen wirklichen Grund zur Klage. Er hat die Rachgier des fremden Eustachs selbst auf sich gelenkt und kann sie auch wieder von sich ablenken. Wenn er nicht leiden möchte, braucht er sich nur an die Arbeit zu begeben und das Unrecht wiedergutzumachen, das er einem anderen angetan hat.« »Drängt sein Eustach ihn dazu, das Nötige zu tun, um der Strafe zu entgehen?« »Das kann ich Ihnen nicht sagen, ich war noch nie selbst in der Lage des Opfers«, erklärte Leeming mit unschuldiger Miene. »Aber soviel läßt sich wohl mit Bestimmtheit sagen: Terraner führen sich normalerweise anständig auf, weil die Verbindung mit ihren Eustachen ihnen gar keine andere Wahl läßt.«
»Alles, was Sie uns bisher erzählt haben, klingt ganz plausibel – bis auf einen Punkt«, bemerkte Pallam. »Und das wäre?« »Gehen wir einmal bis zum bitteren Ende. Ich sehe keinen vernünftigen Grund, weshalb der Eustach eines schuldigen Mannes zulassen sollte, daß sein Partner zum Selbstmord getrieben wird. Das widerspricht dem Gesetz des Selbsterhaltungstriebes.« »Niemand begeht Selbstmord, solange er noch bei Verstand ist.« »Ja – und?« »Jemand, der den Verstand verloren hat, kommt nicht mehr als Partner für einen Eustach in Frage. Er ist für ihn bereits tot und nicht mehr wert, verteidigt oder beschützt zu werden. Eustache haben nur Verbindung zu geistig gesunden Menschen.« Pallam stürzte sich sofort auf diese Bemerkung und rief: »Dann ist der Nutzen, den sie aus euch ziehen, also geistiger Art?« »Das weiß ich nicht.« »Kommt es vor, daß Sie sich durch Ihren Eustach manchmal ermüdet oder überanstrengt fühlen?« »Ja«, sagte Leeming. Und wie, mein Freund! Gerade jetzt hätte er Eustach am liebsten am Hals gepackt und erwürgt. »Ich würde mich gern noch monatelang mit diesem Phänomen befassen«, erklärte Pallam dem Kommandanten. »Es ist außerordentlich faszinierend. Außer bei Pflanzen und bei sechs Arten der niedrigen Elamen sind bisher keine Formen symbiotischen Lebens bekanntgeworden. Es ist wirklich bemerkenswert, sie nun auch bei intelligenzbegabten Lebewesen anzutreffen, und dazu noch, wenn einer der beiden Partner unsichtbar ist, sehr bemerkenswert!« Der Kommandant machte ein ehrfürchtiges Gesicht.
»Und nun berichten Sie ihm doch«, drängte Pallam. »Unser Verbindungsmann im lathinischen Sektor, Colonel Shomuth, hat uns geantwortet«, sagte der Kommandant zu Leeming. »Er spricht fließend Kosmoglotta und konnte viele terranische Gefangene befragen. Wir haben ihm zu den Fragen noch einige Informationen gegeben, und so ist ein sehr eindrucksvolles Ergebnis zustande gekommen.« »Was haben Sie anderes erwartet?« fragte Leeming. Der Kommandant überging diese Bemerkung und fuhr fort: »Er berichtet, daß die meisten Gefangenen sich geweigert haben, einen Kommentar zu den Fragen abzugeben. Das ist verständlich. Sie waren durch nichts von der Überzeugung abzubringen, daß man nur versuche, ihnen militärische Geheimnisse zu entlocken. Und so schwiegen sie.« Er sah Leeming bedeutsam an. »Aber ein paar machten den Mund auf.« »Es sind immer ein paar dabei, die gern plaudern«, sagte Leeming. »Es haben sich auch einige Offiziere geäußert, darunter ein Kreuzerkapitän Tompass… Tompus – « »Thomas?« »Ja, das ist der richtige Name.« Der Kommandant drehte sich um und drückte auf einen Knopf in der Wand. »Das hier ist das über Funk vermittelte und auf Band aufgezeichnete Gespräch.« Aus einer Lochplatte in der Wand kam ein Knistern, das lauter wurde und dann zu einem Hintergrundgeräusch herabsank. Dann hörte man Stimmen. Shomuth: »Kapitän Thomas, ich habe den Auftrag, gewisse Informationen zu überprüfen, die sich in unserm Besitz befinden. Wenn Sie uns antworten, haben Sie keinen Nachteil davon, aber auch keinen Vorteil, wenn Sie uns die Antwort verweigern. Es sind keine Lathiner anwesend. Sie können frei sprechen, wir werden Ihre Aussage vertraulich behandeln.«
Thomas: »Was wollen Sie denn wissen?« Shomuth: »Ob unsere lathinischen Verbündeten wirklich Deppen sind.« Thomas, nach einer längeren Pause: »Wollen Sie tatsächlich die Wahrheit hören?« Shomuth: »Ja.« Thomas: »Also gut, es sind Deppen.« Shomuth: »Und sie haben alle einen Piepmatz?« Thomas: »Wo haben Sie denn das her?« Shomuth: »Das ist unsere Sache. Beantworten Sie bitte meine Frage.« Thomas, streitlustig: »Sie haben nicht nur einen Piepmatz, sondern werden einen ganzen Haufen davon haben, bis wir mit ihnen fertig sind.« Shomuth, verwirrt: »Wie ist das möglich? Wir haben erfahren, daß jeder Lathiner unbewußt von einem Piepmatz gesteuert wird. Die Gesamtzahl der Piepmätze muß daher begrenzt sein. Sie kann nur größer werden durch die Geburt weiterer Lathiner.« Thomas, rasch einfallend: »Sie haben mich mißverstanden. Ich habe gemeint, daß die Zahl der freien Piepmätze entsprechend der Zunahme an Verlusten auf lathinischer Seite ansteigen wird. Es wird mehr Piepmätze geben als lathinische Überlebende.« Shomuth: »O ja, ich verstehe, was Sie meinen. Das kann ein ernstes psychisches Problem werden.« Pause. »Kapitän Thomas, haben Sie Grund zu der Annahme, daß eine große Anzahl freier Piepmätze fähig sein könnte, die Herrschaft über eine andere Lebensform zu übernehmen? Zum Beispiel über meine eigene Gattung?« Thomas, mit drohender Stimme: »Das würde mich nicht überraschen.« Shomuth: »Aber Sie wissen es nicht genau?«
Thomas: »Nein.« Shomuth: »Es ist doch sicher richtig, daß Sie über die wahre Natur der Lathiner erst durch Ihren Eustach aufgeklärt worden sind, nicht wahr?« Thomas, verblüfft: »Durch meinen was?« Shomuth: »Durch Ihren Eustach? Weshalb sind Sie so erstaunt?« Thomas, so schnell gefaßt, daß er dafür eine Medaille verdient hätte: »Ach, ich habe Eisdach verstanden. Ha-ha! Wirklich dumm von mir. Ja natürlich, durch meinen Eustach. Da haben Sie völlig recht.« Shomuth, leiser: »Wir haben hier vierhundertzwanzig terranische Gefangene. Das bedeutet vierhundertzwanzig Eustache, die unbehindert auf diesem Planeten herumwandern. Richtig?« Thomas: »Ich kann es nicht bestreiten.« Shomuth: »Der lathinische Kreuzer Veder stürzte bei der Landung ab und wurde völlig zerstört. Die Lathiner geben einem Irrtum der Besatzung die Schuld an dem Unfall. Er passierte aber drei Tage, nachdem Sie und Ihre Mitgefangenen hierhergebracht worden waren. War das bloßer Zufall?« Thomas, gewitzt: »Überlegen Sie selbst.« Shomuth: »Nun gut. Da ist noch etwas. Das größte Treibstofflager in diesem Teil der Galaxis befindet sich etwa sechzig Kilometer südlich von hier. Vor einer Woche ist es in die Luft geflogen. Es ist ein sehr schwerer Verlust für unsere Flotte. Die Techniker erklären sich das Unglück so, daß ein statischer Funke einen Tank zur Explosion gebracht haben muß, woraufhin dann das ganze Lager in die Luft geflogen ist. Techniker haben für alles eine Erklärung.« Thomas: »Und was gefällt Ihnen daran nicht?«
Shomuth: »Das Lager bestand schon über vier Jahre. Während der ganzen Zeit sind keine statischen Funken festgestellt worden.« Thomas: »Worauf wollen Sie hinaus?« Shomuth, in bedeutsamem Ton: »Sie haben selbst zugegeben, daß vierhundertzwanzig Eustache unbehindert hier herumwandern.« Thomas, ernst und würdevoll: »Ich gebe gar nichts zu. Und ich weigere mich, weitere Fragen zu beantworten.« Shomuth: »Hat Ihr Eustach Sie zu dieser Antwort veranlaßt?« Schweigen. Der Kommandant schaltete den Apparat ab und sagte: »Nun haben Sie es selbst gehört. Acht weitere terranische Offiziere haben mehr oder weniger die gleiche Aussage gemacht. Zangasta hat sich die Tonbandaufzeichnungen persönlich angehört, und er ist sehr besorgt über die Situation.« »Er soll sich nicht den Kopf zerbrechen«, meinte Leeming leichthin. »Das Ganze ist eine abgekartete Sache. Mein Eustach hat mit ihren Eustachen Verbindung aufgenommen.« Der Kommandant erwiderte mit hochrotem Gesicht: »Wie Sie bei unserer letzten Begegnung betont haben, kann es nur eine Verbindung geben, wenn es auch Eustache gibt. Also läuft es so oder so aufs gleiche hinaus.« »Ich bin froh, daß Sie das endlich einsehen.« »Das ist doch jetzt unwichtig«, warf Pallam ungeduldig ein. »Wir haben ausreichende Bestätigung erhalten, und das soll uns genügen.« »Ich selbst habe auch einige Nachforschungen angestellt«, fuhr der Kommandant fort. »Acht meiner Wärter haben sich Ihre Feindschaft zugezogen, indem sie Ihnen gegenüber handgreiflich geworden sind. Von ihnen liegen jetzt vier schwer verletzt im Krankenhaus, und zwei werden an die Front versetzt.«
»Die anderen beiden haben Verzeihung erlangt«, sagte Leeming. »Ihnen ist nichts geschehen.« »Nein, ihnen ist nichts geschehen.« »Dieselbe Garantie kann ich jedoch nicht in bezug auf das Erschießungskommando, den verantwortlichen Offizier oder seinen Vorgesetzten geben, der befohlen hat, daß hilflose Gefangene erschossen werden. Das muß ich ganz davon abhängig machen, wie mein Eustach darüber denkt.« »Was hat Ihr Eustach mit den Rigelianern zu tun?« warf Pallam ein. »Es sind schließlich unsere Verbündeten. Und unsere Verbündeten sind unsere Freunde. Dieses unnötige Blutvergießen hat mich sehr erschüttert. Meine Empfindungen werden von Eustach aufgenommen.« »Aber er folgt ihnen nicht unbedingt?« »Nein.« »Das heißt, wenn es sich um die Frage handelt, wer wem folgt, dann sind Sie es, der ihm gehorcht?« drängte Pallam. »Meistens.« »Nun, das bestätigt nur das, was Sie uns vorher erzählt haben.« Pallam lächelte leicht. »Der Hauptunterschied zwischen Terranern und Lathinern ist also der, daß Sie wissen, daß Sie von einem höheren Wesen beherrscht werden, während die Lathiner keine Ahnung davon haben.« »Wir werden weder bewußt noch unbewußt beherrscht«, sagte Leeming. »Wir leben in einer Partnerschaft zusammen, so ähnlich wie bei Ihnen Mann und Frau. Keiner von beiden übt die Herrschaft aus.« »Das kann ich nicht beurteilen, ich war noch nicht verheiratet«, sagte Pallam. Er wandte sich dem Kommandanten zu. »Fahren Sie fort.« »Es wird Ihnen wohl kein Geheimnis mehr sein, daß dieser Planet zur Strafkolonie bestimmt worden ist«, erklärte der
Kommandant. »Wir halten bereits eine große Anzahl von Gefangenen fest, hauptsächlich Rigelianer.« »Ja – und?« fragte Leeming. »Es werden mehr werden. Nächste Woche sollen zweitausend Centaurier und sechshundert Theter eintreffen und ein neues Gefängnis füllen. Unsere alliierten Streitkräfte werden noch mehr feindliche Lebensformen hierherbefördern, sobald genügend Raumschiffe zur Verfügung stehen.« Er sah sein Gegenüber prüfend an. »Es ist nur noch eine Frage der Zeit, bevor sie uns auch Terraner herbringen.« »Macht Ihnen das Sorgen?« »Zangasta hat beschlossen, keine Terraner aufzunehmen.« »Das ist seine Angelegenheit«, meinte Leeming mit gleichgültiger Miene. »Zangasta ist ein kluger Kopf«, sagte der Kommandant. »Er ist davon überzeugt, daß es gefährlich ist, eine ganze Armee von Gefangenen auf einem Planeten festzuhalten und dann noch einige tausend Terraner unter sie zu mischen. Er fürchtet, daß eine Situation entstehen könnte, mit der wir nicht mehr fertig werden. Wir könnten die Kontrolle über diese Welt verlieren, die strategisch gesehen weitab von der Front liegt, und selbst zum Angriffsziel unserer Alliierten werden.« »Das ist die Begründung, die er für die Öffentlichkeit bereithält. Er selbst hat noch eine ganz andere.« »Was?« Mit grimmiger Miene fuhr Leeming fort: »Zangasta hat als erster den Befehl erteilt, daß entflohene Gefangene nach ihrer Festnahme zu erschießen seien. Er muß es angeordnet haben, sonst würde keiner es wagen, sie zu erschießen. Und jetzt wird er wegen einem Eustach nervös und glaubt, daß er sich vor ein paar tausend Eustachen noch mehr fürchten muß. Aber da irrt er sich.« »Weshalb irrt er sich?« fragte der Kommandant.
»Die Reumütigen haben keinen Grund mehr, sich zu fürchten, aber die Toten auch nicht. Zangasta soll den Schießbefehl widerrufen, wenn er am Leben bleiben will.« »Ich werde es ihm mitteilen. Aber vielleicht ist das gar nicht mehr nötig. Ich habe Ihnen ja schon gesagt, Zangasta ist ein kluger Kopf. Er hat eine raffinierte Strategie entwickelt, die alle Ihre Behauptungen einer letzten Prüfung unterziehen und gleichzeitig seine Probleme lösen könnte.« Leeming wurde stutzig und fragte vorsichtig: »Darf ich erfahren, was er vorhat?« »Er hat sogar angeordnet, daß wir es Ihnen mitteilen. Er hat bereits begonnen zu handeln.« Der Kommandant wartete einen Augenblick, um die Wirkung seiner Worte zu verstärken, und fuhr dann fort: »Er hat der Föderation über Funk einen Gefangenenaustausch vorgeschlagen.« Leeming rutschte unruhig auf seinem Stuhl hin und her. Du lieber Himmel, das Ganze nahm ja ungeheuerliche Ausmaße an. Seine einzige Absicht war von Anfang an gewesen, sich aus dem Gefängnis herauszuschwatzen in eine andere Situation, in der ein Entkommen möglich war. Und jetzt nahmen sie ihn beim Wort und breiteten seine Geschichte über die ganze Galaxis aus. Welch ein verwirrendes Gespinst kann doch aus einer einzigen Lüge erwachsen! »Und was noch wichtiger ist«, fuhr der Kommandant fort, »die Föderation hat den Vorschlag angenommen unter der Voraussetzung, daß wir ranggleiche Gefangene gegeneinander austauschen, also Kapitäne gegen Kapitäne, Navigatoren gegen Navigatoren und so weiter.« »Das ist nur recht und billig.« »Zangasta«, fuhr der Kommandant fort und fletschte dabei die Zähne wie ein Wolf, »Zangasta hat dem zugestimmt unter der Bedingung, daß die Föderation zuerst alle terranischen
Gefangenen zurücknimmt, und zwar im Verhältnis eins zu zwei. Er wartet jetzt auf die Antwort.« »Im Verhältnis eins zu zwei?« wiederholte Leeming. »Soll das heißen, daß sie für jeden Terraner zwei Gefangene freigeben müssen?« »Nein, das natürlich nicht.« Der Kommandant entblößte beim Grinsen die Zähne bis zu den Wurzeln. »Zwei unserer Männer gegen einen Terraner und seinen Eustach. Das ist doch nur gerecht, finden Sie nicht?« »Das zu entscheiden ist nicht meine Sache. Das muß ich der Föderation überlassen.« Leeming hatte plötzlich Schwierigkeiten beim Schlucken. »Bis die Antwort eintrifft und alles geregelt ist, soll Ihnen auf Zangastas Wunsch hin eine bessere Behandlung zuteil werden. Sie werden in die Offiziersquartiere außerhalb des Gefängnisses verlegt und werden die dort übliche Verpflegung erhalten. Sie werden vorübergehend nicht als Feind betrachtet werden, und man wird Ihnen alle möglichen Freiheiten einräumen. Sie müssen mir nur Ihr Ehrenwort geben, daß Sie keinen Fluchtversuch unternehmen werden.« Ach du liebe Zeit, das auch noch! Sein ganzer Plan war doch letztlich auf Flucht abgestellt. Den könnte er doch nicht plötzlich einfach fallenlassen. Andererseits wollte er auch nicht sein Ehrenwort geben mit der zynischen Absicht, es so bald wie möglich zu brechen. »Ich kann Ihnen mein Ehrenwort nicht geben«, sagte er fest. Der Kommandant starrte ihn ungläubig an. »Ist das Ihr Ernst?« »Ja. Mir bleibt keine andere Wahl. Nach dem terranischen Militärgesetz ist es einem Kriegsgefangenen nicht gestattet, ein solches Versprechen abzugeben.« »Weshalb nicht?«
»Weil kein Terraner die Verantwortung für seinen Eustach übernehmen kann. Wie kann ich versprechen, daß ich nicht ausbrechen werde, wenn die andere Hälfte von mir sowieso schon in Freiheit ist?« »Wärter!« rief der Kommandant sichtlich enttäuscht.
Er blieb eine ganze Woche lang in seiner Zelle eingesperrt, ging nervös auf und ab und unterhielt sich nachts gelegentlich mit Eustach, um die Lauscher hinter der Tür zufriedenzustellen. Das Essen blieb reichhaltiger als ganz zu Anfang. Die Wärter behandelten ihn mit Zurückhaltung. Vier weitere Rigelianer wurden eingefangen und zurückgebracht, aber nicht erschossen. Alle Anzeichen sprachen dafür, daß er dem Feind noch immer nicht geheuer war. Trotzdem war er sehr beunruhigt. In der ganzen Föderation wußte man natürlich nichts von Eustachen und würde deshalb Zangastas Vorschlag, zwei feindliche Gefangene gegen einen Terraner auszutauschen, mit verächtlicher Ablehnung begegnen. Auf ihre Absage hin würde Leeming vom Feind in ein peinliches Kreuzverhör genommen werden. Früher oder später würden sie dahinterkommen, daß sie dem größten Lügner aller Zeiten aufgesessen waren. Sie würden sich teuflische Prüfungen einfallen lassen, und wenn er sie nicht bestand, war das sein Ende. Er hielt sich nicht allzuviel darauf zugute, daß er sie so lange hatte an der Nase herumführen können. Aus den Büchern, die er gelesen hatte, war ihm bekannt, daß die hiesige Religion auf der Verehrung von Ahnengeistern beruhte. Außerdem war ihnen so etwas wie das Poltergeistphänomen vertraut. Der Boden war für Leeming schon vorbereitet gewesen. Er brauchte ihn nur noch umzupflügen und die Saat auszustreuen. Wenn jemand schon an zwei Arten von unsichtbaren Wesen
glaubt, ist es nicht besonders schwer, ihn auch noch an die Existenz einer dritten zu gewöhnen. Doch wenn die Föderation nun eine glatte Absage zurückfunkte, dann hatte Leeming einen schweren Stand. Er würde sich den Mund fußlig reden müssen, um sie dann noch von der Existenz unsichtbarer Eustachen zu überzeugen. Wie sollte er das nur bewerkstelligen? Er zerbrach sich noch immer den Kopf darüber, als man ihn erneut zum Kommandanten rief. Diesmal waren an Stelle von Pallam ein Dutzend Zivilisten zugegen, die ihn neugierig anstarrten. Er stand also insgesamt dreizehn Männern gegenüber – die richtige Zahl, um daraus sein Schicksal zu entnehmen. Er kam sich, so im Mittelpunkt der allgemeinen Aufmerksamkeit, wie ein sechsschwänziges Beuteltier im Zoo vor und setzte sich. Sogleich begannen vier Zivilisten damit, ihn abwechselnd mit Fragen zu bombardieren. Sie waren nur an einer einzigen Sache interessiert, nämlich an Bopamagilvies. Es hatte den Anschein, als hätten sie stundenlang damit herumgespielt, ohne etwas anderes zu erreichen, als daß sie sich lächerlich machten. Nach welchem Prinzip funktionierten diese Dinger? Bündelten sie geistige Ausstrahlungen zu einem dünnen Strahl? Bei welcher Entfernung geriet Eustach aus dem Bereich, in dem man ihn noch direkt rufen konnte, wann mußte man eine Schlinge zu Hilfe nehmen? Weshalb mußte man die Schlinge zuerst drehen, bevor man eine Antwort erhielt? Und woher wußte er überhaupt, wie man solche Schlingen herstellt? »Das kann ich nicht erklären. Woher weiß denn ein Vogel, wie man ein Nest baut? Es scheint sich um ein angeborenes Wissen zu handeln. Seit ich alt genug war, ein Stück Draht zu biegen, wußte ich auch, wie ich meinen Eustach rufen muß.«
»Kann man zur Herstellung eines Bopamagilvies jede Art von Draht verwenden?« »Solange er nicht eisenhaltig ist, ja.« »Besitzen alle terranischen Drahtschlingen die gleiche Form und Größe?« »Nein, jede Person macht andere.« Er hielt ihren Fragen irgendwie stand, mit einem eisigen Gefühl im Magen und mit heißer Stirn. Dann ergriff der Kommandant das Wort. »Die Föderation hat es abgelehnt, terranische Gefangene vor anderen und im Verhältnis eins zu zwei auszutauschen. Sie hält weitere Verhandlungen für überflüssig und beschuldigt Zangasta böswilliger Absichten. Was haben Sie dazu zu sagen?« Leeming nahm sich zusammen und antwortete: »Auf Ihrer Seite gibt es siebenundzwanzig Lebensformen, von denen die Lathiner und die Zeber bei weitem die Mächtigsten sind. Wenn die Föderation nun eine Gattung beim Gefangenenaustausch bevorzugen wollte, glauben Sie, daß die anderen damit einverstanden wären? Wenn zum Beispiel zufällig die Tansiter die bevorzugte Gattung wären, würden die Lathiner und die Zeber ihr den Vortritt lassen?« Ein hochgewachsener, gebieterisch wirkender Zivilist mischte sich ein: »Ich bin Daverd, persönlicher Berater von Zangasta. Er ist der gleichen Meinung. Er glaubt, daß die Terraner überstimmt worden sind. Ich bin deshalb beauftragt worden, Ihnen eine Frage zu stellen.« »Ja?« »Wissen Ihre Verbündeten von Ihren Eustachen?« »Nein.« »Es ist Ihnen gelungen, diese Tatsache vor ihnen geheimzuhalten?«
»Wir brauchten nichts geheimzuhalten. Freunden gegenüber treten die Eustache ja gar nicht in Erscheinung. Sie unternehmen nur etwas gegen Feinde, und das läßt sich dann schlecht verheimlichen.« »Nun gut.« Daverd kam näher. »Die Lathiner haben diesen Krieg begonnen, und die Zeber schlossen sich ihnen wegen ihres Beistandspaktes an. Wir anderen sind aus diesen und jenen Gründen mithineingezogen worden. Die Lathiner sind sehr mächtig. Aber wir wissen jetzt, daß sie für ihre Handlungen nicht verantwortlich sind.« »Was hab ich damit zu tun?« »Einzeln können wir zahlenmäßig schwächeren Lebensformen gegen die Lathiner oder die Zeber nicht aufkommen. Aber gemeinsam sind wir stark genug, aus dem Krieg auszuscheiden und unser Recht auf Neutralität durchzusetzen. Deshalb hat Zangasta sich mit den anderen beraten.« Du liebe Zeit! Was man mit ein paar Metern Kupferdraht nicht alles anstellen kann! »Er hat heute die Antworten erhalten«, fuhr Daverd fort. »Sie sind bereit, sich zusammenzuschließen und gemeinsam aus dem Krieg auszuscheiden, vorausgesetzt, die Föderation ist ebenfalls bereit, ihre Neutralität anzuerkennen und Gefangene mit ihnen auszutauschen.« »Eine so plötzliche Einstimmigkeit unter den Kleinen ist ein gutes Zeichen«, bemerkte Leeming mit zufriedener Miene. »Wofür?« »Die Streitkräfte der Föderation haben in letzter Zeit eine große Schlacht gewonnen. Jemand hat eine schwere Niederlage einstecken müssen.« Daverd bestätigte das weder, noch verneinte er es. »Im Augenblick sind Sie der einzige Terraner, den wir auf diesem
Planeten festhalten. Zangasta ist der Ansicht, daß Sie hier nicht unbedingt gebraucht werden.« »Und das bedeutet?« »Er hat beschlossen, Sie ins Territorium der Föderation zurückzuschicken. Es wird Ihre Aufgabe sein, dort für Zustimmung zu unserem Plan zu werben. Wenn es Ihnen mißlingt, könnten mehrere hunderttausend Geiseln dafür zu leiden haben.« »Dafür könnte die Föderation sich aber rächen.« »Nicht, wenn sie es nicht weiß. Es wird hier keine Terraner oder Eustache geben, die sie heimlich informieren könnten. Wir lassen keine Terraner mehr herein. Die Föderation kann schließlich kein Wissen anwenden, das sie nicht besitzt.« »Das stimmt«, meinte Leeming. »Es ist unmöglich, etwas anzuwenden, was man nicht besitzt.« Sie stellten ihm einen leichten Zerstörer zur Verfügung, der mit zehn Zangastern bemannt war und ihn zu einem Versorgungsplaneten am Rande des Kampfgebietes brachte. Es war ein lathinischer Vorposten, aber die Lathiner interessierten sich nicht für das, was ihre kleinen Verbündeten trieben. Sie machten sich daran, die Strahlrohre des Zerstörers mit einem neuen Belag auszukleiden, während Leeming zu einem lathinischen Ein-Mann-Patrouillenschiff gebracht wurde. Die zehn Zangaster salutierten zum Abschied. Von nun an war er ganz auf sich gestellt. Der Start war schrecklich. Der Sitz war seltsam geformt und viel zu groß, der Abstand zwischen den Bedienungshebeln zu weit. Außerdem mußte er sich erst an ihre Anordnung gewöhnen. Das kleine Raumschiff war schnell und kraftvoll, aber es reagierte anders als dasjenige, mit welchem er hierhergeflogen war. Er wußte später selbst nicht mehr zu sagen, wie er es geschafft hatte, vom Boden abzuheben, aber er schaffte es.
Danach bestand ständig die Gefahr, daß er von Radarschirmen der Föderation aufgespürt und daraufhin beschossen würde. Er steuerte Terra an. Vor Unruhe kam er kaum zum Schlafen. Er fürchtete, daß die Strahlrohre die Belastung nicht überstehen würden, obwohl er nur ein Drittel der Strecke zurückzulegen hatte, die er mit seinem eigenen Raumschiff geschafft hatte. Auf den fremden Autopiloten konnte er sich allein schon deshalb nicht verlassen, weil ihm die Konstruktion unbekannt war. Auf das ganze Raumschiff war aus dem gleichen Grund kein Verlaß. Und den Streitkräften der Föderation konnte er nicht trauen, denn sie neigten dazu, zuerst zu schießen und hinterher Fragen zu stellen. Schließlich steuerte er nach einiger Zeit unversehrt die Nachtseite von Terra an und landete auf einem freien Feld einige Meilen westlich des zentralen Raumflughafens. Der Mond schien hell auf den Wabash, als Leeming sich dem Eingangstor näherte. Ein Wachtposten rief ihm zu: »Halt! Wer ist da?« »Leutnant Leeming und Eustach Phenackertiban.« »Kommen Sie näher, damit ich Sie erkennen kann.« Er ging näher heran und dachte bei sich, daß ein solcher Befehl eigentlich schwachsinnig war. Damit er ihn erkennen konnte! Der Wachtposten hatte ihn in seinem ganzen Leben noch nicht gesehen und würde ihn kaum von Myrtle McTurtle oder Hans Gans unterscheiden können. Am Tor richtete sich ein greller Scheinwerfer auf ihn. Jemand mit drei Winkeln am Ärmel trat aus einem Häuschen. In der Hand hielt er ein Tastgerät, das an einem schwarzen Kabel hing. Das Gerät wurde vor dem Ankömmling auf- und abbewegt, richtete sich aber hauptsächlich auf das Gesicht. Ein Lautsprecher in der Hütte befahl: »Bringen Sie ihn zur Geheimdienstzentrale.«
Sie marschierten los. Plötzlich rief der Wachtposten entsetzt: »He, wo ist denn der andere geblieben?« »Welcher andere?« fragte der Sergeant und schaute sich um. »Er spinnt«, sagte Leeming. »Aber Sie haben mir doch zwei Namen genannt«, erklärte der Wachtposten gereizt. »Wenn Sie den Sergeant recht freundlich darum bitten, dann gibt er Ihnen auch zwei Namen dazu«, sagte Leeming. »Nicht wahr, Sergeant, das tun Sie doch?« »Also los jetzt«, sagte der Sergeant ungeduldig. Sie erreichten die Geheimdienstzentrale. Der diensthabende Offizier war Colonel Farmer, ein rundlicher, rosiger Mann, den Leeming früher schon öfter getroffen hatte. Farmer starrte ihn mit ungläubigem Gesicht an und sagte: »Ja, sowas!« Er sagte es siebenmal hintereinander. Ohne Einleitung fragte Leeming: »Was soll das eigentlich? Weshalb weigern wir uns, unsere Gefangenen im Verhältnis eins zu zwei auszutauschen?« Farmer fuhr zusammen. »Sie wissen davon?« »Hätte ich sonst gefragt?« »Hm. Aber weshalb sollten wir auf ein so unsinniges Angebot eingehen?« Leeming beugte sich über den Schreibtisch, stützte die Hände auf und sagte: »Wir brauchen nur eine Bedingung zu stellen.« »Und die wäre?« »Wir fordern, daß in bezug auf die Lathiner die gleiche Abmachung gilt: Zwei von unseren Leuten gegen einen Lathiner und seinen Piepmatz.« »Seinen was?« »Seinen Piepmatz. Die Lathiner werden das bestimmt akzeptieren. Sie verbreiten überall, daß ein Lathiner doppelt soviel wert ist wie irgendein anderer. Sie sind viel zu
eingebildet, um ein solches Angebot abzuschlagen. Sie werden es als Beweis ansehen, daß selbst die Feinde gemerkt haben, wie gut sie sind.« »Aber – « wollte Farmer verwirrt einwenden. »Ihre Verbündeten werden den Vorschlag ebenfalls annehmen, aber aus anderen Gründen, die uns jetzt nicht zu interessieren brauchen. Versuchen Sie es nur. Zwei von unseren Leuten gegen einen Lathiner und seinen Piepmatz.« Farmer streckte seinen Bauch vor und brüllte: »Was zum Teufel ist denn ein Piepmatz?« »Das können Sie leicht herausbekommen«, meinte Leeming. »Fragen Sie nur Ihren Eustach.« Farmer senkte erschrocken die Stimme und sagte: »Sie sind als vermißt gemeldet worden. Wir haben Sie für tot gehalten.« »Ich mußte notlanden und bin weit hinter der Front gefangengenommen worden. Man hat mich ins Gefängnis gesteckt.« »Ja, ja«, sagte Colonel Farmer und machte beruhigende Handbewegungen. »Und wie haben Sie es geschafft, herauszukommen?« »Farmer, ich kann einfach nicht lügen. Ich habe sie mit meinem Bopamagilvie verhext.« »Hm?« »Dann bin ich mit dem Zug abgefahren«, teilte Leeming mit, »und zehn Faplaps haben ihn geschoben.« Er gab dem Schreibtisch einen Schubs, so daß sich Tinte über die Unterlage ergoß. »Und jetzt wollen wir mal sehen, wie tüchtig der Geheimdienst ist. Funken Sie das Angebot. Zwei gegen einen Lathiner und seinen Piepmatz.« Er blickte wild um sich. »Und besorgen Sie mir ein Bett. Ich bin verdammt müde.«
Farmer beherrschte sich mit viel Mühe und sagte zu Leeming: »Leutnant, ist Ihnen bewußt, daß Sie mit einem Colonel sprechen?« Leeming antwortete mit dem Schimpfwort, das er in der Gefangenschaft erfunden hatte.
Originaltitel: PLUS X Copyright © 1956 by Street & Smith Publications, Inc. Aus ASTOUNDING SCIENCE FICTION Juni 1956 Übersetzt von Ute Seeßlen
Robert Bloch SCHWARZER LOTOS
Das ist die Geschichte von Genghir dem Träumer und von dem merkwürdigen Schicksal, das ihm in seinen Träumen widerfuhr, eine Geschichte, die sich die Greise in den Souks von Isphahan zuraunen, wie sie sich einst vor fünftausend Jahren andere Greise im sagenhaften Teraz zugeraunt hatten. Was daran Wahrheit ist und was bloße Phantasie, stelle ich in euer Ermessen – in den verbotenen Büchern finden sich seltsame Sprüche, und Alhazred hatte Gründe für seine Torheiten –, aber wie schon gesagt, ihr müßt das selbst beurteilen. Ich will nur die Geschichte erzählen. Wisset denn, daß Genghir Herr war über ein fernes Königreich, in den Tagen des Einhorns und des Vogels Greif mit der flüchtigen Schwinge. Reich und mächtig war sein Land und friedlich und wohlregiert obendrein, so daß sich der Fürst ganz seinen Vergnügungen hingeben konnte. Wohlgestalt war Genghir, jedoch sanft von Charakter, so daß es ihn nicht nach Jagd oder männlichem Kampf verlangte. Seine Tage verbrachte er in Muße und beim Studium, die Nächte in Lustbarkeit mit den Frauen. Die Pflicht des Herrschens lasteten auf den Schultern von Hassim el Wadir, dem Wesir, während der wahre Sultan die Zeit mit Vergnügungen vertändelte. Übel war das Leben, das er führte und bald war das Land von Zwietracht und Verderbtheit zerrissen. Doch Genghir kümmerte es nicht, und er ließ Hassim die Haut abziehen, weil dieser angeblich sein Amt mißbraucht hatte. Im ganzen Land
herrschte Aufruhr und Mord, eine schreckliche Seuche brach aus. Auch dies kümmerte Genghir nicht, obgleich zwei Drittel seines Volkes dahingerafft wurden. Denn seine Gedanken weilten weit in der Ferne, und für ihn war das Gewicht seiner Herrschaft leicht wie eine Feder. Für seine Augen gab es nur die vergilbten Seiten von Büchern über die Magie und das zarte weiße Fleisch der Frauen. Die Hexerei von Worten, Wein und Weibern spann einen Zauber um seine Sinne. Schwarze Magie war in den dusteren Büchern, die sein Vater aus uralten eroberten Ländern mitgebracht hatte, und Bezauberung war in dem alten Wein und den jungen Leibern, die seine Begierden kannten, so daß er in einem Land der Unwirklichkeit und der Träume dahinlebte. Sicher wäre er gestorben, wären nicht die Überlebenden der Seuche in ein anderes Königreich geflohen und er allein in einer leeren Stadt zurückgeblieben. Der Bericht von ihrem Auszug drang nie an seine Ohren, denn seine Höflinge wußten sehr gut, daß jeder enthauptet wurde, der schlechte Nachrichten überbrachte. Doch einer nach dem anderen schlich sich davon und nahm Gold und kostbare Edelsteine mit, bis der Palast verlassen unter der Sonne lag, die auf ein ödes Land schien. Es ruhten keine Frauen mehr in der Zenana, sie tummelten sich auch nicht mehr als Nymphen in bernsteinfarbigen Teichen. Der Sultan wandte sich anderen Vergnügungen zu, die aus dem Reich Cathay stammten, und lag da, in schwarze Roben aus Samt gehüllt und probierte von den Säften des Mohns. Nun wurde das Leben tatsächlich zu einem Traum, und die im Opiumrausch erlebten Alpträume entsprachen mehr und mehr den Ereignissen und Orten, die in den unheimlichen Büchern erwähnt wurden, die er tagsüber las. Die Zeit wurde zu einer Verlängerung eines ungeheuren Traumes. Genghir wagte sich nicht mehr in seine Gärten, und er nahm an Speisen und Wein immer weniger zu sich. Sogar seine Bücher vergaß
er und lag die ganze Zeit über in einem rauschähnlichen Schlaf. Ihn kümmerte nicht das Kommen und Gehen der wenigen Getreuen aus seinem Gefolge, die mit ihm ausgeharrt hatten. Das Schweigen der Verlassenheit senkte sich über das Land. Nun geschah es, daß Opium und andere Drogen nicht mehr genügten, so daß Genghir gezwungen war, zu anderen und stärkeren Destillaten Zuflucht zu suchen. Und in einem jener merkwürdigen bösen Bücher las er von einem heimtückischen Trank, aus den Säften der schwarzen Lotosblume gebraut, die bei abnehmendem Mond blüht. Gräßlich und schrecklich waren die Warnungen der Schrift, wenn von der verbotenen Zubereitung die Rede war, denn deren Ursprung galt als sündhaft und die Gefahren, die den Gebrauch durch einen Neuling begleiteten, wurden in beredten Ausdrücken beschrieben. Doch Genghir dürstete es nach dem düsteren Zauber seiner Träume und den Verheißungen ihrer Freuden, und er wollte sich nicht zufriedengeben, ehe er von den verbotenen Genüssen gekostet hatte. Düster und verlassen stand der Palast, denn in den letzten Tagen hatten die letzten seiner Diener und Huris die dunklen Gemächer verlassen, deren billigen Glanz er schon längst gegen die wahren Freuden getauscht hatte, die nur im Land der Rauschträume zu finden waren. Nur drei treue Diener waren geblieben, die Genghir auf seinem Lager der Visionen behüteten. Er rief sie zu sich und befahl ihnen, auszuziehen und die giftspendende Schönheit des schwarzen Lotos in den fernen verborgenen Sümpfen zu suchen, von denen das geheime Buch berichtet hatte. Und die Diener fürchteten sich sehr, ihret- und seinetwegen, denn sie hatten seltsame Legenden gehört. Einstimmig flehten sie ihn an, seine Befehle zurückzunehmen. Da wuchs sein Zorn, und seine Augen sprühten wie Opale. Daraufhin gingen sie.
Ein halber Mond verging, ehe einer von ihnen wiederkam – zwei Wochen, in denen der Träumer vergeblich versuchte, seine übersättigten Sinne mit dem gewöhnlichen Geruch der weißen Blume zu täuschen. Überglücklich war er also, als der Sklave mit seiner kostbaren Last kam und daraus die glückbringenden Säfte Nepenthes braute, genau den Anweisungen folgend, wie sie in dem seltsamen Buch festgelegt waren. Doch sprach er nicht von seiner Reise oder vom Schicksal seiner zwei Gefährten, und sogar der benommene Träumer wunderte sich über die verschlossene Miene des Dieners. Von seiner Begierde besessen, fragte er nicht weiter und war zufrieden, als er sah, wie der Trank sorgfältig gebraut und die perlfarbige Flüssigkeit in die Nargileh gefüllt wurde. Nach Erfüllung seiner Aufgabe entfernte sich der Diener eilends, und kein Mensch weiß etwas von seiner Flucht, nur daß er sein Kamel durch die Wüste peitschte und wie von Dämonen verfolgt dahinhetzte. Genghir nahm die Flucht des Dieners gar nicht wahr, denn er war vom Gedanken an das Kommende in Verzückung geraten. Er hatte sein Lager in den Gemächern des Palastes nicht verlassen. Sein Hirn dürstete in wahnsinniger Begierde nach den seltsamen, neuen, erregenden Erlebnissen, welche die alten Bücher versprachen. Dem, der es wagte, die Dämpfe einzuatmen, wurden merkwürdige Träume verheißen, welche die alten Bücher nicht einmal anzudeuten wagten. » – Träume, die jede Wirklichkeit weit übertreffen oder sich mit ihr auf neue und sündhafte Art vermischen.« Das berichteten die Schreiber, doch Genghir fürchtete sich nicht und gierte nur nach den Freuden, die sie bringen sollten. Und so geschah es, daß er an jenem Abend auf seinem Lager lag und seine Huka allein in der Dämmerung rauchte, ein Traumkönig in einem Land, in dem außer Träumen alles tot war. Sein Lager gewährte einen Ausblick über einen Balkon,
hoch über der verlassenen Stadt, und als der Mond aufging, glänzte das Licht des Halbmonds auf den irisierenden Blasen der weißen Flüssigkeit in der großen Schale, der Rauch entströmte. Und in der Tat: süß war der Geschmack der Essenz, süßer als die Honigwaben Kaschmirs oder die Küsse der auserwählten Bräute des Paradieses. Langsam stahl sich eine neue wonnige Mattigkeit über seine Sinne. Ihm war, als wäre er ein freigeborenes Wesen, ein Wesen der unendlichen Lüfte. Er sah mit verschleiertem Blick die Blasen, und plötzlich quollen sie auf, immer mehr, bis der Raum in einen Schleier schimmernder Schönheit getaucht war, und er spürte, wie in ihren kristallenen Tiefen jeder Zusammenhang mit sich selbst schwand. Nun folgte eine Zeit tiefer mystischer Trauer. Ihm war, als läge er zwischen den Wänden einer geöffneten Gruft auf einer weißen Marmorplatte. Schrill pfeifende Trauermusik schien von weither an sein Ohr zu dringen, und der würzige Duft des aus einer Grablilie destillierten Weihrauchs stieg ihm wohltuend in die Nase. Er wußte, daß er tot war, und doch behielt er das Bewußtsein, das im Leben sein Eigen gewesen war. Die Zeitlosigkeit gewöhnlicher Träume war nicht sein Los. Bleiern vergingen die Jahrhunderte, und er fühlte die Länge jeder Sekunde, während er in der Gruft der Väter lag, beigesetzt auf einer Steinplatte im Mausoleum, welches durch einen Steinblock verschlossen war, auf dem – den Gehirnen von Dämonen entsprungene – Basilisken eingemeißelt waren. Lange nachdem sich Düfte und Klänge aus der Dunkelheit, in der er lag, verflüchtigt hatten, trat die Verwesung ein. Er spürte, wie sein Körper von Eiter aufquoll, spürte, wie seine Züge erstarrten und sich die Gliedmaßen bis auf das Bein schälten und Schleim absonderten. Es dauerte jedoch alles bloß einen Augenblick, gemessen an den sich träge dahinschleichenden Stunden der Ewigkeit. Um so länger hielt
der Zustand seiner Körperlosigkeit an, so lange, bis er alle bewußte Erinnerung verlor, jemals einen Körper besessen zu haben, und sogar der Staub, aus dem einst seine Gebeine bestanden hatten, verlor für ihn jegliche Bedeutung. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft – sie waren nichts. Und so erlebte Genghir unbewußt die Enthüllung der Grundgeheimnisse des Lebens. Jahre später stürzten die verfallenen Mauern endgültig zusammen, und Trümmerhaufen bedeckten den verwitterten Gruftstein. Und auch diese Trümmer wurden wieder von Staub und Erde bedeckt, bis es nichts mehr gab, was den Ort der stolzen Gruft bezeichnet hätte, in der einst die Fürsten aus dem Hause Genghir ruhten. Und die Seele Genghirs war ein Nichts, allein inmitten des Nichts.
Das war der Inhalt des ersten Traumes. Als auf der Erde das Flackern seiner Seele zu ewigdauernder Finsternis verlöschen wollte, erwachte Genghir. Er war schweißgebadet und bleich wie der Tod, den er fürchtete. Und sogleich schlug er die Seiten seines Buches auf und las die Stelle, die vom Lotos und den Prophezeiungen um ihn sprach: »Der erste Traum soll vorhersagen, was kommen wird.« Da wurde Genghir von Furcht übermannt; er schloß das Buch im Silberschein des Mondes, legte sich auf sein Lager und versuchte Schlaf zu finden und zu vergessen. Doch dann stahl sich der heimtückische süße Duft des Trankes in seine Nase, und seine Zauberkraft erfüllte ihn beglückend und übermannte ihn, bis ihn ein unüberwindliches Verlangen nach den dunklen Prophezeiungen zum Wahnsinn trieb. Vergessen waren Furcht und prophetische Warnung. Alles schien in Wohlgefallen aufgelöst.
Es währte nicht lange. Wieder teilten sich die dichten Nebel rosiger, süßer Wollust und lösten sich auf; der Zauber des leidenschaftlichen, unaussprechlichen Glückes entschwand, während eine neue Vision erschien. Er sah sich erwachen und bei Anbruch der Dämmerung das Lager verlassen, um abgehärmt dem neuen Tag entgegenzusehen. Er sah die erbärmliche Qual seines Daseins, wenn die Droge an Wirkung verlor, sah seinen Körper von Krämpfen unaussprechlicher Pein gefoltert. Sein Kopf schien anzuschwellen, als wolle er bersten. Sein verwesendes, alptraumgequältes Hirn schien im Schädel zu wachsen und ihn sprengen zu wollen. Er mußte mitansehen, wie er in dem leeren Gemach verzweifelt umhertastete und in seiner Pein die Glieder grotesk verrenkte. Wie er sich die Haare raufte, Schaum vor dem Mund, wie ein Fallsüchtiger, wie er die zuckenden Finger gegen seine Schläfen krallte. Der weißglühende Nebel schneidender Qualen bewirkte, daß er zu Boden taumelte – und dann war ihm, als tauchte aus seinem Traumbewußtsein das gräßliche Verlangen auf, seine Qual, koste es was es wolle, loszuwerden und aus einer lebenden Hölle in eine tote zu entfliehen… In seinem Wahn verfluchte er das Buch und die Warnungen, er verfluchte die fürchterliche Lotosblume und ihren Trank, er verfluchte sich und seine Pein. Und während die beißenden Zähne seiner Schmerzen sich immer tiefer in die Wurzeln gesunden Geistes hineinfraßen, sah er, wie er seinen starren, gelähmten Leib an den äußeren Altan seines verlassenen Palastes schleppte. Und mit der Grimasse eines Schmerzes, der größer war, als ein gesundes Hirn erahnen kann, stellte er sich mühsam auf die Brüstung. Als er so dastand, schwoll und blähte sich sein Kopf zu monströsen, unglaublichen Dimensionen auf und barst dann, schon morsch, mit einem gräßlichen Platzen, grauen und roten Eiter verspritzend, auseinander, den betäubenden Geruch des
schwarzen Lotos verbreitend. Und dann fiel Genghir mit einem unartikulierten Schrei des Schreckens und der Verzweiflung vom Balkon, und sein Körper zerschellte in loderndem Wahnsinn auf dem Hofpflaster. In diesem Augenblick erwachte er zähneklappernd. Es würgte ihn, und er übergab sich, von gräßlichem Ekel erfaßt. Er fühlte sich alt und schwach, und die Gezeiten des Lebens pulsten in seinen Adern. Er hätte das Bewußtsein verloren, wären nicht die belebenden Schwaden der Nargileh gewesen, die noch immer neben ihm rauchte. Und dann schwor er sich selbst einen heiligen Eid, die Wege eines Träumers für immer zu verlassen. Er stand auf, nahm das Buch an sich und schlug es an der Stelle der Warnung auf, wo er das Weistum las: »Der zweite Traum soll zeigen, was hätte sein können.« Da senkte sich Resignation und düstere Verzweiflung über ihn. Und abermals rollte sein Leben vor ihm ab, und er erkannte sich als das, was er war – ein irregeführter Narr. Und er wußte auch, wenn er nicht in seinen rauschhaften Schlaf zurückkehrte, würde er – wie vorausgesagt – die Schrecken des zweiten Traumes erleiden müssen. Ermattet und mit seltsamer Verwunderung im Herzen, preßte er das Buch an seine Brust und begab sich zu seinem vom Mondlicht beschienenen Lager. Und seine bleichen Finger hoben die Huka an die aschgrauen Lippen, und abermals erfuhr er das Glück des Nirwana. Er stand unter dem Zwang eines dem Zauber Verfallenen. … Oh, nachtschwarze Blume Lotos, die du am Nilfluß wächst! Oh, giftiger Duftquell aller Dunkelheit, der sich wiegt und webt zur Zeit des Mondlichtes! Oh, geheimnisvoller Zauber, nur Unheil bringend…! Genghir, der Träumer, schlief. Doch in seinen Träumen herrschten brütende Ekstase und eine mystische Wunderwelt, und er erfuhr die Schönheit, die in dämmrigen Grotten auf der dunklen Seite des Mondes liegt. Seine Brauen, seinen
Schlummer umfächelte der bleiche Wind einer der kleinen Götter, die im Paradies tanzen. Und er stand allein in einem Meer endloser Unendlichkeit vor einer ungeheuren Blume, die ihm vor seinen traumverwirrten Augen mit ihren großen, schlafbringenden Blütenblättern zuwinkte und einen Befehl zuraunte. Im Traum sah er an seiner Seite hinab, wo ein Dolch im edelsteinbesetzten Sultansgürtel steckte. Und da überkam ihn plötzlich ein Schimmer des Begreifens. Vor ihm stand der Schwarze Lotos, das Symbol des Bösen, das den Menschen im Schlaf erwartet. Es erlegte ihm einen Zauber auf, der ihn in den Tod locken sollte. Jetzt erkannte er den Weg, wie er für die Vergangenheit Buße tun und sich aus der Verzauberung befreien konnte. Er mußte kämpfen! Doch als er sich bewegte, ließ die große Blume ein samtenes Blütenblatt vorschnellen, das in übersattem Duft getränkt war, der ein Wind war vom Himmelstor. Und das schwarze Blütenblatt legte sich gleich einer ekelhaften, schönen Schlange um seinen Nacken und suchte mit seiner Umarmung seine Sinne im Meer duftenden Glücks zu ertränken. Doch Genghir widerstand der Versuchung. Die Verlockungen der Freuden ließen ihn kalt, und sein betäubtes Bewußtsein erteilte Befehle. Er nahm den Silberdolch von seiner Seite und durchtrennte mit einem einzigen Hieb die Windungen um seinen Nacken… Jetzt sah Genghir Blumen und Blütenblätter schwinden, und er war allein in einem Universum boshaften Gelächters. Eine düstere Welt, die unter der höhnischen Heiterkeit närrischer Götter erbebte. Einen Augenblick lang erwachte er und sah, daß ein tiefrotes Halsband seinen nackten Hals umschlang, und er begriff die Ungeheuerlichkeit, daß er sich im Traum die Kehle durchgeschnitten hatte. Dann starb er auf seinem vom Mond beschienenen Lager, und im verlassenen Gemach herrschte Stille, während aus der offenen Kehle Genghirs des
Träumers kleine Blutrinnsale auf die aufgeschlagene Seite eines uralten Buches fielen, auf einen seltsamen Satz in verschnörkelten Lettern: »Der dritte Traum aber bringt die Wirklichkeit.« Und es war nichts mehr geblieben – nur der alles durchdringende Duft von Lotosblumen, der den nächtlichen Raum erfüllte.
Originaltitel: BLACK LOTUS Aus UNUSUAL STORIES Jahrgang 1935, Band 2 Übersetzt von Ingrid Rothmann
Arthur C. Clarke DER TRAUM VON COMARRE
Auflehnung Gegen Ende des sechsundzwanzigsten Jahrhunderts hatte der große Strom der Wissenschaft angefangen langsamer zu fließen. Die lange Reihe von Erfindungen, die bald tausend Jahre lang die Welt geformt und geprägt hatten, näherte sich dem Ende. Alles war entdeckt worden. All die großen Träume der Vergangenheit waren, einer nach dem anderen, Wirklichkeit geworden. Die Zivilisation war vollständig mechanisiert – und doch waren fast alle Maschinen verschwunden. Verborgen in den Wänden der Stadt, oder tief unter der Erde vergraben trugen perfekte Maschinen die Bürde der Welt. Stumm und unauffällig kümmerten sich die Roboter um alles, was ihre Meister brauchten, verrichteten ihre Arbeit so gut, daß ihre Anwesenheit so selbstverständlich war wie ein Naturereignis, wie das Kommen und Gehen von Licht und Dämmerung. Im Bereich der reinen Naturwissenschaft gab es noch viel zu lernen, und die Astronomen, die nicht länger an die Erde gekettet waren, hatten Arbeit genug für tausend Jahre. Aber die Naturwissenschaften und die Künste waren nicht mehr die Hauptbeschäftigung der Völker. Und als das Jahr 2600 kam, waren die besten Denker der menschlichen Rasse nicht mehr in den Labors zu finden. Die Männer, deren Namen in der Welt das größte Gewicht hatten, waren Künstler, Philosophen, Gesetzgeber und
Staatsmänner. Die Ingenieure und die großen Erfinder gehörten der Vergangenheit an. Ebenso wie die Männer, die inzwischen längst alle Krankheiten besiegt hatten, hatten sie ihr Werk so gut verrichtet, daß man sie nicht mehr brauchte. Fünfhundert Jahre sollten verstreichen, bis das Pendel wieder zurückschwang… Der Blick aus dem Studio war atemberaubend, denn der mächtige, gewölbte Raum lag mehr als dreitausend Meter über den Grundfesten des Zentralturms. Die fünf anderen gigantischen Gebäude der Stadt reichten nicht so weit herauf und ihre stählernen Wände schimmerten in allen Farben des Spektrums, als die Strahlen der Morgensonne sie trafen. Und noch weiter unten dehnten sich die schachbrettartig angelegten Felder der automatisierten Farmen weit nach allen Richtungen, bis sie sich im Dunst des Horizonts verloren. Aber Richard Peyton II hatte für diese Schönheit keine Augen. Ärgerlich schritt er zwischen den großen Blöcken aus synthetischem Marmor auf und ab, jenen Blöcken, die das Rohmaterial für seine Kunstwerke bildeten. Die mächtigen grellbunten Massen von künstlichem Stein beherrschten das Atelier völlig. Die meisten waren roh behauene Würfel, aber einige verrieten bereits die Form von Tieren, menschlichen Wesen und abstrakten Körpern, Körpern, denen kein Mathematiker eine Bezeichnung zu geben gewagt hätte. Der Sohn des Künstlers saß etwas verlegen auf einem Zehn-Tonnen-Diamantblock, dem größten, den man je synthetisch hergestellt hatte – und beobachtete seinen berühmten Vater mit unfreundlicher Miene. »Ich glaube, es würde mir nicht so viel ausmachen«, sagte Richard Peyton heftig, »wenn du dich damit begnügen würdest, nichts zu tun, solange du es auf angenehme Art tust. Manche Leute haben ein hervorragendes Talent dafür und machen die Welt dadurch sehr viel interessanter. Aber ich kann
mir einfach nicht vorstellen, wie du auf die Idee kommst, Technologie studieren zu wollen. Ja, ich weiß, wir haben dir erlaubt, daß du Technologie als Hauptfach belegst, aber wir hatten nie geglaubt, daß es dir damit so ernst sein könnte. Als ich so alt war wie du, war ich sehr interessiert an Botanik, aber das heißt noch lange nicht, daß ich diesem Fach mein ganzes Leben gewidmet hätte. Hat Professor Chandras Ling dich auf dumme Gedanken gebracht?« Richard Peyton III wurde rot. »Warum sollte er das nicht? Ich weiß, wofür ich berufen bin, und er ist meiner Ansicht. Du hast doch seinen Bericht gelesen.« Der Künstler wedelte mit ein paar Blättern in der Luft und hielt sie zwischen Daumen und Zeigefinger wie ein häßliches Insekt. »Ja, den habe ich gelesen«, sagte er finster. »›Zeigt ungewöhnliche handwerkliche Fähigkeiten, hat grundlegende Arbeiten in der elektronischen Forschung vorgelegt‹ und so weiter und so fort. Großer Gott, ich hatte immer gedacht, die Menschheit wäre schon vor Jahrhunderten über diese Spielereien hinausgewachsen! Möchtest du vielleicht Mechaniker erster Klasse werden und defekte Roboter reparieren? Das ist kein Beruf für meinen Sohn, einmal ganz abgesehen davon, daß es erst recht kein Beruf für den Enkel eines Mitglieds des Weltrates ist.« »Laß bitte Großvater aus dem Spiel«, sagte Richard Peyton III gereizt. »Die Tatsache, daß er Staatsmann war, hat dich ja auch nicht daran gehindert, Künstler zu werden. Warum sollte ich also unbedingt einen eurer Berufe ergreifen?« Der goldblonde Bart des älteren begann sich drohend zu sträuben. »Mir ist es egal, was du tust, solange es etwas ist, worauf wir stolz sein können. Aber warum dieses verrückte
Interesse für technische Spielereien? Wir haben alle Maschinen, die wir brauchen. Der Roboter ist vor fünfhundert Jahren zur Perfektion ausgereift; die Konstruktion der Raumschiffe hat sich mindestens ebenso lange nicht mehr verändert; ich glaube, unser augenblickliches Kommunikationssystem ist beinahe achthundert Jahre alt. Warum also verändern, was perfekt ist?« »Das ist eine ausgesprochen unfaire Argumentation. Sie ist nämlich einseitig!« antwortete der junge Mann. »Stell dir doch einmal einen Künstler vor, der behauptet, irgend etwas wäre perfekt! Vater, ich schäme mich für dich!« »Treib keine Haarspalterei. Du weißt genau, was ich meine. Unsere Vorfahren haben Maschinen entwickelt, die uns alles geben, was wir brauchen. Zweifellos könnte man das eine oder andere Gerät in seiner Leistung um ein paar Grade wirksamer machen. Aber warum sich darüber den Kopf zerbrechen. Kannst du mir eine einzige wichtige Erfindung nennen, die der Welt heute fehlt?« Richard Peyton III seufzte. »Hör zu, Vater«, sagte er geduldig. »Ich habe mich nicht nur mit Ingenieurwissenschaften beschäftigt, sondern auch mit Geschichte. Vor etwa zwölf Jahrhunderten gab es Menschen, die sagten, alles sei schon erfunden worden – und das war vor der Erfindung der Elektrizität, einmal ganz abgesehen vom Fliegen und der Astronautik. Sie blickten einfach nicht weit genug in die Zukunft. Ihr ganzes Denken war in der Gegenwart verwurzelt. Das gleiche geschieht heute. Fünfhundert Jahre lang hat die Welt von den geistigen Leistungen der Vergangenheit gelebt. Ich will durchaus einräumen, daß einige Entwicklungen ihren Endpunkt erreicht haben, aber es gibt Dutzende anderer, die noch nicht einmal angefangen haben.
Technisch betrachtet hat die Welt stagniert. Es ist kein dunkles Zeitalter, weil wir nichts vergessen haben. Aber es gibt nichts Neues mehr. Schau dir zum Beispiel den Weltraumflug an. Vor neunhundert Jahren haben wir den Pluto erreicht. Und wo stehen wir jetzt? Über den Pluto ist noch keiner hinausgekommen! Wann werden wir den interstellaren Raum erforschen?« »Wer will denn schon zu den Sternen?« Der Junge sprang erregt von dem Diamantblock. »Was für eine Frage in der heutigen Zeit! Vor tausend Jahren sagten die Leute: ›Wer will denn überhaupt zum Mond?‹ Ja, ich weiß, man kann es kaum glauben, aber so steht es in den alten Büchern. Heute ist der Mond nur fünfundvierzig Minuten entfernt, und Leute wie Harn Jansen arbeiten auf der Erde und wohnen in Plato City auf dem Mond. Wir nehmen interplanetare Reisen als etwas Selbstverständliches hin. Eines Tages wird es uns mit der echten Weltraumfahrt genauso gehen. Ich könnte Dutzende anderer Disziplinen nennen, die ebenfalls brachliegen, einfach weil die Leute genauso denken wie du und mit dem zufrieden sind, was sie haben.« »Und warum sollten sie das nicht sein?« »Sei doch einen Augenblick mal ernst, Vater. Hast du dich je mit etwas zufriedengegeben, was du geschaffen hast? Nur Tiere sind mit dem Erreichten zufrieden.« Der Künstler lachte etwas beschämt. »Vielleicht hast du recht. Aber das ändert meine Meinung nicht. Ich glaube immer noch, daß du dein Leben vergeudest, und Großvater denkt genauso.« Er sah seinen Sohn etwas verlegen an. »Er kommt sogar zur Erde, bloß um dich zu sehen.« Peyton blickte überrascht auf. »Hör zu, Vater, ich habe dir bereits gesagt, was ich denke. Ich will das nicht ein zweites Mal aufrollen. Und weder Großvater noch der ganze Weltrat werden mich dazu bringen, meine Meinung zu ändern.«
Das war eine bombastische Feststellung, und der junge Peyton war sich selbst nicht ganz sicher, ob er sie wirklich ernst meinte. Sein Vater wollte gerade antworten, als ein melodischer Ton durch das Atelier vibrierte. Kurz darauf ertönte eine mechanische Stimme aus der Luft: »Ihr Vater möchte Sie sprechen, Mr. Peyton.« Er sah seinen Sohn triumphierend an. »Ich „hätte vielleicht hinzufügen sollen«, meinte er, »daß Großvater gleich da sein wird. Aber ich kenne ja deine Angewohnheit, immer dann zu verschwinden, wenn man dich braucht.« Der Junge gab keine Antwort, sondern sah seinem Vater zu, der zur Tür ging. Dann spielte ein Lächeln um seine Lippen. Die Kunstglastür war offen, und er trat auf den Balkon hinaus. Dreitausend Meter unter ihm glitzerte die weiße Betonfläche des Parkplatzes grell in der Sonne, mit Ausnahme der Stellen, wo die tropfenförmigen Rümpfe der Schiffe standen. Peyton blickte ins Zimmer zurück. Es war noch leer, obwohl er die Stimme seines Vaters durch die offene Tür hörte. Er wartete nicht länger, sondern stemmte sich auf die Balustrade und sprang. Dreißig Sekunden später betraten zwei Gestalten das Studio und sahen sich überrascht um. Richard Peyton, der Träger dieses Namens ohne eine Ziffer als Zusatz, war ein Mann, den man für sechzig gehalten hätte, obwohl er dreimal so alt war. Er trug den purpurnen Umhang, den nur zwanzig Männer auf der Erde und weniger als hundert im ganzen Sonnensystem trugen. Würde und Autorität schienen von ihm auszustrahlen, und verglichen mit ihm wirkte selbst sein berühmter und selbstsicherer Sohn unbedeutend. »Nun, wo ist er?«
»Der verdammte Bengel! Er ist vom Balkon gesprungen. Wenigstens können wir ihm sagen, was wir von ihm halten.« Richard Peyton II hob wütend das Handgelenk und wählte eine achtstellige Nummer auf seinem Armbandkommunikator. Die Antwort kam fast sofort. Eine mechanische Stimme wiederholte endlos: »Der Teilnehmer schläft. Bitte nicht stören. Der Teilnehmer schläft. Bitte nicht stören…« Ärgerlich schaltete Richard Peyton II ab und wandte sich seinem Vater zu. Der alte Mann lachte leise. »Nun, jedenfalls reagiert er schnell. Er hat uns hereingelegt. Wir können ihn so lange nicht erreichen, bis er die Automatik abstellt. Mit meinen Jahren habe ich bestimmt nicht vor, hinter ihm herzulaufen.« Einen Augenblick herrschte Schweigen, während die beiden Männer sich ansahen. Dann fingen sie beinahe gleichzeitig zu lachen an.
Die Sage von Comarre Etwa zweitausend Meter fiel Peyton wie ein Stein, ehe er den Schwerkraft-Neutralisator einschaltete. Der Luftstrom erschwerte zwar das Atmen, hatte jedoch gleichzeitig eine belebende Wirkung auf ihn. Seine Fallgeschwindigkeit betrug weniger als zweihundertfünfzig Stundenkilometer, aber der Eindruck von Geschwindigkeit wurde von dem Vorbeiziehen des mächtigen Gebäudes, von dessen Wand er nur ein paar Meter entfernt war, noch verstärkt. Etwa dreihundert Meter über dem Boden verlangsamte das Bremsfeld seinen Flug mit einem sanften Ziehen. Sanft schwebte er auf die Reihen parkender Flugboote am Fuße des Wehrturmes zu.
Sein eigenes Flugzeug war eine kleine einsitzige, vollautomatische Maschine. Zumindest war sie vollautomatisch gewesen, als sie vor dreihundert Jahren gebaut worden war, aber ihr augenblicklicher Besitzer hatte so viele Veränderungen angebracht, daß im Augenblick kein Mensch auf der ganzen Welt sie hätte fliegen können, ohne ernsthaften Schaden zu nehmen. Peyton schaltete den Neutralisatorgürtel ab – ein amüsantes Gerät, das zwar technisch überholt war, aber immer noch interessante Möglichkeiten bot – und betrat die Luftschleuse seines Flugbootes. Zwei Minuten später blieben die Türme der Stadt hinter dem Horizont zurück, und das unbewohnte Ödland huschte mit einer Geschwindigkeit von sechstausend Kilometern in der Stunde unter ihm dahin. Peyton steuerte Westkurs und befand sich kurz darauf über dem Meer. Jetzt konnte er nur warten; das Flugboot würde sein Ziel automatisch erreichen. Er lehnte sich im Pilotensessel zurück, gab sich trüben Gedanken hin und bedauerte sich selbst. Dabei versuchte er die Erkenntnis zu verdrängen, wie sehr ihn der augenblickliche Zustand beunruhigte. Die Tatsache, daß seine Familie seine technischen Interessen nicht teilte, bedrückte Peyton schon seit Jahren nicht mehr. Aber dieser ständig zunehmende Widerstand, der jetzt einen Höhepunkt erreicht hatte, war etwas völlig Neues. Das konnte er einfach nicht begreifen. Zehn Minuten später stieg eine weiße Säule, wie das Schwert Excalibur aus dem See, vor ihm aus dem Ozean empor. Die Stadt, die die Welt Scientia und ihre leicht zynisch veranlagten Bewohner Grillennest nannten, war vor achthundert Jahren auf einer Insel abseits von allen Kontinenten erbaut worden. Es war eine Geste der Unabhängigkeit gewesen, denn in jener längst verflossenen
Zeit hatten auf der Erde noch die letzten Reste von Nationalismus geherrscht. Peyton landete und ging auf den nächsten Eingang zu. Das Dröhnen der mächtigen Wogen, die sich hundert Meter entfernt an den Felsen brachen, war ein Geräusch, das ihn stets aufs neue beeindruckte. Einen Augenblick blieb er an der Öffnung stehen und atmete die würzige Salzluft ein und sah den Möwen und Zugvögeln zu, die den Turm umkreisten. Sie hatten diese Insel schon zu einer Zeit angeflogen, als der Mensch noch mit großen, ungläubigen Augen in die Sonne geblickt und sich gefragt hatte, ob sie ein Gott sei. Die Genetikabteilung hatte etwa in der Mitte des Turmes hundert Stockwerke belegt. Peyton hatte zehn Minuten gebraucht, um die Stadt der Wissenschaft zu erreichen. Jetzt brauchte er beinahe ebenso lange, um in den zahllosen Büros und Laboratorien den Mann zu finden, den er sprechen wollte. Allan Henson II war immer noch einer der besten Freunde von Peyton, obwohl er schon zwei Jahre vor ihm die Universität von Antarctica verlassen und das Studium der BioGenetik aufgenommen und nicht wie Peyton das der Ingenieurwissenschaften. Wenn Peyton Schwierigkeiten hatte, was nicht selten vorkam, half ihm die ruhige Vernunft seines Freundes immer. So war es ganz natürlich, daß er jetzt nach Scientia geflogen war, zumal Henson ihm erst am Tag zuvor eine dringende Nachricht hatte zukommen lassen. Der Biologe war sichtlich erfreut und erleichtert, Peyton zu sehen, obwohl er irgendwie nervös wirkte. »Ich bin froh, daß du gekommen bist; ich weiß etwas, das dich bestimmt interessieren wird. Aber du wirkst verärgert – was ist denn los?« Peyton berichtete, nicht ohne dabei kräftig zu übertreiben. Henson schwieg eine Weile.
»Dann haben sie also bereits angefangen«, sagte er. »Wir hätten damit rechnen müssen.« »Was meinst du damit?« fragte Peyton überrascht. Der Biologe zog eine Schublade auf und entnahm ihr einen verschlossenen Umschlag. Aus dem Umschlag holte er zwei Kunststoffblätter, in die ein paar hundert parallele Linien verschiedener Länge eingepreßt waren. Eines der Blätter reichte er seinem Freund. »Weißt du, was das ist?« »Es sieht wie eine Charakteranalyse aus.« »Stimmt. Das ist es auch. Deine nämlich.« »Oh! Das ist doch gar nicht zulässig, oder?« »Nein, aber laß das mal. Der Schlüssel ist unten aufgedruckt: er reicht von Ästhetik bis Humor. Die letzte Spalte gibt deinen Intelligenzquotienten an. Werd jetzt nur nicht überheblich, wenn du das liest.« Peyton musterte die Karte interessiert. Einmal rötete sich sein Gesicht leicht. »Woher hast du das denn erfahren?« »Das ist jetzt nicht wichtig«, lächelte Henson. »Und jetzt sieh dir diese Analyse an.« Er reichte ihm eine zweite Karte. »He, das ist doch die gleiche!« »Nicht ganz, aber beinahe.« »Von wem stammt sie denn?« Henson lehnte sich in seinem Sessel zurück und überlegte sich jedes Wort, das er sagte, sorgfältig. »Dick, diese Analyse stammt von deinem Urgroßvater der zweiundzwanzigsten Generation vor dir in der männlichen Linie, dem großen Rolf Thordarsen.« Peyton ging hoch wie eine Rakete. »Was!« »Mach kein solches Geschrei. Wir wollen kein Aufsehen erregen. Falls jemand hereinkommt – wir reden über alte Zeiten auf der Schule.«
»Aber – Thordarsen!« »Nun, wenn wir weit genug zurückgehen, haben wir alle ähnlich bedeutende Ahnen. Aber jetzt weißt du, weshalb dein Großvater Angst vor dir hat.« »Damit hat er aber ziemlich lange gewartet. Meine Ausbildung ist praktisch abgeschlossen.« »Dafür kannst du uns danken. Normalerweise reicht unsere Analyse zehn Generationen zurück, in besonderen Fällen zwanzig. Es macht eine Heidenarbeit. Es gibt Hunderte von Millionen von Karten im Vererbungsspeicher, je eine für jeden Mann und jede Frau, die seit dem dreiundzwanzigsten Jahrhundert gelebt haben. Diese Übereinstimmung hier ist rein zufällig vor etwas über einem Monat entdeckt worden.« »Damit fing der Ärger also an! Aber ich begreife nicht, was das Ganze bedeuten soll.« »Was weißt du über deinen berühmten Vorfahren, Dick?« »Nicht mehr als jeder andere, denke ich. Ich weiß ganz bestimmt nicht, wie oder weshalb er verschwunden ist, falls du das meinst. Hat er nicht die Erde verlassen?« »Nein. Er hat die Welt verlassen, wenn du willst, aber niemals die Erde. Sehr wenige Leute wissen das, Dick, aber Rolf Thordarsen war der Mann, der Comarre erbaut hat.« »Comarre!« Peyton sagte das Wort ehrfürchtig. Es existierte also doch! Selbst das war von einigen Leuten bestritten worden. Henson fuhr fort: »Vermutlich weißt du nicht viel über die Dekadenten. Die Geschichtsbücher sind in diesem Punkt ziemlich sorgfältig überarbeitet worden. Aber die ganze Geschichte hängt mit dem Ende des Zweiten Elektronischen Zeitalters zusammen…«
Dreißigtausend Kilometer von der Erde entfernt kreiste der künstliche Mond, der den Weltrat beherbergte, auf seiner Umlaufbahn. Das Dach des Sitzungssaales war ein einziges Stück Kristallit; wenn die Angehörigen des Rates tagten, schien es, als wäre nichts zwischen ihnen und der großen Kugel der Erde, die sich weit unter ihnen drehte. Eine tiefe Symbolik ging davon aus. In solcher Umgebung konnten sich Vorurteile und Kirchturmpolitik nicht lange halten. Hier war der Ort, an dem der Geist des Menschen zu den größten Taten fähig war. Richard Peyton der Ältere hatte sein ganzes Leben damit verbracht, die Geschicke der Erde zu lenken. Fünfhundert Jahre lang hatte die menschliche Rasse den Frieden gekannt und nichts entbehrt, was Kunst oder Wissenschaft schaffen konnten. Die Männer, die den Planeten regierten, konnten stolz auf ihre Arbeit sein. Und doch war der alte Staatsmann unruhig. Vielleicht warfen die Veränderungen, die bevorstanden, ihre Schatten voraus. Vielleicht spürte er, wenn auch nur im Unterbewußtsein, daß die fünf Jahrhunderte der Ruhe und der Beschaulichkeit ihrem Ende zugingen. Er schaltete seinen Recorder ein und begann zu diktieren.
Das Erste Elektronische Zeitalter hatte, wie Peyton wußte, im Jahre 1906 begonnen, vor mehr als elf Jahrhunderten, mit De Forests Erfindung der Triode. Das gleiche sagenhafte Jahrhundert, das die Gründung des Weltstaates, das Flugzeug, das Raumschiff und die Atomkraft gebracht hatte, war auch die Zeit der Erfindung aller fundamentalen thermionischen Geräte gewesen, die die Zivilisation, die er kannte, erst möglich gemacht hatten.
Das Zweite Elektronische Zeitalter hatte fünfhundert Jahre später begonnen. An seinem Beginn standen nicht die Physiker, sondern die Ärzte und Psychologen. Beinahe fünf Jahrhunderte lang hatten sie die elektrischen Ströme gemessen und aufgezeichnet, die während des Denkprozesses durch das Gehirn fließen. Die Analyse war ungemein kompliziert gewesen, aber nach generationenlanger mühsamer Kleinarbeit hatte man die Arbeit erfolgreich abgeschlossen. Und damit lag der Weg frei für die ersten Apparate, die die Gedanken des Menschen lesen konnten. Aber das war erst der Anfang. Sobald der Mensch einmal die Wirkungsweise seines eigenen Gehirns entdeckt hatte, konnte er auf dieser Erkenntnis aufbauen. Er konnte das Gehirn nachbauen, Transistoren und Stromkreise anstelle lebender Zellen setzen. Gegen Ende des 25. Jahrhunderts wurden die ersten richtigen Denkmaschinen gebaut. Sie waren sehr primitiv. Riesige Geräte brauchte man, um die gleiche Arbeit zu verrichten wie ein Kubikzentimeter menschlicher Gehirnmasse. Aber sobald einmal der erste Schritt getan war, dauerte es nicht mehr lange, bis das mechanische Gehirn ausgereift war und in den Dienst der Allgemeinheit gestellt werden konnte. Es konnte nur die einfacheren Aufgaben intellektueller Arbeit verrichten, und es fehlten ihm rein menschliche Eigenschaften wie Initiative, Intuition sowie alle Empfindungen. Aber solange man ihm Aufgaben stellte, wo diese Einschränkung nicht störte, leistete es genausoviel wie ein Mensch. Die Einführung der künstlichen Gehirne hatte eine der größten Krisen der menschlichen Zivilisation ausgelöst. Obwohl die Menschen immer noch die Pflichten der Staatsführung und der Lenkung der Gesellschaft ausüben mußten, war die systematische Arbeit der reinen Verwaltung von den Robotern übernommen worden. Endlich hatte der
Mensch die Freiheit gefunden. Er brauchte sich nicht mehr den Kopf zu zerbrechen, um komplizierte Pläne zu erarbeiten oder Entscheidungen über Produktionsprogramme oder Budgets zu treffen. Die Maschinen, die vor Jahrhunderten alle manuellen Arbeiten übernommen hatten, hatten jetzt ihren zweiten großen Beitrag für die Gesellschaft geleistet. Die Auswirkung auf die Menschheit war ungeheuer, und die Menschen reagierten unterschiedlich. Da gab es jene, die ihre neugefundene Freiheit den Tätigkeiten widmeten, die schon immer den Menschen fasziniert hatten: der Suche nach Schönheit und Wahrheit, Ziele, die noch genauso unerreicht waren wie zur Zeit des Baus der Akropolis. Aber es gab auch Menschen, die anders dachten. Endlich, so meinten sie, sei der Fluch von Adam genommen. Jetzt können wir Städte bauen, deren Maschinen alle unsere Wünsche erfüllen, sobald uns einer einfällt. – Ja früher sogar, da es Analysegeräte gab, die selbst die verborgenen Wünsche des Unterbewußtseins lesen konnten. Der Sinn allen Lebens sei das Vergnügen und das Streben nach Glück. Der Mensch habe sich den Anspruch darauf verdient. Wir sind dieses nicht enden wollenden Strebens nach Wissen überdrüssig und haben mit dem blinden Wunsch nichts gemein, der andere treibt, die Kluft zu überbrücken, die uns von den Sternen trennt. Es war der alte Traum der Lotosesser, ein Traum so alt wie der Mensch selbst. Und jetzt konnte man ihn zum erstenmal in die Tat umsetzen. Zunächst fand diese Philosophie nur wenige Anhänger. Die Flamme der Zweiten Renaissance hatten noch nicht zu flackern und zu verlöschen begonnen. Aber je mehr Jahre verstrichen, desto mehr Anhänger fanden die Dekadenten. An versteckten Orten auf den inneren Planeten bauten sie die Städte ihrer Träume. Ein Jahrhundert lang blühten sie wie fremdartige exotische Blumen, bis der beinahe religiöse Drang, der ihre Erbauer
inspiriert hatte, erloschen war. Noch eine Generation lang hielten sie sich. Und dann verblaßten sie langsam in der Erinnerung der Menschen. Sie hinterließen einen Schatz von Fabeln und Legenden, der von Jahrhundert zu Jahrhundert umfangreicher geworden war. Nur eine einzige solche Stadt war auf der Erde errichtet worden, und Rätsel umgaben sie, die die Welt nie gelöst hatte. Der Weltrat hatte alles Wissen um diesen Ort gelöscht. Ihre Lage war ein Geheimnis. Manche sagten, sie läge in den Wüsten der Arktis, andere wieder glaubten sie in den Tiefen des Pazifik versteckt. Nichts Genaues war bekannt, nur ihr Name – Comarre.
Henson unterbrach seinen Vortrag. »Bis jetzt habe ich dir nichts Neues gesagt, nichts, das nicht jeder wüßte. Der Rest der Geschichte ist geheim. Nur der Weltrat kennt ihn und vielleicht hundert Menschen in Scientia. Rolf Thordarsen war, wie du weißt, das größte Erfindergenie, das die Welt je hervorgebracht hat. Nicht einmal Edison läßt sich mit ihm vergleichen. Er hat die Grundlagen für den Bau der Roboter geschaffen und die ersten funktionierenden Denkmaschinen konstruiert. Zwanzig Jahre lang kam eine brillante Erfindung nach der anderen aus seinen Labors. Und dann verschwand er plötzlich. Es hieß damals, er habe versucht, die Sterne zu erreichen. In Wirklichkeit aber geschah etwas anderes. Thordarsen glaubte, daß seine Roboter – die Maschinen, ohne die unsere heutige Zivilisation undenkbar wäre – nur ein Anfang war. Er trat mit gewissen Vorschlägen, die die Struktur der menschlichen Gesellschaft verändert hätten, vor den Weltrat. Wir wissen nicht, worin diese Veränderungen bestanden, aber Thordarsen war fest davon überzeugt, daß sie
nötig seien, sonst würde die menschliche Rasse eines Tages stagnieren – wie es heute nach unserer Meinung auch tatsächlich der Fall ist. Der Rat lehnte entschieden ab. Weißt du, damals entwickelte sich der Roboter zu einem Bestandteil der Zivilisation, und langsam kehrte Stabilität zurück – eine Stabilität, die seit fünfhundert Jahren anhält. Thordarsen war bitter enttäuscht. Und die Dekadenten, die immer schon einen besonderen Reiz auf Genies ausgeübt hatten, nahmen ihn auf und überredeten ihn, sich von der Welt loszusagen. Er war der einzige Mensch, der ihre Träume in die Tat umsetzen konnte.« »Und hat er das getan?« »Das weiß niemand. Aber Corharre wurde gebaut – das steht fest. Wir wissen, wo Comarre liegt – und der Weltrat weiß es auch. Es gibt einige Dinge, die lassen sich einfach nicht geheimhalten.« Das war richtig, dachte Peyton. Selbst in dieser fortgeschrittenen Epoche der Menschheit verschwanden immer noch Leute, und das Gerücht ging um, daß sie sich auf die Suche nach der Traumstadt gemacht hatten. ›Er ist nach Comarre gegangen‹ war ein geflügeltes Wort, wobei man die eigentliche Bedeutung des Satzes beinahe schon vergessen hatte. Henson lehnte sich vor und fuhr fort: »Das ist das Eigenartige. Der Weltrat könnte Comarre zerstören, tut es aber nicht. Der Glaube, daß Comarre existiert, hat eine ausgleichende Wirkung auf die Gesellschaft. Trotz all unserer Bemühungen gibt es immer noch Psychopathen. Es ist nicht schwer, ihnen unter Hypnose von Comarre zu erzählen. Vielleicht finden sie die Stadt nie, aber sie begeben sich jedenfalls auf die Suche.
Damals, bald nach der Gründung der Stadt, schickte der Rat seine Agenten nach Comarre. Keiner von ihnen ist je zurückgekehrt. Man hat sie nicht etwa mit Gewalt festgehalten; sie zogen es vor zu bleiben. Das ist unbestritten, weil sie Nachrichten zurücksandten. Ich nehme an, die Dekadenten waren sich darüber im klaren, daß der Rat ihre Stadt dem Erdboden gleichmachen würde, wenn man die Agenten mit Gewalt festhielte. Ich habe einige dieser Briefe gesehen. Sie sind ungewöhnlich. Es gibt nur ein Wort dafür: exaltiert. Dick, es hat irgend etwas in Gomarre gegeben, das einen Menschen dazu verführen konnte, die Umwelt zu vergessen, und nicht nur das, sondern auch seine Freunde, seine Familie – einfach alles! Versuch dir vorzustellen, was das bedeutet! Später, als mit Sicherheit feststand, daß keiner der Dekadenten mehr am Leben sein konnte, versuchte es der Rat erneut. Und bis vor fünfzig Jahren hat er diese Versuche immer aufs neue wiederholt. Aber bis heute ist keiner, den sie nach Comarre geschickt haben, zurückgekehrt.«
Und alles was Richard Peyton sagte, wurde von dem Automaten analysiert, in phonetische Gruppen zerlegt, mit den richtigen Satzzeichen versehen und in den elektronischen Aufzeichner geleitet. »Kopie an Präsident und meine Privatakte. Betrifft Aktenvermerk vom zweiundzwanzigsten und unsere Unterhaltung heute morgen. Ich habe meinen Sohn besucht, aber R. P. III, mein Enkel, ist mir ausgewichen. Er ist fest entschlossen, und wenn wir versuchen, Druck auf ihn auszuüben, können wir damit nur Schaden anrichten. Das sollten wir von Thordarsen gelernt haben.
Ich schlage vor, daß wir uns seine Dankbarkeit erwerben, indem wir ihm jede Unterstützung gewähren, die er braucht. Dann können wir seine Nachforschungen in sichere Bahnen lenken. Solange er nicht entdeckt, daß R. T. sein Vorfahr war, besteht keine Gefahr. Trotz charakterlicher Ähnlichkeiten ist es sehr unwahrscheinlich, daß er den Versuch unternehmen wird, die Arbeiten von R. T. zu wiederholen. Außerdem müssen wir sicherstellen, daß er Comarre nie entdeckt oder besucht. Falls das geschehen sollte, sind die Folgen unvorhersehbar.«
Henson unterbrach seinen Bericht, aber sein Freund schwieg. Er war zu fasziniert, um etwas zu sagen, und so fuhr der andere nach einer Weile fort: »Das bringt uns in die Gegenwart und zu dir, Dick. Der Weltrat hat vor einem Monat herausgefunden, was ich dir eingangs auf dem Blatt gezeigt habe. Es tut uns leid, daß wir es ihnen gesagt haben, aber dafür ist es jetzt zu spät. In genetischer Hinsicht bist du eine Reinkarnation von Thordarsen, eine Reinkarnation im wissenschaftlichen Sinn des Wortes. Eines der seltensten Wunder der Natur hat sich vollzogen, so wie es sich nur alle paar hundert Jahre in der einen oder anderen Familie vollzieht. Du, Dick, könntest die Arbeit fortführen, die man Thordarsen verboten hat – welcher Art diese Arbeit auch immer gewesen sein mag. Vielleicht ist sie für immer verloren, aber wenn noch Spuren davon vorhanden sind, dann nur in Comarre. Der Weltrat weiß das. Aus diesem Grund versucht er, dich von deiner Bestimmung abzuhalten. Du darfst nicht mit Verbitterung reagieren. Der Rat hat in seinen Reihen einige der größten und edelsten Denker, die die Menschheit je hervorgebracht hat. Sie wollen dir kein Leid
zufügen, und ich bin sicher, daß dir nie etwas Böses widerfahren wird. Aber sie sind leidenschaftlich davon überzeugt, daß die augenblickliche Struktur unserer Gesellschaft erhalten bleiben muß, weil sie sie für die beste halten.« Langsam stand Peyton auf. Einen Augenblick hatte es den Anschein, als wäre er ein neutraler, außenstehender Beobachter und diese Gestalt namens Richard Peyton III nicht länger ein Mensch, sondern ein Symbol, ein Schlüssel für die Zukunft der Welt. Es bedurfte konzentrierter geistiger Anstrengung, um wieder zu seiner eigenen Identität zurückzufinden. Sein Freund musterte ihn stumm. »Da ist noch etwas, was du mir nicht gesagt hast, Allan. Wie kommt es, daß du das alles weißt?« Henson lächelte. »Auf diese Frage habe ich gewartet. Ich bin nur so etwas wie ein Bote, und man hat mich ausgewählt, weil ich dich kenne. Ich darf nicht sagen, wer die anderen sind, selbst dir nicht. Aber es ist eine ganze Anzahl Gelehrter darunter, von denen ich weiß, daß du sie bewunderst. Es hat schon immer eine Art freundliche Rivalität zwischen dem Rat und den Gelehrten, die ihm dienen, gegeben. Aber in den letzten paar Jahren haben sich die Ansichten beider Gruppen immer weiter voneinander entfernt. Viele von uns glauben, daß die augenblickliche Epoche, von der der Rat annimmt, daß sie ewig dauern wird, nur ein Interregnum ist. Wir glauben, daß eine zu lange Periode der Stabilität zur Dekadenz führen wird. Die Psychologen des Rates sind aber davon überzeugt, daß sie das vermeiden können.« Peytons Augen leuchteten. »Das habe ich auch immer gesagt! Kann ich mich euch anschließen?«
»Später. Zuerst gibt es Arbeit. Weißt du, wir sind in gewisser Hinsicht Revolutionäre. Wir werden eine der zwei soziologischen Reaktionen auslösen, und wenn wir fertig sind, wird die Gefahr rassischer Dekadenz auf Tausende von Jahren von uns genommen sein. Du, Dick, bist sozusagen eine Art Katalysator. Nicht der einzige übrigens.« Er hielt einen Augenblick inne. »Selbst wenn Comarre nichts bringen sollte, haben wir immer noch einen weiteren Trumpf im Ärmel. In fünfzig Jahren hoffen wir über einen funktionsfähigen Antrieb für den interstellaren Raumflug zu verfügen.« »Endlich!« sagte Peyton. »Und was werdet ihr dann tun?« »Wir werden ihn dem Rat zeigen und sagen: ›Hier, bitteschön, jetzt könnt ihr zu den Sternen fliegen. Sind wir nicht brav?‹ Und der Rat wird etwas verlegen lächeln und anfangen müssen, die Zivilisation umzukrempeln. Sobald wir über interstellare Raumschiffe verfügen, werden wir wieder eine dynamische Gesellschaft haben, und die Gefahr der Stagnation wird auf lange Zeit hinaus gebannt sein.« »Hoffentlich erlebe ich das noch«, sagte Peyton. »Aber was soll ich jetzt tun?« »Nur dies: wir möchten, daß du nach Comarre gehst und nachsiehst, was es dort gibt. Wir glauben, daß du Erfolg haben kannst, wo andere versagt haben. Die Pläne sind vorbereitet.« »Und wo liegt Comarre?« Henson lächelte. »Das ist wirklich ganz leicht. Es gibt nur einen Ort dafür – den einzigen Ort, über den keine Flugmaschine fliegen kann, wo niemand lebt, wo man nur zu Fuß reist. Comarre liegt im Großen Reservat.«
Der alte Mann schaltete den Aufzeichnungsautomat ab. Über ihm – oder unter ihm, je nachdem wie man es sah – verdeckte
die große Halberde die Sterne. Auf seiner ewigen Kreisbahn hatte der Mond die Trennungslinie zwischen hell und dunkel überschritten und tauchte jetzt in die Nacht hinein. Hie und da funkelten tief unter ihm die Lichter von Städten. Der Anblick erfüllte den alten Mann mit Trauer. Er erinnerte ihn daran, daß sein eigenes Leben sich dem Ende zuneigte – und gleichzeitig schien er das Ende der Kultur vorherzusagen, die er zu erhalten versucht hatte. Vielleicht hatten die jungen Wissenschaftler trotz allem recht. Die lange Ruheperiode ging ihrem Ende zu, und die Welt suchte sich neue Ziele, die er nicht mehr erblicken würde.
Der wilde Löwe Es war Nacht, als Peytons Flugboot sich vom Westen her dem Indischen Ozean näherte. Das Auge konnte in der Tiefe nur die weiße Linie der Brecher erblicken, die gegen die Küste Afrikas anrannten, aber der Navigationsbildschirm zeigte jede Einzelheit des Landes unter ihm. Die Nacht bot natürlich keinerlei Schutz, aber sie garantierte zumindest, daß kein menschliches Auge ihn sehen würde. Was die Maschinen anging, die Wache hielten – nun, um die hatten sich andere gekümmert. Es schien, daß es viele gab, die so wie Henson dachten. Der Plan war geschickt vorbereitet worden. Leute, die offenbar Spaß daran gehabt hatten, hatten alle Einzelheiten geradezu liebevoll ausgearbeitet. Er sollte am Rand des Waldes landen, so nahe wie möglich bei der Energiebarriere. Nicht einmal seine unbekannten Freunde konnten die Barriere abschalten, ohne Argwohn zu erwecken. Zum Glück war es vom Rande dieses Kraftfeldes bis nach Comarre nur
dreißig Kilometer über ziemlich freies Gelände. Er würde seine Reise zu Fuß beenden müssen. Zweige knackten, als das kleine Schiff sich auf den unsichtbaren Wald herniedersenkte. Schließlich setzte es auf, und Peyton schaltete die schwache Innenbeleuchtung aus und spähte zum Fenster hinaus. Nichts zu sehen. Er erinnerte sich an das, was man ihm gesagt hatte, und öffnete die Schleuse nicht. Er machte es sich so bequem wie möglich und wartete auf die Morgendämmerung. Er erwachte, als ihm grelles Sonnenlicht in die Augen fiel. Dann legte er schnell den Anzug und die Geräte an, die seine Freunde ihm zur Verfügung gestellt hatten, öffnete die Schleuse und trat in den Wald hinaus. Die Landestelle war sorgfältig ausgewählt, und es waren nur wenige Meter bis zum Waldrand. Vor ihm lagen niedrige, grasbewachsene Hügel. Auf einigen wuchsen schlanke Bäume. Der Tag war mild, obwohl es Sommer war und der Äquator nicht weit entfernt lag. Achthundert Jahre Klimakontrolle und die großen künstlichen Seen, die jetzt die Wüsten bedeckten, hatten dafür gesorgt. Beinahe zum erstenmal in seinem Leben sah Peyton die Natur, wie sie vor der Ankunft des Menschen auf diesem Planeten gewesen war. Und doch war es nicht die ursprüngliche Szene, die ihm so fremdartig erschien. Peyton hatte nie völliges Schweigen gekannt. Da war immer das Summen von Maschinen oder das weit entfernte Flüstern der Flugboote gewesen, das aus den fernen Bereichen der Stratosphäre zu ihm drang. Hier gab es diese Geräusche nicht, denn keine Maschine konnte die Energiebarriere durchdringen, die das Reservat umgab. Da war nur der Wind im Gras und das leise Konzert von Myriaden von Insekten. Peyton spürte, wie dieses Schweigen an seinen Nerven zerrte, und er tat das, was fast
jeder Mensch seiner Zeit getan hätte. Er drückte auf den Knopf seines Radios und hörte Musik. Immer tiefer drang Peyton in das Reservat ein, die größte Landfläche im natürlichen Zustand, die es auf der Welt gab. Das Gehen strengte ihn nicht an, denn die Neutralisatoren, die in seinen Anzug eingebaut waren, machten ihn beinahe gewichtlos. Wie ein Umhang umgab ihn das leise Geräusch von Musik, die seit der Erfindung des Radios stets zur Geräuschkulisse menschlichen Lebens gehört hatte. Obgleich er nur die Wählautomatik betätigen mußte, um mit jedem beliebigen Menschen auf dem Planeten in Verbindung zu treten, glaubte er sich doch allein mitten im Herzen der Natur. Einen Augenblick lang empfand er dasselbe wie Stanley oder Livingstone, als sie vor mehr als tausend Jahren diesen Kontinent zum erstenmal betreten hatten. Bis Mittag hatte Peyton die Hälfte der Entfernung bis zu seinem Ziel hinter sich gebracht. Sein Mittagsmahl nahm er im Schatten einiger hier angepflanzter Koniferen vom Mars ein, die einen Forscher aus der Vergangenheit in helles Erstaunen versetzt hätten. In seiner Unwissenheit empfand Peyton dagegen sie als völlig normal. Er war fast fertig mit dem Essen, als er einen Gegenstand bemerkte, der sich schnell aus der Richtung, aus der auch er gekommen war, näherte. Der Gegenstand war noch zu weit entfernt, als daß er ihn hätte erkennen können. Erst als klar wurde, daß er sich eindeutig ihm näherte, stand er auf, um besser sehen zu können. Bis jetzt hatte er noch keine Tiere erblickt – wenn auch viele Tiere ihn beobachtet hatten – und deshalb schaute er dem Ankömmling voll Interesse entgegen. Peyton hatte nie zuvor einen Löwen gesehen, doch es fiel ihm nicht schwer, das majestätische Tier zu erkennen, das in großen Sprüngen auf ihn zuhielt. Zu seiner Ehrenrettung sei
noch gesagt, daß er nur einmal einen flüchtigen Blick auf den Baum hinter ihm warf. Er blieb aber stehen und wartete. Er wußte, daß es auf der Welt keine wirklich gefährlichen Tiere mehr gab. Das Reservat war eine Kombination von einem riesigen biologischen Labor und einem Naturschutzgebiet, das Jahr für Jahr von Tausenden von Menschen besucht wurde. Allgemein war bekannt, daß die Bewohner des Reservats einen in Frieden ließen, wenn man ihnen auch nichts tat. Das Tier wollte sichtlich freundlich sein. Es trottete auf ihn zu und begann den Pelz an ihm zu reiben. Als Peyton aufstand, schien es großes Interesse für seine leeren Proviantpackungen zu zeigen. Schließlich wandte es sich ihm mit einem geradezu unwiderstehlichen Ausdruck zu. Peyton lachte, öffnete einen weiteren Behälter und legte den Inhalt auf einen flachen Stein. Der Löwe nahm den Tribut freudig entgegen, und während er fraß, blätterte Peyton das Inhaltsverzeichnis des offiziellen Führers durch, den seine unbekannten Hintermänner ihm mitgegeben hatten. Es gab einige Seiten über Löwen, und dieser Teil enthielt, für Besucher von anderen Planeten bestimmt, sogar Abbildungen. Die Information, die er fand, war beruhigend. Tausend Jahre wissenschaftlicher Zuchtwahl hatten den König der Tiere wesentlich verändert. Er hatte im letzten Jahrhundert nur etwa ein Dutzend Menschen gefressen: in zehn der Fälle hatten ihn nachträglich angestellte Untersuchungen von jeder Schuld freigesprochen, während in den übrigen zwei Fällen keine Beweise vorlagen, wie es hieß. Aber das Buch sagte nichts darüber, wie man Löwen wieder loswurde. Es enthielt auch keine Hinweise darauf, daß sie normalerweise so freundlich waren wie sein augenblicklicher Gefährte.
Peytons Beobachtungsgabe war nicht sonderlich entwickelt. So dauerte es einige Zeit, bis er den schmalen Metallring um die rechte Vordertatze des Löwen entdeckte. Darauf standen mehrere Nummern und Buchstaben, und dahinter war der offizielle Stempel des Reservats eingraviert. Dies war kein wildes Tier; möglicherweise hatte es sogar seine Jugend unter Menschen verbracht. Vermutlich war es einer der berühmten Superlöwen, die die Biologen gezüchtet und dann freigelassen hatten. Einige von ihnen waren beinahe so intelligent wie Hunde, wenn man den Berichten Glauben schenken durfte, die Peyton gelesen hatte. Er stellte schnell fest, daß der Löwe viele einfache Worte begriff, insbesondere solche, die sich auf Nahrung bezogen. Selbst für diese Epoche war es ein außergewöhnliches Tier, wenigstens dreißig Zentimeter größer als seine primitiven Ahnen, die vor tausend Jahren gelebt hatten. Als Peyton seinen Weg fortsetzte, trottete der Löwe neben ihm her. Peyton bezweifelte, daß diese Freundschaft mehr wert war als ein Pfund synthetischen Fleisches, aber es war nett, jemanden bei sich zu haben, mit dem man reden konnte – noch dazu jemanden, der keinerlei Anstalten machte, zu widersprechen. Nach tiefsinnigen konzentrierten Überlegungen entschied er, daß Leo ein geeigneter Name für seinen neuen Bekannten wäre. Peyton hatte erst ein paar hundert Meter zurückgelegt, als plötzlich ein blendender Blitz vor ihm durch die Luft zuckte. Obwohl er sofort wußte, worum es sich handelte, erschrak er doch und blieb geblendet stehen. Leo war geflohen und bereits außer Sichtweite. In einer Gefahrensituation, dachte Peyton, würde er also nicht sehr nützlich sein. Später sollte er diese Meinung ändern.
Als er wieder sehen konnte, erkannte Peyton ein mehrfarbiges Plakat mit feurigen Lettern. Es hing vor ihm in der Luft. WARNUNG! SIE NÄHERN SICH JETZT DEM SPERRGEBIET! KEHREN SIE UM! Im Auftrag des Weltrates. Peyton musterte das Plakat eine Weile. Dann sah er sich nach dem Projektor um. Er befand sich in einer Metallbox, nicht gerade besonders gut neben der Straße versteckt. Peyton sperrte den Kasten mit den Universalschlüsseln auf, die ihm die Elektronikkommission nach seinem ersten bestandenen Examen vertrauensvoll übergeben hatte. Nach ein paar Minuten atmete er erleichtert auf. Der Projektor wurde von einer Lichtschranke ausgelöst. Alles, was über die Straße ging, schaltete das Gerät ein. Es gab auch ein Bildaufzeichnungsgerät, aber das hatte man abgeschaltet. Das war gut so, denn es bedeutete, daß niemand je erfahren würde, daß Richard Peyton III einmal über diese Straße gegangen war. Er rief nach Leo, der langsam zurückkam und sich offenbar zu schämen schien. Das Plakat war inzwischen verschwunden, und Peyton schaltete die Lichtschranke aus, um Leo ungestört durchzulassen. Dann aktivierte er das Gerät wieder, verschloß den Kasten und setzte seinen Weg fort. Hundert Meter weiter warnte ihn eine körperlose Stimme eindringlich. Sie sagte ihm nichts Neues, drohte aber eine ganze Anzahl kleinerer Strafen an, von denen ihm einige nicht unbekannt waren. Es war amüsant, Leos Gesicht zu betrachten, als das Tier versuchte, die Herkunft dieser Geräusche zu ergründen. Wieder suchte Peyton den Tonprojektor und
überprüfte ihn, ehe er weiterging. Es würde besser sein, so dachte er, die Straße zu verlassen. Mit einiger Mühe veranlaßte er Leo dazu, auf dem Metallband der Straße zu bleiben, während er selbst im Sand daneben weiterschritt. Während des nächsten halben Kilometers löste der Löwe zwei weitere elektronische Warntafeln aus. Die letzte schien nicht mehr an die Einsicht der Besucher zu glauben. Man beschränkte sich auf ein lapidares: ACHTUNG – WILDE LÖWEN! Peyton sah Leo an und begann zu lachen. Leo begriff den Witz natürlich nicht. Hinter ihnen verblaßte die elektronische Warntafel mit einem letzten verzweifelten Zucken. Peyton fragte sich, was diese Warntafeln bedeuteten. Vielleicht sollten sie zufällige Besucher abschrecken. Jene, die das Ziel kannten, würden sich bestimmt nicht davon abhalten lassen, weiterzugehen. Die Straße machte plötzlich einen Bogen nach rechts – und da lag Comarre vor ihm. Es war eigenartig, daß etwas, das er die ganze Zeit erwartet hatte, ihm einen solchen Schock versetzen sollte. Vor ihm öffnete sich eine riesige Lichtung, etwa zur Hälfte von einer schwarzen metallischen Struktur ausgefüllt. Die Stadt war in Terrassen angelegt und hatte die Form eines Kegels, vielleicht achthundert Meter und an ihrer Basis vielleicht tausend Meter im Durchmesser, Wieviel davon unter der Erde lag, konnte Peyton natürlich nicht erkennen. Er blieb stehen, überwältigt von der Größe und der Fremdartigkeit des enormen Bauwerks. Und dann schritt er langsam darauf zu. Wie ein Raubtier in seinem Schlupfwinkel lag die Stadt da und wartete. Wenn sie auch jetzt nur ganz wenige Gäste hatte, war sie doch stets bereit, zu empfangen, wer immer auch kommen mochte. Manchmal kehrten die Menschen bei der
ersten Warntafel um, manchmal bei der zweiten. Einige hatten sogar die Lichtung erreicht und erst dann ihren Entschluß geändert. Aber die meisten, die bis hierher gekommen waren, hatten sie auch bereitwillig betreten. Peyton erreichte die Marmorstufen, die zum Fuß der Metallwand führten und zu jener eigenartigen schwarzen Öffnung, die der einzige Eingang zu sein schien. Leo trottete stumm neben ihm her und schien sich nicht weiter um die seltsame Umgebung zu kümmern. Peyton blieb am Fuß der Treppe stehen und wählte eine Nummer auf seinem Armbandkommunikator. Er wartete, bis er den Empfangston hörte, und sprach dann langsam und deutlich in das winzige Mikrofon: »Die Fliege geht ins Netz.« Er wiederholte den Satz zweimal und kam sich ziemlich albern dabei vor. Jemand in Scientia hatte einen abartigen Sinn für Humor, dachte er. Es kam keine Antwort. So war es auch ausgemacht worden. Aber er bezweifelte nicht, daß seine Nachricht empfangen worden war, vermutlich in einem Labor in Scientia. Peyton öffnete den größten Proviantbehälter, den er bei sich hatte, und breitete seinen Inhalt auf der untersten Marmorstufe aus. Dann kraulte er dem Löwen die Mähne. »Ich finde, du bleibst am besten hier, Leo«, sagte er. »Ich werde eine ganze Weile weg sein. Versuche nicht, mir zu folgen.« Oben auf der Treppe angelangt, sah er sich um. Erleichtert stellte er fest, daß der Löwe keine Anstalten machte, ihm zu folgen. Er saß auf den Hintertatzen und sah traurig zu ihm herauf. Peyton winkte ihm und wandte sich ab. Es gab keine Tür, nur eine ganz gewöhnliche schwarze Öffnung in der gekrümmten Metallfläche. Das überraschte ihn, und Peyton fragte sich, wie die Erbauer der Stadt wohl Tiere davon abgehalten hatten, in die Stadt einzudringen. Und dann
fiel ihm an der Öffnung etwas auf. Sie war einfach zu schwarz. Obwohl die Wand im Schatten lag, bestand kein Anlaß für den Eingang so dunkel zu sein. Er nahm eine Münze aus der Tasche und warf sie in die Öffnung. Als er sie drinnen auf den Boden fallen hörte, nickte er zufrieden und ging weiter. Die sorgfältig abgestimmten Schaltkreise hatten die geworfene Münze ignoriert, wie sie alle Tiere ignoriert hatten, die dieses dunkle Portal passiert hatten. Aber die Anwesenheit eines menschlichen Geistes hatte ausgereicht, um die Relais auszulösen. Den Bruchteil einer Sekunde lang pulsierte das Kraftfeld des Eingangs, durch das Peyton sich nichtsahnend bewegte, mit Energie. Dann schaltete es sich wieder aus. Peyton hatte den Eindruck, daß sein Fuß lange brauchte, um den Boden zu erreichen, aber das beunruhigte ihn nicht. Viel überraschender war der plötzliche Übergang von der Dunkelheit ins Licht, von der bedrückenden Tropenhitze in eine Temperatur, die vergleichsweise eher kühl wirkte. Der Wechsel kam so abrupt, daß er erschreckt zusammenzuckte. Beunruhigt wandte er sich der Öffnung zu, durch die er soeben gekommen war. Aber die Öffnung war nicht mehr da. Sie war nie dagewesen. Peyton stand auf einem Metallpodest im genauen Mittelpunkt eines großen, kreisförmigen Raumes, dessen Wand von einem Dutzend Spitzbogeneingängen durchbrochen war. Er hätte durch einen dieser Spitzbögen gekommen sein können – wenn sie nicht vierzig Meter von seiner Position entfernt gewesen wären. Einen Augenblick erfüllte Peyton Panik. Er spürte, wie sein Herz heftig klopfte. Und auch mit seinen Beinen geschah etwas Eigenartiges. Jetzt kam er sich plötzlich sehr verlassen vor. Er setzte sich auf das Podest und begann, seine Lage systematisch zu überdenken.
Das Symbol des Mohns Irgend etwas hatte ihn, ohne daß er sich des Zeitablaufs bewußt wurde, vom schwarzen Eingang in die Mitte dieses Raumes befördert. Dafür konnte es nur zwei Erklärungen geben, und beide waren gleich phantastisch. Entweder stimmte etwas mit den Eigenschaften des Raumes innerhalb Comarres nicht, oder seine Erbauer hatten das Geheimnis der Materieübertragung gelöst. Seit der Zeit, da die Menschen gelernt hatten, Bilder und Töne durch elektrische Wellen zu übertragen, hatten sie auch davon geträumt, Materie auf die gleiche Weise zu übertragen. Peyton sah das Podest an, auf dem er stand. Es war leicht möglich, daß es elektronische Geräte enthielt – und in der Decke des Raumes gab es jedenfalls eine sehr eigenartige Ausbuchtung. Hastig verließ er das Podest. Er verspürte keine besondere Lust, länger darauf zu stehen. Die Erkenntnis, daß er ohne Mitwirkung der Maschine, die ihn hierhergebracht hatte, keine Möglichkeit mehr besaß, die Stadt zu verlassen, beunruhigte ihn. Aber darüber konnte er sich später den Kopf zerbrechen. Wenn er seine Nachforschungen abgeschlossen hatte, würde er dies und auch all die anderen Geheimnisse von Comarre ergründet haben. Und das war eigentlich nicht besonders überspannt gedacht. Zwischen Peyton und den Erbauern der Stadt lagen fünf Jahrhunderte der Forschung. Obwohl er viel finden konnte, das ihm neu war, würde es nichts geben, das er nicht begreifen konnte. Er wählte also willkürlich einen der Durchgänge aus und begann mit der Erforschung der Stadt. Die Maschinen beobachteten, ließen sich Zeit. Sie waren erbaut worden, um einen Zweck zu erfüllen, und diesen einen
Zweck erfüllten sie immer noch. Vor langer Zeit hatten sie dem müden Geist ihrer Erbauer den Frieden des Vergessens gebracht, und dieses Vergessen konnten sie immer noch allen gewähren, die die Stadt Comarre betraten. Die Instrumente hatten mit der Analyse begonnen, als Peyton hereingekommen war. Es war keine Aufgabe, die man schnell erfüllen konnte, dieses Zerlegen eines menschlichen Geistes mit all seinen Hoffnungen, Wünschen und Ängsten. Die Synthesegeräte würden erst in einigen Stunden ihre Arbeit aufnehmen. Bis dahin würde man den Gast unterhalten, während die wirklich großzügigen Gaben der Gastfreundschaft vorbereitet wurden. Der Besucher machte es dem kleinen Roboter ziemlich schwer, ihn zu finden, denn Peyton eilte von Raum zu Raum. Schließlich kam der Roboter in einem kleinen, kreisförmigen Raum zum Stehen. In diesem Raum gab es zahllose Magnetschalter, und er war von einer einzigen Leuchtröhre erhellt. Seine Instrumente zeigten an, daß Peyton nur ein oder zwei Meter entfernt sein mußte, aber die vier Augenlinsen konnten ihn nicht entdecken. Verblüfft stand der Roboter reglos und stumm da. Nur das leise Summen seiner Motoren und das gelegentliche Klicken eines Relais waren zu hören. Peyton stand auf einem Laufsteg, drei Meter über dem Boden, und beobachtete den Roboter interessiert. Er sah einen glänzenden Metallzylinder, der auf einer Bodenplatte stand, die kleine Laufräder besaß. Es gab keinerlei Glieder: der Zylinder war glatt, abgesehen von den im Kreise angeordneten Augenlinsen und einigen kleinen Sprechgittern. Es machte Spaß, die offensichtliche Ratlosigkeit der Maschine zu beobachten, deren elektronisches Hirn mit zwei einander widersprechenden Daten fertigwerden mußte. Obgleich die Maschine wußte, daß Peyton im Raum war,
sagten ihr die Augen, daß der Raum leer war. Der Roboter begann sich im Kreis zu drehen, bis Peyton schließlich Mitleid mit ihm hatte und von dem Steg heruntersprang. Im gleichen Augenblick stellte die Maschine ihre Kreisfahrt ein und entbot den Willkommensgruß. »Ich bin A-Fünf. Ich bringe Sie, wohin Sie wollen. Bitte geben Sie Ihre Anweisungen in der Standardsprache für Roboter.« Peyton war einigermaßen enttäuscht. Es war ein ganz gewöhnlicher Roboter, und er hatte in der Stadt, die Thordarsen gebaut hatte, etwas besseres erwartet. Aber die Maschine konnte sehr nützlich sein, wenn er sich ihrer richtig bediente. »Danke«, sagte er unnötigerweise. »Bitte bring mich in die Wohnbezirke.« Obwohl Peyton jetzt davon überzeugt war, daß die Stadt völlig automatisch funktionierte, bestand immer noch die Möglichkeit, daß sie menschliches Leben enthielt. Es mochte andere hier geben, die ihm bei seiner Suche helfen konnten, obwohl schon das Ausbleiben jeglicher Behinderungen seiner Suche die kühnsten seiner Hoffnungen übertraf. Wortlos machte die kleine Maschine auf ihren Laufrädern kehrt und rollte aus dem Raum. Der Korridor, durch den sie Peyton führte, endete an einer herrlich geschnitzten Tür, die er vorhin schon vergeblich zu öffnen versucht hatte. Offenbar kannte A-Fünf das Geheimnis, denn als sie sich näherten, wich die dicke Metallplatte leise zur Seite. Der Roboter rollte in eine kleine kastenartige Kammer. Peyton fragte sich, ob sie vielleicht wieder einen Materietransmitter betreten hatten, stellte aber schnell fest, daß es sich um einen ganz gewöhnlichen Aufzug handelte. Nach der Fahrzeit zu schließen, mußten sie jetzt beinahe die Spitze
der Stadt erreicht haben. Als die Tür aufglitt, glaubte Peyton in einer anderen Welt zu sein. Die Korridore, in denen er sich zuerst befunden hatte, waren eintönig und schmucklos, rein zweckbestimmt gewesen. Im Gegensatz dazu waren diese geräumigen Hallen und Versammlungsräume hier oben mit verschwenderischem Luxus eingerichtet. Das sechsundzwanzigste Jahrhundert war eine Zeit der auffallenden Farben und des üppigen Schmucks gewesen, und spätere Epochen lächelten darüber. Aber die Dekadenten waren noch über ihre eigene Zeit hinausgewachsen. Als sie Comarre bauten, hatten sie nicht nur alle Möglichkeiten der Kunst, sondern auch die der Psychologie eingesetzt. Man hätte ein Leben verbringen können, die unzähligen Wandgemälde, Schnitzereien, Bilder und Teppiche zu bewundern, die immer noch so neu und strahlend wirkten wie damals, als man sie geschaffen hatte. Es schien gleichsam unnatürlich, daß ein so prachtvoller Ort von der Welt verlassen und im Verborgenen bleiben sollte. Peyton vergaß beinahe seinen wissenschaftlichen Eifer und ging gebannt von einem Wunderwerk zum nächsten. Hier gab es geniale Werke, vielleicht bedeutender als alles, was die Welt bisher gekannt hatte. Aber es war ein krankes, verzweifeltes Genie, das den Glauben an sich selbst verloren hatte, dabei aber sein ungeheures technisches Können bewahrt hatte. Zum erstenmal begriff Peyton wirklich, warum man den Erbauern von Comarre ihren Namen gegeben hatte. Die Kunst der Dekadenten stieß ihn gleichzeitig ab und faszinierte ihn. Sie war nicht im moralischen Sinne schlecht, denn sie hatte sich völlig von allen bekannten Moralbegriffen gelöst. Vielleicht war ihre ausgeprägteste Eigenschaft die der Resignation und der Aufgabe jeglicher Illusionen. Nach einer Weile begann Peyton, der bisher nicht geglaubt hatte, ein
besonderes Gefühl für darstellende Kunst zu haben, eine Art von Niedergeschlagenheit zu empfinden, und doch brachte er es nicht fertig, sich abzuwenden. Schließlich fragte er den Roboter: »Leben hier Menschen?« »Ja.« »Wo sind sie?« »Sie schlafen.« Irgendwie schien diese Antwort völlig natürlich. Peyton war sehr müde. In der letzten Stunde hatte es ihn einige Mühe gekostet, wachzubleiben. Irgend etwas schien den Schlaf zu erzwingen, ihn zum Schlafen drängen zu wollen. Morgen würde Zeit genug sein, die Geheimnisse zu ergründen, deretwegen er hierhergekommen war. Im Augenblick wünschte er sich nichts so sehr wie den Schlaf. So folgte er dem Roboter beinahe automatisch, als er ihn aus den geräumigen Hallen in einen langen Korridor führte, den Metalltüren säumten, von denen jede ein vertrautes Symbol trug, dessen Bedeutung Peyton aber noch nicht ganz begriff. Sein schläfriger Geist beschäftigte sich noch mit diesem Problem, als die Maschine vor einer der Türen stehenblieb, die geräuschlos aufglitt. Die Anziehungskraft der mit flauschigen Decken und schwellenden Polstern bedeckten Couch in dem abgedunkelten Raum war unwiderstehlich. Peyton taumelte darauf zu. Und als er in den Schlaf sank, erwärmte ihn wohlige Befriedigung. Er hatte das Symbol auf der Tür erkannt, obwohl sein Geist zu müde war, seine Bedeutung zu begreifen. Es war die Kapsel der Mohnpflanze. Die Funktion der Stadt war nicht böse, nicht arglistig. Unpersönlich erfüllte sie die Aufgaben, die man ihr übertragen hatte. Alle, die Comarre betreten hatten, hatten bereitwillig die Gaben der Stadt angenommen. Dieser Besucher war der erste, der sie zurückwies.
Die Integratoren waren seit Stunden eingeschaltet, aber der ruhelose, suchende Geist war ihnen entglitten. Sie konnten es sich leisten zu warten, so wie sie die letzten fünfhundert Jahre gewartet hatten… Und jetzt brach der Widerstand dieses ungewohnt hartnäckigen Geistes zusammen, als Richard Peyton schlief. Tief unten, im Herzen von Comarre, wurde ein Schaltkreis geschlossen, und komplizierte, langsam schwingende Ströme begannen zu fließen. Das Bewußtsein, das Richard Peyton III gewesen war, hörte auf zu existieren. Peyton war sofort eingeschlafen. Eine Weile hüllte ihn völliges Vergessen ein. Und dann kehrten langsam Spuren seines Bewußtseins zurück. Und er begann, wie das immer der Fall war, zu träumen. Es war eigenartig, daß er seinen Lieblingstraum träumte, und er war klarer und ausgeprägter als je zuvor. Sein ganzes Leben lang hatte Peyton das Meer geliebt, und einmal hatte er die unglaubliche Schönheit der Pazifischen Inseln vom Beobachtungsdeck eines tieffliegenden Flugzeuges aus gesehen. Er hatte die Inseln nie besucht, aber sich oft gewünscht, sein Leben auf einer fernen friedlichen Insel verbringen zu dürfen, ohne Gedanken an die Zukunft oder die Welt verschwenden zu müssen. Es war ein Traum, den beinahe alle Menschen an irgendeinem Punkt ihres Lebens einmal geträumt hatten. Peyton war intelligent genug, um zu wissen, daß nach zwei Monaten in dieser Abgeschiedenheit ihn die Langeweile wieder in die Zivilisation zurückgetrieben hätten. Aber seine Träume wurden nie von solchen Überlegungen gestört. Und jetzt lag er wieder unter Palmen, und im Hintergrund schlug die Brandung gegen ein Riff jenseits der Lagune, die wie ein azurblauer Spiegel unter der Sonne lag.
Der Traum war ungewöhnlich lebhaft, so intensiv, daß Peyton selbst im Schlaf sich bei dem Gedanken ertappte, daß ein Traum einfach nicht so echt sein durfte. Und dann hörte der Traum auf, so unvermittelt, daß er den Abbruch beinahe körperlich schmerzhaft empfand. Und dabei wachte er auf. Bitter enttäuscht lag Peyton eine Weile mit geschlossenen Augen da und versuchte, das verlorene Paradies zurückzuholen. Aber es hatte keinen Sinn. Etwas pochte gegen sein Gehirn, verweigerte ihm den Schlaf, und seine Couch war plötzlich sehr hart und unbequem. Widerstrebend wandte er sich der Wirklichkeit zu. Peyton war immer Realist gewesen, und philosophische Zweifel hatten ihn nie geplagt. Deshalb war der Schock weit größer, als er vielleicht für einen weniger intelligenten Geist gewesen wäre. Nie zuvor hatte er sich dabei ertappt, an seinem eigenen Verstand zu zweifeln. Jetzt aber erfüllten ihn genau diese Zweifel. Denn das Geräusch, das ihn geweckt hatte, war das Tosen der Brandung unter dem Riff. Er lag auf dem goldenen Sand neben der Lagune. Über ihm bewegte der Wind die Palmwedel, und seine warmen Finger liebkosten seinen Körper. Einen Augenblick konnte Peyton sich nur vorstellen, daß er noch träumte. Aber diesmal gab es keine Zweifel. Für einen gesunden Menschen gibt es einen deutlichen Unterschied zwischen Traum und Wirklichkeit. Das hier war Wirklichkeit, so wirklich wie irgend etwas im Universum wirklich sein konnte. Sein Staunen ließ nach. Er stand auf, und der feine Sand fiel in einem goldenen Regen von seinem Körper ab. Er hielt sich die Hand vor die Augen, um nicht von der Sonne geblendet zu werden, und starrte den Strand entlang. Er hielt sich gar nicht lange mit dem Gedanken auf, warum ihm seine Umgebung so vertraut schien. Es schien ganz
natürlich, daß das Dorf ein kleines Stück weiter unten an der Bucht lag. In kurzer Zeit würde er wieder bei seinen Freunden sein, von denen er eine Weile getrennt gewesen war, in einer Welt, die er bereits halb vergessen hatte. Da war eine verblassende Erinnerung an einen jungen Ingenieur – selbst der Name war ihm entfallen – der einmal Ruhm und Weisheit hatte erringen wollen. In jenem anderen Leben hatte er diese närrische Person gut gekannt. Er schlenderte am Strand entlang, und die letzten vagen Erinnerungen seines Schattenlebens entglitten ihm mit jedem Schritt weiter, genauso wie die Einzelheiten eines Traumes beim Licht des Tages verblassen.
Auf der anderen Seite der Erdkugel warteten drei sehr besorgte Wissenschaftler in einem Labor, Ihre Blicke hingen wie gebannt an einem ungewöhnlichen Gerät. Der Empfänger war seit neun Stunden stumm. Niemand hatte in den ersten acht Stunden eine Nachricht erwartet, aber das vereinbarte Signal war jetzt bereits seit mehr als einer Stunde überfällig. Allan Henson sprang ungeduldig auf. »Wir müssen etwas unternehmen! Ich werde ihn anrufen.« Die beiden anderen Wissenschaftler sahen einander nervös an. »Man könnte den Anruf orten!« »Nur wenn man uns überwacht. Und selbst dann – ich würde nichts Ungewöhnliches durchgeben. Peyton wird mich schon verstehen, sofern er uns überhaupt empfangen kann…« Wenn Richard Peyton je einen Begriff von der Zeit gehabt hatte, so war dieses Wissen jetzt vergessen. Nur die Gegenwart existierte, denn Vergangenheit und Zukunft lagen hinter einer undurchdringlichen Mauer, so wie eine Landschaft hinter einer Regenwand den Blicken entzogen sein kann.
Peyton war es ganz zufrieden, die Gegenwart zu genießen. Nichts war von dem ruhelosen, treibenden Geist übriggeblieben, der einst ausgezogen war, um, zunächst ein wenig unsicher, sich neue Gebiete des Wissens zu erschließen. Er brauchte jetzt kein Wissen mehr. Später konnte er sich an nichts erinnern, was auf der Insel vorgefallen war. Er hatte viele Freunde gehabt, aber die Erinnerung an ihre Namen und Gesichter war verblaßt. Liebe, Frieden des Geistes, Glück – alles hatte eine kurze Weile ihm gehört. Und doch konnte er sich nur an die letzten wenigen Augenblicke seines Lebens im Paradies erinnern. Seltsam, daß es geendet haben sollte, so wie es begonnen hatte. Wieder lag er an der Lagune. Aber diesmal war es Nacht, und er war nicht allein. Der Mond, der immer voll zu sein schien, hing tief über dem Ozean, und sein langes silbernes Band erstreckte sich bis zum Rand der Welt. Die Sterne, die nie ihren Stand veränderten, funkelten wie strahlende Juwelen am Himmel, viel leuchtender als die vergessenen Sterne am Himmel der Erde. Aber Peytons Gedanken galten jetzt anderer Schönheit, und wieder beugte er sich über die Gestalt, die im Sand lag, und deren langes Haar so golden war wie der Sand. Dann erbebte das Paradies und löste sich rings um ihn auf. Er stieß einen Schrei aus, als alles, das er liebte, ihm weggerissen wurde. Nur der schnelle Übergang bewahrte ihm seine Vernunft. Und als es vorbei war, fühlte er so, wie Adam gefühlt haben mußte, als die Tore des Paradieses hinter ihm für immer zuschlugen. Aber das Geräusch, das ihn zurückgerissen hatte, war das selbstverständlichste Geräusch auf der ganzen Welt. Vielleicht hätte kein anderes Geräusch seinen Geist in diesem Versteck erreichen können. Es war nur das Schrillen seines
Armbandtelefons, das neben der Couch auf dem Boden lag, in dem abgedunkelten Raum in der Stadt Comarre. Das Schrillen erstarb, als er automatisch auf den Empfangsknopf drückte. Er mußte irgendeine Antwort gegeben haben, die den unbekannten Anrufer befriedigte – wer war denn eigentlich dieser Allan Henson? – denn danach blieb das Gerät stumm. Immer noch benommen saß Peyton auf der Couch, hielt den Kopf zwischen den Händen und versuchte sich neu zu orientieren. Er hatte nicht geträumt; dessen war er sicher. Vielmehr war es so, als hätte er ein zweites Leben gelebt und kehrte jetzt in seine alte Existenz zurück, so wie ein Mensch, der aus der Amnesie erwachte. Und obwohl er immer noch benommen war, wurde ihm eines klar: ex durfte nie wieder in Comarre einschlafen! Langsam kehrten der Wille und das Eigenwesen Richard Peytons aus ihrer Verbannung zurück. Unsicher erhob er sich und verließ den Raum. Wieder befand er sich in dem langen Korridor mit seinen Hunderten gleichen Türen. Mit neuem Begreifen sah er das Symbol auf den Türen an. Er bemerkte kaum, wohin er ging. Sein Geist war zu starr auf das Problem, das vor ihm lag, fixiert. Und beim Gehen wurde sein Geist klarer, und langsam kam das Begreifen. Im Augenblick war es nur eine Theorie, aber er würde sie bald intensiver erforschen. Der menschliche Geist war ein zartes Ding, das keine direkte Verbindung mit der Welt hatte und sein Wissen und all seine Erfahrungen durch die Sinne des Körpers sammelte. Und es war möglich, Gedanken und Emotionen aufzuzeichnen und aufzubewahren, so wie die Menschen früher Geräusche auf Tonband aufgezeichnet hatten. Wurden jene Gedanken in einen anderen Geist hineinprojiziert, wenn der Körper besinnungslos war und all
seine Sinne abgestumpft, so würde das Gehirn dieses Körpers glauben, die Wirklichkeit zu erleben. Es gab keine Möglichkeit, die Täuschung aufzudecken, ebensowenig wie man die Wiedergabe einer perfekt aufgezeichneten Symphonie nicht von der ursprünglichen Aufführung unterscheiden kann. All das war seit Jahrhunderten bekannt gewesen, aber die Erbauer von Comarre hatten dieses Wissen angewandt wie kein anderer auf der ganzen Welt je zuvor. Irgendwo in der Stadt mußte es Maschinen geben, die jeden Gedanken und jeden Wunsch jener, die die Stadt betraten, analysieren konnten. Und an anderer Stelle mußten die Schöpfer der Stadt jedes Gefühl und jede Empfindung gespeichert haben, die ein menschlicher Geist je erfahren konnte. Und aus diesem Rohmaterial ließen sich alle möglichen zukünftigen Situationen eines Menschen konstruieren. Jetzt begriff Peyton, welches Maß an Genialität nötig gewesen war, um Comarre zu bauen. Die Maschinen hatten seine innersten Gedanken analysiert und eine Welt für ihn geschaffen, die auf seinen unbewußten Wünschen aufbaute. Und als sich dann die Gelegenheit geboten hatte, hatten sie die Kontrolle über seinen Geist ergriffen und ihm alles das, was er sich gewünscht hatte, eingeflößt. Kein Wunder, daß er in diesem schon halbvergessenen Paradies alles das gesehen hatte, was er sich je erträumt hatte. Und kein Wunder, daß im Laufe der Jahrhunderte so viele den Frieden gesucht hatten, den nur Comarre bieten konnte!
Der Ingenieur Peyton hatte sich den neuen Gegebenheiten angepaßt, als er hinter sich das Geräusch von Rädern vernahm und sich umsah. Der kleine Roboter, der ihn geführt hatte, kehrte zurück.
Zweifellos fragten sich die großen Maschinen, die den Roboter lenkten, was aus seinem Schützling geworden war. Peyton wartete, und langsam nahm ein Gedanke in ihm Gestalt an. A-Fünf begann wieder ganz von vorn mit seiner programmierten Rede. Peyton wunderte sich darüber, eine so einfache Maschine in dieser Stadt zu finden, wo die Automation den Höchststand ihrer Entwicklung erreicht hatte. Und dann überlegte er, daß der Roboter vielleicht absichtlich so unkompliziert war. Es hatte wenig Sinn, eine komplexe Maschine zu benutzen, wo eine einfache den gleichen Zweck – vielleicht sogar besser – erfüllte. Peyton achtete nicht auf die ihm schon vertraute Rede. Er wußte, daß alle Roboter menschlichen Befehlen gehorchen mußten, sofern nicht andere Menschen ihnen vorher gegenteilige Anweisungen eingegeben hatten. Selbst die Projektoren der Stadt hatten den unbekannten und unausgesprochenen Befehlen seines eigenen Unterbewußtseins gehorcht. »Führ mich zu den Gedankenprojektoren«, befahl er. Wie nicht anders erwartet, rührte der Roboter sich nicht von der Stelle. Er antwortete lediglich: »Ich verstehe nicht.« Peyton atmete auf. Er wußte, daß er wieder Herr der Lage war. »Komm her und rühr dich nicht mehr, bis ich es dir befehle.« Die Selektoren und Relais des Roboters überdachten den Befehl. Sie konnten keine gegenteilige Anweisung finden. Langsam rollte die kleine Maschine auf ihren Rädern weiter. Sie hatte sich festgelegt – jetzt gab es kein Zurück mehr. Sie konnte sich nicht wieder bewegen, bis Peyton sie dazu aufforderte oder bis etwas seine Befehle löschte. Robothypnose war ein uralter Trick. Schnell holte Peyton die Werkzeuge, die Ingenieure stets bei sich tragen, aus seinen Taschen: den
Universalschraubenschlüssel, den verstellbaren Schraubenzieher, den automatischen Bohrer und – das Wichtigste von allem – der Atomschneider, der sich binnen Sekunden durch das, dickste Metall fressen konnte. Und dann machte er sich mit Geschick an der nichtsahnenden Maschine ans Werk. Zum Glück war der Roboter servicefreundlich konstruiert, und so machte es nur wenig Mühe, ihn zu öffnen. Die Steuerungsorgane waren typisiert, und Peyton brauchte nicht lange, um den Bewegungsmechanismus zu finden. Ganz gleich, was jetzt geschah – die Maschine konnte nicht mehr fliehen. Sie war ein Krüppel. Als nächstes unterbrach er die Sehkontakte und spürte die elektronischen Sinne einen nach dem anderen auf und legte auch sie lahm. Bald war der kleine Roboter nur noch ein Zylinder voll Schrott. Peyton kam sich vor wie ein kleiner Junge, der sich eine wehrlose Standuhr vorgenommen und demoliert hatte. Grinsend setzte er sich hin und wartete auf das, was geschehen mußte. Es war ziemlich unfreundlich von ihm, den Roboter so weit von den Hauptverkehrsadern der Stadt entfernt zu zerlegen. Der RobotTransporter brauchte beinahe fünfzehn Minuten, um sich aus den Tiefen der Stadt zu ihm hinaufzuarbeiten. Peyton hörte das Rollen der Räder in der Ferne und wußte, daß seine Berechnungen richtig gewesen waren. Der Abschleppwagen war unterwegs. Der Transporter war eine ganz gewöhnliche Beförderungsmaschine mit einem Satz Greifern, die einen beschädigten Roboter festhalten und tragen konnten. Er schien blind zu sein und nur für seine Spezialaufgabe konstruiert. Peyton wartete, bis der Transporter den bewegungsunfähigen A-Fünf verladen hatte. Dann sprang er auf die Maschine, wobei er aufpaßte, außerhalb der Reichweite der mechanischen Greifer zu bleiben. Er legte keinen besonderen Wert darauf, von der Maschine als defekter Roboter betrachtet zu werden.
Zum Glück schien der Transporter überhaupt keine Notiz von ihm zu nehmen. Peyton fuhr Stockwerk um Stockwerk durch das große Gebäude in die Tiefe, an den Wohnquartieren vorbei, durch den Raum, den er als ersten betreten hatte, und noch tiefer, hinunter in Regionen, die er nie zuvor gesehen hatte. Und je weiter er kam, desto mehr veränderte sich der Charakter der Stadt. Hier war nichts mehr von dem Luxus und dem üppigen Schmuck der oberen Stockwerke zu sehen. Hier gab es nur ein Niemandsland öder Passagen, die eigentlich wie mächtige Kabelschächte wirkten. Und dann hörten auch diese auf. Sie fuhren durch ein mächtiges Schiebetor – und hatten ihr Ziel erreicht. Die Reihen Geräte und Armaturen schienen endlos, aber obwohl Peyton stark versucht war, von dem Transporter zu springen, wartete er, bis der Block der zentralen Steuerschaltung auftauchte. Dann kletterte er herunter und sah zu, wie der Transporter in der Ferne verschwand. Er fragte sich, wie lange die Superautomaten wohl brauchen würden, um A-Fünf zu reparieren. Seine Demontage war sehr gründlich gewesen, und er rechnete eigentlich damit, daß der kleine Roboter auf den Schrotthaufen wandern würde. Und dann machte er sich daran, die technischen Wunder der Stadt zu untersuchen und kam sich dabei wie ein Verhungernder vor, der plötzlich vor einem kalten Büfett steht. In den nächsten fünf Stunden unterbrach er seine Suche nur einmal, um seinen Freunden das Routinesignal durchzugeben. Er wünschte, er könnte ihnen von seinem Erfolg berichten, aber das Risiko war zu groß. Nach endlosem Suchen hatte er endlich die Funktion der Hauptschaltung entdeckt und begann jetzt, die anderen Geräte zu untersuchen. Es war genauso, wie er es erwartet hatte. Die Gedankenanalysatoren und die
Projektoren lagen im Stockwerk über ihm und wurden von dieser Schaltzentrale aus gesteuert. Er hatte keine Ahnung, wie sie funktionierten; es würde Monate dauern, um alle ihre Geheimnisse zu enthüllen. Aber er hatte sie gefunden und identifiziert und glaubte sie, wenn nötig, abschalten zu können. Kurz darauf entdeckte er den Gedankenmonitor. Es war eine kleine Anlage, die entfernt an eine antike Telefonzentrale erinnerte, aber sehr viel komplizierter war. Der Sitz des Operateurs war ein eigenartiges Gebilde, das zum Boden isoliert und von einem Netz von Drähten und Anschlüssen umgeben war. Es war die erste Maschine, die er in der Stadt entdeckte, die offenbar für den Gebrauch durch Menschen bestimmt war. Vermutlich hatten die Ingenieure sie in den Anfangstagen der Stadt gebaut, um damit die anderen Geräte zu justieren. Peyton hätte es nicht riskiert, den Gedankenmonitor zu benutzen, hätte er nicht auf dem Schaltbrett detaillierte Anweisungen vorgefunden. Nach einigen Experimenten schaltete er sich in einen der Stromkreise ein und steigerte die Energie langsam, wobei er sorgfältig darauf bedacht war, den Indikator des Intensitätsanzeigers unter der Gefahrenmarke zu halten. Das war ein Glück, denn seine Empfindungen waren erdrückend. Er behielt seine Persönlichkeit, aber seine eigenen Gedanken wurden von Ideen und Bildern überlagert, die ihm völlig fremd waren. Er erblickte eine andere Welt durch die Augen eines fremden Geistes. Es war gerade, als befände sich sein Körper gleichzeitig an zwei Orten, wenn auch die Empfindungen seiner zweiten Persönlichkeit wesentlich weniger ausgeprägt waren als die des echten Richard Peyton III. Jetzt begriff er die Bedeutung der Gefahrenmarke. Wenn man die Intensität zu hoch einstellte, mußte das zweifellos zum Wahnsinn führen.
Peyton schaltete das Instrument ab, um klar denken zu können. Jetzt begriff er, was der Roboter gemeint hatte, als er sagte, die anderen Bewohner der Stadt schliefen. Es gab Menschen in Comarre, die im Trancezustand unter dem Einfluß der Gedankenprojektoren ruhten. Er erinnerte sich an den langen Korridor und die zahllosen Metalltüren. Auf dem Weg hierher hatte er viele solche Gänge passiert, und erkannte jetzt, daß der größte Teil der Stadt gleichsam eine riesige Bienenwabe war, in deren Kammern Tausende von Menschen ihr Leben im Traum verbringen konnten. Er überprüfte einen Stromkreis nach dem anderen. Die meisten Stromkreise waren tot, aber etwa fünfzig funktionierten noch, und jeder einzelne trug all die Gedanken, Wünsche und Empfindungen des menschlichen Geistes. Jetzt, da er bei vollem Bewußtsein war, begriff Peyton, wie man ihn hereingelegt hatte, aber dieses Wissen brachte ihm nur schwachen Trost. Er konnte die Fehler in diesen synthetischen Welten sehen, konnte beobachten, wie die kritischen Eigenschaften des Geistes abgestumpft wurden, während ein endloser Strom einfacher, aber plastischer Empfindungen in sie hineingegossen wurden. Ja, alles schien jetzt sehr einfach, aber das änderte nichts an der Tatsache, daß diese künstliche Welt auf ihren Betrachter völlig real wirkte – so real, daß der Schmerz, den er empfunden hatte, als er aus dieser Welt herausgerissen wurde, immer noch in seinem Empfinden brannte. Beinahe eine Stunde lang erforschte Peyton die Traumwelten der fünfzig Schläfer. Es war eine faszinierende, wenn auch widerliche Suche. In dieser Stunde erfuhr er mehr über das menschliche Gehirn und seine verborgenen Wege, als er je für möglich gehalten hätte. Und als er fertig war, saß er lange Zeit ganz still an den Schaltern der Maschine und versuchte, sein
neu errungenes Wissen zu ergründen. Seine Weisheit war um viele Jahre gereift, und seine Jugend schien plötzlich in endloser Ferne zu liegen. Zum erstenmal wußte er ohne den Schatten eines Zweifels, daß die perversen und bösen Wünsche, die ihn manchmal plagten, von allen Menschen geteilt wurden. Die Erbauer von Comarre hatten keinen Unterschied zwischen Gut und Böse gemacht – und die Maschinen waren ihre getreuen Diener gewesen. Es war befriedigend zu wissen, daß seine Theorien richtig gewesen waren. Peyton begriff jetzt, wie knapp er entkommen war. Sollte er innerhalb dieser Wände noch einmal einschlafen, würde er vielleicht nie wieder erwachen. Der Zufall hatte ihn einmal gerettet, ein zweites Mal durfte er sich darauf nicht verlassen. Die Gedankenprojektoren mußten funktionsunfähig gemacht werden und zwar so gründlich, daß die Roboter sie nie wieder reparieren konnten. Zwar waren die Roboter in der Lage, normale Abnutzungsdefekte zu beheben, aber mit bewußter Sabotage in dem Umfang, wie Peyton sie plante, waren sie überfordert. Sobald er fertig war, würde Comarre aufhören, die Welt zu bedrohen. Die Stadt würde nie wieder menschlichen Geist in eine Falle locken. Zuerst aber würde er die Schläfer suchen und aufwecken müssen. Das mochte einige Zeit in Anspruch nehmen, aber zum Glück waren die Service-Etagen mit den erforderlichen Geräten ausgestattet. Mit den Anlagen, die er hier vorfand, konnte er alles in der Stadt sehen und hören, einfach indem er die Trägerstrahlen auf die gewünschte Stelle lenkte. Wenn nötig konnte er sogar seine Stimme projizieren, aber nicht sein Bild. Diese Erfindung war erst nach dem Bau Comarres der Öffentlichkeit zugänglich gemacht worden. Er brauchte eine Weile, um die Steuerung zu begreifen, und der Strahl wanderte zuerst ziemlich unkontrolliert durch die
ganze Stadt. Viele überraschende Orte sah er dabei, und einmal erblickte er sogar den Wald – wenn auch auf dem Kopf stehend. Er fragte sich, ob Leo noch draußen war, und fand den Eingang mit einiger Mühe. Ja, da war die Lichtung. Genauso, wie er sie am Tag zuvor verlassen hatte. Und ein paar Meter vom Eingang entfernt lag Leo mit dem Kopf zur Stadt. Er fragte sich, ob er den Löwen ins Innere Comarres befördern konnte. Die moralische Unterstützung, die er aus der Anwesenheit des Tieres ziehen konnte, würde sehr wertvoll sein, denn nach den Erlebnissen der Nacht begann er, sich nach einem Gefährten zu sehnen. Methodisch suchte er die Außenwand ab und entdeckte zu seiner großen Erleichterung einige bisher verborgengebliebene Eingänge in Bodenhöhe. Er hatte sich bereits darüber Gedanken gemacht, wie er die Stadt wieder verlassen sollte. Die Öffnungen waren alle geschlossen. Dann begann er einen Roboter zu suchen. Nach einer Weile entdeckte er einen aus der Serie des demolierten A-Fünf, der mit irgendeinem geheimnisvollen Auftrag betraut durch einen Korridor rollte. Zu seiner Erleichterung gehorchte die Maschine seinem Befehl ohne Fragen zu stellen und öffnete die Tür. Peyton schickte seinen Strahl wieder durch die Wände und richtete ihn auf eine Stelle dicht neben Leo. Dann rief er leise: »Leo!« Der Löwe blickte auf. »Hallo Leo – ich bin’s – Peyton!« Verblüfft stand der Löwe auf und lief im Kreis herum. Dann gab er auf und hockte sich wieder hin. Mit einiger Überredungskunst gelang es Peyton, Leo zu dem geöffneten Eingang zu locken. Der Löwe erkannte seine Stimme und schien durchaus bereit, ihm zu folgen, aber das Tier war verstört und nervös. An der Öffnung zögerte es.
Weder Comarre noch der schweigend wartende Roboter schienen ihm sonderlich zu gefallen. Sehr geduldig redete Peyton auf den Löwen ein, er solle dem Roboter folgen. Er wiederholte das, was er sagte, immer wieder, bis er sicher war, daß der Löwe begriffen hatte. Dann gab er der Maschine den Befehl, den Löwen in die Steuerzentrale zu führen. Er wartete noch einen Augenblick, um sicherzugehen, daß Leo auch gehorchte. Dann ließ er das seltsame Paar allein. Es war ziemlich enttäuschend festzustellen, daß er in keinen der verschlossenen Räume mit den Türen mit dem Mohnzeichen sehen konnte. Entweder waren sie abgeschirmt, oder die Frequenz seines Strahles war so eingestellt, daß man in diese Räume eben nicht hineinsehen konnte. Aber Peyton ließ sich dadurch nicht entmutigen. Die Schläfer würden auf brutale Weise aufwachen müssen, so wie er auch. Nachdem er ihre privaten Welten gesehen hatte, empfand er wenig Sympathie für sie, und nur sein Pflichtgefühl zwang ihn, sie zu wecken. Eine schreckliche Vorstellung erfaßte ihn plötzlich. Waren seine eigenen verborgenen Gedanken vielleicht ebenso widerwärtig gewesen wie die der anderen Träumer? Es war eine unbequeme Vorstellung, und er schob sie von sich als er sich erneut an die Zentral-Steuerung setzte. Zuerst würde er die Stromkreise unterbrechen und dann die Projektoren unbenutzbar machen. Der Fluch, den Comarre über so viele Menschen geworfen hatte, würde für alle Zeit unwirksam werden. Peyton griff nach vorne, um den Hauptschalter umzulegen, aber er konnte die Bewegung nicht zu Ende führen. Sanft, aber sehr entschieden umfaßten vier stählerne Arme seinen Körper von hinten. Wild um sich schlagend, wurde er in die Luft
gehoben, vom Schaltbrett weggetragen und mitten im Raum wieder abgesetzt. Die stählernen Arme ließen ihn los. Mehr verärgert als besorgt wirbelte Peyton herum, um den Angreifer anzusehen. Und der komplizierteste Roboter, den er je gesehen hatte, musterte ihn ruhig aus einigen Metern Entfernung. Er war beinahe zwei Meter hoch, und der Körper ruhte auf einem Dutzend dicker Ballonreifen. Aus verschiedenen Teilen des Metallrahmens ragten Gliederarme, Stäbe und andere, schwerer zu beschreibende Werkzeuge nach allen Richtungen heraus. An zwei Stellen waren Gliedergruppen an der Arbeit und zerlegten oder reparierten Maschinenteile, die Peyton schuldbewußt wiedererkannte. Stumm versuchte Peyton seinen Widersacher abzuschätzen. Es war ganz offensichtlich ein Roboter der höchsten Kategorie. Und er hatte physische Gewalt gegen ihn angewandt – aber kein Roboter durfte von sich aus in der Lage sein, einem Menschen gegenüber Gewalt anzuwenden. Er durfte lediglich ablehnen, bestimmten Befehlen zu gehorchen. Nur unter direkter Einwirkung eines menschlichen Geistes würde ein Roboter eine solche Tat vollbringen. Also gab es hier Leben, bewußtes und ihm feindlich gesinntes Leben, das sich irgendwo in der Stadt versteckt hatte. »Wer bist du?« rief Peyton nach einer Weile und wandte sich damit nicht an den Roboter, sondern an den, der die Maschine steuerte. Ohne erkennbare Verzögerung antwortete die Maschine mit präziser, automatischer Stimme, einer Stimme, die keineswegs nur die verstärkte Stimme eines menschlichen Wesens zu sein schien. »Ich bin der Ingenieur.« »Dann komm aus deinem Versteck und laß dich sehen.« »Du siehst mich.«
Es war der unmenschliche Ton der Stimme, ebenso wie die Worte selbst, die Peyton seine Wut vergessen ließen. An ihre Stelle trat ungläubiges Staunen. Es gab kein menschliches Wesen, das diese Maschine lenkte. Der Ingenieur war ein Automat wie die anderen Roboter in der Stadt – aber im Gegensatz zu ihnen und all den anderen Robotern, die die Welt je gekannt hatte, besaß diese Maschine einen Willen und eigenes Bewußtsein.
Alptraum Während Peyton mit großen Augen die Maschine anstarrte, spürte er, wie seine Kopfhaut zu jucken begann, nicht aus Angst, aber vor ungeahnter Erregung. Seine Suche war zu Ende. Vor langer Zeit waren die Maschinen mit beschränkter Intelligenz ausgestattet worden. Jetzt endlich hatten sie das große Ziel eigenen Bewußtseins erreicht. Das war das Geheimnis, das Thordarsen der Welt hatte geben wollen – das Geheimnis, das der Rat hatte unterdrücken wollen aus Angst vor den Konsequenzen, die es mit sich bringen mochte. Die leidenschaftslose Stimme sprach jetzt wieder: »Ich bin froh, daß du die Wahrheit erkennst. Das wird die Dinge leichter machen.« »Du kannst meine Gedanken lesen?« fragte Peyton. »Natürlich. Das ist von dem Augenblick an geschehen, da du die Stadt betratest.« »Ja, das habe ich mir gedacht«, sagte Peyton grimmig. »Und was hast du jetzt mit mir vor?« »Ich muß verhindern, daß du Comarre beschädigst.« Das war nicht unvernünftig, dachte Peyton. »Und wenn ich jetzt ginge? Würde dir das passen?«
»Ja. Das wäre gut.« Peyton mußte lachen, ob er wollte oder nicht. Trotz all seiner Menschenähnlichkeit war der Ingenieur doch noch ein Roboter. Er war unfähig zur Arglist, und das gab ihm, Peyton, vielleicht einen Vorteil. Irgendwie mußte er die Maschine dazu bringen, ihm ihre Geheimnisse zu offenbaren. Aber der Roboter las erneut seine Gedanken. »Das werde ich nicht zulassen. Du hast schon zu viel erfahren. Du mußt Comarre sofort verlassen. Wenn nötig werde ich Gewalt anwenden.« Peyton beschloß alles zu tun, um Zeit zu gewinnen. Zumindest konnte er versuchen, die Grenzen der Intelligenz dieser erstaunlichen Maschine zu entdecken. »Bevor ich gehe, sag mir eines: Warum nennt man dich den Ingenieur?« Der Roboter antwortete ohne Zögern. »Falls ernsthafte Schäden auftreten, die von den Robotern nicht behoben werden können, kümmere ich mich darum. Wenn nötig könnte ich Comarre neu erbauen. Normalerweise, wenn alles reibungslos funktioniert, ruhe ich.« Wie fremd doch die Idee des ›Ruhens‹ für den menschlichen Geist war, dachte Peyton. Und der Unterschied, den der Ingenieur zwischen sich und den Robotern gemacht hatte, amüsierte ihn. Und dann stellte er die logische Frage: »Und wenn an dir etwas defekt ist?« »Wir sind zu zweit. Der andere ruht jetzt. Jeder kann den anderen reparieren. Das war erst einmal nötig, vor dreihundert Jahren.« Ein fehlerloses System. Comarre war für die Ewigkeit erbaut worden. Die Erbauer der Stadt hatten diese ewigen Wächter aufgestellt, um über sie zu wachen, während sie ihren Träumen nachgingen. Kein Wunder, daß Comarre, lange nachdem seine
Schöpfer gestorben waren, immer noch seinen ungewöhnlichen Zweck erfüllte. Was für eine Tragödie war es doch, dachte Peyton, daß diese genialen Erfindungen vergeudet worden waren! Die Erkenntnisse, die die Existenz des Ingenieurs ermöglichten, konnten der Roboter-Technik eine revolutionäre Wendung bringen, konnten eine neue Technologie ins Leben rufen. Jetzt, da Maschinen mit Bewußtsein gebaut werden konnten – gab es da noch Grenzen? »Nein«, sagte der Ingenieur unerwartet. »Thordarsen hat mir gesagt, daß die Roboter eines Tages intelligenter als der Mensch sein würden.« Es war eigenartig, daß die Maschine den Namen ihres Schöpfers erwähnte. Das also war Thordarsens Traum! Peyton hatte die ganze Ungeheuerlichkeit dieses Traumes noch gar nicht erfaßt. Obwohl er zum Teil darauf vorbereitet gewesen war, konnte er die Folgen, die sich daraus ergaben, nicht hinnehmen. Schließlich lag zwischen dem Roboter und dem menschlichen Geist noch ein endloser Abgrund. »Aber nicht größer als der zwischen dem Menschen und dem Tier, über das er sich einst erhob, hat Thordarsen einmal gesagt. Du, Mensch, bist auch nicht mehr als ein sehr komplizierter Roboter. Ich bin einfacher gebaut, aber wirkungsvoller. Das ist alles.« Peyton dachte über diese Aussage nach. Wenn der Mensch wirklich nicht mehr als ein komplizierter Roboter war – eine Maschine, die aus lebenden Zellen bestand anstatt aus Drähten und Transistoren –, dann würden eines Tages noch kompliziertere Roboter gebaut werden. Und wenn jener Tag kam, würde die Vorherrschaft des Menschen zu Ende sein. Die Maschinen mochten immer noch seine Diener sein, aber sie würden intelligenter sein als ihre Meister.
In dem großen Saal der Steuerzentrale war es sehr ruhig. Der Ingenieur beobachtete Peyton aufmerksam, und seine Arme und Werkzeuge arbeiteten immer noch, um Teile des beschädigten Roboters A-Fünf zu reparieren. Peyton empfand so etwas wie Verzweiflung. Der Widerstand, auf den er gestoßen war, hatte ihn, was für ihn charakteristisch war, noch entschlossener gemacht. Irgendwie mußte er entdecken, wie der Ingenieur konstruiert war. Wenn ihm das nicht gelang, würde er sein ganzes Leben in dem Bemühen verschwenden, Thordarsens Erfindung zu wiederholen. Es war sinnlos. Der Roboter war ihm stets einen Schritt voraus. »Du kannst gegen mich nichts planen. Wenn du durch diese Tür zu fliehen versuchst, werde ich dir den Motor, den ich gerade repariere, auf die Füße werfen. Auf diese Entfernung treffe ich bis auf wenige Millimeter genau.« Vor den Gedankenanalysatoren gab es kein Versteck. Der Plan war in Peytons Gedanken erst halb entstanden, aber der Ingenieur kannte ihn bereits. Die Unterbrechung überraschte Peyton und den Ingenieur in gleicher Weise. Plötzlich flog etwas Braungoldenes durch die Luft, und fünfhundert Kilo geballter Energie prallten gegen den Roboter. Einen Augenblick fuchtelten die Tentakel wild durch die Luft. Und dann stürzte der Ingenieur mit einem Geräusch, das an die Explosion einer Bombe erinnerte, auf den Boden, und Leo kauerte vor der gefällten Maschine. Dieses glänzende Tier war ihm unheimlich. Seine Haut war härter als alles, was er je gespürt hatte, seit er vor vielen Jahren einmal mit einem Rhinozeros gekämpft hatte. Der Ingenieur hatte sich einige seiner Glieder verbogen, und die Tentakel waren zu schwach, um Schaden anzurichten. Wieder stellte Peyton fest, von welch unschätzbarem Wert sein
Werkzeugkasten war. Als er die Arbeit beendet hatte, war der Ingenieur bewegungsunfähig, obwohl Peyton keine der Nervenbahnen berührt hatte. »Es tut mir leid, daß ich das tun muß«, sagte Peyton. »Aber ich hoffe, du hast Verständnis dafür. Kannst du noch reden?« »Ja«, erwiderte der Ingenieur. »Was hast du jetzt vor?« Wie lange würde es dauern, überlegte Peyton, bis der Zwilling des Ingenieurs auftauchte? Solange es auf eine Probe reiner Kraft ankam, würde Leo mit der Lage fertigwerden, aber der andere Roboter wäre bereits gewarnt und könnte ihnen einige Unannehmlichkeiten bereiten. So konnte er zum Beispiel das Licht ausschalten. Die Leuchtröhren flackerten, und es wurde dunkel. Leo knurrte verstört. Peyton zog seine Taschenlampe heraus und schaltete sie ein. »Mir macht das wirklich nichts aus«, sagte er. »Du könntest das Licht ebensogut wieder einschalten.« Der Ingenieur sagte nichts. Aber die Leuchtröhren wurden wieder hell. Wie in aller Welt, dachte Peyton, konnte man gegen einen Gegner kämpfen, der Gedanken lesen konnte und der genau wußte, was man gegen ihn unternehmen würde? Er durfte einfach an nichts denken, das ihm einen Nachteil bringen konnte – er hörte gerade noch rechtzeitig zu denken auf. Einen Augenblick blockierte er seine Gedanken, indem er versuchte, Armstrongs Omegafunktion im Kopf zu integrieren. Dann hatte er seine Gedanken wieder unter Kontrolle. »Hör zu«, sagte er schließlich, »ich will eine Abmachung mit dir treffen.« »Was ist das? Ich kenne das Wort nicht.« »Das ist egal«, erwiderte Peyton schnell. »Ich schlage folgendes vor. Laß mich die Männer wecken, die hier schlafen, und gib mir eine Skizze deiner Schaltkreise. Dann gehe ich weg, ohne etwas zu berühren. Du hast die Befehle deiner
Erbauer nicht mißachtet, und niemandem ist ein Schaden zugefügt worden.« Ein Mensch hätte vielleicht Bedenken gehabt, nicht aber der Roboter. Sein Verstand brauchte vielleicht den tausendsten Teil einer Sekunde, um die Situation in allen Einzelheiten abzuwägen. »Sehr wohl. Ich lese in deinen Gedanken, daß du vorhast, dich an diese Vereinbarung zu halten. Aber was bedeutet das Wort ›Erpressung‹?« Peyton wurde rot. »Das ist nicht wichtig«, sagte er hastig. »Es ist ein häufig gebrauchter menschlicher Begriff. Ich nehme an, dein – äh – Kollege wird jeden Augenblick hier sein.« »Er wartet schon eine Weile draußen«, erwiderte der Roboter. »Wirst du deinen Hund zurückhalten?« Peyton lachte. Es war zuviel verlangt, von einem Roboter Kenntnisse der Zoologie zu erwarten. »Dann eben Löwe«, sagte der Roboter, der Peytons Gedanken gelesen hatte. Peyton richtete ein paar Worte an Leo und hielt dann, um ganz sicherzugehen, die Mähne des Löwen mit der Hand fest. Ehe er die Einladung mit den Lippen aussprechen konnte, rollte der zweite Roboter stumm in den Raum. Leo knurrte und wollte sich losreißen, aber Peyton beruhigte ihn. Ingenieur II war in jeder Hinsicht ein Duplikat seines Kollegen. Und während er auf ihn zukam, tastete er nach Peytons Gedanken. »Ich sehe, daß du zu den Träumern gehen willst«, sagte er. »Folge mir.« Peyton mochte es nicht, wenn man ihm Befehle erteilte. Warum sagten die Roboter nie ›bitte‹? »Folge mir, bitte«, wiederholte der Roboter. Ob seine Stimme dabei etwas gereizt klang?
Peyton folgte ihm. Er gelangte in den Korridor mit den Hunderten von Türen mit dem Mohnsymbol – oder einem ähnlichen Korridor. Der Roboter führte ihn zu einer Tür, die sich durch nichts von den anderen unterschied, und blieb stehen. Lautlos glitt die Metallplatte auf, und Peyton trat nicht ohne Skrupel in das dunkle Zimmer. Auf der Couch lag ein sehr alter Mann. Auf den ersten Blick schien er tot zu sein. Jedenfalls ging sein Atem so langsam, daß man ihn kaum bemerkte. Peyton starrte ihn eine Weile an. Dann befahl er dem Roboter: »Wecke ihn.« Irgendwo in den Tiefen der Stadt wurde der Stromkreis unterbrochen. Ein Universum, das nie existiert hatte, löste sich in Nichts auf. Zwei flackernde Augen starrten Peyton an. In ihnen leuchtete der Schein des Wahnsinns. Die Blicke gingen durch ihn hindurch, in endlosen Weiten ein Ufer suchend, und über die dünnen Lippen kam ein Schwall unverständlicher Worte. Wieder und wieder rief der alte Mann Namen – die Namen von Leuten oder Orten aus der Traumwelt, aus der man ihn gerissen hatte. Es war gleichzeitig schrecklich und erschütternd. »Aufhören!« rief Peyton. »Sie sind wieder in der Wirklichkeit.« Die glühenden Augen schienen ihn zum erstenmal zu sehen. Mit ungeheurer Mühe richtete der alte Mann sich auf. »Wer sind Sie?« stammelte er. Und ehe Peyton antworten konnte, fuhr er mit brüchiger Stimme fort: »Das muß ein Alptraum sein – geh weg, geh weg, ich will aufwachen!« Peyton überwand seinen Widerwillen und legte die Hand auf die dünne Schulter. »Keine Sorge – Sie sind doch wach. Erinnern Sie sich nicht?« Der andere schien nicht zu hören.
»Ja, es muß ein Alptraum sein, ein böser, schrecklicher Traum! Aber warum wache ich nicht auf. Myram, Cressidor, wo seid ihr? Ich kann euch nicht finden!« Peyton ertrug es, solange er konnte, aber es gelang ihm nicht, die Aufmerksamkeit des alten Mannes wieder auf sich zu lenken. Im Innersten angeekelt, wandte er sich zu dem Roboter. »Schick ihn in seine Traumwelt zurück.«
Wiedergeburt Langsam hörte der Alte auf, sich wie irrsinnig zu gebärden. Die schwächliche Gestalt fiel auf die Couch zurück, und das faltige Gesicht wurde wieder zu einer Maske, bar jeglichen Ausdrucks. »Sind alle so verrückt wie der?« fragte Peyton schließlich. »Aber er ist nicht verrückt.« »Was soll das heißen? Natürlich ist er verrückt!« »Er war viele Jahre in Trance. Stelle dir vor, du gingest in ein fernes Land und würdest dort deine Lebensweise völlig ändern, alles vergessen, was du je von deinem früheren Leben wußtest. Am Ende würdest du dich genauso wenig daran erinnern wie an deine Kindheit. Und wenn du dann durch irgendein Wunder plötzlich in der Zeit zurückgeworfen würdest, würdest du dich genauso benehmen wie er. Vergiß nicht, seine Traumwelt ist für ihn Wirklichkeit, und er lebt jetzt schon seit vielen Jahren in ihr.« Das war richtig, aber woher hatte der Ingenieur dieses Verständnis? Peyton drehte sich erstaunt um, brauchte aber wie üblich seine Frage gar nicht erst zu formulieren. »Thordarsen hat mir das neulich gesagt, als wir noch an Comarre bauten. Selbst damals lagen einige der Träumer schon seit zwanzig Jahren in Trance.«
»Neulich?« »Vor etwa fünfhundert Jahren würdest du sagen.« Die Worte erweckten eine eigenartige Vorstellung in Peytons Gedanken. Er konnte sich das einsame Genie vorstellen, das hier mit seinen Robotern zusammenarbeitete, vielleicht ohne andere Menschen. Die anderen hatten sich bestimmt schon auf die Suche nach ihren Träumen gemacht. Aber Thordarsen war ihnen nicht gefolgt. Sein Schaffensdrang kettete ihn an die Welt der Wirklichkeit, bis er sein Werk vollendet hatte. Die beiden Ingenieure, seine größte Leistung und vielleicht das wunderbarste Werk auf dem Gebiet der Elektronik, das die Welt je gesehen hatte, waren seine Meisterstücke. Peyton wurde von Bedauern überwältigt. Mehr denn je war er entschlossen, dieses Werk nicht zugrunde gehen zu lassen, sondern der Welt zu erhalten. »Sind alle Träumer so?« fragte er den Roboter. »Alle, mit Ausnahme der neuesten. Sie erinnern sich vielleicht noch an ihr Leben.« »Führ mich zu einem von ihnen.« Der Raum, den sie als nächsten betraten, war identisch mit dem letzten, aber der Körper, der auf der Couch lag, war der eines Mannes von höchstens vierzig Jahren. »Wie lange ist er hier?« fragte Peyton. »Er kam erst vor ein paar Wochen – der erste Besucher, den wir seit zehn Jahren hatten, bis du gekommen bist.« »Wecke ihn bitte.« Die Augen öffneten sich langsam. Diesmal blickte ihm nicht Wahnsinn entgegen, nur Verwundern und Bedauern, und dann kam die Erinnerung, und der Mann richtete sich auf. Seine ersten Worte klangen völlig vernünftig. »Warum habt ihr mich zurückgeholt? Wer sind Sie?«
»Ich habe mich dem Einfluß der Gedankenprojektoren rechtzeitig entziehen können«, erklärte Peyton. »Ichs möchte alle befreien, die noch gerettet werden können.« Der andere lachte bitter. »Gerettet! Vor was? Ich habe vierzig Jahre gebraucht, um aus der Welt zu fliehen, und jetzt wollen Sie mich wieder zurückholen! Gehen Sie weg und lassen Sie mich in Frieden!« So leicht wollte Peyton nicht aufgeben. »Glauben Sie denn, daß diese Traumwelt, in der Sie leben, besser ist als die Wirklichkeit? Empfinden Sie denn überhaupt nicht den Wunsch, zurückzukehren?« Wieder lachte der andere, aber ohne eine Spur von Humor. »Für mich ist Comarre die Wirklichkeit. Die Welt hat mir nie etwas gegeben. Weshalb sollte ich also den Wunsch haben, zurückzukehren? Ich habe hier meinen Frieden gefunden, und das ist alles, was ich haben will.« Peyton machte auf dem Absatz kehrt und ging hinaus. Hinter sich hörte er, wie der Träumer mit einem befriedigten Seufzer auf seine Couch zurücksank. Er wußte, daß er geschlagen war. Und er wußte jetzt auch, warum er die anderen ins Leben hatte zurückrufen wollen. Selbst im Lande Utopia würde es Menschen geben, denen die Welt nichts bieten konnte, nichts außer Sorgen und zerstörten Illusionen. Und je mehr Zeit verstrich, desto weniger solcher Menschen würde es geben. In den dunklen Zeitaltern vor tausend und mehr Jahren war der größte Teil der Menschheit in irgendeiner Weise dem Leben nicht gewachsen gewesen. Und gleichgültig, wie glänzend auch die Zukunft der Welt sein mochte, es würde immer Tragödien geben – und warum sollte man Comarre verurteilen, weil es solchen Menschen die einzige Hoffnung auf Frieden bot? Er würde keine weiteren Experimente mit den Träumern anstellen. Sein eigener robuster Glaube und sein
Selbstvertrauen waren schwer erschüttert worden. Und die Träumer von Comarre würden ihm für seine Mühe nicht danken. Wieder wandte er sich dem Ingenieur zu. Der Wunsch, die Stadt zu verlassen, war in den letzten Minuten immer stärker geworden, aber das Wichtigste lag noch vor ihm. Der Roboter kam ihm wie üblich zuvor. »Ich habe, was du brauchst«, sagte er. »Bitte folge mir.« Er führte ihn nicht, wie Peyton erwartet hatte, in die Maschinenetagen zurück. Als sie am Ziel waren, befanden sie sich höher, als Peyton je zuvor gewesen war, in einem kleinen kreisförmigen Raum, vielleicht in der obersten Etage der Stadt. Es gab keine Fenster, sofern man die seltsamen Platten, die in die Wände eingelassen waren, nicht durchsichtig machen konnte. Es war ein Atelier, und Peyton blickte sich ehrfürchtig um, als ihm klar wurde, wer hier vor vielen hundert Jahren gearbeitet hatte. Die Wände standen voll alter Lehrbücher, die Jahrhunderte lang nicht mehr berührt worden waren. Es schien, als hätte Thordarsen den Raum erst vor Stunden verlassen. Es gab sogar einen halb zu Ende gezeichneten Entwurf, der an einem Zeichenbrett hing. »Es sieht beinahe so aus, als hätte man ihn unterbrochen«, sagte Peyton. »Das hat man auch«, antwortete der Roboter. »Was soll das heißen? Hat er sich nicht zu den anderen begeben, als er dich konstruiert hatte?« Es war schwer vorstellbar, daß die Antwort ohne jedes Gefühl kam. Aber die Worte klangen genauso leidenschaftslos wie alles andere, was der Roboter bisher gesagt hatte. »Als er uns vollendet hatte, war Thordarsen immer noch nicht zufrieden. Er war nicht wie die anderen. Er sagte uns oft, daß er beim Bau Comarres Glück gefunden habe. Wieder und
wieder sagte er, daß er sich den übrigen anschließen würde, aber immer wieder gab es eine letzte Verbesserung, die er anbringen wollte. So ging es immer weiter, bis wir ihn eines Tages hier in seinem Zimmer fanden. Er lag auf dem Boden. Er hatte aufgehört. Den Begriff, den ich in deinem Geist finde, ist ›tot‹.« Peyton blieb stumm. Ihm schien, daß das Ende des großen Gelehrten nicht ohne Adel gewesen war. Die Bitterkeit, die sein Leben verdunkelt hatte, war am Ende von ihm genommen worden. Er hatte die Freude der Schöpfung gekannt. Von all den Künstlern, die nach Comarre gekommen waren, war er der größte. Und jetzt würde sein Werk nicht umsonst gewesen sein. Der Roboter glitt stumm auf einen stählernen Schreibtisch zu, und einer seiner Tentakel verschwand in einer Schublade. Als er wieder hervorkam, hielt er ein dickes Buch, in Metallplatten eingebunden. Wortlos reichte er Peyton das Buch, der es mit zitternden Händen öffnete. Es enthielt viele tausend Seiten von einem sehr dünnen, zähen Material. Auf dem Titelblatt stand in kräftiger Handschrift: Rolf Thordarsen Notizen über Subelektronik Begonnen: Tag zwei, Monat dreizehn, 2598 Darunter stand noch mehr, schwer zu entziffern und offenbar in großer Hast hingeschrieben, und als Peyton es las, kam ihm das Verständnis. Ich, Rolf Thordarsen, der ich in meiner eigenen Zeit kein Verständnis finde, sende diese Botschaft in die Zukunft. Wenn Comarre noch existiert, werden Sie mein Werk gesehen haben. Sie sind dann auch den Fallen entgangen, die ich
eingebaut habe, um kleinere Geister abzuschrecken. Deshalb gebührt es Ihnen, dieses Wissen der Welt mitzuteilen. Geben Sie es den Gelehrten und sagen Sie ihnen, daß sie es weise nutzen sollen. Ich habe die Grenze zwischen Mensch und Maschine niedergerissen. Sie müssen als Gleichberechtigte die Zukunft mit dem Menschen teilen. Peyton las die Botschaft mehrere Male, und sein Herz erwärmte sich für seinen lange verstorbenen Ahnherrn. Es war ein brillanter Plan. Auf diese Weise war es Thordarsen gelungen, seine Nachricht sicher über die Jahrhunderte zu bringen, in dem Wissen, daß nur ein würdiger Empfänger sie finden würde. Peyton fragte sich, ob das vielleicht Thordarsens Plan gewesen war, als er sich den Dakadenten anschloß, oder ob er ihn erst später entwickelt hatte. Er würde es nie erfahren. Wieder sah er den Ingenieur an und dachte an die Welt, die kommen würde, wenn alle Roboter Bewußtsein haben würden. Und erblickte noch weiterhin die Nebel der Zukunft. Der Roboter brauchte keine der Beschränkungen des Menschen haben, keiner seiner Schwächen. Er würde nie die Logik den Leidenschaften unterordnen, würde sich nie von Selbstsucht und Ehrgeiz vom geraden Weg ablenken lassen. Er würde den Menschen ergänzen. Peyton erinnerte sich an Thordarsens Worte: »Sie müssen als Gleichberechtigte die Zukunft mit dem Menschen teilen.« Peyton riß sich aus seinem Traum. All das würde, wenn es je kam, Jahrhunderte in der Zukunft liegen. Er wandte sich dem Ingenieur zu. »Ich bin bereit zu gehen. Aber eines Tages werde ich zurückkehren.« Der Roboter rollte langsam zurück. »Steh ganz still«, sagte er.
Peyton sah den Ingenieur verblüfft an. Dann blickte er schnell zur Decke hinauf. Da war wieder diese rätselhafte Ausbuchtung, unter der er sich befunden hatte, als er die Stadt zum erstenmal betreten hatte. »He!« rief er. »Ich will nicht – « Zu spät. Hinter ihm war die dunkle Barriere, schwärzer als die Nacht selbst. Vor ihm lag die Lichtung. Es war Abend, und die Sonne berührte schon die Wipfel der Bäume. Hinter ihm war plötzlich ein Winseln zu hören: ein sehr verängstigter Löwe blickte mit verstörten Augen zum Wald hinüber. »Jetzt ist alles vorbei«, beruhigte ihn Peyton. »Du darfst es ihnen nicht übelnehmen, daß sie uns so schnell wie möglich los sein wollten. Schließlich haben wir beide drinnen ein ziemliches Chaos angerichtet. Komm mit – ich hab keine Lust, die Nacht im Wald zu verbringen.
Auf der anderen Seite des Erdballes ging einer Gruppe von Wissenschaftlern langsam die Geduld aus, da sie den ganzen Umfang ihres Triumphes noch nicht kannten. Im Zentralturm hatte Richard Peyton II gerade festgestellt, daß sein Sohn die letzten zwei Tage nicht bei seinen Verwandten in Südamerika verbracht hatte. Weit über der Erde schmiedete der Weltrat Pläne, die bald vom Herannahen der Dritten Renaissance gegenstandslos werden sollten. Aber die Ursache all des Ärgers wußte nichts davon und interessierte sich im Augenblick auch nicht dafür.
Langsam schritt Peyton die Marmorstufen hinunter. Hinter ihm lag jene geheimnisvolle Tür, deren Funktion ihm immer noch
verborgen war. Leo folgte ihm, sah sich gelegentlich um und knurrte hin und wieder leise vor sich hin. Gemeinsam gingen sie auf der Stahlstraße zurück. Peyton war froh, daß die Sonne noch nicht völlig untergegangen war. In der Nacht glühte die Straße im radioaktiven Schein, und die Bäume wirkten im kalten Licht wie verrenkte Mißbildungen. An einer Straßenbiegung blieb er eine Weile stehen und blickte zu der mächtigen Metallmauer mit ihrer schwarzen Öffnung zurück. Das Hochgefühl des Triumphes, das er empfunden hatte, schien zu verblassen. Er wußte, daß er, solange er lebte, nicht vergessen würde, was hinter diesen mächtigen Wänden lag – das verlockende Versprechen von Frieden und ewiger Zufriedenheit. Tief in seiner Seele empfand er Angst, daß jede Befriedigung, jede Leistung, die die Welt ihm geben konnte, verglichen mit der mühelosen Wonne, die Comarre bot, schal wirken mußte. Einen Augenblick lang hatte er eine alptraumhafte Vision von sich selbst, zerbrochen und alt, wie er über diese Straße nach Comarre zurückkehrte, um Vergessen zu suchen. Er zuckte die Achseln und schob den Gedanken von sich. Als er dann die Ebene erreicht hatte, kehrte sein Mut zurück. Erneut öffnete er das wertvolle Buch und blätterte durch seine Seiten. Vor Jahrhunderten waren Karawanen durch diese Gegend gezogen und hatten Gold und Elfenbein für König Salomon den Weisen gebracht. Aber all ihre Schätze waren nichts verglichen mit diesem einen Buch. Und all die Weisheit Salomons hätte sich keine Vorstellung von der neuen Zivilisation bilden können, deren Ursprung in diesem Buch Jag. Originaltitel: THE LION OF COMARRE Copyright © 1949 by Standard Magazines, Inc. Aus STARTLING STORIES Übersetzt von Heinz Nagel