Erle Stanley Gardner
Perry Mason Die Leiche am Steuer
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Erle Stanley Gardner
Perry Mason Die Leiche am Steuer
scanned by AnyBody corrected by Yfffi Es kommt auf den Blickwinkel an. Perry Mason hatte den besten: schräg nach oben auf zwei hübsche Mädchenbeine, die nachts vor seinem Bürofenster auf der Feuerle iter balancierten; und auf einen versteckten Revolver. Sein Mandant war schon schlechter dran: Er hatte ein Mädchen im Auge, ohne von seiner Frau geschieden zu sein. Und er blickte in die Röhre, was den Machtwechsel in seiner Firma betraf. Am schlimmsten aber ging es Ethel Garvin: Sie blickte direkt in einen Revolverlauf... ISBN 3 548 10042 2 Verlag Ullstein GmbH, 1980 Umschlagfoto: Hubertus Mall Original The case of the dubious bridegroom Übers. von Ingeborg Hebell
Für Mrs. Frances G. Lee, Captain der New Hampshire States Police und eine der wenigen Frauen, die Perry Mason Rätsel aufgaben.
1 Der Abend hatte die nüchternen Stahl- und Betonschäfte der Hochhäuser in geisterhafte Lichtfinger verwandelt. Hier und da zeigten sich noch helle Fenster an den Gebäuden, die Perry Mason von seinem Büro aus sehen konnte. Schon lag der größte Teil im Dunkeln und empfing nur Licht von der Straße. Erschöpft von einem harten Tag im Gericht, hatte Mason in seinem Büro die Lampen ausgeschaltet und es sich im großen Sessel vor dem Schreibtisch bequem gemacht. Nur seinen Augen, die durch den kleinen Druck der Gesetzbücher überanstrengt waren, wollte er anfangs ein wenig Ruhe gönnen. Doch die Müdigkeit hatte gesiegt, und er war in leichten Schlummer gefallen. Von der Straße und vom rückwärtigen Gang fiel Licht auf die Feuerleiter vor dem Fenster; auf den Schreibtisch, wo sich Fachliteratur stapelte; auf die ruhende Gestalt im großen Ledersessel, in den Mason angstvolle Mandanten zu setzen pflegte, um ihnen zur Entspannung und zum Bekenntnis ihrer Nöte zu verhelfen. Es war ein heißer Tag gewesen. Ein Gewitter zog herauf, schwacher Wind strich am halboffenen Fenster vorüber. Mason bewegte sich unruhig. Sein bohrendes Unterbewußtsein schien ihn an den Haufen Arbeit auf dem Schreibtisch zu erinnern, an die Notwendigkeit, zu einer schwierigen Rechtsfrage noch vor dem nächsten Tag seinen Standpunkt zu formulieren. Ein schwaches Geräusch über dem Fenster, auf der Feuertreppe, drang durch die tiefe Stille zu Mason. Ein graziöser, elegant beschuhter Frauenfuß tastete sich abwärts auf die eiserne Treppenstufe; etwas später folgte der zweite. Langsam, vorsichtig stieg eine junge Frau die Feuerleiter -3 -
herab, bis ihr Kopf sich auf gleicher Höhe mit dem Treppenabsatz vor dem oberen Bürofenster befand. Oben wurde Licht angeschaltet. Der Schein eines hellen Fensterrechtecks fiel hinaus in das Dunkel. Mason bewegte sich im Schlaf, murmelte Unverständliches und warf ruhelos einen Arm über die Sessellehne. Ein Schatten zeichnete sich ab, als die Gestalt auf der Feuerleiter dem Licht des oberen Fensters nach unten auswich. Das Mädchen stieg hastig noch zwei Stufen nach unten, offenbar um den Treppenabsatz vor Masons Bürofenster zu erreichen. Erschreckt blieb sie reglos auf der Leiter stehen, als Mason seinen Arm noch einmal bewegte. Ein Windstoß aus dem Hintergang des Gebäudes blies ihr Kleid hoch. Sie riß die rechte Hand herunter und versuchte die wehenden Röcke zu bändigen. Schimmerndes Metall spiegelte sich einen Augenblick in der Straßenbeleuchtung. Mason richtete sich in seinem Sessel auf. Das Mädchen auf der Feuerleiter begann wieder nach oben zu steigen, blieb aber gleich darauf stehen und schien den Lichtstrahl aus dem Fenster über Masons Büro zu fürchten. Der Wind frischte auf. Donner grollte unheilvoll in der Ferne. Mason gähnte, rieb sich die Augen und blickte nach oben. Mit einem Schlag hellwach, gewahrte er staunend die fliegenden Röcke über den Mädchenbeinen. Rasch glitt er aus dem Sessel, um den Schreibtisch herum zum Fenster, spähte nach oben und sagte: »Aber kommen Sie...« Das Mädchen auf der Feuerleiter hielt warnend einen Finger an die Lippen. Mason sah mißbilligend zu ihr auf. »Was soll denn das heißen...« Sie schüttelte in wilder Aufregung den Kopf, gebot ihm -4 -
Schweigen durch energische Gesten, während sie mit ihren Röcken kämpfte. Mason winkte sie heran. Sie zögerte. Er schwang ein Bein aus dem Fenster. Das Mädchen spürte die Drohung in dieser Bewegung. Langsam begann sie die Feuerleiter herabzusteigen. Ein rascher Schlenker ihrer rechten Hand ließ einen metallischen Gegenstand flüchtig im Licht aufblitzen. Wieder versuchte sie, ihre fliegenden Röcke untenzuhalten. »Sie müssen ja allerhand Aussicht gehabt haben«, lachte sie, die Stimme fast zum Flüstern gedämpft. »Hatte ich«, sagte Mason. »Kommen Sie jetzt herein.« Sobald sie erkannte, daß die Kapitulation nicht zu vermeiden war, zeigte sie ein durchaus umgängliches Wesen. Ein Bein über die Fensterbank schwingend, sprang sie in Masons Büro. Mason ging zum Lichtschalter. »Bitte nicht«, bat sie. »Warum nicht?« »Es wäre mir lieber. Es könnte - könnte gefährlich sein.« »Für wen?« fragte Mason. »Für mich«, sagte sie und setzte sofort hinzu: »Und für Sie.« Mason nahm ihre Figur näher in Augenschein. »Sie sehen mir nicht aus, als hätten Sie vom Licht etwas zu befürchten«, stellte er fest. Sie lachte. »Sie müssen’s ja wissen. Wie lange sitzen Sie schon hier?« »Eine Stunde wohl. Aber ich habe geschlafen.« »Sie sind genau im kritischen Moment aufgewacht«, lachte sie. »Mit dem Wind hatte ich nicht gerechnet.« »Ich hab’s gemerkt«, sagte Mason. »Und was hatten Sie da in -5 -
der Hand?« »Eine Handvoll Rock.« »Nein, etwas Metallisches.« »Ach das«, sagte sie lachend. »Eine Taschenlampe.« »Und wo ist sie geblieben?« »Sie ist mir aus der Hand gerutscht.« »Sind Sie sicher, daß es kein Revolver war?« »Aber - welche absurde Frage, Mr. Mason!« »Sie kennen mich?« Das Mädchen wies auf die Bürotür, deren Mattglas vom Flurlicht beleuchtet wurde. »Ihr Name steht groß an der Tür, und ich kann Spiegelschrift lesen.« »Ich glaube, es war doch ein Revolver. Was haben Sie damit gemacht?« »Ich hatte keinen Revolver. Jedenfalls ist das Ding, das Sie sahen, mir aus der Hand gerutscht und abwärts in den Gang gesegelt.« »Wie kann ich das wissen?« fragte Mason, während er vorsichtig auf sie zuging. Sie hob die Arme. »Na gut. Darauf wird’s wohl hinauslaufen.« Mason trat rasch auf sie zu und ließ seine Hände abtastend an ihrem Körper herabgleiten. Nur bei der ersten Berührung zuckte sie zusammen, dann stand sie stocksteif. »Ist es nötig, dermaßen gründlich vorzugehen?« fragte sie. »Ich glaube ja«, entgegnete Mason. »Stehen Sie still.« »Zweck dieser Untersuchung ist es doch nur, eine Waffe zu entdecken, Mr. Mason!« »Genau«, stimmte Mason zu. »Und nicht durch mich wurde -6 -
diese Untersuchung erforderlich. Aber zu meinem Schutz wird sie so gründlich wie möglich ausfallen.« Er fühlte, wie ihre Muskeln sich spannten. Sie sagte kein Wort, machte keine Bewegung. »Fertig?« fragte sie eisig, als Mason die Hände fallen ließ. Er nickte. Sie nahm die Arme herunter. Das von der Straße einfallende Licht zeigte ihren Mund als eine einzige harte Linie, als sie zum Sessel ging und sich setzte. Sie nahm eine Zigarette aus der Handtasche. »So was habe ich nicht gern«, erklärte sie. »Und ich lasse mich ungern von einer Frau erschießen«, antwortete Mason. »Sie hatten nämlich einen Revolver. Wahrscheinlich haben Sie ihn in die Hintergasse geworfen.« »Warum laufen Sie nicht hinunter und sehen nach, Mr. Mason?« »Ich glaube, ich kann etwas Besseres tun: die Polizei nachsehen lassen.« Sie lachte verächtlich. »Das gäbe eine hübsche Story. Ich habe die Schlagzeilen schon vor Augen: ›Prominenter Anwalt ruft die Polizei zwecks Untersuchung, ob im Gang unter seinem Fenster ein Revolver liegt.‹« Mason betrachtete sie nachdenklich. Das Licht ihres Feuerzeugs ließ das Oval eines reizvollen Gesichts erkennen. Die Hand, die das Feuerzeug hielt, zitterte nicht im mindesten. »Und dann«, fuhr sie fort, »würde es recht ulkig weitergehen: ›Der Anwalt verweigerte jede Erklärung, als die Polizei keine Waffe fand. Übte Perry Mason mit dem Revolver einen Taschenspielertrick, als die Waffe ihm entglitt, oder übte er die Entwaffnung von Mandantinnen?‹ Daraus ließe sich ein recht netter Artikel machen.« »Und wie kommen Sie zu Ihrer Annahme, ich würde jede Erklärung verweigern?« fragte Mason. -7 -
»Es brächte Sie doch einigermaßen in Verlegenheit, meinen Sie nicht?« »So?« »Eine Frau auf der Feuerleiter zu entdecken, sie in Ihr Büro zu zwingen, sie des Waffentragens zu beschuldigen, alles ohne jeden Beweis... Sie müßten mit einer Beleidigungsklage rechnen, nicht wahr?« »Ich glaube kaum«, sagte Mason. »Sehen Sie, schließlich könnte ich eine Einbrecherin entdeckt haben, die im Begriff war, über die Feuerleiter in mein Büro einzusteigen, und...« »Ausgerechnet in Ihr Büro!« unterbrach sie spöttisch. »Wollten Sie das denn nicht?« »Selbstverständlich nicht.« »Nun, ich bin zu beschäftigt, um gerade jetzt meine Zeit mit Ihnen zu vertrödeln«, sagte Mason. »Wenn Sie keine angemessene Erklärung geben können, werde ich diesen Hörer hier abnehmen und die Polizei herbitten müssen.« »Ein neues Blatt in Ihrer Akte«, stellte sie fest. »Perry Mason ruft freiwillig nach der Polizei.« Er lächelte bei diesem Gedanken. »Zugegeben, es wäre etwas ungewöhnlich. Vielleicht geben Sie doch lieber eine Erklärung?« »Bin ich heute abend nicht schon genug erniedrigt worden? Da stehen zu müssen, während Sie...« »Ich habe eine Waffe gesucht, das wissen Sie.« »War das Ihr einziges Interesse an dem Unternehmen?« »Allerdings.« »Dann sind Sie ein noch kälterer Roboter, als ich dachte«, zürnte sie. »Das können Sie allein ausknobeln.« Mason ging zum Telefon. -8 -
»Warten Sie!« rief sie hastig. Er drehte sich um. Sie nahm einen tiefen Zug an ihrer Zigarette, atmete den letzten Rauch aus und stieß den Stummel wütend in den Aschbecher. »Also gut«, sagte sie, »Sie haben gewonnen.« »Was habe ich gewonnen?« »Die Erklärung.« »Dann fangen Sie an.« »Ich arbeite hier oben im Büro als Sekretärin«, erklärte sie. »Wem gehört das Büro?« »Der Garvin Mining, Exploration and Development Company.« »Das geht Ihnen recht flott von der Zunge«, stellte Mason fest. »Sollte es wohl. Ich arbeite ja da.« Mason griff zum Telefonbuch, schlug die letzte Seite des GARegisters auf und überflog sie, bis er die Garvin Mining, Exploration and Development Company gefunden hatte. Er prüfte die Adresse und nickte: »Insoweit scheint’s zu stimmen.« »Mein Chef bat mich, heute abend wiederzukommen und noch zu arbeiten«, fuhr sie fort. »Und er kündigte mir an, daß er möglicherweise erst sehr spät eintreffen würde. Er müßte zu einer Abendgesellschaft, wollte aber noch arbeiten, sobald er von diesem Essen verschwinden könnte. Morgen will er nämlich verreisen.« »Und so setzten Sie sich auf die Feuerleiter und warteten auf ihn?« Sie lächelte. »Es war wirklich fast so blöd, wie’s sich anhört.« »Inwiefern?« »Ich ging vor ungefähr einer Stunde ins Büro, wartete und wartete. Dann hatte ich es satt, nur so herumzusitzen. Die -9 -
Abendzeitung hatte ich durch und wußte nicht, was ich noch anfangen sollte. Ich knipste das Licht aus und setzte mich eine Weile auf die Fensterbank. Und dann, aus purem Spaß, stieg ich nach draußen auf die Feuerleiter. Na, und die war vielleicht schmutzig! Ich faßte das Geländer an, und meine Hände sahen entsetzlich aus. Das war dumm, denn ich hätte nach unten zum Waschraum gehen müssen, um das Zeug abzuschrubben. Aber da draußen war es irgendwie, na - romantisch und aufregend, so über die Stadt zu schauen. Und dann hörte ich plötzlich, wie sich ein Schlüssel im Schloß drehte. Die Tür wurde geöffnet. Natürlich dachte ich, das wäre mein Boss, und überlegte mir, wie ich ihm meinen Aufenthalt da draußen auf der dunklen Feuerleiter erklären sollte. Und da ging das Licht an, und ich sah, daß es seine Frau war! Ich hatte keine Ahnung, was sie wollte. Ich wußte nicht, ob sie vielleicht die Absicht hatte, mich zu erwischen... Ob sie glaubte, daß... Na, ich weiß ja, wie’s mir in solcher Lage gehen würde.« »Nur weiter«, ermunterte Mason sie. »Also stieg ich fast instinktiv zwei, drei Stufen abwärts, um aus ihrem Blickfeld zu verschwinden... Ich konnte aber noch ins Büro sehen. Wahrscheinlich war es Neugierde, daß ich beobachten wollte, was sie da tat. Na, und dann kam sie ans Fenster, und ich mußte die Feuerleiter heruntersteigen.« »Und der Wind blies Ihre Röcke hoch.« Sie lächelte. »Und Sie hatten den Vorteil davon, Mr. Mason.« »Hatte ich«, gab Mason zu, »während Sie natürlich mit der Hand Ihre Röcke festzuhalten versuchten.« »Klar! Der Wind hatte es in sich.« »Und diese Hand hielt einen Revolver.« »Eine Taschenlampe«, berichtigte sie. »Ganz recht«, sagte Mason. »Ich werde Gentleman sein und mich auf Ihr Wort verlassen. Es war eine Taschenlampe. Und -1 0 -
jetzt wollen Sie mir bitte innerhalb der nächsten fünf Sekunden eine überzeugende Erklärung für das Vorhandensein dieser Taschenlampe geben... Keine Hilfen aus dem Publikum bitte nur noch drei Sekunden - zwei Sekunden - eine Sekunde... Schade.« Sie biß sich auf die Lippen. »Die Taschenlampe«, sagte sie, »hatte ich mitgenommen, damit ich Licht hatte, wenn ich meinen Wagen vom Parkplatz holen wollte. Ich - ja, sehen Sie, ich rechnete nicht damit, daß mein Chef mich zu meinem Wagen begleiten würde. Und als Frau läuft man spätabends nicht gern allein hinten auf einem Parkplatz herum. Schließlich passiert ja so einiges, wie Sie wissen, Mr. Mason.« »Und deshalb nahmen Sie die Taschenlampe auch mit, als Sie auf die Feuerleiter hinausstiegen?« »So seltsam es scheinen mag - genau das tat ich. Sie lag auf dem Schreibtisch, und ich ergriff sie, als ich hinausstieg. Es war ja dunkel da draußen.« »Sehr schön«, sagte Mason. »Und wenn Sie mir jetzt noch unten Ihren Wagen zeigen, dann ist die Sache erledigt.« »Gern.« Sie erhob sich bereitwillig. »Mit dem größten Vergnügen, Mr. Mason. Und wenn Sie Wagennummer, Fahrerlaubnis und Eigentumsvermerk an der Lenksäule feststellen, dann ist das wohl der Abschluß einer sehr interessanten Begegnung, meinen Sie nicht?« »Der endgültige«, pflichtete Mason bei. »Es war mir ein Vergnügen, selbst unter so ungewöhnlichen Umständen. Ich weiß nämlich nicht mal Ihren Namen.« »Sie werden ihn aus der Registrierung am Wagen ersehen.« »Ich ziehe es vor, ihn vorher von Ihnen zu hören.« »Virginia Colfax.« »Miss oder Mrs.?« »Miss.« -1 1 -
»Gehen wir also«, sagte Mason. Er öffnete die Tür und ließ das Mädchen vor. Sie warf ihm über die Schulter ein freundliches Lächeln zu, dann gingen sie zusammen den Flur entlang. Als sie beim Fahrstuhl an Paul Drakes erleuchtetem Büro vorüberkamen, dessen Tür das Schild DETEKTEI DRAKE trug, machte Virginia Colfax eine Grimasse und sagte: »Den Laden kann ich nicht leiden.« »Warum nicht?« fragte Mason. »Detektive machen mir eine Gänsehaut. Ich schätze ein ungestörtes Privatleben.« Mason drückte den Fahrstuhlknopf. »Drake macht meine gesamte Ermittlungsarbeit«, sagte er. »An sich ist es ein sehr schematischer Job, genau wie andere Berufe auch. Nachdem man damit vertraut ist, hören Romantik und Zauber auf, und die Sache wird prosaisch. Manchmal glaube ich, Paul Drake fühlt sich direkt angeödet.« »Kann ich ihm nachfühlen«, meinte Virginia ironisch. Der Hausmeister erschien mit dem Lift. Mason faßte Virginias Ellbogen und schob sie hinein. »Sie müssen sich im Hausregister austragen«, bemerkte er. Sie lächelte ihm zu. »Ich fürchte, Sie irren sich, Mr. Mason. Da die Detektei Drake die ganze Nacht geöffnet ist, brauchen Leute, die zu diesem Büro wollen, sich nicht ins Register einzutragen.« »Ach, Sie wollten dorthin?« fragte Mason. Aus ihrem Lachen klang liebenswürdiger Spott. »Natürlich. Was glauben Sie denn, wo ich war? So was Dummes!« »Wir haben eine Abmachung«, erklärte der Hausmeister, »daß Besucher der Detektei Drake sich nicht einzutragen brauchen. Das Büro ist ja Tag und Nacht durchgehend geöffnet.« Mason trug sich mit der Uhrzeit aus der Liste aus und -1 2 -
bemerkte zu Virginia Colfax: »Sie sind in der Tat schnell im Denken und nicht auf den Mund gefallen.« »Danke«, sagte sie kalt. Der Lift hielt im Erdgeschoß. Mit erhobenem Kinn stieg sie aus und rauschte durch die Halle, gefolgt von Mason. An der Tür des Bürogebäudes blieben sie einen Augenblick stehen, während ein Windstoß Virginias Haar erfaßte. Das Gewitter war beträchtlich näher gerückt, dann und wann übertönte Donner die Straßengeräusche. Virginia Colfax wandte sich plötzlich um und legte Mason die Hand auf den Arm. »Eines sollen Sie noch wissen«, sagte sie. »Was?« »Ich bin Ihnen dankbar, daß Sie so anständig waren.« Mason zog die Augenbrauen hoch. Im gleichen Moment holte Virginia seitlich aus und versetzte ihm mit der flachen Hand eine schallende Ohrfeige. Das laute Klatschen erregte die Aufmerksamkeit einer Gruppe von Leuten, die einige Türen weiter gerade eine Cocktailbar verließen. Während Mason noch fassungslos dastand, schoß Virginia Colfax quer über den Gehweg, riß die Tür eines wartenden Taxis auf und schwang sich hinein. »He!« schrie Mason dem Fahrer zu. »Warten Sie!« Er wollte die Straße überqueren, als ein stiernackiger Kerl mit der Statur eines Hafenarbeiters, im Maßanzug eines Managers steckend, ihn am Rockschoß packte: »Nichts da, Freundchen!« Mason wirbelte herum. »Nehmen Sie die Hände weg!« Der Mann hielt fest und grinste. »Klarer Fall, Kumpel: die liebt Sie nicht.« Das Taxi brauste ab und verschwand im Verkehr. »Lassen Sie mein Jackett los, oder ich schlage Ihnen den -1 3 -
Kiefer ein«, warnte Mason seinen klobigen Angreifer. Etwas in Masons Augen ließ den Kerl zurückweichen. »Immer sachte, Freundchen. Sie sehen doch, die Frau wollte nicht...« Mason ging zum Bordstein, blickte sich nach einem Taxi um. Doch war keines in Sicht. Noch bleich vor Wut, wandte er sich dem Muskelmann wieder zu. »Na schön, Sie haben für Ihr Publikum den Helden gemimt. In Ihren guten alten Schultagen müssen Sie mal ein großer Boxer gewesen sein. Falls es zu Ihrer Genugtuung beiträgt: Mit dieser Einmischung haben Sie einen Haufen rechtlicher Komplikationen verursacht, für deren Verständnis Ihr Grips bei weitem nicht ausreicht. Und jetzt nehmen Sie Ihr fettes Gesicht aus dem Weg, oder ich drücke es Ihnen platt!« Von Masons blanker Wut eingeschüchtert, trat der Mann zurück. Mason schob sich voller Verachtung an ihm vorbei. Schon im Begriff, in sein Büro zurückzugehen, besann er sich und lief um die Ecke zum Hintereingang des Gebäudes. Langsam schritt er, jeden Fußbreit Pflaster sorgfältig prüfend, die schmale Gasse hinunter. Weder von einem Revolver noch vo n einer Taschenlampe fand sich auch nur die geringste Spur. Mason marschierte zurück zum Eingang des Bürohauses. Er trug sich wieder in das Melderegister ein, fuhr zu seiner Etage hinauf und ging sofort zum Büro der Detektei Drake. »Ist Paul Drake da?« fragte er das Mädchen am Schreibtisch. Sie schüttelte stumm den Kopf. »Ich habe einen Job für ihn. Es ist nicht besonders eilig, er kann morgen früh anfangen. Ich möchte etwas über die Verhältnisse der Garvin Mining, Exploration and Development Company wissen und ob dort ein Mädchen namens Virginia -1 4 -
Colfax angestellt ist. Ferner brauche ich Auskünfte über den Mr. Garvin, der das Geschäft führt. Sagen Sie Paul, er soll nicht zu viel Zeit darauf verwenden und mir nur etwas über die allgemeinen Verhältnisse besorgen. Wenn er etwas berichten kann, möchte er sich bitte melden.« Das Mädchen nickte wieder. Mason kehrte zurück in sein eigenes Büro und wandte sich von neuem seinen juristischen Problemen zu. In den umliegenden Gebäuden erlosch ein Licht nach dem anderen, bis alle Büros im Dunkeln lagen. Noch immer war Mason in sein Thema vertieft und fuhr fort, geeignete Präzedenzfälle zu sammeln. Ein leichtes Unbehagen störte seine konzentrierte Aufmerksamkeit. Mit den Augen an den Büchern hängend, nahm er mehr und mehr einen schwachen ungewohnten Duft wahr, der ihn an seinen weiblichen Eindringling erinnerte. Schließlich schob er das Buch weg und blickte sich um. Auf dem Fußboden lag ein Taschentuch mit Schmutzflecken, die von der Feuerleiter stammen konnten. Es trug deutlichen Parfümgeruch und den sauber eingestickten Buchstaben »V«.
2 Um zehn Uhr am nächsten Morgen erschien Perry Mason zur Sitzung des State Supreme Court. Nach einem brillanten halbstündigen Plädoyer, das mit Quellenzitaten gespickt war, konnte er das hohe Gericht von seiner Argumentation überzeugen. Hierauf bestätigte der Oberste Gerichtshof die Entscheidung der ersten Instanz zugunsten eines seiner Mandanten. Mason nahm sich ein Taxi und erschien kurz nach elf Uhr in seinem Büro. Della Street, seine Privatsekretärin, sah von ihrem Schreibtisch auf, begrüßte ihn lächelnd und fragte: »Wie sind -1 5 -
Sie herausgekommen, Chef?« »Ganz groß.« »Ich gratuliere.« »Danke.« »Müde sehen Sie aus.« »Ich war fast die ganze Nacht auf«, erklärte Mason. Della Street lächelte. »Was heißt das Lächeln?« »Haben Sie zufällig schon die Zeitung gesehen?« fragte Della. »Ja, die Morgenzeitung und...« »Ich meine die Frühausgabe der Nachmittagszeitung. Vielleicht möchten Sie die Klatschspalte sehen?« »Warum?« Della hob den Zeigefinger und spottete: »Ganz Schlimmes hört man ja von Ihnen.« »Was ist denn?« forschte Mason. Della Street legte ihm eine gefaltete Zeitung auf den Schreibtisch. Auf der Innenseite fand er unter der Klatschspalte einen Absatz angestrichen: »Welcher prominente Rechtsanwalt, dessen Name als Strafverteidiger fast sprichwörtlich ist, mußte in der letzten Nacht vor seinem Bürogebäude eine handgreifliche Abfuhr einstecken? Wer war die geheimnisvolle blonde Furie, die dem erstaunten Anwalt einen Schwinger verpaßte und ihn groggy stehen ließ, während sie in ein Taxi sprang? Es muß sich um eine Person gehandelt haben, die ihn über das übliche Maß hinaus interessierte; denn nur die physische Kraft eines athletischen Zuschauers konnte verhindern, daß der Anwalt über die Straße zum Taxi stürzte und gewaltsam eindrang. Und wonach suchte dieser Anwalt in der Hintergasse? Hatte die Blonde etwas aus seinem Bürofenster geworfen? Dabei schien -1 6 -
die Dame so sympathisch. Dieser gutaussehende Rechtsanwalt ist der geheime Herzenskummer vieler sehnsuchtsvoller Debütantinnen, die sein Interesse ebenso fesseln möchten, wie die Juristerei es tut. Aber eine junge Frau dieser Stadt hat ihr Mißfallen nachdrücklich geäußert. Aber, aber, Mr. M.!« Masons Gesicht hatte sich während des Lesens verfinstert. »Verdammter Schnüffler!« schimpfte er. »Warum müssen Zeitungen eigentlich Leute beschäftigen, die in der Gosse wühlen?« »Und in Hintergassen«, fügte Della hinzu. »Allerdings. Zum Teufel, wie mag der zu dieser Information gekommen sein?« »Sie vergessen, daß Sie mittlerweile ziemlich bekannt sind«, sagte Della Street. »Wer war denn der fremde Athlet?« »Ein dicker Fettwanst war’s, und ich hätte ihm die Nase einschlagen sollen. Irgend so ein Kerl, der vor den Frauen angeben wollte, die er bei sich hatte. Er griff mich am Jackett, als ich vorbeiging, und verschaffte dem Mädchen damit genau die nötige Zeit, um sich aus dem Staub zu machen.« »Wer war denn Ihre Freundin?« »Virginia Colfax nannte sie sich«, sagte Mason. »Nach der Wahrscheinlichkeitsrechnung spräche bei hundert Millionen Fällen vielleicht ein einziger dafür, daß Colfax tatsächlich ihr Nachname war. Ich habe aber so eine Ahnung, daß Virginia stimmen könnte.« Etwas gequält lächelnd, berichtete er Della Street von der Büroinvasion der vorherigen Nacht. »Was wollte sie denn?« »Weg wollte sie. Und ich hätte gleich die Polizei rufen sollen.« Della zog erstaunt die Augenbrauen hoch. »Die Polizei?« -1 7 -
»Na ja, ich gebe zu, es hätte etwas sonderbar ausgesehen.« Mason mußte plötzlich lachen. »Sie war nämlich ein raffiniertes kleines Biest und hat mich tatsächlich verschaukelt. Ich wollte sie zum Parkplatz bringen, damit sie mir ihren Wagen zeigte.« »Und dann schaukelte sie etwas?« »Es erhob sich etwas, Della, ganz unerwartet - ihre rechte Hand.« »Warum denn?« »Sie war schlau genug, um zu wissen, daß Zuschauer immer die Partei einer Frau ergreifen, wenn sie auf der Flucht ist. Offenbar war ihr bekannt, daß vor unserem Bürogebäude für gewöhnlich ein Taxi steht. Und sie rechnete damit, daß Leute auf der Straße sein würden... Wie die Dinge lagen, hatte sie sämtliche Chancen, ich dagegen überhaupt keine.« »Ich fürchte«, sagte Della Street, »es ist gefährlich, Sie hier oben im Büro allein zu lassen. Wie ich Ihnen ja sagte, wäre ich gestern abend gern gekommen, um mit Ihnen zu arbeiten.« »Ich wollte Sie nicht bemühen«, erwiderte Mason. »Es wurde auch ziemlich spät. Na ja, jedenfalls war es ein Abenteuer.« Er öffnete die linke untere Schreibtischschublade und zog das von Virginia Colfax zurückgelassene Taschentuch hervor. »Was halten Sie davon, Della?« Della Street betrachtete das Stoffquadrat. »Dreckig«, stellte sie fest. Mason nickte. »Sie wischte sich die Schmiere der Feuerleiter damit von den Händen. Wonach riecht es, Della?« Eine Ecke zwischen Daumen und Zeigefinger klemmend, hob Della das Tuch mißtrauisch hoch. »Oha«, sagte sie, »Ihre Besucherin benutzt teures Parfüm.« »Welches?« »›Kapitulation‹ von Ciro, glaube ich.« -1 8 -
»Ich werde mich daran erinnern. Und was gibt’s im Büro Neues, Della?« »Draußen wartet ein Mr. Garvin«, berichtete sie. »Er will Sie dringend sprechen, hat sein Büro hier bei uns im Haus, auf der Etage über uns. Es ist die Garvin Mining, Exploration...« »Ja, ja, ich weiß«, sagte Mason, »die Garvin Mining, Exploration and Development Company.« »Haben Sie die Firma schon mal unten auf der Tafel bemerkt?« »Virginia Colfax«, erklärte Mason, »arbeitet angeblich als Sekretärin bei dieser Gesellschaft. Also holen Sie Mr. Garvin herein. Wir wollen mal sehen, wie der sich anstellt. Möglicherweise ist er der andere Punkt eines Dreiecks.« »Ein gutgerundeter Punkt ist er jedenfalls«, lachte Della. »Dick?« »Wohlgenährt.« »Wie alt?« »Um die Vierzig. Trägt Maßanzug, ist manikürt. Wahrscheinlich gewöhnt, alles zu kriegen, was er will.« »Aha«, sagte Mason. »Dann entspricht seine äußere Erscheinung offenbar dem ersten Punkt im Dreieck. Der zweite könnte eine eifersüchtige Ehefrau sein, der dritte ein blondes Gift mit schwelenden schiefergrauen Augen und einer - na, Sie wissen ja...« »Imposanten Figur ist wohl das Klischee, nach dem Sie suchen«, ergänzte Della, während sie zur Vorzimmertür ging. »Ich bringe Ihnen jetzt Mr. Garvin.« Demonstrativ blickte Garvin auf seine Uhr, als er das Büro betrat. »Glaubte schon, Sie würden überhaupt nicht mehr kommen, Mason«, begann er. »Ich warte scho n zwanzig Minuten. Dabei macht mich Warten immer nervös.« »So scheint es«, sagte Mason trocken. -1 9 -
»Ich rede nicht von diesem Anlaß hier«, entgegnete Garvin, »ich meine es ganz allgemein. Oft sah ich Sie schon kommen und gehen, Mr. Mason, glaubte aber nie, daß ich mal Gelegenheit haben würde, Sie zu konsultieren.« »Nehmen Sie Platz«, forderte Mason ihn auf. »Was kann ich für Sie tun?« Garvin warf einen raschen Blick auf Della Street. »Sie bleibt hier«, erklärte Mason. »Es handelt sich aber um eine heikle Angelegenheit.« »Derlei ist meine Spezialität.« »Also, ich habe kürzlich eine wunderbare junge Frau geheiratet, Mason. Ich - na, es ist wichtig, daß mit dieser Ehe nichts passiert.« »Und warum sollte Ihrer Ehe etwas zustoßen?« »Es gibt - Komplikationen.« »Erzählen Sie mir mehr. Wie lange sind Sie verheiratet?« »Seit sechs Wochen«, sagte Garvin in leicht aggressivem Ton. »Ihre zweite Ehe?« forschte Mason. »Da liegt der Haken.« »Nun, dann klären Sie mich bitte auf.« Garvin machte es sich im Mandantensessel bequem, nachdem er sein zweireihiges Jackett aufgeknöpft hatte. »Mason«, fragte er, »wie gut sind mexikanische Scheidungen?« »Sie haben einen gewissen Wert«, antwortete Mason. »Es kommt auf die jeweilige Rechtsprechung an.« »Welchen Wert?« »Na, einen gewissen psychologischen.« »Was heißt das?« »Rein technisch«, erklärte Mason ihm, »können unsere Behörden Schwierigkeiten machen, wenn jemand sich in -2 0 -
Mexiko scheiden ließ und wieder heiratet. Praktisch unternehmen sie jedoch nicht viel, wenn sich herausstellt, daß gutgläubig gehandelt wurde. Täten sie es, hätten sie nicht genug Gefängnisse für alle Bigamisten. Und wenn der Staat sich schließlich die Umstände und Kosten einer Verurteilung gemacht hat, gewährt der Berufungsrichter für gewöhnlich Strafaussetzung.« »Dann sind sie also in Ordnung, diese Ehescheidungen?« »In gewisser Weise«, sagte Mason lächelnd. »Wenn Sie allerdings eine exakte Ansicht hören wollen, bedarf es eingehender Prüfung. Obwohl es nicht allgemein bekannt ist, will die mexikanische Regierung ihre Gerichte nicht zu Tummelplätzen unserer Familienstreitigkeiten machen. Es wurde viel getan, um schwierige Verhältnisse zu klären. Unsere Gerichte sind jedoch rechtlich nicht verpflichtet, die Gültigkeit mexikanischer Scheidungen anzuerkennen.« »Zum Teufel«, schimpfte Garvin, »dann sitze ich wahrscheinlich in der Tinte.« »Ich denke, Sie fangen lieber ganz von vorn an und erzählen mir, um was es sich da handelt«, schlug Mason vor. »Vor zehn Jahren heiratete ich ein Mädchen namens Ethel Carter«, berichtete Garvin. »Sie war damals ein sehr reizendes Kind. Ich entsinne mich genau, wie durch und durch hypnotisiert ich von ihr war. Und Hypnose ist das richtige Wort, Mason, ich mache Ihnen da nichts vor. Wie sich herausstellte, war sie eine kalte, intelligente, berechnende... Nun, ich spreche das Wort, das mir dazu einfällt, ungern in Gegenwart einer Dame aus.« Garvin machte eine kleine Verbeugung in Richtung auf Della Streets Schreibtisch. »Liebe entwickelt das Beste im Menschen«, sagte Mason. »Wenn die Liebe vergeht, ist häufig auch das Beste vergangen. Vielleicht lagen die Schwierigkeiten auf beiden Seiten.« »Nun, vielleicht«, gab Garvin zu, »die schwache Möglichkeit -2 1 -
besteht. Sie müssen aber wissen, Mason, daß Ethel sich zu einem Alptraum entwickelt hat.« »In welcher Hinsicht?« »In jeder. Sie ist - sie ist eine gefährliche Katze. ›Es raset nicht die Höll’ gleich einer Frau, die Schmach erfuhr‹, wie man zu sagen pflegt.« »Wann haben Sie sich getrennt?« »Ich glaube nicht, daß die Trennung so viel damit zu tun hat«, sagte Garvin. »Es stellte sich erst heraus, als ich wieder heiratete. Sie war wie verrückt vor Wut.« »Wie ist übrigens die äußere Erscheinung Ihrer jetzigen Frau?« fragte Mason mit einem bedeutsamen Blick zu Della Street. »Eine wundervolle Rotblonde ist sie, Mason, mit blauen Augen, denen man direkt bis auf den Grund sehen kann. Sie hat die helle samtweiche Haut dieses rötlichen Typs. Verdammt, sie ist bildschön! Ein Juwel ist sie. Ein Wunder...« »Verstehe schon«, unterbrach Mason, »aber weil wir gerade bei dem Thema Frauen sind : Beschäftigen Sie zufällig in Ihrer Firma ein zwei- bis dreiundzwanzigjähriges Mädchen mit guter Figur, hübsch, gepflegt, schlanke Taille, volle Büste, langbeinig, blond, grauäugig...« »In meiner Firma?« rief Garvin. »Du lieber Himmel, Mason, das klingt ja nach Hollywood-Star!« »Sie ist wirklich hübsch«, bestätigte Mason. Garvin schüttelte den Kopf. »Da wüßte ich keine.« »Ist Ihnen der Name Colfax ein Begriff?« fragte Mason. Garvin überlegte. »Ja. Mit einem Mann namens Colfax hatte ich mal geschäftlich zu tun, irgendein Montangeschäft war das. Viel weiß ich nicht mehr darüber, habe eine Unmenge im Kopf. Aber ich wollte Ihnen ja von meiner ersten Frau erzählen.« »Fahren Sie fort.« -2 2 -
»Wir trennten uns vor etwa einem Jahr. Irgendwie war es merkwürdig mit dieser Trennung. Wir lebten nicht mehr allzu harmonisch miteinander, und ich - na, ich hatte mich anderen Interessen zugewandt, blieb häufig zum Pokern im Klub, ging mit Freunden aus. Aber meine Frau saß nicht etwa zu Hause herum und vertrauerte ihr Leben... Verflixt, Mason, wir hatten gerade angefangen, uns auseinanderzuleben. Offen gesagt, langweilte sie mich, und ich nehme an, das beruhte auf Gegenseitigkeit. Jedenfalls, als wir uns trennten, gab es keine Ressentiments, keine Tränen. Es war eine rein geschäftliche Angelegenheit. Ich überließ ihr eine Mine in Neu-Mexiko, die recht vielversprechend aussah.« »Wurde eine formelle Vermögensregelung getroffen?« fragte Mason. »Ja, da gebe ich zu, einen kleinen Fehler begangen zu haben. Ich traf keine formelle Regelung, aber Ethel war in der Hinsicht immer recht genau gewesen. Wir besprachen die Sache, und ich überließ ihr diese Mine. Wir wollten sehen, wie sie sich entwickelte. Bei genügender Ergiebigkeit wollte Ethel sie als vollständige Vermögensregelung akzeptieren; für den Fall, daß sie weniger einbrachte, sagte ich ihr einen Ausgleich zu.« »Und sie entwickelte sich gut?« »Ich glaube es«, sagte Garvin. »Jedenfalls fuhr Ethel nach Neu-Mexiko, hielt sich eine Zeitlang dort bei der Grube auf und schrieb mir dann, sie ginge nach Nevada, um die Scheidung einzureichen. Später hörte ich - mehr oder weniger von dritter Seite -, die Scheidung sei ausgesprochen.« »Besitzen Sie einen Brief von Ihrer Frau darüber?« »Von einem unserer gemeinsamen Freunde.« »Haben Sie den aufbewahrt und auch den vorherigen Brief Ihrer Frau?« »Leider nicht.« -2 3 -
»Erwirkte sie wirklich ein Scheidungsurteil in Reno?« »Offenbar nicht.« »Erzählen Sie mir den Rest.« »Nun, ich lernte Lorraine Evans kennen.« Garvin lächelte albem. »Ich weiß ga r nicht, wie ich Ihnen das mit Lorrie beschreiben soll, Mason. Es war, als ob die Uhr zurückgestellt wurde. Sie hatte alles, was ich damals bei Ethel zu finden hoffte, als ich sie heiratete. Zum Teufel, ich kann mein großes Glück noch gar nicht fassen.« »Ich weiß, sie ist ein Juwel. Aber jetzt bitte weiter«, drängte Mason. »Also, ich hatte mich um die Scheidungspapiere vorher nicht gekümmert. Nachdem ich aber Lorrie kennengelernt hatte und... Nun, ich wollte eben sicher sein, daß ich frei war. Deshalb schrieb ich nach Reno, wegen Unterlagen über die Scheidung. Offenbar gab es aber keine.« »Und dann?« »Ich hatte natürlich angenommen«, fuhr Garvin besorgt fort, »daß die Scheidung in Reno ausgesprochen wurde, besonders nachdem ich jenen Brief von unserem Freund erhielt.« »Was taten Sie?« »Na, ich - ich sage Ihnen ja, Mason, selbstverständlich handelte ich in der Annahme, ich sei ein freier Mann und...« »Was taten sie?« wiederholte Mason. »Ich war schon ziemlich weit gegangen, als ich feststellte, daß über die Scheidung in Reno Zweifel bestanden... Ich glaubte noch immer, daß sie stattgefunden hatte, gewiß, nur dachte ich, die Akten wären verlorengegangen oder dergleichen.« »Was unternahmen Sie also?« »Ich fuhr nach Mexiko«, sagte Garvin, »und besprach mich mit einem Anwalt dort. Der erklärte mir, ich könnte pro forma meinen Wohnsitz dort nehmen, durch eine Art Vollmacht und -2 4 -
na ja, es hörte sich recht vorteilhaft an. Jedenfalls konnte ich eine mexikanische Scheidung erreichen, und anschließend heiratete ich Lorrie in Mexiko. Alles nach dem Verfahren eines dortigen Anwalts. Er schien sein Geschäft zu verstehen.« »Und was passierte dann?« fragte Mason. »Jetzt habe ich Sorgen wegen Ethel. Sie ist - sie ist plötzlich verbittert und besteht auf Vermögensregelung. Sie will Dinge, die mich absolut ruinieren würden. Sie will - mich!« »Woraus folgt«, sagte Mason, »daß Sie jetzt mit zwei Ehefrauen dasitzen.« Garvin rieb sich das feiste Kinn. »Nun, ich hatte gehofft, dazu würde es nicht kommen, Mason. Ich glaubte, jene mexikanische Scheidung sei in Ordnung. Und das möchte ich gern herausfinden.« »Ich werde Ihre mexikanische Scheidung überprüfen. Wo steckt Ihre erste Frau jetzt?« »Irgendwo hier in der Stadt, ich weiß nur nicht, wo sie wohnt. Sie rief mich aus einer Telefonzelle an und will mir ihre Adresse nicht sagen.« »Hat sie einen Anwalt?« »Sie will die Vermögensregelung selbst in die Hand nehmen, sagte sie.« »Weil sie kein Anwaltshonorar zahlen will?« fragte Mason. »Nein, sie ist so schlau wie zwei Anwälte zusammen Anwesende ausgeschlossen natürlich. Die Frau ist verdammt clever. Sie war meine Sekretärin, bevor ich sie heiratete, und glauben Sie mir, die ist auf Draht, wenn’s sich ums Geschäft dreht; ein raffiniertes Biest.« »In Ordnung«, sagte Mason, »ich will sehen, was ich tun kann. Es wird Sie Geld kosten.« »Damit habe ich gerechnet.« »Übrigens, Ihre jetzige Frau«, fragte Mason, »war sie gestern -2 5 -
abend in Ihrem Büro?« »Im Büro? Meine Frau? Himmel, nein!« »Ich glaubte, da oben Licht gesehen zu haben«, sagte Mason. »Ich sah aus dem Fenster und bemerkte Licht, das auf den oberen Treppenabsatz der Feuerleiter fiel. Ihr Büro liegt doch direkt über meinem?« »Das ist richtig«, gab Garvin zu, »aber Sie können in meinem Büro kein Licht gesehen haben. Es muß im Büro darüber gewesen sein. Bei mir arbeitet abends niemand.« »Verstehe«, sagte Mason. »Nun, ich werde die Sache untersuchen. Diktieren Sie bitte alle Einzelheiten Miss Street hier nebenan im Büro. Geben Sie ihr sämtliche Namen, Adressen, Beschreibungen und was Ihnen sonst einfällt. Und lassen Sie einen Scheck über tausend Dollar Vorschuß da. Wir machen uns dann an die Arbeit.«
3 Es war Mitte des Nachmittags, als Paul Drake in Masons Büro erschien. Mit seinem Schlenkergang wirkte er überaus lässig. »Tag, Perry.« »Wie geht’s, Paul? Du gibst wahrhaftig kein romantisches Bild ab.« »Wieso romantisches Bild?« Mason grinste. »Ich dachte an eine Beschreibung des Detektivberufs, die ich kürzlich hörte. Eine junge Dame war höchst fasziniert vom Glanz deines Berufs, doch war ihre Faszination von einem Schauer begleitet.« »Ach, das meinst du«, sagte Drake gelangweilt und setzte sich in den großen Mandantensessel. »Na, es ist schon ein verdammter Job.« »Was hast du für mich über die Garvin Mining, Exploration and Development Company, Paul?« -2 6 -
Drake zündete sich eine Zigarette an und räkelte sich im Sessel zurecht. »Garvin«, berichtete er, »ist ein ziemlich impulsiver Knabe.« »In welcher Hinsicht?« »Er heiratete seine Sekretärin, eine Ethel Carter. Zuerst ging alles bestens. Große Liebe, bis der Lack anfing zu bröckeln. Und als er ab war, sah Garvin sich anderweitig um.« »Ich weiß«, sagte Mason. »Dann heiratete er Lorraine Evans.« »Dazwischen lagen noch zwei oder drei andere Affären, die ohne Heirat endeten.« »Und was ist mit Ethel Carter Garvin?« »Da wird’s problematisch«, sagte Drake. »Angeblich hat sie sich in Reno scheiden lassen, aber es gibt keine Unterlagen darüber.« »Wie steht es mit der Firma, Paul?« »Sie ist eine Aktiengesellschaft, und zwar eine Art Holdinggesellschaft. Garvins Praktiken liegen hart an der Grenze. Er kauft Minen und schürft. Findet er eine aussichtsreiche, vereinnahmt er sie für die Edward Charles Garvin Company. Das ist eine offene Handelsgesellschaft, die aus Garvin und einem Strohmann besteht. Anschließend wird die Mine mit einem fetten Profit an die Garvin Mining, Exploration and Development Company weitergereicht.« »Wieso?« »Auf die Art macht er Geschäfte.« »Wegen der Einkommensteuer?« »Wie kann ich das wissen? Du bist Anwalt.« »Wenn er zum Aufsichtsrat der Garvin Mining, Exploration and Development Company gehört, ist er kaum in der Lage, Profit zu machen, indem er Objekte an seine eigene Firma verkauft.« -2 7 -
»Da ist er clever«, entgegnete Drake. »Er ist gar nicht mal Mitglied des Aufsichtsrats. Er sagt den Leuten, was sie zu tun haben, ist selbst aber nur Geschäftsführer.« »Und besitzt die Aktienmehrheit?« »Nein. Offenbar hat er die ganze Sache aber unter Kontrolle, und das schafft er durch das Vertrauen einer umfangreichen Zahl von Aktionären. Man kann es sich vorstellen, Perry. Er kauft Grundstücke auf, übernimmt sie in seine Handelsgesellschaft und hält sie so lange, bis durch ihre Entwicklung der Wert ziemlich feststeht. Dann gibt er der Garvin Mining, Exploration and Development Company Gelegenheit, ihm diesen Besitz gewinnbringend abzunehmen. Die Geschäftsführung behält er in der Hand, zahlt sich selbst ein hübsches dickes Gehalt und eine Tantieme auf Gewinnbasis. Der Bursche ist gewitzt genug, die Firma so zu führen, daß für die Aktionäre ein netter Profit abfällt. Solange ein saftiger Gewinn für sie herausspringt, kümmern sie sich nicht viel um die Vorgänge. Jeder Aktionär der Gesellschaft hält Edward Charles Garvin für den scharfsinnigsten aller Manager... So, das war’s, was ich im Augenblick ausfinding machen konnte. Eine Virginia Colfax tauchte da nirgends auf, und ich finde keine Spur von einer Blonden, auf die deine Beschreibung paßt.« »In Ordnung«, sagte Mason. »Zunächst hat es sich nur um einen reinen Ermittlungsauftrag gehandelt. Jetzt aber wird es ein richtiger Job. Garvins erste Frau wohnt irgendwo hier in der Stadt. Du mußt sie auftreiben, beschatten lassen und in Erfahrung bringen, was sie täglich vierundzwanzig Stunden lang treibt.« »Okay«, erwiderte Drake. »Ich weiß nicht, wie lange wir dazu brauchen werden. Es hängt davon ab, ob sie tatsächlich in Deckung bleiben will.« »Wenn du sie hast, laß sie nicht mehr aus den Augen.« »In Ordnung.« -2 8 -
Drake wollte aufstehen, als ihm noch etwas einfiel. Er zog ein gefaltetes Papier aus der Tasche. »Was ist das?« fragte Mason. »Eine Vollmacht für die nächste Hauptversammlung der Garvin Mining, Exploration and Development Company«, erklärte Drake. »Von einem Aktionär.« »Wie, in aller Welt, hast du es geschafft, in dieser kurzen Zeit einen Aktionär ausfindig zu machen?« staunte Mason. »Ach, das ist so eine Sache«, antwortete Drake. »Gehört alles zum Geschäft.« »Es interessiert mich, Paul. Wie hast du’s gemacht?« »Ich habe ein paar Freunde, die am Bergbau interessiert sind. Die rief ich an und fragte nach Garvins Firma. Sie gaben mir recht guten Einblick in die Verhältnisse. Ich bat, mich mit einem der Aktionäre in Kontakt zu bringen, damit ich die Informationen gewissermaßen direkt durch die Hintertür bekam. Einer meiner Freunde kannte einen Mann, der seinerseits mit Garvin bekannt war. Er rief ihn an und stellte fest, daß dieser Mann zu den Aktionären der Gesellschaft gehört.« »Hast du ihn nicht selbst interviewt?« fragte Mason. »Natürlich nicht. Ich ließ ihn durch meinen Freund vorsichtig ausholen. Der Mann wurde redselig, weil eine merkwürdige Sache passiert war. Er hatte sich einige Zeit außerhalb des Staates aufgehalten. Als er zurückkam, fand er unter seiner Post diese Vollmacht für die übermorgen stattfindende Hauptversammlung. Das war ihm unverständlich, denn er hatte bereits vor seiner Abreise eine Vollmacht eingesandt. Zehn Tage vor der Hauptversammlung müssen die Vollmachten nämlich dem Geschäftsführer vorliegen.« Mason entfaltete das Vollmachtsformular, warf einen Blick hinein und sagte mit krauser Stirn: »Das ist ja sonderbar formuliert, Paul.« -2 9 -
»Wieso?« »Diese Vollmacht sieht vor, das Stimmrecht auf E. C. Garvin - Inhaber des Aktienzertifikats Nr. 123 - zu übertragen.« »Na, und was soll daran nicht stimmen?« »Weiß ich nicht«, sagte Mason. »Aber für gewöhnlich wird die Vollmacht zugunsten einer bestimmten Person ausgestellt, wobei es nicht erforderlich ist, noch irgendwelche Bezeichnungen hinzuzufügen... Und er hatte schon vorher eine Vollmacht unterschrieben?« »Ja. Er sagte meinem Freund, die zweite habe man ihm wohl irrtümlich geschickt.« »Okay«, sagte Mason, »lassen wir’s auf sich beruhen. Sieh zu, Paul, was du über Garvins erste Frau feststellen kannst.« Drake stand auf. »Du weißt nicht, ob sie in einem Hotel wohnt oder in einem Apartmenthaus?« »Ich habe nicht die geringste Ahnung.« »Weißt du denn etwas über ihre Freunde und Bekannten?« Der Anwalt schüttelte den Kopf. »Du scheinst zu denken, ein Detektiv braucht nur in den Hut zu greifen, und schon hat er ein Kaninchen in der Hand«, klagte Drake. »Du könntest mir wenigstens etwas geben, woran ich mich halten kann.« »Ich kann dir hundert Dollar Vorschuß als Anhaltspunkt geben«, schlug Mason vor. »Okay«, grinste Drake, »sag Della, sie möchte mir einen Scheck vorbeischicken.« Drake durchquerte das Zimmer, öffnete die Tür und ging eilig über den Flur zu seinem eigenen Büro. Mason nahm die Vollmacht wieder vor und studierte sie. »Warum halten Sie die für so wichtig?« fragte Della Street. »Wegen eines bemerkenswerten Zufalls«, erklärte Mason ihr, -3 0 -
während er das Papier faltete und in die Tasche steckte. »Fällt Ihnen auf, daß Edward Charles Garvin und Ethel Carter Garvin genau die gleichen Initialen haben? Nun, und wie Sie sehen, ist diese Vollmacht ausgestellt auf E. C. Garvin, ›Inhaber des Aktienzertifikats 123 der Gesellscha ft, womit alle früheren Vollmachten widerrufen werden‹.« »Sie meinen«, sagte Della Street, »daß...« »Genau«, unterbrach Mason. »Sollte sich herausstellen, daß Ethel Carter Garvin Inhaberin des Zertifikats Nummer 123 ist, dann hat jeder Aktionär, der eine solche zweite Vollmacht unterschrieb, automatisch diejenige widerrufen, die er vorher Edward Charles Garvin gab. Und seine Frau kann mit einem Bündel Vollmachten in die Hauptversammlung gehen, ihren eigenen Aufsichtsrat einsetzen, Edward als Geschäftsführer feuern und alles regeln, wie’s ihr paßt.« »Oho!« rief Della. »Versuchen Sie, Garvin zu erreichen, Della. Wir wollen die Sache klären.« Della Street nickte, sah die Sammlung von Telefonnummern durch, die Garvin ihr gegeben hatte, und wählte. Währenddessen bemühte Mason sich, Ordnung in das Chaos von Gesetzbüchern zu bringen, die sich von seinen nächtlichen Studien noch auf dem Schreibtisch türmten. Zehn Minuten später konnte Della berichten: »Mr. Garvin ist vor der Hauptversammlung nicht zu erreichen. Er verreiste sofort, nachdem er unser Büro verlassen hatte. Seiner Sekretärin sagte er, er wolle sich ein paar Grundstücke ansehen. Wobei ich schätze, es handelt sich um die zweite Rate seiner Hochzeitsreise.« »Verflixt noch mal, er hätte mir auch sagen können, daß er das vorhatte«, schimpfte Mason. »Dann lassen Sie sich den Hauptbuchhalter der Firma geben. Er soll herunterkommen, ich muß ihn sprechen. Sagen Sie ihm, daß wir Garvin vertreten und -3 1 -
ich ihn in einer höchst wichtigen Sache hier im Büro sehen möchte.« »Die wissen bereits, daß Sie Garvin vertreten«, sagte Della Street. »Seine Sekretärin hat den Scheck über tausend Dollar durchgegeben.« »In Ordnung. Dann sprechen Sie jetzt mit dem Hauptbuchhalter, wer immer das ist. Er soll herunterkommen, und zwar fix.« Nach wenigen Minuten nahm Della einen Anruf vom Vorzimmer entgegen und meldete Mason: »Mr. George L. Denby ist da, Chef, der Hauptbuchhalter von oben.« »Führen Sie ihn bitte herein«, sagte Mason. Denby, ein magerer, förmlich auftretender Mensch mit Brille, grauem Haar, lose sitzendem Anzug und kalten Händen, stellte sich Perry Mason vor, gab ihm die Hand und setzte sich. Er zog seine Hose über den Knien hoch, bevor er die Beine kreuzte und Mason anblickte. »Ich vertrete Mr. Garvin«, teilte Mason ihm mit. »Ich hörte davon. Darf ich fragen, ob Sie ihn als Einzelperson vertreten, oder ob er Sie beauftragt hat, die Interessen der Firma wahrzunehmen?« »Ich vertrete Garvin«, wiederholte Mason. »Ich nehme an, er hat verschiedenartige Interessen?« »O ja.« »Von dene n einige bei der Firma liegen?« »Ja.« »Ist Ihre Frage damit beantwortet?« fragte Mason lächelnd. Denbys eiskalte Augen spähten durch die Brille. »Nein«, antwortete er. Mason warf den Kopf zurück und lachte. Auf Denbys Gesicht zeigte sich nicht einmal die Spur eines -3 2 -
Lächelns. »Na gut, ich vertrete ihn als Einzelperson, sagen wir’s so«, fuhr Mason fort. »Und jetzt habe ich etwas erfahren, das mich beunruhigt.« »Was ist es, Mr. Mason?« »Wer ist der Inhaber des Zertifikats Nr. 123 Ihrer Aktiengesellschaft?« »Das kann ich Ihnen bestimmt nicht so aus dem Stegreif sagen, Mr. Mason.« »Wann ist die Hauptversammlung Ihrer Aktionäre?« »Übermorgen.« »Um welche Zeit?« »Zwei Uhr.« »Ist es eine reguläre Jahresversammlung?« »Ja.« »Was besagen die Satzungen über das Stimmrecht in Stellvertretung?« »Mr. Mason, das kann ich wirklich nicht ohne weiteres beantworten. Ich glaube, sie entsprechen den staatlichen Gesetzen.« »Garvin besitzt viele Geschäftsanteile?« »Ich glaube, ja.« »Wie viele?« »Ich bin leider nicht befugt, über geschäftliche Angelegenheiten der Firma zu sprechen, Mr. Mason - unter den gegebenen Umständen.« »Verstehe«, sagte Mason. »Dann gehen Sie bitte in Ihr Büro hinauf und prüfen Sie Ihre Akten. Stellen Sie fest, wie viele Vollmachten zum Stimmrecht für E. C. Garvin eingegangen sind.« »Ja, gewiß, Mr. Mason. Das will ich gern nachsehen.« -3 3 -
»Und dann lassen Sie es mich wissen.« »Das ist leider etwas völlig anderes, Mr. Mason, und betrifft unsere Firma ebenso wie Mr. Garvin. Ich würde dazu die ausdrückliche Genehmigung eines Vorstandsmitglieds brauchen.« »Dann beschaffen Sie sich diese Genehmigung.« »Das wird nicht einfach sein.« »Ich will nicht wissen, ob es einfach ist; ich habe Sie gebeten, die Genehmigung einzuholen. Es liegt im Interesse der Firma.« »Hier werden aber vertrauliche Informationen verlangt«, sagte Denby. »Selbst Mr. Garvin - nun, Mr. Garvin ist gar nicht Vorstandsmitglied unserer Gesellschaft, Mr. Mason.« »Wer ist der Präsident?« »Frank C. Livesey.« »Ist er zur Zeit oben im Büro?« »Nein. Er war vorhin da, ist aber weggegangen.« »Rufen Sie ihn an«, sagte Mason. »Berichten Sie ihm, was los ist. Empfehlen Sie ihm, sich möglichst sofort mit mir in Verbindung zu setzen.« »Ja, Sir.« »Steht er im Telefonbuch?« »Ich glaube, ja.« »Sehen Sie zu, was Sie ausrichten können«, sagte Mason. »Selbstverständlich.« Denby erhob sich. »Ich bin sicher, Sie verstehen meine Lage, Mr. Mason. Natürlich sehe ich ein, daß...« »Schon in Ordnung«, unterbrach Mason. »Unternehmen Sie sofort etwas, und geben Sie mir Auskunft, soweit es Ihnen möglich ist.« Als Denby das Büro verlassen hatte, nickte Mason Della Street zu. »Suchen Sie Frank C. Livesey im Telefonbuch und...« -3 4 -
»Habe ich schon getan«, lächelte Della Street. »Sowie er den Namen erwähnte, habe ich nachgesehen.« »Steht er drin?« »Ja.« »Versuchen Sie, ihn zu erreichen.« Della Street ließ die Wählscheibe wirbeln. »Hallo... Hallo?« fragte sie. »Spricht dort Mr. Frank C. Livesey? Moment bitte, Mr. Livesey, Mr. Mason möchte Sie sprechen. Mr. Perry Mason, der Anwalt.« Mason nahm den Hörer. »Hallo. Mr. Livesey?« Am anderen Ende ertönte eine vorsichtige Stimme: »Hier ist Mr. Frank C. Livesey.« »Sind Sie Präsident der Garvin Mining, Exploration and Development Company?« »Ja, Mr. Mason. Darf ich mich nach dem Grund Ihrer Nachfrage erkundigen?« »Es geht um etwas, das sich auf Ihre Gesellschaft auswirken könnte«, erklärte Mason. »Ich vertrete Mr. Garvins Interessen. Als ich mich bei Ihrem Hauptbuchhalter Denby um Informationen bemühte, stieß ich auf Schwierigkeiten.« Livesey lachte. »Das war vorauszusehen.« »Heißt das, er ist gegen Garvin eingestellt?« fragte Mason unverblümt. »Es heißt, daß er ein Pedant ist, was Formalitäten und Bürokratismus angeht«, erwiderte Livesey. »Aber was gibt’s denn, Mr. Mason?« »Ich möchte am Telefon nicht darüber sprechen.« »Gut, ich komme sofort in Ihr Büro.« »Tun Sie das«, sagte Mason und legte auf.
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4 Frank C. Livesey war ein untersetzter, jovialer Mann mit kurzem rotem Schnurrbart, Basedowaugen und teilweise kahlem Kugelkopf. Der stramme Sitz seines Anzugs ließ auf Gewichtszunahme schließen. Er war um die Vierzig, und seine Augen strahlten Beifall aus, als sie Della Street streiften. »Nun, Mr. Mason?« fragte er mit Herzlichkeit im Ton, wobei seine Augen an Della hingen. Er näherte sich mit ausgestreckter Hand, ergriff Masons Rechte und quetschte sie kraftvoll. »Tut mir leid, daß ich Sie warten ließ, Mason, wirklich. Ich wollte aber einiges überprüfen, bevor ich herunterkam, um mit Ihnen zu reden. Offen gesagt, Mason, ich stehe vor einer unglaublichen Situation.« »Inwiefern?« fragte Mason. »Es ist unglaublich, absolut unglaublich. Übelste Dinge haben sich herausgestellt.« »Erzählen Sie.« »Ja, also der Aufbau der Garvin Mining, Exploration and Development Company ist etwas eigenartig, Mason. Ich kann jetzt nicht ins einzelne gehen, auf jeden Fall ist aber Garvin die Hauptfigur. Aus juristischen Gründen hält er sich indessen gern im Hintergrund. Auf Anraten unseres Rechtsanwalts ist er nicht Mitglied des Aufsichtsrats und kann nicht gewählt werden. Auf Grund gewisser Übereinkommen mit einem Geschäftspartner ist seine Einflußnahme insoweit völlig in Ordnung, solange er nur Aktionär ist. Sie könnte aber in Frage gestellt werden, wenn er zum Aufsichtsrat gehörte.« Mason nickte. »Aber Sie verstehen die Lage natürlich«, fuhr Livesey fort. »Wir alle stehen hinter Garvin. In Wirklichkeit sind wir - na ja, ich kann sagen, wir sind Strohmänner für Garvin... Nein, so -3 6 -
sollte ich es wohl nicht ausdrücken. Aber schließlich sind Sie Garvins Anwalt, Mason, und Ihnen kann man nichts vormachen.« »Ich muß annehmen«, sagte Mason, »daß Sie nach unserem Telefonat Ihren Besuch bei mir noch ein wenig hinausschoben, um vorher mit Mr. Denby zu reden?« »So ist es«, bestätigte Livesey. »Letzten Endes sind Sie ja ein vielbeschäftigter Mann. Es hat wenig Sinn, Ihre Zeit in Anspruch zu nehmen, wenn man nicht weiß, wovon man spricht. Ich wollte das vorher feststellen.« »Haben Sie also etwas festgestellt?« »In der Tat. Diese Frau! Diese Ethel Garvin! Eine durchtriebene Person ist das, Mason. Mit allen Wassern gewaschen.« »Was hat sie angestellt?« »Also, wir versandten Vollmachtsvordrucke für das Stimmrecht in der Hauptversammlung, ausgestellt auf E. C. Garvin, in der üblichen Form. Und der Teufel soll mich holen, wenn sie nicht ebenfalls Vollmachten verschickte, und zwar für ›E. C. Garvin, Inhaber des Aktienzertifikats 123‹. Nun, Sie haben richtig getippt, Mason: Die Aktie Nr. 123 wurde vor vier Jahren an Ethel Garvin ausgegeben, als sie und Ed noch in schönster Eintracht lebten.« »Was geschah mit den Originalvollmachten?« fragte Mason. »Die sind alle völlig in Ordnung«, sagte Livesey, »und in alphabetischer Reihenfolge fein säuberlich abgelegt. Sie haben Denby ja kennengelernt und können sich einen Begriff machen, wie er dabei vorgeht.« Livesey lachte. »Mir scheint aber, irgend jemand müßte die Lage doch durchschaut haben, als jene anderen Vollmachten nach und nach eingingen«, gab Mason zu bedenken. »Natürlich muß Denby gewußt haben, daß er sie nicht abgesandt hatte. Und wenn eine -3 7 -
dieser neuen Vollmachten einging, ausgestellt für ›E. C. Garvin, Inhaber des Zertifikats 123‹, dann sollte man ja annehmen, daß er die Sache prüfen würde.« »Sollte man natürlich«, gab Livesey zu. »Das Merkwürdige dabei ist aber, daß Denby nicht weiß, wann diese Vollmachten eingingen. Sie existieren tatsächlich und sind ordnungsgemäß unterzeichnet; sie sind abgeheftet, alles in vorbildlicher Ordnung. Aber sie müssen alle gleichzeitig eingegangen sein, worauf irgendein Kontorist sie ablegte. Denby schwört, sie seien ihm nie auf den Schreibtisch gekommen. Er sagt, dann wären sie ihm aufgefallen.« »Und übermorgen findet die Hauptversammlung statt?« »Ganz recht. Ich sage Ihnen offen, Mason, es wird einen Riesenklamauk geben. Garvin ist nicht aufzutreiben. Der macht die zweite Hochzeitsreise und ist voll beschäftigt. Niemand soll wissen, wo er ist. Er will nicht durch Geschäfte gestört werden. Und dabei droht ihm der Verlust seiner gesamten Firma! Ich mache mir Sorgen, ich habe sogar Angst.« »Was wird geschehen, falls Ethel Garvin entscheidenden Einfluß erlangt?« »Was geschehen wird? Du lieber Himmel, sie wird die Bücher prüfen lassen! Sie wird dies und das und jenes durchschnüffeln. Sie wird ihren eigenen Aufsichtsrat zusammenstellen, die Garvin-Handelsgesellschaft wegen Betrugs verklagen, weil ein paar Geschäfte nicht so gut geklappt haben. Sie wird das Finanzamt in gewisse Dinge einweihen, die wir für uns behalten haben. Sie würde den ganzen Laden ruinieren, das Kartenhaus zum Einsturz bringen!« »Hat Denby in der Registratur nachgeforscht, wer die neuen Vollmachten ablegte?« »Na, er versucht, das heimlich auszuspionieren. Vom Personal soll niemand merken, daß etwas nicht stimmt. Er stellt vorsichtige Fragen und...« Auf Masons Schreibtisch schrillte das Telefon mit der Geheimnummer, die nur Della Street und Paul Drake bekannt war. -3 8 -
Mason nahm den Hörer ab und hörte Drakes Stimme: »Entschuldige, daß ich die Notnummer genommen habe, Perry, aber ich glaube, du mußt es sofort erfahren: Ich weiß Ethel Garvins Aufenthalt.« »Wie hast du das so schnell ge schafft, Paul?« »Indem ich einfach meinen Kopf und das Telefon benutzte«, sagte Drake gleichmütig. »Ich besitze alle möglichen Informationsquellen, zum Beispiel Mitgliedslisten der bedeutendsten Frauenklubs. Als sie bei Garvin lebte, gehörte sie einem bekannten Literaturzirkel an. Ich rief alle Mitglieder auf meiner Liste an und fragte, wie ich Mrs. Ethel Garvin erreichen könnte, und zwar wegen eines seltenen Buches, das sie gesucht hätte. Schon bei der zweiten Dame hatte ich Glück. Sie sagte, Mrs. Garvin sei eine Zeitlang nicht hier gewesen, sie sei ihr aber neulich zufällig auf der Straße begegnet und habe erzählt, sie wohne in den Monolith Apartments. Ich forschte von dort aus weiter, fand ihren Friseur und hörte mir ein bißchen Klatsch an.« »Verflixt«, sagte Mason, »immer wenn du mir berichtest, wie du das alles machst, klingt es so simpel, daß es mir um mein Geld leid tut.« »Du kannst ruhig weiterzahlen. Was soll ich sonst noch tun, Perry?« »Sie vierundzwanzig Stunden am Tag beschatten.« Mason spähte aus dem Augenwinkel zu Frank Livesey hinüber, der jetzt vorgebeugt im Stuhl saß, ein Ohr zum Telefon gewandt. »Habe ich bei solch einem Verkehrsunfall mal einen Zeugen entdeckt«, fuhr Mason zwanglos fort, »lasse ich ihn nicht mehr aus den Augen. Wahrscheinlich kann sie als einzige aussagen, welcher Wagen zuerst an der Kreuzung war. Ich brauche noch eine schriftliche Erklärung von ihr.« Einen Augenblick herrschte Schweigen am anderen Ende der Leitung, dann fragte Drake: »Hast du einen Mandanten im Büro, der zuhört, Perry?« »So ist es«, sagte Mason. -3 9 -
»Ich nehme an, das mit dem Schatten für vierundzwanzig Stunden täglich soll gelten, und der Rest war Tarnung?« »Richtig.« »Okay«, sagte Drake, »wird gemacht.« Mason legte auf. »Entschuldigen Sie«, wandte er sich an Livesey, »aber das war ein wichtiger Anruf in einem Fall, bei dem es zwei Verletzte gab... Also, kommen wir zurück auf unsere Sache. Sie meinen, es gibt ein paar dunkle Punkte bei der Garvin Company?« »Na ja«, erwiderte Livesey vorsichtig, »ich werde in Ed Garvins Abwesenheit nach bestem Wissen zu entscheiden versuchen, Mr. Mason. Nehmen wir jetzt an, daß ich Ihnen genug erzählt habe. An sich, Mason, habe ich Ihnen schon viel zuviel erzählt.« »Sie sind weitgehend am Kapital der Firma beteiligt?« fragte Mason. Livesey grinste. »Täuschen Sie sich nicht über mich, Mason. Ich besitze eine einzige Aktie der Gesellschaft; gerade ausreichend, um Mitglied des Aufsichtsrats und dessen Vorsitzender zu sein.« Mit einem Lächeln setzte er hinzu: »Das Gehalt ist gut, und me ine geschäftlichen Obliegenheiten bestehen zum größten Teil darin, meinen Namen zu schreiben und für die Unterhaltung wichtiger Besucher zu sorgen.« »Sie haben nicht zufällig unter Ihren Stenotypistinnen ein Mädchen namens Colfax, oder?« »Meine Güte, Mr. Mason, das kann ich nicht sagen. Ich glaube aber nicht. Wir beschäftigen ein paar Mädchen, nicht allzu viele.« »Diese ist zwei- bis dreiundzwanzig, langbeinig, schlank, schmalhüftig, hat volle Brüste, schiefergraue Augen, hübsches blondes Haar und...« »Halt!« stöhnte Livesey. »Ich ertrag’s nicht. Das ist zuviel. Es bricht mir das Herz.« -4 0 -
»Sie kennen sie?« fragte Mason. »Unsinn, nein. Aber ich wünschte wahrhaftig, es wäre so. Wenn Sie die suchen, beteiligen Sie mich daran, ja, Mason?« Livesey lachte spitzbübis ch und zupfte an seinem roten Bürstenschnurrbart. »Wenn Sie viel für Geselligkeit sorgen müssen, besitzen Sie vielleicht eine Liste junger Damen, die als Partnerinnen zur Verfügung stehen«, sagte Mason. Livesey kicherte. »Sie scheinen allerlei von der Branche zu verstehen, Mr. Mason.« »Und vielleicht stehen Name und Adresse dieses Mädchens in Ihrem kleinen schwarzen Notizbuch. Vielleicht ist sie als Tischoder Tanzpartnerin greifbar?« »Möglich.« »Aber Sie entsinnen sich nicht?« »Könnte ich’s nur.« »Würden Sie mir Bescheid geben, falls Sie sich später an sie erinnern?« »Selbstverständlich, Mason. Ganz sicher werde ich das.« »Und was haben Sie bezüglich dieser Vollmachten vor?« fragte Mason. »Ehrlich, Mason, ich habe noch keine Ahnung. Mir scheint, man muß mit völlig offenem Spiel bei dieser Jahresversammlung rechnen. Ich sage Ihnen, mir ist schleierhaft, was ich dabei tun soll.« »Falls Sie irgendwie Verbindung mit Garvin aufnehmen können, fangen Sie am besten von der Seite an«, empfahl Mason. Livesey blickte finster. »Und inzwischen«, fuhr Mason fort, »sollten Sie in Ihrem Betrieb gründliche Ermittlungen darüber anstellen, wer die -4 1 -
neuen Vollmachten abgeheftet hat.« »Ich gäbe viel darum, das herauszukriegen«, sagte Livesey. »Es sieht so aus, als wenn uns da einer in den Rücken gefallen wäre.« »Ich wünschte, Sie würden Ihren gesamten Betrieb überprüfen und feststellen, ob jemand gestern abend gegen elf Uhr gearbeitet hat. Fragen Sie, ob irgend jemand im Büro war.« »Das werde ich tun.« »Und dann lassen Sie es mich wissen«, sagte Mason, wobei er durch sein Aufstehen andeutete, daß er das Interview für beendet hielt. »Okay, besten Dank.« Livesey hievte sich aus dem großen Sessel hoch und schien nur widerstrebend zu gehen. Auf dem Weg zur Tür zögerte er zweimal, als wollte er umkehren und das Gespräch wiederaufnehmen. Schließlich drehte er sich an der Schwelle lächelnd um, verbeugte sich und begegnete Della Streets Blick. Er widmete ihr noch ein spezielles Lächeln und trat rückwärts hinaus auf den Flur. Della Street wartete mit ihrer kleinen Grimasse, bis sich die Tür geschlossen hatte. Mason schmunzelte, nahm das Telefon ab und wählte Paul Drakes Nummer. Als der Detektiv sich meldete, sagte er: »Hier kommt ein weiterer Job für dich, Paul. Dieser alberne Mandant von uns scheint den Zeitpunkt für geeignet gehalten zu haben, sich aus dem Verkehr zu ziehen. Sehr weit kann er nicht sein, denn er muß die Absicht haben, übermorgen auf der Hauptversammlung der Aktionäre zu erscheinen. Er ist aber mit seiner neuen Frau unterwegs und setzt die Hochzeitsreise fort. Ich brauche ihn. Du mußt herausfinden, was für einen Wagen er fährt, welche Orte er bevorzugt, wieviel Gepäck er bei sich hat und - zum Teufel, finde ihn, Schluß, aus.« »In Ordnung«, antwortete Drake gelangweilt. »Mir scheint das zwar ziemlich blödsinnig, für diesen Kerl gutes Geld -4 2 -
auszugeben; aber das ist nicht mein Bier.« »Und gib mir sofort Nachricht, ganz egal zu welcher Tagesoder Nachtzeit«, sagte Mason. »Okay, du hörst von mir.« Drake legte auf.
5 Perry Mason parkte vor den Monolith Apartments, einem Klinkereckgebäude in betont einfachem Stil. Paul Drakes Detektiv, der auf der anderen Straßenseite im Auto Wache hielt, schien ein recht sorgenvoller Mann zu sein. Er studierte die Kleinanzeigen der Zeitung und blickte nicht einmal hoch, als Mason den Gehweg überquerte und das Apartmenthaus betrat. Der Pförtner in der Anmeldung betrachtete Mason mit höflicher Neugier, doch ohne jede Freundlichkeit. »Zu Mrs. Ethel Garvin«, sagte Mason. »Werden Sie von ihr erwartet?« »Sagen Sie ihr, es handle sich um eine Vollmacht.« »Ihr Name?« »Mason.« Herablassend stöpselte der Mann eine Verbindung am Klappenschrank und schien diese Arbeit für entschieden unter seiner Würde zu halten. Er wartete einen Moment und meldete dann: »Da ist ein Mr. Mason, der Sie wegen einer Vollmacht sprechen will, Mrs. Garvin... Nein, er hat sonst nichts gesagt... Soll ich ihn fragen?... Gut. Sie können rauffahren«, wandte er sich an Mason, während er die Verbindung trennte. »Zimmer 624.« »Danke«, sagte Mason. Er betrat den Lift und stellte fest, daß dieser tagsüber von einem Fahrstuhlführer bedient und nachts auf Selbstbedienung umgeschaltet werden konnte. »Sechs bitte«, sagte er und wartete. -4 3 -
Die Frau im Lift, unförmig, mit schlaffen Muskeln und müdem Gesicht, legte ihre Zeitschrift nieder und blickte erwartungsvoll den Flur entlang, ob weitere Kunden kämen, bevor sie die Tür schloß. Sie saß auf einem Klappstuhl, über den sie auf beiden Seiten hinausquoll. Ihre ganze Haltung drückte Erschöpfung aus. »Zum sechsten Stock«, wiederholte Mason. Die Frau antwortete nicht, sondern beugte sich vor, um noch einmal in den Flur zu spähen. Dann schloß sie endlich die Tür, und der Korb surrte aufwärts. Die Fahrstuhlführerin öffnete, nahm sogleich die Zeitschrift wieder auf, suchte die Stelle in ihrer Geschichte und wartete auf den nächsten Ruf. Als Mason ausstieg und sich nach links wandte, rief der Summer den Fahrstuhl zum Erdgeschoß. Die Frau blickte hoch zum Signal. Sie las noch einige Zeilen weiter, bevor sie die Tür schloß, um den Korb abwärts zu befördern. Mason folgte den Nummern im Korridor, bis er zu 624 kam. Auf sein Klopfen öffnete eine Frau, die in den Dreißigern sein mochte. Sie trug ein hautenges schwarzes Kleid. Ihr Lächeln war wohlwollend. »Mr. Mason?« fragte sie mit melodischer, warmer Stimme. »Ja.« »Ich bin Mrs. Garvin. Sie wollten mich wegen einer Vollmacht sprechen, Mr. Mason?« Gewinnende Freundlichkeit lag jetzt in ihrem Lächeln. »Ja«, sagte Mason, »wegen einer Vollmacht zur Stimmrechtsausübung in der Garvin Mining, Exploration and Development Company.« »Wollen Sie nicht näher treten?« »Danke.« Mason trat ein. Leise schloß sie die Tür hinter ihm und sagte: -4 4 -
»Nehmen Sie doch Platz, Mr. Mason.« Obwohl ihre Figur nicht mehr die Formen der ersten Jugend aufwies, hatte sie sich die ausgewogene Schlankheit bewahrt, die von strikter Diät zeugt. Aus ihrem Gesicht, ihren Augen sprachen Gelassenheit und Selbstbeherrschung einer Frau, die ihr Leben mit größter Sorgfalt geordnet hat und alle Maßnahmen nach vorgefaßtem Plan trifft. Mason setzte sich neben das Fenster. Mrs. Garvin musterte ihn mit einem raschen abschätzenden Blick und nahm gegenüber Platz. Sie kreuzte die Beine, lehnte sich im großen Sofa zurück. »Was ist nun mit der Vollmacht, Mr. Mason?« fragte sie. »War Ihnen etwas daran unklar?« »Die Bezeichnung der Person unterschied sich im Wortlaut ein wenig von früheren Vollmachten, nicht wahr?« Sie warf den Kopf in den Nacken und lachte. Mason wartete schweigend auf Antwort. Mrs. Garvins Lachen verwandelte sich in ein schelmisches, aufreizendes Lächeln. »Du lieber Himmel, Mr. Mason, haben Sie sich wirklich die Mühe gemacht, hier herauszukommen, um mit mir über diese unglückliche Formulierung zu sprechen?« »Ja«, bestätigte Mason. »Das hätten Sie doch nicht zu tun brauchen«, sagte sie, und nach ihrem Tonfall war fast mit dem Zusatz »Sie Dummerchen« zu rechnen. Sie veränderte ihre Haltung, legte den rechten Arm auf die Sofarücklehne. »Wirklich, Mr. Mason«, betonte sie noch einmal und lachte wieder. Mason wartete schweige nd. »Es muß ja auch schwierig für Sie gewesen sein, mich überhaupt zu finden«, fuhr sie fort. »Sagen Sie, wie haben Sie das angefangen?« »Ich habe einen Detektiv beauftragt«, erwiderte er beiläufig. Das scheuchte sie auf. »Sie taten - was?« -4 5 -
»Ich beauftragt e einen Detektiv, Sie ausfindig zu machen«, wiederholte Mason. »Du lieber Himmel, warum denn?« »Weil ich es für wichtig hielt.« »Und aus welchem Grund?« »Was hatten Sie eigentlich vor mit diesen Vollmachten, Mrs. Garvin?« fragte Mason. »Wollten Sie separaten Einfluß auf die Firma nehmen - ohne Ihren früheren Ehemann?« »Meinen jetzigen Ehemann!« korrigierte sie böse. »Pardon, ich glaubte, Sie seien geschieden.« »Wer sind Sie eigentlich?« fragte Ethel Garvin. »Ich bin Anwalt und habe mein Büro in demselben Gebäude wie Ihr Mann.« »Sind Sie - hat er Sie angestellt, um mich aufzusuchen?« ›»Beauftragen‹ nennt man das im Zusammenhang mit einem Anwalt«, belehrte Mason sie. »Na gut, hat er Sie beauftragt?« »Nicht direkt.« »Warum sind Sie dann gekommen?« »Weil ich seine Interessen vertrete.« »Und was wollen Sie?« »In erster Linie möchte ich wissen, was Sie wollen.« »Wie die Dinge liegen, Mr. Mason, sehe ich keinen Grund, diese Frage nicht zu beantworten.« »Na fein.« Mrs. Garvin deutete auf einen holzgeschnitzten Zigarettenkasten. »Möchten Sie rauchen, Mr. Mason?« »Danke.« Mason nahm den Deckel vom Kasten ab und bot ihr von den Zigaretten an. Sie nahm eine, beugte sich dann zu seinem -4 6 -
Streichholz vor. Ihre Augen blickten ruhig abschätzend zu ihm auf, während er das Feuer an ihre Zigarette hielt. Er bediente sich, nahm seinen Platz wieder ein und streckte die langen Beine gekreuzt vor sich aus. »Nun?« fragte er schließlich. »Lassen Sie uns offen sein, Mr. Mason«, sagte sie. »Ich glaube, Sie werden sich als recht gefährlicher Gegenspieler erweisen.« »Vielen Dank.« »Wie haben Sie mich gefunden?« »Mit Hilfe eines Detektivs, wie ich schon sagte.« »Und wie haben Sie die Sache mit den Vollmachten festgestellt?« »Das steht auf einem anderen Blatt«, erwiderte Mason. Sie tippte mit der Fußspitze auf den Teppich, machte es sich mit graziösen, katzenartigen Bewegungen auf dem Sofa bequem, unterstützt durch ein Kissen. Sie blies eine lange Rauchfahne gegen die Decke und meinte: »Interessant, nicht wahr?« »Sehr«, sagte Mason. »Mein teurer Gatte«, fuhr sie fort, »hat sich ein anderes Weib aufgelesen. Er wollte mich gegen das neue Modell umtauschen, aber es passierte etwas, und er kam mit dem Kündigungsschreiben nicht klar. Ich fürchte, noch bin ich die Seinige, und der Fehler im Status liegt auf Seiten des neuen Modells.« »Also?« fragte Mason. »Also habe ich die Absicht, Mr. Mason, meine Krallen ein wenig zu zeigen - nur ein ganz klein wenig.« »Und was wollen Sie genau?« »Ihn will ich.« »Sie meinen, Sie wollen ihn gesetzlich binden, ob er ma g oder -4 7 -
nicht?« Sie fixierte ihn nachdenklich. »Ich werde Ihnen etwas erzählen, Mr. Mason«, sagte sie. »Bitte.« »Vielleicht deshalb, weil mir Ihr Gesicht recht sympathisch ist, vielleicht, weil ich gerade philosophische Anwandlungen habe. Sind Sie verheiratet?« »Nein.« »Wenn ein Mann eine Frau besitzt«, sagte Mrs. Garvin, »so hat er einen höchst eigenartigen Besitz erworben. Sie ist in gewisser Weise ein seelischer Spiegel, ein Resonanzboden, ein lebendiges Echo seiner Emotionen. Er bekommt genau das zurück, was er gibt. Während der Flitterwochen sieht er sie als Engel, sie ihn als Gott. Alles eitel Bewunderung. Dann, wenn der Glanz sich abnutzt und dem Mann klar wird, daß er einen Arbeitspartner erworben hat, wird ihm auch Arbeitspartnerschaft zuteil.« »Fahren Sie fort«, sagte Mason. Ihre Augen funkelten ein wenig unter halbgeschlossenen Lidern. »Damit beginnt dann manchmal die Unzufriedenheit des Mannes. Er reibt sich an dem Zwang, leichte Unruhe ergreift ihn, denn er hat seine Freiheit verloren. Dann tut er eines von zwei Dingen: er geht ein bißchen auf Abwege, auf die simple, ungeschickte Art, oder er wird zum Nörgler. Auf jeden Fall zeigt er seiner Frau, daß sie aufgehört hat, sein stolzester Besitz zu sein.« »Und dann?« fragte Mason. »Dann zahlt sie ihm alles in gleicher Münze zurück. Ein kluger Mann wird sich gerade so viel Freiheit nehmen, wie er nötig zu haben glaubt; eine kluge Frau sollte ihrem Mann die Freiheit lassen, die er zu seiner Zufriedenheit braucht. Dann wird auch im häuslichen Leben Eintracht herrschen. Mag er sie -4 8 -
auch beschwindeln, mag er dann und wann abschweifen - er wird sie immer als wertvollen Besitz schätzen. Fängt er aber an, sie als Klotz am Bein zu betrachten, kann sie die Tür sehr, sehr hart zuschlagen, Mr. Mason. Sie kann abschließen und den Schlüssel wegwerfen.« »Und was von all dem haben Sie getan?« wollte Mason wissen. »Was ich noch tun werde, Mr. Mason, darum geht es.« »Wie stellen Sie sich die Sache vor?« »Sie sind Anwalt«, sagte Mrs. Garvin. »Sie haben meinen kleinen Trick mit den Stimmrechtsvollmachten entdeckt, nicht wahr, Mr. Mason?«. »Ja.« »Und welche Absichten haben Sie jetzt?« »Im Interesse Ihres Mannes werde ich dafür sorgen, daß alle fälschlich unterschriebenen Vollmachten für ungültig erklärt werden.« »So daß mein Mann anwesend sein wird, um die Hauptversammlung zu leiten, wie gewöhnlich?« »So ist es.« »Ich halte Sie für sehr schlau, Mr. Mason. Sie mögen juristisch gewitzt genug sein, um so vorzugehen. Tun Sie es aber, werde ich mein Ziel auf andere Weise erreichen.« »Und zwar?« fragte Mason. »Vielleicht hören Sie sich folgendes einmal an.« Offensichtlich ohne an ihre Beine zu denken wechselte sie die Pose auf dem Sofa und zog das Telefon heran. »Würden Sie mich mit der Staatsanwaltschaft verbinden«, sagte sie zu der Hausvermittlung und wenig später: »Bitte die Abteilung für Strafanzeigen. Hier spricht Mrs. Ethel Garvin«, meldete sie sich dann. »Ich bin die Ehefrau des Edward Charles Garvin. Mein Mann ist eine Doppelehe eingegangen und lebt jetzt mit einer anderen Frau zusammen. Er hat mich verlassen, er gibt die -4 9 -
andere Person, mit der er in wilder Ehe lebt, offiziell als seine Frau aus. Wie ich glaube, hat er sich den Formalitäten einer ungültigen und betrügerischen Pseudoscheidung in Mexiko unterzogen. Ich möchte Anzeige wegen Bigamie erstatten. Könnten Sie mir einen Termin für morgen vormittag geben?« Nach kurzem Schweigen fuhr sie mit einem Lächeln fort: »Es ist mir klar, daß Sie das heiße Eisen dieser mexikanischen Scheidungen nicht gern anfassen. Nach Lage der Dinge bin ich es aber, die es anfaßt. Ich bestehe auf einer Strafanzeige gegen meinen Mann - wegen Bigamie. Um welche Zeit kann ich zu Ihnen kommen, bitte?« Sie hörte weiter zu und sagte dann: »10.15 Uhr. Haben Sie vielen Dank. Bei wem soll ich mich melden?...Mr. Stockton, ja. Danke sehr. Ich werde pünktlich um 10.15 Uhr erscheinen.« Ethel Garvin legte den Hörer auf und wandte sich zu Mason: »Ist Ihre Frage damit beantwortet?« Mason lächelte. »Glauben Sie, Ihre Frage wäre damit geklärt?« Sie blickte ihn einen Augenblick gerade und offen an. »Ich weiß es wahrhaftig nicht, Mr. Mason«, sagte sie leise. »Kämpfe ich aber erst einmal, kann mich nichts mehr zurückhalten. Sie haben mich herausgefordert, und jetzt spiele ich meine Trümpfe aus. Wie viele Stiche ich schaffe, weiß ich noch nicht. Ich lasse es aber darauf ankommen.« »Und Sie haben wirklich die Absicht, Ihren Mann wegen Bigamie anzuzeigen?« »Und sollte es meine letzte Handlung auf dieser Welt sein ich werde es tun. Ich werde bis zum Äußersten gegen ihn vorgehen.« »Hat man so etwas erst angefangen, ist es schwierig, da wieder herauszukommen.« »Wer redet denn von herauskommen?« fragte sie mit wütend -5 0 -
funkelnden Augen. »Wollen Sie meinem Mann freundlicherweise bestellen, Mr. Mason, was ich über den Mann sagte, der in der Frau seine eigenen Reaktionen gespiegelt sieht? Meine Krallen sind außerordentlich scharf, Mr. Mason.« »Mußte Ihr Mann nicht glauben, Sie hätten sich von ihm scheiden lassen?« fragte Mason. »Ich bin nicht verantwortlich für das, was er glaubt.« »Sie sagten ihm aber, Sie würden die Scheidung betreiben?« »Mr. Mason, eine Frau sagt ihrem Mann vieles, wenn sie seine Leidenschaft wieder erwecken will, seine Liebe, seine Aufmerksamkeit. Beispielsweise kann sie ihm erzählen, sie wolle Selbstmord begehen. Alle möglichen Drohungen kann sie aussprechen; Behauptungen aufstellen, Versprechen geben.« »Ich fürchte, unter diesen Umständen werden Sie Ihren Mann einiges Geld kosten«, stellte Mason fest. »Das fürchte ich auch.« »Wenn auch vielleicht nicht ganz in der von Ihnen beabsichtigten Weise.« »Was wollen Sie damit sagen?« fragte Mrs. Garvin. Mason sah ihr in die Augen. »Ich will sagen, daß auch ich ein recht guter Streiter bin; daß ich über kurz oder lang jeden Ort wissen werde, an dem Sie sich aufhielten, seitdem Sie Ihren Mann verließen. Wir werden alles über Sie erfahren. Wir werden wissen...« Sie lächelte spöttisch. »Mr. Mason, es ist mir egal, wie viele Detektive Sie einsetzen, Sie werden niemals alles erfahren, was ich im letzten halben Jahr unternommen habe. Und hätte ich mein Schlafzimmer in einen Schlafsaal verwandelt - bei einer Anklage wegen Bigamie besäßen Sie nicht die geringsten Argumente gegen mich. Ich bin immerhin so gewitzt, um das zu wissen, Mr. Mason, und Sie sollten es sein. Aber Sie werden mich jetzt entschuldigen, Mr. Mason. Ich habe einiges zu -5 1 -
erledigen. Ich muß weitere Telefongespräche führen, bei denen ich Sie lieber nicht als Zuhörer hätte. Guten Tag, Mr. Mason.« Perry Mason stand auf. Mrs. Garvin begleitete ihn zur Tür. »Ich wünschte, ic h hätte Sie mit meiner Sache beauftragt, bevor Edward es tat. Aber jetzt ist es zu spät. Ich fürchte, Sie werden viel Ärger machen.« Mason ging hinaus auf den Flur. »Sie ebenso, da bin ich ganz sicher«, entgegnete er. »Worauf Sie sich verlassen können.« Zornig schloß sie die Tür.
6 Edward C. Garvin stand auf der Terrasse des Hotels La Jolla und ließ den Blick über das Mondlicht schweifen, das sich in den Fluten des Pazifischen Ozeans spiegelte. An seiner Seite stand die zweite Mrs. Garvin. »Lorrie, Liebling«, sagte Garvin enthusiastisch, »es ist herrlich hier!« »Ja, Liebster.« »Jetzt haben wir lebenslängliche Flitterwochen vor uns. Liebst du mich, Schatz?« »Natürlich.« »Schau mich an. Du siehst immer nur aufs Meer.« Sie wandte sich ihm mit einem nachsichtigen, selbstgefälligen Lächeln zu. »Sag etwas.« »Was?« »Du weißt es. Sag: ›Ich liebe dich.‹« »Oh, Edward«, bemerkte sie ungeduldig, »du kommst mir vor wie ein Student im zweiten Semester.« »Aber Liebling, fühlst du denn die Romantik nicht? Spürst du -5 2 -
nicht den Zauber dieser Umgebung? Hier sind wir weit weg vom Geschäft, niemand kann uns finden. Ganz allein sind wir hier draußen, wir stehen am Rande...« »Ich habe Hunger«, fiel sie ein. Garvin lachte. »Na schön, du sollst was zu essen kriegen. Nur möchte ich dich heute abend für mich allein haben. Lassen wir uns etwas aufs Zimmer servieren.« »Ach, hier sind sie nicht auf Zimmerbedienung eingerichtet wie die größeren Hotels, Ed. Laß uns ausgehen, ich habe Appetit auf ein anständiges heißes Steak. Es gibt da im Stadtzentrum ein sehr hübsches Restaurant. Es fiel mir auf, als wir durchführen; da habe ich früher schon mal gegessen.« »Bitte sehr«, fand Garvin sich ab, »wenn du’s unbedingt so willst. Eigentlich hatte ich ja gehofft, wir würden auf dem Balkon essen, mit Blick aufs Meer.« »Wo jetzt die Feuchtigkeit heraufschleicht und sich in meine Haare setzt?« fragte sie. »Wir haben schon fast Nebel.« Sie lachte leichthin, fast ein wenig gereizt. »Komm, Ed, du wirst viel zu sentimental. Nehmen wir einen Cocktail und ein Steak. Gehen wir jetzt? Du brauchst keinen Hut, Liebster.« »Wie du meinst, Lorrie. Und wie steht’s mit deinem Haar? Wollen wir das Wagenverdeck schließen?« »Nein, das lassen wir unten«, sagte sie. »Ich kann mir ein Tuch umbinden.« Sie gingen die Stufen hinunter und durch die Halle zum Parkplatz, wo Garvin sein großes Kabriolett abgestellt hatte. Er hielt seiner Frau die Tür auf und marschierte den Weg um die lange Kühlerhaube zum Fahrersitz zurück. »Ich sterbe vor Hunger«, sagte Lorraine. »Bitte beeil dich.« »Ja, Liebling, es geht sofort los. Möchtest du das Verdeck bestimmt nicht?« »Nein, es ist gut so.« -5 3 -
Garvin startete. Der starke Motor begann sanft zu surren. Garvin fuhr rückwärts aus der Parklücke, wendete und hielt am Rand der Schnellstraße. Er wartete eine Lücke im Verkehrsstrom ab und kuppelte ein. Wie ein Pfeil schoß der Wagen vor, beschrieb eine Kurve und beschleunigte auf der Fahrbahn. Garvin parkte vor dem Speiselokal und eilte wieder um das Fahrzeug herum, um seiner Frau die Tür zu öffnen. Sie stützte sich leicht auf seine ausgestreckte Hand und sprang mit schwingenden Röcken heraus. Plötzlich quietschten Reifen, als ein großer schwerer Wagen abrupt bremste. Beide wandten sich um, und Lorraine Garvin beobachtete mit wachsendem Interesse den stattlichen Mann, der hinter dem Lenkrad des offenen Kabrios hervorglitt und auf sie zukam. »Ach du Heiliger!« rief Garvin aus. »Perry Mason!« »Der Rechtsanwalt?« fragte Lorraine. »Ganz recht.« Mason näherte sich und sagte: »Ich habe verflixte Mühe gehabt, Sie aufzutreiben, Garvin. Vierundzwanzig Stunden hat die Suche gedauert.« Garvin richtete sich würdevoll auf. »Liebste, darf ich dir Mr. Mason vorstellen? Meine Frau, Mr. Mason.« »Sehr erfreut, Sie kennenzulernen«, sagte Mason, sich verbeugend. »Ich muß Sie allein sprechen, und zwar umgehend, Garvin.« »Ihre Mühe, mich zu finden, erklärt sich daraus«, erwiderte Garvin etwas kühl, »daß ich nicht gefunden werden wollte.« »Den Eindruck hatte ich auch«, sagte Mason. »Sie haben sich aber eine schlechte Zeit ausgesucht. Jetzt geben Sie mir bitte fünf Minuten.« »Mich interessieren die Geschäfte im Moment zwar nicht, -5 4 -
aber was Sie mir sagen wollen, kann auch hier und jetzt gesagt werden.« »Wann ist Ihre Hauptversammlung, Garvin?« »Morgen um zwei Uhr nachmittags. Ich werde anwesend sein, Mason, verlassen Sie sich darauf.« »Haben Sie genügend Vollmachten, um sich durchzusetzen?« »Selbstverständlich habe ich die. Kommen Sie, Mason, das ist hier nicht der Ort, um Geschäfte zu besprechen. Außerdem blockiert Ihr Wagen den Verkehr und...« »Ihre Frau hat einen Haufen Vollmachten in eigenem Namen herausgeschickt«, unterbrach Mason ihn. »Bedenken Sie, daß ihre Initialen auch E. C. lauten.« »Seine frühere Frau«, berichtigte Lorraine eisig. »Auch darüber scheinen noch gewisse Zweifel zu bestehen«, sagte Mason. »Steigen Sie wieder ein. Sie fahren nach Mexiko.« »Ich fahre zu einem Martini dry und einem Steak«, erklärte Lorraine. »Wir möchten gern unter uns sein beim Essen«, sagte Garvin. »Ach, weißt du, Liebster, laß Mr. Mason sich doch anschließen. Er kann ja reden, während wir essen.« Garvin schüttelte den Kopf. »Ich bin heute abend nicht in der Stimmung, über Geschäftliches zu reden.« »Ethel hat Vollmachten verschickt«, wiederholte Mason, »und zwar im Namen von E. C. Garvin, Inhaber des Aktienzertifikats Nummer 123. Sie könnte genügend Stimmen bekommen, um entscheidenden Einfluß in der Hauptversammlung zu gewinnen.« »Das kann sie nicht. Ich habe meine Vollmachten.« »Die sind durch Ethels spätere Zettel aufgehoben«, setzte Mason ihm auseinander. »Sie hat ihre Vollmachten bewußt erst abgeschickt, nachdem die Ihrigen, Garvin, eingegangen waren. -5 5 -
Sie enthalten eine Klausel, mit der alle früheren Vollmachten widerrufen werden.« »Allmächtiger!« rief Garvin. »Sie wird mich ruinieren!« »Na, mein Essen wird sie nicht ruinieren«, sagte Lorraine schnippisch. »Ferner ist sie«, fuhr Mason fort, »um sicherzugehen, daß Sie morgen nicht auf der Hauptversammlung erscheinen werden, zur Staatsanwaltschaft gelaufen und hat Sie wegen Bigamie angezeigt. Man will Sie verhaften. Offenbar hat sie...«. »Mason, Mason, um alles in der Welt!« fiel Garvin ihm ins Wort. »Erörtern Sie das doch nicht hier!« »Dann geben Sie mir Gelegenheit, es privat zu erörtern«, sagte Mason verärgert. »Ich habe den ganzen Staat nach Ihnen abgekämmt. Das tut man nicht aus purem Vergnügen, wissen Sie.« Lorraine zitterte. »Was höre ich da von Bigamie, Mr. Mason?« »Sie sollten den Tatsachen ins Auge sehen, Garvin«, sagte Mason. »Ihren Geschäften können Sie weglaufen, es gibt aber andere Dinge, dene n Sie nicht entgehen können. Dies ist ein Problem, dem Sie sich stellen müssen, so schnell wie möglich.« »Edward«, fragte Lorraine eisig, »soll das heißen, daß an der Gültigkeit unserer Ehe irgendein Zweifel besteht?« Garvin blickte Mason betreten an. »Ich werde Sie rundheraus über die Tatsachen informieren«, sagte Mason. »An der Gültigkeit Ihrer Ehe bestehen alle möglichen Zweifel. Aller Wahrscheinlichkeit nach ist Ethel die einzige, die wirklich Anspruch erheben kann, sich als Garvins Ehefrau zu bezeichne n.« »Edward«, beharrte Lorraine, »du sagtest mir, sie hätte sich von dir scheiden lassen.« »Das dachte ich auch.« -5 6 -
»Dachte!« rief sie empört. »Ja, was in aller...« »Moment«, unterbrach Mason. »Laut werden hilft hier überhaupt nichts, und dies ist kein Ort für Auseinandersetzungen. Ich steige jetzt in meinen Wagen und schlage Ihnen vor, sich anzuschließen. Möglicherweise kann ich Ihnen helfen.« »Auf welche Art?« fragte Garvin. »Fahren wir zu Ihrem Hotel. Sie können dort eine Kleinigkeit essen, falls es sein muß, bevor Sie nach Mexiko aufbrechen. Packen Sie Ihre Koffer. Ins Auto damit und ab zur Grenze.« »Warum zur Grenze?« fragte Garvin. »Sie wurden in Mexiko geschieden.« »Und?« Mason feixte. »Ihre mexikanische Scheidung mag in Kalifornien nicht anerkannt werden. Ihre mexikanische Ehe wäre nur gültig, falls die Scheidung gültig ist. In Mexiko aber, wo Sie sich scheiden ließen und später eine rechtsgültige Ehe schlössen, sind Sie ein Ehepaar.« Nach kurzem Schweigen sagte Lorraine Garvin: »Na, steh doch nicht da wie ein Trottel, Edward. Ist dir nicht klar, was Mr. Mason sagt? Hol den Wagen vom Parkplatz. Wir fahren zum Hotel, nehmen unser Gepäck und machen, daß wir hier wegkommen!«
7 Masons Wagen folgte Garvins Kabriolett über die Brücke von San Ysidro. Tief unter dem anderen Ende der Brücke bildeten die Lichter von Tijuana eine Strahlenkrone, über der die sanft glänzenden Sterne verblaßten. Garvin fuhr die breite Hauptstraße hinunter zu einem Parkplatz, wo Mason seinen Wagen unmittelbar daneben abstellen konnte. -5 7 -
Der Anwalt stieg aus, ging hinüber zur Garvins offenem Kabriolett und sagte: »So, da wären wir. Jetzt sind Sie wieder Mann und Frau.« »Verdammt, Mason,« entgegnete Garvin gereizt, »sagen Sie mir, womit ich zu rechnen habe.« »Das weiß ich nicht, werde es aber nach Möglichkeit feststellen. Bezüglich der Stimmrechte machen Sie Ethel am besten einen Strich durch die Rechnung, indem Sie dafür sorgen, daß Ihnen wohlgesinnte Aktionäre in genügender Anzahl persönlich anwesend sind, um sich auf der Hauptversammlung durchzusetzen. Jede Vollmacht ist widerruflich, wenn die Person, die sie gab, persönlich an der Versammlung teilnimmt. Das heißt, Sie müssen mir eine Liste der Ihnen befreundeten großen Aktionäre geben, und ich muß die Leute anrufen. Ich habe den Antrag für eine einstweilige Verfügung vorbereitet und kann ihn notfalls morgen früh dem Gericht einreichen. Am besten ist es aber, die Aktionäre, die mit Ihnen konform gehen, zur Teilnahme an der Versammlung zu bewegen. Und ich bin nicht völlig überzeugt, daß Ihr Aufsichtsratsvorsitzender und Ihr Hauptbuchhalter nicht in der Sache mit drinhängen. Wenn Sie also demnächst wieder verschwinden und die Geschäfte hinter sich lassen wollen, verständigen Sie besser Ihren Anwalt, wo Sie zu finden sind. Ich hatte Detektive eingesetzt, um die Gegend nach Ihnen abzusuchen. Einer stöberte schließlich in La Jolla einen Tankwart auf, der sich Ihres Kabrioletts entsann und meinte, Sie hätten nach einem Hotel gefragt. Also fuhr ich her.« »Ich komme um vor Hunger«, mahnte Lorraine Garvin. »Zwei Häuser weiter gibt es ein Restaurant«, erklärte Mason ihr. »Sie können auch hier übernachten und morgen nach Ensenada weiterfahren, wenn Sie wollen.« »Gehen Sie beide nur schon vor«, sagte Garvin, »ich will das Verdeck hochklappen.« Während er die Halterungen des Verdecks löste, trat Lorraine -5 8 -
nahe zu Mason. »Ich glaube«, sagte sie leise, »Sie sind enorm auf Draht, Mr. Mason, und überaus energisch. Ich brauche wohl keine Angst zu haben.« Sie drückte seinen Arm. Zu Edward Garvin hinüberblickend, fuhr sie fort: »Er ist nett, aber so schrecklich frisch verheiratet falls Sie wissen, was ich meine.« »Woher sollte ich das wissen?« fragte Mason. »Wie kann ich wissen, woher Sie’s wissen?« gab sie schelmisch zurück. Garvin klappte das Verdeck hoch und kam heran. »Wann können wir Ensenada wieder verlassen?« »Sobald Sie die Absicht haben, sich wegen Bigamie anklagen zu lassen«, gab Mason Auskunft. »Und was wird mit mir?« fragte Lorraine gedankenvoll. Mason lächelte. »In den Vereinigten Staaten werden Sie als Garvins Verhältnis betrachtet, als seine Geliebte, als eine Frau, die ohne legalen Status und im Zustand der Sünde lebt. Hier in Mexiko sind Sie eine rechtmäßig verheiratete Ehefrau.« »Ekelhaft«, stellte Lorraine erbost fest. »Nicht wahr?« pflichtete Mason bei. »Das sind die Auswirkungen des internationalen Rechts. Gehen Sie in die Vereinigten Staaten, Garvin, sind Sie mit Ethel verheiratet; wahrscheinlich auch der Bigamie schuldig. Hier in Mexiko sind Sie rechtsgültig mit Ihrer gegenwärtigen Gefährtin verehelicht, und Ethel Garvin ist nichts weiter als eine geschiedene Frau, die keinen Rechtsanspruch hat.« »Hat man solchen Blödsinn schon gehört!« explodierte Garvin. »Ich muß mir wohl ein großes Haus bauen, in dem die Landesgrenze durchs Schlafzimmer verläuft. Da hätte ich dann ein Dreierbett. Ethel könnte...« »Edward«, fiel Lorraine ihm eisig ins Wort, »werde nicht ordinär.« -5 9 -
»Ich bin nicht ordinär, fuchsteufelswild bin ich«, brüllte Garvin. »Der Teufel soll’s holen! Da geht man auf Hochzeitsreise und weiß noch nicht mal, ob man verheiratet ist!« »Werden Sie so wild, wie Sie mögen«, sagte Mason, »auf Ihren Familienstand wirkt sich das nicht aus. Ich werde versuchen, die Sache geradezubiegen. Und jetzt wollen wir essen.« Mason ging voran zu einem Restaurant und bestellte große zarte Steaks. »Ich kenne hier ein neues Hotel«, sagte er nach dem Essen, »das Vista de la Mesa. Lassen Sie uns dort absteigen. Morgen früh können Sie mir dann die Namen von ein paar großen Aktionären geben, die Ihre Interessen teilen, Garvin. Und dann werden wir Telefonspesen machen.« »Mason, ich werde die Aktionäre anrufen«, entgegnete Garvin. »Ich möchte, daß Sie die finanzielle Abfindung mit Ethel regeln. Tun Sie, was Sie können. Fangen Sie bei fünfzigtausend an und...« »Edward«, schaltete Lorraine sich hastig ein, »Liebling, meinst du nicht, du solltest es Mr. Mason überlassen, die Summe festzusetzen? Er wird den Vergleich so niedrig wie möglich halten.« »Ich will, daß was geschieht«, sagte Garvin. »Ich bin immer ungeduldig, wenn nichts passiert. Wie werden Sie sie finden, Mason?« »Durch Detektive«, antwortete Mason, der auf seine Uhr sah. »Ich kann sie heute abend anrufen und für morgen früh eine Verabredung treffen.« »Sie haben ihre Telefonnummer?« erkundigte Garvin sich. »Ja. Sie wohnt in den Monolith Apartments Nr. 624. Als ich gestern mit ihr sprach, war sie etwas schwierig. Sie glaubte, durch die Anzeige wegen Bigamie einen Trumpf in der Hand zu haben. Wenn ich ihr aber sage, Sie säßen trocken hier in -6 0 -
Mexiko, wo man Ihnen wegen Bigamie nichts anhaben kann; wenn ich ihr weiter sage, daß Sie planen, Ihr Vermögen zu verlagern, in Mexiko eine große Hazienda zu kaufen und dort zu leben - nun, dann hätte sie einigen Anlaß zur Sorge.« Garvins Augen leuchteten. »Eine wundervolle Idee, Mason! Ein Knüller! Das wird sie umhauen!« »Ich halte es für sicher, daß Ethel ihre eigenen Amouren hat«, bemerkte Mason. In Lorraines Augen blitzte es auf. »Natürlich hat sie die! Edward, das hätten wir bedenken sollen.« »Soweit ich feststellen konnte«, sagte Mason, »ist sie eine gutaussehende Frau, die sich gern bewundern läßt. Sie hat eine gewisse Art sich zu bewegen und gerade so viel Bein zu zeigen, daß Interesse erweckt wird...« Garvin lachte. »Genau das ist Ethel. So hat sie’s auch mit mir gemacht. Ich entsinne mich, als sie meine Sekretärin war...« »Edward!« mahnte Lorraine. »Pardon, Liebling.« »Nun«, sagte Mason, »bevor wir anfangen, über Bargeld mit ihr zu reden, werden wir einiges für Detektive anlegen und ein bißchen mehr über das ausfindig machen, was sie mit ihrer Zeit angefangen hat, während Sie nichts von ihr hörten.« »Ich schätze, sie hat mehr für mich übriggehabt, als ich glaubte«, meinte Garvin etwas nachdenklich. »Erst meine zweite Ehe hat sie zur Furie gemacht. Wahrscheinlich war sie der Ansicht, daß vorher noch Hoffnung auf eine Versöhnung bestand.« »Da sei nur nicht so sicher, Edward«, meinte Lorraine. »Als du mich heiratetest, ging es ihr nur darum, Geld aus dir herauszuquetschen. Überlaß die Sache nur voll und ganz Mr. Mason.« Das Vista de la Mesa lag abseits der Hauptstraße, ein -6 1 -
erstklassiges Haus, niedrig und weitläufig gebaut, offenbar gerade fertiggestellt. Es war von einer frisch getünchten weißen Hohlsteinmauer umgeben, durch die vom und hinten Bogeneingänge führten. Die beiden schweren Wagen rollten hintereinander knirschend über die Kiesauffahrt. Sie hielten vor einer gefälligen Kombination aus weißen Hohlziegeln, roten Dachpfannen, weißgetünchten Wänden und grünen Kakteen, die sich in zarten Farben gegen das Mauerwerk abhoben. Die Frau am Empfang begrüßte sie mit einem strahlenden, herzlichen Lächeln. »Wir möchten zwei Zimmer«, sagte Garvin, »eins für meine Frau und mich, eins für meinen Begleiter.« »Aber mit Verbindungsbad?« fragte die Frau in gebrochenem Englisch. »Mit getrennten Bädern«, erklärte Garvin ihr. »Aber das ist teurer.« »Macht nichts. Wir wollen das Beste, was Sie uns bieten können.« Ihre Augen glitzerten. »Ah, der Senor! Er ist gewöhnt das Beste?« »Ja«, sagte Garvin. »Und Sie sollen das Beste haben, Senor. Ich habe zwei schöne Verbindungszimmer, aber wenn Sie das Bad nicht teilen wollen, dann müssen Sie beide Zimmer nehmen. Das für den anderen Senor muß dann sein in einem anderen Flügel.« »Schon gut«, erklärte Garvin, nahm den Bleistift zur Hand und unterschrieb für drei Personen. »Wo bleiben die Wagen?« fragte er. »Oh, die Wagen, die lassen Sie einfach in der Auffahrt. Niemand stiehlt ein Auto vom Vista de la Mesa.« -6 2 -
»Haben Sie einen Parkwächter?« erkundigte Mason sich. »Nein, keinen Wächter, aber in diesem Land Sie sind bei ehrlichen Leuten, nein? Aus Vorsicht, aber nur aus Vorsicht, Sie schließen das Auto ab und geben die Schlüssel mir. Ich lege sie in das Geldfach. Und dann, wenn es ist nötig morgen früh, die Wagen wegzunehmen, und Sie sind noch nicht wach, der Boy kann es tun. Sie werden nicht gestört, und Ihre Wagen sind sicher.« »Okay«, sagte Mason, »ich werde abschließen und die Schlüssel herbringen. Wie ist es mit dem Gepäck?« »Leider«, sagte die Frau, »ich habe heute abend keinen Boy. Das Haus ist neu, Sie sehen, und bald schließe ich. Ein Zimmer ist noch frei, nur eins. Wenn das ist vermietet, mache ich die Lichter aus, piff paff, schließe zu und gehe ins Bett, ja?« Sie lächelte freundlich. Mason wandte sich zur Tür. »Na denn, Garvin, ich glaube, wir haben das Vergnü gen, unser Gepäck eigenhändig zu holen.« »Ich brauche nur die kleine Reisetasche, Liebster«, sagte Lorraine. »Ja, Schatz.« Sie lächelte Mason zu. »Ich kann Ihnen kaum sagen, Mr. Mason, wie erleichtert ich mich fühle, weil die Sache jetzt in Ihren Händen liegt.« »Vielen Dank«, sagte Mason, »und angenehme Nachtruhe.« »Ich zeige der Senora schon das Zimmer, wenn die Senores holen das Gepäck, ja?« fragte die Wirtin. Lorraine nickte lächelnd. Die Frau kam hinter dem Empfangstisch hervor. »Ich bin die Senora Inocente Miguerinio«, stellte sie sich vor. »Ein schwerer Name für Amerikaner, nein?« »Wirklich schwer«, stimmte Lorraine freundlich zu. »Und ich führe dieses hübsche Hotel. So lange schon war in -6 3 -
Tijuana nötig ein schönes erstklassiges Haus, sauber, kühl, komfortabel. Kommen Sie mit, Senora.« Die Mexikanerin, rundherum füllig, rollte in aufreizend lässiger Gangart ihre Hüften, die durch keinerlei Mieder eingeengt schienen. Sie ging voran durch eine Tür hinten im Büro. Garvin, den selbst die wenigen Minuten der Trennung von seiner Frau schon schmerzten, eilte zu seinem Wagen. Während Mason gelassen sein Gepäck herausnahm, zerrte Garvin ungeduldig an der Tür des Kofferraums. Er zog eine Reisetasche und einen Handkoffer heraus und sagte: »Also, Mason, wir sehen uns morgen früh.« »Um welche Zeit?« fragte Mason. »Nicht zu früh. Ich...« »Bedenken Sie, daß wir viel telefonieren müssen.« »Na ja«, gab Garvin seufzend nach, »um acht Uhr.« Er knallte die Wagentür zu und lief schon die Eingangsstufen hinauf. »Soll ich Ihre Schlüssel mitnehmen?« fragte Mason. »Ich habe sie bei mir«, sagte Garvin. »Werde sie der Senora geben, wenn ich reingehe. Gute Nacht, Mason.« »Gute Nacht.« Mason blickte Garvin nach, der eilig im Eingang verschwand, in jeder Hand ein Gepäckstück. Er verschloß seinen eigenen Wagen, zog die Schlüssel ab und blieb einen Augenblick stehen, um die Sterne zu bewundern. Der Mond war jetzt im Westen verschwunden, die Sterne funkelten in der trockenen klaren Luft. Als die lächelnde Wirtin wieder erschien, bat er: »Wenn Sie mir dann auch mein Zimmer zeigen würden?« »Oh, aber gewiß, hier bitte.« Mason folgte ihr durch dieselbe Tür, dann rechts zum -6 4 -
Nordflügel des Hauses. Senora Miguerinio stieß eine Tür auf und blieb lächelnd stehen, als Mason das geräumige Zimmer mit dem komfortablen Bett überblickte, mit poliertem Plattenfußboden, schweren roten Vorhängen, Standlampe und gemütlichen Möbeln im Missionsstil. »Sie sehen«, sagte die Mexikanerin, »ein Eckzimmer mit Fenstern an beiden Seiten, ja?« »Fein.« »Dies Fenster, Senor, geht auf den Patio. Darum die Vorhänge sind zugezogen. Sie ziehen dies Band hier, wenn Sie öffnen und schließen die Vorhänge, nein? Aber die Fenster an dieser Seite, Senor, sie zeigen auf gar nichts - nada. Da brauchen Sie keine Vorhänge. Sie können sich anziehen, ausziehen, niemand kann sehen, ja?« »Nein«, feixte Mason. »Sie fühlen sich wohl, ja?« »O ja! Und hier sind meine Wagenschlüssel.« »Sie wollen beide Schlüssel geben, Sie haben gesagt.« »Hat der andere Herr Ihnen seine Schlüssel nicht gegeben, als er wieder hereinkam?« fragte Mason. Sie schüttelte den Kopf. »Aber ich sollte sie haben. Manchmal Pancho muß die Autos wegfahren am Morgen, damit die frühen Leute können raus.« Mason lachte. »Er hat die Schlüssel einfach vergessen. Sein Wagen steht aber nicht im Weg. Lassen Sie’s gut sein.« »Der andere Senor muß denken an andere Sachen, ja?« Senora Miguerinio lachte mit Hingabe, wobei ihre Kurven ins Zittern gerieten. Mason nickte und setzte seine Reisetasche ab. »Könnte ich von hier aus noch telefonieren?« fragte er. »Telefonieren, aber gewiß. In der Halle sind zwei Zellen. Sie haben nicht gesehen?« -6 5 -
Mason schüttelte den Kopf. »Sie fallen nicht auf, aber sie sind da, nein? Kommen Sie mit, ich zeige Ihnen.« Mason schloß seine Zimmertür und folgte der Frau in die Halle. Er bemerkte zwei Türen, hinter denen man gewöhnliche Räume vermuten konnte, wäre nicht auf jeder ein kleines Telefon abgebildet gewesen. »Leider wir haben keine Telefone in den Zimmern«, sagte sie, »aber vielleicht wollen die Gäste hier überhaupt lieber schlafen. Das ist Mexiko hier, Senor. Wir arbeiten nicht den ganzen Tag und auch die ganze Nacht, wie Sie tun. Wenn wir in Mexiko nach Hause kommen von der Arbeit, wir sind fertig - nein?« Mason, der mit seinen Gedanken beschäftigt war, nickte schweigend. Er betrat eine der Telefonzellen, fand den üblichen Münzfernsprecher vor und schloß die Tür. Über Fernamt meldete er ein Gespräch mit Paul Drakes Büro an. Etwa zehn Minuten wartete er in der engen Zelle, bis er mit der Detektei verbunden war. »Ist Drake da?« fragte er. »Hier spricht Mason.« »Ja, Mr. Mason. Einen Moment bitte.« Gleich darauf klickte es, und Drakes Stimme ertönte: »Hallo, Perry, wo bist du?« »Ich wohne in einem neuen Hotel in Tijuana«, sagte Mason. »Ein hübsches kleines Haus, Vista de la Mesa heißt es.« »Kann ich dich da anrufen?« »Nicht sehr gut. Es gibt nur Münzautomaten, und sie machen den Laden gleich dicht. An diesem Ende der Stadt scheinen sie mit den Hühnern zu Bett zu gehen. Ich lege mich jetzt hin und versuche zu schlafen. Moment, ich gebe dir doch die Nummer.« Mason las die Telefonnummer von der Wählscheibe ab. »Okay«, sagte Drake, »ist notiert. Einen Augenblick noch, -6 6 -
Perry, ich habe was für dich.« »Was?« »Du wolltest, daß wir alles über Ethel Garvin feststellten. Jetzt haben wir eine Spur, die einiges verspricht. Sie besaß eine Mine in Neu-Mexiko. Damit befaßte sie sich eine Weile und... « »Das weiß ich alles«, unterbrach Mason. »Danach ging sie nach Reno und meldete sich dort an, offenbar in der Absicht, die Scheidung einzureichen. Dann änderte sie ihre Pläne. Warum, konnte ich noch nicht feststellen. Aber während sie in Reno war, hatte sie Beziehungen zu einem gewissen Alman B. Hackley. Sagt der Name dir etwas?« »Überhaupt nichts«, erwiderte Mason. »Er hat eine Ranch da oben. Offenbar ist er ein recht begüterter Bursche und ziemlicher Playboy. Die Frauen waren verrückt nach ihm, und Ethel Garvin scheint keine Ausnahme gemacht zu haben. Sie ›machte die Kur‹, wie sie es da nennen, und wohnte auf einer Vergnügungsfarm. Sie ritt viel aus, und dieser Knabe, Hackley, hatte die benachbarte Ranch. All die Touristinnen, die auf der Gästefarm Lokalkolorit ansetzten, bei sechswöchiger Erholung von ihren Ehemännern, drehten durch, wenn’s um Hackley ging. Ethel schaffte es zur Favoritin. Sie wurde häufig mit ihm gesehen.« »Was Ernsthaftes?« fragte Mason. »Kommt drauf an, was du unter ernsthaft verstehst«, sagte Drake. »Irgendwas passierte jedenfalls. Sie betrieb ihre Scheidung nicht, blieb sechs Wochen da und reichte nichts ein. Es wurden sieben, acht und neun Wochen, noch immer passierte nichts, und dann war Hackley plötzlich auf und davon.« »Verkaufte seine Ranch?« fragte Mason. »Nein, er besitzt diese große Farm noch immer, aber er zog nach Kalifornien. Und jetzt kommt was Merkwürdiges, Perry.« »Okay, was?« »Er kaufte ein Grundstück bei Oceanside, ungefähr fünfzig Meilen nördlich von San Diego. Sagt dir das etwas?« -6 7 -
»Vorläufig nicht das geringste«, sagte Mason, »aber diesen Hackley will ich unter die Lupe nehmen. Wie ist sein voller Name, Paul?« »Alman Bell Hackley. Meine Leute untersuchen schon das Register in San Diego und werden einen der Steuerbeamten veranlassen, ihnen Einblick in die Grundstücksakten zu verschaffen. In einer oder zwei Stunden haben wir Hackley gefunden.« »Du meine Güte, Paul, wie hast du ihn in Kalifornien aufgestöbert?« »Ich hatte so eine Ahnung. Also prüfte ich die neuen Wagenzulassungen. So machen wir es immer.« »Nun, Hackley hat Zeit bis morgen«, sagte Mason. »Als erstes werde ich morgen früh zusammen mit Garvin ein paar große Aktionäre seiner Gesellschaft bitten, der Hauptversammlung persönlich beizuwohnen. Damit werden sämtliche Vollmachten widerrufen.« »Du hast ihn in La Jolla tatsächlich gefunden?« fragte Drake. »Ja. Da hatte dein Mann einen guten Riecher. Ich war im Begriff, alle Hotels abzusuchen, als ich die beiden zufällig vor einem Restaurant im Stadtzentrum aus ihrem Wagen steigen sah. Sag Della bitte, wo ich bin. Und ruf mich hier an, falls sich etwas Wichtiges ergibt. Allerdings kannst du mich erst morgens erreichen; ich weiß nicht, ab wann. Hier ist nachts kein Betrieb.« »Okay«, sagte Drake. »Ich wollte selber gerade schlafen gehen, Perry. Hier läuft alles glatt, und meine Leute stellen Ermittlungen an. Ich soll doch... Moment, Perry, hier geht gerade was ein.« »Was?« »Ein Bericht über diesen Hackley und wo seine neue Farm liegt. Hast du was zum Schreiben, Perry?« »Sekunde.« Mason zog sein Notizbuch heraus. »Bitte, Paul, schieß los.« -6 8 -
»Du fährst bis Oceanside«, begann Drake. »Genau in der Stadtmitte biegt eine Straße nach Osten ab, und ein Schild nennt die Entfernung bis Fallbrook. Diese Straße fährst du zwei Meilen, bis du an einen Briefkasten kommst --an der Nordseite. Er ist bezeichnet mit dem Namen Rolando C. Lomax, eingeritzt in schwarzen Buchstaben. Etwa hundert Meter hinter diesem Briefkasten beginnt ein Fahrweg, der nach ungefähr einer Viertelmeile zu Hackleys Haus führt. Er hat es kürzlich gekauft, und zwar möbliert.« »Schön«, sagte Mason. »Und du läßt Ethel Garvin doch beschatten?« »Ja. Ein Mann im Auto beobachtet das Haus.« »In Ordnung. Ich denke, das genügt. Morgen früh rufe ich dich an, Paul.« Mason legte auf und verließ die Telefonzelle. »Würden Sie mir die Zimmernummer meines Freundes geben?« fragte er Senora Miguerinio, die wieder am Empfang saß. »Ich muß ihm noch etwas sagen, bevor er schlafen geht.« »Aber gewiß. Es ist diesen Flur hinunter, links. Von Ihrem Zimmer aus direkt über den Patio. Die beiden Zimmer an der Ecke. Nr. fünf und sechs, ja?« »Ich laufe schnell hin und klopfe an«, sagte Mason. »Dumm, daß es kein Haustelefon gibt.« »Nein, kein Telefon. Sie sehen, wir schließen in der Nacht. Darum wir haben keine Hausvermittlung. Nein?« Mason nickte, ging den Korridor hinunter und klopfte an die Tür von Nr. 6. Nichts rührte sich. Mason hob die Stimme. »Garvin? Einen Augenblick bitte.« Er klopfte noch einmal. Garvin öffnete die Tür einen Spalt. »Was ist denn, Mason?« fragte er und bemühte sich vergeblich, seinen Ärger nicht -6 9 -
merken zu lassen. »Ich habe eine Nachricht von Paul Drake, meinem Detektiv.« Garvin öffnete die Tür etwas weiter, »Ja, was sagt er?« »Ich glaube, wir haben den Grund entdeckt, warum Ihre frühere Frau Sie eine Zeitlang nicht gestört hat. Der Grund heißt Alman Bell Hackley. Zur Zeit lebt er auf einer Farm etwa zwei Meilen östlich von Oceanside. Er besitzt eine große Viehranch in Nevada und ist offenbar ein Don Juan. Die Mädchen auf der Gästefarm neben seinem Grundstück waren alle verrückt nach ihm.« »Welche Chance!« sagte Garvin begeistert. »Genau das brauchen wir! Wohnt er jetzt da in Oceanside, Mason?« »Auf seiner Farm. Ich habe mir sagen lassen, wie man hinkommt.« »Können Sie’s beschreiben?« fragte Garvin. Mason gab ihm die von Drake erhaltenen Informationen und fügte hinzu: »Ich will heute abend nichts mehr unternehmen, aber morgen werden wir uns ein bißchen um ihn kümmern.« Garvin streckte die Rechte durch die Tür. »Mason«, sagte er, »ich wußte, daß ich mich auf Sie verlassen kann. Sie machen es großartig. Wie ich immer sage: braucht man einen Arzt oder einen Anwalt, dann nur den besten!« Lorraines Stimme ertönte aus dem Zimmer: »Wir machen am besten überhaupt kein Angebot, bis wir diese neuen Umstände geklärt haben. Finden Sie nicht, Mr. Mason?« »Ich glaube wohl«, erwiderte Mason. »Bis morgen früh dann. Gute Nacht.« Er wandte sich um. Garvin schloß die Tür und legte den Riegel vor. Um sein Zimmer zu erreichen, mußte Mason durch die Halle zurückgehen. Er stellte fest, daß die Hauptbeleuchtung dort bereits ausgeschaltet war. Eine Schreibtischlampe beleuchtete -7 0 -
den Empfang. Auch draußen waren die Lampen gelöscht. Von Senora Inocente Miguerinio war nichts zu sehen. Plötzlich fiel Mason ein, daß er seinen Kugelschreiber in der Telefonzelle vergessen hatte. Er tastete sich in der schwachen Beleuchtung vorsichtig durch die Halle, öffnete die Tür zur Telefonzelle und hatte gerade seinen Kugelschreiber gefunden, als er in der benachbarten Zelle eine Frauenstimme vernahm, die durch die dünne Trennwand drang. »Ja, Liebling«, hörte Mason, »du hast richtig geschätzt... Ja, über die Grenze, in Tijuana.« Es folgten mehr Worte, die Mason nicht verstand. Dann wurde die Stimme etwas lauter: »Ja, Liebling... Nein... Ich mache das schon... Meine Augen schmerzen schon vom Aufpassen...« Mason verließ leise die Telefonzelle und nahm sich vor, künftig die dünne Wand zu beachten, die diese beiden kunstvoll angelegten, akustisch jedoch gefährlichen Telefonzellen trennte. Er fand sein Zimmer, schloß die Tür hinter sich und begann, sich auszuziehen. In der Halle schlug eine melodische Uhr ein volles, silbriges Geläut: zehn Uhr. Mason knipste die Lampen aus und öffnete die Westfenster, durch die man auf nada blickte, wie Senora Inocente Miguerinio es so anschaulich beschrieben hatte. Dann ging er schlafen.
8 Durch das Westfenster drang eine Reihe scharfer, metallischer Töne, wie von einem subtropischen Vogel, an dessen Namen Mason sich nicht sofort erinnerte. Seltsam an diesem Geräusch aber war, daß der Vogel offenbar die Gewohnheiten eines Spechts hatte und unentwegt gegen die Hauswand klopfte. -7 1 -
Schließlich siegte Masons Ärger über die Müdigkeit. Er schlug die Bettdecke zurück, setzte sich auf und blinzelte böse zum Fenster, durch das der Blick auf die dürre, unfruchtbare Landschaft fiel. Die ersten Strahlen der Morgensonne vergoldeten das Tafelland. Plötzlich wurde ihm klar, daß das gleichbleibende, beharrliche Klopfen nicht von der Seitenwand seines Zimmers kam und nicht von einem Vogel verursacht wurde: Es war ein leises hartnäckiges Poch-poch-poch an seiner Tür. Barfuß ging er durch das Zimmer und öffnete. Draußen stand ein kleiner mexikanischer Junge mit ausdruckslosem Gesicht. »Senor Mason?« Mason nickte. »Telefono«, sagte der Boy, drehte sich um und schlurfte über die gebohnerten roten Flurplatten. »He, komm mal her«, rief Mason. »Wer ist es denn? Was...« »Telefono«, wiederholte der Junge über die Schulter und ging weiter. Mason lachte, zog Hose und Mantel über den Schlafanzug, stieg barfuß in seine Schuhe und marschierte in halbangezogenem Zustand durch den Korridor zur Halle. Sie war leer, doch stand die Tür zu einer Telefonzelle offen, und der Hörer lag auf dem Bord. Mason nahm ihn auf und meldete sich skeptisch: »Hallo?« Eine ungeduldige Stimme fragte: »Spricht dort Mr. Mason?« »Ja.« »Mr. Perry Mason?« »Ja.« »Sie werden aus Los Angeles verlangt, bleiben Sie bitte am Apparat.« Mason zog die Tür hinter sich zu. Gleich darauf hörte er Paul -7 2 -
Drakes Stimme in der Leitung: »Hallo, Perry?« »Ja. Morgen, Paul.« »Ich hatte verflixt zu tun, dich an die Strippe zu kriegen«, sagte Drake. »Seit fünf Uhr heute morgen versuc he ich’s schon. Zum Teufel, warum steigst du nicht irgendwo ab, wo’s direkte Telefonverbindung gibt?« »Was ist denn los?« fragte Mason. »Uns ist da was passiert, das ich dir lieber gleich mitteilen wollte. Einer meiner Leute hat einen Fehler gemacht. Der Fehler ist entschuldbar, aber der Job ist verpfuscht.« »Und was ist geschehen?« »Wir haben Ethel Garvin verloren.« »Verdammt! Wie konnte das passieren?« »Es ist eine lange Geschichte«, sagte Drake, »wenn du sie ausführlich hören möchtest. Willst du sie aber kurz und schmerzvoll, dann kann ich nur sagen - wir haben sie verloren, aus.« Mason überlegte einen Augenblick. »Erzähl sie mir lieber lang und breit... Nein, Moment, Paul. Die Wand zwischen dieser und der Nachbarzelle ist dünn wie Papier. Laß mich nachsehen. Bleib in der Leitung.« Mason legte den Hörer ab, ging hinaus, riß die Tür zur benachbarten Telefonzelle auf und stellte fest, daß sie leer war. Dann kehrte er zurück. »Okay, Paul. Ich wollte mich nur vergewissern. Gestern abend konnte ich durch die Wand hier ein paar Gesprächsfetzen von nebenan mithören. Und jetzt sag mir, was passiert ist.« »Ab zehn Uhr hatte ich nur noch einen Mann auf sie angesetzt«, begann Drake. »Zu der Zeit war nicht mehr viel los, und nur wenige Leute gingen in das Apartmenthaus oder hinaus. Ich gab meinem Mann Auftrag, jede irgendwie bedeutsam aussehende Person im Auge zu behalten. Und zwar sollte er -7 3 -
einfach die Wagennummern, Ankunft- und Abfahrtzeiten notieren. Und da habe ich meinen Fehler gemacht, Perry. Es war zu viel Arbeit für einen einzelnen Mann. Natürlich hatte er an einer günstigen Stelle genau gegenüber dem Vordereingang geparkt. Es gibt keine Garagen in der näheren Umgebung, und die Mieter stellen ihre Wagen auf der Straße ab.« »Weiter«, sagte Mason ungeduldig. »Du wolltest es ja lang und breit hören«, erwiderte Drake. »Es geschah also folgendes: Ein ziemlich gutgekleideter Mann, der einen Buick fuhr, umkreiste den Block und suchte offensichtlich einen Parkplatz. Meinem Detektiv schien es nicht so, als ob der Mann selb st im Apartmenthaus wohnte. Einen halben Block weiter fand er schließlich einen Platz, stellte den Wagen ab, schaltete die Lampen aus und ging eilig hinüber zum Apartmenthaus. Irgendwie schien er meinem Mann der Typ zu sein, der unsere Person besuchen konnte; gut angezogen und offenbar in Eile, um rechtzeitig zur Verabredung zu erscheinen. So reimte mein Mann sich das zusammen und beschloß, die Autonummer zu notieren. Wie ich schon erklärt habe, riskierte er dazu aber keine Fahrt mit dem Wagen, um seinen eigenen Parkplatz nicht zu verlieren. Er sprang heraus und ging schnell den Block weiter zum Buick. Na, und als er da gerade ankam, erschien um die Ecke ein Taxi und hielt vor den Monolith Apartments. Ethel Garvin muß schon in der Halle gewartet haben. Sie kam aus dem Hauseingang, stieg ins Taxi, und weg war sie. Wie das Pech es wollte, natürlich in die entgegengesetzte Richtung. Mein Mann raste zu seinem Wagen zurück und sprang rein, konnte aber bei kaltem Motor so schnell nicht starten. Er verlor sie aus den Augen. Er weiß, daß es ein gelbes Taxi war, weil es aber in die andere Richtung fuhr, bekam er die Nummer nicht mit. Er ging schleunigst zum Telefon und berichtete meinem Büro. Meine Nachtablösung übernahm den Job und ermittelte bei der Taxizentrale, wohin sie gefahren war. Fünfzehn oder zwanzig Minuten brauchten wir, -7 4 -
bis wir die Information hatten. Inzwischen war es zu spät. Sie war zu der Garage gefahren, wo sie ihren Wagen stehen hat - ein Sportcoupe, das Meilen nur so fressen kann. Sie sagte nicht, wohin sie wollte. Eine Reisetasche hatte sie bei sich. Sie trug dunkle Sachen, Kostümjacke und Rock. Und mein Mann glaubt, sie hatte auch einen kleinen Hut auf, schräg nach links gesetzt, aber darüber ist er sich nicht ganz sicher.« »Wie spät war es da?« fragte Mason. »Zehn Uhr neunzehn abends.« »Weiter, Paul.« »Mein Mann nahm die Ermittlungen im Apartmenthaus auf, behauptete, er hätte das Taxi bestellt. Der Pförtner an der Telefonvermittlung bestand darauf, sie hätte es telefonisch beordert und wäre dann heruntergekommen, um unten zu warten. Drei oder vier Minuten hätte sie in der Halle gestanden. Er ist nicht besonders mitteilsam. Wenn ich alles bedenke, kommt er mir jetzt höchst verdächtig vor. Wollte man aus dem was herausholen, könnte man ebensogut versuc hen, einen Geldschrank mit ’nem Zahnstocher zu knacken.« Mason zog die Stirn in Falten. »Hast du das Apartmenthaus weiter überwachen lassen?« »Natürlich.« »Sie ist also noch nicht zurückgekommen?« »Nein«, sagte Drake. »Warte mal, wir haben eine Auskunft von diesem Pförtner, die ich vergaß: Sie kam herunter in die Halle, und während sie das Taxi erwartete, gab sie dem Mann zwei Dollar und fragte, ob er dafür ein paar Fünfundzwanzigcentstücke, zwei Zehner und einen Fünfer hätte. Sie wollte nichts Größeres als Fünfundzwanzigcentstücke... Das muß ja einen Grund gehabt haben.« »Verstehe«, sagte Mason, »sie wollte von einem Münzfernsprecher telefonieren.« -7 5 -
»Eben, aber ein Ferngespräch.« »Interessant.« »Leider ist meine Nachtdienstsekretärin manchmal etwas zu rücksichtsvoll«, fuhr Drake fort. »Sie wußte, daß ich müde war und Ruhe brauchte. Sie wollte nicht, daß man mich vor etwa fünf Uhr heute früh anrief. Ich habe einen erfahrenen Nachtdienstler im Büro, der die üblichen Dinge erledigt. Er setzte sich mit der Garage in Verbindung, ließ sich Ethel Garvins Wagen beschreiben, Marke, Modell, Nummer und so weiter. Und er erfuhr, daß der Tank nur halb voll war, als sie das Fahrzeug herausholte. Das könnte von Bedeutung sein. Als ich um fünf Uhr heute morgen anfing, schickte ich einen weiteren Mitarbeiter per Auto nach Oceanside. Ich wies ihn an, sich ganz unauffällig und diskret in der Nähe von Hackleys Haus umzusehen, ob sich da eine Spur von Ethels Wagen fände. Falls nicht, sollte er rund um Oceanside bei den Tankstellen mit Nachtbedienung fragen, ob sich jemand erinnerte, einen Wagen dieser Art abgefertigt zu haben. Vielleicht gibt uns das einen Hinweis. Ich müßte jetzt ziemlich bald von meinem Mann hören.« »Na gut«, sagte Mason, »mir scheint, du hast dein Bestes getan. Gibt’s sonst noch etwas?« »Das ist soweit alles.« »Bleib am Ball, Paul. Ich bin hier im Hotel. Ich denke, es wird sich einrichten lassen, daß man mich zum Telefon ruft. Es ist zwar noch ziemlich früh und niemand scheint sich zu rühren, ruf mich aber trotzdem an, wenn sich was Neues ergibt. Falls ich nichts von dir höre, melde ich mich in einer Stunde bei dir.« »Okay. Und es tut mir leid, Perry.« »Schon gut«, sagte Mason. »Das ist so eine Sache, gegen die man sich nicht abschirmen kann.« Mason legte auf, sah sich in der Halle um und entdeckte niemanden. Er ging zur Vordertür, öffnete und warf einen Blick -7 6 -
auf die Auffahrt, die als Parkplatz diente. Außer seinem und Garvins Wagen stand dort noch ein halbes Dutzend Fahrzeuge. Der kleine Mexikaner mit dem undurchd ringlichen Gesicht, der Mason geweckt hatte, saß auf der obersten Stufe und genoß die Sonne. »Wie heißt du denn?« fragte Mason. »Pancho«, antwortete der Junge, ohne sich umzusehen. Mason zog einen Dollar aus der Tasche und trat einen Schritt vor. Prompt streckte der Junge ihm erwartungsvoll die offene Hand entgegen. Mason ließ den Dollar fallen. »Gracias«, sagte der Junge, stand aber nicht auf. Mason lächelte. »Du bist gar nicht so stur, wie du aussiehst. Wenn du das Telefongespräch angenommen hast, meine Zimmernummer finden und mich rufen konntest, bist du ein sehr fixer Junge. Bleib schön da sitzen und hör aufs Telefon. Geh hin, wenn es wieder klingelt. Ist es für mich, rufst du mich schnell. Verstanden?« »Si, Senor.« Mason ging durch die Halle in sein Zimmer, duschte und rasierte sich. Er war soweit fertig, um nach dem Frühstück zu fragen, als er auf dem Flur Sandalen hörte, dann ein leises Pochen gegen die Tür. Er öffnete. Draußen stand der Junge. »Telefono«, sagte er. »Momentito«, grinste Mason. Der Junge blieb stehen. Mason zog einen weiteren Dollar aus der Tasche, und ein Lächeln erschien auf dem Gesicht des Kleinen. »Gracias«, bedankte er sich und schlurfte davon. Mason folgte ihm durch den Korridor, fand die Telefonzelle offen und überzeugte sich, daß die Nebenzelle leer war. Dann nahm er den Hörer auf und meldete sich: »Hallo?« Wieder mußte er warten, bis er endlich Paul Drakes Stimme hörte. -7 7 -
»Hallo, Paul, was gibt’s Neues?« Drake sprach hastig. »Hör zu, Perry, ganz schnell. Wir sitzen auf dem Pulverfaß. Mein Mann hat Ethel Garvin gefunden.« »Wo?« »In Oceanside. Etwa zwei Meilen südlich der Stadt, in ihrem Wagen sitzend, fünfzehn bis fünfundzwanzig Meter jenseits der Straße an der Seeseite: mausetot, Einschußloch in der linken Schläfe. Nach dem Schußwinkel spricht wenig für Selbstmord. Sie hängt über dem Steuer, und es ist eine ziemliche Bescherung, reichlich Blut und so weiter. Das Fenster beim Lenkrad ist heruntergerollt. Der Revolver, offenbar die Mordwaffe, liegt genau unter dem Fenster am Boden. Sie könnte die Waffe gedreht, also auf den Kopf gestellt und den Schuß abgefeuert haben; das ist aber eine anomale Haltung und für eine Frau ein unnatürlicher Schußwinke! bei Selbstmord.« »Wie steht’s mit der Polizei?« erkundigte sich Mason. »Darum geht es jetzt«, sagte Drake. »Mein Detektiv hat die Leiche entdeckt. Niemand weiß davon - bis jetzt. Mein Mann konnte zuerst mich benachrichtigen, jetzt verständigt er die Polizei, aber auf dem Umweg über den Sheriff in San Diego. Es ist außerhalb der Stadtgrenze vo n Oceanside, so daß er technisch im Recht ist, wenn er den Sheriff und den Leichenbeschauer ruft... Jetzt noch folgendes, Perry: Mein Mann war so vorsichtig, weder den Revolver zu berühren noch irgendwelche Spuren zu verwischen, aber er hat sich natürlich gut umgesehen. Es sieht so aus, als ob da zwei Wagen gestanden hätten, Seite an Seite; der andere fuhr dann wieder weg. Und mein Mann konnte im Bücken die Revolvernummer feststellen. Es ist ein Smith and Wesson, Kaliber 38, und die Nummer steht auf dem Dorn am Griff: S 64805. Ich gebe mir größte Mühe, der Herkunft dieser Waffe nachzuspüren, bevor die Polizei alles herauskriegt. Vielleicht sind wir ihr einen Schritt voraus.« »In Ordnung«, sagte Mason, »ich fahre sofort los. Sieh zu, -7 8 -
daß wir den Schritt Vorsprung halten.« »Garvin und Frau sind bei dir?« »Sie sind hier abgestiegen.« »Was willst du mit denen machen?« »Zum Teufel, gar nichts«, sagte Mason nervös. »Sie sollen brav hierbleiben. Garvin kann nicht in die Staaten zurück, ohne wegen Bigamie verhaftet zu werden. Ich will aber nicht, daß es dazu kommt.« »Ich hatte einige Schwierigkeiten bei diesem Anruf«, sagte Drake. »Wahrscheinlich, weil’s ein Auslandsgespräch ist... Und dann habe ich noch was in eigener Regie unternommen, Perry, das hoffentlich richtig war.« »Was?« »Als ich die Meldung bekam, rief ich sofort Della Street an und sagte ihr, sie sollte sich fix was anziehen, in ihren Wagen springen und schnellstens nach Oceanside abbrausen... Jetzt stellt sich mein Mann da draußen absichtlich dumm an. So, wie er bei seiner Meldung vorging, besteht recht gute Aussicht auf Verzögerung. Als er das Büro des Sheriffs in San Diego anrief, redete er von Selbstmord, so einem der üblichen Fälle. Wahrscheinlich hat der Sheriff eine Außenstelle in Oceanside. Die wird man anrufen und jemanden hinschicken. Dann wird der Beamte feststellen, daß es nach Mord aussieht, wird nach San Diego zurückrufen, und alles in allem dürfte einige Zeit vergehen, bevor der Sheriff und der Leichenbeschauer eintreffen. Die Leiche wird nicht bewegt werden, bis der Leichenbeschauer ankommt. Dadurch hast du eine Chance, wenn du dich beeilst.« »Himmel, und ob ich mich beeile«, sagte Mason. »Ich bin froh, daß du Della in Marsch gesetzt hast. Vielleicht brauche ich sie.« »Ich habe ihr gesagt, sie soll sich gründlich umsehen. Du -7 9 -
müßtest aber von Tijuana aus ebenso schnell da sein wie sie von Los Angeles, vielleicht früher, je nach Verkehrsdichte. Auch die Verzögerung, bis mein Gespräch zu dir durchkam, muß man einkalkulieren.« »Okay«, sagte Mason, »ich fahre los.« Er legte den Hörer auf, rannte über den Flur zu seinem Zimmer, warf seine Sachen in die Tasche und spurtete wieder zur Halle. Pancho saß auf der Vordertreppe. »Pancho, ich habe hier zwei Freunde«, erklärte Mason ihm, »Mr. und Mrs. Garvin. Sie bewohnen die Zimmer 5 und 6. Wenn sie aufstehen, sag ihnen, ich mußte geschäftlich weg. Sag ihnen, daß jemand tot ist, den wir beide kennen. Sie sollen hierbleiben und warten, bis sie von mir hören. Sie sollen nicht woandershin. Sag ihnen, hier sollen sie auf mich warten. Verstehst du?« »Si, Senor.« »Ich habe meine Hotelrechnung noch nicht bezahlt«, fuhr Mason fort. »Hier sind zwanzig Dollar. Gib der Managerin das Geld für mein Zimmer, ja?« »Sï, Senor.« Mason warf seine Reisetasche in den Wagen, riß die Tür auf und sprang hinein. Er fummelte noch am Zündschalter herum, als Pancho schon wieder aus dem Büro auftauchte und feixte. »Ihre Schlüssel, Mr. Mason«, sagte er in tadellosem Englisch. »Sie lagen im Geldfach im Schreibtisch; wenn es nötig ist, muß ich morgens die Autos wegfahren. Aber meine Tante, Senora Miguerinio, paßt sehr auf und nimmt immer alles Geld aus dem Fach, wenn sie zu Bett geht.« Mason nahm die Schlüssel lächelnd an sich und sagte: »Du sprichst wirklich großartig Englisch, Pancho.‹‹ »Was glauben Sie denn, warum ich zur Schule gehe?« gab -8 0 -
Pancho zurück.
9 Perry Mason fuhr langsamer, als er voraus die kleine Gruppe Menschen sah. Im Norden leuchteten in einiger Entfernung die Häuser von Oceanside in der Morgensonne. Im Westen erstreckte sich flaches Tafelland, dahinter das Azurblau des Ozeans, der unbewegt unter dem wolkenlosen Himmel dalag. Mason parkte am Straßenrand. Ein Verkehrspolizist machte energische Versuche, den Verkehr in Fluß zu halten. Doch war es möglich, zum Rand auszuweichen und zu parken. Mason näherte sich der Gruppe, als ein Beamter des Sheriffs ihn schon zurückwies. »Der Leichenbeschauer ist noch nicht da«, sagte er. »Treten Sie zurück und bleiben Sie hinten.« Mason zog sich zurück, schob sich dann wieder vor, als der Beamte sich entfernte. Paul Drakes Detektiv, der Mason in der Menge erspäht hatte, kam zu ihm herüber und stellte sich vor. »Ich habe die Leiche gefunden. Kann ich etwas für Sie tun, Mr. Mason?« Der Anwalt führte ihn aus der Menschenmenge heraus. »Sie haben sich ein wenig umgesehen?« »Selbstverständlich«, sagte der Detektiv. »Was wissen Sie über den Revolver?« Der Mann schlug sein Notizbuch auf. »Hier ist die Nummer.« Mason verglich die Zahlen mit seinen eigenen Notizen und sagte: »Paul Drake gab sie mir schon tele fonisch durch. Wie viele Patronen wurden abgefeuert?« »Nur eine. Es ist ein Smith and Wesson, Kaliber 38. Alle Kammern waren geladen, und das Schlagstück liegt über der einen Kammer, die geleert wurde. Der Schuß ging links in den Kopf.« -8 1 -
»Verbrennungen am Einschuß?« fragte Mason. »Ich glaube, ja. Das Haar ist versengt. Ich konnte nicht ganz genau nachsehen.« »Trug sie Handschuhe?« »Ja.« »Sonst noch etwas von Interesse?« »Eine Sache noch, die vielleicht wichtig ist«, sagte der Mann. »Die Zündung am Wagen war abgeschaltet. Ich schaltete sie kurz ein, damit ich den Benzinstand erkennen konnte. Der Tank ist randvoll.« »Haben Sie die Tankstellen in Oceanside überprüft?« »Ja.« »Konnten Sie feststellen, wo sie getankt hat?« »Ich fragte überall, wo nachts durchgehend geöffnet war. Niemand konnte sich erinnern.« »Dann fragen Sie bitte noch einmal, wenn Sie hier wegfahren«, sagte Mason. »Es ist wichtig. Ich will jetzt sehen, ob ich noch etwas finde.« Er näherte sich Ethel Garvins Wagen so weit, wie der Beamte des Sheriffs es zuließ, ging dann langsam und prüfend um das Fahrzeug herum. Die Leiche war rechts vom Steuer vornübergesunken. Die eine Hand mit dem Handschuh hatte zwischen die Speichen gegriffen. Nach dem Zusammensacken des Körpers war der Arm durch den Zug fest an die Speichen gepreßt worden. Drakes Detektiv folgte Mason. »Brannten die Scheinwerfer, als Sie den Wagen fanden?« fragte Mason. »Nein. Alles war so, wie Sie es hier sehen. Es könnte Selbstmord gewesen sein.« »Aber warum, zum Teufel, sollte sie die ganze Strecke hier -8 2 -
herausgefahren sein, um am Straßenrand Selbstmord zu begehen? Außerdem ist eine Frau, die sich das Leben nehmen will, nicht interessiert daran, ihren Benzintank aufzufüllen.« Mason marschierte noch einmal um den Wagen herum, sah sich alles an und bemerkte, daß sich auf der Windschutzscheibe zahlreiche Flecke befanden, verursacht durch Insekten. »Besteht die Möglichkeit, daß sie an anderer Stelle ermordet wurde und jemand den Wagen hierherfuhr?« forschte er. »Daran habe ich noch nicht gedacht.« »Ist meine Sekretärin schon da, Miss Della Street?« »Ich glaube nicht, daß ich sie kenne.« »Eine gutaussehende... Da kommt sie.« Della Street, die aus nördlicher Richtung heranbrauste, bremste ihren Wagen ab. Der Schutzpolizist winkte ihr weiterzufahren. Sie nickte lächelnd und fuhr ein ganzes Stück. Dann parkte sie, stieg aus und ging zurück. »Fielen Ihnen Fußspuren in der Nähe des Wagens auf, als Sie herkamen?« fragte Mason den Detektiv, während er Della Street im Auge behielt. »Ich habe keine gesehen, jedenfalls nicht direkt bei diesem Wagen hier. Es ist offenbar ein Platz, wo Pärchen hinfahren, um ein bißchen zu knutschen. Sie sehen, hier haben die Autos einen regelrechten Fahrweg von der Straße bis hierher eingedrückt. Aber Fußspuren waren nicht da; jedenfalls habe ich nur Autospuren gesehen... Natürlich ist jetzt alles zertreten. Hier waren hundert Leute zu verschiedenen Zeiten. Sie stehen herum und glotzen, bis die Polypen sie verjagen und...« Della Street, flott und ansprechend im schicken Schneiderkostüm, war angelangt und grüßte: »Morgen, Chef.« »Morgen, Della. Tut mir leid, daß Sie so früh aufstehen mußten. Haben Sie einen Notizblock bei sich?« »Hier in meiner Jackentasche.« -8 3 -
»Paul Drakes Mitarbeiter«, stellte er vor. »Er berichtet mir gerade über Spuren. Reden Sie weiter - dies ist meine Sekretärin.« »Ja«, fuhr der Mann fort, »wie gesagt, da drüben links hatte ein Wagen geparkt, und im Sand waren Fußspuren, die wegführten. Aber das meiste davon war schon verwischt, bevor die Polizisten schlau wurden und die Menge zurückhielten. Ich selbst habe ja auch ein paar Spuren um diesen Wagen herum hinterlassen. Ich habe ein bißchen geschnüffelt, natürlich. Der Polizei sagte ich aber, ich wollte nachsehen, ob die Person tot oder betrunken wäre, oder ob sonst noch jemand bei ihr im Wagen gesessen hätte. Nein, irgendwelche Fußspuren waren nicht zu sehen, als ich zu diesem Wagen kam. Sollte noch eine andere Person dringewesen sein, hinterließ sie jedenfalls keine Fußspuren, als sie ausstieg.« Eine Sirene ertönte aus Richtung San Diego. Ein Wagen mit zwei Rotlichtern wurde in der Ferne sichtbar und näherte sich rasch auf der Autobahn. Der Beamte des Sheriffs rief laut: »Wo ist der Mann, der die Leiche entdeckt hat? He, Sie, kommen Sie her!« Drakes Detektiv ging hin. »Ich glaube, das ist alles, was ich erfahren kann«, sagte Mason zu Della Street. »Passen Sie noch ein Weilchen hier auf, ich will Paul Drake anrufen. Wir treffen uns am Flughafen.« Von Oceanside aus meldete Mason sich telefonisch bei Paul Drake. »Weißt du noch nichts über den Revolver, Paul?« »Ich bin bei der Arbeit«, sagte Drake. »Den Namen des ursprünglichen Käufers habe ich.« »Wer ist es?« »Ein gewisser Frank L. Bynum, der in Riverside wohnt. Ich habe meine Leute auf ihn angesetzt. Bisher konnten wir ihn noch nicht erreichen.« -8 4 -
»Okay«, sagte Mason. »Della habe ich getroffen. Ich will jetzt eine Maschine chartern und zurückfliegen. Die Sache ist höchst merkwürdig. Es sieht so aus, als wäre Ethel mit hoher Geschwindigkeit die ganze Küstenstraße heruntergebraust. Ihre Windschutzscheibe ist mit toten Insekten besät.« »Na klar ist sie schnell gefahren«, sagte Drake. »Sie wäre nicht um diese Zeit gestartet und hätte meinen Schatten abgehängt, bloß zum Vergnügen.« »Das ist nicht der springende Punkt«, entgegnete Mason. »Sie hatte wieder einen vollen Benzintank. Also muß sie in Oceanside getankt haben, obwohl sich bei den Tankstellen bisher niemand erinnert. Vielleicht entsinnen sie sich des Wagens nicht; das könnte sich ändern, wenn sie die Leiche sehen. Ich glaube es allerdings nicht. Und wenn du mir sagen kannst, warum eine Frau wie verrückt nach Oceanside braust, um zu tanken, anschließend die Straße verläßt und sich umbringt - dann schenke ich dir einen pelzgefütterten Füllfederhalter. Kannst du mir andererseits erklären, warum eine Frau diese Küstenstraße entlangrast, plötzlich herunterfährt, zu einem von Pärchen bevorzugten Parkplatz, und da auf ihre Erschießung wartet - dann kriegst du den zweiten Preis: eine Armbanduhr, die rückwärtsläuft.« Paul Drake lachte. »Für mich ist das einfach zu hoch, Perry.« »Denk doch nach. Siehst du nicht, was das bedeutet? Sie füllte ihren Tank irgendwo, wo die Windschutzscheibe nicht geputzt wurde. Klar?« »Aha! Du meinst, auf einer Farm?« »An der Benzinpumpe einer Farm, Paul. Du weißt, was ich meine.« »Verstehe, Perry. Sollen wir den Mann besuchen?« »Noch nicht. Erst wollen wir dem Revolver auf die Spur kommen. Du wirst wahrscheinlich schon einen Anhaltspunkt haben, bis ich eintreffe. Della ist am Tatort, ich besorge mir -8 5 -
inzwischen eine Maschine und lasse sie warmlaufen. Wir werden bald zurück sein. Sieh zu, daß du die Sache mit dem Revolver bis zu unserer Ankunft klären kannst. Ich möchte der Polizei einen Schritt vorausbleiben.« »In Ordnung«, sagte Drake. »Wir müßten mit Bynum jeden Augenblick Verbindung haben.« Mason charterte eine Maschine und wartete am Flughafen auf Della Street. »Haben Sie noch etwas entdeckt?« fragte er, als sie eintraf. »Ja. Sie trug keinen Hut. In ihrem Wagen war nichts von einem Hut zu sehen. Drakes Mann glaubt aber, sie trug einen, als sie losfuhr. Das könnte von Bedeutung sein.« »Vielleicht nahm sie ihn ab und ließ ihn irgendwo liegen«, meinte Mason. »Vielleicht, aber an sich pflegen Frauen so etwas nicht zu tun. Hier ist noch was: In der Menschenmenge wurde erzählt, jemand, der in nächster Nähe wohnt, hätte dort einen Wagen mit Scheinwerfern parken sehen. Als Drakes Mann den Wagen fand, brannten aber keine Lampen. Dieser Zeuge meint nun, sie hätten fünf bis zehn Minuten gebrannt. Sie schienen genau in sein Schlafzimmer und störten ihn. Einen Schuß hat er nicht gehört.« »Es könnte auch ein anderer Wagen gewesen sein, den der Nachbar sah.« »Natürlich«, sagte Della. »Es könnte ein Liebespaar gewesen sein.« »Liebe bei brennenden Scheinwerfern?« fragte Mason. Della lachte. »Ich kann Ihnen nur sagen, was ich gehört habe ohne Garantie.« Der Pilot kam heran. »Okay, die Maschine ist fertig, Sie können einsteigen.« Mason und Della Street kletterten in die kleine Kabine. Der Pilot rollte zur Startbahn und setzte ab. -8 6 -
»Drake hat den ursprünglichen Käufer des Revolvers gefunden«, sagte Mason, »einen Mann namens Frank Bynum in Riverside. Bis wir eintreffen, wird er bestimmt mehr Angaben haben. Wir wollen ihn vom Flughafen aus sofort anrufen. Ich möchte der Polizei mit den Tatsachen über den Revolver möglichst zuvorkommen.« Sie schwiegen, während die Maschine die Turbulenzen über den Hügeln von San Juan Capistrano durchflog. Dann sahen sie das Land langsam dahingleiten, die bebauten Gebiete näher kommen, bis sie schließlich die City erreicht hatten und das Flugzeug zur Landung ansetzte. »Rufen Sie Paul Drake schon an, während ich mit dem Piloten abrechne«, sagte Mason. Della Street nickte und eilte zum Telefon. Mason bezahlte den Flug und hastete zu den Telefonzellen im Flughafengebäude. Sobald er Della Streets Gesicht durch die Glastür sah, wußte er, daß sie genaue Auskünfte über den Revolver erhalten hatte. Della riß die Tür auf. »Frank Bynum wurde angesprochen«, berichtete sie. »Er sagt, den Revolver hätte er seiner Schwester zum Schutz gegeben. Sie wohnt im Dixieland Apartmenthotel in Nr. 206. Drake will wissen, ob er sie aufsuchen soll.« »Paul soll Bynum festnageln, damit er nicht telefonieren kann, und ich fahre selbst zu ihr. Nehmen Sie ein Taxi zum Büro, Della. Rufen Sie Edward Garvin im Hotel Vista de la Mesa in Tijuana an. Lassen Sie sich als erstes die Liste der Aktionäre geben, die Sie telefonisch verständigen können, sich heute nachmittag auf der Hauptversammlung einzufinden. Danach sagen Sie ihm, was passiert ist. Er soll auf jeden Fall in Mexiko bleiben. Er soll sich nicht von der Polizei zurückbringen lassen, um die Leiche zu identifizieren oder sonst was. Die Anzeige wegen Bigamie schwebt noch, und er kann eingesperrt werden, sobald er die Staaten betritt. Erklären Sie ihm auch, er -8 7 -
dürfte keinem Reporter ein Wort sagen. Geben Sie ihm nicht zu viele Einzelheiten über den Tod seiner Frau, erzählen Sie ihm nur die nackten Tatsachen. Ich fahre jetzt los.« Er rannte zu einem Taxi. Das Dixieland Apartmenthotel besaß keine Telefonzentrale und keinen Pförtner. Draußen neben den Klingelknöpfen waren die Namen der Mieter verzeichnet. Mason fand Miss V. C. Bynum und drückte den Knopf rechts neben dem Namen. Wenige Augenblicke später hörte er ein Geräusch in der Sprechanlage. Er nahm den Hörer ab. »Hallo? Ich möchte zu Miss Bynum.« »Wer sind Sie, und was wollen Sie?« fragte die Stimme. Mason entschloß sich zu einem Trick. »Ich habe ein Päckchen mit 23 Cent Nachgebühr«, log er. »Wollen Sie herunterkommen und es abholen?« »Oh, Moment... Würde es Ihnen was ausmachen, zu Apartment 206 raufzukommen? Ich ziehe mich gerade an und... Falls Sie’s machen können, bitte.« »Okay, ich bringe es Ihnen«, versprach Mason. Der Summer ertönte, Mason stieß die Tür auf und betrat eine lange, schwachbeleuchtete Halle. Apartment 206 lag im zweiten Stock. Mason verzichtete auf den Lift. Er stieg die Treppen hinauf und ging Türen zählend den Flur entlang. Er war noch ein paar Meter von Nr. 206 entfernt, als sich die Tür schon öffnete. Auf der Schwelle stand die junge Frau, die er auf der Feuerleiter gesehen hatte und die sich Virginia Colfax nannte. Sie trug einen Hausmantel los um die Schultern geworfen, in der Rechten streckte sie ihm 23 Cents entgegen. »Wo ist das Päckchen?« fragte sie, erkannte plötzlich Perry Mason und fuhr mit einem schrillen Ausruf des Entsetzens zurück. »Das haben Sie weggeworfen und später wieder aufgehoben«, -8 8 -
antwortete Mason. Ihre totale Verwirrung benutzte er, um sich in das Apartment zu drängen. »Sie! Wie haben Sie mich überhaupt gefunden?« Mason schloß die Tür hinter sich. »Wir haben vielleicht nicht viel Zeit zum Reden«, sagte er, »also kommen wir gleich zur Sache. Als Sie auf der Feuerleiter standen, warfen Sie einen Revolver weg, sobald Sie sahen, daß Sie entdeckt waren.« »Wieso, ich...« »Ich ging hinunter in den Hintergang und suchte diesen Revolver später, konnte ihn aber nicht finden. Es muß entweder eine Komplice da unten gewartet haben, oder Sie warfen die Waffe irgendwohin, wo ich sie nicht finden konnte, kamen später zurück und nahmen sie mit.« Virginia gewann ihre Haltung jetzt rasch zurück. »Ich bin gerade beim Ankleiden, Mr. Mason. Ich...« »Ich will Auskunft über diesen Revolver.« »Wenn Sie sich bitte setzen«, sagte sie, »bis ich fertig angezogen bin? Ich wohne hier ja ziemlich beengt. Ich nehme schnell meine Sachen, gehe ins Badezimmer und...« »Berichten Sie mir über den Revolver«, wiederholte Mason. »Ich habe Ihnen bereits gesagt, daß ich keinen Revolver besaß.« »Den Revolver«, sagte Mason, »hatten Sie von Ihrem Bruder, Frank L. Bynum, der in Riverside wohnt. Mit dieser Waffe wurde heute morgen Mrs. Ethel Garvin erschossen. Früher oder später werden Sie im Zeugenstand einem Schwurgericht alles sagen müssen - was Sie über den Revolver wissen und was Sie draußen auf der Feuerleiter vorhatten, als Sie das Büro der Garvin Mining, Exploration and Development Company bespitzelten. Jetzt wäre vielleicht eine gute Gelegenheit für die Generalprobe - damit Sie in Schwung kommen.« -8 9 -
»Mr. Mason, ich... Dieser Revolver... Ethel Garvin - du großer Gott!« »Reden Sie nur weiter«, drängte Mason. »Raus mit der Sprache.« Sie setzte sich, weil ihr die Knie zu versagen schienen. Einen Augenblick herrschte Schweigen, dann sagte Mason: »Wenn Sie sie getötet haben, sollten Sie weder mit mir noch mit sonst einer Person darüber reden, bevor Sie mit Ihrem Anwalt gesprochen haben. Gibt es aber eine andere Erklärung, will ich sie wissen. Ich versuche, Edward Garvin zu schützen.« »Er ist... Er ist Ihr Mandant?« »Ja.« »Was hat er damit zu tun?« Mason schüttelte ungeduldig den Kopf. »Reden Sie nicht länger um die Sache herum. Was haben Sie damit zu tun?« »Ich... Ich weiß es nicht.« »Was ist mit dem Revolver?« »Er wurde mir vor mehreren Wochen gestohlen«, erklärte sie. »Ich hatte ihn immer hier in der Schublade. Sehen Sie, ich zeige es Ihnen.« Sie ging zur Kommode hinüber. »Hier in dieser Ecke lag er.« Mason bewegte sich nicht vom Stuhl. Er nahm sein Zigarettenetui heraus und bot ihr an. Sie schüttelte den Kopf, noch immer auf die Schublade zeigend. »Hier, Sie können genau den Platz in der Ecke sehen, wo ich ihn aufbewahrte. Auf dem Pappkarton sind noch Ölspuren. Ich wollte nicht, daß er mit meinem Zeug in Berührung kam, er war eingeölt. Und mein Bruder, wissen Sie, hatte soviel über die kürzliche Welle von Verbrechen gelesen und über belästigte Mädchen. Er meinte, es wäre gut, wenn ich was zu meinem Schutz hätte. Er sagte mir, ich sollte abends nie an die Tür gehen und...« -9 0 -
»Wann hatten Sie den Revolver zuletzt?« »Ich sage Ihnen doch, ich weiß es nicht. Ich sah ihn immer hier in der Schublade, wenn ich sie öffnete, um meine Sachen herauszunehmen. Ich habe meine Strümpfe und Unterwäsche in dieser Schublade liegen. Vor kurzer Zeit... Ach, ich weiß es nicht, vielleicht vor drei oder vier Wochen...« »Neulich abend, als ich Sie auf der Feuerleiter überraschte«, unterbrach Mason, »hatten Sie einen Revolver in der Hand. Sie wußten, daß ich Sie entdeckt hatte, und warfen die Waffe nach unten in die Gasse. Sie führten mich hinters Licht und flohen. Ich ging zurück und suchte den Revolver, er war aber nicht da. Jedenfalls fand ich ihn nicht. Ich entsinne mich, ein paar Kisten, Abfalltonnen und Altpapier gesehen zu haben. Ich warf nur einen flüchtigen Blick hin und glaubte, der Revolver läge auf dem Pflaster. Da war er nicht. Was geschah also damit?« »Ich sage Ihnen, er wurde gestohlen und...« »Ich sah ihn vor zwei Nächten in Ihrem Besitz.« »Können Sie beschwören, daß es derselbe Revolver war?« Mason lächelte. »Nein, Fräulein Staatsanwalt. Nicht, daß es derselbe war, kann ich beschwören, aber daß es ein Revolver war. Und dann wird die Polizei viel mehr darüber wissen wollen.« Sie zögerte einen Augenblick. »Mr. Mason«, erklärte sie dann, »ich weiß einfach nicht, wer diesen Revolver hat, und das ist alles. In einem Punkt haben Sie recht - ich hatte ihn, und ich warf ihn weg.« »Was suchten Sie da draußen auf der Feuerleiter?« »Ich beobachtete jemanden im Büro der Garvin Mining, Exploration and Development Company.« »Wen?« »Offen gesagt, hatte man mich da aufgestellt, um gewisse nächtliche Vorgänge aufzuklären. Sie können sich meine -9 1 -
Überraschung wohl vorstellen, als die Bürotür geöffnet wurde und die eintretende Person nicht die war, die ich erwartet hatte, sondern eine Frau; und zwar Edward C. Garvins erste Frau, wie ich dann erfuhr.« »Was tat sie dort?« »Ich konnte nicht alles feststellen, was sie tat, denn Sie kamen ja dazwischen. Aber sie hatte eine Handvoll Papiere bei sich, und ich glaube jetzt, es waren Vollmachten. Sie ging gerade zu dem Fach, wo die Vollmachten abgelegt sind, als Sie mich bei meinem Job störten - und leider weiterhin stören.« Mason überdachte die Sache. »Warum beobachteten Sie das Büro überhaupt?« fragte er dann. »Hinter wem waren Sie her?« Virginia Bynum rieb sich die Augen und gähnte. »Ich glaube, er ist der Hauptbuchhalter. Denby heißt er.« »Kennen Sie ihn?« »Ja.« »Wie gut?« »Nicht gut. Ich weiß, wer er ist, wenn ich ihn sehe.« »Warum bespitzelten Sie ihn?« »Weil meine Mutter jeden Cent ihres Geldes in diese Gesellschaft steckte und ich Angst hatte, da wäre was nicht in Ordnung.« »Jetzt kommen wir allmählich weiter«, sagte Mason. »Und warum glaubten Sie, etwas wäre nicht in Ordnung?« »Ich dachte, etwas - na, irgendwas Verdächtiges ginge vor.« »Wie kamen Sie darauf?« »Mutter erhielt eine Vollmacht mit der Post«, sagte sie. »Sie gab Mr. Garvin immer Vollmachten. Ich schätze, jeder tat das. Die Aktionäre waren mit der Gesellschaft zufrieden. Sie brachte Geld und, na, ich nehme an, mehr wollte niemand.« »Kommen Sie«, entgegnete Mason, »hören Sie auf, wie die -9 2 -
Katze um den heißen Brei zu schleichen. Sie wußten, daß etwas im Busch war. Sie standen draußen auf der Feuerleiter, mit dem Revolver in der Hand. Den trugen Sie nicht nur zur Zierde; sie hatten ihn zu einem ganz bestimmten Zweck bei sich.« »Ich trug ihn einfach zu meinem Schutz, Mr. Mason«, sagte sie. »Ich hatte ihn tatsächlich immer in der Handtasche, wenn ich spätabends ausging. Ich arbeite als Stenotypistin und manchmal bis spät in die Nacht. Die Straßenbahnhaltestelle ist drei Blocks von hier entfernt. Von da muß ich zu Fuß bis zu diesem Apartmenthaus gehen. Was alles so vorgekommen ist na, es stand ja in der Zeitung, auf welche Art Mädchen überfallen wurden und... Ja, deshalb trug ich den Revolver. Darum hatte mein Bruder ihn mir gegeben. Ich hätte ihn wohl nicht ohne Waffenschein tragen sollen, aber Sie wollen ja die Tatsachen wissen, und so waren sie. Ganz einfach.« »Und warum nahmen Sie den Revolver aus Ihrer Tasche und hielten ihn in der Hand, als Sie draußen auf der Feuerleiter standen?« »Weil ich Angst hatte. Ich wußte nicht, was passieren würde, wenn man mich erwischte.« »Und was taten Sie auf der Feuerleiter?« »Ich sage Ihnen doch, Mr. Mason, meine Mutter hatte den üblichen Vollmachtsvordruck erhalten und unterschrieben. Und als wir uns dann zufällig über die Firma unterhielten, erzählte sie mir, sie hätte eine weitere Vollmacht bekommen und unterschrieben. Ich konnte nicht verstehen, warum sie zwei Vollmachten versandten. Ich dachte mir aber noch nicht viel dabei, bis sie erwähnte, die neue Vollmacht wäre im Wortlaut etwas abweichend von der üblichen gewesen; die Zertifikatnummer von Mr. Garvins Aktie hätte daraufgestanden. Da wurde ich stutzig, ging zum Büro der Gesellschaft und fragte das zuständige Mädchen nach dem Datum der Hauptversammlung und noch einiges. Ich stellte mich vor und -9 3 -
bat sie, mir die Vollmacht meiner Mutter zu zeigen.« »Und was geschah?« »Sie befragte diesen Mr. Denby darüber. Der kam höflich lächelnd zu mir und sagte, selbstverständlich wäre es ihm ein Vergnügen, mir die von meiner Mutter unterzeichnete Vollmacht zu zeigen. Er ging an die Akten und suchte ein Papier heraus, das offenbar die erste Vollmacht war. Sie war genauso ausgestellt, auf E. C. Garvin lautend. Aber von einer Zertifikatnummer stand nichts da.« »Also kletterten Sie draußen auf die Feuerleiter und...« »Sie wollen es bloß möglichst ungereimt klingen lassen.« »Nun, offen gesagt, klingt es mir in der Tat etwas verdächtig.« Virginia Bynum bekämpfte ein Gähnen. Mangel an Schlaf schien ihre Augen zu trüben. »Weiter«, sagte Mason. »Man kann es weibliche Intuition nennen, wenn man will. Ich weiß nicht, wie’s kommt, aber jedenfalls bin ich immer meiner Eingebung gefolgt. Als ich da oben in dem Büro war und mich umsah, entdeckte ich im Haus die Detektei Drake. An der Firmentafel las ich, daß sie Tag und Nacht geöffnet ist und man sich beim Fahrstuhlführer nicht einzutragen braucht, wenn man nach Büroschluß zur Detektei will. Ich dachte über die Sache nach und kam zu dem Entschluß, mit der Detektei Drake zu reden. Und dann hatte ich eine großartige Idee. Mir fiel ein, daß vor dem Bürofenster der Garvin Mining Company ein Treppenabsatz der Feuerleiter war. Ich startete von Drakes Etage, ging zwei Treppen hoch, fand den Ausstieg zur Feuerleiter und stieg hinaus. Dann kletterte ich einen Stock abwärts und war genau auf dem Treppenabsatz vor dem Bürofenster, das ich suchte. Das Fenster stand einen kleinen Spalt offen. Ich kämpfte noch mit der Versuchung, einfach reinzugehen, aber da hob sich plötzlich ein Schatten gegen die -9 4 -
Mattglastür des Büros ab. Ich sah, daß jemand hereinkam... Auf dem Flur brannte das Nachtlicht, so daß man den Schatten einer Person erkennen konnte, die einen Schlüssel in die Bürotür steckte. Mich ergriff panische Angst. Ich war - na ja, Mr. Mason, ich hatte mich gerade entschlossen einzusteigen und mir die Akte anzusehen, aus der Mr. Denby Mutters Vollmacht genommen hatte. Tatsächlich hatte ich schon ein Bein über der Fensterbank.« »Erzählen Sie weiter«, sagte Mason. »Na, ich kehrte schleunigst um und wo llte die Feuertreppe abwärtslaufen. Da kam diese Person ins Büro, machte Licht, und mir wurde klar, daß ich jetzt deutlich zu sehen war. Ja, ich stieg also die Feuertreppe abwärts, und dann bewegten Sie sich. Ich sah Sie, und meine Röcke flogen hoch und... Ehrlich gesagt, Mr. Mason«, lächelte sie entwaffnend, »ich saß verflixt in der Patsche.« »Sie scheinen mir eine sehr resolute Person zu sein«, bemerkte Mason. »Das bin ich. Und, Mr. Mason, es tut mir leid. Es tut mir aufrichtig leid, was ich getan habe - das mit der Ohrfeige.« »Sollte es wohl. Dafür bin ich Ihnen noch was schuldig.« Sie lachte. »Sie waren so enorm anständig in - na, in allem. Ich hatte nur nicht den Mut, Ihnen die ganze Sache zu erzählen. Ich dachte, Sie würden mir nicht glauben, selbst wenn ich es zu erklären versuchte. Und ich war verzweifelt.« »Jetzt erzählen Sie mir aber alles höchst bereitwillig«, hielt Mason ihr vor. »Unter ganz anderen Umständen. Sie haben mich gefunden. Ich schätze, das bedeutet - oh, ich weiß es wahrscheinlich schon!« »Was?« »Sie fanden diesen Revolver«, sagte sie. »Ich habe mich -9 5 -
immer gefragt, wo er geblieben war.« »Am besten erzählen Sie mir ein bißchen mehr über diesen Revolver«, schlug Mason vor. »Ich habe ihn nicht hinuntergeworfen«, sagte sie. »Ich machte eine Handbewegung, als ob ich ihn wegwerfen wollte, tat es aber nicht. Nach dieser Handbewegung drehte ich mich schnell herum und legte ihn auf den Absatz der Feuertreppe, direkt neben die Wand. Ich wollte später zurückkommen und ihn holen, aber als ich Gelege nheit dazu hatte, war er verschwunden. Ich dachte, Sie hätten sich alles ausgeknobelt und ihn nachher weggenommen. Sie müssen es getan haben. Und dann prüften Sie die Nummer, fanden meinen Bruder, und so war die Sache!« »Wie stellten Sie fest, daß der Revo lver verschwunden war, Virginia?« fragte Mason. Einen Moment lang wich sie seinem Blick aus, sah ihm dann gerade in die Augen. »Da habe ich Sie wohl auf was gebracht, ja?« »Es interessiert mich.« »Ich bin in der letzten Nacht wieder dagewesen«, sagte sie, »ebenso wie in der vorletzten, und zwar die ganze Nacht über. Das ist der Grund, warum ich heute morgen so gräßlich müde bin. Die ganze Nacht habe ich durchgehalten und bin dabei fast erfroren. Ich sage Ihnen, Mr. Mason, ich habe sehnsüchtig nach unten in Ihr Büro geschaut. So gut wie alles hätte ich hergegeben, um mich aufzuwärmen.« »Sie haben sich die ganze letzte Nacht dort aufgehalten?« fragte Mason. »Ganz recht.« »Wie war’s, wenn Sie mir darüber noch etwas mehr berichten würden?« »Na, ich wartete, bis die Putzfrauen weg waren. Dann machte -9 6 -
ich es genau wie vorher. Ich ging in das Stockwerk, wo Mr. Drake sein Büro hat. Der Hausmeister, der den Nachtlift bedient, kennt mich mittlerweile; wir sind dicke Freunde.« »Sie starteten also bei Drakes Büro, und dann?« . »Ging ich zwei Treppen hinauf und stieg auf die Feuerleiter, kletterte ein Stück abwärts und bezog Stellung. Ich suchte den Revolver, aber er war verschwunden. Das erschreckte mich.« »Weiter«, sagte Mason, »erzählen Sie mir den Rest. Ich glaube, jetzt weiß ich, warum Sie so flott berichten.« »Was wollen Sie damit sagen?« »Tut nichts zur Sache. Weiter bitte.« »Das schien mir aber eine Attacke zu sein.« »War es wohl auch«, gab Mason zu, »aber fahren Sie fort. Rücken Sie zunächst mit Ihrer Geschichte heraus.« »Also, ich war auf alles vorbereitet. Diesmal hatte ich mich gegen Wind und Regen verpackt. Ich trug sogar ›langstielige Unterwäsche‹, wie wir das in Idaho nennen. Einen dicken Pullover hatte ich an, darüber eine Lederjacke; dazu meine Skimütze. Oh, ich war gut ausstaffiert. Das Extrazeug hatte ich im Beutel mitgebracht.« »Und Sie blieben die ganze Nacht über da?« »Die ganze Nacht.« »Hielten Sie es nicht für etwas unwahrscheinlich, daß jemand nach - na, sagen wir ein oder zwei Uhr nachts ins Büro kommen würde?« »Ich wollte nichts versäumen, Mr. Mason. Die Hauptversammlung der Aktionäre ist heute nachmittag um zwei Uhr. Ich werde hingehen und die Interessen meiner Mutter wahrnehmen. Ich kann Ihnen nur sagen, daß in dieser Gesellschaft sehr merkwürdige Dinge vorgehen. Die ganze Sache ist faul.« »Wie kommen Sie darauf?« -9 7 -
»Dieser Mann«, sagte Virginia, »dieser Hauptbuchhalter - ich glaube, Denby heißt er - war die ganze Nacht im Büro beschäftigt.« Masons Augen verrieten Interesse. »Womit beschäftigt?« »Ich glaube, Ihnen sollte ich das alles gar nicht erzählen, Mr. Mason. Letzten Endes weiß ich gar nicht, wo Sie stehen. Sie könnten ebensogut jemanden auf der anderen Seite vertreten.« »Dennoch reden Sie«, sagte Mason. »Sie haben bereits genügend gesagt. Ich möchte wissen, was da geschah. Womit war Denby beschäftigt?« »Zunächst mal diktierte er eine Unmenge. Ich dachte erst, er machte nur ein paar Überstunden, aber er saß da und besprach achtzehn Platten seines Diktaphons neben dem Schreibtisch. Und ich hätte mich ohrfeigen können für meine Dußligkeit - da draußen auf der Feuerleiter zu hocken, während dieser arme pflichtgetreue Angestellte der Firma sich abmühte, die Arbeit vor der Hauptversammlung noch zu bewältigen. Und dann wurde ich mißtrauisch.« »Warum?« »Er fing an, die Akten durchzusehen. Er nahm Papiere heraus und legte sie in eine Aktentasche. Und die Art und Weise, wie er das tat, fiel mir auf; wie ein Kassierer, der verduften will. Dann ging er an den Safe, nahm noch mehr Papiere heraus und packte auch sie in die Aktentasche. Danach machte er sich an die Bücher, schrieb Zahlen ab... Na, eben die Art, Mr. Mason, wie er sich benahm, erregte mein Mißtrauen.« »Wie lange blieb er?« forschte Mason. »Er war schon da, als ich ankam, und er blieb die ganze lange Nacht, Mr. Mason, wahrhaftig die ganze Nacht. Er diktierte unentwegt weiter. Als es allmählich hell wurde, saß ich noch immer wie angeklebt draußen auf der Feuerleiter. Von den umliegenden Gebäuden konnte man mich sehen. Deshalb - na, ich kletterte einfach die Feuerleiter wieder hinauf und ging dann -9 8 -
in den Hausfluren auf und ab, um mich aufzuwärmen. Mein Extrazeug packte ich zu einem Bündel zusammen. Als der Fahrstuhl wieder ging, lief ich zuerst die Treppen bis Drakes Büro runter, um mich nicht allzu verdächtig zu machen. Ich drückte den Knopf, und als der Lift heraufkam, stieg ich ein, fuhr nach unten und ging nach Hause. Ich nahm ein heißes Bad und trank eine Menge Kaffee. Zwei bis drei Stunden habe ich dann wohl noch geschlafen. Ich war aber so in Sorge wegen der Hauptversammlung heute, daß ich... Ja, daß ich den Wecker schon sehr früh stellte. Ich muß hingehen und irgendwas tun, um die Interessen meiner Mutter zu wahren.« »Sie erwähnten Idaho«, sagte Mason. »Leben Sie in Idaho?« »Ich habe da gelebt.« »Auch gearbeitet?« »Mr. Mason«, fragte sie, »warum wollen Sie in meinem Privatleben herumschnüffeln?« Mason lachte. »Sie haben mir eine Ohrfeige verpaßt. Das gibt mir gewisse Rechte.« »Na gut, wenn Sie’s wissen wollen: Ich habe allerlei Stellungen gehabt in Idaho. Ich bin ein Mädchen, das die Abwechslung liebt. Ich - ich arbeite in Minencamps und auch in Spielsalons.« »In Idaho wird gespielt?« »Jetzt nicht mehr«, sagte sie, »aber bis vor wenigen Jahren. In den Gebirgsgegenden gab es alle Arten Glücksspiele - Roulett, Würfeln und dergleichen. Ich habe den Dreh raus, wie man sich immer kühl und beherrscht gibt, und trotzdem bin ich - na, wie man so sagt, eine ansprechende Persönlichkeit, und man findet mich attraktiv.« Sie stand unvermittelt auf, ging zu Mason hinüber und ließ sich auf seiner Sessellehne nieder. »Und einen anständigen Kerl erkenne ich auf Anhieb«, sagte sie, sanft zu ihm -9 9 -
hinunterlächelnd. »Ich glaube, bei der Arbeit in diesen Spielsalons lernt man die Menschen kennen. Mit der Zeit taxiert man die Leute richtig ein. Und Sie sind in Ordnung, Mr. Mason. Wenn eine Frau in solchen Spielsalons arbeitet, meinen die Männer natürlich immer, sie könnten bei ihr landen. Es machte mich so rasend, wenn sich einer Frechheiten herausnahm, nur weil ich diesen anstrengenden Job durchhalten wollte. Und Sie können mir glauben, Mr. Mason, so was ist anstrengend. Darum wurde ich auch so böse, als Sie sagten, Sie wollten mich durchsuchen. Und dann waren Sie so reizend dabei. Ich - ich bin Ihnen noch was dafür schuldig.« Sie lächelte ihn an, legte ihm die Hand auf die Schulter, beugte sich herab. Ihr Gesicht kam sehr nahe. »Wissen Sie, wirklich...« Energisches Klopfen unterbrach sie. Von Masons Sessellehne hochspringend, zog sie ihren Morgenrock glatt. Wieder wurde gegen die Tür gehämmert. Virginia Bynum sah Mason mit entsetzten Augen an. »Wer wer ist da?« rief sie. »Sergeant Holcomb von der Mordkommission. Wir machen eine Kontrolle. Öffnen Sie.« Virginia Bynum, kalkweiß im Gesicht, ging zur Tür, drehte den Knopf und öffnete. Sergeant Holcomb stemmte die Schulter gegen die Tür, drängte Virginia zurück. Beim Anblick Perry Masons stutzte er. »Guten Morgen, Sergeant«, sagte Mason und wandte sich dann an Virginia Bynum: »Ich glaube, wegen dieser Sache bin ich hereingekommen.« »Wieder mal falsch«, versetzte Sergeant Holcomb. »Wegen dieser Sache gehen Sie raus!«
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10 Paul Drake räkelte sich in Masons großem Sessel und sagte: »Ich fange an, mir ein paar Tatsachen zusammenzuflicken, Perry. Verflixt undurchsichtiger Fall.« »Was hast du gefunden, Paul?« »Dieser Hackley wird noch eine harte Nuß werden, Perry. Offenbar weiß die Polizei nichts von ihm, aber meiner Ansicht nach ist er der Schlüsselfaktor in der ganzen Sache.« »Irgend etwas über die Todeszeit, Paul?« fragte Mason. »Soweit die Ärzte das schon sagen können, passierte es gegen ein Uhr. Das meint man auf Grund der Körpertemperatur, als die Leiche gefunden wurde, der Leichenstarre und ein paar anderer Dinge. Nach vorläufiger Schätzung der Polizei war es also heute nacht um ein Uhr.« »Sie verließ ihr Apartment gestern abend um 22.19 Uhr, ist das richtig?« fragte Mason. »Ja. Die Ärzte können natürlich die Todeszeit nicht mit der Stoppuhr feststellen. Ethel könnte bei ihrem Eintreffen in Oceanside ermordet worden sein - oder auch eine Stunde später.« »Sie hatte ihren Wagen aufgetankt«, sagte Mason. »Der Mörder hätte sie wohl kaum umgebracht und anschließend den Tank gefüllt. Sie muß es also selbst getan haben.« Drake nickte. »Und weil die Windschutzscheibe nicht abgewischt wurde, war sie nicht bei einer Tankstelle.« »Du meinst also, sie hielt auf der Farm?« »Ich bin so gut wie sicher.« Drake zündete sich eine Zigarette an, sah dem aufsteigenden Rauch gedankenvoll nach und sagte langsam: »Die Polizei hat einige Vermutungen über den Mord, Perry.« -1 0 1 -
»Welche?« »Man glaubt nicht, daß sie an der Stelle umgebracht wurde, wo man die Leiche fand.« »Nein?« »Nein. Nach Ansicht der Polizei öffnete sie die Tür und ließ jemanden einsteigen. Der fuhr den Wagen. Sie saß neben ihm auf dem Beifahrersitz. Dann wartete er auf einen günstigen Augenblick, riß den Revolver heraus und schoß sie in die Schläfe. Ihre Leiche schob er ganz nach rechts hinüber und fuhr den Wagen zu der Stelle, wo sie gefunden wurde. Dann verließ der Mörder den Wagen und zog Ethel Garvins Leiche auf die andere Seite, hinter das Steuer. Damit wollte er vortäuschen, daß sie erschossen wurde, während sie am Steuer saß.« »Moment«, sagte Mason, »das deckt sich nicht mit den Tatsachen, Paul. Dein Mann sah sich nach Fußspuren um, als er dort ankam, und fand keine, die vom Wagen wegführten. Der Boden war zwar nicht unbedingt günstig für eine Spurensuche, aber trotzdem hätte dein Mann in der Lage sein müssen...« »Natürlich«, unterbrach Drake. »Bedenke aber folgendes, Perry. An dem Platz, wo die Le iche gefunden wurde, hatte offenbar noch ein anderer Wagen geparkt. Als nun der Mann mit Ethel Garvins Leiche im Wagen ankam, muß er das Fahrzeug langsam und vorsichtig genau in eine solche Position gebracht haben, daß er die Tür öffnen und in den anderen Wagen umsteigen konnte. Mit dem fuhr er dann weg, nachdem er vorher die Leiche hinter das Steuer gezogen und den Revolver auf den Boden gelegt hatte.« »Auf die Art einen Mord zu begehen, scheint mir ziemlich idiotisch«, meinte Mason übellaunig. »Sei nur nicht zu sicher, daß es nicht doch auf die Art geschah, Perry. Die Beweise sprechen dafür.« »Was für Beweise?« -1 0 2 -
»Na, als erstes dieser Fluchtwagen, der hingefahren und geparkt wurde.« »Woher will die Polizei wissen, daß er geparkt wurde?« »Sie sind sich natürlich nicht absolut sicher, aber sie glauben das. Sie haben festgestellt, daß jemand aus dem Wagen stieg, über ein Stück weichen Boden ging und dann hinüber zur Autostraße; sie können aber keine Anzeichen finden, daß jemand wieder zum Wagen zurückging.« »Was gibt es sonst noch?« fragte Mason. »Anscheinend kann der Revolver bis zu Garvin zurückverfolgt werden.« Mason richtete sich kerzengerade auf. »Was?« »Die Polizei spürte ihm nach bis zu Frank Bynum«, sagte Drake. »Bynum erklärte, er hätte ihn seiner Schwester Virginia gegeben. Die Polizei kam, dir dicht auf den Fersen, zu Virginia. Sie wand sich eine Weile, erzählte dann eine Geschichte, wie sie das Büro der Garvin Mining Company beobachtet hätte, um die Investitionen ihrer Mutter zu retten. Auch wie du sie da draußen auf der Feuerleiter geschnappt und hereingeholt hast, berichtete sie. Und dabei wäre sie den Revolver losgeworden. Sie glaubte, du hättest ihn bei ihr gesehen. Deshalb tat sie so, als ob sie ihn nach unten werfen wollte, schwenkte herum und stieg die Leiter herab, wobei sie dir den Ausblick auf ihre Beine gönnte. Im Schatten legte sie dann die Kanone auf den Treppenabsatz der Feuerleiter. Sie konnte wohl damit rechnen, daß du ihre Beine und nicht den Revolver aufs Korn nehmen würdest.« »Na, na«, mokierte sich Della Street. »Tat ich auch«, gab Mason zu. »Weiter, Paul. Was war noch?« »Von da ab hat die Polizei eine interessante Spur«, fuhr Drake fort. »Offenbar ging Garvin am nächsten Tag in sein Büro, unmittelbar nachdem er bei dir war. Er stand am Fenster und sah -1 0 3 -
trübsinnig auf den Hintergang, als ihm plötzlich was auffiel. Er fragte den Hauptbuchhalter, George L. Denby: ›Teufel noch mal, Denby, was ist denn das da draußen auf der Feuerleiter?‹« »Nur weiter«, sagte Mason, »vorläufig klingt mir das wie ein Drehbuch.« »Na, jedenfalls haut es alles hin«, entgegnete Drake. »Denby schaute aus dem Fenster und sagte: ›Mein Gott, Mr. Garvin, das ist ein Revolver!‹ Frank Livesey, der Vorsitzende des Aufsichtsrats der Gesellschaft, war auch dabei. Die drei sahen durchs Fenster, und dann kletterte Livesey auf die Feuerleiter und holte den Revolver. Er untersuchte ihn, sagte ›Er ist voll geladen‹ und gab ihn Denby. Der untersuchte ihn auch und gab ihn weiter an Garvin. Garvin spielte ein bißchen Detektiv. Er sagte: ›Da ist überhaupt kein Rostfleck drauf. Hätte er da draußen sehr lange gelegen, müßte er rostig sein. Jemand muß mit dem Revolver auf der Feuerleiter gewesen sein. Ich möchte bloß wissen, wer das war.‹ Sie redeten hin und her, und Denby wollte die Polizei anrufen. Garvin sagte aber, er müsse sich die Sache erst überlegen; er wünschte keine nachteilige Publicity genau vor der Hauptversammlung.« »Weiter«, sagte Mason. »Die Sache wird jetzt wirklich interessant. Wir haben einen Revolver, der sich später als Mordwaffe herausstellt und Fingerabdrücke von drei Personen aufweist.« »Die alle auf rechtmäßige Weise entstanden«, fuhr Drake fort. »Aber jetzt kommt’s: Livesey war im Begriff wegzugehen, um eine Tasse Kaffee zu trinken. Er sagte, er wäre schon frühmorgens dagewesen, hätte sich noch mit den Akten beschäftigt, um für die Hauptversammlung alles vorzubereiten. Darauf sagte Garvin etwa folgendes: ›Livesey, ich bin so gut wie startbereit für eine kleine Reise mit meiner Frau. Ich will vor der Hauptversammlung noch einen Kurzurlaub nehmen, ein bißchen ausspannen. Mein Wagen steht da unten - das große Kabriolett. Würden Sie wohl diesen Revolver ins -1 0 4 -
Handschuhfach legen? Ich will ihn mir ansehen. Eine recht hübsche Waffe ist das.‹« »Und dann?« fragte Mason. »Livesey ging runter, blickte sich um, ob niemand ihn beobachtete, und steckte den Revolver ins Handschuhfach. Er trank seine Tasse Kaffee und kam zurück. Sie unterhielten sich noch eine Weile, wobei Garvin die letzten Anweisungen gab. Dann fuhren er und Denby zusammen im Fahrstuhl nach unten. Ich glaube übrigens, Perry, diese letzten Anweisungen hatten mit dem Scheck zu tun, den seine Sekretärin für dich ausstellen sollte. Das ist also die Sache mit dem Revolver. Denby erinnert sich, daß er mit Garvin im Lift nach unten fuhr. Als er weggehen wollte, sah er Garvin noch das Handschuhfach untersuchen, ob der Revolver auch da war. Dann stieg Denby in seinen eigenen Wagen und fuhr weg. Normalerweise hätte die Polizei wohl als erstes das Mädchen unter die Lupe genommen. Sie behauptet aber, ein perfektes Alibi zu haben, da du sie sehr gründlich durchsuchtest, nachdem sie dein Büro betreten hatte...« Ein leiser Pfiff von Della Street war zu vernehmen. »Spaß beiseite, Paul«, sagte Mason, »dieses Mädchen war um mein Büro herumgeschlichen. Soweit ich feststellte, war sie die Feuerleiter heruntergeklettert, einsatzbereit für einen Nahschuß auf mich, während ich schlafend im Sessel lag. Natürlich hatte ich nicht die Absicht, sie in mein Büro zu holen, nur damit sie mich dann mit der Kanone unter Druck setzte.« »Ich kann’s dir auch nicht verdenken«, sagte Drake. »Della«, bat Mason, »verbinden Sie mich mit Edward Garvin.« Della Street meldete das Gespräch an. »Wie steht’s mit dem Zeitfaktor?« wandte Mason sich an Drake. »Hat die Polizei überprüft, womit alle beschäftigt waren - wann, wo und warum?« -1 0 5 -
»Du meinst, wegen des Alibis zur Mordzeit?« »Ja.« »Sie haben ein paar einleitende Ermittlungen angestellt. Du mußt bedenken, Perry, daß die Polizei mich nicht ins Vertrauen zieht. Ich muß alles aus den Reportern rausziehen und kriege gelegentlich hier und da einen Tip.« »Du schaffst es aber immer, Paul«, lobte Mason. »Was tat die Polizei also?« »Nun, zunächst überprüften sie Denby. Er saß hier die ganze Nacht über den Büchern, diktierte Korrespondenz und bereitete Unterlagen für die Hauptversammlung vor. Er behauptet, die ganze Nacht gearbeitet zu haben. Er sieht auch danach aus. Und als seine Sekretärin heute morgen kam, lag auf ihrem Schreibtisch das Diktatpensum einer ganzen Nacht. Überdies stimmt seine Geschichte völlig mit dem überein, was er Livesey erzählte, als der ihn vorher anrief, und zwar bevor jemand von Mrs. Garvins Ermordung wußte. Sie deckt sich auch mit der Erklärung, die Virginia Bynum etwa eine halbe Stunde später der Polizei gab, als man sie auf Grund der Nummer auf dem Revolver gefunden hatte. Sie stand letzte Nacht wieder auf ihrem Beobachtungsposten auf der Feuerleiter. Man forderte sie auf, genau zu beschreiben, was sie gesehen hatte. Und ihre Aussage gibt Denby wirklich ein Alibi. Sie kann alles schildern, was er tat. Die Polizei vermutet durchaus kein Motiv bei ihm.« »Die Geschichte, die Virginia mir und der Polizei erzählte, ist phantastisch - aber manche phantastischen Geschichten sind wahr. Und was ist mit Livesey?« fragte Mason. »Livesey ist Junggeselle«, gab Drake Auskunft. »Er lag im Bett - zu Hause. Er sagt, leider könne er kein Alibi liefern, weil er allein schlief, und ob die Polizei ihm für die Zukunft irgendwelche Vorbeugungsmaßnahmen empfehlen könnte. Man riet ihm zur Heirat.« »Das mußte ja kommen«, sagte Mason. -1 0 6 -
»Aber der nächste, mit dem die Polizei jetzt reden will«, fuhr Drake fort, »ist natürlich Garvin. Sie haben gehört, daß er zur Hauptversammlung hier sein wird. Soweit sie wissen, ist er mit seiner Frau auf der zweiten Hochzeitsreise. Sie haben vor, ihn aus heiterem Himmel zu überfallen, wenn er...« »Hier kommt Ihr Gespräch, Chef«, unterbrach Della Street. »Ist Garvin am Apparat?« »Ja.« Mason nahm den Hörer. »Hallo, Garvin, hier spricht Mason. Ich muß Ihnen ein paar Fragen stellen. Seien Sie bitte äußerst vorsichtig bei Ihren Antworten.« »Du lieber Himmel, Mason«, sagte Garvin, »es ist furchtbar! Es ist entsetzlich! Dies ist das allerschlimmste... Warum sind Sie bloß heute morgen weggefahren? Warum haben Sie mich nicht geweckt?« »Ich glaubte, Sie wollten nicht gestört werden.« »Mein Gott, Mason, da passiert Derartiges, und Sie stehen einfach auf und fahren weg! Ich komme zurück. Ich muß wissen, um was es da geht. Ich will...« »Sie bleiben, wo Sie sind«, unterbrach Mason, »und behalten die Nerven. Machen Sie sich keine Gedanken um die Hauptversammlung heute nachmittag um zwei Uhr. Della Street hat sich der Namensliste angenommen, die Sie ihr gaben. Wir haben eine ganze Anzahl treuer und zuverlässiger Anhänger von Ihnen, die persönlich teilnehmen werden. Damit sind alle Vollmachten für die Stimmrechtsausübung, die sie unterschrieben, null und nichtig. Wir werden Oberhand behalten in der Hauptversammlung.« »Ich will aber da sein, Mason. Ich muß da sein. Wenn ich die Stimmenmehrheit in der Gesellschaft verlieren sollte...« »Sie rühren sich nicht vom Fleck«, sagte Mason. »Regen Sie sich nicht auf. Tun Sie gar nichts. Reden Sie mit niemandem. -1 0 7 -
Verlassen Sie das Hotel nicht, bevor ich die Möglichkeit habe, mit Ihnen zu sprechen. Sollte man Sie finden, beantworten Sie keine Fragen. Verweigern Sie jede Auskunft, bis Sie mit mir gesprochen haben.« »Zum Teufel aber, Mason, das wird mich in ein falsches Licht setzen.« »Ich kann es nicht ändern, Garvin. Es gibt bei dieser Sache eine Menge Gesichtspunkte, von denen Sie noch gar nichts wissen. Hören Sie jetzt bitte genau zu. Sie sollen mir Fragen beantworten und dabei sehr vorsichtig mit den Hauptwörtern umgehen.« »Was heißt mit den Hauptwörtern?« »Ein Hauptwort kann ein Gegenstand sein«, erklärte Mason ihm. »Und jetzt folgendes: Neulich morgens standen Sie an Ihrem Bürofenster und bemerkten draußen auf der Feuerleiter einen Gegenstand?« »Auf der Feuerleiter?« »Ja, einen Gegenstand aus Metall, etwas Schweres.« »O ja, ich erinnere mich. Natürlich, ich wies noch darauf hin, daß dieser...« »Vorsicht«, warnte Mason, »unser Gespräch soll nach Möglichkeit neutral bleiben. Und bedenken Sie, daß die Trennwand zwischen Ihrer und der Nachbarzelle hauchdünn ist. Also, was geschah mit dem Gegenstand?« »Livesey kletterte aus dem Fenster und holte ihn. Wir sprachen darüber, und ich... Ich sagte Livesey, er solle ihn in das Handschuhfach meines Wagens legen. Er wollte nämlich weggehen und eine Tasse Kaffee trinken, und ich wollte mir das Ding ansehen. Um die Wahrheit zu sagen, Mr. Mason, ich hatte diesen - diesen Gegenstand völlig vergessen. Er muß noch in meinem Wagen liegen.« »Gehen Sie zum Wagen und sehen Sie nach«, sagte Mason. -1 0 8 -
»Jetzt sofort?« »Jetzt sofort. Lassen Sie den Hörer liegen und sehen Sie nach. Ich bleibe am Apparat. Ihr Wagen steht noch draußen?« »Ja.« »Moment, noch etwas Wichtiges«, sagte Mason. »Sie gaben Ihre Wagenschlüssel letzte Nacht nicht bei der Hotelmanagerin ab?« »Nein. Ich wollte es tun, vergaß es aber. Ich steckte sie in meine Tasche... Aber es war alles in Ordnung. Der Wagen brauchte nicht weggefahren zu werden.« »Das stimmt. Und die Schlüssel waren die ganze Nacht über in Ihrer Tasche?« »Aber ja, natürlich.« »Ihr Wagen war nicht bewegt worden?« »Nein, bestimmt nicht.« »Und die Türen waren abgeschlossen?« »Ja.« »Sind Sie sicher?« »Wieso? Natürlich. Der Wagen steht genau da, wo ich ihn gestern abend abstellte, als ich schlafen ging.« »Dann gehen Sie jetzt hinaus und überzeugen Sie sich, ob der Gegenstand noch da ist.« »In Ordnung«, sagte Garvin, »bleiben Sie am Apparat.« Voller Ungeduld trommelte Mason einige fünfzehn Sekunden mit den Fingerspitzen auf die Schreibtischkante. Dann hörte er wuchtige Schritte, als Garvin zum Telefon zurückkehrte. Der Hörer wurde aufgeno mmen, und Garvins aufgeregte Stimme ertönte: »Er ist weg, Mr. Mason, er ist weg!« »Aha«, sagte Mason. »Und wann ist er verschwunden?« »Menschenskind, er muß mir weggenommen worden sein, bevor wir von Los Angeles abfuhren. Hier kann ihn niemand -1 0 9 -
rausgeholt haben.« »Sind Sie sicher?« »Natürlich... Verflixt, Mason, wie kann ich’s wissen? Ich weiß nichts weiter, als daß er verschwunden ist. Und daß Livesey ihn hineingelegt hatte.« »Haben Sie anschließend im Handschuhfach nachgesehen?« »Ja. Gleich nachdem ich herunterkam, sah ich ins Handschuhfach, um mich zu vergewissern, daß Livesey ihn hineingelegt hatte. Er war da.« »Und wann haben Sie dann wieder ins Handschuhfach gesehen?« »Jetzt eben. Es war das erste Mal, daß ich es danach wieder öffnete... Warten Sie - nein. Alles zurück, Mason, Lorraine hat hineingesehen, kurz nachdem wir abgefahren waren. Ich sagte ihr, sie sollte meine Sonnenbrille herausholen. Ich wollte sie aufsetzen.« »Wo ist Lorraine?« »Hier. Draußen in der Halle. Augenblick mal...« »Keine Aufregung! Sagen Sie nichts, wo man Sie hören kann«, warnte Mason. »Holen Sie sie zu sich in die Zelle.« »Okay.« Mason hörte das Öffnen einer Tür und leise Unterhaltung. Dann sagte Garvin: »Hier ist sie.« »Gut. Fragen Sie, ob sie sich erinnert, im Handschuhfach Ihre Sonnenbrille gesucht zu haben und...« »Habe ich schon getan«, unterbrach Garvin. »Sie sagt, meine Sonnenbrille hätte sie rausgenommen, aber ein Gegenstand, wie Sie ihn erwähnten, sei nicht darin gewesen.« »Sie wissen aber, daß er dort war, als Sie vom Bü ro herunterkamen?« »Ja.« -1 1 0 -
»Und Sie sind unmittelbar danach mit dem Wagen weggefahren?« »Ich... Nein, Moment. Ich ging zum Tabakladen, um mir ein paar Zigarren zu holen. Und ich knobelte eine Runde mit dem Mädchen am Ladentisch. Dann stieg ich in den Wagen und fuhr los, um meine Frau abzuholen. Sie hatte das Gepäck fertig, und wir starteten sofort.« »Na gut«, sagte Mason. »Bleiben Sie da. Unternehmen Sie nichts, bis ich komme. Ich werde vor Dunkelheit eintreffen.«
11 Garvin marschierte in der Halle des Hotels Vista de la Mesa auf und ab, als Mason eintrat. Bei dem Geräusch der sich öffnenden Tür fuhr er ruckartig herum. Ein erleichtertes Lächeln erhellte sein Gesicht, als er den Anwalt erkannte. »Gott sei Dank, daß Sie da sind, Mason«, sagte er. »Ich glaubte schon, Sie würden überhaupt nicht mehr ankommen. Was gibt’s Neues?« »Wir kommen gerade von der Hauptversammlung«, informierte Mason ihn. »Wie lief die Sache?« »Wie am Schnürchen. Ein Mann namens Smith startete einen kleinen Aufruhr, der aber im Keim erstickt wurde. Die Aktionäre wählten denselben Aufsichtsrat für ein weiteres Jahr, und er bestellte dieselben Vorstandsmitglieder. Bei der Neugründung des Aufsichtsrats, im Anschluß an die Hauptversammlung, wurden Sie für das nächste Jahr wieder zum Geschäftsführer bestimmt - bei gleichem Gehalt und gleicher Sondertantieme. Und ich habe den Eindruck, daß Ihre Vorschläge voll und ganz gebilligt wurden.« »Das ist fein«, sagte Garvin. »Jetzt erzählen Sie mir von Ethel, Mason. Mein Gott, es ist entsetzlich. Mir sind schon die gräßlichsten Ideen gekommen. Was ist geschehen? Hat sie sich umgebracht?« -1 1 1 -
»Offenbar nicht. Anscheinend war es Mord.« »Aber wer könnte sie ermordet haben?« »Mit dieser Frage beschäftigt sich die Polizei. Wo ist Ihre Frau?« »Auf ihrem Zimmer.« »Dann setzen wir uns am besten dort zusammen. Ich hole Miss Street.« Mason rief Della Street aus der Limousine, dann gingen sie zu dritt durch den Flur. Garvin klopfte leicht an die Zimmertür. »Herein«, ertönte Lorraines Stimme. Garvin öffnete und sagte: »Jetzt ist er da, Lorrie.« »Gott sei Dank!« rief Lorraine aus, ging Mason herzlich lächelnd entgegen und streckte ihm die Hand hin. »Mr. Mason, ich kann Ihnen nicht sagen, wieviel es mir bedeutet, Sie hier zu wissen. Ich habe mir schreckliche Sorgen gemacht, und Edward war wie von Sinnen.« »Danke«, sagte Mason kurz und stellte Della Street vor. »Die Hauptversammlung der Aktionäre und die Sitzung des neuen Aufsichtsrats sind jetzt erledigt«, berichtete er dann. »Alles ging glatt, es gab überhaupt keinen Ärger. Ich hatte mit der Möglichkeit eines organisierten Widerstands gerechnet; denn ich glaubte, Ethels Name auf den Vollmachten bedeute vielleicht mehr als die einzelne Gaunerei eines Privatinteressenten. Ich dachte, es könnte sich Schlimmeres dahinter verbergen. Soweit ich übrigens die Namen der Aktionäre vergleichen konnte, waren eine Menge anwesend, die nicht von uns Bescheid erhalten hatten. Della Street rief die Leute auf der Namensliste an, die Sie ihr heute morgen gaben, und fast alle erschienen. Damit war für Sie wohl genügend Kapital vertreten, um Stimmenmehrheit zu erzielen. Völlig unklar ist mir nur, warum jene anderen Leute erschienen. Irgendwie war es eine merkwürdige Situation.« -1 1 2 -
»Jedenfalls brauchen wir uns darum nicht mehr zu sorgen«, meinte Garvin. ››Das wird schon in Ordnung sein. Kommen wir jetzt zu der Tragödie, Mason.« »In der Sache bleibe ich hart, Garvin. Sie sind jetzt Witwer, aber das beeinflußt nicht Ihren Status, wonach Sie Bigamie begangen haben, als Sie sich in Mexiko trauen ließen. Ich wünsche nicht, daß Sie in die Staaten zurückkehren. Ich weiß, Sie mögen vor der Öffentlichkeit ziemlich herzlos erscheinen, wenn Sie hierbleiben und darauf verzichten, an der Beerdigung Ihrer früheren Frau teilzunehmen; dennoch müssen Sie sich so verhalten. Es gibt da viele Dinge, die ich Ihnen jetzt nicht sagen kann.« »Ich will aber alle Einzelheiten wissen«, beharrte Garvin. »Mein Gott, Mason, ich habe mir das Gehirn zermartert. Sagen Sie mir, wie es geschehen ist.« »Ich ließ sie durch einen Detektiv beschatten«, erklärte Mason. »Sie verließ um 10.19 Uhr abends ihr Apartment. Wahrscheinlich erhielt sie kurz vorher einen Anruf. Sie entkam meinem Schatten. Den nächsten Kontakt hatten wir erst, als wir sie zwei Meilen von Oceanside in ihrem Wagen sitzend fanden; auf einem Hochlandstreifen an einem freien Platz. Sie war mit einem Revolver Kaliber 38 erschossen worden. Ein Schuß in die linke Kopfseite. Dieser Revolver vom Kaliber 38 ist wahrscheinlich derselbe, den Sie vor zwei Tagen auf der Feuerleiter fanden. Ich werde Ihnen daher einige Fragen stellen müssen. Sie sind nicht angenehm, aber wir müssen sie durchsprechen. Die gleichen Fragen wird die Polizei Ihnen stellen, und ich muß Ihre Antworten wissen, bevor die Polizei sie hört.« »Fangen Sie gleich an. Fragen Sie, was Sie wollen«, sagte Garvin. »Was diesen Revolver angeht...« »Ich glaube, über den Revolver bin ich schon ganz gut informiert«, fiel Mason ihm ins Wort. »Jetzt will ich mich über -1 1 3 -
Sie informieren.« »Über mich?« »Ja.« »Was wollen Sie damit sagen?« »Wo waren Sie gestern abend?« »Wo ich war? Aber - Sie waren doch bei mir. Wir fuhren zusammen hierher. Sie fuhren mit mir über die Grenze. Sie...« »Sie gingen auf Ihr Zimmer. Und was taten Sie dann?« »Ich ging schlafen.« »Sie blieben die ganze Nacht im Bett?« »Aber ja, natürlich.« »Gingen nicht aus?« »Nein, bestimmt nicht.« »Wie steht’s damit, Mrs. Garvin?« fragte Mason. »Können Sie das beschwören?« »Aber selbstverständlich«, sagte Lorraine empört. »Sie brauchen nicht einzuschnappen. Ich will die Sache nur lückenlos klären, damit die Polizei nirgends einhaken kann. Also, sind Sie beide gegen Mitternacht eingeschlafen?« »Wahrscheinlich schon früher.« »Haben Sie einen festen Schlaf?« »Ich schlafe nicht allzu fest«, sagte Garvin, »wohl aber meine Frau.« »Das ist ungünstig«, stellte Mason fest. »Ich verstehe nicht, was daran ungünstig sein soll«, sagte Lorraine. »Daß Ihr Mann durch Sie kein Alibi hat.« »Natürlich hat er eins. Zufällig bin ich nämlich aufgewacht na, gerade so gegen ein Uhr. Edward schnarchte. Ich sagte ihm, er sollte sich auf die Seite drehen. Zweimal mußte ich ihn -1 1 4 -
ansprechen, bis er es tat, aber dann hörte er auf zu schnarchen. Ich schlief wieder ein. Zugegeben - ich schlafe sehr fest, manchmal auch mit Unterbrechungen. Danach also sah und hörte ich nichts mehr bis gegen 2.30 oder 2.45 Uhr. Dann wachte ich auf und blieb bis nach 3.15 Uhr wach.« »Und wie stellten Sie diese Uhrzeiten fest?« fragte Mason. »Um eins hörte ich eine Uhr schlagen. Als ich dann später noch mal aufwachte und ungefähr eine ha lbe Stunde wach blieb, hörte ich es nicht nur drei Uhr schlagen, sondern sah auch noch auf meine Armbanduhr. Ich stand sogar auf und schluckte eine Aspirintablette mit einem Glas Wasser. Ich hatte leichte Kopfschmerzen und fühlte mich ein bißchen unruhig. Dann schlief ich wieder ein.« Mason atmete erleichtert auf und sagte: »Na, sehr schön. Ich wollte nur sicher sein, daß Sie ein eisernes Alibi haben. Kommen wir jetzt auf den Revolver zurück...« »Der Revolver lag bestimmt nicht im Handschuhfach, Mr. Mason«, sagte Lorraine Garvin. »Ich sah hinein, wegen Edwards Sonnenbrille.« »Wann war das?« »Kurz nachdem wir Los Angeles verlassen hatten. Es war etwas bedeckt gewesen, und dann kam die Sonne durch. Sie blendete ziemlich, so daß Edward seine dunkle Brille haben wollte. Ich öffnete das Handschuhfach. Die Brille lag in einem Etui hinten im Fach. Als Sie jetzt den Revolver erwähnten, fiel mir ein, daß alles im Fach nach hinten geschoben war und ich mich darüber wunderte. Es sah so aus, als ob vorn im Fach eine Zeitlang ein anderer Gegenstand gelegen hätte. Er war aber bestimmt nicht da, als ich die Brille herausnahm. Da lagen nur ein paar Landkarten und eine kleine Taschenlampe, eine Zange und das Etui mit Edwards Sonnenbrille.« »Kein Revolver?« »Bestimmt nicht.« -1 1 5 -
»Sie wissen aber bestimmt, Garvin, daß der Revolver im Handschuhfach gelegen hatte?« fragte Mason. »Ich weiß es genau. Die einzige Gelegenheit wohl, ihn wegzunehmen, war gegeben, als ich vor meinem Haus ausstieg und meine Frau abholte. Sie hatte alles gepackt, und ich ging ins Haus, holte das Gepäck und...« »Und dann tranken wir eine Flasche Bier«, ergänzte Lorraine. »Du wirst dich erinnern, daß du noch Bier wolltest. Du sagtest, du hättest Durst, und wir gingen zurück zum Kühlschrank und tranken eine Flasche Bier.« »Das stimmt allerdings«, bestätigte Garvin. »Und während dieser Zeit war der Wagen nicht abgeschlossen?« »Himmel, nein«, sagte Garvin. »Fast hätte ich noch nicht mal den Motor abgeschaltet. Lorraine sagte, sie hätte das Gepäck fertig. Ich ging hinein und wollte es holen. Erst als ich im Haus war, fiel mir das Bier ein. Lorraine schloß sich an. Wir gingen an den Kühlschrank, machten eine Flasche auf und schenkten zwei Gläser ein. Es könnte natürlich in der Zeit jemand den Revolver weggenommen haben.« »Jemand, der Ihnen zu diesem besonderen Zweck gefolgt war?« fragte Mason. »Das glaube ich nicht, Mason. Ich bezweifle, daß irgend jemand es geschafft hätte. Eher könnten es Kinder aus der Umgegend gewesen sein.« »Es waren nicht Kinder aus der Umgegend«, sagte Mason. »Wer diese Waffe nahm, tat es aus einem ganz bestimmten Grund. Es war der Revolver, mit dem Ihre frühere Frau umgebracht wurde.« »Ist man sich absolut sicher?« fragte Garvin. »Man wird es sein, sobald man das tödliche Geschoß findet, eine Testkugel mit der Waffe abfeuert und sie unter dem -1 1 6 -
Vergleichsmikroskop prüft. Aber Sie können tausend zu eins wetten, daß die Tat mit diesem Revolver geschah.« »Das kompliziert die Sache natürlich«, gab Garvin zu. »Ich schätze, die Polizei wird sogar Fingerabdrücke von mir darauf entdecken.« »Sie haben ihn berührt?« »Ich hatte ihn in der Hand, Denby und Livesey auch. Und wer ihn auf die Feuertreppe legte, muß ihn ebenfalls in der Hand gehabt haben. Mit anderen Worten, es müssen allerlei Fingerabdrücke drauf sein.« »Das ist anzunehmen«, sagte Mason. »Die Polizei zieht mich natürlich nicht ins Vertrauen.« »Die Leiche wurde doch bei Oceanside gefunden«, warf Lorraine Garvin ein. »Ganz recht. Wir haben Hackley noch nicht interviewt«, sagte Mason. »Die Polizei weiß überhaupt noch nichts von ihm. Ich werde mich nach Oceanside zurückfahren lassen und mich dort mit Paul Drake treffen.« »Paul Drake?« fragte Lorraine. »Er ist der Detektiv, mit dem ich zusammenarbeite und der Ethel Garvin gefunden hat. Ein guter Mann.« »Na, ich kann nur sagen, ich halte es für höchst bezeichnend, daß sie nach Oceanside fuhr«, meinte Lorraine. »Falls ihr Geliebter da wohnt.« »Wir wissen nicht, ob er ihr Geliebter war«, entgegnete Mason. »Wir wissen nur wenig über ihn. Er könnte ein schwieriger Fall werden. Einen gewissen Vorteil sehe ich bisher nur darin, daß wir von seiner Existenz wissen, die Polizei dagegen nicht. Natürlich ist es von Bedeutung, daß sie nach Oceanside fuhr. Es gibt in der Sache auch noch einige andere Gesichtspunkte, die vermuten lassen, daß sie mit diesem Mann verabredet war, und...« -1 1 7 -
Im Patio ertönte die Stimme von Senora Miguerinio: »Dies Haus ist sehr alt, muy viejo - alt, Sie verstehen, wie die ruinas. Mein Vater und vorher mein Großvater haben es gehabt. Ich habe es restauriert jetzt, damit die turista können hier schlafen, no?« »Verstehe«, antwortete eine Männerstimme. »Altes Landgut, hacienda«, fuhr Senora Miguerinio fort. »Gut, daß ich’s weiß«, sagte der Mann. »Als ich vor zwei Jahren hier war, kam ich nicht auf die Idee.« »Natürlich nicht. Es war so viel ruina, daß mein Vater einen Bretterzaun gemacht und es versteckt hat, ja?« »Aha«, sagte die Stimme. Senora Miguerinios Lachen klang wie sprudelndes Wasser. »Oh, die turista lieben es, zu wohnen hier in meinem alten spanischen Haus. Drinnen ist sehr alt - altmodisch Sie sagen, no?« »Ja.« »Si, Senor, ist altmodisch. Sie sprechen meine Sprache?« »Nur ein paar Worte.« »Wollen Sie kommen, Platz nehmen?« »Ja, vielen Dank.« Mason warf dem grinsenden Garvin einen Blick zu, zog die Stirn in Falten und legte den Finger an den Mund. Die Stimme des Mannes drang durch das offene Fenster. »Sie haben hier einen Senor Edward Garvin mit seiner Frau wohnen? Das große Kabriolett in der Auffahrt gehört ihm.« »Oh, gewiß, der Senor Garvin und die Senora. Sie ist schön, hat Haar wie rotes Gold. Und sie haben ihren Freund mit, Senor Perry Mason.« »Verflixt!« rief die Stimme wütend. Mason trat dicht zu Garvin heran. »Das ist Leutnant Tragg -1 1 8 -
von unserer Kripo. Ein ganz schlauer Fuchs, Sie werden’s erleben.« Senora Miguerinio sagte: »Hier in diesen Zimmern sind sie nun. Fünf und sechs. Wenn Sie sind ein Freund, sie werden sich freuen, Sie zu sehen, ja?« »Nein«, antwortete Leutnant Tragg. Eine Tür schloß sich, Schritte auf dem Flur wurden hörbar, es klopfte. Mason öffnete die Tür. »Nanu, Tragg! Wie geht’s denn Ihnen?« »Mason!« rief Tragg aus. »Und die verehrte Miss Street. Na, es freut mich wahrhaftig, Sie zu sehen. Man trifft Sie selten dieser Tage.« »Es ist schon eine Weile her«, pflichtete Mason ihm bei. »Das ist Mr. Edward Garvin, Leutnant.« »Sehr angenehm«, sagte Tragg. Mason wandte sich Lorraine zu, die auf der anderen Seite des Zimmers saß: »Mrs. Garvin, ich darf Ihnen Leutnant Tragg von der Kriminalpolizei vorstellen - Mordkommission.« Lorraines Lächeln bestand in einem kraftlosen Zucken ihrer zusammengepreßten Lippen. Sie schien sich an die Schranktür zu kauern. »Guten Tag, Leutnant. Freut mich, Sie kennenzulernen.« »Sie haben die Sache mit Ihrer Frau gehört?« fragte Tragg Edward Garvin. »Ja, ich war entsetzt. Ich - ich weiß nicht recht, wie ich mich verhalten soll.« »Vieles spricht dafür, daß sie in Los Angeles umgebracht und nach Oceanside gebracht wurde. Darum befasse ich mich mit dem Fall. Wenn Sie uns nun helfen wollen«, sagte Tragg, »können Sie mit zurückkommen und Vorbereitungen für die Bestattung treffen. Und solange Sie da sind, werden wir...« »Ihn festnehmen auf Grund eines Haftbefehls wegen Bigamie, -1 1 9 -
der gestern von der Staatsanwaltschaft erlassen wurde«, schaltete Mason sich ein. Tragg wandte sich ihm zu. »Bitte, das war nicht nötig.« »Er soll nur wissen, was auf dem Spiel steht«, sagte Mason. »Nun hören Sie doch, ich muß mit Mr. Garvin reden.« Tragg sprach wie zu einem bockigen Kind. »Ich werde ihm nicht weh tun, und er hat gewiß nichts zu verbergen, aber ein paar Punkte gibt es im Zusammenhang mit dem Tod seiner Frau, die ich klären möchte. Er kann mir helfen.« »Das ist fein«, sagte Mason. »Wir werden Ihnen beide helfen.« »Ich komme ohne Ihre Hilfe aus.« »Na, na, Leutnant. Zwei sehen mehr als einer.« »Ich weiß ein anderes Sprichwort«, lächelte Tragg. »Zu viele Köche verderben den Brei.« »Beging Ethel Garvin nicht Selbstmord?« fragte Mason. »Sie beging nicht Selbstmord«, verneinte Tragg. »Das Geschoß in ihrem Kopf führte fast auf der Stelle den Tod herbei.« »Nun und?« »Sie wurde erschossen, als sie rechts auf dem Beifahrersitz saß. Jemand fuhr sie eine kurze Strecke im Wagen, parkte dann und zog die Leiche herüber auf den Fahrersitz. Er zog ihren linken Arm durch die Lenkradspeichen, schaltete Zündung und Lampen aus und fuhr mit einem anderen Wagen davon.« »Der ihm gefolgt war?« fragte Mason. Tragg schüttelte den Kopf. »Offen gesagt, glaube ich das nicht, Mason. Es sieht so aus, als wäre der Mörder zu einer bestimmten Stelle gefahren, wo er seinen Fluchtwagen parkte. Er stieg aus, ging zu seinem Opfer, traf es mit einem Nahschuß genau in den Kopf und fuhr seinen Wagen eine kurze Strecke, vielleicht auch einige Meilen, bis zu dem Platz, wo sein eigener -1 2 0 -
Fluchtwagen wartete. Der Mord könnte sehr wohl in Los Angeles begangen worden sein. Der Mörder fuhr Ethel Garvins Auto so dicht wie möglich an sein eigenes heran. Dann stieg er aus, und zwar direkt auf das Trittbrett, und zog die Leiche hinter das Steuer. Als er alles entsprechend hergerichtet hatte, stieg er in seinen Wagen und fuhr weg.« »Es sei denn, ein Komplice wartete auf ihn«, wandte Mason ein, »womit ein Zwei-Mann-Job daraus würde.« »Würde«, sagte Tragg, »aber aus gewissen Gründen glauben wir nicht, daß es einer war. Wir halten es für einen Ein-MannJob.« »Wieso?« »Zunächst einmal: Hätte im Fluchtwagen eine Komplice gewartet, müßte man wohl annehmen, daß der Mörder mit der Leiche im Wagen anhielt und der Fluchtwagen heranfuhr und daneben parkte. Tatsächlich war es aber genau umgekehrt. Der Mörder mit der Leiche im Wagen mußte sogar einmal zurücksetzen, um in die entsprechende Position zu kommen. Und dann stieg er um in den anderen Wagen.« »Das ist allerdings folgerichtig gedacht«, stimme Mason zu. Tragg wandte sich an Garvin. »Ich weiß, es ist ein quälendes Thema für Sie«, sagte er, »aber da Ihre Frau ermordet wurde, werden Sie gewiß Ihr möglichstes tun, um den Fall aufzuklären. Obwohl Sie sich getrennt hatten, obwohl es Reibungen zwischen Ihnen gab - Sie wollen ihn doch aufklären, nicht wahr?« Garvin zögerte. »Sagen wir es so«, fuhr Tragg mit eisigem Blick fort, »Sie würden sich doch nicht dem Verdacht aussetzen wollen, einen Mörder zu schützen, nicht wahr, Mr. Garvin?« »Selbstverständlich nicht«, beeilte Garvin sich zuzustimmen. »Ich dachte es mir. Nun also, wenn Sie jetzt einfach mit über die Grenze kommen, werden wir...« -1 2 1 -
»Wie ist das mit dem Haftbefehl wegen Bigamie, Tragg?« unterbrach Mason. »Ich kann Ihnen nur sagen, daß ich dafür nicht zuständig bin. Das muß Mr. Garvin mit dem Staatsanwalt ausmachen. Ob er aber mit mir zurückfährt oder nicht, ändert an der Sache überhaupt nichts. Gegen ihn läuft ein Verfahren wegen Bigamie. Was der Staatsanwalt tun wird, weiß ich nicht. Vielleicht weist er die Sache zurück, weil die Klägerin jetzt tot ist. Vielleicht verfolgt er sie weiter oder läßt Mr. Garvin sich schuldig erklären und Strafaussetzung beantragen. Ich bin an Bigamie nicht interessiert; der Mordfall geht mich an.« »Das ist der Unterschied zwischen uns«, sagte Mason freundlich. »Mich interessiert beides, der Mord und die Klage wegen Bigamie.« Tragg sah sich durch Masons Haltung veranlaßt, seine verbindliche Art aufzugeben. »Glauben Sie ja nicht«, sagte er in gereiztem Ton, »daß diesem Mann irgendeine Wahl bleibt. Er ist dran wegen Bigamie. Wir können ihn jederzeit aus Mexiko herausholen. Es gibt da den bequemen und unbequemen Weg. Ich rate ihm zu ersterem.« »Wir bevorzugen den unbequemen Weg«, entgegnete Mason fröhlich. »Lassen Sie’s lieber«, empfahl Tragg. »Sie wissen, wir können ihn jederze it holen, wenn’s uns paßt. Wir können ihn auf einen absolut klaren Fall von Bigamie festnageln. Dagegen hat er keinerlei Möglichkeit, sich zu verteidigen. Wir können ihn von Mexiko ausliefern lassen, damit er sich verantwortet. Ich dachte aber, diese Mordermittlungen ließen sich beschleunigen, indem wir den ganzen Papierkrieg vermeiden.« »In der Bigamiesache stehen wir vor einer interessanten Situation, Tragg«, sagte Mason. »Gehen Sie mir doch damit, Mason. Kommen Sie mir nicht mit Spitzfindigkeiten. Sie wissen so gut wie ich, daß die -1 2 2 -
mexikanische Scheidung dieses Mannes nicht das Papier wert ist. Sie wissen außerdem, daß seine mexikanische Ehe Bigamie ist.« »Es geht da um ein interessantes Gesetz, Leutnant«, beharrte Mason. »Laut Paragraph 61 unseres Bürgerlichen Gesetzbuches ist die zweite Ehe eines nicht geschiedenen Ehegatten von Anfang an ungültig.« »Das sage ich doch dauernd«, erwiderte Leutnant Tragg. »Andererseits«, fuhr Mason fort, »enthält auch Paragraph 63 des Civil Code einen sehr interessanten Te xt.« »Zum Beispiel?« fragte Tragg. Mason zog ein Stück Papier aus der Tasche, eine Abschrift des Paragraphen 63. »Hören Sie zu, Leutnant: ›Jede außerhalb dieses Staates geschlossene Ehe, die nach den Gesetzen des Landes, in dem sie geschlossen wurde, recht sgültig ist, wird in diesem Staat als rechtsgültig anerkannt.‹« »Worauf wollen Sie hinaus?« fragte Tragg. »Seine Heirat in Mexiko war nicht mehr wert als die Scheidung.« »Schon möglich, aber Mexiko hat die Scheidung anerkannt.« »Na und?« »Beachten Sie den Gesetzeswortlaut«, sagte Mason. »Ich lese ihn noch einmal vor.« Er hielt das Papier hoch: »›Jede außerhalb dieses Staates geschlossene Ehe, die nach den Gesetzen des Landes, in dem sie geschlossen wurde, rechtsgültig ist, wird in diesem Staat als rechtsgültig anerkannt.‹« Tragg kippte seinen Hut nach hinten und kratzte sich am Kopf. »Unglaublich«, sagte er. »Da haben Sie’s. In Mexiko ist die Ehe legal. Sie wird daher auch in jedem anderen Land anerkannt, speziell im Staat Kalifornien, denn das kalifornische Gesetz sieht das ausdrücklich vor.« »Aber hören Sie doch«, sagte Tragg, »man wird beweisen -1 2 3 -
können, daß diese beiden Leute Kalifornien verließen, um durch arglistige Täuschung das kalifornische Ehegesetz zu umgehen und...« Mason schüttelte lächelnd den Kopf. »Hier haben wir den Fall McDonald gegen McDonald, 6 California (II.) 457. Er wird auch in 106 A. L. R. 1290 behandelt und ist angeführt im Pacific Reporter, 58 Pacific (II.) Seite 163. Dort wird klipp und klar entschieden, daß in Fällen, wo Leute Kalifornien nur zum Zwecke der Eheschließung verlassen, um in Verfolg dieser Absicht in einem anderen Staat zu heiraten, diese Ehe rechtsgültig ist. Sie gilt in Kalifornien als gesetzlich und bindend; ohne Rücksicht auf die Tatsache, daß solche Ehen nicht nur den kalifornischen Gesetzen zuwiderlaufen, sondern auch der grundlegenden Auffassung des Gesetzgebers widersprechen.« »Zum Teufel«, sagte Tragg, »die Scheidung in Mexiko ist aber in Kalifornien nichts wert, das müssen Sie zugeben.« »Ich gebe es nicht zu«, erwiderte Mason, »will es aber im Sinne des Arguments gelten lassen.« »Dann muß die Ehe Bigamie sein.« »Die Ehe ist goldrichtig.« »Sie meinen, daß dieser Mann zwei Frauen hat und...« »Er hat sie nicht mehr«, erklärte Mason, »hatte sie aber bis heute früh. Er befindet sich in der recht ungewöhnlichen Lage, der Bigamie beschuldigt zu werden und zwei völlig legitime Ehefrauen besessen zu haben.« »Dummes Zeug, Mason. Sie führen hier doppeldeutige Reden und geben juristische Phrasen von sich, um mich konfus zu machen. Vielleicht können Sie damit vor dem Geschworenengericht eine wirkungsvolle Schau abziehen, aber weiter auch nichts.« »Tragg, ich sage Ihnen, solange dieser Mann auf -1 2 4 -
mexikanischem Boden steht, ist er mit der Frau hier an seiner Seite verheiratet. Ich will einräumen, daß er vielleicht wegen Bigamie verhaftet würde, wenn er in die Vereinigten Staaten zurückgeht. Und aus diesem Grunde habe ich nicht die Absicht, ihn zurückkehren zu lassen. Hier lebt er mit seiner gesetzlich angetrauten Ehefrau. Zwar würde Mexiko die Auslieferung für eine Straftat gegen die Gesetze der Vereinigten Staaten gewähren, nicht aber für eine Handlung, die gemäß den Gesetzen der mexikanischen Regierung vorgenommen wurde und hier völlig legal ist, wenngleich sie in Kalifornien für illegal gehalten werden könnte.« »Sie lassen die Sache so verflixt überzeugend klingen«, sagte Tragg ärgerlich. »Das ist der Haken bei Ihnen - Sie haben sich einen Namen gemacht, weil Sie zu überzeugen verstehen.« »Sie wollen doch nicht in die Staaten zurückkehren, Garvin, oder?« fragte Mason seinen Mandanten. Garvin schüttelte stumm den Kopf. »Bitte sehr, Leutnant«, sagte Mason. Tragg zog einen kleinen Satz Geräte aus der Tasche. »Nun«, sagte er, »ich nehme an, Sie sind zumindest bereit, uns bei der Aufklärung dieses Mordes zu helfen.« »Was wollen Sie?« fragte Garvin. »Ihre Fingerabdrücke.« »Warum?« »Ich glaube, ich fand einen Abdruck von Ihnen auf der Mordwaffe.« »Darum brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen«, sagte Mason. »Ich kann Ihnen ganz offen erklären, Tragg, daß mein Mandant diesen Revolver in der Hand hatte, das heißt, wenn es der ist, den wir meinen.« »Welchen meinen Sie?« fragte Tragg argwöhnisch. »Einen Revolver, der auf der Feuertreppe außerhalb des -1 2 5 -
Fensters der Garvin Mining, Exploration and Development Company lag. Er wurde von Mr. Garvin berührt und tatsächlich in das Handschuhfach seines Wagens gelegt. Jemand nahm ihn da heraus, bevor Mr._Garvin Los Angeles verließ.« , Leutnant Tragg warf den Kopf zurück und lachte. »Sie haben wahrhaftig die treuherzigsten und geistreichsten Erklärungen auf Lager! Sie geben also zu, daß Ihr Mandant den Revolver in das Handschuhfach seines Wagens legte?« »Er wurde für ihn hineingelegt.« Tragg wandte sich an Garvin. »Geben Sie zu, den Revolver in das Handschuhfach Ihres Wagens gelegt zu haben?« »Er gibt zu, daß eine andere Person ihn hineinlegte«, sagte Mason. »Ich spreche mit Garvin«, versetzte Tragg gereizt. »Und ich spreche für ihn.« »Na, ich weiß ganz genau, daß der Revolver nicht im Handschuhfach lag, nachdem wir von Los Angeles abgefahren waren«, mischte Lorraine sich ein. »Jemand hatte ihn herausgenommen.« »Woher wissen Sie das?« fragte Tragg. »Mein Mann hatte seine Sonnenbrille in dem Fach liegen. Unterwegs bat er mich, sie ihm zu geben. Ich öffnete das Handschuhfach und nahm die Sonnenbrille heraus. Wäre ein Revolver drin gewesen, hätte ich ihn selbstverständlich gesehen. Und wäre er mir aufgefallen, hätte ich Edward natürlich gefragt, was er mit einem Revolver wollte.« »Und Sie sind sicher, daß keiner darin war?« »Absolut sicher.« »Immerhin«, wandte Tragg verbindlich ein, »hätte Ihr Mann ihn inzwischen aus dem Handschuhfach nehmen und woanders hinlegen können.« Lorraine warf ihm einen finsteren Blick zu. »Wenn Sie einem -1 2 6 -
nichts glauben wollen, welchen Zweck hat es dann, jemanden zu verhören und ihn Fragen beantworten zu lassen?« fragte sie. Tragg grinste. »Auf die Art klären wir gelegentlich Mordfälle«, erwiderte er. »Sie werden zugeben, Mrs. Garvin, daß jemand, der einen Mord begehen würde, durchaus auch bereit wäre, die Unwahrheit zu sagen.« »Na, ich kann Ihnen nur soviel sagen«, versetzte Lorraine schnippisch, »selbst wenn mein Mann den Revolver genommen hätte - er hätte ihn niemals betätigen können. Er war die ganze Nacht über hier bei mir.« »Die ganze Nacht?« fragte Tragg. »Jawohl, die ganze Nacht.« »Und geschlafen haben Sie überhaupt nicht?« »Ich weiß, daß ich gegen ein Uhr aufwachte und er neben mir im Bett lag und schnarchte. Ungefähr von 2.45 Uhr bis 3.30 Uhr war ich wach, und er war da.« »Natürlich haben Sie auf die Uhr gesehen, um die Zeit festzustellen«, sagte Tragg ironisch. »Ich habe die Zeit gehört.« »Gehört?« »Allerdings. Es gibt hier eine Uhr mit Glockenspiel - hören Sie selbst.« Lorraine hob eine Hand, zum Schweigen auffordernd. Das Geläut der Jahresuhr in der Halle ließ ein melodisches Vorspiel ertönen und schlug nach einer Pause die Stunde. »Okay«, sagte Tragg. »Wenn Sie diese Zeitangaben beschwören wollen...« »Ich bin dazu bereit.« »Und wenn Sie sich nicht irren...« »Ich irre mich nicht.« »Dann bin ich mit allem fertig - bis auf Mr. Garvins -1 2 7 -
Fingerabdrücke. Ich möchte sehen, ob er eine Fingerspur auf jenem Revolver hinterlassen hat oder nicht. Irgendwelche Einwände, Garvin?« »Natürlich nicht«, sagte Garvin. »Mir liegt sehr daran, daß dieser Fall aufgeklärt wird.« »Aber Sie wollen nicht nach Kalifornien zurückkehren«, bemerkte Tragg. »Was das betrifft, so habe ich weder die Absicht, meine Frau der allgemeinen pöbelhaften Neugier auszusetzen noch in die Falle zu gehen, die mir gestellt wurde von...« »Sprechen Sie weiter«, forderte Tragg ihn auf, »von wem?« »Es ist nicht nötig, ihren Namen jetzt zu erwähnen«, sagte Garvin mit Würde. »Sie ist tot.« »Nun gut.« Leutnant Tragg öffnete sein Fingerabdruckgerät und nahm den Deckel von einem farblosen Stempelkissen ab. »Dann bitte Ihre Hände für die Abdrücke. Soviel wollen wir wenigstens tun.« Garvin streckte die Hände aus. Tragg nahm sorgfältig seine Fingerabdrücke, bezeichnete sie mit Namen, Datum, Ort, und feixte dann freundlich. »Sehr schön. Ich hoffe, Sie werden Ihren Aufenthalt in Mexiko genießen.« Er verabschiedete sich mit einer Verbeugung. »Es hat mich gefreut, Sie kennenzulernen, Mr. und Mrs. Garvin. Sie hören später noch von mir.« Damit öffnete er die Tür und verschwand, als hätte er es plötzlich kolossal eilig.
12 Es war dunkel, als Perry Mason und Della Street im Leihwagen in San Diego eintrafen. Mason ließ kurz halten, um mit Paul Drake zu telefonieren. »Okay, Paul«, sagte er, »Della und ich fahren jetzt von San Diego ab nach Oceanside und essen dort. Dann wollen wir uns -1 2 8 -
mit dir treffen, zusammen weiterfahren und sehen, was wir bei Hackley ausrichten können.« »Der wird eine harte Nuß werden«, warnte Drake. »Ich habe inzwischen ein paar weitere Tips über ihn. Er ist als ziemlich schwierig bekannt.« »Wie fein«, sagte Mason. »Schwierige Leute sind mein Fall. Wann kannst du in Oceanside sein?« »Ich bin startbereit.« »In Ordnung. Della und ich holen am Flughafen Oceanside unsere Wagen ab und gehen essen. Du kannst langsam die Hauptstraße entlangfahren, bis du uns findest... Meinen Wagen kannst du nicht übersehen. Ich fahre das Kabrio mit dem hellbraunen Verdeck.« Mason legte auf. Die Limousine surrte in zügiger Fahrt über die Küstenstraße bis Oceanside. Mason ließ sich zum Flughafen fahren, wo sie beide ihre Wagen abholten. Er bezahlte den Fahrer der Limousine. Dann kehrten sie im eigenen Wagen zurück zum Zentrum von Oceanside, wo Mason in der Nähe eines Restaurants zwei Parkplätze fand. In aller Ruhe genossen sie ihr Abendessen und saßen plaudernd und rauchend beim anschließenden Kaffee, als Drake hereinkam und sich umsah. Er entdeckte sie und setzte sich zu ihnen in die Eßnische. »Was gibt’s Neues, Paul?« fragte Mason. »Ich könnte eine Tasse Kaffee gebrauchen«, eröffnete Drake, »und so eine Zitronenschnitte. Ich habe spät zu Mittag gegessen, kriege jetzt aber Hunger... Verflixt, Perry, es gibt einfach keine erträgliche Straße aus Los Angeles heraus. Was du auch tust, du hast den Verkehr gegen dich.« »Wie wahr«, pflichtete Mason ihm bei. »Weißt du irgendwas Neues in unserer Sache?« »Die Polizei hat Edward Garvins Fingerabdrücke auf der -1 2 9 -
Mordwaffe gefunden.« »Warum sollte sie nicht? Garvin hat zugegeben, daß er sie berührte. Sonst noch was?« »Nicht sehr viel. Eine kleine Information bekam ich über diesen Hackley. Er war in eine Glücksspielgeschichte verwickelt. Ich konnte nicht allzuviel darüber erfahren. Aber Leute, die ihn kennen, halten ihn für gefährlich.« »Wir werden ihn uns ansehen, und das dürfte ein erheblicher Schock für ihn werden. Zweifellos rechnet er nicht damit, daß man ihn jemals mit Ethel Garvin in Zusammenhang bringen wird.« »Na, ich will jedenfalls so ein Stück Kuchen essen und einen Kaffee trinken, bevor das Schießen losgeht«, erklärte Drake. Sie brachen auf, als Drake fertig war. Mason meinte: »Wir können ebensogut alle in einem Wagen fahren. Nehmen wir meinen Bus, er hat vorn mehr Platz.« »Gute Idee«, sagte Drake. »Della setzen wir in die Mitte. Dann habe ich einen Vorwand, ihr den Arm um die Schultern zu legen. Mein letzter schüchterner Annäherungsversuch bei einem netten Mädchen ist so lange her, daß ich überhaupt nicht mehr weiß, wie man das macht.« »Glauben Sie nur nicht, daß ich Ihnen das beibringe«, spottete Della. »Ich kann meine Zeit nicht mit Dilettanten verschwenden.« »Oh, mir wird bei Ihnen alles sehr schnell wieder dämmern«, beruhigte Drake sie. Die drei bestiegen Masons Wagen, starteten schwungvoll vom Straßenrand und bogen in östlicher Richtung in die Straße nach Fallbrock ein. In mäßigem Tempo fuhren sie weiter, bis der mit »Lomax« bezeichnete Briefkasten auftauchte. Dann bremste Mason ab und fand den schmalen Fahrweg. »Sehr leicht zu finden, wenn man’s kennt«, stellte er fest. -1 3 0 -
»Aber die Polizei hat keinerlei Hinweis auf Hackley, Paul?« »Ich glaube nicht. Sie sind wahrscheinlich noch nicht mal auf die Idee gekommen, Ethels damaligen Aufenthalt in Nevada zu überprüfen.« Der ausgefahrene Weg führte etwa eine Viertelmeile an einer Orangenplantage vorbei und hinauf zu einem eleganten kalifornischen Bungalow, der dunkel und unheimlich dalag. »Der Herr scheint entweder ausgegangen zu sein oder schon im Bett zu liegen«, sagte Drake. »Was tun wir? Einfach hereinplatzen?« »Genau das«, entschied Mason. »Ist er zu Hause, versuchen wir ihn in die Verteidigung zu drängen und lassen ihn Fragen beantworten. Anders gesagt, wir machen gewaltigen Wirbel, wenn’s sein muß.« »Sagen wir ihm, wer wir sind?« »Nicht, wenn’s sich vermeiden läßt. Wir nennen ihm unsere Namen, weiter nichts.« »Okay«, sagte Drake. »Auf geht’s.« Mason fuhr den Wagen bis vor das große Haus, hielt an und wartete einen Augenblick, ob Hunde in der Nähe waren. Ein deutscher Schäferhund, schwarz und riesig, schlich mit gesträubtem Fell um das Auto. Seine Nase suchte eifrig die Identität der späten Besucher zu erkunden. »Riskier bloß nichts bei diesem Hund«, warnte Drake. »Drück auf die Hupe, damit jemand kommt und uns sicher hereinbringt.« »Ich möchte lieber klingeln und ihn überfallen«, sagte Mason. »Dieser Hund sieht außerdem intelligent aus.« »Das besagt überhaupt nichts.« »Bei eine m Hund besagt es was«, widersprach Mason und öffnete die Wagentür. -1 3 1 -
Sofort baute sich das Tier drohend vor ihm auf. Mason blickte hinunter, dem Hund in die Augen. »Hör zu«, sprach er ihn an, »ich will mit dem Herrn des Hauses reden. Ich steige jetzt aus die sem Auto und gehe in gerader Linie direkt zur Veranda und läute die Glocke. Du kannst mir folgen und aufpassen, daß ich keine falsche Bewegung mache. In Ordnung?« Bei den letzten beiden Worten hob Mason die Stimme. Dann stieg er aus, ohne auch nur zu zögern. Der Hund stürzte vor und blieb mit der Nase einen Zentimeter von Masons Beinen entfernt, während er um den Wagen und dann zur Veranda hinaufging. »Alles in Ordnung«, beruhigte er Della Street, die ihnen mit angstvollen Blicken folgte. Er ließ die Hände herabhängen, damit die kalte Hundeschnauze sie beschnüffeln konnte. Oben auf der Veranda drückte er den Klingelknopf. Er hörte das Läuten im Haus, wartete eine Minute, betätigte den Knopf dann noch ein paarmal in rascherer Folge. Aus dem dunklen Innern des Hauses drang das Geräusch langsamer, vorsichtiger Schritte, die sich der Tür näherten. Ein Licht flammte auf, dann ein zweites. Eine Tür wurde geöffnet. Durch die Glasscheibe konnte Mason die Gestalt eines Mannes in grauem Zweireiher erkennen. Der Mann schob die rechte Hand an den linken Rockaufschlag. Mason sah flüchtig einen Revolver im Schulterhalfter aufblitzen. Der Hund stellte sich vor die Tür und wedelte mit erhobenem Schwanz. Drinnen wurde ein Riegel zur Seite geschoben. Der Mann öffnete die Tür wenige Zentimeter bis zur Sicherheitskette. Eine Verandalampe leuchtete auf und tauchte Mason in helles Licht. »Wer sind Sie?« fragte der Mann. »Was wollen Sie?« »Ich suche Alman Bell Hackley.« -1 3 2 -
»Was wollen Sie von ihm?« »Ich will ihn sprechen.« »Weswegen?« »Wegen einiger Grundstücke, die er in Nevada besitzt.« »Es ist nichts zu verkaufen.« »Wollen Sie hören, was ich zu sagen habe, oder nicht?« »Wenn Sie etwas mit mir zu tun haben, übernachten Sie in Oceanside im Hotel. Besuchen Sie mich morgen früh nach zehn Uhr.« Der Mann war im Begriff, die Tür zu schließen, als ihm etwas an der Haltung des Hundes auffiel. »Sagen Sie mal«, fragte er argwöhnisch, »wie sind Sie an diesem Hund vorbeigekommen?« »Überhaupt nicht. Ich stieg einfach aus dem Wagen und...« »Er soll nach Dunkelwerden niemanden aus einem Wagen steigen lassen.« »Bei mir hat er eben eine Ausnahme gemacht«, sagte Mason. »Warum?« »Fragen Sie ihn.« Der Mann runzelte die Stirn. »Wer sind Sie überhaupt?« »Ich versuche, etwas über Ethel Garvin herauszufinden.« Hackleys Gesicht erstarrte. »Wissen Sie etwas über sie?« fragte Mason. »Nein«, sagte Hackley und knallte die Tür zu. »Sie wurde heute früh ermordet«, rief Mason durch die geschlossene Tür. Es kam keine Antwort, doch hörte Mason auch keine Schritte im Flur, die angezeigt hätten, daß der Mann nicht mehr hinter der Tür stand. »Und sie war hier und ließ ihren Benzintank auffüllen«, schrie Mason. -1 3 3 -
Nach kurzem Schweigen wurde die Tür aufgerissen. »Was haben Sie da gesagt?« fragte Hackley. »Ich sagte, daß sie gegen 0.30 Uhr morgens hier war und ihren Tank auffüllen ließ.« »Sie sind entweder betrunken oder verrückt; ich weiß nicht, welches von beidem, und es soll mir auch egal sein. Steigen Sie jetzt in Ihren Wagen, oder ich hetze den Hund auf Sie.« »Tun Sie das, und ich verklage Sie auf Schadenersatz, bis mir Ihre Ranch in Nevada gehört«, konterte Mason. »Sie nehmen den Mund ziemlich voll.« »Versuchen Sie’s. Hetzen Sie den Hund auf mich, und warten Sie ab, was passiert.« »Was wollen Sie von mir?« »Über Ethel Garvin sprechen.« Einen langen Augenblick begegnete der schlanke sehnige Mann hinter der Tür Masons Blick nachdenklich abschätzend. Plötzlich schien er zu einem Entschluß zu kommen. Er löste die Sicherheitskette und sagte: »Kommen Sie herein. Ich bin bereit, Sie anzuhören. Und bevor Sie weggehen, werden Sie mir genau erklären, was Sie mit Ihrer Behauptung meinten, wonach eine Ethel Garvin - wer immer das ist - heute morgen um 0.30 Uhr hier war. Treten Sie ein, Mr....« »Mason.« »Gut, Mr. Mason, kommen Sie herein.« Mason drehte sich zum Wagen um und rief: »Kommt, Della und Paul.« »Was ist mit dem verflixten Köter?« fragte Drake nervös. »Kann man den nicht ins Haus rufen?« »Der Hund bleibt, wo er ist«, bestimmte Hackley. »Er tut nichts, wenn ich es ihm nicht befehle.« Della Street öffnete die Wagentür, glitt auf den Boden und -1 3 4 -
ging selbstsicher zur Veranda, wo Mason stand. Der Hund betrachtete sie, ließ ein tiefes, drohendes Knurren hören, machte jedoch keine Bewegung. Drake, einen Fuß schon am Boden, hörte das Knurren, zog sich prompt ins Auto zurück und schmetterte die Tür zu. »Alles klar«, rief Hackley, und dann zum Hund: »Still, Rex!« Der Hund, der Della Streets zuversichtliches Herannahen scharf beobachtete, gab das Knurren auf und begann, langsam mit dem Schwanz zu wedeln. Nachdem Drake sich überzeugt hatte, daß Della es richtig machte, öffnete er die Wagentür zum zweitenmal, setzte versuchsweise den rechten Fuß heraus, ließ den linken folgen und riskierte zwei, drei zögernde Schritte in Richtung Veranda. Der Hund stutzte, knurrte und stürzte mit einem Satz auf ihn los. Drake wirbelte herum und hatte den Sprung zurück ins Auto knapp geschafft, als das zähnefletschende Tier sich gegen die Tür warf und nach dem Metall schnappte. Hackley rannte hinaus auf die Veranda. »Rex! Leg dich!« brüllte er. »Verdammt noch mal - leg dich, Rex!« Der Hund sah sich um und kauerte sich dann widerwillig auf den Boden. »Hierher!« rief Hackley. »Komm her. Komm hierher zu mir!« Als schien er Prügel zu erwarten, kroch der Hund auf Hackley zu. »Ich habe dir das doch verboten, du Böser«, sagte Hackley. »Leg dich hier hin und bleib liegen.« Drake blickte über den Hund hinweg Hackley an und drohte: »Wenn der Hund auch nur einen Schritt auf mich zukommt, erschieße ich ihn.« »Sie haben nichts zu befürchten, wenn Sie einfach aussteigen, hereinkommen und sich dabei sicher bewegen«, erwiderte -1 3 5 -
Hackley. »Einem Hund dürfen Sie niemals Angst zeigen.« »Ich soll wohl stillstehen und mir ein Hosenbein ausreißen lassen?« »Ihre Begleiter hatten ja auch keine Schwierigkeiten«, hielt Hackley ihm vor. »Dafür haben meine für uns alle drei gereicht!« Drake kroch aus dem Auto und folgte Hackley zur Veranda. »Kommen Sie«, sagte Hackley. »Rex, zurück jetzt und aus dem Weg!« Der Hund wich einem halbernsten Tritt seines Herrn geschickt aus, stand mit entblößten Fängen da und ließ Drake nicht aus dem Auge. »Kommen Sie«, wiederholte Hackley. »Wir werden uns hinsetzen und die Sache auf zivilisierte Art durchsprechen.« »Klären wir also die Lage«, wandte er sich drin an Mason. »Ihr Name ist Mason, wer sind die anderen?« »Miss Street, meine Sekretärin.« Hackleys Verbeugung war vorbildlich und drückte höchsten Respekt aus. »Es ist mir ein Vergnügen, Sie kennenzulernen, Miss Street«, sagte er. »Und Paul Drake«, stellte Mason weiter vor. »Angenehm, Mr. Drake.« »Drake ist Detektiv«, setzte Mason hinzu. »Ach, soweit ist die Sache schon?« fragte Hackley. »Also, hören wir uns an, was Sie zu sagen haben.« »Sie zäumen das Pferd beim Schwanz auf«, entgegnete Mason. »Wir wollen hören, was Sie zu sagen haben.« »Ich habe nichts zu sagen.« »Sie kannten Ethel Garvin.« »Wer sagt das?« »Ich«, erklärte Mason. »Sie lernten sie in Nevada kennen und waren recht befreundet mit ihr. Sie redeten ihr die Scheidung -1 3 6 -
von ihrem Mann aus. Sie sagten ihr, wenn sie sich ausschwiege und ihren Mann glauben ließe, sie habe sich scheiden lassen, dann könnte Edward Garvin gezwungen werden, einen Haufen Geld zu zahlen, falls er sich anderweitig engagieren sollte.« »Ich glaube, Sie werden mir nicht besonders liegen, Mr. Mason«, sagte Hackley. »Davon bin ich überzeugt.« Es trat eine Pause ein. »Nun denn«, fuhr Mason fort, »Ethel Garvin kam heute zu früher Morgenstunde nach Oceanside. Sie hielt sich hier auf und ließ ihren Benzintank füllen. Ich weiß nicht, was sie Ihnen sagte oder was Sie ihr sagten; dagegen weiß ich aber, daß sie hier abfuhr, nach zwei Meilen an einem Platz abseits der Landstraße parkte und ermordet wurde.« »Ich halte all dies nur für die unterhaltsame Einleitung«, entgegnete Hackley. »Mit Ihrem Wortschwall wollen Sie offenbar erreichen, daß ich mich festlege. Ich bin überzeugt, daß diese Ethel Garvin - wer sie auch ist - gar nicht ermordet wurde. Wahrscheinlich wollen Sie mir lediglich das Eingeständnis ablocken, daß ich sie in Nevada kennenlernte. Wenn Sie nun Ihre Karten auf den Tisch legen und mir erzählen würden, was Sie wissen wollen und warum, werden wir möglicherweise besser vorankommen.« »Da drüben in der Ecke steht Ihr Telefon«, sagte Mason. »Rufen Sie einfach die Polizei in Oceanside an. Fragen Sie, ob Ethel Garvin in der letzten Nacht ermordet wurde.« Hackley stand prompt auf, ging zum Telefon und sagte lächelnd: »Ein hübscher Bluff, den Sie da riskieren, Mason, nur wird’s nicht klappen, denn ich nehme Sie beim Wort. Wer mich angreift, muß dafür geradestehen.« Er nahm den Hörer ab, verlangte das Polizeirevier und fragte kurz darauf: »Würden Sie mir freundlicherweise sagen, ob heute morgen irgendwo bei Oceanside eine gewisse Ethel Garvin -1 3 7 -
ermordet wurde?... Wer ich bin, tut nichts zur Sache. Ich möchte nur eine Auskunft. Gut, sagen wir es so: Unter Umständen wäre ich Zeuge, falls etwas an der Sache ist...« Hackley wartete schweigend einige Sekunden, sagte dann abrupt »Danke« und schmetterte den Hörer auf die Gabel. Er wandte sich zu seinen Besuchern um, begann mit verengten Augen gedankenvoll auf und ab zu marschieren, die Hände tief in die Jackentaschen seines Zweireihers vergraben. Plötzlich blieb er mit dem Rücken zur Wand stehen. »Also gut, Sie haben gewonnen«, kündigte er an. »Was haben wir gewonne n?« fragte Mason. Hackleys Lächeln war unfroh. »Sie haben Ihren Einsatz zurückgewonnen, Mr. Mason. Und das ist mehr, als Leute zu gewinnen pflegen, die sich mit mir einlassen. Sie sagten, dieser Herr«, er nickte zu Drake hinüber, »sei Detektiv.« »Richtig.« »Aus Los Angeles, San Diego oder Oceanside?« »Los Angeles.« »In Verbindung mit der dortigen Mordkommission, Mr. Drake?« Paul Drake blickte zu Mason hin und zögerte. Mason schüttelte lächelnd den Kopf. »Er ist Privatdetektiv und arbeitet für mich.« »Oh«, sagte Hackley, »und die charmante junge Dame ist Ihre Sekretärin?« »Ja.« »Und Sie?« »Ich bin Anwalt.« »Aha. Und von jemandem beauftragt, nehme ich an. Sie werden den Fall kaum aus reiner Nächstenliebe untersuchen.« »Ich bin beauftragt.« -1 3 8 -
»Von wem?« »Von Edward Charles Garvin.« »Dem Mann der ermordeten Frau?« »Dem früheren Mann.« »Verstehe«, sagte Hackley. »Was interessante Kombinationen zuläßt, nicht wahr?« »Sehr.« »Na gut. Sie haben sich an meinen wunden Punkt herangearbeitet, haben mich überrumpelt, und zwar in ungünstiger Lage. Ich will jedoch meine Erklärung abgeben. Nein, machen Sie sich nicht die Mühe, das mitzuschreiben, Miss Street. Mir liegt zum gegenwärtigen Zeitpunkt nichts an einem protokollierten Interview. Ich will Ihnen nur einen Tatsachenbericht geben. Den können Sie als Grundlage verwenden, welche Ermittlungen Sie auch immer anstellen. Soviel will ich beitragen, um den Mörder dieser Frau zu finden.« Hackley machte eine dramatische Pause und fügte dann hinzu: »Was ich Ihnen sagen werde, ist die volle Wahrheit.« Nach einer weiteren Pause fuhr er fort, wobei er die Augen von Gesicht zu Gesicht wandern ließ, um die Wirkung seiner Worte festzustellen: »Ich habe eine Ranch in Nevada, einen ziemlich großen Besitz. Ich liebe ihn und lebe gern dort. Ich habe nie geheiratet, weil mir nichts an einer Ehe liegt. Ich bin kein Heiliger; Frauen gefallen mir. Aber der Gedanke an ein dauerhaftes Familienleben reizt mich nicht und hat mich nie gereizt. Es gibt da eine Touristenfarm, die an mein Grundstück in Nevada grenzt. Einige dieser Gäste sind recht interessant. Wie Sie sich denken können, leben viele von ihnen nicht ausschließlich zur Erholung in Nevada; sie wollen für sechs Wochen dort einen Wohnsitz nehmen, um sich scheiden zu lassen. Ich gebe offen zu, daß einige jener Frauen mir ein gewisses Interesse bezeigt haben, ebenso wie ich ihnen. Da löst -1 3 9 -
eine Frau ihre familiären Bindungen, geht in ein Land, in dem sie fremd ist, und findet sich - vielleicht zum erstenmal seit Jahren - gänzlich auf sich allein gestellt. Sie wird sich einsam fühlen und Gesellschaft suchen. Zufällig ist meine Farm erreichbar, ich selbst bin verfügbar und für manche vielleicht annehmbar. Ich liebte das Leben auf meiner Ranch - bis Ethel Garvin nach Nevada kam und sich auf der benachbarten Vergnügungsfarm niederließ. Anfangs mochte ich Mrs. Garvin. Ich war gern mit ihr zusammen. Bis mir allmählich klar wurde, daß sie eine sehr raffinierte und entschlossene Person war. Ich bemerkte auch, daß sie einen ganz bestimmten Plan verfolgte, der sich irgendwie auf meine Zukunft bezog. Ich wartete ab, bis es klar auf der Hand lag, daß ich etwas unternehmen mußte. Die Dinge entwickelten sich in eine Richtung, die mir unerträglich wurde. Ich wollte Ethel nicht verletzen - dafür waren wir zu gute Freunde gewesen. Ich wollte ihr nicht unverblümt sagen, daß ich künftig nicht zu Hause sein würde, wenn sie mich besuchte. Also entschloß ich mich, ihr die Sache schonend beizubringen. Seit langem hatte ich nach einem günstigen Objekt gesucht, um mich in Kalifornien anzukaufen. Mein Grundstücksmakler fand diesen Platz hier. Er wurde mir zu einem Preis angeboten, den ich für ein gutes Geschäft hielt, ich beauftragte meinen Makler, den Vertrag in aller Stille abzuschließen und nach Möglichkeit die Presse herauszuhalten. Als alle Papiere bei ihm hinterlegt waren, verschwand ich sang- und klanglos von meiner Farm in Nevada. Für Ethel hinterließ ich die Nachricht, ich sei ganz plötzlich geschäftlich abberufen worden und hätte eine Zeitlang außerhalb des Staates zu tun. Ich würde mich melden, sobald sich Gelegenheit böte. Inzwischen hätte ich ein sehr vertrauliches Geschäft zu bearbeiten. Dann flog ich nach Denver. Dort ließ ich meine Maschine unterstellen, nahm ein Linienflugzeug nach Los Angeles und holte einen neuen Wagen ab, der zur Auslieferung an mich bereitstand. Damit kam ich nach hier. Ich war äußerst vorsichtig, damit Ethel Garvin meinen -1 4 0 -
Aufenthaltsort nicht erfuhr. Die Nachricht, daß sie in Kalifornien ist oder war, bestürzt mich und kommt mir als unangenehme Überraschung. Ich hatte mir vorgestellt, sie könnte mich in Florida vermuten und eher dort suchen. Es erübrigt sich zu sagen, daß sie weder in der letzten Nacht noch zu sonstiger Zeit hier war, um zu tanken, und daß ich sie nicht gesehen habe, seit ich Nevada verließ. Die Nachricht von ihrer Ermordung heute früh erfüllt mich nicht nur mit Bestürzung; sie erweckt Zorn in mir. Ethel Garvin war eine sehr liebenswerte Frau... Ich könnte in einem Punkt dazu Stellung nehmen, tue es jedoch ungern unter den Umständen. Soviel will ich aber sagen: Ich weiß zufällig, daß Ethel Furcht vor ihrem Mann hatte. Sie plante etwas. Ich kann darüber nichts Genaues sagen, weiß aber, daß sie große Angst hatte, wie ihr Mann auf die Ausführung ihrer Pläne reagieren würde. Es gibt gewisse Dinge, die ich hier unter Zeugen nicht sagen möchte, der Polizei aber bekanntgeben würde, wenn man mich fragte; Dinge, die Ihren Mandanten, Mr. Mason, nicht ins beste Licht setzen. Und damit, so meine ich, dürften meine Angaben wohl beendet sein, und es besteht kein Anlaß, das Interview zu verlängern.« »Sehr interessant«, sagte Mason. »Sie sind sich darüber klar, daß der Wahrheitsgehalt Ihrer Erklärung von großer Bedeutung ist?« »Ich pflege niemals von der Wahrheit abzuweichen.« »Sie sind absolut sicher, daß Ethel Garvin in der letzten Nacht nicht hier war? Könnte sie vielleicht getankt haben, ohne daß Sie ihre Anwesenheit auf dem Grundstück bemerkten?« »Völlig absurd, meine Herren«, sagte Hackley. »Erstens ist die Benzinpumpe abgeschlossen. Zweitens ha tte Ethel Garvin nicht die geringste Ahnung, daß ich in Kalifornien bin. Ich hatte wohlüberlegte Vorsichtsmaßnahmen getroffen, damit sie es nicht erfuhr.« »Versuchten Sie nicht festzustellen«, fragte Paul Drake, -1 4 1 -
»wann sie von Nevada fortging?« »Wie kommen Sie auf diese Frage, Mr. Drake?« »Sie hingen an Ihrer Farm in Nevada. Es ist kaum verständlich, daß Sie beschlossen, einfach wegzuziehen und sie für immer zu verlassen. Man kann zumindest annehmen, daß Sie zurückkehren wollten, wenn die Störung durch Mrs. Garvins Anwesenheit entfiel.« Hackley quittierte das Argument mit einer leichten Verbeugung. »Sie sind geschickt, Mr. Drake. Die Frage ist gut gewählt.« »Und die Antwort?« »Die Antwort lautet, daß ich mir diese Informationen nicht hätte besorgen können, ohne auf der Farm eine Person zurückzulassen, die sie weitergegeben hätte. Es wäre notwendig gewesen, zu diesem Zweck jemandem meinen Aufenthaltsort mitzuteilen. Ich wollte jedoch keinen Menschen wissen lassen, wo ich mich aufhielt. Obwohl ich mich also sehr gern informiert hätte, wie von Ihnen angedeutet, Mr. Drake, tat ich es nicht. Ich kam her, und niemand, absolut niemand wußte, wo ich bin.« »Wie hielten Sie Ihre Farm in Betrieb?« »Mein Aufseher und Verwalter ist ein sehr verschwiegener Mensch. Ich schätze seine Treue ebenso wie seine Zuverlässigkeit. Er kann über ein Scheckkonto verfügen, dessen Umfang ausreicht, um die Farm während meiner Abwesenheit zu verwalten. Und jetzt wollen Sie mich entschuldigen, Miss Street, und Sie, meine Herren. Ich muß mich noch mit anderen Dingen befassen. Alle Informationen, die zur Verfügung stehen, habe ich Ihnen gegeben. Ich lege keinen Wert darauf, die Sache weiter zu erörtern.« »Sie waren in der letzten Nacht hier?« fragte Mason. »Ich sagte, daß ich keinen Wert darauf lege, die Sache weiter zu erörtern«, entgegnete Hackley in bestimmtem Ton. »Ich habe -1 4 2 -
Ihnen alle Informationen gegeben, und jetzt wünsche ich Ihnen eine gute Nacht.« Er ging gelassen an seinen Besuchern vorbei, hinaus in die Halle, und öffnete die Außentür. Della Street fing Masons Blick auf und nickte. »Gehen Sie vor, Chef.« Sie schlenderte an den Regalen entlang, sah sich die Bücher an und wartete, bis Mason und Drake als erste das Zimmer verließen. In kurzem Abstand folgte sie. »Gute Nacht«, wünschte Hackley förmlich. »Gute Nacht«, sagte Mason. Paul Drake blieb stumm. Della Street, sittsam und bieder dreinblickend, bedachte Hackley mit einem Lächeln und sagte: »Gute Nacht, Mr. Hackley, und sehr vielen Dank.« »Es war mir ein Vergnügen«, gab er zurück und rie f seinem Hund zu: »Rex, hiergeblieben. Diese Leute gehen weg.« Der Hund, jetzt sehr viel gehorsamer und weniger feindselig, setzte sich sofort auf die Hinterbeine, sah zu seinem Herrn auf und wartete auf Befehle. Mason ging voran zum Wagen und setzte sich hinter das Lenkrad. Drake hielt Della die Tür auf, folgte ihr dann mit bänglichem Blick über die Schulter in die Richtung des Hundes. Ruckartig ließ er die Wagentür hinter sich zuknallen. Della lachte. »Beschäftigt der Hund Sie noch immer, Paul?« »Aber sicher«, sagte Drake. Mason startete den Wagen, während Hackley reglos in der Tür stand und die Abfahrt beobachtete. Della Street blickte zu ihm hinüber und winkte ihm fast verstohlen zu. Hackleys harter Mund verzog sich zu einem Lächeln. Der Wagen glitt über die Kiesauffahrt. »Na«, meinte Drake, »ich habe dir ja gesagt, daß er -1 4 3 -
hartgesotten ist.« »Ist er«, stimmte Mason zu, »und trotzdem haben wir ein paar Anhaltspunkte, die sich als sehr interessant erweisen werden.« »Zum Beispiel?« fragte Drake. »Wie man sie ht, ist dieser Hund abgerichtet. Hackley hat ihn bestimmt nicht mit dem Haus übernommen. Ebensowenig wird er ihn sich in Kalifornien zugelegt haben. Er muß den Hund schon auf seiner Farm in Nevada gehabt haben und sehr an ihm hängen; sonst hätte er das Tie r nicht mitgenommen, als er verschwinden wollte.« »Na schön, und was folgert daraus?« fragte Drake. »Daß Hackley vor etwas Angst hat. Er läßt den Hund draußen, um den Platz zu bewachen. Der Hund ist so abgerichtet, daß nachts niemand das Grundstück betreten kann.« »Na und?« »Wir werden jetzt bei Rolando C. Lomax halten«, sagte Mason, »und feststellen, ob er den Hund heute nacht um ein Uhr besonders laut und anhaltend bellen hörte.« Drake kicherte. »Ich muß dich loben, Perry. Keine schlechte Idee.« Wo der Kiesweg in die Straße einmündete, bog Mason rechts ab und hielt vor dem Haus des Rolando Lomax. Auf sein Läuten hin öffnete Lomax, der sich recht entgegenkommend zeigte. Er war ein stämmiger Mann von Ende Fünfzig. Harte Arbeit hatte seine breiten Schultern gebeugt, das Gesicht war gebräunt und zerfurcht von Wind und Wetter. Die aufgerollten Ärmel seines Wollhemdes ließen behaarte Arme und riesige, kraftvolle Hände frei. »Wir ermitteln in einer Sache, die hier in der Gegend passierte«, erklärte Mason ihm. »Sie haben vielleicht davon gehört.« »Sie meinen die Frau, die an der Straße ermordet wurde?« -1 4 4 -
Mason nickte. »Und was wollen Sie wissen?« »Waren Sie letzte Nacht zu Hause?« fragte Mason. »Ja.« »Haben Sie irgend etwas Ungewöhnliches von dem Haus dort drüben gehört?« »Das dieser Tourist gekauft hat, meinen Sie?« »Richtig.« »Ich hörte den Hund heute nacht wie verrückt bellen«, berichtete Lomax. »Ich sagte noch zu meiner Frau, da müßte was los sein. Der Hund machte einen richtigen Aufruhr.« »Wissen Sie, wie spät es da war?« fragte Mason. »Sicher. Das heißt, ich weiß nicht genau, wann er anfing, aber als er gar nicht aufhören wollte, dachte ich, da müßte was passiert sein. Ich stand auf und sah aus dem Fenster. Mein Schlafzimmerfenster geht genau auf Hackleys Haus.« »Ja, ja«, sagte Mason, »und dann?« »Na, ich sah auf meine Uhr. Ich glaubte, da drüben wäre irgendwas nicht in Ordnung. Als ich aufstand, war es genau vierundzwanzig Minuten nach Mitternacht.« »Und Ihre Uhr geht richtig?« »Fast genau. Ich stelle sie jeden Ta g nach dem Radio.« »Und es war gerade 0.25 Uhr?« fragte Mason. »Genau 0.24 Uhr war es«, korrigierte Lomax. »Ich habe es mir gemerkt.« »Und wie lange hat der Hund gebellt?« »Gerade als ich ans Fenster kam, wurde drüben in dem Haus, das dieser Hackley gekauft hat, Licht gemacht. Und dann hörte der Hund so plötzlich auf zu bellen, als ob jemand ihm gesagt hätte, er sollte still sein. Ich wartete noch eine Weile. Die Lichter blieben an, aber der Hund bellte nicht mehr. Deshalb -1 4 5 -
dachte ich, alles wäre in Ordnung, und ging wieder ins Bett. Der Hund muß drei bis vier Minuten gebellt haben, bevor ich aufstand. Wenn Sie mich fragen - dieser Hund ist bösartig. Aber ich versuche trotzdem gute Nachbarschaft zu halten. Bloß habe ich hier Hühner, und sollte er mal auf die losgehen, marschiere ich genau rüber und erzähle Hackley, daß ein Hund wie der ein Stadthund ist. Der hat hier draußen auf dem Land nichts zu suchen. Ich habe noch nie einen gesehen, der nicht gerissen hat, wenn er aufs Land kam. Eine Schande ist das. Die Leute, die das Haus früher hatten, waren sehr nett; reich, aber gutnachbarlich. Dieser Hackley ist anders. Der ist durch und durch Stadtmensch und gehört zu den Leuten, die auf Nachbarn keinen Wert legen. Für den bin ich Luft. Er geht einfach vorbei. Manchmal nickt er noch eben, manchmal nicht. Noch nie ist er stehengeblieben und hat guten Tag gesagt. Hier draußen auf dem Land ist man auf seinen Nachbarn angewiesen. Wenn einer aber dermaßen abweisend ist, wird man sauer.« Mason pflichtete ihm bei. »Der Hund bellte nur bei dieser einen Gelegenheit?« »Nur das eine Mal«, sagte Lomax. »Sie haben nicht zufällig einen Wagen hinein- oder hinausfahren sehen?« »Ich habe nichts ein- oder ausfahren sehen«, sagte Lomax mürrisch. »Wenn ich zu Bett gehe, schlafe ich. Ich habe hier dreißig Morgen Land, und das ist eine Menge Arbeit. Ich höre um neun die Nachrichten, und dann bin ich bettreif. Vor Tagesanbruch wache ich meist nicht auf. Wenn’s hell wird, stehe ich auf und fange mit der Arbeit an. Nebenbei spioniere ich nicht hinter Nachbarn her und möchte genausowenig, daß sie’s bei mir tun. Jeder soll auf seine Art selig werden, das ist unsere Regel hier draußen.« »Und Sie sahen oder hörten nichts von einem Auto?« beharrte Mason. -1 4 6 -
»Ich sah und hörte überhaupt nichts, bis ich den Hund bellen hörte. Da stand ich auf, um nachzusehen, was los war. Wie das Gebell sich anhörte - bißchen hysterisch, könnte man sagen.« »Sie meinen, es war jemand drüben beim Haus?« »Ich meine, der Hund war über irgendwas sehr aufgeregt.« »Sie sahen nie manden da drüben?« »Es ist genauso, wie ich Ihnen erzählte. Ich sah, daß im Haus die Lampen brannten, und nach einer Weile hörte der Hund auf zu bellen. Dann ging ich wieder zu Bett.« »Und wie lange dauerte es, bis Sie schlafen gingen?« »Wie lange dauerte was?« »Bis Sie wieder zu Bett gingen.« »Oh, ich weiß nicht«, sagte Lomax. »Ich hatte keine Stoppuhr dabei. Es könnten - na, dreißig Sekunden gewesen sein, vielleicht eine knappe Minute.« »Vielen Dank«, sagte Mason lächelnd. »Bitte erwähnen Sie nicht, daß wir hier waren. Ich möchte nicht, daß Hackley davon erfährt. Und ich glaube, Sie werden mit Hackley besser auskommen, wenn er nicht weiß, daß Sie uns diese Auskunft gaben.« »Was der weiß oder nicht, ist mir egal«, erklärte Lomax. »Ich gehe meinen geraden Weg und kümmere mich um nichts.« Mason wünschte ihm eine gute Nacht. Dann kehrten die drei zum Wagen zurück. »Ich habe da draußen bei Hackley einen Bagatelldiebstahl begangen«, gestand Della Street wenig später. »Wieso das?« fragte Mason. Della lachte. »Mein weiblicher Scharfblick. Ich schätze, keinem von Ihnen ist der Damenschal aufgefallen, den jemand oben auf das Bücherregal geworfen hatte, in die hintere Ecke stimmt’s?« -1 4 7 -
»Ein Schal?« fragte Mason. »Himmel, nein!« Della Street griff in ihre Bluse und zog ein farbiges Seidentuch heraus. Es war in Pastelltönen abschattiert, wobei grüne Streifen allmählich in dunkelviolette übergingen. »Riechen Sie etwas?« fragte Della Perry Mason. Er hielt das Tuch an die Nase und stieß einen leisen Pfiff aus. »Della! Ist das der Duft, für den ich ihn halte?« »Was denn für einer?« fragte Drake. »Wenn mich nicht alles täuscht«, sagte Mason, »ist es das von meiner Freundin Virginia Bynum benutzte Parfüm.« »Es ist ziemlich schwach«, meinte Della Street, »wahrscheinlich nichts, was Sie vor Gericht erfolgreich verwenden könnten, aber - immerhin, es ist eine Idee, Chef.« »Es ist mehr als eine Idee«, sagte Mason mit gefurchter Stirn, »es ist ein Problem.« »Und hier kommt noch eins«, fuhr Della fort. Aus ihrem Mantel zog sie einen plattgedrückten kleinen Damenhut. »Halstuch und Hut lagen zusammen in der Ecke auf dem Bücherbord. Erinnern Sie sich, Drakes Mann glaubte, Ethel Garvin hätte einen Hut getragen, als sie ihr Apartment verließ.« Mason nahm den Hut an sich. Drake entfuhr ein leiser Pfiff. »Teufel, Perry, angenommen, die beiden Frauen hatten was mit Hackley!« »Und waren beide in der letzten Nacht hier«, sagte Mason bedeutungsvoll.
13 Die Morgenpost türmte sich ungeöffnet auf seinem Schreibtisch, als Perry Mason im Büro hin und her ging, dabei Della Street dann und wann eine Bemerkung zuwerfend. »Die Sache ergibt keinen Sinn«, sagte er und fuhr nach einer -1 4 8 -
kleinen Pause fort: »Der Benzintank in Ethel Garvins Wagen war voll... Die Windschutzscheibe verschmiert... Sie war an keiner Tankstelle - es sei denn, sie hatte es zu eilig, um die Windschutzscheibe putzen zu lassen. Aber das will mir auch nicht einleuchten.« Er marschierte wieder auf und ab, während er weitere Überlegungen anstellte. »Wir wissen, daß um 0.24 Uhr jemand Hackley besuchte. Wir glauben, daß Virginia Bynum bei ihm war, aber sie konnte zu der Zeit gar nicht dagewesen sein, weil sie auf der Feuerleiter stand und Denby beobachtete.« »Nun, was mich angeht«, sagte Della Street, »so würde ich gern etwas mehr über Frank C. Livesey herauskriegen. Männer seines Schlages habe ich schon kennengelernt. Er ist eingebildet, eitel und - wenn Sie mich fragen - grausam.« »Warum halten Sie ihn für grausam?« »Ich weiß es. Frauen gegenüber ist er grausam. Er war mal ein Playboy. Er merkt, daß er über dieses Alter hinaus ist, hat aber eine Position, die eine gewisse Sorte Mädchen völlig von ihm abhängig macht. Denen geht’s vielleicht nicht ums nackte Butterbrot, sondern ums Honiglecken. Und diesem Mädchentyp ist das süße Leben wichtiger als bloßes Sattwerden.« »Das besagt noch gar nichts«, fand Mason. »Doch besagt es was«, widersprach Della. »So ein Mann wird arrogant. Er...« Es klopfte an der Außentür von Masons Privatbüro: einmal dreimal - zweimal. »Paul Drake«, sagte Mason. »Lassen Sie ihn bitte herein.« Della Street öffnete die Tür, und Paul Drake trat grinsend ein. »Was machst du«, erkundigte er sich bei Mason, »schon wieder Löcher in den Teppich?« »So ist es. Ich versuche, Sinn in die Sache zu bringen.« »Na, ich habe ein paar Neuigkeiten für dich«, kündigte Drake -1 4 9 -
an. »Was gibt’s?« »Die Polizei hat in Oceanside einen Mann namens Irving aufgetan, Mortimer C. Irving... Achte jetzt auf den Zeitfaktor bei der Sache, Perry, denn der ist wichtig.« »Okay, schieß los.« »Irving hatte Freunde in La Jolla besucht und war auf der Rückfahrt nach Oceanside. Er machte sich Gedanken wegen der späten Uhrzeit. Offenbar hatte er nämlich gepokert, und das sollte seine Frau nicht wissen. Er hatte einiges Geld dabei verloren und war ziemlich geknickt. Weil er für seine bessere Hälfte eine Geschichte erfinden wollte, merkte er sich die genaue Uhrzeit.« »Weiter«, sagte Mason. »Als er etwa zwei Meilen von Oceanside entfernt war, sah er vor sich einen Wagen neben der Straße parken. Die Scheinwerfer brannten. Noch dazu war Fernlicht eingeschaltet, das ihn beim Näherkommen sogar blendete.« »Wie spät war es?« fragte Mason. »Dieser Irving kam genau um 0.50 Uhr zu Hause an. Er hatte auf seine Uhr gesehen, und auch seine Frau bestätigt das. Es war also zehn Minuten vor eins.« »Weiter bitte.« »Wichtig ist dabei«, fuhr Drake fort, »daß sich dies alles mit der Aussage eines Farmers deckt, der sich an einen parkenden Wagen erinnert, weil die Scheinwerfer in sein Schlafzimmer leuchteten. Er hat die Sache nicht allzusehr beachtet, entsinnt sich aber, daß da irgendwann mitten in der Nacht ein Auto stand. Auf eine Uhr hat er nicht gesehen, weshalb seine Aussage praktisch nicht viel wert ist. Jedenfalls wissen wir, daß da tatsächlich ein Wagen stand.« Mason nickte. -1 5 0 -
»Jetzt spielt dieser Irving eine Rolle, und er könnte ein verdammt gefährlicher Zeuge werden. Er hätte sich gewundert, sagt er, warum da ein Wagen mit aufgeblendeten Scheinwerfern hielt, und gemeint, jemand könnte in Schwierigkeiten sein.« »Und was tat er?« drängte Mason. »Na, er hielt an, blieb aber auf der Straße. Er hat einen Suchscheinwerfer an seinem Wagen, den er schwenkte und das andere Fahrzeug ableuchtete. Er sagt, es wäre ein großes lohfarbenes oder hellbraunes Kabriolett gewesen, und niemand habe drin gesessen. Es stand nur da, mit eingeschaltetem Licht. Er schaute es sich ziemlich genau an. In unmittelbarer Nähe konnte er keinen Menschen entdecken. Die Nummer schrieb er sich nicht auf, aber das Kabrio nahm er recht genau aufs Korn. Und jetzt hör zu, Perry - die Beschreibung könnte auf Garvins Wagen passen.« »Oder auch auf jedes andere Kabrio, was das betrifft«, sagte Mason. »Der Bursche weiß lediglich, daß er ein großes Kabriolett gesehen hat.« »Ein hellbraunes.« »Davon gibt es jede Menge«, versicherte Mason. »Meins ist lichtbraun, Garvins hat eine helle blaugraue Tönung, die im Scheinwerferlicht wahrscheinlich hellbraun wirkt. Man sieht alle Arten von Kabrios in diesen hellen Farben.« »Natürlich«, sagte Drake. »Ich erzähle dir ja nur, was die Polizei ermittelt hat. Aber bis sie mit diesem Zeugen durch ist, kann er verflixt gefährlich geworden sein. Du weißt, was sie machen werden. Sie pauken ihn ein und reden ihm vor, was er gesehen hat, bis er schließlich überzeugt ist, daß er tatsächlich Garvins Wagen sah. Sogar Beulen in den Kotflügeln wird er wiedererkennen. Vielleicht überlegt er sich noch, ob er sich nicht doch an die Nummer erinnert.« Mason nickte verdrießlich. »Es ist ein Verbrechen, wie Zeugen sich selber was vormachen - gelegentlich mit Hilfe der -1 5 1 -
Polizei. Ich...« Die Tür des Außenbüros öffnete sich, und Gertie, die Telefonistin und Empfangsdame, stürzte herein. Bei Paul Drakes Anblick blieb sie stehen. »Oh«, rief sie, »ich dachte, Della und Sie wären allein.« »Ist schon gut«, sagte Mason, »was gibt’s?« »Mrs. Garvin ist am Telefon, Mr. Mason. Sie ruft aus San Diego an, schrecklich aufgeregt. Sie muß unbedingt sofort mit Ihnen sprechen, sagt sie und - na, ich dachte, vielleicht soll ich beide Leitungen einstöpseln, damit Della mithören und schreiben kann. Sie ist...« »Tun Sie das bitte, Gertie«, sagte Mason, »und dann stellen Sie Mrs. Garvin zu mir durch.« Während Gertie ins Vorzimmer zurücklief, nickte Mason Della Street zu. »Nehmen Sie Ihren Block, Della. Notieren Sie sich, was sie sagt.« Della öffnete ihren Block und wartete, bis das leise Klingeln anzeigte, daß Gertie den Anruf auf beide Leitungen gelegt hatte. Dann nickte sie Mason zu, und beide nahmen gleichzeitig ihre Hörer ab. »Hallo«, meldete Mason sich. Lorraine Garvins Stimme klang hysterisch: »Oh, Mr. Mason! Ich bin heilfroh, daß ich Sie erreicht habe. Ich...« »Nur keine Aufregung«, sagte Mason. »Erzählen Sie mir, was geschehen ist.« »Sie haben uns verschaukelt.« »Wer?« »Die Polizei.« »Was war los?« »Die Leute von der mexikanischen Einwanderungsbehörde kamen zu uns und wollten wissen, wie lange wir in Mexiko -1 5 2 -
bleiben würden. Edward sagte ihnen, er wüßte es noch nicht, vielleicht würden wir nach Ensenada weiterfahren und zwei bis drei Wochen oder auch länger bleiben. Na, die Leute waren sehr nett, sagten uns aber, wir müßten uns Touristenkarten besorgen. Die wären ein halbes Jahr gültig und würden bei der Einreisestelle an der Grenze ausgegeben. Wir brauchten dazu nicht über die Grenze, sondern könnten sie einfach auf der mexikanischen Seite ausstellen lassen.« »In Ordnung, und was geschah dann?« »Wir fuhren in Edwards Wagen zur Grenze, aber als wir uns näherten, wiesen die Beamten uns in die falsche Fahrspur. Edward wollte ihnen erklären, daß wir nur Touristenkarten brauchten, aber sie verstanden kein Englisch.« »Und dann?« fragte Mason. »Na, wir landeten im Handumdrehen auf der Fahrspur, die zur US-Seite führte, und konnten nicht mehr heraus. Deshalb fand Ed es am besten, kurz über die Grenze zu fahren, direkt zu wenden und auf die mexikanische Seite zurückzukommen. Die Wagen fuhren flott hintereinander durch die Kontrollstelle. Die Beamten prüften jeden nur flüchtig auf Schmuggelware und winkten gleich zum Weiterfahren.« »Sie hätten es besser wissen müssen«, warf Mason ihr vor. »Jetzt wissen wir’s auch«, sagte sie. »Es war nichts weiter als eine Falle. Wir versuchten auszuscheren, und ein paar amerikanische Polizisten stoppten uns mit Trillerpfeifen und brüllten, wir hätten uns wieder in die Spur einzuordnen. Als Ed ihnen erklärte, wir wollten nur Touristenkarten holen, sagten sie, jetzt müßten wir erst über die Grenze, da könnten wir wenden, aber nicht vorher aus der Fahrspur ausscheren. Also passierten wir die Grenze, und prompt schoß auf der amerikanischen Seite ein Wagen heran und kam längsseits. Darin saß dieser Tragg, grinste uns an und sagte zu Edward: ›Ich habe Ihnen ja gleich gesagt, wir werden den unbequemen Weg gehen, wenn der -1 5 3 -
bequeme Ihnen nicht paßt.‹ Und dann nahmen sie Edward mit nach San Diego und sperrten ihn ein.« »Wo sind Sie jetzt?« fragte Mason. »Im U. S. Grand Hotel in San Diego.« »Man hat Sie nicht festgenommen?« »Nein, sie waren sehr nett. Erzählten mir, wie leid es ihnen täte, mich belästigen zu müssen, und ich könnte nach Mexiko zurückfahren, um unser Gepäck zu holen. Dann riefen sie noch einmal an und fragten mich, ob ich was dagegen hätte, wenn sie den Wagen untersuchten.« »Wo steht der Wagen?« »Hier in der Hotelgarage.« »Hatten sie ihn nicht schon vorher inspiziert?« »Sie untersuchten ihn, als sie uns mitnahmen, aber jetzt wollen sie ihn anscheinend abholen und auf Fingerabdrücke oder sonst was prüfen. Ungefähr drei Stunden würden sie ihn brauchen, sagten sie.« »Wo sind die Wagenschlüssel?« fragte Mason. »Im Wagen, nehme ich an.« »Wann hat die Polizei Sie angerufen?« »Gerade eben. « »Was sagten Sie?« »Daß ich über die Grenze fahren müßte, um mein Gepäck zu holen und mich in dem kleinen Hotel in Tijuana abzumelden. Sie sagten mir, ich könnte einen Polizeiwagen haben und...« »Tun Sie jetzt genau das, was ich Ihnen rate«, unterbrach Mason sie ungeduldig. »Rufen Sie die Polizei an. Sagen Sie, daß Sie sich selbstverständlich nicht in einem Polizeifahrzeug sehen lassen werden; daß Sie sofort zurückfahren und Ihr Gepäck holen wollen und man Ihnen einen Beamten mitgeben könnte, falls nötig. Auf jeden Fall aber würden Sie in Ihrem eigenen -1 5 4 -
Wagen fahren, um Ihre Sachen zu holen und sich im Vista de la Mesa abzumelden. Verstehen Sie?« »Ja.« »Und tun Sie es bestimmt«, fuhr Mason fort. »Lassen Sie die Polizei zumindest in den nächsten anderthalb bis zwei Stunden nicht an Ihren Wagen heran. Zögern Sie die Sache so lange wie möglich hinaus. Tun Sie nicht, als hätten Sie irgend etwas zu verheimlichen, aber spielen Sie die Beleidigte, Verärgerte, Wütende; treten Sie souverän auf. Erzählen Sie den Beamten auf keinen Fall, sie könnten den Wagen nicht haben. Sagen Sie einfach, er stünde zur Verfügung, sobald Sie aus Mexiko zurück wären. Verstehen Sie?« »Ja, ich sehe nur nicht ein, warum...« »Brauchen Sie auch nicht«, sagte Mason. »Tun Sie genau, was ich Ihne n rate. Und erzählen Sie keinem Menschen, daß Sie mit mir gesprochen haben. Wissen Sie Bescheid?« »Ja, aber ich...« »Dann machen Sie’s«, fiel Mason ihr ins Wort. »Verzögern Sie die Sache, so daß die Polizei möglichst nicht vor zwei Stunden an Ihren Wagen herankommt. Tun Sie genau das, was ich Ihnen sage. Auf Wiedersehen.« Mason legte den Hörer auf. »Was ist los?« erkundigte sich Drake. Mason sprang auf. »Genau wie du angenommen hast, Paul. Weißt du, was passieren wird? Die Polizei will an Garvins Wagen heran. Sie lockten ihn über die Grenze und schnappten ihn. Jetzt wollen sie seinen Wagen. Kannst du dir denken, wozu? Sie bringen den Wagen nach Oceanside, zeigen ihn Irving und sorgen dafür, daß er bald selbst glaubt, diesen Wagen gesehen zu haben.« »Na schön«, sagte Drake matt, »dagegen kannst du nichts unternehmen. Wenn Irving zu der Sorte gehört, die auf solche -1 5 5 -
Dinge reinfällt...« »Alle fallen darauf herein, du weißt doch, wie man mit Zeugen dran ist.« »Weiß ich«, sagte Drake, »aber wir können nichts tun.« »Und ob wir können«, protestierte Mason. »Nimm Della in deinem Wagen mit und folge mir, so schnell du kannst.« »Was hast du denn jetzt vor, Perry?« »Ich nehme mein Kabrio, fahre nach Oceanside und parke ungefähr an der Stelle, wo nach Aussage des Zeugen jener andere Wagen stand. Du gehst mit Della zu Mr. Mortimer C. Irving, sagst ihm, er möchte mal einen Blick auf einen Wagen werfen, und fährst ihn die Straße entlang. Dort wird mein Kabrio stehen, und ich wette zehn zu eins mit dir, daß der Bursche es als dasselbe identifiziert, das er gesehen haben will sofern er es vor Garvins Wagen zu Gesicht bekommt.« »Und dann?« fragte Drake zweifelnd. »Dann fahren wir nach Hause, und Mrs. Lorraine Garvin wird der Polizei mitteilen, sie könne jetzt ihren Wagen zur Inspektion ›ausleihen‹. Die Polizei wird ihn schleunigst nach Oceanside fahren und Irving auffordern, ihn zu identifizieren. Irving wird sagen, das sei nicht der Wagen, denn er habe bereits einen identifiziert, und zwar mit einer bestimmten Nummer.« »Er wird deinen Wagen nicht identifizieren, wenn er weiß, daß er dir gehört und wer du bist«, wandte Drake ein. »Er wird nicht erfahren, wer ich bin, auch nicht, wem der Wagen gehört.« Drake schüttelte den Kopf. »Um es mit einem Wort zu sagen: Ohne mich.« »Warum?« »Weil das viel zu gefährlich ist. Damit kannst du Ärger kriegen.« »Was für Ärger?« fragte Mason. »Wir bitten nur einen Mann, -1 5 6 -
ein Auto zu identifizieren, weiter nichts.« »Und streuen ihm Sand in die Augen. Du willst ihm einreden, es wäre derselbe Wagen, den er kurz nach Mitternacht dort gesehen hätte und...« »Und genau das wird die Polizei tun«, fiel Mason ihm ins Wort. »Die Polizei steht auf dem Standpunkt, es sei in Ordnung, wenn sie es tut, aber rechtswidrig, wenn andere es tun. Zum Teufel mit diesem Blödsinn! Kommst du nun mit oder nicht?« »Nein«, sagte Drake festen Tones. »Ich habe eine Lizenz zu verlieren. Das grenzt an...« Mason spähte rasch zu Della Street hinüber. Sie schob ihren Stuhl zurück, ging zum Hutfach und sagte: »Mein Wagen steht auf den Parkplatz, Chef, vollgetankt. Ich kann damit nicht die Zeit herausholen wie Sie mit Ihrem Kabrio, aber wenn Sie in der Nähe der erlaubten Geschwindigkeit bleiben, schaffe ich’s, genau hinter Ihnen zu liegen.« Mason griff nach seinem Hut. »Gehen wir«, sagte er. »Das wird ein herrliches Geschrei geben, Perry«, warnte Drake. »Sie werden...« »Laß sie schreien«, unterbrach Mason ihn. »Ich will nicht abwarten, bis sie diesem Zeugen einen Floh ins Ohr gesetzt haben. Wenn ich das Recht habe, einen Zeugen nach seiner Aussage vor Gericht im Kreuzverhör zu fragen, woher er wisse, daß es der Wagen war, dann kann ich es auch vorher tun und ihm außerdem vor Augen führen, daß er tatsächlich kein Kabriolett vom anderen unterscheiden kann. Kommen Sie, Della.«
14 Perry Mason und Della Street hielten vor einem unscheinbaren kleinen Haus an einer Nebenstraße in Oceanside. Mason ließ Della am Lenkrad ihres Wagens, stieg aus, ging -1 5 7 -
die Stufen hinauf und klopfte. Eine rothaarige Frau riß heftig die Tür auf. Ihre tiefliegenden blauen Augen im abgearbeiteten Gesicht musterten den Besucher. »Wir brauchen nichts«, rief sie und wollte die Tür zuschlagen. »Einen Augenblick nur«, sagte Mason lachend, »ich möchte Ihren Mann sprechen.« »Er ist auf Arbeit.« »Können Sie mir sagen, wo?« »Bei der Standard Tankstelle.« »Er hat Ihnen von dem Auto erzählt, das er sah, als er von La Jolla zurückkam?« »Ja.« »Darüber möchte ich mit ihm sprechen«, sagte Mason. »Hat er es Ihnen beschrieben?« »Er konnte nichts weiter erkennen, als daß es ein helles Kabriolett war, ohne Insassen. Es war nicht der Wagen, den diese Frau fuhr, als sie umgebracht wurde.« »Wissen Sie, um welche Zeit Ihr Mann nach Hause kam?« »Allerdings weiß ich das! Zehn Minuten vor eins war’s. Da herumzusitzen mit diesen Burschen, dumme Sprüche zu machen und Geld zu riskieren, wozu er gar kein Recht hat! Ein miserabler Pokerspieler ist er und will immer bluffen, wenn er nichts in der Hand hat. Und dann kommt er mit lauter Märchen nach Hause und...« »Wir finden ihn bei der Tankstelle?« »Ja.« Mason dankte, ging rasch zum Wagen zurück und ließ Della Street zur Tankstelle fahren, wo er nach Mortimer Irving fragte. Irving, ein großer, schwerfälliger Mann, der sympathisch wirkte und weit jünger aussah als seine Frau, sagte feixend: »Jawohl. Ich sah diesen Wagen da unten - dachte mir zuerst -1 5 8 -
nichts weiter dabei, aber - na, ich sah die Schweinwerfer und, ich weiß nicht, irgendwie wunderte mich das. Ich dachte, vielleicht wäre ein Mädchen in Schwierigkeiten und hätte aufgeblendet, um sich bemerkbar zu machen und so. Na, ist ja auch egal, jedenfalls richtete ich meinen Suchscheinwerfer auf das Auto.« »Sind Sie hier für etwa eine halbe Stunde abkömmlich?« fragte Mason. »Nee.« »Wenn ich Ihnen zehn Dollar gäbe?« Der Mann zögerte. »Und weitere zehn, damit Sie rasch Ihrem Kollegen einen Tip geben und ihm alle Kunden aufs Auge drücken können, die inzwischen hereinkommen?« Irving schob seine Mütze zurück und kratzte sich am Kopf, während er mit sich zu Rate ging. »Wieviel haben Sie beim Pokern verloren?« erkundigte Mason sich freundschaftlich. »Etwas über fünfzehn Piepen.« »Das hätten Sie gleich sagen sollen. Dann gebe ich Ihnen zwanzig Dollar, weitere zehn für Ihren Kollegen im Dienst und noch fünf für den Jungen mit dem Waschleder, damit er aushilft, falls die Wagen sich hier stauen. Und Ihrer Frau können Sie erzählen, daß Sie letzten Endes noch Profit gemacht haben bei Ihrem Trip nach La Jolla. Sie verloren fünfzehn oder sechzehn Dollar und bekamen zwanzig dafür zurück.« »Sie verstehen es tatsächlich, einen weichzumachen, Mister«, sagte Irving. »Wenn ich reden könnte wie Sie, wäre ich die Verkaufskanone in ganz USA. Sekunde, ich will nur mit den Jungens reden.« »Hier sind die fünfunddreißig Dollar.« Mason zählte sie ihm in die Hand. »Es dauert nur ein paar Minuten.« -1 5 9 -
Irving sprach mit seinem Kollegen, dann mit dem Mann an der Waschanlage. Grinsend kam er zurück, öffnete die hintere Wagentür und stieg ein. Mason nickte Della Street zu, die rasch startete. »Meinen Sie, Sie würden das Kabriolett wiedererkennen?« fragte Mason den Mann. »Na, ich will Ihnen offen sagen, auf Marke, Baujahr, Modell und all das Zeug habe ich nicht so genau geachtet. Eigentlich wollte ich nur nachsehen, ob Leute drin waren. Wenn man nachts einen Wagen anstrahlt, hebt er sich scharf vom dunklen Hintergrund ab. Dabei gibt es keine Schatten oder dergleichen. In der Fotografie nennt man das ein unplastisches Bild.« »Fotografieren scheint Ihr Hobby zu sein«, bemerkte Mason. »Ist es - wenn ich Geld für Filme zusammenkriege.« »Nun, wir wollen sehen, ob wir Ihnen nicht ein paar Filme besorgen können«, versprach Mason. Della Street fuhr langsamer. »Also, dort drüben steht ein Kabriolett«, sagte Mason. »Hat es ungefähr die gleiche Stellung wie der Wagen, den Sie...« »Fast genau die gleiche Stellung und fast genau der gleiche Wagen ist es. Gerade diese Größe und...« »Und soweit Sie sagen können, ist es derselbe Wagen«, ergänzte Mason. »Anders ausgedrückt, er hat alles in allem die gleichen Merkmale wie der Wagen, den Sie sahen. Es könnte derselbe sein.« »Könnte«, sagte Irving. Della Street hielt an, nahm unauffällig ihr Notizbuch vor und schrieb auf dem Schoß die Unterhaltung mit. »Mit anderen Worten«, fuhr Mason fort, »so gut Sie sich des Wagens entsinnen können, den Sie bei Ihrer Rückkehr von La Jolla hier nach Mitternacht parken sahen, würden Sie doch nicht mit Bestimmtheit sagen, daß es wirklich derselbe ist, den Sie -1 6 0 -
jetzt vor sich sehen; und Sie können auch nicht sagen, daß es nicht derselbe ist.« »Ich will sagen, er sieht genauso aus«, antwortete Irving. »Und soweit ich es von hier aus erkennen kann, ist es tatsächlich derselbe.« »Sie fanden keine besonderen Merkmale?« »Ich stellte nur fest, daß es ein helles Kabriolett war. Und es hatte genau die gleiche Größe und Farbe und auch die gleiche Form wie dieses hier. Ich - was soll ich denn sagen? Daß dies hier der Wagen ist?« Mason schmunzelte. »Sie sollen mir nur die Wahrheit sagen. Ich untersuche den Fall und möchte herausfinden, welcher Wagentyp es war, wie genau Sie ihn gesehen haben, und wie zuverlässig Sie ihn identifizieren können.« »Na, ehrlich gesagt, wenn ich ihn mir so ansehe... Wissen Sie, ich kam ja aus der anderen Richtung. Wir müßten mal weiterfahren, drehen und zurückkommen.« Mason stieß Della Street leise an und sagte: »Lassen Sie mich fahren, Della.« Er stieg aus, ging um den Wagen herum und schwang sich hinter das Lenkrad. Della Street, das Notizbuch auf dem Schoß haltend, rutschte zur anderen Seite. Mason fuhr ein Stück weiter, wendete und kam langsam zurück. »Halten Sie mal hier ungefähr«, sagte Irving. »Jetzt lassen Sie mich sehen... Menschenskind, das könnte wahrhaftig derselbe Wagen sein. Er hat dieselben Umrisse und - und steht fast genau am selben Platz. Hier ungefähr habe ich angehalten. Aus diesem Winkel sah ich den anderen Wagen. Meiner Meinung nach könnte es derselbe sein. Sie verstehen, ich kann nicht sagen, es ist derselbe, aber ich kann auch bestimmt nicht sagen, es ist nicht derselbe.« -1 6 1 -
»Sehr schön«, sagte Mason. »Ich glaube, das genügt. Damit scheint mir der Sachverhalt recht gut geschildert zu sein. Ihres Wissens nach könnte das hier der Wagen gewesen sein.« »Genau das Kabriolett da«, bestätigte Irving. »Meine Augen sind nicht allzu gut«, sagte Mason. »Können Sie die Zulassungsnummer lesen?« »Ein klein wenig weiter zurück«, bat Irving, »dann kann ich’s wahrscheinlich.« Mason setzte den Wagen zurück. »9Y6370«, las Irving die Nummer vor. »In Ordnung«, sagte Mason. »Ich glaube, das reicht.« Er startete, fuhr eilig nach Oceanside zurück und setzte Irving an der Tankstelle ab. Dann wendete er. »Da haben wir mal einen Musterzeugen«, meinte Della Street lächelnd. »Er ist es jetzt«, sagte Mason. »Hätte die Polizei aber schon Gelegenheit gehabt, ihm Flöhe ins Ohr zu setzen, wäre er inzwischen überzeugt gewesen, er könnte keinen anderen Wagen gesehen haben als den von Edward C. Garvin.« Mason hielt sich knapp innerhalb der erlaubten Geschwindigkeit, bis er Oceanside verlassen hatte, und gab dann kräftig Gas. »Ich will mein Kabrio dort aus dem Weg haben, bevor die Polizei eintrifft«, sagte er. Eine halbe Meile vor dem Standort seines Wagens stellte Della Street fest: »Es sieht so aus, als ob Sie zu spät kämen, Chef.« Mason unterdrückte einen Fluch, als sich in einiger Entfernung auf der Schnellstraße das Rotlicht zeigte. Gleich darauf hörten sie die Sirene. Ein großer Polizeiwagen, dem ein Beamter in Edward Garvins Kabriolett folgte, hielt mit quietschenden Reifen gegenüber von Masons parkendem Kabrio. -1 6 2 -
»Jetzt können wir’s ebensogut gleich hinter uns bringen«, grinste Mason, bog von der Straße ab und hielt genau neben seinem Kabriolett. Ein Mann des Sheriffbüros von San Diego, begleitet von Sergeant Holcomb, nahte im Eiltempo. »Was soll das heißen?« fragte Holcomb aggressiv. »Ich habe meinen Wagen hier für eine Weile abgestellt«, gab Mason Auskunft. »Ihren Wagen?« »Richtig.« »Was haben Sie vor?« fragte der Vizesheriff. »Ich versuche festzustellen, wer Ethel Garvin ermordet hat. Wie ich höre, wurde mein Mandant dieses Mordes beschuldigt und inhaftiert.« »Kommen Sie«, sagte Holcomb hitzig, »was haben Sie sich dabei gedacht, als Sie Ihren Wagen hier parkten?« »Ist das verboten?« »Was es zu bedeuten hat, will ich wissen.« Mason machte sein unschuldigstes Gesicht. »Nun, meine Herren«, sagte er, »ich will offen zu Ihnen sein. Ich versuche nach besten Kräften, Beweise für den wahren Sachverhalt zu finden. Wie ich hörte, hat ein Mann aus Oceanside, ein gewisser Irving, hier einen Wagen parken sehen. Um Ihnen nun meine Bereitschaft zur Zusammenarbeit zu beweisen, will ich Ihnen alles über diesen Mann berichten. Er heißt Mortimer C. Irving. Sie finden ihn bei der Standard-Tankstelle, der ersten an der rechten Seite in Stadtrichtung. Er ist ein netter Bursche. In der Mordnacht hatte er in La Jolla gepokert. Als er zurückfuhr, sah er hier den Wagen parken. Die Lampen waren angeschaltet. Ohne jeden Zweifel war es nicht der Wagen, in dem Ethel Garvins Leiche gefunden wurde. Es handelte sich um ein anderes Modell. Soweit Irving sich erinnert, war es ein -1 6 3 -
Kabriolett. Mir liegt sehr daran, mehr über dieses Fahrzeug herauszufinden, leider kann uns aber Irving nicht allzuviel darüber erzählen. Er weiß nur, daß es ein großes Kabriolett war. Bezüglich Farbe und Größe, sagte er, hätte es meinem Wagen sehr ähnlich gesehen, den ich hier abgestellt hatte, damit er einen Blick darauf werfen konnte.« »Anders ausgedrückt«, sagte Holcomb, »Sie zwangen ihn zu einer Identifikation. Stimmt’s?« »Ich habe keinen Menschen gezwungen, irgend etwas zu identifizieren«, verwahrte Mason sich. »So sehen Sie gerade aus«, bellte Holcomb. »Sie wissen so gut wie ich,. daß man ein Auto oder eine Person nur einwandfrei identifizieren kann, indem man sie aus einer Reihe herausfindet. Sie haben aber nur einen Wagen entsprechend aufgestellt und...« »Was hatten Sie übrigens mit Garvins Wagen vor?« unterbrach Mason ihn. »Wir untersuchen ihn auf Fingerspuren«, erklärte der Vizesheriff. Mason verbeugte sich und lächelte. »Nun, lassen Sie sich durch mich nicht stören, meine Herren. Wenn Mr. Garvin Ihnen den Wagen überließ, bin ich völlig überzeugt, daß er Sie in jeder Hinsicht bereitwilligst unterstützen wird. Übrigens hat Mr. Garvin ein festes Alibi für die Mordzeit... Und jetzt wollen Sie mich entschuldigen, meine Herren. Ich fahre zurück in mein Büro.« Mason öffnete die Tür seines Kabrioletts, schwang sich hinter das Lenkrad und ließ den Motor an. Er brauste ab und ließ die beiden Beamten stehen, die ihm wütend nachsahen, unter den gegebenen Umständen jedoch wenig einzuwenden wußten.
15 Hamlin L. Covington, Staatsanwalt im Amtsbezirk San -1 6 4 -
Diego, warf einen abwägenden Blick auf Perry Mason, als der Strafverteidiger den Gerichtssaal betrat, und wandte sich dann Samuel Jarvis zu, seinem ersten Stellvertreter. »Ein gutaussehender Bursche«, flüsterte Covington. »Macht aber nicht den Eindruck eines Genies.« »Er ist gefährlich«, warnte Jarvis. Covington, ein würdevoller, großer, kräftig gebauter Mann, entgegnete: »Na, in dieser Sache haben wir bestimmt nichts von ihm zu befürchten. Wahrscheinlich wird er mit allerlei Winkelzügen aufwarten, und die Leute auf der Geschworenenbank werden ihre Mühe haben, ihm zu folgen. Ich lasse mich auf seine Schliche gar nicht erst ein. Ich werde meinen festen Standpunkt beibehalten.« Sam Jarvis nickte. »Wenn der wüßte, was wir für ihn bereithalten.« »Nun ja«, sagte Covington selbstgerecht, »le tzten Endes hat er es provoziert. Er macht mit Vorliebe krumme Touren bei Gericht. Den werden wir kurieren. Und wegen der Geschichte mit der Wagenidentifizierung wird er vor dem Beschwerdeausschuß der Anwaltskammer erscheinen müssen. Schon das wird ihn beim Kreuzverhör kurztreten lassen. Je mehr er den Zeugen verwirrt, desto mehr untermauert er die Vorwürfe der Anwaltskammer.« Die Tür öffnete sich, und Richter Minden betrat den Saal. Anwälte, Zuhörer und Justizbeamte erhoben sich von ihren Plätzen, als der Richter zur Bank schritt. Er wartete einen Moment und gab dann mit wohlwollendem Nicken die Erlaubnis zum Setzen. Der Gerichtsdiener, der mit seinem Hammer zur Ordnung gerufen hatte, kündigte an: »Die Sitzung des Oberen Gerichts des Bundesstaates Kalifornien in und für den Amtsbezirk San Diego ist eröffnet. Den Vorsitz führt Richter Harrison E. Minden.« -1 6 5 -
»Der Bundesstaat Kalifornien gegen Edward Charles Garvin«, sagte Richter Minden. »Bereit für die Anklage«, meldete Covington. »Und für die Verteidigung, Euer Gnaden«, sagte Mason mit liebenswürdigem Lächeln. Richter Minden wies den Urkundsbeamten an: »Beginnen Sie mit der Eintragung der Geschworenen.« »Befassen Sie sich mit der Auswahl der Jury, Sam«, wisperte Covington seinem Kollegen Samuel Jarvis zu. »Ich halte mich noch zurück.« »Die voraussichtlichen Geschworenen«, sagte Richter Minden, »werden bei ihrem Aufruf jeweils nach vorn kommen und ihren Platz auf der Geschworenenbank einnehmen. Ziehen Sie jetzt die zwölf Namen, Herr Urkundsbeamter.« Der Richter gab zur Wahl der Jury eine kurze Erklärung bezüglich ihrer Aufgaben, ließ sie durch den Staatsanwalt über die Art des Falles belehren und stellte den in Aussicht genommenen Geschworenen einige Routinefragen. Dann überließ er sie den Anwälten zur Befragung. Mason wich von seiner üblichen Methode ab, indem er nur höchst unbestimmte und allgemeine Fragen an die Geschworenen richtete. Staatsanwalt Covington, plötzlich argwöhnisch, flüsterte Jarvis eine Warnung zu und zwang ihn zu einer ganzen Reihe weiterer eingehender Fragen an die Geschworenen. Allmählich jedoch dämmerte es Covington, daß die Anklagebehörde offenbar veranlaßt werden sollte, auf sorgfältiger Auswahl der Jury zu bestehen, während die Verteidigung durchaus bereit schien, zwölf beliebige Leute zu akzeptieren, sofern sie nur annehmbar waren. »Wollen Sie eine einleitende Erklärung abgeben, Herr Staatsanwalt?« fragte Richter Minden, als die Jury komplett -1 6 6 -
war. Obwohl für diese Erklärung Samuel Jarvis vorgesehen war, sprang Covington auf und stellte sich vor die Geschworenen. Er hoffe zu beweisen, erklärte er, daß der Angeklagte, Edward Charles Garvin, auf Grund einer ungesetzlichen Scheidung mit gerichtlicher Verfolgung wegen Bigamie zu rechnen hatte und hoffnungslos verstrickt sei in ein familiäres Dilemma; weshalb er auf den einfachen, aber tödlichen Ausweg verfallen sei, den Abzug eines Revolvers zu betätigen. »Ich werde Ihnen beweisen, meine Damen und Herren«, fuhr Covington scharf fort, »daß dieser Mann seine Frau mit allem Vorbedacht zu einem mitternächtlichen Rendezvous lockte; zu einem Rendezvous, von dem sie nach seinem ausgeklügelten Plan niemals lebend zurückkehren sollte. Ein kaltblütiger, vorsätzlicher, wohlüberlegter, geschickt ausgeführter Mord, der vielleicht nie geklärt worden wäre, hätte nicht...« Ein Zupfen an seinem Jackett ließ Covington plötzlich bewußt werden, daß er zuviel gesagt hatte. Er machte eine Pause, räusperte sich und fuhr fort: »... hätte nicht die Polizei dieses Bezirks sich dafür eingesetzt - in freundschaftlicher Zusammenarbeit mit den Kollegen des Bezirks Los Angeles. Ich habe nicht vor, meine Damen und Herren, jetzt ausführlich auf den Sachverhalt einzugehen. Ich gedenke zu beweisen, daß der Angeklagte aus den Vereinigten Staaten nach Mexiko floh, wo er Zuflucht suchte vor einer Anzeige, die seine Frau gegen ihn erstattet hatte und...« »Einen Augenblick bitte«, unterbrach Mason freundlich. »Euer Gnaden, ich erhebe Einspruch gegen jeden Versuch des Anklägers, Beweise für eine andere Straftat vorzubringen, um den Angeklagt en zu diskreditieren. Ich bezeichne die Bemerkungen des Anklägers als schädigendes Verhalten und bitte das Gericht, die Geschworenen darauf hinzuweisen, daß diese Bemerkungen ihren Spruch nicht beeinflussen dürfen.« -1 6 7 -
»Bitte, Euer Gnaden«, sagte Covington wü tend, »dies ist eine Ausnahme. Hier ist die Anzeige wegen Bigamie das Motiv für den Mord. Und der Verteidiger weiß das sehr genau. Wir haben hier einen Fall, der es uns erlaubt, Beweise für eine andere Straftat vorzubringen. Wir sind dazu gezwungen, um das Motiv zu beweisen. Diese Straftat war für den Angeklagten der Grund zur Flucht nach Mexiko und zu dem Entschluß, seine Frau zu ermorden und sich zum Witwer zu machen, damit er dann eine neue Ehe mit der Frau eingehen konnte, für die er entbrannt war.« »Gleicher Einwand«, beharrte Mason fröhlich, »gleicher Vorwurf schädigenden Verhaltens.« »Nun, ich weiß natürlich nicht, was die Beweisaufnahme ergeben wird, Herr Staatsanwalt«, erklärte Richter Minden in gereiztem Ton. »Sie scheinen mir hier aber eine Rechtsfrage vorwegzunehmen. Wäre es nicht richtiger, Sie stellten diese Sache bis zu Ihrem Beweisvortrag zurück, so daß ich dann bei Einspruch seitens der Verteidigung die Jury während der Streitfrage ausschließen und das Gericht eine vernünftige Entscheidung treffen kann? Jetzt kommen wir gewissermaßen von hinten an das Problem heran, und das Gericht sieht sich kaum in der Lage, klar zu entscheiden. Es mag zum Tatbestand gehören, aber um diesen Punkt zu klären, sollten wir zunächst etwas über die Sache selbst erfahren. Es scheint mir viel besser, wenn Sie den Geschworenen einfach erklären, was Sie zu beweisen gedenken hinsichtlich der Unternehmungen des Angeklagten zur Mordzeit, und wobei Sie diese Rechtsfragen noch anstehen ließen.« »Sehr wohl, Euer Gnaden«, gab Covington widerwillig nach. »Wenn es das Gericht wünscht?« »Unter diesen Umständen«, sagte Richter Minden, »und um die Rechte des Angeklagten zu wahren, ermahne ich die Geschworenen, die Äußerungen, die der Staatsanwalt soeben bezüglich einer anderen Straftat machte, nicht zu beachten.« -1 6 8 -
Covington erkannte voll Zorn, daß er in den Verdacht geraten war, die Geschworenen unzulässig beeinflussen zu wollen. »Das ist alles, meine Damen und Herren«, schloß er. »Ich werde beweisen, daß dieser Angeklagte den Mord beging, daß es vorsätzlicher, kaltblütiger, heimtückischer Mord war. Und ich werde eine Verurteilung wegen Mordes aus niedrigen Beweggründen fordern, ohne Gnadenempfehlung. Mit anderen Worten, ich werde die Todesstrafe für den Angeklagten beantragen.« Covington drehte sich um, blickte zornfunkelnd zu Edward Garvin hin, dann zu Perry Mason. Er setzte sich ruckartig und flüsterte Jarvis zu: »Sein verflixtes arrogantes Grinsen! Dem werde ich in Bälde dazu verhelfen, die Sache ernst zu nehmen.« »Beginnen Sie mit dem Beweisvortrag«, sagte Richter Minden. »Oder möchte die Verteidigung jetzt eine einleitende Erklärung abgeben?« »Wenn es recht ist«, erwiderte Mason in beiläufigem Ton, »gebe ich eine kurze einführende Erklärung.« Er stand auf, ging zur Barriere vor der Geschworenenbank und musterte die Jury. Dann holte er tief Luft und schien einen umfassenden Vortrag bereitzuhalten. Die Geschworenen, denen Masons Ruf als Strafverteidiger bekannt war und von denen viele ihn zum erstenmal sahen, musterten ihn mit wohlwollendem Interesse. »Hohes Gericht, meine Damen und Herren Geschworenen«, begann Mason und ließ eine dramatische Pause folgen. Ein Lächeln erschien auf seinem Gesicht, als er fortfuhr: »Er kann’s nicht beweisen.« Bevor noch den Geschworenen oder dem Staatsanwalt klar wurde, daß damit die einleitende Erklärung beendet war, drehte Mason sich um und schritt zur Verteidigerbank zurück. Ein oder zwei Mitglieder der Jury schmunzelten. Im Gerichtssaal machte sich leichte Heiterkeit bemerkbar, die der -1 6 9 -
Hammer des Richters verstummen ließ. »Beginnen Sie«, forderte Richter Minden den Staatsanwalt auf, und wer sein Gesicht beobachtete, konnte sogar in den Augen Seiner Gnaden ein kleines humorvolles Zwinkern wahrnehmen. Covington beugte sich zu Sam Jarvis. »Fangen Sie schon mit dem Tatbestand an, Sam«, wisperte er heiser. »Ich gehe ein bißchen an die Luft. Wir werden diesen verdammten Winkeladvokaten Stück für Stück zerreißen.« Mit der empörten Würde eines Mannes, der in seinem Zorn selten auf mutige Gegner gestoßen ist, stelzte Covington durch den Mittelgang davon, während sein Mitarbeiter mit der umfangreichen Vorarbeit begann. Jarvis wußte, daß der Zeuge, der die Leiche gefunden hatte, zur Detektei Drake gehörte. Es war ihm klar, daß dieser Zeuge, gäbe man ihm die Gelege nheit, seine Aussage möglichst vorteilhaft im Sinne Masons färben würde. Jarvis faßte den Mann daher mit Samthandschuhen an. Er vernahm ihn lediglich darüber, ob er zur fraglichen Zeit neben der Landstraße ein Auto parken sah; ob er Gelegenheit hatte, es zu untersuchen, und ob er dabei die Leiche einer Frau fand. Weiter stellte Jarvis fest, daß der Zeuge auf dem Boden des Wagens einen Revolver entdeckt und die Polizei verständigt hatte. Später war er bei der Leichenschau zugegen gewesen und hatte die Leiche als die von ihm gefundene identifiziert. Hierauf spielte Jarvis den Ball unvermittelt Perry Mason zu. »Ihr Kreuzverhör«, sagte er. »Keine Fragen«, erklärte Mason. Jarvis war sichtlich überrascht. Er hatte erwartet, Mason werde versuchen, sich mit diesem Zeugen die Basis für seine Verteidigung zu schaffen. Der nächste Zeuge der Staatsanwaltschaft war der Polizeichef -1 7 0 -
von Oceanside. Bei der Vernehmung dieses Mannes war Garvis sehr viel sicherer und freier; mit ihm war er vertraut. Der Polizeioffizier sagte aus, er sei zum Schauplatz gerufen worden, habe den Leichenbeschauer und den Sheriff von San Diego verständigt, »den Erdboden überprüft« und später der richterlichen Leichenschau beigewohnt, wo die Identität der ermordeten Frau festgestellt worden sei. Vorsichtig lavierend, versuchte Jarvis, den Mann als Experten für Autospuren hinzustellen. Da er mit Masons Einspruch rechnete, bemühte er sich, über die Position des Wagens und die am Boden gefundenen Spuren alles ans Licht zu bringen. Hamlin Covington erschie n wieder im Gerichtssaal, wobei er seine Rückkehr zu einem eindrucksvollen Akt machte. Er ließ sich neben seinem Stellvertreter nieder, hörte einige Augenblicke zu und beugte sich dann flüsternd zu Jarvis: »Vorwärts, fragen Sie ihn, was die Spuren beweisen. Wir wollen Mason protestieren lassen, er soll die Darstellung zu verhindern suchen. Und dann drängen Sie ihn in die Defensive.« »Wir haben den Mann nicht genügend als Sachverständigen qualifiziert«, wisperte Jarvis zurück. »Mason wird ihn zerfetzen.« »Soll er’s versuchen«, sagte Covington. »Zumindest soll er Einspruch einlegen. Wir werden ihn schon dazu bringen, die Sache ernst zu nehmen.« »Also gut«, flüsterte Jarvis. Er stand auf und fragte den Polizeioffizier: »Nun Chef, was ergab sich aus diesen Reifenspuren im Hinblick auf zwei Fahrzeuge, die parallel nebeneinander geparkt hatten?« Jarvis machte eine halbe Wendung zu Mason und wartete auf dessen entrüsteten Einspruch. Mason saß da, als hätte er die Frage nicht einmal gehört. »Es scheint mir, daß dieser Wagen, in dem die Leiche -1 7 1 -
gefunden wurde«, antwortete der Polizeichef, »genau neben einem anderen Wagen parkte, der dort abgestellt war und...« »Einen Augenblick bitte«, unterbrach Richter Minden. »Lesen Sie bitte die letzte Frage noch einmal vor, Herr Protokollführer.« Der Urkundsbeamte las die Frage. Richter Minden blickte erwartungsvoll zu Mason hin, der jedoch stumm blieb. »Weiter, beantworten Sie die Frage«, forderte Covington den Zeugen auf. »Nun, es war folgendermaßen. Der Wagen, in dem die Leiche gefunden wurde, war genau neben einen anderen Wagen gefahren worden, der dort parkte. Man konnte sehen, wo das Auto mit der Leiche zollweise in die richtige Stellung bewegt worden war. Und dann war der Mörder einfach in den anderen Wagen hinübergestiegen, hatte die Leiche hinter das Steuer des Mordautos gezogen und war weggefahren. Das ist die Art, wie es geschah.« »Kreuzverhör«, sagte Jarvis triumphierend. »Ich will versuchen, die Sache genauer zu erklären«, erwiderte Mason schwach interessiert, jedoch bemüht, den Geschworenen die Zusammenhänge verständlich zu machen. »Sie prüften dort gewisse Spuren, Chef?« »Ja.« »Sie sagten, der Wagen, in dem die Leiche gefunden wurde, sei ›zollweise‹ in seine Stellung bewegt worden?« »Ganz recht. Ich muß dazu die Bodenbeschaffenheit beschreiben. Es ist eine Mischung aus Sand und zersetztem Granit, die sehr hart wird. Man kann Reifenspuren feststellen, aber keine bestimmten Profile; jedenfalls nicht deutlich genug, um etwas damit anzufangen. Ich sah, daß die Vorderräder von Ethel Garvins Wagen ganz leicht gewackelt hatten, als der Fahrer versuchte, genau die gewünschte Stellung zu erreichen. -1 7 2 -
Er hatte sogar einmal zurückgesetzt, um dann genau neben einer anderen Reifenspur zu stehen, die von einem Wagen stammte, der dort gewartet hatte.« »Ah ja«, sagte Mason, der jetzt ungeheuer interessiert schien. »Und Sie sagen also, dieser andere Wagen sei dort abgestellt gewesen?« »Richtig.« »Dann wurde die Frau nicht ermordet, während sie ihren Wagen fuhr?« »Nein, Sir, das wurde sie nicht. An den Blutspritzern und dem Verlauf des geronnenen Blutes war zu erkennen, daß sie auf der rechten Seite gesessen hatte, als sie erschossen wurde. Der Fahrer des Wagens hatte den Revolver abgefeuert und dann den Wagen genau an diesen Punkt gebracht, wo er das andere Fahrzeug abgestellt hatte. Er brauchte nur von einem Wagen in den anderen umzusteigen. Dann zog er die Leiche hinter das Lenkrad und fuhr weg.« »Ich verstehe«, sagte Mason. »Und Sie sagen, die Spuren hätten gezeigt, wo dieser andere Wagen wartete?« »Das ist richtig, ja.« Ohne die Lautstärke im geringsten zu verändern, erweckte Mason den Anschein, an der nächsten Antwort brennend interessiert zu sein. »Inwiefern aber zeigten die Reifenspuren, Chef«, fragte er, »daß der Wagen gewartet hatte?« »Nun, man konnte die Spuren sehen, wo der Wagen gestanden hatte und dann weggefahren war.« »Wieso war daran zu erkennen, daß der andere Wagen gewartet hatte?« »Er fuhr geradewegs hin und dann - nun, als er zurückfuhr, machte er eine Kurve zur Landstraße. Die Spuren zeigten das.« »Aha«, sagte Mason, »und wenn die Spuren keine Kurve gezeigt hätten, Chef, wohin wäre der Wagen dann gefahren?« -1 7 3 -
»Na, weiter geradeaus. Aber das konnte er gar nicht.« »Warum nicht? Was war geradeaus?« »Der Pazifische Ozean.« »Oh, ich verstehe. Dann mußte er umkehren.« »Natürlich.« »Sie sagen aber, daß der Wagen dort wartete, hätten Sie ausschließlich an der Kurve seiner Spuren erkannt?« »Nun, der Wagen wartete dort. Man konnte es an den Spuren des anderen Wagens erkennen, in dem die ermordete Frau gefunden wurde.« »Das ist es nämlich«, stimmte Mason temperamentvoll zu. »Jetzt verstehen Sie, was ich meine. Was war nun also an den Spuren dieses Wagens, woran Sie erkannten, daß der andere gewartet hatte?« »An den Spuren von Ethel Garvins Wagen konnte man sehen, daß er mehrmals bewegt worden war, bis er genau die richtige Stellung hatte.« »Dann gab es nichts an den Spuren des wartenden Wagens, das Ihnen zeigte, was geschehen war, sondern Sie folgerten es aus den Spuren eines anderen Fahrzeugs.« »Nun, wenn Sie’s so ausdrücken wollen - ja.« »Mein lieber Mann«, sagte Mason, »es geht nicht darum, wie ich es ausdrücken will. Sie drücken sich aus. Sagen Sie es ruhig auf Ihre eigene Art, aber versuchen Sie freundlicherweise, es richtig auszudrücken.« »Nun ja, so war es.« »Dann haben Sie sich geirrt, als Sie sagten, an den Reifenspuren des Fluchtwagens hätten Sie erkannt, daß er dort bereitgestellt worden war?« »Nein. Man sah es an den Spuren, so wie ich es Ihnen erklärt habe.« -1 7 4 -
»Was aber hatte es mit den Spuren des abgestellten Wagens auf sich, woran Sie erkannten, daß er dort gewartet haben mußte?« »Also, es war - na, ich erkannte es eben daran, wie der andere Wagen sich an ihn herangequetscht hatte.« »Sie meinen der Wagen mit der ermordeten Frau?« »Ja.« »Versuchen Sie die Frage zu verstehen«, beharrte Mason. »Ergaben die Spuren des Wagens, von dem Sie behaupten, er sei dort bereitgestellt gewesen, einen Hinweis darauf, daß er tatsächlich wartend bereitstand? Die Spuren dieses Wagens?« »Nun - nein«, erwiderte der Polizeichef und setzte erklärend hinzu: »Natürlich konnten sie das nicht. Man kann bei Reifenspuren nicht feststellen, ob ein Wagen irgendwohin und sofort wieder zurückfuhr, oder ob er eine, zwei oder vier Stunden parkte; es sei denn, unter veränderten Verhältnissen, wenn der Wagen zum Beispiel bei starkem Regen da gestanden hätte oder dergleichen.« »Oh.« Mason lächelte gewinnend. »Dann hatten Sie sich doch geirrt, als Sie bei Ihrem direkten Verhör vor den Geschworenen aussagten, die Spuren des parkenden Wagens hätten gezeigt, daß er dort eine Weile gestanden hatte?« »Natürlich, aus den Spuren war nichts zu entnehmen«, sagte der Zeuge. »Man muß das ganze Bild aus den Spuren des anderen Wagens rekonstruieren.« »Also hatten Sie sich geirrt?« wiederholte Mason. »Nun ich... Ich nehme es an.« »Das wußte ich«, sagte Mason mit befreiendem Lächeln. »Ich wollte nur hören, wie schwer Ihnen dieses Eingeständnis fallen würde. Das ist alles, Chef. Vielen Dank.« »Warten Sie«, schrie Covington aufspringend. »Sie haben sich doch nicht geirrt bei Ihrer Aussage, Chef, daß der Mörder -1 7 5 -
seinen Wagen da abstellte, ausstieg, das Verbrechen beging und dann den anderen Wagen parallel zu seinem eigenen setzte oder?« »Aber bitte«, sagte Mason schmunzelnd, »ich werde Einspruch erheben müssen, wenn der Ankläger seinem eigenen Zeugen Suggestivfragen stellt. Das steht mir im Kreuzverhör zu, nicht aber dem Staatsanwalt bei der direkten oder erneuten direkten Vernehmung.« »Die Frage ist suggestiv«, entschied Richter Minden, »der Einspruch also gerechtfertigt. Bitte Ihren nächsten Zeugen.« Ein Gerichtsdiener trat ein, ging zu Perry Mason und überreichte ihm ein gefaltetes Schreiben. Mason öffnete es und las. Es enthielt eine Aufforderung an ihn, sich am übernächsten Tag um acht Uhr abends beim Beschwerdeausschuß der Anwaltskammer einzufinden. Man erwarte seine Äußerung zu dem Vorwurf, er habe einen Zeugen dergestalt beeinflußt, daß dieser seine Aussage änderte. Mason faltete das Papier wieder zusammen und steckte es in die Tasche. Covington, der das ausdruckslose Gesicht des Anwalts beobachtete, bemerkte leise zu Jarvis: »Verdammt, das wird ihm reichen. Er tut, als ob’s ihm völlig egal wäre, weiß aber, daß er fürchterlich in der Tinte sitzt. Versucht er morgen im Kreuzverhör, Irving weichzumachen, schneidet er sich selbst den Hals ab. Läßt er die Aussage bestehen, ohne den Zeugen anzuzweifeln, liefert er seinen Mandanten ans Messer. Dem Burschen werden wir beibringen, daß er bei uns keine Mätzchen machen kann.« »Aber bitte, meine Herren«, sagte Richter Minden ärgerlich, »fahren wir doch fort mit der Sache.« Samuel Jarvis rief als nächsten Zeugen einen Gutachter auf, legte Landkarten und Diagramme vor. Er verhörte den Gerichtspathologen und einen Bekannten der Ermordeten, der die Leiche identifiziert hatte. -1 7 6 -
»Hohes Gericht«, verkündete er dann, »wir nähern uns dem Schluß der Sitzung.« Richter Minden nickte. »Ich glaube, wir sind heute sehr gut vorangekommen«, meinte er. »Ich werde die Geschworenen nicht einschließen lassen, ermahne sie jedoch, den Fall nicht unter sich oder mit anderen zu erörtern. Ich bitte sie ferner, keine Zeitungen zu lesen und bewußt jede Lektüre zu meiden, die diesen Fall betrifft. Sie werden die Sache mit niemandem besprechen noch zulassen, daß er in ihrer Gegenwart besprochen wird. Sie dürfen sich kein Urteil bilden oder eine Meinung äußern, bis ihnen der Fall endgültig zur Entscheidung übergeben wird. Das Gericht vertagt sich bis morgen früh um zehn Uhr.« Hinten im Gerichtssaal wandte Mason sich aufmunternd an seinen Mandanten. »Kopf hoch, Garvin.« Edward Garvin lächelte erschöpft. »Was für ein Schreiben hat der Beamte Ihnen da gebracht? Betrifft es mich?« fragte er. »Nicht im geringsten«, beruhigte Mason ihn. »Mich betrifft es.«
16 Als das Gericht am nächsten Morgen wieder zusammentrat, ließ Hamlin L. Covington größte Vorsicht walten. Er führte Urkunden ein, aus denen die Eheschließung Edward Charles Garvins mit Ethel Carter hervorging. Dann bewies er durch Zeugenaussagen die mexikanische Scheidung und die Eheschließung mit Lorraine Evans. Schließlich ersuchte er um die Zulassung der Unterlagen betreffs der Anzeige wegen Bigamie sowie des Haftbefehls gegen Garvin. »Nun, ich vermute«, sagte Richter Minden, als Covington ihm die beglaubigten Abschriften der einzuführenden Beweismittel überreichte, »wir können jetzt die Sache erörtern, die der Staatsanwalt in seiner einleitenden Erklärung berührte. Ich nehme an, Sie möchten die Geschworenen ausschließen, Mr. -1 7 7 -
Mason, während Sie Ihren Widerspruch einlegen und begründen?« »Im Gegenteil«, erklärte Mason lächelnd. »Nachdem ich die Sache durchdacht habe und mit Rücksicht auf die jetzige Form der Beweiseinführung halte ich sie für einen Teil der Anklage. Unter der Voraussetzung, von der die Staatsanwaltschaft ausgeht, könnten diese Beweismittel das Motiv aufzeigen. Ich verzichte daher auf jeden Einspruch.« Covington, der auf einen Kampf gefaßt gewesen war, bei dem er Mason auf Grund seines Einspruchs an die Wand spielen wollte, gab sich widerwillig zufrieden. »Sie haben genug Wirbel um die Sache gemacht«, sagte er, »als ich sie bei meiner einführenden Erklärung nur kurz erwähnte.« »Das war, bevor Sie geeignete Beweise anboten«, verwahrte Mason sich im Ton eines Lehrers, der einen dummdreisten Schüler zurechtweist. »Wie das Gericht Ihnen klargemacht hat, wäre die Sache auf diese Art zu behandeln gewesen. Da Sie sich jetzt an dieses Verfahren halten, erhebe ich keinerlei Einspruch, Herr Staatsanwalt.« »In Ordnung«, kam Richter Minden rasch der wütenden Replik zuvor, die Covington ga nz offensichtlich auf den Lippen schwebte, »die Urkunden werden als Beweismittel zugelassen. Fahren Sie bitte fort, Herr Staatsanwalt.« Covington fuhr fort. Virginia Bynum gab an, sie habe den Revolver auf der Feuerleiter liegenlassen. Livesey berichtete, wie er ihn hereingeholt und Garvin übergeben habe; daß er ihn auf Garvins Anweisung in dessen Wagen ins Handschuhfach legte. George L. Denby sagte aus, der Revolver sei hereingeholt und Garvin übergeben worden. Mason schien völlig uninteressiert und hielt es nicht einmal für nötig, Virginia Bynum oder Livesey ins Kreuzverhör zu nehmen. Denby fragte er: »Woher wissen Sie, daß es der -1 7 8 -
Revolver war, mit dem der Mord begangen wurde?« »Er hatte dieselbe Nummer, Sir.« »Notierten Sie sich die Nummer?« »Nein, Sir. Ich sah sie mir an.« »Und Sie behielten Sie im Kopf?« »Ja, Sir. Ich habe ein fotografisches Gedächtnis für Zahlen. Ich habe so viel damit zu tun, daß ich sie leicht behalte.« »Das ist alles«, sagte Mason kurz. Covington feixte zu seinem Mitarbeiter hinüber. »Den ließ er wie eine heiße Kartoffel fallen, was?« »Kann man wohl sagen«, stimmte Jarvis ihm gutgelaunt zu. Covington baute weiter an seiner tödlichen Mauer aus Beweisen. Er stellte fest, daß Edward Garvin und Lorraine Evans, die Garvin als seine zweite Frau bezeichnete, sich in dem Hotel in La Jolla aufgehalten hatten. Durch die Managerin des Hotels wies er die plötzliche Abreise der beiden nach. Unmittelbar nach ihrer Ausfahrt zum Abendessen seien sie zurückgekehrt, hätten gepackt und sich eiligst abgemeldet. Zu der Zeit hätten sie dann einen Besucher bei sich gehabt, der auch ein Kabriolett fuhr, das in Größe, Farbe und Form Garvins Wagen irgendwie ähnlich gewesen sei. Covington steuerte seinen dramatischen Höhepunkt an. »Ist Ihnen diese andere Person bekannt?« fragte er die Zeugin. »Aber damit brauchen Sie doch keine Zeit zu verschwenden, Herr Staatsanwalt«, bemerkte Mason beiläufig. »Ich war der Fahrer des anderen Wagens und bin durchaus bereit, das zuzugeben.« Covington, der erkannte, daß die Aussage stark an szenischem Wert eingebüßt hatte, zog dennoch einigen Nutzen aus Masons Eingeständnis. »So war es«, bestätigte er lächelnd. »Und unmittelbar nach Ihrem Besuch brauste der Angeklagte ab nach Mexiko - zusammen mit der Person, mit der verheiratet zu sein -1 7 9 -
er damals behauptete.« »Wollen Sie den Zeugeneid leisten und das als Tatsache behaupten?« fragte Mason. »Nein, ich werde es durch eine kompetente Zeugin beweisen, Mr. Mason«, sagte Covington erheitert, »die Sie unter Kreuzverhör nehmen können: Senora Inocente Miguerinio in den Stand.« Die dicke, freundliche Inhaberin des Hotels Vista de la Mesa kam hüftwackelnd nach vorn. Bereitwillig identifizierte sie den Angeklagten und die Frau mit dem kastanienroten Haar auf dem Platz hinter ihm. Sie berichtete, wie das Paar am Abend vor dem Mord ihr Hotel bezogen hatte. Covington blickte zur Wanduhr, um seine Bombe rechtzeitig für die Nachmittagsausgaben der Zeitungen explodieren zu lassen. »Bitte Howard B. Scanlon in den Zeugenstand.« Howard Scanlon war ein hagerer sehniger Mann von Anfang Fünfzig. Sein Gesicht mit den vorstehenden Backenknochen, dem breiten, energischen Mund und den blaßblauen Augen zeigte größte Unbefangenheit. Er kam mit langen Schritten heran, hob die Hand und wurde vereidigt. Covington warf wieder einen Blick zur Uhr, setzte sich dann in seinem Stuhl zurück. Scanlon gab dem Protokollführer seinen Namen und die Adresse an und sah in Erwartung eines Verhörs zu Covington hinüber. »Was ist Ihr Beruf, Mr. Scanlon?« fragte Covington, der sich bewußt ungezwungen gab. »Ich bin Maler, Sir.« »Ja, ganz recht. Und wo hielten Sie sich am Abend des 21. September auf?« »Ich war in Tijuana, wohnte im Hotel Vista de la Mesa.« -1 8 0 -
»Gibt es irgendeinen Zusammenhang, in dem Sie sich an diese Zeit erinnern, Mr. Scanlon?« »Ja, Sir.« »Welchen?« »Ich hatte mich nach einer festen Stellung umgesehen. Meine Frau war in Portland, Oregon. Da wohnte ich auch, ehe ich nach Südkalifornien kam, und ich hatte mich entschlossen, wenn ich den richtigen Job finden würde...« »Moment«, unterbrach Covington den Zeugen väterlich, »erzählen Sie uns nicht, was Sie dachten, nichts über Ihre beruflichen Probleme, Mr. Scanlon, versuchen Sie nur die Frage zu beantworten. Gibt es irgendeinen Anlaß, aus dem Sie sich an den Abend des 21. September erinnern?« »Ja, Sir.« »Und was war das? Sagen Sie uns einfach, warum Sie sich das Datum merkten.« »Ja, ich wollte meine Frau anrufen und ihr sagen, sie sollte herkommen.« »Ich verstehe. Und wo war Ihre Frau?« »In Portland, Oregon.« »Und Sie wollten ein Telefongespräch mit ihr anmelden?« »Ja.« »Um welche Zeit?« »Na, ich hatte schon den ganzen Abend durchrufen lassen, aber sie war nicht zu Hause gewesen. Sie war mit Freunden ins Kino gegangen und...« »Berichten Sie uns bitte nichts, was Sie nicht wissen konnten und was Ihre Frau Ihnen vielleicht später gesagt hat, Mr. Scanlon, sondern nur, was Sie taten. Sie sagten also, das Datum hätte sich Ihnen eingeprägt, weil Sie Ihre Frau anrufen wollten?« -1 8 1 -
»Ja, Sir.« »Sprachen Sie mit Ihrer Frau?« »Ja.« »Um welche Zeit?« »Es war ungefähr zehn Minuten nach zehn, als mein Gespräch durchkam.« »Sie haben sich die Zeit gemerkt?« »Ja, Sir.« »Als Sie nun auf das Gespräch warteten, vor 10.10 Uhr, wo waren Sie da?« »In der Telefonzelle.« »Wo?« »In diesem Hotel, dem Vista de la Mesa, in Tijuana.« »Gibt es dort noch eine weitere Telefonzelle?« »Ja.« »Wie lange mußten Sie warten, bis Ihr Gespräch durchkam?« »Ungefähr fünf Minuten, glaube ich.« »Hat jemand die andere Telefonzelle betreten, während Sie warteten?« »Ja, Sir.« »Um welche Zeit?« »Kurz vor 10.10 Uhr. Ich schätze, gegen 10.05 Uhr oder so.« »Sie wissen, daß es noch vor 10.10 Uhr war?« »Ja, Sir, weil mein Gespräch um 10.10 Uhr durchkam.« »Und wie lange vor Ihrem Gespräch betrat jemand die andere Zelle?« »Höchstens fünf Minuten vorher.« »Haben Sie diese Person gesehen?« »Nicht zu der Zeit, aber später.« -1 8 2 -
»Wieviel später?« »Ungefähr zwei oder drei Minuten später, als er die Zelle verließ.« »Da sahen Sie ihn?« »Als er aus der Zelle ging, ja.« »Wer war es - falls Sie es wissen?« Der Zeuge hob den Zeigefinger. »Der Mann, der da sitzt.« »Sie zeigen auf Edward Charles Garvin, den Angeklagten?« »Ja, Sir, auf den Mann, der genau neben Mr. Mason sitzt, dem Anwalt.« »Und Sie sahen diesen Mann, Garvin, aus der benachbarten Telefonzelle herauskommen?« »Ja, Sir.« »Was tat er in der Zelle, falls Sie es wissen?« »Er meldete ein Ferngespräch an.« »Wie konnten Sie das wissen?« »Ich konnte ihn hören.« »Sie konnten seine Stimme durch die Trennwand hören?« »Richtig. Ich saß direkt an der Trennwand und...« »Und was sagte er?« »Ich hörte ihn sagen, daß er ein Ferngespräch anmelden wollte. Ich kann mich erinnern, daß er sagte, er wollte mit Ethel Garvin in den Monolith Apartments in Los Angeles sprechen. Und gleich darauf hörte ich, wie er Geld einwarf und zu reden anfing. Er sagte: ›Ethel, hier spricht Edward. Es hat keinen Zweck, einen Haufen Geld für Rechtsanwälte auszugeben. Ich bin hier unten in Tijuana, und du kannst mich telefonisch nicht erreichen. Aber ich fahre rauf nach Oceanside. Am besten springst du in deinen Wagen, fährst auch hin und triffst mich da. Wir wollen alles durchsprechen und was Vernünftiges aushandeln.‹ Dann war er eine Weile still, und dann sagte er: -1 8 3 -
›Rede doch nicht so. Ich bin nicht blöd. Ich würde dich nicht anrufen, wenn ich nicht eine Menge von dir wüßte. Denk mal an diesen Mann, mit dem du in Nevada herumgezogen bist. Also, ich weiß alles über ihn. Ich weiß sogar, wo er jetzt ist.‹ Und dann erzählte er ihr, wo dieser Mann war und wie man zu seiner Farm käme. Ich weiß die Wege nicht mehr genau, aber es war irgendwo bei Oceanside.« »Erwähnte er den Namen dieses Mannes?« fragte Covington. »Nein, Sir, ich glaube nicht. Wenn er es aber tat, kann ich mich nicht daran erinnern. Nur daß sie in Nevada mit einem Mann herumgezogen war.« »Und was sagte er weiter?« »Er sagte: ›Am besten kommst du nach Oceanside. Wir treffen uns auf dem Grundstück, das wir da hatten, bei dem Platz, wo wir unser Haus bauen wollten. Ich komme mit meinem Wagen und lasse die Scheinwerfer brennen, damit du weißt, daß ich’s bin.« »Was hat er sonst noch gesagt?« »Nichts. Nur noch, daß er sich freute, wie vernünftig sie wäre. Und dann legte er auf.« »Was geschah danach?« fragte Covington. »Der Mann ging aus der Telefonzelle.« »Ihr Zeuge«, sagte Covington zu Perry Mason. Mason blickte zur Uhr. Es war 11.32 Uhr; zu früh, um dem Gericht die Mittagspause vorzuschlagen; zu spät für die Bitte um ein paar Minuten Unterbrechung. Es gelang ihm, seine Gefühle mit einem Lächeln zu tarnen. Beiläufig, aber mit kaum hörbarer Stimme fragte er den Zeugen: »Sie haben ein ziemlich scharfes Gehör, Mr. Scanlon?« »Ja, Sir, das habe ich. Schon immer.« »Und als Sie soeben wiederholten, was dieser Mann sagte, gebrauchten Sie genau seine Worte?« -1 8 4 -
»Na, ich weiß nicht, ob das genau seine Worte waren, aber so ungefähr hat er’s gesagt.« »Sie sprachen mit Staatsanwalt Covington, bevor Sie zur Verhandlung kamen?« »Ja, Sir.« »Und Sie haben Ihre Aussage mit Mr. Covington besprochen?« »Ja.« »Mehrmals?« »Ja, Sir.« »Wie haben Sie ihm die Unterhaltung beim erstenmal berichtet - in der Art, wie Sie es jetzt hier taten?« »Na, er sagte mir, ich müßte wiederholen, was der Mann gesagt hatte. Ich könnte nicht einfach den Inhalt zusammenfassen, sondern hätte es genau mit den Worten des Mannes zu sagen, so gut ich mich daran erinnerte. Und ich habe versucht, das zu tun.« »Sie hatten die Nacht im Hotel Vista de la Mesa verbracht?« fuhr Mason fort. »Ja, Sir.« »Seit wann wohnten Sie schon dort?« »Seit zwei Tagen.« »Dann fand jenes Gespräch also am zweiten Abend Ihres Aufenthalts statt? Oder war es am dritten?« »Am zweiten Abend.« »Sie hatten schon früher am Abend versucht, Ihre Frau anzurufen?« »Ja. Sir.« »Gab es einen besonderen Grund, warum Sie Ihre Frau nicht schon tagsüber anriefen?« »Ja, Sir. Ich hatte Arbeit in San Ysidro gefunden, aber noch -1 8 5 -
keine Wohnung. Ich fand einfach kein Haus, das ich kaufen oder mieten konnte. Dann stellte sich heraus, daß es vielleicht möglich wäre, jenseits der Grenze in Tijuana zu wohnen und zur Arbeit zu pendeln. Ich ging über die Grenze und stieg in diesem Hotel ab. Dann sah ich mich um, ob irgendwo was zu vermieten war. Ich brauchte die Erlaubnis der mexikanischen Behörden, und als ich schließlich alles geregelt hatte, wollte ich meine Frau anrufen, damit sie unsere Sachen herbrachte. Natürlich sollte sie sich schleunigst an die Arbeit machen. Ich kann nicht zwei Haushalte führen, und ich wollte auch wieder mit meiner Familie zusammenleben.« »Ich verstehe«, sagte Mason. »Also gingen Sie in die Telefonzelle, um Ihre Frau anzurufen?« »Ganz recht.« »Hörten Sie die Wanduhr schlagen?« »Ja, da war eine Wanduhr, die schlug.« »Hörten Sie diese Uhr um zehn Uhr schlagen?« »Ja.« »Wo befanden Sie sich zu der Zeit?« »Ich ging gerade durch die Halle zur Telefonzelle. Ich hatte ja schon früher am Abend versucht, meine Frau anzurufen, dreioder viermal, und niemand hatte sich gemeldet. Bis zehn Uhr würde sie bestimmt zurück sein, dachte ich. Als es also auf zehn Uhr ging, wollte ich es noch mal versuchen.« »War die Halle um diese Zeit eigentlich hell erleuc htet?« fragte Mason im Unterhaltungston. »Nein, Sir, das war sie nicht.« »Nicht?« Mason schien überrascht. »Nein, die Lampen wurden kurz vor zehn Uhr ausgeschaltet, als die Frau das letzte Zimmer vermietet hatte.« »Berichten Sie bitte nur, was Sie wissen«, sagte Mason schmunzelnd, »nicht, was die Frau Ihnen später erzählte. Sie -1 8 6 -
können nicht aus eigener Kenntnis wissen, warum die Lichter gelöscht wurden.« »Doch, Sir, zufällig weiß ich es. Ich war in der Halle, als das letzte Zimmer vermietet wurde. Eine junge Frau, die allein unterwegs war, nahm das Zimmer, und ich hörte die Unterhaltung. Ich hörte, wie die Mexikanerin, die das Hotel verwaltet, ihr sagte, das wäre das letzte freie Zimmer im Haus, und sie würde jetzt schließen und die Lichter ausmachen. Ich sah sie tatsächlich die Lampen ausschalten.« »Um welche Zeit war das?« »Es war - na, ich weiß nicht genau. Wenige Minuten vor zehn Uhr jedenfalls. Zehn oder fünfzehn Minuten vielleicht. Ganz sicher bin ich da nicht. Ich wollte bis zehn Uhr irgendwie die Zeit totschlagen, denn ich hatte mich entschlossen, mein Gespräch um zehn noch mal anzumelden.« »Nun ja«, sagte Mason, als wäre ihm mit Scanlons Zeugnis die letzte Chance für sein Kreuzverhör genommen, »Sie konnten sich offenbar alle Ereignisse jenes Abends ausgezeichnet merken.« »Ja, Sir. Das stimmt.« »Die Lampen wurden also kurz vor zehn Uhr gelöscht?« »Ganz richtig.« »Brannte in der Halle überhaupt kein Licht?« »O doch, die Nachtbeleuchtung. Sie war ziemlich schwach.« »Ach so«, sagte Mason uninteressiert. »Und dann sahen Sie diesen Mann, der in der Nachbarzelle telefoniert hatte, herauskommen, nicht wahr?« »Ja, Sir.« »Sie blieben in Ihrer Zelle?« »Ja.« »Öffneten die Tür und sahen hinaus?« -1 8 7 -
»Ja, ganz richtig.« »Öffneten die Tür aber nicht ganz?« »Nein, Sir, nur einen Spalt.« »War es nur ein Spalt, oder waren es mehrere Zoll?« »Nur ein Spalt.« Mason lächelte. »Sie wissen es genau?« »Ja, Sir.« »Wenn die Tür nur einen Spalt offenstand«, sagte Mason, »hätten Sie durch diesen Spalt nur mit einem Auge sehen können, bei einer Öffnung von mehreren Zoll dagegen wäre es Ihnen mit beiden Augen möglich gewesen. Überlegen Sie jetzt bitte sehr genau. War es nur ein Spalt, oder stand die Tür einige Zoll offen?« »Es war nur ein Spalt.« »Dann sahen Sie die Gestalt, die aus der Te lefonzelle ging, nur mit einem Auge, stimmt’s?« »Nun, ich glaube wohl. Das habe ich mir noch gar nicht überlegt. Ich entsinne mich aber, daß ich die Tür nur einen Spalt geöffnet hatte. Also habe ich ihn wohl nur mit einem Auge gesehen.« »Und dieser Mann verließ die Zelle und ging über den Flur in Richtung der Gästezimmer?« »Nein, Sir, das tat er nicht. Er ging durch die Vordertür.« »Durch welche Tür?« »Durch die Ausgangstür nach draußen, wo die Wagen standen; dann fuhr er weg.« »Woher wissen Sie, daß er wegfuhr?« fragte Mason. »Na, ich... Ich kann es wohl nicht tatsächlich wissen, aber ich sah ihn rausgehen, und wenige Sekunden später hörte ich, wie draußen in der Auffahrt ein Motor angelassen wurde. Dann leuchteten Scheinwerfer auf und schienen in die Halle. Sie -1 8 8 -
verbreiteten für eine oder zwei Sekunden helles Licht. Als der Wagen wendete, strich der Scheinwerferstrahl durch die Halle und erlosch.« »Und diesen Mann haben Sie nicht wiedergesehen, bis Sie den Gerichtssaal betraten, um auszusagen?« »Doch, Sir, ich habe ihn vorher wiedergesehen.« »Wo?« »Die Beamten brachten ihn an einen Ort, wo ich ihn sehen konnte.« »Nachdem er verhaftet war?« »Ja, Sir.« »War noch jemand bei ihm?« fragte Mason. »Ließen die Beamten eine Reihe bilden, so daß Sie mehrere Leute im Blickfeld hatten und den Mann dann heraussuchen mußten?« »Nein, Sir. Da war nur dieser eine Mann. Aber sie richteten es so ein, daß er herumlief, damit ich seinen Gang sehen konnte, seine Haltung, die Figur und dergleichen mehr.« »Übrigens«, sagte Mason beiläufig, »wissen Sie, von welcher Farbe der Anzug des Mannes war, als Sie ihn die Zelle verlassen sahen? War er braun?« »Eine Art Braun, glaube ich, ja.« »Und die Schuhe?« »Dunkel, glaube ich.« »Und seine Krawatte?« »Seine Krawatte war... Da muß ich überlege n. Nein, die habe ich gar nicht gesehen.« »Sie wissen nicht, ob er eine Krawatte trug oder nicht?« »Nein, Sir.« »Wieso wissen Sie das nicht?« »Weil ich diesen Mann nie von vorn gesehen habe.« -1 8 9 -
»Dann sahen Sie auch nicht sein Gesicht?« »Nein, Sir.« »Trug er einen Hut?« »Ich - ich kann mich nicht entsinnen.« »Sie erinnern sich nicht, ob dieser Mann einen Hut trug?« fragte Mason. »Nein.« »Von welcher Farbe waren seine Socken?« »Weiß ich auch nicht, Sir«, grinste Scanlon. »Oder sein Hemd?« »Das war --ich glaube, es war... Nein, Sir, ich weiß es nicht.« »Dann identifizieren Sie also einen Mann«, sagte Mason, »den Sie in einer dunklen Halle mit einem Auge durch einen Türspalt sahen, einen Mann, dessen Gesicht Sie nie in Ihrem Leben gesehen hatten, bis die Polizei Sie im Gefängnis auf ihn hinwies und...« »Nein, Sir, das stimmt nicht. Ich habe ihn der Polizei gezeigt.« »Im Gefängnis?« »Ja.« »Die Beamten begleiteten Sie?« »Ja, Sir.« »Wie viele andere Häftlinge waren sichtbar?« »Nur dieser eine. Wo ich diesen Mann sah, waren keine anderen Häftlinge.« »Und doch behaupten Sie, er sei Ihnen nicht von der Polizei gezeigt worden?« fragte Mason ironisch. »Man hat Ihnen doch gesagt, Sie würden einen Mann sehen, den Sie identifizieren sollten, nicht wahr?« »Na, sie sagten mir, ich sollte mal einen Blick auf diesen -1 9 0 -
Mann werfen und sehen, ob ich ihn identifizieren könnte.« »Und dann wurde dieser eine Mann in den Hof gebracht oder in den Vorführraum oder wohin immer, damit Sie Gelegenheit hatten, ihn sich anzusehen?« »Ja, Sir.« »Und Sie wollen mir erzählen, keiner der Kripobeamten hätte Ihnen dabei gesagt: ›Da ist er. Sehen Sie ihn sich genau an. Beobachten Sie seinen Gang. Sehen Sie hin, wenn er Ihnen den Rücken zudreht?‹« »Nun ja, so etwas haben sie mir allerdings gesagt.« »Aber Sie identifizierten den Mann, bevor die Beamten das sagten?« »Nein, Sir«, antwortete Scanlon, »hinterher.« »Wie lange danach?« »Nachdem er eine Weile herumgelaufen war.« »Ich verstehe. Sobald die Beamten Ihnen gesagt hatten, Sie sollten diesen Mann identifizieren, zeigten Sie mit dem Finger auf ihn und sagten: ›Das ist der Mann‹, stimmt’s?« »Nein, Sir, das tat ich nicht. Ich habe ihn mir eine gute Weile angesehen, bevor ich ihn identifizierte.« »Eine gute Weile«, sagte Mason spöttisch, »zehn, fünfzehn oder zwanzig Sekunden, schätze ich.« »Nein«, beharrte Scanlon, »eine oder zwei Minuten.« »Ganze zwei Minuten?« »Ja, da bin ich sicher.« »Könnte es noch länger gewesen sein?« »Es könnte.« »Vielleicht drei Minuten?« »Ich würde sagen, drei könnten es gewesen sein. Ich glaube es fast. Ich wollte sicher sein.« -1 9 1 -
»Mit anderen Worten«, sagte Mason, »Sie mußten den Angeklagten drei Minuten lang aufmerksam beobachten, und zwar unter guten Sichtverhältnissen, um sich darüber klarzuwerden, daß er der Mann war, den Sie gesehen hatten.« »Ja, es könnten drei Minuten gewesen sein.« »Sie sahen nun also jenen Mann in Tijuana an dem Abend die Telefonzelle verlassen und blickten ihm nach, als er durch die Halle ging?« »Ja, Sir.« »Wie schnell ging er? Bewegte er sich ziemlich rasch?« »Oh, er ging ganz flott dahin.« »Und Sie sahen ihn erst, als er schon einige Schritte von der Telefonzelle entfernt war?« »Ja, ich glaube wohl.« »Zehn Fuß?« fragte Mason. »Vielleicht.« »Sie konnten ihn aber nicht mehr sehen, als er durch die Außentür in den Hof gegangen war, wo die Wagen standen?« »Nein, Sir.« »Wie viele Fuß sind es quer durch die Halle?« »Ich würde sagen, fünfundzwanzig vielleicht.« »Dann sahen Sie diesen Mann also nur, während er ziemlich schnell eine Strecke von fünfzehn Fuß ging?« »Ja, Sir.« »Und Sie beobachteten ihn mit einem Auge?« »Ja.« »Im Halbdunkel?« »Ja, Sir.« »Er ging mit dem Rücken zu Ihnen?« »Ja, Sir.« -1 9 2 -
»Und darum war es so schwierig für Sie, sich absolut klarzuwerden, als Sie ihn später identifizieren sollten, nicht wahr?« »Wie meinen Sie das?« »Darum beobachteten Sie ihn etwa drei Minuten«, erklärte Mason, »bevor Sie in der Lage waren, diesen Mann zu identifizieren und den Kripobeamten zu sagen: ›Ja, das ist der Mann.‹« »Jawohl, Sir, das stimmt.« »Wie lange hat nun Ihrer Meinung nach der Mann gebraucht, um die fünfzehn Fuß zu gehen?« fragte Mason. »Das weiß ich nicht, ich hab’s nicht ausgerechnet. Einen kleinen Augenblick.« »Wissen Sie, wie viele Meilen pro Stunde ein Mann normalerweise geht?« »Na, wenn Sie’s in Meilen pro Stunde ausdrücken wollen«, sagte Scanlon, »würde ich meinen, er ging diese fünfzehn Fuß mit einer Geschwindigkeit von - oh, wahrscheinlich drei Stundenmeilen.« »Na schön, machen wir eine kleine Rechnung.« Mason zog einen winzigen Rechenschieber aus der Tasche, stellte ihn rasch ein und sagte: »Zu Ihrer Information, Mr. Scanlon, bei einer Stundengeschwindigkeit von einer Meile schafft man etwas 1,46 Fuß pro Sekunde. Bei drei Meilen pro Stunde hätte der Mann also etwa 4,4 Fuß in der Sekunde zurückgelegt.« »Ich glaub’s Ihnen aufs Wort«, sagte Scanlon grinsend. »Für fünfzehn Fuß in der von Ihnen genannten Geschwindigkeit«, fuhr Mason fort, »hätte der Mann also etwas weniger als dreieinhalb Sekunden gebraucht. Infolgedessen sahen Sie die Person, falls Sie sich nicht irren, während dreieinhalb Sekunden mit nur einem Auge und bei schwachem Licht.« -1 9 3 -
»Ich schätze, das stimmt, wenn Sie’s sagen.« »Ich habe nur rechnerisch nachgeprüft, was Sie selbst mir erzählten.« »Jawohl, Sir.« »Und Sie glauben jetzt, daß Sie den Mann etwa dreieinhalb Sekunden lang sahen?« »Ich meinte, es wäre länger gewesen, aber wenn’s sich auf diese Art errechnen läßt, dann wird es wohl stimmen.« »Sie sahen ihn dreieinhalb Sekunden unter sehr schlechten Lichtverhältnissen, mit einem Auge und von hinten«, wiederholte Mason. »Als Sie ihn aber für die Polizei identifizieren und ganz sichergehen wollten, brauchten Sie dazu drei Minuten bei hellem Tageslicht, wo Sie sein Gesicht, seine Figur und alles andere von ihm sehen konnten?« »Ich wollte eben sichergehen.« »Um sich über die Identität des Mannes sicher zu sein, mußten Sie ihn drei Minuten lang mit beiden Augen und bei vollem Tageslicht ansehen?« »Nun, um absolut sicher zu sein.« »Dann waren Sie sich seiner Identität natürlich nicht absolut sicher«, sagte Mason mit gewinnendem Lächeln, »als Sie ihn dreieinhalb Sekunden lang bei schwachem Licht und mit einem Auge sahen, nicht wahr? Nicht nach Ablauf von dreieinhalb Sekunden, stimmt’s?« »Nein, sicher war ich nicht«, räumte Scanlon ein, »jedenfalls nicht absolut. Ich war es aber, nachdem ich ihn im Gefängnis gesehen hatte.« »Das dachte ich mir«, feixte Mason. »Vielen Dank, Mr. Scanlon, das ist alles.« »Keine weiteren Fragen«, knurrte Covington wütend. Richter Minden blickte zur Uhr. »Wir stehen kurz vor der Mittagspause«, erklärte er. »Wie üblich, werden wir uns bis -1 9 4 -
zwei Uhr nachmittags vertagen. Die Geschworenen werden gemäß richterlicher Ermahnung den Fall weder diskutieren noch zulassen, daß er in ihrer Gegenwart diskutiert wird. Sie werden sich über Schuld oder Unschuld des Angeklagten keine Meinung bilden oder eine solche äußern, bis ihnen der Fall zur Entscheidung übergeben wird. Das Gericht unterbricht die Verhandlung bis zwei Uhr.« Edward Garvin ergriff Masons Arm, seine Finger krallten sich fest. »Mason, um Himmels willen, ich...« Mason wandte sich aufmunternd lächelnd zu seinem Mandanten um. Das Lächeln aber lag nur auf seinen Lippen, seine Augen waren kalt und hart. »Lächeln Sie«, befahl er. »Ich...« »Lächeln sollen Sie, zum Kuckuck«, wiederholte Mason leise. Ein halbes Grinsen verzerrte Garvins Züge. »Machen Sie’s besser! Lächeln Sie richtig, und zwar bis die Geschworenen abmarschiert sind.« Er beobachtete die widerstreitenden Gefühle auf Garvins Gesicht, lachte freundlich und klopfte ihm auf die Schulter. »Na, dann gehen wir erst mal essen«, sagte er, sich gleichmütig abwendend. »Mason, ich muß Sie sprechen!« wisperte Garvin. »Versuchen Sie mich unter den Blicken der Jury zu sprechen, mit diesem Gesichtsausdruck, und Sie haben sich die Fahrkarte zur Todesze lle in San Quentin gekauft«, flüsterte Mason über die Schulter zurück. Damit verließ er zwanglos den Saal, die Aktentasche unter den Arm geklemmt, ein unbekümmertes Lächeln auf dem Gesicht. Im Flur traf er Della Street. »Du lieber Himmel, Chef«, flüsterte sie, »könnte der Mann die Wahrheit gesagt haben?« . »Weiß ich nicht«, antwortete Mason. »Das werde ich später -1 9 5 -
feststellen. Ich kann es nicht riskieren, mich vor Zuhörern oder Geschworenen jetzt in Eilkonferenz mit meinem Mandanten sehen zu lassen.« »Was tun wir denn?« fragte sie. »Wir holen Paul Drake und gehen essen. Mehr können wir nicht tun.« Drake bahnte sich schon seinen Weg durch das Gewühl an der Saaltür, während die Menge neugierig zu Mason herüberstarrte. »Junge«, sagte Drake und quetschte Masons Arm, »du hast ein großartiges Kreuzverhör geliefert, Perry. Der Bursche hat zugegeben, daß er drei Minuten brauchte, um einen Mann bei gutem Licht wiederzuerkennen, den er nur drei Sekunden im Dunkeln und von hinten sah.« »Trotzdem beunruhigt mich etwas an diesem Zeugen«, erwiderte Mason. »Er war voreingenommen; seine Aussage setzte sich zusammen aus Dingen, die er meint gesehen zu haben, die seiner Ansicht nach passiert sein mußten. Sein Zeugnis ist jetzt positiv, aber bei dem Mann scheint mir eine gewisse Aufrichtigkeit vorherrschend, ein starkes Gefühl für Fairneß. Und das gibt mir zu denken.« »Du meinst nicht etwa, daß dein Mandant tatsächlich ausging und irgendwelche nächtlichen Wanderungen unternahm - oder?« fragte Drake. »Wie soll ich’s wissen, zum Henker? Mandanten belügen einen nur allzuoft. Aber in diesem Fall haben wir noch ein As in petto.« »Du meinst die Aussage seiner Frau?« »Genau. Natürlich kann die Jury sich ausrechnen, daß sie ihrem Mann hundertprozentig den Rücken deckt. Man wird aber keinen frischgebackenen Ehemann nach San Quentin schicken und die schöne Braut sich in Kummer verzehren lassen, sofern es sich vermeiden läßt. Ich hoffe, Mrs. Garvins Alibi wird sich -1 9 6 -
gegen Scanlons Aussage durchsetzen.« »Sie ist sich der Uhrzeit sicher?« fragte Drake. »Zweifellos«, bestätigte Mason. »Das ist der Vorteil einer Uhr mit Schlagwerk.« »Schlägt sie laut?« »Klar, ich hab’s gehört. Ich hörte es zehn Uhr schlagen, als ich an dem Abend zu Bett ging. Ich...« Mason brach ab, als aus dem Fahrstuhl Senora Miguerinio stieg und sich hüftwiegend näherte - mit einer Jahresuhr unter dem Arm. Sie lächelte Mason herzlich zu und fragte: »Was glauben Sie, Mister Mason? Kommt der Mann zurück zu seiner Frau und macht wieder Honeymoon in meiner kleinen Hazienda, nein?« »Aber gewiß doch«, sagte Mason mit größter Zuversicht. »Und was machen Sie da mit der Uhr, Senora?« »Der Staatsanwalt - er will sie.« »Warum?« »Er muß sie der Jury zeigen.« »Was ist denn das für eine Uhr?« erkundigte Mason sich in überaus beiläufigem Ton. »Dies ist die Uhr von mein Hotel. Die Uhr, die Zeit ansagt.« »Die mit dem Glockengeläut?« fragte Mason. »Gewiß, mit den Glocken«, bestätigte Senora Miguerinio und setzte hinzu: »Am Tage läuten sie.« »Am Tage?« Sie nickte. »Gewiß, am Tage. In der Nacht - nein. Das weckt die Gäste auf. Die Leute in Mexiko lieben es, wenn sie am Tage schlägt, aber in der Nacht nicht - nein?« »Und was ist nachts mit dem Schlagwerk?« fragte Mason. »Die ist automatisch«, erklärte Senora Miguerinio, »mit Schlagwerk. Hier ist ein Hebel an der Seite. Wenn man nicht -1 9 7 -
will das Läuten, zieht man den Hebel nach unten, und es ist weg, ja?« »Sie meinen, wenn man auf diesen Hebel drückt, schlägt sie nicht mehr?« »Ganz richtig. Hebel nach unten, und die Schläge kommen nicht, bis Sie den Hebel zurückschalten. Jeden Abend, wenn ich gehe zu Bett, gerade vorher, ich ziehe den Hebel nach unten, und kein Geläut kommt mehr. Am Morgen dann, wenn ist Zeit, daß die Leute aufstehen, schalte ich ein, und sie schlägt wieder.« »Und jetzt will der Staatsanwalt die Uhr sehen?« »Gewiß, die Uhr wird verkauft an die Regierung. Er will sie der Jury zeigen, und dann bleibt sie im Gericht, und das Gericht wird mir kaufen eine neue Uhr für diese. Ich arme Witwenfrau, sage ich, kann mir nicht leisten neue Uhr. Ich kann nicht herbringen diese Uhr, oder ich brauche neue für mein Hotel. Ohne Uhr man kann kein Hotel betreiben, nein?« »Bestimmt nicht«, pflichtete Mason bei. »Und ich muß nun zum Staatsanwalt. Er hat gesagt, ich soll gleich kommen, wenn das Gericht aus ist, weil er will mit mir reden über meine Aussage. Ich muß wieder in den Zeugenstand, und mit meine Uhr.« »Gut«, sagte Mason, »und wir gehen zum Essen.« »Wohl bekomm’s, Senor«, wünschte Senora Miguerinio. »Danke.« Die drei wandten sich um und gingen durch den Korridor davon, Drake entfuhr ein leiser Ausruf. »Allmächtiger, Chef!« flüsterte Della Street. »Wohl bekomm’s«, wiederholte Mason sarkastisch.
17 Perry Mason, Paul Drake und Della Street ließen sich in der Nische des Restaurants nieder. -1 9 8 -
»Ich kann nicht essen«, erklärte Della, »es ist zu schrecklich.« »Nicht doch, Della«, sagte Mason und lächelte zuversichtlich. »Rundherum sitzen Leute, die uns beobachten und neugierig sind, worüber wir sprechen, wie unsere Stimmung ist. Immer nur lächeln, dann und wann einen Witz machen - und dabei leise die Lage besprechen.« »Wie ist denn nun die Lage, Perry?« erkundigte sich Drake. »Da bin ich mir nicht sicher«, sagte Mason, »fürchte aber, daß die Aussage dieses Scanlon die Geschworenen kopfscheu machen wird. Ich persönlich glaube, Scanlon...« »Du nimmst doch nicht an, daß Garvin das Gespräch tatsächlich führte, dann in seinen Wagen stieg und nach Oceanside fuhr?« »Ich glaube allerdings, daß Garvin so unvernünftig war, irgendwohin zu fahren. Wenn man jahrelang Zeugen unter Kreuzverhör hat, macht man sich nach der Art, wie die Fragen beantwortet werden, schon ein Bild, ob jemand die Wahrheit sagt oder lügt. Obwohl ich Scanlon in eine etwas mißliche Lage versetzen konnte und obwohl die Polizei inkorrekt handelte, weil sie ihm keine Gruppe vorführte - es bleibt die Tatsache, daß Scanlon die Wahrheit sagen will; diesen Eindruck habe ich von ihm. Nehmen wir an, er hatte tatsächlich Schwierigkeiten, den Mann aus der Telefonzelle wiederzuerkennen. Er ist sich jedoch keineswegs im Zweifel über das Gespräch, das stattgefunden hat. Und ich weiß aus eigener Erfahrung, daß die Trennwand zwischen diesen beiden Zellen hauchdünn ist. Die Polizei muß inzwischen auch den Beleg über jenes Telefonat haben, und es muß mit Ethel Garvin geführt worden sein. Angenommen, Scanlon hat Garvin beim Verlassen der Zelle tatsächlich nicht deutlich gesehen. Wer sonst in dem Hotel könnte aber ein solches Gespräch mit Ethel Garvin geführt haben?« »So betrachtet ist es allerdings ziemlich problematisch«, gab Drake zu. -1 9 9 -
»Ich sah sofort, daß der schwache Punkt in Scanlons Aussage seine Behauptung über das Erkennen der Person war, die aus der Telefonzelle kam. Deshalb konzentrierte ich mich darauf. Du wirst bemerkt haben, daß ich es peinlich vermied, ihn über das Gespräch selbst unter Kreuzverhör zu nehmen. Natürlich suchte ich mir das schwächste Glied in der Kette aus.« »Nun, ich persönlich möchte annehmen«, sagte Drake, »wenn Mrs. Garvin im Zeugenstand eisern schwört, daß ihr Mann die ganze Nacht bei ihr war, wird die Jury ihr wahrscheinlich glauben.« »Wobei uns natürlich weiterer Ärger bevorsteht«, wandte Mason ein. »Sie stützt ihre Zeitangabe auf das Schlagen der Uhr und...« »Sagte sie nicht, sie hätte einmal auch auf ihre Armbanduhr gesehen?« »Das schon, aber sie erklärte mit Bestimmtheit, sie hätte die Uhr draußen schlagen hören. Jetzt nimm an, das Schlagwerk war tatsächlich abgestellt; damit wäre ihre Aussage auf der Stelle als Lüge erkannt. Andererseits ist es unser Pech«, fuhr Mason lächelnd fort und schien sich über eine ulkige Geschichte zu amüsieren, »daß die Frage des Schlagens oder Nichtschlagens der Uhr völlig von der Aussage der Senora Miguerinio abhängt. Alles kommt darauf an, was sie glaubt getan zu haben. Ebenso wie man vor dem Schlafengehen häufig vergißt, die Uhr aufzuziehen oder die Katze hinauszulassen, könnte Mrs. Miguerinio gerade an diesem Abend vergessen haben, das Schlagwerk abzustellen. Wäre ich bloß nicht um zehn Uhr zu Bett gegangen! Wäre ich nur eine halbe Stunde länger wach gewesen, hätte ich sagen können, ob ihre Aussage über das Abschalten des Geläuts stimmt.« »Das kommt davon, wenn man ein gutes Gewissen hat«, bemerkte Drake. »Du... Warte mal, Perry, da kommt einer meiner Leute.« -2 0 0 -
Ein Mitarbeiter von Drake stand in der Tür und sah sich suchend unter den Gästen um. Drake hielt eine Hand mit ausgestrecktem Zeigefinger hoch. »Ich sagte ihm, daß ich hier zu finden bin«, erklärte er Mason. »Er hat einen heißen Draht zu einem der Justizangestellten, der keine Ahnung hat, daß es sich um einen Mitarbeiter von mir handelt. Er würde mich hier nicht suchen, wenn’s nicht von Bedeutung wäre.« Der Mann entdeckte Drakes Zeichen, nickte kurz und ging unbefangen auf die Herrentoilette zu. Drake murmelte eine Entschuldigung und folgte ihm. Della und Mason warteten voller Spannung, bis sie Drake zurückkehren sahen. Mason warf nur einen Blick auf sein Gesicht und schüttelte den Kopf. Drake war am Tisch angelangt. »Lächeln, Paul«, mahnte Mason, als Drake sich auf seinen Platz setzte. Drake kräuselte die Lippen zu freudlosem Grinsen. »Was war es?« fragte Mason. »Du bist geliefert.« »Wieso?« »Der Staatsanwalt hat einen Überraschungszeugen, den er auf dich loslassen wird. Einen Tankwart aus Oceanside, der Garvins Wagen mit Benzin und Öl versorgte.« »Um welche Zeit?« »Gegen 11.30 Uhr. Garvin war nervös und aufgeregt. Er lief hin und her, während sein Wagen abgefertigt wurde. Er ging zum Straßenrand und beobachtete die nach Süden fahrenden Autos. Offenbar suchte er jemanden und schien sich in Hochspannung zu befinden. Dem Tankwart fiel er besonders auf.« »Wieweit stimmt die Identifizierung?« fragte Mason. »Hundertprozentig. Der Mann hat den Wagen und ebenso Garvin wiedererkannt. Er war ihm besonders aufgefallen.« -2 0 1 -
»Nun ja«, sagte Mason, »jetzt türmt es sich allerdings haushoch.« »Warum hast du Garvin eigentlich nicht nach der Sache gefragt?« »Weil ich es nicht riskieren wollte.« »Weshalb nicht?« »Die Häftlinge erhalten im Gefängnis ihre Mittagsmahlzeit durch den Sheriff. Der Vizesheriff muß Garvin sofort bei Beginn der Mittagspause aus dem Saal bringen. Etwa fünf Minuten vor zwei Uhr schafft er ihn zurück. Es war mir zu riskant, mich in Anwesenheit der Geschworenen oder der Zuhörer mit Garvin zu besprechen. Direkt im Anschluß an Scanlons Vernehmung hätte das die verhängnisvolle Wirkung dieser überraschenden Aussage noch erhöht. Und Garvin früher in den Saal zurückführen zu lassen, ist ebenso heikel. Fünf Minuten vor zwei etwa kann ich mich zwanglos im Flüsterton mit ihm unterhalten, mehr darf ich nicht riskieren.« »Kannst du keinen Aufschub beantragen«, fragte Drake, »eine Art...« »Das würde als ein Zeichen von Angst gewertet werden«, erklärte Mason. »Ich kann überhaupt nichts weiter tun als zur Verhandlung gehen, mit lächelndem Gesicht dasitzen und es auf mich nehmen.« »Du wirst allerlei auf dich nehmen müssen«, unkte Drake. »Na, ich habe schon allerlei Schläge ausgeteilt«, sagte Mason, »und so werde ich auch mal welche einstecken können, wenn’s sein muß. Morgen abend will mich übrigens der Beschwerdeausschuß der Anwaltskammer sprechen, weil ich angeblich Mortimer Irving veranlaßt habe, meinen Wagen als denjenigen zu identifizieren, den er an der Straße parken sah. Alles in allem - es ist ein herrliches Leben.« »Können sie dir deswegen etwas anhaben?« -2 0 2 -
»Ich glaube nicht. Und ich behaupte auch, völlig im Recht gewesen zu sein, als ich mit diesem Zeugen sprach. Ich hatte genau das gleiche Recht, einen einzelnen Wagen an der Straße zu parken und Mortimer Irving darüber zu befragen, wie die Polizei es sich bei dem Zeugen Howard B. Scanlon nahm, als sie ihn unter suggestiven Bedingungen fragte, ob er den im Gefängnishof herumlaufenden Mann in der Mordnacht aus der Telefonzelle kommen sah... Also, mir scheint, außer einem sorglos- heiteren Eindruck können wir hier wenig machen. Wir wollen zeitig zum Gericht zurückgehen. Während der fünf Minuten vor der Verhandlung werde ich noch Gelegenheit haben, Garvin unauffällig ein paar Fragen zu stellen.«
18 Sieben Minuten vor zwei schlenderte Mason in den überfüllten Gerichtssaal. Er steckte sich eine Zigarette an, setzte sich bequem zurecht und lächelte vertrauensvoll zu dem halben Dutzend Mitgliedern der Jury hinüber, die schon zeitig zurückgekehrt waren und ihre Plätze auf der Geschworenenbank einnahmen. Er schien völlig entspannt, nach einem guten Mittagessen seelisch und körperlich mit sich zufrieden. Vier Minuten vor zwei Uhr führte der Vizesheriff Edward Garvin in den Saal. Garvin bückte sich flüsternd zu Masons Ohr: »Um Gottes willen, Mason, hören Sie mir zu.« Mason sah freundlich zu ihm hoch und sagte: »Setzen Sie sich, Garvin. Wir werden gleich reden. Versuchen Sie im Moment nicht, mich anzusprechen, was es auch sei. Bleiben Sie ruhig sitzen.« Er sah zu, wie Garvin sich niederließ. Dann drückte er seine Zigarette aus und gähnte. Er sah auf der Wanduhr die kostbaren Sekunden verrinnen. Als fiele ihm plötzlich etwas ein, wandte er sich dann mit -2 0 3 -
einem Schmunzeln zu Garvin um und sagte: »Beantworten Sie nur Fragen. Lächeln Sie dabei. Haben Sie Ethel angerufen?« Garvin versuchte ein Grinsen, das ihm jedoch mißlang. »Mason, hören Sie, ich habe sie wirklich angerufen. Ich bin auch mit meinem Wagen dorthin gefahren. Der Mann sagt die Wahrheit. Aber Lorraine ist bereit, bei ihrem Alibi zu bleiben. Sie wachte auf und sah, daß ich weg war. Sie log, weil...« »Sprechen Sie nicht so schnell«, unterbrach Mason. »Und reden Sie nicht so viel. Jetzt setzen Sie sich zurück und tun Sie, als hätten Sie nicht die geringsten Sorgen. In einer Minute sprechen wir uns wieder.« Mason richtete sich in seinem Stuhl auf, blickte sich, scheinbar nach Della Street suchend, im Gerichtssaal um, sah noch einmal auf die Wanduhr. Dann wandte er sich Garvin zu und sagte leise: »Also, jetzt den Rest.« »Ich fuhr hin, um mich mit ihr zu treffen, Mason«, berichtete Garvin. »Sie war aber nirgends zu sehen. Ich wartete eine Weile und fuhr dann weiter bis zur Straße, die zu Hackley führt. Ich stellte meinen Wagen ab und ging querfeldein, um die Lage zu sondieren. Da hörte mich so ein verflixter Köter und fing an zu bellen. Als er sich beruhigt hatte, versuchte ich noch einmal, zum Haus vorzudringen. Dann sah ich Ethels Wagen aus der Auffahrt kommen. Ich erkannte ihn, konnte aber nicht sehen, ob sie allein war. Ich wollte zu meinem Wagen zurückrennen und mußte feststellen, daß ich mich völlig verlaufen hatte. Fast eine Viertelstunde brauchte ich, bis ich zu meinem Wagen zurückfand. Ich fuhr zu der Stelle, wo ich Ethel treffen sollte. Ihr Wagen stand da. Sie saß darin - tot. Ich hatte genug Verstand, nicht nah heranzugehen, nichts zu berühren und keine Fußspuren zu hinterlassen. Ich fuhr sofort nach Tijuana zurück.« »Wann kamen Sie dort an?« fragte Mason. »Weiß ich nicht. Ich habe nicht auf meine Uhr gesehen, erzählte Lorraine aber, daß ich in der Klemme saß. Ich weckte -2 0 4 -
sie und berichtete ihr alle s, sie mußte mir doch ein Alibi verschaffen. Und das ist die volle Wahrheit, Mason. Tut mir leid, daß ich Sie belogen habe. Ich...« Unruhe entstand, und die Zuhörer erhoben sich von ihren Plätzen. Aus dem Amtszimmer erschien Richter Minden, um seinen Platz auf der Bank einzunehmen. »Ich zahle jede Summe, Mason«, sagte Garvin rasch. »Ich lege zehntausend Dollar drauf, oder zwanzigtausend oder...« »Sie haben nicht genug Geld, um das zu bezahlen, was Sie angerichtet haben«, flüsterte Mason wütend. »Hintergange n haben Sie mich. Aber ich werde Sie nicht hintergehen. Bleiben Sie jetzt an Ihrem Platz, verflixt noch mal, und halten Sie den Mund.« »Wer ist Ihr nächster Zeuge?« fragte Richter Minden den Staatsanwalt. »Mortimer C. Irving«, kündigte Covington an. Irving kam zum Zeugenstand und setzte sich. Er mied Covingtons Blick, sah Mason einen Moment an, grinste etwas dümmlich und lehnte sich in seinem Stuhl zurück. Nachdem er dem Protokollführer die Angaben zur Person gemacht hatte, blickte er zu Hamlin Covington auf, der sich erhob und eindrucksvoll vortrat. »Fuhren Sie am frühen Morgen des 22. September auf der Landstraße zwischen La Jolla und Oceanside und gelangten an einen Punkt etwa zwei Meilen südlich von Oceanside?« »Ja, Sir.« »Um welche Zeit?« »Ungefähr um 12.50 Uhr nachts.« »Sehen Sie sich diese Landkarte an«, fuhr Covington fort, »die als Beweisstück A der Staatsanwaltschaft eingeführt wurde. Können Sie sich auf dieser Karte orientieren?« »Ja, Sir.« -2 0 5 -
»Sind Sie vertraut mit dem Gebiet, das auf dieser Karte maßstabgerecht wiedergegeben ist?« »Das bin ich. Ja, Sir.« »Können Sie uns auf dieser Karte einen Punkt zeigen, wo Sie etwas Ungewöhnliches sahen, als Sie damals auf der Landstraße zwischen La Jolla und Oceanside fuhren?« »Ja, Sir.« Irving ging zur Landkarte, legte einen Finger darauf und sagte: »Ungefähr an dieser Stelle sah ich ein Auto parken.« »An diesem Auto gab es etwas Ungewöhnliches?« fragte Covington. »Ja, Sir. Es stand da mit brennenden Scheinwerfern, und soweit ich sehen konnte, saß niemand drin.« »Wann war das, so gut Sie sich erinnern können?« »Gegen 12.50 Uhr.« »Unternahmen Sie etwas, um den Wagen zu untersuchen?« »Ja.« »Was?« »Ich hielt an, richtete den Suchscheinwerfer meines Wagens auf das Fahrzeug und sah es mir sehr genau an. Ich dachte, vielleicht...« »Was Sie dachten, tut nichts zur Sache. Berichten Sie uns nur, was Sie taten.« »Ja, Sir. Ich strahlte den Wagen an und sah nach, ob jemand drinsaß.« »Haben Sie sich die Nummer des Wagens gemerkt?« »Nicht zu der Zeit, nein, Sir.« »Können Sie uns den Wagen beschreiben?« »Ja. Es war ein Kabriolett von heller Farbe, ein großer Wagen. Das Verdeck war oben, und die Scheinwerfer brannten. Soweit ich mich entsinne, hatte er Weißwandreifen.« »Stand eine Tür offen?« -2 0 6 -
»Nein, Sir. Alle Türen waren geschlossen.« »Mr. Irving, ich frage Sie jetzt, ob Sie danach Gelegenheit hatten, sich das Auto des Angeklagten, Edward Charles Garvin, anzusehen.« »Ja, Sir, das habe ich gesehen.« »Können Sie uns sagen, ob es der Wagen war, den Sie zu jenem Zeitpunkt dort parken sahen?« »Es war ein sehr ähnlicher Wagen.« »Danke. Das ist alles. Sie können den Zeugen übernehmen, Mr. Mason.« Covington ging an seinen Platz und setzte sich. »Zwei Tage später, Mr. Irving«, begann Mason, »als diese Sache in Ihrem Gedächtnis noch frisch war, sprachen Sie mit mir über das, was Sie gesehen hatten, nicht wahr?« »Wenn das eine argumentative Frage ist«, schaltete Covington sich ein, »erhebe ich Widerspruch wegen...« »Es ist keine argumentative Frage. Ich frage den Zeugen nur, ob er ein solches Gespräch geführt hat. Er kann mit Ja oder Nein antworten.« »Hatten Sie ein Gespräch mit Mr. Mason?« fragte Richter Minden. »Antworten Sie nur mit Ja oder Nein.« »Ja.« »Und im Anschluß an unser Gespräch fuhren Sie mit mir die Landstraße entlang, die auf dieser Karte verzeichnet ist?« »Ja, Sir.« »Zu der Zeit stand etwa an diesem Punkt hier ein Wagen mit der Nummer 9Y6370, nicht wahr?« »Ja.« »Identifizierten Sie dann diesen Wagen mit der kalifornischen Zulassungsnummer 9Y6370 als das Fahrzeug, das Sie am 22. September um 0.50 Uhr gesehen hatten?« -2 0 7 -
»Nun, ich habe ihn nicht direkt identifiziert. Ich sagte, er sähe so ähnlich aus wie der Wagen, den ich gesehen hatte.« »Dieser Wagen, von dem ich jetzt spreche, ist ein helles Kabriolett?« »Ja, Sir.« »Und Sie sahen ihn sich sehr genau an?« »Ja.« »Sie haben ihn zu der Zeit und an dem Ort nicht als das Fahrzeug identifiziert, das Sie in jener Nacht sahen?« »Ich habe gesagt, ich glaubte, der wäre es.« »Sie glaubten es also?« »Ja, Sir.« »Aber jetzt glauben Sie es nicht?« Der Zeuge fuhr sich durchs Haar. »Also, um die Wahrheit zu sagen, ich...« »Dazu sind Sie hier«, sagte Mason, als Irving zögerte, »um die Wahrheit zu sagen.« »Natürlich konnte ich den Wagen, den ich in der Nacht gesehen hatte, nicht haargenau beschreiben. Ich kann nur sagen, wie er allgemein aussah und welche Art Wagen es war. Ich...« »Sie antworten nicht auf meine Frage«, unterbrach Mason. »Als Sie bei mir waren, glaubten Sie, der Wagen, auf den ich mich bezog, sei derselbe, den Sie dort nachts gesehen hatten, nicht wahr?« »Nun, ich kann natürlich ein Auto nicht absolut sicher wiedererkennen, wenn ich es nur nachts sehe bei...« »Beantworten Sie bitte einfach meine Frage«, sagte Mason. »Glaubten Sie zu dem Zeitpunkt, als Sie mit mir zusammen waren, daß es sich um das Auto handelte, das Sie gesehen hatten, oder glaubten Sie es nicht?« »Ja, ich glaubte es«, platzte Irving heraus. -2 0 8 -
»Und jetzt«, fuhr Mason fort, »da Ihre Erinnerung an diese Gelegenheit nicht mehr ganz so frisch ist, wollen Sie bei den Geschworenen den Eindruck erwecken, Sie hätten Ihre Meinung geändert?« »Mir ist jetzt klar, daß ich keinen Wagen ganz sicher identifizieren konnte.« »Was hat sich seitdem ereignet, so daß Sie Ihre Ansicht ändern mußten?« »Ich habe nicht gesagt, daß ich jetzt anderer Ansic ht bin.« »Sie sind es aber doch, nicht wahr?« fragte Mason scharf. »Nun, nicht daß ich wüßte.« »Mit anderen Worten«, sagte Mason, »glauben Sie also noch, daß der Wagen mit der Nummer 9Y6370, den Sie zwei Tage später sahen, derselbe war, den Sie am 22. September um 0.50 Uhr gesehen hatten. Stimmt das, Mr. Irving?« »Ich war zu der Einsicht gebracht worden«, gestand Irving, »wie unmöglich es gewesen war, den Wagen zu der Zeit richtig zu erkennen, als ich ihn da nachts parken sah.« »Wer brachte Sie zu der Einsicht, daß es unmöglich war?« fragte Mason. »Na, ich habe länger darüber nachgedacht und...« »Sie behaupteten wörtlich, Mr. Irving, Sie seien zu der Einsicht gebracht worden, daß ein genaues Erkennen unmöglich war. Wer brachte Sie dazu?« »Das weiß ich nicht. Es könnten einfach meine Überlegungen gewesen sein.« »Jemand brachte Sie dazu«, beharrte Mason. »Wer war es?« »Ich habe nicht gesagt, daß jemand mich dazu brachte.« »Sie sagten, Sie seien zu der Einsicht gebracht worden. Wer brachte Sie also dazu?« »Ich... Na, ich hatte mehrere Gespräche mit Mr. Covington, -2 0 9 -
dem Staatsanwalt.« »Mit anderen Worten, Mr. Covington machte Ihnen glaubhaft, daß Sie den Wagen, den Sie dort in der Nacht gesehen hatten, nicht einwandfrei beschreiben können. Ist das richtig?« »Nun, ich weiß nicht, ob ich es so ausdrücken würde.« »Ich drücke es aber so aus«, sagte Mason. »Beantworten Sie bitte meine Frage. Machte Mr. Covington Ihnen glaubhaft, daß Sie den Wagen unter den gegebenen Umständen nicht deutlich erkennen konnten?« »Oh, Euer Gnaden, ich muß protestieren«, erklärte Covington. »Dies Kreuzverhör ist doch...« »Abgelehnt!« fiel Richter Minden ihm kurz ins Wort. Irving zögerte. »Antworten Sie«, sagte Mason. »Na, ich schätze, er tat es.« »Das ist alles«, sagte Mason lächelnd. »Zeuge Harold Otis«, rief Covington. Otis, ein junger, kräftiger Mensch, betrat den Stand und machte Angaben zur Person. Auf Covingtons Fragen sagte er aus, er sei bei einer Tankstelle in Oceanside angestellt, wo er am 21. September von vier Uhr nachmittags bis Mitternacht gearbeitet habe. Kurz vor Mitternacht - soweit er sich entsinne, etwa eine halbe Stunde vor seinem Weggang - habe er den Angeklagten gesehen, der in einem Kabriolett vorgefahren sei. Die Nummer habe er sich notiert. Auf Mr. Garvins Verlangen habe er Benzin in den Tank gefüllt und die Windschutzscheibe gewaschen. Währenddessen sei Garvin außerordentlich nervös und unruhig gewesen und zum Randstein gegangen, wo er die in südlicher Richtung vorbeifahrenden Wagen beobachtet habe. Covington zeigte ein Foto von Edward Garvins Wagen, worauf der Zeuge das Fahrzeug wiedererkannte, das Garvin in der fraglichen Nacht benutzt hatte. Er identifizierte -2 1 0 -
Zulassungsnummer, Marke, Modell und Baujahr des Wagens. »Ihr Zeuge!« wandte Covington sich triumphierend an Perry Mason und ging zurück an seinen Platz. »Was tat der Fahrer, nachdem Sie seinen Wagen versorgt hatten?« fragte Mason. »Er fuhr weg.« »In welche Richtung?« »Norden.« »In Richtung Los Angeles?« »Ja.« Mason lächelte rätselhaft, als sei durch diese Mitteilung Covingtons Anklage zum Scheitern verurteilt. »Und Sie sahen ihn nicht zurückfahren?« »An dieser Tankstelle kommen stündlich Hunderte von Autos vorbei«, antwortete Otis. »Ich habe nie versucht, alle Fahrzeuge zu kontrollieren, die diese Straße benutzen.« »Natürlich nicht«, sagte Mason, »aber Sie sahen ihn doch nicht zurückkommen, nicht wahr?« »Nein, Sir, aber...« »Die Gründe tun nichts zur Sache«, unterbrach Mason den Zeugen. »Ich frage Sie nur, ob Sie den Wagen zurückkommen sahen oder nicht.« »Nein.« Mason stand siegesgewiß auf und deutete auf den Zeugen. »Und Sie gingen an jenem Abend um Mitternacht aus dem Dienst?« »Ja, Sir.« »Falls der Wagen also nach Mitternacht zurückgekommen wäre, weit nach Mitternacht, vielleicht um drei Uhr morgens, hätten Sie ihn nicht sehen können, nicht wahr?« »Natürlich nicht, aber ich hätte ihn sowieso nicht gesehen. Ich -2 1 1 -
achte nicht auf vorbeifahrende Wagen. Sie gehen mich nichts an.« »Wollen Sie behaupten«, fragte Mason, »daß Sie vorbeifahrende Wagen niemals bemerken?« »Na, ich sehe sie mir nicht besonders an.« »Richtig, aber gelegentlich sehen Sie doch Fahrzeuge auf der Straße vorbeifahren, nicht wahr?« »Das werde ich wohl, ja.« »Und der fragliche Wagen hatte Ihre Aufmerksamkeit erregt, weil Ihnen der Fahrer ungewöhnlich nervös und unruhig vorkam. Ist das richtig?« »Nun, es sah aus, als suchte er...« »Bitte keine Folgerungen«, sagte Mason. »Beantworten Sie nur die Fragen. Dieser Wagen hatte Ihre Aufmerksamkeit erregt, weil der Fahrer nervös und unruhig war, ist das richtig?« »Ja, Sir.« »Daher sahen Sie sich den Wagen recht genau an?« »Ja.« »Und konnten sich die Nummer merken?« »Ja, Sir.« »Da Sie sich also einprägten, wie dieser Wagen aussah, wäre er Ihnen aufgefallen, falls Sie ihn wiedergesehen hätten, nicht wahr?« »Na, vielleicht.« »Und wäre dieser Wagen von Ihrer Tankstelle aus nach Los Angeles gefahren und erst um drei Uhr morgens wieder zurückgekommen, so daß der Angeklagte unmöglich zur Mordzeit in der Nähe des Tatortes gewesen sein konnte - dann hätten Sie es nicht wissen können, nicht wahr?« »Nun...« »Ja oder nein!« donnerte Mason den Zeugen an. -2 1 2 -
»Nun - nein.« »Das ist alles«, triumphierte Mason. Covington fixierte den Verteidiger und zog verdutzt die Stirn in Falten, während er sich langsam erhob. Er konnte nicht verbergen, daß Masons Andeutung eines Alibis für Garvin in Los Angeles ihn beunruhigt hatte. »Euer Gnaden«, sagte er, »ich gedachte meinen Beweisvortrag sehr kurz zu halten, mit den Unterlagen der Telefongesellschaft über das Ferngespräch mit Ethel Garvin von Tijuana aus. Ich hätte aber gern Gelegenheit, vielleicht noch einen weiteren Zeugen zu vernehmen, der im Moment nicht verfügbar ist. Falls es möglich wäre, bis morgen früh zu unterbrechen...« Richter Minden schüttelte den Kopf. »Ich glaube, das wäre ein unbilliges Verlangen - es sei denn, natürlich, die Verteidigung stimmt zu.« »Nein, Euer Gnaden«, sagte Mason, »wir möchten mit dem Fall möglichst rasch vorankommen.« »Es steht aber eine Sache von beträchtlicher Bedeutung auf dem Spiel, Euer Gnaden«, beharrte Covington, »die ich zur Zeit nicht erläutern kann.« Mason stand auf und erklärte mit plötzlichem Wohlwollen: »Also gut, wir wollen einer Vertagung zustimmen. Bitte sehr, wenn Sie glauben, irgendeinen Beweis dafür erbringen zu können, daß der Angeklagte sich zur Zeit des Verbrechens unmittelbar in der Nähe aufhielt, sind wir durchaus bereit, Ihnen zu helfen. Mit der Vertagung sind wir einverstanden.« Damit setzte Mason sich. »Ich habe es bereits bewiesen!« schrie Covington. »Was wollen Sie denn noch? Ich habe bewiesen, daß er...« »Aber bitte, meine Herren!« schaltete Richter Minden sich mit dem Hammer ein. »Da der Verteidiger mit einer Unterbrechung einverstanden ist, wird das Gericht sich bis -2 1 3 -
morgen früh um zehn Uhr vertagen. In der Zwischenzeit mögen die Geschworenen sich an die Belehrung des Gerichts halten. Die Sitzung ist geschlossen.« Mason stand auf, streckte sich, ging hinüber zu Paul Drake und Della Street und flüsterte: »Menschenskind, welche Chance! Natürlich wollte ich die Unterbrechung, scheute mich aber, das zuzugeben. Der Staatsanwalt ließ sie mir genau in den Schoß fallen.« »Nimm dich lieber in acht vor diesem Burschen«, empfahl Drake. »Er ist gefährlich. Er wartet auf etwas.« »Beunruhigt ist er«, sagte Mason, »aber nicht halb so beunruhigt wie ich. Wie dem auch sei - es gibt einen Punkt, den wir sofort klären werden.« »Welchen?« fragte Drake. »Ich hatte den Zeugen Irving beschwatzt, meinen Wagen für identisch mit dem zu halten, den er in der Nacht sah.« »Das war allerdings ein raffinierter Trick«, me inte Drake. »Vielleicht war er ein klein wenig zu raffiniert.« »Was willst du damit sagen, Perry?« »Sehen wir uns meinen Wagen mal an. Dieser Irving ist ein ehrlicher Zeuge.« Mason ging voran zu dem Platz, wo er sein Kabriolett abgestellt hatte. Er öffnete die Tür und sah sich gründlich im Wagen um. »Sieh dir mal die Gummimatte hier vorn an, Paul«, forderte er Drake auf. »Worauf bist du eigentlich aus?« fragte Drake. »Meinst du etwa...« Mit einem Ausruf beugte Mason sich über den Boden und zerrte an der Gummimatte. »Was ist denn?« fragte Drake. -2 1 4 -
Mason zeigte auf einen bräunlichen Fleck. »Paul«, sagte er aufgeregt, »dies schaffen wir auf schnellstem Wege zum besten gerichtsmedizinischen Labor. Wir müssen feststellen, ob es menschliches Blut ist.« »Blut!« rief Della Street. »Zum Teufel, worauf bist du da gestoßen?« »Auf die wirklichen Fakten dieses Falles«, sagte Mason erregt. »Mortimer Irving hat die Wahrheit gesagt. Es war tatsächlich mein Wagen, den er dort parken sah.« »Dein Wagen?« staunte Drake. »Natürlich. Du weißt, daß Garvin in seinen Wagen stieg und wegfuhr. Meiner stand genau neben seinem. Die Schlüssel lagen im Hotelbüro in der Schublade.« Drake entfuhr ein leiser Pfiff. »Dann meinen Sie also...«, begann Della. »Ich meine, daß nichts auf der Welt Lorraine Garvin daran hinderte, aufzustehen, sich anzuziehen, mein Auto zu borgen, die Küstenstraße hinaufzufahren, Ethel Garvin umzubringen und in meinem Wagen nach Tijuana zurückzubrausen. Mit anderen Worten, der Revolver lag tatsächlich die ganze Zeit über im Handschuhfach von Garvins Wagen. Als Lorraine es öffnete, um Garvins Sonnenbrille zu suchen, fand sie die Waffe. Sie sagte kein Wort, gab Garvin die Sonnenbrille und nahm bei nächster Gelegenheit den Revolver heraus, den sie in ihre Handtasche steckte.« Drake sah Mason an und vergaß vor Überraschung, den Mund zuzumachen. »Nun kommt es einzig darauf an, das alles zu beweisen«, sagte Mason, »und zwar innerhalb der nächsten Stunden. Komm, Paul, du gehst sofort an die Arbeit.«
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19 In ihrem Apartment im U. S. Grand Hotel von San Diego blickte Lorraine Garvin Perry Mason über den Tisch hinweg an. Verzweiflung, Wut und Trotz spiegelten sich in ihren Augen. Paul Drake, neben Mason sitzend, fixierte sie eiskalt, während Della Street Wort für Wort der Unterhaltung mitstenografierte. »Ich sage Ihnen doch, ich habe das Hotel nicht verlassen«, erklärte Lorraine Garvin verzweifelt. Masons Augen waren kalt und hart. »Sie müssen es aber verlassen haben«, entgegnete er. »Niemand dort außer Ihnen beiden war an Ethel Garvin interessiert; nur Sie und Ihr Mann. Durch die Aussagen der vom Staatsanwalt beigebrachten Zeugen ist jetzt bewiesen, daß Ihr Mann aufstand und mit seinem Wagen wegfuhr. Er konnte die Fahrzeuge nicht getauscht haben, denn er wurde in Oceanside in seinem eigenen Wagen gesehen. Und zwar zu einem Zeitpunkt, der ohne Zweifel darauf schließen läßt, daß er seinen eigenen Wagen von der Zeit an benutzt hatte, als man ihn das Hotel Vista de la Mesa in Tijuana verlassen sah. Aber Sie wußten, was er tun wollte, er hatte es mit Ihnen besprochen. Als er Sie verließ, wußten Sie, daß er sich mit seiner früheren Frau treffen wollte. Ihre Lage in dieser Doppelehe war Ihnen klar - solange Sie Ethel Garvin nicht aus dem Weg geräumt und eine legitime Eheschließung erreicht hatten, war sie prekär.« Lorraine preßte die Lippen zu einem Strich zusammen. »Ich habe nicht die Absicht, hier noch länger mit Ihnen zu reden«, erklärte sie, »ich werde einen Anwalt aufsuchen.« »Das wäre wohl besser«, stimmte Mason zu. »Sie wissen genau, was sich abspielte. Sie standen auf, zogen sich in aller Eile an, holten sich aus dem Hotelbüro die Schlüssel zu meinem Wagen, sprangen hinein, passierten die Grenze und brausten ab. Ihren Mann überholten Sie auf halber Strecke nach Oceanside. Sie bekamen irgend wie Kontakt mit Ethel Garvin, ermordeten -2 1 6 -
sie...« »Ich sage Ihnen, ich habe es nicht getan!« »Und ich sage. Sie müssen es getan haben. Sie machten sich wenig Gedanken darüber, ob Sie Ethel Garvin nur aus dem Weg räumen würden, damit Ihr Mann für die legitime Wiederheirat frei wäre, oder ob Sie ihn gleichzeitig dem Mordverdacht aussetzten und in die Gaskammer schickten - was Sie jetzt mit Ihrem falschen Alibi tun.« Lorraine stieß ihren Stuhl zurück und sprang auf. »Niemand kann mich zwingen, mir weiter Ihre Beleidigungen anzuhören!« fauchte sie. »Mein Mann hat von mir verlangt, daß ich lüge, um ihm ein Alibi zu liefern. Und jetzt gehe ich zum Anwalt und lasse mich vertreten.« Schweigend sahen die drei ihr nach, als sie hinausrauschte und die Tür hinter sich zudonnerte. »Wir wissen zwar, was geschah«, sagte Mason, »aber wir können es nicht beweisen. Dieser Blutfleck könnte jederzeit entstanden sein. Der Ankläger braucht sich nur auf den Standpunkt zu stellen, wir hätten ihn vorgetäuscht.« Mason stand auf und begann finsteren Blickes hin und herzumarschieren. Della Street und Paul Drake sahen ihm schweigend zu. Plötzlich blieb er stehen und starrte Drake an. »Was ist los?« fragte Paul Drake. »Es gibt noch eine andere Möglichkeit, die wir nicht ausgelotet haben, Paul.« »Welche?« »Die Sache hat sich so urplötzlich ergeben, Paul, daß wir noch keine Zeit hatten, sie logisch zu durchdenken. Wenn wir’s uns aber genau überlegen - wie könnte Lorraine Garvin mit Ethel Kontakt aufgenommen haben?« »Na, irgendwie hat sie’s geschafft, das ist doch mal klar«, -2 1 7 -
meinte Drake. Mason griff nach seinem Hut und sagte: »Kommt mit, wir fahren nach Tijuana. Nehmen Sie Ihren Stenoblock mit, Della.« Die beiden folgten Mason nach unten zur Garage. Er setzte sich ans Steuer und schaffte die Strecke bis Tijuana in kürzester Zeit. Senora Inocente Miguerinio saß an ihrem Schreibtisch im Hotel, umgeben von einem Haufen Zeitungen. Sie strahlte vor Entzücken über die Tatsache, daß der Prozeß des millionenschweren Grubenbesitzers ihrem Hotel eine Menge kostenloser Reklame eingebracht hatte. »Guten Tag, Senora«, grüßte Mason. »Buenas tardes, Senores und Senorita, wie geht es mit dem Prozeß?« fragte sie lächelnd. »Sie haben Freispruch bekommen für Ihren Mandanten, no?« »Nein«, antwortete Mason, »aber ich hätte Sie gern einiges gefragt. Wie war das mit dem letzten freien Zimmer, das Sie in der Mordnacht vermieteten? Wer nahm es?« »Es war eine Senorita, ein schönes, reizendes Mädchen mit so wundervolle curvas.« Senora Miguerinio beschrieb es mit beiden Händen. »Welche Haarfarbe?« fragte Mason. »Eine wunderschöne Blonde war sie. So ein Blond wie Platinum, ja?« »Hat sie sich eingetragen, und mit welchem Namen?« »Ich will nachsehen im Register«, sagte Senora Miguerinio und begann im Meldeblock zu blättern. »Ja, sie war die Senorita Carlotta Delano aus Los Angeles.« »Wann kam sie an?« fragte Mason. »Ich weiß nicht die Zeit, Senor. Wir hier in Mexiko nehmen nicht so wichtig die Zeit wie Sie Yankees. Aber es war gerade, ehe ich das Licht ausmachte und zu Bett ging.« -2 1 8 -
Mason sah Paul Drake an. »Worauf zielst du eigentlich ab?« fragte Drake. »Betrachten wir den Zeitfaktor, Paul. Ich ging aus meinem Zimmer zu Edward Garvin. Während ich an seiner Zimmertür war, muß Senora Miguerinio den letzten Raum an jene blonde Senorita vermietet haben. Dann löschte sie die Lampen und ging schlafen. Als ich in mein Zimmer zurückkehrte, brannte kein Licht mehr; aber in der Telefonzelle sprach ein Mädchen. Wie ich mich jetzt entsinne, könnte dieses Telefonat eine gewisse Bedeutung gehabt haben. Man muß wohl annehmen, daß es von der Frau geführt wurde, der Senora Miguerinio das letzte Zimmer vermietete.« »Si, si, Senor, das ist es! Sie fragte nach dem Telefon und wie sie könnte Los Angeles anrufen.« »Na also«, sagte Mason zu Drake, »und jetzt nimm an, daß diese Frau keine andere war als unsere mysteriöse Freundin mit dem Revolver, den hübschen Beinen und der Gewohnheit, auf der Feuerleiter herumzuschleichen. Angenommen, es war Virginia Bynum, die sich telefonisch Instruktionen aus Los Angeles holte. Komm, Paul, die Sache mit dem Telefongespräch werden wir sofort klären.« Vierzig Minuten später hatten sie die Antwort. Um 9.55 Uhr abends war von einer Frau unter dem Namen Virginia Colfax ein Gespräch nach Los Angeles angemeldet worden. Der verlangte Teilnehmer war Frank C. Livesey gewesen. Paul Drake studierte das Blatt Papier mit den Angaben und pfiff leise vor sich hin. »Okay, Paul«, sagte Mason verbissen, »jetzt dämmert’s mir allmählich. Ich glaube, ich weiß, wer sich mein Auto gepumpt hat.«
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20 Garvin wurde vom Vizesheriff, in dessen Gewahrsam er sich befand, in den vollen Gerichtssaal geführt und flüsterte Mason wütend zu: »Was hat das zu bedeuten, daß Sie meiner Frau was anhängen wollen?« »Ruhe!« flüsterte Mason energisch zurück. »Das lasse ich mir nicht bieten«, sagte Garvin. »Ich werde beim Richter beantragen, mir einen anderen Anwalt zu bewilligen. Verdammt, Mason, Sie können nicht... « Richter Minden erschien, forderte durch Klopfen zur Ruhe auf und ließ den Blick durch den überfüllten Saal schweifen. Jeder Stuhl, jeder Zoll an verfügbarem Stehplatz war besetzt. »Der Staat Kalifornien gegen Edward C. Garvin«, verkündete er. »Können wir beginnen, meine Herren? Der Angeklagte und alle Geschworenen sind anwesend?« Mason und Covington bestätigten es. Richter Minden blickte zu Covington hin, der sich erhob. Aber noch ehe er das Wort ergreifen konnte, kam Mason ihm zuvor und sagte: »Wenn das Gericht erlaubt, möchte ich eine oder zwei Fragen an Frank C. Livesey richten. Darf ich ihn noch einmal aufrufen, um mein Kreuzverhör zu ergänzen?« »Worüber wollen Sie ihn denn vernehmen?« fragte Covington spöttisch. »Es handelte sich bei ihm um ein reines Routineverhör im Zusammenhang mit dem Revolver.« Mason lächelte freundlich. »Dann besteht seitens des Anklägers gewiß kein Einwand gegen seine nochmalige Vernehmung.« »Durchaus nicht«, bestätigte Covington. »Mr. Livesey, kommen Sie zum weiteren Kreuzverhör in den Zeugenstand«, sagte Richter Minden. Livesey erhob sich hinten im Saal und kam lächelnd nach vorn. -2 2 0 -
Mason wartete, bis er sich gesetzt hatte, und fragte unvermittelt: »Kennen Sie Virginia Bynum, Mr. Livesey?« Livesey runzelte die Stirn. »Ich sagte Ihnen bereits, Mr. Mason, ich kenne so viele Leute, daß ich...« »Ja oder nein?« fragte Mason. »Kennen Sie sie oder nicht?« Livesey sah Mason in die Augen und rückte unbehaglich auf seinem Stuhl. »Ja, ich kenne sie«, gab er dann zu. »Dann beantworten Sie jetzt folgende Frage mit Ja oder Nein. Führten Sie am Abend des 21. September kurz vor zehn Uhr ein Telefongespräch mit Virginia Bynum oder nicht?« Covington erhob sich plötzlich und schien bestürzt; sein Instinkt sagte ihm, daß sich eine dramatische Entwicklung anbahnte, eine Wendung, die für seine Seite nichts Gutes ahnen ließ. »Dies ist kein übliches Kreuzverhör, Euer Gnaden«, machte er geltend. »Hier wird abgeschweift. Es werden Dinge angeschnitten, die ich im direkten Verhör nicht berührt habe.« »Ich will beweisen, daß der Zeuge nicht unbefangen ist«, sagte Mason. »Nun, diese Erhebung scheint allerdings abseits des Beweisthemas zu liegen«, entschied Richter Minden zögernd, »man sollte aber dem Verteidiger in einem Fall dieser Art weitesten Spielraum zugestehen, wenn persönliche Interessen oder Voreingenommenheit aufzudecken sind. Ich will den Einspruch zurückweisen und die Frage zulassen, warne den Verteidiger aber vor irgendwelchen Winkelzügen, die ich nicht erlauben werde.« »Ich habe keine vor«, versicherte Mason. »Gut, dann beantworten Sie die Frage, Mr. Livesey.« Livesey wand sich im Zeugenstuhl, blickte hilfesuchend zu Covington hin, fuhr sich mit der Hand über seinen Kahlkopf. »Ja oder nein«, wiederholte Mason scharf. »Führten Sie so ein Gespräch oder nicht?« -2 2 1 -
Livesey räusperte sich, setzte zum Sprechen an und schwieg dann doch. »Ja oder nein?« donnerte Mason. »Ja«, gab Livesey zögernd zu. »Jawohl«, sagte Mason, »und zur Zeit dieses Gesprächs war Virginia Bynum in Tijuana, stimmt’s?« »Ich erhebe Einspruch, Euer Gnaden«, unterbrach Covington. »Hier wird offensichtlich eine Folgerung vom Zeugen erwartet. Er konnte nicht wissen, von wo der Teilnehmer sprach. Er konnte nur wissen, was insofern gesagt wurde, und damit würde er sich auf Hörensagen berufen.« »Stattgegeben«, entschied Richter Minden, der sich jetzt über die Tischkante vorbeugte und Livesey nachdenklich betrachtete. »Stimmt es«, fuhr Mason fort, »daß Sie Virginia Bynum am Telefon die Anweisung gaben, sie sollte meinen Wagen nehmen, der beim Hotel Vista de la Mesa stand, und damit nach Oceanside fahren?« »Diese Frage geht weit über den Streitpunkt hinaus, Euer Gnaden«, schaltete Covington sich ein. »Falls Mr. Mason Mr. Livesey zu seinem eigenen Zeugen machen will, ist das etwas anderes. Ich habe Mr. Livesey aber nur im Zusammenhang mit einer Routinesache vernommen und...« »Wie dem auch sei, hier könnte sich seine Voreingenommenheit zeigen, sein persönliches Interesse am Ausgang des Prozesses«, entgegnete Richter Minden. »Ich darf sagen, daß ich an der Antwort auf diese Frage sehr interessiert bin. Antworten Sie bitte, Mr. Livesey.« Liveseys Hand strich jetzt in gleichbleibendem Rhythmus über den kahlen Kopf. »Ja oder nein?« fragte Mason. »Gaben Sie ihr im wesentlichen diese Instruktionen?« Livesey saß stumm auf dem Zeugenstuhl. Im Gerichtssaal -2 2 2 -
herrschte gespanntes, unheilvolles Schweigen. »Taten Sie es oder nicht?« wiederholte Mason. Livesey wandte sich plötzlich zum Richter und sagte: »Ich verweigere die Antwort auf diese Frage, da sie mich belasten würde.« Richter Minden brauchte länger als eine volle Minute, um das Publikum zum Schweigen zu bringen. Als wieder Ruhe im Gerichtssaal herrschte, verkündete er: »Das Gericht wird sich fünfzehn Minuten zurückziehen. Nach dieser Unterbrechung werden nur so viele Zuhörer zugelassen, wie Stühle vorhanden sind. Und beim ersten Anzeichen von Störungen lasse ich den Saal räumen. Die Geschworenen mögen sich an die richterliche Belehrung halten. Die Sitzung wird jetzt für fünfzehn Minuten unterbrochen.« Mason wandte sich feixend zu Paul Drake um. »Allmählich bessern sich die Aussichten, Paul.« »Wird auch Zeit«, meinte Drake.
21 Als das Gericht wieder zusammentrat, erweiterte Livesey im Zeugenstand seine vorhergehende Erklärung, indem er von einem Blatt Papier ablas: »Ich erkläre, daß ich jetzt rechtlich beraten wurde. Man empfahl mir, keine Fragen nach meinen Beziehungen zu Virginia Bynum zu beantworten. Ich verweigere jede weitere Aussage, um mich nicht zu belasten.« Covington sprang auf und protestierte heftig: »Euer Gnaden, hier finden sich alle Anzeichen einer schamlosen Intrige. Indem man einen Mann die Aussage verweigern läßt, versucht man, ihn vor der Jury als mitschuldig an der Ermordung Ethel Garvins hinzustellen. Ich behaupte, hier handelt es sich um einen billigen Trick.« »Behauptet haben Sie’s«, rief Mason. »Jetzt bringen Sie auch -2 2 3 -
die Beweise.« »Ich kann es nicht beweisen, das wissen Sie. Ich bin mit der Sache überrumpelt worden.« Richter Minden klopfte mit dem Hammer. »Bitte keine weiteren Anzüglichkeiten, meine Herren. Das Gericht steht vor einer höchst eigenartigen Situation.« »Sehr eigenartig allerdings«, sagte Covington wütend. »Zu eigenartig. Ich persönlich habe zufällig Grund zu der Annahme, daß es hier um bloße Täuschung geht. Virginia Bynum stand nämlich zur fraglichen Zeit auf der Feuerleiter und beobachtete die Büroräume der Garvin Mining, Exploration and Development Company, während der Verteidiger zumindest andeutungsweise unterstellt, sie sei in Tijuana gewesen. Er macht diese Angaben vor den Geschworenen und kleidet sie in die Form hochbedeutsamer und suggestiver Fragen. Er treibt einen wirklich hilfsbereiten Zeugen zur Verweigerung der Aussage wegen möglicher Selbstbezichtigung und hat auf die Art ein hübsches Ablenkungsmanöver vollzogen. Die Geschworenen werden geneigt sein, der Erklärung dieses Zeugen übertriebene Bedeutung beizumessen. Ich behaupte aber, es handelt sich um abgekartetes Spiel. Bedenken Sie, daß der Mann seine Pflicht als Zeuge im Interesse des Angeklagten erfüllt. Wenn sich der ganze Wirbel gelegt hat, wird sich wahrscheinlich herausstellen, daß die Sache sorgfältig einstudiert war; daß Mr. Liveseys ganzes Vergehen sich vielleicht auf überhöhtes Tempo beim Autofahren bezog; oder in einer relativ unerheblichen Tat bestand, die rein technisch ein Vergehen sein mag, zu dem hier verhandelten Fall aber in keiner Beziehung steht. Dieser billige Trick entspricht haargenau dem...« »Moment mal«, fiel Mason ihm ins Wort, »setzen Sie Ihre Anschuldigungen fort, und ich ziehe Sie zur Verantwortung. Sie...« -2 2 4 -
»Meine Herren«, unterbrach Richter Minden, »bitte keine weiteren persönlichen Anwürfe! Und keine weiteren Spekulationen über den Grund der Erklärung dieses Zeugen. Mr. Livesey, verstehe ich richtig, daß Sie sich weigern, noch irgendwelche Fragen über Ihre Beziehungen zu Virginia Bynum zu beantworten?« »Ja, Sir.« »Und hinsichtlich der Ereignisse am 21. September abends sowie am 22. September morgens? Werden Sie hierzu noch Fragen beantworten?« »Ich lehne es ab, Fragen nach diesen Ereignissen zu beantworten, weil ich mich dadurch selbst belasten könnte.« »Ich wünsche vier Tage Unterbrechung«, beantragte Covington mit wutrotem Gesicht. »Ich werde den Geschworenenausschuß einberufen lassen und den Dingen auf den Grund gehen. Wir...« »Inzwischen«, unterbrach Mason ihn, »würde ich gern George L. Denby noch einmal aufrufen und ihm eine oder zwei kurze Fragen stellen. Danach werde ich keinen Einspruch erheben, wenn das Gericht dem Antrag des Staatsanwalts auf Vertagung zustimmt.« »In Ordnung. Kommen Sie zum Stand, Mr. Denby«, sagte Richter Minden. Denby schritt gelassen nach vom, ernst, würdevoll und fähig wirkend. Er nahm seinen Platz im Zeugenstand ein, legte die Fingerspitzen gegeneinander und blickte Mason fragend an. »Mr. Denby«, sagte Mason, »ich möchte die Zeitfrage hier klarstellen. Sie haben ausgesagt, daß Sie vom Abend des 21. bis zum Morgen des 22. September im Büro der Garvin Mining, Exploration and Development Company arbeiteten.« »Ja, Sir.« »Sind Sie mit Virginia Bynum bekannt?« -2 2 5 -
»Nein, Sir. Das heißt, nicht in dem Sinne, wie Sie es wahrscheinlich meinen. Ich sah sie einmal im Büro der Firma, als sie sich nach einer Aktie erkundigte. Und das ist wohl alles, glaube ich.« »Sie wissen, daß der Revolver, der auf der Feuerleiter gefunden wurde, die Waffe ist, die hier als Beweismittel vorgelegt wurde?« »Ja, Sir.« »Und wie können Sie wissen, daß es dieselbe Waffe war?« »Durch die Nummer, Sir.« »Wie lautet die Nummer?« »S 64805.« »Sie haben sie behalten?« »Ja, Sir. Ich behielt die Nummer im Kopf.« »Warum?« »Weil ich glaubte, sie könnte wichtig sein.« »Sie hatten sich keine Notizen gemacht?« »Nein.« »Sollen die Geschworenen Ihnen glauben, Sie könnten eine derartige Zahl behalten, die Sie so flüchtig sahen wie die Nummer auf diesem Revolver?« »Ja, Sir. Ich habe ein fotografisches Gedächtnis für Zahlen. Ich vergesse sehr selten eine Zahl, die ich einmal vor mir gesehen habe.« Mason näherte sich dem Zeugen, zog seine Brieftasche hervor und entnahm ihr eine Karte. »Was ist das, Mr. Denby?« »Es scheint ein Führerschein zu sein, ausgestellt auf Mr. Perry Mason, Rechtsanwalt.« »Haben Sie ihn schon einmal gesehen?« »Diesen Führerschein?« fragte Denby verblüfft. -2 2 6 -
»Ja.« Denby schüttelte den Kopf »Nein, den habe ich noch nie vorher gesehen.« Mason trat vor, nahm Denby den Ausweis aus der Hand, ging zum Anwaltstisch zurück, blieb plötzlich stehen und fragte: »Nun, wenn Sie so tüchtig im Behalten von Zahlen sind und ein so genaues fotografisches Gedächtnis haben - wie lautet die Nummer dieses Führerscheins?« In Denbys kalten Augen lag ein geringschätziges Lächeln. »Die Nummer des Führerscheins, Mr. Mason«, sagte er, »lautet 490553.« Mason warf einen Blick auf den Führerschein, »Stimmt es?« fragte Denby. »Es stimmt«, bestätigte Mason. Beifälliges Staunen ging durch die Menge der Zuhörer. »Und wie kommt es«, fuhr Mason plötzlich herum, den Finger auf Denby gerichtet, »wenn Sie ein fotografisches Gedächtnis für Zahlen haben, daß Sie sich bei meiner ersten Frage nicht erinnerten, wer der Inhaber des Aktienzertifikats Nr. 123 war?« »Ich kann nicht die Nummern sämtlicher Aktienscheine unserer Gesellschaft im Kopf haben.« »Ich verstehe«, sagte Mason. »Das war alles.« »Wir unterbrechen die Verhandlung jetzt bis Montag morgen um zehn Uhr«, verkündete Richter Minden. »Die Geschworenen werden noch einmal an die Vorschriften erinnert.«
22 Mason saß mit Della Street und Paul Drake in seine m Apartment im U.S. Grand Hotel Ihm gegenüber am Tisch versuchte Virginia Bynum mit -2 2 7 -
verweinten Augen, seinem Blick standzuhalten, was ihr nicht gelang. »Virginia«, sagte Mason, »Sie sitzen scheußlich in der Tinte. Ob Sie mit heiler Haut davonkommen, hängt völlig davon ab, ob Sie die Wahrheit sagen. Wir wissen jetzt, daß Sie logen, als Sie behaupteten, in der Mordnacht auf der Feuerleiter gestanden zu haben. Sie können wegen Meineids bestraft werden. Wir wissen, daß Sie in Tijuana meinen Wagen nahmen und damit zum Schauplatz des Verbrechens fuhren. So wie die Dinge jetzt liegen, können Sie wegen Mordverdachts verhaftet werden. Sie würden vor Gericht gestellt und wahrscheinlich verurteilt werden. Und doch glaube ich nicht, daß Sie diesen Mord begangen haben. Also erzählen Sie uns jetzt die Wahrheit.« Virginia zögerte, blickte von Masons ruhigen Augen zu Paul Drakes kaltem, anklagendem Gesicht, suchte Mitleid bei Della Street. Della ging zu ihr hinüber und legte ihr die Hand auf die Schulter. »Warum sagen Sie nicht die Wahrheit, Virginia?« fragte sie. »Sie wissen, daß Mr. Mason Ihnen eine Chance geben wird, wenn er kann.« Virginia Bynum ließ plötzlich den Kopf sinken. »Gut, ich werde alles sagen. Ich sehe keinen Grund, Leute zu schützen, die mich nicht decken. Es fing alles an, als ich auf Frank Livesey hereinfiel. Ich war Hostess und auf ihn angewiesen. Er verkaufte Montanaktien und gab eine Party nach der anderen. Ich kenne ihr System nicht im einzelnen, soweit ich aber feststellen konnte, haben Livesey und Denb y die Firma kräftig ausgenommen. Immer wenn eine Bücherrevision in Sicht war, manipulierte Denby mit Papieren und nahm gewisse Stücke aus den Akten. Alles lief bestens, bis sie plötzlich merkten, daß jemand sich heimlich an den Akten der Firma zu schaffen machte. Beide hatten keine Ahnung, wer das sein konnte. Sie stellten ein paar Fallen und erkannten, daß diese Person immer nachts ins Büro eindrang. Deshalb wurde ich abgestellt, im Büro -2 2 8 -
aufzupassen, wer es war. Ich ließ das Fenster zur Feuerleiter offen. Sie sagten mir, sobald jemand die Tür aufschließen würde, sollte ich durchs Fenster auf die Leiter steigen und von da aus beobachten, wer hereinkam und was geschah. Ich sollte die Feuerleiter weit genug hinuntersteigen, so daß ich nicht gesehen würde. Frank Livesey gefiel mir. Er gab eine Menge Partys, und ich - na, ich konnte mich ganz gut durchlavieren. Ich tat nichts, was mir nicht zusagte, aber diese Kunden brachten mir allerlei Geld ein. Sie wissen ja, wie’s weiterging. Mrs. Ethel Garvin benutzte einen Schlüssel zum Büro, den sie noch aus ihrer Sekretärinnenzeit besaß. Ich rannte die Feuerleiter abwärts. Sie schnappten mich. Ich konnte im Taxi flüchten, kam aber zurück und ließ das Taxi warten. Als ich Ethel Garvin das Bürohaus verlassen sah, schickte ich ihr das Taxi hinterher. Ich hatte sie erkannt, sowie sie das Büro betrat, weil ich sie früher schon gesehen hatte, als sie noch mit Mr. Garvin verheiratet war.« »Und das alles berichteten Sie Livesey?« fragte Mason. »Ja.« »Was geschah dann?« »Livesey und Denby bestachen den Telefonisten in den Monolith Apartments, alle Telefonate auf Ethel Garvins Apparat abzuhören und ihnen zu melden. Dabei bekamen sie dann heraus, was Ethel vorhatte. Sie verschickte Stimmzettel und wollte auf der Hauptversammlung die Stimmenmehrheit gewinnen. Inzwischen waren die beiden auch ziemlich sicher, daß Ethel den Schwund an Kapital bei der Gesellschaft entdeckt hatte. Edward Garvin war mit seiner neuen Frau weggefahren, und niemand wußte, wohin. Livesey hatte aber die Idee, daß Sie Garvin irgendwie auftreiben und ihm raten würden, über die Grenze nach Mexiko zu gehen. Daher postierte er mich in Mexiko an der Grenze, um ihm Bescheid zu geben, wenn Garvin nach Tijuana fuhr. Sie wissen, was dann passierte. Garvin passierte die Grenze. Sie folgten ihm in Ihrem Wagen. -2 2 9 -
Ich nahm ein Taxi und fuhr hinter Ihnen zum Hotel. Garvin kannte mich nicht, aber Sie kannten mich, also mußte ich außer Sicht bleiben. Nachdem ich glaubte, Sie wären schlafen gegangen, nahm ich mir ein Zimmer. So konnte ich alles beobachten und brauchte nicht damit zu rechnen, Ärger mit einem Nachtwächter zu kriegen. Es war das letzte freie Zimmer. Sobald die Lampen ausgeschaltet waren, rief ich Frank Livesey an. Ich hatte ein Vorderzimmer, und Frank befahl mir, nicht zu Bett zu gehen, sondern mich ans Fenster zu setzen und aufzupassen, ob sich einer von Ihnen nachts heimlich wegschleichen würde. Er sagte, Sie wären gefährlich und könnten irgendein Ding drehen. Ich war erst wenige Minuten am Fenster, da kam Mr. Garvin heraus, sprang in seinen Wagen und fuhr weg. Ich mußte auf der Stelle etwas tun. Ich wußte, daß die Wagenschlüssel alle mit Namenschildern in der Schublade beim Empfang lagen, und kannte Ihren Wagen. Ich wußte, daß es ein schnelles Fahrzeug war und das Richtige für mich. Ich rannte zum Büro, fand in der Schublade die Schlüssel mit Ihrem Namen, setzte mich in Ihren Wagen und folgte Mr. Garvin. Er fuhr nach Oceanside. Unterwegs hielt er verschiedentlich an und tankte auch. Als er aus der Tankstelle herausfuhr, folgte ich ihm weiter auf der Straße, die nach Fallbrook führt. Er fuhr dicht an das Grundstück, das Mr. Hackley gehört, wie ich später erfuhr. Er parkte an der Hauptstraße, schaltete den Motor ab und stieg aus. Er ging quer über das Feld. Ich dachte, das wäre meine beste Chance, um mit Livesey zu telefonieren, und wollte schon nach Oceanside zurückkehren. Da sah ich einen Wagen einbiegen und zu Hackleys Grundstück fahren. Es war Ethel Garvin. Kurz dahinter folgte ein zweiter - Mr. Denby in seinem eigenen Wagen. Mr. Mason, ich hatte keine Ahnung, was Denby vorhatte. Er hörte sich an, was ich ihm berichtete. Dann sagte er, er müsse sich Ihren Wagen für eine Weile ausleihen. Ich sollte dafür seinen nehmen und feststellen, was in dem Haus vorn am Ende der Fahrstraße vorging. Der Pförtner in den Monolith -2 3 0 -
Apartments hätte ihm von Garvins Anruf bei Ethel berichtet. Ich schlich mich nahe an Hackleys Haus heran. Ein Licht ging an, und ich erkannte Ethel Garvin mit einem großen Mann. Er sprach mit ihr, pumpte Benzin in ihren Wagen, und dann gingen sie ins Haus. Ich arbeitete mich weiter vor. Höllenängste stand ich aus, als vorn plötzlich eine dunkle Gestalt auftauchte. Und dann erkannte ich Mr. Garvin. Er schlich ebenfalls auf das Haus zu und wollte wohl spionieren. Ein Hund fing aber an zu bellen, und Mr. Garvin mußte ein Stück zurück, bis der Hund still war. Nach einer Weile kam Mrs. Ethel Garvin heraus, stieg in ihr Auto und fuhr weg. Mr. Garvin wollte ihr folgen, war aber so dicht beim Haus, daß er dreihundert bis vierhundert Meter quer über das Feld bis zur Landstraße laufen mußte, und inzwischen war Mrs. Garvin weg. Ich stieg wieder in Denbys Wagen und war ganz schön aufgeregt, ehrlich gesagt, nachdem ich da draußen im Dunkeln bei Hackleys Haus herumspioniert hatte. Dauernd hatte ich Angst gehabt, jemand würde sich auf mich stürzen, und auch der Hund hatte mir einen Schrecken eingejagt. Einmal mußte ich durch ein Gebüsch laufen und verlor mein Kopftuch dabei. Meine Strümpfe habe ich mir auch zerrissen und - na, ich muß wohl wie eine Schlampe ausgesehen haben. Ich fuhr also in Mr. Denbys Wagen nach Oceanside zurück. Von Mr. Garvin war noch nichts zu sehen, und ich überlegte, was ich tun sollte. Da tauchte plötzlich Denby in Ihrem Wagen auf. Er schien mir sehr nervös und aufgeregt. ›Hier, schnell!‹ sagte er. ›Steigen Sie in Mr. Masons Wagen. Sie müssen noch vor Garvin wieder in Tijuana sein. Fahren Sie so schnell Sie irgend können. In Tijuana stellen Sie den Wagen sofort an seinen Platz. Als erstes morgen früh melden Sie sich in Ihrem Hotel ab und ziehen aus. Sie nehmen ein Flugzeug nach Los Angeles, gehen in Ihre Wohnung und bleiben dort. Falls jemand Sie fragt, wo Sie waren, sagen Sie, Sie hätten auf der Feuertreppe gesessen und das Büro beobachtet und ich hätte die ganze Nacht gearbeitet. Erwähnen Sie dabei auf jeden Fall, ich hätte mehrere -2 3 1 -
Diktaphonplatten besprochen. Mehr brauchen Sie nicht zu wissen.‹ Und mehr wußte ich wirklich nicht«, fuhr Virginia Bynum fort. »Ich setzte mich sofort in Ihren Wagen und tat genau, was er mir gesagt hatte.« Mason blickte Della Street an. »Haben Sie das alles, Della?« Della sah von ihrem Stenogrammblock auf und nickte. »Ich schätze, das reicht«, sagte Mason grinsend zu Paul Drake. »Du siehst, was geschah, Paul. Weil Garvin Ethel sagte, er wolle sich bei dem Grundstück mit ihr treffen, das ihnen einmal gehört hatte, wußte Denby genau, wohin er fahren mußte. Er kannte die Lage des Grundstücks, fuhr mit meinem Wagen dorthin und parkte ihn an der Landstraße. Dann ging er wahrscheinlich vierzig bis fünfzig Meter zu Fuß zurück und wartete. Als Ethel da einen Wagen stehen sah, nahm sie natürlich an, es wäre der ihres Mannes. Sie bremste ab. Denby trat aus dem Schatten, mit Virginia Bynums Revolver in der Hand. Er erschoß Ethel und schob ihren Körper nach rechts hinüber. Dann fuhr er ihren Wagen genau neben meinen, stieg in meinen Wagen um und zog Ethels Leiche wieder hinter das Steuer. Den Revolver ließ er zu Boden fallen und fuhr mit meinem Wagen nach Oceanside zurück. Dort tauschte er die Fahrzeuge mit Virginia Bynum und brauste zurück nach Los Angeles. Sein Alibi hatte er seit langem vorbereitet. Einer Diktaphonplatte sieht man nicht an, wann sie besprochen wurde. Er hatte vorsorglich eine Anzahl Platten mit Diktaten gesammelt, die Einzelheiten der Geschäftsabwicklung behandelten und in der Nacht vor der Hauptverhandlung diktiert sein konnten. Jetzt brauchte er nur noch frühzeitig genug im Büro zu sein, um seiner Sekretärin diese Platten auf den Tisch zu legen. Natürlich mußte sie fest überzeugt sein, daß er die ganze Nacht gearbeitet hatte.« Mason wandte sich an Della Street. »Rufen Sie bitte den Geschäftsführer der Anwaltskammer an, Della. Verbinden Sie mich mit ihm.« -2 3 2 -
Als Della die Verbindung hergestellt hatte, sagte er feixend: »Hier spricht Perry Mason. Ich soll heute abend vor Ihrem Beschwerdeausschuß erscheinen und erklären, wieso ich Mortimer C. Irving überredete, meinen Wagen als denjenigen zu identifizieren, den er in der Mordnacht bei Oceanside an der Straße parken sah. Ich möchte Sie höflichst davon in Kenntnis setzen, daß es tatsächlich mein Auto war, das Irving dort parken sah. Und sollten Sie mir irgendeine Bestimmung nennen können, nach der es unmoralisch oder ungesetzlich ist, einen Zeugen zur Wahrheit anzuhalten, so dürfen Sie mir gern meine Zulassung entziehen.« Mit einem Augenzwinkern zu Della hin legte Perry Mason den Hörer auf.
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