ULLSTEIN 2000
SCIENCE FICTION STORIES 1 von James H. Schmitz Eric Frank Russell A. Bertram Chandler
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ULLSTEIN 2000
SCIENCE FICTION STORIES 1 von James H. Schmitz Eric Frank Russell A. Bertram Chandler
Ausgewählt und zusammengestellt von Walter Spiegl
ein Ullstein Buch
ULLSTEIN BUCH NR. 2760 IM VERLAG ULLSTEIN GMBH, FRANKFURT/M – BERLIN – WIEN Aus dem Amerikanischen übersetzt von Bodo Baumann
ERSTMALS IN DEUTSCHER SPRACHE Umschlagentwurf: Herbert Papala Alle Rechte vorbehalten Übersetzung © 1970 by Verlag Ullstein GmbH, Frankfurt/M – Berlin – Wien Printed in Germany, West-Berlin 1970 Gesamtherstellung Druckhaus Tempelhof
Man brauchte Waffen auf der Erde für die unzähligen Kriege, neuartige und möglichst wirkungsvolle. Dafür war man bereit, viel Geld zu zahlen. Commander Hiskey würde ein reicher Mann sein, wenn es ihm gelänge, den Rilf und seine Söldnertruppe auf die Erde zu schmuggeln. Und er hatte auch schon einen todsicheren Plan, wie er glaubte… HÜTER DER MENSCHHEIT von James H. Schmitz Der Planet in diesem entlegenen Winkel des Weltalls war so ganz anders als alles, was Steve bisher erlebt hatte. Von jedem Tier, von jeder Pflanze gab es nur ein Exemplar; wie in einer gigantischen Musterkollektion… DER BASTLER von Eric Frank Russell Falsen hatte seinem Kapitän das Leben gerettet. Deshalb brachten sie ihn nicht um, wie sie es mit fast allen seiner Schicksalsgenossen machten, sondern setzten ihn auf dem unbewohnten Planeten Antares VI aus. Bloß weil er Katzen nicht ausstehen konnte, und Katzen ihn nicht… DIE AUSGESTOSSENEN von A. Bertram Chandler
James H. Schmitz HÜTER DER MENSCHHEIT
McNulty war ein Rilf. Bei oberflächlicher Betrachtung hätte man ihn für einen Menschen halten können. Aber die menschenähnlichen Züge des breitflächigen wachsbleichen Gesichtes und die großen Hände waren das Ergebnis einer geschickten Operation. Da die Chirurgen des Planeten Rilf nur eine vage Vorstellung davon hatten, was Menschen unter einem gutaussehenden Mann verstanden, waren McNultys Züge nicht gerade hübsch. Doch ihre praktischen Zwecke erfüllten sie vollkommen. Eine andere Eigenheit der Rilf-Rasse mußte McNulty sehr sorgfältig unterdrücken: seinen Körpergeruch. Auf Menschen wirkte er genauso abstoßend wie umgekehrt die Ausdünstungen der Erdbewohner auf ihn selbst. Deshalb rieb sich McNulty zweimal täglich mit einem sehr starken geruchneutralisierenden Mittel ein. Die Ausdünstungen der Menschen ertrug er mit stoischer Geduld. Seine Bewegungen und seine Haltung waren nicht auffallend, aber irgend etwas stimmte damit nicht, wenn man näher hinsah. Er sprach ein vorzügliches Englisch und beherrschte außerdem noch vier weitere Hauptsprachen der Erde. Wenigstens so gut, daß er sich verständlich machen konnte. Doch seine Aussprache war guttural, und seine Stimme klang wie das Quaken eines Ochsenfrosches. Auf manche unter den Irdischen wirkte McNulty wie ein Schock. Andere wieder mochten ihn einfach nicht. McNulty störte sich nicht daran. Er hatte nur
geschäftlich mit einer Handvoll Menschen zu tun, und denen war sein Aussehen gleichgültig. Für Jake Hiskey, Commander und Eigentümer des Raumschiffes Prideful Sue, war McNulty ganz und gar kein unerfreulicher Anblick. Er fand ihn genauso reizvoll wie einen Blankoscheck oder einen Safe mit einer Million Dollar. Denn diese Summe war er tatsächlich wert, wenn Hiskey in den nächsten Tagen geschickt seine Trümpfe ausspielte. Kein Wunder, daß sich der Captain die Hände rieb, ehe er auf den Knopf neben McNultys Kabinentür drückte. »Wer ist da?« kam die Stimme über die Sprechanlage. »Jake. Ich habe Nachrichten – gute Nachrichten!« Die Türsperre löste sich, und das Kabinenschott schwang auf. Während Hiskey in den Raum trat, sah er, wie die Tür in der gegenüberliegenden Kabinenwand hastig geschlossen wurde. Dahinter lag der Wohnraum des zweiten Rilf, der an Bord der Prideful Sue zu Gast weilte. Die Mannschaft nannte ihn Barnes. Barnes’ Geruchssinn reagierte auf menschliche Ausdünstungen viel empfindlicher als McNultys. Welchen Rang Barnes bei seinem eigenen Volk bekleidete, ließ sich nicht genau feststellen. Vielleicht war er stellvertretender Kommandeur von McNultys Söldnertruppe. Vielleicht war er aber auch weiblichen Geschlechts und McNultys Partnerin. Das setzte allerdings wieder voraus, daß McNulty ein Mann war, was sich nicht ohne weiteres beweisen ließ, weil die Rilf sehr selten von ihrer Rasse und ihren täglichen Gewohnheiten sprachen, und man wußte nur, daß die Rilfs ein großes Potential an natürlichen Waffen besaßen, die sie vermieteten. Mit dem Erlös kauften sie hochentwickelte Produkte der menschlichen Technik ein. Der Preis für Söldnerdienste war hoch, und die Rilfs waren ziemlich habgierig. Doch Jake Hiskey konnte sich das leisten.
»Sie müssen Barnes entschuldigen«, sagte McNulty und blickte von dem Bildbetrachter auf, vor dem er saß. »Er fühlt sich nicht wohl.« Hiskey nickte nur. Dann deutete er auf das Tischgerät und fragte: »Was studieren Sie denn da?« McNulty und Barnes waren nämlich sehr wißbegierig. In jeder freien Minute erweiterten sie ihr Wissen über das Operationsgebiet, wo sie eingesetzt werden sollten. »Die jüngere Geschichte der Erde«, antwortete McNulty, »der letzten drei Jahre. Ich muß gestehen, die Situation sieht sehr vielversprechend aus.« Hiskey grinste. »Wem sagen Sie das! Für uns…« McNulty schaltete den Bildbetrachter aus. »In den vergangenen zwei Tagen an Bord habe ich die Berichtaufzeichnungen über zweiundvierzig sogenannte Kleinkriege auf Ihrem Planeten studiert«, unterbrach McNulty Hiskey mitten im Satz. »Weitere solcher lokalisierten Kriege stehen dicht vor dem Ausbruch. Ist das der Normalzustand?« Hiskey lachte. »Zweiundvierzig lokal begrenzte Kriege? Das ist ein geradezu paradiesischer Zustand! Aber vielleicht treibt unser Eingreifen die Statistik wieder ein bißchen in die Höhe!« Hiskey zog sich einen Stuhl heran und setzte sich. »Allerdings bin ich seit acht Jahren nicht mehr in der Nähe unseres Planeten Erde gewesen. Ich habe auch die Tagesereignisse nicht genau verfolgt. Aber viel kann sich auf der Erde nicht geändert haben. Vor fast hundert Jahren ist die Weltregierung so gut wie zusammengebrochen. Stadtstaaten, Provinzen, Seestädte, Dachorganisationen, subversive Verbände und was nicht noch alles beherrschen die Erde, bekriegen sich untereinander und machen, was sie wollen. Das wird auch in absehbarer Zukunft andauern. Machen Sie sich deswegen keine Sorgen.« »Ich mache mir auch gar keine«, brummte McNulty. »Meine Studien haben gezeigt, daß es für uns auf der Erde Aufträge in
Hülle und Fülle gibt. Sie haben uns keine leeren Versprechungen gemacht, Jake. Und was für interessante Neuigkeiten bringen Sie jetzt? Haben Ihre Verbindungsleute auf dem Planeten Erde eine Möglichkeit entdeckt, so daß wir ohne weiteren Verzug auf dem Planeten landen können?« »Nein«, antwortete Hiskey und schüttelte den Kopf. »So rasch geht das nicht. Es dauert mindestens fünf Tage, ehe alle Maßnahmen getroffen sind. Wir müssen sehr vorsichtig sein. Niemand darf etwas ahnen, ehe Sie und Ihre Leute einsatzbereit sind.« McNulty nickte. »Ich verstehe Ihre Vorsicht nur zu gut.« »Folgende Situation ist entstanden«, fuhr Hiskey fort. »Wir liegen im Augenblick vor einem Außeninstitut der Raumuniversität. Unser Navigator ist vor einer halben Stunde mit der Raumfähre hinüber zur Station geschwebt um zu erkunden, wo er sich mit seiner Schwester treffen kann. Sie ist Studentin an der Raumuniversität. Und die beiden haben sich natürlich acht Jahre lang nicht mehr gesehen.« »Sie ist Doktorandin«, berichtigte McNulty, der Ungenauigkeit haßte. »Ihr Name ist Elisabeth, und sie ist drei Erdjahre jünger als Gage. Ich habe Ihnen beiden gestern zugehört, und Gage hat diese Einzelheiten ausdrücklich erwähnt.« »Kann schon sein«, meinte Hisky wegwerfend. »Auf jeden Fall bekam er von der Station der Raumuniversität die Auskunft, daß sie gegenwärtig als Gast auf einem privaten Asteroiden weilt. Gage hat mit seiner Schwester gesprochen. Die Leute, denen der Asteroid gehört, haben sich fernmündlich angeboten, Gage abzuholen, damit er ein paar Tage mit seiner Schwester als Gast bei ihnen verbringen kann. Gage hat mich deshalb um Urlaub gebeten. Ich befahl ihm, der Besatzung des Asteroiden mitzuteilen, ich würde ihn persönlich mit der Prideful Sue zur Schleuse des Asteroiden bringen. Wir hätten
genügend Zeit, weil wir unter Zollquarantäne liegen. Die Leute auf dem Asteroiden haben meinem Vorschlag zugestimmt. Sobald wir an der Schleuse anlegen, werde ich dafür sorgen, daß ich ebenfalls als Gast auf dem Asteroiden wohnen darf.« »Ist das die große Neuigkeit?« fragte McNulty. Hiskey grinste. »Es steckt ein bißchen mehr dahinter, als Sie glauben. Haben Sie beim Studium der Filme auch etwas über die Asteroiden des Erdsystems erfahren?« »Ja. Sie wurden zweimal kurz erwähnt«, erwiderte McNulty. »Sie scheinen keine engen Bindungen zur Erde zu haben und sich aus allen Kriegen herauszuhalten. Für uns also ohne Bedeutung.« »Irrtum«, sagte Hiskey. »Jeder dieser Asteroiden ist eine Miniwelt für sich. Sie sind von der Erde völlig unabhängig. Ihre Verträge mit der Verwaltung des Erdsystems garantieren ihnen die Unabhängigkeit, solange sie bestimmte Bedingungen erfüllen. Aus dem Gespräch, das Gage mit seiner Schwester geführt hat, geht hervor, daß Elisabeth sich auf einem luxuriösen Ferienasteroiden aufhält. Er gehört einem gewissen Professor Alston. Es gibt dort eine Handvoll Leute, ein paar Tiere und alles, was man zum Leben braucht.« »Inwieweit betrifft das uns?« fragte McNulty. »Ich glaube, diese Leute könnten wir für unsere Pläne einspannen. Ich habe Ihnen schon gesagt, daß die Erdsystempolizei unsere Pläne durchkreuzen kann, wenn wir ihre Neugierde wecken, wenn wir uns mit der Prideful Sue fünf oder sechs Tage hier nahe der Raumuniversität aufhalten.« »Ja, das haben Sie gesagt«, bestätigte McNulty. »Aber jetzt möchte ich Sie was fragen: Aus diesen Bildberichten geht hervor, daß das Erdsystem keine Hoheitsrechte über Erdplanet ausübt. Warum sollte sich dann die Systempolizei für die Ladung Ihres Raumschiffes interessieren, die ja als Importware für Erdplanet deklariert ist?«
Hiskey zuckte die Achseln. »Wenn Sie mich fragen: reine Wichtigtuerei. Die Systempolizei wurde vor vierzig Jahren von der Erde vertrieben, aber sie führt sich heute noch so auf, als sei sie für alles verantwortlich, was auf dem Planeten geschieht. Und sie hat tatsächlich genügend Macht, um den Weltraum in Erdnähe zu kontrollieren. Den Leuten auf der Erde paßt das natürlich nicht, aber sie können nichts dagegen unternehmen. Bekommt aber die SP einen Wink, daß wir eine Schiffsladung Rilfs auf der Erde absetzen wollen, verweigern sie uns die Weiterfahrt. Solange wir uns unverdächtig benehmen, lassen sie uns jedoch in Ruhe. Verlassen können wir uns natürlich nicht darauf. Wenn wir aber die Prideful Sue in das Kraftfeld des Asteroiden bringen, können uns die Polizeischiffe nicht orten und sind dann auch dank der Verträge zwischen Erdsystem und den Asteroiden für uns nicht mehr zuständig. Dann dürfen sie uns nicht mehr behelligen, selbst wenn sie es wollten.« »Glauben Sie, Professor Alston gestattet Ihnen, mit Ihrem Schiff anzulegen?« »Nein, das bezweifle ich. Soweit wird seine Gastfreundschaft nicht gehen. Aber er wird sich kaum weigern können, mich für eine Stunde auf seinen Asteroiden zu bitten. Schließlich bin ich der Vorgesetzte von Harold Gage. Erzähle ich dann dem Professor davon, daß ich einen sehr interessanten Fremdling an Bord habe, den ersten Vertreter einer im Erdsystem unbekannten Rasse, wird er bestimmt neugierig werden und Sie ebenfalls einladen. Aber Sie gehen nicht allein, verstehen Sie? Wir können nämlich fast die Hälfte meiner Mannschaft so lange in der Raumfähre verstecken, bis wir die Männer brauchen.« McNulty zeigte zum erstenmal Interesse. »Ein paar Leute wohnen auf so einem Asteroiden, haben Sie gesagt?«
»Höchstens fünfzig, wenn es sich um einen größeren Asteroiden handelt. Wahrscheinlich werden sich auf diesem nicht mehr als fünfundzwanzig Menschen aufhalten. Privatleute wollen ungestört sein. Das ist auch der Grund, warum sich die Reichen solche Asteroiden zugelegt haben: um der Übervölkerung der Erde zu entrinnen. Nur ein Asteroid garantiert heute noch ungestörtes Privatleben und ungetrübten Genuß der Natur.« »Aber dann gibt es dort bestimmt sehr wirksame Alarm- und Schutzvorrichtungen«, sagte McNulty. »Genau, McNulty. Diese Asteroiden sind genauso eingerichtet wie Raumschiffe. Im Grunde sind sie nämlich gar nichts anderes: große, natürliche Raumfahrzeuge. Die meisten von ihnen kreisen um die Sonne. Aber sie sind auch aus eigener Kraft lenkbar.« »Dann muß auch das Steuersystem dem eines Raumschiffes entsprechen«, meinte McNulty nachdenklich. »Auf kleinstem Raum konzentriert. Wir brauchen also höchstens eine Stunde, um mit den Geräten umgehen zu können.« »Weniger«, sagte Hiskey. Im Vergleich zur menschlichen Technik steckte die der Rilf in den Kinderschuhen. Aber diese Burschen lernten schnell, und die meisten von ihnen, wie McNulty zum Beispiel, zeigten ein außerordentliches Interesse an Maschinen und Apparaten, die von den Menschen entwickelt worden waren. Auf der Prideful Sue gab es nicht eine Schraube, deren Funktion McNulty nicht studiert hätte. »Eine endgültige Entscheidung können wir natürlich erst treffen, sobald wir beide die Lage an Ort und Stelle erkundet haben«, fuhr Hiskey fort. »Aber ich sehe keine Komplikationen voraus. Wir besetzen den Kontrollraum, schalten alle Sende- und Fernmeldeeinrichtungen ab – und der Asteroid gehört uns.«
»Mag sein, daß der Handstreich so rasch gelingt, wie Sie glauben«, sagte McNulty. »Aber erst danach beginnen die Schwierigkeiten.« »Was für Schwierigkeiten?« »Die Bewohner der Asteroiden leben schließlich nicht völlig isoliert. Wenn ein Asteroid sich plötzlich passiv verhält und auf den Funkverkehr nicht mehr anspricht, muß die Systempolizei mißtrauisch werden. Sie wird der Sache nachgehen, ob sie nun dazu berechtigt ist oder nicht.« Hiskey schüttelte den Kopf. »Nein, das wird die Polizei nicht tun, McNulty. Deshalb ist die Sache auch so einfach.« »Bitte erklären Sie das«, sagte McNulty. »Ein privater Asteroid hat das Recht, alle Verbindungen zur Umwelt zu unterbrechen. Irgendwie hängt das mit Forschungsprojekten der Raumuniversität zusammen. Dabei legen sie ein Kraftfeld um den Asteroiden und igeln sich ein. Es bleibt ihnen überlassen, wann sie mit ihren Nachbarn wieder Verbindung aufnehmen wollen. Ich habe gehört, daß manche Asteroiden zehn Jahre lang Funkstille bewahrten. Soviel ich weiß, sind sie sogar verpflichtet, jedes Jahr mindestens einen Monat lang abzuschalten. Jedenfalls regt sich niemand auf, wenn der Kontakt zu Professor Alstons Asteroid plötzlich abbricht. Man wird geduldig abwarten, bis er sich wieder meldet.« McNulty dachte eine Weile nach. »Sie haben recht«, gab er schließlich zu. »Scheint ein guter Plan zu sein. Entschuldigen Sie mich einen Augenblick, Jake.« Ohne Hiskey aus den Augen zu lassen, sprach der Rilf jetzt in seiner Muttersprache weiter. Das hörte sich an wie Wasserrauschen. Über die Sprechanlage kam die Antwort aus der Nachbarkabine, wo Barnes sich aufhielt. Die Unterhaltung dauerte ungefähr zwei Minuten. Dann senkte McNulty zustimmend den Kopf.
»Barnes findet Ihren Plan ausgezeichnet, Jake. Die Beseitigung der Bewohner des Asteroiden scheint kein Problem zu sein.« Hiskey machte ein erstauntes Gesicht. »Ich hatte nicht vor, sie umzubringen, sofern sie sich uns nicht widersetzen.« »Aber sie auszuschalten, ist unerläßlich.« »Warum? Wir brauchen den Asteroiden doch nur ein paar Tage lang.« »Jake, überlegen Sie doch! Das zweite Raumschiff kreuzt außerhalb des Hoheitsgebietes der Systempolizei. An Bord befinden sich fünfundfünfzig Rilf mit ihrer Ausrüstung: unsere Kampfgruppe. Vier meiner Rassegenossen sehen menschenähnlich aus wie Barnes und ich. Die anderen aber nicht. Die Systempolizei darf sie auf keinen Fall sehen!« »Natürlich nicht«, stimmte Hiskey zu. »Aber die Systempolizei wird sie ja gar nicht sehen können, wenn wir dafür sorgen, daß wir sie ohne Verzögerung zur Erde schaffen – mit Hilfe des Asteroiden.« »Mag schon sein«, antwortete McNulty. »Aber Ihr Plan schafft eine ganz neue Situation. Wenn wir den Asteroiden erobert haben, besitzen wir einen Stützpunkt nur wenige Stunden von der Erde entfernt. Wir lassen ein Drittel unserer Leute als Reserve dort zurück und haben ein Druckmittel gegen unsere Auftraggeber auf der Erde, falls sie uns um unseren Sold betrügen wollen. Aus diesem Grunde müssen die Bewohner des Asteroiden ausgeschaltet werden. Wir können es uns nicht leisten, Gefangene zu machen, die ständig bewacht werden müssen. Zu viel Geld steht auf dem Spiel.« »Ja, ich glaube, von Ihrem Standpunkt aus betrachtet…« »Wir können auch keine Ausnahme machen«, unterbrach ihn McNulty. »Kein Zeuge darf am Leben bleiben. Er könnte sonst beträchtlichen Schaden anrichten. Deshalb müssen wir auch Gages Schwester töten. Als Mitglied unserer Expedition bekommt er einen Teil der Beute. Das wird ihn für den Verlust
der Schwester entschädigen.« Hiskey starrte den Rilf eine Weile lang an. »Manche Dinge verstehen Sie leider nicht, McNulty«, sagte er. »Harold Gage wird sich niemals damit abfinden, daß man seine Schwester umbringt, und wenn Sie ihm noch soviel Geld bieten.« »So? Sie müssen Gage ja besser kennen als ich«, erwiderte McNulty. »Daraus folgt…« »Ich weiß, was daraus folgt. Wir hätten Gage sowieso in die Wüste schicken müssen. Er wäre keinesfalls damit einverstanden gewesen, daß wir den Asteroiden besetzen. Auch dann nicht, wenn es gewaltlos geschähe und seine Schwester auf einem ganz anderen Stern leben würde. Gage und ich waren einmal Freunde, doch jetzt kommt er mir immer öfter in die Quere. Wir befinden uns im Raumbereich des Erdsystems. Da können wir auf einen Navigator verzichten. Wenn die Menschen auf dem Asteroiden sterben müssen, stirbt auch er.« »Was wird Ihre Mannschaft dazu sagen?« Hiskey schüttelte den Kopf. »Gar nichts. Er hat keine Freunde an Bord – schon seit zwei Jahren nicht mehr. Wir brauchten ihn als Navigator, das war alles. Wenn er ausscheidet, bekommen die anderen seinen Anteil. Nein, Sie können ganz beruhigt sein. Keiner von der Mannschaft wird sich darüber aufregen, wenn wir den Navigator beseitigen.« »Ich habe den Eindruck, daß er ein ziemlich gefährlicher Mann ist«, meinte McNulty. »Ich möchte ihm nicht gegenüberstehen, wenn er eine Waffe in der Hand hält«, sagte Hiskey. »Aber wenn man auf einen Asteroiden eingeladen wird, nimmt man in der Regel keine Waffe mit. Nicht wahr? Nein, wegen Gage brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen.« McNulty entgegnete, er freue sich, das zu hören, und fügte hinzu: »Die Liquidierung der Menschen auf dem Asteroiden hat noch einen weiteren Vorteil.
Ehe ich nämlich die Truppe unseren Auftraggebern vorführen kann, brauchen wir nach der langen Pause an Bord Zeit für Training.« Hiskey verzog das Gesicht. »Ich dachte, diese Dinger wären jederzeit einsatzbereit.« »Nein. Wenn Sie gestatten…«, sagte McNulty und langte mit der rechten Hand unter sein Jackett. Dann schüttelte er sich kurz und zog die Hand wieder zurück. Einen Augenblick lang sah man etwas gläsern schimmern. Dann war es verschwunden, aber irgend etwas bewegte sich mit lautem Summen hinter Hiskey an der Kabinenwand entlang. Der Kommandant des Raumschiffes saß unbeweglich da und wagte kaum zu atmen. Das Blut wich ihm langsam aus dem Gesicht. »Keine Angst, Jake«, sagte McNulty. »Die Droge, die ich Ihnen und Ihren Besatzungsmitgliedern eingebe, macht Sie immun wie einen Rilf gegen die tödliche Wirkung der Tozien.« Er hob die Hand. »Aha! Es hat sich der neuen Umgebung angepaßt. Wir können es nicht mehr hören!« Das Summen war inzwischen leiser geworden. Als McNulty verstummte, herrschte völlige Stille. Doch das unsichtbare Ding bewegte sich immer noch in der Kabine. Hiskey spürte den Luftzug an seiner linken Wange, dann an seiner rechten, als inspiziere ihn das Tozien, und obwohl McNulty ihm versichert hatte, es bestünde keine Gefahr, saß er unbeweglich da. »Ich glaube, das genügt«, murmelte McNulty. Hiskey hatte keine Ahnung, wie die Rilf ihre Tozien wieder zurückriefen. Er sah es kurz bewegungslos auf McNultys Jackett sitzen – eine glasähnliche, unregelmäßig geformte Scheibe von der Größe einer Männerhand. Dann verschwand es wieder unter dem Stoff, und McNulty schloß sein Jackett. Hiskey holte tief Luft. »Verstehen Sie, was ich meine?« fuhr McNulty fort. »Das Tozien war ungefähr zwanzig Sekunden lang zu hören. Das ist
ein Nachteil, der auf die lange Ruhepause zurückzuführen ist. Unsere Tozien reagieren augenblicklich alle so.« Hiskey wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Wenn die Tozien nur ein paar Sekunden brauchen, um voll einsatzfähig zu sein, was bedeutet das schon?« McNulty schüttelte vorwurfsvoll den Kopf. »Diese zwanzig Sekunden reichen, um das Opfer zu warnen. Vielleicht hat es sogar Glück und kann sich rechtzeitig in Sicherheit bringen, Jake! Bei einem Angriff der Tozien darf niemand dem Tod entrinnen, der sich nicht bereits hinter dicken Betonwänden oder in einem gepanzerten Fahrzeug befindet. Das ist ja der entscheidende Vorteil unser Waffe! Bei meinem letzten Auftrag befand ich mich mitten unter bewaffneten Männern, als ich die Tozien losließ. In Bruchteilen von Sekunden war die Luft voller unsichtbarer, lautloser Messer, die alle auf einmal zustachen. Die Menschen starben ohne einen Laut. Das nenne ich saubere Arbeit. Ich bin Perfektionist. Es muß alles klappen wie am Schnürchen, wenn wir unsere Tozien den Auftraggebern auf der Erde vorführen. Damit die Vorführung ein sicherer Erfolg wird, sollen mir die Menschen und Tiere auf dem Asteroiden zu Trainingszwecken dienen.« »Nun, die Tozien sind natürlich Ihre Angelegenheit«, sagte Hiskey, aber er konnte ein Beben in seiner Stimme nicht ganz unterdrücken. Auf der gleichen Umlaufbahn wie der Erdplanet kreiste auch Professor Alstons Asteroid um die Sonne. Von seinem Asteroiden aus konnte er den Erdplanet nicht sehen, weil die Sonne dazwischen stand. Die Bewohner des Asteroiden beklagten sich nicht darüber, daß sie den Mutterplaneten nie zu Gesicht bekamen. Sie waren mit dem zufrieden, was sie hatten. Früher war die Oberfläche des Asteroiden eine Kraterlandschaft gewesen; jetzt hatte man einen gepflegten,
blühenden Garten daraus gemacht. Die Lufthülle reichte nur 200 Meter hoch, und Kraftfelder verhinderten, daß die künstliche Atmosphäre in den Weltraum entwich. Blickte man aber hinauf in den Himmel, meinte man, auf dem Erdplaneten zu sein. Winde wehten und Wolken zogen über den Baumwipfeln dahin. Es regnete auf Bestellung. Kein Mensch störte sich daran, daß alles künstlich gesteuert wurde. Wenigstens klagte keiner über das Wetter… Es hatte viel Geld gekostet, den Asteroiden aus der Umlaufbahn der »Kleinen Planeten« zwischen der Mars- und Jupiterbahn herauszuholen, ihn in die neue Bahn zu bringen, ihn mit Maschinen auszurüsten, die Oberfläche erdähnlich zu machen, das magnetische Kraftfeld an den Polen einzubauen und ihn in eine Eigenrotation von vierundzwanzig Stunden Dauer zu versetzen. Noch teurer war es gewesen, den Asteroiden zu kultivieren, ihn zu bepflanzen, Tiere einzugewöhnen und alles andere herbeizuschaffen, was Menschen brauchten. Jetzt war der Asteroid autark. Professor Derek Alston, der gegenwärtige Eigentümer des Asteroiden, sorgte für den Anbau von seltenen Gewürzen, welche gewinnbringend im Erdsystem verkauft wurden. An diesem Morgen saß Derek Alston am Ufer eines Miniatursees und hörte seiner Frau Sally und ihrer Freundin Elisabeth Gage zu. Sally war blond, Elisabeth hatte langes pechschwarzes Haar, das auf ihre Schultern herabfiel. Doch sonst ähnelten sich die beiden sehr. Man hätte glauben können, die beiden seien nahe Verwandte. In Wirklichkeit hatten sie nur zusammen studiert, bevor Sally vor knapp einem Jahr geheiratet hatte. Sie hatten sich seit dem Studium nicht mehr gesehen, und da Elisabeth erst gestern auf dem Asteroiden eingetroffen war, hatten sie sich natürlich viel zu erzählen. Derek wußte schon eine ganze Menge von Elisabeth, denn Sally hatte oft von ihr gesprochen.
Das Gespräch drehte sich vor allem um Elisabeths Bruder, der spätestens in einer Stunde auf dem Asteroiden eintreffen sollte. Eine gewisse Unsicherheit und Verlegenheit schlichen sich manchmal in die Unterhaltung der beiden Frauen ein; aber im Grunde waren sie sich doch einig, daß der Besuch ein Anlaß zur Freude und zum Feiern war. Elisabeth war glücklich. Daran bestand gar kein Zweifel. Ihr Gesicht spiegelte ihre Gefühle deutlich wider… Ihre Wangen glühten, ein verträumtes Lächeln spielte um ihre Lippen, und in ihren Augen lag ein feuchter Schimmer. Ihr Bruder und sie waren als Kinder unzertrennlich gewesen. Außer ihnen beiden lebte niemand mehr von der Familie. Doch jetzt lagen acht Jahre der Trennung hinter ihnen. Sie hatte keine Ahnung gehabt, daß Harold in das Erdsystem zurückgekehrt war, ehe er sich über Funk bei ihr gemeldet hatte. Sie wußte auch nichts von seinen Plänen und hatte ihn überhaupt nicht erwartet. Um so mehr hatte sie jetzt Grund, sich über Harolds Besuch zu freuen. Aber so ganz ungetrübt war diese Freude auch wieder nicht. »Seine Stimme hat sich kein bißchen verändert«, sagte Elisabeth. Es folgte eine kleine verlegene Pause, denn ohne zu wollen, hatte sie damit die Problematik dieses Besuches zur Sprache gebracht. Derek hielt den Moment für gekommen, sich in das Gespräch einzuschalten. »Er ist erst achtundzwanzig«, sagte er nachdenklich. »Ihr Bruder hat also Jahre auf Reisen im Weltall verbracht. Sehr ungewöhnlich in diesem Alter.« Elisabeth lächelte. »Da haben Sie recht. Mit zwanzig bestand er die Prüfung als Navigator an der Akademie der Systempolizei. Wie Sie wissen, war mein Vater SP-Beamter auf dem Mars. Er glaubte, Harold würde ebenfalls in der Polizeitruppe Karriere machen. Doch als Vater starb, hielt es Harold nicht mehr länger bei der Polizei aus. Er meinte, die Aufgaben, die man ihm anvertraute, seien nicht gefährlich
genug. Er wollte echte Abenteuer erleben und viel Geld verdienen. Commander Hiskey heuerte damals gerade Leute für seine Raumschiffcrew an. Harold bewarb sich als Navigator und wurde genommen. Seine Heuer war nicht gerade großartig; doch die Mannschaft war am Gewinn beteiligt.« Sie lächelte wieder. »Ich fürchte, ein großes Vermögen hat Harold inzwischen nicht verdient. Aber an Abenteuern wird er wohl mehr als genug erlebt haben. Er hat mir nicht viel erzählt. Doch aus seinen Andeutungen schloß ich, daß sein Schiff ein paar sehr gefährliche Expeditionen hinter sich hat.« »Wissen Sie, welche Qualifikationen Commander Hiskey als Raumschiffkapitän besitzt?« erkundigte sich Derek. Elisabeth zuckte die Achseln. »Hiskey war erster Offizier auf einem großen transsolaren Transporter, bis er sein eigenes Schiff kaufte. Das ist alles, was Harold von ihm erzählt hat.« Sie zögerte, ehe sie fortfuhr: »Ich glaube, Hiskey hat es nicht immer einfach gehabt, mit Gewinn zu wirtschaften. Wahrscheinlich deckte der Erlös nach dem Verkauf der Ladung immer nur die Unkosten… Pech und Glück wechselten sich ab, wie es im Leben eben so ist. Vielleicht wird Harold jetzt seßhaft und bleibt im Erdsystem. Aber ich glaube noch nicht daran. Er kann ziemlich stur sein, wenn er sich ein Ziel gesetzt hat.« »Haben Sie in den vergangenen acht Jahren regelmäßig von Ihrem Bruder gehört?« »Nein, nicht regelmäßig. Selten ist wohl das richtige Wort. In acht Jahren sieben Tonbänder. Er gab sie irgendeinem Raumschiff mit, das ins Erdsystem zurückkehrte. Die letzte Nachricht erhielt ich vor einem halben Jahr. Darin erwähnte er mit keinem Wort, daß sein Schiff ins Erdsystem zurückkehren würde. Deshalb kann ich immer noch nicht glauben, daß Harold in der Nähe ist.«
Ihre Augen wurden feucht. Sally sagte rasch: »Vielleicht kam die Rückkehr für ihn selbst unerwartet. Er wollte dir erst Nachricht geben, als er genau wußte, wohin die Reise ging. Sonst hätte er nur falsche Hoffnungen geweckt…« Elisabeth nickte nachdenklich. »Ja, so wird es wohl sein. Und…« Derek beschäftigte sich inzwischen mit seinen eigenen Gedanken. Das Raumschiff war also ein unabhängiger Tramper, der auf eigene Rechnung Handel trieb. Das Schiff konnte nicht sehr groß sein, wie er Elisabeths Worten entnommen hatte. Die Mannschaft arbeitete auf eigenes Risiko und war zu allem entschlossen, wenn man nur ein Vermögen verdienen konnte. Seit acht Jahren hatten sie davon geträumt, ohne daß ihre Illusionen Wirklichkeit geworden wären. Auf der Erde herrschten rauhe Sitten. Die Menschen wurden nur von alten Gewohnheiten daran gehindert, ihre Zivilisation zur totalen Anarchie ausarten zu lassen. In den anderen Planeten des Erdsystems ging es noch turbulenter zu als auf dem Erdplaneten. All diesen Einflüssen war Harold mit zwanzig Jahren ausgesetzt gewesen. Dann kam die große Reise durch den Weltraum, wo es weder Ordnung noch Gesetze gab. Das hatte den jungen Mann natürlich geformt. Wenn man da draußen überleben wollte, mußte man hart sein. Es fragte sich nur, wie sich sein Charakter entwickelt hatte. In den acht Jahren mußte er sich verändert haben. Diese Veränderungen konnte man nicht ohne weiteres aus einer Botschaft heraushören, besonders dann, wenn man nur eine im Jahr bekam. Elisabeth wußte natürlich, welchen Gefahren ein junger Mann im Weltraum ausgesetzt war. Und daher rührte ihre Verlegenheit und ihre geheime Furcht, beim Wiedersehen mit dem Bruder enttäuscht zu werden.
Derek schätzte Elisabeth außerordentlich. Ihn bedrückte der Gedanke, daß Harold Gage sich stark verändert haben könnte. Vielleicht wurde sein Besuch zu einem Schock für Elisabeth… Derek blickte auf die Uhr, stand auf, lächelte seiner Frau und Elisabeth zu und entschuldigte sich. Ein paar Minuten später setzte er sich an sein Sendegerät und wählte eine Nummer. »Leutnant Pierce«, meldete sich eine Stimme. »Wer ruft an?« »Derek Alston, Mike.« »Und was kann die Systempolizei heute für Professor Alston tun?« fragte Michael Pierce. »Nur eine Auskunft. Wißt ihr etwas über einen Tramper, ein Raumschiff namens Prideful Sue? Der Commander und Eigentümer heißt Hiskey. Wahrscheinlich hat er sich gestern oder vorgestern bei euch gemeldet.« »Bleib am Apparat«, erwiderte Pierce. Es verging eine Minute, ehe Pierce sich wieder meldete: »Ein Raumschiff dieses Namens hält sich im Augenblick in unserem Hoheitsgebiet auf, Derek. Registriert ist das Schiff auf dem Erdplaneten. Letzte Überprüfung durch die Systempolizei liegt bereits zehn Jahre zurück. Wir besitzen keine Unterlagen über den gegenwärtigen Eigentümer. Vor drei Tagen aus dem transsolaren Raum hier eingetroffen. Wir glauben, das Schiff ist nicht ganz astrein, weil der Commander sich noch nicht mit uns in Verbindung gesetzt hat. Hat offenbar nicht die Absicht, durch den Zoll zu gehen. Natürlich können wir nicht eingreifen, wenn der Commander seine Geschäfte direkt mit dem Erdplaneten abwickelt und wir keine Beweise haben, daß das Schiff Konterbande transportiert. Nur sein Kurs kommt uns verdächtig vor. Er wechselt dauernd den Standort, so als wolle er unseren Patrouillenschiffen ausweichen. Hast du einen triftigen Grund, daß wir uns etwas eingehender mit ihm beschäftigen?«
»Nein, eigentlich nicht«, erwiderte Derek. »Aber ihr solltet es vielleicht trotzdem tun.« Auch Harold Gage machte sich Gedanken. Zum Beispiel darüber, daß sich Jake Hiskey selbst auf dem Asteroiden eingeladen hatte. Jake hatte ihn erst in seine Pläne eingeweiht, als die Prideful Sue auf den ihnen zugewiesenen Koordinaten im Schwerefeld des kleinen Himmelskörpers stoppte. Harold kam zufällig in den Funkraum, als Jake, frisch rasiert und in seiner besten Uniform, sich mit Professor Alston über TVFunk unterhielt. Es war bereits alles geregelt. Harold hatte keine Ahnung, wie Jake es fertiggebracht hatte, sich selbst einzuladen. Doch Jake konnte sehr charmant sein, wenn er wollte. Wahrscheinlich hatte er so lange mit den Alstons verhandelt, bis sie ihm die Bitte, Harold zu begleiten, nicht mehr abschlagen konnten. Jake schaltete das Gerät aus, sah Harold an und grinste. »Zum Teufel, Harold«, sagte er, »du wirst doch einem alten Freund ein paar schöne Stunden gönnen.« »Das schon«, erwiderte Harold. »Aber dies ist ein Sonderfall. Ich habe das Gefühl, daß selbst ich nicht sehr willkommen bin. Sie akzeptieren mich nur, weil ich Elisabeths Bruder bin.« »Du bist wieder einmal überempfindlich. Sie haben dich eingeladen. Nicht wahr? Und Professor Alston und seine entzückende Frau langweilen sich nur. Diese Millionäre, die ihr ganzes Leben auf so einem Luxussternchen verbringen, erleben doch nie etwas. Wir sind Abenteurer aus dem Weltraum, Junge! Wir haben Welten gesehen und Dinge vollbracht, von denen die da unten nicht einmal zu träumen wagen. Wir haben etwas zu erzählen. Wir sind die Stars, mein Lieber!« Jake schlug Harold mit der Hand auf die Schulter. »Nun komm schon! Deine Schwester wartet. Ah, endlich mal ein Ort, wo wir unsere Schießeisen in der Schublade lassen
können! Ein ganz ungewohntes Gefühl, wie?« Und dann waren sie auf dem Asteroiden. Zuerst begrüßte sie Elisabeth – kein Mädchen mehr, sondern eine junge schöne Frau. Atemberaubend schön. Harold hätte sie erst gar nicht erkannt, wenn sie nicht auf ihn zugelaufen wäre. Lachend und weinend zugleich fiel sie ihm um den Hals, als er aus der Landefähre trat. Sie stellte ihn den Alstons vor. Ein liebenswürdiges Ehepaar, das sich sofort um Jake bemühte und ihn diskret von den beiden Geschwistern weglotste. Ein paar Minuten später gingen Harold und Elisabeth Hand in Hand durch die sonnigen Gärten des Asteroiden. Er hatte befürchtet, sie könnten sich inzwischen entfremdet haben. Doch dieses Gefühl kam erst gar nicht auf. Elisabeth war eine Frau, der man ihre Gefühle sofort ansehen konnte, weil sie nichts zu verbergen hatte. Sie musterte ihn, blickte ihm in die Augen, beobachtete seinen Mund, seine Bewegungen, achtete auf die Worte, die er wählte, und die Art, wie er sprach. Er sah ihrem Gesicht an, daß sie registrierte, wie sehr er sich verändert hatte. Er sah auch, daß sie sich damit abfand – ohne Vorurteil, wenn auch mit einem gewissen Bedauern. Aber er spürte, daß sie ihn deswegen nicht weniger mochte. Er mußte nur behutsamer sein als früher und nicht über seine Geschäfte reden – besonders nicht von dem Geschäft, das sie jetzt auf dem Erdplaneten abschließen wollten. Er durfte sie nicht spüren lassen, wie gewaltig die Veränderung war, die sich in den letzten acht Jahren vollzogen hatte. Er redete sich ein, daß diese Wandlung notwendig gewesen war. Im Weltraum hätten sie sonst nicht überlebt. Am Anfang waren sie noch sehr behutsam in der Wahl der Unternehmungen gewesen. Wenn ein Auftrag zu riskant oder skrupellos schien, lehnten sie ihn ab. Doch mit harmlosen Geschäften verdienten sie auch kein Geld – oder wenigstens nicht genügend, um die Kosten zu decken. Um so verlockender erschienen dann die gefährlichen
Aufträge. Dann hatten ein paar von der alten Mannschaft abgemustert, und auch eine Reihe von Ausfällen war zu beklagen gewesen. Die Ersatzleute waren meist Rowdys, die kaum Skrupel kannten. Einige ihrer Unternehmungen hätte man fast schon als Piraterie bezeichnen können. Und wäre alles nach Jake Hiskey gegangen, hätte man die Prideful Sue als Freibeuter bezeichnen müssen. Doch ein erstklassiger Navigator war der wichtigste Mann an Bord eines Raumschiffes im transsolaren Raum. Und Harold verstand etwas von seinem Fach. Hiskey hatte sich immer mehr auf ihn verlassen müssen. Deshalb konnte er auch sein Veto gegen ein Unternehmen einlegen, wenn es ihm zu anrüchig erschien. Und er hatte oft sein Veto eingelegt. Das hatte ihn bei der Besatzung nicht gerade beliebt gemacht. Zufällig konnte er auch ausgezeichnet mit der Waffe umgehen. Navigator Gage setzte notfalls seinen Willen auch mit der Waffe durch, wenn man ihn zu einem verbrecherischen Unternehmen zwingen wollte. Und jetzt stand das letzte und wichtigste Unternehmen in seiner achtjährigen Tätigkeit als Navigator vor dem Abschluß. Der riesige Gewinn sollte ihn für alles entschädigen. Harold hatte lange über dieses Geschäft nachgedacht, McNultys Söldner und ihre vernichtende Waffe, die Tozien, auf den Erdplaneten zu transportieren. Schon ein paarmal war er im Begriff gewesen auszusteigen. Hiskey hatte die Idee mit den Rilf-Söldnern gehabt. Er verteidigte hartnäckig den Standpunkt, daß das Geschäft vollkommen legal sei. Daran bestand auch gar kein Zweifel. Es durften nur Waffen zur Erde importiert werden, deren Wirkungskreis beschränkt war. Ein Angriff mit den Tozien konnte nur zwei Tage lang geführt werden, und die Reichweite war auf einen Umkreis von nicht ganz zwanzig Meilen beschränkt. Darüber hinaus hatte dieser Import den Vorteil, daß ein vollkommen neues Waffensystem eingeführt wurde.
Die Bewohner des Erdplaneten hatten noch nie etwas von den Rilf gehört. Hiskeys Verbindungsmänner wußten, wie man so eine Waffe mit dem größten Profit verkaufen konnte. Jeder an Bord würde einen Anteil am Gewinn haben, und der würde beträchtlich sein. Das würde sich natürlich rasch ändern. Nach den ersten Erfolgen würde McNulty keine Vermittler für sich und seine Söldner mehr brauchen. Dann fiel auch nichts mehr für Commander und Mannschaft der Prideful Sue ab. Doch dieser erste Auftrag brachte schon so viel Geld ein, daß sich jedes Besatzungsmitglied als reicher Mann ins Privatleben zurückziehen konnte. Jake Hiskey hatte darauf hingewiesen, daß dieses Geschäft nicht schmutziger war als viele andere, die sie bereits ausgeführt hatten. Auf der Erde führte sowieso jeder gegen jeden Krieg. Warum sollte man sich aus Gewissensgründen dagegen sperren, den sich befehdenden Gruppen ein neues Waffensystem zu verkaufen? Das war natürlich kein überzeugendes Argument. Doch Harold wußte, dieses Geschäft war Jake Hiskeys letzte Chance. Jake wußte das auch, und er war zu allem entschlossen. Er war fünfzehn Jahre älter als Harold, sah aber mindestens fünfundzwanzig Jahre älter aus. Der Kampf mit den Gewalten des Weltalls und der drohende Bankrott hatten seine Nerven zerrüttet. Wenn Harold ihm jetzt den Dienst aufkündigte, konnte Hiskey das Geschäft mit den Rilf nicht bis zum gewinnbringenden Ende durchstehen. Er besaß nicht die Erfahrung als Navigator, das zweite Schiff mit den Söldnern ins Erdsystem zu steuern. Und wenn man acht Jahre lang an der Seite eines Mannes gekämpft und gelitten hatte, wenn man dem andern in brenzligen Situationen beigesprungen und oft vor dem Tode gerettet hatte, dann konnte man ihn nicht einfach im Stich lassen, wenn er am Ende seiner Reserven war. Deshalb hatte Harold ja gesagt. Es
sollte das letztemal sein, sagte er sich, das letzte anrüchige Geschäft. Dann würden er und Jake sich trennen. Von ihrer Freundschaft war nicht viel übriggeblieben. Die vielen Auseinandersetzungen und Rückschläge hatten das herzliche Verhältnis untergraben. Sofern die Systempolizei sie passieren ließ, würden sie die Rilf auf die Erde bringen. Dafür konnte man sie später im Erdsystem nicht zur Rechenschaft ziehen, selbst wenn bekannt wurde, was für einen schlechten Dienst sie den Erdbewohnern geleistet hatten. Denn sie hatten gegen kein Gesetz verstoßen. Er hoffte, daß ihre Rolle bei diesem Geschäft nie bekannt wurde. Er hatte Elisabeth erzählt, die Prideful Sue kehrte mit einem Geheimauftrag in das Erdsystem zurück. Er könne jetzt nicht darüber sprechen, und falls sie ihren Auftrag erfolgreich erledigten, würde er sich für mehrere Jahre von der Weltraumfahrt zurückziehen. Sie schien von dieser Aussicht sehr entzückt und fragte ihn deshalb nicht nach Einzelheiten. Harold erkundigte sich, was sie in den vergangenen acht Jahren alles gemacht und erlebt habe. Keine von den Botschaften, die sie ihm geschickt hatte, hatte ihn je erreicht. »Mister Gage! Elisabeth!« Harold blieb überrascht stehen. Er glaubte zuerst an eine optische Täuschung. Links vom Weg überragte eine steile Klippe die Baumwipfel, und an ihrem Fuß war plötzlich eine Tür aufgegangen, aus der jetzt Sally Alston heraustrat und auf sie zuging. »Ich habe dich schon überall mit dem Fernsehspäher gesucht«, sagte sie zu Elisabeth und wendete sich dann an ihren Bruder: »Mister Gage, warum haben Sie uns nichts von diesem sonderbaren fremden Wesen in ihrem Raumschiff verraten? Wenn Captain Hiskey nicht erwähnt hätte…«
»Ein fremdes Wesen?« unterbrach Elisabeth überrascht. »Ja! Man nennt es Rilf. Derek ist davon überzeugt, daß die Raumuniversität noch keine Unterlagen über diese Gattung besitzt. Captain Hiskey und Mr. Gage bringen ihn mit zur Erde. Das ist wirklich ein historisches Ereignis.« Harold starrte sie verblüfft an. War Jake verrückt geworden, Alston von McNulty und seinen Söldnern zu erzählen? Elisabeth blickte ihn von der Seite an. In ihren Augen stand die Frage, ob das wohl der Geheimauftrag war, den er erwähnt hatte. »Er hat sich einen menschlichen Namen zugelegt«, berichtete Sally. »McNulty!« »McNulty ist hier?« fragte Harold ganz mechanisch. »McNulty hier auf Ihrem Asteroiden?« »Natürlich! Wir haben ihn eingeladen, als Captain Hiskey uns darum bat…« »Wie lange ist er schon auf Ihrem Asteroiden?« Sie blickte ihn an, überrascht von seinem schroffen Ton. »Ungefähr zwanzig Minuten. Was haben Sie denn nur?« »Bitte, fragen Sie mich jetzt nicht«, erwiderte Harold. Er nahm die beiden Frauen am Arm und führte sie rasch auf die Tür in der Klippe zu. »Können Sie mir genau beschreiben, wo McNulty sich im Augenblick befindet?« »Nun, sie – mein Mann, Captain Hiskey und McNulty –, wahrscheinlich sind sie gerade in der Steuerzentrale. McNulty wollte gern sehen, wie man so einen Asteroiden steuert.« Das war der Beweis. »Sie haben ihn also nicht aus eigenen Stücken eingeladen?« fragte Harold rasch. »Der Commander hat ihn einfach mitgebracht?« »Ja. Aber was ist denn los, Mister Gage? Ist er…?« »Und die Landefähre befindet sich auch noch hier?« unterbrach Harold. »Durchaus möglich. Ich weiß es nicht genau.« Harold holte tief Luft und blieb im Eingang des Felsenganges stehen.
»Hören Sie mir genau zu. Wir haben nicht viel Zeit!« Er blickte Sally an. »Wo ist die Steuerzentrale?« »In einem Gebäude im Abschnitt der Raumschleuse. Der Verwaltungstrakt. Sie haben ihn gesehen, als Sie gelandet sind.« Beide Frauen betrachteten ihn jetzt mit Besorgnis. Harold nickte. »Ja, ich erinnere mich. Sie und alle anderen Bewohner dieses Asteroiden befinden sich in akuter Lebensgefahr. McNulty ist keine Sehenswürdigkeit, sondern eine Gottesgeißel. Er hat eine Waffe, die man auf der Erde noch nicht kennt. Vor dieser Waffe sind Sie nur sicher hinter Beton und Stahl. Ich hoffe, Sie können Professor Alston warnen. Jeder, der sich auf diesem Raumkörper befindet, muß sich sofort in einen geschlossenen Raum zurückziehen. Wenn McNulty losschlägt, hat keiner eine Überlebenschance, wenn er sich im Freien aufhält. Bis auf die Besatzung der Prideful Sue. Und sehen Sie zu, daß Sie so rasch wie möglich ein Sendegerät erreichen. Rufen Sie die Systempolizei. Sie sollen umgehend hierherkommen – in gepanzerten Raumanzügen. Aber ich fürchte, daß Ihre Sendeanlage nicht mehr lange arbeitet. Sie müssen sich beeilen!« Er blickte in die bleichen Gesichter der beiden Frauen. »Halten Sie mich nicht für verrückt! Es gibt nur eine Erklärung dafür, daß Hiskey McNulty mitgebracht hat. Die beiden haben beschlossen, den Asteroiden zu übernehmen.« »Aber weshalb nur?« fragte Sally. »Weil aus uns eine Bande von Piraten geworden ist. Zumindest aus den meisten von uns. Und Hiskey glaubt wohl, diesen Asteroiden als Stützpunkt gut gebrauchen zu können.« Harold deutete in die Tiefe des Ganges. »Gehen Sie! Schließen Sie die Tür hinter sich ab. Beeilen Sie sich, und wenn Sie Glück haben, bleiben Sie vielleicht am Leben!« Aha, deswegen hatte man also seine Waffe in der Schublade lassen sollen! Jake Hiskey hatte dafür gesorgt, daß sein
Navigator unbewaffnet diesen friedlichen kleinen Raumkörper betrat. Er wußte, daß ich diesem Piratenstück nie zugestimmt hätte, überlegte Harold. Die getarnte Tür im Felsen hatte sich geschlossen. Die Oberfläche des Asteroiden war hier zu einer Hügellandschaft gestaltet worden. Ab und zu schimmerte noch das nackte Urgestein durch die Vegetation. Nach allen Seiten versperrten Bäume und Sträucher die Sicht. Das Kraftfeldgeneratorhaus konnte nicht weit entfernt sein, aber er sah es nicht. Das hatte andererseits den Vorteil, daß er sich im Schutze der Bäume an die Gebäude heranarbeiten konnte. Sally Alston hatte mit einem Fernsehspäher nach ihnen gesucht. Hiskey und McNulty bedienten sich vielleicht gerade in diesem Augenblick der gleichen Einrichtung. Aber sie würden erst nach ihm suchen, wenn sie die Steuerzentrale besetzt hatten. Es war das übliche Vorgehen der Freibeuter: als erstes das Nervenzentrum erobern, der Rest war ein Kinderspiel. Er blieb stehen. Der Boden vibrierte. Ein Dröhnen drang aus der Ferne an sein Ohr. Er spürte seine Nerven kribbeln. Das Vibrieren hielt ein paar Sekunden unverändert an, ebbte dann ab, kam zurück, plötzlich aus einer anderen Richtung – und dann preschte die Herde vor ihm um eine Felswand. Etwa fünfzehn große Tiere mit graubraunem Fell; offenbar eine Antilopenart mit kräftigem, korkenzieherartig gewundenem Geweih. Die Tiere jagten dahin, als verfolge sie ein Raubtier. Harold wurde von ihrer Panik fast angesteckt. Die Flucht der Tiere verriet ihm, daß McNulty seine Tozien losgelassen hatte. Doch sogleich fiel ihm ein, daß seine Schlußfolgerung falsch sein mußte. Niemand versuchte, vor den Tozien zu fliehen. Einfach weil man keine Gelegenheit dazu bekam. Vor ihm raste die Herde mit dröhnendem Hufschlag vorbei. Sie brach durch ein Dickicht und hielt auf eine Felswand zu. Ihre Panik schien so groß, daß sie blindlings gegen das
Hindernis rannten. Doch das täuschte. Im letzten Augenblick öffnete sich ein getarntes Tor im Fels, ähnlich der Tür, durch die Sally Alston vorhin getreten war. Dieses Tor war mindestens sechsmal so groß wie die Tür. Die Tiere drängten sich hinein wie eine Herde in ihren Stall. Hinter dem letzten Tier schwang das Tor wieder zu. Harold lief weiter. Er schüttelte heftig den Kopf. Dieses eigenartige Klingeln in den Ohren, das Vibrieren der Nerven – war das ein Warnzeichen? Ein Signal im Ultraschallbereich, auf das die Tiere dieses kleinen Raumkörpers reagierten? Sie waren darauf dressiert, ließen sich rufen und in Sicherheit bringen. Wenn alle Lebewesen auf diesem Asteroiden so rasch reagierten, konnte man die Oberfläche in wenigen Sekunden völlig räumen. Wieder schüttelte Harold den Kopf. Die Bewohner einer luxuriösen Kleinstwelt im Raum in ständiger Alarmbereitschaft? Sonderbar! Auf welche Gefahren hatte man sich hier vorbereitet? Was steckte dahinter? Er sah keine Tiere mehr. Etwa eine Minute später hörte auch dieses irritierende Klingeln in seinen Ohren auf. Seine Nerven beruhigten sich. Die Steuerzentrale konnte nicht mehr weit entfernt sein. Als er den Rand einer kleinen Lichtung erreichte, sah er den Verwaltungstrakt vor sich, vielmehr eine Ecke davon; denn auch hier wuchsen Bäume und Sträucher, die ihm die Sicht verwehrten. Vorsichtig schlich er im Schutz der Sträucher weiter. Nach einigen hundert Schritten erreichte er eine Stelle, von der aus er auch das Flugfeld innerhalb der Kraftfeldschleuse einsehen konnte. Die Landefähre der Prideful Sue stand auf dem Feld. Die Gangway war an die offene Luke geschoben. Kein weiteres Raumfahrzeug war in der Nähe zu sehen. Über der Raumfähre wölbte sich der künstliche Himmel des Asteroiden. Die Kraftfeldschleuse zum Weltraum war also noch nicht geöffnet worden. Man hätte sonst die gleißende
Röhre erkannt, den durchscheinenden Energieschlauch, der vom Flugfeld in den leeren Raum hinaufführte. Der Durchmesser dieses Schlauches, der die Atmosphäre durchstieß, war beliebig erweiterungsfähig. Zweifellos ließ sich die Kraftfeldschleuse so weit öffnen, daß auch ein Schiff von der Größe der Prideful Sue landen konnte. Harold zweifelte nicht daran, daß Hiskey genau das plante. Die Raumfähre war nicht sehr groß, aber acht bis neun Mann samt Ausrüstung fanden darin Platz. Neun Mann – das war die Hälfte der Raumschiffbesatzung. Wahrscheinlich hatten sich die Leute in der Fähre versteckt, bis sie von Hiskey das Zeichen bekamen, den Asteroiden zu besetzen. Die offene Luke deutete darauf hin, daß dieser Befehl bereits gegeben worden war. Wahrscheinlich hielten sie das Verwaltungsgebäude in der Hand. Mit anderen Worten: seit ein paar Minuten lief das Unternehmen. Der Handstreich gegen den Asteroiden hatte begonnen. Nur Barnes, der zweite Rilf, und die restlichen Besatzungsmitglieder waren im Raumschiff zurückgeblieben. Griffen diese ebenfalls in den Kampf ein, wurde die Situation für die Bewohner des Asteroiden hoffnungslos. Noch deutete nichts darauf hin, daß McNulty seine schreckliche Waffe eingesetzt hatte. Hoffentlich war Jake Hiskey noch nicht so tief gesunken und verschonte die Menschen auf diesem Raumkörper, wenn sie ihm keinen Widerstand leisteten. Aber auf mich nimmt er natürlich keine Rücksicht, überlegte Harold. Er muß verhüten, daß ich seine Pläne durchkreuze. Bis jetzt hatte ihn noch kein Fernsehspäher entdeckt. Aber Hiskey hatte bestimmt eine Wache vor dem Verwaltungsgebäude postiert, um ihn zu erledigen, sobald er auftauchte. Für einen Hinterhalt eigneten sich die Büsche und Bäume neben dem Gebäude vortrefflich…
Ein Vogel mit blaugoldenem Gefieder flog aus dem Unterholz auf. Er war ziemlich groß, größer als ein Huhn, und schwang sich mit kräftigen Flügelschlägen in die Luft. Harold duckte sich. Das würde die Wache auf ihn aufmerksam machen und verraten, aus welcher Richtung er kam. Der Vogel flog ungefähr zehn Meter hoch, weiter kam er nicht. Etwas traf ihn so vernichtend und blitzschnell, daß es aussah wie eine Explosion. Das Tier platzte förmlich auseinander, löste sich in eine Wolke von Blut und farbigen Streifen auf, die immer wieder von neuem zerschnitten wurden und als winzige Teilchen zu Boden schwebten. McNulty hatte seine Tozien losgelassen. Hiskey wollte nicht nur den Raumkörper erobern, er ließ auch töten! So lange töten, bis nichts mehr auf diesem kleinen Asteroiden atmete. Und McNulty hatte bisher auch noch nicht alle seine Tozien losgelassen. Er hatte Tausende von ihnen in seinem kräftigen unmenschlichen Thorax. Fünfzig oder hundert genügten, um alles Leben auf dieser friedlichen Kleinstwelt zu vernichten. Er mußte sie erst vor wenigen Sekunden losgeschickt haben, sonst hätte Harold sie schon früher bemerkt. Er hörte jetzt das unheimliche Flüstern zwischen den Büschen und Bäumen. Wie ein Mückenschwarm schwebten sie auf und nieder, suchten nach Blut und Fleisch, witterten die Rilf-Droge, die ihn beschützte wie alle anderen Besatzungsmitglieder der Prideful Sue. Sie wichen vor ihm zur Seite. Doch jedes andere Lebewesen auf diesem Asteroiden, das sich nicht rechtzeitig in Sicherheit gebracht hatte, mußte sterben oder starb gerade in diesen Sekunden. Harold durfte nicht daran denken. Jake Hiskey und McNulty würden nicht eher ruhen, bis diese unheimliche Schlächterei ihr letztes Opfer gefunden hatte. Sie hielten sich in diesem Augenblick in der Steuerzentrale auf. Sobald sie sich mit den technischen Einrichtungen vertraut gemacht hatten, würden sie
das Raumschiff durch die Energieschleuse auf die Asteroidenoberfläche herunterleiten und dann systematisch den Planetoiden nach Überlebenden durchkämmen. Hiskey hatte Tom Connick als Posten vor das Gebäude gestellt. Tom Connick war nicht der intelligenteste der Crew, aber ein hervorragender Schütze mit starken Nerven. Für einen Mordauftrag hätte Hiskey keinen besseren aussuchen können. Tom Connick hatte sich in einem Gebüsch versteckt, keine zehn Meter vom Eingang des Gebäudes entfernt. Seine Waffe war schußbereit. Connick wußte, daß Harold nicht bewaffnet war. Wollte er das Verwaltungsgebäude betreten, mußte er an diesem Dickicht vorbei. Es konnte gar nichts schiefgehen. Connick brauchte nur zu warten. Aber McNultys Tozien hatten Verwirrung gestiftet. Die Dinger schwirrten um seinen Kopf herum wie Moskitos, und wenn man an dieses Teufelszeug dachte, konnte man einfach nicht ruhig bleiben. Connick bewegte den Kopf hin und her, zuckte mit den Schultern, hob die Waffe und ließ sie wieder sinken. Harold erging es ähnlich. Auch um ihn schwirrten die unsichtbaren Todesbringer herum, manchmal ganz nahe am Ohr vorbei, und jedesmal lief es ihm eiskalt den Rücken hinunter, obgleich er genausogut wie Connick wußte, daß sie ihm nichts anhaben konnten. Trotzdem machte man sich so seine Gedanken. Vielleicht merkte eines von den Tozien zu spät, daß es den falschen erwischt hatte. Im Augenblick war Harold aber im Vorteil, weil die Tozien ihm Connicks Versteck verrieten. Connick blickte sich ständig um, ob nicht eines von diesen unsichtbaren Energiewesen von hinten angriff. Darunter litt natürlich seine Wachsamkeit. Es gelang Harold, sich im Unterholz bis auf zehn Schritte an seinen
Gegner heranzuarbeiten. Er hob zwei Steine auf und hielt in jeder Hand einen. Den in der linken Hand warf er über das Dickicht. Der Stein flog über Connicks Kopf hinweg und schlug hinter ihm auf. Connick gingen die Nerven durch. Er stieß ein erschrecktes Brummen aus, riß die Pistole hoch, wirbelte herum und duckte sich. Wahrscheinlich hörte er gar nicht das leise Rascheln hinter sich. Harold sprang ihn von hinten an und schlug ihm mit dem Stein in der rechten Hand den Schädel ein. Harold besaß jetzt eine Waffe, und Jake Hiskey hatte einen Mann weniger, den er ausschicken konnte, um die Überlebenden zu liquidieren. In einer von Connicks Taschen entdeckte Harold ein Aufladegerät für den Energiestrahler. Vielleicht war noch ein Mann in der Nähe, der eingreifen sollte, falls etwas schiefging. Doch nichts bewegte sich in seiner Nähe. Der Überfall auf Connick war nicht bemerkt worden. Den nächsten Gegner würde Harold wahrscheinlich in der Eingangshalle des Gebäudes antreffen. Er ging rasch auf das Gebäude zu. Nach ein paar Schritten blieb er stehen. Hinter dem Gebäude erschien plötzlich ein schwacher grüner Schimmer in der Luft. Harold starrte auf diesen grünen Vorhang, dann drehte er sich um. Kaum dreißig Meter hinter ihm hing eine ähnliche Erscheinung vom künstlichen Himmel herab. Der untere Rand dieses nahezu unsichtbaren Vorhangs paßte sich Unebenheiten des Geländes nahtlos an. Harold richtete Connicks Energiestrahler auf den Vorhang und drückte ab. Ein gleißender Lichtpunkt sprühte an der Stelle auf, wo der Energiestrahl auf den schwerelosen Vorhang traf. Auch rechts von ihm, neben dem Verwaltungsgebäude, und links über dem Hügel, erschienen jetzt die grünen Wände. Eine Energieglocke. Sie konnte erst in den letzten Minuten ausgelöst worden sein. Aber von wem? Sie schloß den Bereich
des Landefeldes und der Kraftfeldgeneratorhalle hermetisch ab. Es fragte sich nur, ob die Energieglocke bereits wirkte, bevor McNultys tödliche Tozienschwärme das Gebäude verlassen hatten. War das der Fall, dann konnten die Tozien nicht weit gekommen sein. Die Energieglocke konnten sie nicht durchbrechen. Harolds Aufmerksamkeit hatte sich bisher ausschließlich auf Connick konzentriert. Er hatte nicht bemerkt, was um ihn herum vorging. Doch er schöpfte neue Hoffnung. Diese Energieglocke war ein weiterer Beweis, daß dieser Asteroid Abwehranlagen besaß. Er erinnerte sich wieder an den Ultraschallruf, an die versteckten Türen und Tore, an die Flucht der Tiere ins Innere des Asteroiden. Der Asteroid war nicht wehrlos. Im Gegenteil. Seine Verteidigungseinrichtungen funktionierten vorzüglich. Doch die Lage war noch genauso kritisch wie zuvor. Es mußte etwas gegen die Besatzung der Prideful Sue und ihre Rilf unternommen werden, ehe die Verteidigung des Asteroiden zusammenbrach. In der Eingangshalle des Verwaltungsgebäudes stand tatsächlich ein Posten. Der Mann hieß Dionisio. »Warum bleibt ihr so lange im Gebäude, Dionisio?« fuhr Navigator Gage den Mann grob an. »Warum unternehmt ihr nichts?« Dionisio war intelligenter als Connick. Trotzdem war er für einen Moment verblüfft. Man hatte ihm gesagt, der Navigator sei unbewaffnet und gehöre zu den Leuten, die liquidiert werden müßten. Außerdem sei er nicht in die Pläne des Unternehmens eingeweiht. Und da kam der Navigator einfach auf ihn zu, den Strahler im Anschlag, und schnauzte ihn an, weil es ihm mit der Eroberung des Planetoiden offensichtlich nicht schnell genug ging. Das hörte sich gar nicht so an, als sei Navigator Gage nicht mit von der Partie. Außerdem wußte Dionisio aus eigener Erfahrung, daß der Navigator mit einem
Strahler verdammt gut umgehen konnte. Der Mann fuhr sich mit der Zunge über die Lippen, räusperte sich und stotterte: »Nun – äh…« »Hat der Captain die Steuerzentrale inzwischen besetzt?« »Nun, Sir, ich glaube schon.« »Du glaubst es nur?« »Nun, Sir, ich war schließlich nicht dabei«, erwiderte Dionisio patzig und starrte nervös auf den Strahler. »Ich war in der Raumfähre versteckt. Und plötzlich hatten wir so ein merkwürdiges Klingeln in den Ohren, und die Nerven vibrierten. Kurz darauf gab der Captain Alarm. Wir schwärmten aus. Der Captain hat uns gesagt, wir sollten nach Versprengten suchen und sie liquidieren.« »Meinst du die Leute hier im Verwaltungsgebäude?« »Ja, Sir. Der Captain und McNulty waren in der Steuerzentrale. Fünf oder sechs Leute waren dort beschäftigt. Und als er sich umdrehte – da waren sie plötzlich alle verschwunden.« Gage verzog verächtlich die Lippen. »Was soll das heißen – verschwunden? Sie können sich doch nicht in Luft aufgelöst haben, oder?« »Es sah aber ganz danach aus.« »Sind alle unsere Leute im Gebäude?« »Jawohl.« »Was treiben sie denn dort so lange?« »Sie brechen die Wände auf, suchen nach – äh – Türen…« »Sie suchen nach Türen!« äffte Gage verächtlich nach. »Und was treibst du hier?« Dionisio schluckte. »Ich soll – äh – jeden abfangen, der das Gebäude betritt.« »Obwohl die Tozien losgelassen sind? Hast du den Verstand verloren? Wer ist jetzt noch in der Raumfähre? Ist der Rest der Crew schon vom Raumschiff heruntergekommen?«
»Nein, es ist niemand in…« In diesem Moment brach Dionisio ab und hob seinen Strahler. Denn Navigator Gage hatte zur Landefähre hinübergeblickt, war also sekundenlang abgelenkt. Und Dionisio war sicher, daß der Captain den Navigator aus dem Weg haben wollte – so oder so. Denn sie brauchten jetzt keinen Navigator mehr. Aber er kam nicht dazu, die günstige Gelegenheit zu nutzen, denn Navigator Gage hatte sich nicht wirklich ablenken lassen und abgedrückt, während Dionisio noch seine Waffe hob. Der Eingang mündete in einen beleuchteten Korridor. Harold glaubte, Stimmen gehört zu haben, während er mit Dionisio sprach. Doch im Augenblick war alles still. Rasch durchsuchte er den Toten. Er fand eine faltbare Gasmaske und zog sie übers Gesicht. Er vertauschte sein Jackett mit dem fadenscheinigen braunen des Toten. Dann setzte er dessen Schirmmütze auf und rückte sie keck zurecht, wie Dionisio sie zu tragen pflegte. Er hörte ein dumpfes Dröhnen aus dem Gebäude, das sich nach Sekunden wiederholte. Jake Hiskey ließ also immer noch Löcher in die Wände brechen, suchte nach verborgenen Türen, durch die Professor Alston und seine Leute entkommen waren, nachdem Alarm gegeben worden war. Wahrscheinlich fand er die geheimen Ausgänge auch, wenn er nur lange genug danach suchte. Und sobald Hiskey sich mit den Steuergeräten vertraut gemacht hatte, würde er die Energieschleuse zum Weltraum öffnen, damit die Prideful Sue mit den schweren Waffen und dem Rest der Crew draußen landen konnte. Harold steckte Dionisios Waffe in die Tasche, rollte den Toten in eine Ecke, wo man ihn nicht vom Korridor aus sehen konnte, und ging dann rasch den Flur hinunter. Etwas huschte an ihm vorbei, gläsern schimmernd. Die Tozien waren also noch im Gebäude. Er kam an Türen auf der rechten Seite vorbei. Sie waren alle verschlossen. Vor ihm machte der
Korridor einen Knick nach rechts. Als er sich der Ecke näherte, hörte er wieder Männerstimmen. Es mußten mindestens drei oder vier Leute sein. War Hiskey bei dieser Gruppe? Trotz der Gasmaske stieg Harold der Geruch von Ammoniak in die Nase. Er stammte von den Druckbomben, die sie zum Sprengen der Wände verwendeten. Er bog um die Ecke. Die Gasmaske verbarg sein Gesicht bis zu den Augen. Dionisio war nur zwei Zentimeter kleiner gewesen als er. Man konnte ihn also auf den ersten Blick für den Toten halten. Ungefähr zwanzig Meter vor ihm bedeckten Schutt und Trümmer den Boden des Ganges. Nur zwei Männer waren zu sehen, die hinter einer Tragkanone standen und durch das Loch in der Wand beobachteten. Jake Hiskeys Stimme drang aus der Öffnung. »Beeilt euch!« Ein heller Schein fiel aus dem Loch. Harold hörte das Zischen der Energieschneider. Der Rauch der Druckbomben vernebelte den Gang. Einer der Männer hinter der Tragkanone sah sich flüchtig um, als Harold herankam. Er kümmerte sich nicht um ihn, blickte wieder in die Öffnung. Harold ging an den Männern vorbei. Hinter dem Loch in der Wand war ein weiterer Gang. Offenbar hatten sie hier einen der geheimen Fluchtwege aufgesprengt. Aber ein paar Meter weiter hörte dieser Gang wieder auf, und die Trennwand hatte den Druckbomben widerstanden. Drei Leute arbeiteten drinnen. Die Energiestrahlen der Schneider glühten grellweiß. Eine durchschnittene Energieleitung in der Wand sprühte Funken. Außen neben dem Loch hatte jemand zwei Druckbomben liegenlassen! Harold hob sie auf, blickte sich um und sah, daß Hiskey mit offenem Mund zu ihm herausstarrte. Dann griff seine Hand nach der Waffe. Harold warf sich hinter einen Schutthaufen, drückte auf den Zündknopf der kleinen, eierhandgranatengroßen Druckbombe und warf sie durch das aufgebrochene Loch in der Wand. Die zweite Bombe schleuderte er in die Richtung der Tragkanone.
Die beiden Explosionen folgten unmittelbar aufeinander, zerrissen ihm fast das Trommelfell und überschütteten ihn mit Plastikstaub und Trümmern. Eine Wolke füllte den Gang aus. Er wartete einen Moment, zog einen seiner Energiestrahler und stand auf. Sie lagen dort, wo die Druckwelle sie erwischt und getötet hatte. Hiskey lag innerhalb der Öffnung, die Waffe in der Hand. Er hätte ihn also beinahe noch erwischt, bevor die Bombe ihn tötete. Harold blickte in das blutüberströmte Gesicht des Toten. Er war überrascht, daß er immer noch Mitleid mit Hiskey empfand. Er mußte an die Tage denken, als er und Jake Hiskey zur ersten großen Reise ins All aufbrachen und mit der Begeisterung von Forschern in unbekannte Regionen eindrangen. Schade, Jake, dachte er. Schade, daß acht Jahre dich so sehr verändert haben und es zu diesem schrecklichen Ende kommen mußte. Jetzt waren noch McNulty und ein oder zwei Männer der ersten Gruppe der Crew übrig. Er mußte sie ausschalten, ehe Verstärkung kam. McNulty konnte sich nur an einem Ort aufhalten – in der Steuerzentrale. Harold ging weiter den Korridor hinunter. Nirgends war ein Geräusch zu hören. Dann sah er eine offene Tür. Vorsichtig schlich er sich heran und blickte hinein. Es war ein Büro mit einem halben Dutzend Schreibtischen. Maschinen standen auf Podesten, die Schrankkartei war offen. Noch vor wenigen Minuten mußten Menschen hier gearbeitet haben. Dann hatte sie der Alarm aufgeschreckt, und wie Gespenster waren sie plötzlich verschwunden – verschluckt von den Wänden oder dem Fußboden. In einer Wand des Büros war eine zweite Tür. Während er darauf zu ging, erschienen plötzlich zwei Männer im Türrahmen. Waffen spuckten Energiestrahlen. Harold warf
sich hinter den nächsten Schreibtisch. Auch die beiden duckten sich hinter die Tische. Der Feuerwechsel war schnell und gnadenlos. Die beiden gehörten zu den besten Leuten der Prideful Sue. Sie hießen Harding und Ruse, waren hervorragende Schützen. Die Büromöbel sahen sehr elegant und zerbrechlich aus, bestanden aber aus hartem, widerstandsfähigem Kunststoff. Doch binnen einer Minute verwandelten sie sich in rauchende Trümmer. Harold erwischte Harding, verschoß aber dabei die Ladung seiner einen Waffe. Ruse zerschoß den Schreibtisch, hinter dem Harold sich duckte. Er hechtete hinter den nächsten Tisch. Ein stechender Schmerz in der rechten Ferse breitete sich über das ganze Bein aus, ehe er wieder in Deckung lag. Noch konnte er das Bein bewegen, aber so ein Streifschuß war schlimm genug, selbst wenn er nur die Haut ansengte. Jetzt hatte er freies Schußfeld auf Ruse, und er nützte diesen Vorteil aus. Ruse schoß verzweifelt zurück. Dann versuchte auch er einen Stellungswechsel. Harold erwischte ihn mitten im Sprung. Im gleichen Moment war die Energieladung der zweiten Waffe auch erschöpft. Ruse war hinter einen Schrank gerollt. Nur seine Beine ragten noch hervor. Er schien auf der Seite zu liegen, und seine Füße bewegten sich nicht. Das konnte ein Trick sein. Doch Harold war davon überzeugt, Ruse in den Kopf getroffen zu haben. Auch mit dem letzten Rest Energie war ein solcher Schuß auf so kurze Entfernung tödlich. Harold war dennoch vorsichtig. Er blieb in Deckung und tastete mit der linken Hand nach dem Ladegerät, das er Connick abgenommen hatte. Vergebens. Er mußte es in dem Getümmel vorhin im Gang verloren haben. Harding hatte bestimmt einen Energielader in der Tasche. Deshalb kroch Harold hinter seinem Tisch hervor und schlich geduckt auf Hardings Leiche zu. Doch im gleichen Augenblick entdeckte er schräg neben sich eine Bewegung. McNulty kam
auf ihn zu, eine Brechstange in seiner menschenähnlichen Hand. Harold warf sich sofort wieder hinter den Schreibtisch. McNulty holte aus und schlug mit der Brechstange über den Tisch. Dann kam er um das Möbel herum. Seine riesige Gestalt schien plötzlich seltsam verzerrt, als sähe man sie durch vielschichtiges Glas. Ein tiefes Summen erfüllte die Luft. Harold wußte, daß der Rilf seine Tozien losließ. Der Sinn dieser Handlung leuchtete Harold auch sofort ein. Die Tozien konnten ihm zwar nichts antun, aber sie sollten ihn ablenken. In der nächsten Sekunde schien Harold wie von einer brausenden Wasserwand umgeben. Die Gegenstände im Zimmer verschwanden hinter einer brodelnden Masse, die wie heller Sirup aussah. McNulty war auf die Hilfe seiner Tozien gar nicht angewiesen. Er war Harold an Stärke bestimmt überlegen, bewegte sich sehr schnell, wenn auch ein bißchen ungeschickt. Sein breites weißes Gesicht erschien verzerrt durch den Schleier der Tozien. Harold wich zurück, stets darauf bedacht, einen festen, möglichst großen Gegenstand zwischen sich und dem Rilf zu haben. McNulty gab ihm keine Gelegenheit, an Ruse oder Harding und deren Waffen heranzukommen. Doch als McNulty wieder zuschlagen wollte, stolperte er über einen Stuhl und stürzte. Während die Tozien ihn umschwärmten wie eine Wolke von unsichtbaren Hornissen, gelang es Harold, dem Rilf die Eisenstange zu entreißen. Sofort kam McNulty wieder auf die Beine. Doch Harold hielt die Stange mit beiden Händen wie einen Speer und stieß sie McNulty in den Körper, dorthin, wo sich bei einem Menschen die Eingeweide befinden. Er hatte natürlich keine Ahnung, ob McNulty überhaupt lebenswichtige Organe besaß und wie sie in seinem Körper angeordnet waren. Doch er mußte etwas mit seiner Eisenstange getroffen haben, denn McNultys Mund öffnete sich weit. Wenn er einen Schrei
ausstieß, ging er in dem Dröhnen der Tozien unter. Sein mächtiger Körper schwankte hin und her. Dann fiel er auf den Rücken und lag still. Die Metallstange ragte aus seinem Unterleib. Seine Augen blieb offen. Harold lehnte sich gegen den Schreibtisch und rang nach Atem. Die Tozien waren immer noch da, aber sie schienen zurückzuweichen; denn Harold konnte jetzt das Büro und die Möbel besser erkennen. Dann ließ sich eines von den glasähnlichen Biestern plötzlich auf McNultys Brust nieder. Zitternd blieb es dort hängen. Ein anderes setzte sich daneben, dann ein drittes. Kurz darauf war McNultys Körper von diesen glitzernden Teilchen bedeckt wie eine Leiche von Fliegen. Harold erschauerte wie im Fieber. Die Tozien waren Körperzellen des Rilf, stahlhart, elastisch und scharf wie Rasiermesser. Das kam ganz darauf an, für welchen Zweck sie eingesetzt wurden. McNultys Rasse mußte von einer Raubtiergattung abstammen, die zu schwerfällig war, um eine leichtfüßige Beute einzuholen. So hatte sich im Laufe der Entwicklungsgeschichte dieser Rasse die Eigenschaft herausgebildet, Bestandteile des Körpers vorauszuschicken, um die Beute zu töten. Man konnte die Tozien etwa mit dressierten Falken vergleichen, mit denen die Menschen in grauer Vorzeit kleine Tiere und Vögel gejagt hatten. Nur waren Tozien und Rilf eine Wesenseinheit. Harding hatte ein Ladegerät. Harold lud seine Waffen wieder auf. Ehe er das Büro verließ, warf er noch einen Blick auf McNultys Leiche. Sie war von den Tozien fast völlig bedeckt, als habe man ein gläsernes Tuch über ihn gelegt. Aber nicht alle Tozien waren zu dem Toten zurückgekehrt. Eine große Anzahl von ihnen schwirrte noch in den Korridoren herum. Ein paar waren auch in der Nähe von Harold, offensichtlich von seinen Bewegungen angelockt. Er konnte sie jetzt viel deutlicher hören. Wahrscheinlich hatte McNultys Tod auch auf
ihren Lebensprozeß Auswirkungen. Wie dem auch sein mochte, sie zeigten kein besonderes Interesse mehr an ihm. Harold hinkte zur Tür hinüber, aus der der Angriff gekommen war und die in einen schmalen Gang mündete. Dahinter öffnete sich eine zweite Tür in die hellerleuchtete Steuerzentrale. Sie war leer. Doch die Geräte schienen alle eingeschaltet. Harold entdeckte die Kontrollschalter der Energieschleuse auf Anhieb. Die Instrumente zeigten deutlich an, daß die Schleuse auf maximaler Breite geöffnet war. Doch auf dem Fernsehkontrollschirm sah man das Gegenteil. Der Himmel war grünlichblau, die Schleuse folglich geschlossen. Harold drehte die Schalter hin und her. Auf dem Fernsehkontrollschirm zeigte sich keine Veränderung. Stirnrunzelnd starrte er darauf, brachte die Schalter schließlich in Nullstellung. Dann probierte er andere Schaltinstrumente aus. Es dauerte nicht lange, bis er die Lösung gefunden hatte. Er setzte sich auf den Hocker eines Schaltpultes und lachte. Kein Wunder, daß Jake Hiskey so fieberhaft versucht hatte, in den verborgenen Gang einzubrechen, der ins Innere des Asteroiden führte. Denn die Steuerzentrale war nur scheinbar in Betrieb. Energie war vorhanden, die Schalter ließen sich bewegen, aber man konnte mit ihnen nichts mehr steuern. Die Steuerzentrale war jetzt nichts anderes als eine täuschend realistisch wirkende Kulisse. Er atmete tief ein und blickte hinauf zur Decke. »Kann mich jemand hören?« fragte er laut. »Können Sie mich hier im Raum sehen?« Es folgte aufgeregtes Stimmengewirr, männliche und weibliche Stimmen. Elisabeth? Dann entdeckte er den Lautsprecher in der Ecke. »Elisabeth?« fragte er. Seine Stimme war plötzlich heiser. »Ja, ich bin hier, Harold. Wir sind alle hier!« antwortete Elisabeths Stimme. »Harold, wir konnten dich nicht sehen. Wir wußten nicht, was draußen los war…«
»Mister Gage!« Das war Alstons Stimme. »Die Stromkreise der Fernsehspäher haben einen Kurzschluß. Wir sahen nichts und wagten nicht, uns zu melden. Wir hätten sonst den falschen gewarnt…« »Verstehe«, unterbrach Harold den Professor. »Lassen Sie mich ausreden, denn das Unternehmen ist noch nicht zu Ende. Captain Hiskey und die Männer, die er mit der Landefähre auf Ihrem Asteroiden eingeschmuggelt hat, sind tot. McNulty, der Rilf, auch. Aber McNultys Waffe ist noch nicht tot und kann in den nächsten zwei Tagen noch unermeßlichen Schaden anrichten. Sagen wir lieber, in den nächsten zweieinhalb Tagen, um kein Risiko einzugehen. Bis dahin dürfen Sie diesen Sektor nicht betreten. Die Biester können mir nichts anhaben. Doch für Sie und Ihre Leute, Professor, gibt es kein Abwehrmittel gegen diese Waffe.« »Um was für eine biologische Waffe handelt es sich?« fragte Alston. Harold erklärte ihm kurz die Herkunft und Wirkungsweise der Tozien. Dann fügte er hinzu: »Vielleicht haben Sie die Energieglocke so rechtzeitig errichtet, daß die Tozien hier im Bereich des Landefeldes in der Falle sitzen. Aber wenn einige von ihnen diesen Sektor vorher verlassen haben, sind sie inzwischen über den ganzen Asteroiden ausgeschwärmt. Und sobald sie nur die kleinste Ritze entdecken, stürzen sie sich darauf und versuchen, ins Innere einzudringen.« »Glücklicherweise haben wir diese Gefahr gebannt«, erwiderte Alston. »Die Tozien, wie Sie diese Waffe nennen, sind unter der Energieglocke eingeschlossen. Das haben wir Ihrer Warnung zu verdanken.« »Wissen Sie das auch ganz genau, Professor?« »Die Spürgeräte in diesem Sektor schlugen aus, bis die Fernsehspäher ausfielen. Wir konnten die Signale nur schwer enträtseln, doch unsere ersten Schlüsse decken sich mit Ihrer
Beschreibung. Jeder Sektor des Planetoiden liegt im Augenblick unter einer Energieglocke. Von dort bekommen wir keine ähnlichen Warnsignale. Aber wir werden trotzdem kein Risiko eingehen. Die nächsten sechzig Stunden bleiben wir in unseren Isolierstationen.« »Sie scheinen ja die Steuerzentrale ebenfalls abgeschaltet zu haben«, sagte Harold. »Ja, nicht ausgeschaltet, sondern nur neutralisiert«, bestätigte Alston. »Wenn der Asteroid in Alarmzustand versetzt wird, schaltet die Station automatisch ab. Ihre Funktionen übernimmt ein unterirdischer Kontrollraum. Schließlich mußten wir immer mit der Möglichkeit eines Überfalls rechnen.« Harold seufzte. Jake Hiskey und McNulty hatten die Bewohner dieser Kleinstwelt genauso unterschätzt wie er. Nun, es wurde Zeit, mit den Aufräumungsarbeiten zu beginnen. »Sie haben die Systempolizei gebeten, Maßnahmen gegen die Prideful Sue zu ergreifen?« »Ja«, erwiderte Alston. »In ein paar Stunden müssen die Polizeikreuzer hier eintreffen.« Ein Tozien schwirrte dicht vor Harolds Gesicht vorbei. »Die Prideful Sue ist besser bewaffnet, als die Polizei vermutet«, sagte Harold. »Acht Mann Besatzung und ein zweiter Rilf sind noch an Bord. Die Kanoniere sind sehr gut ausgebildet. Trotzdem würde ich empfehlen, der Besatzung eine Chance zu geben.« »Ich werde das veranlassen. Auch Ihre Warnung, daß Vorsicht geboten ist, werde ich weitergeben.« »Da ist noch etwas: wir haben ein Raumschiff der Rilf hergeleitet und es außerhalb des Hoheitsgebietes des Erdsystems zurückgelassen. Die Besatzung besteht aus mehr als fünfzig Rilf. Hiskey hatte seinen Gewährsleuten auf der Erde versprochen, sie gegen Bezahlung als Söldnertruppe in lokalen Konflikten einzusetzen. Vielleicht versuchen die Rilf,
jetzt auf eigene Rechnung und ohne Mittelsmann auf die Erde zu gelangen. Ich glaube, das Schiff sollte an der Grenze des Hoheitsgebietes zurückgeschickt werden.« »Wo befindet sich das Schiff jetzt?« fragte Alston. »Keine feste Position. Aber es wird eine Kreisbahn um das Erdsystem einschlagen. Die Systempolizei wird das Schiff orten können.« Alston antwortete etwas, aber Harold konnte nicht mehr verstehen, was. Denn in diesem Augenblick traf ihn etwas im Rücken unter dem rechten Schulterblatt. Der Energiestrahl warf ihn vom Hocker. Er fiel auf den Boden, rollte sich auf die linke Seite und richtete den Oberkörper auf, den Energiestrahler in der rechten Hand. Jake Hiskeys Gesicht war wie eine grinsende rote Maske, als er am anderen Ende des Raumes am Türrahmen lehnte. Auch er hielt einen Energiestrahler in der Hand und drückte ab, ehe Harold den Commander im Visier hatte. Die Ladung zerschmetterte das Steuerpult hinter Harold und brannte dann ein Loch in den Boden dicht neben Harolds Füßen. In diesem Augenblick schoß Harold. Hiskey wurde aus der Tür geschleudert, drehte sich um die Achse und verschwand aus Harolds Blickfeld. Harold atmete langsam die Luft ein. Seine Lungen schmerzten. Sie fühlten sich an wie von einem Krampf zusammengezogen. Die Energieladung von Jakes erstem Schuß war zu schwach gewesen, sonst hätte Jake Hiskey ihn erledigt. Aber das spielte ja jetzt keine Rolle mehr. Die Decke drehte sich über ihm im Kreis, als er sich schwerfällig am Schaltpult hochzog und sich auf einen Hocker sinken ließ. Eine Stimme rief seinen Namen. Es war Elisabeth. »Nichts passiert«, erwiderte Harold. »Ich habe einen Treffer abbekommen; aber die Energie war zu schwach.« Fragen prasselten auf ihn herunter.
»Captain Hiskey war nur bewußtlos«, erklärte Harold. »Aber jetzt ist er ganz bestimmt tot.« Die Stimmen wurden undeutlich. Harold konnte sich nicht mehr konzentrieren. Er war erledigt. Vielleicht dauerte es noch eine Weile. Die Energieladung war zwar nur schwach gewesen, aber trotzdem reichte sie aus, um innere Blutungen auszulösen. In ein paar Stunden würde sein Herz und seine Lunge nur noch aus blutigem Brei bestehen. Diese Energiewaffen hatten eine unheimliche Wirkung. »… sofort in ärztliche Behandlung…« Natürlich, ärztliche Behandlung. Aber er hörte jetzt wieder, was sie ihm sagten. Sogleich erwachten wieder die Angst und die Sorge. »Nein, keiner darf diesen Raum betreten!« rief er. »Ich habe bereits erklärt, weshalb nicht. Sie dürfen den Energieschirm um keinen Preis abschalten, solange die Tozien noch am Leben sind. Die Biester sind unheimlich schnell. Sie müssen warten, bis auch die letzten verreckt sind.« Alston sprach jetzt von einer anderen Möglichkeit. Es gab eine kleine Notschleuse zwischen dem Sektor, wo Harold sich im Augenblick befand, und dem angrenzenden. Mit einem gepanzerten Raumanzug kam man nicht durch die Schleuse. Doch Harold würde es in seiner normalen Kleidung schaffen. Sobald er sich in der Schleuse befand, konnte man über die biologischen Spürgeräte sofort feststellen, ob gegebenenfalls auch Tozien in die Schleuse eingedrungen waren. Harold konzentrierte sich. Ja, das schien eine sichere Methode. Darauf konnte man sich verlassen. »Also gut. Mal sehen, ob das hinhaut.« Er stand schwerfällig auf. »Aber Sie dürfen auf gar keinen Fall die Energieglocke abschalten.« Er wankte zur Tür der Steuerzentrale. Jake Hiskey lag draußen neben der Tür. Harold ging nach rechts, während ein Schwarm Tozien ihm folgte, angelockt von seinen Bewegungen. Er war der einzige Gegenstand, der sich hier als
Ziel anbot. Dann kam ein Korridor, noch ein zweiter, schließlich eine Tür, und hinter der Tür eine kleine Kabine. Harold blickte sich in dem schmalen Raum um. »Ich glaube, ich bin am Ziel«, sagte er laut. »Ja, Sie befinden sich im richtigem Raum«, antwortete Alstons Stimme aus dem Lautsprecher. »Sie werden die Schleuse erst erkennen, wenn sie sich öffnet. Sie liegt Ihnen genau gegenüber.« »Lassen Sie sich Zeit mit dem öffnen«, antwortete Harold. »Die Tozien sind mir gefolgt.« Harold durchquerte den kleinen Raum. Die gegenüberliegende Wand war glatt und kahl. Nichts deutete darauf hin, daß sich hier ein Notausgang befand. Aber er stand jetzt genau mitten zwischen den Seitenwänden, nur einen Schritt von der Stirnwand entfernt. Er mußte es also mit zwei schnellen Schritten in die Schleuse schaffen, sobald die Tür aufging. »Professor Alston!« rief er. »Ja?« »Ich stehe jetzt vor der Schleuse. Warten Sie, bis ich Ihnen das Zeichen gebe. Dann handeln Sie rasch!« »Wir sind bereit«, antwortete Alston. Harold zog die beiden Waffen aus den Taschen, packte beide mit der rechten Hand und wirbelte sie über dem Kopf im Kreis herum. Mit der Linken stützte er sich gegen die Wand. Sofort stürzten sich die Tozien darauf, folgten in einem dicken Schwarm der Kreisbewegung. Harold steigerte die Geschwindigkeit der Bewegung, brach dann plötzlich damit ab und schleuderte die Waffen in die Ecke vorn neben der Tür. Das Summen verlagerte sich in die gleiche Ecke. Die Waffen prallten gegen die Wand und fielen auf den Boden. Ein Hornissenschwarm schien sich zur gleichen Zeit dort niederzulassen. »Jetzt!« brüllte er.
Er sah eine schmale dunkle Öffnung vor sich. Taumelnd fiel er durch den Spalt. Danach schien er in einen tiefen Brunnen zu stürzen, der keinen Boden hatte… Zuerst war dunkles Nichts. Dann das vage Bewußtsein verrinnender Zeit. Die Zeit dehnte sich unendlich – Jahre, Jahrhunderte. Schatten zeichneten sich ab und wichen vor ihm ins Nichts zurück. Ab und zu kam auch ein Gedanke. Ein Gedanke zog den andern an, dann ganze Ketten von Gedanken. Sie wurden zu Tatsachen. Tatsachen, das wußte er, besaßen großen Wert. Man könnte sie übereinander türmen, bis sie ein festes Gebäude bildeten. Langsam, mühselig, baute er an seinem Gebäude. Seine Gedanken schwärmten aus wie kleine Fische, glitten von einer Tatsache zur anderen. Schließlich hatte er zu viele Bausteine, und er mußte ein zweites Gebäude anfangen. Jetzt ging das Bauen schon viel leichter. Und er hatte einen Plan bekommen – von einem der Schatten, wie er sich erinnerte. Der Schatten wußte viel zu berichten. Die Männer, die auf der Prideful Sue zurückgeblieben waren, hatten gekämpft, als die Systempolizei mit ihren Raumkreuzern kam. Sie hatten tapfer gekämpft, und bis zum letzten Mann. Was anderes hätte man auch gar nicht erwarten sollen, dachte er; schließlich hatte er sie ausgebildet. Die Prideful Sue war zerstört worden. Es hatte keine Überlebenden gegeben. Das Rilf-Raumschiff hatte sich anders verhalten. Als es an der Grenze des Erdsystems von den Polizeikreuzern gestellt worden war, hatte es sofort abgedreht. Die Polizeikreuzer hatten das fremde Raumschiff eine Weile lang in den Weltraum hinausbegleitet. Als sie abdrehten, befand sich der Eindringling bereits ein halbes Lichtjahr von der Sonne entfernt. Dieser Kurs wurde beibehalten. Das Raumschiff entfernte sich immer weiter vom Erdsystem. Dieser Punkt war also geklärt.
Doch andere Tatsachen machten erheblich mehr Schwierigkeiten. Zum Beispiel er selbst. Zuerst lag er nur da, still und träumend. Dann ritt er auf einem dieser kleinen braunen Tiere herum, die früher einmal auf der Erde in großen Herden gelebt hatten. Schließlich ging er wieder auf eigenen Füßen, schwankend zwar, aber er ging. Es gab Perioden, die er bewußt erlebte. Doch dann folgten viel längere Zeiträume, in denen nichts geschah, die vollkommen leer waren. Tauchte er aus dieser Leere wieder auf, wußte er nicht, wo er gewesen war. Zuerst fiel ihm dieser Wechsel nicht auf. Doch dann quälte er ihn. Er lehnte sich dagegen auf. Elisabeth war bei ihm, als er ernsthaft über sein unstetes Verhalten nachdachte. »Der Arzt meint, das ist ganz natürlich«, sagte sie. »Der Energiestrahl hat nicht nur deinen Körper getroffen, Harold. Dein ganzes Nervensystem hat einen Schock davongetragen. Aber du bist bereits auf dem Weg der Besserung, Harold.« Also war das alles ein Genesungsprozeß. Er fand sich damit ab. »Wie lange geht das schon so?« fragte er. »Fast vier Wochen«, antwortete Elisabeth lächelnd. »Du erholst dich rasch, Harold. Was soll ich dir denn heute zeigen?« »Na – schauen wir uns mal an, was die Leute hier so unter der Oberfläche treiben«, erwiderte Harold. Professor Derek Alstons Asteroid gab ihm Rätsel auf. Auf dem Mars und auf der Polizeiakademie hatte man ihm erzählt, daß die privaten Asteroiden nichts anderes seien als die Luxuswelten reicher Privatleute, die sich mit ihren Millionen einen kleinen Himmelskörper kaufen konnten. Offenbar taten die Eigentümer dieser kleinen Sterne alles, um diesen Ruf aufrechtzuerhalten. Elisabeth berichtete ihm, sie habe erst kurz vor dem Examen erfahren, daß die Asteroiden eine Aufgabe
erfüllten, wie die Klöster und Schlösser zu Zeiten der Periode des Mittelalters der Erdgeschichte. Auf den kleinen privaten Himmelskörpern pflegte man die Wissenschaft und Kultur, Werte und Traditionen, die als Folge der endlosen Kette von Konflikten und Kleinkriegen auf der Erde allmählich vernichtet wurden. Darüber hinaus waren diese Asteroiden waffenstrotzende Forts, die jedem Angriff gewachsen waren. Die Pflanzen und Tiere, die auf der Oberfläche dieser kleinen Raumkörper existierten, waren nichts anderes als lebende Museumstücke. Doch er hatte das Gefühl, als stecke noch mehr dahinter. Dieser Asteroid war zu groß, um nur als Archiv oder Museum zu dienen. Der größere Teil seines Raumes wäre demnach praktisch ungenützt. Harold hatte fast acht Jahre lang nur in einem Raumschiff gelebt und dachte deshalb über das Problem des vorhandenen nutzbaren Raumes besonders gründlich nach. Hätte sich zum Beispiel die Bevölkerung des Asteroiden um das Hundertfache vermehrt, hätte sie trotzdem noch reichlich Platz auf der Oberfläche des Raumkörpers gefunden. Hier, in strenger Abgeschiedenheit, beschäftigte sich Elisabeth mit den Schätzen der Kunst und Literatur. Auch Harold sah sich oft in den Museen um. Doch er teilte die Begeisterung von Elisabeth nicht ganz. Zugegeben, hier konnte man herrliche Dinge bewundern. Doch diese Schönheit war leblos. Andere Projekte interessierten ihn viel mehr. Man trat in eine Kapsel, umgeben von einer zwiebelförmigen Schale. Man glitt durch ein System von Tunneln, hielt von Zeit zu Zeit an einer automatischen Schleuse an, wurde überprüft, und die Reise ging weiter. So gelangte man zu so einem Projekt. Zwei oder drei Leute waren damit beschäftigt. Sie wußten bereits, wer man war. Aber immer wieder wurde man vorgestellt, herumgeführt, mit den Problemen vertraut gemacht. Alles geschah mit unauffälliger Höflichkeit. Elisabeth begleitete ihn
auf diesen Rundfahrten. Ihr Interesse war mäßig, doch seines nahm immer mehr zu. »Sie führen hier ein paar gefährliche Experimente durch«, sagte er eines Tages zu Derek Alston, als er in dessen Wohnung eingeladen wurde. Seine Genesung war schon ziemlich weit fortgeschritten. Derek schüttelte den Kopf. »Ich bin für diese Experimente nicht verantwortlich«, erwiderte er. »Das sind Projekte der Raumuniversität und der Systempolizei. Mein Asteroid stellt nur die Räume und Apparate zur Verfügung.« »Ich dachte, Sie sind hier Ihr eigener Herr?« erwiderte Harold. »Diese Projekte schränken doch Ihre Hoheitsrechte ein!« Derek Alston zuckte nur die Achseln. »Sie müssen ja irgendwo forschen. Wenn die Berechnungen nicht stimmen und eines der Experimente außer Kontrolle gerät, können wir mit unseren Energieglocken den Gefahrenherd rasch eindämmen. Auch der Verlust an Menschenleben ist ungleich geringer als auf einem großen Planeten.« Das stimmte. Die Energieglocken, die Bewaffnung des Asteroiden waren wirklich bemerkenswert. »In Sektor II«, sagte er, »arbeitet man an einem Sonnenenergiestrahler. Wenn dieses Ding einmal in verkehrter Richtung losgeht, müssen Sie sich schon gewaltig anstrengen, um den Katastrophenherd einzudämmen.« Derek blickte ihn nachdenklich an. »Ich kann mir nicht denken«, sagte der Professor, »daß der Projektleiter, der Sie herumgeführt hat, Ihnen den Zweck dieser Maschine erklärt hat.« »Da haben Sie schon recht«, erwiderte Harold lächelnd. »Er versuchte mir weiszumachen, es handle sich um eine Bohrmaschine. Aber zufälligerweise habe ich schon eine ähnliche Waffe auf meinen Reisen im Weltall angetroffen.«
»Ja, das hätte ich mir denken können«, sagte der Professor. »Dort haben Sie natürlich erheblich mehr gelernt, als man Ihnen auf der Akademie beigebracht hat.« Derek kratzte sich verlegen hinter dem Ohr. »Ich möchte Ihnen eine Preisfrage stellen, Harold. Weshalb führen wir wohl solche Projekte auf unserem kleinen Raumkörper durch? Sie werden schon begriffen haben, daß die Systempolizei und die Raumuniversität selbstverständlich unter gleichen oder besseren Sicherheitsbedingungen solche gefährlichen Experimente durchführen könnten wie wir.« »Ganz einfach«, erwiderte Harold lächelnd. »Wenn man solche Projekte auf einem angeblichen Luxussternchen im Weltraum durchführt, will man sie geheimhalten.« »Ihre Antwort ist gar nicht so abwegig, Harold. Es gibt Menschen, und es gibt die Menschheit. Das ist heute nicht mehr dasselbe. Die Menschheit hat in diesem Jahrhundert auf der Erde eine Menge Leute und Prestige eingebüßt. Die Menschheit gibt es dort nur noch in versprengten Gruppen. Zwar ziehen sich die Menschen immer mehr in die äußeren Bereiche unseres Planetensystems zurück, doch die Menschheit sitzt immer noch auf ihrem Geburtsplaneten.« »Was wollen Sie damit sagen?« fragte Harold. »Sie meinen, es hat sich noch keine menschliche Gemeinschaft im Erdsystem herangebildet?« »Doch, im geheimen. In der Raumuniversität, in der Systempolizei und in den Ballungszentren wie zum Beispiel auf dem Mars. Auch auf privaten Asteroiden. Ja, die Menschheit ist hier; wenn auch auf einen weiten Raum verteilt. Sie sammelt sich im Erdsystem und wächst allmählich wieder zu einer Gemeinschaft zusammen.« Harold dachte über diese Worte nach. »Warum machen Sie eine Art Verschwörung daraus? Warum legen Sie nicht die Karten offen auf den Tisch?«
»Weil es gefährlich ist, die Menschen zu erschrecken. Vergessen Sie nicht, der größte Gegner des Menschen ist der Mensch. Auf der Erde betrachtet man das Erdsystem als eine Herausforderung. Aber die Erde hält sich an die Tatsachen. Im Erdsystem gibt es offensichtlich keine straffe Organisation, keinen einheitlichen Willen, kein Ziel. Hier lebt eine verhältnismäßig bescheidene Anzahl von Menschen. Deshalb ist man auf der Erde nicht beunruhigt. Man weiß, es gehört eine gewaltige Anstrengung dazu, uns zu vernichten. Der Aufwand lohnt nicht. Deshalb machen die Menschen auf der Erde weiter, sich gegenseitig die Schädel einzuschlagen. Um uns kümmern sie sich nicht, da sie in uns keine Gefahr für ihre kleinlichen Machtkämpfe sehen. Das wird noch lange so weitergehen. Und eines Tages wird es die Menschheit im Erdsystem nicht mehr interessieren, was für Pläne die Menschen auf der Erde schmieden. Die Projekte, die Sie gesehen haben, sind unbedeutend im Vergleich mit anderen. Von Jahr zu Jahr entwickeln wir uns weiter, lösen uns mehr und mehr von den Menschen auf der Erde. Wir machen viel größere Fortschritte als sie. Unsere Bevölkerung nimmt stetig zu. Schon jetzt zweifle ich daran, daß die Erde das Material und die Menschen aufbieten könnte, um unseren Entwicklungsprozeß entscheidend zu stören. Aber wir müssen unsere Stärke tarnen. Wir dürfen nicht zeigen, daß unsere Macht wächst. Wir wollen keinen Streit mit der Erde. Die Menschen dort sollen ihren Willen haben. Am Ende wird sich auch auf der Erde wieder eine Ordnung herausbilden. Die Menschen haben in ihrer langen Geschichte immer wieder neu angefangen, sind auf besonnene Wege zurückgekehrt. Wir können es abwarten…« Harold spürte, daß das nicht die Erklärung eines Privatmannes war. Sie stammte von höchster Stelle. Vielleicht sogar von einem der Führer des Erdsystems. Elisabeth und
Sally Alston hatten zwar Kenntnis von den Projekten, die hier durchgeführt wurden. Aber von dem Ziel wußten sie zweifelsohne nichts. Professor Alston hatte ihn also in geheime Pläne eingeweiht. Das war so gut wie ein Angebot. Harold dachte darüber nach. Ein Gefühl der Einsamkeit beschlich ihn, als würde er etwas verlieren. Elisabeth schien seine Gedanken zu erraten. Sie senkte traurig den Kopf. Dann kam ein neuer Tag. Zum erstenmal hielt er wieder eine Pistole in der Hand. Mit der Linken warf er die letzten drei Kristallkugeln in die Luft. Er hatte ein Dutzend davon aus einer Werkstatt mitgenommen. Seine Waffe blitzte auf. Die Kugeln glühten und verschwanden. Harold spürte, daß sich ihm jemand von hinten näherte. Als er den letzten Schuß abgegeben hatte, steckte er die Waffe in die Tasche und dreht sich um. Derek Alston stand hinter ihm. »Sie sind ein hervorragender Schütze, mein Freund!« bemerkte der Professor. »Zu so großer Meisterschaft habe ich es nie gebracht. Doch es macht Spaß, einem Experten zuzusehen.« Harold zuckte die Achseln. »Ich hatte viel Zeit, mich im Schießen zu üben. Auch zwang mich mein Beruf dazu.« »Da haben Sie recht«, meinte Derek lächelnd und streckte ihm ein paar zusammengefaltete Papiere hin. »Das ist Ihr neuester medizinischer und psychologischer Befund! Sie haben sich glänzend erholt, sind praktisch wieder der alte. Möchten Sie die Untersuchungsergebnisse lesen?« Harold schüttelte den Kopf. »Nein. Ich spüre schon seit ein paar Tagen, daß ich wieder meine alte Gesundheit und meine früheren Fähigkeiten zurückgewonnen habe.« Er klopfte mit der Faust gegen die Tasche, in der die Pistole steckte. »Deswegen das Übungsschießen. Es war ein Test.« Sie blickten sich schweigend an. Harold suchte nach Worten. Wie sollte er es ihm beibringen? Die Alstons waren liebenswürdige, großzügige Gastgeber gewesen. Aber Harold
hatte sich acht Jahre lang zwischen den Sternen herumgetrieben. Viele seiner Wunschträume hatten sich nicht erfüllt, so mancher Reif hatte zarte Blüten zerstört. Doch trotz der üblen Erfahrung, die er mit der Prideful Sue gemacht hat, trotz dieses Makels, der seinen abenteuerlichen Reisen anhaftete, hatte er gefunden, was er suchte. Das Erdsystem schien im Vergleich zur Unendlichkeit des Alls zwergenhaft und unbedeutend. Er konnte diese Enge nicht mehr ertragen. Fasse dich kurz, dachte er. »Ich weiß zwar noch nicht, was ich jetzt unternehmen werde«, sagte er zu Derek Alston. »Doch über eines bin ich mir klar: ich werde wieder mit einem Raumschiff in den transsolaren Raum hinausfliegen.« »Großartig«, erwiderte Derek. »Ich hoffte, daß Sie das tun würden!« »Ich war mir im Zweifel, ob Sie das verstehen würden – und Elisabeth…« »Aber natürlich versteht sie das! Ich ebenfalls. Wir alle haben großes Verständnis für Ihr Vorhaben.« Derek lächelte. »Doch ehe wir von Abschied reden, muß ich Ihnen noch eines unserer Projekte zeigen. Es wird Ihnen gefallen…« Kurz darauf verließen sie eine Kapsel tief im Innern des Asteroiden. Vor ihnen gähnte ein breiter Korridor. Eine gewaltige Schleuse öffnete sich automatisch, und ein lichtdurchfluteter Saal tauchte vor Harolds Blicken auf. »Kommen Sie herein und sehen sich um«, forderte Derek seinen Gast auf. »Das ist unsere dritte Steuerzentrale. Nicht viele wissen, daß wir so etwas überhaupt haben.« Harold sah sich in dem Saal um. Zuerst ungläubig, dann mit zunehmendem Staunen und wachsender Ehrfurcht. Er blickte Derek Alston fragend an. »Darf ich einmal probieren?« »Aber nur zu, junger Mann!«
Vor zwei Jahren hatte Harold die Steuerzentrale des größten, neuesten und teuersten Raumtransporters der Erde besichtigen dürfen. Doch im Vergleich zu dem, was er hier sah, war alles andere ein rückständiges, unbedeutendes, altmodisches System. Seine Augen leuchteten. Die Begeisterung eines Kenners erfaßte ihn. »Haben Sie auch genügend Energie, um auf große Fahrt zu gehen?« fragte er. »Wir haben genug.« »Wo wollen Sie mit dem Asteroiden hin? Hinaus in den Weltraum?« »Ich sagte Ihnen ja schon, daß die Menschheit noch nicht soweit ist, auch den Weltraum für sich zu erobern«, erwiderte Derek. »Noch sind unsere Grenzen auf das Planetensystem unserer Sonne beschränkt. Doch wir haben alles vorbereitet. Wir haben die Möglichkeiten dazu geschaffen. Alles steht bereit, um die Menschheit auch auf anderen Planetensystemen anzusiedeln. Die Sterne im Weltraum wissen noch nichts davon, daß wir über unsere Grenzen hinaus bis zu ihnen vorstoßen können. Sie werden es erst erfahren, wenn wir es für richtig halten.« »Sie wollen also mit Ihrem Asteroiden hinaus in den transsolaren Raum?« »Nein, mein Asteroid bleibt hier. Wenigstens noch ein paar Jahre. Wir müssen erst noch andere Projekte zu Ende führen. Doch ein paar andere Asteroiden – die Vorhut sozusagen – werden in den nächsten drei Monaten auf die große Reise gehen. Man braucht einen im transsolaren Raum erprobten Navigator. Ausdrücklich verlangen die Kollegen auch einen Commander, der Weltraumerfahrung besitzt und mit allen Waffensystemen vertraut ist. Wenn Sie Interesse für so einen Posten haben, werde ich Sie noch heute nachmittag meinen Kollegen vorstellen.« Harold holte tief Luft. »Einverstanden«, sagte er.
Originaltitel: THE CUSTODIANS. Copyright 1968 by The Conde Nast Publications, Inc. Aus ANALOG Dezember 1968.
Eric Frank Russell DER BASTLER
Das Raumschiff stieß in einem weiten Bogen aus dem goldfarbenen Himmel herab. Als es mit Getöse landete, brannte es eine Schneise von zwei Meilen Breite aus der üppigen Vegetation heraus. Es war eine spektakuläre Ankunft und hätte auf der Erde bestimmt Aufsehen erregt. Aber hier war niemand Zeuge dieses Vorganges, der in diesem entlegenen Winkel des Kosmos belanglos war und mit dem Schweigen der Ewigkeit übergangen wurde. Das Schiff lag am Ende der Schneise, der Himmel schimmerte so sanft wie zuvor, und die grüne Vegetation ringsum brütete wieder still vor sich hin. In der Transpexkuppel verschränkte Steve Ander die Arme und dachte nach. Er war dazu erzogen worden, sorgfältig abzuwägen. Tollkühnheit konnten sich Astronauten nicht leisten. Die Gefahren in diesem Beruf waren zu groß. Er verlangte ausgeglichene, intelligente Männer, die logisch denken und jedes Risiko kalkulieren konnten. Fünf Minuten Bedenkzeit hatten schon viele Astronauten davor gerettet, mit einem Lungenriß, einem explodierten Herz oder an einem gebrochenen Schädel zu sterben. Während die Heckdüsen sich allmählich abkühlten, saß Steve auf dem Pilotensitz und starrte durch die Kanzel, ohne etwas wahrzunehmen. Er war viel zu sehr mit seinen Gedanken beschäftigt. Was wußte er von dem Himmelskörper, auf dem er so überhastet gelandet war? Seiner Schätzung nach mußte er ungefähr zehnmal so groß sein wie die Erde. Das mußte
Auswirkungen auf sein, Steves, Körpergewicht haben. Wenn man mühsam herumkroch wie auf dem Saturn, dann war das Gewicht des Himmelskörpers erheblich größer als das der Erde. Doch sobald man vor lauter Übermut Bäume ausreißen wollte, war das Gewicht im Vergleich zur Masse gering. Normalgewicht bedeutete also, daß dieser Himmelskörper trotz zehnfacher Größe nur das Gewicht der Erde hatte. Folglich bestand der Kern des Planeten nur aus leichter Materie. Und leichte Materie bedeutete keine schweren Elemente. Kein Thorium, kein Nickel, keine Nickel-Thorium-Verbindung. Ergo: es gab keine Rückkehr für Steve. Der Kingston-Kane-Atomreaktor verwendete eine NickelThorium-Verbindung als Brennstoff. Er wurde in Form eines halbzölligen Drahtes direkt in die Zerstäuberkammer eingeführt. Denaturiertes Plutonium konnte man ebenfalls verwenden; aber es kam in natürlicher Form nicht vor und mußte künstlich hergestellt werden. Auf seiner Treibstoffspule hatte er noch knapp einen Meter Nickel-Thorium-Draht. Das reichte nicht mehr aus. Er mußte hierbleiben. Es gab keine Rückkehr zur Erde mehr. Logik war schon eine feine Sache. Man ging von der Voraussetzung aus, daß die Backen des Allerwertesten so rund waren wie sonst. Nicht niedergedrückt, auch nicht über dem Sitz schwebend. Ganz normal. Und von dieser Voraussetzung kam man dann zu dem unausweichlichen Schluß, daß die Weltraumbummelei leider zu Ende war. Man wurde zum Eingeborenen degradiert. Die Vorsehung hat dich etikettiert. Du bist dazu auserkoren, der erste Ureinwohner zu werden. Steve griff zu Dauerschreiber und Logbuch und überflog die letzten Eintragungen. »Achtzehnter Tag: Ich gerate aus dem Anziehungsbereich des Riegel. Kosmische Raumbeben werfen mich in eine unerforschte Region.
Vierundzwanzigster Tag: Das Raumbeben wird schwächer. Fällt um sieben Parsec zurück. Der Robot-Computer spielt verrückt. Abgangswinkel wechselte siebenmal innerhalb vierundzwanzig Raumstunden. Neunundzwanzigster Tag: Bin jetzt aus dem Bereich des Bebens heraus. Gewinne allmählich Herrschaft über das Raumfahrzeug zurück. Die Geschwindigkeit liegt immer noch erheblich über der Skala. Versuche, vorsichtig mit Bremsraketen zu verzögern. Brennstoffreserve: zwölfhundert Meter. Siebenunddreißigster Tag: Halte auf erstes Planetensystem in Reichweite meines Raumschiffes zu.« Er machte ein mürrisches Gesicht, während seine Wangenmuskeln arbeiteten. Dann trug er mit deutlicher Handschrift ein: »Neununddreißigster Tag: Lande auf unbekanntem Planeten. Abstammung unbekannt. Galaktisches Raumquadrat und Sektorennummer unbekannt. Keine besonderen kosmischen Erscheinungen in der Nähe des Planeten. Winkel und Aufprallgeschwindigkeit beim Eintritt in planetarische Atmosphäre konnte nicht berechnet werden. Zustand des Raumschiffes: Zufriedenstellend, manövrierbar. Brennstoffreserve: einen Meter.« Er schlug das Logbuch wieder zu, rümpfte die Nase und schob den Schreiber in die Tischklemme. Dann murmelte er: »Jetzt wollen wir mal die Außenluft überprüfen und nachsehen, was die Freundin macht.« Der Radston-Messer besaß drei einfache Skalen. Die erste Skala registrierte den Druck der Außenatmosphäre mit 13,7 Pfund – ein Meßwert, den er mit außerordentlicher Befriedigung zur Kenntnis nahm. Die zweite Skala verriet ihm, daß der Sauerstoffgehalt hoch war. Die dritte Skala hatte nur ein zweifarbiges Feld: links weiß, rechts rot. Die Nadel stand in der Mitte des weißen Feldes.
»Das Zeug läßt sich also atmen«, brummte Steve und schloß den Deckel über dem Radston-Atmosphärenmesser. Dann ging er durch die Steuerkanzel auf eine Wandkabine zu, schob das Zwischenschott zurück und blickte in den gepolsterten Raum. »Kommst du raus, Süße?« fragte er. »Steve hat Laura lieb?« fragte eine Stimme. »Da kannst du Gift drauf nehmen!« erwiderte Steve, schob den rechten Arm in die Kabine und hob einen großen, prächtig gefiederten Makao heraus. »Hat Laura Steve lieb?« »Haha!« lachte Laura heiser. Sie turnte an seinem Arm hinauf und setzte sich auf seine Schulter. Er spürte den Griff der kräftigen Klauen. Der Papagei sah ihn mit seinen glänzenden Knopfaugen an und rieb dann den roten Kopf an Steves linkem Ohr. »Haha! Zeit fliegt!« »Sprich nicht davon«, erwiderte er. »Wir haben jetzt mehr Zeit, als uns lieb sein kann.« Jedes Erkundungsschiff hatte zwei Besatzungsmitglieder: einen Astronauten und einen Makao. Als Steve auf der Akademie zum erstenmal davon gehört hatte, glaubte er, das Ganze sei ein dummer Witz. Doch später fand er selbst heraus, wie praktisch und klug diese Maßnahme war. »Einsame Männer, die versuchen, in unbekannte Bereiche des Weltalls vorzustoßen, sind außerordentlichen psychologischen Belastungen ausgesetzt. Sie brauchen eine Verbindung zur Erde. Ein Makao ist dafür der geeignete Partner. Darüber hinaus ist ein Papagei von allen Vögeln am besten den Belastungen des Weltraums gewachsen. Sein Gewicht ist außerordentlich gering. Er kann sprechen und den Astronauten bei guter Laune halten. In Notfällen kommt er sehr gut allein zurecht. Wenn eine Besatzung an Land geht, erkennt der Papagei die Gefahren meistens früher als der Mensch. Jede unbekannte Frucht, die er verzehrt, ist auch für den Menschen genießbar. Der Makao hat schon oft das Leben
seines menschlichen Gefährten gerettet. Sorgen Sie gut für ihren Begleiter, mein Junge, und Ihr Begleiter wird für Sie sorgen!« Ja, bisher waren sie gut miteinander ausgekommen, die beiden Wesen von der Erde. Der Papagei und der Mensch lebten im Weltraum sozusagen in Symbiose. Ehe die Epoche der Raumfahrt auf der Erde angebrochen war, hatte niemand an so eine Verbindung von Mensch und Tier gedacht. Das heißt, nicht an eine so enge Verbindung zwischen Mensch und Vogel. Mit dem Papagei auf der Schulter ging Steve hinüber zur Luftschleuse. Er schaltete erst gar nicht die Pumpe ein. Das war unnötig, weil der Druckunterschied zwischen drinnen und draußen nur gering war. Er öffnete beide Schleusentore, ließ ein bißchen von der unter höherem Druck stehenden Kabinenatmosphäre entweichen, balancierte einen Moment auf der Schwelle der Ausstiegsluke und sprang dann hinunter. Laura stieß sich von seiner Schulter ab und folgte ihm flatternd. Als Steve sich wieder aufrichtete, nahm Laura ihren alten Platz auf seiner Schulter ein. Steve ging um das Raumschiff herum und machte stumme Bestandsaufnahme. Vordere Bremsdüsen okay. Hintere Steuerklappen okay. Heckrückstoßrohre okay. Alles war zwar tüchtig angesengt, aber brauchbar. Auch die Außenhaut des Raumschiffes hatte Spuren von der Reibungshitze davongetragen, zeigte jedoch nirgends ernsthaften Materialschaden. Tausend Meter Brennstoffdraht und Vorräte für drei Monate würden ausreichen, um das Raumschiff wieder zur Erde zurückzubringen. Theoretisch natürlich. Steve hatte in dieser Hinsicht keine Illusionen. Die Wahrscheinlichkeit sprach immer noch gegen ihn; auch wenn er Brennstoff und Nahrungsmittel bekommen sollte. Denn er wußte ja nicht, wo er sich befand.
»Immerhin«, murmelte er, während er seine Runde abschloß, »hier kann man wenigstens leben. Wir brauchen uns kein Haus zu bauen. Auf der Erde verlangt man viel Geld für einen Ganzmetallbungalow mit Klimaanlage. So ein Haus haben wir schon. Wir brauchen nur noch einen Garten drumherum anzulegen und hinter den Raketendüsen einen Swimmingpool auszuheben. Du bekommst eine bunte Schürze und übernimmst die Küche.« »Haha!« krächzte Laura. Er sah sich jetzt die Vegetation am Rande der Schneise an. Da gab es alle Größen und Formen, gewohnte und ungewohnte, alle Schattierungen vom Grün bis zum Hellblau. Irgend etwas Ungewöhnliches fiel ihm sofort an dieser Vegetation auf. Er konnte nur nicht sagen, was. Unerklärlich, was daran so eigenartig war. Direkt vor seinen Füßen wuchs eine Pflanze. Sie war ungefähr dreißig Zentimeter groß, von grüner Farbe und einkeimblättrig. Wenn man die Pflanze als Einzelexemplar betrachtete, war nichts Auffälliges an ihr zu entdecken. In ihrer Nähe blühte ein Busch von etwas dunklerer Farbe. Er war knapp einen Meter hoch, hatte grüne föhrenähnliche Nadeln, also keine Blätter wie die Pflanze daneben, und trug blasse milchiggrüne Beeren. Auch mit diesem Exemplar schien alles in Ordnung zu sein, wenn man sie als Einzelexemplar studierte. Daneben wuchs eine zweite Konifere. Sie unterschied sich von ihrer Nachbarin durch die erheblich längeren Nadeln und durch die glänzenden rosa Früchte. Dahinter ragte ein kaktusartiges Gebilde auf, das der Phantasie eines surrealistischen Malers entsprungen sein konnte. Und dann kam eine Art von Regenschirm, der Wurzeln geschlagen hatte und kleine rosenfarbige Schwämme aus dem Stamm trieb. Wie gesagt, als Einzelexemplare schienen diese Gewächse für
menschliche Begriffe durchaus akzeptabel. Doch sah man sie in einer Gruppe stehen, suchte der irdische Verstand sofort nach etwas, das er nicht finden konnte. Steve kam einfach nicht darauf, was hier fehlte. Unbegreiflich – hier gab es nicht nur sonderbare neue Formen pflanzlichen Lebens, sondern auch ein Geheimnis. Steve registrierte diese Tatsache. Weiter konnte er den Dingen nicht auf den Grund gehen. Eine Meile entfernt lag ein See mit einer Flüssigkeit, die vielleicht die chemische Zusammensetzung von Wasser aufwies. Er hatte die Oberfläche des Sees im Sonnenlicht glitzern sehen, als er landete. Falls es sich bei der Flüssigkeit in diesem See nicht um Wasser handeln sollte, hatte er eben Pech gehabt und mußte sich woanders umsehen. Im schlimmsten Fall mußte er mit seinen letzten Kraftstoffreserven noch eine Umkreisung des Planeten wagen. Denn Wasser brauchte er nun einmal, wenn er auf diesem Planeten nicht die Mumie von Ramses II. imitieren wollte. Steve griff nach oben, hielt sich am unteren Rand der Ausstiegsluke fest und zog sich hinauf. Eine Minute lang kramte er im Lagerraum des Raumschiffes und kam dann mit einer Zwanzig-Liter-Vakuumkanne zurück, die er auf den Boden hinunter warf. Anschließend schnallte er sich einen Waffengurt um, steckte eine Pistole ins Halfter und ließ eine Faltleiter von der Luke zum Boden hinunter. Er brauchte jetzt eine Leiter. Mit einer fast fünfzig Pfund schweren Wasserkanne konnte man schlecht Klimmzüge machen. Dann sperrte er die innere und äußere Luftschleusenkammer ab, kletterte die Leiter hinunter und hob die Kanne auf. Nach allem, was er gesehen hatte, mußte der See auf einer gedachten Linie vor dem Bug des Raumschiffs liegen – irgendwo hinter den Bäumen. Laura krallte sich auf Steves Schulter fest, als er sich auf den Weg machte. Sie kamen nur langsam voran. Das
lag nicht an der Beschaffenheit des Bodens, sondern an der üppigen Vegetation. Erst jetzt kam Steve der Gedanke, daß es besser gewesen wäre, das Heck des Schiffes in die Richtung des Sees zu drehen. Dann hätte der Raketenstrahl eine Schneise in die Vegetation hineingebrannt, die ihm jetzt so sehr zu schaffen machte. Falls es hier Tiere gab, die den Schlangen auf der Erde entsprachen, konnte das Wasserholen gefährlich werden. Bei diesem Gedanken bekam er eine Gänsehaut. Denn vor ihm lag eine Liane, die einer Schlange verdammt ähnlich sah. Auf der Venus gab es Gewächse, die sich sofort um das Bein ringelten, wenn man darauftrat. Die Makaos kreischten jedesmal entsetzlich, sooft man den Biestern, die einen fleischfressenden Saft aussonderten, nur bis auf zwei Meter nahe kam. Es war ein beruhigendes Gefühl, daß Laura ganz ruhig auf seiner Schulter sitzenblieb. Je weiter er in dieser Wildnis vordrang, um so mehr irritierte ihn ihre Eigenart. Daß er sie nicht definieren konnte, ärgerte ihn noch mehr. Steve zog die Mundwinkel herab, als spotte er über sich selbst, während er sich aus einem dornigen Busch herausarbeitete und auf einer kleinen Lichtung stehenblieb. Er stellte die Kanne neben sich. Dabei entdeckte er etwas Helles, Schimmerndes, ein paar Meter von der Kanne entfernt. Er starrte auf diesen Fleck und erkannte, daß es sich um einen Käfer handeln mußte. Dieser Käfer war das größte Exemplar, das ein Mensch jemals zu Gesicht bekommen hatte. Natürlich gab es größere Lebewesen, aber nicht von dieser Gattung. Krabben zum Beispiel. Doch das war keine Krabbe. Es handelte sich um einen vierundzwanzigkarätigen Käfer, der da zielstrebig über die Lichtung gekrochen kam. Er war so groß, daß jede Krabbe bei seinem Anblick einen schweren Minderwertigkeitskomplex
bekommen hätte. Und es war ein schöner Käfer. Er ähnelte einem Scarabäus. Steve hatte keine Angst vor Insekten. Obgleich er mit dem menschlichen Vorurteil groß geworden war, daß kleine Käfer gefährlich und große Käfer harmlos seien. Das rührte auch daher, daß er als Schuljunge einen Hirschkäfer in einer Zigarrenkiste großgezogen hatte. Er hatte ihn damals Edgar getauft. Er kniete vor dem unbeholfenen Riesen nieder und versperrte ihm mit dem Arm den Weg. Der Käfer untersuchte seine Hand mit lebhaftem Fühlerspiel. Dann krabbelte er auf Steves Handgelenk und blieb dort sitzen. Der Käfer wog ungefähr drei Pfund und besaß einen Panzer aus einem Material, das wie Metall schimmerte. Steve setzte ihn wieder sanft auf den Boden. Der Käfer lief weiter. Laura sah ihm mit scharfen, aber desinteressierten Augen nach. »Scarabäus Anderii«, sagte Steve. »Ich habe ihm eben seinen wissenschaftlichen Namen gegeben, aber niemand wird davon etwas erfahren.« »Dideldidum!« schrie Laura. »Dideldideldideldum. Der schwarze Mann geht um!« Dann setzte der Makao ein Wort hinzu, das Steve nur selten in den Mund nahm, weil es so ordinär war. Steve war es unbegreiflich, wo der Papagei es gehört haben konnte. Laura schien es zu gefallen; denn sie krallte sich noch fester, schlug mit den Flügeln und schrie mit offensichtlichem Vergnügen: »Du Sau! Du…« Steve gab Laura keine Gelegenheit mehr, das Wort zu wiederholen. Mit einer raschen Bewegung seiner Schulter schüttelte er den Papagei ab. Laura flatterte mit protestierendem Kreischen auf den Boden. Der Scarabäus Anderii kam hinter einem Busch hervor und starrte vorwurfsvoll zu dem Makao hinüber. Dann folgte ein ganz anderes Geräusch aus einer Entfernung von etwa fünfzig Metern. Es hörte sich an wie die Trompete des Jüngsten Gerichts. Es kam ein Stampfen, daß die Erde
bebte. Scarabäus Anderii flüchtete sofort in eine Höhle unter einer Baumwurzel. Laura flatterte auf Steves Schulter und hakte sich dort verzweifelt fest. Steves Waffe zielte bereits nach Norden, ehe der Papagei seinen gewohnten Sitzplatz eingenommen hat. Dann kam wieder ein Schritt. Der Boden schwankte wie bei einem kleinen Erdbeben. Eine Weile lang herrschte Stille. Steve stand da wie eine Statue. Dann hörte er ein gellendes, lautes Pfeifen – kräftiger und schriller als eine Lokomotive, die Dampf abläßt. Etwas Vierschrötiges, Breites brach durch die Pflanzen, die das Wesen halb verborgen hatten. Die Erde stöhnte unter seinem Gewicht. Der blindwütige Ansturm trug das Tier zu einer Stelle ungefähr zwanzig Meter rechts neben Steve. Steve war der Bewegung mit dem Visier seiner Waffe gefolgt. Aber er drückte nicht ab. Er sah ein schiefergraues Etwas, das oben eine wellige Kammlinie hatte. Obwohl dieses schiefergraue Wesen sich rasch bewegte, brauchte es ziemlich lange, bis es in seiner ganzen Körperlänge an ihm vorbeigetrabt war. Es hatte die Länge von drei aneinandergelegten Feuerwehrleitern. Büsche flogen durch die Luft und kleine Bäume bogen sich zur Seite wie Grashalme, als der Koloß wütend durch die Gegend tobte und in einer geraden Linie dahinschoß, die es in sicherer Entfernung am Raumschiff vorbei irgendwo in die Wildnis hinaustragen mußte. Es hinterließ eine Spur, die man ohne Mühe zu einer Autobahn hätte ausbauen können. Dann ebbte auch das letzte Beben ab, das jenes schwergewichtige Ungetüm ausgelöst hatte, und alles wurde wieder still. Steve zog ein Taschentuch aus dem Anzug und wischte sich den Schweiß von Stirn und Nacken. Dabei behielt er die Waffe immer schußbereit in der rechten Hand. Die Explosivpatronen im Magazin waren verdammt gefährlich. Deswegen mußte man vorsichtig damit umgehen. Mit so einer Patrone konnte man ein zwei Zentner schweres Stück Fleisch aus einem
Rhinozeros herausschießen. Schoß man damit auf einen Menschen, verteilte er sich als organischer Dünger über eine Fläche von zehn mal zehn Metern. Aber soweit er den Umfang des schiefergrauen galoppierenden Ungetüms hatte übersehen können, hätte er mindestens ein Dutzend Explosivpatronen gebraucht, um den Koloß nur zu einer Kursänderung von zwei Grad zu bewegen. Wahrscheinlich hätte er ein paar Mittelstreckenraketen mitbringen sollen, um bei der nächsten Begegnung mit so einem Tier nicht in Schwierigkeiten zu kommen. Doch Expeditionsschiffe für Erkundungszwecke nahmen keine schweren Waffen mit. Also blieb Steve nichts anderes übrig, als sich den Schweiß abzuwischen und mit seiner Wasserkanne weiterzutrotten. Laura kreischte: »Ich möchte zu meiner Mutter.« Steve runzelte unwillig die Stirn, gab aber keine Antwort. Tapfer schritt er weiter in die Richtung, wo der See liegen mußte. Laura verstummte ebenfalls, doch ihr Gefieder blieb gesträubt. Die Flüssigkeit im See war tatsächlich Wasser – kalt, etwas grün und ein bißchen zu bitter. Doch mit lösbarem Kaffee würde sich dieser Geschmack leicht verdrängen lassen. Vielleicht verbesserte das bittere Wasser sogar das Aroma; denn Steve trank seinen Kaffee immer schwarz und ohne Zucker. Aber er mußte die Flüssigkeit einer genaueren Untersuchung unterziehen, ehe er sie in größeren Mengen konsumieren konnte. Es gab Gifte, die erst in einer gewissen Konzentrierung wirksam wurden. Man konnte zum Beispiel nicht wochenlang damit gurgeln, während sich eine tödliche Bleivergiftung in den Knochen ansammelte. Steve füllte also seine Vakuumkanne mit dem kostbaren, aber immer noch verdächtigen Naß, und schleppte sie zurück zum Raumschiff. Die Spur, die das Untier hinterlassen hatte, war jetzt eine große
Hilfe für Steve. Sie erleichterte den Wassertransport erheblich. Trotzdem war er in Schweiß gebadet, als er wieder vor der Faltleiter stand. Kaum befand er sich in seinem Raumschiff, verriegelte er die Luftschleusen, schaltete das Versorgungsaggregat ein und braute sich mit seiner letzten Wasserration an Bord einen Filterkaffee. Die goldene Himmelskuppel hatte sich zu blassem Orange verfärbt. Violette Bänder krochen jetzt vom Horizont herauf. Er sah diesem Schauspiel von seiner Kanzel aus zu. Dunst verschleierte die untergehende Sonne. Er mußte bald das Licht einschalten. Steve ließ den Klapptisch herunter und stellte den kurzen Stab auf, der Laura als Platz diente. Sie kletterte sofort hinauf und sah ihm zu, während er eine Mahlzeit aus Wasser, Melonenkernen, Sonnenblumensamen und Nüssen für sie bereitete. Sie fiel über ihr Essen her, ohne auf Steve zu warten. Eine steile Falte bildete sich auf Steves Stirn. Nachdenklich zündete sich Steve nach dem Essen eine Zigarette an und starrte durch das Spezialglas der Pilotenkanzel. Schließlich brummelte er vor sich hin: »Ich habe den größten Käfer gesehen, den jemals ein Mensch zu Gesicht bekommen hat. Ich habe auch noch ein paar andere Insekten entdeckt. Unter einer Liane krabbelten ein paar kleine Käfer. Einer war lang und braun, hatte viele Füße und glich einem Ohrwurm. Der andere war rund und schwarz und hatte kleine braune Punkte auf den Flügeldecken. Auch eine rote Spinne und eine winzige grüne Milbe krochen im Moos herum. Aber keine Ameise.« »Ameise, Ameise!« krächzte Laura. Sie ließ eine Nuß fallen und flatterte hinterher. »Keine Biene.« »Biene«, wiederholte Laura. »Bienenameise. Laura hat Steve gern!« Nachdenklich fuhr Steve fort: »Das gleiche Lied. Etwas
stimmt auch mit den Insekten nicht. Ich wünschte, ich käme dahinter, was das ist. Vielleicht habe ich den Einsamkeitskomplex. Vielleicht werde ich auch verrückt.« »Laura ist ganz verrückt nach Nüssen!« »Ich weiß, du komischer Vogel in Technicolor!« antwortete Steve. Und in diesem Augenblick brach die Nacht so plötzlich herein wie in den Tropen auf der Erde. Das Gold und Orange des Himmels wurde von einer tiefen, undurchdringlichen Schwärze verdrängt. Weder ein Stern noch ein Lichtfunke waren zu erkennen. Nur das grünliche Leuchten der Instrumente war noch zu sehen. Laura fluchte auf dem Boden ununterbrochen vor sich hin. Steve schaltete die indirekte Beleuchtung ein. Sofort flatterte Laura mit der Nuß im Schnabel auf ihre Sitzstange. »Scarabäus Anderii, ein paar Käfer, ein paar Spinnen. Alles Einzelwesen, alle anders. Und am anderen Ende der Skala dieser kolossale Saurier. Doch keine Ameise und keine Biene. Oder besser gesagt, keine Ameisen und keine Bienen.« Der Wechsel von der Einzahl zur Mehrzahl wirkte wie ein belebender Schock. Er spürte, daß er bei diesem Wechsel dem Geheimnis, das er zu ergründen suchte, nähergekommen war. Keine Ameise – keine Ameisen, dachte er. Keine Biene – keine Bienen. Er stand dicht vor der Lösung; aber er hatte sie noch nicht… Er grübelte nicht mehr länger darüber nach, sondern räumte den Tisch ab und beschäftigte sich mit der Hausarbeit. Dann entnahm er ein paar Proben aus der Vakuumkanne, holte seine analytische Tabelle aus dem Fach und begann mit der Untersuchung. Der bittere Geschmack des Wassers rührte von Magnesiumsulfat her, das in Spuren im Wasser gelöst war. Harmlos. Das Wasser war also genießbar. Damit war auch das Hauptproblem, wie man überleben konnte, gelöst. Nahrung,
Wasser und Unterkunft waren vorhanden. Er trug die Ereignisse des Tages in das Logbuch ein. Er berichtete nur die Tatsachen. Dabei überlegte er sich auch, wie er den Planeten nennen sollte. Ander vielleicht? Nein, das würde man ihm übelnehmen, falls die Chance von eins zu einer Million tatsächlich eintreten sollte und ein Suchtrupp ihn von diesem Planeten erlöste. Laura! Ein genialer Einfall war das auch nicht. Schon gar nicht, wenn man wußte, daß Laura ein Papagei war. Dann fiel ihm der goldene Himmel über dem Planeten wieder ein. Oro, das war der passende Name! Sogleich machte er die Taufe amtlich, indem er ihn in das Logbuch schrieb. Während Steve seinen Bericht verfaßte, döste Laura neben ihm auf der Sitzstange, den Kopf unter den Flügel gesteckt. Ab und zu schreckte sie hoch und reckte den Schnabel. Steve faszinierte es immer wieder zu beobachten, wie der Vogel selbst im Schlaf das Gleichgewicht auf der Stange behielt. Dann schob er das Logbuch zurück, zog den Vierzig-TageChronometer auf und klappte das Bett aus der Wand. Er legte sich nieder und schaltete das Licht aus. Vor zehn Jahren hätte eine Landung auf unentdecktem Territorium ihn noch die ganze Nacht wachgehalten. Doch Steve war ein erfahrener Weltraumhase. Solche Dinge ließen ihn jetzt kalt. Steve fürchtete manchmal, daß er sogar ein bißchen zu phlegmatisch wurde. Er schloß die Augen und wartete auf einen tiefen, gesunden Schlaf. Er schlief auch – aber nur zwei Stunden lang. Was ihn geweckt hatte, wußte er nicht anzugeben. Doch plötzlich saß er kerzengerade auf seiner Pritsche. Seine Nerven schienen zum Zerreißen gespannt, seine Ohren lauschten angestrengt, seine Beine zitterten. So ein Erwachen hatte er bisher noch nie erlebt. Sein Körper schien unter einem Schock
zu stehen. Ein Zeichen, daß er nur knapp einer Katastrophe entgangen war! In der Dunkelheit fand er sofort seine Waffe. Er legte die Finger um den Griff, während er sich an einen Alptraum zu erinnern versuchte. Vergeblich. Er wußte, daß er sehr selten unter Alpträumen litt. Laura bewegte sich unruhig auf ihrer Stange. Der Papagei befand sich in einem Zustand zwischen Wachen und Träumen. Auch das war ungewöhnlich. Steve schlug sich die Traumtheorie aus dem Kopf, schwang die Füße von der Pritsche und blickte durch die Pilotenkanzel hinaus. Draußen herrschte totale Dunkelheit. Ein undurchdringliches Dunkel, das man sich nicht schwärzer vorstellen konnte. Und ein Schweigen darüber, als liege man im Grab. Doch noch nie hatte er sich im Dunkeln so hellwach gefühlt wie jetzt. Er schüttelte den Kopf, bewegte sich langsam um seine Achse, um diese totale Finsternis in ihrem ganzen Umkreis mit den Blicken abzutasten. An einer Stelle blieb er plötzlich stehen. Diese Nacht war also doch nicht absolut. Hinter dem Heck des Schiffes bewegte sich etwas Glimmendes. Wie Wetterleuchten oder wie der Widerschein einer beleuchteten Stadt am nächtlichen Himmel. Es war unmöglich zu schätzen, wie weit dieses Glimmen vom Schiff entfernt war. Doch beim Anblick dieses hohen, majestätischen Lichtbündels schlug ihm das Herz bis in den Hals. Unbeherrschte Gefühlsanwandlungen gehörten nicht zu den Voraussetzungen seines Berufs. Steve zog die Augenlider zusammen, um besser sehen zu können. Er versuchte, die Ursache dieses Glimmens zu ergründen; denn er konnte nicht verstehen, daß eine primitive Lichterscheinung eine so große Wirkung auf ihn ausüben sollte. Er bückte sich, tastete das Fach am Kopfende der Koje ab, bis er auf das Futteral mit dem Nachtglas stieß. Er hob das Fernglas an die Augen und stellte die Linsen auf die richtige
Entfernung ein. Die glimmende Lichtsäule schien sich mit einem Sprung zu nähern. Dieses Licht hatte den gleichen goldenen Schimmer wie der Tageshimmel über diesem Planeten. Nur war es mit silbernen Lichtfunken durchsetzt. Man konnte die Erscheinung mit einem leuchtenden Nebel vergleichen, der ein paar glühende Sonnen einhüllte. Steve hatte so etwas noch nie gesehen. Dieses leuchtende Etwas besaß keine Ähnlichkeit mit irgendwelchen Lebensformen, die er bisher auf fremden Planeten kennengelernt hatte. Doch war das überhaupt eine Lebensform? Es bewegte sich. Daran bestand kein Zweifel. Aber ob aus eigenem Antrieb oder durch eine Kraftübertragung, ließ sich nicht ausmachen. Der Selbstantrieb und die Eigenbewegung sind die Grundsymptome des Lebens. Vom irdischen Standpunkt aus konnte das, was sich dort bewegte, durchaus als Leben bezeichnet werden. In seinem Bewußtsein reduzierte Steve diese leuchtende Nebelsäule zu einer nebensächlichen Lokalerscheinung. Aber sein Unterbewußtsein wußte es besser. Es sagte ihm, daß diese Erscheinung lebendig war – mit einer gewaltigen und schrecklichen Lebendigkeit. Er behielt das Glas an den Augen, während das leuchtende Etwas sich weiter in die Dunkelheit zurückzog. Die leuchtende Säule wurde immer kleiner und verschwand schließlich. Bis zum letzten Augenblick tanzte dieses Etwas in Steves Okular auf und ab, weil er das Zittern seiner Hände nicht unterdrücken konnte. Nachdem dieser leuchtende Spuk vorüber war, setzte Steve sich auf seine Pritsche und klapperte mit den Zähnen, als habe er einen Anfall von Schüttelfrost. Laura ging nickend auf ihrer Sitzstange hin und her. Auch das Tier war hellwach und schien aufgeregt. Steve hatte keine Lust, das Licht anzudrehen und aus seinem Raumschiff einen Leuchtturm zu machen. Er streckte nur die Hand aus und
tastete nach ihren Klauen. Sofort kletterte der Papagei auf sein Handgelenk und hopste von dort auf seinen Schoß. Laura plusterte sich auf und schüttelte sich, suchte Trost und hatte ein unendliches Anlehnungsbedürfnis. In dieser Nacht gab es keine Störung mehr. Die Schwärze wurde vom goldenen Licht des Morgens verdrängt. Steve erwachte, als die Strahlen schräg durch seine gläserne Kuppel fielen, stand auf und spähte hinaus auf das Land und die Vegetation ringsum. Nichts hatte sich seit gestern verändert. Die Erlebnisse der vergangenen Nacht gingen ihm durch den Kopf, während er das Frühstück zubereitete. Besonders dieses jähe Aufschrecken aus dem Schlaf beunruhigte ihn. Laura zeigte die gleichen Symptome. Sie schien gedrückt und sprach kein Wort. Nur ein einziges Mal hatte er sie so erlebt. Das war im Zoo gewesen, als er ihr in der planetarischen Abteilung einen Adler von der Venus gezeigt hatte. Der mächtige Vogel hatte Laura nur mit verächtlicher Würde betrachtet, während der Papagei sich geduckt hatte. Steve hatte sehr viel Zeit; aber ein eigenartiges Gefühl trieb ihn zur Eile. Es dauerte bis zum späten Nachmittag, ehe er die Zweihundert-Liter-Tanks des Schiffes wieder aufgefüllt hatte. Erst dann ruhte sich Steve aus. Unterwegs war er weder dem Riesensaurier noch einem anderen Tier begegnet. Nur einmal hatte er etwas in der Ferne auffliegen sehen, ein fledermausähnliches Wesen. Laura hatte den Kopf kurz in diese Richtung gewendet, aber kein besonderes Interesse an dem fliegenden Tier gezeigt. Ihre Aufmerksamkeit konzentrierte sich vielmehr auf eine Frucht, die in der Nähe des Raumschiffes an einem Baum hing. Steve saß in der Ausstiegsluke und sah mit baumelnden Beinen zu, wie Laura über die Zweige turnte. Die Waffe lag auf seinen Schenkeln. Er war entschlossen, sofort einzugreifen, falls dem Papagei irgendeine Gefahr drohte.
Laura kostete von der Frucht. Sie ähnelte einer Kokosnuß mit blauer Schale. Nur mußte die Schale ziemlich dünn sein, denn der Makao knackte sie ohne Mühe und verzehrte den Inhalt mit Genuß. Steve beugte sich nach hinten, streckte die Hand nach einem Beutel aus und sprang dann hinunter auf den Boden, um sich diese Nüsse etwas näher anzusehen. Er nahm eine Kostprobe und entdeckte, daß das Fruchtfleisch saftig, süß und orangenähnlich schmeckte. Er erntete entschlossen den Baum ab und trug den gefüllten Beutel zurück zum Raumschiff. Gleich daneben stand ein anderer Baum, der der gleichen Gattung anzugehören schien. Auch er trug Nüsse mit blauen Schalen. Nur waren sie länglicher und größer als diejenigen, die Steve eben geerntet hatte. Er pflückte eine von den Nüssen ab und bot sie Laura an. Der Papagei knackte die Schale, kostete von dem Fruchtfleisch und spuckte es sofort wieder aus. Steve nahm jetzt selbst eine Kostprobe und kaute das Fruchtfleisch. Sein Geschmacksempfinden sagte ihm, daß es sich um die gleiche Frucht handeln mußte. Aber offensichtlich reichte sein Geschmacksempfinden nicht aus. Lauras Diagnose warnte ihn davor, die Frucht für genießbar zu halten. Vielleicht verbarg sich irgendein Gift in dieser Frucht, das ein Lebewesen in Krämpfe versetzte oder sogar lähmte. Steve schleuderte die Nuß in hohem Bogen zwischen die Bäume, ging zurück zu seinem Raumschiff und machte vorläufige Bestandsaufnahme. Eines war gewiß: Das Prinzip – die Schöpfungsidee –, das den Pflanzen und Insekten auf dem Planeten Oro zugrunde lag, konnte man auf diese beiden Nüsse reduzieren. Besäße er den gleichen Instinkt wie der Papagei, um zu erkennen, weshalb die eine Nuß eine Nuß war und die andere nicht, dann hätte er dieses Rätsel gelöst. Je mehr er über die seltsamen Früchte nachdachte, um so stärker wurde das Gefühl, daß er seinen Finger bereits auf das Geheimnis gelegt hatte. Doch ihm fehlte
das Vermögen, den Schleier zu lüften und das Naturgesetz zu erkennen, das dem Leben auf dieser unbekannten Welt unterworfen war. Das Grübeln half ihm nicht viel. Wütend sprang er aus der Luke hinunter auf den Boden und ging zu den beiden Bäumen hinüber. Sein Wahrnehmungsvermögen sagte ihm, daß es sich um zwei Exemplare der gleichen Gattung handelte. Doch Lauras Instinkt widersprach ihm und behauptete, jeder der beiden Bäume vertrete seine eigene Gattung. Daraus folgte, daß man dem Augenschein nicht trauen konnte. Das war natürlich eine Binsenwahrheit, die sich bei jeder Expedition ins Weltall nur von neuem bestätigte. Hatte man jedoch Zweifel, seinem Gesichtssinn zu trauen, mußte man den Zweifel auch logisch begründen. Leider konnte er das nicht. Das erboste Steve so sehr, daß er zu seinem Raumschiff zurückkehrte. Der Chronometer des Raumschiffes zeigte Steve, daß die Dunkelheit in fünf Stunden hereinbrechen würde. Das erlaubte Steve einen Fußmarsch von ungefähr zehn Meilen. Die Wasserholerei hatte ihn den größten Teil des Tages gekostet. Morgen würde er den Radius auf zwölf Meilen ausdehnen und sich dabei auch die Zeit für die Forschungsaufgaben nehmen. Doch all diese Gedanken verflogen sofort, als er die Grenze der Vegetation erreichte. Merkwürdig, überlegte er. Das Zeug ging nicht allmählich in eine andere Pflanzenart über, versuchte nicht, mit Einzelgewächsen Brückenköpfe auf dem felsigen Boden zu bilden. Die Vegetation hörte ganz plötzlich auf, als hätte man mit einem Mähdrescher oder einem Pflug eine Grenze gezogen. Dahinter fing eine ganz neue Vegetation an – winzig und kristallartig. Dieses kristallartige Pflanzenbild überraschte Steve nicht. Er wußte, daß jede neue Welt neue Pflanzenformen hervorbrachte. Eine Norm gab es nur auf der Erde. Doch was
dort normal und natürlich zu sein schien, galt auf anderen Planeten ganz und gar nicht. Jeder Planet hatte seine eigene Norm und Regel. Außerdem hatte Steve kristallartige Gewächse auf dem Mars entdeckt. Das Abnorme hier auf Oro bestand darin, daß es keinen natürlichen Übergang zwischen zwei Pflanzenformen gab. Hier die grünen Gewächse, dort die Kristallformen. Steve bückte sich und visierte an der Grenze entlang. Schnurgerade wie ein Lineal. So peinlich gerade, daß diese Grenze nur mit künstlichen Werkzeugen geschaffen worden sein konnte. Der Schweiß brach Steve auf der Stirn aus. Die Pflanzen hatten sich nicht selbst ausgesät. Jemand anders hatte das getan. Steve kauerte sich nieder und betrachtete die Kristallformationen. »Laura«, flüsterte er, »diese Pflanzen werden gezüchtet. Preisfrage: Wer ist der Züchter?« »Der schwarze Mann«, krächzte der Papagei. Steve streckte die Hand aus und berührte mit dem Fingernagel das Kristallblatt neben seinem Stiefel. Der Kristall schwang hin und her. »Sing!« tönte es, als habe man ein Weihnachtsglöckchen angeschlagen. Steve untersuchte die Kristallblättchen der Pflanze daneben. »Sang!« klang es um eine Oktave tiefer. Er probierte eine dritte Pflanze aus. Diesmal kam überhaupt kein Ton. Der Kristall zersprang in tausend Stücke. Steve streckte sich, kratzte sich am Kopf und ließ Laura kaum Gelegenheit, sich auf seiner Schulter festzukrallen. Sing, sang, bum. Sing, sang, kaputt. Zwei Laute, eine Oktave, ein Versager. Wieder hatte er die Lösung des Rätsels zum Greifen nahe. Er mußte nur scharf nachdenken. Doch dann flog etwas auf und schreckte ihn wieder aus seinen Überlegungen. Ein Wesen flatterte im Zickzack über das Kristallfeld hinweg. Das flatternde Etwas wollte ohne Zweifel
hinüber über die Grenze in die grüne Vegetation. Laura ließ Steves Schulter los und huschte wie ein blauroter Federwisch hinter dem flatternden Ding her. Im Sturzflug schoß der Papagei auf das Ding hinunter und erschreckte es so, daß es erst im letzten Moment vor Steve auswich. Es war ein großer Schmetterling mit gezackt-geschwungenen Flügelspitzen – fast so bunt wie der Papagei. Wieder stürzte sich Laura auf das Insekt und jagte es, ohne es ernsthaft zu bedrohen. Steve pfiff seinen Begleiter zurück und setzte sich dann wieder in Bewegung. Seine Stiefel zermalmten die Kristalle zu Staub, als er quer über das Feld lief… Eine halbe Stunde später kletterte er einen steilen, mit Kristallgewächsen bestandenen Hügel hinauf. Unvermittelt blieb er stehen. »Einzelexemplare«, flüsterte er. »Nie paarweise, nie zu dritt oder gar ein Dutzend davon. Nichts, was ich bisher entdeckt habe, wiederholt sich. Ein Riesensaurier, ein Exemplar von Scarabäus Anderii, eine bittere Nuß und eine süße. Jedes Gewächs und jedes Tier ist einmalig. Es gibt hier nur Originale, keine Paare, keine Zweisamkeit. Was läßt sich daraus schließen?« »Der schwarze Mann«, schlug Laura vor. »Zum Kuckuck! Laß endlich den schwarzen Mann aus dem Spiel!« »Zum Kuckuck, zum Kuckuck«, wiederholte Laura krächzend. »Der große schwarze…« Steve brachte den Papagei mit einer raschen Bewegung der Schulter zum Schweigen und zwang ihn, ein paar flatternde Kreise um ihn herum zu ziehen. Dabei setzte er sein Selbstgespräch fort: »Es gibt hier also keine Zeugung zur Bewahrung der Gattung. Aus jedem Original wird durch Mutation ein anderes Original. Jedes Einzelexemplar bringt etwas radikal Neues auf die Welt.«
Sofort erkannte Steve den Fehler in seiner Theorie. Eine steile Falte erschien auf seiner Stirn, als er kopfschüttelnd fortfuhr: »Aber wie soll denn ein Einzelwesen mit einem andersgearteten Einzelwesen etwas zeugen? Wer befruchtet hier wen?« »Der schwarze…«, setzte Laura erneut zum Sprechen an, besann sich dann aber anders und klappte den Schnabel zu. »Das ist wirklich eine harte Nuß«, murmelte Steve. »Wenn sich keine Gattung fortpflanzt, kann man auch nie voraussehen, was eßbar ist und was nicht. Die Frucht der einen Pflanze kann sich bei ihrem Sproß bereits zu einem tödlichen Gift mutiert haben. Was heute noch ein vorzügliches Nahrungsmittel ist, kann morgen eine tödliche Gefahr bedeuten. Das gibt dem Bauern unlösbare Probleme auf. Er kann nie voraussehen, was er ernten wird, wenn er hier sät. Folglich kann dieser Planet auch seine Tiere auf die Dauer nicht ernähren.« »Nein, Sir«, krächzte Laura. »Kein Futter, keine Laura.« »Halt den Schnabel«, brummte er. »Doch was logischerweise keine Tiere ernähren kann, könnte erst recht nicht einen Riesensaurier am Leben erhalten. Oder jedes andere gewichtige Exemplar, das sich hier herumtreibt. Idiotisch. Auf der Venus oder einem anderen Planeten, der seine Pflanzenwelt lange Zeit auf dem gleichen Stand erhält, konnten solche riesigen Dinosaurier ohne weiteres gedeihen. Doch hier hatte dieses Monstrum nach logischem Ermessen gar keine Daseinsberechtigung. Es dürfte nicht leben. Es müßte tot sein.« Während dieses Selbstgesprächs hatte Steve die Kammlinie des Hügels erreicht und entdeckte den Riesen, mit dem er sich im Augenblick beschäftigte, auf dem Abhang gegenüber. Der Riese war tot.
Der riesige Leib bedeckte fast den ganzen Hügel. Der Drachenkopf zeigte mit der Schnauze in seine Richtung. Er hatte die Größe eines Fischkutters. Die schwarzen, etwas trüben Augen glichen Suppenschüsseln. Steve feuerte dem Untier ein Explosivgeschoß ins rechte Auge. Das Zeug spritzte in alle Richtungen, aber der Koloß bewegte sich nicht. Steves Sohlen zermahlten weitere Kristallpflanzen zu hellem Staub, als er auf das Untier zuging und seine ganze Länge abschritt. Dazu brauchte er fast zehn Minuten. Er untersuchte den Kadaver nicht näher; denn die Zeit wurde knapp. Er würde morgen mit einer Stereoskopkamera wiederkommen und eine Farbaufnahme von dem Koloß machen. Er lief ihm ja nicht weg. Der nächste Hügel dahinter war erheblich steiler. Bis zum Kamm des dritten Hügels würde er noch vordringen, dann hatte er die Grenze seiner Erkundungsreise von heute erreicht. Selbst auf fremden Sternen blieben die Merkmale menschlicher Neugierde unverändert. Man wollte immer wissen, was hinter dem nächsten Hügel lag. Oben auf der Kammlinie hörten die Kristallgewächse auf. Die Grenze zwischen den Vegetationen schien wieder mit dem Lineal gezogen zu sein. Dahinter, auf dem leichten Lehmboden, wuchsen sonderbare gelatineartige Knollen. Unter dem goldenen Schein des Himmels zuckten und bewegten sie sich wie blasiger Schleim. Der Hügelhang fiel sanft nach unten ab. Kein Geröll behinderte den Abstieg oder den Ausblick. Dort, wo ein steiler Hang das Tal abschloß, stand ein großes schimmerndes Bauwerk. Es hatte ein flaches Dach und eine flache Fassade, in deren Mitte eine rechteckige Öffnung gähnte. Das Ganze sah wie eine riesige rechteckige Schachtel aus, die aus dem Hang herausragte. Kein Zierat störte die glatte Fläche. Keine Straße
führte auf die Öffnung zu. Steve standen die Haare zu Berge, während er das Gebäude aus der Entfernung studierte. Eines war klar: auf Oro gab es eine intelligente Lebensform. Theorie: die goldene Nebelsäule repräsentierte diese höhere, intelligente Lebensform. Eines war sicher: Menschen aus Fleisch und Blut und lichtgeborene Einwohner von Oro würden es schwer haben, eine gemeinsame Basis für ein freundschaftliche Zusammenarbeit zu finden. Wogegen Feindschaft niemals eine Basis braucht. Neugierde und Vorsicht zogen Steve in einander entgegengesetzte Richtungen. Die Neugierde trieb ihn hin zu diesem weißen Kasten, während die Vorsicht ihn wieder hinter die Kammlinie zurücktreiben wollte, solange noch Zeit dazu blieb. Er blickte auf seine Uhr. In zweidreiviertel Stunden wurde es dunkel. Bis dahin mußte er zu seinem Raumschiff zurückgekehrt sein. Bis zur Behausung des Lichtwesens brauchte er mindestens noch eine halbe Stunde. Er konnte seinen Besuch ruhig aufschieben. In der Zwischenzeit sollte er sich besser auf diese Begegnung vorbereiten, sich eine Möglichkeit der Verständigung und einen Fluchtweg ausdenken. Die Vorsicht trug also den Sieg davon. Er untersuchte nur eine der Geleepflanzen. Sie war flach, maß fast einen Meter im Durchmesser, hatte eine grünliche Farbe, die mit bläulichen Streifen durchsetzt war, und viele winzige Blasen. Diese Blasen pulsierten ununterbrochen unter der durchsichtigen Haut. Steve stieß mit der Stiefelspitze gegen das Ding. Die Pflanze zog sich sofort zusammen und warf dabei in der Mitte einen Höker auf. Nach einiger Zeit entspannte sich die Pflanze wieder langsam. Es konnte sich also nicht um eine Amöbe handeln, überlegte Steve. Es war eine niedrige Lebensform, aber nicht ohne komplizierte Zusammenhänge.
Laura hielt nicht viel von der Pflanze. Sie flog davon, als er sich über den Geleeklumpen beugte, und ließ ihren Ärger an ein paar Kristallpflanzen aus. Auch hier herrschte dieselbe Regel vor: Keine Pflanze glich der nächsten. Jede war ein Original, ein Einzelwesen. Überall das gleiche Prinzip: Ein Schmetterling, ein Käfer, ein Riesensaurier und ein pulsierender Geleeklumpen. Steve warf noch einmal einen Blick hinüber zu dem seltsamen Gebäude im Talkessel. Dann marschierte er zurück. Als das Schiff in Sicht kam, beschleunigte er das Tempo wie ein erschöpfter Tourist nach einer Bergwanderung, wenn er sein Hotel wieder vor sich sieht. In der Nähe des Raumschiffes entdeckte er frische Spuren. Ein großes schweres Wesen war auf zwei Beinen an seinem Raumschiff vorbeigezogen. Es mußte sich um ein Tier handeln; denn kein intelligentes Lebewesen wäre an einem so interessanten Objekt vorbeimarschiert, ohne es näher zu untersuchen. Er beschäftigte sich nicht weiter mit diesen Spuren. Er war überzeugt, daß es nur ein denkendes Wesen auf diesem Planeten gab: die Lichtsäule. Er ging an Bord seines Raumschiffes, verschloß die Luken und Schleusen, versorgte Laura mit Futter und aß sein Abendbrot. Dann kam das Logbuch an die Reihe. Er trug die Forschungsergebnisse des Tages ein und betrachtete dann durch die Glaskuppel seine Umgebung. Wieder strahlten violette Streifen vom Horizont aus. Die Vegetation, die das Raumschiff umgab, erschien ihm geheimnisvoller als je zuvor. Wer hatte diese Pflanzen geschaffen? Wie wurde das Zeug überhaupt erzeugt? Hundertprozentige Mutation setzte Chromosomen und Gene voraus, die durch eine harte Strahlung oder durch sonstige Einwirkungen verändert wurden. Aber auf einem Planeten mit leichtem spezifischem Gewicht gab es keine harte Strahlung – es sei denn, sie kam in Gestalt von kosmischer Strahlung aus
dem All. Aber bisher hatte er hier mit seinen Meßgeräten keine derartige Strahlung feststellen können. Sie drang weder aus dem Boden noch aus dem Weltraum auf diese Vegetation ein. Genau gesagt, die Strahlung auf Oro war gleich Null. Da Steve einen geeigneten Brennstoff für seine Raketen brauchte, hatte er diesen Aspekt besonders sorgfältig untersucht. Das Schiff war mit Detektoren ausgerüstet, um mögliche Brennstoffquellen sofort anzuzeigen. Doch die Zeiger seines Strahlenmessers und seines GoldblattElektroskopes hatten sich nicht einen Millimeter von der Stelle bewegt. Die Luft war trocken; eine Spaltung von Atomen in positive und negative Ionen so gut wie nicht vorhanden. »Irgend etwas stimmt mit meinen Theorien nicht«, klagte er Laura sein Leid. »Meine Gehirnzellen arbeiten nicht richtig.« »Arbeiten nicht richtig«, wiederholte Laura. Sie knackte eine Nuß und nickte weise mit dem Kopf. »Das Schiff stinkt. Es ist etwas faul. Ich fliege nicht mit. Nein. Nein, auch wenn Laura dableiben muß. Ich will nicht, ich will nicht, ich will nicht. Ende. Nichts. Wer ist besoffen? Der schwarze Mann…« Als Steve das Licht einschaltete, wurde es draußen schlagartig dunkel. Es schien, als habe die Nacht nur auf ihn gewartet. Mit der Dunkelheit kam auch das Unbehagen zurück. Er konnte die Kanzel nicht abschirmen. Die Kuppel leuchtete wie ein Leuchtturm in die Nacht hinaus. Und das Licht zog auch die Nachtwesen an. Unter den gegenwärtigen Umständen hatte er keine Lust, sich als Ausstellungsobjekt herzugeben. Unheimliche und beunruhigende Gedanken schossen ihm immer noch durch den Kopf, als er das Licht ausdrehte und sich auf die Pritsche legte. Nichts weckte ihn in dieser Nacht; doch am Morgen erwachte er trotzdem in Schweiß gebadet. Auch Laura hatte wieder Zuflucht an seiner Brust gesucht. Er
kochte das Frühstück. Während er sich heißen Kaffee in den Becher einschenkte, sprach er mit Laura. »Verdammt möchte ich sein, wenn ich hier den Ausguck spiele, wie es in den Vorschriften steht. Vom Schreibtisch aus kann man so etwas gut bestimmen. Sollten die mal in den Weltraum reisen und sich mit unbekannten Lebewesen höherer Intelligenzgrade herumschlagen! Da hilft auch kein Ausguck und keine Nachtwache.« Der Papagei rülpste verächtlich. »Im Notfall muß man sich zurückziehen«, zitierte Steve die Raumfahrtvorschrift. »Das ist das oberste Gebot der Kundschafter. Hört sich recht gut an, besonders dann, wenn man nicht davonfliegen kann. Wir sitzen fest!« »Okay«, schnarrte der Papagei. »Ich verbringe auf keinen Fall den Rest meines Lebens damit, ängstlich über die Schulter zu schauen und davonzulaufen. Die einzige Möglichkeit, unbekannte Kräfte in bekannte zu verwandeln, besteht darin, mit diesen Kräften vertraut zu werden. ›Je länger wir es aufschieben, um so schlimmer wird es‹, sagte Onkel Joe zum kleinen Willi und schleppte ihn zum Zahnarzt.« Laura rülpste wieder. Steve gab ihr mit einem entrüsteten Blick zu verstehen, daß sich so etwas für Damen nicht schickt, und fuhr dann fort: »Also packen wir den Stier bei den Hörnern. Manchmal bringt so etwas einen Stier aus dem Konzept.« Steve stand auf, steckte den Papagei in seine gepolsterte Reisezelle. Er schloß das Schiebefach und nahm dann auf seinem Pilotensitz Platz. »Wir starten«, murmelte er grimmig. Er drückte auf den Starthebel. Der Raketenmotor knatterte ein paarmal und ließ dann ein leises Dröhnen hören. Er gab Gas, bis die hinteren Düsenöffnungen heiß wurden und das Schiff sich langsam in Bewegung setzte. Mit einem glühenden Schweif von einer halben Meile Länge erhob sich das
Raumschiff in die Luft und zog in einer flachen Kurve davon. Donnernd flog es über die haarscharfe Grenzlinie zwischen Grün und Silber hinweg, hielt auf die Hügel dahinter zu. Schon tauchte er in den Talkessel hinunter und schaltete die Bremsraketen ein. Das war ein riskantes Manöver. Er mußte jetzt drei gegeneinandergerichtete Kräfte koordinieren. Aber er war ein erfahrener Pilot und stolz darauf, was für Kunststücke er mit diesen kleinen Raumschiffen vollbringen konnte. Das Schiff landete fast wie ein Hubschrauber auf dem weißen Gebäude, glitt noch ein paar Meter weiter zum Hang hin und blieb dann stehen. »Junge, Junge«, sagte Steve leise, »das war keine schlechte Landung.« Er blieb sitzen und sah sich vorsichtig um. »Viel zu jung, um zu sterben«, meinte er grinsend, während er ab und zu auf seinen Chronometer blickte. Die Landung mußte auch Tote aufgeweckt haben. Falls jemand in dem Gebäude unter ihm wohnte, würde er bald ins Freie kommen und nachsehen, wer diese Hundert-Tonnen-Flasche auf sein Eigenheim geworfen hatte. Doch nichts ließ sich im Freien sehen. Er wartete genau eine halbe Stunde. Dann gab er es auf. »Wer nicht will, der hat schon«, murmelte er und kletterte von seinem Pilotensitz herunter. Er befreite Laura aus ihrem Reisekäfig, öffnete die Ausstiegsluke und sprang auf das Dach hinunter. Laura folgte ihm widerstrebend, setzte sich auf seine Schulter, als täte sie ihm damit einen großen Gefallen. Steve ging am Heck des Schiffes vorbei bis zum Dachrand. Ihn schwindelte fast, als er hinunterschaute. Vom Dach bis zum Boden mußten es fast zweihundert Meter sein. Der Eingang in der Mitte des Gebäudes reichte fast bis zum Dach hinauf. Es fehlten höchstens dreißig Meter. Hier konnte er natürlich nicht hinunter. Es blieb nur ein Weg nach unten.
Er mußte auf dem Dach bis zum Hügelhang laufen und den Hang hinuntersteigen, bis er den Talboden erreichte. Bis zu dem Hang, aus dem das Gebäude herausragte, mußte er immerhin eine viertel Meile zurücklegen. Dabei untersuchte er die Dachoberfläche und konnte nirgends eine Fuge oder so etwas wie eine Naht entdecken. Das Dach schien aus einem Stück gefertigt zu sein. Bei diesen gewaltigen Ausmaßen des Gebäudes war das natürlich eine Meisterleistung, die sein Unbehagen noch verstärkte. Auf gar keinen Fall hatte er es hier mit primitiven Wesen zu tun. Von unten sah der Eingang noch imposanter aus als von oben. Wäre das Gebäude nur ein Tunnel oder Tor gewesen, hätte er ohne Schwierigkeit das Raumschiff hindurchsteuern können wie einen Faden durch ein Nadelöhr. Daß die Tür fehlte, störte Steve keineswegs. Man konnte sich nur schwer vorstellen, wie eine Tür von so gewaltigen Ausmaßen überhaupt richtig aufgehängt und bewegt werden konnte. Steve sah sich noch einmal vorsichtig um. Nichts bewegte sich hinter ihm im Tal. So schritt er kühn durch den Eingang und blinzelte, bis er sich an das Licht im Inneren des Gebäudes gewöhnt hatte. Auch hier drinnen gab es so etwas wie ein goldenes Licht, aber es war geisterhafter, blasser und spielte ins Grünliche hinüber. Es war eine indirekte Beleuchtung, die aus dem Boden, den Wänden und der Decke kam. Nichts warf hier Schatten, alles lag in einem milden Licht. Und ein kräftiger Geruch von Ozon war zu erkennen, in den sich andere, nicht zu identifizierende Düfte mischten. Rechts und links von ihm stiegen die Wände wie Felswände bis zur Decke hinauf. Sie waren mit durchsichtigen Schubladen versehen. Er ging auf eine von diesen durchsichtigen Schubladen an der Wand zu und untersuchte sie. Diese Schubladen waren in Wirklichkeit Würfel, deren
Seiten ungefähr einen Meter maßen. Jeder Würfel enthielt eine etwa zehn Zentimeter hohe Schicht aus Erde oder Lehm, aus der ein Kristall hervorwuchs. Auch hier handelte es sich wieder um Originale. Kein Kristall ähnelte dem anderen. Einige von ihnen waren klein und verzweigt; andere groß und von unbeschreiblicher Kompliziertheit. Tief in Gedanken versunken bog er um die Ecke der Wand. Und dabei stellte er fest, daß es sich bei den übereinandergetürmten Schubladen gar nicht um eine feste Wand handelte, sondern um eine Art von Schieberegal, denn dahinter war eine neue Wand mit Schubladen und dahinter wieder eine. So ging es endlos fort, bis ihm vor lauter Schubladen und Regalen der Kopf schwindelte. All diese Regale enthielten Kristalle. Ihre Vielzahl an Formen und Gestalten ließ sich gar nicht abschätzen. Steve war nur in der Lage, die untersten Reihen der Schubladen zu untersuchen. Und dabei dehnte sich ja über seinem Kopf die Wand fast zweihundert Meter hoch bis zur Decke hinauf. Auch in den Schubladen auf der linken Seite entdeckte er Kristalle. Kristalle aller Schattierungen, Gestalten und Größen. Als er ein besonders schönes Exemplar dieser Kristallgewächse betrachtete, stellte er fest, daß die Vorderseite der würfelförmigen Schublade kleine Lochmuster aufwies. Es mußte sich um eine Beschriftung handeln, denn auch die anderen Schubladen trugen diese unauffälligen Zeichen, die sich nur in der Anordnung und Zahl der Punkte voneinander unterschieden. Steve fühlte sich an eine Lochkarte erinnert. »Das Naturkundemuseum von Oro«, flüsterte er. »Du lügst!« kreischte Laura auf seiner Schulter. »Ich sag’ dir, daß mir das nicht gefällt! Ich fliege nicht mit!« »Verdammt noch mal, willst du endlich deinen Schnabel halten!« zischte Steve. Er versuchte, den Eingang und das Innere des Hauses zugleich im Auge zu behalten. Doch das
Krächzen verhallte irgendwo in der Ferne, ohne das jemand erschien, um sie entweder hinauszuwerfen oder zur Rede zu stellen. Rasch drehte er sich um und ging zu den nächsten Regalen, die von der ersten Abteilung durch einen breiten Korridor getrennt waren. Hier gab es geleeartige Knollen in den Schubladen. Die meisten waren nicht größer als eine Armbanduhr. Die Vielfalt dieser Gewächse ging ebenfalls in die Tausende oder sogar in die Millionen. Keiner von diesen Geleestecklingen schien lebendig zu sein, stellte er fest. Die Abteilungen drei, vier und fünf führten ihn ungefähr eine Meile weit in das Gebäude hinein. Dabei kam er an den Moosen, an den Flechten und den Sträuchern vorbei – alle tot, aber auf wunderbare Weise ganz frisch erhalten. Er glaubte jetzt, das Einteilungsprinzip erkannt zu haben. Abteilung sechs mußte Pflanzen enthalten. Doch er hatte falsch geraten. Hier gab es Käfer, Nachtschwärmer, Schmetterlinge und eigenartige Objekte, die Kolibris ähnelten. Vom Scarabäus Anderii konnte er kein Exemplar entdecken. Vielleicht lag es irgendwo über ihm in einer Schublade. Es konnte aber auch sein, daß hier eine leere Schachtel auf den Käfer wartete – bis er draußen im Dschungel seinen letzten Schnaufer machte. Wer hatte diese Schubladen angefertigt? War eine Schublade für ihn bereitgestellt? Eine für Laura? Er sah sich schon versteinert in der fünfundzwanzigsten Reihe der zehnten Abteilung, genau katalogisiert und mit Lochzeichen beschriftet. Das war keine angenehme Aussicht. Leise schlich er weiter. Er wußte eigentlich gar nicht, was er jetzt noch suchte. Doch unwiderstehlich zog es ihn immer tiefer in das Gebäude hinein. Nichts regte sich, nirgends eine Fußspur, nirgends ein Atem, ein Schatten, ein Zeichen von Leben. Nur diese eigenartigen Gerüche und das gedämpfte
Licht. Steve hatte das Gefühl, daß dieser Ort häufig besucht wurde, aber nie für längere Zeit. Ohne sich lange aufzuhalten, sah er eine riesige Schublade in einem Regal, in der ein Rhinozeros mit einer Art Büffelkopf stand. Daneben schlossen sich ebenso große Ausstellungsstücke schwergewichtiger Lebewesen an – alle sorgfältig beschriftet. Schließlich kam er zu einer Kiste, die die ganze Höhe des Regals einnahm. Sie enthielt den Urahnen aller Bäume und den Urururahnen aller Schlangen. Dahinter folgten einmal zur Abwechslung keine Schubladen, sondern Metallkästen mit Druckverschlüssen. An der Vorderfront dieser Metallbehälter standen ganze Romane in Lochschriftzeichen. Steve drückte auf den Druckknopf des untersten Metallschrankes. Die Tür sprang mit leisem Klicken auf. Der Inhalt war eine Enttäuschung. Keine geheimnisvollen Urtiere, sondern Stöße von kleinen durchsichtigen Blättern, die mit stecknadelgroßen Punkten übersät waren. »Eine Kartei«, murmelte Steve und ließ die Metalltür wieder einrasten. »Der alte Professor Heggarty würde einen Arm dafür opfern, wenn er hier sein dürfte.« »Heggarty«, kreischte Laura erschrocken. »Um Himmels willen!« Steve blickte den Papagei mißtrauisch an. Der Makao plusterte sein Federkleid auf, ruckte nervös mit dem Kopf hin und her. Kein Zweifel, er war aufgeregt. »Was ist denn los, Laura?« Sie legte den Kopf auf die Seite, blinzelte ihn an und deutete dann mit dem Schnabel in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Dabei trippelte sie aufgeregt auf seiner Schulter hin und her. Die Federn in ihrem Nacken sträubten sich. Dann schnalzte der Papagei nervös mit der Zunge und drängte sich an den Kragen von Steves Jackett.
»Verdammt!« murmelte Steve. Er drehte sich um und rannte an den Regalen mit Karteikästen vorbei. Dann versteckte er sich in dem schmalen Gang zwischen dem letzten Regal der Kartei und der Wand. Die Pistole schußbereit in der Rechten, spähte er den Korridor hinunter. Mit der Linken versuchte er, Laura zu beruhigen. Der Papagei drängte sich an seinen Hals und versuchte, den Kopf in seinem Kragen zu verstecken. »Nur ruhig, Laura«, flüsterte er. »Wenn du uns nicht mit deinem Krächzen verrätst, kann uns beiden gar nichts passieren.« Der Papagei rührte sich nicht, obgleich er zitterte wie Espenlaub. Kein Laut war zu hören, kein Schatten zu sehen. Und während er geduckt dastand und wartete in diesem Raum absoluter Stille, bemerkte er, daß die grünliche Farbe des indirekten Lichts etwas heller wurde, wieder mehr ins Goldene hinüberspielte. Plötzlich wußte er, was da kam. Er wußte, was es war! Er kniete sich auf den Boden und versuchte, sich so klein wie möglich zu machen. Jetzt schlug auch sein Herz ganz laut gegen die Rippen, obgleich der Verstand kühl und ruhig war. Aber das übertrug sich nicht auf seine Nerven. Diese Stille, dieses schreckliche Schweigen war das Furchterregende an diesem Etwas, das da heranrückte. Hätte er nur einen Laut hören können, und wäre er noch so furchterregend und gewaltig gewesen, er hätte das besser ertragen können als diese Stille. Wesen von so gewaltigem Ausmaß, wie die Tür im Gebäude es andeutete, hatten kein Recht, so lautlos aufzutreten. Dabei nahm dieses goldene Licht immer mehr zu, verdrängte den grünlichen Schein an Wänden und Decke vollkommen, spiegelte sich in den unendlichen Flächen der durchsichtigen Schubladen wie die Sonne in einer Gletscherwand. Das Licht wurde so hell wie der goldene Himmel über dem Planeten –
noch heller sogar. Es wurde zu einem alles durchdringenden Licht, das man nicht ertragen konnte. Es ließ kein Schlupfloch übrig, keinen dunklen Winkel, in dem man sich verkriechen konnte. Die Sonne selbst schien neben Steve aufzugehen. Dieses Feuer, diese sengende Helle der Strahlen verwirrte seinen Geist. Steve versuchte mit äußerster Willenskraft, seine Kaltblütigkeit, ja nur seine Gedanken zu bewahren. Aber es gelang ihm nicht. Sein Körper war in Schweiß gebadet. Steve bekam nur den äußersten Rand der Säule zu Gesicht, die sich auf dem breiten Mittelgang näherte. Ein gleißender Streifen glühenden Goldes schob sich an seinem Seitengang vorbei, und in dem Streifen glitzerte ein strahlend weißer Stern. In diesem Moment schien sein Gehirn zusammenzuschrumpfen, und er fiel nach vorn in eine Wolke winziger Blasen. Immer tiefer sank er in diesem Meer von Blasen. Sie perlten um ihn herum wie Schaum, der ständig seine Farbe wechselt. Und während des Sturzes versuchte sein Geist immer noch, zurück zur Oberfläche zu schwimmen und sich dort zu behaupten. Immer tiefer ging es hinunter, während die Blasen zu Tausenden um ihn herum nach oben stiegen. Blasen aller Farben und Schattierungen. Dann wurde dieses Sinken langsamer, kamen die Blasen allmählich zur Ruhe. Schließlich kehrte sich die Bewegung um, blieben die Blasen zurück, strömten die farbigen Schaumgebilde in die entgegengesetzte Richtung. Er stieg wieder nach oben! Er trieb schwerelos in einem traumartigen Trancezustand. Die letzte Blase trieb ins Dunkel davon, ließ ihn in einem Zustand der Bewußtlosigkeit liegen – dann fand er wieder zu sich, der Länge nach auf dem Boden ausgestreckt. Laura drückte sich gegen seinen Ärmel. Er bewegte vorsichtig die
Augenlider. Sie schienen entzündet, und die Haut brannte. Sein Herz schlug immer noch wie wild, und seine Beine versagten zuerst den Dienst. Ein sonderbares Gefühl war in seinem Magen, und er spürte einen erdigen, eisenhaltigen Geschmack auf der Zunge, als sei er aus einem Schlund uralter, unbegreiflicher Vorzeit aufgetaucht. Er versuchte nicht sofort aufzustehen. Dazu schien sein Körper noch nicht kräftig genug und seine Gedanken zu verwirrt. Während sein Bewußtsein allmählich wieder zurückkehrte und seine tiefe Verstörung sich allmählich verlor, bemerkte er, daß dieses unerträglich goldene Licht wieder verschwunden und an seine Stelle erneut das grünliche indirekte Leuchten der Wände und der Decke getreten war. Zufällig sah er auf seine Armbanduhr und erschrak. Zwei Stunden waren inzwischen vergangen! Schwankend kam er wieder auf die Füße. Vorsichtig spähte er aus dem Seitengang in den Korridor hinaus. Nichts hatte sich inzwischen verändert. Sein Instinkt schien ihm zu sagen, daß der goldene Besuch wieder verschwunden war und er das Museum ganz für sich allein hatte. War dieses Wesen auf ihn aufmerksam geworden? Hatte es ihn entdeckt? War das geheimnisvolle Wesen die Ursache, daß er sein Bewußtsein verloren hatte? Hatte es etwas gegen das Raumschiff auf dem Dach unternommen? Steve hob die Waffe vom Boden auf, sah sie verächtlich an und steckte sie in die Halfter. Dann hob er Laura auf die rechte Schulter, wo der Papagei benommen hin und her schwankte. Entschlossen richtete er seine Schritte nach rechts – noch tiefer in das Gebäude hinein. »Ich glaube, wir können uns das erlauben, Laura«, flüsterte er dem Papagei zu. »Ich glaube, wir sind viel zu unbedeutend, als daß der Hausherr uns beachten würde. Wir sind nichts anderes als kleine Insekten oder Mäuse. Wer kümmert sich schon um
Mäuse, die keinen Schaden anrichten?« Steve verzog das Gesicht. Der Vergleich mit den Mäusen gefiel ihm gar nicht. Schließlich war er ein Mensch, der mit dem Raumschiff durch das Weltall flog. Aber ein besserer Vergleich wollte ihm nicht einfallen. »Kleine Mäuse können gegen Riesen nichts ausrichten. Aber sie laufen auch nicht gleich weg, weil man sie mit dem Licht geblendet hat.« »Laura ist verrückt nach Nüssen!« krächzte der Papagei kläglich. Hinter dem letzten Regal mit den Karteischränken fand er sich einer Werkbank gegenüber. Wenigstens glaubte er, daß es sich um eine Werkbank handelte. Sie war sehr kompliziert gebaut und schien aus bizarren Teilen zu bestehen. Ein Kristall war darin eingespannt. In der Maschine daneben befand sich eine kleine gehörnte Eidechse. Beide Dinge oder Wesen befanden sich im Prozeß der Herstellung. Daran konnte kein Zweifel bestehen, denn während Steve noch diese Maschinen oder Werkbänke betrachtete, formten sich die Gebilde weiter, näherten sich ihrer Vollendung. Vielleicht würde es noch ein paar Stunden dauern, vielleicht auch nur Minuten, bis sie fertiggestellt waren. Und dann brauchten sie nur noch – brauchten sie nur noch… Die Haare sträubten sich ihm im Nacken. Er lief an den Werkbänken und den zahllosen Maschinen, die hier aufgestellt waren, entlang. Es war eine endlose Reihe, dann wieder eine Reihe – Maschine hinter Maschine; Drehbänke und Werkbänke. Keine Maschine war wie die andere, alle produzierten etwas anderes: Pflanzen, Käfer, Vögel, Pilze und Bäume. Atom wurde zu Atom gefügt wie die Ziegelsteine zu einem Gebäude aufgeschichtet werden. Aber doch handelte es sich hierbei nicht um eine reine Montage. Denn hier wurde Wachstum fabriziert, das sich nach unbekannten Gesetzen vollzog. In jede dieser Maschinen war
ein Befehl oder Plan eingegeben worden wie in einen Computer. Sie bestimmten das Muster, das Gesetz, nach dem sich dieses Wachstum vollzog. Und all diese Muster und Gesetze waren unglaublich kompliziert und verschiedenartig. Hier und da stand auch eine Maschine still. Die meisten von ihnen hatten ihre Aufgabe erfüllt. Ab und zu waren diese Maschinen auch in ihre Einzelteile zerlegt worden, weil sie repariert oder geändert werden sollten. Steve blieb neben einer Maschine stehen, die ihr Arbeitsstück fertiggestellt hatte. Es handelte sich um einen Vogel. Soweit er sehen konnte, war das Tier makellos und perfekt bis in die kleinste Einzelheit. Es wartete nur noch darauf, daß es – daß es… Der Schweiß trat Steve auf die Stirn. Was dieser Vogel noch brauchte, war der Hauch des Lebens! Er drängte die vielen Vermutungen zurück, die auf ihn einstürmten. Nur so konnte er einen kühlen Kopf bewahren. Er durfte sich nicht zu lange auf die Einzelheiten konzentrieren. Er betrachtete eine gewaltige Maschine neben sich, die teilweise zerlegt war. Die Eingeweide waren bloßgelegt, große Feldspulen aus dunkelgrauem Draht. Reste von dem gleichen Draht lagen auf dem Boden verstreut. Steve hob ein Stück davon auf. Es war ziemlich schwer. Er nahm seine Armbanduhr ab und öffnete den Schraubboden auf der Rückseite. Als er das kurze Stück Draht dem Uhrwerk näherte, leuchtete der aus Venusgestein gearbeitete Lagerzapfen sofort auf. Das war ein untrügliches Zeichen, daß der Stein radioaktiver Strahlung ausgesetzt war. Das unbekannte Metall, aus dem der Draht bestand, konnte ihm vielleicht als Kraftstoff dienen. Sein Herz setzte sofort einen Schlag aus, wenn er nur an diese Möglichkeit dachte. Sollte er eine ganze Rolle mitnehmen und sie hinauf in das Schiff transportieren? Das Metall wog schwer, und er brauchte eine beträchtliche Länge davon. Und eine Maus, die Drähte stahl,
würde bei ihrem nächsten Besuch bestimmt eine Mausefalle vorfinden. Steve dachte nach. Er steckte das kurze Stück Draht, das er neben der Maschine gefunden hatte, in die Tasche und suchte dann neben anderen zerlegten Maschinen nach weiteren Drahtresten. Die Suche führte ihn noch tiefer in das Gebäude hinein, und er kämpfte gegen jede Versuchung, die ihn von seiner Aufgabe ablenken wollte. Die Versuchung war groß. Zum Beispiel stand dort ein Hund wie auf dem Fließband einer Spielzeugfabrik und wartete. Vielleicht hätte er den Hund übersehen, wenn er nicht eine so verblüffende Ähnlichkeit mit einer bestimmten Hundeart auf der Erde gehabt hätte. Auch andere Werkstücke konnte man nicht übersehen, die einen an Vorbilder auf bekannten Planeten erinnerten. Als Steve vier Proben verschiedener radioaktiver Drähte gefunden hatte, gab er die Suche auf. Ein Kakadu setzte seinen Wanderungen ein Ende. Der Vogel stand in einer Art von Gußform, den roten Kamm geschwellt, die leuchtend blauen Federn übereinandergelegt und die glänzenden Augen zur Decke gerichtet. Er war nicht tot und auch noch nicht lebendig. Laura kreischte den Vogel hysterisch an, und die riesigen Hallen gaben das Echo verstärkt zurück. Steve zuckte zusammen, als habe er einen elektrischen Schlag bekommen. Lauras Reaktion war zu viel für ihn. Wenn er nicht hysterisch werden wollte, mußte er umkehren. Er lief durch die Gänge, vorbei an den Maschinen, der Kartei und den Regalen mit den Millionen durchsichtiger Schubladen. Dann kletterte er den lehmigen Hang hinauf zum Dach und erreichte keuchend die Einstiegsluke seines Raumschiffes. Zuerst überprüfte er, ob inzwischen jemand das Raumschiff untersucht oder beschädigt hatte. Er fand kein Anzeichen dar für. Als nächstes überprüfte er die Instrumente. Die Blätter des
Elektroskops hingen nach unten. Er lud es wieder auf, sah, wie die Blätter auseinanderwichen und dann wieder zusammenschlugen. Der Strahlenmesser knatterte. Es war also eine radioaktive Quelle in der Nähe. Er gab Laura eine Futterration und schlang dann hastig ein paar Bissen hinunter. Danach zog er die Drahtenden aus der Tasche, die er aus dem Arbeitsraum in dem Gebäude mitgenommen hatte. Sie hatten alle verschiedene Durchmesser, und einer der Drähte war zu dick für die Zuleitung des Kingston-Kane. Er brauchte eine halbe Stunde, bis er den Draht zurechtgefeilt hatte. Dann begann er mit seinem Test. Der Draht, den er zuerst gefunden hatte, kam auch zuerst an die Reihe. Er führte ihn in den Schacht des Zubringers ein, stellte den Motor auf kleinste Energie und drückte auf den Anlasser. Nichts passierte. Er schüttelte unmutig den Kopf. Eines Tages würde man einen verbesserten Kingston-Kane-Motor liefern, der jeden Brennstoff fraß. Dichte und Radioaktivität genügten noch nicht bei diesem Motor. Der Kraftstoff muß genau die richtige Zusammensetzung haben. Er zog das Stück Draht wieder aus dem Zubringer. An der Verformung des Metalls stellte er fest, daß der Draht als Brennstoff ungeeignet war. Dann führte er die zweite Probe ein. Dieser Draht war nicht so dunkel wie der erste. Steve drückte auf den Anlasser. Sogleich sprangen die Raketen am Heck mit einem leisen, stöhnenden Fauchen an. Die Instrumente zeigten an, daß die Energieausbeute sich um 60 Prozent herum einpegelte. Vielleicht wäre jetzt ein anderer Weltraumpilot vor Freude bis an die Glaskuppel gesprungen. Vielleicht hätte er sogar den Verstand verloren. Doch Steve blieb ganz ruhig. Nur ein Zucken lief über sein hageres, habichtähnliches Gesicht. Er zog das dritte Probestück aus der Tasche und probierte es aus.
Ohne Ergebnis. Keine Energieabgabe. Auch die vierte Probe war eine Niete. Der fünfte Draht erzeugte eine Reihe von kurzen Zündstößen, unter denen das Raumschiff vom Heck bis zum Bug erbebte. Die Nadel auf dem Energiemesser schwankte zwischen hundert und Null hin und her. Steve sah sich schon mit einem Raumschiff ruckweise durchs Weltall tuckern, während er den Draht wieder herauszog und die sechste Probe einführte. Sofort schnurrte der Raketenmotor mit einer Energieausbeute von 170 Prozent. Die siebte Probe war wieder eine Niete. Er warf alle Proben weg bis auf Nummer 6. Der Draht hatte die Normgröße zehn und war deshalb gerade noch ausreichend für das Zuführungssystem. In der Farbe glich es leicht oxydiertem Kupfer, war aber nicht so weich und auch nicht so schwer wie dieses Metall. Der Draht war elastisch und leicht wie Aluminium. Hoffentlich lag eine Rolle von mindestens tausend Meter Länge dort unten in dem Gebäude, und wenn er das Zeug bis zum Schiff hinaufschaffen konnte, ehe die wandelnde Lichtsäule zurückkehrte und ihm den Spaß verdarb, würde er vielleicht die Erde in seinem Leben noch einmal wiedersehen. Die einfachste und leichteste Methode bestand darin, ein Loch in das Dach zu sprengen, ein Kabel hinunterzulassen und den Schatz mit Hilfe der Schiffswinde an Bord zu hieven. Das Problem bestand darin, mit welcher Ladung man dieses Material durchbrechen konnte. Lösung: Bohre ein Loch in das Dach, führe ein paar Explosivpatronen ein, schicke ein Stoßgebet zum Himmel und löse die Ladung elektrisch aus. Er versuchte es zuerst mit einem Handbohrer. Sofort brach der Bohrer ab, als wäre er auf Diamant gestoßen. Dann versuchte er, ein Loch in das Dach zu schießen. Außer einem kleinen verbrannten Fleck und ein paar Kratzern zeigte die Explosivladung keine Wirkung.
Es blieb ihm also nichts anderes übrig, als den Abhang wieder hinunterzuklettern und den Draht auf den Schultern zum Raumschiff zu schleppen. Er mußte sich beeilen, denn es würde bald dunkel werden, und er hatte keine Lust, der wandelnden Lichtsäule bei Nacht zu begegnen. Dieses Wesen war schon schrecklich genug bei Tageslicht oder in der indirekten Beleuchtung eines Gebäudes. Wenn er sich vorstellte, daß sich dieses Wesen mit seinem unhörbaren Schritt von hinten näherte, während er mit dem geklauten Draht durch die Korridore schlich… Schon bei dem Gedanken daran wurde ihm übel. Er ließ den Papagei in der Pilotenkanzel zurück, sperrte die Luke ab und kehrte in das Gebäude zurück. Immerhin mußte er eine Meile gehen, bis er die Werkstatt hinter den Wänden mit den Karteikästen erreichte. Unterwegs hielt er nirgends an, um irgendein interessantes Wesen in den durchsichtigen Schubladen zu studieren. Die Lust dazu war ihm gründlich vergangen. Nur der Draht war jetzt noch wichtig. Außerdem war dieser Draht etwas, das ihn an irdische Verhältnisse erinnerte. Und irdische Gedanken hinderten ihn daran, an überirdische Wesen zu denken. Trotzdem war diese Kühle und Gelassenheit nur eine äußerliche Fassade. Seine Nerven waren zum Zerreißen gespannt, weil er jeden Augenblick mit der Rückkehr der goldenen Lichtsäule rechnen mußte. Und andererseits fieberte er vor Erwartung und Aufregung, weil er wußte, daß die nächsten Minuten auch über seine Rettung entscheiden würden. Es dauerte nur zehn Minuten, bis er neben einer zerlegten Maschine eine große Spule mit dem kupferartigen Metall fand. Eigentlich keine Spule, eher eine Ankerwicklung, und als er versuchte, die gewaltige Ellipse aus Draht zu bewegen, gab sie nicht einen Millimeter nach. Die Spule war viel zu groß und zu
schwer für die schwachen Kräfte eines Menschen. Wollte er einen Vorrat von diesem Draht auf das Dach hinaufschaffen, mußte er die Spule zerschneiden und mindestens viermal zwischen dem Dach und der Werkstatt hin und her gehen. Er war so nahe seinem Ziel und doch so weit davon entfernt! Seine Freiheit hing von der Fähigkeit ab, ob er ein Metallgewicht auf eine um dreihundert Meter höherliegende Ebene heben konnte. Er hatte schon die Drahtzange in der Hand, zögerte aber noch einen Moment und überlegte. Dann beschloß er, sich noch ein bißchen umzusehen, ehe er an das Zerlegen der mächtigen Spule ging. Das war eine kluge Entscheidung. Denn kaum hundert Meter von der zerlegten Maschine entfernt, entdeckte er eine zweite Spule, diesmal im Kreis gewickelt und in vorzüglichem Zustand. Auch diese Spule war viel zu schwer, als daß er sie hätte tragen können. Doch es gelang ihm, sie aufzurichten und durch die Gänge zu rollen wie ein Wagenrad. Ein paarmal mußte er anhalten und die Drahtspule gegen eines der Regale lehnen. Dabei löste er immer ein kleines Erdbeben in den Regalen aus, und bei der letzten Rast dicht vor dem Ausgang des Gebäudes hätte er fast eine von den mächtigen würfelförmigen Schubladen zerbrochen. Die Spinne, die darin auf den Lebenshauch wartete, bewegte sich, als könne sie sich tatsächlich aus eigenem Antrieb aus ihrem Gefängnis befreien. Steve schüttelte sich, richtete die Drahtrolle ächzend wieder auf und rollte sie auf den Ausgang zu. Wieder krochen violette Strahlen über den Horizont, als er mit seiner Beute den Fuß des Abhangs erreichte. Hier schnitt er den Draht an der obersten Stelle auf, nahm das freie Ende in die Hand und kletterte damit den Hügel hinauf. Der Draht ließ sich ohne Schwierigkeiten abrollen, bis er das Raumschiff erreichte und das Ende des Drahtes an der Winde befestigte. Er schaltete das Getriebe der Winde ein und überließ es ihr, die
Beute in das Schiff heraufzuholen. Wie an den vorhergehenden Tagen brach die Nacht so plötzlich herein, als werfe man ein schwarzes Tuch über den Planeten. Mit bebenden Händen führte Steve das Ende des Drahts in den automatischen Zuführer ein. Dann befreite er Laura aus ihrem Reisekäfig und gab ihr ein paar von den Früchten, die er gestern von dem Nußbaum in der Nähe des Raumschiffes gepflückt hatte. Laura nahm die Nuß wortlos entgegen. Der Papagei schien immer noch sehr bedrückt zu sein, als leide er unter einer Krankheit. »Geh wieder in deinen Käfig, Laura«, redete Steve ihr gut zu. »Wir haben genug von diesem Planeten und fliegen nach Hause.« Er schloß die Schiebetür hinter dem Vogel, setzte sich auf den Pilotensitz und schaltete den Bugscheinwerfer ein. Dann schaltete er die Zündung ein und wärmte die Düsen an. Er mußte sehr behutsam mit den Instrumenten umgehen. Da die Energieausbeute um 70 Prozent höher war als normal, mußte er höllisch aufpassen, daß er sich nicht die eigenen Düsen wegbrannte. Trotzdem spürte er eine merkwürdige Ungeduld, als ob jede Minute zählen würde. Doch er riß sich zusammen, wartete, bis die Instrumente grün aufleuchteten, schaltete die Steuerdüsen ein und beobachtete den Scheinwerfer, dessen Strahl über den Hügel tanzte, während er das Raumschiff um 180 Grad drehte. Ein Druck auf einen Knopf, und die Zerstäuberkammern gaben ihren Inhalt für die Düsen frei. Langsam schob sich das Raumschiff bis zum Rande des Daches vor. Ein schwaches Glimmen schien sich in der Dunkelheit abzuzeichnen, und Steve drehte sofort den Scheinwerfer in diese Richtung, um dieses Glimmen näher zu untersuchen. Es war ein gelblicher Schimmer, der sich über den Kamm des gegenüberliegenden Hügels erhob wie der aufsteigende Mond auf der Erde.
Die Haare sträubten sich ihm wieder im Nacken, als er das Leuchten erkannte. Es wurde stärker und ragte immer höher über den Hügel hinaus. Steve sah diesem Schauspiel fasziniert zu, die Hände hingen wie festgefroren an den Kontrollhebeln. Sein Rücken war in Schweiß gebadet. Hinter ihm, im gepolsterten Käfig, blieb es totenstill. Laura trippelte nicht unruhig hin und her, wie sie es gewöhnlich vor jedem Start tat. Vielleicht hatte sie sogar den Kopf unter das Gefieder gesteckt. Steve nahm seinen ganzen Willen zusammen, schob den Steuerhebel ein paar Millimeter nach vorn, so daß die Rückstoßflamme sich bis zum Hügel ausdehnte. Das Schiff bebte bis in die letzten Fugen. Er schaltete die Startraketen ein. Der rollende Donner hallte wie ein Kanonenschlag von den Höhen wieder, und das kleine Raumschiff schoß auf einem Feuerschweif steil in den Himmel. Steve warf noch einmal einen Blick durch die Kanzel nach unten. Aus dieser Perspektive schien die große goldene Säule viel kleiner, während sie majestätisch über die Hügel hinwegschritt. Schon im nächsten Augenblick war sie seinen Blicken entschwunden, und der Bug seines Raumschiffes hielt direkt auf eine Gruppe von Sternen zu. Steve spürte nur eine unendliche Erleichterung, obgleich er gar nicht angeben konnte, weshalb er sich da unten auf diesem Planeten so sehr gefürchtet hatte. Es war ein Aufatmen seiner Seele, und diese Erleichterung war so groß, daß er sich überhaupt keine Sorgen machte, wohin er flog und wie lange die Reise dauern sollte. Irgendwie hatte er das Gefühl, daß nichts mehr schiefgehen könnte, daß
er irgendwo, wenn er eine Umlaufbahn um den Planeten zog, ein Signal auffangen würde. Und sobald er einen Leitstrahl oder ein Richtsignal mit seinen Computern auffing, konnte er auch den Kurs berechnen, auf dem er zur Erde zurückkehren konnte. Das Glück blieb ihm tatsächlich treu. Sein Instinkt hatte nicht getrogen. Denn er hatte noch nicht einmal eine volle Umlaufbahn beendet, als er ein schwaches Signal von Hydra 3 auffing. Dieses Signal war sozusagen ein kosmischer Leuchtturm, der ihm den richtigen Kurs zur Erde wies. Er stieß einen lauten Jubelschrei aus. Er glaubte natürlich, außer Laura könne niemand seinen Jubelruf hören. Aber das war ein Irrtum. Unten auf dem Planeten Oro hielt der goldene Riese einen Moment in seiner Werkstatt bei seiner Arbeit inne und horchte. Dann ging er mit lautlosen Schritten durch die unendlich langen Korridore, bis er ein bestimmtes Fach in den Regalen mit den Karteikästen erreicht hatte. Er öffnete die Tür und zog zwei glasähnliche Bogen aus dem Karteikasten. Einen Moment lang berührten die durchsichtigen Bogen die sonderbar schimmernde Substanz dieses Wesens. Winzige Löcher stanzten sich in die durchsichtigen Flächen. Dann wurden sie wieder in den Kasten gelegt, und die Tür schloß sich. Erneut glitt die goldene Lichtsäule zurück in die Werkstatt. Etwas, das den Göttern viel näher stand als irdische Wesen, hatte sich Notizen gemacht. Kein Wesen, das in der Skala des Lebens niedriger stand, hätte diese Notizen übersetzen oder überhaupt begreifen können. Wenn wir sie überhaupt in menschliche Sprache umsetzen könnten, so lauteten sie ungefähr folgendermaßen: »Zweifüßler, aufrecht, hellhäutig, Homo intelligens, Typ P. 739, auf Sol III angesiedelt, Kondensationsgrad BDB – Leistungsgrad mäßig bis zufriedenstellend.« Ähnliche
Abkürzungen waren auf dem zweiten Bogen verzeichnet. Der Text lautete ungefähr: »Flatterflügler, groß, krummschnäblig, bunt gefiedert, Periquito macao, Typ K. 8, auf Sol III angesiedelt, Kondensationsgrad BDB – Leistungsgrad mäßig bis zufriedenstellend.« Aber inzwischen hatte dieses goldschimmernde Lichtwesen seine Eintragungen längst vergessen. Es widmete sich seinem Hobby, hauchte seinen lebenspendenden Atem einem buntschillernden Schmetterling ein…
Originaltitel: HOBBYIST. Copyright 1947 by Street and Smith Publications, Inc. Aus ASTOUNDING SCIENCE FICTION September 1947.
A. Bertram Chandler DIE AUSGESTOSSENEN
Falsen mochte Katzen nicht, und Katzen mochten ihn nicht. Diese Antipathie war der ausschlaggebende Grund, weshalb Captain Canning, Commander des interstellaren Raumschiffes Etruria, Anweisung gab, seinen zweiten Navigator auf Antares VI auszusetzen. Antares VI war ein unwirtlicher Planet. Die Regierung der Weltföderation meinte, der Himmelskörper lohne den Aufwand an Geld und Zeit nicht, weil er menschlichen Bedürfnissen nicht entsprach und nur das Allernötigste bot, was ein Mensch zum Überleben braucht. Dabei konnte Falsen noch von Glück sagen, daß man ihn dorthin verbannte. Andere Raumfahrer, die seine Abneigung gegen Katzen teilten, hatte man kurzerhand durch die Luftschleuse in den leeren Weltraum hinausbefördert – ohne Raumanzug, versteht sich. Oder man hatte sie mit besonderen altmodischen Kugeln erschossen, die nach einem uralten Verfahren hergestellt wurden. Es gab einen ganzen Katalog von interessanten Methoden, mit denen man Leute wie ihn, also Katzenfeinde, aus der menschlichen Gesellschaft entfernte. Austilgen war das treffendere Wort dafür; denn die Methoden waren radikal und immer tödlich. Falsen hatte also Glück. Er hatte vor ein paar Monaten Commander Canning das Leben gerettet. Das war auf dem Planeten Coralia gewesen, als die Ureinwohner eine Handelsniederlassung angriffen und fast die ganze menschliche Besatzung niedermachten. Falsen wäre damals
beinahe selbst getötet worden, und deshalb hatte Canning auch eine Eingabe an seine Vorgesetzten gemacht. »Es gibt Grenzen«, hatte er geschrieben… Und ein paar Sätze weiter: »Schließlich besteht nur der Verdacht, keine Gewißheit…« Zur vorausberechneten Zeit ebbte das Heulen der Antriebsaggregate ab, die Geschwindigkeit der Etruria sank unter die Schallgrenze. Das Raumschiff schwenkte in eine Kreisbahn um den sechsten Planeten der purpurroten Sonne Antares ein, und man machte das Raumboot III klar. Schwerbewacht wurde Falsen in das Boot geführt. Er hätte sich auch jetzt noch befreien können, da die Handschellen um seine Gelenke für ihn kein Hindernis waren. Aber zu viele Freunde von der Mannschaft verabschiedeten ihn, und Wilbraham, der erste Offizier, trug eine schwere altmodische automatische Pistole am Gürtel – ein vorsintflutliches Instrument, das Metallkugeln als Geschosse verwendete. Falsen wußte das sehr wohl und verhielt sich passiv. Man schob ihn in das Boot, dessen Steuer Kent, der erste Navigationsoffizier des Raumschiffes, übernahm. Wilbraham begleitete ihn, die entsicherte Pistole in der Hand. Minnie, die Bordkatze, fauchte Falsen noch einmal zum Abschied nach, ehe sich die Schleuse schloß. Sie setzten ihn auf einer sumpfigen Ebene ab. Der Boden bestand aus Schlick und Morast. Es nieselte. Am Horizont ging die Sonne unter, überzog die Wolken mit einem düstern Rot. Falsen erschauerte, als man ihn aus dem Raumboot stieß. »Ihr hättet mir wenigstens etwas mitgeben können«, beklagte er sich. »Einen anständigen Regenmantel zum Beispiel…« »Du brauchst das Zeug hier nicht«, unterbrach Wilbraham grob. »Du kannst froh sein, daß ich davon keinen Gebrauch gemacht habe«, fuhr er fort und schlug mit der Hand gegen den Griff der Pistole. »Wenn ich nicht davon überzeugt wäre, daß
du hier ohnehin nicht die geringste Chance hast, hätte ich dir schon eine Kugel durch den Kopf gejagt.« »Sie können das immer noch nachholen, Sir«, schlug Kent, der Navigationsoffizier, vor. »Fluchtversuch berechtigt zum Gebrauch der Waffe.« »Fluchtversuch?« fragte Wilbraham. »Wohin denn? Im Sumpf kommt er nicht weit. Trotzdem bin ich der Meinung, daß der Skipper viel zu weichherzig und nachsichtig war. Hau ab, Falsen! Und Waidmannsheil!« Das war natürlich zynisch gemeint und auch so gesprochen. Dann stand Falsen bis zu den Knöcheln im Schlamm und verfluchte die Etruria, schüttelte drohend die Faust, während er dem Raumboot nachsah. Der Feuerstrahl aus der Düse des Bootes spiegelte sich in seinen Augäpfeln. Sie glühten wie die eines wilden Tieres. Dann stand er allein im Regen, eine einsame Gestalt in Halbschuhen, Hemd und Hose. Fluchen brachte ihn nicht weiter. Falsen schob sein nasses hellblondes Haar aus der Stirn und richtete sich auf, um sich mit einem Rundblick zu orientieren. Es war kalt, und seine Zähne klapperten. Auch als Falsens Augen sich an die Dämmerung gewöhnt hatten, sah er nur den fahlen Lichtstreifen am Horizont. Kein Baum, kein Hügel und kein Gebäude war zu erkennen. Einen Moment lang ergriff Falsen die Panik. Man mußte ihn auf einer Insel im Meer ausgesetzt haben. Er zwang sich zur Ruhe und versuchte, sich an das zu erinnern, was er über den Planeten Antares VI wußte. Um den Äquator des Planeten zog sich ein breiter Gürtel sumpfiger Ebenen. Nur in der Äquatorzone herrschten Temperaturen, die für Erdbewohner erträglich waren. Zum zweitenmal drehte er sich jetzt langsam im Kreis, angestrengt lauschend, spähend und hoffend, Anzeichen von Leben zu entdecken: Blut, Wärme und Nahrung. Außer dem
sanften Rauschen des Regens hörte er nichts. Er roch nur Feuchtigkeit und Moder und – ja doch, da war noch etwas. Rauch. Holzrauch. Ein Feuer deutete auf die Gegenwart intelligenten Lebens hin. Er schüttelte den Regen ab und ging in die Richtung, aus der der Rauchgeruch zu kommen schien. Seine Füße fühlten sich an wie Eisklumpen; das nasse Zeug klebte an seiner Haut. Doch beim Gehen wurde ihm etwas wärmer. Die Feuchtigkeit stieg in Dunstwolken von seinem Körper auf. Immer wieder tastete seine rechte Hand nach den wenigen Habseligkeiten, die ihm geblieben waren: Ein Taschenmesser mit einem Büchsenöffner und einem Korkenzieher; ein Feuerzeug und eine feuchte, zerknitterte Packung Zigaretten. Er wußte nicht, was ihn dort vorn erwartete. Doch es beruhigte ihn, daß er nicht ganz ohne Waffe einem möglichen Gegner gegenübertreten mußte. Er hatte ein Messer, und er konnte Feuer machen. Er war in der Selbstverteidigung ohne Waffe ausgebildet worden und befand sich in ausgezeichneter körperlicher Kondition. Der Geruch nach Rauch wurde stärker – und er roch noch etwas anderes: ein nicht unsympathischer Geruch, der unter anderen Umständen eine weit größere Anziehungskraft auf ihn ausgeübt hätte als Wärme, Trockenheit und Nahrung, die er jetzt nötig brauchte. Er konnte jetzt die Umrisse eines Hügels vor sich erkennen: ein schwarzer Rücken im trüben Grau der Nacht. Auf halber Höhe flackerte ein rötlicher, halbkreisförmiger Schein. Das mußte der Eingang zu einer Höhle sein, eine Höhle, in der ein Schicksalsgefährte zu hausen schien. Ein Ausgestoßener wie er. Und wenn sein Instinkt ihn nicht trog, mußte der Höhlenbewohner eine Frau sein. Er schlich vorsichtig weiter. Der Hügelhang war mit niedrigem Strauchwerk bewachsen, und er bog die Zweige langsam auseinander, damit das Knacken des Holzes ihn nicht
verraten konnte. Vielleicht war seine Schicksalsgefährtin bewaffnet. Vielleicht schreckte er sie aus dem Schlaf, und sie reagierte unbedacht. Doch während er leise an die Höhle heranschlich, nahm seine Erregung zu. Erst jetzt wurde ihm deutlich, wie einsam er gewesen war. Gierig atmete er den Geruch des Feuers und all die anderen Gerüche, die wohl nur die wenigsten Menschen auf so große Entfernung wahrgenommen hätten. Endlich hatte er den Eingang der Höhle erreicht und spähte ins Innere. Das Feuer war kurz vor dem Erlöschen. Es warf einen dunkelroten Schein auf den Sandboden. Zerbrochene Zweige waren zu einem kleinen Haufen aufgeschichtet. Unter den Decken zeichnete sich der Umriß eines Körpers ab. Daneben lag ein Bündel Kleider, säuberlich zusammengelegt. Langsam, auf Zehenspitzen, schlich er näher, wagte kaum zu atmen. Er schlug einen Bogen um das Feuer und ging auf die Kleider zu. Neugierig hob er jedes Stück auf. Es waren die Sachen einer Frau, wie er vermutet hatte. Sie wiesen die gleichen Abzeichen auf wie seine Uniform. Die Frau in der Höhle war also ebenfalls bei der interstellaren Raumfahrt gewesen. Er prüfte die Epauletten auf der Bluse: zwei silberne Schnüre auf rotem Grund. Sanitätsdienst, dachte er. Eine Krankenschwester also. Das Feuer erinnerte ihn daran, wie ausgekühlt er war. Er drehte sich um, starrte in die Glut und achtete nicht darauf, wohin er trat. Ein Zweig knackte. In der Ecke flogen die Decken zur Seite, und eine weiße Gestalt sprang in den zuckenden Schein der Flammen. Er fing sie mitten im Sprung auf und warf sie auf den sandigen Boden. Unter seinem Zugriff erschauerte sie. Gänsehaut bildete sich auf ihren nackten Schultern. Tierisch flackerte es in ihren hellen, fast farblosen Augen. Er öffnete den Mund zu einem spöttischen Grinsen und sagte: »Immer mit der Ruhe, meine Liebe. Kein Artgenosse vergreift sich an einem anderen.« Sofort ließ ihr Widerstand
nach. Falsen stand auf und streckte ihr die Hand hin, um ihr auf die Beine zu helfen. Im trüben Rot des verlöschenden Feuers sah sie irgendwie unwirklich aus. Ihre Haut schimmerte, als sei sie ein Wesen ohne Fleisch und Blut. Doch ihre Bewegungen waren typisch und sehr weiblich. Sie streifte den Sand von der Haut, strich über das Haar und ging zu ihrem Kleiderbündel, um sich anzuziehen. Falsen sah ihr zu. Sie war schlank und anmutig. Sie hatte hellblondes Haar. Ihre Zähne waren weiß und kräftig. Sie sagte mit leiser, etwas heiserer Stimme: »Wer bist du, und wo kommst du her?« »Ich heiße Nikolas Falsen. Vor einer Stunde war ich noch Navigator auf der Etruria. Man setzte mich hier aus, weil meine Kollegen mich nicht mehr ausstehen konnten. Und deshalb…« »Warum haben sie dich nicht getötet?« »Die meisten meiner Kollegen waren dafür, mich zu töten. Aber ich habe dem Commander einmal das Leben gerettet.« Er lächelte höhnisch. »Ich nehme an, du hast dich mit anderen Gefälligkeiten losgekauft.« »Vielleicht«, erwiderte sie mit tonloser Stimme. »Ich würde sonst nicht… Wenigstens gab man mir Proviant für sechs Monate mit, als man mich aussetzte. Drei Monate habe ich schon hinter mir.« »Da mußt du von der Calabria ausgesetzt worden sein. Sie startete drei Monate vor uns.« »Richtig. Ich gehörte zur Besatzung der Calabria.« Sie war jetzt angezogen und drehte sich um. Mit gesenktem Kopf stand er neben dem Feuer. Das Wasser lief ihm aus den Hosen in die Schuhe. »Ich habe kein Bootsgeräusch gehört«, sagte sie. »Du mußt ziemlich weit gegangen sein. Wäre es nicht besser gewesen, du hättest dich ausgezogen?«
»Ich hatte keine Ahnung, wen oder was ich hier antreffen würde«, antwortete er. »Außerdem gibt es Konventionen, Gewohnheiten. Du weißt das ja selbst. Wie ich sehe, hast du dich ebenfalls angezogen.« »Richtig«, erwiderte sie. »Schließlich war ich mal Offizier.« Sie lachte bitter. »Kleider machen Leute.« »Du hast mir deinen Namen noch nicht verraten.« »Veerhausen. Linda Veerhausen. Aber ich bin eine schlechte Gastgeberin. Du frierst. Deine Zähne klappern. Zieh deine nassen Sachen aus und leg dich unter die Decken. Ich werde dir etwas zu essen machen…« »Nein, ich will dir deinen Proviant nicht wegessen.« »Unsinn. Ich habe das Zeug noch gar nicht angerührt. In den Sümpfen gibt es eine Art Krebs, der gekocht gar nicht so schlecht schmeckt. Rohes Fleisch wäre natürlich besser, aber zur Not kann man auch gekochte Krebse essen. Ich werde eine Büchse mit Rindfleisch öffnen.« Sie ging in eine kleinere Nebenhöhle, und als Falsen bereits unter den Decken lag, kam sie mit einer dampfenden, sich selbsterhitzenden Konservendose wieder. Falsen aß dankbar die Hälfte des Doseninhalts. Erschöpft von den körperlichen und geistigen Strapazen der letzten Tage schlief er sofort ein. Das Mädchen legte Zweige auf die Glut und blieb neben dem Feuer sitzen – wachsam und ausgeruht. Draußen vor der Höhle hörte es allmählich auf zu regnen. Falsen erwachte mit Anbruch der Morgendämmerung. Er brauchte keinen Übergang. Er war sofort hellwach. Er warf die Decke zur Seite und ging barfuß zum Eingang der Höhle. Das Mädchen stand auf einem kleinen Felsvorsprung und blickte ins Land hinaus. Sie spürte ihn kommen und drehte sich um. Ein flüchtiges Lächeln huschte über ihr Gesicht. »Dein erster
Morgen auf Antares VI. Meinen Glückwunsch. Er ist besser als mein erster Morgen.« Von Osten her zog sich stumpfes Rot über die Ebene empor und färbte die Unterseite der grauen Wolken. Dann ging die Sonne auf: Antares, eine merkwürdig stumpf glühende Sonne. Die Sümpfe und Wasserläufe um den Hügel herum schimmerten wie Blutlachen. »Was jetzt?« fragte Falsen. »Frühstück natürlich«, erwiderte das Mädchen. »Aber wir müssen es uns erst fangen. Die Vorräte, die man mir mitgegeben hat, bleiben als eiserne Ration. Dort!« Sie deutete mit dem Finger. »Dieser Tümpel, der aussieht wie ein Hufeisen. Dort gibt es Krebse. Ich zeige dir, wie man sie fängt.« »Gehen wir – nackt?« »Du kannst dich ja anziehen, wenn du willst. Schafe wären mir lieber…« Sie leckte mit ihrer roten Zunge über die Lippen. »Hör auf!« rief Falsen. Das Mädchen achtete nicht auf ihn. Sie schien in Gedanken versunken. »Es war während meines letzten Urlaubs«, sagte sie mit verträumter Stimme. »Damals wurde mir alles klar. Es war an einem Morgen im schottischen Hochland. Die Sonne ging über den Bergen auf, und dann…« Sie lächelte. »Ich möchte nur wissen, wem oder was der Schäfer damals die Schuld gab…« »Und trotzdem bist du beim Raumdienst geblieben? Du mußt doch gewußt haben, was für ein Risiko du eingingst!« »Weshalb denn nicht? Als Krankenschwester hatte ich einen Schlüssel zum Giftschrank – und sorgte dafür, daß alle Katzen an Bord plötzlich verendeten. Wenn nicht ein Passagier eine fette, verwöhnte Perserkatze an Bord gebracht hätte…« Sie spuckte verächtlich aus. »Ich hab’ Hunger«, sagte Falsen gähnend. »Also gehen wir zum Tümpel und fangen uns Krebse!«
Zusammen gingen sie den Hügel hinunter auf den Tümpel zu. Unter den bloßen Füßen fühlte sich der Boden schwammig an, vollgesogen mit dem Regen der vergangenen Nacht. Die Sonne ließ den Boden dampfen, schaffte eine unangenehme, naß-kühle Atmosphäre. Falsen war froh darüber, daß er seine Kleider in der Höhle zurückgelassen hatte. Von der glatten haarlosen Haut ließ sich der Schlamm viel leichter abwaschen. Sie blieben am Rand des Tümpels stehen. Linda suchte die Pflanzen am Ufer sorgfältig ab. Schließlich wählte sie ein gertenartiges Gewächs aus, das an der Spitze eine längliche gelbliche Frucht trug. Sie hielt mit der linken Hand die Gerte ins Wasser, und Falsen sah jetzt, daß kleine Fische im Tümpel herumschwammen. Die längliche Frucht am Ende der Gerte hatte eine gewisse Ähnlichkeit mit diesen Fischen. Möglich, daß sich diese Frucht als Köder bewährt hatte. »Man braucht beide Hände«, erklärte Linda. »Die Gerte muß dauernd in Bewegung bleiben – siehst du? Und jetzt geht’s los.« Linda kniete am Rand des Tümpels nieder. Mit der Linken zog die Frucht durchs Wasser, die Rechte lag locker auf den Knien, bereit, sofort zuzufassen. Falsen beobachtete, wie die kleinen Fische vom Grund heraufschwärmten, den Köder untersuchten und dann wieder abdrehten, als rümpften sie die Nase über diesen plumpen Betrug. Doch plötzlich stoben sie in alle Richtungen auseinander, während etwas Großes, Graues über den Boden des Tümpels auf die Frucht zukroch. Lindas Arm tauchte blitzschnell ins Wasser – und schon zog sie die Hand wieder zurück und packte mit beiden Händen ein zappelndes graues Lebewesen, das Ähnlichkeit mit einem Krebs hatte. Falsen wußte nicht recht, was er jetzt tun sollte. Außerdem sah das Ding, das Linda aus dem Tümpel gefischt hatte, nicht gerade appetitlich aus. »Soll ich…?« fragte er zögernd. »Nein. Ist schon gut.«
Es gab ein knackendes Geräusch, dann fiel das graue haarige Ding auf den Boden. Es bewegte sich nicht mehr. »Wir kochen es«, sagte das Mädchen. »Ich habe zwar versucht, das Fleisch roh zu essen, aber…« Falsen mußte zugeben, daß dieses haarige Wassertier gar nicht so schlecht schmeckte. Mit Brot und Butter, Salz und Essig wäre es fast eine Delikatesse gewesen. Aber er hatte schon Schlimmeres gegessen. Nach der Mahlzeit gab es sogar eine Zigarette. Linda hatte Falsens Packung am Feuer getrocknet. Falsen stand auf und ging zum Eingang der Höhle. Plötzlich rief er: »Linda, komm mal her!« »Was ist denn, Nick?« Ungefähr sieben Meilen von ihnen entfernt bewegte sich etwas über den Sümpfen. Der rote Schein der Sonne spiegelte sich darin. Es mußte etwas Metallisches sein, das dort in niedriger Höhe dahinflog. Während sie den Flugkörper beobachteten, blieb dieser plötzlich mitten in der Luft stehen, schwebte über einem der großen Tümpel. »Ein Hubschrauber«, sagte Falsen. »Sieht wie ein Vermessungsschiff aus.« »Ich dachte, die Weltföderation hat kein Interesse an diesem Planeten.« »Es gibt auch Rassen, die nicht zur Föderation gehören.« Er grinste. »Es gibt auch andere intelligente Völker im Weltall. Rasch! Wirf nasses Holz ins Feuer, damit sie unser Rauchsignal sehen!« »Aber wenn Menschen im Hubschrauber sitzen?« »Selbst dann wissen sie nicht, warum wir hier sind. Wir können ihnen ja erzählen, wir seien mit unserem Schiff auf diesem Planeten gestrandet.«
Inzwischen war er fieberhaft an der Arbeit, riß ganze Büsche aus dem Boden und warf sie ins Feuer. Weiße Rauchschwaden zogen träge aus der Höhle. Der Hubschrauber über dem Tümpel reagierte sofort. Langsam gewann er an Höhe und kam rasch näher. »Es ist kein Typ von der Erde«, sagte Falsen, der dem näher kommenden Flugkörper gespannt entgegenblickte. »Keine Rotoren, sondern Schwingblätter mit Luftschlitzen. Ob sie Doralaner sind? Vermutlich. Wir sollten uns lieber anziehen.« »Warum? Falls wir über sie herfallen…« »Wir fallen nicht über sie her – noch nicht. Sie werden uns zu ihrem Raumschiff bringen. Beeil dich!« Falsen kam hustend aus der Höhle heraus, als das Dröhnen des Hubschraubers in der mit Feuchtigkeit gesättigten Luft über dem Hügel immer lauter wurde. Falsen blickte hinauf zu dem zylinderförmigen Rumpf, sah die Hoheitszeichen an der Unterseite und fand seine Vermutung bestätigt. Das Fahrzeug stammte von Doralan. Aber was hatten die Doralaner auf diesem gottverlassenen Planeten verloren? Linda trat zu ihm, beobachtete, wie der Hubschrauber auf dem Hügelhang aufsetzte und sich die Tür hinter der Kanzel öffnete. Drei Gestalten in roten Mänteln und roten Kapuzen kletterten heraus. Falsen legte den Arm um Lindas Schultern. Er spürte, wie sich ihre Muskeln strafften, und flüsterte ihr zu: »Reiß dich zusammen! Sonst wirst du alles verderben!« »Aber sie sehen so appetitlich aus«, sagte sie. »Und wenn schon«, erwiderte Falsen leise. »Aber in der Kanzel sitzt jemand mit einer schußbereiten Waffe, die auf uns gerichtet ist.« »Die kann uns gar nichts anhaben, wenn…« Sie verstummte, als die Doralaner auf sie zukamen. Sie gingen in einer Reihe, drei scharlachrote Gestalten, die sich deutlich von dem grauen wolkenverhangenen Himmel abhoben. Die Gesichter unter den
Kapuzen waren streng und doch attraktiv. Mädchengesichter. Auch die Umrisse ihrer Körper, soweit man sie unter dem Mantel erkennen konnte, waren menschenähnlich. »Das sind doch Menschen!« flüsterte Linda. »Nein«, widersprach Falsen leise. »Parallelentwicklungen von einem anderen Planeten, der die gleichen Lebensbedingungen hat wie die Erde. Wenn man sie seziert, sind sie – anders. Doch für unsere Zwecke taugen sie genausogut wie Menschen.« Einer von den drei Doralanern trug einen goldenen Stern am Mantelkragen. Offensichtlich war das die Anführerin. Ihre Stimme war dünn und hoch, aber sehr klar und deutlich. »Ihr seid Menschen von der Erde?« »Ja«, antwortete Falsen. »Warum habt ihr Rauchzeichen gegeben?« »Weil wir auf diesem Planeten gestrandet sind und Hilfe brauchen. Und um eure Aufmerksamkeit zu erregen.« »Im Verlauf unserer Vermessungsarbeiten wären wir sowieso in eurer Nähe gelandet. Das ist der einzige Hügel, den es hier weit und breit gibt. Euer Hilferuf, der mir unbegründet erscheint, zwingt uns zu einer unnötigen Arbeitsunterbrechung.« »Tut mir leid«, erwiderte Falsen. »Madame«, wendete sich der Offizier jetzt an Linda, »ich möchte nicht länger mit diesem Wesen sprechen, das offenbar nur Ihr Sklave ist. Befehlen Sie Ihrem männlichen Sklaven, uns zum Hubschrauber zu folgen. Da Sie die Verantwortung tragen, werden wir Sie zu unserer Lady Mutter bringen.« »Halte dich an die Spielregeln«, flüsterte Falsen dem Mädchen zu. »Die Doralaner haben offensichtlich eine matriarchalische Gesellschaftsordnung. Die Lady Mutter ist niemand anders als der Kommandant ihres Raumschiffes.« Sie folgten den drei doralanischen Frauen zum Hubschrauber.
Falsen war allerdings überrascht, als der Offizier ihm mit einer Geste andeutete, er solle als erster einsteigen. Der Sinn wurde ihm dann sofort klar. Die drei an Bord gebliebenen Besatzungsmitglieder packten ihn sofort, als er den Hubschrauber betrat, stießen ihn nach hinten und sperrten ihn dort in einer Kabine ein. Von seinem Platz aus konnte er den Rücken von Linda sehen und auch die drei Doralaner, die neben ihr Platz nahmen. Das Mädchen von der Erde überragte ihre zierlichen Gastgeberinnen um mindestens dreißig Zentimeter. Er hoffte nur, daß die Nähe dieser warmblütigen Wesen Linda nicht zu einer Dummheit verleiten würde. Geräuschlos schwang sich der Hubschrauber in die Lüfte. Der Flug war sehr angenehm, was natürlich nicht unbedingt mit einer überlegenen Technologie zusammenhängen mußte, sondern an den atmosphärischen Bedingungen dieses Planeten liegen konnte. Schließlich senkte sich der Rumpf wieder, und der Hubschrauber setzte zur Landung an. Ein sanfter Stoß, und er stand. Ehe Linda das Luftfahrzeug verließ, drehte sie ihm das Gesicht zu. Es war schneeweiß und verzerrt. Trotzdem brachte sie ein Lächeln zustande. Falsen grinste, erleichtert darüber, daß alles glattgegangen war. Draußen sah er sich interessiert um. Abgesehen davon, daß die Ebene hier leicht gewellt war, unterschied sich der Lagerplatz der Doralaner nur wenig von dem Sumpfland, wo Falsen ausgesetzt worden war. Im Osten war eine Hügelkette zu erkennen, sonst ragte außer dem Raumschiff nichts aus der eintönigen Landschaft empor. Das Raumschiff machte wenig Eindruck auf Falsen. Ein wieder in Dienst gestelltes Fahrzeug, überlegte er, irdischer Abstammung. Ein Kreuzer der Cityklasse, die der interstellare Raumdienst schon vor zehn Jahren ausgemustert hatte. Doch
diese alten Kästen waren nicht schlecht, ganz im Gegenteil – unkompliziert, verläßlich und stabil gebaut. »Du da«, unterbrach der Offizier des Hubschraubers seinen Gedankengang, »du kommst mit uns!« »Haben Sie Befehle für mich, Lady?« fragte Falsen sarkastisch Linda. »Idiot, was fragst du mich«, sagte sie. Dann wendete sie sich an den doralanischen Offizier: »Hören Sie, meine kleine rote Puppe, bei uns herrschen leider andere Sitten. Vielleicht kommt Ihnen das entsetzlich vor, aber bei uns bestimmen die Männer über die Frauen.« »Na schön, dann kommen Sie beide mit«, ordnete die Doralanerin an. »Doch merken Sie sich eines: Sie stehen beide unter meinem Befehl!« Sie betraten das Raumschiff durch die Heckschleuse, wurden in einen Aufzug geschoben. Ein Deck nach dem andern blieb unter ihnen zurück, bis sie schließlich in der Nähe des vorderen Steuerraumes ausstiegen. Sie folgten einem kurzen Gang und hielten auf Befehl vor einer Tür. Der weibliche Offizier klopfte an, eine Stimme antwortete, und die Tür glitt auf. Hinter einem großen Schreibtisch saß eine Liliputanerfrau, vermutlich der Kapitän des Kreuzers. Sie trug die gleiche rote Kleidung wie die übrige Besatzung, nur reichlich mit goldenen Tressen bestickt. Die Kapuze war zurückgeschlagen, so daß man das Gesicht der Frau deutlich erkennen konnte. Ihr Haar war kurz geschnitten und von eisengrauer Farbe. Das Gesicht war herb, von Verantwortung und Entbehrungen gezeichnet. Doch der feine Mund verriet Güte und das, was man auf der Erde Menschlichkeit nennt. Rechts neben der Frau saß eine große Katze auf dem Schreibtisch, eine Perserkatze, soweit man das an der Länge und Färbung des Fells erkennen konnte. Als die beiden Menschen die Kajüte betraten, richtete sich das Tier auf,
machte einen Buckel und fauchte wütend. »Pondor!« wies die Lady Mutter das Tier zurecht. Die Katze stieß ein paar miauende Töne aus. Falsen hätte schwören können, daß es nicht tierische Laute, sondern Sätze oder Sprachzeichen waren. Aber das konnte natürlich nur Einbildung sein. Der Offizier erstattete Meldung. Die Lady Mutter hörte zu und schickte dann ihre Untergebene mit ein paar kurzen Anweisungen hinaus. »Setzt euch!« befahl sie den beiden. »Oh, Sie sprechen unsere Sprache Lady Mutter!« antwortete Falsen überrascht. Er nahm auf dem kleinen Sofa Platz, das sich noch am besten für seine Größe und sein Gewicht eignete. Das Mädchen setzte sich neben ihn. »Ja«, erwiderte die Frau. »Ich spreche Ihre Sprache. Doch zuerst muß ich mich für das Verhalten meines Offiziers entschuldigen. Sie ist nicht vertraut mit den Sitten einer Welt, wo beide Geschlechter gleichberechtigt sind. Noch weniger kann sie sich mit den Gepflogenheiten der Erde abfinden, wo die männliche Rasse in der Gesellschaft tonangebend ist.« »Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen«, erwiderte Falsen. »Ich habe es nicht übelgenommen.« Doch dann sprang er mit einem leisen Schrei vom Sofa auf und rieb sich das Schienbein. »Pondor!« sagte die Frau zu ihrer Perserkatze. »So behandelt man doch keine Gäste.« »Sie mögen mich nicht«, kam die miauende Antwort. Die Worte waren kaum zu verstehen. »Also mag ich sie auch nicht.« »Dann verlasse die Kabine!« »Weshalb soll ich die Kabine verlassen? Schließlich hat man mich und meinesgleichen früher als Götter verehrt.« »Wir haben das nie getan, Pondor. Hinaus!«
»Schon gut«, erwiderte das Tier schnippisch, streckte den Schwanz in die Luft und ging mit erhobenem Kopf zur Tür. Dort schnurrte sie verächtlich: »Weiber!« und verschwand. »Was für ein – bezauberndes Tier«, sagte Linda. »Haben Sie noch mehr Katzen an Bord?« »Ja. Sie werden überrascht sein, was wir aus den Katzen von Ihrem Planeten gemacht haben. Fünfzig Generationen Zuchtwahl und Mutationsauslese haben genügt, um solche sprachbegabten Geschöpfe wie Pondor heranzubilden. Er beherrscht sogar zwei Sprachen. Aber ich fürchte, ich bin unhöflich. Sie haben Entbehrungen hinter sich und werden bestimmt hungrig oder durstig sein.« Im gleichen Augenblick kam eine von den Frauen mit einem Tablett herein, auf dem kleine, mit Mundstücken versehene Tassen standen und Teller mit winzigen Kuchenstücken. Die Stewardeß wurde von einem Offizier begleitet, der einen Schreibgriffel und eine Art Schreibblock mitbrachte. Ohne weiter aufgefordert zu werden, nahm dieser Offizier neben dem Schreibtisch Platz. »Nun erzählt mir eure Geschichte«, befahl die Lady Mutter. »Wir sind Nikolas Falsen und Linda Veerhausen«, begann Falsen seinen Bericht. »Navigator und Krankenschwester vom interstellaren Kreuzer« – er zögerte eine Sekunde – »Etruria. Wir waren von Chylor nach Port Gregory unterwegs. Port Gregory liegt auf dem Planeten Mars in unserem Sonnensystem. Wir hatten tiefgefrorene Ladung an Bord und zweihundert Passagiere. Ich hatte gerade Deckwache. Miss Veerhausen hätte sich eigentlich nicht im Steuerraum aufhalten dürfen, tat es aber doch. Das rettete ihr das Leben.« »Weshalb? Was ist passiert?« Falsen hob die Tasse mit dem Mundstück an die Lippen und nahm einen Schluck. Das Gebräu schmeckte wie schwacher Tee aus Anis. Er trank noch einen Schluck – aber nicht, weil
ihm das Gebräu besonders geschmeckt hätte. Er mußte Zeit gewinnen. Das Mädchen neben ihm murmelte: »Es war schrecklich – schrecklich.« »Ja«, stimmte er zu, »es war schrecklich. Das Energiefeld im Steuerraum rettete uns wahrscheinlich das Leben. Doch das Schiff… Haben Sie schon mal miterlebt, was passiert, wenn die Antriebsaggregate sich selbständig machen?« »Nein«, erwiderte die Lady Mutter. »Aber ich habe davon gelesen.« Ich auch, dachte Falsen. Er fuhr mit seiner Geschichte fort. »Sie waren natürlich alle tot. Alle ohne Ausnahme. Einige von ihnen hatten sich vorher – verändert. Ich hatte den Antrieb sofort abgeschaltet, als der Alarmsummer anschlug. Aber es war zu spät. Ich wollte die Fehlerquelle suchen, als der Antrieb von allein wieder einsetzte. Schrecklich! Das passiert manchmal, selbst wenn die Energiezufuhr gesperrt ist. Es geschah in dem kritischen Augenblick, als wir von Superdrive auf Normalantrieb umschalteten. Wir konnten nur noch ein paar Sachen in ein Rettungsboot werfen und aussteigen – so rasch wie möglich.« »Wo ist Ihr Rettungsboot?« »Ich kann Ihnen die Stelle zeigen«, log Falsen. »Doch wenn Sie kein Spezialgerät haben, um den Sumpf zu durchsuchen, werden Sie es nie finden. Wir schleppten die Vorräte, die wir gerettet hatten, in die Höhle und schliefen dort vor Erschöpfung ein. Heute morgen war das Boot plötzlich verschwunden. Ich habe aus Versehen die beiden Luftschleusen offengelassen«, log er mit gutgespielter Verbitterung weiter. »Wahrscheinlich wird man Sie vor ein Raumfahrtgericht stellen«, meinte die Lady Mutter, »wenn Sie zu Ihren Leuten zurückkehren. Doch inzwischen sind Sie beide meine Gäste. Ich habe bereits Anweisung gegeben, Ihnen eine Kabine herzurichten.« Die Frau nahm einen Schluck aus ihrer
Tasse und stellte sie dann auf den Boden für die Katze Pondor, die eben in die Kajüte zurückkehrte. Das Tier hob die Tasse mit zwei Pfoten auf und trank sie leer wie ein Mensch. Das geschah sehr geräuschvoll und schmatzend. »Sie werden sich vielleicht fragen, weshalb wir hier sind«, erläuterte die Lady Mutter inzwischen. »Das ist kein Geheimnis. Im Austausch für gewisse Handelsrechte hat Ihre Föderation uns diesen Planeten abgetreten. Wir führen die ersten Vermessungsarbeiten auf diesem Planeten durch. Voraussichtlich werden wir zweihundert Tage hier zu tun haben. Ich hoffe, Sie haben nichts dagegen, wenn Sie solange bei uns bleiben.« »Ich habe etwas dagegen«, mischte sich Pondor unerwartet ein. »Herrin, schicken Sie die beiden fort. Sie sollen ihr Boot nehmen und verschwinden. Sie gehören nicht zu uns. Sie – riechen. Sie riechen unangenehm und falsch.« »Unsinn, Katze. Wenn du dein ganzes Leben an Bord eines irdischen Kreuzers verbracht hättest, würdest du das gleiche von mir behaupten.« »Nein, Herrin, das ist es nicht. Die beiden sollen gehen.« »Wir haben nichts dagegen«, erwiderte Falsen. »Geben Sie uns ein Raumboot, Lady Mutter, und wir brechen sofort auf. Wenn ein Tier von mir schon behauptet, daß ich – äh – stinke, dann ist es höchste Zeit, daß ich gehe.« »Kümmern Sie sich nicht um das Gefasel von Pondor«, erwiderte die Lady Mutter lächelnd. »Er ist eifersüchtig. Da er gewohnt ist, Mittelpunkt unserer Aufmerksamkeit zu sein, möchte er jetzt nicht gern – wie sagt man doch in Ihrer Sprache? – die zweite Geige spielen. Beachten Sie ihn nicht.« »Ein bezauberndes Tier«, murmelte Linda. »Wenn ich wüßte, daß Sie das ernst meinten«, miaute Pondor, »würde ich Sie vielleicht akzeptieren.«
»Wie intelligent sind denn diese – diese Dinger?« fragte Falsen. »Oder handelt es sich hier nur um so etwas wie Papageien mit besonders großem Wortschatz?« »Ich weiß es selbst nicht«, erwiderte die Lady Mutter. »Natürlich können diese Katzen keine mathematischen Aufgaben lösen oder gar ein Raumschiff bauen…« »Meine Geschlechtsgenossen sind früher als Götter verehrt worden«, mischte sich Pondor wieder in das Gespräch ein. »Und Götter bauen bekanntlich keine Raumschiffe.« »Aber könntet ihr einen Planeten bevölkern und eine Zivilisation entwickeln?« fragte Falsen den Kater. »Ich weiß es nicht. Ich habe es noch nicht versucht.« »Prenta, meine Protokollführerin, wird Ihnen Ihre Kabinen zeigen«, sagte die Lady Mutter. »Die Mahlzeiten nehmen Sie mit meinen Offizieren ein. Wir sehen uns später wieder.« »Ich hoffe, mir bleibt das erspart«, schnurrte die Katze. Die Kabinen, die man den beiden zuwies, waren selbst für irdische Verhältnisse nicht ganz unbequem. Natürlich war auch hier das Mobiliar geändert worden und eher für Liliputaner geeignet als für erwachsene Menschen. Doch dafür war jede Kabine mit einem Duschraum ausgestattet. Falsen stellte das mit Genugtuung fest. Nachdem Falsen den Schrank und die Koje untersucht hatte, setzte er sich auf die Matratze und wartete, bis die Stimmen draußen im Gang und hinter den dünnen Schotten verklungen waren. Kurz darauf klopfte es leise an seine Kabinentür. Falsen mußte sich selbst zur Tür begeben, um zu öffnen. Nur die Offizierskabine war mit einem akustischen Öffner versehen. Linda Veerhausen schlüpfte herein. »Die Chefstewardeß war so gnädig, mir ein paar Einzelheiten über das Raumschiff zu verraten«, sagte sie hastig. »Sie betonte, sie hätten hundert Besatzungsmitglieder an Bord. Kein
einziger Mann darunter. Pondor, oder wie das Biest heißt, bildet natürlich eine Ausnahme…« »Einhundert Frauen«, sagte Falsen nachdenklich. »Ja«, sagte sie, »einhundert. Und wir sind nur zwei. Aber wenn man das Überraschungsmoment richtig ausnützt…« »Wir müssen es schaffen«, murmelte Falsen. »Wie wir das schaffen, weiß ich noch nicht.« Er ging in der kleinen Kajüte wie ein gefangenes Tier auf und ab. »Wahrscheinlich hat man die technischen Einrichtungen des Raumschiffes nur wenig geändert. Ich bin ein guter Navigator. Ich könnte das Schiff ganz allein durch den Weltraum steuern. Es gibt ein paar Planeten am Rande des Gürtels. Ein paar Sonnensysteme in den Zonen dahinter, die bestimmt erst in ein paar hundert Jahren kolonisiert werden. Vielleicht läßt man uns dort in Ruhe.« »Was für Sternensysteme?« fragte sie. »Planeten wie diesen hier? Sumpfgebiete oder trockene Wüsten? Mit einer Chloratmosphäre oder irgendeinem anderen Gift, das man mit jedem Atemzug einatmet?« »Ein paar von ihnen sind unbewohnbar. Aber es gibt auch Planeten mit Flüssen und Wäldern und gazellenartigen Tieren, die aussehen wie Rehe und Lamas auf der Erde.« »Du willst mich doch nur trösten.« »Ich? Warum wohl? Merke dir das eine: wenn wir hier auf diesem Planeten bleiben, kommt die Wahrheit doch früher oder später an den Tag. Wir müssen uns auf einer Welt niederlassen, wo man sich nicht zu verantworten braucht. Das muß sehr bald geschehen.« Das Mädchen hörte gar nicht zu. Sie stand da wie ein Tier, das Witterung aufnimmt. Mit zwei leisen Schritten war sie an der Tür, öffnete sie und griff blitzschnell zu. In ihren Händen zappelte etwas, wehrte sich nach Kräften, brachte sogar einen
leisen, schrillen Ton heraus, obgleich Linda dem Biest den Hals zudrückte. »Was…?« rief Falsen verwirrt. Dann erkannte er, was Linda vor der Kabine gefangen hatte. Eine Katze. Nicht Pondor, aber vermutlich eine von seinen Gefährtinnen. Wie Pondor war es eine Perserkatze, aber mit schwarzem Fell. Die Lady Mutter hatte ihnen vorhin erzählt, daß alle Katzen an Bord sprechen konnten. »Dieses Biest«, sagte Linda, »hat spioniert.« Sie blickte das Tier tückisch an. »Dein Pech. Verraten wirst du bestimmt nichts!« Das Tier schlug mit den Klauen nach ihr, als Linda nach der Kehle der Katze biß. Dann hörte man unterdrücktes Quietschen und würgende Geräusche. Schließlich sagte das Mädchen mit halberstickter Stimme: »Der Balg bleibt mir im Schlund stecken!« »Es bleibt dir keine andere Wahl«, entgegnete Falsen. »Das Fell muß auch verschwinden. Wir dürfen keine Spuren hinterlassen.« »Dann mußt du mir helfen.« »Okay.« Ein paar Minuten später hielt Falsen wieder sorgfältig Umschau in der Kabine. »Es trifft sich gut für uns«, meinte er, »daß unsere Gastgeber eine so stark parfümierte Seife benützen. Ich bezweifle, daß selbst Pondor noch riechen kann, daß seine Freundin uns besucht hat.« »Wir werden wahrscheinlich bald zum Essen gerufen«, sagte Linda. »Aber ich habe jetzt keinen Hunger mehr.« »Wir dürfen uns nichts anmerken lassen. Außerdem kann man uns mangelnden Appetit kaum übelnehmen. Nach diesem grauenhaften Anistee, den ich vorhin trinken mußte, wird es wohl auch nichts Besonderes zu essen geben. Man wird uns verzeihen.«
Am nächsten Morgen erwachte Falsen erfrischt und ausgeruht. Er brauchte keinen mechanischen Wecker, um auf die Sekunde genau zu erwachen. Selbst in einer Kabine ohne Fenster wußte er genau, wann die Sonne aufging. Er warf die leichten Decken ab und schwang sich von der Koje. Leise öffnete sich die Verbindungstür, und Linda kam herein. Falsen betrachtete sie von Kopf bis Fuß. Sie hatte einen Kompromiß mit den Gepflogenheiten der Schiffsbesatzung geschlossen. Sie trug einen farbenprächtigen Umhang, den sie sich von einem der Offiziere ausgeborgt hatte. »Vorsicht, es kommt jemand«, flüsterte Falsen. Er zog sich gerade an, als die Kabinentür aufflog. Einer von den weiblichen Offizieren steckte den Kopf herein und wendete sich an Linda Veerhausen, ohne Falsen zu beachten, als sei er Luft. »Madame, die Lady Mutter wünscht, daß Sie beide sofort zu ihr kommen.« »Was ist denn passiert?« fragte Falsen. »Etwas Schlimmes. In der vergangenen Nacht haben wilde Bestien die Nachtwache überfallen. Clenny und vier von ihren Leuten sind tot. Schlimmer noch: die Bestien haben sie zum Teil aufgefressen. Beeilen Sie sich!« Ein paar Minuten später standen sie in der Wohnkabine des Kapitäns. Die Lady Mutter saß hinter dem Schreibtisch und blickte ihnen mit ernstem Gesicht entgegen. Auf dem Schreibtisch hockte Pondor, der sie zur Begrüßung anfauchte. Die Lady Mutter gab ihm einen Knuff und sagte dann: »Sie werden bereits gehört haben, was heute nacht geschehen ist.« Sie deutete auf das Sofa. »Setzen Sie sich. Vielleicht können Sie uns helfen.« »Helfen? Wie?« »Sie, Mister Falsen, waren doch einer der ranghöheren Offiziere an Bord Ihres Raumschiffes. Sie müssen eine eingehende Beschreibung dieses Planeten gelesen haben.
Können Sie sich daran erinnern, daß von großen, gefährlichen Tieren die Rede war?« »Leider nicht«, murmelte Falsen. »Schön. Sie waren doch schon hier, ehe wir mit unserem Schiff landeten. Haben Sie etwas Verdächtiges gesehen oder gehört?« »Ja, Madame«, sagte Linda, während Falsen noch über seine Antwort nachdachte. »Eines Nachts hörten wir ein eigenartiges Heulen. Und als die Dämmerung hereinbrach, bemerkten wir etwas Großes, Graues, das von unserer Höhle weglief. Seitdem haben wir nachts immer ein Feuer brennen lassen.« »Das hätten Sie mir berichten müssen.« »Aber wir glaubten, Sie wüßten bereits davon.« »Ich habe die ganze Umgebung des Schiffes abgesucht«, mischte sich Pondor plötzlich in das Gespräch ein. »Ich habe nichts gesehen, nichts gehört oder gerochen – bis heute morgen. Selbst hier in dieser Kabine rieche ich noch diesen eigenartigen Geruch.« »Ich habe die – Leichen untersucht«, sagte die Lady Mutter leise. »Das heißt, was von ihnen übriggeblieben ist.« »Dann werden Sie doch festgestellt haben, was…« »Nein«, unterbrach die Lady Mutter das Mädchen. »Ich weiß nur, daß die Bestien ihre Zähne als Waffe gebrauchen. Wenigstens als Hauptwaffe. Und die Energiestrahler meiner Besatzung konnten diesen Tieren nichts anhaben. Selbst auf kurze Entfernung hatten die Waffen keine Wirkung. War das Tier, das sie gesehen haben – gepanzert?« »Möglich. Ich glaube, die Haut war schuppig«, erwiderte das Mädchen. »Ich brauche Ihren Rat«, ergriff die Lady Mutter wieder das Wort. »Auf Ihrem Planeten – soweit ich das nach meiner Lektüre beurteilen kann – gibt es noch große Landstriche mit undurchdringlichen Wäldern, Dschungeln und unberührten
Sümpfen, wo Männer und Frauen auf die Jagd gehen und große, gefährliche Bestien erlegen. Bei uns gibt es so etwas nicht. Selbst in unserer barbarischen Vorzeit haben unsere Ahnen nur kleine, harmlose Tiere gejagt. Wir haben also keine Erfahrung mit Raubtieren. Auf der Erde gibt es so etwas noch. Deswegen müssen Sie uns helfen.« »Was haben Sie inzwischen unternommen, ehrwürdige Lady Mutter?« fragte Falsen. »Ich habe meine beiden Hubschrauber ausgeschickt, damit sie die Gegend absuchen. Wenn sie etwas Verdächtiges bemerken, geben sie uns sofort Nachricht.« »Das hat keinen Zweck«, sagte Falsen. Eine Idee keimte in ihm auf. »Man kann Wild nur zu Fuß verfolgen. Vom Flugzeug aus ist das sinnlos.« »Zu Fuß? Wie viele Leute brauchen Sie dazu?« Falsen erwiderte bedächtig: »Sechs – uns beide nicht mitgerechnet. Jemand, der unsere Sprache beherrscht, sollte das Kommando übernehmen. Und natürlich brauchen wir auch Waffen.« »Sie sollten frühstücken, ehe Sie aufbrechen.« »Nein. Die Sache ist dringend. Wir brauchen nur ein paar Minuten, um uns umzuziehen; dann sind wir bereit.« An der Heckschleuse wurden sie schon erwartet. Auch die Lady Mutter war da. Sie hatte Waffen mitgebracht, die sie dem Mann und dem Mädchen überreichte. Falsen untersuchte seine Waffe. Es war eine kleine Pistole. Der Griff verschwand fast in seiner breiten Hand. Die Mündung war geformt wie eine Glocke, und an Stelle eines Abzugs gab es einen Druckknopf. Man hatte zwei Einstellungen zur Auswahl – die eine zum Lähmen, die andere zum Töten. Die maximale Reichweite betrug fünfzig Meter.
Prenta war der Offizier der Abteilung, die sie begleiten sollte. Das Mädchen ließ ihre mangelnde Begeisterung deutlich spüren, weil sie wußte, daß sie diesmal unter Falsens Befehl stehen würde. Die fünf Frauen unter ihrem Kommando nahmen ihr Gepäck auf. Prenta trug nur ihre Waffen. Sie blickte Falsen fragend an. Die Anrede kam ihr nur schwer über die Lippen: »Mister Falsen, was machen wir zuerst?« »Wir untersuchen den Tatort«, sagte Falsen. Hintereinander kletterten sie die Leiter hinunter auf den Boden mit der schwammartigen Vegetation. Unten wandte sich die Lady Mutter noch einmal an sie: »Die Bestien kamen bis hierher. Sie wollten wahrscheinlich in das Raumschiff eindringen.« »Sie?« fragte Falsen überrascht. »Waren es denn mehrere?« »Es müssen mindestens zwei Tiere gewesen sein. Wir haben das an den Bißspuren festgestellt. Das eine Tier hatte ein kleineres Gebiß als das andere oder die anderen. Sehen Sie dort! Das sind Blutspuren, verschmiertes Blut, nicht frisch aus der Wunde. Die Bestien müssen um das Schiff herumgestrichen sein, versucht haben, die Leiter hinauf zuspringen.« »Kann sein.« »Und hier«, sagte die Lady, während sie an einer Stelle anhielt, die ein Stück vom Raumschiff entfernt lag, »haben wir die Leichen gefunden. Inzwischen sind sie natürlich fortgeschafft worden. Trotzdem kann man es noch sehen. Hier hat ein Kampf stattgefunden.« »Mmm. Die Wachen wurden vermutlich aus den Büschen dort drüben angegriffen. Haben Sie die Büsche abgesucht?« »Selbstverständlich!« Eine miauende Stimme mischte sich in die Debatte. Falsen blickte zu Boden. Dort saß Pondor, richtete in der Sprache der Doralaner das Wort an die Lady Mutter. Sie antwortete kurz und wendete sich dann wieder an die beiden Menschen: »Er
will wissen, ob jemand Kristit gesehen hat – eine von seinen Freundinnen.« Sie lächelte flüchtig. Linda hatte inzwischen das Gebüsch abgesucht, richtete sich plötzlich auf und deutete mit der Hand. »Die Bestien haben sich in dieser Richtung entfernt!« Falsen sah die niedrige Hügelkette in der Entfernung. Die Lady Mutter trat zu dem Mädchen und fragte aufgeregt: »Woher wollen Sie das wissen?« »Ganz einfach«, erwiderte Linda, »die Spitzen dieser moosartigen Gewächse deuten in die gleiche Richtung…« Falsen starrte auf den Boden. Er sah nichts, hatte auch nichts erwartet. Die Lady Mutter starrte ebenfalls zu Boden, sagte aber, sie glaube zu sehen, was das Mädchen meine. Prenta sah ebenfalls das Moos an und bemerkte spitz, daß die Bewohner der Erde Tieren natürlich viel näher stünden als die Doralaner und deshalb wissen müßten, wovon sie sprachen. Falsen log unverschämt und behauptete, man könne der Spur so mühelos folgen wie einem Weg. Also setzte sich der Trupp in Bewegung. Die Lady Mutter stand an der Eingangsluke ihres Raumschiffes und sah ihnen nach. Wahrscheinlich würde sie immer noch dort stehen, wenn sie zurückkehrten, dachte Falsen. Ein Hubschrauber folgte ihnen. »Befehlen Sie dem Piloten, daß er abdrehen soll. Der Lärm verscheucht nur die Tiere«, sagte Falsen. Prenta gab einen Befehl. Eine von den doralanischen Frauen im Trupp sprach etwas in ein Funkgerät. Der Hubschrauber kehrte zum Raumschiff zurück. Linda ließ sich auf Hände und Knie nieder und untersuchte die moosartige Vegetation. »Sie sind in einer geraden Linie gelaufen«, sagte sie. »Ich weiß zwar nicht, wie Sie das feststellen können«, meinte Prenta kopfschüttelnd. »Aber ich vermute, daß Sie schon wissen, was Sie sagen.«
Die Sonne entfernte sich allmählich immer mehr vom grauen Horizont. Aus den zahllosen Sümpfen und Tümpeln stieg verdunstendes Wasser auf. Ein lautes Platschen ließ die Mädchen vom doralanischen Suchtrupp zusammenfahren. Sie rannten zu der Stelle, wo das Geräusch aufgeklungen war, und begannen zu schießen. Doch sie trafen keine reißende Bestie, sondern nur eins von den krebsartigen Tieren. Es war ein riesiges Exemplar, dessen Körper an der breitesten Stelle mindestens sechzig Zentimeter messen mußte. Die Energiestrahler hatten das Tier regelrecht gekocht. Falsen ließ den Trupp anhalten und legte eine Essenspause ein. Linda und er stillten ihren Hunger mit dem faserigen, aber recht wohlschmeckenden Fleisch. Sie boten auch Prenta und ihren Begleiterinnen etwas von dem Krebsfleisch an. Doch die lehnten ab und zogen es vor, ihre viel zu süßen Kuchen zu verzehren. Nach dem Imbiß rauchten Falsen und Linda eine ihrer kostbaren Zigaretten. Sie schmeckte ihnen beiden nicht. Sie traten sie aus und machten sich dann wieder auf den Weg. Der Boden stieg allmählich an und wurde trockener. Das gleiche galt für die Atmosphäre. Sie verlor allmählich etwas von ihrer unangenehmen Feuchtigkeit. Ab und zu ragte der nackte Fels durch die graue Vegetation. Etwas Kleines, Eidechsenartiges kreuzte ihren Weg, suchte unter den niedrigen Büschen Deckung. Sie marschierten weiter, mußten manchmal sogar von Fels zu Fels springen, größeren Findlingsblöcken ausweichen, um voranzukommen. Dann deutete Linda plötzlich in eine Richtung und rief: »Dort – dort hinein sind sie gelaufen!« Es war eine schmale Öffnung zwischen zwei Blöcken. Die Öffnung schien vielversprechend, als führe dahinter ein langer Gang ins Innere des Hügels. Interessant, dachte Falsen, sehr interessant. Laut rief er: »Ich hoffe, ihr habt Laternen oder Fackeln mitgebracht!«
»Natürlich«, erwiderte Prenta unwirsch. »Vielleicht sind wir nicht so geschickt wie ihr als Fährtensucher und Jäger von wilden Tieren, aber deswegen sind wir noch lange nicht auf den Kopf gefallen.« Sie gab ein paar Befehle, die an ihre doralanischen Untergebenen gerichtet waren. Drei von ihnen schnallten ihr Gepäck auf und holten große, lichtstarke Handscheinwerfer heraus. Das Mädchen mit dem Tornisterfunkgerät sprach etwas ins Mikrofon. Wahrscheinlich verständigte sie das Raumschiff. Sie lauschte, richtete dann das Wort an Prenta, die sich ihrerseits an Falsen wendete: »Die Lady Mutter teilt mit, daß wir immer noch unter Ihrem Kommando stehen.« »Weshalb auch nicht? Ich dachte, das sei von Anfang an ausgemacht gewesen. Schließlich müssen wir ja die Bestien erlegen.« »Geben Sie mir eine Lampe«, befahl Linda. »Ich werde als erste in die Höhle eindringen.« »Nein«, widersprach Falsen. »Ich gehe voran. Kann ja sein, daß die Bestien im Dunkeln auf uns lauern.« »Seid ihr euch einig?« fragte Prenta sarkastisch. »Er muß eben immer den Beschützer spielen«, sagte Linda lachend. Falsen ließ sich von Linda die Lampe geben, schaltete sie ein und drängte sich dann zwischen den beiden Felsen in den Spalt. Dahinter weitete sich der Gang etwas, doch seine Schultern waren breit genug, um den Tunnel vor den Blicken der anderen abzuschirmen. Er rief: »Du hast recht gehabt, Linda. Sie sind hier hineingelaufen.« »Wirklich?« fragte Prenta. »Davon möchte ich mich selbst überzeugen!« Dann fügte sie hinzu: »Diese ungeschickten Männer! Mit Ihren großen Füßen haben Sie ja die Spuren verwischt.«
»Möchten Sie die Spitze übernehmen?« fragte Linda den weiblichen Offizier. »Jawohl.« Das würde dir so passen, dachte Falsen, aber er sagte höflich: »Tut mir leid, Prenta, aber Ihre Lady Mutter hat mir die Verantwortung anvertraut. Deshalb muß ich auch die Führung übernehmen.« Falsen atmete die Luft prüfend ein, während sie in den Gang eindrangen. Es roch trocken und muffig – steril, frei von organischem Leben. Aber er hütete sich, das zu erwähnen. Linda hatte den Suchtrupp hierhergeführt, und ihre Sinne waren mindestens so gut wie seine, vielleicht sogar schärfer. Und der siebte Sinn, den er besaß, verriet ihm, daß die Erregung des Mädchens zunahm. Hatten sie beide wirklich einen siebten Sinn? Er war sich dieser Sache nicht ganz sicher. Vielleicht waren ihre normalen Sinne nur schärfer als die anderer Wesen, und deshalb witterten sie beide auch die fast unmerkliche Veränderung. Er konnte die Angst riechen, eine Angst, die zwar von dem Verstand unterdrückt, aber doch vorhanden war. Die doralanischen Frauen fürchteten sich. Der Lichtkegel seiner Handlampe wurde plötzlich von etwas Schwarzem, Glattem reflektiert. Er dachte zuerst an einen riesigen schwarzen Spiegel. Falsen rannte darauf zu. Der sandige Boden fiel sanft zu dem schwarzen Tümpel ab. Sie befanden sich jetzt in einem unterirdischen Saal, dessen Boden zum größten Teil ein See bedeckte. Nur hier, wo der Gang auf den See stieß, und direkt gegenüber gab es so etwas wie einen Strand. Und gleich dahinter, wo der basaltartige Fels eine Rinne bildete, setzte sich der Gang weiter in das Innere des Berges fort. »Hier müssen sie durch den See gewatet sein«, rief Falsen. »Schon möglich«, sagte Prenta spitz. »Jedenfalls haben Sie die Spuren gründlich zertrampelt.«
»Wir müssen hinüber«, sagte Linda. »Der See scheint aber tief zu sein.« »Dort drüben ist wieder eine Höhle«, sagte eine der Doralanerinnen. »Daneben führt ein zweiter Gang ins Innere. Welchen sollen wir wählen?« »Den Gang gleich gegenüber, wo der Sand einen kleinen Strand bildet. Ich glaube – ja, ich kann die Spuren sehen«, murmelte Linda. »Ich nicht«, sagte Prenta grob. »Manchmal frage ich mich, ob die Menschen nicht doch andere Sinne haben als wir.« »Vielleicht«, sagte Linda. »Nick, ich schwimme hinüber. Ich möchte vier von Ihren Mädchen mitnehmen. Du, Nick, Prenta und die andere, ihr bleibt hier und haltet uns den Rückweg frei.« »Glaubst du, du schaffst es allein?« »Natürlich. Prenta, würden Sie Ihren Frauen sagen, daß sie sich bereitmachen sollen? Wir müssen schwimmen. Ich hoffe doch, daß die Waffen und Laternen, die Sie mitgebracht haben, wasserdicht sind.« »Natürlich sind sie wasserdicht«, gab der doralanische Offizier gereizt zurück und erteilte dann Anweisungen. Vier doralanische Frauen legten die Gürtel ab und zogen ihre purpurfarbenen Uniformen aus. Ihre Körper, die sich von denen menschlicher Frauen nur in unbedeutenden Einzelheiten unterschieden, schimmerten im Licht der Handscheinwerfer wie Alabaster. Die doralanischen Frauen schnallten dann die Koppel wieder um die nackten Hüften und schoben sie so zurecht, daß sie jederzeit die Halfter mit dem Energiestrahler erreichen konnten. Nur Linda trug keine Waffe. Falsen sagte nichts. Sie mußte am besten wissen, was sie tat. Linda nahm eine Handlampe, hielt sie hoch über den Kopf und watete in den See hinein. »Das Wasser ist sehr kalt!« rief sie mit klappernden Zähnen. Dann warf sie sich plötzlich nach
vorn und schwamm mit raschen Stößen hinüber zum gegenüberliegenden Strand. Der Lichtkegel ihrer Lampe tanzte über das schwärzliche Gestein, schien phantastische Fratzen an die Decke der Höhle zu malen. Prenta brummte etwas in ihrer eigenen Sprache, und vier doralanische Frauen folgten Linda. Die letzte hielt ebenfalls eine Lampe über dem Kopf. Falsen und die beiden zurückgebliebenen Frauen sahen zu, wie die anderen am anderen Ufer über den Sand auf den Eingang des Tunnels zugingen. Linda ließ sich wieder auf Hände und Knie nieder, als wolle sie den Boden nach Spuren absuchen. Dann richtete sie sich auf, legte die Hände an den Mund und rief herüber: »Hier führt die Spur weiter!« »Sei bloß vorsichtig!« rief Falsen zurück. »Keine Angst! Es wird mir schon nichts passieren!« hallte ihre Antwort von den Wänden wider. Ein neuer Befehl von Prenta folgte. Das Mädchen mit dem Funkgerät nahm wieder Verbindung mit dem Raumschiff auf. Falsen lief am Strand auf und ab und warf ab und zu einen Blick hinüber zu dem Tunneleingang, wo die anderen Mädchen mit Linda verschwunden waren. Allmählich verlor sich der Schein der Lampen im Dunkeln. Der Gang mußte einen Knick machen. Der Sand knirschte unter seinen bloßen Füßen. »Ich bin gespannt, was sie dort finden werden«, sagte Falsen. »Nichts!« erwiderte Prenta bissig. Sie wendete ihm das Gesicht zu. Sorge und Verantwortung spiegelten sich darin. »Ich habe Sie im Verdacht, uns gründlich an der Nase herumzuführen. So heißt es doch in Ihrer rohen Sprache!« Falsen nahm seine ruhelose Wanderung am Strand wieder auf. »Sie haben eben Vorurteile gegen uns«, erwiderte er. »Um Gottes willen, hören Sie endlich mit diesem Herumlaufen auf!« rief die Doralanerin gereizt. »Es ist schon schlimm genug, in dieser verdammten Höhle warten zu müssen. Aber
einem halbnackten, schwachsinnigen Mann noch Rede und Antwort stehen zu müssen – das ist wirklich zu viel!« Falsen grinste. »Ich habe das Kommando. Ihre eigene Lady Mutter hat das so angeordnet.« Prenta öffnete den Mund, um eine gehässige Antwort zu geben. Doch sie kam nicht dazu. Aus dem dunklen Tunnel am anderen Ufer gellte ein Schrei. Und auf den Schrei folgte das Zischen eines Energiestrahlers. Plötzlich hörte das Zischen auf. An seine Stelle trat ein Heulen, ein schrecklicher, tierischer Laut, der nichts Menschliches an sich hatte. Und dieses langgezogene Heulen hallte von den Wänden wider, daß es selbst Falsen eiskalt über den Rücken lief. Das anschließende Schweigen traf sie alle wie ein Keulenschlag. Falsen zog sich aus, sprang in flachem Bogen in das eiskalte Wasser. Einen Moment lang schnürte ihm die Kälte den Atem ab. Etwas zog wie ein Torpedo an ihm vorbei. Prenta. Das doralanische Mädchen mit dem Funkgerät gab hastig eine Meldung durch, warf ihr Gepäck in den Sand und zog sich aus. Dann hechtete auch sie ins Wasser. Die Frauen hatten ihre Waffen am Gürtel, aber an den Scheinwerfer hatte niemand gedacht. Er lag am Ufer, schickte seine Strahlen hinüber zum gähnenden Schlund des Tunnels. Prenta war Falsen ein Stück voraus. Sie durchquerte den Lichtkegel und verschwand im Eingang des Tunnels, ehe Falsen Grund unter den Füßen spürte. Die zweite Doralanerin war dicht hinter ihm. Da ertönte Prentas Schrei. Es folgten das Zischen des Energiestrahlers und der bläuliche Blitz der Entladung. Prenta taumelte rückwärts aus dem Gang, schießend, schreiend. Sie stolperte über Falsen und die andere Doralanerin und riß beide mit sich ins Wasser. Noch etwas schoß jetzt aus dem Tunnel heraus – eine große, graue, haarige Bestie, deren Augen im Licht des Scheinwerfers grün und tückisch leuchteten. Die Bestie fletschte die Zähne.
Im nächsten Augenblick hing sie an der Kehle des doralanischen Mädchens. In einem Wirbel rötlicher Blasen sank das Mädchen im Wasser unter und blieb auf dem Grund des Sees liegen. Falsen und Prenta kämpften mit der Bestie im Wasser – Hände gegen Zähne und Klauen; Menschenverstand gegen tückische Verschlagenheit. Intelligenz gegen übernatürlichen Instinkt. Der Angriff der Bestie richtete sich vor allem gegen die Frau. Der Mann kämpfte mehr um ihr Leben als um sein eigenes. Er krallte die Finger in die zottige Mähne, legte die Beine wie eine eiserne Klammer um den Leib der Bestie. So gelang es ihm schließlich, das Tier von Prenta zurückzureißen. Ehe Falsen das Ufer erreichen konnte, war das Tier schon wieder verschwunden. Falsen legte sich erschöpft auf den Rücken, trieb im Wasser, rang mühsam nach Luft. Etwas Weißes versank unter ihm. Er tauchte und konnte Prenta gerade noch bei den Haaren fassen. Er schleppte sie ans Ufer und legte sie auf den Sand. Sie war bewußtlos. An Hals und Schulter blutete sie aus tiefen Kratz- und Beißwunden. Er schüttelte sie, bis sie endlich die Augen öffnete. »Ich muß Linda suchen!« rief er. Sie antwortete röchelnd. Das konnte Zustimmung sein oder ein Stöhnen. Er ließ sie im Sand liegen und lief in den Tunnel hinein. Es war pechschwarz hier. Doch Falsen fand ohne Mühe seinen Weg. Der Geruch des frischen Blutes hing warm und schwer in der Luft. Und der Ozon der Energieentladungen reizte seine Schleimhäute. Dann wäre er fast auf etwas Glattem, Metallischem ausgeglitten. Er bückte sich. Es war einer der Handscheinwerfer. Falsen schaltete ihn ein. Die Mädchen lagen im blutgetränkten Sand. Die drei
Doralanerinnen waren tot. Mit durchbissener Kehle konnten auch sie nicht weiterleben. Auch Linda lag auf dem Sand, Gesicht und Körper blutverschmiert. Sie blinzelte, als Falsen den Lichtkegel auf sie richtete. »Ach, du bist es«, sagte sie nur. »Ja«, erwiderte er mit ausdruckslosem Gesicht. »Ich ließ Prenta am See zurück. Sie wird am Leben bleiben.« »Hm, dann mußt du mich…« »Ja.« »Gut. Schalte das Licht aus.« Das Mädchen stieß einen Schmerzensschrei aus. »Hättest du das nicht vorsichtiger machen können?« Falsens Stimme klang eigenartig verzerrt und kehlig: »Vielleicht. Aber es muß echt aussehen, als ob…« »Still, sie kommt«, flüsterte Linda. Falsen schaltete den Handscheinwerfer wieder ein. Sie horchten auf die Schritte im Tunnel. Dann kam Prenta um die Biegung. Sie trug einen Strahler in der rechten Hand und starrte auf die toten Mädchen. Ihre blassen Lippen bewegten sich kaum. Dann wendete sie ihr wachsbleiches Gesicht den beiden Menschen zu. »Tot«, sagte sie, »alle tot.« »Ja.« »Sie sind verletzt!« sagte sie zu Linda. »Nur ein Kratzer.« »Wohin ist – ist diese Bestie verschwunden? Ich könnte schwören, daß ich sie getroffen habe! Gleich mit dem ersten Schuß! Wo ist sie?« »Keine Ahnung«, murmelte Falsen. »Sie schwamm auf einen der Tunnel zu. Mehr weiß ich nicht. Ich war beschäftigt…« »Ja«, sagte Prenta leise, »Sie haben mir das Leben gerettet. Ich hatte das ganz vergessen. Ich muß Ihnen dafür danken.« »Lassen wir das«, erwiderte Falsen. »Haben Sie zufällig einen Verbandskasten im Gepäck? Ihre Wunden sehen bös aus.
Und Lindas Verletzung an der Schulter muß auch behandelt werden.« »Ja, natürlich…« Zusammen kehrten sie wieder zum See zurück. Prenta hatte die Waffen ihrer toten Begleiterinnen eingesammelt. Dann schwammen sie durch das eiskalte schwarze Wasser hinüber zum anderen Ufer. Prenta wurde dabei von Linda und Falsen gestützt. Falsen öffnete den wasserdichten Verbandskasten, während Prenta Funkverbindung mit der Lady Mutter aufnahm. Ein Hubschrauber würde sofort starten und sie abholen, sagte sie, während Falsen aus einer Sprühdose künstliche Haut auf ihre Wunden spritzte und dann einen Verband anlegte. Dann traten sie den Rückzug aus der Höhle an. Die Sonne stand bereits über dem Horizont, und über den Sümpfen und Tümpeln lag der frostige Abendnebel wie ein Leichentuch. In der Ferne glitzerten die Lichter des Raumschiffes. Ein Schatten schob sich dazwischen, der rasch größer wurde. Der Hubschrauber landete neben der Höhle. Prenta übernahm das Kommando und ließ von der Besatzung die verstümmelten Körper der Mädchen bergen. Dann kam der zweite Hubschrauber mit der Lady Mutter. Ein großer Metallzylinder wurde ausgeladen und in die Höhle getragen. Dann starteten die Hubschrauber und flogen mit hoher Geschwindigkeit davon. Linda und Falsen saßen neben der Lady Mutter. »Jetzt«, flüsterte sie und seufzte. Im gleichen Moment lösten sich die Hügel in einen Rauchpilz auf. Eine dunkelrote Feuersäule riß Steine, Erde und graue Pflanzen in den Himmel hinauf. Der Luftdruck schüttelte den Helikopter wie mit Riesenfäusten. In der folgenden Nacht wurden noch einmal sechs Doralanerinnen ermordet und ihre Leichen zum Teil aufgefressen. Die Lady Mutter hielt in ihrer Kabine eine
Konferenz ab. Auch Falsen und Linda Veerhausen wurden aufgefordert teilzunehmen. Die Feindseligkeit der Schiffsbesatzung schien man mit Händen greifen zu können. Falsen und Linda stammten schließlich von der Erde, die den Doralanern mit dem Planeten offenbar ein Danaergeschenk gemacht hatte. Ein Offizier benahm sich besonders herausfordernd. Sie schien stolz darauf, daß sie die Sprache der Gäste besonders gut beherrschte, so daß die Ironie ihrer Worte deutlich zur Geltung kam. Der Planet sei ein Kuckucksei, eine Hinterlist, ein Faß mit doppeltem Boden, ein Trojanisches Pferd. Die Irdischen seien ja berüchtigt dafür, nichts umsonst zu vergeben. Da liege der Hase im Pfeffer. Und sei nicht das Auftreten zweier Menschen verdächtig, die so plötzlich vom Himmel heruntergefallen zu sein schienen? Wie lange, behaupteten die beiden, seien sie bereits schiffbrüchig gewesen, als der Vermessungstrupp sie auflas? Lug und Trug! Der Mann sei glatt rasiert gewesen, als man ihn an Bord des Raumschiffes brachte. Erst später sei ihm ein Bart gewachsen – als Gast der Doralanerinnen, deren Freundschaft er zweifellos mißbrauchte. »Carlin«, mahnte die Lady Mutter streng, »Sie werden beleidigend! Mr. Falsen und Miss Veerhausen haben unseretwegen ihr Leben riskiert. Ich habe mit eigenen Augen Miss Veerhausens Wunden gesehen. Trotzdem, Sie haben Umstände erwähnt, die einer Erklärung bedürfen. Ich bin überzeugt, Mr. Falsen wird sie uns geben.« »Sehr wohl, Lady Mutter. Ich verwende eine Enthaarungskrem. Und an dem Tage, als wir beide gerettet wurden, war mein Vorrat zu Ende.« »Danke, das genügt. Meine Kosmetikerin wird Ihnen einen Ersatz stellen. Carlin, haben Sie noch mehr – hm – Theorien, die Sie zur Sprache bringen wollen?« »Nein, ehrwürdige Mutter. Aber…«
»Was aber!« »Ich schlage vor, daß das Verschwinden der Katze Kristit nicht einfach zu den Akten gelegt wird. Ich rate zu einer gründlichen Untersuchung!« »Unsinn, Carlin. Es liegt auf der Hand, daß eine Bestie von der Größe, wie sie von Prenta, Miss Veerhausen und Mr. Falsen beschrieben wurde, eine Katze mit einem Biß hinunterwürgen kann. Noch etwas?« Die doralanischen Offiziere blieben stumm. Die Lady Mutter blickte von einer zur anderen, kraulte dabei ruhelos Pondors Ohren. Schließlich richtete sie das Wort an ihren Ersten Offizier: »Mardee, ich habe noch ein paar Fragen.« Die Lady Mutter überflog rasch ein Stück Papier, das vor ihr auf dem Schreibtisch lag. »Canda und Weltin gehören zu den Opfern der vergangenen Nacht. Aus der Wacheinteilung, die Sie mir gegeben haben, geht hervor, daß die beiden zur fraglichen Zeit Dienst innerhalb des Schiffes hatten.« »Die beiden hatten Dienst im Schiff, jawohl.« »Weshalb fand man dann ihre Leichen außerhalb des Schiffes?« »Darüber kann ich nur Vermutungen anstellen, ehrwürdige Mutter. Wahrscheinlich haben sie den Kampflärm gehört und rannten hinaus, um ihren Kameradinnen zu helfen.« »Ohne vorher Alarm zu geben?« Stille. Nur die Katze schnurrte. Die Lady Mutter blickte von einer zur anderen. »Ab heute werden keine Nachtwachen mehr im Freien aufgestellt. Die Luftschleusen bleiben geschlossen. Letta, Sie lassen Scheinwerfer montieren. Der gesamte Bereich um das Raumschiff wird ausgeleuchtet, damit die Besatzung auf der Brücke die Umgebung beobachten kann. Mardee, Sie sind mir persönlich für die Wacheinteilung verantwortlich. Stellen Sie zuverlässige jüngere Offiziere auf, die mit Mannschaftsgraden Doppelposten beziehen. Wir beide
wechseln uns auf der Brücke ab. Und du, Pondor« – ihre Hand liebkoste die Katze –, »durchstreifst mit deiner Freundin Tilsin nachts das ganze Schiff. Deine Katzensinne spüren wahrscheinlich Dinge auf, die uns verborgen bleiben.« »Können wir uns ebenfalls nützlich machen?« fragte Falsen. »Weshalb nicht? Sie sind zwar meine Gäste; aber dieses – dieses Ding bedroht Sie genauso wie uns.« Nachdenklich fuhr sie fort: »Diese Pflichtverletzung von Canda und Weltin… Das gefällt mir gar nicht. Ich bin mir immer noch nicht sicher…« »Auch die Menschen handeln oft unüberlegt«, sagte Falsen. »Ja, Sie haben recht. Ich danke Ihnen, meine Damen. Und Ihnen, Mr. Falsen und Miss Veerhausen. Mardee, Sie bleiben hier und teilen mit mir die Wachen ein!« Während die Offiziere sich aus der Kabine drängten, tippte Carlin Falsen auf die Schulter. »Was wissen Sie von den Mannschen Antriebsaggregaten?« »Nicht viel«, erwiderte Falsen. »Ich habe sie nicht erfunden.« »Aber Sie waren doch Navigator Ihres Raumschiffes!« »Ja, Navigationsoffizier. Aber kein Ingenieur. Ein Steuermann weiß zwar, wie man so ein Aggregat bedient, aber kaum, wie es arbeitet. Die Wirkungsweise ist ein Geheimnis.« »Kommen Sie mit in meine Kabine!« Sie schritt voran. Linda folgte. Carlin wartete, bis die beiden auf der Couch Platz genommen hatten, und setzte sich dann in einen Sessel. Das heißt, sie rekelte sich dort. Tatsächlich fühlte sich Falsen an eine riesige Katze erinnert. Sie war ihm herzlich unsympathisch, und er spürte, daß seine Abneigung von ihr genauso heftig erwidert wurde. Um so überraschter war er, als Carlin eine Flasche und drei Gläser aus einem Wandschrank holte. Sie schenkte eine dunkelfarbene Flüssigkeit ein – eine Art Süßwein mit einem kräftigen, würzigen Aroma, den Falsen mit gemischten
Gefühlen trank. Das zweite Glas schmeckte schon erheblich besser als das erste. »Sie hatten doch einen Unfall mit Ihrem Mannschen Antriebsaggregat«, ergriff Carlin wieder das Wort. »Sie sprachen davon, daß die Leute sich – verändert hätten. Wie ist das zu verstehen?« »Sonderbare Dinge passieren immer, wenn man mit Raumzeit fliegt«, erwiderte Falsen. »Dann hat also in Ihrem Fall die Rückstufung auf irdische Zeit nicht funktioniert, wie?« Wieviel weiß die wohl? überlegte Falsen. Ist sie vielleicht der Navigationsoffizier dieses Raumschiffes? Er konzentrierte sich auf das, was er in den Berichten über Raumfahrtkatastrophen gelesen hatte. Hoffentlich ließ ihn jetzt sein Gedächtnis nicht im Stich. »Ich habe nur bemerkt, daß Uhren plötzlich rückwärts liefen. Die Perspektiven aller Gegenstände in der Steuerkapsel waren – verkehrt. Und die Farben… Weshalb interessieren Sie sich eigentlich dafür?« »Ich bin bloß neugierig. Schließlich kann uns das auf diesem Schiff auch mal passieren. Der Antrieb ist ein Mark XVII, auf der Erde gebaut.« »Weshalb baut ihr nicht eure eigenen Raumschiffe, anstatt unsere schrottreifen Veteranen zu übernehmen?« Carlin lächelte katzenhaft. »Wir sind an Bord eines Vermessungsschiffes. Dafür sind alte Kähne noch gut genug. Und dieses Schiff – na ja. Wenn das zu Bruch geht, ist nicht viel verloren.« »Moment mal!« brauste Falsen auf. »Dieses Schiff ist tausendmal besser als die lächerlichen Boudoirs, mit denen ihr sonst durch den Weltraum gondelt!« »Wenigstens«, erwiderte Carlin spöttisch, »stinken sie nicht!« Falsen unterdrückte die Antwort. Er war schon seit ein paar Minuten auf den sonderbaren Geruch in dieser Kabine
aufmerksam geworden. Der Geruch weckte in ihm das Verlangen, die Zähne zu fletschen und knurrend zuzuschnappen. Dieser Geruch weckte den Tötungsinstinkt in ihm. Er warf einen verstohlenen Blick zu Linda hinüber. Die gleichen Anzeichen. Die Wangenmuskeln zuckten, die Lippen zitterten, als müsse sie jeden Augenblick die Zähne blecken. Auch das nervöse Spiel der Sehnen unter der Haut war ein Warnzeichen, als er ihr die Hand auf die Schulter legte. »Gehen wir, Linda«, sagte er rasch. »Wir bedanken uns für Ihre Gastfreundschaft, Lady Carlin. Wir bedauern, daß Sie ausfallend werden mußten.« Der Offizier stand auf. Ihre Stimme klang aufrichtig, als sie sich mit den Worten entschuldigte: »Es tut mir leid. Aber es herrscht eine gewisse – Unverträglichkeit zwischen uns. Mir ist das nicht ganz klar. Vielleicht liegt es daran, daß wir trotz äußerer Ähnlichkeiten von verschiedenen Rassen abstammen…« Du hast ja keine Ahnung, Lady, wie verschieden wir beide sind, dachte Falsen. Höflich erwiderte er: »Trotzdem, vielen Dank für die Einladung. Komm, Linda!« Kaum hatten sie die Tür der Kabine hinter sich geschlossen, schüttelte sich Linda vor Ekel: »Pfui! Keine Sekunde länger hätte ich es da drin aushalten können. Dieser schreckliche Wein, und diese schreckliche Frau. Die riecht abstoßend!« »Carlin ist nicht die einzige, die so riecht. Mindestens zwei Offiziere und sechs Mitglieder der Mannschaft gehören dazu. Aber was meinte sie wohl, als sie von Unverträglichkeit sprach?« »Unsinn. Sie ist nur neugierig. Nichts weiter. Katastrophen sind immer interessant, wenn sie woanders passieren. Man ergötzt sich daran. Ein Vergnügen ohne Risiko.« »Ich würde zu gern wissen, ob sie sich immer noch ergötzte, wenn sie die Wahrheit wüßte.«
»Ich zweifle, daß sie die Wahrheit glauben würde. Diese Rasse hat keine dunkle Vergangenheit.« »Meinst du? Vielleicht doch. Warum sollten wir die einzigen sein?« »Es gibt mehr Möglichkeiten, als du ahnst: Spontane Mutation durch einen Strahlenunfall. Opfer eines Unfalls beim Experimentieren. Züchtungsergebnis einer Rasse, die lange vor unserer Geschichte zugrunde gegangen ist. Nachkommen einer Rasse, die von einer Katastrophe hinter die Anfänge ihrer Entwicklung zurückgeschleudert wurde.« »Hör auf«, sagte Falsen. »Mir wäre lieber, du verrätst mir, wo wir jetzt sind!« »Keine Ahnung. Ich dachte, du wüßtest, wohin du gehst. Wenn man keine Doralaner sehen will, stolpert man über sie. Braucht man sie, sind sie wie weggeblasen.« »Halten wir uns an die Treppe. Irgendwann müssen wir ja auf das richtige Deck stoßen.« Er deutete auf ein Schott. »Dort geht es hinunter!« »Laderäume!« rief das Mädchen herauf, als es durch die Luke kletterte und die eiserne Trittleiter hinunterstieg. Sie rümpfte die Nase. »Hier riecht es nach Katzen!« »Nach Kater, wolltest du wohl sagen!« rief Falsen, als er ihr nachkletterte. »Ein Kater verbreitet mehr Gestank als zehn Katzen. Er muß hier irgendwo stecken. Pondor!« rief er laut. »Pondor!« »Er würde dir bestimmt nicht gehorchen!« sagte Linda und lachte. »Recht hat er! Ich würde ihm sowieso nur den Hals umdrehen.« »Der Wein war verdammt stark«, murmelte Linda. »Paß auf, wohin du trittst. Wenn wir beide jetzt nicht auf uns aufpassen, machen wir Dummheiten.« »He, da bewegt sich was!« rief Falsen plötzlich. »Dort!«
»Der Lademeister«, meinte Linda; aber Falsen stand schon nicht mehr neben ihr. Er zerrte an einem Stapel Kisten und Säcken wie ein Terrier, der eine Maus ausgräbt. Er warf sich mit der Schulter zwischen zwei mächtige Ballen und zwängte sich durch den Spalt. Man hörte ein kurzes leises Knurren, ein Handgemenge und dann einen Schmerzensschrei. Dann kam Falsen wieder heraus und zog eine Gestalt hinter sich her. Sie hatte die gleiche bunte Kleidung an wie die anderen Doralaner an Bord des Raumschiffes. »Hast du sie getötet?« fragte Linda. »Sie? Mädchen, wo bleibt dein Verstand! Das ist keine Frau.« »Nein. Du hast recht. Ein blinder Passagier?« »Ein versteckter Passagier«, erwiderte Falsen höhnisch. »Aber von wem versteckt, das ist die Frage.« Er lachte. »Diese überheblichen Weiber mit ihrem Herrschaftsanspruch über die Männer! Eine von ihnen hat sich einen Zeitvertreib mit auf die Reise genommen. Vielleicht sogar die Lady Mutter selbst!« »Erstattest du Meldung?« »Wozu? Ich mache mir nicht unnütz Feinde. Sollen sie sich doch mit ihm vergnügen, solange es noch geht. Was kümmert uns das.« Der kleine Doralaner stöhnte und öffnete die Augen. Er starrte die beiden von der Erde verstört an und sagte etwas in seiner Sprache. Wahrscheinlich flehte er um Gnade. Falsen machte nur eine scheuchende Handbewegung. Wie der Blitz schoß der Doralaner auf einen Stapel in der dunkelsten Ecke des Laderaums zu und verschwand darin, als würde er von der Wand verschluckt. »Dafür sollte uns eigentlich jemand dankbar sein«, murmelte Linda. »Komm jetzt. Wir müssen zurück in unser Quartier!«
Alle Lichter brannten im Kontrollraum des Raumschiffes. Durch die Bullaugen drang das Flutlicht der Scheinwerfer. Falsen blickte hinaus auf die öde Fläche, die das Schiff umgab. Im gleißenden Licht der Scheinwerfer nahm das schwammige Moos die Färbung frisch gefallenen Schnees an. Weit draußen über den Hügeln lag ein schwaches Glimmen. Das mußte die Stelle sein, wo die Lady Mutter mit ihrer Bombe das unterirdische Höhlensystem zerstört hatte. Falsen fragte sich, was wohl aus ihm und Linda geworden wäre, falls sie in der Höhle geblieben wären. Das war ein interessantes Problem. »Es ist sehr still«, sagte die Lady Mutter. Falsen nickte. Sein scharfes Gehör konnte das leise Summen der Turbinen vernehmen, die den Strom für die Scheinwerfer erzeugten. Er hörte auch das leise Atmen der Schlafenden in ihren Kajüten. Rasch überschlug er im Geist die Zahl der Doralanerinnen, die über das Schiff verteilt waren. Einhundert weniger sechzehn. Bleiben vierundachtzig. Dazu ein blinder Passagier – macht fünfundachtzig. Sechs sind als Deckwache eingeteilt, zwei arbeiten im Maschinenraum, die Kommandantin ist auf der Brücke. Bleiben sechsundsiebzig Schläfer. Und Linda. Ich hoffe, sie schläft ebenfalls. Irgend etwas schlich leise durch den Niedergang vor dem Kontrollraum. Der Instinkt warnte Falsen. Das mußte Pondor sein. Er kam durch die halboffene Tür, fauchte Falsen an, rieb das Fell am Kleid der Lady Mutter. »Nun, Katze«, fragte sie, »ist alles in Ordnung?« »Ich habe einen Namen«, entgegnete der Kater beleidigt. »Warum sagst du ihn nicht?« Er gestattete gnädig, daß die Frau ihm das Kinn kraulte. »Alles ist ruhig«, miaute der Kater. »Ich habe Tilsin auf dem Unterdeck zurückgelassen.« Falsen schritt unruhig im Raum auf und ab. Die Gegenwart der Katze reizte und verwirrte ihn. Prenta kam herein, lächelte Falsen zu und erstattete dann der Lady Mutter Meldung. Anschließend
trat sie an eines der Fenster, versuchte, mit Falsen ein Gespräch anzufangen. Er antwortete einsilbig, während er dachte: War das dein Freund, den wir im Lagerraum entdeckten? Bist du deshalb so freundlich zu mir? Ach, ich vergaß, daß ich dir das Leben gerettet habe! »Es ist sehr still – viel zu still«, sagte die Lady Mutter plötzlich. Falsen blieb stehen, jäh aus seinen Gedanken gerissen, seine Sinne gespannt. Er folgte nicht den beiden Doralanerinnen an das Bullauge, wo sie mit ihren starken Ferngläsern das Gelände draußen absuchten. Irgend etwas ist faul, dachte er. Linda… Ich hätte sie auf die Brücke mitnehmen sollen. Keiner hätte Verdacht geschöpft. Aber jetzt…! Aus den Augenwinkeln bemerkte er, wie eine kleine Lampe zwischen den dunklen Instrumenten aufglühte. Wenn schon, dachte er. Nichts von Bedeutung. Trotzdem bedeutete das Glühen irgendeine Warnung. Falsen versuchte, sich wieder an die Einrichtungen der alten City-Kreuzer zu erinnern. Welche Funktionen hatte die Lampe? Schlagartig fiel es ihm ein. Er zuckte zusammen. Diese Närrin, dachte er. Das darf sie nicht riskieren. Dann schrillte der Alarm durchs Schiff. Die Doralanerinnen wichen von den Bullaugen zurück, ließen die Ferngläser sinken. Die Lady Mutter packte Falsens Arm und rief: »Sehen Sie doch die Warnlampe! Die Luftschleuse ist offen!« Falsen nickte nur und folgte den beiden Frauen. Im Schiff herrschte Aufruhr. Licht flammte in den Gängen und Kabinen auf. Die Besatzung kam aus Luken und Kajüten. Viele von den Mädchen trugen nur Nachthemden; aber jede war bewaffnet. Irgendwo wurde geschossen. Das scharfe Zischen der Energiekanonen mischte sich in die Rufe und Schreie der Frauen.
Ich muß zuerst dasein, dachte der Mann. Ich muß zuerst am Tatort sein. Vielleicht kann ich die Lage noch retten! Rücksichtslos stieß er die kleinen Doralanerinnen beiseite. Er rannte durch Gänge und sprang durch Luken und Querschotts. Die Luft war erfüllt mit dem Geruch der Angst und der Wut. Schließlich mischte sich noch der Geruch von frischem Blut darunter, als er das Deck erreichte, wo seine Kabine war. Carlin rannte neben ihm her. Ihr Katzengesicht lächelte, in ihren Katzenaugen lag sogar Triumph und eine Freude an der Aufregung. Eigenartigerweise empfand er in diesem Augenblick ein gewisses Gefühl der Verwandtschaft mit diesem Wesen. Sie hat keine Angst, dachte er. Doch dann fluchte er, als sie ihm aus Absicht oder Versehen ein Bein stellte. Er stolperte, fiel der Länge nach hin, während die wilde Jagd über ihn hinwegging. Ehe er sich wieder aufrichten konnte, war der Gang leer. Er zog seinen Strahler und schlich vorsichtig die nächste Treppe hinauf. Ein aufgeregtes Stimmengewirr schlug ihm entgegen. Auch die Lady Mutter war dort. Man konnte ihre Kommandos deutlich hören. Falsen ging mit federnden Schritten, jederzeit darauf gefaßt, sich einer Überzahl stellen zu müssen. Ehe er die letzten Stufen hinaufstieg, kam Prenta von oben auf ihn zu. »Rasch!« rief sie. »Kommen Sie! Aber sie wird es überstehen, glaube ich. Sie fragt nach Ihnen!« »Ich wurde zu Boden gestoßen«, antwortete Falsen lahm. Er ging jetzt rascher, tat aber so, als habe er sich am Bein verletzt. Die Doralanerinnen wichen zur Seite, um Falsen durchzulassen. Überall lagen Leichen. Sie waren grauenhaft verstümmelt – die Eingeweide hingen aus aufgeschlitzten. Bäuchen. Falsen schüttelte sich, versuchte, nicht hinzusehen, während er sich bis zur Stelle vorarbeitete, wo das Mädchen lag, den Kopf gegen die Wand gelehnt. Die Lady Mutter und
die Schiffsärztin bemühten sich um Linda. Er stolperte, fiel beinahe und blickte sich um. Die Überreste von Tilsin, Pondors Gespielin, lagen in einer Blutlache. Der Kopf des Tieres war abgerissen worden. »Nick«, stöhnte Linda. Ihr Gesicht schimmerte wachsbleich durch das Blut. Blut rann ihr über die Schultern, über den ganzen Körper. Falsen betrachtete kopfschüttelnd die tiefen Fleischwunden an ihrer Schulter. Er fragte sich, wer sie so zugerichtet haben konnte. Seine Stimme klang gleichmütig, fast feindselig: »Nun?« »Sie hat es getan!« schrie Pondor. »Sie hat Tilsin getötet!« Mit einem Fauchen warf sich der Kater auf das verwundete Mädchen, hackte mit den Krallen nach ihren Augen. Die Lady Mutter bekam ihn zu fassen, hielt ihn mit ausgestrecktem Arm von sich. Sie warf ihn gegen die Wand. Maulend sagte der Kater: »Sie hat es getan! Ich weiß genau, daß sie es war. Töte sie!« »Schafft ihn weg«, befahl die Lady Mutter. »Sperrt ihn ein, bis er zu Besinnung kommt.« Dann wurde ihre Stimme wieder sanft: »Wie steht es, Magadia? Wird sie durchkommen?« »Sie hat eine Menge Blut verloren«, erwiderte die Ärztin. »Aber die Wunden sind nicht tief.« Sie desinfizierte Lindas Biß- und Reißwunden und sprühte dann plastische Haut darauf. »Vielleicht packt jemand an und trägt sie in ihre Kabine.« Falsen bemühte sich sofort um Linda, trug sie in ihre Kajüte und legte sie auf die Koje. Er nahm ihre schlaffe Hand und spürte, wie die Angst auf ihn übergreifen wollte. Linda stand unter einem Schock, der ihm unerklärlich schien. »Reg dich nicht auf«, sagte er leise. »Miss Veerhausen«, mischte sich jetzt die Lady Mutter ein. »Ich bedaure sehr, daß ich Sie einem Verhör unterziehen muß. Doch diese schreckliche Tat zwingt mich dazu. Fünfzehn meiner Leute wurden im Schlaf in ihren Kajüten ermordet.
Weitere fünf ereilte der Tod draußen auf dem Gang. Mein Erster Offizier gehört zu den Opfern. Können Sie mir beschreiben, wie das zugegangen ist?« »Nicht – viel«, antwortete das Mädchen mit schwacher Stimme. Falsen gab ihr einen aufmunternden Händedruck. »Ich schlief – schlecht. Ich erwachte mit dem Gefühl, daß etwas nicht in Ordnung sei. Ein eigenartiger, widerlicher Geruch lag in der Luft. Ich stand auf, ging in den Gang hinaus. Da – da griff mich etwas an.« »Wie sah das aus?« »Ich weiß nicht. Es hatte Zähne und Klauen. Es glich dem, was wir auf der Erde einen Tiger nennen. Aber es war nicht dasselbe. Es schien nur auf den Hinterpfoten zu laufen…« »Waren es mehrere oder nur ein Exemplar?« »Ich bin sicher, es waren mehr. Zählen konnte ich sie nicht. Ich mußte mich verteidigen.« »Miss Veerhausen!« Die Stimme der Lady Mutter kam scharf wie das Knallen einer Peitschenschnur. »Haben Sie die Luftschleusen geöffnet?« Die Augen des Mädchens spiegelten Fassungslosigkeit und Staunen. Falsen war überzeugt, daß ihre Mimik jeden überzeugen mußte. »Natürlich nicht«, erwiderte sie. Prenta kam in diesem Augenblick durch die Kabinentür. »Lady Mutter«, berichtete sie atemlos, »auf dem Moos unter der Schleuse sind Blutspuren. Ich folgte der Spur, so weit ich konnte. Was sollen wir unternehmen?« »Schicken Sie die Hubschrauber los. Sie übernehmen den Befehl. Fliegen Sie in die Richtung der Spuren.« Sie wendete sich Falsen zu. Der Mann erschrak, als er das bekümmerte Gesicht der Raumschiffkommandantin sah. »Was raten Sie uns?« »Hm. Erst einmal die Mannschaft zusammenrufen. Man muß feststellen, wer fehlt.«
Die Lady Mutter nickte und verließ mit ihren Offizieren die Kajüte. Das hatte Falsen mit seinem Vorschlag beabsichtigt. »Du bist eine verdammte Närrin!« fuhr Falsen das Mädchen an, sobald sich die Tür hinter den Doralanerinnen geschlossen hatte. »Alles willst du allein schaffen. Diesmal hast du dich übernommen!« »Aber Nick! Ich war das nicht! – Ja, die Katze habe ich getötet. Ihr dauerndes Herumschleichen vor meiner Kajüte trieb mich allmählich zum Wahnsinn. Doch dann, als ich dem Biest den Kopf abriß, kam dieses – dieses Ding und sprang mich an. Glücklicherweise war ich – vorbereitet. Deshalb konnte ich mein Leben retten.« »Eine Kreuzung von einem Känguruh und einem Tiger!« spöttelte Falsen. »Verdammt noch mal, das ist noch besser als das Märchen vom grauen Biest mit der Schuppenhaut. Aber nicht gut genug für mich!« »Nick!« protestierte sie. »Weshalb soll ich dich anlügen? Glaube mir, auf diesem Planeten gibt es tatsächlich wilde Tiere.« Sie kicherte. »Ist das nicht komisch?« »Das finde ich gar nicht. Nur zweckmäßig. Das fördert unsere Absichten. Trotzdem müssen wir vorsichtig sein.« »Es ist jemand an der Tür«, flüsterte das Mädchen plötzlich. Laut rief es dann: »Kommen Sie herein!« Es war die Lady Mutter. Sie wartete nicht auf eine Frage. »Die Liste der Toten ist vollständig. Hinzu kommen noch drei Vermißte.« »Könnte es sein, daß die Bestien die drei Unglücklichen vollständig verschlungen haben?« »Daran dachte ich zuerst auch. Aber Carlin hat berichtet, wie die Bestien die drei Mädchen meiner Besatzung lebend mitgeschleppt haben.« »Hm. Gefangen also. Aber weshalb nur?« »Ich fand das auch rätselhaft. Zuerst nur. Denn inzwischen habe ich einen klaren Begriff von den Tieren, die uns
angegriffen haben. Ein eigenartiger Zufall. Sie gleichen nämlich einer Tiergattung, die auf unserem Planeten vorkommt. Diese Raubtiere sind heute ausgestorben bis auf ein paar Exemplare, die man im Zoo besichtigen kann. Wir nennen es Simbor. Solange es in Freiheit lebte, ernährte es sich von anderen Tieren und trug auch lebendige Beute in seine Höhle für die Jungen. Dort richteten diese Bestien ihre Opfer so zu, daß sie nicht fliehen konnten. Es dauerte manchmal Tage, ehe diese Opfer aufgefressen wurden.« »Aber wie sollen denn diese – wie nannten Sie sie? – Simbors auf diesen Planeten geraten sein?« »Ich weiß, das ist nicht gut möglich. Doch eine Parallelentwicklung wäre nicht auszuschließen.« – »Möglich.« »Prentas Hubschrauber ist bereits wieder gelandet. Sie berichtet, sie habe die Bestien gesehen. Zwei der Untiere versteckten sich in einem Krater, der in südwestlicher Richtung auf vulkanischem Gebiet liegt. Sie eröffnete das Feuer; doch die Biester konnten noch rechtzeitig flüchten. Sie glaubte auch, eines von unseren Mädchen entdeckt zu haben. Die Bestien schleppten es fort und versteckten es in einer Felsspalte.« Sie legte eine Pause ein. »Ich muß meine Mädchen retten, ehe es zu spät ist. Und ich will diese blutgierigen Bestien auf diesem Planeten ausrotten. Deshalb schicke ich alle Leute los, Mr. Falsen, und behalte nur eine Notwache im Schiff zurück. Beide Hubschrauber werden das Unternehmen unterstützen. Das Gros der Mädchen rückt zu Fuß aus. Sie, Mr. Falsen, haben sich schon bei der ersten Expedition bewährt. Deshalb möchte ich, daß Sie den Trupp anführen.« »Ich möchte auch mit«, sagte Linda. »Aber Sie sind doch verwundet, Linda«, wendete die Lady Mutter ein.
»Mag sein«, erwiderte das Mädchen. »Aber Sie ahnen nicht, wie zäh und ausdauernd ich bin.« Die Lady Mutter beugte sich über das Mädchen und untersuchte die Wunden unter der Plastikhaut. »Erstaunlich, wie rasch das heilt. Wenn Sie sich kräftig genug fühlen…« Die Bodentruppen kämmten jede Spalte und Höhle im gebirgigen Gelände durch. Sobald sich etwas regte, wurde ohne Warnung geschossen. Die Schiffsingenieure hatten die Energiewaffen so eingestellt, daß sie höchste Strahlkraft entwickelten. Einer der beiden Hubschrauber führte außerdem noch eine Bombe mit. Sobald die drei Doralanerinnen gerettet waren – oder eindeutige Beweise vorlagen, daß sie nicht mehr lebten –, sollte die Bombe über dem Krater abgeworfen werden. Prenta ging mit Falsen und Linda an der Spitze der Bodentruppen. »Hören Sie, Prenta«, sagte Falsen. »Wie haben Sie eigentlich diese Bestien entdeckt? Dieser vulkanische Krater muß doch außerhalb der Reichweite Ihrer Scheinwerfer liegen…« »Stimmt. Doch eine der Gefangenen benutzte eine Taschenlampe. Glücklicherweise entdeckten wir den kleinen Lichtpunkt vom Hubschrauber aus. Ich sah die Tiere nur kurz im Licht unserer Leuchtbomben. Ich hätte schwören können, daß es Simbors waren.« »Unmöglich!« lachte Falsen. »Es sei denn, ihr habt die Bestien mit eurem Schiff selbst hierhergebracht!« »Unsinn!« widersprach Prenta wütend. Doch dann zwang sie sich ebenfalls zu einem Lachen. »Sie belieben zu scherzen, Mr. Falsen.« Falsen hatte den Rand des Kraters erreicht. Er blieb stehen, bis auch die anderen nachkamen. Falsen suchte die flache Mulde mit den Blicken ab. Felsgeröll, das als Deckung oder
Tarnung für eine Höhle dienen konnte, zerklüfteter Boden, ein Fetzen rotes Zeug. Das mußte von einem der Opfer stammen, das die Bestien verschleppt hatten. Gegenüber wurde geschossen. Der Schußstrahl der Waffe war kaum zu sehen; doch die Stichflamme des zerplatzenden Steinblocks blendete Falsen. Dann erst hörte er den Knall. Ein menschenähnlicher Schrei folgte. Etwas rannte von der Stelle fort, wo eben noch graues Gestein gewesen war. Es bewegte sich in hopsenden Sprüngen wie ein Känguruh. Es hatte einen löwenartigen Kopf und den Körper einer Raubkatze. »Wir rücken weiter vor. Prenta, geben Sie den Befehl, vor jedem Höhleneingang und jedem Versteck soll eine Wache aufgestellt werden.« Der Abstieg in den Krater erwies sich als überraschend beschwerlich. Schließlich sammelten sich rund zwei Drittel des Trupps im Kraterkessel. Der Rest bewachte die Höhleneingänge. Hier, in der Mitte des Kraters, klaffte ein Schacht im Boden. Er führte nicht zu steil in die Tiefe. Schon hielt Prenta die Handlampe in der Linken und den Energiestrahler schußbereit in der Rechten. Die Mädchen stritten sich, wer zuerst einsteigen durfte. Doch Falsen gefiel dieser Schacht gar nicht – Linda ebenfalls nicht. Er spürte es und sah es ihrem Gesicht an. Es war einfach eine zu glatte, leichte Sache. Eine Falle, ohne Zweifel, mit Fußspuren und einem roten Fetzen Tuch als Köder. Und gleich neben dem Eingang gab es noch andere Zeichen, die Falsen nicht geheuer waren. Deswegen hob er die Hand und sagte zu Prenta: »Rückt diesen Felsblock weg. Er läßt sich bestimmt bewegen. Ich könnte schwören, daß er sich wegrollen läßt.« Vier Doralanerinnen packten zu, schoben und drückten. Zuerst wollte sich der Block nicht von der Stelle rühren. Doch dann ging es um so leichter. Dahinter öffnete sich eine kleine Höhle – fast nur eine Nische im Fels –, in der sich drei
Gestalten zusammendrängten. Die drei vermißten Doralanerinnen. Zwei von ihnen waren in Uniform, die dritte war nackt. Sie waren unverletzt. Hilfreiche Hände streckten sich ihnen entgegen, brachten sie an die frische Luft und in das Licht der rötlichen Sonne. Sie schienen zu benommen und verstört, um Rede und Antwort zu stehen. Prenta unterbrach das aufgeregte Geschnatter der Mädchen und wandte sich an Falsen. »Wir haben gefunden, was wir gesucht haben. Und was jetzt? Die Bombe?« »So hat es die Lady Mutter angeordnet.« Der Hubschrauber mit der Bombe kam bereits herunter. Falsen blickte nach oben, begegnete Carlins Blick. Ein triumphierendes Lächeln lag auf ihrem Gesicht. Sie schien sich über die Rettung der drei Mädchen zu freuen. Mit einem geschickten Landemanöver setzte der Hubschrauber neben ihnen auf. Die Luke ging auf. Hände streckten sich heraus, nahmen die Geretteten in Empfang, zogen sie hinein in die Kanzel. Der Hubschrauber hob langsam ab. »Was ist mit der Bombe, Carlin?« rief Falsen. »Die sollt ihr haben!« rief sie zurück. Aus der offenen Luke fiel der glänzende Metallzylinder, prallte auf dem schrägen Boden auf, überschlug sich ein paarmal und blieb neben einem Felsblock liegen. Während der Hubschrauber in etwa zwei Meter Höhe über ihnen eine Schleife zog, raunte Falsen Linda erregt zu: »Spring! Um Himmels willen, spring!« Seine ausgestreckten Finger berührten die Querstrebe des Fahrgestells, packten verzweifelt zu und klammerten sich fest. Er pendelte hin und her, während der Luftstrom an ihm zerrte. Er spürte, daß Linda neben ihm war und sich langsam zur Mitte des Fahrgestells weiterhantelte. Er folgte ihr, pendelte kräftig hin und her, machte einen Aufschwung und zog sich auf die Querstrebe hinauf. Vorsichtig langte er nach unten,
packte Linda an der Bluse, zog sie zu sich herauf, bis sie erschöpft neben ihm kauerte. Auf der Querstrebe sitzend, blickten sie hinunter. Die Doralanerinnen in ihren roten Mänteln versuchten, so rasch wie möglich aus dem Krater zu entkommen. Nur eine von ihnen nicht. Prenta. Sie arbeitete fieberhaft an der Bombe, versuchte, irgend etwas zu erreichen. Falsen sollte nie erfahren, was die tapfere Prenta noch im letzten Augenblick erreichen wollte. Vielleicht versuchte sie, die Bombe zu entschärfen, vielleicht wollte sie auch eine frühzeitige Zündung auslösen, um den Hubschrauber in das Inferno der Explosion mit hineinzureißen. Noch war der zweite Hubschrauber da. Wie ein Falke stieß er auf Carlins Helikopter herab, während die Waffen violette Energiebündel spuckten. Es roch nach Ozon und nach heißem, schmelzendem Metall. Doch Carlin ließ sich nicht vom Kurs abbringen, richtete den Bug des Hubschraubers auf den Punkt am Horizont, wo Falsen das Raumschiff vermutete. Und dann eröffnete auch eine ihrer Bordwaffen das Feuer – doch nicht mit elektrischer Energie, die gegen einen Metallrumpf in der Luft sowieso nicht viel ausrichten konnte, sondern mit altmodischen Metallkerngeschossen. Plötzlich tauchte der zweite Hubschrauber in Falsens Blickfeld auf. Der Aluminiumrumpf war mit Löchern durchsiebt, der Rotor brach ab. Zugleich mit dem Ausfall seiner Rotoren kam auch der Hubschrauber ins Trudeln und stürzte, schneller und immer schneller, bis er mit einer dumpfen Explosion und einer Wasserfontäne in einem der Tümpel verschwand. Linda Veerhausen griff nach Falsens Arm. Ihre Fingernägel gruben sich schmerzhaft in sein Fleisch. Sie schrie, um sich gegen das Rauschen des Windes durchsetzen zu können: »Was – was – machen die bloß?«
»Ich – weiß – nicht! Meuterei wahrscheinlich!« Er blickte sich um. Der Krater lag bereits hinter dem Horizont. Doch dann sah er den Blitz, den Ansatz einer Feuersäule. Er schloß schaudernd die Augen. Als er sie wieder öffnete, breitete sich ein Rauchpilz bis zu den Wolken aus, von dunkelroten Flammen durchsetzt. Dann erreichte sie der heiße Wind der Detonation, hob den Hubschrauber wie mit einer Riesenfaust in die Höhe, trieb ihn vor sich her wie der Sturm ein welkes Blatt. Prenta war jetzt tot, dachte Falsen. Prenta und ihre tapferen Mädchen. Doch so bedauerlich das auch war – Carlin hatte Falsen und Linda mit ihrer Meuterei eigentlich nur den Weg geebnet. Die Energiestrahler der Doralaner fürchtete er nicht. Nur der Einsatz dieser altmodischen Maschinenkanonen mit den Stahlkerngeschossen stimmte ihn bedenklich. Doch seine Sorge war sicherlich übertrieben. Die richtige Munition für ihn und Linda hatten die Doralaner bestimmt nicht mitgebracht. Immer noch stand die Rauchsäule drohend hinter ihnen am Himmel. Vor ihnen tauchte bereits das Raumschiff auf. Der Hubschrauber flog jetzt niedriger. Ständig verlor er an Höhe, glitt nur noch in wenigen Metern Höhe über die trüben Tümpel und grauen Flechten des Planeten dahin. Falsen blickte gespannt nach unten und rief Linda plötzlich zu: »Wir müssen uns fallen lassen.« »Weshalb?« »Sobald Carlin zur Landung ansetzt, wird sie uns entdecken. Wir wollen uns lieber zu Fuß an das Raumschiff heranmachen.« Unter ihnen dehnte sich wieder die spiegelglatte Fläche eines Teichs. Falsen ließ sich von der Querstrebe gleiten, pendelte wie an einem Reck hin und her, bis Linda seinem Beispiel gefolgt war. »Los!«
Sie ließen gleichzeitig los und tauchten fast lautlos in das Wasser ein. Falsen spürte weichen Schlamm unter den Füßen, stieß sich ab, kehrte Sekunden später zur Oberfläche zurück. Er fürchtete, Carlin oder eine von der Besatzung hatten bemerkt, daß zwei blinde Passagiere das Massaker im Vulkan überlebt hatten und kamen jetzt mit dem Hubschrauber zurück, um sie beide beim Auftauchen unter Feuer zu nehmen. Erleichtert atmete er auf, als er den Helikopter unverändert den Kurs auf das Mutterschiff zu halten sah. Neben ihm plätscherte es. Linda kam prustend an die Oberfläche. Mit einer energischen Kopfbewegung schüttelte sie das nasse Haar aus der Stirn und fragte: »Was jetzt?« Falsen hielt sich wassertretend auf der Stelle. Er deutete in eine Richtung. »Wir schwimmen ans Ufer. Dort hinüber.« Nebeneinander schwammen sie los, erreichten das Ufer und zogen sich an den glitschigen Moosen und Flechten hinauf. »Viele werden nicht übriggeblieben sein«, sagte Linda, als sie auf festem Grund standen. »Ja. Wir müssen uns jetzt zum Kampf stellen – so oder so.« Schweigend zogen sie sich aus. Linda Veerhausen wollte ihren Waffengurt wieder umschnallen, überlegte es sich dann aber anders. Sie nahm die Waffe aus dem Halfter und hielt sie in der Hand. Falsen machte es ebenso. Mit schußbereiten Strahlern, nackt und schlammverkrustet, gingen sie langsam über den schwammigen, federnden Boden auf das erleuchtete Raumschiff zu. Die Nacht senkte sich auf die Ebene herab, hüllte sie in ihren dunklen Mantel ein. Carlin hatte keine Wachen ausgestellt, obgleich jemand der Besatzung draußen im Schlamm saß, verstört und tief betrübt, weil die Lichter vor ihm nicht mehr Zuflucht und Geborgenheit bedeuteten, sondern ein verlorenes Paradies, aus dem er verbannt worden war. Ehe er die beiden Gestalten
hinter sich bemerkte, hatte Linda ihn schon gepackt, hielt ihn hoch in die Luft. Pondor spuckte und fauchte, verfluchte Linda und sagte dann: »Sie rasen – töten und töten – auch die Lady Mutter haben sie umgebracht!« In Falsen stieg die Wut hoch. Er mußte sich zwar eingestehen, daß er selbst die fremde Frau, die liebenswürdige und tolerante Kommandantin des Raumschiffes, nicht hätte schonen können. Er hätte sie ebenfalls umbringen müssen. Doch er haßte Carlin, weil sie getan hatte, was er selbst nur ungern und unter dem Zwang der Umstände vollbracht hätte. Außerdem bin ich anders, rechtfertigte er sich in Gedanken. Aber Carlin ist das nicht! Mit kalter Stimme sagte er: »Wir werden sie töten!« – »Seid vorsichtig!« warnte Pondor. »Sie sind…« Seine Stimme erstickte in einem Gurgeln, als Linda ihre Zähne in seine Halsschlagader grub. Dann warf das Mädchen den Kadaver in einen Sumpf. »Das hättest du nicht tun sollen!« tadelte Falsen scharf. »Er wollte uns gerade vor etwas warnen!« »Ich haßte das Biest. Sterben mußte es ja sowieso – ob gleich oder später, ist egal.« Es war jetzt ganz dunkel. Falsen wurde sich jäh bewußt, daß sich ihre helle nackte Haut von der farblos-grauen Umgebung abhob. »Wir müssen uns verwandeln«, murmelte er. »Was geschieht mit unseren Waffen?« »Trag sie im Maul.« Er sah zu, wie ihr weißer Körper schrumpfte, sich dehnte und verwandelte. Wie er grau und dunkel wurde. Gleichzeitig spürte auch er den Schmerz der Veränderung. Er ließ seinen Strahler fallen, als seine Hände zu Pfoten wurden, und hob sie mit den Zähnen wieder auf. Tief an den Boden geduckt, bewegten sie sich rasch und lautlos: zwei graue Schatten inmitten anderer grauer Schatten. Er führte sie zu dem gelben
Viereck, dem Einstieg in die Luftschleuse. Der Geruch von Maschinen, von leblosem Metall drang in seine Nase und stieß ihn ab. Der Geruch von warmem blutigem Fleisch drang noch viel kräftiger auf ihn ein – und lockte ihn an. Die letzten Meter legte er fast kriechend zurück. Dicht vor der Luke blieb er bewegungslos auf den Sprossen liegen – horchend, fühlend, witternd. Carlin war sehr nachlässig, dachte er. Keine Wache an der Luftschleuse. Carlin mußte sich ihrer Sache sehr sicher sein, hielt es für gewiß, daß er und Linda bei der Bombenexplosion umgekommen waren. Aber wie stand es mit den Raubkatzen, den reißenden Bestien, die hier auf diesem Planeten lebten? Die mit ihrem Überfall auf das Raumschiff Carlin erst die Möglichkeit gegeben hatten, Verrat an ihren eigenen Rassegenossinnen zu begehen und das Raumschiff im Handstreich zu erobern? Hatte sie keine Angst? Vielleicht, dachte Falsen, hatten sie sich inzwischen alle gegenseitig umgebracht. Er hoffte es und bedauerte es zugleich. Wieder kam die Verwandlung, kurz, schmerzhaft, ekstatisch. Falsen stand wieder aufgerichtet da und bückte sich, um den Strahler vom Boden aufzuheben. Er blickte sich um, sah, daß Linda seinem Beispiel gefolgt war, und deutete auf die Leitersprossen. Schweigend kletterten sie in die Luftschleuse. Er hatte gewußt, daß sie leer sein würde. Auch der Korridor dahinter, die Treppe, der Niedergang, das nächsthöhere Deck – alles leer und verlassen. Und doch war das Schiff nicht tot. Unsichtbares Leben pulsierte darin – ein feindliches Leben, das drohend hinter jeder Ecke zu lauern schien, hinter jeder Tür, auf jeder Treppe. Linda hatte Bedenken, doch Falsen blieb eisern. »Wir müssen weiter. Schließlich können sie uns nichts anhaben!« Und so kletterten sie von Deck zu Deck, von Korridor zu Korridor,
witterten hier und dort den Tod, der die Anhänger der Lady Mutter in ihren Kabinen ereilt hatte. Doch sie entdeckten nirgends Blutspuren, keine halbverkohlten Leichen oder Spuren von Kämpfen. Nichts als unheimliche Leere… Schließlich erreichten sie den Korridor, wo sich früher die Kajüte und Schlafräume der Kommandantin befunden hatten. Hinter der Kajütentür der Lady Mutter hörten sie Stimmen – leise, undeutlich, unverständlich, weil es Worte in doralanischer Sprache waren. Mit schußbereiten Strahlern schlichen die beiden auf die Tür zu. Ihre bloßen Füße verursachten auf dem Plastikbelag kaum ein Geräusch. Sie hofften, daß der automatische Türöffner noch funktionierte. Falsen klopfte. Die Tür schwang auf. »Ich könnte euch alle auf der Stelle töten«, sagte Falsen, während er den Lauf des Energiestrahlers auf die Gruppe neben und hinter dem Schreibtisch richtete. »Ich könnte euch sofort umbringen, aber ich werde es auf später verschieben. Ihr sollt erst erfahren, wer euch tötet und warum.« Dann sah er sie der Reihe nach an – Carlin hinter dem Schreibtisch, unverschämt gleichgültig sich im Sessel rekelnd. Die anderen fünf Frauen. Dazu sechs Männer, einer davon der blinde Passagier, den Falsen aus den Ballen und Kisten herausgeholt hatte. Er haßte sie, diese grinsenden Gesichter. »Ach, ihr«, sagte Carlin grinsend. »Ihr seid kein bißchen besser als wir.« »Doch«, knurrte Falsen. »Wir hätten die Lady Mutter nicht getötet. Nie. Wir hätten auch die anderen nicht mit einer Bombe liquidiert.« »Sie vielleicht nicht, Mr. Falsen. Aber können Sie dasselbe von Ihrer – Ihrer Gefährtin behaupten?« »Sie wissen also Bescheid?« »Wir wissen Bescheid! Wir sind nicht auf den Kopf gefallen. Das ist richtig, Mr. Falsen. Wir sind nicht so wie unsere
bedauernswerte Lady Mutter. Wir beherrschen eure Sprache, haben eure Bücher gelesen. Wir lernten eure Legenden kennen – eure Sagen. Interessante Dinge stehen darin. Und wir wissen so gut wie ihr, was die Mannschen Antriebsaggregate mit Zeit und Raum anstellen. Und falls im Wirkungsbereich der Aggregate Wesen sind, die einen Hang zum Atavismus in sich tragen… Pondor ist es gewesen, der mich auf die richtige Spur gebracht hat. Zuerst kam er mit seinem Verdacht zur Lady Mutter; doch die törichte alte Dame wollte ihm nicht glauben. Dann kam er heulend und klagend zu mir. Ich glaubte ihm auch nicht – offiziell, heißt das.« »Was glaubten Sie nicht?« fragte Falsen scharf, während sich seine Rechte um den Griff des Energiestrahlers spannte. Er spürte, daß die Dinge sich gar nicht so entwickelten, wie er erwartet hatte – daß diese Doralaner nur Katz und Maus mit ihm und Linda spielten. »Sie beide sind natürlich ausgesetzt worden«, fuhr Carlin ruhig fort. »Von Ihrem Schiff oder Ihren Schiffen. Das spielt jetzt keine Rolle mehr, ob es eins oder zwei waren. Ihre Kollegen hätten Sie lieber töten sollen. Vielleicht konnten sie das aber nicht. Denn ich muß zugeben, daß ich sehr beeindruckt bin, wie gut Sie beide die Bombe überlebt haben. Wir haben Sie nicht so rasch zurückerwartet.« »Wir kamen mit Ihrem Hubschrauber«, erwiderte Falsen schroff. »Wir saßen auf dem Fahrgestell unter dem Rumpf.« »Ah, so ist das. Ich dachte, Sie hätten Ihre Kleider bei der Detonation der Bombe verloren.« »Wir legten sie selbst ab«, knurrte Falsen, »damit wir besser – kämpfen können! So wie damals in der Höhle.« »Oh? Ihr beiden wart das also! Nicht übel geplant, noch besser ausgeführt. Besonders, weil ihr dafür gesorgt habt, daß Prenta übrig blieb, die dann einen glaubhaften Bericht liefern
konnte. Falsen, Sie sind mir fast sympathisch.« Schieß endlich! befahl die Stimme in seinem Gehirn. So schieß doch! Er hob die Hand, bis die Waffe auf Carlin zielte. Er wollte gerade abdrücken, als Linda neben ihm rief: »Nicht – ich möchte das tun! Ich töte sie auf andere Weise!« Carlin lächelte nur. »Falsen, bei Ihnen ist doch das männliche Geschlecht das beherrschende. Warum schlagen Sie sie nicht ins Gesicht?« Carlin kicherte. »Ihr beide seid uns eigentlich recht nützlich gewesen. Ihr habt ein prächtiges Ablenkungsmanöver veranstaltet, das wir trefflich ausnützen konnten. Und jetzt gehört das Schiff uns.« »Gehörte«, verbesserte Falsen. »Trotzdem bin ich neugierig. Was wolltet ihr denn mit dem Schiff?« »Am Rand des Weltalls«, erwiderte Carlin, »gibt es einsame Sterne. Einzelgänger, Planeten am Rande des Nichts. Es wird viele Generationen von Raumfahrern geben, ehe diese Planeten kolonisiert werden. Dort wollen wir« – ihr Blick ging über die Gruppe um ihren Schreibtisch hinweg – »das Leben führen, das uns gemäß ist.« »Und genau das ist der Grund«, sagte Falsen, »weshalb wir das Schiff jetzt übernehmen.« Er starrte in die Gesichter – die ernsten, widerlichen Katzengesichter mit den großen leuchtenden Augen. Er drückte auf den Auslöserknopf. Der violette Strahl zischte zu Carlin hinüber, wanderte zu den anderen weiter. Neben ihm schoß Linda – zuerst auf Carlin, dann auf die Leute zu ihrer Rechten. Der Schreibtisch ging in Flammen auf. Es stank nach Ozon und verbranntem Holz, geschmolzenem Plastik, blasigem Lack… Durch die beißenden Schwaden starrte Falsen auf die haßerfüllten Gesichter gegenüber – die ernsten, widerlichen Katzengesichter mit den großen leuchtenden Augen. »Ihr habt euch nie bemüht, unsere Sprache zu lernen«, sagte Carlin
schließlich hämisch. »Ihr wart zu bequem. Ihr habt weder unsere Bücher gelesen noch unsere Geschichte und Mythologie studiert.« Sie lächelte flüchtig und zeigte ihre schneeweißen Zähne. »Ich muß gestehen, daß wir Glück hatten. Unsere Wissenschaftler begriffen nicht so rasch wie eure. Eine Nebenwirkung der Mannschen Antriebsaggregate beim Übergang vom Superdrive zur Normalzeit war bisher ihrer Aufmerksamkeit entgangen. Sie haben keine Ahnung – im Gegensatz zu euren Behörden, im Gegensatz zu uns –, daß wir uns gar nicht soweit von der Grenze zur Finsternis entfernt haben…« Falsen hielt seine Waffe immer noch fest umklammert, obgleich sie nutzlos und wirkungslos war. »Ich verstehe nicht«, murmelte er, obwohl er nur zu gut verstand. Die Logik kannte kein Erbarmen. Rücksichtslos enthüllte sie ihm jetzt die letzten Geheimnisse, klärte die letzten Fragen, die noch offen waren. »Ich verstehe das alles nicht.« »Aber natürlich verstehen Sie«, erwiderte Carlin. Ihre kleine spitze rote Zunge kam zwischen ihren roten Lippen hervor, zuckte flüchtig zwischen den Zähnen, ehe sie wieder verschwand. »Ich bin froh, daß ihr beide gekommen seid«, sagte sie. »Wir amüsieren uns.« Sie rief ihren Leuten einen kurzen Befehl zu. Zwei von ihnen – ein Mann und eine Frau – schüttelten die Reste ihrer noch rauchenden Kleider ab. Fasziniert und entsetzt zugleich sahen Falsen und Linda zu, wie die Körper zusammenschrumpften, sich dehnten, sich verwandelten – beobachteten voll Entsetzen die Metamorphose eines menschenähnlichen Wesens zu einem Simbor. Aufrecht stehend fauchten die beiden tigerähnlichen Tiere sie an, streckten die rasiermesserscharfen Krallen der Vorderpfoten nach ihnen aus. Knurrend warf Falsen seine
Waffe nach einer der Bestien. Das Tier wich mit Leichtigkeit aus und duckte sich zum Sprung. Falsen fauchte jetzt ebenfalls den Simbor an. Das Mädchen neben ihm ließ ein heiseres Knurren hören. Er kauerte auf allen vieren, während er sich verwandelte und die letzten Reste seiner Menschlichkeit von sich warf. Wenigstens kommt es zu einem ehrlichen Kampf, dachte er. Und wer weiß? Vielleicht gewinnen wir am Ende doch noch! Schließlich sind sie ja nur – Katzen. Jetzt duckte sich auch Linda neben ihm auf allen vieren. Ihr Fell war gesträubt, die Lefzen von den nadelscharfen Zähnen zurückgezogen, während ein Fauchen aus ihrer Kehle kam. Carlin lachte. »Ja«, sagte sie, »es wäre gar kein so schlechter Kampf geworden. Ich hätte mit Vergnügen zugesehen – vielleicht selbst daran teilgenommen. Doch leider, Falsen, kann ich mir das nicht leisten. Ich brauche die paar, die ich habe, zur Gründung meiner Kolonie.« Ihre Hand kam hinter den rauchenden Trümmern des Schreibtisches zum Vorschein. Sie hielt eine Pistole. Keinen Energiestrahler, sondern ein klobiges Ding, das aus einem Museum stammen mußte. »Glücklicherweise haben Sie vorhin nicht das Pulver in den Patronen in Brand gesetzt«, sagte Carlin lächelnd, während sie den Finger um den Abzug krümmte. »Es sind natürlich Silberkugeln.« Der größere der beiden Werwölfe starb, während er verzweifelt an der Tür kratzte. Der zweite, seine Gefährtin, wurde mitten im Sprung von der Silberkugel getroffen…
Originaltitel: FRONTIER OF THE DARK. Copyright 1952 by Street and Smith Publications, Inc. Aus ASTOUNDING SCIENCE FICTION September 1952.