ULLSTEIN 2000
SCIENCE FICTION STORIES 2 von Lester del Rey Evan Hunter Poul Anderson Alfred Bester
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ULLSTEIN 2000
SCIENCE FICTION STORIES 2 von Lester del Rey Evan Hunter Poul Anderson Alfred Bester
Ausgewählt und zusammengestellt von Walter Spiegl
ein Ullstein Buch
ULLSTEIN BUCH NR. 2773 IM VERLAG ULLSTEIN GMBH, FRANKFURT/M – BERLIN – WIEN Aus dem Amerikanischen übersetzt von BODO BAUMANN
ERSTMALS IN DEUTSCHER SPRACHE Umschlagentwurf: Herbert Papala Alle Rechte vorbehalten Deutschsprachige Rechte bei Verlag Ullstein GmbH, Frankfurt/M – Berlin – Wien Übersetzung © 1970 by Verlag Ullstein GmbH, Frankfurt/M – Berlin – Wien Printed in Germany, West-Berlin 1970 Gesamtherstellung Druckhaus Tempelhof
Sie haben das Atom eingefangen, experimentieren hinter Blei und Stahlbeton mit der Energie der Materie – und müssen die Hölle bändigen, bevor sie den Erdball vernichtet… NERVENSACHE von Lester del Rey Der zweite große Sprung ist gelungen, das erste Raumschiff von der Erde erreicht den Mars – und feindliche Naturgewalten verbünden sich mit menschlicher Unzulänglichkeit… DAS MARSUNGEHEUER von Evan Hunter Großmut und Güte zeigt der Sieger, wenn er dem Besiegten Hilfe anbietet, arrogant und undankbar handelt, wer sie zurückweist – aber wehe dem, der die ausgestreckte Hand ergreift… DIE HELFENDE HAND von Poul Anderson Seit die Menschheit besteht, begeht sie Verbrechen wider sich selbst. Die Technik verschiebt die Grenzen ins Unermeßliche und überläßt die Wiedergutmachung einem einzelnen… ADAM von Alfred Bester
Lester del Rey NERVENSACHE
Auf den Kieswegen zwischen den weitläufigen Gebäuden der National Atomic Products herrschte reges Treiben. Es war fünf Uhr nachmittags, Feierabend für die einen, Schichtbeginn für die anderen. Die Cafeteria war gesteckt voll, doch man machte bereitwillig Platz für Doktor Ferrel, als er sich zwischen den Tischen einen Weg zum Ausgang bahnte. Die Gäste ließen sich in ihrer Unterhaltung nicht stören. Für sie war er einfach der Doc, eine vertraute Einrichtung sozusagen, obgleich er zu den fünfzig leitenden Angestellten des Unternehmens gehörte. Doch der Doc war eben Vertrauensperson, kein Vorgesetzter. Doc nickte allen zu, die ihn begrüßten, verließ die Kantine und bog in den Fußweg zur Krankenstation ein. Er ließ sich Zeit. Wenn ein Mann einmal über Fünfzig ist, was die grauen Haare und der zunehmende Bauchumfang nicht mehr leugnen lassen, weiß man Begriffe wie Behaglichkeit und Entspannung durchaus zu schätzen. Außerdem wußte Doc Ferrel selbst am besten, daß es keinen Sinn hatte, sich den Magen voll Essen zu schlagen und dann wie ein Wilder draufloszuarbeiten, ohne die Nahrung zu verdauen. Er betrat das Gebäude durch einen Nebeneingang, zündete sich unterwegs eine Zigarre an und ging durch die chirurgische Abteilung auf eine Tür zu mit der Aufschrift: PRIVAT DR. ROGER T. FERREL LEITENDER ARZT
Wie gewöhnlich war das kleine Privatzimmer des Doktors unaufgeräumt, und kalter Zigarrenrauch hing in der Luft. Sein Assistent kramte im Schreibtisch herum. Diese Unbekümmertheit, was Respekt vor fremdem Eigentum betraf, war typisch für Doktor Blake. Doch der Doc ließ ihn gewähren. Blakes ruhige Hand und sein glasklarer Verstand waren in einer Notlage von unschätzbarem Wert. Blake blickte auf und grinste unbefangen. »Hallo, Doc. Wo bewahren Sie eigentlich Ihre Zigaretten auf? Ah, da sind sie ja… So, jetzt ist mir schon viel wohler. Gott sei Dank gibt es wenigstens ein Zimmer in diesem verdammten Haus, wo das Rauchen erlaubt ist. Kommen Sie mit Ihrer Frau heute abend zu uns?« »Geht leider nicht, Blake«, murmelte Ferrel, steckte seine Zigarre wieder zwischen die Lippen und ließ sich in einen alten Ledersessel fallen. »Palmer rief mich vor einer halben Stunde an. Bat mich, die Friedhofsschicht doch noch durchzuhalten. Scheint so, als habe die Firma einen eiligen Auftrag zu erledigen. Irgendein Zeug, das mindestens zwölf Stunden lang kochen muß. Deshalb werden die Öfen Nummer 3 und 4 bis Mitternacht oder sogar noch länger Staub ausbrüten.« »Hm. Hat man Sie also wieder mal drangekriegt. Sehe nicht ein, weshalb wir Nachtdienst schieben sollen – nichts Ernstliches passiert, solange ich zurückdenken kann. Sehen Sie mal meine Liste von heute an: drei Patienten mit Sportflechte. Müssen dem Hausmeister schreiben, daß er die Duschräume besser desinfiziert. Dann war da einer mit Schuppen, vier Leute mit Schnupfen, und ein Bürolehrling hatte einen Holzsplitter im Daumen! Sie kommen mit all ihren Wehwehchen zu uns. Und sie brächten uns auch noch ihre Babys angeschleppt, wenn es die Firma nicht verboten hätte. Kein Fall in der Kartei, der nicht eine Woche oder einen Monat warten könnte. Meine Frau hat mit Ihnen und der besseren
Hälfte ganz fest gerechnet, Doc. Sie wird sehr enttäuscht sein, wenn Sie unser zehnjähriges gemeinsames Martyrium nicht mitfeiern! Warum überlassen Sie den Laden nicht dem Kleinen?« »Ich wünschte, ich könnte das. Doch zufällig bin ich mit dem Nachtdienst an der Reihe. Außerdem hat Jenkins heute einen akuten Fall behandelt und beschlossen, mir Gesellschaft zu leisten.« Ferrel lächelte dünn. Auch er hatte damals das Gefühl gehabt, die Vorsehung habe ihn auserkoren, die Welt zu retten. »Der Junge ist ganz aus dem Häuschen. War sein erster richtiger Fall. Also ist er von heute an nicht mehr der Kleine, sondern Dr. Jenkins, wenn ich Sie darauf aufmerksam machen darf.« Blake hatte seine eigenen Erinnerungen. »So? Frage mich nur, wann er feststellt, daß alles, was er getan hat, auf Ihre Ratschläge hin geschah. Um was ging es denn überhaupt?« »Alte Geschichte – Strahlenschäden. Egal was man den Leuten auch erzählt, wenn sie eingestellt werden. Sie glauben es ja doch nicht. Warum sollen sie drei Schutzschichten tragen, die fünfundneunzig Prozent vergütet sind, wenn der Hauptkonverter mit einem Schutzmantel umgeben ist, der nur ein Zehntel der Strahlung durchläßt? Dreimal fünfundneunzig Prozent Strahlenschutz war ihm wohl zuviel. Also ließ er die zwei inneren Schutzmäntel weg und hatte nach sechs Stunden schlimme Verbrennungen. Wahrscheinlich ist er inzwischen wieder am Brutreaktor 1 und betet sämtliche Anweisungen herunter, die wir ihm mitgegeben haben, damit er nicht entlassen wird.« Nummer 1 war der erste Konverter, auf den die National Atomic ihr gegenwärtiges Monopol stützte. Er stammte aus der Zeit, als die Schutzmäntel noch nicht so gut waren und das Brennmaterial, das sie darin verwendeten, noch nicht so hart strahlte. Nummer 1 wurde auch heute noch für weiche
Brutvorgänge eingesetzt. Denn es konnte nichts Ernstliches passieren, wenn die Sicherheitsvorschriften eingehalten wurden. »Ein zehntel Prozent ist tödlich; fünf Prozent davon ist ein Zweihundertstel; fünf Prozent davon ist ein Viertausendstel; und davon noch einmal fünf Prozent ist ein Achtzigtausendstel – völlig ungefährlich, außer bei sträflichem Leichtsinn.« Blake leierte diese Sicherheitsvorschrift herunter und lachte dann leise. »Doc, Sie werden alt. Früher haben Sie einen höheren Prozentsatz an Strahlung riskiert. Na schön. Wenn Sie doch noch abkömmlich sein sollten, kommen Sie doch bitte mit Ihrer Frau bei uns vorbei. Auch nach Mitternacht sind Sie noch willkommen. Anne wird zwar enttäuscht sein; aber sie weiß aus eigener Erfahrung, wie es in unserem Beruf so geht. Einen schönen Abend noch!« »Gleichfalls.« Ferrel sah seinem Assistenten nach und lächelte. Eines Tages würde sein eigener Sohn als Doktor der Medizin promovieren, und Blake war nicht der schlechteste Chef, unter dem man sich die ersten Sporen verdienen konnte. Wie der junge Jenkins bei ihm selbst, so würde auch sein Sohn einmal unter Blake anfangen, erfüllt von dem Ideal des Dienstes an der Menschheit. Und dann würde er die Sprossen hinaufsteigen, zuerst Blakes Stelle einnehmen, die dieser jetzt ausfüllte, und vielleicht sogar die Position des Chefarztes erreichen. Und dann würde er die gleichen alten Probleme mit der gleichen Gelassenheit lösen und sich mit einem Leben komfortablen Stumpfsinns begnügen. Es gab Schlimmeres im Leben als komfortablen Stumpfsinn, überlegte Ferrel. Zum Beispiel die Fernsehserie über den sagenhaften Dr. Hoozis, der sich ständig mit Morden, Entführungen und geheimnisvollen Katastrophen herumschlagen mußte. Sonderbar: auch Dr. Hoozis arbeitete in der letzten Sendung in einer Atomfabrik mit riesigen Brutreaktoren, die alle paar Tage durchgingen. Dann schleppte man die Verletzten reihenweise in seine
Praxis, von Kopf bis Zeh in blaue Flammen gehüllt. Doch Dr. Hoozis sprach nur ein Zauberwort – und sogleich war die Strahlung gebannt. Und es blieb dem Helden sogar noch genügend Sendezeit, um in den Brutreaktor zu kriechen und die gefährliche Kernspaltung höchstpersönlich anzuhalten wie eine Weckeruhr. Ferrel knurrte verächtlich und zog ein Taschenbuch aus der Schreibtischschublade. Dann hörte er Jenkins draußen in der chirurgischen Abteilung hantieren. Er horchte auf die raschen, nervösen Schritte und Bewegungen. Es durfte nicht sein, daß der Junge ihn hier bei seiner Privatlektüre ertappte, wo doch, wie Jenkins meinte, das Schicksal der Welt von seiner Einsatzbereitschaft abhing. Junge Ärzte mußten sehr langsam ihren Illusionen entwöhnt werden, oder sie wurden verbittert, und ihre Arbeit litt darunter. Doch trotz der leisen Ironie, die er bei Jenkins’ nervöser Betriebsamkeit empfand, war er nicht frei von Neid, wenn er die straffen Schultern und den schlanken Körper des Jungen betrachtete. Die Jahre schienen vorbeizufliegen, ohne daß man es richtig bemerkt, dachte er wehmütig. Jenkins strich eine Falte seines gestärkten Kittels glatt. »Ich habe alles für die Notaufnahme vorbereitet, Dr. Ferrel«, sagte er. »Glauben Sie, es genügt, wenn wir nur Miss Dodd und einen Krankenwärter zurückbehalten? Das ist laut Dienstvorschrift unser Minimum an Personal.« »Dodd ist so viel wert wie eine ganze Bereitschaft«, beruhigte Ferrel den jungen Arzt. »Erwarten Sie denn irgend etwas Besonderes heute nacht?« »Nein, Sir – eigentlich nicht. Aber wissen Sie, was die in den Konvertern ausbrüten?« »Nein.« Ferrel hatte Palmer nicht danach gefragt. Er hatte schon vor Jahren eingesehen, daß er mit der Entwicklung der Atomphysik nicht Schritt halten konnte. Man hatte genug zu
tun, auf seinem eigenen Fachgebiet auf dem laufenden zu bleiben. »Irgendein neuer Atombrennstoff für Kriegsschiffe oder dergleichen, glaube ich.« »Viel schlimmer, Sir. Sie stellen das erste kommerziell verwertbare Natomic I-713 in den Konvertern 3 und 4 her.« »So? Ich habe auch so etwas munkeln hören. Hat das Zeug nicht was mit der Landwirtschaft zu tun? Schädlingsbekämpfung, glaube ich. Kornkäfer oder so.« Jenkins sah enttäuscht, überrascht und sogar ein bißchen überlegen aus, ohne jedoch seinen Gesichtsausdruck merklich zu verändern. »In der letzten Ausgabe der Natomic Weekly Ray stand ein Artikel darüber, Dr. Ferrel. Sie wissen wahrscheinlich, daß Natomic I-344, das bisher verwendet wurde, eine Halbwertszeit von mehr als vier Monaten besaß. Das war sein entscheidender Nachteil. Das Land, das man damit bestäubte, konnte im nächsten Jahr nicht landwirtschaftlich genutzt werden. Deshalb kam man mit der Schädlingsbekämpfung auch nur langsam voran. Natomic I713 jedoch hat eine Halbwertsdauer von nur einer Woche und ist bereits nach zwei Monaten so gut wie ungefährlich. Das erlaubt somit eine konzentrierte Schädlingsbekämpfung auf Hunderten von Quadratmeilen, ohne daß das Land für die Frühjahrsbestellung ausfällt. Die ersten Probeversuche waren äußerst erfolgreich. Deswegen erhielten wir eine Sammelbestellung aus zwei Staaten, die auf sofortige Lieferung drängen. Die Menge ist gewaltig.« »Typisch, nachdem vorher im Parlament ein halbes Jahr darüber verhandelt wurde, ob man das Zeug überhaupt verwenden soll«, murmelte Ferrel. »Hm, klingt ja vielversprechend, wenn sie hinterher genügend Regenwürmer heranschaffen können, um den Humus in brauchbarem Zustand zu erhalten. Aber weshalb die Nervosität?« Jenkins schüttelte unwillig den Kopf. »Ich bin nicht nervös. Ich glaube nur, wir
sollten alle Vorsichtsmaßnahmen treffen und auf Eventualitäten gefaßt sein. Schließlich brüten sie ja etwas Neues aus, und eine Halbwertszeit von einer Woche ist ziemlich kritisch. Glauben Sie nicht auch? Außerdem habe ich mir mal die Reaktionskette in dem Artikel unter die Lupe genommen und – was war denn das?« Irgendwo links von der Krankenstation war ein dumpfes Fauchen zu vernehmen, dem sich eine leichte Erschütterung des Bodens anschloß. Dann folgte ein ständiges Zischen, das von den isolierten Wänden des Gebäudes fast verschluckt wurde. Ferrel horchte eine Weile und zuckte dann die Achseln. »Nichts Bedeutendes, Jenkins. So was hören Sie hier mindestens ein dutzendmal im Jahr. Seit dem letzten Krieg, als Hokusai aus Beschämung über die Niederlage seines Landes Harakiri begehen wollte, ist er ständig auf der Suche nach einem billigen, handlichen Atomsprengstoff, mit dem er von seinem Balkonfenster aus die ganze Welt vernichten kann. Eines Tages kommt er wahrscheinlich ohne Kopf in die Notaufnahme, doch bisher hat er noch keinen Stoff gefunden, dessen Halbwertszeit so niedrig ist, daß er dafür taugt. Na ja – wie war das doch mit der Kettenreaktion von I-713?« »Nichts Definitives, Sir.« Jenkins horchte noch immer auf das gedämpfte Geräusch in der Ferne. Eine steile Falte stand auf seiner Stirn. »Ich weiß, daß es in kleinen Mengen funktionierte; aber es ist ein Glied in der Kette, dem ich nicht ganz traue, Sir. Ich dachte, ich hätte es wiedererkannt – äh – ich fragte einen der Ingenieure. Er sagte mir einfach, ich solle meinen Mund halten, bis ich genügend von der Materie verstünde.« Als Ferrel das weiße angespannte Gesicht des jungen Mannes sah, hielt er sein Lächeln zurück und nickte. Irgend etwas war da wirklich faul. Jenkins’ Stolz war verletzt, doch das war
noch nicht die Erklärung für die Besorgnis des Jungen. Seine Nervosität vor allem beunruhigte ihn. Eines Tages mußte er die Ursache herausfinden. Kleine irritierende, unausgegorene Dinge im Unterbewußtsein konnten einem Chirurgen das Handwerk verderben, seine Hand unsicher machen, wenn es darauf ankam. Inzwischen – na ja. Er würde jetzt das Thema wechseln und ihm später die Würmer aus der Nase ziehen. Die Stimme der Telefonvermittlung schreckte ihn aus seinen Gedanken. Aus dem Lautsprecher rief es: »Dr. Ferrel. Dr. Ferrel wird am Telefon verlangt. Dr. Ferrel, bitte!« Jenkins’ Gesicht wurde um noch eine Idee blasser, und er blickte seinen Vorgesetzten scharf an. Doc grunzte nur. »Wahrscheinlich Palmer. Erzählt mir stundenlang Geschichten von seinem Enkel. Er hält ihn für ein Genie, weil er mit anderthalb Jahren schon vier Worte sagen kann.« Doch in seinem Büro wischte sich Ferrel verstohlen den Schweiß von den Handflächen. Die vagen Befürchtungen und die Nervosität von Dr. Jenkins waren irgendwie ansteckend. Und Palmers Gesicht auf dem Telefonschirm war auch nicht sehr ermutigend, obwohl der Direktor sein übliches starres Lächeln zur Schau trug. »Hallo, Ferrel.« Palmers herzhaft zuversichtliche Stimme klang ganz normal; doch die Anrede mit dem Nachnamen kündigte Unangenehmes an. »Es hat einen kleinen Unfall in der Fabrik gegeben, wie man mir berichtet. Ein paar Verletzte sind unterwegs zur Krankenstation. Ist Blake nach Hause gefahren?« »Ja, vor einer Viertelstunde oder länger. Glauben Sie, es wäre nötig, ihn zurückzurufen? Oder reichen wir beide aus – Jenkins und ich?« »Jenkins? Oh – der neue Arzt.« Palmer zögerte einen Moment. Man konnte nicht sehen, was für Männchen er auf seine Schreibunterlagen malte. »Hm, ich glaube nicht, daß Sie
Blake zurückrufen müssen. Vorläufig wenigstens nicht. Ist wohl nichts Ernsthaftes.« »Was ist es – Verbrennungen? Oder regelrechter Unfall?« »Oh – Strahlenschäden, vielleicht auch ein Unfall. Jemand hat nicht aufgepaßt. Sie wissen, wie das ist. Kein Grund zur Beunruhigung.« »Natürlich werden wir damit fertig, Palmer. Aber ich dachte, Nummer 1 würde um fünf Uhr dreißig abgestellt! Und wie kommt es, daß dort noch nicht die neuen Sicherheitsschotte eingebaut sind? Ich dachte, das wäre vor einem halben Jahr schon erledigt worden? Sie haben mir das selbst gesagt!« »Ich habe aber nicht gesagt, daß es sich um Nummer 1 handelt oder um ein von Hand betätigtes Schott. Sie wissen ja: neue Produkte, neue Geräte.« Palmer blickte irgend jemand an, der neben ihm stehen mußte. »Nun – ich kann jetzt nicht ins Detail gehen, Dr. Ferrel. Der Unfall wirft unser ganzes Programm über den Haufen. Ich muß umdisponieren. Wir können später noch darüber reden, und auch Sie werden sich vorbereiten müssen. Rufen Sie mich an, wenn Sie etwas brauchen.« Der Schirm wurde dunkel, und die Verbindung wurde abrupt unterbrochen, als jemand etwas leise zu Palmer sagte. Ferrel zog den Bauch ein, wischte sich wieder die Hände am Handtuch ab und schlenderte mit betonter Lässigkeit in die Abteilung zurück. Verflucht noch mal! Warum drückte sich Palmer nicht so deutlich aus, daß er die richtigen Vorbereitungen treffen konnte? Dr. Ferrel wußte ganz sicher, daß Nummer 1 abgeschaltet war und nur Nummer 3 und 4 in Betrieb waren, zwei geradezu narrensichere Reaktoren. Was also war passiert? Jenkins sprang vom Stuhl auf, als Ferrel hereinkam. Sein Gesicht war straff, und in seinen Augen stand eine namenlose Furcht. Wo er gesessen hatte, lag ein Exemplar der Weekly Ray
auf einer Übersichtstafel voller Symbole, die Ferrel nichts sagten. Auffallend war nur die Bleistiftmarkierung unter einer der Reaktionen. Jenkins faltete die Tabelle wieder zusammen und legte sie auf den Tisch. »Routineunfall«, sagte Ferrel. Er verfluchte sich im stillen, daß er das so forsch herausbringen mußte. Er dankte Gott dafür, daß die Hände des Jungen nicht gezittert hatten, als sie das Papier zusammenfalteten. Es würde vielleicht zu einer Operation kommen. Palmer hatte darüber natürlich kein Wort verloren. Aber gerade daß er so wenig sagte, war vielsagend. »Sie bringen ein paar Leute mit Strahlenschäden – behauptet Palmer. Alles bereit?« Jenkins nickte. »Alles bereit, Sir, soweit man für Routineunfälle bei den Brutkonvertern 3 und 4 bereit sein kann. Isotop R – Wahnsinn… Entschuldigen Sie, Dr. Ferrel, ich wollte so etwas nicht sagen. Sollten wir nicht Dr. Blake verständigen und die anderen Schwestern und Helfer?« »Äh? Oh, Blake werden wir sowieso nicht erreichen. Palmer ist der Ansicht, wir bräuchten ihn nicht. Schwester Dodd kann ja die Meyers verständigen. Die anderen haben sowieso Verabredungen, wie ich sie kenne. Die beiden Schwestern sollten genügen, Jones dazugerechnet.« Isotop R? Ferrel konnte sich an die Bezeichnung erinnern, an mehr nicht. Hatte nicht einer von den Ingenieuren darüber gesprochen? Aber was, das wußte er nicht mehr. Konnte auch Hokusai gewesen sein. Er sah Jenkins nach und zog sich dann wieder in sein Büro zurück, wo er unbeobachtet telefonieren konnte. »Holen Sie mir Matsuufa Hokusai an den Apparat!« befahl er und trommelte ungeduldig auf die Tischplatte, bis der Schirm aufleuchtete und das Gesicht des Japaners erschien. »Hoke, weißt du, was in den Nummern 3 und 4 ausgebrütet wird?«
Der Wissenschaftler nickte langsam. Sein Gesicht war so ausdruckslos wie sein Englisch akzentfrei: »Ja, sie machen I713 gegen die Kornkäfer. Warum fragst du?« »Oh, pure Neugierde. Ich hörte Gerüchte über ein Isotop R und fragte mich, ob da eine Verbindung besteht. Scheint so, als hätte es beim Ausbrüten einen Unfall gegeben. Ich möchte schließlich wissen, was mich erwartet.« Einen Augenblick lang schienen sich die Augenlider des Japaners zu heben. Doch nur die Stimme von Hokusai wurde jetzt rascher und war nicht mehr so korrekt in der Aussprache: »Keine Verbindung, Dr. Ferrel. Machen kein Isotop R – bestimmt nicht. Am besten, du vergißt Isotop R. Tut mir leid, Dr. Ferrel – wirklich sehr leid. Aber ich muß mich jetzt um Unfall kümmern. Vielen Dank für Anruf. Wiedersehen, Doktor.« Der Schirm war wieder dunkel. Jenkins stand unter der Tür. Doch er schien entweder nicht mitgehört zu haben oder wußte nicht, worum es ging. »Schwester Meyers kommt«, meldete er. »Soll ich Curare für die Injektionen vorbereiten?« »Keine schlechte Idee.« Ferrel würde sich heute abend keine Überraschung mehr anmerken lassen. Curare, eines der gefährlichsten Gifte, war erst vor kurzem von der chemischen Industrie synthetisch hergestellt worden. Curare war das äußerste und letzte Mittel, das man bei Strahlungsschäden einsetzte, wenn alle anderen Möglichkeiten versagten. Die Krankenstation hatte natürlich Curare auf Lager, doch in den langen Jahren seiner Praxis hatte Ferrel Curare nur zweimal verwendet. Beide Erlebnisse waren nicht sehr angenehm gewesen. Jenkins war entweder schrecklich ängstlich oder übereifrig – oder er wußte etwas, was er eigentlich nicht wissen durfte.
»Scheint, sie bringen die Leute zu Fuß hierher. Kann also nicht schlimm sein, sonst würden sie sich mehr beeilen.« »Vielleicht«, murmelte Jenkins, während er Blutplasma in destilliertem Wasser auflöste. »Hören Sie?« sagte er darauf und hob den Kopf. »Das ist die Sirene vom Rettungswagen.« Doc lauschte auf das Geräusch, das gedämpft von draußen hereindrang. »Muß Beel sein«, sagte er grinsend. »Beel ist der einzige, der die Sirene einschaltet, wenn die Straßen leer sind. Aber er ist erst auf der Hinfahrt, wenn Sie genau hinhören, Jenkins. Dauert mindestens noch fünf Minuten, bis er wiederkommt.« Ferrel ging trotzdem in den Waschraum und schrubbte sich energisch die Hände mit Seife ab. Verdammt noch mal, dieser Junge! Er bereitete sich schon auf die Operation vor, ehe dazu der geringste Anlaß bestand. Ferrel trocknete sich gerade die Hände ab, als Jenkins hereinkam. Er ließ sich von dem Heißlufttrockner auch noch die Tropfen vom Unterarm wegblasen und drückte dann den Hebel des Automaten, der steril verpackte Operationshandschuhe ausspuckte. »Jenkins, was ist mit diesem Isotop R? Nur Gerede oder was? Ich hab’ mal etwas darüber gehört – von Hokusai, glaube ich. Trotzdem, eine genaue Vorstellung habe ich nicht.« »Glaube ich Ihnen gern, Doc. Es gibt nämlich keine genaue Vorstellung davon. Und gerade das ist das schlimme an diesem Isotop.« Der junge Arzt sah zu, wie Dr. Ferrel seinen Operationskittel anzog. »R ist eines der großen Unbekannten in der Atomphysik. Rein theoretisch – und bisher noch nicht hergestellt worden. Entweder nicht realisierbar oder nicht in kleinen Mengen, mit denen man gefahrlos experimentieren kann. Da liegt der Hase im Pfeffer. Niemand weiß etwas Genaues darüber, außer daß – wenn es tatsächlich hergestellt werden kann – es sich in sehr kurzer Zeit ins Mahler-Isotop
verwandelt. Sie haben doch schon von diesem Isotop gehört, nicht wahr?« Das hatte Ferrel – zweimal. Das erstemal, als Mahler mit seinem Labor unter entsprechender Geräuschentwicklung in die Luft geflogen war. Er hatte damals ein verhältnismäßig geringes Quantum dieses neuen Produktes hergestellt, um es als Ausgangsstoff für andere Reaktionen zu verwenden. Später hatte sich dann Maicewicz mit erheblich geringeren Mengen des Stoffes an die gleiche Aufgabe gewagt – mit dem Ergebnis, daß diesmal nur zwei Räume und drei Wissenschaftler in Staubpartikel verwandelt wurden. Fünf oder sechs Jahre später war die theoretische Atomphysik so weit fortgeschritten, daß jeder Student sich ausrechnen konnte, warum sich dieses so verhältnismäßig harmlose Gemisch innerhalb einer Milliardstelsekunde in Energie und reines Helium verwandelte. »Wie lange dauert die Reaktionszeit?« »Oh, es gibt darüber ein halbes Dutzend Theorien, aber keinen wirklichen Anhaltspunkt.« Sie waren aus dem Waschraum getreten. Jenkins hatte die ultraviolette Sterilisationsanlage eingeschaltet, die den gesamten Raum keimfrei machen sollte. Er blickte sich fragend um. »Was ist mit dem Ultraschallgerät?« Ferrel drückte mit dem Fuß auf den Schalter. Er erschauerte, als das Gerät mit einem knochenerweichenden Summen anlief. Aber sonst gab es an dem Gerät nichts auszusetzen. Seit dem letzten Unfall hatte die Gesundheitsbehörde so viele Auflagen gemacht, daß man sich am Anfang vor neuen Geräten nicht mehr hatte retten können. Doch das Ding war gut. Es sterilisierte alles, wo das UV-Licht nicht hinreichte – Wände, Tische, einfach alles. Ein pfeifendes Geräusch in der Anlage erinnerte ihn an etwas, das ihn die ganze Zeit im Unterbewußten beschäftigt hatte.
»Jenkins, sie haben keinen Katastrophenalarm gegeben. Das würden sie bestimmt tun, wenn der Unfall schwer wäre.« Jenkins brummte vielsagend. »Vor ein paar Tagen stand ein interessanter Artikel in der Zeitung. Im Kongreß überlegt man, ob man nicht alle Atomfabriken – wobei natürlich besonders die National gemeint ist – in die Mojave-Wüste verbannen sollte. Palmer war davon natürlich nicht begeistert… Ah, da ist ja die Sirene des Krankenwagens.« Jones, der Krankenpfleger, hatte die Sirene ebenfalls gehört und schob den ersten Wagen für die Bahre in die Notaufnahme. Eine halbe Minute später kam Beel schon mit der Rollbahre herein. »Zwei«, meldete er. »Nachschub, sobald sie an die Verletzten herankommen, Doc.« Die Plane war voller Blut; und bei näherer Betrachtung entdeckte Doc eine zerrissene Ader am Hals als Ursache, die mit einer Sicherheitsnadel zusammengeheftet worden war, so daß genügend gestocktes Blut die Blutung unterbrochen hatte. Doc schaltete den Ultraschall aus und deutete auf den Hals des Verletzten: »Warum hat man mich nicht zum Unfallort gerufen, statt den Mann hierherzubringen?« »Teufel, Doc! Palmer sagte: ›Schaff ihn hin‹, und das hab’ ich getan. Keine Ahnung. Jemand hat ihm die Nadel reingesteckt und wohl geglaubt, das genüge für den Transport. Hab’ ich was falsch gemacht?« Ferrel zog eine Grimasse. »Wie viele kommen noch, und was ist da draußen überhaupt los?« »Weiß der Kuckuck, Doc. Ich fahre nur die Ambulanz und stelle keine Fragen. Bis gleich!« Er schob eine neue Bahre hinaus und brachte den zweiten. Ferrel konzentrierte seine Neugierde auf den ersten Fall. Schwester Dodd setzte ihre Maske auf. Jones zog die Verunglückten aus, tupfte sie rasch
ab, schob sie hinüber auf die Operationstische in der Mitte der chirurgischen Abteilung. »Plasma!« Eine rasche Untersuchung hatte Dr. Ferrel gezeigt, daß außer der zerrissenen Ader dem Mann nichts passiert war. Rasch gab er ihm eine Injektion. Wahrscheinlich war der Mann vom Schock und Blutverlust ohnmächtig geworden. Atmung und Puls wurden sofort kräftiger nach der Plasmatransfusion. Ferrel behandelte mit Sulfonamiden, säuberte und sterilisierte sorgfältig die Wundränder, legte Klammern an, entfernte die Nadel und begann, mit der komplizierten kleinen Motornadel zu nähen. Auch das war eines der Geräte, für die er wirklich etwas übrig hatte. Ein paar Blutstropfen waren noch ausgetreten, doch jetzt war die Wunde vollkommen geschlossen. »Heben Sie die Sicherheitsnadel auf, Schwester Dodd. Kommt in meine Sammlung. Der ist fertig. Was ist mit dem anderen, Jenkins?« Jenkins deutete auf das Genick des Mannes, wo ein winziger bläulicher Gegenstand zu sehen war. »Stahlsplitter. Steckt in der Medulla Oblongata. Kein Blutaustritt. Doch der Mann wurde sofort getötet, als ihn der Splitter traf. Soll ich ihn herausziehen?« »Keinen Sinn. Kann der Leichenbeschauer machen, wenn er unbedingt muß… Wenn das ein Beispiel ist für das, was noch kommt, war es ein reiner Betriebsunfall ohne Strahlenkomplikationen.« »Die kriegen Sie auch noch, Doc.« Das war der Mann mit der zerschnittenen Ader, der jetzt wieder bei Besinnung war. »Wir waren nicht in der Brüterhalle. He, mir geht’s ja wieder… Ich bin…« Ferrel lächelte, als er die erstaunte Miene des Verletzten sah. »Dachtest wohl, du wärst schon tot, wie? Klar geht’s dir wieder besser, wenn du dich ein paar Tage schonst. Eine zerrissene Ader ist keine Affäre. Es bringt einen weder um noch bleibt ein Schaden zurück. Jetzt läßt du dich von unserer
Schwester brav ins Bettchen bringen, und morgen weißt du gar nicht mehr, daß du krank bist.« »Menschenskinder! Das Zeug kam aus dem Luftsaugschacht herausgeschossen wie Maschinengewehrkugeln. Nur ein Kratzer, dachte ich. Doch da schrie Jake schon wie am Spieß und rief nach einer Nadel. Blut spritzte durch die Gegend – und jetzt wache ich auf, als wäre ich neugeboren!« »Schon gut«, murmelte der Arzt, während Schwester Dodd den Patienten in den Krankensaal schob. Sobald Dodd mit dem Patienten aus dem Operationsraum verschwunden war, setzte sich Jenkins und strich sich mit der Hand übers Gesicht. Schweiß bildete sich auf seiner Stirn. »Das Zeug kam aus dem Luftsaugschacht wie Maschinengewehrkugeln«, wiederholte er leise. »Dr. Ferrel, diese beiden Männer befanden sich außerhalb der Reaktorhalle. Aber in der Reaktorhalle selbst…« »Ja«, unterbrach ihn Ferrel rauh. Er konnte sich das Bild schon selbst ausmalen – und es war kein angenehmes Bild. »Ich werde Blake anrufen. Ich glaube, wir brauchen ihn…« »Geben Sie mir Dr. Blakes Privatnummer – Maple 2337«, rief Ferrel ins Telefon. Er sah auf dem Schirm, wie das Mädchen die Verbindung herzustellen versuchte. »Maple 2337«, drängte er. »Tut mir leid, Dr. Ferrel. Ich kann Ihnen keine Amtsleitung geben. Sind alle ausgefallen.« Das Mädchen wollte bereits wieder trennen, als Dr. Ferrel rief: »Es handelt sich um einen Notfall. Ich muß Dr. Blake unbedingt sprechen!« »Tut mir leid, Dr. Ferrel, alle Amtsleitungen sind unterbrochen.« »Dann geben Sie mir Palmer. Wenn er gerade spricht, unterbrechen Sie. Meine Verantwortung. Kapiert?«
»In Ordnung.« Sie drückte auf Knöpfe. »Tut mir leid, daß ich Sie unterbrechen muß. Notruf von Dr. Ferrel. Bleiben Sie in der Leitung. Ich verbinde!« Jetzt erschien Palmers Gesicht auf dem Schirm, und diesmal versuchte er gar nicht erst, mit mechanischem Lächeln etwas zu vertuschen. »Was gibt’s, Ferrel?« »Ich möchte Blake hier in der Chirurgie haben. Ohne ihn wird’s nicht gehen. Die Vermittlung sagt…« »Ja«, unterbrach Palmer kurz, »ich habe selbst versucht, ihn zu erreichen. Aber seine Wohnung gibt keine Antwort. Haben Sie eine Ahnung, wo man ihn erreichen könnte?« »Versuchen Sie es im Bluebird oder in einem anderen Nachtklub.« Verdammt noch mal! Warum mußte ausgerechnet diese Nacht Blake seinen Hochzeitstag feiern? Palmer sprach schon wieder: »Ich habe in allen Restaurants und Lokalen anfragen lassen. Ohne Ergebnis. Wir kämmen im Augenblick die Theater und Kinos durch… Augenblick mal… Nein, auch dort ist er nicht, Ferrel. Letzter Stand der Dinge: keine Antwort.« »Wie wäre es mit einem Aufruf über Funk oder Fernsehen…?« »Würde ich ja gern tun«, unterbrach Palmer, »ist aber leider nicht möglich.« Der Direktor hatte nur eine Sekunde gezögert, doch die Absage war eindeutig. »Nebenbei bemerkt, wir haben Ihre Frau verständigt, daß Sie heute nacht nicht nach Hause kommen. Vermittlung? Ja? In Ordnung – verbinden Sie mich wieder mit dem Gouverneur!« Es hatte keinen Zweck, sich mit einem leeren Schirm herumzustreiten. Wenn Palmer keinen Notruf durch die öffentlichen Rundfunkanstalten ausstrahlen lassen wollte, dann war das seine Sache. Einmal war das allerdings schon geschehen. »Alle Amtsleitungen sind ausgefallen – wir haben Ihre Frau verständigt – verbinden Sie mich wieder mit dem
Gouverneur!« Doc mußte die Worte laut wiederholt haben, als er in die chirurgische Abteilung zurückkehrte; denn Jenkins’ Gesicht verzog sich zu einem schiefen Grinsen. »Also sind wir von der Außenwelt abgeschnitten. Ich wußte es. Schwester Meyers ist eben eingetroffen.« Er nickte der Schwester zu, die aus dem Umkleidezimmer kam. Ihr hübsches Gesicht war eher verwirrt als besorgt. »Ich wollte eben das Werk verlassen, als mein Name ausgerufen wurde. Verdammt, ich hatte mehr Mühe hereinzukommen als hinaus! Wir sind eingeschlossen! Ich sah die Werkpolizei. Sie schickten jeden zurück, der durch das Tor will – herein oder hinaus. Wissen Sie, was das zu bedeuten hat, Dr. Ferrel?« »Ich weiß auch nicht mehr als Sie, Meyers«, erwiderte Ferrel. »Palmer erwähnte etwas von Nachlässigkeiten an den Schotten 3 und 4. Wahrscheinlich sind es nur Präventivmaßnahmen, die jetzt getroffen werden. Auf jeden Fall würde ich mir erst Gedanken darüber machen, wenn es sein muß, ja?« »Ja, Dr. Ferrel.« Aber zufrieden war sie mit dieser Antwort keineswegs, das sah man ihr an. Doc begriff, daß weder er noch Jenkins im Augenblick Ruhe und Zuversicht ausstrahlten. »Jenkins«, murmelte er, »wenn Sie etwas wissen, was ich nicht weiß – dann heraus damit, Menschenskind! Ich habe noch nie so viel Betriebsamkeit und Geheimhaltung auf einmal erlebt!« Jenkins schüttelte sich und gebrauchte zum erstenmal Ferrels Spitznamen: »Doc, ich weiß es wirklich nicht. Deswegen bin ich ja so nervös. Ich weiß nur so viel, daß ich mir meiner Sache viel weniger sicher sein kann als Sie, Doc. Und ich – ich habe Angst wie vor der Pest, als man noch nichts dagegen hatte!« »Zeigen Sie mir Ihre Hände!« Dieses Thema war geradezu eine Manie von ihm – er wußte das wohl –, aber es hatte seine Berechtigung. Jenkins streckte auch sofort die Hände aus, und sie zitterten kein bißchen. Er hob die Arme, daß der Kittel bis
zu den Ellenbogen rutschte, und auch kein Tropfen Schweiß war daran zu entdecken. Ferrel nickte. Auch kein Schweißausbruch in den Achselhöhlen. »Gut, mein Junge. Mir ist es egal, wieviel Angst Sie haben – werde wohl selbst nicht frei davon bleiben –, aber da Blake ausfällt und die anderen Schwestern und Pfleger, muß ich mich auf das verlassen können, was ich habe.« »Doc?« »Ja?« »Wenn Sie wollen, kann ich Ihnen noch eine Schwester beschaffen – eine gute. Eine bessere und zuverlässigere finden Sie nicht; nur arbeitet sie zur Zeit nicht. Auf meinen Wunsch hin. Aber sie zieht mir das Fell über die Ohren, wenn wir sie jetzt nicht rufen, wo wir so dringend Hilfe brauchen.« »Keine Leitungen nach auswärts, Junge«, erinnerte ihn der Arzt. Es war das erstemal, daß er echte Begeisterung auf dem Gesicht des Jungen entdeckte. Egal, ob die Schwester nun wirklich was taugte oder nicht – jedenfalls gab sie Jenkins gewaltig Auftrieb. »Meinetwegen gern, wenn Sie durchkommen. Ihre Freundin?« »Frau.« Jenkins ging zum Umkleidezimmer. »Brauche kein Telefon. Wir haben unsere UKW-Sender, mit denen wir uns verständigen. Alte Sitte noch von der Klinik her. Habe meinen Apparat hier.« Das Sirenengeheul kam näher, als Jenkins wieder aus dem Zimmer trat. »Ich habe auch mit Palmer gesprochen, Sir. Gab seine Zustimmung, ohne zu fragen, wie ich sie verständigen wollte. Die Vermittlung hat anscheinend Anweisung, unsere Gespräche vorrangig abzufertigen.« Doc nickte nur schweigend. Die Sirene verstummte vor dem Gebäude. Ein Gefühl der Erleichterung überkam ihn, als er Jones auf die Rampe eilen sah. Arbeit, selbst unter Zeitdruck
im Katastrophenfall, war immer noch besser als das Ungewisse Warten auf Entwicklungen. Zwei Bahren wurden hereingebracht – beide doppelt belegt. Beel redete hemmungslos auf den Wärter ein. War gar nicht seine Art. Sonst war er das Phlegma in Person. »Ich kündige! Morgen bin ich weg! Ich mache das nicht mit! Ich schaue nicht zu, wie sie die Leichen herausziehen – nicht solche Leichen wie die! Weiß gar nicht, was ich dort noch soll! Die holen ja doch keinen mehr lebend raus! Und von jetzt ab nehme ich den großen Rettungswagen!« Ferrel ließ ihn reden. Der Mann stand dicht vor einem Nervenzusammenbruch. Das sah man ihm an. Er konnte sich nicht mit Beel beschäftigen. Durch das Visier eines Schutzanzuges sah er das rohe Fleisch eines Gesichtes leuchten. »Schneide von den Schutzanzügen herunter, was runter geht, Jones!« rief er. »Wenigstens die Bleischilde müssen weg. Ist die Gerbsäure bereit, Schwester?« »Ja.« Jenkins half Jones, die schweren Schutzanzüge und helme zu entfernen. Ferrel stellte die Ultraschallanlage wieder ein, um die Metallanzüge zu sterilisieren. Jenkins eilte zum Automaten, um neue Handschuhe zu holen, während Jones drei Verunglückte in den Operationsraum schob. Der vierte war auf dem Transport gestorben. Kein Zweifel – es würde blutige Arbeit geben. Wo das Metall der Anzüge die Haut berührt oder fast berührt hatte, war das Fleisch versengt. Und das war noch das harmlosere; denn die Spuren der radioaktiven Verbrennungen waren überall zu erkennen. Und dabei handelte es sich nicht nur um oberflächliche Verbrennungen, sondern diese hatten sich unter die Haut, möglicherweise bis in die Organe hineingefressen. Und noch schlimmer: Die schrecklichen Zuckungen und Krämpfe deuteten an, daß radioaktives Material in das Fleisch eingedrungen war und auf die Nerven einwirkte. Jenkins warf
einen hastigen Blick auf den zuckenden Leib seines Patienten, und sein Gesicht wurde eine gelblichweiße Maske. Das war das erste wirkliche Beispiel dafür, was strahlende Materie einem Menschen antun konnte. »Curare«, sagte er schließlich, preßte das Wort geradezu heraus. Schwester Meyers reichte ihm die Nadel. Er stach ein, ruhig, kein Zittern der Hand. Diese Muskelkrämpfe ließen nur einen einzigen Schluß zu: Die Radioaktivität hatte sich nicht nur einen Weg durch die Ventilationsgitter der Anzüge gebahnt – sie hatte auch die so gut wie luftundurchlässigen Gelenke der Schutzanzüge durchschlagen. Radioaktive Partikel waren in das Fleisch der Männer eingedrungen und beeinflußten jetzt jeden Nerv, unterbanden die üblichen Befehlsimpulse zwischen Muskeln, Gehirn und Rückenmark, errichteten ihre eigenen Diktaturen, verbreiteten Anarchie um sich her, ließen die Muskeln zucken und sich verkrampfen, ohne Sinn und ohne Rücksicht, ohne dem Körper Zeit zu geben, verlorene Kräfte aufzutanken, sich zu entspannen, sich auszuruhen. Vergleichsweise konnte man nur einen Fall von schwerer Strychninvergiftung anführen oder einen Metrozolschock bei einem schizophrenen Geisteskranken. Sorgfältig spritzte Ferrel Curare – berechnete die Dosis seiner Erfahrung und der Reaktion entsprechend. Jenkins hatte bereits die zweite Injektion gemacht, als Doc von seiner ersten aufsah. Doch trotz des raschen Ausbreitens der Droge im Körper hörte der Krampf- und Zuckungsprozeß nicht auf. »Curare«, wiederholte Jenkins, und Dr. Ferrel erschrak innerlich. Er ging immer noch mit sich zu Rate, ob man eine Überdosis riskieren durfte. Doch er gab keine Gegenanweisung; fühlte sogar eine gewisse Erleichterung, daß ihm diesmal die Entscheidung abgenommen wurde. Jenkins ging an die Arbeit, trieb die Injektionen bis zum äußersten Grad des Erlaubten – und sogar noch etwas darüber. Einer der
Patienten stöhnte mit Unterbrechungen, je nachdem, ob sich Lunge und Stimmbänder in Synchronisation befanden oder nicht. Doch unter dem Einfluß der Droge klang der Stimmbänderkrampf ab, und in wenigen Minuten lagen alle drei Verunglückten auf den Tischen und atmeten flach und kurz, was typisch für die Curarebehandlung war. Noch immer zitterten die Muskeln; doch während vorher die Gefahr bestanden hatte, daß sie sich im jähen Aufbäumen selbst die Glieder brechen würden, glichen die Bewegungen jetzt den Zuckungen eines Kranken, der an Schüttelfrost litt. »Gott segne den Mann, der uns das synthetische Curare geschenkt hat«, murmelte Jenkins, während er das verbrannte Fleisch entfernte. Schwester Meyers half ihm. Doc konnte dem nur beipflichten. Bei dem alten natürlichen Produkt war eine genaue Dosierung praktisch unmöglich gewesen. Zuviel – und der Körper starb daran. In wenigen Minuten waren die Muskeln im Oberkörper erschöpft und versagten. Zuwenig Curare war so gut wie wirkungslos. Nachdem jetzt die Gefahr der Selbstverstümmlung und lebensgefährlicher Erschöpfung der Opfer gebannt war, konnte Ferrel sich der nächsten Aufgabe widmen: der Schmerzbetäubung. Denn Curare hatte so gut wie keine Wirkung auf die Nerven der Sinnesempfindung. Er injizierte Neo-Heroin und säuberte die verbrannten Stellen, behandelte sie mit Gerbsäurelösung, dann mit Sulfonamiden, um mögliche Infektionen zu bannen, und blickte dabei zu Jenkins hinüber. Er brauchte sich um ihn keine Sorgen zu machen. Die Nerven des Jungen waren zu einer unnatürlichen Ruhe erstarrt, obgleich er mit einem Tempo arbeitete, das Ferrel erst gar nicht nachzuahmen versuchte, weil sonst die Gründlichkeit darunter gelitten hätte. Auf eine Geste hin reichte ihm Schwester Dodd den kleinen Strahlendetektor, und er suchte damit die Haut ab, Zentimeter um Zentimeter, um die mikroskopisch winzigen
Materieteilchen aufzuspüren. Natürlich konnte er nicht erwarten, sie jetzt alle zu lokalisieren, doch die größten mußte er finden und operativ entfernen. Später, bei der Nachbehandlung, konnte er auch die kleinsten Reste strahlender Materie aufspüren. »Jenkins«, fragte er, »wie steht es mit der diemischen Wirkung von I-713? Ist das Zeug giftig?« »Nein. Vollkommen ungefährlich, nur als strahlende Materie gefährlich. Acht im äußeren Elektronenring. Chemisch passiv. Radiologisch nur als instabiles Isotop gefährlich.« Das war wenigstens eine Hilfe. Die Strahlung war schlimm genug; doch wenn sie auch noch mit metallischen Giftwirkungen gekoppelt war wie bei Radium oder Quecksilber, war die Situation geradezu hoffnungslos. Die kleinen Partikel, die sich kolloidartig über den Körper verteilten, würden ihre eigenen Warnsignale aussenden. In den schlimmsten Fällen konnte man dann die I-713-Partikel herausschneiden. Im übrigen ließ man sie so lange im Körper, bis sich ihre Energie erschöpft hatte. Gott sei Dank besaß I-713 nur eine kurze Halbwertszeit, so daß auch die Leidenszeit und der Krankenhausaufenthalt der Männer nicht solange dauern würde. Jenkins half Ferrel bei dem letzten Patienten, löste Schwester Dodd beim Zureichen der Instrumente ab. Doc hätte die Schwester als Assistentin lieber gehabt, weil sie auf seine kleinen Handbewegungen und -signale eingespielt war. Doch er sagte nichts, staunte nur über das Geschick und die Tüchtigkeit des Jungen auch in der Rolle einer OP-Schwester. »Wie steht es mit den Spaltprodukten?« fragte er. »I-713? Die meisten sind ziemlich harmlos. Was nicht harmlos ist, ist nicht so konzentriert, daß man sich deswegen Sorgen machen müßte. Das heißt, wenn es sich wirklich nur um I-713 handelt. Andernfalls…« Andernfalls, führte Doc den Satz in Gedanken zu Ende, bestand zwar keine Gefahr der Vergiftung, aber Isotop R,
dessen Strahlungszeit nicht genau festlag, verwandelte sich innerhalb einer Milliardstelsekunde in Mahlers Isotop. Diese Vorstellung – einfach unglaublich! Männer, die mit diesem Zeug infiziert waren, über deren Körper sich radioaktive Partikel verteilten, zerriß es plötzlich mit einer unvorstellbaren Gewalt. Jenkins mußte ähnliche Gedanken gehabt haben. Ein paar Sekunden lang sahen sie sich stumm an, doch keiner wagte, darüber zu reden. Ferrel griff nach der Sonde, Jenkins zuckte die Achseln, und beide setzten ihre Arbeit fort. Es war ein Bild, das man sich nicht vorstellen konnte. Aber vielleicht würden sie es erleben. Wenn so eine Atomexplosion stattfand, hatte man keine Vorstellung, was aus dem Werk werden würde. Niemand wußte, mit welcher Menge Dr. Maicewicz damals experimentiert hatte. Man wußte nur, daß es die kleinste Menge war, mit der zu experimentieren der Wissenschaftler noch in der Lage gewesen war. Den Schaden im voraus zu schätzen war unmöglich. Die Männer auf den Operationstischen, die herausgeschabten und herausgeschnittenen Gewebeteile mit den kleinen Substanzen strahlender Materie, selbst die Instrumente, die damit in Berührung gekommen waren: all das waren Bomben, die nur auf die Zündung warteten. Ferrel überkam jetzt jene mechanische Sicherheit, jene tödliche Ruhe, die er schon von Anfang an bei Jenkins beobachtet hatte. Er konzentrierte sich auf die komplizierte Arbeit, die er mit seinen Händen verrichten mußte. Es mochten Minuten oder auch Stunden vergangen sein, bis der letzte Verband angelegt, die Knochenbrüche geschient waren. Meyers und Dodd, unterstützt von dem Pfleger Jones, nahmen sich jetzt der Patienten an, brachten sie in die Stationen. Die beiden Ärzte waren unter sich, wichen sich aus, warteten, ohne zu wissen, was nun wirklich geschehen würde. Von draußen drang ein
Dröhnen zu ihnen herein. Der Boden zitterte unter dem Gewicht vieler Tonnen. Beide Ärzte eilten zum Seitenausgang. Sie spähten hinaus und sahen gerade noch das Heck eines schweren Panzers um die Ecke verschwinden. Es war Nacht geworden, aber die Scheinwerfer auf den Mauertürmen des Werksgeländes erleuchteten das Areal taghell. Außer dem Panzer sahen sie jedoch nichts, da ihnen andere Gebäude die Sicht versperrten. Beim Haupttor erklang schrilles Pfeifen, dann hörten sie Männerstimmen, Kommandos. Jenkins nickte. »Ich möchte wetten… ah, da sind sie ja schon!« Eine Gruppe Soldaten, feldmarschmäßig ausgerüstet, die Bajonette aufgepflanzt, kam in langer Reihe um die nächste Gebäudeecke. Ein Sergeant führte sie an, hob die Hand, beschrieb damit einen Kreis. Die Männer besetzten die Ausgänge aller Gebäude. Ein Soldat kam auf den Seitenausgang zu, wo Ferrel und Jenkins standen. »Deswegen hat also Palmer mit dem Gouverneur verhandelt«, murmelte Ferrel. »Sinnlos, die Soldaten zu fragen. Sie wissen noch weniger als wir. Ruhen wir uns eine Weile aus. Frage mich nur, wozu der Einsatz von Militär gut sein soll – es sei denn, Palmer fürchtet, jemand könnte hier im Werk durchdrehen und etwas Verrücktes anstellen.« Jenkins folgte ihm ins Büro. Ganz mechanisch nahm er eine Zigarette und zündete sie an. Er lehnte sich in dem Ledersessel zurück. Ferrel spürte, wie gut es tat, Nerven und Muskeln eine Atempause zu verschaffen. Sie mußten viel länger in der Chirurgie gearbeitet haben, als sie geglaubt hatten. »Was zu trinken?« »Hm – können wir uns das leisten? Wir müssen wahrscheinlich gleich wieder an die Arbeit.« Ferrel grinste und nickte. »Wird Ihnen nicht schaden, mein Junge. Der Alkohol erreicht unsere Nerven gar nicht, wird vorher schon in Kalorien umgesetzt. Hier!« Ferrel goß eine
großzügige Portion Whisky für jeden in die Gläser. Die Nerven entspannten sich etwas nach dem ersten Schluck. Wärme floß durch den Körper. »Wo nur Beel solange bleibt?« »Der Panzer ist wahrscheinlich die Erklärung dafür. Offenbar ist die Arbeit selbst mit Schutzanzügen zu gefährlich. Die Panzer müssen her, um dort aufzuräumen. Und bei der Strahlungsgefahr bedeutet das langsame Arbeit. Spezialtanks noch dazu – wie? Mit besonders strahlungssicherer Panzerung. Na ja, es wäre wichtiger, die Kettenreaktion zu dämpfen, als die Männer herauszuholen. Hoffentlich ist ihnen das auch eingefallen. Su!« Ferrel blickte auf und sah das Mädchen im Türrahmen stehen. Sie trug einen Operationskittel. Kein Wunder, daß Jenkins’ Augen aufleuchteten. Sie war zierlich, doch schien ihre Figur sie irgendwie größer zu machen, als sie in Wirklichkeit war, und der gesammelt ernste Ausdruck von Sachlichkeit verwischte nicht die Anmut und den Charme, der ihr Gesicht prägte. Sie war offenbar ein paar Jahre älter als Jenkins. Doch als er aufstand, um sie zu begrüßen, wurde ihr Gesicht ganz weich und mädchenhaft. Plötzlich schien sie jünger als er, wie sie vor ihm stand und zu ihm aufsah. »Sie sind Dr. Ferrel, nicht wahr?« fragte sie dann. »Ich habe nicht eher kommen können – am Tor gab es Schwierigkeiten, bis sie mich durchließen. Deshalb zog ich mich gleich um. Und damit Sie keine Bedenken zu haben brauchen: hier sind meine Diplome und Zeugnisse.« Sie legte ein kleines Bündel auf den Tisch, und Ferrel überflog die Papiere flüchtig. Sie versprachen viel mehr, als er erwartet hatte. Sie war, technisch gesprochen, gar keine Krankenschwester, sondern Doktor der Medizin, eine sogenannte vollakademische Chefassistentin. Seit Jahren bestand schon Bedarf an Assistentinnen, die Ärztin und Schwester zugleich waren und die Ausbildung und das Wissen von beiden Berufszweigen besaßen. Doch erst in den
letzten zehn Jahren hatte man diesen Berufszweig auf der Universität vorbereitet, und qualifizierte Kräfte dieser Art konnte man noch mit der Lupe suchen. Er nickte und reichte die Diplome zurück. »Wir können Sie wirklich gut gebrauchen, Dr….« »Susan Brown – mein Berufsname, Dr. Ferrel. Und ich bin daran gewöhnt, daß man mich nur Schwester Brown ruft.« Jenkins unterbrach diese Förmlichkeiten. »Su, gibt es draußen Gerüchte oder Nachrichten, was hier im Werk vorgeht?« »Nur Gerüchte – doch ich hatte kaum Zeit hinzuhören«, erwiderte sie. »Ich weiß nur, daß man eventuell die Stadt evakuieren will – und alles im Umkreis von fünfzig Meilen um diese Fabrik. Doch das ist noch nicht offiziell. Manche behaupten auch, der Gouverneur habe das Kriegsrecht verhängt. Doch bisher habe ich Militär nur auf dem Werksgelände angetroffen.« Jenkins führte sie hinaus, um ihr den Operationsraum und die Station zu zeigen und sie Jones und den beiden Schwestern vorzustellen. Ferrel saß unterdessen in seinem Privatbüro und wartete auf die Sirene des Krankentransporters. Was hielt eigentlich den Krankenwagen so lange auf? Er hätte die Sirene längst hören müssen. Doch es kam kein Wagen, sondern eine Gruppe von Verletzten. Zwei trugen einen zwischen sich, der vierte stützte den fünften. Jenkins übernahm den einen Fall, assistiert von seiner Frau. Ähnliche Symptome wie bei den ersten Fällen – doch keine Verbrennung durch Berührung von heißem Metall. Ferrel wendete sich den Männern zu, die noch stehen konnten. »Wo ist Beel und der Krankenwagen?« Er untersuchte das Bein des Mannes, den sie stützten, behandelte bereits, ohne ihn zum Operationstisch zu schaffen. Offensichtlich war ein erbsengroßes Stück radioaktiver Materie unter der Hüfte ins
Fleisch eingedrungen. Das gebrochene Bein war die Folge der gewaltsamen Muskelbewegungen durch die Strahleneinwirkung. Die Wunde sah böse aus. Inzwischen hatte die Strahlungsenergie des eingedrungenen Fremdkörpers die Nerven in der Nähe der Wunde verbrannt. Das Bein war schlaff und ohne Gefühl. Der Mann sah Dr. Ferrel bei der Arbeit zu, seine Lippen zu einem bläßlichen Lächeln verzogen, die Augen starr, halb bewußtlos. Doch er zuckte nicht, als die Wunde ausgeschabt wurde. Ferrel arbeitete im Schutze eines Bleimantelschildes. Die Hände steckten in bleigefütterten Handschuhen. Das ausgeschabte radioaktiv verseuchte Fleisch kam in einen Behälter aus Blei. »Beel – der ist geistig weggetreten, Doc«, antwortete einer der Verletzten. »Hat sich irgendwie vollaufen lassen. Fuhr mit dem Wagen gegen eine Hauswand. Konnte nicht zusehen, wie wir sie rauszogen – und wir sind nicht mal Sanitäter. Und Alkohol bekamen wir auch nicht zur Stärkung!« Ferrel wendete dem Mann rasch den Kopf zu. Auch Jenkins blickte auf. »Ihr habt sie rausgeholt? Soll das heißen, ihr kommt gar nicht aus dem Reaktorraum?« »Teufel, nein, Doktor. Sehen wir so schlimm aus? Die zwei erwischte es, als das Zeug ihren Schutzanzug glatt durchschlug. Ich hab’ nur ein paar Brandwunden abbekommen, aber ich beklage mich nicht. Ich habe einige der Kameraden gesehen, die nichts mehr sagen können. Ich beklage mich wirklich nicht.« Ferrel hatte bisher die drei, die es aus eigener Kraft bis hierher geschafft hatten, noch gar nicht beachtet. Doch jetzt untersuchte er sie sorgfältig. Sie hatten Brandwunden davongetragen – alles Strahlungsschäden; doch die Wunden waren so frisch, daß sie noch nicht richtig auffielen. Und
wahrscheinlich hatte der Schock verhindert, daß sie ihre eigenen Schmerzen spürten. »In meinem Zimmer steht eine Flasche Whisky«, sagte Ferrel. »Sie ist noch fast voll. Jeder bekommt einen Schluck – aber nicht mehr. Dann geht ihr in die Station, und dort wird Schwester Brown eure Wunden behandeln, so gut es im Augenblick geht.« Es war an der Zeit, an Arbeitsteilung zu denken. Sie mußten mit ihren Kräften haushalten. Das Schlimmste stand ihnen sicherlich noch bevor. »Gibt es noch Chancen, in der Reaktorhalle Leute lebend zu bergen?« fragte er. »Vielleicht. Jemand sagte, das Ding ließ ein Stöhnen hören, ehe es explodierte. Folglich blieb den meisten noch eine halbe Minute Zeit, in die beiden Sicherheitskammern zu flüchten. Ich glaube, wir werden selbst wieder mit anpacken, außer, Sie verbieten es, Doktor. Brauchen wahrscheinlich noch eine halbe Stunde, ehe sie an die Kammern herankommen. Dann werden wir mehr wissen.« »Gut. Aber es hat keinen Sinn, jeden Verletzten, der noch aufrecht gehen kann, wieder an die ›Front‹ zu schicken. Sonst können wir uns hier bald nicht mehr retten vor Verbrannten. Wir müssen uns auf ernstere Fälle einrichten. Dr. Brown, ich glaube, Sie bekommen eine neue Verantwortung. Sie führen die Rettungsmannschaft. Einer von den Leuten hier soll die zweite Ambulanz fahren. Jones wird ihn einweisen. Sie behandeln die Brandwunden an Ort und Stelle, schicken die schweren Fälle ins Quartier und die Nervengeschädigten hierher. Die Erste-Hilfe-Kästen sind im Büro und im Wagen. Jemand muß Erste Hilfe leisten und nur die schweren Fälle herschicken. Wir haben hier leider nicht für die ganze Belegschaft Platz.« Schwester Meyers löste Dr. Brown als Assistentin von Jenkins ab. Susan Brown kam mit den Erste-Hilfe-Kästen
herein und blickte die Männer an, die zu Fuß gekommen waren: »Okay, auf geht es. Ich steige hinten ein und verbinde euch unterwegs. Sie da – Sie übernehmen das Steuer. Man hätte uns längst verständigen sollen, daß Beel ausgefallen ist. Dann wäre die Ambulanz schon wieder unterwegs.« Sie verließen hinter Dr. Brown den Raum, während Jones die zweite Ambulanz an die Rampe fuhr. Doc rührte inzwischen die Masse für den Gipsverband an, den der Mann auf dem Tisch angelegt bekam. Wirklich schade, daß sie hier nicht eine Planstelle für eine Schwestern-Ärztin hatten. Er mußte Palmer darauf aufmerksam machen. Fragte sich nur, ob Palmer und er den Unfall überleben würden. Hm, die Männer in den Sicherheitskammern. Er hatte an die Dinger gar nicht mehr gedacht. Wie kamen die wohl darin zurecht? Schwer zu sagen. Angeblich schützten diese Kästen gegen alles. Absolut unfallsicher. Vielleicht waren die Leute dort wirklich in Sicherheit. Aber eine Wette darauf wollte er nicht eingehen. Er zuckte die Achseln, legte den Gipsverband an und ging dann zu Jenkins’ Tisch hinüber. Jenkins deutete mit einer Kopfbewegung auf den Patienten. »Eine Menge Isotopen glatt durch die Schutzschilde. Überall sitzen die Dinger im Fleisch. ›Durchgeschossen‹ ist der richtige Ausdruck, Dr. Ferrel. I-713 hätte so etwas nicht fertiggebracht.« »Hm.« Der Arzt war nicht in der Verfassung, jetzt mit Hypothesen aufzuwarten. Er ertappte sich dabei, wie er auf die Bleikassette starrte, in der sie die herausoperierten Gewebeteile unterbrachten. Jedesmal, wenn er den Schraubverschluß öffnete, konnte er ein schwaches Glimmen erkennen. Jenkins bemühte sich, jedesmal wegzusehen. Sie waren mit ihrer Arbeit fast fertig, als das Mädchen von der Vermittlung einen Anruf meldete. Sie gingen beide ins Büro hinüber. Susan Browns Gesicht erschien auf dem Schirm. Sie hatte zwei rote Flecken auf den Wangen, und ihr Haar war
wirr. Mit dem Handrücken schob sie die kastanienbraunen Locken aus der Stirn. »Sie haben eben die Sicherheitskammern im Reaktorsaal geknackt, Dr. Ferrel. Die nördliche Kammer hat die Sache vorbildlich überstanden. Nur ein bißchen heiß und ein paar Brandwunden. Aber bei der anderen ging etwas schief. Ein Sauerstoffventil versagte. Alle sind am Leben, aber bewußtlos. Flüssige Materie muß durch die Tür gesickert sein. Sechzehn Leute haben Krämpfe, ein Dutzend hat es nicht überlebt. Ein paar brauchen mehr Behandlung, als ich ihnen hier geben kann. Ich habe Hokusai beauftragt, einige Männer abzustellen, um die Verwundeten in die Station zu bringen. Es kommt also einiges auf Sie zu!« Ferrel brummte und nickte. »Könnte schlimmer sein, glaube ich. Passen Sie auf sich auf, Dr. Brown!« »Das gleiche möchte ich Ihnen empfehlen!« lächelte sie, warf Jenkins noch eine Kußhand zu und schaltete ab. In diesem Augenblick hörte er die Sirene näher kommen. Sie gingen zurück in die chirurgische Abteilung. Draußen auf der Rampe hielt ein Lastwagen hinter der Ambulanz. Männer hoben die Verletzten heraus. »Jones, schneide ihnen irgendwie die Anzüge herunter und schnapp dir jeden, der dir dabei helfen kann! Curare, Dodd! Genug Vorrat auf Spritzen aufziehen. Zuerst müssen wir was gegen Muskelkrämpfe tun – alles andere kommt dann in zweiter Linie!« Offensichtlich stand ihnen jetzt eine chirurgische Massenabfertigung bevor. Auf Feinheiten zu achten, war jetzt nicht die Zeit. Die Not und der Kampf um Sekunden saßen ihnen im Nacken. Und wieder leistete Jenkins mit seiner eigenartig mechanischen, sturen Beharrlichkeit doppelt soviel wie Ferrel. Sein Gesicht war totenblaß und seine Augen glasig, aber seine Hände arbeiteten pausenlos, maschinengleich.
Während der Arbeit blickte Jenkins irgendwann einmal auf und sagte zu Schwester Meyers: »Sie legen sich jetzt schlafen, Schwester! Miss Dodd kann Dr. Ferrel und mir gleichzeitig assistieren, wenn wir nebeneinander operieren. Ihre Nerven müssen abschalten. Sie brauchen unbedingt zwei Stunden Ruhe.« »Und was ist mit Ihnen, Doktor?« »Ich…« Er grinste. »Ich habe eine zu lebhafte Phantasie. Die läßt mich nicht schlafen. Außerdem werde ich hier gebraucht.« Der Satz hatte irgendwie einen falschen Klang am Ende. Dr. Ferrel blickte seinen jungen Kollegen nachdenklich an. Jenkins bemerkte den Blick. »Es ist schon gut, Doc. Ich werde Ihnen Bescheid sagen, wenn meine Nerven verrückt spielen. War doch in Ordnung, daß ich die Meyers wegschickte, oder?« »Sie sind in ihrer Nähe gewesen und konnten besser beurteilen, ob sie Ruhe brauchte, als ich.« Theoretisch unterstanden sämtliche Schwestern dem Chefarzt; doch mit solchen Kompetenzzuständigkeiten belasteten sie sich schon lange nicht mehr. Ferrel wischte sich kurz den Schweiß aus dem Nacken und nahm dann wieder das Skalpell. Im Osten zeigte sich schon ein fahles, graues Licht, als das letzte Opfer aus der Sicherheitskammer behandelt worden war, so gut es eben ging. Einige Patienten lagen jetzt bereits auf Notbetten im Warteraum. Während der Nacht hatte der Reaktor noch mehrmals gespuckt – zweimal sogar durch seine Panzerung und Bleiwände. Doch jetzt herrschte eine vorübergehende Atempause, da keine weiteren Arbeiter mehr zur Behandlung eingeliefert wurden. Doc schickte Jones hinüber in die Kantine, um frischen Kaffee zu besorgen, und ging dann in sein Privatbüro, wo Jenkins schon im Ledersessel saß, den Kopf auf die Rückenlehne gelegt. Der Junge war an der Grenze seines Leistungsvermögens angelangt. Die Belastung
der Nacht und seine Sorge, die aus dem Wissen um die Zusammenhänge der Ereignisse im Reaktorraum zu stammen schien, hatten ihn ausgepumpt bis an den Rand des Zusammenbruchs. Doch er blickte überrascht auf, als er die Nadel spürte. Ferrel drückte den Kolben ganz hinein und gab sich selbst eine Injektion, ehe er sich zu einer Erklärung aufraffte: »Morphin natürlich. Was sollen wir sonst machen? Wir brauchen etwas, das uns in Trab hält, oder wir können uns in ein paar Stunden ebenfalls hinlegen. Eine Droge, die den Schlaf ersetzen könnte, wäre mir allerdings lieber. Wünschte, sie wären mit der neue Droge, die sie in Harvard ausgeknobelt haben, schon aus dem Versuchsstadium heraus. Könnten so etwas jetzt gut gebrauchen. Hier – essen Sie!« Jenkins verzog das Gesicht beim Anblick des Frühstücks, das Jones jetzt vor ihn hinstellte. Doch er wußte genausogut wie Doc, daß Essen gerade in diesem Moment äußerst wichtig war. Er zog den Teller zu sich heran. »Ich brauche keine Schlafersatzdroge, Doc. Eine halbe Stunde altmodischen Tiefschlafes würde Wunder wirken. Doch selbst wenn ich die Zeit dafür hätte – ich schaffte es nicht. Solange die dort drüben Isotop R kochen, Doc – ganz ausgeschlossen, dabei noch an Schlaf zu denken!« Das Mädchen von der Vermittlung enthob Dr. Ferrel der Antwort. Die Stimme war laut und fast hysterisch: »Telefon für Dr. Ferrel! Dringend! Dr. Brown für Dr. Ferrel!« »Ferrel am Apparat!« Das Gesicht des Mädchens verschwand vom Schirm. Eine müde Susan Brown blickte sie an. »Was gibt’s?« »Dieser japanische Doktor – Hokusai –, der diese Reaktorenbrut unter sich hat, Doktor. Ich bringe ihn ins Revier. Akute Blinddarmentzündung. Bereiten Sie bitte die Operation vor!«
Jenkins verschluckte sich fast am Kaffee. Halb hysterisch, halb ironisch platzte er prustend heraus: »Ein Blinddarm, Doktor! Ausgerechnet! Würde mich nicht wundern, wenn wir auch noch mit einer Entbindung überrascht würden!« Es hätte schlimmer sein können. Susan Brown hatte den kleinen Vereisungsapparat an der Bahre eingeschaltet und die Temperatur des Unterleibs gesenkt. Dadurch war Hokusai zum einen für die Operation vorbereitet worden, zum anderen wurde das Fortschreiten des Entzündungsprozesses verzögert. Kurz – der Blinddarm war noch nicht durchgebrochen, als der Patient in den Operationsraum gefahren wurde. Sein faltiges olivfarbenes Gesicht hatte einen grauen Farbton, aber trotzdem brachte er noch ein schwaches Lächeln zustande. »Tut mir sehr leid, Dr. Ferrel. Sehr leid, daß ich Sie belästigen muß. Keinen Äther, bitte!« Ferrel knurrte: »Brauchen wir nicht, Hoke. Wir vereisen, zumal wir damit schon angefangen haben. Jones, hierher… Und Sie gehen wieder ins Zimmer hinüber und setzen sich hin, Jenkins.« Brown wusch sich gerade mit Desinfektionsflüssigkeit und kam dann herein. »Mußten ihn festbinden, Dr. Ferrel. Sagte, er brauche nur ein Pfefferminz und ein bißchen Mineralöl für seine Leibschmerzen! Warum sind ausgerechnet die intelligenten Leute die dümmsten, wenn es um ihre Gesundheit geht?« Auch Ferrel hatte sich darüber schon öfter den Kopf zerbrochen. Er überprüfte kurz die Temperatur, während das chirurgische Hypothermiegerät eingeschaltet wurde. Die Temperatur war niedrig genug. Er konnte mit dem Eingriff beginnen. Hoke zuckte nur mit den Lidern, als das Skalpell die Haut aufritzte. Das Abschalten aller nervösen Reaktionen und folglich jeder postoperativen Schockwirkungen waren zwei der bedeutenden Vorteile der Niedrig-Temperatur-Chirurgie. Ferrel zog die Fleischlappen auseinander, schnitt rasch den
Blinddarm ab und holte ihn durch den kleinen Einschnitt heraus. Dann schraubte er eines der Zusatzgeräte auf den mechanischen Nähapparat und nähte die Bauchhöhle wieder zu. »Alles erledigt, Hoke. Sie können von Glück sagen, daß er nicht durchbrach – eine Bauchfellentzündung ist alles andere als ein Vergnügen. Die Station ist überfüllt, der Warteraum auch – deswegen müssen Sie hier auf dem Tisch liegenbleiben, bis wir ein Bett für Sie finden. Auch keine hübsche Krankenpflegerin für Sie – sofern nicht die Schwestern, die eigentlich heute früh ihren Dienst antreten müssen, bis zur Station durchkommen.« »Dann bleibt mir wohl nichts anderes übrig als zu schlafen. Aber rufen Sie bitte lieber vorher Mr. Palmer an. Sofort, bitte! Er muß wissen, wo ich bin.« Palmer nahm die Nachricht gar nicht sachlich und höflich entgegen. Er faßte sie eher wie eine persönliche Beleidigung auf – als einen Streich, den Hokusai und Ferrel ihm böswillig spielten. »Verdammt noch mal, Doc! Ich dachte, der würde die Sache irgendwie hinbiegen. Ich versprach dem Gouverneur, daß Hoke mit der Situation fertig würde. Verstehen Sie? Gab praktisch mein Ehrenwort. Schließlich ist er einer der besten Köpfe auf diesem Gebiet! Und jetzt das! Hm. Läßt sich wohl nicht mehr ändern. Natürlich kann er die Lage nicht meistern, wenn er nicht mitten drinsteht. Vielleicht weiß Jorgenson noch genug, um das Ganze vom Rollstuhl aus zu dirigieren. Wie geht es ihm übrigens? Kann man ihn wenigstens an eine Stelle schaffen, wo er dem Vorarbeiter Befehle geben kann?« »Augenblick mal«, unterbrach Ferrel ihn. »Jorgenson ist nicht hier bei uns. Wir haben zwar einunddreißig Leute aufgenommen, aber darunter ist er nicht. Und zu den Toten kann er auch nicht gehören, sonst wüßten Sie längst Bescheid.
Ich hatte nicht mal eine Ahnung, daß Jorgenson heute nacht im Dienst ist!« »Er mußte doch – war doch seine Formel, sein Programm! Hören Sie, Ferrel, man hat mir ausdrücklich gemeldet, daß Jorgenson zu Ihnen ins Revier geschafft wurde! Der Vorarbeiter hat ihn selbst auf die Bahre gelegt und mir Nachricht davon gegeben! Schauen Sie lieber noch einmal nach – rasch! Wenn Hoke ausfällt, muß Jorgenson einspringen!« »Er ist nicht hier – ich kenne ihn ganz genau, Palmer! Der Vorarbeiter muß ihn verwechselt haben mit dem Hünen aus der Sicherheitskammer! Doch der Mann hatte schwarzes Haar. Was ist denn mit den dreihundertundzwanzig Leuten, die bewußtlos geborgen wurden? Und den fünfzehnhundert Männern außerhalb der Reaktorgebäude, als das Ding explodierte? Ist er nicht bei denen?« Palmer ließ seine Backenmuskeln spielen. »Jorgenson hätte sich sofort gemeldet, Doc! Es ist sein Prozeß, der da kocht! Wir brauchen ihn dringend in der Halle! Die Leute warten auf seine Befehle! Er muß bei Ihnen sein, Doc!« »Ist er aber nicht! Wie wäre es, wenn Sie ein paar Verletzte in das Stadtkrankenhaus schaffen ließen?« »Habe es schon versucht. Abgelehnt. Können radioaktiv verseuchtes Fleisch nicht behandeln. Lassen deswegen keinen in ihre Abteilung. Besonders nicht, wenn sie nicht wissen, um was für Isotopen es sich handelt.« Palmer sprach, ohne mit den Gedanken dabei zu sein. Seine Backenmuskeln bewegten sich, als kaue er Gedanken, die ihm unverdaulich vorkamen. »Jorgenson – Hoke – und Keller ist schon zwei Jahre tot. Kein anderer in diesem Land versteht die Materie so gut, um eine halbwegs brauchbare Lösung vorzuschlagen. Selbst ich verliere schon auf Seite 6 die Übersicht. Ferrel, könnte es ein Mann in einem Tomlin mit fünffachem Bleischild in zwanzig
Minuten bis zur Sicherheitskammer geschafft haben, wenn er neben dem Reaktor stand?« Ferrel dachte nach. Ein Tomlin wog ungefähr vierhundert Pfund, und Jorgenson war ein Stier von einem Mann, aber eben nur ein Mensch. »Es ist unmöglich, einen Mann richtig einzuschätzen, der unter dem Zwang einer lebensgefährlichen Lage reagiert. Aber wenn Sie mich fragen, Palmer, ich glaube, er hätte in dieser Zeit nicht mal die Hälfte des Weges schaffen können.« »Hm. Meine Berechnung deckt sich mit Ihrer, Ferrel. Aber könnte er überlebt haben – ich meine, wenn er nicht unter Trümmern begraben wurde? Diese Schutzanzüge sind mit Luftvorräten für vierundzwanzig Stunden ausgerüstet, pumpen das Kohlendioxyd wieder in den Kreislauf zurück. Sind vollkommen dicht, kondensieren das Wasser und filtern es aus. Es sind die am besten isolierten Schutzanzüge, die es auf der Welt gibt!« »Eins zu einer Million, würde ich sagen. Aber wieder mit Vorbehalt, Palmer. Es ist verdammt schwer zu sagen, was möglich und was unmöglich ist. Wunder geschehen jeden Tag. Wollen Sie darauf setzen, Palmer?« »Bleibt mir ja gar nichts anderes übrig! Eine Alternative ist nicht vorhanden. Wir treffen uns vor Nummer 4, sobald Sie von Ihrem Operationstisch wegkommen! Bringen Sie alles mit, was Sie brauchen, um ein Leben zu retten – oder wiederzubeleben! Es kann um Sekunden gehen!« Palmers Gesicht verschwand, und Ferrel beeilte sich, in die chirurgische Abteilung zurückzukehren. Bei aller Logik: es gab keine Chance, auch in einem Tomlin nicht. Doch bis das wirklich feststand, mußten sie es versuchen. Sie durften keinen Strohhalm vorübertreiben lassen, wenn ein Prozeß außer Kontrolle geraten war, an dessen Ende ohne Zweifel Isotop R stand. Palmer verschleierte nichts mehr, wenn er auch nichts
ausdrücklich bestätigte. Und eines war außerdem klar: wenn Hoke den Prozeß nicht in den Griff bekam, konnte es auch keiner der anderen Wissenschaftler, die in den Zweigwerken der National Atomic oder in den kleineren, unabhängigen Betrieben arbeiteten. Alles hing also jetzt von Jorgenson ab. Und Jorgenson mußte sich irgendwo unter dieser halbflüssigen, außer Rand und Band geratenen Materie befinden, die selbst die dickste Panzerung durchschlug und Opfer in das Krankenhaus trieb, die sich mit ihren nicht mehr zu bändigenden Muskeln die eigenen Knochen brachen. Ferrels Gesicht mußte diesmal ein treuer Spiegel seiner Gedanken gewesen sein, denn Jenkins fuhr sichtlich zusammen. »Jorgenson ist noch irgendwo in der Reaktorhalle«, murmelte Ferrel. »Jorgenson! Das ist ja der Mann, der für das Ganze – o Gott!« »Sie sagen es! Sie bleiben hier und nehmen sich aller Patienten an, die mit Muskelkrämpfen eingeliefert werden. Brown, ich möchte, daß Sie zum zweitenmal an die Front gehen – mit mir! Nehmen Sie alles, was sich tragen läßt. Kann sein, daß wir ihn nicht transportieren können. Wir nehmen den Wagen mit der fahrbaren Operationsstation! Fahren Sie sofort damit los! Ich nehme die Ambulanz!« Ferrel ergriff mechanisch die Tasche mit dem chirurgischen Notbesteck, die Susan Brown ihm reichte. Auch die Koffeintablette schluckte er brav hinunter. Dann stand er schon draußen neben der Ambulanz. »Nummer 4 – rasch!« rief er dem Fahrer zu. Palmer sprang gerade aus einem Wagen, als Ferrel mit der Ambulanz bei Nummer 3 um die Ecke bog. Man hatte aus Seilen einen Sicherheitskordon gezogen, der einen weiten Raum um Nummer 4 freihielt. Palmer warf Doc einen raschen Blick zu, nickte, tauchte zwischen den Männern, die hier standen, unter, rief Anweisungen nach links und nach rechts
und war wieder an Ferrels Seite, als dieser aus der Ambulanz stieg. »Okay, Ferrel, gehen Sie dort hinüber und lassen Sie sich einen Schutzanzug geben. Wir rücken mit den Panzern vor, und wenn es noch so unmöglich ist! Briggs, Sie räumen das da drüben weg und schaffen uns eine Zufahrt! Dann kommen Sie mit dem Kranwagen. Nehmen Sie alle Männer mit Schutzanzügen mit, die Sie zusammentrommeln können! Sie sollen sich mit Stangen bewaffnen und nach einem großen festen Gegenstand fischen – groß genug, daß sich darin ein Mensch verstecken könnte. Immer fünf Minuten. So lange müßte es jeder aushalten können! Ich komme sofort zurück!« Doc bemerkte den Fuhrpark von Panzern, technischem Gerät und Spezialfahrzeugen, die sich an den Mauern – oder was davon übriggeblieben war – der Konverter- und Reaktorhalle stauten. Sie rissen an einer Seite alles ab, was ihnen vor die Räder und Ketten kam, und an einer Stelle, wo sich früher der Haupteingang befunden hatte, ragte jetzt ein Turmkran in die Luft, der die schlimmsten Hindernisse beseitigte. Offensichtlich hatten die Männer fieberhaft daran gearbeitet, den Kernreaktionsprozeß zu dämpfen; doch sein Wissen auf diesem Gebiet war zu lückenhaft, um die Lage richtig beurteilen zu können. Einer der Techniker half Doc beim Anlegen eines Schutzanzuges, wobei sich Dr. Ferrel fragte, wie er mit dieser Bleipanzerung am Leib wohl Erste Hilfe leisten sollte. Palmer wartete bereits neben einem Panzer auf ihn – ebenfalls in einem strahlungssicheren Anzug. Der Panzer war ein Bergepanzer mit Kranausleger, Schaufelschild und Greifer. »Steigen Sie ein, Doc!« rief Palmer. Ferrel folgte seinem Chef in den Turm des Panzers, während Palmer schon die Steuersäule an sich zog und per Funk Befehle an die anderen Panzer ausgab, die mit klirrenden Ketten heranwalzten. Dann
setzte sich der Bergepanzer in Bewegung, während der Motor im Heck aufbrüllte und jedes andere Geräusch übertönte. »Bin schon sieben Jahre nicht mehr in so einem Ding gefahren«, knurrte Palmer, als der Panzer Neigung zeigte, nach links auszuscheren. Mit dem Steuerknüppel korrigierte Palmer die Richtungsabweichung und gab vorsichtig Gas. »Nach meiner Berechnung muß sich Jorgenson in der Nähe des Steuerpultes aufgehalten und versucht haben, die südliche Sicherheitskammer zu erreichen. Halbe Distanz – so sagten Sie doch, Doc, nicht wahr?« »Möglich – vielleicht sogar etwas weniger.« »Ja. Und das herumfliegende Material hat ihn wahrscheinlich abgedrängt. Trotzdem müssen wir versuchen, bis dorthin vorzudringen.« Wieder bellte er in sein Kehlkopfmikrofon. »Briggs, bringen Sie Ihre Leute in Schutzanzügen so dicht heran wie möglich! Sollen mit ihren Stangen im Umkreis von zehn Metern um den Pfeiler herum den Boden absuchen – ja, der Pfeiler, der noch steht! Können Sie nicht dichter heran?« Die Antwort war ein heiseres Schnarren, von dem nur Bruchstücke zu verstehen waren. Doch man verstand, was gemeint war. Palmer machte ein finsteres Gesicht. »Okay, wenn sie nicht können, können sie eben nicht. Ziehen Sie Ihre Leute wieder aus dem Strahlungsbereich ab und warten Sie, bis – Augenblick! Nein, rufen Sie Freiwillige auf! Ich zahle jedem, der mit seiner Stange in diesem Teufelszeug fischt, tausend Dollar pro Minute. Das Doppelte, wenn es ihn erwischt, an seine Familie! Und für jeden, der Jorgenson findet, eine Belohnung von fünfzigtausend Dollar!« Palmer schüttelte den Kopf und knurrte: »Paß doch auf, du Idiot!« Das war auf zwei Männer gemünzt, die von einem Mauerrest zum anderen turnten, dann auf etwas sprangen, das unter ihnen zusammenbrach. Doch irgendwie brachten sie es fertig, auf den Beinen zu bleiben, und stocherten jetzt mit ihren Stangen
in dem heißen Inferno herum. »He, Sie dort mit dem Turmkran, bleiben Sie in der Nähe der Leute, damit Sie zugreifen können, falls einer die Besinnung verliert. So – ja, so ist es gut! Doc, ich weiß genausogut wie Sie, daß die Leute eigentlich dort drinnen nichts zu suchen haben – nicht einmal fünf Minuten lang. Doch ich schicke noch hundert Männer hinterher, wenn es sein muß, um Jorgenson zu finden!« Doch Doc Ferrel erwiderte nichts. Er wußte, es würden sich bestimmt hundert Freiwillige und mehr bereitfinden, einen Versuch zu wagen – und er wußte auch, daß es keine andere Wahl gab. Die Panzer kamen nicht nahe genug heran, um die Mischung aus flüssigem radioaktivem Magma, Apparaten, Schutt, verbogenen Stahlträgern und Bleiziegeln durchsuchen zu können. Außerdem hätten sie alles nur plattgewalzt, wogegen die Männer mit Verstand und Vorsicht jeden Gegenstand untersuchten. Während Doc die Männer beobachtete, sprühte irgendwo eine kleine Explosion glühendes Material durch die Gegend. Einer der Männer wurde getroffen und wankte, ehe er zusammenbrach. Der Turmkran schwenkte den Ausleger in die Richtung, ließ den Greifer hinunter, verfehlte sein Ziel beim erstenmal, versuchte es nochmals, erwischte den Ohnmächtigen am Arm seines gepanzerten Schutzanzugs, hob ihn daran hoch, schwenkte ihn herum und setzte ihn irgendwo außerhalb Ferrels Gesichtskreises wieder ab. Trotz des Schutzanzuges und der strahlungssicheren Panzerung des Fahrzeuges wurde es im Inneren heiß wie in einem Hochofen. Dort, wo die Bleifüllung des Anzugs am dünnsten war, machte sich Hautzucken bemerkbar – erste Anzeichen von Verbrennung, wenn auch noch nicht besorgniserregend. Er wollte nicht daran denken, was den Männern passierte, die nur in Schutzanzügen versuchten, zum Kern dieses Infernos
vorzudringen. Auch hatte er keine Lust, ihr Schicksal als Zeuge mitanzusehen. Palmer versuchte, den Bergepanzer noch weiter heranzubringen; doch die Trümmer unter den Ketten machten dies fast unmöglich. Zweimal sprühte eine glühende Fontäne gegen die Panzerung, doch sie durchschlug sie nicht. »Fünf Minuten sind um«, sagte Doc zu Palmer. »Die Leute müssen zurück und sich sofort bei Dr. Brown zur Behandlung melden.« Palmer nickte und gab entsprechende Anweisungen durch das Kehlkopfgerät. »Heben Sie die Leute mit dem Kran heraus! Schicken Sie eine neue Gruppe hinein, Briggs, und schreiben Sie ihnen Ihre Prämie im voraus gut! Verdammt, Doc, das kann Stunden so zugehen. Mal versuchen, ob ich dieses Stahlschott dort aus dem Weg schieben kann!« Er kuppelte ein und drehte den Panzer um ein paar Grad nach rechts. Die Ketten faßten, und der Panzer rumpelte vorwärts. Fast ohne Mühe zermalmte er das Mauerwerk, stieß das Schott um, fuhr darüber hinweg und drückte es langsam nieder. Dann war der Weg frei. Zwei Männer drangen durch die Bresche ein und suchten mit ihren Stangen, doch sie fanden nichts. Briggs Stimme kam über Funk. »Palmer, hier ist ein Lebensmüder, der sich auf das Ende Ihres Kranauslegers setzen will. Meint, er hätte dort einen Logensitz, von dem aus die Übersicht besser sei. Wenn Sie zurücksetzen, reiche ich ihn Ihnen mit dem Turmkran hinunter.« »Okay!« rief Palmer und legte den Rückwärtsgang ein, fuhr auf dem Schott wie auf einer Rampe hinunter, blieb hängen, rückte wieder vor, rasselte erneut zurück, und schaffte es diesmal. Doc hielt den Atem an und schickte ein Stoßgebet zum Morgenhimmel. Sein Respekt vor den Männern und Palmers Fähigkeiten als Panzerfahrer wuchs von Minute zu Minute. Der Turmkran schwenkte seinen stählernen Arm in ihre
Richtung. Das Seil mit dem Ladekübel spulte sich ab; doch der Ausleger reichte nicht ganz bis zu ihnen hin. »Verdammt!« schimpfte Palmer, öffnete die Luke, sprang hinaus auf die Ketten, blickte hinunter, turnte wieder in den Turm und sagte: »Hat keinen Sinn! Näher ran geht’s nicht.« Doch der Führer des Turmkrans kannte ein paar Tricks. Er schwenkte den Ausleger ein wenig hin und her, bis der Ladekübel wie ein Pendel zu schwingen begann. Plötzlich faßte der Mann mit beiden Händen zu, hielt sich am Kranbaum des Bergepanzers fest und wand sich aus dem Kübel heraus wie eine Schlange. Dann kletterte er bis an das äußerste Ende des Kranbaumes. Palmer ließ den Panzer wieder langsam vorwärts rollen und senkte den Ausleger, bis der Mann mit seiner Stange den Boden erreichen konnte. Sofort begann der Mann fieberhaft zu arbeiten. »Egal, ob er was findet oder nicht – der Mann bekommt eine dreifache Prämie!« murmelte Palmer. Die Stange war auf etwas gestoßen. Der Mann stocherte darauf herum, um Größe und Umfang festzustellen. Dann drehte sich der Mann um und deutete aufgeregt nach unten. Doc preßte sich die Nase fast am Sehschlitz platt. Palmer ließ die Greiferklaue hinab in das Inferno aus glühender Lava, Geräteresten, Schutt und flüssigem Metall. Schließlich packten die Greifbacken zu, zerrten an etwas, das nicht heraufkommen wollte. Vorsichtig spielten die Finger des Direktors in ihren Bleischutzhandschuhen mit den Hebeln. Die Greifklaue bewegte sich wie die Zange eines Dentisten, der einen Backenzahn im Kiefer lockern muß. Dann endlich bewegte sich die Last widerstrebend, ließ sich aus dem Trümmerbrei heben und kam ans Licht. Auf keinen Fall war das ein TomlinSchutzanzug! »Ein Bleibeschicker! Verdammt! Augenblick mal! Jorgenson war nicht auf den Kopf gefallen. Als er sah, daß er es nicht
mehr bis zur Sicherheitskammer schaffen würde, hat er vielleicht…« Palmer stellte den Beschicker, der aussah wie eine riesige Kiste, auf festem Grund ab. Mit den Greifklauen knackte er den Verschluß wie eine Nuß. Er hob das Ding hoch und kippte es um. Flüssiges Magma floß heraus – doch noch etwas war in dem Beschicker zu sehen, als die bleiernen Klappen aufgingen. »Beten Sie, Doc!« rief Palmer, ehe er die Turmluke öffnete und hinausschlüpfte, während die erbarmungslose Hitze und Strahlung ungehindert hereinkam. Doch Ferrel ließ sich nicht abhalten. Er half den beiden Männern, den Körper eines hünenhaften Mannes, der in einem fünffach beschichteten Tomlin-Schutzanzug steckte, aus dem Bleibeschicker zu heben. Mit vereinten Kräften wuchteten sie die sechshundert Pfund Gesamtgewicht auf die Motorplattform des Panzers hinauf und zerrten sie sogar noch in den Turm hinein. Der Arbeiter, dessen Mut sie ihren Fund verdankten, rutschte hinterher – bewußtlos, ehe Palmer die Luke schloß. »Kümmern Sie sich nicht um ihn – nur um Jorgenson!« rief Palmer, als er mit dem Panzer zurücksetzte. Er fuhr mit größter Geschwindigkeit, ohne Rücksicht, was ihm vielleicht unter die Ketten kommen konnte. Doch der Panzer nahm nur einen Mauerrest mit. Ferrel schraubte inzwischen die Vorderseite von Jorgensons Spezialanzug auf. Er arbeitete so rasch er konnte; denn er hatte bereits erkannt, daß der Mann wunderbarerweise immer noch am Leben war. Eine Leiche hat keine Muskelzuckungen, die sogar noch einen vierhundert Pfund schweren Panzeranzug in deutlich fühlbare Schwingungen versetzt. Während der Panzer sich aus der zertrümmerten Reaktorhalle zurückzog, bauten die Techniker bereits wieder Wälle und Gerät auf, um die Reaktionsprozesse zu bremsen. Endlich hatte Ferrel das Brustschild des Anzugs gelöst, schnitt ein Stück Stoff heraus,
um die nötigen Injektionen vornehmen zu können. Zuerst Curare, dann Neo-Heroin, dann wieder Curare. Jetzt konnte er nichts mehr tun, bis sie den Verunglückten aus seinem TomlinAnzug befreit hatten. Er wendete sich jetzt dem Arbeiter zu, der wieder zu Bewußtsein gekommen war und an der Turminnenwand lehnte. »Nicht viel passiert«, sagte der Mann. »Keine Zuckungen – nur Brandwunden und diese Hitze. Jorgenson?« »Noch am Leben«, erwiderte Palmer und atmete erleichtert auf. Der Panzer hielt, und Susan Brown kam auf das Kettenfahrzeug zugelaufen. »Sie ziehen Ihren Schutzanzug aus, lassen sich verarzten und gehen ins Büro, wo Sie Ihren Scheck abholen können!« sagte Palmer zu dem Arbeiter. »Fünfzigtausend?« fragte der Mann mit schwacher Stimme. »Fünfzigtausend plus dreifache Prämie pro Minute. Vielleicht bekommst du auch noch einen Orden und eine Flasche Whisky als Zugabe. Los – jetzt packt mal hier an!« Inzwischen hatte Ferrel mit Browns Unterstützung seinen Anzug abgelegt und nahm sich nur Zeit, die Lunge mit frischer, kühler Morgenluft vollzusaugen, ehe er zum Operationswagen lief. Jenkins war ebenfalls da, steckte gerade den Kopf heraus und gab ein paar Leuten Anweisungen, wo sie die Tragbahre unterbringen sollten. Er nickte Ferrel rasch zu. »Wir sind mit der ganzen Station ausgerückt, Doc, um gleich an Ort und Stelle behandeln zu können. Su und ich wollten mit der Ersten Hilfe fertig sein, damit wir alle Hände für Jorgenson frei haben. Er lebt noch!« »Ja – ein Wunder! Brown, behandeln Sie inzwischen noch die anderen drüben in der Ambulanz. Dann wollen wir mal sehen, ob Sie nicht ein paar Stunden ruhen können!« Jorgenson wurde auf den Tisch der fahrbaren Operationsstation gelegt. Während der Wagen sich schon in
Bewegung setzte, entfernten die Helfer Jorgensons Schutzanzug, während die beiden Ärzte sich die Hände sterilisierten und neue Handschuhe überstreiften. Dann gingen sie sofort an die Arbeit, behandelten die schlimmsten Brandwunden und versuchten, die radioaktiven Fremdkörper herauszuschneiden. »Hat keinen Zweck«, murmelte Dr. Ferrel und trat einen Schritt zurück. »Er ist voll davon – teilweise steckt es sogar in den Knochen. Wir müssen ihn durch den Filter schieben, wenn wir das alles herausbekommen wollen!« Palmer blickte auf das rohe Fleisch hinunter. Er kämpfte mit der Übelkeit, die einen Laien immer bei so einem Anblick überkommt. »Können Sie ihn wieder zusammenflicken, Ferrel?« »Wir werden es versuchen – mehr können wir nicht versprechen. Ich kann mir dieses Wunder, daß er noch am Leben ist, nur dadurch erklären, daß die Bleikiste, in der er steckte, bis vor kurzem noch nicht mit dem glühenden Magma in Berührung gekommen war. Er hat seine Körperflüssigkeit, soweit er sie entbehren konnte, ausgeschwitzt. Aber wenn er in diesem flüssigen Zeug eine Stunde lang gelegen hätte, wäre er längst an der Hitze gestorben. Da hätte auch das ganze Schwitzen und die dickste Isolationsschicht nicht geholfen.« Bewunderung spiegelte sich in dem Gesicht des Arztes, als er auf den riesigen Körper hinunterblickte. »Und er ist zäh. Wäre er nicht so widerstandsfähig, wäre er längst an Erschöpfung gestorben. Sobald die Krämpfe einsetzten, half ihm auch der Strahlenschutz nichts mehr. Die Zellen hätten sich verausgabt.« Der Doktor nickte nachdenklich. »Geben Sie ihm nochmals Wasser und Traubenzucker in die Vene, Jenkins. Er ist dicht vor dem Kollaps. Und solange wir nicht wissen, wie wir die radioaktiven Fremdstoffe aus seinem Körper entfernen können, Palmer, müssen wir Jorgenson unter Curare halten. Hm – falls wir ihn wieder auf die Beine bringen, kann ich
allerdings nicht garantieren, ob er nicht den Verstand verloren hat.« Der Wagen hielt jetzt vor der Krankenstation. Die Helfer schoben den Verletzten wieder auf eine Bahre und trugen ihn in die chirurgische Abteilung, während Jenkins noch die Injektion in die Vene gab. Doc blieb draußen stehen, um sich Palmers Zigaretten auszuborgen. »Seien Sie nicht so pessimistisch!« murmelte der Direktor, während er sich an der Kippe eine frische Zigarette ansteckte. Er starrte zu Boden. »Ich habe mir stundenlang den Kopf darüber zerbrochen, wer uns in dieser Lage noch helfen könnte, Doc. Es gibt keinen – nirgends. Hoke schafft es nicht. Ich weiß das, nachdem ich mir an Ort und Stelle seine Maßnahmen angeschaut habe. Keller wüßte wahrscheinlich eine Antwort im Handumdrehen, wenn er noch am Leben wäre. Er hatte einen Instinkt für solche Situationen. Der beste Mann auf diesem Gebiet, den es je gegeben hat, selbst wenn er uns manche Tricks abgeguckt und damit fast einen Vorsprung herausgeholt hätte. Doch jetzt – nun – entweder kommt Jorgenson wieder zu sich, oder sonst…« Jenkins’ verzweifelter Schrei drang aus der Station: »Doc – Jorgenson ist tot! Seine Atmung hat ausgesetzt!« Doc spurtete die Rampe entlang, Palmer, totenbleich, hinter ihm her… Schwester Dodd hatte den Sauerstoffapparat schon an den Tisch gebracht, während Jenkins die Maske über Jorgensons Gesicht befestigte, ehe Ferrel noch über die Schwelle gekommen war. Er fühlte sofort den Puls des Patienten, der vorhin schon geflattert hatte, und spürte, wie er kam, dann dreimal aussetzte, dann wieder kurz auflebte und schließlich ganz wegblieb. »Adrenalin!« »Schon eine Spritze ins Herz gegeben, Doc. Cardiacine ebenfalls.« Die Stimme des Jungen klang hysterisch, obgleich
Palmer offensichtlich einem Nervenzusammenbruch viel näher war als der junge Arzt. »Doc, Sie müssen…!« begann Palmer. »Jetzt machen Sie, daß Sie hier hinauskommen!« Ferrels Hände schienen plötzlich eigenes Leben zu besitzen, als sie nach den Instrumenten griffen, die Bandagen von der Brust des Patienten rissen und gegen die Uhr um die Wette arbeiteten, da doch die Zeit alle Vorteile auf ihrer Seite hatte. Das war keine Chirurgie mehr, nur noch Schlächterei. Die Knochen, die er jetzt in fliegender Hast durchtrennte, würden später nicht mehr so einfach und glatt zusammenwachsen. Aber er konnte jetzt nicht auf Details achten. Er drückte Rippen und Fleischlappen zur Seite. »Stoppen Sie die Blutung, Jenkins!« Dann griffen seine Hände schon in die Brusthöhle hinein und wurden plötzlich unglaublich zart und behutsam, als sie das Herz ergriffen und es bearbeiteten, es mit der Technik und Routine eines Mannes massierten, der dieses Organ jahrelang studiert hatte. Druck und Gegendruck – und entspannen. Druck – langsam, nicht nervös werden! Es hatte gar keinen Sinn, das Herz so rasch wieder in Gang zu setzen. Reiner Sauerstoff wurde jetzt den Lungen zugeführt, das erleichterte die Arbeit des Herzens. Es dauerte vielleicht eine halbe Minute von dem Moment des Herzstillstandes an bis zu dem Augenblick, als seine Massage den Kreislauf wieder in Gang setzte. Zu wenig Zeit, um sich über die Gehirnzellen Gedanken zu machen, die ja zuerst unter dem Versagen des Herzens zu leiden hatten. Wenn das Herz aus eigener Kraft innerhalb gewisser Zeit wieder zu schlagen begann, hatte er dem Tod ein Schnippchen geschlagen. Doch wie lange? Drücken, massieren, loslassen – ruhig und stetig. Da! Für eine Sekunde spürten seine Finger ein schwaches Zucken, dann wieder – aus. Doch solange das Organ solche Zeichen von sich gab, bestand noch Hoffnung. Es sei denn, seine
Finger wurden zu müde, und er verpatzte die Sache in dem Augenblick, wo das Herz vielleicht seine Arbeit wieder selbst übernehmen wollte. »Jenkins!« »Ja, Sir!« »Haben Sie schon mal eine Herzmassage gemacht?« »In der Klinik, ja, aber nur am Modell. Oh, doch – in der Anatomie, am Herzen eines Hundes. Fünf Minuten lang. Ich – ich weiß nicht, ob Sie mir das anvertrauen können.« »Vielleicht werde ich es müssen. Wenn Sie es an einem Hundeherzen fünf Minuten lang praktiziert haben, werden Sie das bei einem Menschen auch schaffen. Sie wissen, was davon abhängt. Sie haben den Konverter und die Reaktorhalle selbst gesehen. Sie wissen, was davon abhängt!« Jenkins nickte. »Ich weiß. Deshalb können Sie sich auch von jetzt ab nicht hundertprozentig auf mich verlassen. Ich sagte Ihnen schon gestern abend – ich werde mich rühren, wenn die Nerven versagen. Es ist bald soweit.« Konnte ein Mensch seinen Zusammenbruch vorausberechnen? Doc hatte keine Ahnung. Er vermutete, daß der Junge seine Nerven zu bewußt beobachtete und deshalb den Zusammenbruch beschleunigte. Doch Jenkins war nicht so leicht abzuschätzen – weder als Mensch noch als klinischer Fall. Von Anfang an verriet er Nervosität; doch unter schwerem Beschuß zeigte er eine Sicherheit, die ihm selbst erprobte alte Hasen nur schwer nachmachten. Wenn er ihn einsetzten mußte, würde er es tun. Er hatte gar keine andere Wahl. Docs Finger wurden bereits steif – noch nicht müde, aber Symptome auf dem Weg dorthin. Noch ein paar Minuten, und er mußte aufhören. Wieder kam ein Flattern – eins – zwei – drei. Dann stand das Herz wieder still. Es mußte noch eine andere Lösung geben als die Massage. Unmöglich, die Massage so lange aufrechtzuerhalten, wie es wahrscheinlich notwendig wurde. Selbst wenn er und Jenkins sich ablösten!
Nur Michel von der Mayo-Klinik konnte das schaffen. Mayo! Falls sie rechtzeitig hierherkamen, war das, was sie auf dem letzten Medizinerkongreß vorgeführt hatten, die Rettung! »Jenkins, rufen Sie Mayo an. Sie brauchen Palmers Erlaubnis dazu. Lassen Sie sich mit Kubelik verbinden. Und einen Nebenapparat für mich, damit ich mit Kubelik sprechen kann.« Er konnte Jenkins’ Stimme hören – gelassen zuerst, dann mit so viel Nachdruck, wie er es dem Jungen gar nicht zugetraut hätte. Schwester Dodd blickte Ferrel an und lächelte grimmig, wobei sie den Sauerstoffapparat keinen Moment außer acht ließ. Sie hätte eigentlich bei Jenkins’ Kraftsprüchen rot werden müssen. Aber Dodd wurde nicht so leicht verlegen. Der Junge kam wieder in den Operationsraum gerast. »Nichts zu machen, Doc! Palmer ist nirgends zu erreichen – und diese Mißgeburt von der Vermittlung ist störrisch wie ein Esel!« Doc betrachtete schweigend seine Hände. Er überlegte. Nein – er würde nicht so lange durchhalten, bis der Junge Palmer aufgestöbert hatte. »Okay, Jenkins, Sie übernehmen jetzt! Mit der Ruhe – immer mit der Ruhe – so, langsam – Ihre Finger über meine! Bekommen Sie den Rhythmus mit? Gut, nichts überstürzen. Sie halten durch – weil Sie durchhalten müssen! Sie haben sich besser gehalten, als ich je erwarten oder gar von Ihnen verlangen konnte. Also – haben Sie es?« »Ich habe es, Doc. Ich werde mein Bestes versuchen, aber kommen Sie rasch wieder, was Sie auch vorhaben! Ich lüge nicht, wenn ich von flatternden Nerven spreche. Meyers soll jetzt am besten Dodd ablösen und Su hier an den Tisch holen. Sie ist für mich das beste Nervenberuhigungsmittel, das ich kenne.« »Dodd, rufen Sie Brown herein!« sagte Doc, holte eine große Kolbenspritze von der Glasplatte, füllte sie rasch mit Wasser und einer anderen Lösung, die das Wasser bräunlichgelb färbte. Dann trabte er mit der Spritze durch den Seitenausgang,
so gut es auf seinen müden Beinen noch ging. Er ging zum Gebäude der Fernsprechvermittlung. Es gab auch Methoden, mit sturen subalternen Angestellten fertig zu werden. Er hatte allerdings nicht mit dem Posten gerechnet, der vor der Tür der Telefonzentrale Wache stand. »Halt!« »Leben oder Tod. Ich bin Arzt.« »Nicht hier – ich habe meine Befehle.« Das Bajonett war dem Mann noch nicht genug. Er hob das Gewehr an die Schulter, und das Kinn reckte sich vor mit der Engstirnigkeit des kleinen Mannes in Uniform, der seine Befehle hatte. »Niemand ist krank hier in der Zentrale. Es gibt genügend Telefonzellen im Werk. Und jetzt verschwinden Sie – aber rasch!« Doc bewegte sich noch einen Schritt vorwärts und hörte ein metallisches Geräusch, als der Soldat das Gewehr entsicherte. Der Kerl meinte es tatsächlich ernst. Ferrel zuckte die Achseln, wich einen Schritt zurück – und hielt dem Posten plötzlich die Injektionsspritze vor das Gesicht. »Haben Sie schon mal miterlebt, wenn aus so einer Nadel Curare spritzt? Das haben Sie im Gesicht, ehe Sie abdrücken können!« »Curare?« Der Blick des Postens zuckte nervös zur Kolbenspritze. »Das ist doch das Zeug, mit dem die Eingeborenen ihre Giftpfeile bestreichen, nicht wahr?« »Genau – Kobragift. Ein Tropfen auf Ihre Haut, und Sie sind in zehn Minuten nicht mehr am Leben!« Beides war eine handfeste Lüge, aber Doc rechnete mit der Dummheit des Durchschnittsbürgers, der wenig über Gifte wußte, sie aber um so mehr fürchtete. »Mit dieser Nadel kann ich das Zeug sogar in Ihre Augen spritzen. Da wirkt es noch schneller. Und es ist kein angenehmer Tod – das kann ich Ihnen versprechen. Setzen Sie jetzt das Gewehr ab!« Ein Berufssoldat hätte wahrscheinlich abgedrückt – aber der Reservist von der Nationalgarde wollte kein Risiko eingehen. Rasch senkte er die
Waffe, warf sie dann weg, als Doc ihn mit einer Geste dazu aufforderte. Ferrel kam näher, streckte die Nadel vor, und der Mann wich zurück, so daß der Doktor das Gewehr aufheben konnte. Verfluchte Zeitverschwendung, aber Doc kannte sich wenigstens im Gebäude aus und ging direkt in den Raum mit den beiden Mädchen an den Vermittlungsschränken. »Aufstehen!« Dr. Ferrel stand hinter ihnen, das Gewehr in der Rechten, die Spritze in der Linken. Die Mädchen wirbelten erschrocken herum. »Die Spritze ist mit Curare gefüllt – ein tödliches Gift, gegen das es kein Abwehrmittel gibt. Und es hängt viel zuviel davon ab, daß ich sofort ein Blitzgespräch nach draußen bekomme, als daß ich auf Damen Rücksicht nehmen könnte. Los, aufstehen! Keine Hebel berühren! So ist es gut. Jetzt dort hinüber – aus der Glaskabine – auf den Boden legen. Gesicht nach unten, Hände auf den Rücken – Fußgelenke mit den Händen umfassen. Okay! So, wer sich jetzt bewegt, bewegt sich zum letztenmal, das schwöre ich!« Endlich zahlte es sich mal aus, daß er sich Krimis im Fernsehen ansah. Die beiden waren zu Tode erschrocken und gehorchten aufs Wort. Er mußte die Verbindung selbst herstellen, weil sie vielleicht doch versucht hätten, passiven Widerstand zu leisten und zu sabotieren. Verdammt, die roten Lichter bedeuteten Amtsleitungen. Und jetzt mußte man einen von diesen Schaltern umlegen – ja – und dann jenen dort – andere Richtung! – gut, das Freizeichen ertönte. Er wählte fieberhaft, aus dem Augenwinkel die beiden Mädchen auf dem Boden beobachtend. »Hallo – Vermittlung – Blitzgespräch mit der Mayo-Klinik, Rochester, Minnesota. Dringend. Bitte Doktor Kubelik an den Apparat. Wenn nicht erreichbar, jemand aus seiner Abteilung. Rasch, rasch.« »Geht in Ordnung, Walnut 7654!« erwiderte die Vermittlung vom Telegrafenamt. Sie schaltete nach Rochester durch; doch
als der Schirm aufleuchtete, war nicht Kubelik zu sehen, sondern ein jüngerer Mann. Ferrel vergeudete keine Zeit mit Höflichkeiten. »Ich habe einen dringenden Notfall hier in Behandlung. Die Hölle ist los, wenn ich den Mann nicht mehr ins Bewußtsein zurückhole. Doch das geht nicht ohne Dr. Kubeliks Zauberkasten. Er kennt mich gut. Wenn er erreichbar ist – mein Name ist Ferrel. Traf ihn auf dem Kongreß.« »Kubelik ist leider noch nicht in der Klinik, Dr. Ferrel. Ich bin sein Assistent. Doch wenn Sie den Herz-Lungen-Apparat meinen – der ist bereits verpackt, um heute morgen nach Harvard transportiert zu werden. Sie haben dort auch einen dringenden Fall und…« »Bestimmt halb so dringend wie meiner!« »Ich muß zuerst rückfragen – Augenblick mal, Dr. Ferrel, Ihr Name kommt mir irgendwie bekannt vor. Sind Sie nicht Chefarzt bei National Atomics?« »Der nämliche. Was die Maschine anlangt – vielleicht geht es ohne große Formalitäten…« Das Gesicht auf dem Schirm nickte, ließ ihn gar nicht erst zu Ende reden. Entschlossenheit spiegelte sich plötzlich darin – und noch etwas, das Doc nicht recht zu deuten wußte. »Wir kommen mit dem Apparat sofort zu Ihnen, Ferrel. Haben Sie einen Flugplatz?« »Drei Meilen entfernt. Werde einen Lastwagen hinschicken. Wie lange?« »Wird zu umständlich sein, wenn Sie die Maschine an Ort und Stelle brauchen, Ferrel. Ich werde sie mit dem Jet schicken und dann auf Hubschrauber umladen.« »Dann landen Sie auf dem Rasen hinter der Krankenstation. Ist mit rotem Kreuz für Hubschrauber gekennzeichnet. Vielen Dank!«
»Augenblick, Dr. Ferrel! Können Sie die Maschine überhaupt in Gang setzen, wenn Sie sie bekommen? Ist ziemlich kompliziert!« »Kubelik ist ein guter Lehrmeister, und ich bin an komplizierte Arbeit gewöhnt. Ich werde es versuchen – gar keine andere Wahl. Dauert wohl zu lange, bis Kubelik startklar wäre, wie?« »Wahrscheinlich. Okay, habe schon Antwort vom Flugplatz. Sie verladen bereits. Viel Glück!« Ferrel nickte dankend, ehe er abschaltete. So prompte Hilfeleistung war kaum zu überbieten – doch etwas Unheimliches lag in dieser jähen Kehrtwendung, sobald nur der Name der National Atomic erwähnt wurde. Gerüchte machten sich also breit – trotz Palmers Anstrengung. Die Wahrheit sickerte durch. Doch was für eine Wahrheit? Gütiger Himmel, was ging hier eigentlich vor? Er war viel zu beschäftigt gewesen, um sich den Ernst der Lage klarzumachen. Die Lage – immerhin hatte er ihr die HerzLungen-Maschine zu verdanken. Ferrel lief im Trott zurück zur Krankenstation. Hoffentlich hatte Jenkins jetzt nichts falsch gemacht – sie mußten den Mann unbedingt durchbringen! Doch Jenkins stand nicht mehr neben dem Operationstisch. Susan Brown war da – mit bleichem Gesicht und Falten um den Mund. Sie blickte auf, als Doc hereinkam; schüttelte aber rasch den Kopf, als er sie ablösen wollte. »Jenkins die Nerven durchgegangen?« »Unsinn! Das ist Frauensache, Dr. Ferrel. Ich habe die Massage übernommen. Männer versuchen immer brutale Gewalt anzuwenden, wo wir Frauen viel besser zurechtkommen. Ich jagte ihn hinaus, das ist alles.« Doch in ihrer Stimme lag etwas Atemloses, und Schwester Meyers blickte ein wenig zu stur auf ihren Sauerstoffapparat. »Hallo,
Doc!« Es war Dr. Blakes Stimme. »Kümmern Sie sich nicht darum! Wenn Dr. Brown Hilfe braucht, bin ich da. Ich habe die Nacht verschlafen – von heute früh vier Uhr an. Habe weder das Telefon noch sonst was gehört. Hatte keine Ahnung, was hier vorgeht, bis ich zum Haupttor kam. Sie ruhen sich aus.« Ferrel murmelte etwas. Er war erleichtert. Blake mochte vielleicht sternhagelblau gewesen sein, als er morgens um vier Uhr nach Hause gekommen war. Doch seine animalische Vitalität hatte das alles längst wettgemacht. Keine Spur des Feierns war zurückgeblieben. Nur sein spitzbübisches Grinsen fehlte, als er jetzt neben Brown an den Operationstisch trat. »Gott sei Dank, daß Sie es geschafft haben, bis zur Krankenstation vorzudringen, Blake. Wie steht es mit unserem Patienten?« Browns Stimme antwortete monoton, im Takt mit ihren massierenden Händen. »Sein Herz schlägt hin und wieder ein paar Takte. Aber es hält nicht vor. Trotzdem verschlimmert sich sein Zustand nicht, soweit ich das beurteilen kann.« »Gut. Wenn wir ihn noch eine halbe Stunde durchziehen, haben wir es geschafft. Wir können die weitere Arbeit einer Maschine überlassen. Wo ist Jenkins?« »Einer Maschine? Oh – die Herz-Lungen-Maschine von Kubelik. Er entwickelte sie gerade, als ich in der Mayo-Klinik arbeitete. Bis dahin halten wir Jorgenson auf jeden Fall am Leben.« »Wo ist Jenkins?« wiederholte er scharf, als Dr. Brown seine Frage nicht beantworten wollte. Blake deutete auf Ferrels Bürotür. »Dort drinnen. Aber nehmen Sie ihn nicht ins Gebet, Doc. Ich sah alles mit an, und er schämt sich furchtbar, daß ihm so etwas passieren konnte. Er ist ein guter Junge – aber eben noch ein Junge. Und bei so
einer infernalischen Schufterei wie in dieser Nacht kann es jeden von uns umwerfen.« »Ich weiß das selbst«, erwiderte Doc und eilte in sein Büro, weil es ihn schon lange danach verlangte, eine Zigarette zu rauchen. Blakes ausgeruhtes Gesicht war wirklich eine Insel der Hoffnung in dem Meer der Erschöpfung und strapazierten Nerven. »Machen Sie sich keine Sorgen, Dr. Brown. Sie brauchen Ihren Mann nicht zu verteidigen. Ich mache ihn schon nicht zur Schnecke. War ja meine Schuld. Wollte nicht auf ihn hören.« Jenkins hob nicht den Kopf, den er auf die Arme gestützt hatte, als Ferrel ihm die Hand auf die Schulter legte. Seine Stimme schien weit weg, seltsam gepreßt. »Ich habe versagt, Doc. Es war zuviel. Ich stand da, Jorgenson vor mir, der vielleicht unter meinen Händen sterben könnte, weil ich mich nicht mehr zusammenreißen konnte. Und dann würde das ganze Werk in die Luft fliegen. Ich redete mir dauernd ein, ich sei okay, es könne gar nichts passieren, solange ich weitermache, und dann – wumm. Ich klappte zusammen.« »Hier – hier, trinken Sie das endlich, oder soll ich Ihnen die Nase zuhalten, damit Sie zu quatschen aufhören und das Zeug hinunterschlucken?« Das war Holzhammer-Psychologie, aber es funktionierte. Doc reichte dem Jungen das Glas, wartete, bis er den letzten Tropfen hinuntergeschüttet hatte, ehe er sich in seinen eigenen Ledersessel fallen ließ und eine Zigarette aus dem Kittel kramte. »Sie haben mich gewarnt, Jenkins, und ich riskierte es auf meine eigene Verantwortung, Sie nicht abzulösen. Also kann sich niemand beschweren. Doch ich würde Sie gern etwas fragen.« »Bitte. Was macht es schon aus?« Jenkins hatte sich offenbar schon ein wenig erholt; denn ein trotziger Unterton lag jetzt in seiner Stimme.
»Haben Sie gewußt, daß Dr. Brown die Herzmassage übernehmen konnte? Und haben Sie Ihre Hände weggenommen, bevor Ihre Frau sie bei der Massage abgelöst hat?« »Sie sagte mir, Sie könne die Arbeit übernehmen – ja. Ich wußte das vorher gar nicht. Was dann geschah… Ja, sie hatte ihre Hände auf den meinen, ehe ich losließ. Aber…« Ferrel nickte zufrieden, weil er sich nicht getäuscht hatte. »Dachte es mir doch gleich. Sie haben nicht versagt, wie Sie sich ausdrücken, sondern Sie haben Ihren Nerven erst nachgegeben, als Ihr Verstand Ihnen sagte, daß Sie es jetzt ungestraft tun dürfen. Sie haben sich ablösen lassen – mehr nicht. Wenn man es so sieht, versage ich ebenfalls, mein Junge. Ich sitze hier und rauche, rede mit Ihnen, während draußen ein Mann mit dem Tode ringt, für den ich die Verantwortung trage. Daß er von zwei Leuten behandelt wird, die in einem viel besseren Zustand sind als wir zwei, macht da gar keinen Unterschied. Ich bin verantwortlich.« »Aber das läßt sich gar nicht miteinander vergleichen, Doc. Sie brauchen mir wirklich keinen falschen Trost zu spenden.« »Keiner spendet falschen Trost, Junge! Also gut, Sie haben geheult, geschluchzt oder geschrien – na und? Hat das jemandem geschadet? Ich habe Dr. Brown angefahren, als ich hereinkam – aus dem gleichen Grund wie Sie: erschöpfte, überbeanspruchte Nerven. Wenn ich jetzt hinüberginge und die beiden dort drinnen ablöste, würde ich wahrscheinlich selbst zu schreien anfangen oder mir die Zunge abbeißen. Nerven brauchen nun mal ein Ventil! Physisch gesehen hilft ihnen das nichts. Aber psychologisch ist es eminent wichtig, daß wir irgendwie Dampf ablassen!« Der Junge war nicht überzeugt. Doc lehnte sich im Sessel zurück und sah ihn nachdenklich an.
»Haben Sie sich eigentlich schon mal gefragt, weshalb ich hier Dienst tue?« »Nein, Sir.« »Nun, Sie könnten mich ja mal danach fragen. Vor siebenundzwanzig Jahren, als ich ungefähr so alt war wie Sie, besaß kein Chirurg in diesem Land – oder sogar auf der Welt – einen solchen Ruf wie ich. Keine Operation, die mir zu gewagt war – Herz, Gehirn, alles. Man verwendet heute immer noch eine Reihe von Praktiken, die ich eingeführt habe – ähem – dachte mir eigentlich, Sie würden sich sofort erinnern, als Sie meinen Namen hörten. Damals hatte ich auch eine andere Frau, Jenkins, und sie erwartete ein Baby. Gehirntumor – ich mußte operieren, weil es kein anderer konnte. Ich schaffte es auch irgendwie; aber ich verließ den Operationsraum in einer Art von Benommenheit oder Delirium. Erst nach drei Tagen sagte man mir, daß sie gestorben sei. Es war gar nicht meine Schuld. Ich weiß das heute ganz genau – aber damals… Damals habe ich das nicht begriffen. Und deswegen habe ich umgesattelt – mich als praktischer Arzt niedergelassen. Keine Chirurgie mehr für mich! Und da ich auch ein guter Diagnostiker war, was bei guten Chirurgen eigentlich selten ist, schlug ich mich doch noch ganz gut durch. Als man dann diese Firma gründete, bewarb ich mich um eine Stelle – und bekam sie auch. Ich hatte immer noch einen guten Ruf. Es war auch ein neues Gebiet, das Studium und Forschung verlangte. Das hielt mich in Trab und lenkte mich davon ab, daß ich einen Horror vor der Chirurgie hatte. Die Arbeit half mir über meinen Komplex hinweg, verstehen Sie? Im Vergleich zu mir haben Sie ja gar keine Ahnung, was ein Nervenversagen bedeutet, Junge! Dieses bißchen Weinen und Schreien ist geradezu lächerlich dagegen!« Jenkins äußerte sich nicht dazu. Doch er zündete endlich die Zigarette an, die ihm in der Hand fast zerkrümelte. Ferrel ließ
sich noch tiefer in den Sessel sinken, wohl wissend, daß man ihn rufen würde, wenn es Arbeit für ihn gab. Er war froh, daß er endlich abgelenkt wurde und nicht dauernd an Jorgenson denken mußte. »Es ist schwer, den geeigneten Mann für diese Arbeit zu finden, Jenkins. Es verlangt zu viel Erfahrung auf zu vielen Gebieten, obwohl die Bezahlung nicht gerade schlecht ist. Wir hatten eine Menge Bewerbungen vorliegen, ehe wir uns für Sie entschieden, Jenkins. Und ich muß sagen – ich bereue meine Wahl nicht. Sie sind sogar viel besser qualifiziert für diese Arbeit, als es Blake war – Ihre Personalangaben sahen so aus, als hätten Sie sich ausschließlich auf diese Position vorbereitet.« »Das stimmt auch.« »H-m-m-m.« Diese Antwort hatte Doc wirklich nicht erwartet. Soviel er wußte, hatte sich noch niemand ernsthaft für einen Posten als Mediziner bei der Atomindustrie vorbereitet. »Sie wußten also, was man hier verlangte, und haben sich spezialisiert. Darf ich fragen, aus welchen Gründen?« Jenkins zuckte die Achseln. »Warum nicht? Die faire Antwort eines Mannes, der die Waffen gestreckt hat. Die Sache ist zwar ziemlich kompliziert, aber im Endeffekt rasch erzählt. Vater hatte auch eine Atomfabrik, Doc – und eine verdammt gute dazu, wenn sie auch nicht so groß war wie die National. Ich arbeitete bereits mit fünfzehn Jahren im Labor und habe dann zwei Jahre auf der Uni Atomphysik studiert mit den festen Absichten, die Fabrik einmal zu übernehmen. Su – nun, sie war Nachbars Kind, mit dem ich spielte und später ausging. Wir hatten damals Geld. Das war nicht der Grund, weswegen sie mich heiratete. Ich weiß es selbst nicht genau – sie hatte eine harte Jugend hinter sich, hatte sich jedoch durchgeboxt und war Ärztin an der Mayo-Klinik geworden. Aber ich, ich war nichts als ein grüner Junge. Egal…
Am Tage als wir von der Hochzeitsreise heimkamen, hatte Vater einen großen Vertrag hereingeholt. Auf Grund eines neuen Verfahrens, das wir ausgeheckt hatten. Er mußte zwar um Kredite kämpfen; aber schließlich hatten wir das Gerät beisammen und fingen mit der Fabrikation an… Ich vermute, daß es ein Fehler im Gerät gewesen war. Der Prozeß verlief richtig. Wir hatten ihn zu oft experimentell überprüft, um nicht zu wissen, was wir taten. Trotzdem ging’s schief. Als der Nachlaß gesichtet wurde, waren die Aussichten, meinen Doktor in Atomphysik zu machen, ziemlich trübe. Su mußte wieder in der Klinik arbeiten. Einer von Sus Kollegen sorgte dafür, daß ich ein Stipendium fürs medizinische Studium bekam. So ergriff ich die zweitbeste Wahl auf dem Gebiet, das mir als idealer Beruf vorschwebte.« »National und einer ihrer größten Konkurrenten – wenn es so etwas wie eine Konkurrenz für die National überhaupt noch gibt – sind berechtigt, wissenschaftliche Titel auf dem Gebiet der Atomphysik zu verleihen«, erinnerte Doc den Jungen. Es gab keine besseren Lehrmeister als Palmer, Hokusai und Jorgenson. »Und Sie bekommen auch Gehalt während der Ausbildung.« »H-m-m. Man braucht zehn Jahre dazu. Und das Gehalt reicht nur für einen Ledigen. Nein, ich bin verheiratet. Und ich hatte Su damals geschworen, sie brauche nie mehr zu arbeiten. Nun, sie hat es trotzdem getan, bis ich meine Assistenzzeit hinter mir hatte. Doch ich nahm den Posten hier unter der Voraussetzung an, daß ich sie von jetzt an ernähren könne. Als Techniker im Atomwerk, der seine Karriere nach Jahren mit dem Doktor abschließt, waren die Aussichten nicht rosig. Wir sparen im Augenblick etwas Geld, und vielleicht kann ich nach ein paar Jahren noch mal einen Versuch wagen… Doc, weshalb reden wir überhaupt darüber? Wollen Sie mich von meinen schlechten Nerven ablenken?« Ferrel grinste.
»Möglich – obwohl ich wirklich neugierig war. Und es hat sogar funktioniert. Fühlen Sie sich jetzt wieder fit und auf dem Posten?« »So ziemlich. Die Nerven gehorchen wieder. Nur das, was ich von der fahrbaren Krankenstation aus beobachtet habe, macht mir noch Kopfzerbrechen. Ich kenne mich leider zu gut mit diesen Dingen aus. Sonst – okay. Schlaf könnte ich zwar gebrauchen, aber – okay.« »Gut.« Doc hatte sich bei diesem Geplauder, das von seinen Sorgen ablenkte, fast so gut erholt wie der Junge. Er fühlte sich ruhiger, entspannter. »Sollen wir wieder hinübergehen und nachsehen, wie Jorgenson die Krise durchsteht? Nebenbei bemerkt – was ist denn aus Hoke geworden!« »Hoke? Oh, der sitzt in meinem Büro und versucht, mit Bleistift und Papier eine Lösung zu finden. Wir konnten ihn schließlich nicht mit der frischen Operationswunde an die Front zurückkehren lassen. Ich habe eine Idee, daß man…« »Atomphysik also?… Junge, dann gehen Sie zu ihm hinüber, und reden Sie mit ihm! Er ist ein prächtiger Kerl und nimmt einen Rat sicher gern an. Er kennt keine Vorurteile. Offenbar hat keiner außer Ihnen vermutet, daß es sich um Isotop R handelte. Vielleicht können Sie ihn auf eine neue Spur bringen. Blake und die Schwestern reichen vollkommen aus, um mir bei der Arbeit zu helfen. Wir sind ja über dem Berg – außer mit Jorgenson. Und den übernehme ich.« Ferrel fühlte sich jetzt schon viel besser, als er Jenkins nachsah. Er ging wieder zum Operationstisch, wo Blake jetzt die Herzmassage übernommen hatte. Auch am Sauerstoffgerät saß eine Schwester, die mit der Frühschicht gekommen war. Blake sah auf. Seine Stirn hatte steile Falten. »Sieht nicht sehr gut aus, Doc. Während der letzten Minuten ging es ständig bergab mit ihm. Ich wollte Sie eben rufen…« Die letzten Worte gingen im Gedröhn unter. Ferrel nickte nur,
als Brown ihm einen fragenden Blick zuwarf, und legte dann die rechte Hand über die von Blake. Während Blake jetzt seine Hand zurückzog, deutete Ferrel nur mit dem Kopf hinaus zu dem Hubschrauber. »Sie gehen hinaus und überwachen das Entladen – holen Sie jeden zum Ausladen heran, der auf zwei Beinen gehen kann. Die Maschine ist noch ein Prototyp und ziemlich schwer und umfangreich. Muß mindestens sieben oder acht Zentner wiegen.« »Okay, Doc.« So geschickt Doc auch massierte – das Herz reagierte nicht. »Wie lange ist es her, daß das Herz Reflexe gezeigt hat?« »Ungefähr vier Minuten. Gibt es überhaupt noch eine Chance, Doc?« »Schwer zu sagen. Wenn wir die Maschine einsetzen, wissen wir es ganz genau.« Doch eines war nicht mehr zu bezweifeln: der Lebensfunken in Jorgenson glühte von Sekunde zu Sekunde schwächer; während sich draußen die von Menschen geschaffene Hölle von Minute zu Minute dem kritischen Punkt näherte, wo sich das radioaktive Material in Mahlers Isotop verwandeln würde. Im Alltagsleben war Doc ein Agnostiker – doch jetzt kehrte er unbewußt zu seinem alten Kinderglauben zurück und betete still. Der Sekundenzeiger drehte sich unbarmherzig um das Zifferblatt – dreimal schon, ehe er Schritte hörte. Immer noch zuckte das Herz nicht merklich unter seinen Händen. Wieviel Zeit blieb ihm denn jetzt noch, um Gottes willen? Mit einem raschen Seitenblick streifte er die scheinbar unübersehbar vielen Fäden aus Platin, die er an die Nerven anschließen mußte, von denen Jorgensons Herz- und Lungenbewegungen gesteuert wurden. Sie waren alle sorgfältig numeriert und gekennzeichnet – schienen aber geradezu niederschmetternd komplex und verwirrend. Wenn er
sich irgendwo irrte, einen einzigen Fehler machte, war es vorbei. Er hatte keine Zeit mehr, einen zweiten Versuch zu wagen. Wenn seine Finger zitterten oder sein Blick sich im falschen Moment trübte, gab es keine Hilfe mehr für Jorgenson. Dann war Jorgenson tot. »Übernehmen Sie die Massage, Brown«, befahl er. »Bleiben Sie dabei – egal, was geschieht. Gut. Dodd, Sie assistieren mir! Sie achten auf meine Zeichen, wie Sie es gewohnt sind. Wenn es klappt, können wir anschließend alle Urlaub machen.« Seine Hände arbeiteten wie ein Uhrwerk. Das Herz zuerst. Es war in viel größerer Gefahr. Würde die Maschine in diesem Fall überhaupt funktionieren? Curare und Radioaktivität bekämpften sich im Patienten gegenseitig. Doch die Maschine übernahm die Kontrolle der Nerven erst dicht am Organ, schickte ihre Impulse direkt in die Muskeln, während Curare eine komplizierte Blockade errichtet, die den Nerv stillegte und keinen Impuls vom Gehirn mehr durchließ. Konnte der Nervenbefehl aus der Maschine noch das kurze gelähmte Stück überwinden? Wahrscheinlich doch – denn die Stärke der Signale ließ sich steuern. Nur ein Versuch konnte ihm da endgültig Aufschluß geben. Brown zog ihre Hände weg und starrte ungläubig in die Brustöffnung. »Es schlägt, Dr. Ferrel! Ganz von allein – es schlägt!« Er nickte zum zweitenmal; doch hinter der Maske lächelte er. Seine Technik war also noch immer fehlerlos – und er hatte die Operation ausgeführt, nachdem sie ihm nur ein einziges Mal an einem Hund demonstriert worden war! Er war also immer noch der große Ferrel! Das gab ihm erneut Kraft, um Jorgensons Leben zu kämpfen. Später, als Jorgensons Lungen auch von selbst atmeten, ohne den Sauerstoffapparat noch länger zu brauchen, war das für ihn keine Überraschung mehr. Die letzten Details waren jetzt kein Problem mehr. Er
verrichtete sie, trat zurück, nahm die Maske vom Gesicht und streifte die Handschuhe herunter. »Meine Glückwünsche, Dr. Ferrel!« Die Stimme neben ihm klang fremdländisch. »Eine wahrhaft große Operation – wahrhaftig ein Meisterstück! Ich hätte anfangs beinahe eingegriffen – doch jetzt bin ich sehr glücklich darüber, daß ich es nicht getan habe. Es war eine Freude, Ihnen zuzusehen, Sir!« Dr. Ferrel blickte überrascht auf – und in das lächelnde Gesicht von Kubelik. Er war sprachlos, als dieser ihm die Hand begeistert schüttelte. Er fand keine Worte. Doch offensichtlich erwartete Kubelik auch gar keine von ihm. »Ich kam selbst, verstehen Sie? Ich konnte doch sonst niemandem meine Maschine anvertrauen! Glücklicherweise schaffte ich es noch rechtzeitig zum Flugplatz. Dann schienen Sie so sicher, so zuversichtlich – und als Sie mich gar nicht bemerkten, blieb ich im Hintergrund, biß mir auf die Fingernägel und fluchte. Und jetzt fliege ich wieder zurück, da Sie mich gar nicht brauchen – um eine große Erfahrung reicher, nachdem ich Ihnen bei der Operation zusehen durfte. Nein, bitte, kein Wort – kein einziges Wort von Ihnen, Sir. Zerstören Sie jetzt das Wunder nicht mit belanglosen Worten! Der Hubschrauber wartet auf mich; ich gehe. Doch meine Bewunderung für Sie, Sir, wird bleiben!« Ferrel betrachtete immer noch seine Hände, als der Motor des Hubschraubers draußen schon aufheulte. Dann starrte er auf den Körper, dessen Halsschlagader jetzt regelmäßig pulsierte. Kubeliks Worte – das war alles, was er noch brauchte. Kubelik, der Mann, der dachte, daß alle Chirurgen neben ihm Dummköpfe und Stümper waren! Ein paar Sekunden lang genoß er Kubeliks Worte; dann schüttelte er sie ab. »Nun«, sagte er zu den anderen, nachdem die Not und Ungewißheit, wie sich die Dinge in der Fabrik
weiterentwickeln würden, sich wieder auf seine Schultern legten, »können wir nur noch hoffen, daß Jorgensons Gehirn nicht von den Strahlen verletzt worden ist – oder gar durch unsere lange Herzmassage. Wir müssen ihn in eine Verfassung bringen, daß er sprechen kann – ehe es zu spät ist. Gott gebe uns die Zeit dazu! Blake, Sie kennen die Einzelheiten der Arbeit so gut wie ich. Wir beide können nicht gleichzeitig daran arbeiten. Sie und die ausgeruhten Schwestern übernehmen jetzt die Abteilung. Sie tun nur das Allernötigste für die anderen Patienten draußen in der Station und im Warteraum. Sind inzwischen neue eingetroffen?« »Seit einiger Zeit nicht mehr.« »Dann holen Sie Jenkins her, Dr. Brown, und legen sich selbst hin. Das gilt auch für Sie, Dodd und Meyers. Blake – lassen Sie uns drei Stunden in Ruhe, wenn es geht. Neue Komplikationen werden wohl inzwischen nicht eintreten. Und eine Ruhepause hilft uns auf lange Sicht sogar Zeit sparen. Jorgenson hat absoluten Vorrang, verstanden?« Der alte Ledersessel war als Bettersatz gar nicht so übel. Ferrel war geistig und physisch auch viel zu erschöpft, um wählerisch zu sein – zu erschöpft sogar, um aus drei Stunden Ruhe viel herauszuholen. Aber er mußte es wenigstens versuchen. Im stillen amüsierte er sich darüber, daß Kubelik so einfach ins Werk hatte eindringen und es wieder verlassen können, obwohl Palmer doch Gebäude und Tore mit schwerbewaffneten Posten besetzt hielt. Was würde Palmer wohl dazu sagen? Im Grunde war es ja egal. Kein Mensch hatte jetzt das Verlangen, freiwillig in oder in der Nähe des Werksgeländes zu weilen. Doch darin täuschte er sich wohl. Denn er hatte bestimmt noch keine drei Stunden geschlafen, als er das Dröhnen eines Hubschraubers wieder vor seinem Fenster hörte. Er war aber viel zu benommen, um sich darum zu kümmern. Er döste
weiter – doch jetzt riß ihn ein neues Geräusch aus dem Schlaf. Es war das Knattern eines Maschinengewehrs aus der Richtung, wo das Haupttor lag. Eine Pause – dann kam eine neue Salve. In seiner Schlaftrunkenheit erinnerte er sich noch, daß das Knattern am Haupttor eingesetzt hatte, ehe er den Hubschrauber hörte. Also noch mehr Komplikationen. Verdammt, es ging ihn zwar nichts an, aber an Schlaf war jetzt nicht mehr zu denken. Er stand auf und ging hinüber in die Chirurgie, als sich gerade ein schmächtiger Mann durch die Hintertür zwängte. Der Bursche drehte sich um, warf einen raschen Blick in Blakes Richtung und kam dann auf Ferrel zugeschossen. »Dr. Ferrel? Dr. Kubelik – Mayo-Klinik, Sie wissen ja – hat uns gesagt, Sie seien – äh – ein bißchen knapp an Personal und Betten! Wir haben uns freiwillig gemeldet – ich, vier weitere Ärzte, neun Schwestern. Hätten vorher wohl erst bei Ihnen rückfragen sollen; kamen aber telefonisch leider nicht durch. Haben uns die Freiheit genommen, einfach zu kommen – so rasch die Hubschrauber eben fliegen.« Ferrel warf einen Blick durch das hintere Fenster und sah drei Hubschrauber statt des einen, den er gehört hatte. »Sie wissen hoffentlich, was für ein Risiko Sie eingehen. Ja? Schön, in diesem Fall danke ich Ihnen und Kubelik vielmals. Wir haben zur Zeit etwa vierzig Patienten, die alle betreut werden müssen. Allerdings zweifle ich sehr, daß wir noch genügend Raum für Sie alle haben.« Der Kleine deutete nur mit dem Daumen über die Schulter. »Machen Sie sich deswegen nur keine Sorgen. Wenn Kubelik Hilfe organisiert, macht er das gründlich. Wir haben ein eigenes Feldlazarett mitgebracht – die ganze Ausrüstung der Abteilung für radiologische Unfallbetreuung. Vielleicht können Sie uns einen Platz zuweisen, wo wir das Feldlazarett einrichten können – Zelt, mobile Behandlungsstationen und so weiter. Sollen wir Sie jetzt hier ablösen, oder möchten Sie
lieber, daß wir die Patienten hinaus ins Feldlazarett schaffen? Oh – nebenbei bemerkt –, Kubelik schickt Ihnen seine herzlichsten Grüße! Sehr ungewöhnlich von diesem Mann, muß ich Ihnen gestehen, Sir.« Kubelik hatte offensichtlich sehr handgreifliche Vorstellungen, was herzliche Grüße sein sollten. War nur ein Wunder, daß Kubelik nicht gleich die ganze Mayo-Klinik geschickt hatte. »Dr. Blake wird Sie herumführen und in alles einweisen. Er wird auch ein paar Leute zusammentrommeln, die Ihnen beim Aufbau des Zeltes helfen. Ach – wissen Sie vielleicht, was dieser Lärm am Haupttor bedeutete, als Sie landeten?« »Oh – ja. Wir sahen ein paar Leute in Uniform, die mit einem MG schossen. Allerdings nur in die Luft. Andere Leute in Zivil rannten weg und schüttelten die Fäuste. Wir erwarteten auch ein paar Kugeln in unsere Richtung. Haben uns aber nicht bemerkt.« Blake schien sich zu amüsieren. »Wahrscheinlich hätte man Sie auch beschossen, wenn unser Direktor nicht vergessen hätte, für Barrikaden im Luftraum zu sorgen. Hat die Luft wohl als Behördenweg freigehalten. Ich beobachtete ein paar Leute aus der Stadt am Haupttor, als ich zum Dienst kam. Stritten sich herum, weil ihre Verwandten und Väter heute nacht nicht heimkamen.« Er winkte dem kleinen Arzt aus der MayoKlinik, ihm zu folgen. Ferrel vergaß seine neuen Hilfstruppen und wandte sich an Dr. Brown. »Schlimm?« Sie gab keine Antwort, sondern holte ein Geigergerät mit Schutzschild aus dem Fach neben dem Operationstisch und hielt den Schutzschild über Jorgensons Brust, damit keine Strahlung vom Unterkörper des Verletzten das Geigergerät beeinflussen konnte. Dann hielt sie das Gerät an Jorgensons Hals. Doc warf einen Blick darauf. Er genügte ihm. Offenbar
hatten Blake und Brown schon alles menschenmögliche getan, um die radioaktiven Fremdstoffe aus dem Halsbereich zu entfernen. Dann hätte man die Wirkung des Curare so lange neutralisiert, bis Jorgenson ihnen die gewünschten Informationen hätte geben können. Doch dieser Versuch war fehlgeschlagen – daran bestand wohl kein Zweifel. Es hatte gar keinen Sinn, die Wirkung von Curare zu neutralisieren, wenn gleich darauf die radioaktiven Fremdstoffe mit ihrer verheerenden Wirkung alles verdarben. Die Isotopen waren so fein über den ganzen Körper verteilt, daß ein chirurgischer Eingriff gar nichts genützt hätte. Was sollten sie jetzt tun? Ferrel wußte auch keinen Rat. Jenkins nahm den Geigerzähler weg und betrachtete ihn stirnrunzelnd. Doc blickte ihn überrascht an, doch Jenkins war viel zu sehr bei der Sache, um es zu bemerken. Er nickte langsam. »Ja – habe mir das schon gedacht. Sie haben herrliche Arbeit geleistet, und ich glaubte schon, alles ginge gut. Habe Ihnen von der Tür aus zugesehen. Eine Schande, nachdem Sie wahre Wunder vollbracht haben. Aber – nun, dann müssen wir eben ohne ihn auskommen. Hoke und Palmer haben noch keinen Plan ausgebrütet, den auszuprobieren sich lohnen würde. Wollen Sie nicht mit in mein Büro kommen, Doc? Hier können wir doch nichts mehr machen!« Ferrel folgte Jenkins in das kleine Büro neben dem Wartezimmer. Das Wartezimmer war bereits von Patienten geräumt worden. Die Männer von der Mayo-Klinik hatten rasche Arbeit geleistet. »Also haben Sie doch nicht geschlafen? Wo steckt Hokusai?« »Im Werk, Palmer hat ihn mitgenommen, nachdem Hoke hoch und heilig versprochen hatte, sich zu schonen, wenn Ihnen das eine Beruhigung ist… Netter Kerl, dieser Hoke. Ich hatte schon fast vergessen, wie es ist, sich mit einem
Atomphysiker zu unterhalten, ohne gleich ausgelacht zu werden. Palmer ebenfalls. Ich wünschte…« Plötzlich ging ein Strahlen über das Gesicht des Jungen – der erste Schimmer menschlichen Stolzes, den Ferrel bei diesem jungen Mann beobachten konnte. Dann zuckte Jenkins mit den Achseln. Der Ausdruck war verflogen. »Wir haben uns die verrücktesten Sachen ausgedacht, aber leider – der Stein des Weisen war nicht darunter.« Hokes Stimme unterbrach sie, als der Wissenschaftler sich eben durch die Tür schob und vorsichtig auf einem Stuhl Platz nahm. »Nein, kein Stein des Weisen. Hat versagt. Jorgenson?« »Ohne Besinnung. Leider keine Hoffnung aus dieser Richtung. Was ist im Werk geschehen?« Hoke breitete beide Arme aus. »Nichts. Wir wußten gleich, daß es nicht funktionieren würde – so nicht! Mister Palmer wird gleich herkommen. Wir machen neue Pläne. Ich denke, Räumung wird am besten sein. Palmer, ich – wir sind alle vorwiegend Theoretiker. Und – entschuldigen Sie – auch Sie, Doktor. Jorgenson war der Praktiker, der Produktionschef. Kein Jorgenson, kein – äh – Gegenmittel.« Im Geiste stimmte Ferrel dem Japaner zu. Die Räumung sollte eingeleitet werden, und zwar bald. Doch Palmers Standpunkt konnte er natürlich auch verstehen. Einen Kampf aufzugeben, ging ihm irgendwie gegen den Strich. Und außerdem – was sollte aus der Entwicklung des Werkes werden, wenn es hochging und die Umgebung verwüstete. Dann würde sich der Kongreß mit den Folgen befassen. Würde man der kommerziellen Entwicklung der Atomenergie ein für allemal einen Riegel vorschieben? Es gab Leute, die warteten doch nur darauf, dagegen einzuschreiten. Wenn Palmer durch einen glücklichen Zufall noch in die Lage versetzt wurde, seine Fabrik ohne weitere Verluste an Menschen und Material zu retten, dann würde man
den heutigen Tag und die vergangene Nacht rasch wieder vergessen. »Was passiert eigentlich, wenn das Zeug hochgeht?« fragte Ferrel. Jenkins zuckte die Achseln, während er seine Notizen auf dem Tisch noch einmal überflog. »Berechtigte Frage. Wenn das Zeug in unglaublich kurzer Zeit auf einmal losgeht, kann man damit ein Loch von der Hudson Bay bis hinunter zum Golf von Mexiko bohren. Und dort, wo der Mittelwesten jetzt liegt, hätten wir ein neues Meer. Das könnte passieren. Könnte auch langsamer abbrennen – dann hätten wir nur totale Verwüstung im Umkreis von fünfzig Meilen. Zwischen diesen beiden Grenzen liegt die Wirkung des Zeugs, wenn es hochgeht.« Doc hatte sich zwar im stillen schon darauf vorbereitet, daß die Fabrik hochging und ein paar Häuser im Umkreis mit – aber das! Nicht im entferntesten hatte er an so etwas gedacht. Für ihn war eine mögliche Katastrophe immer noch von lokaler Bedeutung gewesen – doch das war ungeheuerlich! Kein Wunder, daß Jenkins die ganze Zeit über so miserable Nerven gehabt hatte! Nicht die Phantasie hatte ihm zugesetzt, sondern die kalten, nüchternen Tatsachen. Ferrel sah die beiden verstohlen von der Seite an, als sie sich wieder über ihre Notizen beugten, verzweifelt nach einem Ausweg suchten. Dann beschloß er, sie allein zu lassen, und ging auf Zehenspitzen hinaus. Ohne Jorgenson ließ sich das Dilemma offensichtlich nicht lösen. Jorgenson war sein Patient. Er war für ihn verantwortlich. Wenn die Fabrik hochging, war er mit schuld daran. Die Verantwortung lag jetzt eindeutig auf den Schultern des Chefarztes. Aber was für einen Ausweg gab es noch? Wenn es die Rettung vieler Menschen verlangte, hätte er eine »direkte
Leitung« vom Gehirn zum Kehlkopf legen, sogar einen künstlichen Kehlkopf schaffen können. Doch der Geigerzähler zeigte noch zuviel Radioaktivität an. Die Befehle von Jorgensons Gehirn würden auf dem Weg zum Kehlkopf von der Strahlung blockiert werden. Selbst wenn das Gehirn noch einwandfrei arbeitete. Glücklicherweise war die Radioaktivität an Schädel und Hals von Jorgenson nicht so konzentriert, daß die Strahlen das Gehirn hätten schädigen können. Doch dieser glückliche Umstand war zur gleichen Zeit ein Unglück für den Operateur, weil er die fein verteilte strahlende Materie nicht mehr chirurgisch entfernen konnte. Nerven! Jorgensons Nerven waren blockiert oder unbrauchbar – aber traf das nicht auf jeden zu, der mit diesem Problem zu tun hatte? Sicherlich gab es eine Lösung; sie lag vielleicht greifbar nahe. Aber ihre Nerven waren einfach zu sehr strapaziert, als daß sie den rettenden Einfall finden konnten! Angst, Zeitdruck, Erschöpfung blockierten die Signale des Gehirns, verurteilten ihre verzweifelten Anstrengungen von vornherein zum Scheitern. Jenkins, Palmer, Hokusai – jeder einzelne konnte wahrscheinlich unter normalen Bedingungen mit der Antwort auf ihr Problem aufwarten. Doch gerade am eisernen Muß, die Lösung zu finden, konnten sie scheitern. Vielleicht galt das auch für sein eigenes Problem, den Patienten Jorgenson. Er mußte und kam gerade deshalb nicht weiter. Doch obwohl Doc seinen Geist bewußt entspannte, eigene, willkürliche Wege gehen ließ, kehrten seine Gedanken sofort wieder zu der lähmenden Erkenntnis zurück, daß etwas unternommen werden mußte! Ferrel hörte schleppende Schritte hinter sich und drehte sich um. Palmer kam soeben ins Wartezimmer. Er durfte eigentlich nicht ohne weiteres in die Chirurgische Abteilung, doch an die Hausordnungen hielt man
sich schon lange nicht mehr. »Jorgenson?« Palmer eröffnete das Gespräch sogleich mit seiner stereotypen Frage und las auch die Antwort sofort von Docs Gesicht ab. »Hoke und der junge Jenkins immer noch beim Tüfteln?« Doc nickte. Er trottete hinter Palmer her, als dieser durch die Verbindungstür eilte. Er konnte den drei Männern nicht helfen; aber er blieb seiner Theorie treu, daß Zerstreuung den Nerven Gelegenheit gab, vom Gehirn frische Impulse zu empfangen. Manchmal kam man so auf die besten Einfälle. Auch ließ ihm seine Neugierde keine Ruhe. Er wollte wissen, was für ein Schicksal ihnen allen bevorstand. Er zog sich einen Sessel heran, während Palmer sich auf den Tischrand setzte. »Kennen Sie nicht ein Medium, das mit Kellers Geist im Jenseits Verbindung aufnehmen kann?« fragte der Direktor. »›Architekt der Atome‹ haben sie ihn genannt, ehe er starb. Schade. Das war noch vor der Zeit, als Isotop R entdeckt wurde. He – was ist denn, Jenkins?« Jenkins Gesicht war wieder weiß und verkniffen. Er hing im Sessel, als würde ihm übel. Doch er schüttelte nur den Kopf, während seine Mundwinkel eigenartig zuckten. »Nichts. Nur die Nerven, glaube ich – Hoke und ich sind auf einen Anhaltspunkt gestoßen, wieviel Zeit uns noch bleibt. Genaues wissen wir immer noch nicht; doch nach unseren Berechnungen beträgt die Schonzeit zwischen sechs und dreißig Stunden. Wahrscheinlich sind es ziemlich genau zehn Stunden.« »Viel länger wird es bestimmt nicht dauern. Die Leute kommen schon jetzt nicht mehr an das Zeug heran. Auch die Panzer können nur noch teilweise eingesetzt werden. Die Männer haben sich hinter die Bleiwände von Nummer 3 zurückgezogen. In einer halben Stunde müssen wir vielleicht sogar auch diese Bastion räumen. Es spuckt jetzt nach allen Richtungen. Die Hitze ist ungeheuer – über dreihundert Grad
Celsius. Sie bleibt zwar ziemlich konstant, aber das genügt, um sogar Nummer 3 anzuwärmen.« Doc sah überrascht auf. »Nummer 3?« »Ja. Dem ist nichts passiert. Wir haben die Beschickung ausgebrütet, wie es auf dem Arbeitsplan stand. Kam pünktlich auf die Minute als I-713 heraus. Das war schon vor Stunden.« Palmer suchte nach seinen Zigaretten, merkte, daß er längst eine zwischen den Lippen hatte, und warf die Packung ärgerlich auf den Tisch. »Interessant und typisch. Doc, falls wir aus dieser Sackgasse herauskommen, müssen wir unbedingt feststellen, was diese Kettenreaktion in Nummer 4 ausgelöst hat. Wenn wir noch einmal davonkommen! Hoke, können Sie die Variablen zum Reagieren bringen?« Hoke schüttelte nur den Kopf. Jenkins blickte von seinen Notizen auf. »Keine Chance. Theoretisch geht es natürlich. R braucht zwischen zwölf und sechzig Stunden, ehe es sich in Mahlers Isotop verwandelt. Das hängt allerdings davon ab, welche Reaktionsketten R durchläuft. Sie sahen alle gleich vielversprechend aus, und wahrscheinlich macht R soeben sämtliche Reaktionsketten zugleich durch. Doch hängt das wiederum davon ab, wieviel Neutronen von der Umgebung geschluckt oder gebremst werden, von der Konzentration und Menge von R, von den Temperaturschwankungen und so weiter. Auch das gehört zu den Variablen.« »Daß Herumspritzen von Brutmaterial ist dafür Beweis genug«, murmelte Hoke. »Richtig. Noch ist zuviel kritisches Material beisammen. Wir müssen es trennen. Doch das ist gar nicht so einfach. Ein falscher Schritt – ein Isotop verwandelt sich vorzeitig in Mahlers, reißt den Nachbar mit –, und in Lichtgeschwindigkeit haben wir eine Kettenreaktion. Nein, so geht es nicht. Wenn wir die Masse so sauber verteilen könnten, daß diese Ladung zuerst, die nächste etwas später, die dritte noch später
explodiert – ja dann! Doch dazu brauchen wir Gewißheit, daß keine Konzentration kritischen Materials höher als ein Zehntelgramm ist. Und was ist, wenn wir bei der Trennung auf ein Isotop stoßen, das sich für den kürzesten Reaktionsweg entscheidet? Wumm! Ja, würde der Zufall uns gnädig sein und wir bei der ersten Ladung nur Isotopen beisammen haben, die die normale Kettenreaktion durchlaufen. Aber nein, wir können nicht von einer rein mechanischen Trennung ausgehen, die stückweise die Konzentration kritischen Materials verringert. Das Risiko ist zu groß!« Ferrel hatte natürlich vage Vorstellungen, was Variable in der Atomspaltung bedeuteten. Doch die Theorie hinter dieser Reaktion war zu neu und zu komplex für ihn. Seine Kenntnisse stammten noch aus der Zeit der einfachen Kernreaktion, wo man mit festen Halbwertzeiten rechnen konnte, bis Radium sich zum Beispiel in Blei verwandelte. Doch jetzt verwendeten sie Superschwere Atomkerne, die verschiedene Wege der Reaktion bei ihrem Zerfall wählten und schließlich alle mit dem gleichen Ergebnis endeten – oder an der gleichen Stelle zum Stillstand kamen. Die Materie ging über seine Begriffe. Er kehrte wieder in die chirurgische Abteilung zu Jorgenson zurück. Palmers Worte hallten hinter ihm her: »Ich weiß das alles längst, aber ich hoffte eben, ich hätte mich geirrt. Also gut – evakuieren wir! Keinen Zweck, uns noch länger was vorzulügen. Ich werde den Gouverneur verständigen und ihn bitten, das Gelände um das Werk herum räumen zu lassen. Hoke, Sie geben den Leuten Anweisung, so rasch wie möglich aus dem Werk zu verschwinden. Unsere einzige Hoffnung bestand darin, daß wir mit Isotop I-231 die Kettenreaktion neutralisieren könnten. Aber leider haben wir nicht genügend von dem Zeug. Hoffnungslos. Warum hätten wir I-231 in Zehn-Zentner-Kisten einlagern sollen? Wozu? Doch jetzt
könnten wir es gebrauchen! Nun…« Palmer griff nach dem Telefon, doch Ferrel drehte sich im gleichen Moment um und sagte: »Was soll aus meinen Patienten werden? Sie haben das radioaktive Zeug im Körper – mehr als ein zehntel Gramm RIsotopen in den Knochen oder im Fleisch! Sollen wir sie vielleicht hier liegen lassen, bis sie explodieren? Zusammen mit euren Reaktoren?« Schweigen herrschte, bis Jenkins sich klatschend vor die Stirn schlug. »Mein Gott! Was sind wir doch für Idioten! Da reden wir stundenlang von Isotop I-231, und ich komme nicht auf den Gedanken! Ich hätte es auch jetzt noch nicht kapiert, obwohl zwei zugleich davon redeten!« »I-231?« meinte der Japaner müde. »Wir haben nicht genügend davon! Vielleicht fünfundzwanzig Pfund – alles in allem. Brauchen mindestens dreieinhalb Tage, um mehr davon herzustellen. Das bißchen, was wir haben, hilft uns gar nichts, Dr. Jenkins. Diese Lösung haben wir längst gestrichen.« Hoke lächelte matt: »Ein Tropfen Wasser gegen einen Waldbrand.« Er schüttelte den Kopf. »Falsch, Hoke! Ein Tropfen Wasser, um den Schalter kurzzuschließen. Vielleicht! Hören Sie, Doc, I-231 ist ein Isotop, das automatisch mit R reagiert. Wir haben das bereits ausprobiert. I-231 schließt sich einfach mit dem Zeug zusammen und verwandelt sich dabei in stabile, nichtradioaktive Bestandteile unter einer nicht besonders starken Hitzeentwicklung. Es findet zwar eine Kernreaktion statt, aber eine harmlose. Die beiden tauschen nur ein paar Teile miteinander aus und verwandeln sich in stabile Kerne von geringerem Atomgewicht. Verstehen Sie? Wir haben aber nur ein paar Pfund davon und können auch nicht mehr rechtzeitig genug herstellen, um Nummer 4 vor einer Katastrophe zu retten. Aber wir haben genug davon, um jeden Patienten im Lazarett zu heilen – einschließlich Jorgenson!« Doc vergaß sofort seine Müdigkeit. »In der Atomphysik mag Ihre Menge nicht ausreichen, aber ist sie nicht zu gewaltig für
einen menschlichen Organismus?« Hokusai und Palmer starrten gebannt auf Jenkins Berechnungen, während Jenkins’ Stift über das Papier flog. »Sagen wir fünf Gramm für Jorgenson, damit ja nichts schiefgeht. Die anderen brauchen nicht soviel. Reaktionszeit – hm. Hier haben wir die Gesamthitzemenge, die dabei im Körper erzeugt wird. So lange dauert die geschätzte Reaktionszeit… Das Zeug ist wasserlöslich in der sauren Verbindung, wie wir es vorrätig haben. Das bereitet also keine Schwierigkeiten. Was sagen Sie dazu, Doc?« »Fünfzehn bis achtzehn Grad Wärmezunahme!« »Zuviel! Jorgenson verträgt keine zehn Grad Wärmezunahme in seinem augenblicklichen Zustand!« Jenkins betrachtete stirnrunzelnd seine Zahlenkolonnen und kaute auf seinem Stift herum. Doc schüttelte den Kopf. »Das ist nicht zuviel. Wir können ihn zuerst unterkühlen und die Temperatur wieder steigen lassen. Das liegt immer noch innerhalb vertretbarer Grenzen. Gott sei Dank haben wir das Gerät dazu! Wenn inzwischen ein paar Mechaniker die Kühlaggregate aus der Kantine holen und ein paar Bäder einlaufen lassen, können die Freiwilligen im Feldlazarett mit der Behandlung der anderen Verletzten anfangen. Wir konzentrieren uns hier auf Jorgenson. So retten wir wenigstens die Menschen.« »Das Verheilen der Wunden wird lange dauern – doch ist das immer noch besser, als wenn er Silberrippen auf der Lunge liegen hätte. Echte wachsen besser zusammen. Allerdings darf er sich nicht mehr röntgen lassen.« Doc hielt die Spritze immer noch in der Hand und blickte auf Jorgensons geöffneten Brustkorb hinunter. Die Platindrähte, die bisher Jorgensons Nervensträngen Impulse zugeführt hatten, waren entfernt worden. Das Gehirn steuerte jetzt wieder Herz und Lunge. Die
Signale des Gehirns waren zwar schwächer als die der Maschine; doch Anzeichen von Gefahr oder gar eines Kollapses waren nicht zu erkennen. »Hauptsache, sein Verstand und sein Gedächtnis haben nicht gelitten.« Jenkins sah Doc zu, wie er jetzt die Muskeln und die Haut wieder vernähte. »Doc, er muß wieder zu einem normalen Bewußtsein erwachen! Wenn Hoke und Palmer bestätigt finden, was man ihnen gemeldet hat, kann nur noch Jorgenson uns retten.« Jetzt konnten sie nur noch darauf warten, bis die Drogen Jorgenson aus seiner Ohnmacht zurückholten. Im Augenblick der Entspannung traf die Erschöpfung Ferrel wie ein Keulenschlag. Seine Finger zitterten, als er sich die Handschuhe abstreifte. »Na, wir werden es ja spätestens in fünf Minuten wissen.« »Und der Himmel sei uns gnädig, Doc, wenn ich als Ersatzmann einspringen müßte. Ich hatte immer schon eine Vorliebe für Atomphysik; bin sozusagen mit ihr aufgewachsen. Aber Jorgenson ist Produktionsfachmann, Doc! Sie wissen nicht, wieviel die Praxis gerade auf diesem Gebiet bedeutet! Die Theorie hinkt noch hinterher. Er hat wochenlang mit diesem Verfahren experimentiert! Außerdem ist es sein Verfahren – ein Verfahren, das außer ihm niemand beherrscht… Da kommen sie ja schon wieder! Dürfen sie schon zu dem Patienten?« Aber Hokusai und Palmer warteten erst gar nicht auf eine Erlaubnis. In dieser Stunde war Jorgenson das Nervenzentrum des Werkes, der Nothelfer und vielleicht auch der Retter. Die beiden kamen in den Operationsraum, starrten auf die Bandagen und Apparate, setzten sich dann neben den Tisch und warteten. Palmer griff das Thema wieder auf, das er vorhin abgebrochen hatte. Seine Erläuterungen waren für Hokusai und Jenkins zugleich bestimmt. »Der Kuckuck soll die LinkStevens-Reaktion holen! Tausendmal haben wir es probiert,
und jedesmal schlug sie fehl. Und jetzt – das! Als ginge es mit Zauberei zu! Wenn wir noch lebend hier herauskommen, suche ich mir einen, der verrückt genug ist, der Sache auf den Grund zu gehen! Hoke, sind Sie sich auch wirklich sicher, daß es sich hier um die Theta-Kettenreaktion handelt? Sie wissen, sie kommt unter zehntausend Reaktionen nur ein einziges Mal vor! Sie ist instabil, nicht aufzuhalten, zerfällt bei der ersten Gelegenheit in stabile Bestandteile…« Hokusai zuckte nur die Achseln und blickte fragend zu Jenkins hinüber. Doch der junge Arzt schien desinteressiert. »Es muß sich um die Theta-Kette handeln, Palmer. Keine andere entwickelt in dieser Phase so viel Energie. Wahrscheinlich hat die letzte Maßnahme, die wir ergriffen haben, um die Kettenreaktion zu bremsen, die Weichen in diese Richtung gestellt. Die Masse hat genau die richtige Konzentration, um die Reaktion aufrechtzuerhalten. Wir rechneten mit zehn Stunden Galgenfrist. Ausgerechnet in diesem Moment entscheidet sich das Zeug für die kürzere Reaktionskette von sechs Stunden.« »Ja«, murmelte Palmer und ging nervös im Raum auf und ab. Er verlor Jorgenson keinen Moment aus den Augen. »Und sechs Stunden werden nur knapp reichen, um die Bevölkerung in Sicherheit zu bringen. Doc – wir können jetzt nicht mehr auf Jorgenson warten! Ich muß den Gouverneur verständigen, daß er sofort mit der Evakuierung beginnt!« »Lassen Sie zuerst die Leute aus dem Werk wegschaffen, Palmer. Und Ihnen gebe ich ebenfalls den Rat, sich einen Ort zu suchen, der möglichst weit von hier entfernt liegt. Ich habe vorhin schon Maschinengewehrfeuer am Haupttor gehört. Aber das bißchen Empörung ist nichts im Vergleich zu dem, was ein Räumungsbefehl bei der Bevölkerung auslösen wird!«
Palmer sagte: »Doc, auch wenn Sie es nicht glauben – ich pfeife darauf, was mir oder der Fabrik zustoßen wird. Ich habe andere Sorgen.« »Wirklich? Der Mob fragt nicht lange, wer schuldig ist. Und was bei einem Zusammenstoß hier im Werk passiert, können Sie sich selbst ausmalen! Außerdem – Jorgenson ist gleich soweit!« Doc sträubte sich gegen den Gedanken, daß seine Frau, die an den Rollstuhl gefesselt war, sich allein auf die Flucht machen mußte. Sie würde sich wahrscheinlich weigern, das Haus allein zu verlassen. Sein Blick streifte den Bleibehälter, den Jenkins nervös hin und her schob. Doc versuchte, Zeit zu gewinnen. »Haben Sie nicht vorhin gesagt, es wäre gefährlich, die kritische Masse aufzuteilen, Jenkins? In diesem Behälter befinden sich die radioaktiven Stoffe, die wir den Verletzten aus dem Körper herausgeschnitten haben. Auch die Instrumente, die wir verwendet haben. Warum ist das Zeug nicht schon längst explodiert?« Jenkins’ Hände zuckten von dem Behälter zurück, als habe er sich die Finger verbrannt. Er sprang auf, rannte quer durch den Raum zu der Stelle, wo das I-231 lag, eilte wieder zum Behälter und streute fieberhaft das weißliche Pulver über den Inhalt. Auch Hokusai war aufgesprungen, als habe er einen elektrischen Schlag bekommen, und füllte jetzt Wasser in den Behälter, damit das I-231 sich gleichmäßig verteilte. Sogleich stieg eine weiße Dampfwolke auf, obgleich sich die Energieentwicklung relativ langsam vollzog. Es dauerte ein paar Minuten, bis die Klimaanlage den Dunst wieder aus dem Raum gesogen hatte. Hokusai wischte sich den Schweiß von der Stirn: »Die Anzüge – die Bleischilde der Leute?« »Die habe ich schon gleich nach der Behandlung in die Halle schaffen und in das ausgeflossene Magma werfen lassen, um
jede Gefahr zu beseitigen«, murmelte Jenkins. »Doch an den Behälter habe ich gar nicht mehr gedacht, ich Idiot. Da haben wir aber Glück gehabt! Kann auch sein, daß die Leute Isotopen mit gleicher, relativ langer Zerfallszeit abbekommen haben. Ist jetzt auch so ziemlich…« »Oh – wa…?« »Jorgenson!« Sie drehten sich herum, als hingen sie an einem gemeinsamen Draht. Jenkins erreichte den Operationstisch zuerst. Jorgensons Augen standen offen, bewegten sich schwach. Seine Finger zuckten. Der junge Arzt beugte sich über Jorgensons Gesicht. »Jorgenson, können Sie verstehen, was ich sage?« »Ah!« Die Augäpfel bewegten sich nicht mehr, die Pupillen richteten sich auf das Gesicht des Jungen. Eine Hand tastete nach dem Hals. Mit der anderen versuchte er vergeblich, sich aufzustützen. Die Nachwirkung der Strapazen und des stundenlangen Ringens, ihn am Leben zu erhalten, zeigte sich jetzt als partielle Lähmung. Ferrel hatte kaum mehr zu hoffen gewagt, daß der Patient mit normalem Verstand aufwachen würde. Unendliche Erleichterung überkam ihn – doch auch Zweifel. Er schob Palmer zur Seite und schüttelte den Kopf. »Nein, überlassen Sie das Jenkins. Er kennt sich mit so einem pathologischen Fall aus – Sie nicht. Sie würden ihn vielleicht doch noch um seinen Verstand bringen! Wir dürfen jetzt nichts überstürzen!« »Ich – ah – der junge Jenkins? Was machen Sie hier? Sagen Sie Ihrem Vater – schnell – arbeiten!« Irgendwo in diesem Koloß von einem Mann ruhten noch unverbrauchte Kraftreserven, Willenskräfte, die ihn jetzt zwangen, sich aufzusetzen. Er starrte Jenkins an, während er sich immer noch mit der linken Hand die Kehle massierte, weil die Stimmbänder sich weigerten mitzuarbeiten. Seine Aussprache blieb undeutlich; doch die eiserne Energie des Mannes
überwand auch dieses Hindernis, so daß er sich wenigstens verständlich machen konnte. »Mein Vater ist tot, Jorgenson. Aber…« »Richtig. Sie sind jetzt – erwachsen. Waren ungefähr zwölf, als ich – die Fabrik!« »Ruhig Blut, Jorgenson.« Jenkins’ Stimme schien ganz sachlich und gelassen, doch seine Hände zuckten. »Hören Sie zu und unterbrechen Sie mich nicht, bis ich fertig bin. Wir brauchen Ihre Hilfe. Folgendes ist passiert…« Ferrel konnte sich keinen Vers auf die Sätze machen, die jetzt folgten. Doch es mußte sich um eine Art von physikalischer Eilschrift handeln; denn Hokusai nickte zustimmend mit dem Kopf. Und diese Sätze schienen die Situation auch erschöpfend wiederzugeben, denn Jorgenson saß ganz still da und beobachtete den Jungen, bis dieser geendet hatte. »Verflixt und zugenäht! Muß nachdenken… Ihr habt versucht…« Jorgenson machte Anstalten, sich wieder hinzulegen. Jenkins half ihm dabei. Sein Blick hing gebannt an den Lippen von Jorgenson. »Oh – meine Kehle – ah!« »Haben Sie alles verstanden?« »Ah!« Das war ein zustimmender Laut, doch die Hände, die sich um die Kehle legten, sprachen eine nur zu deutliche Sprache. Der Energieausbruch hatte seine letzten Reserven erschöpft. Er konnte nicht mehr klar denken, lag nur da, atmete schwer und murmelte ein paar Laute, die keinen Zusammenhang mehr besaßen. Palmer packte Ferrel am Ärmel. »Doc, können Sie denn wirklich nichts mehr tun?« »Werde es versuchen.« Ferrel zog eine neue Spritze auf, fühlte Jorgensons Puls und entschied sich dann nur für die halbe Menge. »Nicht viel Hoffnung. Der Mann hat die Hölle hinter sich. Man hätte ihn ohnehin nicht aus seiner Ohnmacht herauszwingen dürfen. Wenn wir es zu weit treiben, wird er
überhaupt nicht mehr zusammenhängend sprechen können. Es liegt nicht nur an den Stimmbändern, daß er Mühe hat, sich auszudrücken. Auch sein Sprachzentrum im Gehirn ist offenbar in Mitleidenschaft gezogen worden.« Doch im gleichen Augenblick machte Jorgenson einen letzten, verzweifelten Anlauf. Seine Lippen bewegten sich – die Worte kamen gepreßt und heiser, als koste es ihn große Anstrengung, die Laute richtig zu bilden. Doch seine Stimme schwankte nicht dabei. »Erste – Variable – zwölf – Wasser – stoppt.« Seine Augen waren auf Jenkins gerichtet. Dann schlossen sie sich wieder, und er wehrte sich diesmal nicht mehr gegen die Ohnmacht, die ihn wieder auf das Lager zurückzwang. Hokusai, Palmer und Jenkins warfen sich gegenseitig fragende Blicke zu. Der Japaner schüttelte den Kopf, während er die Worte leise wiederholte. Dann riefen er und der Direktor fast gleichzeitig: »Delirium!« »Jorgenson – unsere allerletzte Hoffnung!« Jenkins’ Schultern sanken ein, und das Blut wich aus seinem Gesicht. »Mein Gott, Doc – starren Sie mich nicht so an, als könne ich Wunder wirken.« Doc war sich nicht bewußt gewesen, den Jungen angestarrt zu haben. »Mag sein, daß Sie keine Wunder wirken können. Aber von uns allen hier haben Sie die lebhafteste Einbildungskraft. Machen Sie sich nur nicht selbst Angst, lassen Sie Ihren Geist arbeiten. Sie sind jetzt unsere große Hoffnung, Jenkins. Und vergessen Sie nicht – ich halte große Stücke auf Sie. Ich setze meinen letzten Cent auf Sie, Jenkins! Wieviel setzen Sie dagegen, Hoke?« Das war natürlich alles nur Gerede, und Doc wußte das auch genau. Doch während der vergangenen Nacht hatte Doc einen eigenartigen Respekt für den Jungen entwickelt und ein Vertrauen in dessen Nervosität, die keine Angst war, sondern
eher der Reaktion eines Vollblüters glich, der zum Finish auf der Zielgeraden ansetzte. Hoke war zu langsam und methodisch – Palmer zu sehr mit den vielseitigen Problemen seines Betriebes beschäftigt, als daß er sich ganz auf das Problem konzentrieren konnte, das es zu lösen galt. So blieb also nur Jenkins übrig, der die Fesseln seines mangelnden Selbstvertrauens abstreifen mußte. Hoke gab mit keiner Miene zu verstehen, daß er Docs Wink verstanden habe. Aber er hob die Augenbrauen und zuckte die Achseln. »Wetten will ich nicht, aber ich stehe zur Verfügung. Was schlagen Sie vor, Dr. Jenkins?« Palmer blickte den Jungen flüchtig an, dessen Gesicht ein Spiegelbild widerstreitender Gefühle war. Doch er besaß weder die Naivität des Laien wie Doc noch den Fatalismus des Japaners. Er warf noch einen letzten Blick auf den bewußtlosen Jorgenson, drehte sich dann um und ging zum Telefon. »Ihr könnt ja ein Wettspiel veranstalten, wenn ihr wollt, Leute«, murmelte er. »Doch ich ordne jetzt sofortige Räumung an!« »Warten Sie!« rief Jenkins, und er schien unter der Last der Verantwortung geradezu zu beben. »Warten Sie noch einen Moment, Palmer! Vielen Dank, Doc! Sie haben mich aus meiner Lethargie herausgerissen und mich auf eine Idee gebracht! Die ganze Zeit habe ich schon versucht, mich daran zu erinnern. Ja – ja, ich glaube, das ist die Lösung! Es muß hinhauen – etwas anderes ist in diesem Zeitpunkt nicht mehr möglich!« »Geben Sie mir den Gouverneur!« Palmer hatte zugehört, ließ sich aber von seinem Gespräch nicht abbringen. »Jetzt ist nicht der Augenblick, verrückte Einfälle auszuprobieren«, sagte er. »Zuerst müssen wir die Leute evakuieren. Ich gebe zu, daß Sie ein verdammt geschickter Amateur sind. Aber Sie sind kein Atomphysiker – vergessen Sie das nicht!«
»Und wenn Sie jetzt die Leute evakuieren lassen, ist es zu spät! Sie haben dann niemand mehr, der die Arbeit verrichtet!« Jenkins’ Hand griff nach dem Hörer und riß ihn Palmer buchstäblich aus der Hand. »Palmer, Sie müssen mich anhören! Sie können nicht den halben Kontinent räumen lassen! Und Sie können sich nicht darauf verlassen, daß die Explosion sich nur auf einen Umkreis von hundert Meilen beschränkt. Es ist ein gewagtes Spiel, ich weiß! Aber Sie riskieren in Wirklichkeit fünfzig Millionen Menschen, während Sie ein paar Hunderttausend in Sicherheit bringen lassen! Also geben Sie mir die Chance!« »Ich gebe Ihnen genau eine Minute, in der Sie mich überzeugen müssen, Jenkins! Und tun Sie es gründlich! Vielleicht gelingt es uns doch, den Schaden auf fünfzig Meilen im Umkreis zu beschränken!« »Vielleicht. Und in einer Minute kann ich es auch nicht erklären.« Der Junge machte ein verzerrtes Gesicht. »Okay, Sie haben die ganze Zeit über gejammert, daß Sie jetzt kein Genie zur Verfügung haben wie Keller, der vor zwei Jahren starb. Wenn er noch am Leben und hier in Ihrer Fabrik wäre – würden Sie ihm vertrauen? Oder einem Mann, der ihm assistiert und alles miterlebt hat, was Keller erprobt und geleistet hat?« »Natürlich würde ich das – aber Sie sind nicht Keller. Und ich weiß zufällig, daß Keller ein Einzelgänger war. Er hat nie mehr einen Ingenieur eingestellt, nachdem er sich mit Jorgenson überwarf und Jorgenson zu uns kam.« Palmer langte nach dem Telefonhörer. »Auf diese Weise überzeugen Sie mich nicht, Jenkins!« Jenkins’ Hand kam ihm wieder zuvor und schob das Telefon außer Reichweite. »Ich war kein Angestellter, Palmer. Als Jorgenson bei einem Verfahren, das wir ausprobieren wollten, kalte Füße bekam und kündigte, war ich erst zwölf Jahre alt.
Drei Jahre später war er so sehr mit Arbeit überlastet, daß er es unmöglich allein schaffen konnte. Doch diesmal wollte er das Geheimnis seiner Reaktorverfahren in der Familie erhalten – also nahm er mich als Schüler und Assistenten. Ich bin Kellers Stiefsohn!« Jetzt wurden die Zusammenhänge für Doc endlich klar. Am liebsten hätte er sich selbst in die Kehrseite getreten, daß er sie noch nicht früher begriffen hatte. »Deswegen hat Jorgenson Sie also gleich erkannt, wie? Und ich glaubte, Jorgenson phantasierte nur. Worauf warten Sie noch, Palmer!« Noch zögerte der Direktor. Doch dann gab er sich mit einem Achselzucken geschlagen. »Okay. Ich bin zwar verrückt, daß ich Ihnen das Schicksal des Werkes anvertraue, Jenkins, aber für etwa anderes ist es ja sowieso längst zu spät. Was brauchen Sie?« »Leute – Handwerker und Techniker – und ein paar Freiwillige, die sich nicht scheuen, sich die Hände schmutzig zu machen. Ich brauche alle Pumpen, Gebläse, Ventilatoren und Schläuche, die Sie im Werk auftreiben können. Sie sollen so nahe wie möglich bei Nummer 4 angeschlossen werden. Möglichst ein paar Meter über der Erde, daß man das Gerät mit dem Kran heranbringen kann. Keine Ahnung, wie das am besten geht. Das wissen die Techniker besser. Und Sie haben einen kleinen Fluß, der das Werkgelände durchquert – nicht wahr? Sorgen Sie dafür, daß alle Leute, die flußabwärts in der Nähe der Ufer wohnen, evakuiert werden. Und lassen Sie die Schläuche der Pumpen und Sauggeräte so verlegen, daß sie das geförderte Material direkt in den Fluß ableiten. Wo endet dieser Fluß – in einem Sumpf oder Moor?« »Ja – in einem Sumpfgelände, ungefähr zehn Meilen von hier entfernt. Wir haben erst gar kein eigenes Kanalnetz gebaut, als wir den Fluß als Abwasserkanal übernehmen mußten. Das Moor läßt sich sowieso nicht als Bauland verwenden und ist
als Kläranlage geradezu ideal.« Tatsächlich hatte die National Atomic zuerst beträchtliche Schwierigkeiten mit den Anrainern bekommen, als sie das Flüßchen als Abwasserkanal benutzte. Die Firma war schließlich gezwungen gewesen, das angrenzende Gelände und sogar das Moor aufzukaufen, um die wütenden Proteste der Öffentlichkeit gegen die Atomgefahr mit klingender Münze zu besänftigen. Seitdem war das Land am Rande des Flüßchens verwildert und wurde nur noch von Schlangen und Kaninchen bewohnt. »Dort wohnt sowieso niemand«, fuhr Palmer fort. »Vielleicht halten sich noch ein paar Landstreicher dort auf, die nicht wissen, daß das Land uns gehört. Wir werden ein paar Leute von der Nationalgarde hinschicken, die jeden aufscheuchen, der sich unbefugt dort herumtreibt.« »Gut. Ideal sogar, weil der Sumpf dort, wo die Strömung geringer ist, die Schwebstoffe auffängt wie ein Filter. Jetzt zu Frage Nummer zwei: Haben Sie noch einige der Superthermitbomben, die Sie im letzten Jahr produziert haben?« »Nicht hier auf dem Werksgelände. Aber im Lagerhaus haben wir das Zeug tonnenweise. Es liegt dort, bis die Armee es abruft. Ziemlich gefährliches Zeug, nebenbei bemerkt. Kennen Sie sich denn damit aus?« »Ich weiß nur, daß es für meinen Zweck genau das richtige ist«, erwiderte Jenkins und deutete auf die Ausgabe des Weekly Ray, die noch auf dem Tisch lag. Doc hatte den Text ebenfalls gelesen, soweit er einem Laien verständlich war. Er erinnerte sich, daß der Brandsatz der Granate im wesentlichen aus zwei Superschweren Atomen bestand, die durch eine Isolierwand voneinander getrennt waren. Kamen die beiden Atome zusammen, erfolgte die Reaktion, die eine außerordentlich starke Hitzeentwicklung auslöste, während der radioaktive fallout gering blieb.
»Die Hitze beträgt ungefähr zwanzigtausend Grad Celsius, nicht wahr? Wie ist das Zeug gelagert?« »In Zehn-Pfund-Bomben. Beim Aufschlagen der Bomben auf ein Hindernis bricht die Trennwand zusammen, die die beiden Komponenten des Zündstoffes voneinander trennt. Es kommt zur Explosion. Hoke kann Ihnen das besser erklären. Er hat das Zeug ausgebrütet.« Palmer griff nach dem Telefon. »Brauchen Sie noch etwas? Nein? Okay. Dann macht euch an die Arbeit! Die Leute stehen schon bereit, wenn Sie dann losfahren. Ich komme später nach, sobald ich Ihre Anordnungen durchgegeben habe!« Doc sah den beiden nach, als sie das Krankenhaus verließen. Kurz darauf eilte auch Palmer ins Freie zu seinem Wagen. Ferrel blieb allein mit Jorgenson und seinen Gedanken zurück. Sie waren nicht gerade angenehm. Er war mit der Materie nicht genügend vertraut, um überschauen zu können, was jetzt geschah. Doch war er inzwischen so weit in die Probleme eingeweiht worden, daß er die Gefahr genau kannte. Er kam am Maschinenpark vorbei. Fieberhafte Tätigkeit herrschte dort, die sich bis zum Konverterhaus 2 fortsetzte, wo die Techniker damit beschäftigt waren, lange Schlauchleitungen aneinanderzuschließen. Schon bald stieß er auf die Absperrung, die keinen Unbefugten an die Reaktorhalle 3 heranließ. Er ging an den Seilen entlang und hielt nach Palmer Ausschau. Dieser erblickte ihn zuerst. »Hallo, Dr. Ferrel – kommen Sie hierher zum Wagen! Habe mir schon gedacht, daß Sie die Schlacht nicht verschlafen wollen! Von hier oben aus haben Sie einen guten Blick über die Köpfe der Leute hinweg, Doktor! Und es steigt Ihnen niemand auf die Füße!« Susan Brown war bei Palmer. Sie streckte ihm eine Hand hinunter, um ihm hinauf auf die Plattform zu helfen. Doch er übersah ihre Hand, und sie lächelte flüchtig. Doc kletterte ein bißchen
schwungvoller hinauf, als seinen müden Muskeln guttat. Aber so alt war er nun wirklich noch nicht, daß er sich von einer jungen Dame helfen ließ. »Wissen Sie, was dort vorn vorgeht?« fragte er, während er sich auf eine Bank auf der Ladefläche setzte und mit dem Kopf in die Richtung der Reaktorhalle deutete. Ein Dutzend Arbeitstrupps schien dort zugleich am Werk. Welcher Plan dieser fieberhaften Aktivität zugrunde lag, konnte man jetzt noch nicht erkennen. »Ich weiß auch nicht mehr als Sie, Dr. Ferrel«, erwiderte Dr. Brown. »Ich habe meinen Mann inzwischen nicht mehr gesprochen. Palmer sorgte dafür, daß ich nicht weiter vordringen konnte als bis hierher.« Doc konzentrierte jetzt seine Aufmerksamkeit auf die Hubschrauber, die mit ihren Lasten landeten, wieder starteten und aufs neue beladen wiederkehrten. Zweifellos enthielten die Kisten die Superthermit-Bomben, von denen vorhin die Rede war. Da er diesen Vorgang noch am besten verstand, fesselte er ihn auch am wenigsten. Vor ihm waren die Arbeitskommandos gerade dabei, Rohrleitungen mit Aggregaten zu verbinden und zu einem komplizierten System auszubauen. Ein paar Panzer fuhren heran, nahmen die Enden der Leitungen ins Schlepp und fuhren damit zum Fluß hinunter, der hinter dem Werksgelände nach Südosten floß. »Das müssen wohl Leitungen zum Absaugen von Gasen oder dergleichen sein«, murmelte Doc. »Wozu die Geräte gut sein sollen, die man dazwischengeschaltet hat, entzieht sich allerdings meiner Kenntnis.« »Das kann ich Ihnen erklären. Ich habe mich oft in der Fabrik von Bobs Vater umgesehen.« Sie sah ihn fragend an, doch Doc nickte nur. »Die Rohrleitungen dienen zum Absaugen der Reaktorgase, das ist richtig. Die Aggregate dazwischen saugen die Gase an. Alle hundertfünfzig Meter muß so ein Aggregat dazwischengeschaltet werden. Was die Leute jetzt um die
Rohre herumlegen, müssen Heizschlangen sein, um die Gase bei konstanter Temperatur zu halten. Aber weshalb tun die das? Will man denn die radioaktive Masse absaugen?« Doc konnte ihr diese Frage natürlich nicht beantworten. Doch er glaubte, daß sie mit ihrer Vermutung richtig lag. Fragte sich nur, wie die Männer mit dem Rohrsystem nahe genug an die radioaktive Hölle herankamen. »Ihr Mann hat eine Ladung superheißer Brandbomben bestellt. Er will offenbar versuchen, das radioaktive Material zu verdampfen, um es anschließend mit den Rohren in den Fluß abzusaugen.« Noch während er davon sprach, schob sich von der Seite ein fahrbarer Turmkran mit besonders langem Ausleger heran. An dem Lastbaum waren zwei Rohrleitungen befestigt, die wie das Rohr eines Langrohrgeschützes zum Himmel ragten. Die obere, dickere Rohrleitung diente wohl zum Absaugen der Gase. Die untere, kleinere Rohrleitung, die unter der Saugleitung hing wie der Kugellauf unter dem Schrotlauf einer Büchse, spuckte plötzlich etwas Längliches über der verwüstetet! Fabrikhalle aus. Kurz darauf stieg ein blendendes blauweißes Licht über den Gebäuderuinen auf – noch viel heller, als man es im ersten Moment beurteilen konnte, denn die Augen begannen sofort zu schmerzen. Doc deckte die Hand darüber, als jemand ihm etwas zusteckte. »Setzen Sie das auf. Palmer sagt, es handelt sich um aktinisches Licht.« Er hörte, wie Dr. Brown neben ihm etwas über den Kopf streifte. Dann hatten sich seine Augen wieder so weit erholt, daß er etwas erkennen konnte. Er befestigte die Schutzbrille vor den Augen und sah jetzt eine leuchtende Wolke über der flüssigen Magma, die sich nach oben hin immer mehr verjüngte und schließlich im Mundstück der Saugleitung am Turmkran verschwand. Ein zweiter blitzender Gegenstand torkelte durch die Luft, wieder spritzte gleißendes Licht vom Boden auf. Drüben, links von ihm, sah Dr. Ferrel einen Trupp
von Arbeitern damit beschäftigt, einen anderen Turmkran mit einer doppelten Rohrleitung zu versehen. Die Brandbomben wurden jetzt mit ölgetränkten Lappen umwickelt. Wahrscheinlich war der Durchmesser der Rohre für die Bomben zu groß, und man richtete sie so her, daß sie mit Druckluft durch die Rohre hinauf und ins Freie befördert werden konnten. Der erste Turmkran spuckte inzwischen noch drei Brandbomben aus. Die Aggregate brüllten und saugten, förderten die radioaktiven Gase hinunter zum Fluß. Dann löste man die Zuleitungen vom ersten Kran, befestigte sie an dem zweiten. Wahrscheinlich war die Hitzeentwicklung so hoch, daß man das Material nicht lange in der Nähe des Brandherdes lassen konnte. Oder die Belastung für den Kranführer in seiner hitze- und strahlungssicheren Kabine war zu groß. Auf jeden Fall lösten sich alle paar Minuten diese improvisierten Saugund Bombenmaschinen ab. »Ah«, sagte Susan Brown, die dieser fieberhaften Betriebsamkeit eine Weile gedankenverloren zugesehen hatte, »Doktor, ich glaube, daß die ganze Arbeit trotzdem umsonst sein wird.« »Wie bitte?« fragte Dr. Ferrel. Sie konnte von diesen Dingen bestimmt nicht mehr verstehen als er – und doch gab ihm dieser Satz einen heftigen Stich ins Herz. »Das Zeug, das sie dort hergestellt haben, war superschwer – es sinkt sofort auf den Grund des Flusses! Das Wasser kann das Material also gar nicht fortschaffen!« Klar, überlegte Ferrel, nur zu klar! Vielleicht waren die Ingenieure gerade deswegen nicht auf den Gedanken gekommen, daß die Sache überhaupt nicht funktionieren konnte. Gerade wollte er von seiner Bank aufstehen, als Palmer sich zu ihnen auf die Ladefläche hinaufschwang und dem Doktor beruhigend die Hand auf den Arm legte. »Immer mit der Ruhe, Doc. Es ist schon in Ordnung. Aha, Mrs. Jenkins – Susan – Dr. Brown – wie darf
ich Sie nennen? Nun – Ihre physikalischen Kenntnisse in Ehren; aber Sie haben eines dabei nicht berücksichtigt. Der Lehrsatz von der Brownschen Bewegung ist auch heute noch gültig. Nach diesem Satz erhalten sich Kolloide im schwebenden Zustand im Wasser, solange sie nur fein genug sind, um als Kolloidteilchen gelten zu können. Wir saugen die Gase ab und halten sie bei ziemlich hoher Temperatur, bis sie das Wasser erreichen – dort kühlen sie so rasch ab, daß die Masseteilchen sich nicht zu größeren Einheiten zusammenschließen und somit auf den Grund des Flusses absinken können. Staubteile, die in der Luft herumfliegen, sind ja auch oft schwerer als Luft und sinken trotzdem nicht zu Boden. Das gleiche Prinzip! Nun, ich werde mich jetzt den Zuschauern anschließen, wenn Sie nichts dagegen haben. Die Leute haben jetzt alles recht gut unter Kontrolle. Und von hier oben aus kann ich die Operation sowieso viel besser übersehen, um notfalls eingreifen zu können.« Docs Optimismus kehrte sofort wieder zurück. Und doch fühlte er sich viel sicherer, als es die Lage rechtfertigte. Während er Palmer Platz machte, fragte er: »Was hindert das Zeug eigentlich daran, daß es explodiert, Palmer?« »Gar nichts. Haben Sie zufällig ein Streichholz?« Er sog den Rauch seiner Zigarette in die Lungen und schloß die Augen für einen Moment. »Es hat keinen Zweck, Doc, Ihnen jetzt schon Hoffnungen zu machen. Noch ist es ein Glücksspiel – und ich möchte sagen, die Chancen stehen fünfzig zu fünfzig. Jenkins ist zwar der Meinung, sie stünden neunzig zu zehn zu seinen Gunsten, aber er darf gar nicht anders denken, wenn er nicht den Mut verlieren will. Unsere Hoffnung stützt sich auf den Trick, daß wir jetzt die kritische Masse durch das Verdampfen so schonend und rasch verdünnen wie nur möglich, sie dann als Kolloide im Wasser ablagern, so daß sie sich nicht mehr zu einer gefährlichen Konzentration verdichten kann. Damit
glauben wir, einer blitzartigen Kettenreaktion jede Möglichkeit zu nehmen. Doch das ist noch nicht einmal unser Hauptproblem. Unsere größte Sorge ist und bleibt die radioaktive Masse in dem Bereich des verunglückten Konverters. Können wir nicht alles herausschaffen, bleibt vielleicht noch so viel Material zurück, daß wir und die Stadt in die Luft geblasen werden. Doch seit der letzten Ablösung hat das Material wenigstens aufgehört zu spucken. Die Leute brauchen sich daher keine Sorgen um herumfliegende Isotopen zu machen – aber Brandwunden sind schon schlimm genug.« »Wie hoch ist der Schaden, wenn das Teufelszeug nur in winzigen Mengen hochgeht?« »Oh – das kann sogar ohne Verluste abgehen. Wenn eine Million Tonnen Dynamit ganz langsam abbrennt, ist es so harmlos wie Holz, verstehen Sie? Geht aber auch nur eine Stange von dem Zeug auf einmal los, sind Sie tot, wenn Sie daneben stehen. Dasselbe gilt für dieses Zeug. Warum hat Jenkins eigentlich mit keinem Wort verraten, daß er am liebsten in der Atomphysik tätig ist? Das hätte sich doch längst deichseln lassen! Ist sowieso schon schwer genug, gute Leute zu bekommen!« »Palmer!« meldete sich jetzt das Funksprechgerät. »Die Gebläse sind so gut wie hinüber! Die Rohre angegriffen und halb zersetzt. Wir arbeiten wie die Verrückten, um sie durch neue zu ersetzen. Aber dieses Teufelszeug frißt das Material rascher auf, als wir es erneuern können. Länger als eine Viertelstunde können wir hier für nichts mehr garantieren!« »Schon gut, Briggs. Halten Sie die Stellung, solange sie können.« Palmer blickte zu einem Panzer hinüber, der hinter den Turmkränen stand. »Jenkins, haben Sie das mitbekommen?« »Ja. – Wundert mich schon lange, daß die Röhren noch mitmachen. Wieviel Zeit haben wir noch bis zum kritischen
Moment?« Die Stimme des Jungen war tonlos, verriet weder Hoffnung noch Furcht – nur die unendliche Müdigkeit eines Mannes, der sich restlos verausgabt hatte. Palmer blickte auf die Uhr und pfiff leise durch die Zähne. »Zwölf Minuten – nach Hokes Berechnung der Minimalzeit! Wieviel Material ist noch übrig?« »Oh, wir machen jetzt nur noch Nachlese mit den Bomben, damit ja nichts übersehen wird. Ich hoffe, wir haben das ganze Material verdampft, aber versprechen kann ich natürlich nichts. Wäre eine gute Idee, die letzten Bestände von I-231 heranzuschaffen und sie durch die Rohre zu blasen, um jeden radioaktiven Niederschlag zu neutralisieren. Sind alle Werkzeuge, Schienen und Wagen, die mit Isotop R in Berührung gekommen sind, bereits vernichtet?« »Sie haben eben selbst das letzte Stück davon eingeschmolzen, Jenkins! Und die Kräne sind mit dem Teufelszeug ja nicht direkt in Berührung gekommen. Ein hübscher Batzen Geld ist durch die Röhren gelaufen – Konverter, Reaktoren, Maschinen, alles!« Neun Minuten von den noch verbleibenden zwölf waren bereits vergangen, als Jenkins sich zu ihnen auf den Lastwagen schwang. Stumm wischte er sich den Schweiß von der Stirn, während Palmer wie gebannt auf sein Zifferblatt starrte. Noch mehr Sekunden verrannen, während jede Tätigkeit auf dem Werksgelände zum Stillstand kam. Die Männer drängten sich zusammen, starrten entweder zu der Stelle, wo früher einmal Nummer 4 hinter dicken Blei- und Betonmauern gestanden hatte, oder den Fluß hinunter zum Sumpfgelände, Schweigen. Jenkins bewegte sich kurz und räusperte sich. »Palmer, ich weiß jetzt, woher mir der Einfall kam. Jorgenson versuchte, mich daran zu erinnern. Er phantasierte nicht! Doch ich begriff es nicht – wenigstens nicht bewußt. Es war eines der Rezepte von meinem Vater – letzte Hilfe sozusagen –, die er Jorgenson
einbleute, falls eine Kettenreaktion außer Rand und Band geriet und nicht mehr unter Kontrolle gebracht werden konnte. Mein Vater versuchte es mit der ersten Variablen. Ich war damals zwölf Jahre alt. Mein Vater verteidigte hartnäckig die Theorie, daß Wasser alle Reaktionen gleichmäßig verteilen und damit die Gefahr bannen würde. Nur glaubte er nicht, daß seine Theorie sich in die Praxis umsetzen ließe.« Palmer blickte nicht von seiner Uhr auf. Er fluchte nur leise: »Ausgerechnet jetzt müssen Sie mir das sagen!« »Er hatte ja auch nicht Ihre Isotopen, mit denen er die Masse verdampfen konnte«, erwiderte Jenkins gelassen. »Und vielleicht könnten Sie sich mal eine Sekunde von Ihrer Uhr trennen und einen Blick zum Fluß hinunter werfen!« Als Doc sich umdrehte, hatte er plötzlich das gellende Geschrei der Männer in den Ohren. Nach Südosten zu erhob sich eine gewaltige Dampfwolke gen Himmel, die sich immer rascher ausbreitete, begleitet von einem durchdringenden Zischen. Dann hatte Palmer schon Jenkins umarmt und brüllte vor Freude. »Zehn Meilen Sumpfgelände, Doc!« schrie Palmer Dr. Ferrel zu. »Fein verteilt, verwandelt sich Atom um Atom, bis die letzte Kettenreaktion abgelaufen ist – aber langsam! Die ThetaKette riß – und jetzt ist zwar das ganze Material da, um eine Atomexplosion auszulösen, aber zu fein verteilt, um rasch zu reagieren! Die Kettenreaktion wird das Flußbett auskochen, doch mehr kann nicht passieren!« Doc war immer noch viel zu benommen und müde, um sich entweder mit Freudenausbrüchen oder mit Tränen der Erleichterung Luft zu machen. Er saß nur da und betrachtete die riesige Dampfwolke. »Und damit verliere ich also den besten Assistenten, den ich je hatte. Jenkins, ich halte Sie nicht. Sie können tun oder lassen, was Palmer von Ihnen verlangt!«
»Hoke braucht ihn für sein Isotop R. Er verspricht sich viel von dem Zeug!« Palmer klatschte in die Hände wie ein Kind, das ein gewaltiges Feuerwerk bewundert. »Doc, Sie können sich als Assistenten aussuchen, wen Sie wollen – Ihr Sohn promoviert ja nächstes Jahr. Sie wollten ihn immer gern hier als Assistenzarzt haben. Jetzt bekommen Sie ihn. Und wenn Sie jetzt einen Wunsch haben, ich erfülle ihn!« »Okay, lassen Sie die verletzten Männer in ein Krankenhaus schaffen. Geben Sie den Leuten vom Feldlazarett alle Unterstützung, die sie noch brauchen. Und ich glaube, als Ersatz für Jenkins wähle ich Dr. Brown – natürlich unter dem Vorbehalt, daß im Notfall auch Jenkins einspringen muß, solange mein Junge noch nicht assistiert.« »Schon gewährt!« rief Palmer und schlug Jenkins auf die Schulter, als dieser Protest einlegen wollte. »Ihre Frau arbeitete nämlich viel zu gern in ihrem Beruf, Junge! Das hat sie mir selbst erzählt! Außerdem arbeiten eine Menge Ehefrauen hier im Werk. Meine Frau gehört auch dazu. Doc, nehmen Sie die beiden Kinder mit, und fahren Sie anschließend nach Hause! Ich mache es ebenso. Und kommen Sie ja nicht wieder, bis Sie frisch und ausgeschlafen sind – die beiden ebenfalls!« Doc schwang sich von der Ladefläche und schob sich mit Brown und Jenkins durch die jubelnde, begeisterte Menschenmenge. Die drei waren viel zu erschöpft, um jetzt noch eine leidenschaftliche Reaktion zu zeigen. Aber sie waren bewegt. Also hatte es doch noch ein gutes Ende genommen. Jenkins und Brown hatten erreicht, was ihnen als Ziel vor Augen schwebte. Hoke hatte sein Teufelszeug ausgebrütet, Palmer seinen Beweis, daß man Atomfabriken auch in Siedlungsgebieten errichten konnte. Und er selbst nun, sein Junge würde hier arbeiten können, betreut von seinem Vater und Blake und Jenkins, beide charakterlich sehr verschieden,
aber hochbegabt. Das Leben war nicht so übel, wie es so oft aussah. Dann blieb er plötzlich stehen und lachte in sich hinein: »Ihr beiden – wartet mal einen Augenblick. Wenn ich nicht die Bestellung für die Desinfektionsmittel weitergebe, mit denen die Duschräume behandelt werden sollen, hält mich Blake für einen vergeßlichen alten Trottel. Das kann ich natürlich nicht zulassen.« Alt? Vielleicht ein bißchen müde. Aber das war ihm schon öfter passiert und würde auch in Zukunft so sein – wenn es harte, anstrengende Arbeit zu leisten gab. Er machte sich keine Gedanken mehr. Seine Nerven waren für mindestens zwanzig Jahre Praxis noch gut genug…
Originaltitel: NERVES. Copyright 1942 by Street and Smith Publications, Inc. Aus ASTOUNDING SCIENCE FICTION September 1942.
Evan Hunter DAS MARSUNGEHEUER
Geduckt lag es in den roten Sanddünen wie ein riesiges silbernes Ei. Die Steuerdüsen klebten wie zerbrochene Schalen am Rumpf. Sand wirbelte auf, schlug gegen die Außenhaut von Mars VI, fiel mit der Gewalt eines orkanartigen Gebläses über das gestrandete Raumschiff her. Ächzend widerstand es diesem wütenden Angriff, bebte unter dem gewaltigen Druck von Wind und Sand. Leutnant Enoch kauerte an der Steuerbordschleuse, den Energiestrahler schußbereit in der rechten Hand, den Finger am Abzug. Seine Lippen lagen wie straffe Gummibänder über den Zähnen. Angst und Hoffnung zugleich spiegelten sich auf seinem Gesicht, während er in das Toben des Marssturmes hinaushorchte, der die Metallwände des Schiffes mit winzigen Sandgeschossen bombardierte. Ich hasse Captain Peevy, dachte er. Ich hasse Captain Peevy und werde ihn töten. Das Prasseln der Sandkörner klang wie das Echo seiner Gedanken. Enoch fragte sich, wie lange die Metallwände diesem Ansturm noch gewachsen waren, ehe die Naturgewalten das Raumschiff in kleine Fetzen zerrissen. »Eine schlechte Serie«, werden sie unten auf der Erde sagen. »Eine Pechsträhne. Hätten uns gleich denken können, daß sie es nicht schaffen. Warum soll dem sechsten Raumschiff gelingen, was fünf vor ihm nicht zustande brachten.« Er konnte jetzt Colonel Danvers fast greifbar vor sich sehen, seine Pfeife rauchend, die Schultern hebend: »Tja, so leid es mir tut. Die Menschheit muß sich eben noch eine Weile
gedulden. Das Weltall ist immer noch eine zu harte Nuß für uns. Eine zu große Nuß. Pech, aber was kann man da machen?« Pech, das kann man wohl behaupten, überlegte Enoch. Zuerst hatte man fünf Raumschiffe hintereinander gestartet – und alle fünf waren im Raum verschollen. Dann wurde auch ihr eigenes vom Pech verfolgt, setzte so hart auf dem Mars auf, daß die Steuerdüsen zu Bruch gingen. Jetzt waren er und der Captain hilflos den Gewalten von Sturm und Sand ausgeliefert – und was es sonst noch an Schrecken auf diesem Planeten gab. Captain! Der Gedanke an Peevy stachelte wieder seine Ungeduld an. Was machte der Captain nur da draußen? Er war aus dem Schiff geklettert, um die genaue Position ihres Landeplatzes festzustellen, um Orientierungspunkte zu sammeln, nach denen sich die Rettungsschiffe richten konnten, die von der Erde starten würden. Doch inzwischen waren zehn Minuten vergangen. Ahnte er, was Enoch mit ihm vorhatte? Unmöglich. Enoch hatte seine Gedanken immer sorgfältig vor ihm verborgen. Peevy hatte immer Glück gehabt. Zusammen hatten sie die Raumfahrtakademie besucht. Peevy war immer der Beste gewesen, Enoch der ewig Zweite. Sie beide hatten in jeder Klasse die besten Noten gehabt. Sie hatten beide ihr Examen mit Auszeichnung bestanden. Und ihre Lehrzeit hatten sie ebenfalls auf der gleichen Strecke abgedient – auf einem Postschiff, das zwischen Erde und Mond verkehrte. Und dann kam die Chance, als erste Menschen auf dem Mars zu landen. Das war keine Wochenendreise zum Mond – weit gefehlt! Sie hatten sich bei ihrem Praktikum bewährt, und nun gab die Erde ihren zwei besten Raumfahrern die Möglichkeit, ihre Fähigkeiten zu beweisen. Mars! Mars, der furchtbare, unerreichbare Kriegsgott unter den Planeten! Fünf
Raumschiffe hatte dieser rötlich schimmernde Planet bereits besiegt. Und jetzt hatte man sie als Besatzung des sechsten Schiffes ausgesucht. Die beiden jungen Leutnants – blaß von ihrem Dienst in der Raumschiffahrt und vor Aufregung – standen vor Colonel Danvers’ Schreibtisch, während er ihre Personalakten studierte. »Einer von euch beiden wird das Kommando über das Raumschiff übernehmen«, hatte er gesagt. Die beiden Leutnants hatten stumme Blicke gewechselt. Schon damals hatte Enoch Haß und Eifersucht für den Rivalen empfunden, der immer als Bester abgeschnitten und ihn in die Rolle des ewigen Zweiten abgedrängt hatte. Der Colonel hatte sie beide gemustert und dann wieder mit den Papieren geraschelt. »Kennen Sie sich gründlich mit der Raumfahrtnavigation aus?« hatte der Oberst ihn, Enoch, gefragt. »Ich glaube schon, Sir«, hatte Enoch geantwortet. »Können Sie sich etwas klarer ausdrücken?« »Jawohl, Sir. Raumfahrtakademie. Dort habe ich alle Navigationsgeräte genau studiert – Sugar Mike, George, Peter. Ich habe auf der Mondroute als Steuermann an einem SugarYoke-System gearbeitet.« »Und wie steht es mit den neuesten Geräten?« hatte der Oberst gebohrt. »Das Imperial-System? Was wissen Sie davon?« »Ich habe schon davon gehört, Sir.« Enochs Handflächen wurden feucht vom Schweiß. »Können Sie damit umgehen?« Er hatte einen Moment gezögert. »Nein, Sir. Aber ich kann es ja lernen«, hatte er hastig hinzugefügt. »Mmmm«, murmelte Danvers und blickte dann Leutnant Peevy an. »Ich lese hier, daß Sie eine Reihe von Ergänzungskursen absolviert haben,
während Sie auf der Mondroute Dienst taten. Sind Sie mit dem Imperial-System vertraut? Mark VIII zum Beispiel?« »Jawohl, Sir.« »Und die späteren Modelle ebenfalls? Imperial XII und so weiter?« »Jawohl, Sir. Die Kurse umfaßten sowohl Wartung wie auch Bedienung aller Geräte der Imperial-Serie, Sir.« Danvers hatte gelächelt und dann Enoch einen Blick zugeworfen. »Das neue Raumschiff ist mit dem Imperial-System ausgerüstet. Ich verlange natürlich von einem Raumschiffkommandanten, daß er mit der Technik des ihm anvertrauten Schiffes genau vertraut ist.« Damit hatte er Enoch aus seinen Gedanken entlassen und sich an Peevy gewandt: »Sie werden zum Kommandanten des Schiffes ernannt, Captain Peevy!« Captain Peevy! Peevy hatte gegrinst, und der Colonel hatte noch hinzugefügt: »Sie dürfen sich ab sofort als zum Captain befördert betrachten.« Glück – nichts als Glück! Peevy hatte ein paar Kurse absolviert, die niemand von ihm verlangt hatte, und war aus reinem Zufall auf die Navigationsgeräte gestoßen, mit denen Mars VI ausgerüstet war. Doch diese Büffelei würde ihm jetzt nicht mehr viel nützen, dachte Enoch. So gut wie gar nichts, überlegte Enoch mit kaltem Lächeln. Er hatte es satt, immer nur Zweiter zu bleiben. Peevy würde natürlich allein die Lorbeeren für eine erfolgreiche Expedition zum Mars einheimsen. Schließlich war er als Kommandant für die Reise verantwortlich. Zu dumm, daß sie eine Bruchlandung hingelegt hatten. Das hatte Enochs Pläne umgeworfen – wenn auch nur vorübergehend. Wäre die Landung glatt vonstatten gegangen, hätte er Peevy sofort getötet, das Schiff zur Erde zurückgebracht und die
Huldigungen entgegengenommen. Doch jetzt waren Enoch die Hände gebunden. Er mußte warten, bis Peevy sich mit der Erde in Verbindung gesetzt und ihre Landeplatzdaten durchgegeben hatte. Dann würde er seinen Rivalen töten und auf das Rettungsschiff von der Erde warten. Eine triumphale Rückkehr würde es allerdings nicht mehr werden. Doch ganz leer ging er trotzdem nicht aus. Man würde ihn als Überlebenden der ersten geglückten Marsexpedition feiern. Doch Peevy würde man abschreiben – ein Schwächling, der die Strapazen nicht überstanden hatte. Dieses verdammte Imperial-Navigationssystem! Wäre dieses neue Gerät, das er noch nicht beherrschte, nicht an Bord, hätte er die Erde auch allein verständigen können. Doch so brauchte er Peevy noch. Wenn die Erde keine Botschaft von ihnen mehr empfing, mußten seine Vorgesetzten annehmen, ihr Schiff wäre verschollen wie die fünf Vorgänger. Sie würden es abschreiben und die Akten schließen. Das Projekt würde abgebrochen werden. Doch wenn sie auf der Erde die Nachricht empfingen, das Projekt sei im großen und ganzen gelungen und nur die Landung sei mißglückt, würden sie sofort ein neues Raumschiff losschicken. Sobald also Peevy Kontakt mit der Erdstation hergestellt hatte, würde Enoch ihn töten. Und da entdeckte er das Ungeheuer plötzlich draußen durch die Backbordluke! Es war ein schrecklicher Anblick! Das Gesicht war ein formloser roter Fleck, von dem roter Geifer tropfte. Die Mähne loderte wütend um das Gesicht. Enoch drückte sich gegen die Wand. Angst lähmte seinen Verstand. Die Augen des Ungeheuers waren riesengroß – wie Untertassen, die wild im Kopfe rollten. »Geh weg!« kreischte Enoch entsetzt. »Pack dich!«
Er schrie, ohne daß er es wollte. Das Gesicht verschwand wieder, und Enoch stellte mit bebenden Fingern den Energiewähler auf volle Kraft. Ein Schuß genügte, um einen Menschen zu vernichten – und auch was da draußen durch den Sand kroch. Peevy war immer noch im Freien! Ihm blieb nur noch eine Wahl. Enoch mußte zuerst das Ungeheuer töten und dann Peevy suchen, falls er überhaupt noch am Leben war. Er mußte leben – es mußte einfach so sein! Der Gedanke, daß er einen Menschen retten sollte, den er haßte, ärgerte Enoch. Doch er unterdrückte seinen Ärger mit dem Vorsatz, daß es gar keine Rettung war – nur eine Schonfrist, damit Kontakt mit der Erde hergestellt werden konnte. Danach würde er Peevy töten. Im Raumschiff würde er vor den Ungeheuern sicher sein, die um das Raumschiff herumschlichen. Wieder tauchte dieses scheußliche rote Gesicht im Backbordbullauge auf. Der Wind hüllte die baumlange groteske Gestalt in Sandwolken ein, rüttelte am Rumpf des Schiffes. Enoch fragte sich, wie lange das Metall diesem wütenden Ansturm noch gewachsen war. Und Peevy war inzwischen eine Viertelstunde draußen! Gott sei Dank – das Ungeheuer zog sich wieder zurück. Enoch grübelte, blickte hinaus in das Dunkel des Marssturmes. Sein Plan war klar und einfach. Erst das Ungeheuer töten, dann ein Ausfall ins Freie, Peevy hereinholen, das Schiff dichtmachen und Kontakt mit der Erde aufnehmen. Dann kam Peevy an die Reihe… Ein hallendes Dröhnen, ein Hämmern, das selbst das Brüllen des Sandsturmes noch übertönte, schreckte Enoch auf. Enoch drehte sich rasch herum. Das Ungeheuer starrte durch das Panzerglas herein, schrie etwas. Mit roten Klauen zerrte es an der Einstiegluke.
Sollte er schießen? Aber wenn noch weitere schreckliche Wesen draußen lauerten? Sollte er die Panzerscheibe durchschießen, so daß auch das Innere des Schiffes dem Wind, dem Sand und den Ungeheuern preisgegeben war? Er brauchte nicht lange zu überlegen. Das Ungeheuer draußen hatte einen Energiestrahler in den Klauen und feuerte wie wild um sich. Ein Blitz zerriß die Nacht, und das Panzerglas löste sich auf. Der Wind schleuderte Sand durch die Öffnung. Jetzt kroch auch das Wesen herein – sein Kopf eine rote zottige Masse. Auf allen vieren landete es schwerfällig auf dem Boden der Kabine. »Zurück!« kreischte Enoch. Das Ungeheuer schrie irgend etwas. Seine irren Augen glühten in der Dunkelheit der Kabine. Der schreckliche nadelspitze Sand peitschte gegen Wände und Geräte. Enochs Energiestrahler zischte – einmal, zweimal –, und das Ungeheuer fiel zu Boden. Der Sand wirbelte um die Glassplitter, schliff die Kanten rund. Enoch näherte sich dem Ding, das da auf dem Boden lag, die Waffe schußbereit im Anschlag. Er drehte zitternd den Kadaver um – was noch von ihm übriggeblieben war – und betrachtete das Gesicht. Es war eine Masse, in die tiefe Furchen eingegraben waren. Das Haar war mit grobem Sand verklebt. Die klauenartigen Hände bestanden nur aus Knochen und ein paar Haut- und Fleischfetzen. Erst als Enoch die beiden silbernen Streifen am zerrissenen Kragen der zerfetzten Montur sah, begriff er, daß er Captain Peevy erschossen hatte. Der Sand, der aus Peevys Gesicht eine rohe Fleischmasse gemacht hatte, prasselte durch das geborstene Bullauge, riß Enoch die Haut vom Gesicht, feilte an den Hebeln und Schaltern der Imperial-System-Sendeanlage. Enoch starrte aus wunden Augen in den brüllenden Sandsturm hinaus, warf noch
einen letzten Blick auf den blutigen Leichnam zu seinen Füßen und richtete dann den Energiestrahler auf sich selbst…
Originaltitel: OUTSIDE IN THE SAND. Copyright © 1953 by Star Publications, Inc. Aus COSMOS SCIENCE FICTION AND FANTASY November 1953.
Poul Anderson DIE HELFENDE HAND
Der melodische Glockenklang wurde begleitet von der sachlichen Stimme des Roboters im Vorzimmer: »Seine Exzellenz, Valka Vahino, Sonderbotschafter der Liga von Cundaloa bei der Regierung des Solaren Commonwealth.« Die Irdischen erhoben sich höflich, als der Botschafter eintrat. Trotz der Schwerkraft und der trockenen Kälte – so mußten ihm die irdischen Verhältnisse erscheinen –, trat der Botschafter mit der typischen Anmut seiner Rasse auf, und wieder einmal waren die Irdischen beeindruckt von der Schönheit dieser Geschöpfe. Geschöpfe – nun, die Bevölkerung von Cundaloa war ziemlich menschenähnlich, sowohl geistig wie auch physisch, um mit irdischen Maßstäben gemessen zu werden. Ihre Unterschiede im Vergleich zu den Menschen waren nicht bedeutend. Ein gewisser Charme, eben das »Anderssein«, das immer romantische Betrachtungen auslöst, umgab diese Fremdlinge, so daß man bei ihrem Anblick mit Genugtuung feststellte, daß nichts Unheimliches diese Rasse von den Menschen unterschied. Ralph Dalton betrachtete den Botschafter von Kopf bis Fuß. Valka Vahino war ein typischer Vertreter seines Volkes – menschenähnlicher Zweifüßler mit einem Gesicht, das männlich wirkte, doch dessen Züge feiner, hübscher waren als bei einem irdischen Mann. Die Wangenknochen waren kräftig, die Augen groß und dunkel. Die Statur war kleiner und zierlicher als die eines Erdenbewohners, und die katzenhafte
Geschmeidigkeit der Glieder verband sich mit der Anmut der schlanken Gestalt. Langes blauschimmerndes Haar fiel auf die Schultern herab, bildete einen Kontrast zu der hohen Stirn und der goldfarbenen Haut. Der Botschafter trug die uralte zeremonielle Kleidung von Cundaloa – Tunika aus Silber, Mantel aus purpurfarbenem Material, hie und dort mit Metall durchwirkt, das wie Sterne am Abendhimmel aufblitzte – und dazu mit Gold besetzte Stiefel aus weichem Leder. Die eine schlanke Hand mit den sechs Fingern hielt den kunstvoll geschnitzten Stab, der als Beglaubigung seines Planeten angesehen werden mußte, während er die andere Hand feierlich zum Gruß hob. Er verbeugte sich – doch nichts Serviles lag in dieser Geste, nur Anmut. Dann sprach er in fehlerloser irdischer Sprache: »Friede sei mit eurem Haus! Das Große Haus von Cundaloa schickt seine besten Grüße und Wünsche für euer Wohlergehen! Ich, das unwürdige Mitglied seines Haushaltes, komme zu seinen solaren Brüdern und erbitte ihre Freundschaft!« Ein paar Irdische bewegten sich ein bißchen verlegen. In der Übersetzung klang das alles ein wenig gespreizt, dachte Dalton. Aber die Sprache von Cundaloa war trotzdem eine der schönsten in der Milchstraße. Dalton erwiderte mit der gleichen Feierlichkeit: »Grüße und Willkommen. Das Solare Commonwealth empfängt den Abgesandten der Liga von Cundaloa mit aufrichtiger Freundschaft. Ralph Dalton, Premierminister des Commonwealth, spricht für alle Bewohner des Sonnensystems.« Er stellte dann die anderen Anwesenden vor – die Minister, die technischen Berater, die Mitglieder der militärischen Stäbe. Es war eine imponierende Versammlung. Ein beträchtlicher Teil von denen, die im Sonnensystem Rang und Macht besaßen, war heute hier im Raum anwesend. Er schloß seine Rede mit den Worten: »Dies ist eine
vorbereitende Konferenz über die wirtschaftlichen Maßnahmen, die wir vor kurzem Ihrem Regime, dem Großen Haus von Cundaloa vorgeschlagen haben. Diese Konferenz hat noch keine gesetzlich verbindlichen Beschlüsse gefaßt. Doch sie wird über alle Kanäle ausgestrahlt, und somit wird die Solare Generalversammlung auf der Grundlage dieser und ähnlicher Konferenzen ihre Entscheidungen treffen.« »Ich verstehe. Das ist eine löbliche Einstellung.« Vahino wartete, bis alle wieder Platz genommen hatten, und ließ sich dann ebenfalls nieder. Jetzt folgte eine Pause. Alle Augen blickten immer wieder hinauf zur Wanduhr. Vahino war pünktlich erschienen; doch Skorrogan von Skontar verspätete sich. Taktlos, dachte Dalton, aber das war man von diesen Geschöpfen gewöhnt. Ihre Sitten waren eben barbarisch – ganz und gar nicht mit der liebenswürdigen Ehrerbietung der Cundaloaner zu vergleichen, die man nicht als Schwäche mißdeuten durfte. Man füllte die Wartezeit mit höflichen Floskeln. »Wie gefällt es Ihnen bei uns?« und so fort. Vahino, wie sich herausstellte, hatte in den verflossenen zehn Jahren das Sonnensystem schon oft besucht. Das war kein Wunder, wenn man die immer enger werdenden Handelsbeziehungen zwischen seinem Planeten und dem Solaren Commonwealth in Betracht zog. Eine stattliche Anzahl von cundaloanischen Studenten bildete sich auf irdischen Universitäten, und vor dem Krieg hatte auch ein lebhafter Touristenverkehr zwischen Sol und Avaiki bestanden. Wahrscheinlich würde er sich wieder beleben – bald sogar, sofern die Verwüstungen rasch beseitigt werden konnten… »Oh, ja«, lächelte Vahino, »es ist der Ehrgeiz aller jungen anamai – der Männer von Cundaloa, die Erde zu besuchen, und wenn es auch nur zu einem kurzen Aufenthalt reicht. Es ist keine Schmeichelei, wenn ich behaupte, daß unsere
Bewunderung für die Irdischen und ihre Errungenschaften geradezu grenzenlos ist.« »Die Bewunderung ist gegenseitig«, beeilte sich Dalton zu versichern. »Ihre Kultur, die cundaloanische Kunst und Musik, die Literatur – all das findet hier im solaren System begeisterte Bewunderer und Nachahmer. Viele Menschen – und nicht bloß Gelehrte – lernen die Sprache von Luaia nur, um das Dvanagoa-Epos im Original lesen zu können. Cundaloanische Sänger und Sängerinnen – von der Oper bis hinunter zum Nachtklub – bekommen mehr Applaus als die einheimischen Künstler.« Er lächelte. »Ihre jungen Studenten an unseren Universitäten können sich kaum vor Verehrerinnen retten, und Ihre wenigen weiblichen Vertreter an den Stätten der Gelehrsamkeit sind wegen der zahlreichen Einladungen wohl kaum in der Lage, einem geregelten Studium nachzugehen. Ich glaube, nur der Umstand, daß eine Verbindung zwischen ihnen und irdischen Männern unfruchtbar bleibt, hat bisher die Zahl der Eheschließungen von Einwohnern beider Planetensysteme so niedriggehalten.« »Vielleicht«, erwiderte Vahino. »Trotzdem sind wir uns auf meinem Planeten bewußt, daß Ihre Zivilisation in der uns bekannten Milchstraße den Ton angibt. Nicht allein daß die Zivilisation des Sonnensystems technisch am weitesten fortgeschritten ist – natürlich ist das auch ein wichtiger Faktor –, sondern auch die Tatsache ist entscheidend, daß ihr zu uns gekommen seid – mit euren Raumschiffen, eurer Atomenergie, eurer Medizin und so fort. Doch das läßt sich lernen und aufholen. Nicht aufholen oder überbieten können wir jedoch eure Großzügigkeit, mit der ihr uns – nun, eure Unterstützung anbietet: Ihr baut zerstörte Welten wieder auf, die Lichtjahre von euch entfernt sind. Ihr pumpt euren Reichtum und euer technisches Wissen in unsere Heimstätten und Länder, obwohl wir doch nur Bescheidenes als Gegengabe anzubieten haben.
Das ist es, was euch zur führenden Rasse der Milchstraße macht!« »Nun, wir haben auch eigensüchtige Motive, die wir mit unserer Hilfe verbinden«, erwiderte Dalton. »Viele eigensüchtige Gründe. Natürlich gibt es auch humanitäre Erwägungen. Wir können nicht Rassen, die uns verwandt sind, in Not und Bedürftigkeit verkommen lassen, wenn unser Sonnensystem und seine Kolonien mehr Reichtum besitzen, als sie verbrauchen können. Aus unserer eigenen blutigen Vergangenheit wissen wir sehr wohl, daß wirtschaftliche Hilfsmaßnahmen meist zum Nutzen des Wohltäters geraten. Wenn wir Cundaloa und Skontar wieder aufgebaut haben, ihre rückständigen Industrien modernisiert, ihre Ernteerträge gesteigert und ihre wissenschaftlichen Methoden verbessert haben, werden beide mit uns Handel treiben. Und unsere Wirtschaft ist immer noch – trotz ihres hohen Alters – vorwiegend auf Gewinn und Geldvermehrung aufgebaut. Und dann werden beide Planeten zu sehr aufeinander angewiesen sein, um sich noch einmal in so verheerendem Zwiespalt zu zerfleischen wie in dem Krieg, der kürzlich erst endete. Und von da an werden sie unsere Verbündeten in einem Kampf sein, der sich gegen Kulturen richtet, die uns tatsächlich fremd und gefährlich sind – Reiche und Planeten, die wir eines Tages in der Milchstraße entdecken werden und gegen die wir uns dann behaupten müssen.« »Möge der Göttliche verhindern, daß der Friede der Milchstraße erneut gebrochen wird«, erwiderte Vahino ernst. »Wir haben genug vom Krieg.« In diesem Augenblick läutete die Glocke zum zweitenmal, und der Roboter verkündete: »Seine Exzellenz, Skorrogan Valthaks Sohn, der Herzog von Kraakahaym, Sonderbotschafter des Skontarischen Reiches beim Commonwealth!« Die Irdischen erhoben sich wieder – diesmal
etwas langsamer –, und Dalton sah den Ausdruck von Ablehnung auf den Gesichtern vieler, die hier versammelt waren. Natürlich verflog dieser Ausdruck sofort, als der Botschafter eintrat, wurde durch die Miene neutraler Sachlichkeit ersetzt. Aber es bestand gar kein Zweifel, daß die Skontaraner im Sonnensystem keine Popularität genossen. Das war natürlich zum Teil ihre eigene Schuld. Eine Schuld, die sich wohl gar nicht vermeiden ließ. Auf den ersten Blick sah es so aus, als wären die Skontaraner für den Ausbruch des Krieges zwischen ihnen und den Cundaloanern allein verantwortlich gewesen. Das war ein Irrtum. Das Mißgeschick wollte es, daß die Sonnen Skang und Avaiki, die ein halbes Lichtjahr voneinander entfernt ihr Planetensystem um sich scharten, noch ein drittes System in der Nähe hatten. Dieses System – nach ihrem irdischen Entdecker, Captain Allan, der dort mit einer irdischen Raumflotte gelandet war, meist Allan-System genannt – war unbewohnt. Als nun die irdische Technik und Zivilisation sowohl in Skontar wie auch in Cundaloa eingeführt wurden, hatte man diese beiden Planeten natürlich zuerst einmal zu einer Union zusammenschließen wollen. Doch sie entwickelten sich schließlich – sie und ihre kolonisierten Nachbarplaneten – zu zwei rivalisierenden Blöcken, die beide begehrliche Augen auf das dritte System warfen – eben auf das unbewohnte AllanSystem. Beide hatten dort Kolonien eingerichtet. Es kam zu kriegerischen Handlungen, schließlich zu einem verheerenden fünf Jahre dauernden Krieg, der beide Systeme bis auf den Tod erschöpfte und der nur mit irdischer Unterstützung geschlichtet werden konnte. Im Grunde war dieser Krieg nichts als der sattsam bekannte Zusammenstoß zweier imperialistischer Mächte gewesen, wie ihn die Erde in ihrer langen Vergangenheit oft genug erlebt hatte, ehe ihre Bewohner den
großen Frieden geschlossen und die Charta des Commonwealth erlassen hatten. Die Bedingungen des Friedensvertrages, den die Regierung des Solaren Commonwealth hier auf der Erde für die beiden Planeten entworfen hatte, waren gerecht und fair. Sie würden den Frieden bestimmt erhalten, besonders weil sie beide auf die wirtschaftliche Unterstützung durch das Sonnensystem für ihren Wiederaufbau dringend angewiesen waren. Dennoch – die menschliche Vorliebe galt den Cundaloanern. Es war natürlich die logische Folge, daß Mißbilligung und Abscheu in gleichem Maße den Skontaranern galt. Die Menschen schoben ihnen die Schuld an dem Krieg in die Schuhe. Aber schon vor dem Krieg hatten sie nicht viel für diese Rasse übrig gehabt. Ihr Isolationismus, ihr zähes Festhalten an alten Traditionen, ihre rauhe Sprache, ihre abstoßenden Manieren, selbst ihr Aussehen – alles das machte die Menschen gegen diese Rasse voreingenommen. Dalton hatte schon vor der Konferenz Schwierigkeiten gehabt, die Generalversammlung dazu zu bewegen, auch einen Abgesandten von Skontar einzuladen. Es gelang ihm schließlich, den Rat des Commonwealth zu überzeugen, daß diese Einladung wesentlich für die Gestaltung der Zukunft war – denn die Bodenschätze des Skank-Systems sollten für den Wiederaufbau herangezogen, und die Freundschaft dieses bisher so zurückhaltenden, aber potentiell gefährlichen Imperiums mußte gewonnen werden. Das Hilfsprogramm war bisher noch ein Vorschlag. Die Generalversammlung mußte erst entsprechende Gesetze erlassen, wem und in welchem Maße geholfen werden sollte. Dann mußten diese Gesetze Bestandteile von Verträgen werden, die mit diesen Planeten abgeschlossen werden sollten. Die heutige Konferenz war erst der Anfang dieses langwierigen Prozesses – aber der entscheidende erste Schritt… Dalton verbeugte sich förmlich, als der Skontaraner
eintrat. Der Botschafter erwiderte diese Höflichkeitsbezeigung dadurch, daß er mit dem Schaft seiner Lanze auf den Boden stieß. Dann lehnte er diese archaische Waffe gegen die Wand und überreichte Dalton seine eigentliche Waffe – den Atomstrahler, mit dem Griff voran. Dalton ergriff sie und legte die Waffe beiseite. »Grüße und Willkommen«, begann dann Dalton, da der Skontaraner bisher kein Wort gesagt hatte. »Das Commonwealth…« »Schon gut«, erwiderte der Skontaraner. Seine Stimme war ein heiserer Baß. »Der Valtam des Imperiums von Skontar läßt seine Grüße durch Skorogan Valthaks Sohn, den Herzog von Kraakahaym, an den Premier des Solaren Commonwealth entbieten.« Der Botschafter schien den ganzen Raum mit seiner kräftigen, Schrecken einflößenden Gestalt auszufüllen. Obgleich er von einem Planeten stammte, dessen Schwerkraft größer und dessen Durchschnittstemperatur niedriger war als die der Erde, waren er und seine Artgenossen größer als die Menschen – über zwei Meter groß, mit mächtigem Brustkorb. Menschenähnlich konnte man sie trotzdem noch nennen, denn sie waren Zweifüßler, Säugetiere und mit Sprache begabt. Doch hier endete die Ähnlichkeit. Unter breiter niedriger Stirn lagen goldfarbene Augen, geschützt von wulstigen Brauen. Es waren die Augen eines Sperbers. Das Gesicht war einem kurzen Rüssel nicht unähnlich – mit scharfen Zähnen in mächtigen Kiefern. Die Ohren saßen ziemlich weit oben am massigen Schädel, und kurzes braunes Fell bedeckte den muskulösen Körper bis hinunter zum langen nervös zuckenden Schwanz. Eine rötliche Mähne umgab Kopf und Hals, und trotz der tropischen Temperatur, die seinem Empfinden nach hier auf der Erde herrschen mußte, trug er die Felle und Häute, die bei ihm zu Hause für Staatsempfänge vorgeschrieben waren. Der scharfe Geruch von Schweiß umgab ihn.
»Sie kommen spät«, bemerkte einer der Minister mit unterkühlter Höflichkeit. »Ich hoffe doch nicht, daß Sie unterwegs aufgehalten wurden?« »Nein, ich unterschätzte nur die Zeit, die ich für meinen Weg brauchen würde«, erwiderte Skorrogan. »Bitte, mir mein Verspäten nachzusehen.« Das klang gar nicht wie eine Entschuldigung. Skorrogan warf seinen massigen Körper in den nächstbesten Sessel und öffnete seine Aktentasche. »Und nun zu dem geschäftlichen Teil, meine Herren – oder?« »Hm – ja – natürlich.« Dalton ließ sich am Kopfende des langen Konferenztisches nieder. »Obgleich wir bei dieser vorbereitenden Konferenz noch nicht um Zahlen und Fakten feilschen wollen, werden wir uns doch auf gemeinsame Ziele festlegen – auf den Kurs unseres Hilfsprogramms sozusagen.« »Und dazu brauchen Sie natürlich eine Übersicht über die zur Verfügung stehenden Rohstoffreserven und wirtschaftlichen Kapazitäten der beiden Planetensysteme um die Sonnen Avaiki und Skang sowie deren Kolonien auf dem Gebiet der AllanPlaneten«, setzte Vahino die Einleitung des Premiers mit seiner melodischen Stimme fort. »Die fruchtbaren Ackerbaugebiete von Cundaloa und die Erzbergwerke von Skorrogan werden schon jetzt einen bedeutenden Beitrag für das Hilfsprogramm leisten. Ist es erst einmal angelaufen, soll an seinem Ende natürlich die volle wirtschaftliche Gleichberechtigung und Unabhängigkeit stehen.« »Das ist auch eine Frage der Nachwuchsbildung und Erziehung«, bemerkte Dalton. »Wir werden Experten, technische Berater, Lehrer zu Ihrer Unterstützung zur Verfügung stellen…« »Und natürlich gibt es da auch die militärische Frage«, meldete sich der Chef des Stabes zu Wort.
»Skontar hat seine eigene Armee«, knurrte Skorrogan. »Darüber brauchen wir nicht zu verhandeln.« »Mag sein«, meinte der Minister der Finanzen verbindlich. Er holte eine Zigarette aus der Tasche und zündete sie an. »Bitte, Sir!« Einen Moment lang wurde Skorrogans Stimme so laut wie das Brüllen eines Stieres. »Rauchen Sie nicht! Sie wissen, daß die Skontaraner allergisch gegen Tabak sind!« »Entschuldigung!« Der Minister der Finanzen löschte den Glühzylinder. Seine Hand zitterte ein wenig, und er funkelte den Botschafter böse an. Es wäre wirklich kein Anlaß gewesen, sich zu beschweren, denn das Ventilationssystem saugte den Rauch sofort ab. Und vor allem schreit man keinen Kabinettminister an – schon gar nicht, wenn man als Bittsteller kommt… »Es wird in diesem Rahmenvertrag nicht nur um die bestehenden Planetensysteme gehen«, sagte Dalton hastig. In einem jähen Gefühl der Verzweiflung versuchte er, das Unbehagen und die aufkommende Feindseligkeit zu verdrängen. »Auch nicht um die Kolonien des Solaren Commonwealth allein. Denn ich kann wohl annehmen, daß sich Ihre Rassen nicht auf die bestehenden drei Planetensysteme beschränken wollen. Sie werden expandieren. Und die Rohstoffquellen, die Sie dabei erschließen, werden ebenfalls…« »Wir werden wohl expandieren müssen«, unterbrach Skorrogan den Premier finster. »Nachdem der Vertrag uns den vierten Planeten geraubt hat… Egal. Bitte, entschuldigen Sie. Es ist schon schlimm genug, daß man mit dem Feind an einem Tisch sitzen muß. Man muß nicht dauernd daran erinnert werden, daß noch vor Wochen gegen uns gekämpft wurde.« Diesmal war das Schweigen geradezu drohend. Dalton erkannte – und dabei wurde ihm fast übel –, daß Skorrogan seine Verhandlungsposition endgültig verdorben hatte. Selbst
wenn er jetzt versuchen wollte, sich zu entschuldigen – und wer hätte schon einmal einen skontaranischen Adeligen erlebt, der sich für irgend etwas entschuldigt! –, war die Lage nicht mehr zu retten. Zu viele Millionen Bewohner des Sonnensystems sahen der Übertragung zu, hatten als Zeugen die unverzeihliche Arroganz des Botschafters miterlebt. Zu viele einflußreiche Persönlichkeiten, die Führungselite des Sonnensystems, saßen hier im gleichen Saal mit dem Skontaraner zusammen, blickten in seine von Verachtung sprühenden Augen, rochen den scharfen Geruch des Schweißes. Für Skontar würde es keine Wirtschaftshilfe geben. Bei Sonnenuntergang türmten sich dunkle Wolken über den Klippen im Osten von Geyrhaym. Ein schneidend kalter Wind wehte den Hauch des Winters über die Ebene. Ab und zu wirbelten Schneeflocken über den verblassenden Purpurhimmel, rosig angehaucht vom Abendrot. Noch vor Mitternacht würde es einen Schneesturm geben. Das Raumschiff fiel aus der Dunkelheit herab und landete auf der Raketenpiste. Hinter dem kleinen Raumschiffhafen lag die alte Stadt Geyrhaym im grauen Zwielicht, duckte sich vor dem Wind. Aus den spitzgiebeligen Häusern fiel Lampenschein. Aber die gewundenen Gassen mit dem Kopfsteinpflaster waren verlassen. Wie öde Schluchten zwischen den Mauern führten sie im Zickzack zu dem Hügel hinauf, auf dem noch die Burg der Barone stand. Der Valtam hatte die Burg übernommen, und das kleine Geyrhaym war jetzt die Hauptstadt des Reiches. Denn das stolze Skirnor und das prächtige Thruwang waren zu radioaktiven Aschenhaufen zerfallen. Wölfe – oder das, was auf diesem Planeten die Wölfe waren – strichen um die Stätten ehemaligen Glanzes.
Skorrogan Valthaks Sohn erschauerte, als er die Luftschleuse verließ und die Gangway herunterkam. Skontar war ein kalter Planet. Er hüllte sich in seinen schweren Fellumhang. Sie warteten gleich neben der Gangway, die Fürsten von Skontar. Skorrogans Muskeln verkrampften sich. Vielleicht wartete der Tod dort unten auf ihn, in der schweigenden Gruppe mit den finsteren Mienen. Auf jeden Fall Ungnade – gegen die er sich nicht verteidigen konnte… Der Valtam persönlich war gekommen. Seine weiße Mähne flatterte im bitterkalten Wind. Seine goldenen Augen schienen im Zwielicht zu leuchten – hart und grausam, ja voll verhohlenem Haß. Sein ältester Sohn, der Thronerbe Thordin, stand neben ihm. Das letzte Sonnenlicht spiegelte sich in der Spitze seines Speeres, schien sie in Blut zu tauchen. Und dahinter verharrten die anderen Würdenträger des Reiches, die Grafen von Skontar und seiner Satelliten. Der ganze Platz schien streng bewacht; denn die Leibwache des kaiserlichen Palastes stand in Helm und Rüstung wie eine schweigende Mauer des Hasses und der Verachtung am Rande des Flugfeldes… Skorrogan ging auf den Valtam zu, stieß den Schaft seines Speeres auf den Boden und neigte den Kopf, wie es das Zeremoniell vorschrieb. Dann sank Schweigen über das Feld herab. Nur das Pfeifen des Windes war noch zu vernehmen. Es hatte zu schneien begonnen. Schließlich ergriff der Valtam das Wort. Er verzichtete auf den zeremoniellen Gruß. Es war eine absichtliche Demütigung. »Du bist also wieder zurück.« »Ja, Sire.« Skorrogan bemühte sich, steif und kühl zu bleiben. Das war nicht einfach. Er fürchtete den Tod nicht; doch als gescheiterter Mann wiederzukommen, war eine grausame Strafe.
»Wie Ihr wißt, Sire, muß ich das Scheitern meiner Mission melden.« »In der Tat. Auch wir empfangen die Nachrichtenbilder von Sol«, erwiderte der Valtam schneidend. »Sire – die Solarier geben unbegrenzte Wirtschaftshilfe, jedoch nur den Cundaloanern. Skontar bekommt nichts – keine Kredite, keine technischen Berater, nichts. Und wir können keinen Güteraustausch erwarten und auch keine Touristen.« »Wir wissen es«, sagte Thordin. »Und dich haben wir zur Erde gesandt, um ihre Hilfe zu erbitten.« »Ich habe es versucht, Sire«, erwiderte Skorrogan mit ausdrucksloser Stimme. »Doch die Solarier haben uns gegenüber grundlose Vorurteile.« Er mußte etwas sagen, doch verdammt wollte er sein, wenn er um Gnade winselte! »Zum Teil liegt das an ihrer sentimentalen Vorliebe für die Cundaloaner, zum Teil auch daran, daß wir ihnen in so vieler Hinsicht unähnlich sind.« »Tatsächlich«, entgegnete der Valtam eisig. »Früher war das Vorurteil nicht so groß. Und den Mingoniern, die den Menschen viel weniger ähneln als wir, haben die Solarier geholfen. Sie bekamen die gleiche Hilfe, die jetzt die Cundaloaner beziehen werden. Wir hätten das gleiche erhalten können! Wir wünschen nichts anderes als gute Beziehungen zu der größten Macht in der Milchstraße. Wir hätten sogar noch mehr erreichen können. Ich weiß aus erster Hand von der Stimmung und Einstellung des Commonwealth. Sie waren bereit, uns zu helfen; hätten wir nur das geringste Entgegenkommen gezeigt. Wir hätten wiederaufbauen können, sogar mehr…« Seine Stimme verhallte im Wind. Nach einer Weile fuhr er fort, und der Zorn schien wie eine Flamme aus ihm herauszubrechen: »Ich sandte dich als meinen Sonderbevollmächtigten, um diese großzügige Hilfe entgegenzunehmen. Dich, dem ich mehr vertraute als allen,
dem die Sorge des Reiches am Herzen liegen mußte… Ah!« Er spuckte aus. »Und du hast deine Zeit dort damit vergeudet, arrogant, ungehobelt und beleidigend zu sein. Du, auf dem alle Augen des Solaren Commonwealth ruhten, hast alles getan, um ihre Vorurteile gegen uns zu bestätigen. Kein Wunder, daß unsere Bitte zurückgewiesen wurde. Du kannst froh sein, daß Sol uns nicht den Krieg erklärt hat!« »Noch ist es vielleicht nicht zu spät«, sagte Thordin. »Wir könnten einen zweiten Botschafter…« »Nein!« Der Valtam hob den Kopf mit dem unbeugsamen Stolz dieser Rasse, der es mehr bedeutete, das Gesicht zu bewahren als das Leben. »Skorrogan war unser bevollmächtigter Abgesandter. Falls wir ihn desavouieren, uns für sein Verhalten entschuldigen – nicht wegen eines formellen Fehlers, sondern seines schlechten Benehmens wegen! –, falls wir vor der Milchstraße zu Kreuze kriechen – nein! Das ist die Sache nicht wert. Wir müssen eben ohne die Hilfe der Solarier auskommen…!« Der Schnee fiel jetzt dichter. Dunkle Wolken verhüllten den Himmel. Und es war kalt – bitterkalt. »Welch ein Preis für unsere Ehre!« sagte Thordin niedergeschlagen. »Unsere Leute hungern – Nahrungsmittel von den Solariern würden sie retten. Sie tragen nur noch Lumpen am Leib – Sol würde Kleidung für sie schicken. Unsere Fabriken sind ausgebrannte Ruinen. Unsere jungen Männer wachsen auf, ohne die galaktische Zivilisation und ihre Technologie kennenzulernen. Sol würde uns Maschinen und Ingenieure senden, damit wir die Fabriken neu aufbauen könnten. Sol würde Lehrer schicken – und wir könnten groß und mächtig werden. Zu spät, zu spät.« Seine Augen suchten den Blick des Freundes. »Warum hast du das getan? Warum nur?«
»Ich tat mein Bestes«, erwiderte Skorrogan steif. »Falls ich nicht taugte für diese Mission, hättest du mich nicht schicken dürfen.« »Aber das ist es ja gerade!« sagte der Valtam. »Du bist unser bester Diplomat. Deine Geschmeidigkeit, deine Kenntnis der außerskontaranischen Psychologie, deine Persönlichkeit: alles war bisher von unschätzbarem Wert für unsere auswärtigen Missionen. Und dann, bei dieser so klaren und so überaus wichtigen Mission… Nie mehr!« Seine Stimme schrie es in den Wind. »Nie mehr will ich dir vertrauen. Ganz Skontar soll wissen, daß du versagt hast!« »Sire…«, Skorrogans Stimme bebte. »Ich habe mir von Euch Dinge sagen lassen, die ich mir von niemand sonst hätte bieten lassen, ohne ihn zum Duell zu fordern. Wenn Ihr noch etwas zu sagen habt – sagt es jetzt. Sonst laßt mich lieber gehen!« »Ich kann dich nicht deiner ererbten Titel und Lehen entkleiden«, murmelte der Valtam. »Doch deine Stellung in der Regierung ist dir entzogen. Am Hof brauchst du dich nie mehr blicken zu lassen. Und ich glaube nicht, daß dir viele Freunde geblieben sind.« »Mag sein«, erwiderte Skorrogan. »Ich habe getan, was ich getan habe – und selbst wenn ich mein Tun erklären könnte, ich würde nach diesen beleidigenden Worten darauf verzichten. Doch wenn Ihr meinen Rat hören wollt, was die Zukunft von Skontar betrifft…« »Ich will ihn nicht hören«, erwiderte der Valtam. »Du hast schon genug Unheil über den Staat gebracht!« »… dann bedenket drei Dinge«, fuhr Skorrogan unbeirrt fort und deutete mit dem Speer auf die wolkenverhangenen Sterne. »Erstens die Sonnen im All. Zweitens bestimmte neue wissenschaftliche und technologische Entwicklungen bei uns – zum Beispiel Dyrins Arbeit über die Semantik. Und letztens: schaut Euch um. Seht die Häuser, die Eure Väter bauten.
Betrachtet die Kleidung, die Ihr tragt. Besinnt Euch auf die Sprache, die Ihr sprecht. Und kommt dann nach fünfzig Jahren zu mir und bittet mich um Entschuldigung!« Er raffte seinen Pelz um sich, grüßte kurz vor dem Valtam und ging mit langen Schritten zur Stadt. Sie blickten ihm nach – Bitterkeit und Verständnislosigkeit in den goldenen Augen. Hunger herrschte in der Stadt. Er konnte ihn fast spüren, durch die Mauern hindurch – den Hunger eines verzweifelten Volkes in Lumpen, das sich über das Herdfeuer beugte und nicht wußte, ob es den Winter überleben würde. Flüchtig überlegte Skorrogan, wie viele sterben würden – doch er wagte nicht, den Gedanken zu Ende zu denken. Er hörte jemand singen und verhielt den Schritt. Ein wandernder Barde, der bettelnd von Stadt zu Stadt zog, kam die Gasse herunter, einen zerschlissenen Pelz über den Schultern. Er zupfte die Harfe mit klammen Fingern, und er sang eine trutzige Ballade in der altmodischen Sprache der Heldenlieder von Skontar. Einen Moment lang, in einer bitteren Laune galligen Humors, überlegte Skorrogan, wie die Ballade in der Sprache der Erdbewohner klingen würde: Wild wogten die wehrhaften Vögel, dem Winter weichend, wissend, daß seine Macht nach Süden drängt. Sie suchen den Seeweg, Sehnsucht in den Schwingen, singen vom Sommer und säuselnden Winden. Lebewohl, wirtliches Gestade, Lachend beugt sich der Starke der Liebe…
Es stimmte nicht so recht. Der harte Rhythmus und die schroffen Silben gingen verloren, und die Alliteration und der verschlungene Reim ließen sich nur unvollkommen übersetzen. In irdischer Sprache klang es platt und langweilig. Die Bilder waren matt. Die Psychologie der beiden Planetensysteme war eben zu unterschiedlich. Und hier mochte auch der Grund für seine Erklärung liegen, die er den Würdenträgern schuldig geblieben war. Sie verstanden nicht. Sie konnten gar nicht verstehen. Er war allein – und der Winter stand vor der Tür. Valka Vahino saß in seinem Garten in der Sonne. Manchmal kam es Vahino vor, als habe er seit einer Ewigkeit keine Ruhe mehr gehabt. Zuerst der Krieg, anschließend die Reise zum solaren System – und seither seine Aufgabe als Verbindungsmann zu den Solariern, zu dem ihn das Hohe Haus ernannt hatte, weil er die menschliche Rasse besser kannte und verstand als jeder andere in der Liga. Vielleicht traf das zu. Er verbrachte viel Zeit in ihrer Gesellschaft und schätzte sie als Rasse und auch als Individuum. Doch, bei allen Geistern, das Tempo, mit dem sie arbeiteten! Man hätte glauben können, sie seien von Dämonen besessen! Sie schonten sich nie! Nun, es gab wohl keinen anderen Weg zum Wiederaufbau, zu Reformen und zu den neuen Errungenschaften, die nur darauf warteten, verwirklicht zu werden. Doch im Augenblick tat es wirklich wohl, im Garten zu liegen, umgeben von goldenen Blüten, deren Duft den Sinnen schmeichelte. Honigsauger umgaukelten ihn, während sich die Strophen eines neuen Gedichts in seinem Gedächtnis formten. Die Solarier hatten es schwer zu begreifen, daß eine ganze Rasse nur aus Dichtern bestand. Der dümmste Cundaloaner brauchte sich nur in die Sonne zu legen, um meisterhafte Lyrik zu schmieden. Nun,
jede Rasse hatte ihre Talente. Wer konnte die Menschen in ihrer technischen Begabung übertreffen? Hymnische Gesänge formten sich in seinem Gehirn. Er fügte Silbe an Silbe. Dies würde etwas Gelungenes werden! Man würde sich daran erinnern, würde es noch in Jahrhunderten singen und preisen! Man würde Valka Vahino nicht vergessen. »Entschuldigen Sie, Sir!« Eine metallische Stimme schreckte ihn auf, zerriß das feine Gespinst der Verse und trieb sie hinaus in die Nacht des Vergessens und der Unwiederbringlichkeit. Einen Moment lang spürte er nur den Schmerz des Verlustes. Die Unterbrechung hatte etwas Einmaliges zerstört. »Entschuldigung, Sir, aber Mr. Lombard möchte Sie sprechen!« Es war die Stimme des Roboters. Lombard selbst hatte ihm das Gerät geschenkt. Natürlich hatte das schimmernde Metallgerät nicht zu den geschnitzten Möbeln und gestickten Gobelins seines Hauses gepaßt. Doch er hatte Lombard nicht beleidigen wollen. Außerdem war das Ding zweifellos nützlich und praktisch. Lombard, Leiter der Wiederaufbaukommission – der ranghöchste Mensch im Avaikianischen System –, kam zu ihm. Das schmeichelte Vahino natürlich. Schließlich hätte Lombard ihn ebensogut zu sich bitten können. Nur – warum ausgerechnet in dieser Minute? »Sag Mr. Lombard, ich werde gleich kommen.« Vahino betrat das Haus durch einen Nebeneingang und zog sich an. Die Menschen hatten nicht diese unbefangene Einstellung zum nackten Körper wie die Cundaloaner. Dann trat er in die Vorhalle. Er hatte dort ein paar Sessel aufstellen lassen, um den Gewohnheiten der Irdischen entgegenzukommen, die sich nicht gern auf eine Matte auf den Boden hockten. Lombard stand auf, als Vahino eintrat.
Der Mensch war untersetzt und klein. Eine Strähne grauer Haare hing ihm in die gefurchte Stirn. Er hatte einen zähen, beharrlichen Aufstieg hinter sich – vom einfachen Arbeiter zum Hohen Kommissar. Alles in seiner freien Zeit hart erkämpft – durch Selbststudium. Die Spuren dieses Ringens waren nicht zu übersehen. Er packte jede Aufgabe mit einer Besessenheit an, als ginge es um Leben und Tod, und er konnte härter als Werkzeugstahl sein. Doch die meiste Zeit über benahm er sich umgänglich und liebenswürdig. Er besaß eine erstaunlich reiche Palette von Interessen und Talenten und hatte Wunder im Avaikianischen System bewirkt. »Friede in dein Haus, Bruder«, sagte Vahino. »Wie geht es Ihnen?« entgegnete der Solarier knapp. Als sein Gastgeber den Dienern ein Zeichen geben wollte, fuhr der Solarier hastig fort: »Bitte, keine Umstände. Ich schätze natürlich Ihre Gastlichkeit, doch ich habe keine Zeit, drei Stunden speisen und über Kultur reden zu müssen, ehe ich zur Sache kommen darf. Ich wünschte – nun, Sie sind hier zu Hause. Ich nicht. Ich möchte Ihnen nahelegen, durch Ihr Einwirken – taktvoll natürlich – diese Sitte abzuschaffen…« »Aber sie gehört zu den ältesten Kulturgütern dieses Planeten!« »Das ist es ja gerade! Alte, rückständige Sitten und Gebräuche! Ich möchte mich nicht herablassend äußern, Mr. Vahino, das liegt mir fern; ich halte diese Sitte sogar für bezaubernd, für uns Solarier geradezu nachahmenswert. Aber, bitte, nicht während der Arbeitszeit!« »Nun – ich muß gestehen, Sie haben nicht ganz unrecht. Es paßt nicht zu einer modernen Industriegesellschaft. Und die bauen wir ja zur Zeit auf, nicht wahr?« Vahino zog sich einen Sessel heran und bot seinem Gast eine Zigarette an. Das Rauchen war eines der charakteristischen Laster der Solarier – sicherlich eine Sitte, die sich hier leicht einführen ließ. Vahino
zündete sich selbst einen Rauchzylinder an und inhalierte mit dem Behagen eines überzeugten Kultanhängers. »Richtig. Genau das, was ich sagen wollte. Und deswegen bin ich auch gekommen, Mr. Vahino. Ich habe keine Beschwerden vorzubringen – nichts Spezifisches, verstehen Sie? Aber es haben sich unzählige kleine Schwierigkeiten ergeben, die nur ihr Cundaloaner selbst abstellen könnt. Wir Solarier können und dürfen uns nicht in eure inneren Angelegenheiten einmischen. Doch einiges muß anders werden, oder unsere Hilfe ist umsonst.« Vahino hatte bereits eine Vorstellung von dem, was jetzt auf ihn zukam. Er hatte es seit einiger Zeit kommen sehen, dachte er voll Unbehagen. Man konnte der Zukunft eben nicht ausweichen. Er rauchte und hob die Augenbrauen in stummer, höflicher Frage. Dann erinnerte er sich daran, daß die Irdischen ja nicht in der Lage waren, Zeichen zu verstehen, und sagte deshalb: »Sprechen Sie sich ruhig aus. Äußern Sie Ihre Wünsche. Ich begreife, daß Sie nicht beleidigen wollen. Wir fassen es deshalb auch gar nicht so auf.« »Gut.« Lombard lehnte sich vor und knetete nervös seine von harter Arbeit gezeichneten Hände. »Ihre Kultur, ihre psychologische Einstellung ist für eine moderne Zivilisation völlig ungeeignet. Das läßt sich ändern, aber nur, wenn es drastisch geschieht. Nur Sie können das erreichen, durch Gesetze, Propaganda, Änderung des Erziehungssystems und so weiter. Aber es muß geschehen!« Lombard blickte auf den Boden und dachte kurz nach. »Zum Beispiel Ihre Siesta. Im Augenblick läuft im gesamten Datumsbereich dieses Planeten nicht ein Rad, nicht eine Maschine. Ihre Leute liegen alle in der Sonne, dichten Verse oder summen Melodien vor sich hin. Viele dösen auch nur. Wir müssen eine ganze Zivilisation neu aufbauen, Vahino! Plantagen müssen angelegt, Fabriken müssen gebaut, Städte müssen errichtet, Kanäle müssen
gezogen werden! So etwas läßt sich nicht mit einem VierStunden-Arbeitstag erreichen!« »Nein. Aber vielleicht besitzen wir nicht dieselbe Energie wie Ihre Rasse. Sie haben eine Überfunktion der Schilddrüse, wie Sie wissen!« »Sie müssen sich eben anpassen, dazu erziehen. Nicht jeder muß arbeiten, bis er umfällt. Außerdem steht ein erstrebenswertes Ziel am Ende dieser Plagerei. Die Mechanisierung Ihrer Kultur wird Ihr Volk von körperlicher Arbeit und der Abhängigkeit von wechselnden Ernteerträgen befreien, Vahino! Und eine technische Zivilisation kann man einfach nicht mit Aberglauben, Riten, Gebräuchen, zeremonieller Tradition belasten, auf die man hier auf Ihrem Planeten auf Schritt und Tritt stößt! Wir haben keine Zeit dazu. Das Leben ist viel zu kurz. Außerdem ist da alles paradox. Sie gleichen in vielen Punkten den Skontaranern, die immer noch mit ihren altmodischen Speeren herumlaufen, obwohl sie jeden Sinn und Zweck verloren haben.« »Tradition ist Leben, macht seinen Sinn, seinen Wert aus…« »Die Maschinenkultur hat ihre eigene Tradition. Sie werden das schon noch begreifen. Sie hat ihre eigene Bedeutung, und es ist die Bedeutung der Zukunft. Falls Sie darauf bestehen, an alten Gebräuchen kleben zu bleiben, werden Sie die Geschichte nie einholen können. Ihr Münzsystem zum Beispiel…« »Es ist praktisch.« »Auf seine Weise, ja. Aber wie wollen Sie mit Sol Handel treiben, wenn Sie Ihren Kredit immer noch in Silber berechnen und die Solarier in abstrakten Begriffen und Größen? Sie müssen sich unserem System anpassen, wenn Sie mit uns Handelsbeziehungen anknüpfen wollen. Was Sie nach außen hin tun müssen, können Sie auch gleich im Inneren vollziehen. Sie müssen das metrische System einführen, wenn Sie unsere
Maschinen verwenden und unsere Wissenschaft begreifen wollen. Sie müssen – oh, alles muß geändert werden. Ihre Gesellschaft zum Beispiel… Kein Wunder, daß Sie sogar die Planeten Ihres eigenen Sonnensystems noch nicht erforscht haben, solange jeder Cundaloaner darauf besteht, an seinem Heimatort begraben zu werden. Eine hübsche Sitte, ohne Zweifel. Aber außer sentimentalem Wert sehe ich keinen Sinn darin. Wenn Sie nach den Sternen greifen wollen, müssen Sie diese Sentimentalitäten aufgeben. Sogar Ihre Religion – entschuldigen Sie –, aber Sie werden einsehen, daß sie viele Elemente enthält, die die moderne Wissenschaft längst widerlegt hat.« »Ich bin Agnostiker«, erwiderte Vahino leise. »Doch die Religion der Mauiroa bedeutet sehr viel für die meisten von uns.« »Wenn das Große Haus es erlaubt, können wir ein paar Missionare aus dem Solaren Commonwealth kommen lassen. Wir können Ihre Landsleute zum Beispiel zum Neopantheismus bekehren. Welche Religion meiner Ansicht nach viel mehr Überzeugungskraft, Trost und Zuversicht für das Individuum und wissenschaftliche Wahrheit enthält als Ihre Religion. Falls Ihre Landsleute auf den Glauben angewiesen sind, braucht er nicht unbedingt mit Tatsachen zu kollidieren, die sich in einer modernen Technologie bald bemerkbar machen werden.« »Mag sein. Und natürlich ist Ihnen auch das System der familiären Bindungen viel zu kompliziert und eng geknüpft, nicht wahr? Unbrauchbar in einer modernen Industriegesellschaft… Ja, ja, ja… Uns neue Maschinen zu bringen, genügt eben nicht.« »Genau! Der Geist muß sich umstellen«, stimmte ihm Lombard zu und fuhr dann verbindlicher fort: »Aber Sie werden das schon schaffen. Sie haben ja schon früher
Raumschiffe und Atomkraftwerke gebaut. Ich schlage lediglich vor, diesen Prozeß etwas zu beschleunigen…« »Und was die Sprache anlangt…« Lombard ließ sich auch über dieses Thema aus: »Richtig. Ich will keinem Chauvinismus das Wort reden – weit gefehlt –, doch halte ich es für richtig, daß alle Cundaloaner die Sprache der Solarier lernen sollten. Sie werden sie gut gebrauchen können. Und Ihre Wissenschaftler und Techniker müssen diese Sprache ja sowieso beherrschen. Die Mundarten von Laui und Muara klingen wirklich schön; doch für wissenschaftliche Begriffe sind sie nicht zu gebrauchen. Und was Ihre Philosophie betrifft – nun, die Lehrbücher scheinen mir nichts anderes als blumenreiches Kauderwelsch zu enthalten. Schön, doch ohne Substanz. Ihre Sprache entbehrt der – Präzision.« »Arakles und Wranamaui wurden jedoch seit Jahrhunderten als klassische Beispiele kristallklarer Logik gefeiert«, erwiderte Vahino niedergeschlagen. »Und ich muß gestehen, daß ich Ihren Kant, Russell und Korzybiski auch nicht ganz verstehe. Nun, ich bin in diesen Kategorien natürlich nicht geschult. Zweifellos haben Sie recht. Die jüngeren Generationen werden Ihnen zustimmen. Ich werde mit dem Großen Haus sprechen. Vielleicht läßt sich sofort eine Regelung treffen. Auf jeden Fall werden Sie nicht Jahre warten müssen, bis Reformen durchgeführt werden. Alle unsere jungen Leute sehnen sich danach, Ihren Idealen zu folgen. Es sind die Leitbilder des Erfolges.« »Genau«, erwiderte Lombard und fügte dann verbindlich hinzu: »Manchmal wünschte ich mir, der Fortschritt verlange nicht einen so hohen Preis. Doch Sie brauchen sich nur Skontar anzusehen, um zu begreifen, wie notwendig man den Erfolg braucht.« »Nun, die Skontaraner haben Erstaunliches geleistet in den letzten drei Jahren. Nach der großen Hungersnot haben sie sich
wieder gefangen. Sie bauen alles aus eigener Kraft wieder auf. Sie haben sogar Forscher ausgeschickt, die sich nach Sonnen mit Planeten umsehen, wo sie Kolonien gründen können.« Vahino lächelte dünn. »Ich liebe unsere ehemaligen Feinde nicht, aber die Bewunderung kann ich ihnen nicht versagen.« »Sie haben Mut«, gab Lombard zu. »Doch was ist Mut ohne Beistand? Sie verstricken sich in ein Gestrüpp von Rückständigkeit. Schon jetzt ist das Sozialprodukt von Cundaloa dreimal so hoch wie das der Skontaraner. Die interstellare Kolonisation ist nur eine bedeutungslose Geste – getragen von ein paar hundert Individuen. Skontar wird weiter existieren, doch nur als Macht zehnter Ordnung. Es wird nicht lange dauern, und Skontar wird ein Satellit der Cundaloaner sein. Schuld daran ist nicht, daß sie etwa keinen Erfindungsgeist oder keine Ausdauer besäßen. Nein. Sie verfügen über Bodenschätze, über praktische Veranlagungen. Doch indem sie unser Hilfsangebot arrogant von sich gewiesen haben, haben sie sich vom Stamm der galaktischen Zivilisation abgetrennt. Zum Beispiel versuchen sie wissenschaftliche Theorien und Apparate weiterzuentwickeln, die wir schon vor hundert Jahren gekannt und verworfen haben. Sie entfernen sich immer weiter von den Gleisen des Fortschritts, daß man nur darüber lachen könnte, wäre es nicht ein so tragischer Anblick. Ihre Sprache – so wie eure – ist für wissenschaftliche Zwecke ungeeignet. Und dazu schleppen sie noch die rostigen Ketten ihrer Traditionen mit sich herum. Ich habe zum Beispiel einige ihrer Raumschiffe gesehen, die sie selbst entwickelt haben, statt irdische Modelle zu übernehmen. Sie sind einfach lächerlich. Ein halbes Hundert neuer Ansätze, keine klare Grundkonzeption. Kugeln, eiförmig, würfelförmig – ja, ich hörte neulich, daß sie sogar Raumschiffe in Doppelpyramidenform bauen wollen!«
»Es könnte sogar funktionieren«, überlegte Vahino laut. »Die Riemannsche Geometrie, auf der die interstellare Raumfahrt aufbaut, würde erlauben…« »Nein, nein! Die Erde hat dieses Konzept ausprobiert und dabei festgestellt, daß es nicht funktioniert. Nur ein Narr – und die Wissenschaftler von Skontar in ihrer selbstgewählten Isolation müssen sich ja dazu entwickeln – könnte so etwas für brauchbar halten. Wir Menschen hatten eben Glück – das war alles. Selbst wir mußten einen langen Weg zurücklegen, ehe unsere Mentalität reif für die wissenschaftliche Zivilisation wurde. Davor gab es keine technologische Entwicklung. Doch danach – danach erreichten wir die Sternenwelten. Natürlich können andere Rassen dasselbe schaffen wie wir, aber zuerst müssen sie die geeignete Zivilisation dafür schaffen, die richtige Grundlage erarbeiten. Und ohne unsere Anleitung wird weder Skontar noch irgendein anderer Planet die Basis besitzen, um nach den Sternen zu greifen. – Sie brauchen Jahrhunderte, bis sie das erreichen.« Lombard nickte heftig. »Ah, das bringt mich auf einen Gedanken«, setzte Lombard seine Erläuterungen fort und griff in seine Jackentasche. »Ich habe hier eine Fachzeitschrift, eine Broschüre, die von einer der skontaranischen philosophischen Gesellschaften herausgegeben wird. Die Nachrichtenverbindungen sind ja nicht ganz abgerissen, wie Sie wissen. Es besteht kein Embargo. Die Solarier haben Skang lediglich aufgegeben, weil es sich nicht lohnt, dort Geld und Intelligenz zu investieren. Nun« – er zog eine Zeitschrift aus der Tasche –, »hier habe ich jedenfalls eine Denkschrift von einem ihrer Philosophen, Dyrin, der an einer neuen Bedeutungslehre arbeitet, die dort ziemlich viel Staub aufgewirbelt haben soll. Sie verstehen doch Skontaranisch, nicht wahr?«
»Ja«, erwiderte Vahino. »Ich habe im Krieg in der militärischen Abwehr gedient. Lassen Sie mich sehen…« Er blätterte in der Broschüre, bis er den bewußten Artikel fand, und übersetzte vom Blatt: »Die Arbeiten des Verfassers haben bisher gezeigt, daß der Nonelementalismus nicht als solcher ein Umfassendes ist, sondern bestimmten psychomathematischen Einschränkungen unterworfen. Diese Einschränkungen rühren von dem broganar – ein Wort, daß ich leider nicht verstehe – Feld her, das sich mit den elektronischen Wellenkernen verbindet und…« »Was ist das für ein Kauderwelsch?« unterbrach Lombard an dieser Stelle. »Keine Ahnung«, sagte Vahino hilflos. »Der Skontaranische Geist ist mir ebenso fremd wie Ihnen.« »Blödsinn«, sagte Lombard, »vermischt mit der sattsam bekannten Arroganz der Skontaraner.« Er warf die Zeitschrift in das kleine, mit Kohlen gefüllte Bronzebecken. Die Flammen verzehrten die dünnen Blätter. »Vollkommener Blödsinn, wie jeder sofort erkennen wird, der etwas von Bedeutungslehre versteht – oder auch nur einen Atomkern Verstand im Kopf hat.« Er lächelte, sogar ein bißchen traurig, und schüttelte dabei den Kopf. »Eine Rasse von Verrückten!« »Ich wünschte, du könntest mir morgen ein paar Stunden widmen«, sagte Skorrogan. »Hm, das ließe sich einrichten«, erwiderte Thordin XL, der gegenwärtige Valtam des Imperiums von Skontar. Er nickte. »Obgleich mir nächste Woche besser passen würde.« »Morgen – bitte!« Dieses Drängen mußte einen tieferen Sinn haben. »Also gut«, meinte Thordin. »Was ist los?«
»Ich möchte dich auf einen kleinen Ausflug nach Cundaloa mitnehmen.« »Weshalb ausgerechnet dorthin? Und warum muß es gerade morgen sein?« »Das werde ich sagen – wenn wir dort sind.« Skorrogan neigte den Kopf, der zwar noch dichtbemähnt, aber schon weiß war. Dann schaltete er den Fernsehkommunikator aus. Thordin lächelte. Skorrogan war schon ein eigenartiger Mann – in vieler Hinsicht. Doch – nun –, die Alten mußten zusammenhalten. Eine neue Generation drängt heran, und dahinter bereits wieder eine, die den Platz an der Sonne für sich erobern will. Ohne Zweifel, das Leben in der Verbannung hatte den früher so heiter-zuversichtlichen Skorrogan stark verändert. Kein Wunder, hatte diese innere Emigration doch über dreißig Jahre gedauert. Doch sie hatte ihn wenigstens nicht verbittert. Als sich der langsame, aber stetige Fortschritt auf Skontar abzeichnete und sein eigenes Versagen in den Schatten der Vergessenheit gedrängt wurde, hatte der Kreis der früheren Freunde ihn wieder aufgenommen. Skorrogan lebte immer noch sehr zurückgezogen, doch er war jetzt wieder willkommen, wo er sich sehen ließ. Thordin selbst hatte entdeckt, daß ihre alte Freundschaft nie erloschen war, und weilte oft drüben in der Zitadelle von Kraakahaym, dem Palast Skorrogans. Er hatte sogar dem alten Adeligen wieder einen Sitz im Hohen Rat angeboten; doch Skorrogan hatte abgelehnt. Und inzwischen waren weitere zehn Jahre – oder waren es zwanzig? – verflossen, in denen Skorrogan nichts anderes getan hatte, als seine Pflichten als Herzog zu erfüllen. Heute bat er zum erstenmal um einen Gefallen. – Ja, ich werde morgen mitfliegen. Zum Teufel mit der Arbeit. Auch Monarchen haben Recht auf Urlaub! Thordin stand von seinem Sessel auf und ging, das eine Bein
nachziehend, hinüber zum breiten Söller. Er fröstelte, als er dem Schneetreiben zusah. Der Winter kam wieder einmal ins Land. Die Geologen prophezeiten, daß Skontar erneut in eine Eiszeitepoche eintrat. Doch sie würde sich nicht voll entfalten können. Im Gegenteil. In zehn Jahren würden die Klimaingenieure ihr technisches Können so sehr erweitert haben, daß sie das Vordringen der Gletscher aufhalten konnten. Doch bis dahin war es kalt und weiß draußen, und ein schneidender Wind heulte um die Türme des Palastes. Auf der südlichen Halbkugel herrschte jetzt Sommer. Die Felder wurden grün, und Rauch aus den Schornsteinen der Höfe der Freisassen kräuselte sich in den blauen Himmel. Wer hatte eigentlich das wissenschaftliche Team angeführt? Ach ja, Aesgayr Haastings’ Sohn. Seine Arbeiten auf dem Gebiet der Agronomie und Vererbungslehre hatte es einem Volk von Freisassen ermöglicht, auf eigener Scholle so viel Getreide und landwirtschaftliche Produkte zu erzeugen, daß die heranwachsende Generation der wissenschaftlichen Zivilisation nicht zu hungern brauchte. Der alte Freibauer, das Rückgrat der Welt von Skontar in seiner ganzen Geschichte, hatte nicht auszusterben brauchen. Andere Dinge hatten sich natürlich ebenfalls verändert. Thordin lächelte still vor sich hin, wenn er daran dachte, wie sehr sich das Valtamat in den letzten fünfzig Jahren gewandelt hatte. Das hatten sie Dyrins Arbeiten auf dem Gebiet der allgemeinen Bedeutungslehre zu verdanken, die als Grundlage aller Wissenschaften so wichtig war. Sie hatte zu dem gegenwärtigen psychosymbologischen Charakter der Regierungsform geführt. Skontar war nur dem Namen nach noch ein Reich, ein absolutistisch regiertes Imperium. Dyrin hatte den Widerspruch zwischen der Bedeutung des Begriffs Willensfreiheit und einer nichtgewählten, leistungsfähigen
Regierungsform gelöst. Natürlich nur zum Vorteil von Skontar – und auf dieses Ziel hatte sich der schmerzhafte Entwicklungsprozeß der skontaranischen Geschichte hinbewegt. Die neue Wissenschaft hatte den Prozeß beschleunigt, hatte den Fortschritt von Jahrhunderten auf die Zeitspanne zweier Generationen zusammengedrängt. Und dann hatten Physik und Biologie ungeahnte Erkenntnisse vermittelt… Seltsam, daß die schönen Künste darunter kaum gelitten hatten, Literatur, Musik und Architektur. Auch die alten Kunsthandwerke standen in Ansehen und Blüte, und man pflegte die Bardensprache des Hoch-Naarhaym. Nun, so war das Leben. Thordin kehrte an seinen Schreibtisch zurück. Die Arbeit drängte. Er mußte Entscheidungen fällen, die die Kolonien auf dem AesricPlaneten betrafen. Man konnte nicht erwarten, daß es ohne Schwierigkeiten möglich war, mehrere hundert interstellare Kolonien, die alle blühten und gediehen, zu regieren. Doch Fehlentwicklungen waren äußerst selten. Das Imperium war gesichert und stark. Und es wuchs immer mehr. Sie hatten einen langen Weg zurückgelegt seit dem Tage der Verzweiflung vor fünfzig Jahren – seit der Hungersnöte und Pestilenz. Ein langer, langer Weg. Thordin fragte sich, ob er überhaupt noch übersehen konnte, wie lang der Weg tatsächlich gewesen war. Thordin kam aus dem Höhlengang unterhalb der Zitadelle. Skorrogan hatte sich dort mit ihm verabredet, weil er den Ausblick von dieser Stelle besonders schätzte. Das Panorama war geradezu majestätisch, dachte der Valtam, doch auch schwindelerregend. Eine langgezogene Kette hoher grauer Gipfel und windgepeitschter Wolken, die sich bis zur fernen grünen Ebene ausdehnten. Über ihm ragten die alten Befestigungsanlagen auf.
Die Wachen hoben grüßend die Speere. Bis auf diese waren sie unbewaffnet. Die Vortex-Kanonen auf den Wällen verrotteten allmählich. Die Hauptstadt eines Reiches, das nur noch dem Solaren Commonwealth an Macht und Bedeutung nachstand, brauchte keine Waffen mehr. Skorrogan stand im äußeren Hof. Fünfzig Jahre hatten seinen Rücken nicht gebeugt oder den Glanz der goldenen Augen getrübt. Und doch kam es Thordin so vor, als trage der Alte eine innere Unruhe mit sich herum, eine Erwartung, als könne er die vor ihnen liegende Reise nicht rasch genug hinter sich bringen. Skorrogan vollzog die zeremonielle Begrüßung und deutete auf das Flugfeld. »Mein Schiff ist startbereit.« Es stand hinter den Wällen, ein elegantes kleines Roboterschiff mit den verwirrenden Konturen der Doppelpyramidenkonstruktion. Sie stiegen ein und nahmen in der Mitte Platz, von wo aus sie in allen Richtungen gleich gute Aussicht hatten. »Nun«, sagte Thordin, »verrate mir, weshalb du unbedingt heute nach Cundaloa fliegen willst?« Skorrogan sah ihn an. Alter, längst vergessener Schmerz sprach aus diesem Blick. »Heute«, sagte er leise, »ist es genau fünfzig Jahre her, daß ich von der Erde nach Hause zurückkehrte.« »Ja – und?« fragte Thordin, etwas verwirrt. Es war nicht die Art des schweigsamen Alten, vergangene Niederlagen wieder zur Sprache zu bringen. »Vielleicht erinnerst du dich nicht mehr«, erwiderte Skorrogan, »aber wenn du dein Unterbewußtsein durchforschst, wirst du es wieder ins Licht des Bewußtseins heben. Damals sagte ich zu euch, in fünfzig Jahren könnt Ihr wiederkommen und mich um Verzeihung bitten.« »Also willst du dich heute rechtfertigen.« Für Thordin war das keine Überraschung – es war typisch für die
skontaranische Psychologie; doch wußte er noch immer nicht, was es hier zu entschuldigen gab. »Das stimmt. Damals konnte ich es niemandem sagen oder erklären. Niemand hätte mir damals zugehört, und auch ich fühlte noch kleine Zweifel, ob ich auch richtig gehandelt hatte.« Skorrogan lächelte. »Doch jetzt weiß ich es. Die Zeit hat mir recht gegeben. Und ich will mir heute die Ehre zurückholen, die ich damals verloren habe, indem ich dir zeige, daß ich damals auf meiner Mission nicht so versagte, wie ihr alle geglaubt habt.« Er nickte nachdenklich. »Im Gegenteil, meine Mission war erfolgreich. Ich stieß die Solarier absichtlich vor den Kopf.« Skorrogan drückte auf den Antriebsknopf, und der Raumkreuzer legte die Strecke eines halben Lichtjahres durch den Raum zurück. Die große blaue Kugel von Cundaloa hing vor ihnen im All. Thordin saß ganz still da, ließ diese einfache, ungeheure Feststellung durch alle Ebenen seines Geistes wandern. Seine erste Gefühlsreaktion war die Erkenntnis, daß er, im Unterbewußtsein, schon immer auf so eine Erklärung gewartet hatte! Er hatte nie glauben können, daß Skorrogan damals so plötzlich sein diplomatisches Gespür verloren haben sollte. Doch dann wäre er ja ein Verräter – nein, keinesfalls! Was dann? Was hatte er damit gemeint? War er während all der Jahre geistesgestört gewesen…? »Seit dem Krieg bist du nicht oft in Cundalao gewesen, nicht wahr?« unterbrach Skorrogan Thordins Gedanken. »Nein. Nur dreimal, zu flüchtigen Besuchen. Es ist ein wohlhabendes System. Die Hilfe der Solarier hat sie wieder auf eigene Füße gestellt.« »Wohlhabend – ja, das sind sie.« Einen Moment lang zuckte ein Lächeln um Skorrogans Mundwinkel; doch es war ein trauriges Lächeln – als müsse er eher weinen. »Ein
betriebsames, erfolgreiches kleines System, mit ganzen drei Kolonien.« Mit einer jähen ärgerlichen Bewegung drückte er den Nahsteuerhebel, und das Schiff zog im flachen Bogen zur Oberfläche des Planeten hinunter. Es landete in einer Ecke des großen Raumflughafens von Cundaloa-City. Die Roboter machten sich an die Arbeit, warfen ein schützendes Schwerefeld darüber. »Was jetzt?« flüsterte Thordin. Er hatte plötzlich Angst, ahnte, daß er keinen Gefallen an dem finden würde, was er jetzt zu sehen bekam. »Nur ein kleiner Spaziergang durch die Hauptstadt«, sagte Skorrogan. »Mit ein paar Abstechern ins Landesinnere. Ich wollte, daß unsere Reise inoffiziell blieb. Nur so bekommt man die wahren Verhältnisse zu sehen, das Alltagsleben der Einwohner, das viel bezeichnender und wahrhaftiger ist als jede statistische oder wirtschaftliche Bestandsaufnahme. Ich will dir zeigen, Thordin, vor welchem Schicksal ich Skontar bewahrt habe.« Er lächelte wieder traurig. »Ich gab mein Leben für unseren Planeten. Fünfzig Jahre meines Lebens auf jeden Fall – fünfzig Jahre in Einsamkeit und Schande.« Sie tauchten unter im Lärm der großen Stahl- und Betonbauten des Raumschiffhafens und wurden zu den Ausgängen geschleust. Ein ununterbrochener Strom von Lebewesen wogte hin und her, die lärmende, ruhelose Zivilisation der Solarier. Ein großer Teil dieser Menge bestand aus Menschen, die nach Avaiki gekommen waren, um Geschäften oder dem Vergnügen nachzugehen. Auch Vertreter anderer Rassen waren darunter. Doch die meisten Wesen, die sich dort drängten, waren natürlich Einheimische – Cundaloaner. Manchmal war es gar nicht einfach, sie von den Menschen zu unterscheiden.
Schließlich ähnelten sich die beiden Arten sehr, und da die Cundaloaner die Mode der Solarier übernommen hatten… Thordin schüttelte verwirrt den Kopf. »Ich verstehe das nicht«, rief er Skorrogan über den Lärm hinweg zu. »Ich habe doch die Sprachen der Cundaloaner gelernt, Laui und Muara, und dennoch…« »Natürlich verstehst du sie nicht«, erwiderte Skorrogan, »weil die meisten hier die solarische Sprache sprechen. Die einheimischen Mundarten sterben aus.« Ein plumper Solarier in schreiend bunten Kleidern rief einem einheimischen Ladenbesitzer etwas zu, der sich vor seiner Auslage sonnte: »Du – du da, Boy! Haben Souvenir zu verkaufen? Money – Moneten, Geld, ja? Shoppen Souvenir, ja?« »Pidgin-Solarisch«, meinte Skorrogan mit einer Grimasse. »Auch das wird importiert, obgleich alle jungen Cundaloaner von Kindheit an die irdische Sprache lernen. Doch die Touristen lernen nie etwas dazu.« Einen Moment lang tastete die Hand zu seinem Energiewerfer, so wütend war er. Doch nein – die Zeiten hatten sich geändert. Man tötete niemand mehr, weil er einem persönlich widerwärtig war. So etwas gab es auch in Skontar nicht mehr. Der Tourist wendete sich ab und rempelte Skorrogan an. »Oh, tut mir leid«, entschuldigte er sich höflich genug. »Ich hätte aufpassen sollen, wohin ich gehe.« »Keine Ursache«, murmelte Skorrogan. Doch der Solarier verfiel plötzlich in ein mühsames, mit starkem Akzent durchsetztes Hoch-Naarhaym: »Oh, ich bitte vielmals um Entschuldigung. Darf ich Sie zu einem Drink einladen?« »Aber durchaus keine Ursache«, murmelte Skorrogan wieder, diesmal mit grimmigem Unterton.
»Was für ein Planet! Rückständig wie – wie Pluto! Ich reise von hier aus nach Skontar weiter. Ich hoffe, ich kann dort einen Vertrag unter Dach und Fach bringen. Ihr wißt, wie man Handel treibt, ihr Skontaraner!« Skorrogan wendete sich ab, riß Thordin buchstäblich mit sich. Sie waren einen Häuserblock weit gekommen, als der Valtam sagte: »Was hast du nur? Er hat sich sehr angestrengt, höflich zu uns zu sein. Oder haßt du alle Menschen?« »Ich schätze die meisten von ihnen«, erwiderte Skorrogan. »Aber nicht die Touristen. Danke dem Schicksal, daß wir nicht viele von dieser Brut in Skontar zu sehen bekommen. Ihre Ingenieure, Geschäftsleute und Gelehrte sind in Ordnung. Ich bin froh darüber, daß enge Beziehungen zwischen Sol und Skang bestehen, so daß wir vor allem mit solchen Leuten zu tun haben. Aber halte uns die Touristen vom Leib!« »Weshalb?« Skorrogan deutete nur auf ein Leuchtschild. »Deswegen«, sagte er und übersetzte dann: ERLEBEN SIE DIE ALTEN MAUIROA-SITTEN! AUTHENTISCH! FARBENPRÄCHTIG! DER ZAUBER DES ALTEN CUNDALOA! NUR HIER! Der Tempel des Höchsten Eintrittspreise angemessen. »Die Religion des Mauiroa hatte früher einmal eine große Bedeutung«, erklärte Skorrogan leise. »Es war ein ehrwürdiger Glaube, obgleich er viele unwissenschaftliche Elemente enthielt. Man hätte sie der Entwicklung anpassen können – doch jetzt ist es zu spät. Die meisten Einheimischen sind inzwischen Neopantheisten oder Ungläubige. Die alten
religiösen Bräuche führen sie nur noch gegen Bezahlung vor. Sie sind zu einer Schau geworden.« Er zog eine Grimasse. »Cundaloa hat noch nicht alle seine malerischen alten Gebäude und Volksbräuche verloren. Auch Reste ihrer Musik bestehen noch. Doch sie sind zu Schaustücken degradiert worden.« »Ich verstehe nicht ganz, weshalb du darüber so verbittert bist«, sagte Thordin. »Die Zeiten wandeln sich. Auch in Skontar ist die Zeit nicht stehengeblieben.« »Wir haben uns gewandelt, aber nicht so wie hier! Blicke dich um! Du bist noch nie im Sonnensystem gewesen, aber du hast Filme von der Erde gesehen. Deshalb wirst du erkennen, daß es sich hier um eine typische irdische Stadt handelt – ein wenig rückständig vielleicht, aber immerhin typisch. Du wirst keine Stadt mehr im Avaikianischen System finden, die nicht – menschlich geworden ist. Und du wirst auch keine nennenswerte Kunst mehr finden, keine eigenständige Literatur, Musik oder Malerei – nur billige Imitationen irdischer Produkte oder Kopien längst versunkener einheimischer Meisterwerke, romantische Fälschungen der Vergangenheit. Du wirst keine Wissenschaft hier entdecken, die nicht von den Irdischen übernommen wurde. Du siehst keine Maschine, die nicht den Stempel der Erde trägt und findest von Jahr zu Jahr weniger Häuser, die nicht von irdischen Architekten entworfen wurden. Die alte Gesellschaft ist tot, nur ein paar Reste von ihr sind übriggeblieben. Die engen Familienbande, die früher das Rückgrat der einheimischen Kultur bildeten, sind längst zerrissen, und Ehen werden hier genauso leichtsinnig geschlossen und aufgelöst wie auf der Erde. Die alte Bindung an Heimat und Scholle existiert nicht mehr. Es gibt hier keine Erbhöfe. Die jungen Leute strömen in die Stadt, um Geld zu verdienen. Sie essen die Konserven der solaren Nahrungsmittelfabriken, und die
einheimische Küche findet man nur noch in ein paar teuren Restaurants. Es gibt keine Handarbeit mehr – kein Kunsthandwerk, keine Töpferei, keine Webwaren. Man trägt, was die Massenhersteller jedes Jahr auf den Markt werfen. Es gibt keine Barden mehr, die die alten Heldenlieder singen und neue ersinnen. Man starrt in die Fernseh-Fühlröhren. Es gibt keine Philosophen mehr aus der Schule des Arakles und Wranamaui – nur noch zweitklassige Kommentare über den Streit der Pragmatiker wider die Dogmatiker, zwischen den Anhängern des Aristoteles und denen von Korzybiski und Russell…« Skorrogans Stimme verhallte. Thordin sagte nach ein paar Minuten bedächtig: »Ich sehe, worauf du hinauswillst. Cundaloa hat sich den Lebensgewohnheiten der Irdischen unterworfen.« »Genau. Und das konnte von dem Augenblick an nicht ausbleiben, wo sie die Hilfe der Irdischen annahmen. Sie mußten sich der Solaren Wissenschaft anpassen, ihrer Wirtschaft, schließlich ihrer gesamten Kultur und Zivilisation. Denn das war die einzige Möglichkeit, die den Irdischen einleuchtete, nachdem sie das Kommando beim Wiederaufbau übernommen hatten. Und da die irdische Kultur ganz offensichtlich erfolgreich war, wurde sie von den Cundaloanern kritiklos übernommen. Jetzt ist es zu spät. Sie können nicht mehr Geschehenes ungeschehen machen. Ja, sie wollen gar nicht umkehren, um einen anderen Weg einzuschlagen. Und es ist nicht das erstemal, daß so etwas geschehen ist. Ich habe die Geschichte des Solaren Systems genau studiert. Ehe die menschliche Rasse sich der Raumfahrt zuwandte, gab es dort viele Kulturen, von denen sich manche radikal voneinander unterschieden. Doch schließlich setzte sich eine von ihnen, die sogenannte westliche Gesellschaft, so überwältigend kraft ihrer technologischen Überlegenheit
durch, daß – nun, daß die anderen neben ihr nicht mehr existenzfähig waren. Wollten sie mithalten, mußten sie die westlichen Errungenschaften übernehmen. Und wenn der Westen ihnen bei der Überwindung ihrer Rückständigkeit half, half er ihnen natürlich nach seinen Erfolgsrezepten, nach seinen eigenen Erfahrungen, weil er anderes gar nicht kannte. Mit den besten Absichten vernichtete der Westen alle anderen abweichenden Lebensarten und Kulturen.« »Und du wolltest uns vor diesem Schicksal retten?« fragte Thordin. »Ich kann deinen Gedanken durchaus folgen, frage mich jedoch, ob der sentimentale Wert ehrwürdiger Institutionen das Leben von Millionen Verhungerter und Erfrorener aufwog – den Preis der Entbehrungen und Opfer eines ganzen Jahrzehntes wert war!« »Es war nicht nur ein sentimentaler Wert«, grollte Skorrogan. »Verstehst du denn immer noch nicht? Die Wissenschaft ist unsere Zukunft. Wenn wir noch bestehen wollten, mußten wir eine Rasse von wissenschaftlich bewußten und denkenden Wesen werden! Doch bot sich da die Wissenschaft der Solaren als einzige Möglichkeit an? Mußten wir zweitrangige Menschen werden, um überleben zu können? Oder konnten wir neue Wege beschreiten, unbehindert von der überwältigenden Hilfsbereitschaft einer zwar hochentwickelten, uns aber im Grunde wesensfremden Zivilisation? Ich hoffte, wir könnten uns unsere eigene Wissenschaft erarbeiten. Ich meinte, es blieb uns gar keine andere Wahl!« Er schüttelte die weiße Mähne. »Denn eines ist klar: keine nichtmenschliche Rasse wird jemals so erfolgreich sein wie die Menschen, wenn sie die Menschen kopieren muß. Die grundlegenden Wesenszüge sind zu verschieden. Eine Rasse kann zwar die Denkschablonen der anderen Rasse nachvollziehen, aber nicht erfolgreich anwenden. Du weißt, wie große Schwierigkeit es bereits macht, von der einen
Sprache in die andere zu übersetzen. Und doch ist jeder Gedanke Sprache, und die Sprache spiegelt die Grundzüge des Denkens wider. Die präziseste, durchdachteste, rigoroseste Philosophie und Wissenschaft der einen Rasse wird der anderen Rasse nie so sehr einleuchten wie der eigenen. Denn keine Rasse hat die gleichen Abstraktionen von der universalen Welt der Wirklichkeit abgeleitet oder entworfen – nicht ganz die gleichen. Ich wollte also verhindern, daß wir von den Solariern geistig abhängig werden. Skang war rückständig. Es mußte sich ändern. Aber weshalb sollte es sich dabei selbst entfremden? Warum sollte man es nicht gewaltsam auf dem eigenen Weg der Evolution vorantreiben – auf unserem Weg?« Skorrogan zuckte mit den mächtigen Schultern. »Ich habe Skang auf diesen Weg gezwungen. Es war ein gewaltiges Lotteriespiel, aber es hatte Erfolg. Wir retteten unsere Kultur. Es ist unsere Kultur. Von den Umständen gezwungen, selbst Wissenschaften zu gründen, entwickelten wir unsere eigenen Wege und Möglichkeiten. Die kennst die Ergebnisse. Dyrins Bedeutungslehre wurde entwickelt – die Solarier hätten sich darüber totgelacht. Wir entwickelten das Vierflächen-Raumschiff, das die menschlichen Ingenieure als unmöglich abgetan hatten. Und jetzt können wir damit die Milchstraße durcheilen, während altmodische Raumfahrzeuge zwischen der Solaren Welt und dem Alpha Centauri hin und her hinken. Wir verfeinerten die Raumkrümmung, die Psychosymbologie unserer eigenen Rasse – die jeder anderen Rasse verschlossen bleibt. Wir schufen das neue agronomische System, das unsere Freibauern rettete – das Rückgrat unserer Kultur. Alles haben wir bewahrt! In fünfzig Jahren ist Cundaloa von außen revolutioniert worden, während wir uns aus eigener Kraft diesem Prozeß unterzogen.
Und deshalb konnten wir auch bewahren, was unser Wesen ist – die Kunst, das Kunsthandwerk, die Volksgebräuche, die Musik, die Sprache, die Literatur, die Religion. Das Goldene Zeitalter der Geschichte ist für uns wieder angebrochen. Und das alles nur, weil wir uns selbst treu geblieben sind.« Er schwieg, und Thordin entgegnete darauf eine Weile nichts. Sie waren jetzt in eine ruhigere Straße gelangt. Hier stammten die meisten Gebäude noch aus der Zeit vor Beginn des irdischen Hilfsprogramms, und viele Kostüme aus alten einheimischen Kulturepochen waren noch auf der Straße zu sehen. Eine Gruppe Touristen von der Erde wurde gerade durch diesen Stadtteil geführt. Sie drängte sich jetzt um einen Stand mit Töpferwaren. »Nun?« fragte Skorrogan nach einer Weile. »Ich weiß nicht«, murmelte Thordin und rieb sich die Augen – eine Geste der Verlegenheit und Verwirrung. »Das ist alles noch zu neu und frisch für mich. Vielleicht ist alles richtig, was du sagst, vielleicht auch nicht. Ich muß eine Weile darüber nachdenken.« »Ich hatte fünfzig Jahre Zeit, darüber nachzudenken«, erwiderte Skorrogan. »Ich glaube, du hast ein Recht darauf, dir ein paar Minuten Bedenkzeit zu nehmen.« Sie gingen zu dem Töpferstand. Ein alter Cundaloaner saß dahinter. Eine Menge Waren war um ihn herum aufgetürmt – buntbemalte Vasen, Schüsseln und Näpfe. Einheimische Arbeit. Eine Frau feilschte um den Preis. »Sieh dir das an«, sagte Skorrogan zu Thordin. »Hast du noch die Arbeiten aus der alten Epoche gekannt? Das hier ist billiger Ramsch im Vergleich dazu – tausendstückweise hergestellt, um die Touristen mit Souvenirs zu versorgen. Die Formen der Massenware sind nicht mehr nachempfunden, die Handarbeit schlampig. Doch jeder Strich, jede Form, jede Krümmung auf diesen Mustern hatte einmal seine Bedeutung.«
Ihre Blicke fielen auf eine Vase, die neben dem Besitzer des Standes auf einem Kissen ruhte. Selbst der Valtam, der sich nie aus der Fassung bringen ließ, hielt jetzt den Atem an. Diese Vase leuchtete. Sie schien lebendig zu sein – besaß eine schimmernde Vollendung der Linien, Kurven und Muster. Ihr Schöpfer hatte seine ganze Liebe und Sehnsucht auf sie übertragen. Vielleicht hatte er dabei gedacht: Sie wird weiterleben, wenn ich vergangen bin. Skorrogan pfiff leise vor sich hin. »Das ist eine echte alte Vase«, sagte er leise. »Mindestens einhundert Jahre alt – ein echtes Museumsstück! Wie kommt sie hierher unter diesen Touristenplunder?« Die Gruppe der Menschen wich ein wenig vor den mächtigen Gestalten aus Skontar zurück. Mit grimmiger Genugtuung stellte Skorrogan fest: Sie haben Ehrfurcht vor uns. Die Solarier hassen die Skontaraner nicht mehr – sie bewundern uns. Sie schicken ihre jungen Leute zu uns, damit sie unsere Wissenschaft studieren und unsere Sprache lernen. Doch wer kümmert sich noch um Cundaloa? Die Frau aber war dem Blick Skorrogans gefolgt und erkannte ebenfalls das Leuchten der Vase. Sogleich wendete sie sich an den Standbesitzer. »Wieviel?« »Verkaufe nicht«, murmelte der Cundaloaner. Seine Stimme war ein heiseres Flüstern, und er drückte den schäbigen Mantel noch fester um seinen schlanken Leib. »Du verkaufen!« Sie sah ihn mit breitem, künstlichem Lächeln an. »Ich dir geben viel Geld dafür. Zehn Kredite.« »Verkaufe nicht.« »Ich gebe dir hundert Kredite. Verkaufen!« »Das meine Vase. Familie sie haben noch aus alten Tagen. Verkaufe nicht.« »Fünfhundert Kredite!« Sie wedelte ihm mit den Geldscheinen vor der Nase herum.
Er raffte die Vase an sich, drückte sie gegen seine Brust. Seine dunklen Augen bekamen einen feuchten Glanz. »Nicht verkaufen. Geh weg.« »Komm«, sagte Thordin. Er packte Skorrogan am Arm und zog ihn vom Stand weg. »Komm – wir gehen. Wir reisen zurück nach Skontar.« »So rasch?« »Ja. Du hattest recht, Skorrogan. Du hattest recht, und ich werde den großen Rat einberufen, um dich vor aller Öffentlichkeit zu rehabilitieren. Du bist der Retter unserer Geschichte. Nur laß uns jetzt gehen – sofort!« Sie eilten aus der Gasse. Thordin versuchte, die Erinnerung an die Augen des alten Cundaloaners zu verdrängen. Vergeblich. Er würde sie nie mehr vergessen…
Originaltitel: THE HELPING HAND. Copyright 1950 by Street and Smith Publications, Inc. Aus ASTOUNDING SCIENCE FICTION Mai 1950.
Alfred Bester ADAM
Crane wußte, daß dort vorn die Meeresküste sein mußte. Sein Instinkt sagte ihm das. Doch es war nicht Instinkt allein, sondern letzte Reste der Erinnerung, die in seinem wirren, fiebernden Verstand zurückgeblieben waren. Die Sterne, die nachts eine Lücke in den dunklen Wolkenmassen fanden, die Kompaßnadel, die zitternd nach Norden wies, wiesen ihm den Weg. Unglaublich, dachte Crane, selbst im Chaos war der Magnetismus des Nordpols erhalten geblieben. Doch eine Küste gab es nicht mehr. Auch das Meer existierte nicht mehr. Nur eine trübe, verwaschene Linie, wo früher Klippen gewesen waren. Sie dehnte sich von Norden nach Süden – endlos. Eine Düne aus grauer Asche. Die gleiche graue Asche und Schlacke, die hinter ihm lag. Die gleiche graue Asche vor ihm. Feiner grauer Schlamm, in den er bis zum Knie versank; grauer Staub, der bei jeder Bewegung aufwirbelte und Poren und Atemwege verstopfte. Schlackenreste, die in mächtigen Wolken dahinstoben, wenn der Wind hineinblies. Aschenreste, die sich in zähen Schleim verwandelten, wenn Regen fiel. Der Himmel war schwarz. Ab und zu fand die Sonne Durchlaß, huschten helle Flecken über die Erde. Wo ihre Strahlen auf einen Aschenwirbel trafen, tanzten silberne Flocken und Staub. Mischten sie sich mit Regen, entstanden trübe Regenbogen. Der Regen fiel; der Wind wirbelte Asche auf; Licht zog staubige Bahnen – alles zugleich, ständig
wechselnd, immer von neuem. Gewalten aus Schwarz und Weiß, ein irres Mosaik. So ging das seit Monaten. So war es überall auf der Erde – Asche, wohin man kam. Crane erreichte die verglühten Klippen und kroch die sanfte Neigung hinunter, wo früher der Ozean gegen die Küste gebrandet hatte. Er hatte schon einen so langen Weg hinter sich, daß jedes Schmerzgefühl abgestorben war. Er stemmte die Ellenbogen auf und zog den Körper nach. Dann schob er das rechte Knie vor und dann wieder die Ellenbogen. Ellenbogen, Knie, Ellenbogen, Knie – wie man aufrecht ging, hatte er längst vergessen. Das Leben ist wunderbar, dachte er. Jeder Lage paßt es sich an. Wenn es kriechen mußte, kroch es. Schwielen bedecken Ellenbogen und Knie. Hals und Schultern werden hart. Die Nüstern schnauben die Asche weg, ehe sie Luft ansaugen. Die Wunden an den Beinen werden brandig, eitern. Die Glieder schwellen an, faulen, werden gefühllos und fallen ab. Es tut nicht länger weh. »Entschuldigung«, sagte Crane, »ich habe das nicht ganz verstanden…« Er blinzelte zu der schlanken großen Gestalt hinauf und versuchte, die Worte zu verstehen. Es war Hallmeyer. Er trug seinen fleckigen Laborkittel, und sein graues Haar war zerzaust. Hallmeyer stand ohne einzusinken auf der Asche, und Crane wunderte sich, daß er durch seinen Körper hindurch die Staubwolken erkennen konnte. »Wie gefällt dir deine Welt, Stephen?« fragte Hallmeyer. Crane schüttelte den Kopf. »Nicht sehr schön, wie?« sagte Hallmeyer. »Blicke dich um. Staub. Staub und Asche. Das ist alles. Krieche, Stephen, krieche. Du wirst nichts anderes finden als Staub und Asche…« Hallmeyer hielt plötzlich einen Kelch voll Wasser in der Hand. Das Wasser war klar und kalt. Crane konnte sehen,
wie sich feine Kondensationströpfchen am Glas niederschlugen. Sein Mund war plötzlich voll grauem Sand. »Hallmeyer!« schrie er. Er versuchte, aufzustehen und nach dem Kelch zu greifen; doch der stechende Schmerz in seinem rechten Bein warnte ihn. Er sank zurück. Hallmeyer trank einen Schluck und spuckte ihm die Flüssigkeit ins Gesicht. Das Wasser fühlte sich warm an. »Krieche, krieche«, sagte Hallmeyer erbittert. »Krieche herum um die ganze Erde. Du wirst nichts anderes finden als Staub und Asche…« Er schüttete den Inhalt des Kelches vor Crane auf den Boden. »Krieche nur weiter. Wie viele Meilen? Rechne dir das selbst aus.« Dann war er verschwunden. Der Kelch auch. Crane spürte jetzt den Regen auf dem Gesicht. Er preßte den Mund in die warme, schleimige Asche und versuchte, das Wasser herauszusaugen. Er stöhnte und kroch weiter. Der Instinkt trieb ihn vorwärts. Er mußte irgendwohin. Es hatte etwas mit dem Ozean zu tun. Er spürte das. Mit dem Rande des Meeres. Dort wartete etwas auf ihn. Etwas, das ihm helfen würde, alles zu begreifen. Er mußte zum Meer – was davon noch vorhanden war. Der Wolkenbruch peitschte seinen Rücken wie mit Zaunlatten. Crane hielt an und zog den Rucksack heran, so daß er mit der Hand hineinfahren konnte. Er enthielt drei Gegenstände – eine Pistole, einen Riegel Schokolade und eine Konservenbüchse mit Pfirsichen. Alles, was von einem Zweimonatsvorrat übriggeblieben war. Die Schokolade war weich und verdorben. Er sollte sie essen, ehe sie ihren letzten Nährwert verlor. Doch morgen würde er keine Kraft mehr haben, die Konservendose zu öffnen. Er zog sie aus dem Rucksack und setzte den Öffner an. Bis er den Deckel zurückgeschlagen hatte, war der Regen
bereits vorbei. Crane kaute die halben Früchte und trank den Saft. Er sah zu, wie die Regenwand die Schräge hinunterwanderte. Ströme von Regenwasser gruben Rillen in den Schlamm. Kleine Kanäle hatten sich gebildet, die eines Tages zu Flüssen werden würden. Diesen Tag würde er nicht mehr erleben. Ein Tag, den überhaupt kein Lebewesen erleben würde. Während Crane die leere Büchse fortwarf, dachte er: Das letzte lebende Wesen auf dieser Erde ißt sein letztes Mahl. Die Verdauung setzt ein, der letzte Akt des Stoffwechsels. Auf den Regen würde der Wind folgen. In den endlosen Wochen, in denen er über die Asche gekrochen war, hatte sich ihm das eingeprägt. In wenigen Minuten würde ihn der Wind einholen und mit Schlacke und Asche peitschen. Er kroch weiter, suchte nach einem Versteck. Evelyn klopfte ihm auf die Schulter. Crane wußte, daß es Evelyn war, ehe er den Kopf wendete. Sie stand schräg hinter ihm, frisch und duftig in ihrem hellen Kleid. Aber ihr liebes Gesicht drückte Sorge und Kummer aus. »Stephen!« rief sie. »Du mußt dich beeilen!« Er bewunderte die anmutigen Locken ihres honigblonden Haares, das ihr bis auf die Schultern fiel. »Oh, Liebling!« rief sie. »Du bist ja verletzt!« Ihre sanften Hände berührten seinen Rücken und die Beine. Crane nickte. »Ist beim Landen passiert«, sagte er. »Ich war nicht am Fallschirm ausgebildet worden. Bildete mir ein, man schwebt ganz sanft herunter – landet wie auf einem Daunenbett. Aber die graue Erde traf mich wie eine Faust – und Umber wehrte und sträubte sich in meinen Armen. Ich konnte ihn doch nicht einfach fallen lassen – oder?« »Natürlich nicht, Liebling…«, antwortete Evelyn. »Ich hielt ihn fest und versuchte mit den Füßen voran aufzusetzen«, sagte Crane. »Und dann zerschmetterte mir etwas die Beine und…«
Er hielt an. Er fragte sich, ob sie wußte, was wirklich vorgefallen war. Er wollte sie nicht unnötig erschrecken. »Evelyn, Liebling…«, sagte er. Er versuchte, die Arme nach ihr auszustrecken. »Nein, Liebling«, sagte sie und sah sich furchtsam um. »Du mußt dich beeilen. Du mußt aufpassen, was hinter dir vorgeht!« »Die Aschenstürme?« Er zog eine Grimasse. »Die habe ich schon öfter überstanden.« »Nein – nicht die Stürme!« rief Evelyn. »Es ist etwas anderes. Oh, Stephen…« Dann war sie verschwunden. Doch Crane wußte, daß sie die Wahrheit gesagt hatte. Etwas war hinter ihm – etwas hatte ihn die ganzen Wochen über verfolgt. Sein Instinkt hatte die Gefahr gespürt. Es kam näher, legte sich über ihn wie ein Leichentuch. Er schüttelte den Kopf. Das konnte nicht möglich sein. Er war das letzte Lebewesen auf dieser Erde. Wie konnte ihn da etwas bedrohen? Der Wind brüllte. Gleich darauf hüllten ihn schon Staub- und Aschenwolken ein. Mit trüben Augen sah er zu, wie sie den Schlamm mit einem dünnen trockenen Teppich überzogen. Crane zog die Knie unter den Leib und schützte den Kopf mit den Armen. Den Rucksack als Kissen benutzend, richtete er sich darauf ein, den Sturm zu überstehen. Er würde genauso rasch vorübergehen wie der Regen. Doch der Wind wirbelte auch die Gedanken in seinem fiebernden Verstand auf. Wie ein Kind versuchte er, seine Erinnerungen zu ordnen, sie wie Teile eines Puzzlespiels zusammenzusetzen. Warum war Hallmeyer so erbittert? War es des Streites wegen, den sie hatten? Was für ein Streit? Ja – der Streit, ehe das alles passierte. Das war es also? Und plötzlich fügte sich alles wie von selbst zusammen.
Crane stand neben der Abschußrampe und bewunderte die Linien seines Raumschiffes. Das Montagegerüst hatte man schon von der Spitze entfernt. Ein Arbeiter putzte an den Raketenbrennkammern herum. Aus dem Inneren der Treibstoffstufe hörte er die gedämpften Laute einer erregten Auseinandersetzung, dann ein schepperndes Dröhnen. Crane rannte zum Montagegerüst und hantelte die Eisenleiter hinauf. Er steckte den Kopf durch die Arbeitsluke. Ein paar Meter unter ihm befestigten zwei Männer die langen Tanks mit der eisenhaltigen Lösung. »Vorsicht!« rief Crane hinunter. »Wollt ihr das ganze Schiff auseinandernehmen?« Der eine von den beiden blickte herauf und grinste. Crane wußte, was in dem Mann vorging. Das Raumschiff würde sich ohnehin selbst zerstören. Jeder behauptete das. Jeder außer Evelyn. Sie hatte Vertrauen zu ihm. Hallmeyer hatte das auch nie gesagt; doch er hatte wieder andere Hintergedanken. Als Crane wieder die Leiter hinunterturnte, sah er Hallmeyer zum Montagegebäude eilen, den Laborkittel wie einen Raketenschweif hinter sich herziehend. »Wenn man an den Teufel denkt…«, murmelte Crane. Hallmeyer rief schon von weitem: »Hör zu…« »Nicht alles wieder von vorn«, protestierte Crane. Hallmeyer zog ein Bündel Papiere aus seiner Kitteltasche und hielt es Crane unter die Nase. »Ich bin die halbe Nacht aufgewesen«, sagte er atemlos. »Ich habe alles noch einmal durchgerechnet. Ich sage dir, ich hatte recht! Absolut recht!« Crane blickte die Formeln an, die sich auf engbeschriebenen Zeilen drängten. Er blickte in Hallmeyers blutunterlaufene Augen. Der Mann war halbtot vor Angst. »Zum letztenmal«, sagte Hallmeyer. »Du verwendest deinen neuen Katalysator für die Eisenlösung. Schön. Das ist eine wunderbare Entdeckung.
Ich bescheinige dir das.« Wunderbar war kaum das richtige Wort dafür. Crane litt nicht an Überheblichkeit. Er war nur zufällig darauf gestoßen. Man konnte nur durch ein Wunder auf einen Katalysator stoßen, der einen Kernzerfall von Eisenatomen auslöste und dabei eine Energie von 10 x 1010 Meter-Kilogramm pro Gramm Treibstoff freisetzte. Kein Mensch war so intelligent, um das ganz allein auszudenken. »Glaubst du nicht, daß ich es schaffe?« fragte Crane. »Bis zum Mond? Oder gar zum Mars? Vielleicht. Die Chance steht fünfzig zu fünfzig.« Hallmeyer fuhr sich mit den Fingern durch das Haar. »Aber um Himmels willen, Stephen, ich mache mir deinetwegen keine Sorgen. Wenn du Selbstmord begehen willst, ist das ausschließlich deine Sache. Ich habe nur Angst um die Erde…« »Blödsinn. Geh nach Hause und schlaf dich aus.« »Hör zu«, sagte Hallmeyer und deutete mit zitterndem Finger auf die Papiere. »Egal, wie du die Zuleitung und den Verteiler einstellst, du holst keine hundertprozentige Treibstoffausnutzung beim Zünden der Mischung heraus.« »Deswegen habe ich ja auch nur eine Chance von fünfzig zu fünfzig.« »Der Katalysator! Bestandteile des Katalysators entweichen durch die Düsen. Begreifst du eigentlich, was passiert, wenn ein Tropfen davon die Erde trifft? Das wird eine Kettenreaktion auslösen, der die ganze Erde erfaßt! Jedes Eisenatom, das in der Erdrinde steckt, wird von der Kettenreaktion ergriffen! Und Eisen gibt es überall auf dem Erdball. Es wird dann keine Erde mehr geben, auf die du zurückkehren kannst…« »Wollen wir das alles noch einmal aufwärmen?« erwiderte Crane müde. »Das haben wir alles schon einmal besprochen.« Er nahm Hallmeyer am Arm und führte ihn zum Rückstoßabweiser. Das war eine sechzig Meter tiefe Grube,
mit Schamott ausgekleidet. Die Grube war zwanzig Meter breit. »Das fängt die ersten Rückstoßflammen auf«, sagte er. »Wenn etwas von dem Katalysator austritt, wird er von dieser Grube aufgefangen und durch Sekundärreaktionen vernichtet. Bist du jetzt zufrieden?« »Aber auf dem Flug durch die Atmosphäre«, fuhr Hallmeyer hartnäckig fort, »gefährdest du die Erde, bis du die RocheGrenze hinter dir hast. Die Reste des ungezündeten Katalysators werden schließlich auf die Erde zurückfallen und…« »Zum allerletztenmal«, unterbrach Crane grimmig. »Die Rückstoßflammen werden jeden entweichenden Tropfen des Katalysators vernichten. Und jetzt verschwinde! Ich habe noch zu arbeiten.« Während er Hallmeyer von der Grube wegführte, fuchtelte dieser wild mit den Händen. »Ich werde es nicht zulassen!« rief er. »Ich werde dich daran hindern! Ich werde…« Arbeit? Das war keine Arbeit, sondern die reine Freude. Das Schiff hatte die Anmut eines handgeschmiedeten Floretts. Kein Gedanke an Gefahr oder Tod trübte Cranes Freude, als er die letzten Schaltungen vornahm. Die Rakete stand reisefertig auf der Startrampe, dreißig Meter hoch, ein schimmerndes Gebilde aus Titan und hitzebeständigen Legierungen. Sein eigenes Werk. Oben; unter einer Spezialquarzkuppel, war die Kabinenkapsel. Das meiste darunter war Treibstoff, und dann kamen die Brennkammern über den Schubdüsen. Crane hatte nur einen Gedanken, der seine Freude ein wenig beeinträchtigte. Noch gab es kein Mittel, mit der Rakete auch wieder zurückzukehren. Landeplätze für Raumschiffe dieser Art waren noch keine vorhanden.
Als Crane die Tür abschloß, hörte er Hallmeyers Stimme. Er stand drüben bei der Bürobaracke und fuchtelte mit den Armen. Crane überquerte das Stoppelfeld, das die untergehende Sonne mit Purpur überzog. Tief atmete er die frische Luft ein. »Evelyn ist am Apparat«, sagte Hallmeyer. Crane starrte den älteren Mann an. Hallmeyer benahm sich sonderbar. Er wich seinem Blick aus. »Was soll das bedeuten?« fragte Crane scharf. »Ich dachte, wir hätten uns geeinigt, daß sie mich nicht anrufen soll? Mich in Ruhe lassen soll, bis alles zum Start fertig ist? Hast du ihr vielleicht Flausen in den Kopf gesetzt? Ist das ein Manöver von dir, um mich im letzten Augenblick noch von meinem Projekt abzubringen?« »Nein«, murmelte Hallmeyer und starrte hinüber zum purpurroten Horizont. Crane ging in sein Arbeitszimmer und nahm den Hörer vom Tisch. »Hör zu, Liebling«, begann er ohne Einleitung. »Du brauchst jetzt nicht im letzten Augenblick kalte Füße zu bekommen. Kein Anlaß zur Besorgnis. Ich habe dir alles schon ausführlich erklärt. Kurz vor der Bruchlandung meiner Kapsel steige ich mit dem Fallschirm aus. Es kann überhaupt nichts schiefgehen. Ich liebe dich sehr, mein Kind, und sehe dich am Mittwoch noch einmal, bevor ich starte. Bis dann…« »Bis dann, Liebling«, erwiderte Evelyns klare Stimme. »Und hast du mich deswegen angerufen?« »Dich angerufen?« Ein brauner massiger Körper richtete sich auf der Matte in der Ecke auf. Umber, Cranes Dogge, schnüffelte und stellte die Ohren auf. Dann winselte er. »Sag das noch einmal – ich habe dich angerufen?«
Umbers Hals blähte sich. Er bellte laut und sprang zum Schreibtisch. Er blickte Crane ins Gesicht und warf bellend den Kopf hin und her. »Halts Maul, du Untier!« rief Crane und schob Umber mit dem rechten Fuß zurück. »Gib ihm auch einen Tritt von mir!« sagte Evelyn lachend am anderen Ende der Leitung. »Ja, Liebling – jemand hat mich angerufen und gesagt, du wolltest mit mir sprechen.« »Soso, ich wollte also mit dir sprechen. Paß auf, Evelyn, ich rufe dich später noch einmal an.« Crane legte auf. Er stand nachdenklich vom Schreibtisch auf und beobachtete Umbers seltsames Verhalten. Durch das Fenster floß das Abendrot herein. Umber starrte in das Licht, schnüffelte und bellte wie verrückt. Crane zuckte plötzlich zusammen und stürzte ans Fenster. Jenseits des Feldes leckten Flammen gegen den Himmel. Das Dach des Gebäudes mit den Werkzeugen und Ersatzteilen sackte bereits an einer Stelle zusammen. Menschen spritzten auseinander, retteten sich aus dem Bereich der Flammen. »Gütiger Himmel!« schrie Crane. Er raste aus dem Büro. Umber, der Doggenrüde, dicht hinter ihm. In den Flammen konnte man deutlich die Quarznase des Raumschiffes erkennen. Er mußte die Rakete erreichen, ehe die Aggregate und Steuerelemente zerstört waren. Die Arbeiter kamen keuchend auf ihn zu. Crane starrte sie an, Zorn und Verwirrung zugleich in seiner Stimme: »Was ist passiert? Hallmeyer!« schrie er dann. »Hallmeyer!« Hallmeyer drängte sich durch die Menge. Seine Augen funkelten vor Genugtuung. »Tut mir leid«, murmelte er, »tut mir furchtbar leid, Stephen…« »Du Schwein!« schrie Crane. »Du Angsthase von einem Mann!« Er packte Hallmeyer am Kittel, schüttelte ihn hin und her, stieß ihn zurück und raste auf die Startrampe zu.
Hallmeyer schrie etwas hinter ihm her, und einen Moment später warf sich jemand gegen Cranes Beine und riß ihn zu Boden. Crane wälzte sich herum und ballte die Fäuste. Umber stand neben ihm und fletschte knurrend die Zähne. Dann schlug Crane zu, traf das Gesicht eines zweiten Angreifers, schleuderte ihn gegen einen dritten. Er wirbelte herum und stürzte sich in die Flammen. Zuerst spürte er gar nichts; doch als er die Eisenleiter erreichte, brüllte er vor Schmerzen. Umber winselte am Fuß der Leiter. Crane erkannte, daß die Dogge im Flammenrückstoß umkommen würde. Deshalb zog er Umber mit sich durch die Einstiegluke. Crane verlor fast die Besinnung, als er die Luke luftdicht schloß. Erst als er sich auf der Liegecouch zurücklehnte, wurde ihm etwas besser. Er zurrte sich fest, und nur der Instinkt leitete noch seine Bewegungen, als er die Hand nach dem Instrumentensockel ausstreckte. Instinkt und die Besessenheit, keine Niederlage anzuerkennen. Er würde scheitern – ja. Aber er würde scheitern bei dem Versuch zu siegen. Seine Finger tasteten über die Schalter. Er legte sie in fliegender Eile um. Das Schiff erzitterte, bäumte sich brüllend auf. Dann sank die Nacht des Vergessens über ihn herab… Wie lange war er bewußtlos gewesen? Er wußte es nicht. Crane erwachte von der schneidenden Kälte, die sich auf sein Gesicht legte, und von dem erbärmlichen Winseln und Jaulen des Hundes. Crane blickte auf und sah Umber unter den Trümmern seiner Liegecouch eingeklemmt. Der Anblick reizte ihn zuerst zum Lachen. Dann begriff er plötzlich. Er blickte nach oben! Die Liegecouch war über ihm! Er selbst ruhte in der Quarzkanzel. Das Schiff war hochgestiegen. Doch dann, als es keine Steuerimpulse empfing, hatte es sich selbständig gemacht, sich wieder der Erdmasse zugewendet und stürzte
nun auf den Planeten zurück. Crane drehte sich herum, blickte durch die Quarzkanzel nach unten – und erstarrte. Unter ihm lag der Erdball. Doch das war nicht der vertraute Anblick! Die Erde war ein glühender Ball, in schwarze Rauchfahnen gehüllt. Nur an der nördlichsten Kuppe war noch ein weißes Fleckchen, doch im gleichen Augenblick explodierte auch dieses in einer Säule aus Scharlachrot und Gelb. Hallmeyer hatte doch recht behalten! Minutenlang lag er so in der Quarzkanzel, sah zu, wie die Flammen allmählich in sich zusammensanken und nichts zurückblieb als ein schwarzer Fleck. Und die Schwärze breitete sich in rasender Geschwindigkeit über den ganzen Erdball aus. Das Entsetzen lähmte ihn. Er war unfähig zu begreifen. Er war nicht in der Lage, sich vorzustellen, was da unten vorging. Eine Milliarde Menschen ausgelöscht, ein grüner Planet in Asche und Schlacke verwandelt. Seine Familie, sein Heim, seine Freunde – alles, was ihm einst lieb und teuer gewesen war – vernichtet. Sein Gehirn sträubte sich, an Evelyn zu denken. Als er merkte, daß der Luftwiderstand einsetzte, erwachte in ihm wieder der Instinkt. Was noch an Vernunft in ihm war, redete ihm zu, sich zusammen mit der Kapsel der Vernichtung zu überlassen. Doch der Instinkt, der sich ans Leben klammert, zwang ihn auf die Füße. Er bereitete sich auf den Ausstieg vor. Fallschirm, Sauerstoffmaske, ein Rucksack voller Nahrungsmittel. Ganz benommen kleidete er sich an, schnallte Fallschirm und Rucksack um und öffnete die Ausstiegluke. Umber winselte kläglich. Er befreite den Hund aus den Trümmern und hielt ihn mit beiden Armen fest, als er ins Leere sprang. Doch die Leere war ein heißer dunkler Raum… Die Erinnerung zerbarst. Jäh fand er sich in der Gegenwart wieder – in einer pechschwarzen, zum Schneiden dicken
Gegenwart, die ihn mit einer sanften Last zudeckte und jeden Atemzug zu einer Qual werden ließ. Crane schlug in wilder Panik um sich und beruhigte sich dann wieder. Auch das hatte er schon erlebt. Vor langer, langer Zeit war er ebenfalls tief unter der Asche begraben gewesen. Vor Wochen – oder Tagen – oder Monaten. Crane grub und wühlte, schob sich durch den Aschenhügel voran, den der Wind über ihm aufgetürmt hatte. Und schließlich wurde es wieder hell vor ihm. Der Wind hatte sich gelegt. Höchste Zeit, daß er sich wieder in Bewegung setzte – auf das Meer zu. Die Bilder seiner Erinnerung verflogen wieder vor der grimmigen Wirklichkeit, die sich vor ihm ausdehnte. Crane verzog das Gesicht. Er erinnerte sich viel zu oft. Vielleicht hatte er die vage Hoffnung, daß er etwas von dem wiedergutmachen konnte, was er angerichtet hatte, wenn er sich nur oft genug daran erinnerte. Vielleicht konnte er dann eine winzige Kleinigkeit in seiner Vergangenheit verändern, und das alles um ihn herum war nicht mehr wahr. Er dachte: Es hilft vielleicht, wenn jeder sich erinnert und sich wünscht, Geschehenes möge zu Ungeschehenem werden. Doch es gab ja niemanden mehr. Ich bin der einzige. Ich bin die letzte Erinnerung dieser Erde. Ich bin das letzte Leben. Er kroch. Ellenbogen, Knie, Ellenbogen, Knie – und dann kroch Hallmeyer neben ihm und machte eine große Schau daraus. Er grunzte, kicherte, prustete wie ein Seelöwe. Crane sagte: »Aber warum müssen wir denn unbedingt zum Meer?« Hallmeyer blies Asche in die Luft. »Frag sie doch«, erwiderte er und deutete auf die andere Seite hinüber. Dort war Evelyn. Sie kroch mit ernstem Gesicht dahin, ahmte jede Bewegung von Crane nach, schien ganz bei der Sache. »Es ist wegen dem Haus«, sagte sie. »Du erinnerst dich doch noch an unser Haus, nicht wahr, Liebling! Es steht oben auf
der Klippe. Wir wollten dort wohnen, weil die Luft so gut war und wir morgens schwimmen konnten. Ich lebte dort, als du fortgingst. Und jetzt kehrst du wieder in das Haus am Rande des Meeres zurück. Dort wollen wir zusammenbleiben – nur du und ich. Wie Adam und Eva…« Crane sagte: »Das ist schön.« Dann drehte Evelyn sich um und schrie: »Oh, Stephen, paß auf!« Crane fühlte wieder die Bedrohung hinter sich. Er kroch weiter und spähte über die Schulter. Doch er sah nichts als eine riesige graue Aschenebene. Und als er neben sich blickte, war Evelyn verschwunden, und nur sein schwarzer Schatten war geblieben. Auch der löste sich auf, während die staubigen Lichtsäulen weiterwanderten. Doch die Furcht blieb. Evelyn hatte ihn schon zweimal gewarnt, und sie hatte immer recht behalten. Crane hielt an, wälzte sich herum und setzte sich auf. Wenn er wirklich verfolgt wurde, wollte er der Gefahr ins Auge sehen. Einen schmerzhaften Augenblick lang wurde sein Verstand wieder klar. Mit der Schärfe und Unerbittlichkeit eines Messers drang die Wirklichkeit durch Verwirrung und Fieber in sein Gehirn. Ich werde verrückt, dachte er. Die Fäulnis in meinem Bein ist bis in mein Gehirn vorgedrungen. Es gibt keine Evelyn mehr, keinen Hallmeyer, keine Gefahr. In dieser Öde ist nichts mehr am Leben außer mir. Selbst die Geister und Dämonen der Unterwelt müssen in dem flammenden Inferno umgekommen sein. Nein – außer mir und meiner Krankheit existiert nichts mehr. Ich sterbe bereits – und wenn ich gestorben bin, ist alles Leben gestorben. Nur eine Masse anorganischer Asche wird weiterbestehen. Doch da bewegte sich etwas. Der Instinkt regte sich wieder. Crane ließ den Kopf sinken und stellte sich tot. Durch die Augenschlitze beobachtete er die Aschenebene. Er fragte sich, ob der Tod mit seinem Gesichtssinn sein Spiel trieb. Wieder kam ein Vorhang aus
Regen auf ihn zu. Er hoffte, noch Klarheit zu gewinnen, ehe der Wolkenbruch alle Umrisse verwischte. Ja – da! Eine Viertelmeile entfernt huschte ein graubrauner Schatten über die fahle Ebene. Trotz des Rauschens, das der Regen verursachte, konnte Crane das Rascheln der Asche vernehmen. Auch die kleinen aufgewirbelten Wolken sah er. Er griff nach der Pistole im Rucksack, während sein Verstand versuchte, eine Erklärung zu finden. Das Etwas kam näher, und plötzlich begriff Crane. Als er am Fallschirm auf der verbrannten Erde gelandet war, hatte sich Umber voll Angst aufgebäumt und war ihm aus den Armen gesprungen. »Ja, das ist doch Umber!« murmelte er. Der Hund blieb stehen. »Hierher, Junge!« krächzte Crane, freudig überrascht. »Hierher, Junge!« Er war schier außer sich vor Freude. Eine trostlose Einsamkeit hatte ihn bisher begleitet. Ja, das entsetzliche Gefühl, der einzige in der Leere zu sein. Doch jetzt war er nicht mehr allein. Es gab noch ein Leben. Ein freundliches Leben, das ihm Liebe und Kameradschaft entgegenbringen würde. Die Hoffnung lebte wieder auf. »Hierher, Junge!« wiederholte er. »Komm her, Junge…« Nach einer Weile gab er es auf, mit dem Finger zu schnalzen. Die große Dogge blieb stehen, fletschte die Zähne und ließ die Zunge heraushängen. Der Hund war bis auf das Skelett abgemagert, und seine Augen glühten rot und böse im Zwielicht. Als Crane noch einmal rief, ließ der Hund ein heiseres Knurren hören. Die Asche stob unter seinen Nüstern weg. Er ist hungrig, dachte Crane, das ist alles. Er griff in den Rucksack, und bei dieser Bewegung knurrte der Hund von neuem. Crane zog die Schokolade heraus und schälte sie mühsam aus dem Papier. Er warf sie dem Tier zu. Sie fiel zu kurz. Nach einer Minute lauernder Ungewißheit rückte die
Dogge langsam vor und verschlang das Futter. Die Asche überzog seine Lefzen mit grauem Puder. Ununterbrochen das Maul leckend, kam die Dogge noch näher. Panik regte sich in Crane. Eine Stimme wisperte in ihm: Das ist kein Freund. Er hat weder Liebe noch Kameradschaft für dich übrig. Liebe und Kameradschaft sind mit dem Leben auf dieser Erde ausgestorben. Außer Hunger ist nichts geblieben. »Nein…«, flüsterte Crane. »Das ist nicht richtig. Wir sind das letzte Leben auf dieser Erde. Es ist nicht fair, daß wir uns gegenseitig zerfleischen…« Doch Umber kam jetzt schräg auf ihn zugeschlichen. Die Fänge schimmerten weiß und spitz. Noch während Crane die Dogge ansah, stürzte sie sich knurrend auf ihn. Crane schlug mit dem Arm von unten gegen die Schnauze. Doch die Wucht des Anpralls warf ihn um. Er schrie vor Schmerz auf, als der Hund auf seinem gebrochenen, geschwollenen Bein landete. Mit der freien Hand schlug er zu, immer wieder, spürte kaum die Zähne der Dogge, die an seinem linken Arm rissen. Dann spürte er etwas Metallenes unter sich und erinnerte sich an die Pistole. Er lag auf der Waffe. Er tastete danach und betete, daß die Asche nicht den Mechanismus unbrauchbar gemacht hatte. Als Umber seinen Arm losließ, um ihm an die Kehle zu fahren, konnte er die Waffe heben. Crane preßte sie blindlings gegen den Körper der Dogge. Er drückte so lange ab, bis die Detonationen verhallten und das Magazin leergeschossen war. Umber lag zuckend in der Asche. Die Kugeln hatten ihn beinahe in Stücke gerissen. Das Grau färbte sich hellrot. Evelyn und Hallmeyer blickten traurig auf den Kadaver hinunter. Evelyn weinte, und Hallmeyer fuhr sich mit der für ihn so typischen Geste durchs graue Haar. »Das ist das Ende, Stephen«, sagte er. »Du hast einen Teil deines Selbst getötet. Oh, du wirst noch weiterleben, ja, aber
nur mit halber Flamme. Begrabe die Leiche, Stephen. Denn es ist die Leiche deiner Seele.« »Ich kann ihn nicht begraben«, sagte Crane. »Der Wind wird die Asche wieder fortblasen.« »Dann verbrenne ihn…« Es schien, als halfen sie ihm, den Hundekadaver in seinem Rucksack zu verstauen. Sie halfen ihm auch beim Ausziehen und als er seine Kleidungsstücke unter den Rucksack schob. Sie hielten die Hände schützend vor das Streichholz, bis der Stoff Feuer fing, und bliesen in die Flamme. Crane kauerte so lange in der Asche neben dem Bündel, fächelte und blies, bis auch das in grauen Staub zerfallen war. Dann wendete er sich erneut dem Hang zu und kroch ins Bett des Ozeans hinunter. Er war jetzt nackt. Es war nichts mehr von dem geblieben, was einmal war, bis auf ein flackerndes Lebensfünkchen. Der Kummer erfüllte ihn so sehr, daß er den peitschenden Regen gar nicht mehr spürte, der ihm die Haut gerbte; auch nicht den stechenden Schmerz, der aus seinem brandigen Bein hinauf bis in die Hüfte zuckte. Er kroch. Ellenbogen, Knie, Ellenbogen, Knie – hölzern, mechanisch, apathisch gegenüber seiner Umgebung. Er sah nicht den schiefergrauen Himmel, nicht die öden Aschenebenen und auch nicht das bleierne Naß, das weit vor ihm lag. Er wußte, daß dort das Meer war – was davon übriggeblieben war oder sich bereits wieder neu bildete. Doch es würde ein leeres, ödes, lebloses Meer sein, das eines Tages gegen ein ödes, lebloses Gestade anbranden würde. Die Erde würde ein Planet aus Stein und Sand, aus Metall und Schnee, aus Eis und Wasser sein. Aber das war auch alles. Kein organisches Leben mehr. Er allein war nutzlos. Er war Adam – aber es gab keine Eva. Evelyn winkte ihm vom Ufer aus fröhlich zu. Sie stand neben dem weißen Haus, während der Wind ihr Kleid bauschte und
ihm die Umrisse ihres schlanken, frischen Körpers zeigte. Und als er etwas näher herankam, lief sie ihm entgegen und half ihm. Sie sagte nichts, legte nur die Hände unter seine Achseln und stemmte mit ihm zusammen das Gewicht seines schmerzgeplagten Körpers hoch. Und so erreichte er endlich das Meer. Es war Wirklichkeit. Das begriff er wohl. Denn selbst als Evelyn und das Haus wieder verschwanden, spürte er noch das kalte Wasser im Gesicht. Das Meer umspülte ihn. Hier ist das Meer, dachte Crane, und hier bin ich. Adam ohne Eva. Es ist hoffnungslos. Er schob sich noch ein bißchen weiter ins Wasser. Die Wellen badeten seinen zerschundenen Körper. Ruhig – lautlos… Er lag auf dem Rücken, blickte zum Himmel hinauf, in das drohende Grau, und Bitterkeit stieg in ihm auf. »Es ist nicht gerecht!« schrie er. »Es ist nicht fair, daß das alles vergehen soll! Das Leben ist zu schön, als daß es durch einen Fehler eines einzigen Verrückten zugrunde gehen darf…« Lautlos badeten ihn die Wellen. Ruhig – lautlos… Das Meer wiegte ihn leicht hin und her. Selbst der Tod, der nach seinem Herzen griff, tat es mit schonender Hand. Plötzlich riß die Wolkendecke auf – zum erstenmal in all den Monaten –, und Crane starrte hinauf zu den Sternen. Und dann kam ihm die Erleuchtung. Das war nicht das Ende des Lebens. Es würde nie ein Ende des Lebens geben. In seinem Körper, in dem zerfallenden Gewebe, das willenlos auf den Wellen schaukelte, lag die Quelle für unzählige Millionen neuer Leben. Zellen – Gewebe – Bakterien – Amöben – Viren – unzählige Unendlichkeiten neuen Lebens, die im Wasser weiterleben würden, nachdem er schon längst zerfallen war. Sie würden sich von seinem sich zersetzenden Körper ernähren. Sie würden einander fressen. Sie würden sich der neuen Umgebung anpassen und sich von den Mineralien und
dem Schlamm ernähren, den der Regen ins Meer spülte. Sie würden sich in diesem neuen Meer vermehren, wachsen, gedeihen, sich entwickeln. Das Leben würde wieder auf das Land zurückkehren. Der Lebenszyklus würde von vorn beginnen, wie das irdische Leben vielleicht schon einmal aus dem verfaulenden Körper des letzten Überlebenden eines gestrandeten Raumschiffes auf dieser Erde seinen Ausgang genommen hatte. Und so etwas könnte in ferner Zukunft wahrscheinlich wieder geschehen. Jetzt wußte er auch, welcher Instinkt ihn zum Meer hingezogen hatte. Das Leben brauchte keinen Adam – und keine Eva. Es brauchte nur das Meer, die Urmutter allen Lebens und der Zeugung. Das Meer hatte ihn zu sich gerufen, damit sich das Leben erneuern konnte. Er war zufrieden. Behutsam schaukelten ihn die Wellen. Ruhig – lautlos… Die Mutter des Lebens wiegte das Letztgeborene des alten Zyklus. Es sollte das Erstgeborene des neuen Zyklus werden. Und mit brechenden Augen lächelte Stephen Crane zu den Sternen hinauf. Sterne, die sich über das ganze Firmament verteilten. Mit ihm versanken die vertrauten Sternbilder in ewiger Vergessenheit. Hunderte von Millionen Jahren würden vergehen müssen, bevor irdische Lebewesen sie neu entdeckten und nach ihnen griffen…
Originaltitel: ADAM AND NO EVE. Copyright 1941 by Street and Smith Publications, Inc. Aus ASTOUNDING SCIENCE FICTION September 1941.