Bardo Herzig · Dorothee M. Meister · Heinz Moser Horst Niesyto (Hrsg.) Jahrbuch Medienpädagogik 8
Bardo Herzig Dorothee M. Meister Heinz Moser Horst Niesyto (Hrsg.)
Jahrbuch Medienpädagogik 8 Medienkompetenz und Web 2.0
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. 1. Auflage 2010 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2010 Lektorat: Monika Mülhausen VS Verlag für Sozialwissenschaften ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung: Rosch-Buch, Scheßlitz Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-531-16944-6
Inhalt
Bardo Herzig, Dorothee M. Meister, Heinz Moser, Horst Niesyto Medienkompetenz, Web 2.0 und mobiles Lernen – Editorial .............................9 Teil I Theoretisch-konzeptionelle und empirische Zugänge zur Medienkompetenz Winfried Marotzki, Benjamin Jörissen Dimensionen strukturaler Medienbildung ..........................................................19 Tilmann Sutter Medienkompetenz und Selbstsozialisation im Kontext Web 2.0 .......................41 Heinz Moser Die Medienkompetenz und die ‘neue’ erziehungswissenschaftliche Kompetenzdiskussion ...........................................................59 Gerhard Tulodziecki Standards für die Medienbildung als eine Grundlage für die emprirische Erfassung von Medienkompetenz-Niveaus ....................................81 Bardo Herzig, Silke Grafe Entwicklung von Bildungsstandards für die Medienbildung – Grundlagen und Beispiele ................................................................................103 Reinhard Keil E-Learning 2.0 vom Kopf auf die Füße gestellt ...............................................121
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Inhalt
Heike Schaumburg, Sebastian Hacke Medienkompetenz und ihre Messung aus Sicht der empirischen Bildungsfotschung .......................................................................147 Klaus Peter Treumann, Markus Arens, Sonja Ganguin Die empirische Erfassung von Medienkompetenz mit Hilfe einer triangulativen Kombination qualitativer und quantitativer Forschungsmethoden...................................................................163 Teil II Web 2.0 und Medienkompetenz Dorothee M. Meister, Bianca Meise Emergenz neuer Lernkulturen – Bildungsaneignungsperspektiven im Web 2.0 ............................................................................................................183 Franz Josef Röll Web 2.0 als pädagogische Herausforderung ....................................................201 Theo Hug Mikrolernen – konzeptionelle Überlegungen und Anwendungsbeispiele ........221 Michael Klebl, Timo Borst Risikokompetenz als Teil der Medienkompetenz – Wissensformen im Web 2.0 .......................................................................................................239 Jan Schmidt, Claudia Lampert, Christiane Schwinge Nutzungspraktiken im Social Web – Impulse für die medienpädagogische Diskussion......................................................................255 Teil III Medienkompetenz und Web 2.0 in Bildungsinstitutionen Ingrid Paus-Hasebrink, Tanja Jadin, Christine W. Wijnen, Anja Wiesner Wikis und Weblogs in der Schule – Erfahrungen mit einem österreichischen Prilotprojekt...........................................................................273 Frederik G. Pferdt, H.-Hugo Kremer Berufliches Lernen mit Web 2.0 – Medienkompetenz und berufliche Handlungskompetenz im Duell? .....................................................289
Inhalt
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Kerstin Mayrberger Web 2.0 in der Hochschule – Überlegungen zu einer (akademischen) Medienbildung für E-Learning 2.0.........................................309 Silke Weiß, Hans Joachim Bader Wodurch erwerben Lehrkräfte Medienkompetenz? Auf der Suche nach geeigneten Fortbildungsmodellen .................................................329 Aiga von Hippel Vermittlung von Medienkompetenz in der Erwachsenenbildung – eine Analyse der Angebots- und Nachfrageseite ..............................................347 Autoren, Autorinnen, Herausgeber/in ..............................................................365
Teil I Theoretisch-konzeptionelle und empirische Zugänge zur Medienkompetenz
Bardo Herzig, Dorothee M. Meister, Heinz Moser, Horst Niesyto
Medienkompetenz im Zeitalter des Web 2.0 – Editorial
Nachdem die Debatte um Medienkompetenz in den neunziger Jahren eine gewisse Konjunktur erfuhr, trat sie in den vergangenen Jahren zugunsten z.B. der E-Learning-Diskussion in den Hintergrund. In jüngster Zeit wird sie allerdings durch zwei Entwicklungen wieder angestoßen. Zum einen avanciert der Kompetenzbegriff im Kontext von Bildungsstandards zu einem Schlüsselbegriff, zum anderen drängt sich mit den Entwicklungen im Zusammenhang des so genannten Web 2.0 und des mobilen Lernens die Frage auf, ob die bisherige Bestimmung von Medienkompetenz noch trägt. Die theoretische und konzeptionelle Auseinandersetzung mit dem Kompetenzbegriff hat in der Medienpädagogik eine lange Tradition. Weit weniger ausgeprägt ist der Diskussionsstand im Hinblick auf die Formulierung von Standards in der Medienbildung und die empirische Erfassung von Medienkompetenz. Erste Ansätze einer möglichen Operationalisierung werden diskutiert, Kompetenzmessungen im engeren Sinne stehen aber noch aus. Es ist nahe liegend anzunehmen, dass die mit social software verbundenen Techniken und Anwendungen sowohl bei der Gestaltung als auch bei der Nutzung spezifische Kompetenzen erfordern. Was auf der einen Seite Möglichkeiten im Bereich des selbstorganisierten und selbstgesteuerten Lernens und der sozialen Konstruktion von Wissen ermöglicht, lässt auf der anderen Seite aber auch die Frage nach der „Kontrolle“ solcher Prozesse und ihrer Produkte, etwa der Validität von Wissen, aufkommen. Und nicht zuletzt stellt sich die Frage, ob und in welcher Form solche Phänomene Eingang in Bildungskontexte (Schule, Hochschule, Weiterbildung) finden oder finden sollten. Der vorliegende Band thematisiert die angesprochenen Fragen in drei Bereichen. Im ersten Teil des Bandes haben wir Beiträge mit theoretisch-konzeptionelle und empirischen Zugängen zur Medienkompetenz versammelt. In ihrem Beitrag „Dimensionen strukturaler Medienbildung“ stellen Winfried Marotzki und Benjamin Jörissen ein Modell von Medienbildung vor, das – in Anlehnung an Kant – vier grundlegende Orientierungsdimensionen als leitende Heuristik für die Analyse von Medienbildungspotenzialen vorsieht: den
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Wissensbezug als Rahmung und kritische Reflexion auf Bedingungen und Grenzen des Wissens, den Handlungsbezug als Frage nach ethischen und moralischen Grundsätzen eigenen Handelns, den Transzendenz- und Grenzbezug als Verhältnis zu dem rational nicht mehr Erfassbaren und den Biographiebezug als Reflexion auf das Subjekt und die Frage nach der eigenen Identität. Dabei rekurrieren die Autoren auf eine strukturale Bildungstheorie, in der Bildungsprozesse als eine Form komplexer, selbstreflexiver Lern- und Orientierungsprozesse verstanden werden. Besondere Bedeutung für den Aufbau von Orientierungswissen wird so genannten medialen Artikulationen beigemessen. Diese beinhalten sowohl individuelle Artikulationsprozesse als auch mediale Inszenierungen, zunehmend in medialen sozialen Arenen. Aus der Perspektive der Medienbildung gehe es, so die Argumentation, vor allem darum, die reflexiven Potenziale von medialen Räumen und medialen Artikulationsformen zu erkennen und in ihrem Bildungswert einzuschätzen. Exemplarisch wird dies für den Film und das Internet durchgeführt. Die Frage nach dem Erwerb von Medienkompetenz unter den Bedingungen des Web 2.0 steht im Zentrum des Beitrags „Medienkompetenz und Selbstsozialisation im Kontext von Web 2.0“ von Tilmann Sutter. Nach einer Diskussion des Kompetenzbegriffs analysiert der Verfasser die Interaktivität des Web 2.0, d.h. die gesteigerten Rückkopplungs-, Eingriffs- und Gestaltungsmöglichkeiten und plädiert aus sozialwissenschaftlicher Sicht für eine Trennung von medialen Formen und den durch sie eröffneten Möglichkeiten und den Fragen der konkreten Umgangsweisen mit diesen Möglichkeiten. Die Frage des Erwerbs von Medienkompetenz müsse, so Sutter, unter dem Einfluss der Form der (neuen) Medien, im Hinblick auf die subjektiven Wahrnehmungs- und Nutzungsmuster sowie die sozialen Kontexte der Mediennutzung, insbesondere der Internetkommunikation, betrachtet werden. Abschließend wird die These entfaltet und begründet, dass der Erwerb von Medienkompetenz immer stärker ein Prozess des selbstgesteuerten Umgangs mit Medien werde, der die Medienpädagogik vor die Herausforderung stelle, das Verhältnis von Fremd- und Selbstsozialisation neu auszutarieren. In seinem Beitrag „Die Medienkompetenz und die ‘neue‘ erziehungswissenschaftliche Kompetenzdiskussion“ analysiert Heinz Moser die Diskussion um Kompetenzen zunächst aus der Perspektive schulischer Bildung und aus der Perspektive der Berufs- und Erwachsenenbildung. Dabei konstatiert er eine kognitionstheoretische Auffassung im Sinne von domänenspezifischen Dispositionen und eine handlungstheoretische Interpretation, in die neben dem Fachbezug auch die Persönlichkeit und die soziale Gruppe einfließen. Dazu setzt Moser den medienpädagogischen Kompetenzbegriff in Beziehung und motiviert sein Züricher Modell, in dem die medienpädagogische Domäne durch drei Hand-
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lungsfelder strukturiert wird, die jeweils in Sach-, Methoden- und Sozialkompetenzen ausdifferenziert werden. Vor dem Hintergrund eines insgesamt eher verhaltenen Einsatzes von Medien im Unterricht kommt medienbezogenen Bildungsstandards nach Moser insbesondere eine Orientierungsfunktion zu. Im Hinblick auf die Umsetzung plädiert der Autor für eine Ermöglichungsdidaktik, die Lernprozesse anzuregen helfe. Zudem gehe es darum, die im außerschulischen Bereich erworbenen medienbezogenen Kompetenzen stärker in schulische Lernprozesse einzubeziehen. Gerhard Tulodziecki setzt sich in seinem Beitrag „Standards für die Medienbildung als eine Grundlage für die empirische Erfassung von Medienkompetenz“ mit dem Entwicklungsprozess von Bildungsstandards im Medienbereich auseinander. Nach dem Aufweis des Spannungsfelds, in dem die Formulierung von Bildungsstandards steht, und einer Reflexion über den Medienkompetenzbegriff werden in differenzierter Weise Schritte zur Entwicklung eines Kompetenzmodells entfaltet. Relevante Aspekte sind dabei die Gliederung in Kompetenzbereiche oder Kompetenzaspekte, ihre Differenzierung in Niveaus, die Anzahl solcher Niveaus sowie der Abstraktionsgrad der Formulierung von Standards. Auf der Basis von fünf Aufgabenbereichen als übergeordnete Kompetenzbereiche werden die Struktur eines Kompetenzmodells vorgestellt und an einem Kompetenzbereich exemplarisch Standards auf verschiedenen Niveaus formuliert. Abschließend diskutiert Tulodziecki, welche grundsätzlichen Anforderungen Aufgaben zur Überprüfung der Standards genügen sollten. Bardo Herzig und Silke Grafe spezifizieren in ihrem Beitrag „Entwicklung von Bildungsstandards für die Medienbildung – Grundlagen und Beispiele“ zunächst den Kompetenz- und Standardbegriff und bestimmen auf der Basis derzeit diskutierter Medienkompetenzmodelle zentrale Merkmale von Medienkompetenz. In Anlehnung an die Arbeiten von Tulodziecki werden die Entwicklung von Kompetenzmodellen und die Formulierung von Standards als ein Entscheidungsprozess dargestellt, in dem auf unterschiedliche Begründungen rekurriert werden kann. Zu klären sind in einem solchen Prozess neben der Frage des – z.B. bildungstheoretischen – Rahmens für Medienkompetenz und der Ausdifferenzierung in Bereiche, Felder oder Dimensionen auch die Umsetzung und die Messung bzw. Überprüfung. An drei Beispielen – dem Zürcher Modell von Moser, dem Paderborner Ansatz von Tulodziecki und dem Ansatz der National Communication Association wird die Entwicklung von Standards mit Bezug auf die idealtypischen Schritte diskutiert. Für die empirische Erfassung von Medienkompetenz werden erste Konsequenzen formuliert. Von einem bisher häufig missverstandenen Verhältnis von Pädagogik und Informatik bzw. Technik, in dem ein pädagogisches Primat gegenüber den Informationstechnologien postuliert wird, geht Reinhard Keil in seinem Beitrag
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„E-Learning 2.0 vom Kopf auf die Füße gestellt“ aus, und entfaltet die zentrale These, dass die eigentliche Herausforderung digitaler Medien für die Pädagogik erst dann sichtbar werde, wenn eine produktbezogene Sichtweise von Wissen als transferierbarem Artefakt zugunsten einer prozessorientierten Sicht von Wissen im Sinne von Verständnisbildung, Bedeutungskonstitution und Sinnstiftung aufgegeben werde. Viele Enttäuschungen und falsche Erwartungen an ELearning, so Keil, seien letztlich auf die unzulässige Gleichsetzung von Produkt und Prozess zurückzuführen. In der Argumentation wird die Bedeutung der Medien als Unterstützung von Bedeutungskonstitution und Sinnschöpfung entwickelt. Ein zentrales Konstrukt in dieser Argumentation ist die Differenzerfahrung, d.h. physisches Handeln und sinnliche Wahrnehmung als Voraussetzung für Informationsverarbeitung. Neben sozialen Interaktionen und persistenten Zeichen ermöglichen digitale Medien solche Differenzerfahrungen. Mit der Medi@rena entwirf Keil einen medialen Raum, in dem die basalen Medienqualitäten – Responsivität, Objektorientierung und (Multi-)Medialität – integriert werden und die als Lernstätten verschiedene Formen ko-aktiven Schreibens ermöglichen und unterstützten. Heike Schaumburg und Sebastian Hacke nehmen in ihrem Beitrag „Medienkompetenz und ihre Messung aus der Sicht der empirischen Bildungsforschung“ die Entwicklungen im Bereich der Kompetenzmodellierung und -messung, wie sie insbesondere im Kontext großer Schulleistungsstudien erfolgen, zum Anlass, zu prüfen, ob nicht auch die Medienpädagogik aus einem solchen Vorgehen Anregungen gewinnen könnte. Angesichts der langen Tradition in der medienpädagogischen Kompetenzdebatte sei es verwunderlich, dass die Medienpädagogik bisher wenig Interesse an der empirischen Messung des Konstrukts zeige. Nach einem Überblick über zentrale Medienkompetenzmodelle und ihren Vergleich werden in Anlehnung an die empirische Bildungsforschung die Schritte der Reduktion des Konstrukts Medienkompetenz auf kognitive Aspekte, die Operationalisierung des Konstrukts und die Konstruktion von Leistungstests sowie die Skalierung der Ergebnisse auf einer Fähigkeitsdimension und die Ermittlung von Kompetenzstufen für die Medienkompetenz diskutiert und in ihren Konsequenzen eingeschätzt. Methodologische und forschungsmethodische Fragen stehen im Zentrum des Beitrags „Die empirische Erfassung von Medienkompetenz mit Hilfe einer triangulativen Kombination qualitativer und quantitativer Forschungsmethoden“ von Klaus Peter Treumann, Markus Arens und Sonja Ganguin. Mit der Darstellung eines triangulativ konzipierten Forschungsdesigns entfalten sie die These, dass eine Kombination von quantitativen und qualitativen Methoden der Erfassung des komplexen Konstrukts Medienkompetenz gerecht werde. Vor dem Hintergrund des Medienkompetenzmodells von Baacke werden einzelne
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Schritte der multimethodischen Erfassung vorgestellt und mit Datenmaterial exemplarisch illustriert. Ein standardisiert-quantitativer Teil des Designs beinhaltet eine repräsentative Fragebogenerhebung, eine faktorenanalytische Aufdeckung von Kompetenzdimensionen des Bielefelder Modells und eine Clusteranalyse zur Rekonstruktion von Typologien jugendlichen Medienhandelns. Ein zweiter qualitativer Teil umfasst die Definition und Auswahl prototypischer Jugendlicher sowie die Durchführung und Auswertung von Interviews, die entweder zu einer Umdefinition oder zu einer Merkmalsanreicherung der im ersten Teil ermittelten Typologien führen. Resümierend werden der Erkenntnisgewinn des triangulativen Verfahrens sowie Übertragungsmöglichkeiten diskutiert. In einem zweiten Themenfeld finden sich Beiträge, die sich explizit mit medienpädagogischen Grundlagen und Konsequenzen verschiedener Aspekte des Web 2.0 beschäftigen. Dorothee M. Meister und Bianca Meise gehen in Ihrem Beitrag „Emergenz neuer Lernkulturen – Bildungsaneignungsperspektiven im Web 2.0“ der Frage nach, wie sich aufgrund der vielfältigen Veränderungen, die mit dem Phänomen Web 2.0 bzw. des Social Web verbunden sind, das Lernen selbst transformiert und welche Chancen und Risiken mit diesen Entwicklungen verbunden sind. So gehen sie auf verschiedene Begriffsdefinitionen des Web 2.0 ein, um diesem Begriff Kontur zu verleihen und darauf aufbauend relevante Lernkonzepte anzuwenden. So ergeben sich aus dieser Perspektive neue Bildungsaneignungspunkte und die Emergenz neuer Lernkulturen. Um die positiven Effekte des Lernparadigmenwechsels ausschöpfen zu können, verweisen sie jedoch auf die Relevanz einer gelungenen bisherigen Bildungslaufbahn der Nutzer sowie auf mediale und ethische Auseinandersetzungsprozesse. Nicht zuletzt wird auf die Notwendigkeit innovativer pädagogischer Orientierungsunterstützung hingewiesen, die für bildungs- und medienentferntere Nutzerschichten bedeutsam ist, um der Bildungskluft entgegenzuwirken. Das „Web 2.0 als pädagogische Herausforderung“ begründet sich für Franz Josef Röll einerseits aus den veränderten gesellschaftlichen Gegebenheiten in der Wissensgesellschaft, ergibt sich zum anderen aber auch aus den Spezifika der Technik, die assoziatives und kombinatorisches Denken fördern und das selbstgesteuertes Lernen unterstützen können. Anhand einiger methodischer Anregungen und Beispiele wie Self Generated Content, fragmentarisches Lernen oder den Möglichkeiten zur Lernprozessbegleitung zeigt Röll auf, mit Hilfe welcher Optionen das netzgestützte Mikrolernen den pädagogischen Alltag reformieren kann. Abschließend gibt er einen Ausblick zu den Folgen für das Blended Learning.
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Eine neue Bildungsperspektive angesichts der besonderen Bedingungen des Web 2.0 formuliert Theo Hug in seinem Beitrag „Mikrolernen – konzeptionelle Überlegungen und Anwendungsbeispiele“. Nach einer Begriffsklärung des Mikrolernens und den damit verbundenen Chancen und Potenzialen geht Hug auch auf Risiken ein. Er plädiert für die sinnvolle Gesamtkonzepte und Integration des Mikrolernens in das E-Learning, damit diese Bemühungen zu positiven Bildungseffekten führen. Dazu führt er exemplarische Beispiele von Mikrolernen an: Reime und Rhythmen aus der HipHop Szene werden bei Flocabulary genutzt, um schulisches Wissen zu vermitteln. Hörbeispiele werden online gestellt, können als MP3 herunter geladen werden. Bedeutsam erscheint, dass die Motivation durch situierte Lernarrangements erreicht wird. Hug weist dezidiert auf die Bedeutung einer sinnvollen Integration des Mikrolernens in einen Gesamtlernkontext hin und thematisiert auch negative Folgen, die aus dem Mikrolernen entstehen können, wie etwa die Verzweckmäßigung spielerischer Aneignungsformen. Jan Schmidt, Claudia Lampert und Christiane Schwinge geben einen Überblick über das Phänomen Social Web. In ihrem Beitrag „Nutzungspraktiken im Social Web – Impulse für die medienpädagogische Diskussion“ stellen sie nach einer Begriffsklärung empirische Daten zu den Nutzungspraktiken und Anforderungen im Web 2.0 vor. Da das Social Web für die Autoren ein äußerst differenziertes Feld mit vielen optionalen Anwendungen und Nutzungsformen darstellt, wählen sie den Fokus der Nutzungspraktiken, um so kategorisieren zu können, welche unterschiedlichen Verhaltensmuster im Umgang mit dem Web 2.0 existieren. Wichtige Handlungskomponenten sind für sie das Identitäts-, Beziehungs- und Informationsmanagement, die tiefgreifend miteinander verzahnt sind. Für die Autoren resultieren aus den Diensten des Web 2.0 neue Arten von Öffentlichkeiten (persistent, durchsuchbar, replizierbar und basierend auf einem unsichtbaren Publikum), die über bestimmte Charakteristika verfügen. Diese gelte es ebenfalls in den Blick zu nehmen, um medienpädagogische Konzepte und Ziele im Hinblick auf das Web 2.0 zu erarbeiten. Fraglich sei in diesem Zusammenhang, ob die gängigen Medienkompetenzmodelle angesichts der Herausforderungen nicht erweitert werden sollten. Ausgehend von der mit dem Web 2.0 einhergehenden Informationsflut weisen Tim Borst und Michael Klebl auf die Relevanz von „Risikokompetenz als Teil der Medienkompetenz – Wissensformen und soziale Geltung im Web 2.0“ hin, um Wissen im Web 2.0 einschätzen, bewerten und gegebenenfalls verwenden zu können. Dazu gehen sie zunächst auf verschiedene historische Formen des Wissens ein und prüfen ihre Anwendbarkeit im Web 2.0 anhand ausgewählter Beispiele. Darauf aufbauend entwickeln sie den Begriff der Risikokompetenz als Teil der Medienkompetenz. Diese umfasst im Wesentlichen
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das Erkennen von unsicherem Wissen und den Umgang mit Ungewissheiten. Einen Ansatz zur Integration von Risikokompetenz sehen die Autoren einerseits in der Überführung von Ungewissheit in Fachwissen und zum anderen in der reflexiven Behandlung unsicheren Wissens. Das heißt, dass medienpädagogisches Arbeiten im zweiten Fall bedeutet, Strategien zu erarbeiten, wie unsicheres Wissen bewertet werden kann. Der dritte Teil des Bandes ist solchen Beiträgen gewidmet, die Web 2.0 und Medienkompetenz in Bezug auf spezifische Bildungsinstitutionen diskutieren. Über den Einsatz von Web 2.0-Anwendungen in der Schule finden inzwischen vielfältige Diskussionen statt, fundierte medienpädagogische Untersuchungen zu den Erfahrungen liegen indes noch wenige vor. Ingrid PausHasebrink, Tanja Jadin, Christine Wijnen und Anja Wiesner stellen in ihrem Beitrag „Wikis und Weblogs in der Schule – Erfahrungen mit einem österreichischen Pilotprojekt“ Ergebnisse einer Evaluation vor, die im Rahmen eines Projekts an neun Hauptschulklassen durchgeführt wurde. Die quantitativen und qualitativen Befragungsergebnisse der 11- bis 14-Jährigen Schülerinnen und Schüler und ihrer Lehrer geben einen guten Einblick in den Stellenwert des Internets im Alltag der Jugendlichen sowie eine dezidierte Bewertung des Einsatzes von Wikis und Weblogs im Rahmen eines Projektunterrichts. Das Beispiel mache, so die Autorinnen, durchaus Mut, da die subjektiven Lerngewinne hoch seien. Gleichwohl wird auf einige Fallstricke neben zahlreichen Chancen im Schulalltag hingewiesen. In ihrem Aufsatz „Berufliches Lernen mit Web 2.0 – Medienkompetenz und berufliche Handlungskompetenz im Duell?“ untersuchen Hugo Kremer und Frederik Pferdt den Zusammenhang von Medienkompetenz und beruflicher Handlungskompetenz am Beispiel des BLK-Modellversuchs „Kooperatives Lernen in webbasierten Lernumgebungen in der beruflichen Erstausbildung“ (KooL). Ausgehend von einer Nutzung des Web 2.0 in Lehr- und Lernprozessen konstatieren die Autoren ein Spannungsverhältnis zwischen einer Kompetenz, Medien zu nutzen und der beruflichen Handlungskompetenz. So erfordere zum Beispiel die Arbeit mit der Wiki-Technologie umfassende Maßnahmen zur didaktischen Nutzung, die über den bloßen Umgang mit dem Medium hinausgehen, wenn er sinnvoll sein solle. „Web 2.0 in der Hochschule – Überlegungen zu einer veränderten (akademischen) Medienkompetenz und Medienbildung von Lehrenden und Lernenden für E-Learning 2.0“ – unter diesem Titel untersucht Kerstin Mayrberger die neuen technischen und sozialen Möglichkeiten, welche das Web 2.0 im Hochschulunterricht beinhaltet. Dabei diskutiert sie unter dem Stichwort des ELearning 2.0 die Frage, welche medienbezogenen Kompetenzen auf diesem
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Hintergrund mit formalen akademischen Lehr- und Lernprozessen verbunden sind. Mayrberger kommt dabei zum Schluss, dass Lehrende und Lernende einer Medienbildung bedürfen, welche eine akademische Medienkompetenz als integrierte Voraussetzung einschließt. Der Beitrag „Wodurch erwerben Lehrkräfte Medienkompetenz? Auf der Suche nach geeigneten Fortbildungsmodellen“ von Silke Weiß und Hans Joachim Bader setzt sich mit Fragen des Medienkompetenzerwerbs im Rahmen der Lehrerfortbildung auseinander. Ausgehend von Betrachtungen zum Begriff der Medienkompetenz und von aktuellen Analysen zur Medienkompetenz von Lehrkräften an Schulen wird ein Konzept zur Lehrerfortbildung im Fach Chemie vorgestellt, das an der Universität Frankfurt/Main im Rahmen eines Projektes erprobt und evaluiert wurde. Die Autoren gehen davon aus, dass den Lehrkräften oftmals grundlegende Handhabungsmöglichkeiten für den Umgang mit neuen Medien fehlen. Der Beitrag stellt das Fortbildungsmodell und erste Erfahrungen vor. In einem Ausblick-Kapitel plädieren die Autoren für die Entwicklung eines gestuften Erwerbs von Medienkompetenz in der Lehrerbildung, um Mindeststandards von Medienkompetenz bei Lehrkräften zu gewährleisten. Aiga von Hippel gibt in ihrem Beitrag „Vermittlung von Medienkompetenz in der Erwachsenenbildung – eine Analyse der Angebots- und Nachfrageseite“ einen sehr detaillierten und informativen Überblick über den aktuellen Forschungsstand in der empirischen Bildungsforschung zur Vermittlung von Medienkompetenz in der Erwachsenenbildung. Dargestellt und analysiert werden sowohl die Angebots- als auch die Nachfrageseite in Form von Programmanalysen ausgewählter Träger der Erwachsenenbildung sowie der Auswertung von Studien zu Weiterbildungsinteressen im Medienbereich. Die analysierten Trends verdeutlichen, dass Medien – insbesondere Computer und Internet – sowohl in der beruflichen als auch in der allgemeinen Erwachsenenbildung eine bedeutende Rolle spielen, wobei in der beruflichen Weiterbildung eine instrumentellqualifikatorische Medienkunde überwiegt. Von Hippel formuliert als eine der zentralen Aufgaben künftiger medienpädagogischer Erwachsenenbildung, Medienkritik in alle medienpädagogischen Veranstaltungen zu integrieren und hierfür sowohl auf Kursebene als auch auf der Programmebene Interesse zu wecken.
Winfried Marotzki, Benjamin Jörissen
Dimensionen strukturaler Medienbildung
Seit einiger Zeit ist zu beobachten, dass sich der Terminus „Medienbildung“ im Schnittfeld bildungs-, medien- und kulturtheoretischer Erwägungen zunehmend etabliert. In dem Kompositum aus „Medien“ und „Bildung“ ist bereits angedeutet, dass Bildungs- und Subjektivierungsprozesse sich grundsätzlich in medial geprägten kulturellen Lebenswelten und in medialen Interaktionszusammenhängen ereignen (vgl. Aufenanger 2000; Marotzki 2004). Dieser Grundannahme trägt das Konzept der Medienbildung Rechnung, indem es Aspekten der Medialität in der Bildungswissenschaft einen systematischen, d.h. theoriebildenden und forschungsleitenden Wert zuweist. Wir möchten in diesem Aufsatz ein Modell der Medienbildung vorstellen, das auf einer strukturalen Bildungstheorie basiert, welche Bildungsprozesse als eine Form komplexer, selbstreflexiver Lern- und Orientierungsprozesse versteht. Bildung lässt sich aus dieser Perspektive nicht als Ergebnis oder Zustand verstehen, sondern muss als ein Prozess aufgefasst werden, in welchem vorhandene Strukturen und Muster der Weltaufordnung durch komplexere Sichtweisen auf Welt und Selbst ersetzt werden (vgl. Marotzki 1990). Damit sind zwei Grenzlinien aufzuzeigen. Erstens grenzt sich solches formales Bildungsverständnis gegen materiale Bildungstheorien ab, die Bildung als Ergebnis der Auseinandersetzung etwa mit kanonischen Werken der Literatur etc. verstehen („Gebildetheit“; vgl. etwa Schwanitz 1999). Zweitens lässt sich der strukturale Bildungsbegriff in Abgrenzung zu weniger reflexiven Formen des Lernens spezifizieren, insofern er auf eine besonders komplexe Form des Lernens abstellt (vgl. Bateson 1981, 362 ff.): Während Lernen im klassischen Verständnis auf die Herstellung von Verfügungswissen abzielt, sind Bildungsprozesse durch Kontextualisierung, Flexibilisierung, Dezentrierung, Pluralisierung von Wissens- und Erfahrungsmustern, also durch die Eröffnung von Unbestimmtheitsräumen gekennzeichnet. Diese klare Unterscheidung von Lernen einerseits und Bildung andererseits impliziert eine wissenstheoretische Positionierung: Bildungsprozesse zielen auf die Herstellung von Orientierungswissen. Informationen zu erhalten und zu verar-
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Winfried Marotzki, Benjamin Jörissen
beiten, ist eben nicht identisch mit Bildung; vielmehr bedarf es einer reflexiven lebensweltlichen Integration dieser Informationen in die Selbst- und Welthaltungen der Individuen. Bildungsprozesse sind in diesem Sinne immer auch als Subjektivierungsprozesse zu verstehen, weil sie neue und komplexere Weisen, sich auf sich und auf die Welt zu beziehen, hervorbringen. Medien spielen hierbei schon deshalb eine zentrale Rolle, weil sie als Ort der Manifestation und Artikulation von Weltsichten grundsätzlich ein Moment der Entäußerung (und damit der Distanzierung) beinhalten. Die Fähigkeit, Orientierungsleistungen zu vollbringen, stellt insbesondere unter den Bedingungen unserer hochkomplexen, globalisierten, nachtraditionellen Gesellschaften eine Grundvoraussetzung der sozialen und kulturellen Partizipation, der Bewältigung von Alltagssituationen wie auch der Gestaltung des eigenen Lebens dar. Zugleich haben Medien, zuerst in Form der Massenmedien und in jüngster Zeit in Form der neuen Informationstechnologien, die Lebenswelten der einzelnen erobert; sie bilden einen nicht zu trennenden Teil derselben. Es handelt sich gleichsam, um einen Begriff Jan Assmanns zu verwenden, um eine kulturelle Formation (Assmann 1997, 139), zu der neue Informationstechnologien wie das Internet mittlerweile ganz selbstverständlich gehören. Unsere folgenden Überlegungen entfalten und vertiefen zunächst einige der angesprochenen wissens- und bildungstheoretischen Aspekte: Anhand der Debatte um die „Wissensgesellschaft“ stellen wir unseren zeitdiagnostischen Ausgangspunkt dar (1), diskutieren die Frage des Orientierungswissens anschließend in einer bildungstheoretischen Perspektive anhand der Unterscheidung von vier Bildungsdimensionen (2) und stellen schließlich mit unserer Auffassung von medialen Artikulationen ein Konzept vor, das aus unserer Perspektive für die Thematisierung von Medienbildung ausgesprochen fruchtbar ist (3). In der zweiten Hälfte des Aufsatzes erläutern wir den Gedanken der „Strukturalen Medienbildung“ exemplarisch an Beispielen aus den Bereichen Film (4) und Internet (5). 1
Wissen und Bildung in der „Wissensgesellschaft“
Um jüngere Gesellschaftsentwicklungen zu beschreiben, ist seit Ende der 1990er Jahre der Begriff der Wissensgesellschaft populär geworden. Es ist zwar immer wieder festgestellt worden, dass im wissenschaftlichen Diskurs kein homogenes Konzept einer Wissensgesellschaft existiert (z. B. Stroß 2001, 89; Tänzler/Knoblauch/Soeffner 2006), trotzdem scheint diese Beschreibung im öffentlichen und auch im bildungswissenschaftlichen Diskurs tauglich, um einige charakteristische Entwicklungszüge der gegenwärtigen Gesellschaft zu skizzieren (Müller/Stravoravdis 2007; Kempter/Meusenberger 2005). Die eigentliche Legi-
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timation für die Bezeichnung „Wissensgesellschaft“ liegt darin, „dass wissenschaftliches Wissen auf fast allen Gebieten des Lebens eine einflussreichere Rolle spielt“ (Stehr 1994, 16). Der Einfluss von Wissenschaft und Technik wird größer, reicht sozusagen bis in den kleinsten Winkel der Lebenswelt hinein. Dies betrifft gleichermaßen die Formen des Wissens wie auch die Formen des Wissenserwerbs bzw. der Wissensvermittlung in den klassischen institutionalisierten Lernfeldern, beispielsweise Schule, aber auch die außerschulische Jugendbildung in Jugendarbeit, Peergroups und Medien. Wissen gilt inzwischen als vierter – und zudem bedeutendster – Produktionsfaktor neben Arbeit, Kapital und Natur. In einigen volkswirtschaftlichen Bereichen wird davon ausgegangen, dass 70 bis 80 Prozent des wirtschaftlichen Wachstums auf neues oder verbessertes Wissen zurückgeführt werden können (vgl. de Haan/Poltermann 2002). Das heißt, die Bedeutung des Wissens für eine Volkswirtschaft wie auch für den Einzelnen hat zugenommen. „Die Erzeugung und Verteilung von Wissen werden künftig eine vorrangige Bedeutung in der Wertschöpfung und im gesellschaftlichen Bewusstsein einnehmen. Die Zukunft gehört der Wissensverarbeitung, den hochqualifizierten Tätigkeiten“ (Deutscher Bundestag 2002, 260). Das schlägt sich dann auch in der Verteilung der Beschäftigten nieder: Immer mehr Menschen sind in Berufen und Jobs tätig, in denen die Generierung, Aufbereitung, Präsentation und Zirkulation von Wissen im Vordergrund steht, so dass Hellmut Willke von einem neuen Typ des Arbeiters spricht, nämlich vom Wissensarbeiter (Willke 1999). Innerhalb der Erziehungswissenschaft ist zunächst einmal darauf zu verweisen, dass es eine längere Auseinandersetzung und Selbstvergewisserung über die Frage gibt, was pädagogisches Wissen ist (vgl. König/Zedler 1989; Oelkers/Tenorth 1993). Daran anschließend ist die Doppelfrage, ob die Zeitdiagnose der Wissensgesellschaft zutreffend sei und was daraus folge, durchaus kontrovers diskutiert worden (allgemein: Höhne 2003; für die Sozialpädagogik: Homfeldt/Schulze-Krüdener 2000; für die Erwachsenenbildung: Nolda 2001). Mag sein, dass die Bezeichnung des Wissensarbeiters etwas überzeichnet ist, sie weist aber doch in eine Richtung, deren Vorzeichen nicht zu ignorieren sind: Die heranwachsende Generation wächst in eine Gesellschaft hinein, in der Arbeit (im Sinne von Erwerbsarbeit) überwiegend auf hohem Qualifikationsniveau zu haben sein wird. Das Bildungssystem steht vor der Aufgabe, Unterstützung und Hilfe zur Wissensbewältigung während des gesamten Lebenslaufs zu gewähren. In der Erziehungswissenschaft geht es ja darum, die nachfolgende Generation durch Prozesse der Erziehung, des Lernens und der Bildung in diese Gesellschaft einzuführen. Ob und wie das gelingt, davon sind die Lebenschancen dieser nachfolgenden Generation elementar abhängig. Es geht, mit Nico Stehr gesprochen, um die „Teilnahme an den kulturellen Ressourcen der Gesellschaft“ (Stehr 1994,
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205). Für die Teilhabe (Methexis) und aktive Teilnahme (Partizipation) an der jeweiligen Kultur spielt die orientierende Reflexion über Wissensressoucen eine zentrale Rolle. 2
Bildungstheoretische Orientierungsdimensionen: Wissens-, Handlungs-, Grenz- und Selbstbezug
Jürgen Mittelstrass (1982; 1989; 2001) hat seit den 1970er Jahren immer wieder den Sachverhalt reflektiert, dass in modernen Gesellschaften der Abstand zwischen Verfügungswissen (Faktenwissen) und Orientierungswissen gewachsen ist. Moderne Gesellschaften seien stark in der Akkumulation von Verfügungswissen und schwach in der Ausbildung von Orientierungswissen, so Mittelstrass. Was technisch möglich und moralisch nötig sei, lasse sich immer weniger miteinander vereinbaren. Für Erziehungswissenschaft und Pädagogik ist deshalb die Klärung des Verhältnisses von Verfügungs- und Orientierungswissen in hochkomplexen Gesellschaften u. E. zu einer zentralen Aufgabe geworden. Insbesondere ist es das Gebiet der Bildungstheorie, das sich mit der Frage nach dem orientierenden Wert von Wissen beschäftigt. Denn die Frage, ob Wissen eine orientierende Funktion hat, ist identisch mit der Frage, ob es eine bildende Funktion hat. Orientierungswissen kann jedoch nicht durch eine Steigerung des Verfügungswissens erreicht werden: „Je reicher wir an Information und Wissen sind, desto ärmer scheinen wir an Orientierungskompetenz zu werden. Für diese Kompetenz stand einmal der Begriff der Bildung“ (Mittelstrass 2002: 154). Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass die Folgen der sich anbahnenden Wissensgesellschaft gleichsam in den letzten Schichten der Lebenswelt der Menschen spürbar werden, denn sie beziehen sich auf die Art und Weise des Lernens und der Orientierungsleistungen: Menschen müssen angesichts der medial vermittelten Informationsvielfalt (information overload) Wissen für sich aufbauen, um handeln und um sich in einer komplexer werdenden Welt orientieren zu können. Es ist in der Debatte um die Wissensgesellschaft unter dem Stichwort neuer Subjektivierungsformen immer wieder darauf hingewiesen worden, dass eine elementare Folge darin besteht, dass immer mehr Verantwortung auf die einzelnen Menschen abgewälzt wird, die immer mehr Verantwortung für das eigene Lernen und für die eigene Qualifikation übernehmen müssen (vgl. Höhne 2003, 62 ff.). Die Komplexität des Orientierungswissens – also die Qualität von Bildung – muss diesen Anforderungen entsprechen. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit lassen sich dabei die folgenden Momente hervorheben:
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Orientierung als Fähigkeit des Umgangs mit Kontingenz: Die Krisen der Moderne sind wesentlich als Orientierungskrisen zu verstehen, die aus verschiedenen Erfahrungen, wie etwa der Transformation tradierter Rollenbilder, dem Wechsel von der Industrie- zur Dienstleistungs- und schließlich zur Informations- und Wissensgesellschaft, den Legitimationsverlusten kultureller Orientierungsmuster in heterogenen und transkulturellen Gesellschaften usw. resultieren (vgl. Beck 1984). Die Fähigkeit, sich innerhalb unübersichtlicher und kontingenter gesellschaftlicher Bedingungen Orientierung zu verschaffen und sich dazu zu positionieren, muss in den gegenwärtigen Gesellschaften als eine Kernkompetenz der Lebensbewältigung wie auch der sozialen und kulturellen Partizipation betrachtet werden. Flexibilisierung: Die Fähigkeit der Orientierung muss dabei angesichts der sich immer schneller verändernden gesellschaftlichen Verhältnisse wesentlich auch als Fähigkeit der Umorientierung verstanden werden. Insofern in Ermangelung letztgültiger Orientierungen die vorhandenen Denk- und Handlungsmuster immer wieder geprüft und reflexiv zur Disposition gestellt werden müssen, ist Flexibilisierung ein weiteres wesentliches Moment moderner Bildung. Tentativität: Flexibilisierung bedeutet zugleich auch, sich für neue Situationen offenzuhalten, sozusagen eine Haltung der vorausschauenden Kontingenzerwartung zu kultivieren. Bildungsprozesse gehen in diesem Sinn mit der Eröffnung von Unbestimmtheitsräumen einher, mit einem auf Tentativität und Exploration, mithin auf das aktive Erschließen neuer Erfahrungsräume (i.S. John Deweys Begriff der experience) ausgerichtetes Verhalten.
Einlassen auf Anderes und Fremdes: Schließlich ist hervorzuheben, dass dabei das Moment des Fremden und Unbekannten, der Alterität, eine bedeutende Rolle einnimmt. Bildungsprozesse im Sinn der strukturalen Bildungstheorie zielen darauf ab, mit Unbekanntem – und möglicherweise unbekannt Bleibendem – umgehen zu lernen (Koller/Marotzki/Sanders 2007). Insbesondere in globalisierten multi- und transkulturellen Gesellschaften ist die Bedeutung dieser Fähigkeit evident. Reflexive Orientierungsoptionen in diesem Sinne entfalten ihre Relevanz in unterschiedlichen lebensweltlichen Bereichen. In Anlehnung der vier berühmten Fragen, die Kant in seiner Logik formulierte – „Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen? und Was ist der Mensch?“ (Kant 1977, 448) – lassen sich insgesamt vier grundlegende Orientierungsdimensionen unterscheiden:
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1. 2. 3. 4.
Der Wissensbezug als Rahmung und kritische Reflexion auf Bedingungen und Grenzen des Wissens; der Handlungsbezug als Frage nach ethischen und moralischen Grundsätzen des eigenen Handelns, insbesondere nach dem Verlust tradierter Begründungsmuster; der Transzendenz- und Grenzbezug als Verhältnis zu dem, was von der Rationalität nicht erfasst werden kann; sowie schließlich die Frage nach dem Menschen (Biographiebezug) als Reflexion auf das Subjekt und Frage nach der eigenen Identität und ihren biographischen Bedingungen.
Die Unterscheidung dieser vier Dimensionen kann allgemein für die Analyse von Bildungsprozessen fruchtbar gemacht werden; sie soll uns im Folgenden als leitende Heuristik für die Analyse von Medienbildungspotenzialen dienen. Wir werden daher zunächst einen genaueren Blick auf die bildungstheoretische Relevanz dieser vier Dimensionen werfen, bevor im Anschluss einen weiteren für uns zentralen Begriff, den der Artikulation, thematisieren. 2.1 Was kann ich wissen? (Wissensbezug) Die erste Frage bezieht sich bei Kant auf eine Abschätzung der Quellen des menschlichen Wissens (Metaphysik). Die Fragen, woher das Wissen kommt und wie verlässlich es ist, ob man im Vertrauen auf die Seriosität der Quellen davon Gebrauch machen kann und wer eigentlich für die Richtigkeit einsteht, sind in einer Gesellschaft, die sich auf dem Weg in eine Wissensgesellschaft befindet, zentral. In jedem Lernprozess muss die Frage, was wichtig und was weniger wichtig ist, beantwortet werden; das war schon immer so. Aber gerade angesichts der Informationsflut, die durch das Internet über uns hereinbricht, scheint ein Informations- und Wissensmanagement sowie ein kritisches Sichverhalten zu den Informationsquellen als Metakompetenz überlebensnotwendig zu werden. Das bloße Informiertsein und „Bescheidwissen, wie es geht“ muss überführt werden in eine kritische Reflexion. Die erste Dimension von Medienbildung nimmt also die klassische Frage Immanuel Kants „Was kann ich wissen?“ in dem Sinne auf, dass sie auf die Reflexion der Genesis und Geltung von Information und Wissen abzielt, letztlich also auf eine Reflexion – so wollen wir verkürzt sagen – von Wissenslagerungen. Mit dem Begriff der Wissenslagerung bezeichnen wir dabei das Arrangement verschiedener Wissensbestände, die, bezogen auf ein Problem, zusammengeführt werden und medial präsent sind. Sie können beispielsweise in einem bestimmten audio-visuellen Format, also in Form eines Films, präsentiert werden.
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2.2 Was soll ich tun? (Handlungsbezug) Die zweite Frage bezieht sich bei Immanuel Kant auf eine Abschätzung des Umfangs des möglichen und nützlichen Gebrauchs des Wissens (Moral). Da Wissen und Handeln nicht identisch sind, entsteht das Problem, ob der Mensch auch alles machen soll, was er machen kann. Die Frage zielt somit auf das Verhältnis von generellen zu konkreten für mich angemessenen Handlungsoptionen. Die Realisierung konkreter Handlungsoptionen zieht innerhalb bestimmter Kontexte Folgen und ggf. auch Nebenfolgen nach sich, die intendiert sein können oder nicht, für die der Handelnde jedoch verantwortlich gemacht werden kann. Die Geschichte des allgemeinen Bildungsbegriffs zeigt in dieser Beziehung eine große Variationsbreite von Bedeutungen. Hier ist nicht der Ort, diese vielschichtige Traditionslinie nachzuzeichnen (vgl. Dohmen 1964; Rauhut/Schaarschmidt 1965; Ballauf 1989; Hansmann/Marotzki 1989). Verallgemeinernd kann man jedoch sagen, dass Bildung eine Haltung des Menschen zu sich, zu anderen und zur Natur bezeichnet, die grundsätzlich Verantwortung beinhaltet (vgl. Weniger 1952, 138; Klafki 1975). Diese zweite Dimension von Medienbildung zielt also auf die Reflexion von Handlungsoptionen im Kontext gemeinschaflticher und gesellschaftlicher Kontexte. Orientierung mündet letztlich auch im Handeln. Insofern ist ein Reflexionspotenzial, das sich auf Handlungsoptionen erstreckt, für Bildung unerlässlich, wie in der bildungstheoretischen Tradition immer wieder betont wurde, beispielsweise von Heydorn: „Bildung des Bewußtseins, die den Menschen zum wissenden Handeln im verwundbaren Gewebe seiner Bedingung befähigt, gewinnt eine Bedeutung wie nie zuvor“ (Heydorn 1980, 294). 2.3 Was darf ich hoffen? (Grenzbezug) Die dritte Frage bezieht sich bei Kant auf eine Abschätzung der Grenzen der Vernunft (Religion). Diese Frage zielt traditionell, indem sie die Grenzen von Rationalität und damit auch Wissenschaft thematisiert, auf die Frage von letzten Gewissheiten. Grenzen, das erörterte bereits Georg Friedrich Wilhelm Hegel (1770-1831) in seiner Seinslogik (Hegel 1833), grenzen ein und – indem sie dies tun – auch aus. Das, was eingegrenzt wird, enthält in sich bereits den Bezug zu dem eigenen Gegenteil: Rationalität verweist auf Irrationalität, Vernunft auf Unvernunft, das Eigene auf das Fremde. Die Reflexion auf solche Grenzen bildet eine weitere Grundstruktur von Bildungsprozessen. Vielleicht kann man sagen: Bildung enthält in sich als Selbst- und Weltorientierung einen Bezug zur Transzendenz, der beispielsweise in Form von Religionen, Mythen oder magischen
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Gehalten zur Geltung kommen kann, aber auch durch andere Formen. Sei es, dass wir – wie Max Frisch in dem Roman Stiller – vom Geheimnis des Menschen sprechen, auf das jeder ein Anrecht hat, einer Region gleichsam, die zu betreten für andere verboten ist, oder dass wir – um Auschwitz zu verstehen – den Anderen und das Fremde als radikal Anderes neu denken müssen, wie es Emmanuel Levinas vorgeschlagen hat (Levinas 1995); sei es, dass wir uns eingestehen müssen, dass die Grenze, wo Leben beginnt, nicht wissenschaftlich bestimmbar ist. Das Umgehen mit solchen Grenzen ist traditionell eine Grundstruktur von Bildung. Die Reflexion auf solche Grenzen ist Bildungsarbeit. Es geht hier um sensible Beschreibungen, wie Menschen mit Grenzerfahrungen und Grenzziehungen umgehen, wie flexibel oder restriktiv solche Grenzen gezogen werden, wie mit kulturellen und technologischen Grenzverschiebungen umgegangen wird, ob sie Grenzen als Herausforderungen erleben oder eher als unüberwindbare Schranken, ob sie sie akzeptieren oder ablehnen. Die Expansion von Komplexität einerseits und die Endlichkeit der Mittel, sie zu begreifen andererseits, zwingt zu einer Anerkennung von Grenzen. 2.4 Was ist der Mensch? (Biographiebezug) Diese letzte Frage bezieht sich bei Kant auf die Abschätzung der anthropologischen Gegebenheitsweise des Menschen (Anthropologie). Alle drei bisher bearbeiteten Fragen laufen nach Kant auf diese vierte hinaus: „Im Grunde könnte man […] alles dieses zur Anthropologie rechnen, weil sich die drei ersten Fragen auf die letzte beziehen“ (Kant 1800, 448). Diese letzte zentrale Frage richtet sich somit einerseits auf das grundlegende Verständnis, das wir vom Menschen haben, auf das grundlegende Verständnis von Menschsein überhaupt, andererseits aber auch auf biographieanalytischer Ebene auf die jeweilige Identität des Einzelnen, die über biographische Arbeit immer wieder hergestellt werden muss. Wir vollziehen, folgt man den Überlegungen Wilhelm Diltheys, dabei eine wertende Ordnungsleistung. Menschen, Dinge und Informationen sind uns in unterschiedlichem Maße bedeutsam; wir entwickeln zwangsläufig eine gewisse nach Werten abgestufte Bedeutungszuschreibung aus dem Kontext unseres Lebenszusammenhanges. Eine sinnstiftende Biographisierung gelingt nur dann, wenn es gelingt, Zusammenhänge herzustellen, die es erlauben, Informationen, Ereignisse und Erlebnisse in sie einzuordnen und Beziehungen untereinander wie auch zur Gesamtheit herzustellen. Auf diese Weise arbeiten wir ständig daran, Informationen in konsistente Wissenszusammenhänge zu überführen; und zwar Wissenszusammenhänge über uns selbst wie auch über die Welt. Die Hauptarbeit des Lebens besteht für Wilhelm Dilthey darin, dass jeder Mensch für sich erkundet, was für ihn wertvoll ist, welches für sein Leben die maßgeblichen
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Lebenswerte darstellen. Diesen Such- und Erprobungsprozess nennt Dilthey Lebenserfahrung (vgl. Dilthey 1907, 74). In der sogenannten „reflexiven Moderne“ (vgl. Giddens 1996) spielt dieses Orientierungsvermögen eine besondere Rolle. Die Grundannahmen der bildungstheoretischen Debatte um Modernisierungseffekte besagen, dass die „Freisetzung“ des Menschen aus Traditionen und sozialen Einbettungen zu einer erhöhten Reflexivität geführt hat. Das bedeutet, dass Reflexion für den einzelnen Menschen dann an Bedeutung gewinnt, wenn vertraute soziale Kontexte immer weniger zur Verfügung stehen und wenn die Geschwindigkeit der sozialen und biographischen Veränderungen immer größer wird. Die neue Qualität von Bildungsprozessen in der Gegenwart besteht vor diesem Hintergrund darin, dass alle elementaren Lebensentscheidungen reflexiv an die Biographie rückgebunden werden und durch soziale Kontexte und Gemeinschaften nur noch bedingt aufgefangen und getragen werden. Die Reflexion auf solche Biographisierungsprozesse, wie sie durch verschiedene Medien induziert werden, wie sie in und mittels Medien vollzogen werden, bilden die vierte Dimension einer modernen Medienbildung. Bevor wir anhand exemplarischer Analysen aus dem Bereich Film und Internet die Ausprägung dieser Orientierungspotenziale am konkreten Beispiel erläutern, müssen wir einen weiteren für uns zentralen Begriff zu sprechen kommen. Es geht hierbei um die Frage, wie sich Medialität im Kontext eines bildungstheoretisch orientierten Erkenntnisinteresses angemessen thematisieren lässt. 3
Die Bedeutung medialer Artikulation für den Aufbau von Orientierungswissen
Medien spielen für den Aufbau von Orientierungswissen eine zentrale Rolle. Wo Individuen einen Zugang zu medialen Welten erlangen, haben sie prinzipiell auch Teil an den (Bildungs-) Optionen und Chancen, die diese Räume bieten. Evident ist dies für das Internet, das unzählige neue Möglichkeiten, sich auf verschiedensten Ebenen zu artikulieren und zu partizipieren, hervorgebracht hat. Doch beschränken sich diese Bildungspotenziale durchaus nicht auf die interaktiven neuen Informationstechnologien. Komplexe mediale Formate wie etwa der Film beinhalten ebenfalls ein hohes reflexives Potenzial, indem sie etwa Fremdheitserfahrungen inszenieren, nachvollziehbar und -reflektierbar machen, indem sie Biographisierungsweisen thematisieren, ethische Paradoxa verhandeln, usw. Bildungsprozesse müssen im Sinne solcher medialen Partizipationen als Teilhabeprozesse an deliberativen Öffentlichkeiten verstanden werden (vgl. Klafki 1985). Die aktive Teilnahme an gesellschaftlichen Diskursen und Auseinander-
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setzungsprozessen bedingt eine Fähigkeit zur Artikulation der eigenen Sichtweisen, die in verschiedenen sozialen Arenen inszeniert oder aufgeführt werden, sowie die Fähigkeit, Artikulationen anderer verstehend anzuerkennen. Artikulation ist, wie man im Anschluss an Matthias Jung sagen kann, ein in sich reflexiver Prozess: „Wer sich artikuliert, deutet seine qualitative Erfahrung, indem er sie (...) zur Sprache, zum Bild, zur Musik oder wozu auch immer bringt“ (Jung 2005, 126). Menschliche Artikulationen finden dem entsprechend auf verschiedenen Ebenen statt – nicht nur auf der reflexiv-sprachlichen, sondern ebenso in medialen und ästhetischen Ausdrucksformen, die in einem diskursiven Kontext, also mit Schütz gesprochen in „sozialen Arenen“, geäußert werden. In solchen diskursiven Äußerungen werden Erfahrungen artikuliert, die vor dem Hintergrund von Lebensinteressen und Handlungsproblemen gemacht wurden, entweder im meta-reflexiven (argumentativ) oder aber reflexiven (erzählend, beschreibend usw.) Modus. Der Diskurs wird als (multimediale) Artikulation von Erfahrungsräumen thematisierbar. Die Betonung multimedialer Artikulation des Menschen erlaubt es, gerade den in den Neuen (Kommunikations-) Medien vorfindlichen Kommunikationsweisen einen systematischen und nicht substituierbaren Stellenwert einzuräumen. Mit dem Begriff der Artikulation sind zwei wichtige Aspekte verknüpft: Einerseits geht der individuelle Prozess der Artikulation (beispielsweise in ästhetischen Handlungsmodi) mit einer Formgebung einher, die ein reflexives Potential enthält, insofern die Äußerung von Erfahrungen zugleich eine Entäußerung impliziert, und damit ein Moment der Distanzierung beinhaltet. Artikulationsprozesse beinhalten somit ein hohes Bildungspotential. Zum anderen weisen die Artikulationen selbst – als mediale Inszenierungen – einen mehr oder weniger ausgeprägten reflexiven Gehalt auf. Ihre Aufführung in sozialen Räumen und Arenen provoziert eine Reaktion des sozialen Umfelds. In der Begegnung mit artikulativen Äußerungen liegt – insbesondere im Fall elaborierter, kulturell bzw. subkulturell komplexer Beiträge – selbst ein Bildungspotential. In diesem Sinn werden unsere folgenden Betrachtungen von der These geleitet, dass der Aufbau von Orientierungswissen in komplexen, medial dominierten Gesellschaften wesentlich über mediale Artikulationen verläuft. Maßgebend für den Gedanken der Medienbildung ist dabei zum einen der Umstand, dass Artikulationen von Medialität nicht zu trennen sind, zum anderen die Tatsache, dass mediale Räume zunehmend Orte sozialer Begegnung darstellen, dass also mediale soziale Arenen in den Neuen Medien eine immer größere Bedeutung für Bildungs- und Subjektivierungsprozesse einnehmen. Aus Sicht der Medienbildung gilt es mithin, die reflexiven Potenziale von medialen Räumen einerseits und medialen Artikulationsformen andererseits im Hinblick auf die genannten Orientierungsleistungen und -dimensionen analytisch zu erkennen
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und ihren Bildungswert einzuschätzen. Dabei geht es weniger um die Inhalte der jeweiligen Medien, sondern um ihre strukturalen Aspekte. Die Analyse der medialen Formbestimmtheiten mündet im Sinne der oben vorgebrachten Bildungstheorie in eine Analyse der strukturalen Bedingungen von Reflexivierungsprozessen. Liegt die soziale und kulturelle Wirkung von Medien vor allem in ihren Formeigenschaften, so hebt die Betrachtung von Medienphänomenen aus der Perspektive der Medienbildung dementsprechend darauf ab, Bildungsgehalte und implizite Bildungschancen von Medien über die strukturanalytische Thematisierung von Medienprodukten und medialen sozialen Arenen zu erschließen. Wir werden dies im Folgenden anhand zweier unterschiedlicher medialer Bereiche von hoher aktueller Relevanz – Film und Internet – erläutern. 4
Medienbildung am Beispiel des Films
Das Medium Film ist aus Sicht der Medienbildungsforschung deshalb von besonderer Relevanz, weil Filme als Verschmelzung visueller und auditiver Gehalte in der zeitlichen Dimension (des Bewegtbildes) besonders komplexe – und häufig ausgesprochen elaborierte – Formen medialer Artikulationen darstellen. Filme werden hinsichtlich ihres Bildungswertes beurteilt, indem sie unter den vier verschiedenen Perspektiven (Wissens-, Handlungs-, Transzendenz- und Grenz- wie auch Biographiebezug) betrachtet werden (können). Sie können Reflexionspotenziale in dem o.g. Sinne enthalten und dadurch bildungsmäßig wertvoll sein. Von den vier oben genannten Reflexionsdimensionen sollen im Folgenden zwei Dimensionen – die Wissensdimension und die Reflexion auf Subjektivität – exemplarisch diskutiert werden (vgl. ausführlich: Marotzki 2007a; Jörissen/Marotzki 2008). 4.1 Wissensbezug: Reflexion auf Wissenslagerungen Hinsichtlich der Reflexion auf Wissenslagerungen ist der Bereich der Dokumentarfilme von besonderer Relevanz, denn ihre Aufgabe ist es, Wissen über bestimmte Gebiete audiovisuell darzubieten. Im Gegensatz zum Spielfilm beansprucht der Dokumentarfilm, Aussagen über Aspekte der Wirklichkeit zu machen, also Wissen über diese zu präsentieren. Das Verhältnis von Inszenierung und Dokumentation wurde bereits bei dem ersten Meilenstein des Dokumentarfilms kontrovers diskutiert, nämlich anhand des Films „Nanook of the North“ von Robert J. Flaherty (1922). Flaherty beschreibt darin die Lebenswelt des Eskimos Nanook und hat nachweislich einige Szenen durch Nanook „spielen“ lassen. Beispielsweise hat er ihn gebeten, extra für die Filmaufnahmen ein Iglu zu bau-
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en. Die Diskussion um den Dokumentarfilm ist bis heute durch die zentrale Frage nach dem Verhältnis von Dokumentation und Inszenierung gekennzeichnet (Beyerle 1997; Schändlinger 1998; Hattendorf 1999). In der formalen Analyse zeigt die Geschichte des Dokumentarfilms eine große Vielfalt und Unterschiedlichkeit – von der Wochenschau-Tradition vom Anfang des 20. Jahrhunderts bis zum Aufkommen des Fernsehens. Vom Direct Cinema und Cinéma Vérité nach dem zweiten Weltkrieg bis hin zu den neueren dokumentarischen Formaten, wie es beispielsweise von Michael Moore in den Filmen „Bowling for Columbine“ (2002) oder „Fahrenheit 9/11“ vertreten wird. Immer jedoch wird man das spannungsreiche Verhältnis von „Abbildung“ und „Nachspielen“ finden. Zugleich ist damit der aufklärerische Anspruch verbunden, dass wir über Sachverhalte informiert werden sollen, und häufig ist damit auch die pädagogisch engagierte Absicht verbunden, dass für eine bestimmte Sichtweise der Dinge in engagierter Form geworben werden soll. In diesem Spannungsfeld zwischen Inszenierung und Authentizitätsanspruch, zwischen medialer Konstruktion und Aufklärungsanspruch entfaltet der Dokumentarfilm – potentiell – kritisch-reflexive Momente. Das für den Dokumentarfilm typische Ensemble verschiedener formaler Informationstypen (Statistik, Interview, Narration, teilnehmende Kamera-Beobachtung) provoziert die kritische Reflexion der Betrachter, insofern diese Vielfalt immer auch Divergenzen hervorruft: Bilder, die anders gelesen werden können als es der OffKommentar versucht, Narrationen, die als subjektive Erfahrungen objektiven Daten gegenüberstehen und dergleichen. Eine Reflexion auf Wissenslagerungen ist in dieser strukturellen Offenheit des Dokumentarfilms angelegt. 4.2 Biographiebezug: Reflexion auf Biographisierungsprozesse Hinsichtlich der Reflexion auf die eigene Identität, auf Biographisierungsprozesse, sind Filme dann bildungsmäßig wertvoll, wenn sie komplizierte und komplexe menschliche Sinnbildungs- und damit Identitätsbildungsprozesse zum Thema haben. Beispielhaft genannt sei zum einen der Film „Wilde Erdbeeren“ von Ingmar Bergman (1957). Der Film zeigt Biographisierungsprozesse des 78jährigen Medizinprofessors Isak Borg. Der Film beginnt mit einem Traum, durch den er mit seinem Tod konfrontiert wird. Mit dem Auto fährt er dann zusammen mit seiner Schwiegertochter in die schwedische Stadt Lund, wo er eine Auszeichnung als Doktor Jubilaris entgegennehmen soll. Die Stationen der Reise werden in Träumen, Visionen und Erinnerungsbildern zu Stationen seines gelebten Lebens. Die heterogenen Aspekte seines Lebens und seines Charakters versucht Borg in einem Prozess der Selbstverständigung, der Zusammenhangsbildung zu einem Muster des gelebten Lebens zu integrieren.
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Es handelt sich bei dem Leben des Medizinprofessors Borg eher um eine traditionelle, konventionelle Biographie, so dass gesellschaftlich induzierte Prozesse der Kontingenz und Emergenz nur in Ansätzen sichtbar werden. Anders sieht es aus, wenn wir ein zweites Beispiel aus den letzten Jahren wählen, nämlich den Film „Big Fish“ von Tim Burton (2003). In diesem Film wird eine Vater-SohnGeschichte liebevoll in Szene gesetzt. Der Sohn will sich mit seinem Vater auf dessen Sterbebett aussöhnen, und versucht herauszufinden, wer dieser wirklich war. Doch der Vater wartet, wie bereits in seinem ganzen Leben, mit unglaublichen Geschichten auf, die in ihrer Gesamtheit die Geschichte seines Lebens und damit seiner Identität sein sollen. Der Film zeigt, dass es nicht mehr gelingt, ein Leben in die eine konsistente Geschichte zu bringen. Vielmehr handelt es sich um Versionen, Fragmente, die in immer neuen Konstellationen zur Geltung gebracht werden, ähnlich wie es Nelson Goodman bereits 1990 in seinem Buch „Weisen der Welterzeugung“ beschrieben hat. Beide Filme bieten Reflexionsanreize, um Fragen der Identität, der Art und Weise, wie Menschen zu sich selbst finden können, wie sie versuchen, Sinn in ihr Leben zu bringen, in vollständig unterschiedlicher Weise zu thematisieren. Als elaborierte mediale Artikulationen von Biographisierungsmustern und -optionen weisen Filme wie die hier exemplarisch besprochenen ein hohes Reflexionspotential auf. Über die Auseinandersetzung mit einer Geschichte hinaus inszenieren sie unterschiedliche Biographisierungsweisen und bringen diese zur Verhandlung. 5
Medienbildung am Beispiel des Internet
Betrachtet man die Geschichte des Internet, die auf das militärische ARPA-Net zurückgeht und bis in die späten 1960er Jahre zurückreicht, so fällt auf, dass zu allen Zeiten und in allen Entwicklungsphasen „ungeplante“ Kommunikationsanwendungen für Innovationsschübe gesorgt haben, welche die zunächst bloß technische Netzwerkstruktur zunehmend durch soziale und kulturelle Räume angereichert haben. Dies gilt etwa für die Einführung der Email im Jahr 1972 ebenso wie für die ersten textbasierten Rollenspiele (MUDs, Multi User Domains/Dungeons), die ebenfalls bereits in den 1970er Jahren programmiert wurden. Das Internet entwickelte sich rasant zu einer Plattform, auf der neue Formen von Öffentlichkeit entstanden. In den 1980er Jahren waren dies vor allem Mailinglisten, die Diskussionsforen des Usenet sowie die erwähnten MUDs. Die Schlüsseltechnologie der 1990er Jahre war das von Tim Berners-Lee am Schweizer CERN konzipierte World Wide Web (WWW). Während das WWW aufgrund seiner einfachen Verwendbarkeit das Internet zu einem globalen Massenmedium machte, ist die jüngste Entwicklung von der Transformation des
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WWW zum sogenannten „Web 2.0“ gekennzeichnet. Unter diesem durchaus heterogenen Label verstehen wir vor allem einen enormen Zuwachs von technisch niederschwelligen und (überwiegend) kostenlosen Angeboten zur aktiven Partizipation im Internet (vgl. Jörissen/Marotzki 2007). Das für das Web 2.0 grundlegende Prinzip des „user generated content“ hat innerhalb weniger Jahre eine enorme Vielfalt unterschiedlichster techno-sozial vernetzter Kommunikationsphänomene geschaffen. War bereits das Internet der 1990 Jahre – insbesondere in seiner Eigenschaft als Plattform für Online-Communities und Online-Foren – ein Medium, dessen Bildungspotenziale deutlich hervortraten (Marotzki 2000; Marotzki 2003), so stellen die jüngsten Entwicklungen eine Steigerung sowohl in Qualität als auch hinsichtlich der Reichweite und Ausbreitung dieser Bildungspotenziale dar (zur Reichweite und Nutzungsweisen vgl. Haas et al. 2007). Die Optionen zur Partizipation und zur multimedialen Artikulation in Weblogs, Wikis und sozialen Netzwerken, auf Foto- und Videosharingseiten (wie etwa youtube.com) und in den neuen „Microblogging“- und „Lifelogging“-Netzwerken (wie etwa twitter.com) befinden sich derzeit immer noch in einer Explorations- und Ausweitungsphase. Wir können an dieser Stelle der Komplexität und Reichhaltigkeit der Phänomene nur ansatzweise gerecht werden und die Bildungspotenziale des Internet anhand einiger Bereiche skizzieren. Dabei beschränken wir uns, wie bereits oben am Beispiel des Films, exemplarisch auf die Dimensionen des Wissens und der Biographisierung. 5.1 Orientierungsleistungen kollaborativer Wissensgenerierung und -weitergabe im Internet In Bezug auf die Dimension des Wissens sind zwei besonders evidente Phänomene hervorzuheben, die durch Begriffe wie Syndikation und kollaborative Wissensgenerierung zu kennzeichnen sind. Unter Syndikation ist dabei eines der hervorstechendsten Merkmale des heutigen WWW zu verstehen, nämlich die Entbindung der kommunizierten Inhalte von der Form und auch vom Ort ihrer Präsentation. Einfach strukturierte Austauschformate (wie z.B. „RSS“, Really Simple Syndication) erlauben die automatisierte Verbreitung und Sammlung (Aggregation) beliebiger medialer Inhalte. Auf diese Weise sind News- und Blogbeiträge in Form strukturierter ‚Informationsschnipsel‘ so einfach zu verbreiten, dass sie in ständig neuen Kontexten auftauchen und aufgegriffen werden. Insofern jede Information in verschiedensten Zusammenhängen auftauchen kann, ist die De- und Rekontextualisierung des verfügbaren Wissens im WWW zum Regelfall geworden. Damit verbunden sind Kritik-, Ergänzung- und Kommentierungspraktiken, so etwa die Diskussion aktueller Themen und Meldungen be-
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kannter Weblogs (sog. „A-Blogs“, deren Beiträge wiederum in anderen Weblogs und auf entsprechenden Themenportalen auftauchen und hier wiederum rekontextualisiert, annotiert und kommentiert werden). Damit hat sich die grundlegende Einstellung zum Wissen im Kontext des Web 2.0 im Vergleich zum Gebrauch klassischer Medien radikal verändert. Im Neuen Medium gehören Quellenkritik und Kontextualisierung von Informationen gleichsam zur informationellen Grundausstattung. Ein weiteres einschlägiges Beispiel stellt die Wikipedia als kollaboratives Megaprojekt dar. Sie steht exemplarisch für eine ganze Reihe von Community- bzw. sozialen Netzwerken ähnelnden Angeboten, bei denen das Ziel der Herstellung enger persönlicher Bindungen der Projektorientierung und der aktiven Teilnahme am Aufbau „emergenter“ kollaborativer Wissensräume gewichen ist. Die Richtigkeit, die Angemessenheit und die Qualität der Artikel werden nach dem Prinzip der sozialen Validierung sichergestellt, d.h. es gibt keine Redaktion im engeren Sinne, sondern die AutorenInnen und BenutzerInnen korrigieren sich gegenseitig. Auch der Entscheidungsprozess, ob ein neuer Artikel aufgenommen wird, obliegt ebenfalls der Community. Die Wikisoftware, mit der Wikipedia arbeitet, dient dabei nicht nur als Plattform für die Präsentation der eigentlichen Inhalte, sondern sie beherbergt auch die Diskussionen und die „Backstage“Bereiche, anhand derer man nachvollziehen kann, wie die Wikipedia funktioniert. Denn die Plattform gibt nur eine schwache Struktur vor, der Hauptteil der Arbeit des Projektes Wikipedia hingegen besteht darin, diese offene technische Struktur durch eine soziale Struktur zu ergänzen und dem Ganzen eine Organisationsform zu geben, mit der sich arbeiten lässt. Die Zusammenarbeit in der Wikipedia erfordert einen ständigen Austausch der Autoren und Administratoren, primär über die Inhalte und die Arbeitsweise. Wikipedia weist hochgradig deliberative Strukturen auf und stellt eine vertrauensvolle Kooperation autonomer, aber wechselseitig abhängiger Akteure, die für einen begrenzten Zeitraum zusammenarbeiten, dar. Im Ergebnis entsteht ein hochgradig fluides (beinahe jeder Eintrag kann jederzeit in beliebigem Umfang verändert werden) und in hohem Maße deliberatives Wissensnetz. Sowohl für passive als auch v.a. für die aktiven Nutzer der Wikipedia verändert sich die Einstellung zum Wissen im Vergleich zum Gebrauch klassischer Medien – also in diesem Fall klassischer Enzyklopädien – erheblich, insofern eine mitlaufende Orientierung über die dargebotenen Wissensgehalte stets notwendig ist (Quellenkritik, Prüfung und Diskussion des Zustandes von Einträgen und vorhergegangener Versionen usw.). Diese Orientierungsleistung ist elaborierten Nutzern klassischer Medien ebenso zuzuschreiben. Im Gegensatz zu den professionell und redaktionellen Inhalten der Massenmedien jedoch ist es ein alltäglicher Erfahrungsbestandteil in der Nutzung der neuen Wissensangebote, dass Wissen
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standortgebunden, lebensweltlich positioniert und immer auch zeitabhängig ist. Nicht zuletzt darin liegt hier der Bildungswert. 5.2 Biographisierungs- und Erinnerungskulturen im Internet Als diachrone Orientierungsformate bezeichnet man in bildungstheoretischer Perspektive die Einbettung des Einzelnen in geschichtliche, gesellschaftliche, gemeinschaftliche oder biographische Kontinuitäten. Solche Bildungslinien können individuell sein, nämlich dann, wenn der einzelne an seiner biographischen Kontinuität arbeitet (biographische Wurzeln), sie können – oft damit verbunden – auch gemeinschaftsorientiert (Gemeinschaftswurzeln) sein, nämlich dann, wenn der einzelne sich selbst darüber vergewissert, aus welchen Zugehörigkeiten er sich zu dem entwickelt hat, der er jetzt ist. Auf jeden Fall ist es Aufgabe von Biographisierungsprozessen, die Teile der Vergangenheit zu einem Ganzen zu fügen. Biographiearbeit hat also immer etwas mit der Herstellung von diachronen Bildungslinien zu tun und ist insofern zu großen Teilen Erinnerungsarbeit. Das Internet hat eine erstaunliche Vielfalt öffentlicher und kollektiver Formen von Erinnerung hervorgebracht. Wir können hier (mindestens) drei Phänomene unterscheiden: erstens kollektive Formen des Erinnerns an gemeinsamen „virtuellen“ Orten wie etwa den memorial sites; zweitens die mediale Verknüpfung individuell-biographischer und kollektiver Erinnerung im Kontext partizipativer Webangebote; drittens schließlich individuelle Biographisierungsangebote, die sich aus den medialen Artikulationsangeboten im Internet ergeben. Aus Platzgründen beschränken wir uns an dieser Stelle auf die ersten beiden Phänomene und verweisen für den dritten Bereich auf andere Quellen (Lüders 2006; Jörissen/Marotzki 2008, Kap. 5.5). Kollektive Erinnerungskulturen haben im Internet neue Räume erhalten (vgl. dazu ausführlicher: Marotzki 2007b). Zu nennen wären als klassische Beispiele etwa virtuelle Tierfriedhöfe oder Gedenkseiten für verstorbene Menschen, die etwa in Form von Homepages oder auf speziellen Gedenkseiten realisiert sind. Diese sog. memorial sites können entweder Prominenten gewidmet sein (www.prinzessin-diana.de), oder aber Profile verstorbener Privatpersonen beinhalten (memory-of.com; gonetosoon.co.uk), die dort von Angehörigen und Freunden mit Erinnerungen in Formen von Texten, Bildern gefüllt werden. Diese am Gedenken Verstorbener orientierten Angebote nehmen teilweise Bezug auf Konventionen und Rituale des Gedenkens (Kondolenzbücher, virtuelle Kerzen), stellen aber andererseits eine in dieser Weise vorher nicht existente Form des öffentlichen und kollektiven Erinnerns dar. So wird etwa das zeitlich singuläre Ereignis des kollektiven Abschiednehmens in Form der Beerdigung auf den
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memorial sites in eine gleichermaßen kollektive, nun aber kontinuierliche Form der Wiederbegegnung, des Erinnerns und Gedenkens transformiert. Erinnerungsarbeit als wiederholtes Durcharbeiten und Trauern erfolgt damit nicht mehr im abgegrenzten Privatbereich der je eigenen Erinnerungen, sondern vielmehr im Kontext des sozialen Gedächtnisses (Welzer 2001) der Angehörigen und Freunde eines Verstorbenen. Damit ist eine Vielfalt von Perspektiven gegeben, die den Trauerprozess bereichern und anregen kann, die aber auch dazu betragen kann, die Konstruktion der Vergangenheit (auch der eigenen, insofern der Verstorbene Teil der eigenen Biographie ist), aufgrund der kollektiven Erinnerungsbeiträge zu verändern und umzudeuten. An der Schnittstelle zwischen kollektiver Erinnerungskultur und individueller Biographisierung stehen einige neue Webangebote, die zeitgeschichtliche Ereignisse mit individuellen Erfahrungen in Verbindung bringen. Stellvertretend für eine Reihe solcher Angebote nennen wir die Seiten miomi.com und zeitzeugengeschichte.de. Miomi bietet (wie die meisten Web 2.0-Angebote) die Möglichkeit, ein individuelles Profil anzulegen. Das zentrale Interface-Element von Miomi ist eine interaktiv skalierbare Zeitleiste, auf der von den Benutzern zeitgeschichtliche Ereignisse eingetragen werden können. Die Idee von Miomi (und anderen, ähnlichen Angeboten) besteht nun darin, dass die User ihre eigenen, mit diesen Ereignissen verbundenen Erfahrungen kommentieren. Auf diese Weise entsteht zu den einzelnen, klassischer Weise massenmedial vermittelten Geschehnissen ein ganzes Spektrum individueller Perspektiven (die dann wiederum, ganz im Sinne des Web 2.0-Gedankens, von anderen Mitgliedern kommentiert werden können). An solche medialen Erinnerungsarchitekturen lassen sich zwei Beobachtungen anschließen: Einerseits wird Zeitgeschichte vom politischen Abstraktum oder vom massenmedial produzierten und insofern „normierten“ Ereignis zumindest ein Stück weit in den kollektiven – oder auch differenten – Erfahrungsraum der Individuen zurückgebracht. Die medialen Artikulationen beinhalten Perspektiven und Versionen sowie individuelle Einbettungen, die in ihrer Verschiedenheit voneinander einerseits deutlich machen, dass es keine „Generalperspektive“ auf geschichtliche Ereignisse gibt, die aber andererseits auch das Gemeinsame und Verbindende, also identitätsstiftende solcher Ereignisse zum Ausdruck bringen kann. In dieser Richtung wird also Biographie zu einem Teil der „großen“ Geschichte. Der Bildungswert liegt hierbei insbesondere darin, einen neuen, erweiterten Blick auf die vermeintliche Partikularität des eigenen gelebten Lebens im Raum kollektiv artikulierter Erfahrungen zu gewinnen. Die andere Seite der Medaille ist die Perspektive der narrativen Artikulation der individuellen Biographie (oder zumindest von Aspekten derselben). Seiten wie Miomi regen aufgrund ihres attraktiven Formats dazu an, überhaupt Verschriftli-
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chungen eigener Lebensereignisse vorzunehmen. Durch die Annotationsmöglichkeit werden diese, ähnlich wie etwa in Weblogs, von vornherein einer Öffentlichkeit präsentiert. Da die auf dem Zeitstrahl verfügbaren „user-generierten“ zeitgeschichtlichen Ereignisse gegenüber der freien autobiographischen Narration eine Vorstrukturierung darstellen, ist zudem eine alternative Form der Interpunktion der eigenen Lebensgeschichte impliziert. Es geht also letztlich auch darum, die eigene Biographie einmal anders, nämlich aus der Perspektive solcher Ereignisse zu betrachten, die für eine große Menge von Menschen relevant sind. Aus dieser Perspektive liegt das Bildungspotenzial eher in den erfahrbaren Differenzeffekten („Wie habe ich dieses Ereignis im Unterschied zu anderen, bzw. zu Angehörigen anderer gesellschaftlicher Gruppen, erfahren“), deren hohes Reflexivierungspotenzial auf der Hand liegt. 6
Zusammenfassung
Medien und neue Informationstechnologien verändern nicht nur die Wahrnehmungsweisen des Menschen, und dadurch auch ihn selbst. Sie verändern auch die Koordinaten für Lern- und Bildungsprozesse. Wir haben hier ein Modell vorgestellt, das die vier kantischen Fragen zum Ausgangspunkt der Analyse der Bildungsdimensionen medialer Artikulationsformen nimmt. Verändern sich die grundlegenden Koordinaten von Lernen und Bildung durch gesellschaftliche Umbrüche, so finden wir auch veränderte Artikulationsbedingungen. An zwei medialen Bereichen – Film und Internet – haben wir aufgezeigt, wie diese neue und innovative Orientierungsformate und Subjektivierungsweisen hervorbringen. Wir verstehen unter Medienbildung in diesem Sinne die in und durch Medien induzierte strukturale Veränderung von Mustern des Welt- und Selbstbezugs.
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Tilmann Sutter
Medienkompetenz und Selbstsozialisation im Kontext Web 2.0
Wie in vielen anderen Bereichen der sozialwissenschaftlichen Medienforschung haben auch die Untersuchungen und Theorien Neuer Medien und der Internetkommunikation mit Problemen der Vereinseitigung und Verkürzung zu kämpfen gehabt: Auf der einen Seite findet eine rasante Entwicklung immer neuer Möglichkeiten der computervermittelten Kommunikation statt, die eng mit neuen technologischen Errungenschaften und neuen medialen Formen verbunden sind. Für diese Dimension Neuer Medien stand und steht in letzter Zeit das Schlagwort Web 2.0, das eine neue Qualität der Partizipation an und der Gestaltung von Internetangeboten für die Nutzer bezeichnet. Auf der anderen Seite wächst in vielen sozialwissenschaftlichen Arbeiten zur Internetkommunikation das Bewusstsein, dass mediale Partizipations- und Gestaltungsmöglichkeiten keineswegs schon mit deren Realisierung und Ausschöpfung durch die Nutzer gleichzusetzen sind, sondern dass hier eine mehr oder weniger große Lücke klafft. Für die Dimension der Fähigkeit und Bereitschaft zur tatsächlichen Nutzung neuer medial eröffneter Möglichkeiten steht der zentrale Begriff der Medienkompetenz, der wiederum als Grundlage für Prozesse des mobilen Lernens im Rahmen Neuer Medien anzusehen ist. Wenn man sich Fragen der Medienkompetenzen und des sogenannten „E-Learnings“ im Rahmen Neuer Medien nähert, wird man zunächst allgemein den Zusammenhang von Medienkompetenzen und Neuen Medien und hier vor allem das Verhältnis von den durch Neue Medien prinzipiell eröffneten Möglichkeiten und den im praktischen Umgang mit Neuen Medien dann auch realisierten Potentialen beleuchten müssen. Eine nicht geringe Schwierigkeit der Klärung dieses Zusammenhangs besteht darin, dass sie auf zwei weit verbreitete Schlagworte trifft, die höchst unklar bestimmt sind: Kompetenz bzw. Medienkompetenz und Web 2.0. Man bräuchte, wie immer in der Wissenschaft, etwas Zeit, um hier neue Entwicklungen und neue Zusammenhänge abzusehen und zu bedenken. Wenn etwa im Kontext von Web 2.0 gesagt wird, „normativer Referenzpunkt für die Förderung von Medienkompetenz sollte die Steigerung der Lebensqualität in der Wissensgesell-
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schaft sein“ (Gapski/Gräßer 2007, S. 11), so findet das sicher breite Zustimmung – es ist aber auch schwer zu widerlegen, weil nicht klar wird, was damit gemeint ist. Das ist kein grundlegender Einwand gegen diese ersten Versuche, Neuland zu betreten. Zunächst geht es darum, neue Entwicklungen im Zusammenhang mit Web 2.0 zu beschreiben, um dann schrittweise das Verhältnis dieser neuen Formen der Medienkommunikation und der entsprechenden Medienkompetenzen zu klären. Mittlerweile gehört E-Learning vor allem an Hochschulen mehr und mehr zum Alltag in der Lehre. Eine aktuelle Systematik von Michael Kerres und Axel Nattland (2007) unterscheidet Merkmale von E-Learning im Web 1.0-Format und im Web 2.0-Format. „E-Learning 1.0“ (ebd., S. 46) bedeutet, eine geschlossene Lernumgebung wie eine Insel im Internet mit Inhalten und Werkzeugen zur Verfügung zu stellen. Der Lehrende bestückt die Insel mit diesen Inhalten und Werkzeugen, die der Lernende dann nutzt. Dagegen bedeutet „E-Learning 2.0“, dass eine offene, vernetzte Lernumgebung als ein Portal in das Internet mit Inhalten und Werkzeugen zur Verfügung gestellt wird. Der Lehrende stellt die Wegweiser auf, und der Lernende konfiguriert seine persönliche Lern- und Arbeitsumgebung. Sicherlich ist es eine spannende Frage, inwieweit Neue Medien Lernprozesse vom Umgang mit massenmedial verbreiteten, also generalisierten Texten zu einem Umgang mit individuell verfügbaren und gestaltbaren Texten umstellen können. In der wissenschaftlichen Ausbildung gibt es hier sicherlich Grenzen, vor allem im Hinblick auf Nachprüfbarkeit und Seriosität der verwendeten Quellen. Vor dem Hintergrund rasanter und kaum absehbarer Entwicklungen, vor dem vieles offen und spekulativ bleiben muss, sollen im Folgenden einige Bausteine des Zusammenhangs von Medienkompetenz im Kontext Web 2.0 aus mediensoziologischer Sicht näher beleuchtet werden. Der Schwerpunkt liegt dabei nicht auf der konkreten Bestimmung festgelegter Schlüsselqualifikationen für den Umgang mit Neuen Medien, sondern auf der Frage, wie wir uns grundsätzlich Prozesse des Lernens und der Sozialisation im Umgang mit Neuen Medien vorzustellen haben. Es handelt sich also vor allem um eine Erörterung einiger Grundlagen, die benötigt werden, um Fragen des Kompetenzerwerbs im Umgang mit neuen Medien zu bearbeiten. Im ersten Schritt wird der weit verbreitete Begriff der Medienkompetenz näher beleuchtet. Mit Begriffen der Medienkompetenz werden vielfältige Fähigkeiten und Fertigkeiten beschrieben und zwar überwiegend in Form statisch feststellbarer Lernresultate. Dieses Problem, mehr Lernresultate und weniger Lernprozesse zu erfassen, ist ein allgemeines Problem von Kompetenztheorien. Es ist leicht, diese oder jene Medienkompetenzen zu formulieren; daneben gilt es die schwierigere Frage zu beantworten, wie Kompetenzen erworben werden und
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was sie bedeuten. Mit einem kurzen Blick in die Geschichte des Begriffs Kompetenz, der seit einigen Jahrzehnten in verschiedenen sozialwissenschaftlichen Disziplinen unterschiedlich gebraucht wird, wird das Problem des Kompetenzerwerbs deutlich (1). Prozesse des Erwerbs von Medienkompetenz stehen heutzutage unter gewandelten Bedingungen einer gesteigerten „Interaktivität“ Neuer Medien. So kann auch das Schlagwort Web 2.0 in den Kontext dieses Medienwandels und einer genaueren Bestimmung der Interaktivität neuer Medien gestellt werden. Für die sozialwissenschaftliche Medienforschung ist es wichtig, hier Fragen der medialen Form und der dadurch eröffneten Möglichkeiten von Fragen der konkreten Umgangsweise mit diesen Möglichkeiten zu trennen: Neue Medien eröffnen gesteigerte Eingriffs-, Kooperations- und Rückmeldemöglichkeiten für die Nutzer. Hier gilt insbesondere die Internetenzyklopädie Wikipedia als Paradebeispiel für einen interaktiven Kommunikationsraum der Produktion, Organisation und Vermittlung von Informationen und Wissen. Gegen allzu optimistische Vorstellungen von den guten Neuen Medien, die weit mehr als Massenmedien die aktive Beteiligung der Nutzer ermöglichen und fördern sollen, muss jedoch darauf verwiesen werden, dass das Potential an Interaktivität in Relation zur tatsächlichen Realisierung dieses Potentials gesetzt werden muss: So stehen im Falle Wikipedia relativ wenige aktive Autoren relativ vielen nur lesenden Rezipienten gegenüber, eine Tendenz, die sich auch in anderen Bereichen des Web 2.0 findet (2). Dennoch ist ein Medienwandel zu beobachten, der neue individuelle Umgangsweisen mit Medienangeboten ermöglicht. Dieser Medienwandel, so wird am Schluss argumentiert, richtet den Sozialisationsprozess zunehmend von Fremd- auf Selbstsozialisation aus. Der Prozess der Selbstsozialisation im Umgang mit Neuen Medien muss allerdings in unterschiedliche, jeweils gegebene soziale Kontexte eingebettet werden (3). In der geschilderten Weise sollen weniger die konkreten Inhalte und Resultate von Medienkompetenz im Kontext von Web 2.0 beschrieben werden, sondern einige Aspekte der Frage behandelt werden, wie Medienkompetenz in diesem Kontext erworben wird. Wie bereits im Bereich der Sozialisation durch Massenmedien müssen mindestens drei Ebenen differenziert und verbunden werden: erstens der Einfluss der Form der Medien, zweitens die Autonomie- und Gestaltungspotentiale sowie die Deutungen der Rezipienten und Nutzer und drittens die Bedeutung verschiedener sozialer Kontexte der Mediennutzung (4).
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Zum Begriff der Medienkompetenz
Der Begriff Medienkompetenz durchzieht auf vielfältige Weise eine Fülle von Analysen und Debatten in unterschiedlichen Bereichen: nicht nur in der Wissenschaft (etwa in Biologie, Linguistik, Soziologie, Psychologie und Pädagogik), sondern auch in Politik, Recht oder Wirtschaft (vgl. Gapski 2001). Verständlicherweise wird der Begriff dadurch unscharf und mehrdeutig. Er muss deshalb in bestimmten Zusammenhängen spezifiziert werden, um begründen zu können, was damit gemeint ist. Es ist dabei durchaus hilfreich, sich zunächst den allgemeinen Begriff der Kompetenz vor Augen zu führen. Anders als der Begriff der Medienkompetenz weist der allgemeine Begriff der Kompetenz schon eine längere Geschichte auf. Diese Geschichte der Entfaltung von Kompetenztheorien kann in drei Phasen unterteilt werden: 1. die sprachwissenschaftliche Bestimmung des Kompetenzbegriffs während der 70er Jahre, 2. seine Übernahme in unterschiedliche Entwicklungs- und Sozialisationstheorien und 3. seine Verwendung in soziologischen Analysen von Sozialisation und Gesellschaft in den 80er Jahren. Die kompetenztheoretisch orientierten Forschungen hatten mit vielen Problemen zu kämpfen. Schon über die genaue Bedeutung des Begriffs der Kompetenz, die sich in den drei oben genannten Phasen jeweils deutlich verschob, bestanden viele Unklarheiten. In der Sozialwissenschaft ist der Begriff der Kompetenz in Abgrenzung zu Performanz aus der Linguistik Noam Chomskys geläufig (vgl. Chomsky 1972, S. 14): Sprachkompetenz im Sinne Chomskys meint das intuitive Regelwissen, über das die Subjekte verfügen. Performanz umfasst die einschränkenden Faktoren der Sprachverwendung. Die Sprachkompetenz wird mit der Grammatik einer Sprache beschrieben. Wenn Kinder die Sprache erlernen, müssen sie über eine generative Grammatik verfügen, d.h. eine Methode, „(...) wie eine geeignete Grammatik bei gegebenen primären sprachlichen Daten herzustellen sei“ (ebd., S. 41). Dabei handelt es sich um angeborene, individuelle Prädispositionen, die auf einer synchronen Ebene liegen. Dagegen steht in strukturgenetischen Kompetenztheorien die Frage des konstruktiven Erwerbs universeller Kompetenzen im Mittelpunkt. Es handelt sich um Theorien des Erwerbs allgemeiner kognitiver, sozialer und moralischer Kompetenzen in der Tradition Jean Piagets. Grundlegend in dieser Tradition ist ein Konstruktivismus, der sich strikt von einem Nativismus sensu Chomsky abgrenzt: Er besagt, dass Subjekte die Strukturen der eigenen Innenwelt, wie auch der jeweils gegebenen natürlichen und sozialen Außenwelt, in einem aktiven Konstruktionsprozess erst aufbauen. Dabei bilden sich allgemeine subjektive Kompetenzen, die nicht wie bei Chomsky nativistisch, sondern konstruktivistisch angelegt sind: Schon dieser Umstand bedeutet eine erhebliche Veränderung
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des Kompetenzbegriffs in dieser zweiten Phase seiner Entfaltung. Kompetenz wandelt sich von einem synchronen zu einem diachronen Konstrukt, allerdings eng gebunden an intrasubjektive Konstruktionsprozesse. Strukturgenetische Kompetenztheorien erfassen nicht so sehr Lern- und Entwicklungsprozesse, sondern sie fertigen strukturanalytische Beschreibungen von Stufenmodellen der kognitiven, sozialen und moralischen Entwicklung an (vgl. Sutter 1994). Die Fokussierung auf intrasubjektive Konstruktionen wandelt sich mit der Aufnahme des Kompetenzbegriffs in die soziologische Sozialisationsforschung. Neben dem „linguistic turn“ in den Sozialwissenschaften haben strukturgenetische Kompetenztheorien Jürgen Habermas angeregt, den Begriff der Kompetenz in eine Theorie der Verbindung sozialisations- und gesellschaftstheoretischer Perspektiven zu übernehmen. Auf sozialisationstheoretischer Ebene ging es darum, eine soziologische Theorie der Bildung von Ich-Identität mit psychologischen Theorien kognitiver, sozialer und moralischer Entwicklung (u.a. von Piaget, Selman und Kohlberg) zu verknüpfen (vgl. Döbert u.a. 1980). Erkenntnisleitend war dabei die Annahme, dass Subjekte ihre Kompetenzen in sozialen Interaktionen entwickeln. Habermas spricht in diesem Zusammenhang von Rollenkompetenz, Interaktionskompetenz oder aber auch von kommunikativer Kompetenz (vgl. Habermas 1995). Subjektive Kompetenzen werden immer im Rahmen der Entfaltung von kommunikativer Kompetenz erworben und diese wiederum hat stets die Teilnahme an Kommunikationsprozessen zur Voraussetzung. Damit wird das entwicklungspsychologisch herausgestellte Verhältnis zwischen subjektiven und sozialen Strukturen umgekehrt: Es sind die Prozesse sozialer Interaktionen, welche den Bildungsprozess subjektiver Kompetenzen vorantreiben und organisieren. Die genannten kompetenztheoretischen Forschungstraditionen waren vielfältigen Kritiken ausgesetzt, und es sei hier lediglich an drei davon erinnert. Sie richten sich gegen eine entwicklungs- und sozialisationstheoretische Übernahme des Begriffs Kompetenz: Der Begriff der Kompetenz ist erstens nativistisch, synchron und individuell angelegt und eignet sich deshalb nicht für diese Übernahme. Mit dem Begriff der Kompetenz sensu Chomsky wird lediglich die Natur des intuitiven Regelwissens der Sprache, nicht aber dessen Erwerb beschrieben. Kompetenz ist in diesem Sinne ein biologisch begründetes, statisches Konzept. Mit guten Gründen können deshalb schwerwiegende Bedenken gegen die Überführung dieses synchronisch angelegten linguistischen Beschreibungsinstrumentes in subjektive Erwerbstheorien vorgebracht werden. Aus linguistischer Sicht wird Kompetenz in Erwerbstheorien unzulässigerweise mit Konnotationen der Fähigkeit oder Fertigkeit vermischt und mit begriffsfremden Elementen (etwa einer "kommunikativen" Kompetenz) verbunden (vgl. Taylor 1988). Dieser erste allgemeine Punkt lässt sich mit zwei weiteren spezifizieren: Zweitens sind näm-
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lich mit dem Begriff der Kompetenz spezielle Methodenprobleme verknüpft, weil nur Performanzen direkt empirisch zugänglich sind und aus diesen Daten indirekt auf Kompetenzen geschlossen werden muss. Kompetenztheorien bleiben dann letztlich spekulativ (vgl. Damon 1984, S. 67f.). Wenn nämlich Differenzen zwischen den vermuteten Kompetenzen und den empirisch beobachtbaren Performanzen auftauchen, stellt sich eine Fülle von Folgeproblemen, was vor allem an den empirischen Moralforschungen Lawrence Kohlbergs (1984) deutlich wurde. Auf Grundlage eines kompetenztheoretischen Stufenmodells mussten vielfältige performanzbestimmende Faktoren erforscht werden, welche die Umsetzung der vermuteten Kompetenzen fördern oder behindern. Auf diesem Wege ist jedoch die Kompetenztheorie selbst empirisch nicht widerlegbar. Habermas (1983) und Kohlberg (u.a. 1983) haben auch deutlich zugestanden, dass die zentralen kompetenztheoretischen Annahmen nur aufgrund theoretischer Überlegungen modifiziert werden können. Drittens schließlich können die subjektiven Erwerbsstrategien, vor allem aber auch die sozialen Entwicklungsbedingungen der Subjektbildung kompetenztheoretisch nicht expliziert werden. Letztlich wurde ein statischer Begriff der Kompetenz in erwerbstheoretischen Kontexten verwendet. Dies hat dazu geführt, dass man mit strukturanalytischen Beschreibungen vermuteter Kompetenzen, also mit Lernresultaten und nicht mit Prozessen und Kontexten des Lernens bzw. des Kompetenzerwerbs befasst war (vgl. Sutter 1994). Mit diesen skeptischen Bemerkungen zu den in den 70er und 80er Jahren etablierten Kompetenztheorien soll deutlich werden, dass bei der Bestimmung des Begriffs der Medienkompetenz auf einige Punkte geachtet werden sollte, um alte Fehler nicht zu wiederholen. Insbesondere sollte man sich nicht darauf beschränken, mit der Behauptung dieser oder jener Medienkompetenzen nur die Resultate individueller Lernprozesse im Blick zu haben. Darüber hinaus dürfen sowohl soziale Bedingungen, als auch die prozessuale Dynamik von Entwicklungs- und Sozialisationsprozessen im Feld der Medienkompetenzen nicht vernachlässigt werden. Worauf es ankommt ist Folgendes: Man kann sicherlich recht leicht diese oder jene Medienkompetenzen behaupten, aber ob man damit auch etwas Sinnvolles und Gültiges behauptet, zeigt sich erst dann, wenn man auch klären kann, wie und unter welchen Bedingungen sich die behaupteten Kompetenzen ausbilden. Auf diese Weise gelangt man zu einem empirisch gehaltvollen Begriff von Medienkompetenz, ohne die unvermeidlichen Grenzen dieses Begriffs aus dem Auge zu verlieren. Treten wir vor diesem Hintergrund noch einmal einen Schritt zurück und betrachten Begriffe der Medienkompetenz, so können diese in Anlehnung an Baacke (1999) und Theunert (1999) sehr Verschiedenes bedeuten (vgl. auch Sutter/Charlton 2002):
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Medien verstehen: Medienkompetenz kann sich auf das Verständnis medialer Angebote beziehen. Medien beherrschen: Medienkompetenz kann sich auf die Fertigkeiten beziehen, Mediengeräte zu bedienen. Medien verwenden: Die Medienkompetenz kann sich auf den effektiven Einsatz von Medien zur Lösung von schulischen oder beruflichen Aufgaben beziehen. Sie kann sich aber auch in der Fähigkeit zeigen, durch Medien die Freizeit zu gestalten und zu genießen. Medien gestalten: Medienkompetenz kann sich auf die Herstellung von Medienangeboten beziehen. Medien bewerten: Medienkompetenz kann sich schließlich auf die Funktionen des Mediensystems beziehen. Medienkompetenz in diesem Sinne meint die Fähigkeit, gesellschaftliche Verhältnisse erfassen und das eigene Handeln unter normativen und ethischen Gesichtspunkten bewerten zu können.
Sicherlich spielen diese allgemeinen Medienkompetenzen auch im Bereich des Umgangs mit Neuen Medien eine zentrale Rolle. Die Frage, die im Folgenden erörtert wird, geht aber darüber hinaus und wird von den Begriffen der Medienkompetenz nicht mehr abgedeckt: Verändern die gewandelten Formen Neuer Medien die Art und Weise, wie Medienkompetenzen erworben werden? Grundsätzlich ist zu vermuten, dass die gesteigerten Rückkopplungs-, Eingriffs- und Gestaltungsmöglichkeiten, welche Neue Medien den Nutzern bieten, Auswirkungen auf die Mediensozialisation, also die Art des Medienkompetenzerwerbs haben. Wenn weniger für alle fest vorgegeben wird und mehr individuell verfügbar und gestaltbar ist, dann müssten Prozesse der Selbstsozialisation eine zunehmend wichtige Rolle spielen. Die folgenden Überlegungen drehen sich um diesen Zusammenhang, nämlich einer gesteigerten Interaktivität, mit der der fragliche Medienwandel beschrieben wird, und einer Theorie der Selbstsozialisation. 2
Web 2.0 und die Interaktivität neuer Medien
Die Debatte um Web 2.0 kann in den Kontext einer umfassenden Diskussion gestellt werden, was eigentlich das Neue Neuer Medien sein soll und wie es angemessen zu beschreiben ist. Dabei haben Vergleiche mit den alten, etablierten Massenmedien eine bedeutende Rolle gespielt. Insbesondere das Fernsehen als Leitmedium stand und steht für eine einseitige, rückkopplungsarme Kommunikationsform, die soziale, interaktive Beziehungen zwischen Medienakteuren und Rezipienten wirksam verhindert. Massenkommunikation macht sich durch die
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Zwischenschaltung von Technik von den Beschränkungen der Interaktion frei, sie verläuft einseitig und rückkopplungsarm (vgl. Luhmann 1996, S.11). Die besondere Leistung des Systems der Massenmedien besteht darin, Kommunikationen gesellschaftsweit zu verbreiten. Die Leistung der gesellschaftsweiten Verbreitung von Kommunikation wird durch eine einseitige Form der Kommunikation möglich, die von einem Sender an einen unüberschaubaren Kreis heterogener und anonymer Adressaten läuft, die ein verstreutes Publikum bilden. Im Gegensatz zu interaktionsfreien Massenmedien werden nun Neue Medien aufgrund neuer technologischer Möglichkeiten als „interaktiv“ bezeichnet. Damit kann der Wandel von einem rückkopplungsarmen Massenmedium zu einem Medium markiert werden, das vielfältige Eingriffs-, Gestaltungs- und Rückmeldemöglichkeiten eröffnet (vgl. Wehner 1997). Als „interaktiv“ bzw. als Interaktivität Neuer Medien werden technologisch eröffnete, neue Formen der Medienkommunikation bezeichnet (vgl. Sutter 2008): Es handelt sich hierbei insbesondere um neue Rückkopplungs- und Gestaltungsmöglichkeiten für die Nutzer. Darüber hinaus richtet die Bezeichnung Neuer Medien als „interaktiv“ die Analyse neuer medialer Kommunikationsformen auf Vergleiche mit direkten Face-to-face-Interaktionen aus (vgl. Neuberger 2007; Rörig 2006). Es gibt nun zwei Zugangsweisen zu neuen Medien, die eine Theorie der Medienkompetenz zu berücksichtigen hätte: Die erste Zugangsweise setzt an der medialen Formproblematik an und fragt, wie neue Formen der Medienkommunikation angemessen beschrieben werden können. Die zweite Zugangsweise rückt nicht so sehr neue technische Entwicklungen und neue technische Formen in den Mittelpunkt, sondern subjektive Wahrnehmungen von und Umgangsweisen mit neuen Medien (vgl. Bucher 2004). Damit setzt sich in der sozialwissenschaftlichen Medienforschung eine seit langem etablierte Gegenüberstellung medienzentrierter und rezeptions- bzw. nutzerorientierter Perspektiven fort. Wir wissen aus der langen Geschichte dieser Gegenüberstellung in der Massenkommunikationsforschung, dass wir beide Problemstellungen miteinander verbinden müssen, die mediale Formproblematik und das Problem des subjektiven Umgangs mit Medien. Dies gilt erst recht für den Bereich Neuer Medien. Neue mediale Formen zeigen an, was möglich ist, und subjektive Nutzungsweisen zeigen an, was von dem Möglichen dann auch realisiert wird. Die neuen Formen der Internetkommunikation eröffnen erstens individuelle Zugangsweisen zu Medienangeboten und zweitens zunehmende individuelle Eingriffs- und Gestaltungsmöglichkeiten. Die Menschen werden von beobachtenden Rezipienten zu textproduzierenden und gestaltenden Nutzern. Es gibt neue Wege der Information, der Kommunikation und der Unterhaltung. Im Bereich der Information besonders hervorstechend sind wikibasierte Kommunikationsräume und hier vor allem die Internetenzyklopädie Wikipedia (vgl. Meh-
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ler/Sutter 2008). Dieser Kommunikationsraum bietet extrem niederschwellige Beteiligungsmöglichkeiten für die Nutzer. Prinzipiell alle können Texte verfassen und redigieren. Dieser Raum bietet die Möglichkeit, kooperativ Texte zu schreiben, zu redigieren und laufend zu aktualisieren. Im Unterschied zur Funktion der Generalisierung von Medienangeboten im Bereich der Massenmedien fällt hier auf, dass Texte zwar verbreitet werden, aber auch ständig änderbar sind. Im Unterschied zu Büchern, die allen einen identischen Text darbieten, liefert Wikipedia – wohlgemerkt immer nur potentiell – änderbare Texte. Erstaunlicherweise bietet Wikipedia trotz dieser Gestaltungs- und damit Störungs- und Missbrauchsmöglichkeiten eine hohe Qualität der Informationen. Das lässt schon vermuten, dass die Beteiligungsmöglichkeiten viel weniger als die Rezeptionsmöglichkeiten auch genutzt werden (mehr hierzu weiter unten). Im Bereich der Kommunikation sind vielfältige Formen von Chats, Foren, Blogs usw. entstanden. So setzt beispielsweise ein Studium an der Universität Bielefeld – zumindest nach Auskunft von Studierenden im Jahr 2007 – in der Regel die Beteiligung an der Plattform „StudiVZ“ voraus. Auf diese Plattform stellen Studierende Informationen über sich ein, und diese Informationen werden für die Organisation vieler Dinge des täglichen Lebens wie z.B. die Suche eines Mitbewohners für die WG genutzt. Allgemein wird so die Grenze zwischen Privatem und Öffentlichem durchlässig, wenn man auch die Wahl zwischen einem zurückhaltenden, sachlichen oder einem persönlichen bzw. selbstinszenierenden Internetauftritt hat. Im Bereich der Unterhaltung gibt es Spielwelten oder künstliche Lebenswelten wie „Second Life“, in denen Personen sich treffen, um zu spielen und die künstlichen Welten gemeinsam zu gestalten. Natürlich kann man die genannten Bereiche der Information, des kommunikativen Austauschs und der Unterhaltung nicht scharf trennen, vielmehr gibt es hier fließende Übergänge. Es ist sicherlich sinnvoll, aber doch nur ein erster Schritt, diese Entwicklungen als Verschiebungen und Auflösung von Grenzen zu beschreiben, insbesondere die Grenze zwischen Produzenten bzw. Autoren und Rezipienten bzw. Nutzern und die Grenze zwischen Privatem und Öffentlichem. Die Mediensoziologie versucht, solche Aspekte neuer Formen der Medienkommunikation weiter aufzuklären. Hier sind neben den allgemein bekannten Rückmelde-, Eingriffsund Gestaltungsmöglichkeiten weitere spezifische Merkmale zu nennen: etwa die Anonymität der Beteiligten und die damit zusammenhängende Depersonalisierung der Kommunikation (vgl. Krämer 2000). In der Internetkommunikation handelt es sich oftmals nicht um Beziehungen zwischen konkreten Personen, die sich als Personen wahrnehmen und identifizieren, sondern um Intertextualität, um Beziehungen zwischen Texten. Die schriftliche Textförmigkeit der Kommunikation schafft eine unüberbrückbare Differenz zu mündlichen Gesprächen,
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insofern die Nutzer nicht mit Personen, sondern mit Texten bzw. symbolischen Repräsentationen interagieren. Personen werden zu symbolischen Repräsentationen. In diesem Zusammenhang verliert auch die als hoch interaktiv bezeichnete Kommunikationsform des Chats ihre Unschuld. Schriftlich geführte Gespräche können sozialen Interaktionen hinsichtlich der Synchronizität der Beiträge nahekommen, aber stets macht sich die technologische Ermöglichung und Übertragung der Kommunikation bemerkbar (vgl. Beißwenger 2005, S. 82ff.; Tipp 2008). Selbst wenn schriftliche Eingaben in Instant-Messaging-Systemen direkt auf den Bildschirmen der Adressaten erscheinen, ist die gleichzeitige Rezeption der Kommunikation nicht gesichert. Die Adressaten können z.B. mit der Abfassung eigener Beiträge beschäftigt sein. Was also im mündlichen Gespräch (auch per Telefon) zur unverständlichen Kakophonie führt, ist hier der Normalfall: die gleichzeitige Produktion von Äußerungen. Das Mitteilungshandeln und Rezeptions- bzw. Verstehensprozesse sowie Anschlusskommunikationen werden auseinander gezogen, und hier kommt die Kommunikationstechnologie nachdrücklich zum Vorschein. Wenn in dieser Weise Kontingenz und Intransparenz der Kommunikation gesteigert werden, können sich für mehrere an einem Chat beteiligte Personen unterschiedliche Abläufe ergeben. An dieser Stelle geht es lediglich darum, mit diesen Hinweisen exemplarisch zu verdeutlichen, an welchen Beobachtungen und Analysen eine Debatte um Medienkompetenzen im Kontext von Web 2.0 aus mediensoziologischer Sicht anzusetzen hätte. Neben der medialen Formproblematik kann man, wie oben gesagt, bei der Untersuchung Neuer Medien die subjektiven Wahrnehmungen und Umgangsweisen der Nutzer als Ausgangspunkt wählen. Die Interaktivität Neuer Medien und ihre Bedeutung ergeben sich dann primär aus dem praktischen Umgang der Nutzer mit Neuen Medien. Was aber bedeutet der praktische Umgang mit Neuen Medien bzw. dem Web 2.0? Hinweise hierauf geben einige Resultate einer aktuellen Online-Studie unter dem Titel: „Onliner 2007: Das ‘Mitmach-Netz‘ im Breitbandzeitalter“ (Gscheidle/Fisch 2007). Wie der Titel zum Ausdruck bringt, ist Interesse an aktiver Partizipation im Netz grundsätzlich vorhanden, es steigt von 2006 bis 2007 von ca. einem Viertel zu knapp einem Drittel der Internetnutzer. Wenig überraschend ist das breite Interesse bei ca. der Hälfte der 14- bis 19jährigen Nutzer. Dennoch ist der Anteil aktiver Produzenten relativ gering: Drei Viertel der Weblognutzer rufen Informationen nur ab. Im Fall von Wikipedia ist dieses Verhältnis, für viele sicher überraschend, noch wesentlich ausgeprägter: Nur 6% der Nutzer haben schon einmal einen Beitrag verfasst oder Informationen eingestellt, ähnlich sieht es bei Videoportalen aus. „Eine im Verhältnis geringe Anzahl aktiver Nutzer“, so bilanzieren die Autoren die Nutzung verschiedener Web 2.0-Angebote, ‘erschafft‘ also massenattraktive Inhalte. Der Mehr-
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wert ist für viele Nutzer offenkundig nicht die Möglichkeit, selbst aktiv im Netz mitzumachen, sondern attraktive Inhalte passiv konsumieren zu können“ (ebd., S. 401). Das kommt einem bekannt vor, stellt dies doch auch die primäre Leistung des Leitmediums Fernsehen dar. Zweifellos gibt es von der Seite der Medien her gesehen einen tiefgreifenden Medienwandel von einseitigen Massenmedien zu vernetzten „interaktiven“ Medien, von der Nutzerseite her gesehen scheinen die damit verbundenen neuen Möglichkeiten noch wenig umgesetzt zu werden: Wikipedia oder YouTube z.B. erscheinen eher als Massenmedien, nur dass die Inhalte von einigen Nutzern produziert und gestaltet werden. An was auch immer die geringe Neigung aktiver Beteiligung liegen mag, etwa die Skepsis hinsichtlich des Missbrauchs persönlicher Daten, diese Differenz zwischen medial verfügbaren Potentialen aktiver Beteiligung und geringer Realisierung dieser Potentiale ist für eine sozialwissenschaftliche Medienforschung von größter Bedeutung. Nicht zuletzt wäre zu fragen, wie weitgehend man Fragen der Medienkompetenz überhaupt auf Neue Medien abstellen soll und wie weitgehend man herkömmliche Fragen der Medienkompetenz im Kontext von Massenmedien im Blick halten sollte. Wie schon im Bereich der Massenmedienforschung brauchen wir eine Untersuchungsstrategie, die Vereinseitigungen vermeidet. Diese drohen, wenn entweder auf die mediale Formproblematik oder auf die Kontexte und Prozesse der subjektiven Umgangsweisen fokussiert wird. Die Anforderung, nicht nur die Formproblematik neuer Medien, sondern auch Kontexteinbettungen und Umgangsweisen mit neuen Medien zu beachten, stellt sich auch im Bereich der Interaktivität. Und hier lauern nicht nur in der Zentrierung auf die mediale Formproblematik Gefahren. Es würde nämlich ebenfalls zu neuen Vereinseitigungen führen, wenn man meint, Interaktivitätsmerkmale vor allem aus dem praktischen Umgang mit dem Internet heraus analysieren zu können, oder wenn, noch weitergehend, behauptet wird, Web 2.0 sei eine bestimmte Art der Wahrnehmung und der Nutzung des Internet (vgl. Kerres/Nattland 2007, S. 38). Die Möglichkeiten neuer computervermittelter Kommunikation sind nicht nur auf der Ebene der medialen Form und der subjektiven Wahrnehmung und Nutzung, sondern auch in gegebenen sozialen Kontexten zu betrachten. Die neuen Möglichkeiten von Online-Kommunikationen und Online-Gruppen sind eingebettet in soziale Kontexte und hängen bezüglich ihrer Vor- und Nachteile von diesen Kontexten ab (vgl. Matzat 2005): „Wenn die Interaktion innerhalb der Online-Gruppe eingebunden ist in ein soziales Netzwerk, das auch in der Offline-Welt besteht, so wird dies die soziale Einbettung der Online-Interaktion in Netzwerke der Offline-Welt genannt.“ (ebd., S. 176). Diese Einbettung spielt eine zentrale Rolle bei der Gestaltung und Verbesserung von Online-In-
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teraktionen. Typische Probleme sind hier Möglichkeiten der Kontrolle oder auch der Vertrauensbildung. Für die Lösung solcher Probleme ist es oftmals hilfreich, zusätzlich Möglichkeiten der direkten Interaktion außerhalb des Internet zu nutzen. Prozesse des internetgestützten Lernens und Kompetenzerwerbs hängen auch von sozialen Bedingungen ab, die organisiert und gestaltet werden können. 3
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Wenn auch erst noch differenziert zu klären ist, wie Interaktivität sich in der Relation neuer medialer Formen und deren Nutzung jeweils realisiert, so ist doch grundlegend festzuhalten, dass das Internet viel mehr als Massenmedien einen individuell gestaltbaren Zugang zu Medienangeboten eröffnet. Deshalb kann man fragen, wie diese neuen individuellen Umgangsweisen mit Medienangeboten gelernt werden, ob also die gewandelten Formen der Medien Auswirkungen auf Prozesse der Mediensozialisation haben. Wenn und soweit hier Auswirkungen zu beobachten sind, so will ich abschließend als eine begründete Vermutung anführen, müssten diese als eine gesteigerte Bedeutung von Selbstsozialisation in den Blick kommen. Man kann den allgemeinen Begriff der Selbstsozialisation, wenn er auf eine wie auch immer gefasste Eigenständigkeit von Subjekten abzielt, in vielfältige Kontexte der bisherigen Sozialisationsforschung stellen (vgl. Dollase 1999; Veith 2002; Zinnecker 2000). Sozialisationstheorien können danach unterschieden werden, wie sie jeweils Aspekte der Fremd- und Selbstsozialisation gewichten. Je mehr direkte äußere Einfluss-, Instruktions- und Eingriffsmöglichkeiten auf die Subjekte angenommen werden, desto mehr werden Prozesse der Fremdsozialisation betont. Je mehr dagegen Prozesse der Selbstorganisation, Selbstregulierung und Eigenkonstruktivität betont werden, desto mehr kommen Aspekte der Selbstsozialisation in den Blick. Der Zusammenhang von Selbstsozialisation und Mediennutzung bzw. Medienkompetenz ist nicht neu und auch im weiten Feld der Massenkommunikationsforschung bereits eingehend beschrieben und diskutiert worden (vgl. Fromme u.a. 1999). Subjekte sind, wie vielfältige rezeptionsorientierte Untersuchungen zeigen, den Einflüssen der Medien nicht passiv und hilflos ausgeliefert, sondern sie gehen individuell und eigenständig mit Medienangeboten um. Dieser Aspekt der Mediensozialisation müsste schrittweise gegen eine auf mediale Zwänge und Wirkungen gerichtete Medienforschung zur Geltung gebracht werden. Der Umgang mit Medien steht unter äußeren Kontexten und beruht auf subjektiven Voraussetzungen. In ihrer Sozialisation müssen die Nachwachsenden die kognitiven, sprachlichen und sozialen Fähigkeiten, mit Medien umzugehen, erst erwerben (vgl. Charlton 1997). Der Umgang mit Medien wird durch soziale Be-
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dingungen und biographische Lagen bestimmt. Rezipienten nehmen Medienangebote im Zusammenhang persönlich relevanter Themen und bestimmter Probleme wahr. Mehr oder weniger bewusst setzen die Rezipienten ihre Lebenssituation in Beziehung zu den Medienangeboten. Bereits im Bereich der Massenmedien sehen konstruktivistische Theorien der Mediensozialisation viele Möglichkeiten für die Nachwachsenden, den Rezeptionsprozess und den Umgang mit Medien allein oder in sozialer Kooperation mit anderen Personen eigenständig zu steuern. Theorien der Selbstsozialisation können an der allgemeinen Beobachtung ansetzen, dass die Möglichkeiten und Anforderungen wachsen, den Aufbau der eigenen Persönlichkeit selbst zu gestalten (vgl. Hurrelmann 2002). Nun kann gerade im Bereich der Sozialisation im Umgang mit neuen Medien darauf verwiesen werden, dass Nachwachsende zunehmend auf sich selbst gestellt sind und sich deshalb zunehmend selbst sozialisieren (vgl. Fromme u.a. 1999). „Mediennutzung als Selbstsozialisation bedeutet“, wie Daniel Süss (2004, S. 67) formuliert, „dass die Sozialisanden die Wahl von Medien und Medieninhalten selbst steuern, über Medienzeiten und Medienorte in relativer Autonomie entscheiden und die Bedeutung der Medieninhalte im Rezeptionsprozess eigenständig konstruieren.“ Dies ist zum Teil, wie wir sehen, für den Umgang mit Massenmedien formuliert, bei dem es sich um die Rezeption vorgegebener Inhalte dreht, deren Bedeutung aber selbstständig entwickelt wird. Zum Teil sehen wir hier aber auch Aspekte der Interaktivität neuer Medien angesprochen, also insbesondere die individuelle Verfügbarkeit von Medieninhalten. Was wir unter Interaktivität Neuer Medien erörtert haben, geht indessen deutlich darüber hinaus: Die Eingriffs- und Gestaltungsmöglichkeiten für die Nutzer steigern die Autonomie im Umgang mit Medien. Im Unterschied zu den Älteren, so wird oftmals gesagt, legt die jüngere Generation Wert darauf, selbst zu bestimmen, mit welchen Medienangeboten man wann und in welcher Form umgeht. Ob sich hier langfristig ein tiefgreifender Medienwandel mit grundlegenden Änderungen von Nutzungsgewohnheiten verbindet, bleibt erst noch abzuwarten. Auch die jüngeren Leute werden älter und lassen sich dann möglicherweise gerne ganz traditionell von Massenmedien unterhalten. Außerdem: Dass die gesteigerte Interaktivität neuer Medien als Potential zur Verfügung steht, heißt eben noch nicht, wie wir gesehen haben, dass damit dieses Potential auch umgesetzt wird. Soweit jedoch Subjekte in ihrer Mediensozialisation die interaktiven Möglichkeiten neuer Medien nutzen, werden sie zunehmend Prozesse der Selbstsozialisation durchlaufen, weil vormals festgefügte Vorgaben zur Disposition stehen. Sieht man sich indessen die allgemeinen Grundlagen und Bedingungen von ELearning im Kontext von Web 2.0 an, so wird deutlich, dass es sich hier um
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einen sehr voraussetzungsreichen und anspruchsvollen Vorgang handelt, der vermutlich nur in speziellen Bereichen, insbesondere der wissenschaftlichen Ausbildung an Hochschulen realisierbar ist (vgl. Kerres/Nattland 2007; Koenig/Müller/Neumann 2007). Wie weiter oben schon bemerkt, bedeutet „ELearning 2.0“, dass die Lernenden sich selbst eine Lern- und Arbeitsumgebung schaffen. Hierfür sind nicht nur umfangreiche Kompetenzen, sondern auch weitgehende Motivationen nötig. Man wird sehen müssen, ob solche hoch motivierten, aktiven Nutzer Neuer Medien eine begrenzte Gruppe bilden, auf die bestimmte Bereiche von „E-Learning 2.0“ zugeschnitten sind, oder ob sich das Verhältnis von aktiven und passiven Nutzern in Zukunft in Richtung aktiver Beteiligung ändert. Auch wird man sehen müssen, ob und wie weitgehend sich der Wandel von der Nutzung vorgegebener Inhalte zur persönlichen Konfiguration der Lernumgebung durch die Lernenden vollzieht. Das oben erörterte Beispiel Wikipedia aus dem Bereich internetgestützter Informationskommunikation kann für eine erste Einschätzung solcher möglicher Entwicklungen herangezogen werden. Hier wäre die Frage zu stellen, was Nutzer überhaupt dazu motivieren soll, sich an kooperativen Textproduktionen, Textredaktionen und damit verbundenen laufenden Überprüfungs- und Diskussionsprozessen aktiv zu beteiligen. Diese Motivationen werden, bezogen auf die Gesamtzahl der Nutzer, offenbar relativ wenig ausgebildet. Dennoch ist es sicherlich für viele Personen interessant und auch nützlich, sich aktiv an solch einem Kommunikationsraum zu beteiligen. So kann es für Studierende ein großer Anreiz sein, durch eine aktive Beteiligung an kollaborativen Arbeitsräumen im Netz einigen Zwängen der Präsenzlehre mit den festgefügten Raum- und Zeitvorgaben zu entkommen. In großen Kommunikationsräumen wie Wikipedia kann man, und sei es auch nur als Adresse, den Status eines Experten mit entsprechender Reputation und Vorrechten erwerben. Bei alldem scheinen es aber vor allem auch intrinsische Motive der Nutzer zu sein, die hier eine Rolle spielen. Man hat Freude an Problemlösungen, Auseinandersetzungen, kollektiven Verbesserungen usw. Auch dann, wenn man aus grundlegenden Erwägungen heraus Theorien der Selbstsozialisation skeptisch gegenüber steht (vgl. Krappmann 2002) wird man konzedieren müssen, dass die mit Selbstsozialisation beschriebenen Erwerbsprozesse verstärkt in den Blick rücken, wenn gesteigerte Möglichkeiten der Auswahl, der Rückmeldung, des Eingriffs und der Gestaltung im Umgang mit Medien eröffnet werden. Für die Medienpädagogik stellen sich damit Probleme erhöhter Unsicherheiten und Intransparenzen im Prozess des Erwerbs von Medienkompetenz. Der Erwerb von Medienkompetenz wird mehr und mehr ein Fall des selbstgesteuerten Umgangs der Nachwachsenden mit neuen Medien und immer weniger ein Fall geplanter und gesteuerter Instruktion und Vermittlung.
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Neue Medien stellen die Medienpädagogik vor die Aufgabe, das Verhältnis von Fremd- und Selbstsozialisation neu auszutarieren. Auf diesem Wege könnte dann auch die Bedeutung verschiedener Medienkompetenzen weiter geklärt werden. 4
Schluss
Die Austarierung des Verhältnisses von Fremd- und Selbstsozialisation beim Erwerb von Medienkompetenz im Umgang mit Neuen Medien muss den vorlaufenden Überlegungen zufolge mindestens auf drei Ebenen ansetzen und diese miteinander verbinden: neue Formen der Medien, subjektive Wahrnehmungsund Nutzungsprozesse Neuer Medien sowie soziale Kontexte von Internetkommunikationen. Diese drei Ebenen sind auch für eine Theorie des Erwerbs von Medienkompetenz im Bereich der Massenmedien relevant (vgl. Sutter 1999). Im Bereich alter wie neuer Medien stellen sich Fragen nach dem Einfluss der Form der Medien, nach Autonomie- und Gestaltungspotentialen der Rezipienten und Nutzer sowie nach der Bedeutung verschiedener sozialer Kontexte. Neue Überblicke und Systematisierungen verschiedener Analysen der Interaktivität neuer Medien zeigen die Relevanz dieser drei Ebenen, wenn man nach integrierten, umfassenden Konzeptionen von Interaktivität sucht (vgl. Neuberger 2007). So werden beispielsweise die Dimensionen der medialen Kommunikationstechnologie, der verschiedenen kommunikativen Kontexte und der Wahrnehmungsweisen der Nutzer unterschieden (vgl. Kiousis 2002, S. 372ff.). Neben dieser differenzierten Vorgehensweise kommt es entscheidend darauf an, wie die Entwicklungen Neuer Medien und neuer Mediennutzungsweisen künftig verlaufen. In der sozialwissenschaftlichen Medienforschung herrscht hier noch in vielen Punkten Unklarheit. Die in den 90er Jahren geradezu faszinierten Visionen der Neuen Medien sind mittlerweile einer gewissen Ernüchterung in den Analysen gewichen. Die vorlaufenden Überlegungen gingen von der übergreifenden Annahme aus, dass sowohl Dämonisierungen der Wirkungen der Massenmedien, als auch überbordende positive Erwartungen an neue Medien eine vereinfachende und vereinseitigende Sicht zugrunde legen, die sich vor allem oder sogar ausschließlich auf die mediale Formproblematik bezieht. Differenziertere und realistischere Einschätzungen neuer medialer Entwicklungen müssen darüber hinaus Prozesse des kontextuell eingebetteten subjektiven Umgangs mit Medien berücksichtigen. Das gilt auch für den Zusammenhang von Medienkompetenz und den mit Web 2.0 bezeichneten neuen Formen der Medienkommunikation. Auf der einen Seite stellt sich die Aufgabe, die durch neue Formen der Medien eröffneten Möglichkeiten zu beschreiben. Keinesfalls aber kann man Medienkompetenzen aus diesen neuen Möglichkeiten einfach ableiten. Hierzu sind Analysen der Prozesse und der Umstände der Mediennutzung not-
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wendig, also der Realisierung prinzipiell gegebener Potentiale. In der mediensoziologischen Diskussion werden diese Potentiale als Interaktivität beschrieben. Hochgradig interaktive Medien bieten weitgehende Möglichkeiten der aktiven Beteiligung für die Nutzer in den Bereichen Information, Kommunikation und Unterhaltung. Vorliegende Daten zur konkreten Nutzung der Web 2.0-Angebote deuten in die Richtung, dass einem relativ kleinen Prozentsatz aktiv beitragender Nutzer ein großer Anteil nur rezipierender Nutzer gegenübersteht. Ob Web 2.0 wirklich das „Mitmach-Netz“ darstellt, muss aus Nutzersicht doch zumindest mit einem Fragezeichen versehen werden. In vielen Fällen stellt das Netz von wenigen Produzenten erstellte massenattraktive Inhalte zur Verfügung, die breit rezipiert werden. Dennoch ist der mit Interaktivität neuer Medien bezeichnete Medienwandel nicht zu leugnen, und er hat Auswirkungen auf den Erwerb von Medienkompetenzen. Diese Auswirkungen verstärken, so die abschließend erörterte Vermutung, die Tendenz, Medienkompetenz in Prozessen der Selbstsozialisation zu erwerben. Neue Medien stellen die Medienpädagogik vor die Aufgabe, Voraussetzungen, Prozesse und Bedingungen des Erwerbs von Medienkompetenz neu zu überdenken. Das könnte durch eine Diskussion des Verhältnisses von Interaktivität neuer Medien und Selbstsozialisation geschehen.
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Die Medienkompetenz und die ‘neue’ erziehungswissenschaftliche Kompetenzdiskussion
Der Kompetenzbegriff ist nicht allein ein Dauerbrenner in der medienpädagogischen Diskussion. In den letzten Jahren ist er in der Erziehungswissenschaft generell intensiv erörtert und als Konzept praktisch fruchtbar gemacht worden. Insbesondere hat sich der Diskurs in zwei Richtungen entwickelt:
Im Rahmen der Diskussionen um Bildungsstandards ist der Bezug auf Kompetenzmodelle ein zentraler Gesichtspunkt des Diskurses zur Bildungsplanung und Schulentwicklung geworden. Kompetenzmodelle konkretisieren nach Klieme u.a. (2003, S. 9) die Inhalte und Stufen der allgemeinen Bildung; damit erhalten sie eine zentrale Bedeutung für die Konstruktions- und Legitimationsprobleme der aktuellen Bildungs- und Lehrplandebatten. Ebenfalls ist der Kompetenzbegriff in letzter Zeit innerhalb der Erwachsenenbildung intensiv thematisiert worden. Der Kompetenzdiskurs löst hier die Diskussion über „Schlüsselqualifikationen“ ab und betont das lebenslange Lernen und die darauf bezogene Notwendigkeit, das Leben selbstregulativ zu steuern. Erpenbeck/von Rosenstiel (2003, S. XIX) definieren Kompetenzen als „Selbstorganisationsdispositionen“; es sind Anlagen, Bereitschaften, Fähigkeiten, selbst organisiert und kreativ zu handeln und mit unscharfen oder fehlenden Zielvorstellungen umzugehen. Die Autoren unterscheiden denn auch Kompetenzen in dem von ihnen herausgegebenen Handbuch zur Kompetenzmessung von „Qualifikationen“ und halten dazu fest: „Hierin besteht der entscheidende Unterschied zu Qualifikationen: Diese werden nicht erst im selbstorganisierten Handeln sichtbar, sondern in davon abgetrennten, normierbaren und Position für Position abzuarbeitenden Prüfungssituationen. Die zertifizierbaren Ergebnisse spiegeln das aktuelle Wissen, die gegenwärtig vorhandenen Fertigkeiten wider. Ob jemand davon ausgehend auch selbstorganisiert und kreativ wird handeln können, kann durch die Normierungen und Zertifizierungen kaum erfasst werden. Einem »gelernten« Mul-
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timediadesigner mit besten Abschlussnoten kann in der Praxis schlicht nichts einfallen. Danach sind Qualifikationen Positionen eines gleichsam mechanisch abgeforderten Prüfungshandelns, sind Wissens- und Fertigkeitspositionen“ (Erpenbeck/von Rosenstiel 2003, XI). Die Ablösung des Qualifikationsbegriffs durch denjenigen der Kompetenzen weist auf den gesellschaftlichen Wandel des letzten Jahrhunderts zurück, der durch die Individualisierung der Lebenslagen gekennzeichnet ist. Qualifikationen als objektive Messgrössen, die beschreiben, was jemand sozusagen lebenslang kann, werden in einer Gesellschaft zunehmend dysfunktional, die durch einen beschleunigten technologischen Wandel gekennzeichnet ist. Wenn die beruflichen Anforderungen sich rasch verändern, sind immer wieder Anpassungsleistungen nötig, welche selbstorganisiertes Handeln und mithin Selbstorganisationsdispositionen erfordern. Die von Erpenbeck/von Rosenstiel (2003, S. XIII) geforderte neue Lernkultur misst deshalb dem informellen Lernen außerhalb vorgegebener Zertifizierungen eine bedeutsame Rolle zu. Angesichts der Anforderungen eines wenig vorhersehbaren Wandels mit seinen Risiken beginnt das selbstorganisierte Lernen gegenüber Formen fremdgesteuerten oder fremdorganisierten Lernens zu dominieren. Erpenbeck/von Rosenstiel fassen die als Selbstorganisationsdispositionen aufgefassten Kompetenzen in einem Modell von Kompetenzklassen, das davon ausgeht, dass sich selbstorganisiertes Handeln reflexiv auf die handelnde Person bezieht (P) und durch Aktivität und Willenskomponenten des Handelnden näher charakterisiert wird (A). Es bezieht sich zudem auf eine gegenständliche Umwelt und deren fachlich-methodische Erfassung und Veränderung (F) sowie auf eine soziale Umwelt – also auf andere Menschen oder Menschengruppen (S). Somit werden folgende Kompetenzklassen unterschieden:
„(P) Personale Kompetenzen: Als die Dispositionen einer Person, reflexiv selbstorganisiert zu handeln, d.h. sich selbst einzuschätzen, produktive Einstellungen, Werthaltungen, Motive und Selbstbilder zu entwickeln, eigene Begabungen, Motivationen, Leistungsvorsätze zu entfalten und sich im Rahmen der Arbeit und außerhalb kreativ zu entwickeln und zu lernen.
(A) Aktivitäts- und umsetzungsorientierte Kompetenzen: Als die Dispositionen einer Person, aktiv und gesamtheitlich selbstorganisiert zu handeln und dieses Handeln auf die Umsetzung von Absichten, Vorhaben und Plänen zu richten – entweder für sich selbst oder auch für andere und mit anderen, im Team, im Unternehmen, in der Organisation. Diese Dispositionen erfassen damit das Vermögen, die eigenen Emotionen, Motivationen, Fä-
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higkeiten und Erfahrungen und alle anderen Kompetenzen – personale, fachlich-methodische und sozial-kommunikative – in die eigenen Willensantriebe zu integrieren und Handlungen erfolgreich zu realisieren.
(F) Fachlich-methodische Kompetenzen: Als die Dispositionen einer Person, bei der Lösung von sachlich-gegenständlichen Problemen geistig und physisch selbstorganisiert zu handeln, d.h. mit fachlichen und instrumentellen Kenntnissen, Fertigkeiten und Fähigkeiten kreativ Probleme zu lösen, Wissen sinnorientiert einzuordnen und zu bewerten; das schließt Dispositionen ein, Tätigkeiten, Aufgaben und Lösungen methodisch selbstorganisiert zu gestalten, sowie die Methoden selbst kreativ weiterzuentwickeln.
(S) Sozial-kommunikative Kompetenzen: Als die Dispositionen, kommunikativ und kooperativ selbstorganisiert zu handeln, d.h. sich mit anderen kreativ auseinander- und zusammenzusetzen, sich gruppen- und beziehungsorientiert zu verhalten, und neue Pläne, Aufgaben und Ziele zu entwickeln.“ (Erpenbeck/von Rosenstiel 2003, XVI).
Während sich in der Berufs- und Erwachsenenbildung dieses Konzept der Kompetenzen im Sinne von Dispositionen zur Selbstorganisation in den letzten Jahren weitgehend durchgesetzt hat, grenzen sich die im Schulbereich im Rahmen der Diskussion um Bildungsstandards entwickelten Kompetenzmodelle dezidiert davon ab. Dies wird insbesondere in der Klieme-Expertise „Zur Entwicklung nationaler Bildungsstandards“ (Klieme u.a. 2003) deutlich. Dieser Bericht, welcher die bildungspolitische Diskussion um die Frage der Entwicklung von Bildungsstandards für das Schulwesen maßgeblich geprägt hat, geht bei der Definition von Bildungsstandards davon aus, dass Standards anders als Lehrpläne nicht auf Listen von Lehrstoffen und -inhalten zurückgreifen, um Bildungsziele zu konkretisieren. Vielmehr soll es mit ihrer Hilfe möglich sein, „Grunddimensionen der Lernentwicklung in einem Gegenstandsbereich (einer ‘Domäne’, wie Wissenspsychologen sagen, einem Lernbereich oder einem Fach) zu identifizieren. Kompetenzen spiegeln die grundlegenden Handlungsanforderungen, denen Schülerinnen und Schüler in der Domäne ausgesetzt sind. Durch vielfältige, flexible und variable Nutzung und zunehmende Vernetzung von konkreten, bereichsbezogenen Kompetenzen können sich auch ‘Schlüsselkompetenzen’ entwickeln, aber der Erwerb von Kompetenzen muss – wie Weinert (2001) hervorhebt – beim systematischen Aufbau von ‘intelligentem Wissen’ in einer Domäne beginnen“ (Klieme u.a. 2003, S. 21 f.). In einer Anmerkung zu diesem Zitat betonen die Autoren mit Nachdruck, dass der hier verwendete Kompetenzbegriff von den aus der Berufspädagogik stammenden und in der Öffentlichkeit viel
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gebrauchten Konzepten der Sach-, Methoden-, Sozial- und Personalkompetenz abzugrenzen sei. Vielmehr gehe es darum, Kompetenzen als Leistungsdispositionen in bestimmten Fächern oder ‘Domänen‘ zu definieren. Die darin beschriebenen Wissenselemente sind in diesem Konzept durchaus prüfbar und nicht so stark in Prozessen einer kaum normierbaren Selbstorganisation verortet wie im Modell von Erpenbeck/von Rosenstiel. Dieser anders geartete Blickwinkel ist aus der Perspektive des Schulsystems verständlich, wo es um die Vermittlung von Wissen geht, das nach Schulfächern strukturiert ist. Überfachliche Kompetenzen, so scheint es der Schluss dieser Expertise zu sein, entwickeln sich erst in der zunehmenden Vernetzung von domänenspezifischen Kompetenzen. In der darin zugrunde gelegten Auffassung von Weinert können denn auch Schlüsselkompetenzen die basalen Fachkompetenzen nicht ersetzen. Nun könnte man diesen Argumenten entgegensetzen, dass domänenspezifisches Wissen nur einen Teil von Schule darstellt. Wenn Schule bildend sein soll, dann gehört die Integration der Wissensaspekte in den Horizont personaler und sozialer Kompetenzen immer auch dazu. Dass sich diese sog. Schlüsselkompetenzen weniger leicht standardmäßig testen lassen, ist noch kein Grund, sie zu vernachlässigen. Wo dagegen domänenspezifische Fachkompetenzen zu eng qualifikatorisch ausgerichtet sind, besteht die Gefahr, dass Bildungsstandards zu einem Unterricht führen , dessen oberste Maxime das „teaching to the test“ ist (vgl. Herzog 2008 und weitere Beiträge in demselben Heft). Aus dem Lager der gescholtenen Berufspädagogik kommen weitere kritische Argumente: Seeber anerkennt zwar den domänenspezifischen Ansatz für den Schulbereich und argumentiert in Übereinstimmung mit der Expertiseforschung, Problemlösen auf der Basis von Expertise beinhalte die Beherrschung geeigneter domänenspezifischer Kategorien. Schüler ohne ausgeprägtes Domänenwissen vermöchten nicht von den Besonderheiten des Beispiels zu abstrahieren, da es nicht genüge, Lernstrategien allgemein zu beherrschen; vielmehr benötigten die Lernenden ein den Aufgabenanforderungen angemessenes Domänenwissen (Seeber 2003, S. 4). Allerdings bezweifelt er wie auch Sloane/Dilger (2005, S. 15), dass Lernfelder mit Fächern gleichgesetzt werden können. Deshalb sei der Domänenbegriff des Klieme-Gutachtens zu hinterfragen. Wenn Klieme u.a. (2003, S. 18 f.) festhielten, dass Unterrichtsfächer mit wissenschaftlichen Fächern korrespondierten, die bestimmte Weltsichten (historische, literarisch-kulturelle, naturwissenschaftliche etc.) akzentuieren, so sei dies vielleicht für traditionell gymnasiale Profile eine adäquate Interpretation, nicht aber für den Bereich der beruflichen Bildung. Für die Berufsbildung liege auch die Handlungskompetenz innerhalb des Domänenbegriffs, indem das Bewältigen beruflicher Anforderungen sowohl
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theoretisches Wissen wie praktische Erfahrung erfordere. Sloane/Dilger (2005, S. 13) halten denn auch fest, dass in der Diskussion von Lernfeldern eine Differenzierung in Fach-, Human- und Sozialkompetenz vorgenommen werde. Dementsprechend seien für die berufliche Bildung drei Kompetenzperspektiven wichtig: die Domäne resp. das Fach, die Persönlichkeit und die soziale Gruppe. Während Kompetenzen im Rahmen der nationalen Bildungsstandards kognitionstheoretisch als Dispositionen gefasst seien, welche umfassende Problemlösungsprozesse im Rahmen eines generativen Verhältnisses von Kompetenz und Performanz beschrieben, würden Kompetenzen im Rahmen der beruflichen Bildung eher handlungstheoretisch interpretiert: „Sie zeigen sich z.B. als Kompetenzmodelle, um konkrete Tätigkeiten zu systematisieren“ (Sloane/Dilger 2005, S. 15) 5
Der Kompetenzbegriff der Medienpädagogik
Wenn hier ausführlich auf die Kompetenzdiskussion und die Auseinandersetzung mit dem Kompetenzbegriff der beruflichen Bildung Bezug genommen wird, so geschieht dies im Hinblick auf den Kompetenzbegriff der Medienpädagogik. Denn es stellt sich die Frage, wie sich der medienpädagogische Kompetenzbegriff auf dem Hintergrund der aktuellen Diskussionen verorten lässt. Primär ist davon auszugehen, dass die Kompetenzdebatte in der Medienpädagogik lange vor dem aktuellen Diskurs in der Erziehungswissenschaft eine eigenständige Tradition hat. Diese geht insbesondere auf Dieter Baacke (1973) zurück, der sich in den Siebzigerjahren auf den Habermasschen Ansatz der „kommunikativen Kompetenz“ berief (vgl. Habermas 1971). Dabei bezog sich der auf diesem Hintergrund entwickelte Begriff der Medienkompetenz nicht primär auf das schulische Feld; viel eher ist er mit dem Kompetenzbegriff der Berufsbildung verwandt, indem er von einem breiten Konzept einer handlungsorientierten und anwendungsbezogenen Medienkompetenz ausging, das seine Wurzeln eher im außerschulischen Bereich hatte. Dies macht die klassische Formulierung Baackes deutlich, der folgende Bereiche der Medienkompetenz unterschied:
Medienkritik, indem man fähig ist, sich analytisch, ethisch und reflexiv auf Medien zu beziehen; Medienkunde als Wissen über Medien im Sinne der Informiertheit über das Mediensystem, wie auch im Rahmen einer instrumentell-qualifikatorischen Fähigkeit, die entsprechenden Geräte bedienen zu können; Mediennutzung sowohl durch Rezeption wie aktiv als Anbieter; innovative und kreative Mediengestaltung (vgl. Baacke 1996, S. 8)
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Vergleicht man diese Auffassung mit den Kompetenzklassen von Erpenbeck/von Rosenstiel, so liegt folgender Schluss nahe: Die Baackesche Konzeption der Medienkompetenz, die nicht kognitionstheoretisch sondern handlungstheoretisch – mit Bezug auf kommunikatives Handeln – argumentiert, kommt zu ganz ähnlichen Dimensionen der Kompetenz: Die Medienkritik, mit der sich die Individuen reflexiv auf Medien beziehen, hängt eng mit den von Erpenbeck/von Rosenstiel genannten personalen Kompetenzen zusammen. Geht es doch auch hier im Rahmen der Auseinandersetzung mit Medien um Einstellungen, Werthaltungen Motive und Selbstbilder. Medienkunde bezieht sich auf fachlich-methodische Kompetenzen – also auf die Dispositionen einer Person, bei der Lösung von sachlich-gegenständlichen Problemen selbstorganisiert zu handeln. Mediennutzung ist eng mit den von Erpenbeck/von Rosenstiel betonten aktivitäts- und umsetzungsorientierten Kompetenzen verknüpft, die sich auf das Vermögen richten, Motivationen, Fähigkeiten und Erfahrungen zur Verwirklichung von Handlungen einzusetzen. Zu guter Letzt liegt Mediengestaltung sehr nahe bei den sozial-kommunikativen Kompetenzen, wo es darum geht, sich mit anderen kreativ auseinanderzusetzen und daraus gemeinsame Vorhaben zu realisieren. Es mag auf den ersten Blick verblüffen, wie nahtlos sich das Medienkompetenzmodell Baackes mit den Überlegungen von Erpenbeck/von Rosenstiel deckt – wobei höchstens die Akzentuierungen anders gesetzt sind, indem letztere ihr Kompetenzmodell konsequent in allen Dimensionen als Selbstorganisationsdispositionen fassen. Dennoch ist diese Übereinstimmung wohl kaum ein Zufall, indem der Erwerb von Medienkompetenzen ebenso auf die Bewältigung des Lebensalltags bezogen ist wie die Kompetenzen, die man mit Hinblick auf seinen Beruf erwirbt. Auch meine eigenen Überlegungen zur Medienkompetenz (vgl. Moser 2000, S. 217 f.) sind weitgehend kompatibel mit dem Modell von Erpenbeck/von Rosenstiel, was schon dadurch augenscheinlich wird, dass das Kompetenzmodell ebenfalls auf vier – im Einzelnen allerdings etwas anders modellierten Kompetenzbündeln – beruht:
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Technische Kompetenzen Einfache Wartungs- und Installierungsarbeiten an Mediengeräten vornehmen können (Batterienwechsel, Software-Installation, Behebung einfacher Störungen etc.) Umgang mit den Grundfunktionen von elektronischen Geräten (Hard- und Software) im Sinne von Userkompetenzen Denken in einfachen Programmier- und Navigierschemen (Programmieren einer Fernbedienung, Anpassung einer Textverarbeitung auf persönliche Bedürfnisse, Verwalten von Bookmarks aus dem Internet, Bedienung von Suchmaschinen etc.) Verstehen von Fachausdrücken Kulturelle Kompetenzen Offenheit und Neugier für die Angebote der neuen Medien als Teil der zeitgenössischen Alltagskultur, ohne sich diese jedoch unkritisch und euphorisch anzueignen Kompetenz, neben literaler auch auditive und bildsprachliche Informationen zu nutzen Entwicklung von Orientierungskompetenz in einer Welt der überquellenden Informationen (z.B. im Sinne des Wissensmanagements) Multikulturelle Kompetenz, sich in verschiedenen Sphären eines globalisierten Raumes zu bewegen Kreativ und gestaltend mit den neuen Formen der Medienkommunikation umgehen können Soziale Kompetenzen Sich kompetent im Rahmen mediatisierter Beziehungsformen und Kommunikationsmuster verhalten können Sich in einem Mix von realen und virtuellen Beziehungsanteilen zurechtfinden können Sich auf neue Formen der Arbeitsorganisation und -inhalte im Rahmen der Informationsgesellschaft einstellen können (z.B. Telearbeit, internetbasierte Handels- und Betriebsformen etc.) Reflexive Kompetenzen Kritische Beurteilung einzelner Medien und der Medienentwicklung Fähig sein, das eigene Mediennutzungsverhalten einschätzen zu können Über Kriterien verfügen, um Medieninformationen auf ihre Stichhaltigkeit und Relevanz hin beurteilen zu können Mit den technischen Kompetenzen, die in diesem Modell allerdings zu stark vom Computer her gedacht waren, ist eine Dimension formuliert, wo es um jene Teile eines Medienwissens (F) geht, das den fachlich-methodischen Aspekt abdeckt.
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Die kulturellen Kompetenzen (A) als Vertrautsein mit den jeweiligen Codes der Medien sowie mit ihren ästhetischen und gesellschaftlichen Ausdrucksformen beziehen sich auf die Formen des alltäglichen Handelns und stellen Handlungsfähigkeit in kulturell geprägten Alltagssituation her. Medienkritik (P) im Rahmen personaler Kompetenzen und soziale Kompetenzen (S) sind ebenfalls in beiden Modellen präsent, wobei allerdings der Reflexionsbezug in meinem medienpädagogischen Konzept – analog zur Auffassung von Baacke – stärker auf inhaltliche Medienkritik fokussiert. Die Nähe der medienpädagogischen Ansätze zur Ausformulierung der Medienkompetenz zu den Kompetenzmodellen der Berufs- und Erwachsenenbildung wird noch in einem weiteren Aspekt deutlich. Erpenbeck/Sauter (2007, S. 70 ff.) versuchen nämlich eine komplexe und differenzierte Kompetenzarchitektur zu entwickeln und unterscheiden zu diesem Zweck zwischen Grund- und Querschnittkompetenzen. Letztere beziehen sich im Querschnitt auf alle vier Kompetenzklassen. Bei den Querschnittkompetenzen aber nehmen sie neben interkulturellen Kompetenzen, Führungskompetenzen und Innovationskompetenzen ebenfalls explizit die Medienkompetenzen auf – so wie es z.B. das Kompetenzmodell von Baacke oder mein eigener Versuch demonstrieren. 6
Medienpädagogische Kompetenzmodelle im schulischen Curriculum
Die bisherigen Überlegungen beziehen sich auf einen Medienkompetenzbegriff, der nicht primär im Hinblick auf die Schule und die mediendidaktische Problematik entworfen wurde. Im Folgenden geht es darum, einen medienpädagogischen Bezug zu den Fragen der Bildungsstandards und dem darauf bezogenen Kompetenzbegriff herzustellen. Dabei ist primär festzuhalten, dass die Medienpädagogik kein eigentliches schulisches Fach darstellt, sondern überfachlich und integrativ gesehen wird. Dies bezieht sich einmal auf die Themen selbst, wo gemäß dem Orientierungsrahmen „Medienpädagogik“ der BLK ein integratives Konzept gefordert wird, in welchem die bisher getrennten Konzepte zur Leseerziehung, Fernseherziehung oder die informationstechnische Grundbildung zusammengeführt werden (vgl. Wagner/Peschke 2006, S. 8). Fächerübergreifend gedacht sind die medienbezogenen Grundkenntnisse vor allem deshalb, weil sie in verschiedensten Fächern der Schule nutzbar sind. So gehören sowohl die „Medienerziehung“ wie die „Informatik“ im Lehrplan des schweizerischen Kantons Zürich zu den „fächerübergreifenden Unterrichtsgegenständen“. Die doppelte Bedeutung der medienpädagogischen Themen wird dabei klar umschrieben: „Für die Schule ist die Informations- und Kommunikationstechnologie gleichermaßen Werkzeug und Unterrichtsgegenstand“ (Lehrplan für die Volksschule 2000, S. 349). Medien-
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pädagogik ist damit in der Schule so etwas wie ein „überfachliches Fach“ – oder ein Querschnittthema, wie es Erpenbeck/Sauter (2007, S. 73 ff.) für die Erwachsenenbildung postulieren. Auf diesem Hintergrund wird deutlich, dass – im Sinne der Diskussion um Bildungsstandards – medienpädagogische Inhalte zwar ein domänenspezifisches Wissen betreffen, aber im Sinne der Querschnittkompetenzen sich nicht darauf beschränken lassen. Mit Bezug auf die Medienpädagogik läuft die Kritik des Klieme-Berichts an den überfachlichen Kompetenzen ins Leere; gerade die Medienpädagogik belegt, dass es eine Fachlichkeit gibt, die nicht in dem traditionellen Fächerkanon aufgeht – und die dennoch für die schulische Bildung relevant ist. Denn die zunehmende Bedeutsamkeit der digitalen Medien für Lernen und Schule bedeutet, dass es wichtig wäre, für diese Domäne Standards zu formulieren, welche möglichst alle Schülerinnen und Schüler erreichen. Allerdings macht der doppelte Bezug der Medienpädagogik auf fachliche und überfachliche Inhalte die Diskussion um Bildungsstandards in diesem Bereich nicht leichter. So betont Ralph Hartung, Regierungsoberrat im Hessischen Kultusministerium, dass zwar Konsens darüber existiere, dass Medienbildung in allen Fächern zu vermitteln sei, um Medienkompetenz an konkreten Unterrichtsinhalten aufzubauen und zu erweitern. Allerdings merkt er gleichzeitig an: „Hinsichtlich der Frage, ob es nicht zusätzlich ein eigenständiges Unterrichtsfach zur Medienbildung geben muss, gehen die Meinungen jedoch auseinander“ (Hartung 2006, S. 13). Gerhard Tulodziecki (2007, S. 16 ff.; Tulodziecki in diesem Band), der bei seinem Versuch, Bildungsstandards im Medienbereich zu formulieren, vor demselben Dilemma steht, versucht folgenden interessanten Ausweg: Er sieht einerseits die Möglichkeit, Bildungsstandards nach Feldern und Bereichen von Medienkompetenz, bzw. nach Dimensionen und Teilkompetenzen zu formulieren. Allerdings sieht er hier die Gefahr, dass die für den Medienbereich spezifischen Inhalte an Gewicht und Kontur verlieren und nur noch als zweitrangig betrachtet werden. Deshalb formuliert er als Alternative die Möglichkeit einer Strukturierung nach Medienarten – mit dem Vorteil, dadurch den Spezifika dieser Medienarten Rechnung zu tragen. Daraus ergeben sich für ihn zwei Kompetenzmodelle – eines mit dem Ausgangspunkt bei den Medienarten als Domänen der Mediennutzung und eines, das Felder oder Bereiche von Medienkompetenz als übergeordnete Kompetenzbereiche bestimmt. Die Gliederung nach Medienarten bedeutet, dass als Kompetenzbereiche “Printmedien”, “Audiovisuelle Medien” sowie “Computer und Internet” genannt werden. Dies scheint mir indessen aus mehreren Gründen problematisch:
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Einmal liegt es nahe, dass die Printmedien eng mit dem Deutschunterricht verknüpft werden, weil hier bereits ein Fach existiert, das von seiner Herkunft her mit Medien verknüpft ist. Während hier die Anschlüsse des überfachlichen Medienbereichs zu einem traditionellen Schulfach nahe liegen, ist dies bei den beiden anderen Medienarten nicht der Fall. So besteht mindestens die Gefahr, dass sich die damit verbundenen Standards im luftleeren Raum bewegen. Generell sind “Medienarten” zudem relativ flüchtige Gegenstände, die sich unter dem Gesichtspunkt der digitalen Medien auf verschiedenste Weise miteinander verbinden und sich rasant verändern. Fernsehen geschieht heute ebenso auf dem Computer wie das Lesen einer Zeitung; und es ist abzusehen, dass ehemals getrennte Medienarten in naher Zukunft so stark miteinander fusionieren, dass sich die traditionellen Grenzen zwischen ihnen auflösen. In diesem Sinne wäre es ein konservativer Bias, wenn man diese traditionellen Kategorien als Strukturierungsprinzip eines zukunftsorientierten Curriculums übernähme. Drittens stellt sich die Frage, inwieweit Kompetenzen spezifisch für jeweilige Medienarten sind. Gerade dadurch, dass die getrennten Medien immer stärker digital zusammenwachsen, sind es übergreifende Kompetenzen, die in mehreren Medienarten wichtig werden. Visuelle Kompetenzen, um Bilder entschlüsseln zu können, braucht man in ähnlicher Weise bei den Medienarten Zeitung/ Zeitschrift, Fernsehen und Internet.
Aus diesem Grund sind Ansätze zu favorisieren, die von übergreifenden Kompetenzmodellen ausgehen. So haben wir an der Pädagogischen Hochschule Zürich ein Modell entwickelt, welches Medienkompetenzen als breite mediale Handlungsfelder mit personalen Handlungskompetenzen verknüpft (vgl. Moser 2007, S. 17; vgl. Abbildung 1):
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Abbildung 1:
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Zürcher Kompetenzmodell
Ähnlich wie im Konzept von Erpenbeck/von Rosenstiel (2003) gehen wir von Schlüsselkompetenzen des Medienhandelns aus, die in den meisten Domänen bzw. Fächern des schulischen Unterrichts wichtig sind. Medienspezifisches Wissen ist dabei allerdings nicht ausgeschlossen, indem es unter dem Titel “Sachkompetenzen” explizit aufgeführt ist. Ob diese in einem eigenen Fach oder integriert in die verschiedenen Fächer des Curriculum erworben werden, dies soll anschließend nochmals diskutiert werden. Insgesamt gehen wir in dem oben skizzierten Modell von folgenden Überlegungen aus:
Handlungsfelder strukturieren die medienpädagogische Domäne inhaltlich; sie definieren aus der Sicht der Handelnden (Lehrpersonen und Schülern bzw. Schülerinnen) das Lern- und Unterrichtsfeld der Medien. Dabei sind im vorliegenden Modell drei Felder spezifiziert: a. Anwendung und Gestalten von Medienprodukten (und damit die Nutzung von „Produktionsmedien“). b. Austausch und Vermittlung von Medienbotschaften (also das Handlungsfeld des Umgangs mit „Kommunikationsmedien“).
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Medienreflexion und -kritik (als domänenspezifisches Handlungsfeld, das seit den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts immer als wesentlicher Gegenstand der Medienpädagogik hervorgehoben wurde).
Das eigentliche Kompetenzmodell setzt an diesen drei Handlungsfeldern an und bezieht darauf drei Kompetenzbereiche, nämlich 1. Sachkompetenzen, in denen deklaratives Wissen bzw. sachliches und konzeptuelles Wissen gebündelt ist, das zum kompetenten Handeln in den einzelnen Feldern erworben werden muss. 2. Methodenkompetenzen, also prozedurales Wissen bzw. Techniken und Regelwissen, die dazu dienen, im Handlungsfeld kompetent mit Medien zu arbeiten. 3. Sozialkompetenzen, also die medial präformierten sozialen Regeln, deren Beherrschung notwendig ist, um sich kompetent vermittels Medien austauschen und kooperieren zu können.
Die Kompetenzen bauen in einem Niveaumodell aufeinander auf, wobei vier Kompetenzstufen definiert wurden. Der gestufte Aufbau soll es ermöglichen Medienkompetenz als Entwicklungsaufgabe für die Schülerinnen und Schüler zu definieren. 7
Die Funktion von medienpädagogischen Kompetenzmodellen
In diesem Zusammenhang soll auf eine detaillierte Darstellung des auf dieser Skizze basierenden Kompetenzmodells verzichtet werden. Eine Übersicht findet sich in dem Heft zu Bildungsstandards in der Zeitschrift „Computer+Unterricht“ (Moser 2006, S. 49 ff.). Die Frage stellt sich in diesem Zusammenhang vielmehr, was die Funktion von solchen Bildungsstandards sein kann, die nicht auf ein Fach bezogen sind, sondern fächerübergreifende Kompetenzen bezeichnen. Denn es besteht die Gefahr, dass sie lediglich auf dem Papier stehen bleiben, da sie ja in den einzelnen Fächern der Schule (z.B. in Deutsch, Mathematik, den Fremdsprachen etc.) realisiert werden müssen. Die bisherige Geschichte der Medienbildung zeigt auch dort, wo der fächerübergreifende Anspruch wie im Kanton Zürich explizit im Lehrplan festgeschrieben ist, erhebliche Schwächen bei der Umsetzung: Denn in den Fächern ist meist zu wenig Zeit, um auch noch den domänenspezifischen Schulstoff der Medienbildung zusätzlich aufzugreifen. So nähren fächerübergreifende Lerninhalte häufig nur das schlechte Gewissen, während konkret sehr wenig geschieht – zumal die Lehrkräfte, welche die medienbildnerische Umsetzung leisten müssten, selbst in der Anwendung von digitalen Medien wenig geübt sind und zu den Novizen gehören.
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Diese unbefriedigende Lage im Bereich der neuen Medien bestätigt die jüngste schweizerische Umfrage zu ICT in der Schule: Die befragten Schulverantwortlichen sehen zu 70,5% die mangelnden Kenntnisse und Fertigkeiten der Lehrpersonen für den Einsatz von Computern im Unterricht als Hindernis an. Und zu 57,5% bemängeln sie die Motivation der Lehrkräfte hinsichtlich des Einsatzes von Computern (vgl. Barras/Petko 2007, S. 109). Ähnlich belegt eine EU Studie aus dem Jahr 2006, dass deutsche Lehrer im Vergleich zu europäischen Kollegen Computer im Unterricht nur sehr selten einsetzen. So hat fast jeder vierte Lehrer im vorhergehenden Jahr kein einziges Mal einen Computer im Unterricht verwendet. Von den übrigen 78 Prozent wurden mehr als die Hälfte die Rechner nur sehr selten genutzt (vgl. European Commission 2006). Medienkompetenzen und darauf bezogene Bildungsstandards haben gerade auf dem Hintergrund dieser prekären Nutzungssituation eine wichtige Orientierungsfunktion. Einige der damit verbundenen Möglichkeiten sollen kurz skizziert werden: 1.
2.
Wenn medienpädagogische Inhalte in der Schule als integrative und überfachliche Inhalte erscheinen, so bedeutet dies, dass sie sehr oft im Unterricht vernachlässigt werden, da sie sozusagen überall, aber in Tat und Wahrheit nirgends nachhaltig und systematisch realisiert werden. Ist es doch ins Belieben der Lehrerinnen und Lehrer gestellt, dieses zu tun oder zu lassen – und auch die inhaltliche Akzentuierung kann von den Lehrern und Lehrerinnen im Rahmen von meist sehr vagen Vorgaben frei gewählt werden. Es kann deshalb sinnvoll sein, im Rahmen eines Medienprofils einer Schule ein hauseigenes Curriculum zu definieren, das festhält, welche Kompetenzen im Unterricht vordringlich zu fördern sind. Medienpädagogische Bildungsstandards können diese Entwicklung unterstützen, indem die Lehrerinnen und Lehrer eines Schulhauses gemeinsam festlegen, welche Standards sie erreichen wollen und in welchen Fächern das geschieht (vgl. Moser 2005). Wo Schulen in diesem Sinne Medienprofile entwickeln, kann über Standards eine gewisse Verbindlichkeit und ein gemeinsamer Orientierungsrahmen entwickelt werden. Wo in der Schule Medienprojekte oder Medienmodule durchgeführt werden, können Bildungsstandards koordinierende Funktionen übernehmen. So fördert das Bundesland Baden-Württemberg die fachintegrative Medienbildung durch „Module“ für den Unterricht, wobei Unterrichtsmodule wie folgt definiert werden: „Unterrichtsmodule sind überschaubare Unterrichtsvorhaben, die nach einer vorgegebenen Struktur aufbereitet und dargestellt werden, inhaltlich an den Standards der Bildungspläne orientiert sind und die miteinander sowohl horizontal (also in Bezug auf andere Fächer bzw.
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Fächerverbünde) als auch vertikal (in Bezug auf Standards in unterschiedlichen Klassenstufen) vernetzt sind“ (Antritter/Pretz 2004, S. 11). Allerdings reicht der Bezug auf die Standards der Fächer nicht aus; vielmehr bedarf es eigener medienpädagogischer Standards, welche die Wissensdomäne der Medienpädagogik zur Sprache bringen – und somit dem integrativen Bezug auf die verschiedenen Fächer eine innere Kohärenz geben. Dies belegt das Beispiel der Werbung, das Antritter/Pretz als fächerübergreifendes Modul der Medienbildung konzipieren. Die in der untenstehenden Abbildung 2 von Antritter/Pretz (2004, S. 13) beschriebenen „Themenbereiche“ könnten sehr gut mit einem medienbildnerischen Kompetenzmodell verknüpft werden. Auf diese Weise wäre ein integratives Modell der Medienbildung realisierbar, das durch die Fokussierung auf den Aufbau von Medienkompetenzen Interdisziplinarität mit eigenen domänenspezifischen Anforderungen zu verknüpfen vermag.
Abbildung 2:
3.
Fächerübergreifendes Modul Antritter/Pretz 2004, S. 13)
zur
Medienbildung
(Quelle:
Obwohl der Querschnittcharakter der Medienpädagogik einen Konsens der Bildungspolitik sowie der medienpädagogischen Fachwissenschaften darstellt, muss es nicht der letzte Schluss sein, dass Medienpädagogik in den schulischen Curricula ausschließlich integrativ zu erteilen ist. Denn es gibt ein domänenspezifisches Fachwissen, das möglicherweise mit Vorteil gebündelt und verdichtet in eigenen Gefäßen des schulischen Bildungsgangs
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angeboten würde. So wäre es alternativ möglich, an ein bis zwei Stellen der Volksschulcurricula ein temporäres Fach (z.B. während je eines Semesters) einzuführen. Oder man könnte sich auch vorstellen, in bestehenden Fächern „Fenster“ zu definieren, wo mediales Wissen gezielt (und zwingend) vermittelt wird – fokussiert in beiden Fällen durch ein Medienkompetenzmodell, welches aufgrund spezifischer Gewichtungen die zu vermittelnden Inhalte definiert. Bildungsstandards im Medienbereich können zur Entwicklung von Instrumenten zur Selbstevaluation eingesetzt werden. Dies geschieht z.B. in der Schweiz mit dem auf dem Hintergrund unseres Zürcher Kompetenzmodells entwickelten Test-Instrument „Test Your ICT Knowledge“ (Login auf: http://www.educanet2.ch/ww3ee/345553.php?sid=29964788299222266121 732563256790).
Abbildung 3:
Startseite „Test Your ICT Knowledge“
Es handelt sich dabei um ein kostenloses Angebot des schweizerischen Bildungsservers, das vom schweizerischen Bundesamt für Berufsbildung und Technologie im Rahmen der Initiative Public Private Partnership - Schule im Netz finanziert wurde. Der Test ermöglicht die Selbstevaluation von Schülerinnen und Schülern, indem sie ihre Fähigkeiten im Umgang mit Computern und Internet in einem Online-Test überprüfen können. Neben diesen individuellen Einsatzmöglichkeiten gibt der Test ein differenziertes Bild der ICT-Kompetenzen einer Klasse bzw. eines Schulhauses, was als Voraussetzung für die gezielte Aufarbeitung von Schwächen im Bereich der Medienkompetenzen dienen kann. So heißt es im Schlussbericht des Kompetenzzentrums für Bildungsevaluation und Leistungsmessung an der Universität Zürich (KBL) zu diesem Projekt: „Am Ende eines Tests erhalten die Schülerinnen und Schüler ein standardisiertes Feedback, dem
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sie die Anzahl richtig gelöster Aufgaben sowie die erreichte Kompetenzstufe entnehmen können. Die Lehrpersonen können darüber hinaus die korrekten Lösungen aller Aufgaben, die gewählten Lösungen ihrer Schülerinnen und Schüler sowie eine Klassenauswertung online einsehen oder als Excel-File auf ihren Computer herunterladen. Anhand der Testauswertung und der Standards können Lehrerinnen und Lehrer ihren ICT-Unterricht planen oder aber den Erfolg ihres ICT-Unterrichts direkt evaluieren“ (Keller/Moser 2005, S. 13). 8
Medienkompetenzen im Zeitalter von Web 2.0
Es wäre allerdings problematisch, Medienkompetenzen und darauf bezogene Bildungsstandards primär unter dem Aspekt des Testens zu sehen. Denn damit könnten jene Gefahren dominieren, welche Tulodziecki mit der Festlegungen von Bildungsstandards verbindet:
eine Dominanz von vorgegebenen Zielen zu Lasten von Schülerbeteiligung und Prozessorientierung; die Orientierung am Maßstab der Prüfbarkeit anstelle des Bezugs zu übergreifenden Leitideen von Erziehung und Bildung; die Orientierung an aktuellen Anforderungen anstelle einer Zukunftsorientierung, die gerade angesichts der rasanten Entwicklung im Bereich der Informations- und Kommunikationstechnologie wichtig wäre; die Dominanz von einheitlichen Anforderungen gegenüber dem Blick auf die individuelle Kompetenzentwicklung im Rahmen eines biografischen Prozesses (vgl. Tulodziecki 2007, S. 25).
Insgesamt könnte man dies dahingehend auf den Punkt bringen, dass die Gefahr besteht, Medienkompetenzen über qualifikatorisch definierte Standards als erreichbare Produkte des schulischen Unterrichts zu definieren und nicht mehr in jenem Sinn, den Erpenbeck/Sauter (2007, S. 67) als Fähigkeit, selbstorganisiert zu denken und zu handeln bzw. als Selbstorganisationsdispositionen bezeichnen. Unterricht mit digitalen Medien ist in einem solchen Kontext weniger an eng formulierten Lernzielvorgaben orientiert, sondern an einer „Ermöglichungsdidaktik“, welche von einer prinzipiellen Wirkungsoffenheit von Lehr-Lernprozessen ausgeht (vgl. Arnold 2007). Für Sachwissen, das in Tests meist überproportional vertreten ist, bedeutet dies: Es geht darum, Fakten nicht einfach auswendig zu lernen und mechanisch abzurufen, sondern den Erwerb von Wissen in einem engen Zusammenhang zum Aufbau von Handlungsfähigkeit zu sehen (vgl. Moser 2008, S. 78).
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Diese Orientierung der Medienkompetenzen an den Überlegungen zu Selbstorganisationsdispositionen ist nicht zuletzt auch deshalb von Bedeutung, weil die Lernstile, über welche sich die Jugendlichen mit digitalen Medien auseinandersetzen, sich zu verändern beginnen. Vor allem im angelsächsischen Bereich existieren dazu unter Begriffen „Netgeneration“ (Oblinger/Oblinger 2005), „Homo Zappiens“ (Veen/Vrakking 2006), „Digital Natives“ (Prensky 2006), „Produser“ (Bruns 2007) etc. eine Vielzahl von Ansätzen, welche diese Entwicklung beschreiben. Nach Cross (2007) ist es ein entscheidendes Merkmal, dass das Lernen immer mehr vom Push- zum Pull-Prinzip übergehe. Lernen bedeute immer weniger, programmgesteuert zu lernen, sondern sich responsiv auf emergierende Veränderungen innerhalb einer unsicheren Zukunftsperspektive einzustellen. Wer sich mit digitalen Medien befasst, lernt den Umgang mehr durch Ausprobieren, Experimentieren oder mit der Hilfe von Peers im Netz. Gezieltes Erarbeiten einer Anleitung oder das Durchlaufen eines formellen Kurses zur Einführung in ein neues Programm finden dagegen kaum noch statt – was zur Folge hat, dass die Anbieter von digitalen Medien (ob Hard- oder Software) heute ihren Produkten in aller Regel kaum mehr Anleitungen beifügen. Gleichzeitig verlagert sich der Lokus der Kontrolle, der im traditionellen Unterricht stark von den Lehrerinnen und Lehrern bestimmt wurde, immer mehr auf komplexe Arrangements von Lernenden, Couches, Lehrenden, Technologie und Ressourcen (vgl. Moser 2008, S. 37 ff.). Gerade für diese Generation darf die Bedeutung der Schule für die Vermittlung von Medienkompetenzen nicht überschätzt werden. Da Kinder und Jugendliche vor allem im außerschulischen Alltag intensiv Medien nutzen, erwirbt die „Netzgeneration“ auch dort die Mehrzahl der Medienkompetenzen, über die sie aktuell verfügt. Was bleibt nun aber in diesem Zusammenhang noch für die Bildungsbestrebungen der Schule übrig, bzw. braucht es diese noch? Denn wenn Kinder im außerschulischen Bereich Medienkompetenzen erwerben, die es ihnen ermöglichen, sich im Rahmen selbstorganisierten Lernens die Computerwelt selbst anzueignen, dann kann man sich fragen, ob es dazu überhaupt noch Anstrengungen von Seiten der Schule braucht. Dennoch gibt es zwei Argumentationsstränge, die für einen nachhaltigen Computereinsatz in der Schule sprechen. Einmal wird die Verstärkung des Computereinsatzes in der Schule gefordert, weil der alltägliche Umgang zu Hause stark Unterhaltungsbedürfnisse in den Vordergrund stellt: das Gamen, Up- und Downloaden von Musik, das Angucken von Video-Streams, Chatten mit MSN etc. Demgegenüber setzt die Arbeit mit Computern im beruflichen Alltag andere Schwerpunkte: Man setzt Textverarbeitungen ein, geht mit Datenbanken um, nutzt Kreativsoftware wie Mindmanager, bearbeitet Fotos mit geeigneten Programmen etc.
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Auf diesem Hintergrund könnte es die Aufgabe der Schule sein, Lücken zu schliessen und systematisch mit jener Software zu arbeiten, die über Freizeitbedürfnisse hinausweist – wie z.B. mit Office Programmen, Bild- und Videobearbeitungsprogrammen etc. Berufsbezogenes Wissen und Reflexionswissen über die Informationsgesellschaft und die Risiken im Umgang mit Technologien könnten also ein Programm für eine digitale Medienbildung in den Schulen sein. Denn es sind Bereiche, um die sich sonst niemand in der Gesellschaft kümmert, und die in der Alltagsnutzung des Computers nicht automatisch mitgelernt werden. So finden sich auch beim Umgang mit dem Web 2.0 immer wieder Feststellungen, wie unbesorgt Kinder und Jugendliche ihre eigenen Daten in ihren Profilen umgehen. Zweitens muss man jenseits der Fragen des Schutzes und der Wissens- und Fertigkeitslücken davon ausgehen, dass Computer und Internet so weit zum Alltag von Kindern und Jugendlichen gehören, dass die damit verbundenen Medienkompetenzen eine Ressource darstellen, die von der Schule viel stärker aufgegriffen und genutzt werden sollte. Betrachtet man Medienkompetenz unter dem Blickwinkel von Selbstorganisationskompetenzen, dann müssten im schulischen Lernkontext Aufgaben gestellt werden, die es ermöglichen, über die Praxis des selbstorganisierten Lernens, Medienkompetenzen gleichzeitig anzuwenden, dadurch Fähigkeiten zu differenzieren und die eigenen Kompetenzen weiterzuentwickeln. Es geht also weniger darum, im Sinne einer Vermittlungsdidaktik, klar definierte und vorgegebene Fertigkeiten des Umgangs mit digitalen Medien zu vermitteln, sondern im Rahmen einer Ermöglichungsdidaktik, eigenständige Lernprozesse anzuregen (vgl. Moser 2008, S. 29; vgl. auch Arnold 2007, S. 33.ff.), die auch informelles und autodidaktisches Lernen mit und über Medien zulassen und als Quelle in schulisches Lernen einbeziehen. Dies entspricht nicht zuletzt den Ansprüchen, die mit dem Web 2.0 verbunden werden. Solche Lernräume „übersetzen“ das Mitmach-Web in den Erfahrungskontext der Schülerinnen und Schüler und geben Anregungen und Motivationen, dieses neue Web nicht allein passiv konsumierend zu nutzen. Nicht zuletzt aus diesem Grund legen Erpenbeck/Sauter (2007) einen Akzent auf die Kompetenzentwicklung im Netz und betonen ein „new blended Learning“ im Rahmen des Web 2.0. Denn die Nutzung der Social Software gebe die Möglichkeit, Methoden der schöpferischen Problemlösung (Fach- und Methodenkompetenz), der Selbstreflexion (personale Kompetenz), soziale Sichten und Weltanschauungen (Sozialkompetenz) und individuelle Handlungen (Aktivitätskompetenz) miteinander zu verknüpfen (Erpenbeck/Sauter 2007, S. 166). Wenn es die Schule versäumt, die Medienkompetenzen ihrer Schüler, welche diese aus dem Alltag mitbringen, aufzunehmen und Lernumgebungen zu schaffen, in denen diese genutzt werden können, dann entsteht im Umgang mit
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digitalen Medien ein Graben zwischen schulischem und nicht-schulischem Alltag: Den Kindern der Netzgeneration wird implizit vermittelt, dass ihre (außerschulischen) Medienkompetenzen nichts mit jenem Bereich zu tun haben, der traditionellerweise als Bildung bezeichnet wird. Dies bedeutet aber, dass wesentliche Lernchancen vertan werden – und dass die Entwicklung der Medienkompetenzen in jenen Domänen, die in der Informationsgesellschaft immer stärker auch Berufs- und Karrierechancen bestimmen, vernachlässigt wird. Montgomery (2008, S. 29) bringt die Alternativen für das Bildungssystem auf den Punkt: Entweder bleibt der Unterricht so, wie er ist – und wir wundern uns, warum die Schule die Welt der Jugendlichen nicht mehr erreicht, die zu den „Digital Natives“ gehören. Oder wir ziehen mit und bieten den Schülerinnen und Schülern eine digitale Lernumgebung an, die sie anspricht, weil sie zu jenem Leben gehört, das den Alltag der Heranwachsenden in der heutigen Gesellschaft generell bestimmt. Eine vernetzte Schulmedienlandschaft wird dann für den Unterricht bald genauso zentral sein, wie es die Informations- und Kommunikationstechnologien in der Arbeitswelt sind (vgl. Moser 2008, S. 20). Wie Schelhowe betont, sollten Kinder und Jugendliche Gelegenheiten erhalten, in der Schule ihre spontane und spielerische Nutzung der Digitalen Medien, welche ihre Imaginationen prägen, zu reflektieren, „indem sie neue Aneignungsweisen erleben, Entstehungsprozesse nachvollziehen und dadurch Verantwortung übernehmen können“ (Schelhowe 2007, S. 180). Dies betrifft nicht nur die technische und die informatische Seite des Umgangs mit den Medien – vielmehr sollte auf diese Weise auch mit dem Internet gearbeitet werden; und die Schülerinnen und Schüler sollten in den Schulen die Möglichkeit erhalten, Anwendungen des Web 2.0 auszuprobieren, indem sie aktiv an einem Blog partizipieren, kollaborativ einen Text mit einem Wiki erstellen, Fotos und Videos in ein Schulprojekt einbeziehen etc. Gefordert ist also nicht eine informationstechnische Grundbildung, die im Sinne des Teaching to Test Medienkompetenzen abprüft, sondern der Einsatz digitaler Medien bei verschiedensten schulischen Aufgabenstellungen – etwa bei Problem-, Entscheidungs-, Gestaltungs- und Beurteilungsaufgaben, wie sie Schulz-Zander, Tulodziecki, Bender (2008, S. 11 f.) als Perspektiven für E-Learning in der Schule beschreiben.
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Heinz Moser
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Gerhard Tulodziecki
Standards für die Medienbildung als eine Grundlage für die empirische Erfassung von Medienkompetenz-Niveaus
Verschiedene internationale Vergleichsstudien zu Kompetenzen von Schülerinnen und Schülern haben die Forderung nach Bildungsstandards immer lauter werden lassen. Im Zuge entsprechender Entwicklungen sind für zentrale Fächer Bildungsstandards vereinbart worden. Ihre Formulierung und Überprüfung gelten als ein wichtiges Instrument zur Qualitätssicherung. So verwundert es nicht, dass mittlerweile auch für den Bereich der Medienbildung die Forderung nach Bildungsstandards erhoben wird und erste Entwürfe vorliegen (vgl. z.B. Moser 2006; Tulodziecki 2007a, 2007b). Allerdings nimmt die Medienbildung in der bildungspolitischen Diskussion eine Sonderstellung ein, weil es sich bei ihr nicht um ein Unterrichtsfach, sondern um einen fächerübergreifenden Bereich handelt. Gerade deshalb sollte – auch vor dem Hintergrund verschiedener konzeptioneller Ansätze zur Medienbildung – bewusst bleiben, dass sich die Medienbildung mit der Formulierung von Standards in ein Spannungsfeld begibt, das durch unterschiedliche und zum Teil divergierende Perspektiven gekennzeichnet ist. Vor diesem Hintergrund werden im Folgenden zunächst in aller Kürze das Spannungsfeld und eine mögliche Positionierung zu Fragen der Bildungsstandards skizziert, ehe zentrale Fragen der Entwicklung von Bildungsstandards als eine Grundlage für die empirische Erfassung von Ausprägungen der Medienkompetenz bearbeitet werden. 1
Spannungsfeld und mögliche Positionierung zu Bildungsstandards im Medienbereich
Das Spannungsfeld, in dem die Formulierung von Bildungsstandards für die Medienbildung steht, lässt sich u.a. durch die folgenden Aspekte charakterisieren (vgl. dazu die ausführlichere Darstellung bei Tulodziecki 2007b: 25-26): a) Standards laufen Gefahr, als Mittel der Lernsteuerung im Sinne vorgegebener Ziele aufgefasst zu werden und damit zu einer Dominanz von Zielorientierung zu ungunsten von Prozessorientierung und Schülerbe-
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Gerhard Tulodziecki
teiligung zu führen. Sie unterlaufen damit u.U. die wünschenswerte Verständigung der am Lernprozess Beteiligten hinsichtlich der Ziele und Vorgehensweisen bei medienpädagogischen Aktivitäten. b) Standards können eine vorrangige Orientierung an Prüfbarkeit mit der Gefahr nach sich ziehen, vor allem das zu verfolgen, was „messbar“ erscheint. Dies kann zu Lasten einer Orientierung an Leitideen für Erziehung und Bildung gehen, die schwieriger zu überprüfen sind, z.B. die Leitidee eines sachgerechten, selbst bestimmten, kreativen und sozial verantwortlichen Handelns im Medienzusammenhang. c) Standards sind u.a. mit dem Bestreben verbunden, zu bestimmten Zeitpunkten einheitliche Anforderungen zu erreichen. Sie stehen so u.U. der Notwendigkeit entgegen anzuerkennen, dass es sich bei der Kompetenzentwicklung um einen Prozess handelt, der mit der jeweils individuellen Biographie verwoben ist. d) Standards können zu einer besonderen Orientierung an aktuellen Gegebenheiten verführen, z.B. hinsichtlich der gegenwärtigen technischen Möglichkeiten bzw. Programme. Sie tragen so u.U. der notwendigen Zukunftsorientierung – mit der Öffnung für zukünftige Entwicklungen – nur in unzureichender Weise Rechnung. e) Standards werden in der Regel von Experten formuliert, die über die notwendige Zeit und die Mittel zu ihrer Entwicklung verfügen. Der Prozess der Standardentwicklung widerspricht somit u.U. einer wünschenswerten Partizipation der direkt Betroffenen im Sinne der Selbstbestimmung. Das damit skizzierte Spannungsfeld ist letztlich nicht auflösbar. Den angesprochenen Problemen stehen allerdings positive Möglichkeiten von Standards gegenüber. So können Bildungsstandards beispielsweise zu einer größeren Transparenz hinsichtlich der Erwartungen an die Medienbildung beitragen und damit der Verständigung verschiedener beteiligter Gruppen dienen sowie den Geltungsanspruch der Medienbildung in der Bildungsdiskussion insgesamt stärken. Gleichzeitig können Bildungsstandards wichtige Funktionen bei der Weiterentwicklung der Medienbildung erfüllen, z.B. eine Orientierungs-, eine Curriculum-, eine Reform-, eine Qualifizierungs- und eine Evaluationsfunktion (vgl. Tulodziecki/Grafe 2006: 37-38). Um Gefahren bei der Formulierung von Bildungsstandards zu verringern und mögliche positive Funktionen von Bildungsstandards bzw. Kompetenzerwartungen zu erreichen, liegt es nahe, dass sich die Medienbildung in dem skizzierten Spannungsfeld – wie folgt – positioniert:
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Bezogen auf a) sollten Bildungsstandards nicht als Mittel der Lernsteuerung, sondern als Mittel der Reflexion von Prozessen genutzt werden, wobei sich aus der Reflexion durchaus Anregungen für weitere Prozesse im Sinne der „Konstruktion“ ergeben können. Hinsichtlich b) sollte die Entwicklung von Standards ausdrücklich in den Kontext der Bildungsdiskussion sowie in den Kontext der Diskussion um Medienkompetenz gestellt werden, um eine Verengung auf (leicht) Prüfbares zu vermeiden. Mit Blick auf c) sollten der Formulierung von Standards Kompetenzmodelle zugrunde gelegt werden, in denen die Medienbildung konsequent als Entwicklungsprozess verstanden wird, und auf dieser Grundlage sollten mit Bezug auf empirisch bewährte Entwicklungstheorien individuelle Fördermöglichkeiten eröffnet werden. Bezüglich d) sollten Bildungsstandards unter Berücksichtigung gegenwärtiger und absehbarer zukünftiger Situationen auf übertragbare bzw. kategoriale Einsichten, Fähigkeiten und Bereitschaften zielen. Im Hinblick auf e) sollten erstens Betroffene in den Entwicklungsprozess von Standards einbezogen werden und zweitens die formulierten Standards Gestaltungsspielräume zulassen.
Die bisherigen Überlegungen legen nahe, dass die Formulierung von Bildungsstandards auf der Grundlage von Kompetenzmodellen erfolgt. Dabei sollte mit Bezug auf die Problemlage d) angestrebt werden, das gesamte Medienspektrum und seine Entwicklung im Auge zu behalten, so dass neuere Entwicklungen, z.B. in der Form des Web 2.0, zwar einbezogen sind, aber nicht die Überlegungen dominieren. Insgesamt erfordert die Formulierung von Bildungsstandards, dass im Entwicklungsprozess u.a. folgende Fragen sorgfältig diskutiert bzw. entschieden werden (vgl. auch Klieme u.a. 2003): x x x x x
Welche Bereiche oder Aspekte von Medienkompetenz sollen im Kontext der Bildungsdiskussion zur Strukturierung des Modells dienen? Welche Ansätze oder Gesichtspunkte können für eine Differenzierung nach verschiedenen Niveaus im Sinne der Entwicklung von Kindern und Jugendlichen herangezogen werden? Für wie viele Niveaus sollen Standards formuliert werden? Soll es sich dabei um Mindest-, Regel- oder Höchststandards handeln? Auf welchem Abstraktionsniveau sollen die Standards formuliert werden? Sind Gestaltungsspielräume gesichert? Welche Möglichkeiten eröffnen sich, die entwickelten Bildungsstandards hinsichtlich ihres Erreichens zu prüfen?
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Diese Fragen sollen im Folgenden aufgenommen und bearbeitet werden. Als Grundlage wird dazu zunächst ein kurzer Blick auf die Diskussion um Medienkompetenz im Zusammenhang mit der Bildungsdiskussion geworfen. 2
Zur Diskussion um Medienkompetenz und Medienbildung
In der medienpädagogischen Diskussion lassen sich bezüglich des Begriffs der Medienkompetenz mindestens drei Ebenen unterscheiden, wobei sich diese allerdings nicht immer klar voneinander trennen lassen. Auf einer ersten Ebene geht es um den Rahmen, aus dem heraus Fragen der Medienkompetenz bzw. Leitideen für die Medienbildung entwickelt werden. Beispielsweise wählt Baacke (1996: 6) Überlegungen zur kommunikativen Kompetenz als Rahmen und definiert Medienkompetenz als „Fähigkeit, in die Welt aktiv aneignender Weise auch alle Arten von Medien für das Kommunikations- und Handlungsrepertoire von Menschen einzusetzen“. Wagner (2004: 3, 55) bezieht eine historische Perspektive und beschreibt Medien als „Werkzeuge der Weltaneignung“ in ihrer Bedeutung für die kulturelle und gesellschaftliche Entwicklung. Medienkompetenz zielt für ihn „auf Kritik- und Analysefähigkeit und muss auch die Erweiterung der Ausdrucks- und Erlebnisfähigkeit einschließen.“ Groeben (2002a: 160) nähert sich dem Begriff der Medienkompetenz zum einen über ein Verständnis von Medien, bei dem diese als „technologische Kommunikationsmittel bzw. -instrumente verstanden werden, ohne zu vernachlässigen, dass damit auch Sozialisationsinstanzen vorliegen, die das Selbst- und Weltbild der Individuen beeinflussen“. Zum anderen reflektiert er den Kompetenzbegriff und kommt in Übereinstimmung mit Hurrelmann (2002) zu der Feststellung, „dass der Kompetenzbegriff letztlich und notwendigerweise mit einem Menschenbild verbunden ist, das sich in erster Näherung bestimmen lässt als das gesellschaftlich handlungsfähige Subjekt“ (Groeben 2002b: 16). In einem ähnlichen Sinne geht Tulodziecki (1997: 116) von Leitideen für Erziehung und Bildung in der Informations- und Wissensgesellschaft aus und beschreibt Medienkompetenz als Fähigkeit und Bereitschaft zu einem sachgerechten, selbst bestimmten, kreativen und sozial verantwortlichen Handeln in einer von Medien mitgestalteten Welt (vgl. Tulodziecki 1997: 116). Auf einer zweiten Ebene stellt sich die Frage nach einer sinnvollen Ausdifferenzierung von Medienkompetenz und einer Strukturierung curricularer Überlegungen. Hier ergeben sich vor allem vier unterschiedliche Zugänge, die in einzelnen Konzepten auch miteinander verbunden werden. x
Strukturierung nach Feldern bzw. Bereichen von Medienkompetenz: Beispielsweise unterscheidet Baacke (1996: 8) vier Felder: Medien-
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Kritik, Medien-Kunde, Medien-Nutzung und Medien-Gestaltung. Moser (2006: 49) nennt bei seinen Kompetenzüberlegungen zusammenfassend drei Handlungsfelder: Anwendung und Gestaltung von Medienprodukten, Austausch und Vermittlung von Medienbotschaften, Medienreflexion und -kritik. Bei einer etwas anderen Differenzierung nach zentralen Handlungs- und Inhalts- bzw. Reflexionsfeldern lassen sich zwei Handlungsfelder (Auswählen und Nutzen von Medienangeboten, Gestalten und Verbreiten eigener Medienbeiträge) sowie drei Inhaltsund Reflexionsfelder (Verstehen und Bewerten von Mediengestaltungen, Erkennen und Aufarbeiten von Medieneinflüssen, Durchschauen und Beurteilen von Bedingungen der Medienproduktion und Medienverbreitung) nennen, so dass insgesamt fünf Aufgabenbereiche entstehen, die jeweils in weitere Teilaufgaben gegliedert werden können (vgl. Tulodziecki 1997: 142-221). Strukturierung nach Dimensionen: Aufenanger (2001: 119-120) versucht z.B. eine Bestimmung des Begriffs der Medienkompetenz über fünf Dimensionen. Er unterscheidet eine kognitive, eine moralische, eine soziale, eine affektive und eine ästhetische Dimension sowie eine Handlungsdimension. Groeben (2002a: 165-179) spricht ebenfalls von Dimensionen, integriert unter diesem Begriff allerdings Überlegungen zu Aufgabenfeldern und Fähigkeiten sowie Dimensionen im Aufenangerschen Sinne. Dabei nennt er Medienwissen/Medialitätsbewusstsein, medienspezifische Rezeptionsmuster, medienbezogene Genussfähigkeit, medienbezogene Kritikfähigkeit, Selektion/Kombination von Mediennutzung, (produktive) Partizipationsmuster und Anschlusskommunikation. Strukturierung nach Funktionen: Werden Medien vor allem in ihrer funktionalen Bedeutung für Lernen und Lehren betrachtet, lässt sich u.a. ihr Stellenwert für Information, Präsentation, Kommunikation und Kooperation hervorheben. Verlässt man den engeren Rahmen von Lernen und Lehren kann man als Funktionen u.a. noch Unterhaltung, Spiel und Werbung als mögliche Funktionen hervorheben. So wird in solchen Konzepten Medienkompetenz als Fähigkeit beschrieben, Medien für entsprechende Funktionen zu nutzen. Strukturierung nach Medienarten: Spanhel (1999: 173) benennt z.B. bei seinen curricularen Überlegungen für die Medienerziehung in unterschiedlichen Jahrgangsstufen verschiedene „Leitmedien“: Bilder (Fotos, Dias, Gemälde und Comics) für das 5. Schuljahr; Fernsehen, Video und Filme für das 6. Schuljahr; Hörmedien für das 7. Schuljahr; Zeitung und
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Zeitschriften (Printmedien) für das 8. Schuljahr; Multimedia, CD-ROM und Internet für das 9. Schuljahr. Neben diesen zwei Ebenen kommen in Überlegungen zur Medienbildung auf einer dritten Ebene verschiedene Aspekte der Durchführung von Unterrichtseinheiten oder Projekten zum Tragen. Nahezu durchgängig wird dabei das Prinzip der Handlungsorientierung gefordert – zum Teil verknüpft mit anderen Prinzipien wie Kommunikations-, Situations-, Erfahrungs-, Bedürfnis- und Entwicklungsorientierung (vgl. z.B. Tulodziecki 1997: 140-141). Des Weiteren geht es um das Vorgehen selbst. In Übereinstimmung mit dem Prinzip der Handlungsorientierung, ist z.B. ein erkundungs-, problem-, entscheidungs-, gestaltungsoder beurteilungsorientiertes Vorgehen zu empfehlen (vgl. Tulodziecki/Herzig 2004: 196-202). Während die erste der skizzierten Ebenen vor allem den möglichen Rahmen für ein Kompetenzmodell umschreibt, bezieht sich die zweite Ebene in besonderer Weise auf die Frage, wie ein Kompetenzmodell für die Entwicklung von Bildungsstandards strukturiert werden könnte. Die dritte Ebene zielt dagegen eher auf die Frage nach möglichen Umsetzungen bzw. Prozessstandards. Da in diesem Beitrag die Frage der Bildungsstandards im Mittelpunkt steht, werden bei den folgenden Überlegungen vor allem die Hinweise zur zweiten Ebene wieder aufgenommen. Bei der Frage möglicher Aufgaben für die Kompetenzüberprüfung ergeben sich allerdings auch Bezüge zur dritten Ebene. 3
Entwicklung eines Kompetenzmodells für die Medienbildung
Mit den im Abschnitt 1 genannten Fragen und den Hinweisen zur Diskussion um Medienkompetenz im Abschnitt 2 wird deutlich, dass es sich bei der Entwicklung eines Kompetenzmodells bzw. bei der Formulierung von Standards um einen mehrstufigen Entscheidungsprozess handelt – was bei der Darstellung mancher Kompetenzvorstellungen und Bildungsstandards kaum noch sichtbar wird, so dass zum Teil der Eindruck vermittelt wird, das jeweilige Kompetenzmodell sei ein empirisch oder normativ vorgegebenes Muster, das man nur zu erfassen brauche. Eine solche Suggestion wird weder der Realität der Entwicklung von Kompetenzmodellen bzw. Bildungsstandards gerecht noch ist sie aus pragmatischer Sicht wünschenswert, weil sie dazu führen könnte, die jeweiligen Kompetenzmodelle gegen Kritik abzuschirmen und damit zugleich Verbesserungsmöglichkeiten abzuschneiden. Demgegenüber stelle ich die folgende Entwicklung von Kompetenzmodellen als offenen Entscheidungsprozess dar, bei dem Entscheidungen zwar begründet gefällt werden können, grundsätzlich aber auch anders ausfallen könnten.
Standards für die Medienbildung
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3.1 Zur Festlegung von Kompetenzbereichen und Kompetenzaspekten Geht man von der Diskussion um Medienkompetenz und Medienbildung aus, kommen prinzipiell folgende Zugänge für die Gliederung in Kompetenzbereiche und Kompetenzaspekte in Frage (vgl. Abschnitt 2): Felder bzw. Bereiche oder Dimensionen von Medienkompetenz oder Funktionen von Medien oder Medienarten. Mit diesen drei Möglichkeiten sind u.a. folgende Vorzüge und Probleme verbunden: x
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Eine Strukturierung nach Feldern bzw. Bereichen von Medienkompetenz hätte den Vorzug, einen medienübergreifenden Zugriff bei gleichzeitigem Blick auf die Komplexität der Medienlandschaft zu ermöglichen. Da exemplarisches Vorgehen nahe gelegt würde, ließe sich zudem die Anzahl der zu formulierenden Standards begrenzen. Eine solche Strukturierung brächte allerdings das Problem mit sich, dass die Umsetzung im schulischen Alltag relativ hohe Anforderungen an schulinterne curriculare Überlegungen sowie an Schulentwicklungsprozesse stellt. Bei einer Strukturierung nach Dimensionen ergäbe sich ein Vorzug dadurch, dass die Entwicklung in den einzelnen Dimensionen anhand von allgemeinen Entwicklungstheorien relativ gut beschrieben werden könnte und ein Anschluss an die Diskussion um Schlüsselkompetenzen leicht möglich wäre. Allerdings ergäbe sich die Gefahr, dass die für den Medienbereich spezifischen Inhalte an Gewicht und an Kontur verlören und im schulischen Curriculum als zweitrangig betrachtet würden. Eine Strukturierung nach Funktionen würde „querliegende“ Aufgaben in verschiedenen Unterrichtsfächer betonen, z.B. Erarbeiten von Informationen aus verschiedenen Medien, Präsentieren von Arbeitsergebnissen mit Hilfe von Medien, Kommunizieren und Kooperieren mit medialer Unterstützung. Allerdings wäre die Gefahr gegeben, nur den funktionalen Stellenwert von Medien zu betonen und den Begriff der Medienkompetenz in praktizistischer Weise zu verkürzen und ihn u.U. sogar in Begriffen wie Lernkompetenz, Informationskompetenz oder Methodenkompetenz zum Verschwinden zu bringen (vgl. z.B. Vaupel 2006). Eine Strukturierung nach Medienarten böte den Vorteil, den Spezifika einzelner Medienarten Rechnung zu tragen und einen sukzessiven Aufbau von Komplexität zu ermöglichen. Zugleich wäre sie anschlussfähig an einen intuitiven Zugang von Lehrkräften zu Medienfragen sowie an verschiedene fachliche Lehrplanformulierungen, z.B. zur Zeitung oder
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zu audiovisuellen Texten. Allerdings bestände die Gefahr, die medienund fächerübergreifenden Aspekte – auch im Hinblick auf zukünftige Entwicklungen – aus dem Auge zu verlieren und eine relativ große Anzahl von Standards zu erhalten. Vor dem Hintergrund dieser Einschätzung kann man – insbesondere für die schulische Praxis und im Bewusstsein der damit verbundenen Problemlagen – zwei vorrangige Zugänge vorschlagen: Einen Zugang über die Medienarten und einen Zugang über Bereiche bzw. Felder von Medienkompetenz. Beide Zugänge sind an anderer Stelle als Kompetenzmodelle mit der Formulierung von Bildungsstandards ausgeführt (vgl. Tulodziecki 2007c). Im Folgenden wird an dem Zugang über Felder oder Bereiche von Medienkompetenz gezeigt, wie sich verschiedene Strukturierungsansätze integrieren lassen und welche weiteren Entscheidungen zu treffen sind. Demgemäß werden Felder oder Bereiche von Medienkompetenz als übergeordnete Kompetenzbereiche genutzt, wobei sich die oben genannten Aufgabenbereiche aufgrund ihrer Validierung in einem Modellversuch sowie aufgrund ihres integrativen Charakters verwenden lassen (vgl. Tulodziecki/Möller/Doelker 1998). Dimensionen von Medienkompetenz sollen aufgenommen werden, um Anregung für eine Differenzierung unterschiedlicher Niveaus zu erhalten. Funktionen von Medien lassen sich bei dem Aufgabenbereich des Auswählens und Nutzens von Medienangeboten als Kompetenzaspekte verwenden. Medienarten können bei dem Aufgabenbereich des Gestaltens und Verbreitens eigener Medienbeiträge als Kompetenzaspekte gewählt und bei einigen Standardformulierungen exemplarisch genannt werden, um den schulischen Zugang zu Medienfragen für die Lernenden und Lehrkräfte zu erleichtern. Die Struktur eines entsprechenden Kompetenzmodells ist in der Tabelle 1 dargestellt. 3.2 Zur Berücksichtigung von Gesichtspunkten für eine Differenzierung in Niveaus Gemäß den obigen Überlegungen zu Dimensionen von Medienkompetenz kann man verschiedene Entwicklungstheorien zur Differenzierung einzelner Niveaus heranziehen, z.B. Ansätze zur psychomotorischen, zur affektiv-motivationalen, zur intellektuellen, zur psychosozialen oder zur moralischen Entwicklung. Bei den folgenden Differenzierungsüberlegungen werden vor allem drei Themenkomplexe wegen ihrer besonderen Bedeutung für die Medienbildung aufgenommen:
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Bedürfnis- und Motivtheorien, die insbesondere mit der affektivmotivationalen Entwicklung verbunden sind, theoretische Ansätze zur kognitiven Komplexität, die insbesondere Fragen der intellektuellen Entwicklung berühren, theoretische Ansätze zum sozial-moralischen Urteilsniveau, die insbesondere auf die Entwicklung von Wertorientierungen zielen.
Bezüglich der Bedürfnisentwicklung geht z.B. Maslow (1981) davon aus, dass das Verhalten des Menschen und zugleich seine Antriebe und seine Emotionen durch fünf Grundbedürfnisse bestimmt sind, die sich nacheinander entwickeln. Mit Bezug auf die Mediennutzung lassen sich in leichter Modifizierung des ursprünglichen Ansatzes unterscheiden (vgl. Tulodziecki 1997: 120-129): physische und psychische Grundbedürfnisse (Beispiel: ein Kind nutzt einen Abenteuerfilm, um sein Bedürfnis nach Sinneserregung zu stillen), Sicherheits- und Orientierungsbedürfnisse (Beispiel: ein Mädchen beobachtet in einer Vorabendserie Verhaltensweisen der weiblichen Figuren, um Erwartungen bezüglich ihrer Geschlechterrolle kennen zu lernen), Zugehörigkeits- und Liebesbedürfnisse (Beispiel: ein Jugendlicher schaut Videoclips einer bestimmten Musikband an, um mitreden zu können), Achtungs- und Geltungsbedürfnisse (Beispiel: ein Jugendlicher versucht, ein bestimmtes Level eines Computerspiels zu erreichen, um anderen zu imponieren) sowie Selbstverwirklichungsbedürfnisse (Beispiel: ein Jugendlicher gestaltet einen Videofilm, um eigene künstlerische Begabungen zu erproben). Von dem Niveau der Befriedigung oder Nicht-Befriedigung solcher Grundbedürfnisse hängen die jeweiligen Motivationen von Kindern und Jugendlichen ab. Dabei kann man annehmen, dass im Kindesalter außer den physischen und psychischen Grundbedürfnissen vor allem die Sicherheits- und Orientierungsbedürfnisse sowie die Zugehörigkeits- und Liebesbedürfnisse wichtig sind. Diese bleiben auch im Jugendalter bedeutsam, werden im Regelfall allerdings durch Geltungs- und Achtungsbedürfnisse mit entsprechenden Konsequenzen für das Medienverhalten erweitert und können schließlich durch das Bedürfnis nach Selbstverwirklichung ergänzt werden. Aus einer solchen Sicht wäre es beispielsweise unangemessen, zum Ende des Grundschulalters eine selbst bestimmte Mediennutzung – ohne Berücksichtigung der Mediennutzung der Peergroup – als Standard zu erwarten. Eine selbst bestimmte Mediennutzung kann erst auf einem späteren Niveau erreicht werden. Hinsichtlich der kognitiven Komplexität von Individuen kann man bezogen auf Handlungen zunächst fragen, über wie viele Handlungsmöglichkeiten ein Jugendlicher in einer bestimmten Situation gedanklich verfügt, z.B. wenn er sich über einen Sachverhalt informieren möchte. Darüber hinaus ist wichtig, wie detailliert die Handlungsschritte ausgeprägt sind, welche Gesichtspunkte zur
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Bewertung von Handlungsmöglichkeiten herangezogen werden können und auf welchem Niveau sie strukturiert sind (vgl. Schroder/Driver/Streufert 1975; Tulodziecki 1997: 130-133). Vor diesem Hintergrund lassen sich fünf Stufen der intellektuellen Entwicklung ausmachen, die sich auch bei Entscheidungen, Handlungen und Beurteilungen im Medienbereich zeigen: fixiertes Denken (in einer bestimmten Situation wird nur eine Handlungsmöglichkeit gesehen, z.B. alleinige Nutzung der Boulevardpresse, wenn man sich über einen Sachverhalt informieren möchte), pauschal-isolierendes Denken (Handlungsalternativen kommen zwar in den Blick, werden aber nur isoliert und allgemein bewertet, z.B. pauschale Auf- oder Abwertung einzelner Informationsquellen), konkretdifferenzierendes Denken (Handlungsmöglichkeiten werden nach Vor- und Nachteilen abgewogen, z.B. Begründung der Medienwahl durch Bezugnahme auf offenbare Vorteile im Vergleich zu Nachteilen), systematisch-kriterienbezogenes Denken (Handlungsmöglichkeiten werden im Aspekt von bewussten Kriterien eingeschätzt, z.B. Bewertung verschiedener medialer Quellen nach Gestaltung, Informationsgehalt und Glaubwürdigkeit), kritisch-reflektierendes Denken (Kriterien zur Bewertung von Handlungsmöglichkeiten werden bei der Anwendung selbst kritisch reflektiert, z.B. Informationsgehalt versus „Aufmachung“). Bei Kindern im Grundschulalter sind zunächst die Entwicklungsstufen des fixierten und des pauschal-isolierenden Denkens zu erwarten, wobei sich im Laufe der Grundschulzeit zunehmend Tendenzen zum konkret-differenzierenden Denken herausbilden (können). In den Jahrgangsstufen der Sekundarstufe I dominiert in der Regel zunächst das konkret-differenzierende Denken; mit der Zeit sollten sich systematisch-kriterienbezogene Denkweisen und dann (möglichst) Tendenzen zum kritisch-reflektierenden Denken entwickeln (vgl. Tulodziecki 1997: 133). Vor diesem Hintergrund könnte man z.B. von Schülerinnen und Schülern der sechsten Schulstufe bei der Bewertung von Medien nur erwarten, dass sie Vor- und Nachteile nennen, eine systematisch-kriterienbezogene Bewertung wäre im Regelfall noch eine Überforderung. Mit Blick auf die Entwicklung des sozial-moralischen Urteilsniveaus lassen sich Kompetenzunterschiede zwischen verschiedenen Individuen hinsichtlich der Fragen unterscheiden, inwieweit über die eigene Sichtweise hinaus die Perspektive anderer Bezugspersonen oder der Gesellschaft oder gar der Menschheit eingenommen werden kann, inwieweit Verantwortung für ein Zusammenleben mit anderen oder auch für das Wohl aller Menschen übernommen wird, welcher Begriff von richtigem bzw. gerechtem Handeln zugrunde liegt, ob z.B. nur das für richtig gehalten wird, was einem selbst nützt, oder ob gerechtes Handeln durch die Beachtung von gesetzlichen Reglungen oder gar durch die Übereinstimmung mit universalen ethischen Grundsätzen gekennzeichnet ist (vgl. Kohlberg 1977; Tulodziecki 1997: 135-139). Demgemäß lassen sich verschiedene
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Stufen der sozial-moralischen Entwicklung unterscheiden, die vor allem für Konfliktsituationen bei der Medienerziehung, aber auch für die Rezeption und Verarbeitung von Medieninhalten relevant sind: egozentrische Fixierung auf die eigenen Bedürfnisse unter Vermeidung von Strafe (z.B. Spielen eines menschenverachtenden Computerspiels mit Freunden trotz Verbots durch die Eltern, so lange nichts herauskommt), Orientierung an eigenen Bedürfnissen unter Beachtung der Interessen anderer (z.B. den Eltern anbieten, in der Küche zu helfen, wenn man dafür abends ins Kino gehen darf), Orientierung an der Erwartung von Bezugspersonen und Bezugsgruppen (z.B. Anschauen einer Vorabendserie, weil die Freunde enttäuscht wären, wenn man am anderen Tag nicht darüber reden könnte), Orientierung am sozialen System mit einer bewussten Übernahme gerechtfertigter Verpflichtungen (z.B. Verzicht auf das beliebige Kopieren von urheberrechtlich geschützter Software, weil es dem Urheberrecht widersprechen würde), Orientierung an individuellen Rechten und ihrer kritischen Prüfung unter dem Anspruch der menschlichen Gemeinschaft (z.B. Verzicht auf das Anschauen eines indizierten Films, weil durch die Darstellungen die Menschenwürde verletzt wird). Ähnlich wie bei der Entwicklung des intellektuellen Niveaus sind in der Grundschulzeit Entwicklungen von den ersten beiden Stufen zur dritten zu erwarten. Im Laufe der Sekundarstufe I kann die zunächst zu erwartende Dominanz bei der dritten Stufe durch Entwicklungen zur vierten Stufe und günstigstenfalls zur fünften Stufe abgelöst werden (vgl. Tulodziecki 1997: 139). Demgemäß sollten z.B. für das Ende der Grundschulzeit maximal Standards formuliert werden, welche die dritte Stufe voraussetzen; Standards zum Ende der Sekundarstufe I dürften in der Regel nicht mehr als die vierte Stufe erfordern. In diesem Sinne lassen sich Entwicklungsüberlegungen heranziehen, um Bildungsstandards entwicklungsgemäß zu formulieren und um zu vermeiden, dass Bildungsstandards formuliert werden, die auf den vorgesehenen Altersstufen noch nicht erreichbar sind. 3.3 Zur Festlegung der Anzahl von Niveaus Grundsätzlich wäre es denkbar für jede Jahrgangs- bzw. Schulstufe Bildungsstandards zu formulieren. Dadurch würde allerdings eine relativ große Festlegung erfolgen, die eine flexible Einbettung medienpädagogischer Aktivitäten in den Schulalltag erschweren könnte. Zudem würde damit unter Umständen negiert, dass Kompetenzentwicklungen längere Zeit brauchen und nicht in zu kurzen Abständen erwartet werden dürfen. Deshalb empfiehlt es sich, für die Medienbildung nur für drei Niveaus Standards zu formulieren, und zwar für das Ende der vierten Jahrgangsstufe, der sechsten Jahrgangsstufe und der neunten Jahrgangsstufe. Die Begründung für die Wahl dieser Zeitpunkte liegt darin,
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dass die vierte Jahrgangsstufe in den meisten Bundesländern in Deutschland das Ende der Grundschulzeit markiert und dass bis dahin bedeutsame Aspekte von Medienkompetenz angebahnt sein sollten, dass am Ende der sechsten Jahrgangsstufe wichtige Grundlagen der Medienbildung erforderlich sind, um in den Jahrgangsstufen 7 bis 9 medienpädagogische Aktivitäten durchführen zu können, ohne immer wieder Zeit für Grundlagen zu benötigen, und dass am Ende der neunten Klasse – als Abschluss der Hauptschule in mehreren Bundesländern – ein Niveau erreicht sein sollte, welches den Jugendlichen ein sachgerechtes, selbst bestimmtes, kreatives und sozial verantwortliches Handeln in einer wesentlich durch Medien mitgestalteten Lebenswelt ermöglicht.
Tabelle 2 zeigt eine beispielhafte Umsetzung für den Aufgabenbereich „Auswählen und Nutzen von Medienangeboten“. In ähnlicher Weise könnte eine Umsetzung für die anderen Aufgabenbereiche erfolgen (vgl. Tulodziecki 2007b). Da das Ende des vierten und der Abschluss des neunten Schuljahres für viele Schülerinnen und Schüler zugleich die Beendigungen der betreffenden Bildungsabschnitte markieren, könnte allerdings eingewendet werden, dass die Festlegung dieser Zeitpunkte für die Formulierung von Bildungsstandards dem Gedanken der Förderung widerspräche, denn am Ende der jeweiligen Bildungsabschnitte sei es dafür zu spät. Diese Kritik würde jedoch nur zutreffen, wenn erst am Ende des betreffenden Bildungsabschnittes eine Einschätzung des jeweiligen Kompetenzerwerbs erfolgte. Insofern wird mit diesem möglichen Kritikpunkt darauf aufmerksam gemacht, dass entsprechende Einschätzungen schon vorher stattfinden und für Fördermaßnahmen genutzt werden sollten. Bei der Formulierung von Standards ist es außerdem wichtig anzugeben, ob die Standards als Mindest-, Regel- oder Höchststandards aufzufassen sind. Im Falle der Tabelle 2 sollen die Standards als Regelstandards aufgefasst werden, um auszuweisen, welches Niveau wünschenswert für alle erscheint. Dies soll jedoch nicht ausschließen, die Standards situations- und zielgruppenspezifisch zu interpretieren bzw. an die jeweiligen Situationen und Zielgruppen anzupassen. Bei solchen Anpassungen sollten auch Mindeststandards formuliert werden, um die Verpflichtung ins Bewusstsein zu heben, für alle Schülerinnen und Schüler ein bestimmtes Niveau zu erreichen. Eine situations- und zielgruppenspezifische Interpretation (einschließlich der Formulierung von Mindeststandards) kann auch bedeuten, eine geeignete Auswahl aus den Standards für das jeweilige schulinterne medienpädagogische Konzept vorzunehmen. Dies wird sich besonders
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anbieten, wenn eine Schule ihr medienpädagogisches Konzept schrittweise entwickeln und zunächst noch nicht alle Standards anstreben möchte. 3.4 Zum Abstraktionsgrad der Formulierung von Standards Standards können auf sehr unterschiedlichen Abstraktionsgraden formuliert werden. Dabei gilt, dass abstraktere Formulierungen es ermöglichen, mit weniger Bildungsstandards auszukommen, dafür aber hinsichtlich der Kontrollierbarkeit unbestimmter sind und gegebenenfalls durch Indikatoren ergänzt werden müssen, während sehr konkret formulierte Bildungsstandards zwar relativ einfach zu prüfen sind, dafür aber zu außerordentlich umfangreichen Listen führen. Vor dem Hintergrund des mit dem vorgestellten Kompetenzmodell verbundenen Ziels, für das gesamte Medienspektrum sowie für fünf Aufgabenbereiche der Medienbildung Standards zu formulieren, sind die Bildungsstandards in der Tabelle 2 auf einem mittleren Niveau formuliert. Wichtiges Kriterium für den gewählten Abstraktionsgrad war, dass aus den Formulierungen möglichst hervorgeht, wie Aufgaben zum Nachweis der Standards aussehen könnten, ohne diese im Detail vorwegzunehmen. Dadurch sollen die Formulierungen zum einen hinreichend konkret sein, zum anderen aber Gestaltungsspielräume für Umsetzungen bieten. Im Vergleich zu anderen Ansätzen liegt der gewählte Abstraktionsgrad beispielsweise unterhalb des von Moser (2006) gewählten Abstraktionsgrades (Moser kommt z.B. für vier Niveaus medienübergreifend zu „nur“ 36 Standards, benötigt allerdings zur weiteren Erläuterung insgesamt 181 Indikatoren; das hier vorgestellte Kompetenzmodell führt demgegenüber für das Abschlussniveau der neunten Jahrgangsstufe zu insgesamt 55 Standards (vgl. Tulodziecki 2007b). Angesichts der Möglichkeit, auf der Basis der hier gewählten Formulierungen Aufgaben zu entwickeln, erscheint es nicht unbedingt notwendig, zu den Standards Indikatoren anzugeben. Dennoch bleibt unbenommen, für die Umsetzung durch die Beteiligten gegebenenfalls zusätzlich Indikatoren zu formulieren. Solche Indikatoren können unter Umständen helfen, Unterrichtseinheiten im Hinblick auf kleinere Lernziele zu reflektieren oder Rubrics zu formulieren, mit deren Hilfe sich der erreichte Lernstand durch Schülerinnen und Schüler oder durch Lehrerinnen und Lehrer diagnostizieren bzw. einschätzen lässt (solche Ansätze werden z.B. in der ImPULS-Schule Schmiedefeld verfolgt).
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Zur Entwicklung von Aufgaben zur Überprüfung der Standards
Die Prüfung, ob die Standards gemäß dem obigen Kompetenzmodell erreicht wurden, kann u.a. durch Schätzskalen, durch Tests mit entsprechenden Aufgaben oder auf der Basis von Leistungsdokumentationen oder -reflexionen, z.B. in der Form eines Portfolios, erfolgen. Auch eine Kombination verschiedener Verfahren ist möglich. Die Prüfung kann dabei grundsätzlich in Form von Selbsteinschätzungen und/oder von Fremdeinschätzungen durchgeführt werden. Bei Schätzskalen lassen sich die Standards selbst oder einzelne Indikatoren nutzen, um einzuschätzen, ob ein Standard erreicht wurde oder noch nicht erreicht ist. Falls Tests entwickelt werden, müssen geeignete Aufgaben formuliert werden (siehe weiter unten). Bei der Arbeit mit einem Portfolio können die Lernenden von ihnen erstellte Medienprodukte sowie weitere Leistungen bei der Auseinandersetzung mit Medien und ihrer Nutzung zusammenstellen und einschätzen (vgl. z.B. Hauf-Tulodziecki 2003; Moser 2005). Aufgrund der besonderen Schwierigkeiten bei der Erstellung von Tests soll abschließend noch kurz auf die Frage eingegangen werden, welche Kriterien Aufgaben im Sinne des hier vorgestellten Kompetenzmodells erfüllen sollten. Zunächst einmal muss die Aufgabenlösung selbstverständlich einen Rückschluss zulassen, ob der Standard erreicht oder nicht erreicht ist. Verbunden damit sollen die Aufgaben für die Probanden bedeutsam sein (d.h. auf Interesse bei den Probanden stoßen), sie sollen situiert sein (d.h. auf Lebenssituationen bezogen sein) und sie sollen einen Handlungsbezug aufweisen (d.h. für gegenwärtiges oder zukünftiges Handeln relevant sein). Dabei soll die Aufgabenlösung möglichst Hinweise geben, in welche Richtung eine Förderung erfolgen kann. Beispielsweise könnte man Schülerinnen und Schüler im Rahmen einer Aufgabe mit folgender Alltagssituation konfrontieren: Patrick stellt fest, dass seine Schulkameraden und Freunde immer wieder über Computer- und Videospiele reden, die auf Grund des Jugendschutzes für Jugendliche unter 18 Jahren verboten sind. Er fühlt sich zunehmend in einer Außenseiterrolle, weil er solche Spiele noch nicht gespielt hat, und möchte unbedingt solche Spiele kennen lernen. Patrick, der erst 16 Jahre alt ist, bittet deshalb seinen älteren Bruder Manuel, ihm solche Spiele zu besorgen. Er verspricht, ihm dafür bei der nächsten Gelegenheit auch einen Gefallen zu tun und auf keinen Fall zu verraten, wer ihm die Spiele zugänglich gemacht hat. An diese Situationsschilderung könnten sich folgende Fragen anschließen: a)
Welche Gründe sprechen eher dafür, dass Manuel seinem Bruder die Spiele zugänglich macht? b) Welche Gründe sprechen eher dagegen?
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c)
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Wie würdest du in dieser Situation an der Stelle von Manuel letztlich entscheiden? Begründe bitte deine Entscheidung?
Eine solche Aufgabe könnte z.B. dazu dienen, den Standard A.3.06 (gemäß Tabelle 2) zu überprüfen. Zugleich ergäben sich Bezüge zu rechtlichen Bedingungen der Medienverbreitung (vgl. Tabelle 1). Hinsichtlich einer verantwortlichen Auswahl und Nutzung von Medienangeboten wäre dabei ein wichtiges Kriterium, ob bei den Gründen bzw. der Argumentation der Jugendschutz als eine verpflichtende gesellschaftliche Regelung (gegebenenfalls auch kritisch) thematisiert wird. Falls dies nicht geschieht, ergäben sich aus den Antworten Hinweise auf Fördermöglichkeiten (vgl. auch Abschnitt 3.2 sowie Tulodziecki 1997; Herzig 1998). Zugleich kann man für solche Aufgaben annehmen, dass die weiteren oben genannten Kriterien erfüllt sind. Neben Entscheidungsfällen dieser Art eignen sich aufgrund ihres handlungsbezogenen Charakters Erkundungsaufgaben, Probleme sowie Gestaltungsund Beurteilungsaufgaben als mögliche Aufgabenformen für die Überprüfung von Standards und zugleich als Aufgaben, um gegebenenfalls Förderungen einzuleiten (vgl. Tulodziecki 1997: 239-262). 5
Schluss
Mit diesem Beitrag wird der Versuch unternommen, Hintergründe und Problemlagen, die mit der Entwicklung von Bildungsstandards verbunden sind, bewusst zu machen, Lösungsansätze aufzuzeigen, ohne das Spannungsfeld zu negieren, in dem die Entwicklung von Bildungsstandards steht. Dabei werden die Entwicklung eines Kompetenzmodells und die Formulierung von Standards als Entscheidungsprozess dargestellt, bei dem mit Blick auf die Diskussion um Medienkompetenz und Medienbildung unterschiedliche Möglichkeiten der Strukturierung, Akzentsetzung und Gestaltung bestehen. Vor diesem Hintergrund wird ein Kompetenzmodell entworfen, in dessen Rahmen Bildungsstandards als Beispiele formuliert werden. Abschließend werden einzelne Hinweise zur Frage gegeben, wie die so formulierten Bildungsstandards hinsichtlich ihres Erreichens geprüft werden könnten. Insbesondere wird dabei auf Kriterien für geeignete Aufgaben verwiesen. Für die Schule und andere Bildungseinrichtungen besteht die Möglichkeit, solcherart entwickelte Bildungsstandards zum Anlass zu nehmen, um ihr jeweiliges medienpädagogisches Konzept zu reflektieren und gegebenenfalls weiter zu entwickeln. In diesem Sinne soll der Beitrag für Erprobungen und Diskussionen geöffnet sein und zu Weiterentwicklungen anregen.
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Tabelle 1: Struktur eines Kompetenzmodells für die Medienbildung, gegliedert nach Aufgabenbereichen und Teilaufgaben (die medienübergreifenden Kompetenzformulierungen sind an dem Abschluss der neunten Jahrgangsstufe orientiert) Kompetenzbereich
Auswählen und Nutzen von Medienangeboten
Medienübergreifende Kompetenz
Medienangebote und nicht-mediale Möglichkeiten im Hinblick auf angestrebte Funktionen, z.B. Informationen und Lernen, Unterhaltung und Spiel, Kommunikation und Kooperation, vergleichen und interessenbezogen auswählen sowie unter Beachtung sozialer bzw. gesellschaftlicher Verantwortung nutzen
Niveaudifferenzierung
Entwicklungsaspekte und Entwicklungsniveaus bezüglich der affektivmotivationalen, der intellektuellen und der sozial-moralischen Dimension von Medienkompetenz
Kompetenzaspekte
Information
Lernen
Unterhaltung und Spiel
Kommunikation
Kooperation
Standards zu Niveau X Kompetenzbereich
Gestalten und Verbreiten eigener Medienbeiträge
Medienübergreifende Kompetenz
Eigene Aussagen unter Verwendung bewusst ausgewählter Medienarten mit sachgemäßer Handhabung der jeweiligen Medientechnik inhalts- und medienadäquat planen und gestalten und unter Beachtung sozialer bzw. gesellschaftlicher Verantwortung an ausgewählte Zielgruppen vermitteln
Kompetenzaspekte
Bilder/ Fotos
Standards zu Niveau X
Printmedien
Hörbeiträge
Videobeiträge
Computergebundene Beiträge
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Kompetenzbereich
Verstehen und Bewerten von Mediengestaltungen
Medienübergreifende Kompetenz
Gestaltungsmöglichkeiten von Medien erläutern, z.B. technische Grundlagen, Darstellungsformen, Gestaltungstechniken, Gestaltungsformen und Gestaltungsarten, in ihrer Bedeutung einschätzen und – bezogen auf ausgewählte Beispiele – hinsichtlich der Übereinstimmung von Form und Aussage oder anderer Kriterien bewerten
Kompetenzaspekte
Technische Grundlagen
Darstellungsformen
Gestaltungstechniken
Gestaltungsformen
Gestaltungsarten
Standards zu Niveau X Kompetenzbereich
Erkennen und Aufarbeiten von Medieneinflüssen
Medienübergreifende Kompetenz
Einflüsse von Medien beschreiben, z.B. auf Gefühle, Vorstellungen, Verhaltensorientierungen, Wertorientierungen und soziale Zusammenhänge, kriterienbezogen bewerten und problematische Einflüsse in geeigneten Formen aufarbeiten
Kompetenzaspekte
Gefühle
Vorstellungen
Verhaltensorientierungen
Wertorientierungen
Soziale Zusammenhänge
Standards zu Niveau X Kompetenzbereich
Durchschauen und Beurteilen von Bedingungen der Medienproduktion und Medienverbreitung
Medienübergreifende Kompetenz
Historische, ökonomische, rechtliche, personale und weitere institutionelle sowie politische und weitere gesellschaftliche Bedingungen von Medienproduktion und Medienverbreitung erläutern, in Orientierung am gesellschaftlich Wünschenswerten beurteilen und Einflussmöglichkeiten wahrnehmen
Kompetenzaspekte
Historische Bedingungen
Standards zu Niveau X
Ökonomische Bedingungen
Rechtliche Bedingungen
Personale und weitere institutionelle Bedingungen
Politische und weitere gesellschaftliche Bedingungen
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Gerhard Tulodziecki
Tabelle 2: Ausschnitt aus dem Kompetenzmodell für die Medienbildung gemäß Tabelle 1: Standards für drei Niveaus (Ende 4., 6. und 9. Jahrgangsstufe) für den Kompetenzbereich „Auswählen und Nutzen von Medienangeboten“ Kompetenzbereich
Auswählen und Nutzen von Medienangeboten
Medienübergreifende Kompetenz (Niveau 1)
Verschiedene Medienangebote und nicht-mediale Möglichkeiten für unterschiedliche Funktionen, z.B. Informationen und Lernen, Unterhaltung und Spiel, Kommunikation und Kooperation, benennen und erläutern sowie angemessen handhaben und nutzen
Kompetenzaspekte
Information
Lernen
Unterhaltung und Spiel
Kommunikation
Kooperation
Standards zu Niveau 1
A1.01 Verschiedene Möglichkeiten der Information, z.B. Nachschauen in einem Lexikon, Internetrecherche oder Erkundung in der Realität, erläutern
A1.03 Verschiedene Möglichkeiten zum Lernen, z.B. direkte Erfahrungen, Arbeiten mit dem Schulbuch oder mit einem Lernprogramm, erläutern
A1.05 Verschiedene Möglichkeiten für Unterhaltung und Spiel, z.B. Bewegungsspiel, Fernsehserie, Computerspiel und Brettspiel, erläutern
A1.09 Verschiedene Möglichkeiten der Kooperation, z.B. direkte Zusammenarbeit, gemeinsame Gestaltung eines Textes im Netz, erläutern
A1.04 Ausgewählte Möglichkeiten zum Lernen angemessen handhaben und nutzen
A1.06 Ausgewählte Möglichkeiten für Unterhaltung und Spiel angemessen handhaben und nutzen
A1.07 Verschiedene Möglichkeiten der Kommunikation, z.B. direktes Gespräch, Telefonieren im Festnetz oder mit Handy, Chat oder Foren, erläutern
(4. Jahrgangsstufe)
A1.02 Ausgewählte Möglichkeiten, Informationen zu gewinnen, angemessen handhaben und nutzen
A1.08 Ausgewählte Möglichkeiten der Kommunikation angemessen handhaben und nutzen
A1.10 Ausgewählte Möglichkeiten der Kooperation angemessen handhaben und nutzen
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Medienübergreifende Kompetenz (Niveau 2)
Vorzüge und Probleme verschiedener Medienangebote und nicht-medialer Möglichkeiten im Hinblick auf angestrebte Funktionen, z.B. Informationen und Lernen, Unterhaltung und Spiel, Kommunikation und Kooperation, erläutern und – mit Bezug auf ein Thema oder eine Situation – geeignete Möglichkeiten auswählen und nutzen
Standards zu Niveau 2
A2.01 Vorzüge und Probleme verschiedener Möglichkeiten der Information erläutern
A2.03 Vorzüge und Probleme verschiedener Möglichkeiten zum Lernen erläutern
A2.02 Mit Bezug auf ein Thema geeignete Informationsmöglichkeiten auswählen und nutzen
A2.04 Mit Bezug auf ein Thema geeignete Lernmöglichkeiten auswählen und nutzen
(6. Jahrgangsstufe)
A2.05 Vorzüge und Probleme verschiedener Möglichkeiten für Unterhaltung und Spiel erläutern A2.06 Für bestimmte Situationen geeignete Unterhaltungs- und Spielangebote auswählen und nutzen
A2.07 Vorzüge und Probleme verschiedener Möglichkeiten der Kommunikation erläutern A2.08 Für bestimmte Situationen geeignete Kommunikationsmöglichkeiten auswählen und nutzen
A2.09 Vorzüge und Probleme verschiedener Möglichkeiten der Kooperation erläutern A2.10 Für bestimmte Situationen geeignete Kooperationsmöglichkeiten auswählen und nutzen
Medienübergreifende Kompetenz (Niveau 3)
Medienangebote und nicht-mediale Möglichkeiten im Hinblick auf angestrebte Funktionen, z.B. Informationen und Lernen, Unterhaltung und Spiel, Kommunikation und Kooperation, vergleichen und interessenbezogen auswählen sowie unter Beachtung sozialer bzw. gesellschaftlicher Verantwortung nutzen
Standards zu Niveau 3
A3.01 Unterschiede zwischen verschiedenen Informationsquellen, z.B. zwischen Sachbuch, Website und Erkundung in der Realität, erläutern und kriterienbezogen bewerten
(9. Jahrgangsstufe)
A3.03 Unterschiede zwischen versch. Möglichkeiten zum Lernen, z.B. zwischen Lernprogramm, Simulationsprogramm und direkten Erfah-rungen, erläutern und kriterienbe-
A3.05 Unterschiede zwischen versch. Möglichkeiten für Unterhaltung und Spiel, z.B. zwischen Theaterbesuch, Fernsehen, Computerspiel und Sportspiel, erläutern und kriterienbezogen
A3.07 Unterschiede zwischen versch. Möglichkeiten zur Kommunikation, z.B. zwischenTelefonieren, Chat und unmittelbarem Gespräch, erläutern
A3.09 Unterschiede zwischen versch. Möglichkeiten zur Kooperation, z.B. zwischen kooperativer Arbeit im Netz und direkter Zusammenarbeit, erläutern und kriterienbe-
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Gerhard Tulodziecki
A3.02 Mit Bezug auf ein Thema geeignete Medienangebote oder nicht-mediale Möglichkeiten zur Information verantwortungsbewusst auswählen und nutzen und die Auswahl kriterienbezogen begründen
zogen bewerten
bewerten
A3.04
Unterhaltungs- oder Spielangebote für bestimmte Situationen verantwortungs-bewusst auswählen und nutzen und die Auswahl kriterienbezogen begründen
Mit Bezug auf ein Thema geeignete Medienangebote oder nicht-mediale Möglichkeiten zum Lernen verantwortungsbewusst auswählen und nutzen und die Auswahl kriterienbezogen begründen
A3.06
und kriterienbezogen bewerten A3.08 Kommunikationsmöglichkeiten für bestimmte Situationen verantwortungsbewusst auswählen und nutzen und die Auswahl kriterienbezogen begründen
zogen bewerten A3.10 Kooperationsmöglichkeiten für bestimmte Situationen verantwortungsbewusst auswählen und nutzen und die Auswahl kriterienbezogen begründen
Literatur Aufenanger, Stefan (2001): Multimedia und Medienkompetenz – Forderungen an das Bildungssystem. In: Aufenanger/Schulz-Zander/Spanhel (2001): 109-122 Aufenanger, Stefan/Schulz-Zander, Renate/Spanhel, Dieter (Hrsg.) (2001): Jahrbuch Medienpädagogik 1. Opladen: Leske + Budrich Baacke, Dieter (1996): Medienkompetenz als Netzwerk. Reichweite und Fokussierung eines Begriffs, der Konjunktur hat. In: medien praktisch. 20.1996.78: 4-10 Groeben, Norbert (2002a): Dimensionen von Medienkompetenz: Deskriptive und normative Aspekte. In: Groeben/Hurrelmann, B. (Hrsg.) (2002): 160-197 Groeben, Norbert (2002b): Anforderungen an die theoretische Konzeptualisierung von Medienkompetenz. In: Groeben/Hurrelmann, B. (Hrsg.) (2002): 11-22 Groeben, Norbert/Hurrelmann, Bettina (Hrsg.), (2002): Medienkompetenz. Voraussetzungen, Dimensionen, Funktionen. München: Juventa Hauf-Tulodziecki, Annemarie (2003): Portfolio Medienkompetenz: Konzept und Umsetzung, erste Erfahrungen, weitere Perspektiven. In: Vorndran/Schnoor (Hrsg.) (2003): 291-302 Herzig, Bardo (1998): Förderung ethischer Urteils- und Orientierungsfähigkeit. Grundlagen und schulische Anwendungen. Münster: Waxmann Hurrelmann, Bettina (2002): Zur historischen und kulturellen Realität des „gesellschaftlich handlungsfähigen Subjekts“ als normativer Rahmen für Medienkompetenz. In: Groeben/Hurrelmann (Hrsg.) (2002): 111-126 Klieme, Eckhard, u.a (2003): Zur Entwicklung nationaler Bildungsstandards. Eine Expertise. Frankfurt a.M.: Deutsches Institut für Internationale Pädagogische Forschung Kohlberg, Lawrence (1977): Kognitive Entwicklung und moralische Erziehung. In: Politische Didaktik. Vierteljahresschrift für Theorie und Praxis des Unterrichts. 1977, 3: 5-19
Standards für die Medienbildung
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Bardo Herzig, Silke Grafe
Entwicklung von Bildungsstandards für die Medienbildung – Grundlagen und Beispiele
Im deutschsprachigen Raum haben die Ergebnisse internationaler Vergleichsstudien in Bezug auf Kompetenzen von Schülerinnen und Schüler dazu geführt, dass für zentrale Fächer Bildungsstandards mit dem Ziel der Qualitätssicherung entwickelt und verankert worden sind. In Deutschland hat beispielsweise die Kultusministerkonferenz in den Jahren 2003 und 2004 bundesweit geltende Bildungsstandards vereinbart, die in den folgenden Jahren Eingang in die neu entwickelten Kernlehrpläne und Rahmenpläne der einzelnen Bundesländer fanden. In Österreich wurde kürzlich der Beschluss über Bildungsstandards im Schulunterrichtsgesetz verankert und eine Verordnung dazu verabschiedet (vgl. zur Übersicht bifie 2009). In den USA hingegen hat die Entwicklung von Standards bereits eine deutlich längere Tradition, die – insbesondere unter Einbezug der damit verbundenen Leistungstests – von einer kontroversen Diskussion begleitet wird (vgl. zur Übersicht Oelkers/Reusser 2008, S. 66 ff.). Da Bildungsstandards zur Zeit im deutschsprachigen Raum nur in zentralen Fächern, wie z.B. Deutsch, Mathematik oder Fremdsprachen verankert sind, wird nun in jüngster Zeit ebenfalls überlegt, welche Kompetenzen die Schülerinnen und Schüler im Medienbereich entwickeln und welche Standards gefordert werden sollten. Hierzu wurden inzwischen erste Konzeptionen (vgl. z.B. Moser 2006a; Tulodziecki 2007a, 2007b) vorgelegt. In den USA existieren bereits seit mehreren Jahren verschiedene Konzepte zu Standards im Bereich der Medienbildung (vgl. z.B. NCA 1998). Ziel des Beitrags ist es zunächst im Sinne der Darstellung wichtiger Grundlagen die Begriffe Kompetenz und Medienkompetenz zu charakterisieren und Funktionen von Standards aufzuzeigen. Dann werden exemplarisch drei Ansätze zu Standards für die Medienbildung vorgestellt und in Bezug auf notwendige Entscheidungsschritte im Entwicklungsprozess erörtert. Abschließend diskutieren wir das Spannungsfeld im Hinblick auf solche Entscheidungsschritte aus den Perspektiven der Wissenschaft und der Bildungspolitik sowie die Frage der
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Bardo Herzig, Silke Grafe
Messbarkeit von Medienkompetenz, die nach wie vor ein Forschungsdesiderat darstellt. 1
Kompetenzbegriff
Im allgemeinen Sprachgebrauch wird unter einer Kompetenz häufig eine Zuständigkeit in einem oder für einen bestimmten Bereich verstanden, als ein Vermögen etwas zu „können“ oder als eine Disposition im Sinne einer grundsätzlichen Möglichkeit, z.B. durch bestimmte physiologische oder kognitive Ausstattung des Menschen, die unter bestimmten Umständen durch Lernprozesse realisiert werden kann. Mit der dispositionell ausgerichteten Begriffsverwendung ist eine Debatte angesprochen, die im Kontext von Sprache als Kompetenz-Performanz-Debatte von Chomsky initiiert und insbesondere von Habermas weitergeführt wurde. Chomsky hat die Sprachkompetenz als die (angeborene) Fähigkeit des Menschen ausgewiesen, auf der Basis einer Grammatik und eines Alphabets potenziell unendlich viele Sätze generieren und über die Sprachrichtigkeit von Sätzen entscheiden zu können. Die Performanz bezeichnet die tatsächliche Sprachverwendung, die durchaus – in Bezug auf die Regeln – unvollständig oder fehlerhaft sein kann (vgl. Chomsky 1995). Diesen analytischen Kompetenzbegriff hat Habermas aufgenommen und ihm im Sinn einer verständigungsorientierten Kompetenz, d.h. der Fähigkeit, im sozialen Diskurs Umwelt zu gestalten, eine deutlich normative Färbung gegeben (vgl. z.B. Habermas 1971). In einer pädagogisch-psychologischen Interpretation versteht Weinert (2001, S. 27f.) unter Kompetenz die „bei Individuen verfügbaren oder von ihnen erlernbaren kognitiven Fähigkeiten und Fertigkeiten, bestimmte Probleme zu lösen, sowie die damit verbundenen motivationalen, volitionalen und sozialen Bereitschaften und Fähigkeiten, die Problemlösungen in variablen Situationen erfolgreich und verantwortungsvoll nutzen zu können“. Dieser Kompetenzbegriff ist angelehnt an die Expertiseforschung, in der die domänenspezifischen Leistungen von Expertinnen und Experten untersucht werden. In diesem Verständnis lässt sich Kompetenz als eine Disposition verstehen, deren individuelle Ausprägung nach Weinert durch folgende Aspekte (Facetten, Komponenten) bestimmt wird: Fähigkeit, Wissen, Verstehen, Können, Handeln, Erfahrung, Motivation (vgl. Klieme u.a. 2003). Im Zusammenhang von Schule kann demnach von kompetenten Schülerinnen und Schülern gesprochen werden,
wenn sie gegebene Fähigkeiten nutzen, wenn sie auf vorhandenes Wissen zurückgreifen bzw. die Fertigkeit haben, sich Wissen zu beschaffen,
Entwicklung von Bildungsstandards für die Medienbildung – Grundlagen und Beispiele
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wenn sie zentrale Zusammenhänge einer Domäne verstehen, wenn sie angemessene Handlungsentscheidungen treffen können, wenn sie bei der Durchführung der Handlungen auf verfügbare Fertigkeiten zurückgreifen, wenn dies mit der Nutzung von Gelegenheiten zum Sammeln von Erfahrungen verbunden ist und wenn die Schülerinnen und Schüler aufgrund entsprechender handlungsleitender Kognitionen genügend Motivation zu angemessenem Handeln besitzen (vgl. ebd., S. 61).
Der auch diesem Verständnis zugrunde liegende dispositionelle Kompetenzbegriff verbindet kognitionspsychologische und handlungstheoretische Aspekte und verweist auf die – in vielen Kompetenzbestimmungen zu findende – domänenspezifischen Anforderungen, die es zu bewältigen gilt. Kompetenzen werden – insbesondere, wenn eine empirische Messung avisiert wird – in so genannten Kompetenzmodellen präzisiert und ausdifferenziert. In Strukturmodellen werden einzelne Dimensionen von Kompetenzen beschrieben, die für die Bewältigung bestimmter domänenspezifischer Anforderungen erforderlich sind. Diese Anforderungen wiederum lassen sich im Hinblick auf ihre Schwierigkeit in Niveaustufen unterteilen. In der Regel beruhen solche Stufen auf der Analyse von schwierigkeitsbestimmenden Merkmalen gelöster Testaufgaben (vgl. Schaper 2009). Beispiele finden sich im Kontext großer Schulleistungsstudien, wie PISA. Dort wird Lesekompetenz in die Dimensionen der Informationsermittlung, der textbezogenen Interpretation und des Reflektierens und Bewertens auf einzelnen Niveaustufen unterschieden (vgl. Baumert u.a. 2001, S. 12). Interindividuelle Unterschiede in der Lesekompetenz werden – mit 64% Varianzaufklärung – durch kognitive Grundfähigkeiten, Decodierfähigkeit, Lernstrategiewissen und Leseinteresse erklärt. Dies macht noch einmal deutlich, dass eine grundsätzliche Trennung von allgemeinen und bereichsspezifischen Kompetenzen zwar analytisch möglich, de facto jedoch schwierig ist, weil bestimmte Basiskompetenzen in bereichsspezifische Kompetenzen eingehen. Zudem ist häufig nicht geklärt, ob bestimmte Fähigkeiten, auf die rekurriert wird, nicht selbst auch wieder als Kompetenzen charakterisiert werden können. Kompetenzen rekurrieren auf persönliche Ressourcen und können in – u.a. selbstorganisierten – Lern- und Entwicklungsprozessen erworben werden. Kompetenzentwicklungsmodelle sind aber nicht identisch mit Niveaumodellen, da diese den Erwerbsprozess nicht beschreiben. Die Entwicklungsmodelle geben an, in welchen Schritten bestimmte Teilkompetenzen erworben werden (sollten). Ob diese mit Niveaustufen entsprechender Modelle übereinstimmen, muss theoretisch und empirisch geprüft werden.
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Auf der Basis der bisherigen Überlegungen lässt sich zusammenfassend festhalten, dass mit Kompetenzen kognitive und nicht-kognitive Dispositionen des Menschen angesprochen sind, die in Abhängigkeit von den individuellen Voraussetzungen unter förderlichen Bedingungen im sozialen Kontext entwickelt werden können. Im Hinblick auf die mit den Kompetenzen verbundenen Anforderungen lassen sich Kompetenzen, ggf. in verschiedenen Dimensionen, in einzelnen Niveaustufen beschreiben. Kompetenzen beziehen sich in der Regel auf bestimmte Domänen und erlauben auch, mit sich stetig ändernden Anforderungen im Sinne neuer Situationen handelnd erfolgreich umzugehen. 2
Medienkompetenzbegriff
Der Begriff der Medienkompetenz hat in den vergangenen Jahren wie kaum ein anderer Begriff eine Konjunktur erlebt hat, obwohl er schon seit über 30 Jahren durch die medienpädagogische Szenerie „irrlichtert“ (vgl. Heydrich 1995). In Anlehnung an Tulodziecki (2007) lassen sich hinsichtlich des Begriffs der Medienkompetenz drei Ebenen unterscheiden, die – ohne Anspruch auf Trennschärfe – helfen, die Vielzahl der verschiedenen Ansätze zu kategorisieren (vgl. S. 13 ff). Auf einer ersten Ebene kann man unterschiedliche Rahmen feststellen, die als Ausgangspunkt für Überlegungen zur Medienkompetenz dienen. Baacke hat beispielsweise kommunikative Kompetenz als Rahmen gewählt und auf dieser Basis Medienkompetenz als die Fähigkeit ausgewiesen, „in die Welt aktiv aneignender Weise auch alle Arten von Medien für das Kommunikations- und Handlungsrepertoire von Menschen einzusetzen“ (1998, S. 26). Medienkompetenz wird demnach von ihm als eine „Besonderung von kommunikativer Kompetenz“ betrachtet (Baacke 1999, S. 8). Wagner (2004) wählt als Rahmen eine historischgenetische Betrachtung. Seiner Ansicht nach muss derjenige, der kompetent mit Medien umgehen will, „ein Verständnis dafür entwickeln, dass die Informationstechnologien – so wie alle anderen Medien – spezifische Programme ‘zur Aneignung von Welt‘ unterstützen“ (Wagner 2004, S. 8). Medienkompetenz als Bestandteil von Allgemeinbildung bedeutet für ihn, sich damit auseinanderzusetzen, welche „[…] tiefgreifenden Veränderungen in den Wahrnehmungsformen, Erfahrungs- und Kommunikationsmöglichkeiten einer Gesellschaft […]“ sich „[…] aus der Wechselwirkung zwischen gesellschaftlichem Wandel und Medienentwicklung ergeben […]“ (ebd., S. 10). Tulodziecki (1997) geht in seinem Ansatz von schulischen Leitideen für Erziehung und Bildung aus und greift bei der theoretischen Fundierung auf entwicklungstheoretische Ansätze zur kognitiven Komplexität und zur moralischen Urteilskompetenz zurück (vgl. S. 114 ff.). Er beschreibt zusammenfassend „Medienkompetenz als Vermögen und Bereit-
Entwicklung von Bildungsstandards für die Medienbildung – Grundlagen und Beispiele
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schaft zu einem sachgerechten, selbst bestimmten, kreativen und sozial verantwortlichen Handeln im Medienzusammenhang“ (2008, S. 112). Auf einer zweiten Ebene geht es darum, Medienkompetenz nach Feldern bzw. Bereichen, nach Dimensionen bzw. Teilkompetenzen oder nach Medienarten zu strukturieren. Baacke (1998) hat für sein Konzept von Medienkompetenz beispielsweise die vier Bereiche „Medienkritik“, „Medienkunde“, „Mediennutzung“ und „Mediengestaltung“ gewählt, die jeweils noch weitere Unterdimensionen enthalten (S. 11). Tulodziecki (1997) differenziert Medienkompetenz über verschiedene Inhalts- und Aufgabenfelder, die ziel- und (erwerbs-)prozessbezogene Aspekte enthalten. Insgesamt entstehen so die folgenden Aufgabenbereiche: „Auswählen und Nutzen von Medienangeboten“, „Eigenes Gestalten und Verbreiten von Medienbeiträgen“, „Verstehen und Bewerten von Mediengestaltungen“, ,„Erkennen und Aufarbeiten von Medieneinflüssen“, „Durchschauen und Beurteilen von Bedingungen der Medienproduktion und Medienverbreitung“ (vgl. S. 142 ff.). Zahlreiche Autoren entwickeln in ihren Ansätzen Dimensionen bzw. Teilkompetenzen von Medienkompetenz. Groeben (2002) hat eine Dimensionsbeschreibung von Medienkompetenz vorgelegt, in der – über die bisher genannten Aspekte hinaus – insbesondere die medienbezogene Genussfähigkeit und die Kommunikation über Medienrezeption und Mediengestaltung (so genannte Anschlusskommunikation) betont werden (vgl. S. 165 ff.). Aufenanger (2001) sieht Medienkompetenz als intergenerationelle, gesellschaftliche, interkulturelle Bildungsaufgabe. Dabei unterscheidet er die folgenden sechs zentralen Dimensionen: Kognitive Dimension, Handlungsdimension, Moralische Dimension, Soziale Dimension, Affektive Dimension, Ästhetische Dimension (S. 17 ff.). Moser (2006a) geht in seinem Kompetenzmodell von den drei Handlungsfeldern „Anwendung und Gestalten von Medienprodukten“, „Austausch und Vermittlung von Medienbotschaften“ und „Medienreflexion und -kritik“ aus, denen er jeweils die Kompetenzbereiche Sach-, Methoden- und Sozialkompetenz zuordnet (S. 221 ff.). Als ein Beispiel für die Strukturierung nach Medienarten dient der Ansatz von Spanhel (2006). Er sieht für die systematische Förderung von Medienkompetenz auf curricularer Ebene die Berücksichtigung verschiedener Leitmedien in den verschiedenen Jahrgangsstufen vor „5. Jahrgangsstufe: Bilder (Fotos, Dias, Zeichnungen, Comics, Grafiken) 6. Jahrgangsstufe: Audiovisuelle Medien (Filme, Videos, Fernsehen) 7. Jahrgangsstufe: Hörmedien (Radio, Kassetten, CD) 8. Jahrgangsstufe: Printmedien (Zeitungen, Zeitschriften) 9. Jahrgangsstufe: Multimedia (CD-ROM, Internet, E-Mail)“ (S. 264). Über die zwei genannten Ebenen hinaus werden auf einer dritten Ebene Umsetzungen in Form von Unterrichtseinheiten oder Projekten relevant. Als
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grundlegendes Prinzip wird in fast allen Konzepten ein handlungsorientiertes Vorgehen favorisiert, wobei unterschiedliche Akzentsetzungen erfolgen, wie z.B. Produktionsorientierung, Wahrnehmungsorientierung, etc. Vergleicht man die Inhalts- und Aufgabenbereiche bzw. Inhalts- und Themenfelder sowie Dimensionsbeschreibungen und ihre theoretischen Fundierungen miteinander, so lassen sich – unter Berücksichtigung grundlegender Überlegungen zum Kompetenzbegriff (vgl. Herzig 2004) – folgende Aspekte im Hinblick auf Eigenschaften von Medienkompetenz resümierend und erweiternd festhalten:
Medienkompetenz rekurriert auf die kommunikative Deutung des anthropologischen Grundverhältnisses des Menschen zu sich selbst, zu seiner dinglichen und sozialen Umwelt, bezieht dabei aber den Menschen als Ganzes mit seinen kognitiven, ästhetischen, affektiven und moralischen Bedürfnissen ein. Sie ist damit konstitutiver Bestandteil der Entwicklung von Weltsichten, von sozialen Beziehungen und der Entwicklung der eigenen Persönlichkeit. Medienkompetenz hat damit nicht eine primär funktionale Bedeutung, sondern eine bildende. Medienkompetenz ist ausgerichtet auf ein sachgerechtes, selbst bestimmtes, kreatives und sozial-verantwortliches Handeln in einer von Medien geprägten Welt und damit wichtiger Bestandteil handelnder Lebensbewältigung. Medienkompetenz bezieht sich auf verschiedene Handlungsanforderungen im Kontext von Medien, z.B. die Erkundung medialer Räume, die Gestaltung medialer Produkte, die Beurteilung von Mediengestaltungen oder von Entwicklungen im Medienbereich, das Treffen von Entscheidungen im Medienzusammenhang oder die Problemlösung unter Einbeziehung von Medien.
Der Erwerb von Medienkompetenz kann unter folgende Prämissen gestellt werden:
Medienkompetenz ist in ihrer jeweils aktuellen Erscheinungsform entwicklungsbedingt und – in erzieherischer Hinsicht – entwicklungsfähig. Medienkompetenz kann in handelnder Auseinandersetzung des Individuums mit medienbezogenen Aufgaben und Inhalten in sich aktiv aneignender Weise (weiter-)entwickelt werden.
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Bildungsstandards
Kompetenzkonstrukte, ihre Dimensionen und Niveaustufen sagen zunächst nichts darüber aus, zu welchem Zeitpunkt sie bei Individuen in welcher Ausprägung entwickelt sein sollten. Solche – letztlich normativen – Festlegungen werden in (Bildungs-)Standards getroffen. Allgemein gesprochen, legen sie fest, welches Kompetenzniveau eine Person nach einer bestimmten Lern- oder Ausbildungsphase oder zu einem bestimmten Entwicklungszeitpunkt erreicht haben sollte. Neben Bildungsstandards spielen in der internationalen Diskussion allerdings auch noch andere Arten von Standards eine Rolle – wenn dafür auch nicht immer der Standardbegriff verwendet wird. So geht es – bei einer weiten Deutung des Begriffs – zusätzlich um Prozessstandards (Anforderungen an Lernund Lehrprozesse, die zu den Bildungsstandards führen sollen), um Institutionenstandards (Anforderungen an Schule als Institution) oder um Systemstandards (Regularien zur Gesamtsteuerung des Schulsystems). In unserem Beitrag konzentrieren wir uns hauptsächlich auf Standards im Sinne von Bildungsstandards. Nach Klieme u.a. (2003) bezeichnen Bildungsstandards „Anforderungen an das Lehren und Lernen in der Schule. Sie benennen Ziele für die pädagogische Arbeit, ausgedrückt als erwünschte Lernergebnisse der Schülerinnen und Schüler. Damit konkretisieren Bildungsstandards den Bildungsauftrag, den allgemein bildende Schulen zu erfüllen haben. […] Systematisch geordnet werden diese Anforderungen in Kompetenzmodellen, die Aspekte, Abstufungen und Entwicklungsverläufe von Kompetenzen darstellen.“ (S. 19; 21). Da Bildungsstandards als domänenspezifische Ausprägungen von Kompetenzniveaus verstanden werden, werden sie für einzelne Unterrichtsfächer oder Lernbereiche entwickelt (vgl. z.B. Oelkers/Reusser 2008). Bei der hier avisierten Form von Standards handelt es sich demnach um „performance standards“,in denen Leistungsniveaus festgelegt werden, die Antwort auf die Frage geben, „what kind of performance represents inadequate, acceptable, or outstanding accomplishment“ (Ravitch 1995, S. 12 f.). Im Unterschied dazu lassen sich „content standards“ unterscheiden, die sich auf die Lerninhalte beziehen, und „opportunity-to-learn standards“, die sich auf schulische Ressourcen beziehen (ebd.). Bildungsstandards können verschiedene Funktionen erfüllen (vgl. dazu ausführlich Tulodziecki/Grafe 2006, S. 37 ff.). Häufig geht es, wie in der o.g. allgemeinen Bestimmung von Standards angedeutet, darum, dass durch Standards – auch in Form von Kerncurricula – eine Orientierung zu der Frage gegeben wird, was von Schülerinnen und Schülern an bestimmten Stellen ihrer Schullaufbahn und in bestimmten Schulformen erwartet wird, so kann man von einer Orientie-
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rungsfunktion sprechen. Die Orientierungsfunktion von Standards ist mit einer Curriculumfunktion in dem Sinne verbunden, dass Standards als Bezugspunkte für die Entwicklung von Curricula, insbesondere von Kerncurricula, herangezogen werden sollen. Damit können zugleich Reformbestrebungen im Schulsystem angeregt und /oder unterstützt werden, sodass man auch von einer Reformfunktion sprechen kann. Weiterhin kann die Entwicklung von Standards mit der Absicht verbunden sein, die Qualität der Schulbildung bzw. die Qualifizierung von Schülerinnen und Schülern zu erhöhen und letztlich auch zu sichern. Insofern kommt den Standards zugleich eine Qualifizierungsfunktion zu. Schließlich ist die Evaluationsfunktion von Standards zu nennen. Insbesondere in den USA und in England werden die Standards für Assessment and Evaluation genutzt, wobei die Ergebnisse zum Teil einen Einfluss auf die Mittelbereitstellung haben, was in Deutschland (noch) nicht der Fall ist. Verbunden mit diesen Funktionen sind sowohl positive Möglichkeiten als auch Problemlagen, weshalb sich verschiedene Spannungsfelder ergeben (vgl. dazu den Beitrag von Tulodziecki in diesem Band). 4
Entwicklungsschritte eines standardbasierten Kompetenzmodells für die Medienbildung
Die Entwicklung von Standards im Medienbereich setzt die Entwicklung eines Kompetenzmodells voraus, auf dessen Basis dann einzelne Standards formuliert werden können. Die Entwicklungsschritte hin zu Standards in der Medienbildung können in Anlehnung an Tulodziecki (2007a, vgl. Tulodziecki in diesem Band) anhand folgender Leitfragen beschrieben werden (vgl. auch Darstellung 1): I.
II.
III.
Aus welchem Rahmen heraus wird Medienkompetenz entwickelt bzw. lassen sich Leitideen für die Medienbildung gewinnen? Entscheidungsgrundlage können hier z.B. bildungs- oder medienbildungstheoretische Ansätze darstellen. Wie lässt sich Medienkompetenz sinnvoll ausdifferenzieren? Strukturierungsaspekte können z.B. einzelne Handlungs- und Inhaltsfelder, Teilkompetenzen oder Medienarten sein. Entscheidungen darüber lassen sich beispielsweise über handlungs- oder medientheoretische Ansätze begründen. Welche Gesichtspunkte können bei der Differenzierung nach Niveaustufen herangezogen werden? Die Unterscheidung von einzelnen Stufen lässt sich z.B. auf der Basis von Entwicklungstheorien oder von taxonomischen Ansätzen treffen.
Entwicklung von Bildungsstandards für die Medienbildung – Grundlagen und Beispiele
IV.
V.
VI.
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Für wie viele Niveaustufen sollen Standards mit welchem Abstraktionsgrad formuliert werden? Ist eine Entscheidung über die Differenzierung in Niveaus gefallen, können Standards (z.B. Mindest- oder Regelstandards) formuliert werden. Zu entscheiden ist, wie viele Standards insgesamt entwickelt werden sollen und auf welchem Abstraktionsniveau dies geschehen soll. Diese Überlegungen haben Einfluss auf die Prüfbarkeit und die Flexibilität von Standards. Gegebenenfalls können auch Indikatoren zur Operationalisierung der Niveaus angegeben werden. Entscheidungen zu diesen Fragen werden z.B. durch mess- und testtheoretische Überlegungen beeinflusst (vgl. auch IV). Wie lassen sich Standards in der Medienbildung schulisch umsetzen? Die Frage nach didaktischen Leitideen und der Entwicklung von Lernszenarios oder Unterrichtssequenzen kann vor dem Hintergrund von didaktischen Ansätzen oder unterrichtstheoretischen Überlegungen erfolgen. Wie lässt sich das Erreichen von Standards überprüfen? Standards legen Anforderungen bzw. Erwartungen fest, deren Überprüfung die Entwicklung geeigneter Verfahren und Instrumente voraussetzt. Testund messtheoretische Ansätze können Entscheidungshilfen für die Entwicklung solcher Instrumente geben, ebenso wie z.B. Evaluationsansätze.
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Abbildung 1:
Entwicklungsschritte eines standardbasierten Kompetenzmodells
Im Folgenden werden exemplarisch drei Ansätze zu Standards der Medienbildung aus der Schweiz, aus Deutschland und den USA hinsichtlich der erfolgten Entwicklungsschritte und dargelegter Entscheidungsgrundlagen analysiert. 5.
Standards für die Medienbildung: erste Modelle
5.1 Das Zürcher Standardmodell Das Modell wurde von einer Expertengruppe aus Mitgliedern der Bildungsdirektion Zürich und der Pädagogischen Hochschule des Kantons Zürich erarbeitet (vgl. Moser 2007, S. 45). Hinsichtlich des gewählten Rahmens von Medienkompetenz verweist Moser insbesondere auf den Ansatz von Baacke (1996). Weiterhin wird auch diskutiert, inwiefern sich andere Vorstellungen von Medienkompetenz (z.B. Moser 2000, S. 217 ff.; Tulodziecki/Herzig 2002) im Modell verorten lassen (vgl. Moser 2006b, S. 17; Moser in diesem Band). Vor diesem Hintergrund werden Handlungsfelder festgelegt. Diese „strukturieren die medienpäda-
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gogische Domäne inhaltlich; sie definieren aus der Sicht der Handelnden (Lehrpersonen und Schülern bzw. Schülerinnen) das Lern- und Unterrichtsfeld der Medien“ (Moser 2009). Folgende Felder werden benannt: „Anwendung und Gestaltung von Medienprodukten (A)“, „Austausch und Vermittlung von Medienbotschaften (B)“ und „Medienreflexion und Kritik (C)“. Hierauf werden die drei Kompetenzbereiche „Sachkompetenzen, in denen deklaratives Wissen bzw. sachliches und konzeptuelles Wissen gebündelt ist“, „Methodenkompetenzen, also prozedurales Wissen bzw. Techniken und Regelwissen“ und „Sozialkompetenzen, also die medial präformierten sozialen Regeln“ bezogen (ebd.). Hinsichtlich der Kompetenzbereiche verortet sich Moser auf der theoretischen Ebene im Bereich von Ansätzen zur Berufsbildung (vgl. z.B. Erpenbeck/von Rosenstiel 2003; Sloane/Dilger 2005), die statt domänenspezifischer Kompetenzen (vgl. z.B. Klieme u.a. 2003) die Bedeutsamkeit von Schlüsselkompetenzen betonen (vgl. dazu Moser in diesem Band). Durch die Verbindung von Handlungsfeldern und Kompetenzbereichen entsteht im Zürcher Modell eine zweidimensionale Matrix, innerhalb derer neun Standards formuliert werden. Diese neun Standards werden weiter auf vier Kompetenzstufen (Ende 2. Klasse, Ende Mittelstufe, Ende 8. Schuljahr und Ende 11. Schuljahr) beschrieben, so dass im Ergebnis 36 Standards entstehen (vgl. ebd., S. 49). Beispielsweise lautet der Standard auf der ersten Kompetenzstufe im Handlungsfeld (A) bezogen auf die Sachkompetenzen: „Erfährt Medien als Unterstützung des Lernprozesses und der Kreativität“ (Moser 2007, S. 46). Auf einer weiteren Ebene werden 181 Indikatoren formuliert, die zur Überprüfung der Standards dienen sollen. Ein Indikator zum oben genannten Standard lautet z.B.: „Ausgewählte Medien für vorgegebene Aufgaben selbstständig einsetzen“ (Moser 2006a, S. 50). Seine Überlegungen hinsichtlich der Umsetzung, von Moser als „Netzdidaktik“ bezeichnet, stellt er in den Kontext einer Ermöglichungsdidaktik (vgl. Arnold 2007), die durch Gestaltung von komplexen Lernumgebungen die „Bedingungen dafür schafft, dass sich die Schülerinnen und Schüler mit den Informationsflüssen der Wissensgesellschaft selbständig und kompetent auseinanderzusetzen vermögen“ (Moser 2008, S. 90). Auf dieser Basis ist vorgesehen, „pädagogische Szenarien“ auszuwählen bzw. zu entwickeln, die als „konkrete Aufgabenbeschreibungen einer dritten Konkretisierungsebene“ (Moser 2007, S. 48) entsprechen. Insofern zeichnet sich hinsichtlich der Messung der Standards ein Verfahren ab, das weniger auf „enge testbare Aufgabenbeschreibungen“, sondern auf „ganzheitliche Unterrichtsarrangements“ abzielt (ebd., S. 49).
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5.2. Der Paderborner Ansatz von Tulodziecki Tulodziecki stellt ein Medienkompetenzmodell vor, das – auf der Basis von zwei Handlungsfeldern sowie drei handlungsrelevanten Inhalts- und Reflexionsfeldern – die fünf Felder bzw. Aufgabenbereiche „Auswählen und Nutzen von Medienangeboten (1)“, „Gestalten und Verbreiten eigener Medienbeiträge (2)“, „Verstehen und Bewerten von Mediengestaltungen (3)“, „Erkennen und Aufarbeiten von Medieneinflüssen (4)“ und „Durchschauen und Beurteilen von Bedingungen der Medienproduktion und Medienverbreitung (5)“ als übergeordnete Kompetenzbereiche benennt, die jeweils in weitere Teilaufgaben gegliedert werden können (Tulodziecki 2007a, S. 23). Die Aufgabenbereiche eignen sich nach Tulodziecki auf Grund ihres integrativen Charakters und der Validierung in einem Modellversuch (vgl. Tulodziecki in diesem Band). Als Kompetenzaspekte werden u.a. Funktionen von Medien und Medienarten einbezogen. Die Differenzierung unterschiedlicher Niveaus gründet auf Bedürfnis- und Entwicklungstheorien. Auf diese Weise kann auf der Basis empirischer Ergebnisse eingeschätzt werden, welche Standards auf welcher Altersstufe erreichbar sind. Um eine flexible Einbettung medienpädagogischer Aktivitäten in die Schulpraxis zu ermöglichen und unter Berücksichtigung der Tatsache, dass Kompetenzentwicklungen eine gewisse Zeit benötigen, legt Tulodziecki drei Niveaus (vierte, sechste und neunte Jahrgangsstufe) fest (vgl. ebd.). So umfasst sein Modell jeweils ca. 10 Regelstandards für eines von drei Niveaus pro Kompetenzbereich, insgesamt 55 Standards. Beispielsweise lautet der Standard im Aufgabenbereich (1) für den Kompetenzaspekt „Information“ auf dem Niveau 1: „Verschiedene Möglichkeiten der Information, z.B. Nachschlagen im Lexikon, Internetrecherche oder Erkundung in der Realität, erläutern“ (Tulodziecki 2007a, S. 26). Da die Standards auf einer mittleren Abstraktionsstufe formuliert sind, ist es laut Tulodziecki nicht notwendig – jedoch möglich, falls als hilfreich erachtet – Indikatoren zu formulieren. Mit Blick auf die Umsetzung präferiert Tulodziecki den Ansatz einer handlungsund entwicklungsorientierten Medienpädagogik (vgl. Tulodziecki/Herzig 2002). Bezüglich der Überprüfung der Standards zeigt er zunächst auf, welche Messverfahren grundsätzlich möglich sind. Auf Grund der besonderen Schwierigkeiten bei der Entwicklung von Tests stellt Tulodziecki für die Entwicklung von Testaufgaben Kriterien auf, die im Sinne seines vorgestellten Kompetenzmodells erfüllt sein sollten. Neben der selbstverständlichen Anforderung, dass ein Rückschluss über das Erreichen des Standards möglich sein muss, „sollen die Aufgaben für die Probanden bedeutsam sein (d.h. auf Interesse bei den Probanden stoßen), sie sollen situiert sein (d.h. auf Lebenssituationen bezogen sein) und sie sollen einen Handlungsbezug aufweisen (d.h. für gegenwärtiges und zukünftiges Handeln relevant sein). Dabei soll die Aufgabenlösung möglichst Hinweise ge-
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ben, in welche Richtung eine Förderung erfolgen kann“ (Tulodziecki in diesem Band). 5.3 Der Ansatz der National Communication Association In den USA existieren verschiedene Konzepte von Standards, die in Zusammenhang mit der Disziplin Medienbildung stehen (vgl. zur Übersicht z.B. EvaluTech o.J.). In der Regel sind die notwendigen Entscheidungsschritte zur Entwicklung von Standards (siehe Abschnitt 4) nicht dokumentiert. Eine der wenigen Ausnahmen bilden die Standards der National Communication Association (vgl. NCA 1998), weshalb sie im vorliegenden Beitrag als Beispiel gewählt wurden. Bei der NCA handelt es sich um die größte Fachgesellschaft für Kommunikationswissenschaft in den USA. Den Rahmen für die Standards der NCA bilden Kommunikationstheorien. Welche dies im Einzelnen sind, wird nicht offen gelegt bzw. dokumentiert. Der Grund dafür liegt vermutlich darin, dass Aspekte aus einer Vielzahl von Theorien eingegangen sind, da die Standards in einem mehrschrittigen Verfahren von einer Expertengruppe entwickelt wurden, die aus mehr als 60 Fachwissenschaftlern und Lehrpersonen bestand. Ausgehend von individuellen Standardlisten generierten die Mitglieder – in Anlehnung an den Ansatz der Grounded Theory – Kategorien, denen die Standards im Anschluss in zusammenfassender Weise zugeordnet wurden. Der erste Entwurf wurde allen Mitgliedern der Fachgesellschaft zugeschickt mit der Möglichkeit, Verbesserungsvorschläge und Kommentare einzubringen (vgl. Berko u.a. 1998, S. 176ff.). Die auf der Basis der Rückmeldungen erstellte zweite Fassung enthielt insgesamt 24 Standards, gruppiert nach den Bereichen „fundamentals of communication“, „speaking“, „listening“ und „media literacy“. Im Bereich der „media literacy“ geht es beispielsweise darum, dass der medienkompetente Sprecher bzw. Kommunikator weiß und versteht, dass Medieninhalte in einem sozialen und kulturellen Kontext produziert werden (Standard 18) (NCA 1998, S.3). Die Verfahrensweise – zunächst Standards zu formulieren und erst im Anschluss Kompetenzaspekte – ist vermutlich dem bildungspolitischen Druck der 90er Jahre in den USA geschuldet, der die Standardentwicklung maßgeblich vorantrieb. Die Ausdifferenzierung von Dimensionen erfolgte wiederum auf der Basis nicht konkret ausgewiesener Modelle kommunikativer Kompetenz in einem mehrschrittigen Abstimmungs- und Bewertungsverfahren verschiedener Arbeitsgruppen. Auf der Basis der Analyse vorhandener Publikationen der Fachgesellschaft wurde theorieorientiert eine vorläufige Liste von standardbasierten Kompetenzaspekten erarbeitet. Im Anschluss erstellte man eine Matrix, die die Kompetenzen mit den in der ersten Phase entwickelten Standards in Verbindung
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brachte. Diese enthielt 466 potenzielle Kompetenzaspekte. Auf der Basis vorhandener Publikationen wurden Kriterien für die Bewertung der Kompetenzen entwickelt (vgl. NCA 1998, S. 26). Abschließend folgte die Finalisierung und Evaluation der Matrix in einem mehrschrittigen komplexen Verfahren (vgl. dazu ausführlich Berko u.a. 1998, S. 178ff.). Im Ergebnis einigte sich die Fachgesellschaft darauf, zu jedem Standard mehrere Kompetenzaspekte in Bezug auf die Dimensionen Wissen, Verhalten und Einstellungen zu formulieren. So lautet hinsichtlich des oben genannten Standard 18 ein Beispiel für den Bereich Wissen: Medienkompetente Kommunikatoren erkennen die kulturellen und sozialen Instanzen, die die Medieninhalte und die Medienproduktion steuern (NCA 1998, S. 21). Die Niveaudifferenzierung erfolgte mit Bezug auf die Taxonomie nach Bloom, wobei nicht für jede Dimension Kompetenzaspekte auf allen Niveaustufen vorhanden sind (vgl. NCA 1998, S. 2). Insgesamt wurden 318 Kompetenzaspekte in Bezug auf die 20 Standards formuliert. Die Auswahl der Taxonomie von Bloom unter Verwendung operationalisierbarer Verben erfolgte hinsichtlich der erforderlichen anschließenden Messbarkeit der Kompetenzaspekte, wobei man in Bezug auf messtheoretische Grundlagen keine Hinweise auf bestimmte präferierte Verfahren findet. Diese Auswahl wird ebenso wie die curriculare Verortung und Umsetzung den Bundesstaaten bzw. Kommunen und Schulen überlassen (vgl. NCA 1998, S. 1). 6
Diskussion
Sicherlich kann man in allen Modellen davon ausgehen, dass verschiedene Standards sinnvoll und prinzipiell gut begründbar sind. Vergleicht man die Standards, weisen sie durchaus Überschneidungen auf. Dennoch ist die Frage der Entwicklung von Kompetenzmodellen als offen gelegter Entscheidungsprozess von zentraler Bedeutung, um letztlich auch die Qualität von Standards zu sichern. Werden die Entscheidungen nicht reflektiert und begründet, kann der Eindruck normativer Setzungen – etwa im Sinne der lernzielorientierten Ansätze der 70er Jahre – oder quasi empirischer Gegebenheiten entstehen, die es dann nur noch aufzunehmen gilt. Zudem suggerieren entsprechende Vorgehensweisen eine gewisse Abschirmung gegen Kritik. Die Entwicklung von Standards sollte u.E. einem elaborierten Verfahren folgen, damit auch – über die oben genannten Beispiele hinaus – verschiedene Problemlagen wenn nicht aufgelöst, so doch wenigstens abgemildert werden können (vgl. auch Tulodziecki/Grafe 2006). Dazu zählt beispielsweise die Präzisierung des Begriffsverständnisses. So sollte jeweils geklärt werden, ob es sich um Minimal-, Regel- oder Maximalstandards handelt und worauf sich die in den
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Standards avisierten Fähigkeiten beziehen – z.B. auf Wissen, auf Können, auf Einstellungen oder auf Handlungsmuster. Die theoretische Fundierung der Kompetenzmodelle erweist sich als hilfreich, wenn es um die Frage geht, ob Standards für unterschiedliche Zielgruppen formuliert werden sollen. Entwicklungstheoretische Modelle rekurrieren auf Entwicklungsstände oder -phasen und ermöglichen damit nicht nur plausible, sondern teilweise auch bereits empirisch begründbare Niveaudifferenzierungen. Neben der Anschlussfähigkeit der Standards an Theorien kann aber auch die Theorieentwicklung von der Standardentwicklung und ihrer empirischen Überprüfung profitieren. Die Beispiele zeigen aber auch, dass ein elaboriertes, theoriebasiertes Kompetenzmodell mit entsprechenden Standards der Gefahr von Expertokratie unterliegt und damit ggf. auch nicht mehr konsensfähig ist bzw. nur noch innerhalb bestimmter wissenschaftlicher Zirkel. Neben den genannten Modellen existieren auch solche Vorschläge zu Kompetenzen im Bereich der Medienbildung, die – ähnlich der dargestellten Situation in den USA – unter Beteiligung von unterschiedlichen Interessengruppen einen breiteren Konsens erlangt haben. Dies geschah jedoch zu Lasten einer transparenten Fundierung. Solche Entwürfe sind nicht per se gering zu schätzen, sondern sie erfüllen eine spezifische – häufig bildungspolitische – Funktion. Insofern muss jeweils deutlich gemacht werden, mit welchem Anspruch entsprechende Papiere auftreten bzw. verbreitet werden. Bildungspolitisch ist sicher ein Konsens auf der Ebene von Kompetenzbereichen eher herzustellen als auf der Ebene der Niveaudifferenzierungen oder der Abstraktionsgrade. Im Verständigungsprozess über Standards kann dies auch ein bedeutsamer Schritt sein, eine differenzierte und transparente Entwicklung von letztlich konsistenten Modellen kann sie aber nicht erübrigen. Die grundsätzlichen Überlegungen zu Standards in der Medienbildung und die Skizze von drei Modellen haben deutlich gemacht, dass die Entwicklung von Kompetenzmodellen und die Festlegung von Standards einen äußerst komplexen Prozess darstellen, der sich entsprechend bei der Frage nach angemessenen Möglichkeiten zur Überprüfung von Standards fortsetzt. Da es sich bei den Kompetenzen in der Regel nicht um eindimensionale Konstrukte handelt, stellt die Entwicklung von Messinstrumenten eine besondere Herausforderung dar. Elaborierte Überlegungen dazu im Medienbereich oder gar empirische Befunde dazu liegen noch nicht vor, sondern markieren ein besonderes Forschungsdesiderat. Aufgrund der Komplexität dürfte eine Mischung von Aufgaben, die realitätsnahe Anforderungskontexte – möglichst ökologisch valide – abbilden, und Tests, die sich stärker auf die Prüfung von Wissen und Fertigkeiten beziehen, angemessen sein. Als durchaus schwierig dürfte sich auch die Entwicklung von Instrumenten zur Erfassung von nicht-kognitiven Dispositionen (Einstellungen, Werthaltungen, Überzeugungen) erweisen, da hier nur schwer valide Ergebnisse zu erzielen
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sind. Ein weiteres Spannungsfeld wird sichtbar, wenn unterschiedliche Verfahren zur Kompetenzmessung berücksichtigt werden. Während Erhebungsverfahren mit Schätzskalen, Interviewverfahren oder Portfolios hohe ökologische Validität aufweisen, genügen sie häufig den Anforderungen psychometrischer Gütekriterien (Validität, Reliabilität, Objektivität) nicht in hinreichendem Maße. Insgesamt scheint es uns notwendig, die empirische medienpädagogische Forschung nun auf der Basis theoretisch fundierter Modelle voranzutreiben und (deduktiv) Aufgaben und Items zu entwickeln. Die Modelle von Tulodziecki und Moser scheinen dazu die derzeit differenziertesten und vielversprechendsten zu sein.
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Reinhard Keil
E-Learning 2.0 vom Kopf auf die Füße gestellt
Technik und Didaktik stehen seit der Entwicklung digitaler Medien in einem geradezu dialektischen Spannungsfeld. Der Satz: „Es gilt das Primat der Pädagogik.“ wird nicht nur zur Abwehr politischer Einflussnahme oder fremdfachlicher Begründungszusammenhänge für die Bildungspraxis genutzt, sondern vor allem auch, um sich gegen Erwartungen und Forderungen hinsichtlich des Einsatzes digitaler Medien zu verteidigen. Offensichtlich werden mit der Informationstechnologie Handlungs- und Entscheidungszwänge außerhalb pädagogischer Leitvorstellungen verbunden, denn sonst müsste man ihnen nicht ein Primat entgegenhalten, dem sie sich unterzuordnen hätten. Die grundlegende Hypothese dieses Beitrags baut dagegen darauf, dass es keinen grundlegenden Widerspruch zwischen Pädagogik und Technik gibt, sondern nur ein falsches Verständnis der Rolle digitaler Medien zu scheinbaren Gegensätzen führt. Anders ausgedrückt: Erst wenn sich die Diskussion von der Produktebene, wo Wissen und Inhalte als transferierbare Artefakte betrachtet werden, zur Prozessebene bewegt, wo Verständnisbildung, Bedeutungskonstitution und Sinnstiftung im Vordergrund der Betrachtung stehen, wird die eigentliche Herausforderung digitaler Medien für die Pädagogik sichtbar. Nachfolgend geht es darum aufzuzeigen, dass es grundsätzlicherer interdisziplinärer Anstrengungen als bisher bedarf, wenn wir das Potenzial digitaler Medien ausschöpfen und neue Perspektiven für Ausbildung, Bildung und Kompetenzentwicklung eröffnen wollen. Die Sicht und damit die Begründungszusammenhänge sind dabei strikt technisch, nicht um damit auszudrücken, dass die Technik das zentrale Moment dieser Entwicklung ist, sondern um zu zeigen, dass und wie Technik und die Art und Weise, über sie zu reden wie auch sie zu gestalten, für den Bildungsdiskurs anschlussfähig sein kann. Es gilt nicht, ein Primat aufzustellen oder anzugreifen, sondern eine Wechselbeziehung zu durchleuchten.
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Informationstechnik zwischen Medienkompetenz und E-Learning
Das vorherrschende Produktverständnis von Wissen mag – neben vielen anderen Faktoren – darin begründet liegen, dass sich über viele Jahrhunderte die Gebrauchsqualitäten von Medien kaum geändert haben. Die damit einhergehenden Beschränkungen auch hinsichtlich ihrer pädagogischen Nutzung sind zum Teil so selbstverständlich geworden, dass sie nicht mehr wahrgenommen werden. Ein Phänomen, das generell Medien zugeschrieben werden kann: Mit der selbstverständlichen Nutzung verschwinden sie aus dem Blickfeld, denn unser Gehirn nimmt nicht die materielle Verkörperung der Zeichen wahr, sondern kreiert Bedeutung. Wir hören das Ticken der Uhr, nicht den Schall, den wir aufnehmen, wir sehen die Landschaft, nicht den Bildschirm, auf dem sie aufscheint, und wir leiden mit den Betrogenen in einem Roman, nicht mit den Buchstaben, über die sie unser Wahrnehmungsfeld betreten. „Medien wirken wie Fensterscheiben: Sie werden ihrer Aufgabe umso besser gerecht, je durchsichtiger sie bleiben, je unauffälliger sie unterhalb der Schwelle unserer Aufmerksamkeit verharren“ (Krämer 1998: 73). Wenn Medien, so Krämer weiter, unsere Aufmerksamkeit erfordern, dann hauptsächlich durch Störungen oder ihr Zusammenbrechen. So ist es nicht verwunderlich, dass die Forderung nach der Nutzung digitaler Medien zunächst auch als Störung des bestehenden Bildungsbetriebs verstanden werden musste. Die tägliche Praxis sollte sich durch den Einsatz digitaler Medien ändern. Medien fungieren als Mittler bzw. als Übermittler, oder genauer als Mittel zur Übermittlung von Botschaften; sie transportieren Bedeutungen, sie erzeugen aber keine. Eigentlich transportieren sie auch keine Bedeutungen, wie sich noch zeigen wird, aber solange sie nicht selbst sinnstiftendes Element sind, sind sie somit nur als Rationalisierungsinstrument interessant, nicht aber als Bildungsgegenstand. Die Durchsichtigkeit der Medien scheint zugleich für viele grundsätzliche Begriffsverwirrungen Pate zu stehen. So geht es bei der Nachrichtentechnik um die Übertragung von Signalen, nicht darum, was für Nachrichten im journalistischen Sinne kennzeichnend ist. Und auch die von Shannon und Weaver (1949) begründete Kommunikationstheorie handelt nicht von Verständnis und Bedeutung im Sinne zwischenmenschlicher Interaktion, sondern von dem technischen Problem, Signal und Rauschen verlässlich voneinander zu trennen, um damit u.a. auch Verfälschungen durch eine schlechte Übertragung erkennen zu können. Für die beteiligten technischen Aggregate kommt es auf die Diskriminierungsfähigkeit der Signale an, nicht auf deren Bedeutung im Kontext menschlichen Handelns. Folgerichtig gehören auch die Informationstechnik und digitale Medien ebenso wenig zum allgemeinen Bildungskanon wie z.B. die Naturwissenschaften (Schwanitz 1999).
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Mit der Entwicklung der Massenmedien, insbesondere des Fernsehens und später vor allem der digitalen Medien mit ihren neuen Ausdrucksmöglichkeiten, rückten Medien unter dem Begriff der Medienpädagogik verstärkt ins Blickfeld der Pädagogik. Allerdings waren hier die Medien Gegenstand von Bildung (Inhalt), nicht Mittel für die Bildung bzw. für Lehr-/Lernprozesse. Marshall McLuhan hat mit dem Satz, dass das Medium die Botschaft sei, darauf hingewiesen, dass die Struktur und die Grammatik des Mediums sich auch auf die übermittelten Inhalte auswirken (McLuhan 1968). In den 1970er Jahren entwickelte sich vor diesem Hintergrund der Begriff Medienkompetenz – u.a. maßgeblich beeinflusst durch Dieter Baacke – als Zusammenfassung von Medienkritik, Medienkunde, Mediennutzung und Mediengestaltung mit dem emanzipatorischen Anspruch, die Bürger zu einem kritischen und selbstbewussten Umgang mit den Massenmedien und dem aufkommenden Internet zu befähigen (vgl. Baacke 1997). Im Vordergrund der Medienpädagogik stehen die Beziehungen von Medium und Inhalt und die gesellschaftlichen Konsequenzen, nicht die Frage der Unterstützung pädagogischer Arbeit generell oder der Entwicklung lernförderlicher Infrastrukturen. Letztere werden meist unter dem Begriff E-Learning zusammengefasst und stützen sich bezüglich der theoretischen Grundlagen neben der Pädagogik auf die kognitive Psychologie. Verkürzt könnte man sagen, Medienpädagogik fokussiert auf die kritische Analyse von Medien als Bildungsgegenstand und gesellschaftlichem Phänomen, während unter dem Begriff ELearning die konstruktive Nutzung digitaler Medien als Mittel für Lehren und Lernen betrachtet wird. Aber auch im Bereich E-Learning tritt die schon angesprochene Trennung auf, denn die Konzentration auf Inhalte (content) reduziert alle technischen Fragen auf die nicht pädagogischen Probleme ihrer Erzeugung, Übertragung und Erschließung. Selbst unter dem Stichwort E-Learning 2.0 setzt sich diese Entwicklung fort. Blogs, Podcasts und Wikis halten als vorgegebene Medienarrangements Einzug in die pädagogische Praxis, ohne dass die Gestaltung solcher Arrangements selbst zum pädagogischen Entwicklungs- und Forschungsgegenstand erhoben würde – die inter- oder gar transdisziplinäre Zusammenarbeit von Informatikern und Pädagogen findet de facto nicht statt. Solange man sich aus pädagogischer Sicht auf eine defensive Haltung gegenüber den digitalen Medien festlegt, ist die angesprochene Aufteilung oder auch Zerteilung in Medium und Inhalt nicht sonderlich problematisch. Sobald man sich aber Schuberts konstruktiver Forderung zur Ausschöpfung technischer Medienpotenziale anschließt und die Identifizierung medialer Mehrwerte als kontinuierliche Herausforderung für die Pädagogik betrachtet, sind Medienentwicklung und Unterrichtsentwicklung nicht mehr zu trennen: „Das Beständige ist der Wandel“ (Schubert 2006: 92). Denn im Unterschied zu früheren Jahrhunderten
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verändern sich Medien in ihren vielfältigen Erscheinungs- und Nutzungsformen dramatisch schnell. Damit einhergehend ändern sich Begriffe wie Wissen und Wissensverarbeitung und auch der Umgang mit ihnen. Nicht mehr allein das Wissen wird als nachhaltiger Faktor in Bildung und Ausbildung erachtet, sondern zunehmend die Kompetenzen, die eine Person in die Lage versetzen, sich neues Wissen anzueignen, es zu generieren und weiterzuvermitteln. Dieser Wandel hängt wiederum mit Technik zusammen, die es erst gestattet, flüchtige Signale menschlicher Interaktion durch Aufzeichnung und Übertragung aus dem Entstehungskontext zu befreien sowie durch Instrumente, physische Konstruktionen und digitale Medien neue Wahrnehmungsbereiche zu erschließen. Damit sind sie – wie nachfolgend gezeigt werden soll – immer weniger auf der Ebene der Produkte und Strukturen zu verorten, die die jeweils aktuellen Prozesse der Aneignung kaum oder nur am Rande beeinflussen, sondern sie entfalten durch ihre unmittelbare Gestaltbarkeit eine Prozesshaftigkeit mit bildungswirksamen Qualitäten. Virtualität in der Bildung steht nicht mehr für einen künstlichen Ersatz tradierter Medien, sondern für eine Transformation der Bildungsprozesse selbst, die eine Trennung in Medienpädagogik und E-Learning obsolet machen könnte. 2
Virtuelles Wissen: Vom Produkt zum Prozess
Der Begriff der Virtualität wird in Kombination mit anderen Substantiven wie „Lernen“, „Universität“, „Wissen“ etc. vielfach synonym zu E-Learning gebraucht. Schulmeister (2001) beschränkt den Begriff virtuelles Lernen auf das Lernen in Netzen und hebt damit den Ersatzcharakter hervor, der im Begriff des Virtuellen mitschwingt. Folgerichtig richtet er seinen Blick auf „... die virtuellen Universitäten als Organisationen für die virtuelle Ausbildung, die OnlineSeminare und die hochschuldidaktische Qualität der virtuellen Bildungsangebote“ (Schulmeister 2001: 2). Zu Recht betont Schulmeister seine Skepsis gegenüber Visionen, die Klassen- und Seminarräume als Relikte der Vergangenheit ansehen, weil im Virtuellen zunächst zu viele qualitative Einschränkungen gegenüber Präsenzarrangements geltend gemacht werden können. Das ist auch nicht verwunderlich, wenn Wissen als Produkt begriffen wird. Dies liegt nahe, denn sowohl unsere Alltagssprache als auch unsere Alltagspsychologie folgen einer Transportmetapher. Wissen wird im Kopf erzeugt, in Form von Sprache, Gestik oder Schrift externalisiert, an andere physisch übermittelt und dort wieder aufgenommen. Dies entspricht auch dem klassischen „Sender Kanal Empfänger“-Schema, das inhärent mit Begriffen wie Informations- und Kommunikationstheorie verknüpft ist. Spätestens mit dem Buchdruck wurde Wissen zu etwas, das zwischen zwei Deckel gepresst, vervielfältigt und weiter-
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gegeben werden kann. Speziell mit Blick auf die Mediennutzung entpuppen sich dementsprechend auch heutige virtuelle Lehr-/Lernarrangements als Einbahnstraßen des Wissenstransports: Autoren schreiben, Institutionen publizieren und transportieren die Botschaft zu den Lernenden, die sie lesen und über andere Rückkanäle wie z. B. E-Mail oder Papier ihre Fragen oder Ausarbeitungen übermitteln. Da der Zugriff auf Dokumente meist analog zum Abruf von Webseiten über einen Browser erfolgt, spricht man heute auch von E-Learning 1.0. Ein Grund für diese ausgeprägte Einbahnstraßenmentalität liegt in der starken Fokussierung auf Inhalte, die nach didaktischen Kriterien aufbereitet sein sollten und von den Lehrenden den Lernenden zur Aneignung übergeben werden. Damit einher geht zwangsläufig eine Sicht, die Wissen als medial re-präsentierbar betrachtet und die mit der Bereitstellung über Lernplattformen zugleich die prinzipielle Unabhängigkeit des Wissens vom Produzenten wie vom Rezipienten unterstellen muss. Lernumgebungen entpuppen sich so als Lehrumgebungen, denn es geht „weniger um Lernen als um Lehren, oder genauer, um die Vorbereitung des Lehrens“ (Ludwig/Petersheim 2004: 254). Tatsächlich sind viele Enttäuschungen und falsche Erwartungen an ELearning (ebenso wie an Wissensmanagementsysteme) darauf zurückzuführen, dass auch mit Computer und Internet Wissen als ein Produkt in der traditionellen Art gehandhabt wird, allerdings mit dem Unterschied, dass elektronische Trägersysteme eine sehr viel rationellere Produktion, Vervielfältigung und Übertragung ermöglichen. Bei der Produktsicht wird der Prozess des Erzeugens von Wissen mit seiner Aufzeichnung gleichgesetzt, die Vermittlung mit dem Transport und das Erschließen mit dem Lesen. Diese unzulässige Gleichsetzung von Produkt und Prozess zieht sich durch viele bildungstechnologische Entwicklungen der letzten Jahrzehnte, die nicht umsonst durch ein fortwährendes Wechselspiel von Euphorie und Ernüchterung gekennzeichnet sind (vgl. Messerschmidt/Grebe 2005). So entpuppt sich bei genauerem Hinsehen auch der häufig zitierte Mehrwert digitaler Medien in Form der „Zeit- und Ortsunabhängigkeit“ als eher irreführend, denn wenn Lernprozesse auf anschlussfähige Handlungen ausgerichtet und damit in einen sozialen Kontext eingebettet sind, dann bedeutet Unabhängigkeit letztlich nichts anderes als die Loslösung vom sozialen Kontext und betont damit isoliertes Lernen. Über Begriffe wie „Blended Learning“, im Deutschen auch als gemischtes, integriertes oder hybrides Lernen bezeichnet, sollten als Konsequenz Lehr/Lernarrangements geschaffen werden, bei denen der defizitäre Teil durch entsprechende Präsenzphasen abgedeckt wird und der ersetzbare durch virtuelles Lernen (vgl. Sauter 2002). Integriertes Lernen avancierte auf diese Weise schnell zu einem universellen Platzhalter für eine Lernorganisation, die alle methodischen, mediendidaktischen und medienpädagogischen Ansätze und Ausrichtun-
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gen miteinander verknüpft. So notwendig und sinnvoll das auch in der Praxis erscheinen mag, so wenig erhellend ist dieser Begriff, denn in dieser Form kann er nahezu synonym zu E-Learning betrachtet werden, das nach Kerres (2001) alle Formen von Lernen umfasst, bei denen neue Medien für die Präsentation und Verteilung von Lernmaterialien zum Einsatz kommen oder zur Kommunikation genutzt werden. Tatsächlich bleibt so die Dichotomie von Produkt und Prozess erhalten, ohne dass daraus entscheidende Impulse für die Gestaltung innovativer Lernarrangements abgeleitet werden können. Leider werden die bestehenden Defizite und falschen Annahmen durch überhöhte Erwartungen an neue Entwicklungen schnell überlagert. Heute steht Web 2.0 im Fokus, obwohl der Begriff zunächst nur ein Etikett für eine Sammlung sehr heterogener Technologien und Anwendungen (Blogs, Wikis, RSS Feeds, Podcasts, Ajax, Mash-ups, Folksonomies etc.) war.1 Mit dem Begriff ELearning 2.0 wird dabei auf die Tatsache verwiesen, dass Lernende nun selbst zum Inhalte-Anbieter würden. Entsprechend lautet der Untertitel zum Buch „ELearning 2.0 im Einsatz“ auch „Du bist der Autor!“ – Vom Nutzer zum Wikiblog-Caster“ (Bernhardt/Kirchner 2007). Die leichtfertige Übernahme der Floskel „User Driven Content“ aus dem Umfeld des Web 2.0 verdeckt die Tatsache, dass allein die Bereitstellung von Inhalten durch Viele ebenso wenig eine mediendidaktisch fundierte Ausgestaltung innovativer Lehr-/Lernszenarien hervorbringen kann wie der Verweis auf selbstorganisiertes Lernen im Umfeld von E-Learning 1.0. Auch beim E-Learning 2.0 läuft die Fokussierung auf die Bereitstellung explizit repräsentierter Wissensinhalte Gefahr, in der Digitalisierung traditioneller Medienarrangements stecken zu bleiben und wesentliche Potenziale abzuschneiden bzw. dieselben Enttäuschungen und Frustrationen hervorzurufen, die auch schon E-Learning 1.0 begleitet haben. Auch der Verweis auf das Stichwort soziale Software hilft nicht weiter, denn die meisten referenzierten Beispiele stellen lediglich mediale Aggregationen von Videos, Bookmarks, Visitenkarten oder anderen Medienobjekten, die hauptsächlich neue Formen der Suche ermöglichen, aber selten als soziale Prozesse medialer Destillationen verstanden werden können (vgl. Geißler 2008). Damit die Gestaltung von Lehr-/Lernarrangements sich nicht nur auf die Adaption und Assimilation bestehender Produktionstechniken wie Wikis, Blogs oder Podcasts beschränkt, ist es notwendig, einen konzeptuellen Rahmen zu schaffen, der es gestattet, Technik zum Gegenstand didaktischer Gestaltung zu machen und nicht nur zu einem Vehikel, das es unter Berücksichtigung didaktischer Prinzipien zu nutzen gilt. Dazu ist es erforderlich, basale 1
Der Begriff wurde vom Verleger Tim O’Reilly geprägt. Zum Ursprung siehe: „What Is Web 2.0 Design Patterns and Business Models for the Next Generation of Software”, http://www.oreillynet.com/pub/a/oreilly/tim/news/2005/09/30/what-is-web-20.html.
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medientechnische Unterstützungsqualitäten für Lernprozesse zu identifizieren, auf denen ein Baukasten basiert, der die kooperative Komposition und Choreografie innovativer Formen der Wissensaneignung ermöglicht. Nach dem Motto, man kann jemanden zwar für sich arbeiten, aber nicht für sich lernen lassen, geht es bei der Identifizierung dieser technischen Potenziale nicht um die Repräsentation von Wissen und Wissensstrukturen, sondern um die Frage nach der angemessenen technischen Unterstützung der Prozesse, in denen Wissen erzeugt und angeeignet wird. 2
Medien als Denkzeug
Medien und Bildung sind nicht voneinander zu trennen, denn: „Alles, was wir über die Welt sagen, erkennen und wissen können, das wird mit Hilfe von Medien gesagt, erkannt und gewusst“ (Krämer 1998: 73). Medien sind Bedingungen für geistiges Wachstum und als solche kaum vom Prozess menschlicher Sinnproduktion zu trennen. Um diesen engen Sachverhalt zu verdeutlichen, stehen die nachfolgenden Ausführungen unter dem Motto: „Das Denken findet nicht im Kopf, sondern mit dem Kopf statt.“ Im Wesentlichen geht es darum, die Rolle von Technik als Erkenntnismittel und damit als Medium geistiger und kultureller Entwicklung zu betrachten (vgl. Keil-Slawik 1990). 3
Differenzerfahrung
Ausgangspunkt der weiteren Überlegungen ist die These, dass Denken an physisches Handeln und sinnliche Wahrnehmung gebunden ist. Zunehmend anerkannt ist, dass sich viele grundsätzliche Leistungen unseres Gehirns, die sich experimentell bestimmen oder auch durch Beobachtungen an Patienten mit Hirnverletzungen beobachten lassen, mit Hinweis auf die Evolution des Menschen plausibel begründen lassen. Dazu zählt insbesondere auch die Tatsache, dass unsere geistigen Fähigkeiten nicht vom Körper wie Hardware von Software getrennt werden können und dass sich ebenso wenig Gefühl und Denken voneinander trennen lassen (vgl. Damasio 1997). Auch die Auseinandersetzung des Menschen mit seiner Umwelt lässt sich als evolutionärer Prozess beschreiben und zwar sowohl auf der Ebene der Wahrnehmung (Hypothesenbildungsansatz von Gregory 1998) als auch auf der Ebene kognitiver Leistungen (z.B. Pinker 1997). Das aus der Molekularbiologie entlehnte Konzept der biologischen Informationsverarbeitung (vgl. Keil-Slawik 2003) hilft, nicht nur grundsätzliche Unterschiede zwischen maschineller Datenverarbeitung und menschlicher Informationsverarbeitung aufzuzeigen, sondern ist zugleich über den Konstruktivismus zur Pädagogik anschlussfähig.
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Der evolutionäre Charakter mentaler Prozesse soll über das Konzept der Differenzerfahrung verdeutlicht werden, mit dem die innere Welt des Menschen mit seiner Umgebung verbunden wird. Nicht die Unterscheidung in Innen- und Außenwelt ist dabei entscheidend, sondern die zwischen Illusion und Realität. Sie ist für den Psychologen J.J. Gibson dadurch möglich, dass man über einen realen Gegenstand durch Handeln neue Informationen gewinnen kann (Gibson 1982: 276 ff). Bei einem nur in der Vorstellung existierenden Gegenstand ist dies nicht möglich, denn jeder Versuch, durch rein gedankliches Drehen, Beleuchten, Zerschneiden etc. zu neuen Erkenntnissen zu gelangen, ist zum Scheitern verurteilt, da die jeweilige Operation der eigenen Bewusstseinssteuerung unterliegt und damit nur das produzieren kann, was der Geist antizipiert. Diesen Gedanken kann man weitertreiben, denn echte Überraschung oder – neutraler formuliert – Differenzerfahrung als Voraussetzung für Informationsgewinnung ist nur in Auseinandersetzung mit einer außerhalb der neuronalen Sphäre liegenden gegenständlichen Welt möglich, setzt also physisches Handeln und sinnliche Wahrnehmung voraus. Das bedeutet letztlich, dass Informationsverarbeitung als Prozess der Sinnstiftung oder Bedeutungskonstitution nicht im Kopf stattfindet, sondern als Prozess der Auseinandersetzung des Menschen mit seiner physischen Umwelt. In Bezug auf die Aneignung von Wissen bedeutet dies, dass ein Unterschied im Wahrnehmungsfeld erst durch seine Verarbeitung im Hirn bedeutsam wird. Dies entspricht der qualitativen Definition des Informationsbegriffs durch Gregory Bateson (1981: 582): „Information ist ein Unterschied, der einen Unterschied macht.“ Auf der untersten Stufe der Differenzerfahrung werden isoliert eintreffende Reize zu einer sinnhaften Form (Gestalt) gruppiert (Strukturierung des Wahrnehmungsfeldes). Solche Differenzerfahrungen können durch Instrumente erweitert werden. Das Fernrohr beispielsweise ermöglichte es Galileo Galilei, neue Wahrnehmungsdifferenzen zu erschließen, denn erst mit seiner Hilfe konnte er beispielsweise deutlich erkennen, dass die Schattenlinie auf dem Mond nicht geradlinig verläuft. Gemäß den Gesetzen der Optik ist das aber nur möglich, wenn den Lichtstrahlen der Sonne Berge im Weg stehen bzw. sich ihnen Täler öffnen, der Mond also nicht gleichmäßig rund ist und die Schattierungen lediglich als Einfärbungen des Materials zu betrachten sind. Allerdings sind solche Wahrnehmungserweiterungen erst vor dem Hintergrund sozialer Systeme als quasi eigenständige Prozesse ablösbar, da die Interpretation solcher Differenzen bereits komplexe Prozesse der Modellbildung voraussetzen. Gemeinsame Grundlage dieser Art von Differenzerfahrung ist jedoch die Eigengesetzlichkeit unserer Umwelt, denn erst wenn wir uns auf ein sinnlich erfahrbares physikali-
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sches Phänomen beziehen, spricht dieses durch seine Eigengesetzlichkeit zu uns zurück. Auf der nächsten Stufe kommt die direkte Interaktion mit anderen Menschen hinzu. Gesten, Laute und Klänge bereichern nicht nur die Möglichkeiten zur Differenzerfahrung, sondern ermöglichen durch ihre konventionalisierende Einbettung (Zeichencharakter) in Handlungen die Bildung sozialer Systeme. Zeichen im Sinne der Semiotik werden somit erst durch sozial vermittelte Differenzerfahrung konstituiert. Insofern ist ein bit (abgeleitet von binarydigit) auch nicht die kleinste Informationseinheit, sondern die kleinste potenziell bedeutungsunterscheidende Einheit. Ein falsches bit in einem digitalisierten Bild mag sowohl für den Wahrnehmungs- als auch für den maschinellen Verarbeitungsprozess ohne Bedeutung sein; als Fehler in einer Berechnung kann es aber verheerende Konsequenzen nach sich ziehen. Ob eine physische Differenz also bedeutungsvoll ist oder nicht, wird erst im Kontext sozialen Handelns deutlich. Und nur durch Konventionalisierung ist es möglich, individuelles Verhalten als Informationsverarbeitung zu beschreiben, weil erst vor dem Hintergrund sozial etablierter Handlungsschemata eigene Differenzen konstruiert werden können. Innerhalb sozialer Systeme finden wir deshalb auch die reichhaltigsten Formen der Differenzerfahrung, die uns zugleich als Kulturwesen auszeichnen. Da andere Menschen unabhängig von uns agieren, denken, fühlen und handeln, haben wir es im systemtheoretischen Sinne mit dem Problem der doppelten Kontingenz zu tun (vgl. Sutter 2008). Soziale Interaktion ist dabei durch ein hohes Maß an Flexibilität gekennzeichnet. Diese ist auch erforderlich, denn solange ein Problem noch nicht geistig abschließend durchdrungen ist, müssen durch immer wieder neue Variationen Möglichkeiten für Differenzerfahrungen geschaffen werden und zwar so lange, bis sich wiederholte Bestätigungen zur Gewissheit verdichten. Dabei ist es insbesondere auch erforderlich, Fehler machen zu können und zumindest gedanklich Grenzen zu durchbrechen, um zu verstehen, was etwas ist und was es nicht ist. Ohne soziale Einbettung gibt es nach Habermas kein Verständnis und kein Wissen, denn „mit der Analyse des Begriffs »einer Regel folgen« führt Wittgenstein den Nachweis, dass die Identität von Bedeutungen auf die Fähigkeit zurückgeht, intersubjektiv geltenden Regeln zusammen mit mindestens einem weiteren Subjekt zu folgen; dabei müssen beide über die Kompetenz sowohl zu regelgeleitetem Verhalten wie auch zur kritischen Beurteilung dieses Verhaltens verfügen. Ein vereinzeltes und einsames Subjekt, das zudem nur über eine der genannten Kompetenzen verfügt, kann das Konzept der Regel so wenig ausbilden wie Symbole bedeutungsidentisch verwenden“ (Habermas 1982, Band 2: 34). Fazit: Ohne Differenzerfahrung können wir Vorstellungen über die Welt weder bestätigen noch widerlegen. Entscheidend ist dabei die Einbettung in
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einen sozialen Kontext, weil erst soziale Systeme die Interpretationshorizonte für erlebte Differenzen öffnen. Ohne physische Differenzen bzw. Zeichen wie akustische Laute oder sichtbare Gesten können sich soziale Systeme nicht bilden. Von besonderer Bedeutung ist dabei die Persistenz der physischen Unterschiede bzw. Zeichen, denn wenn sie Prozesse der initialen oder unmittelbaren Bedeutungskonstitution überdauern, erlauben sie eine neue Form der Differenzerfahrung. 4
Externes Gedächtnis
Erst mit der Schrift bzw. technisch gesprochen mit der Produktion von Einschreibungen von Differenzen in ein Trägermaterial können bestimmte kulturelle Leistungen vollbracht werden, denn sie gestatten zum einen Differenzerfahrungen, die z. B. in oralen Kulturen nicht möglich sind, und sie ermöglichen neue Formen der Arbeitsteilung als Grundlage komplexer Gestaltungsprozesse wie auch komplexer Koordinierungs- bzw. Verwaltungsprozesse. Den Begriff der Zahl beispielsweise gibt es auch in schriftlosen Kulturen; der Begriff der Ziffer und damit des indischen Stellenwertsystems setzt aber eine visuell wahrnehmbare Repräsentation wie z. B. die Schrift oder ein Rechenbrett voraus. Dies gilt nicht nur für die Mathematik. Erst mit persistenten Repräsentationen werden komplexe gesellschaftliche Verwaltungsprozesse ermöglicht (Damerow/Levèvre 1981), kann sich so etwas wie eine stabile kulturelle Identität ausprägen (vgl. Assmann 1992 und Giesecke 1992) und können durch eine entsprechende Arbeitsteilung überhaupt erst große und komplexe Artefakte und Gebilde gestaltet werden (Alexander 1964). Ohne physische Hilfsmittel wie Stift und Papier oder Rechengeräte beschränkt sich die Fähigkeit eines Durchschnittsmenschen auf einfache Additionsoder Multiplikationsaufgaben. Schon wenn man mehr als zwei bis drei Zwischenergebnisse zusätzlich im Kopf behalten muss, ist man im Alltag nicht mehr in der Lage, verlässlich zu rechnen. Selbst wenn eine Person mit außergewöhnlichen kognitiven Fähigkeiten dabei wäre, die es könnte, könnten ihr die anderen nicht folgen und damit ihre Leistung weder überprüfen noch würdigen. Grundpfeiler der wissenschaftlichen Methodik wie Messbarkeit, Überprüfbarkeit, Wiederholbarkeit etc. wären ebenfalls als rein gedankliche Verrichtungen ungeeignet, den organisierten Prozess des Wissenschaffens zur Entfaltung zu
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Abbildung 1:
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Abakus versus schriftliches Rechnen
bringen. Die Vorteile persistenter Zeichen werden deutlich, wenn man sich den Streit zwischen dem „Rechnen auf Linien“ (analog zum Abakus) und dem schriftlichen Rechnen mit arabischen Ziffern vor Augen hält (vgl. Abbildung 1). Ersteres war in Mitteleuropa bis zum 15. Jahrhundert gängig, weil das Rechnen mit römischen Zahlzeichen massive Probleme bereitet. Deshalb werden Rechenpfennige auf Linien mit entsprechender Wertigkeit (Einer, Zehner, Hunderter etc.) gelegt und durch Hinzulegen bzw. Hinwegnehmen einer entsprechenden Anzahl von Pfennigen Additionen und Subtraktionen ausgeführt. Dieses Verfahren wurde durch das arabische Ziffernrechnen ersetzt, das sich aufgrund seiner Vorteile über die Mauren von Südspanien allmählich nach Mitteleuropa ausbreitete. Beim schriftlichen Rechnen bleibt die Spur des Rechenprozesses erhalten. Will man ein mit dem Abakus oder dem Rechenbrett erzieltes Ergebnis überprü-
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fen, muss man einen Medienwechsel vollziehen, um das Ergebnis zu notieren, und dann den gesamten Rechenprozess so oft wiederholen, bis der Vergleich mit den jeweils notierten Ergebnissen einen entsprechenden Grad an Übereinstimmung aufweist. Dieser Prozess lässt sich nicht abkürzen und schwerlich aufteilen. Im Gegensatz dazu kann man beim schriftlichen Rechnen Teilergebnisse unabhängig voneinander überprüfen, weil alle Zwischenergebnisse aufgezeichnet sind. Diese Unabhängigkeit ist zugleich der Schlüssel für die Aufteilung des Berechnungsverfahrens auf verschiedene Rechner. Und es können jetzt unterschiedliche Rechenspuren gleichzeitig ins Wahrnehmungsfeld gebracht werden, eine wesentliche Voraussetzung, um Invarianten in den Rechenspuren erkennen zu können und damit den Übergang von der Arithmetik zur Algebra zu unterstützen (vgl. Keil-Slawik 1992). Überprüfbarkeit, Übertragbarkeit und Arbeitsteiligkeit sind entscheidende Momente, warum sich das schriftliche Rechnen letztlich durchsetzte. Flüchtige Zeichen und Zeichenarrangements wie z.B. eine Zeichnung in Wachs, die Rechenpfennige auf einem Rechentisch oder auch das gesprochene Wort haben den Nachteil, dass sie sich mit ihrer Erzeugung unmittelbar verflüchtigen bzw. durch die nächste Handlung das Wahrnehmungsfeld überschrieben wird. Grundsätzlicher kann man sagen, dass die Schriftlichkeit, d.h. die Persistenz der Zeichen, diese erst einer wiederholten Differenzerfahrung zugänglich macht und zugleich dabei gestattet, Zeichenarrangements aus unterschiedlichen Entstehungskontexten flexibel miteinander in Beziehung zu setzen. Insofern sind durch Verschriftlichung oder Aufzeichnung erzeugte persistente Zeichenarrangements die Voraussetzung für ein (wissenschaftliches) Verständnis kulturwissenschaftlicher (Krämer 1998) ebenso wie naturwissenschaftlicher Phänomene (Pietschmann 1980). 5
Formale Schriften als Grundlage von Responsivität
Das schriftliche Rechnen zeichnet sich gegenüber der lautsprachlichen Schrift durch eine Besonderheit aus. Zeichenketten, die geformt werden, haben nicht nur eine Grammatik, sondern sie werden ausschließlich gemäß den vorgegebenen Regeln umgeformt. Die Rechenregeln beziehen sich dabei nicht auf das, was im Kopf statt¿ndet oder wofür und warum ein Mensch rechnet, sondern nur darauf, wie und in welcher Reihenfolge beispielsweise Kugeln, Ziffern oder geometrische Elemente physisch erzeugt, arrangiert und gelöscht werden müssen. Der Rechenprozess selbst ist sinnfrei. Mit der Entwicklung mathematischer Kalküle wurden schließlich formale Zeichensysteme geschaffen, bei denen alle gültigen Arrangements (Zeichenketten) durch die wiederholte Anwendung einiger weni-
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ger Transformationsregeln auf einen endlichen Zeichenvorrat (Alphabet) entstehen. Wie Sybille Krämer (1988) in ihrer Geschichte der Formalisierung verdeutlicht, beziehen sich formale Operationen eines Kalküls also nur auf die Form und die Anordnung der Zeichen, nicht aber darauf, wofür sie stehen. Sie spricht deshalb auch statt von formalen Sprachen oder Programmiersprachen von formalen Schriften bzw. formalen Typografien (von Typos = Buchstabe und Graphein = Schreiben; Schreiben mit Buchstaben). Schriftlichkeit, Schematisierbarkeit und Interpretationsfreiheit sind deshalb auch die entscheidenden Merkmale von Formalismen. Dadurch ist es möglich, korrekt zu rechnen, ohne zu verstehen, was man tut. Wo Verständnis nicht erforderlich ist, braucht man auch kein interpretierendes Bewusstsein und kann folglich für die Zeichentransformationen einen entsprechenden Mechanismus bzw. eine Maschine, z.B. einen Computer entwerfen (Keil-Slawik 1990 und 1992). Computer bzw. digitale Medien stellen damit neben der sozialen Interaktion und dem externen Gedächtnis eine dritte Stufe dar, Differenzerfahrungen zu ermöglichen. Der Kalkül spricht zu uns zurück, da die Abarbeitung seiner formalen Operationen nicht durch unsere Absichten und Intentionen gelenkt wird. Diese Form der Responsivität ist auch die eigentliche Qualität im Umgang mit dem Computer, die häufig eher irreführend als Interaktivität bezeichnet wird. Ein Hintergrundprozess wertet (kontinuierlich) das Zeichenarrangement während der Eingabe aus und gibt zeitnahe Rückmeldung. Das kann das Unterschlängeln eines fehlerhaften Wortes bei einer Rechtschreibkontrolle sein, das Anzeigen einer Webseite, die sich hinter einem Verweis verbirgt, oder das Ergebnis einer Datenbankabfrage. Auch hinter dem Begriff Hypertext steckt letztlich dieselbe Qualität digitaler Medien, die Möglichkeit eines Nutzers unabhängig von den Einschreibungen der Autoren (seien es Schriftsteller oder Softwareentwickler) deren Zeichenarrangements partiell zu verändern, zu arrangieren, zu selektieren und zu ergänzen. Ein klassisches Beispiel ist die Suchfunktion, die dem Anfrager z. B. ein Dokument oder die Position eines Wortes in einem Dokument anzeigt. Potenziell sind alle möglichen Ergebnisse im System angelegt, d. h. bereits eingeschrieben. Aber welches letztlich in welcher Anordnung oder Reihenfolge im Wahrnehmungsfeld der Nutzer aufscheint, legen diese erst mit ihrer Anfrage fest. Eine bestimmte Klasse responsiver Funktionen soll hier aufgrund ihres bedeutsamen Gebrauchswerts als eigenständige Medienqualität hervorgehoben werden. Es geht um diejenigen Funktionen, die es einem Nutzer gestatten, die Datenstrukturen direkt an einem Bildschirm zu manipulieren. Grafische Benutzungsoberflächen basieren auf dieser von Shneiderman (1983) als „direkte Manipulation“ bezeichneten Technik und waren das entscheidende Moment, das dem PC zum allgemeinen Durchbruch verhalf. Funktionen und Daten sind als
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grafische Objekte sichtbar und können auf einer Fläche arrangiert und manipuliert werden. Da der Einschreibprozess im Speicher des Rechners weitaus schneller erfolgt als jede menschliche Handlung, entsteht der Eindruck, dass man Medienobjekte direkt manipulieren und Texte wie Gummibandlinien erweitern und schrumpfen lassen kann: “Think of hypermedia as a collection of elastic messages that can stretch and shrink in accordance with the reader's actions.” (Negroponte 1996: 70) Die Möglichkeit, Zeichen bzw. Zeichenarrangements stufenweise zusammenzufassen und als ein Ganzes zu manipulieren, wird in der Informatik auch als Objektorientierung bezeichnet. Für die Nutzer bedeutet dies, dass prinzipiell jede Gestalt bzw. jedes wahrnehmbare Zeichen zugleich zu einem manipulierbaren Zeichen wird – eine Qualität, die mit keinem anderen Medium erreicht werden kann, da bei analogen Einschreibevorgängen mit technischen Mitteln immer nur der Medienträger, aber nie das Zeichen selbst manipuliert werden kann. Simulationen, Visualisierungen und virtuelle Welten erweitern unsere Möglichkeiten zur Differenzerfahrung ebenso wie das Fernrohr, das Galilei zur Erkundung des Mondes eingesetzt hat, oder die schiefe Ebene zum Studium der Fallgesetze (vgl. Keil 2007: 43 f.). Zu beachten ist dabei, dass jede Möglichkeit, durch Medien neue Differenzerfahrungen zu machen, Irrtum, Betrug und Lüge einschließt. Das Verhalten eines Programms zur Ausführungszeit beispielsweise wird nur durch die Eingabe determiniert. Fehler und falsche Annahmen der Programmierer kann es nicht während der Ausführung korrigieren. Bis heute ist deshalb umstritten, ob eine von einer Maschine generierte Ableitung als Beweis anerkannt werden kann oder als Teil eines Beweises zulässig ist. Wo formale Operationen überschaubar sind, erzeugen sie keine neuen Einsichten, sondern voraussehbare Resultate. Wo sie aber nicht überschaubar sind, fehlt das Vertrauen in das Ergebnis, denn Formalismen werden nicht durch Formalismen bestätigt oder falsifiziert, sondern durch die sozialen Prozesse der Überprüfung und argumentativen Begründung (DeMill/Lipton/Perlis 1979). Insofern stellt sich mit jeder Form der Differenzerfahrung die Frage der kritischen Reflexion der Einsichten, die mit ihm gewonnen werden. Die Inquisition verneinte Galileis Ansinnen, mit einem irdenen, also von Hand gefertigten Gerät die göttliche Himmelsmechanik schauen und verstehen zu wollen. Das klingt auch in dem postulierten Vorwurf an, mit dem Einsatz digitaler Medien werde „Informationen statt Bildung“ propagiert, wobei der Informationsbegriff hier auch noch nach Shannon und Weaver verstanden wird (vgl. Stoll 2001 und von Hentig 2001).
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Lernen als ko-aktive Wissensarbeit
Gewiss lässt sich in stark konventionalisierten Bereichen Wissen als etwas verstehen, das in Büchern aufgezeichnet ist oder im Hirn des Menschen gespeichert wird. Tatsächlich funktioniert dies aber immer nur vor dem Hintergrund eines kontinuierlichen Prozesses der Differenzerfahrung, der die damit verbundenen Annahmen und Handlungen bestätigt oder Diskrepanzen offenbart. Was Wissen ist und was nicht, wird also nur im Prozess offenbar und die Grundlage dieses Prozesses ist Differenzerfahrung. Töne, Gesten, Sprache und Instrumente wie z.B. ein Mikroskop oder ein Elektronenbeschleuniger mit Detektoren in der Elementarteilchenphysik erweitern die Möglichkeiten zur Differenzerfahrung. Doch erst das Aufbewahren, sei es von Werkzeugen oder semiotischen Artefakten, gestattet es, nicht nur mit anderen Kulturen, sondern auch mit der eigenen Vergangenheit in Beziehung zu treten. Persistenz ist dabei ein Muss, denn das systematische In-BeziehungSetzen eigener und fremder oder alter und neuer Artefakte erfordert, diese möglichst gleichzeitig ins Wahrnehmungsfeld zu bringen und sie gemäß ihrer Wichtigkeit und ihres Bezugs zueinander so anzuordnen, dass die relevanten Teile möglichst direkt der Bearbeitung zugänglich sind. Dies gilt für Forschungsarbeiten ebenso wie für Lernprozesse, da es in beiden Fällen darum geht, Wissen zu schöpfen. Das Arrangement verschiedenster Bücher, Zeitschriften, kopierter Artikel und eigener Mitschriften während der Anfertigung einer wissenschaftlichen Arbeit oder der Vorbereitung auf eine Prüfung ist ein anschauliches Beispiel hierfür. Das jeweilige spezifische Arrangement spiegelt in gewisser Weise den Erkenntnisstand des Lernenden wider. Wenn dieses Arrangement zerstört wird, zum Beispiel indem eine dritte Person aufräumt, ist meist ein erheblicher Arbeitsaufwand erforderlich, um den alten Stand wieder herzustellen. Dadurch, dass zum einen der für solche Arrangements zur Verfügung stehende Platz grundsätzlich beschränkt ist und dass zum anderen fortwährend neue Artefakte hinzukommen und andere veralten, ist ein kontinuierlicher Aufwand erforderlich, um ein jeweils dem aktuellen Kenntnisstand entsprechendes Arrangement zu pflegen. Ein weiterer Gesichtspunkt der Wissensarbeit ist, dass es sich nicht um eine einzelne zeitlich wie thematisch eingrenzbare Aufgabe oder Problemstellung handelt, sondern dass der Prozess mit seinen jeweiligen Anschlusshandlungen im Vordergrund steht. Darin eingeschlossen sind unterschiedliche Lernorte ebenso wie verschiedene Formen der sozialen Interaktion zur Nachfrage, Unterstützung und Überprüfung bis hin zur gemeinsamen Erarbeitung im Team. Aufgrund der medialen Einschreibprozesse entstehen hier vielfältige Medienbrüche insbeson-
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dere dann, wenn mediale Einschreibprozesse am gemeinsamen externen Gedächtnis wechselweise vollzogen werden sollen. So bedingt das Annotieren eines Textes in der Regel einen strikt sequenziellen Prozess, was dem Konzept Hypertext bzw. Hypermedia als „nicht-sequenziellem Schreiben“ zuwiderläuft (Nelson 1987: 29). Die Manipulierbarkeit des Arrangements ist also ein entscheidendes Moment, denn solange ein Zusammenhang noch nicht geistig abschließend durchdrungen ist, müssen durch immer wieder neue Variationen in der Anordnung Möglichkeiten zur Differenzerfahrung geschaffen werden und zwar so lange, bis sich wiederholte Bestätigungen zur Gewissheit verdichten. Das heißt, beobachtbare Phänomene werden so lange in Beziehung zueinander gesetzt, bis das Arrangement im Kontext der Handlungen und Vermutungen einen Sinn ergebt, der als Lösung des Problems angesehen werden kann. Die Zwischenstufen sind dabei notwendig für den Erkenntnis- bzw. Lernprozess, selbst wenn sie in der endgültigen Konfiguration nicht mehr aufscheinen oder ihr gar widersprechen sollten. Dies ist auch eine zentrale Forderung einer Pädagogik, die nicht die Inhalte und das Lehren, sondern die Lernenden in das Zentrum rückt. Die Aufgabe des Lehrenden wird dabei darin gesehen, „ein didaktisches Setting zu begründen und aufrecht zu erhalten, in dem Verstehen als Anerkennung und Kritik von Bedeutungshorizonten möglich wird“ (Ludwig 2004: 121). Es gilt einen gemeinsamen Wahrnehmungsraum zu schaffen, der zugleich gestattet, das Arrangement ko-aktiv zu manipulieren. Ko-aktiv umfasst dabei alle Formen der Kommunikation, Kooperation, Kollaboration und Koordination, die aus der jeweiligen Situation heraus als lern- oder erkenntnisförderlich verstanden werden, denn schließlich verkörpert die soziale Interaktion nicht nur die reichhaltigste und unmittelbarste Form der Differenzerfahrung, sondern sie gestattet es erst, Konventionalisierungen zu schaffen, auf deren Basis sich neue Differenzerfahrungen entwickeln können (vgl. den Begriff des soziosymbolischen Universums in Elias 1988). Da es um die Wahrnehmung und Manipulation persistenter Zeichen geht, braucht es einen physischen Raum, in dem sie aufbewahrt und bearbeitet werden können. Der mediale Raum der Möglichkeiten, in dem sich diese Anforderungen umsetzen lassen, wird nachfolgend als Medi@rena bezeichnet und die in ihr vollzogenen bzw. vollziehbaren kooperativen Aktivitäten als ko-aktives Schreiben. 7
Medi@rena: Transport, Transformation, Transkription
Wissensbestände werden als Teil eines soziosymbolischen Universums fortwährend angereichert, aktualisiert in neue Zusammenhänge eingebettet usw. Autoren drücken aufgrund ihres jeweiligen Arbeitszusammenhangs, ihrer persönlichen
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Kenntnisse, Erfahrungen und Interessen andere semantische Zusammenhänge aus als Nutzer oder Leser. Das bedeutet, Strukturen im externen Gedächtnis erhalten nur über soziale Konventionalisierungen ihre Bedeutung. Zugleich bilden die materiellen Zeichen in einem gemeinsamen Wahrnehmungsraum die Grundlage für Differenz und Diskrepanz und ermöglichen damit den Lernenden Vergleichsoperationen vor dem Hintergrund ihrer je eigenen Bedeutungshorizonte. Der entscheidende Mehrwert einer Medi@rena liegt also nicht in der zeit- und ortsunabhängigen Nutzung, sondern darin, dass sie als externes Gedächtnis die zeit- und ortsübergreifende Integration der Lernprozesse ermöglicht. Dies macht auch der Begriff Gedächtnis deutlich, denn technisch handelt es sich zunächst nur um einen Speicher, in dem Zeichen abgelegt sind, aber keine Bedeutungen. Erst durch die Handlungen der Menschen, die sich auf diese Zeichen beziehen und sie dabei zugleich modifizieren, entsteht Bedeutung als Ausdruck dieses Prozesses, die nur insoweit verstanden werden kann, als man an diesem Prozess selbst bzw. bei Konventionalisierungen an einem vergleichbaren Prozess beteiligt ist (vgl. Keil-Slawik 1990: 40 ff.).
Auswertung
medi
Verteilte Persistenz
Abbildung 2:
Objektorientierung
Responsivität
@ (Multi-) Medialität
rena
Vernetzung
Integration basaler Medienqualitäten
Manipulation
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Reinhard Keil
Damit ist zugleich die dritte basale Qualität umrissen, die neben Responsivität und Objektorientierung in die Medi@rena (siehe Abbildung 2) einfließt: Medialität bezeichnet das Verschmelzen von Persistenz (Aufzeichnungs- bzw. Einschreibsystem) und Vernetzung (Übertragungs- bzw. Transportsysteme). Bei verteilten Datenbeständen, die ko-aktiv bearbeitet werden können, gibt es nicht mehr die technische Unterscheidung in synchron oder asynchron, da alle Operationen im externen Gedächtnis nebenläufig erfolgen; das heißt sie können, müssen aber nicht gleichzeitig erfolgen. Entscheidend ist nun, dass diese drei Qualitäten nicht beziehungslos nebeneinander stehen, sondern miteinander verknüpft werden. Eine mögliche Form der Umsetzung des Konzepts Medi@rena ist der virtuelle Wissensraum, in dem Medienobjekte enthalten sind, an den Kommunikationsfunktionen und Ereignisse geknüpft sind und der über ein differenziertes Rollen- und Rechtemanagement selbst administriert werden kann (Hampel 2002 und Hampel/Keil-Slawik 2000 und 2001). Zwar können auch hier Objekte zwischen Räumen transportiert werden, doch ist der Ausgangspunkt des Geschehens der virtuelle Raum, der es erst ermöglicht, substanzielle Verbesserungen zu erzielen, indem Medienbrüche zwischen unterschiedlichen Nutzungsformen minimiert werden. Funktionen, Objekte und Personen sind gleichermaßen durch grafische Objekte im Raum repräsentiert, die wie auf einem PC-Desktop entsprechend angeordnet werden können. Allein dadurch ist es möglich, semantische Zusammenhänge durch räumliche Zuordnungen abzubilden (Erren/Keil 2006). Solche Zuordnungen können dabei für beliebige Objekte und Beziehungen stehen. Ähnlich wie das Verschieben eines Dokumentensymbols über ein Druckersymbol bei der herkömmlichen Schreibtischmetapher den Druck des Dokuments auslöst, kann z.B. das Verschieben eines Objekts über das Bild einer Person x x x x x
das Versenden einer E-Mail an diese Person mit dem Objekt im Anhang auslösen, der Person bestimmte Bearbeitungsrechte zusprechen, eine Aufgabe zur Aufgabenliste der Person hinzufügen, einen Termin im Kalender der Person eintragen, Metadaten des Objekts mit Personendaten abgleichen oder abfragen etc.
Über die jeweilige Konstellation von Räumen, Objekten, Verknüpfungen, Berechtigungen, Ereignissen und Sichten lassen sich Formen sozialer Interaktion durch ko-aktives Schreiben umsetzen, die mit traditionellen Medien weder möglich noch sinnreich wären. Zeitliche (wann), rechtliche (wer darf was mit wem)
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und räumliche (wo befindet sich was) Gestaltungsmöglichkeiten gestatten es, sehr restriktive oder vollkommen offene Szenarien umzusetzen. Die Vielfalt der Möglichkeiten wird durch den Lernszenariokubus (siehe Abbildung 3) verdeutlicht.
Über Rollen- und Rechte können verschiedene Formen des ko-aktiven Schreibens de-niert werden. Hinzu kommen Funktionen der gegenseitigen sozialen Wahrnehmbarkeit und Erreichbarkeit (awareness).
keine
balanciert
Partizipation
en eb eg rg o v
Produkt strukturiert
nt ge er em Prozess
Abbildung 3:
offen
Inhaltsstrukturen können formal spezi-ziert sein (Datenbank), über Verweise aufgebaut werden (semi-strukturiert) oder offene heterogene Sammlungen verkörpern.
Die Prozessstruktur gibt an wie ein Ergebnis oder ein Zustand erreicht wird. Dies reicht von strikt vorgegebenen Abläufen (work.ow) bis hin offenen bzw. informellen Interaktionen.
Lernszenariokubus
Je stärker die Rechte der Lernenden eingeschränkt werden, desto mehr gleichen sich Wissensräume traditionellen Lernmanagementsystemen an, in denen die Lehrenden (vor)schreiben und die lernenden Dokumente herunterladen oder Formulare bearbeiten. In der Tat können auch die aktuellen Techniken wie Blogs oder Wikis sowie diverse Formen zum Sammeln, Bewerten und Indizieren (Tagging) von Filmen, Fotos, Visitenkarten oder Bookmarks beispielsweise als spezielle Formen innerhalb des Lernszenariokubus verortet werden. Aus pädagogischer Sicht entscheidend ist jedoch weniger die Nutzung von vorgegebenen Szenarien wie Blogs oder Wikis, sondern die ko-aktive Ausgestaltung innovativer Szenarien. Dazu gehören u.a. Diskursstrukturierungsverfahren wie das Medi@Thing (früher unter dem Namen Jour Fixe; siehe Hampel/Keil-Slawik/Eßmann 2003 und Erren/Keil 2007), das Thesen-Replik-Kritik-Verfahren (Gostmann/Messer 2007) oder auch die Pyramidendiskussion (Blanck/Schmidt 2005 und Blanck 2006).
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Reinhard Keil
Pyramidendiskussion Eigene Position
Position eines anderen Teilnehmers
Noch kein Positionen vorhanden
1.1
1.2
*
2.1
*
1.3
*
2.2
*
1.4
*
1.5
*
*
3.1
*
3.2
*
4.1
2.3
Felder für die weiteren Durchläufe
Abbildung 4:
Pyramidendiskussion
Bei der Pyramidendiskussion z.B. geht es um den erwägenden Umgang mit Wissensvielfalt. Zu einem bestimmten Problem sollen zunächst möglichst vielfältige Positionen aufgenommen und dann in Beziehung gesetzt werden, um sie hinsichtlich der Problemstellung vergleichend bewerten zu können. Den Ausgangspunkt bilden die Positionen der Teilnehmenden. In einem ersten Schritt sollen alle ihre eigene Position publizieren, wobei die Beiträge anderer erst sichtbar sind, nachdem der eigene Beitrag eingestellt worden ist. Dadurch soll vermieden werden, dass sich der Blick auf bereits Bekanntes vorschnell verengt. Danach sollen einzelne Personen oder Gruppen versuchen, jeweils eine oder mehrere Positionen zusammenzufassen. Das Ziel ist, durch die Diskussion und die erwägende Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Lösungen zu einer eigenen Position zu gelangen und zu klären, inwiefern sich die eigene (potenzielle) Lösungsvorliebe gegenüber anderen Lösungsmöglichkeiten begründen lässt. Lassen sich alle Positionen integrieren, steht am Ende eine Pyramide, aus der sowohl der Diskursprozess, die jeweils beteiligten Personen und die entsprechenden Dokumente erschlossen werden können. Diese Form der Diskursstrukturierung offenbart das Zusammenspiel der verschiedenen Möglichkeiten zum Strukturieren von Diskussionen, indem zeitlich-rechtliche Abhängigkeiten (jemand darf erst andere Texte kommentieren, wenn er einen eigenen eingestellt hat) ebenso wie didaktische (z. B. die sukzessive Zusammenfassung unterschiedlicher Positionen) als auch räumliche (Anordnung der Einzeltexte in einer Pyramide) repräsentiert und ereignisorientiert
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organisiert werden. Dabei kann der Inhalt eines Pyramidenelements ein beliebig strukturiertes Objekt sein. Das Besondere dieser und vieler weiterer Szenarien ist, dass es nicht mehr allein um die Modellierung von Wissen oder die Strukturierung von Inhalten geht, sondern dass die Strukturierung der zeitlichen Interpunktion ebenso wie der Formen der sozialen Interaktion von der inhaltlichen Strukturierung nicht mehr zu trennen sind. Im Zeitalter von E-Learning 2.0 kann es nicht allein darum gehen, Techniken wie Blogs und Wikis aus anderen Kontexten für den Bildungsbereich zu übernehmen. Die Entwicklung neuer Techniken und damit einhergehend die Gestaltung innovativer Lehr-/Lernszenarien stellt eine entscheidende Bildungsherausforderung dar, da sie sowohl Inhalt als auch Form zugleich verkörpern. Indem der Prozess der Wissenserschließung in den Vordergrund gerückt wird und nicht Wissen als Produkt, erweist sich virtuelles Lernen nicht als Ersatz oder Ergänzung für das Präsenzlernen, sondern als integraler Bestandteil. Anders ausgedrückt, es gibt kein eigenständiges spezifisches Konzept „virtuelles Lernen“, das allen Formen des Einsatzes digitaler Medien inhärent wäre. Vielmehr gibt es je unterschiedliche Formen und Szenarien des Lernens, wo es statt der Strukturierung des Wissens zunehmend um die Choreografie des Wissenserwerbs geht. In der Philosophie des Web 2.0 finden sich einzelne Elemente hierzu, doch geht der vorgestellte Bildungsansatz deutlich über die heute bekannten Nutzungsformen hinaus. 8
Medienintegration als Bildungsherausforderung
Technik, insbesondere auch Medientechnik, wird bislang als bildungsfern bis bildungsirrelevant betrachtet. Tatsächlich sind Kulturtechniken und insbesondere solche, die auf persistenten Artefakten beruhen, aus unserer kulturellen Entwicklung nicht wegzudenken. Das Konzept der Differenzerfahrung zeigt, wie eng unsere geistige Entwicklung mit der Entwicklung unserer Ausdrucksmöglichkeiten verknüpft ist. Denken und physisches Handeln sind nicht voneinander zu trennen. „Die Evolution ist vor allem die der Ausdrucksmittel“, stellt Andre Leroi-Gourhan (1988: 262) fest und betont, dass bezüglich der menschlichen Entwicklung die Motorik, also die Ausprägung handwerklicher Fähigkeiten, nicht vom Spracherwerb getrennt werden kann. Dies ist auch das zentrale Motiv des Soziologen Elias, indem er deutlich macht, dass das traditionelle Bild vom Menschen als einem Individuum, das Bedeutungen kreiert und durch Artikulation seiner Gedanken dann seine Einsichten anderen Menschen mitteilt, historisch gesehen insofern unzureichend ist, als jeder Mensch schon immer vor einem bestimmten kulturellen Hintergrund aufwächst, d. h. durch den Prozess der Erziehung sich von vornherein die Welt mit den Zeichen, Instrumenten und
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Konventionen erschließt, die von seinen Vorfahren als brauchbar erachtet wurden. Elias betont darüber hinaus, dass wir die Sicherheit unseres heutigen Wissens nur haben können, weil wir in der Erbfolge eines langen Kontinuums des Wissens und Lernens über Generationen hinweg stehen und demzufolge das Bild, das die Menschen von sich selbst haben und ständig weiterentwickeln, ein integraler Teil dieses soziosymbolischen Universums ist (Elias 1988: 32 ff.). Artefakte, nicht nur symbolische, fungieren als externes Gedächtnis. Sie verkörpern Bedeutung jedoch nur im Rahmen lebendiger gesellschaftlicher Praxen (Winkler 1997). Insofern Werkzeuge wie Schreibgeräte und Rechenmaschinen zum Einsatz kommen, lässt sich noch argumentieren, dass das Wechselspiel zwischen Inhalt und Technik sehr statischer Natur ist und vergleichsweise einfach zu durchschauen ist. Im unmittelbaren Gebrauch fungieren sie zunächst lediglich als Sinnes- und Motorikverstärker und ermöglichen damit, bestimmte Differenzen der Wahrnehmung zugänglich zu machen. Doch erst in der sozialen Interaktion können sie konventionalisiert und damit zu Wissen werden. Insofern ist Hartmut Winkler zuzustimmen, der feststellt: „Das Reich der Medien ist das Reich des Symbolischen.“ (Winkler 2008: 62) Mit dem Computer wird jedoch genau dieses Reich betreten, allerdings nicht primär über den Mechanismus der Sprache, sondern über Kalküle, ausführbare und automatisierbare Zeichentransformationen, die Krämer als operative Schriften bezeichnet. Trennt man sich von der Vorstellung, dass die Transformation von Zeichen ein Ersatz für kognitive Prozesse sei, und betrachtet stattdessen die Unterstützung der Wissenserschließung durch neue Möglichkeiten der Differenzerfahrung, dann ist das Argument mancher Pädagogen, der Computer solle nur ein Werkzeug sein und demzufolge funktionieren, ohne den pädagogischen Prozess zu beeinflussen (vgl. Kübler 2002), nicht mehr aufrechtzuerhalten. In digitalen Medien verschmelzen Werkzeuge und Instrumente mit symbolischen Manipulationen. Die Steuerung technischer Geräte ebenso wie Algorithmen zur Visualisierung von Messgrößen oder zur Lokalisierung von Geräten schaffen neue Möglichkeiten der Differenzerfahrung. Hardware in virtuellen Wissensräumen ist ein Schlagwort, das verdeutlicht, dass auch die klassische Technik zum Gegenstand der Bearbeitung in Medi@renen wird (Ferber et al. 2007). Medi@renen sind Lernstätten, in denen sich Praxen der Bedeutungszuschreibung herausbilden können, weil hier durch ko-aktives Schreiben gemeinsame Handlungs- und Wahrnehmungsbereiche konstituiert werden. Ja mehr noch, viele durch analoge Einschreibprozesse bedingte Formen des sozialen Umgangs mit Medien werden selbst zum aktiven Gestaltungsgegenstand in einem virtuellen Raum. Deshalb sollten „... virtuelle Bildungsräume als Schnittstelle zwischen Lernen und Handeln einen zentralen Stellenwert einnehmen“
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(Ludwig/Petersheim 2002: 255), zumal dadurch erst die Lernenden in den Mittelpunkt gerückt werden. Wenn man die mediale Produktperspektive mit der Metapher des Wissenstransports von den Köpfen der Wissenden zu den Köpfen der Unwissenden einmal abgelegt hat und zur Prozessperspektive wechselt, die die Unterstützung von Bedeutungskonstituierung und Sinnschöpfung in den Vordergrund rückt, dann werden auch grundlegend neue Perspektiven in der Zusammenarbeit zwischen Informatik und den Kulturwissenschaften deutlich. Technische Medien dienen nicht nur dem Transport und der Transformation physischer Zeichen, sondern ihrer Transkription als Vergegenständlichung der Wissenserschließungsprozesse einer Praxisgemeinschaft (community of practice). Die Transkriptivitätstheorie postuliert, „... dass Wissens- oder Mitteilungsinhalte nicht von ihrer medialen Darstellung zu trennen sind. Sie räumt somit performativen, materiellen und ästhetischen Perspektiven Vorrang gegenüber einer rein ontologisierenden, auf eine prämediale Referenzbeziehung zwischen Begriff und ,,realem Objekt“ gerichtete aristotelischen bzw. cartesianischenb Weltsicht, ein“ (Jäger et al. 2008: 22). Tatsächlich beginnt erst jetzt die eigentliche Phase für die Ausgestaltung von Medi@renen in ihren vielfältigen Erscheinungsformen, sei es in Form koaktiver Lehr-/Lernszenarien, virtueller Bildungsräume verteilter Arbeitsumgebungen für die Wissensarbeit und die Umsetzung neuer Formen der verteilten Wissensorganisation. Die Fülle der möglichen Ausprägungen, in denen Persistenz (Einschreibung) und Bearbeitbarkeit von Zeichen und Zeichenarrangements miteinander verbunden werden können, ist heute noch nicht abzusehen, wohl aber die Notwendigkeit, sich auch und vor allem in der allgemeinen Bildung ihrer aktiven Gestaltung und nicht nur passiven Aneignung zu befleißigen. Nicht alles an der Technik oder in der Informatik ist dabei bildungsrelevant, aber auch hier gilt: Bildung muss dazu befähigen, an der Gestaltung der Zukunft aktiv und verantwortlich mitwirken zu können.
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Heike Schaumburg, Sebastian Hacke
Medienkompetenz und ihre Messung aus Sicht der empirischen Bildungsforschung
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Einleitung
Kompetenz ist spätestens mit der Teilnahme an den PISA-Studien auch in Deutschland zu einem zentralen Konstrukt nicht nur in der empirischen Bildungsforschung, sondern auch in der Bildungspolitik geworden. Kompetenzen werden, als Teil der neu formulierten Bildungsstandards, zum angestrebten Output des Bildungssystems und mit den in den vergangenen Jahren regelmäßig durchgeführten nationalen und internationalen Vergleichsmessungen gleichzeitig zum Gradmesser für seinen Erfolg. Auch in der Medienpädagogik wird mittlerweile an diese Diskussion angeschlossen und gefragt, inwiefern sie in Bezug auf den Medienbereich weitergeführt werden kann (vgl. das Themenheft der Zeitschrift Computer + Unterricht 63/2006). Dass Bildungsstandards allgemeine Bildungsziele aufgreifen und die Kompetenzen benennen, welche die Schule ihren Schülerinnen und Schülern vermitteln muss, damit bestimmte zentrale Bildungsziele erreicht werden, wird dabei als Vorteil gesehen. Denn dadurch liefern sie Schulen Vorgaben und bieten eine Orientierung, welche Kompetenzen Schüler in bestimmten Jahrgangsstufen erwerben sollen (vgl. Hartung 2006: 13). Andererseits wird eine gewisse Unzufriedenheit mit den bisherigen Bildungsstandards bemerkt. Sie erklärt sich daraus, dass Bildungsstandards nach der Kultusministerkonferenz nur für die Kernfächer erarbeitet wurden und eine ähnliche Entwicklung für eine Querschnittsaufgabe wie Medienbildung noch aussteht. Dabei erscheinen gerade Befunde, dass die Nutzung von Medien in Schulen zum Teil noch ineffektiv und wenig nachhaltig ist (vgl. Wagner/Peschke 2006: 7) als Argument dafür, Bildungsstandards und Kompetenzen auch für den Medienbildungsbereich explizit auszuformulieren. Allerdings hat sich die Diskussion und Definition des Konstrukts Medienkompetenz in der Medienpädagogik zur Entwicklung in der Bildungsforschung parallel abgespielt und, zumindest was die Situation in Deutschland angeht, weitgehend ohne eine direkte gegenseitige Befruchtung der Disziplinen. Insbe-
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sondere hat sich die Medienpädagogik bisher, von Ausnahmen abgesehen (z. B. Treumann et al. 2007), wenig für die Operationalisierung, empirisch-quantitative Messung und darauf aufbauende psychometrische Modellierung von Medienkompetenz interessiert, während dies aktuell ein Kernanliegen der empirischen Bildungsforschung über Kompetenzen darstellt. So lassen sich medienpädagogische Anschlüsse an die Diskussion um Bildungsstandards vor allem da feststellen, wo sich mit der Formulierung von Kompetenzen für die Medienbildung eine größere Verbindlichkeit erhofft wird. Hierzu hat etwa Moser (2006: 16 ff.). ein differenziertes Modell vorgelegt, das hinsichtlich Medienkompetenz zwischen medialen Handlungsfeldern (Anwendung und Gestaltung von Medienprodukten, Austausch und Vermittlung von Medienbotschaften, Medienkritik und -reflexion) und personalen Handlungskompetenzen (aufgeteilt in Sach-, Methoden- und Sozialkompetenzen) unterscheidet. Das Modell dient allerdings eher der Konzeptualisierung von Medienkompetenzstandards, um schulischer Medienerziehung eine Hilfestellung zur Vermittlung von Medienkompetenz zu bieten und orientiert sich weniger an Fragen der Messung bzw. Messbarkeit. An diesem Punkt setzt das Interesse der empirischen Bildungsforschung ein, die der Prämisse folgt, dass Kompetenzen so konkret beschrieben werden, dass sie in Aufgabenstellungen umgesetzt und prinzipiell mit Hilfe von Testverfahren erfasst werden können (vgl. BMBF 2007: 19). Vor diesem Hintergrund soll im vorliegenden Text die Frage der Messung von Medienkompetenz aus der Perspektive der empirischen Bildungsforschung aufgegriffen werden. Den Ausgangspunkt hierfür bilden Definitionen von Medienkompetenz, die innerhalb der Medienpädagogik entwickelt worden sind. Diese werden dem Kompetenzbegriff im Kontext der empirischen Bildungsforschung gegenüber gestellt. Auf diese Weise sollen einige Prämissen für ein an das Vorgehen der empirischen Bildungsforschung angelehntes Verfahren zur Messung des Konstrukts Medienkompetenz herausgearbeitet und diskutiert werden. Auf dieser Grundlage geht es schließlich um die Frage, welchen Erkenntnisgewinn eine an das Vorgehen der empirischen Bildungsforschung orientierte Messmethode für die Medienpädagogik bringen und wie ein entsprechendes Verfahren aussehen könnte.
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Zum Kompetenz-Konzept der Medienpädagogik und der empirischen Bildungsforschung
Vor dem Nachdenken über die Messung von Medienkompetenz steht notwendigerweise die Klärung dessen, was gemessen werden soll. Einleitend sollen deshalb einige Überlegungen zum Konstrukt Medienkompetenz angestellt werden. In der Medienpädagogik wurde bereits vor etwa zehn Jahren eine intensive Diskussion zum Konstrukt Medienkompetenz geführt, aus der eine Reihe von Definitionen und Modellen resultierte. Zunächst kann festgehalten werden, dass die Konzeptionen von Medienkompetenz auf unterschiedliche Disziplinen referieren, vor allem die Kommunikationswissenschaft, die Soziologie, die Psychologie und die Pädagogik, sodass das Konstrukt als interdisziplinär verankert angesehen werden kann. Groeben (2004: 28 f.) arbeitet wesentliche Gemeinsamkeiten verschiedener Konzepte heraus. Er zeigt auf, dass alle Konzeptualisierungen des Konstrukts eine individuelle und eine gesellschaftliche Seite haben: Auf der Seite des Individuums werden unterschiedliche Fertigkeiten und Fähigkeiten im Hinblick auf den Umgang mit Medien definiert, die in der Regel dem Ziel der konstruktiven gesellschaftlichen Teilhabe dienen, sofern diese Teilhabe durch Medien vermittelt ist (was heutzutage – davon gehen die Autoren unter Bezugnahme auf die Mediengesellschaft aus – in überwiegendem Maße der Fall ist). Angedeutet ist damit, dass auf Medienkompetenz von zwei Zielwerten aus geblickt werden kann: Von Seiten gesellschaftlicher Anforderungen her wäre Medienkompetenz ein Erfordernis, um den Herausforderungen der modernen Informations- bzw. Wissensgesellschaft gewachsen zu sein, worin Medienkompetenz als eine politische Kategorie erscheint und der Umgang mit Medien als eine Qualifikation aufgefasst werden kann. Vonseiten der Bedürfnisse des Individuums kann Medienkompetenz als Bestandteil von Persönlichkeitsentfaltung gedacht werden, die den Individuen in ihrer Entwicklung nutzt und ihnen „Möglichkeiten der Optimierung von Lebenschancen“ bietet. Medien können aus dieser Perspektive in „einem neutralen Sinn als Nutzungsoption Einzelner“ gesehen werden (Rosebrock/Zitzelsberger 2002: 153). Zwischen diesen beiden Polen gelagert kann man Medienkompetenz als Lernaufgabe auffassen, die – im Sinne einer didaktischen Kategorie – zwischen gesellschaftlichen Anforderungen und individuellem Nutzwert vermittelt. Das bedeutet, dass, welchen Schwerpunkt man auch immer setzt, die Formulierungen des Konstrukts notwendigerweise normativ ausfallen, d. h. es geht nicht allein um die Beschreibung, sondern in dem Moment, in dem man von Medienkompetenz spricht, immer auch um die Bewertung des Medienhandelns bzw. -wissens vor der Perspektive der gesellschaftlichen Vermittlung, Teilhabe
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und Entwicklung (am augenfälligsten vielleicht in der Definition des Konstrukts von Tulodziecki 1997, s. untenstehende Tabelle, in der bereits die Bezeichnung der Teilkomponenten eine normative Erwartung durchscheinen lässt). Aufenanger (1997) Kognitive Dimension
Handlungsdimension
Baacke (1998) Medienkunde
Mediennutzung
Tulodziecki (1997) Mediengestaltungen verstehen und bewerten Bedingungen der Medienproduktion und -verbreitung analysierend erfassen Medienangebote sinnvoll auswählen und nutzen
Moralische Dimension
Medienkritik
Medieneinflüsse erkennen und aufarbeiten
Ästhetische Dimension
Mediengestaltung
Eigene Medienbeiträge gestalten und verbreiten
Soziale Dimension Affektive Dimension
Kübler (1999) Kognitive Fähigkeiten
Groeben (2002) Medienwissen/ Medialitätsbewusstsein
Handlungsorientierte Fähigkeiten
Medienspezifische Rezeptionsmuster
Analytische und evaluative Fähigkeiten
Selektion/ Kombination von Mediennutzung Medienbezogene Kritikfähigkeit
(Produktive) Partizipationsmuster Sozialreflexive Fähigkeiten
Anschlusskommunikation Medienbezogene Genussfähigkeit
Tabelle 1: Definitionen von Medienkompetenz (nach Gapski 2006: 17)
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Was die Binnenstruktur des Konstrukts angeht, lassen sich in den Konzepten weitreichende Überschneidungen feststellen, was vermutlich auch damit zusammenhängt, dass die Mehrzahl der Autoren sich an dem von Baacke (1997) formulierten Modell orientiert. Baacke wiederum hatte bereits 1973 ein kommunikationstheoretisches Fundament vorgelegt, aus dem abgeleitet sich Medienkompetenz als Teilmenge der kommunikativen Kompetenz beschreiben lässt. Dass neben den verschiedenen Entwürfen von Modellen zur Medienkompetenz auch deren empirische Bearbeitung zu treten habe, ist eine innerhalb der Medienpädagogik noch relativ junge Forderung (vgl. Kübler 2003). Tabelle 1 stellt in Anlehnung an Gapski (2006: 17) einige der bekanntesten Definitionen von Medienkompetenz gegenüber. Dabei wurden die Teilkomponenten, die die Autoren postulieren, so geordnet, dass inhaltlich ähnliche Facetten des Konstrukts jeweils in einer Zeile angeordnet sind. Übereinstimmungen zeigen sich dahingehend, dass alle Definitionen über eine kognitive oder Wissenskomponente, eine Komponente der kritischen Bewertung von Medien, eine Nutzungs- und eine Gestaltungskomponente verfügen. Man könnte mithin die vier genannten Facetten als Kernkomponenten des Konstrukts auffassen. Hinzu kommt eine soziale Dimension von Medienkompetenz in dem Sinne, Medien als Teil eines sozialen bzw. gesellschaftlichen Systems zu begreifen und zu nutzen sowie eine affektive Komponente im Sinne der emotionalen Verarbeitung von Medieneinflüssen. Relativ vage bleiben bisherige Modelle hinsichtlich der Beziehung der Teilkomponenten zueinander. Grundsätzlich wird zwar davon ausgegangen, dass die Dimensionen miteinander in Verbindung stehen und einander wechselseitig beeinflussen. Meist sind diese Beziehungen und Wechselbeziehungen in den Modellen jedoch nur exemplarisch dargestellt und nicht systematisch für alle Teilkomponenten ausgearbeitet. Eine Ausnahme bildet das Modell von Groeben (2004). Angelehnt an Hobbs (1997: 132) schlägt er eine prozessuale Strukturierung des Konstrukts entlang der medialen Verarbeitungsprozesse Zugang (access) – Analyse (analyze) – Evaluation (evaluate) – Kommunikation (communicate) vor und ordnet die Komponenten seines Modells entsprechend ein (Groeben 2004: 33ff). Allerdings nimmt auch in seinem Modell die Darstellung der inneren Struktur der Teilkomponenten einen deutlich größeren Raum ein, als die Darstellung der Beziehungen zwischen ihnen. Zusammenfassend kann für das Konstrukt festgehalten werden: - Es handelt sich um ein mehrdimensionales Konstrukt, dessen Teilkomponenten aufgrund ihrer Verankerung in unterschiedlichen Disziplinen in ihrer Binnenstruktur auf ein heterogenes Gerüst von Teiltheorien zurückgreifen.
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- Bezüglich zentraler Komponenten des Konstrukts stimmen unterschiedliche Konzepte überein, im Detail weichen die Konzepte allerdings voneinander ab. - Zur Beziehung der Teilkomponenten gibt es bisher keine einheitlichen Vorstellungen. - Die pädagogische Tradition des Konstrukts resultiert in einer normativen Ausrichtung von Medienkompetenz als Kompetenz zur gesellschaftlichen Teilhabe. Die empirische Bildungsforschung hat sich mit dem Konstrukt Medienkompetenz bisher kaum beschäftigt. So findet sich in dem 2007 aufgelegten DFGSchwerpunktprogramm „Kompetenzmodelle zur Erfassung individueller Lernergebnisse und zur Bilanzierung von Bildungsprozessen“ kein einziges Projekt, das explizit den Gegenstand der Medienkompetenz in den Blick nimmt (vgl. DIPF 2007). In den PISA-Studien wurden verwandte Konstrukte, wie Lesekompetenz und IT-Kompetenz untersucht, allerdings weitgehend ohne Rekurs auf vorhandene medienpädagogische Überlegungen (vgl. Deutsches PISAKonsortium 2001). Dies ist umso erstaunlicher, als die empirische Bildungsforschung sich zurzeit intensiv mit der Kompetenzforschung und Kompetenzmodellierung in den unterschiedlichsten Domänen beschäftigt (in dem o.g. Schwerpunktprogramm werden z. B. auf Schülerseite untersucht: mathematische und naturwissenschaftliche Kompetenz, Umweltkompetenz, Gesundheitskompetenz, Problemlösekompetenz, Selbstregulationskompetenz, sowie auf Lehrerseite Bewertungs-, Beratungs- und pädagogisch-psychologische Kompetenz). Dass gerade die Medien in den aktuellen Feldern empirischer Bildungsforschung weitgehend fehlen, ist deshalb bedauerlich, da sie a) allgemein in Bildungsprozessen eine hohe Bedeutung haben können (Schelhowe 2007) und b) beispielsweise in den Prozessen „lebenslangen Lernens“, „kultureller Bildung“ sowie „Bildung in sozialen Zusammenhängen“ einen wachsenden Stellenwert haben – allesamt Bereiche, die mittlerweile explizit als bedeutsame Aufgaben von empirischer Bildungsforschung benannt werden (vgl. BMBF 2008). Anders als in der medienpädagogischen Diskussion ist das Kompetenzverständnis der empirischen Bildungsforschung vor allem in der Psychologie, genauer in der Kognitionspsychologie, verankert, wie die in diesem Zusammenhang häufig zitierte Definition von Weinert deutlich macht: Kompetenzen sind danach „die bei Individuen verfügbaren oder durch sie erlernbaren kognitiven Fähigkeiten und Fertigkeiten, um bestimmte Probleme zu lösen, sowie die damit verbundenen motivationalen, volitionalen und sozialen Bereitschaften und Fähigkeiten, um die Problemlösungen in variablen Situationen erfolgreich und verantwortungsvoll nutzen zu können“ (Weinert 2001: 27 f). Kompetenzen sind
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hier klar als individuelle kognitive Fähigkeiten und Fertigkeiten des Problemlösens definiert, die um individualpsychologische Aspekte der Motivation, Volition und sozialen Bereitschaft erweitert werden. Eine gesellschaftliche Zielperspektive, die in der medienpädagogischen Definition von Medienkompetenz zentral ist, klingt bestenfalls in der Formulierung „(…) in variablen Situationen (…) verantwortungsvoll nutzen zu können“ an, bleibt aber äußerst vage und unkonkret. Der Fokussierung des Konstrukts auf kognitive Aspekte liegt die implizite Annahme zugrunde, dass individuelle kognitive Fähigkeiten eine wichtige Voraussetzung aller weiteren Kompetenzaspekte einer Domäne darstellen. Unmittelbar einleuchtend scheint diese Annahme z. B. für den Bereich der Lesekompetenz zu sein: Wenn ein Schüler nicht in der Lage ist, einen Text überhaupt Sinn verstehend zu lesen, wird er auch kaum zu Leistungen fähig sein, die über den Text hinaus gehen, wie z. B. den Text zur Erschließung eines Sachverhalts zu nutzen oder die Intention des Autors sowie die Produktionsbedingungen des Textes kritisch zu beurteilen. Ein wichtiges Prinzip der Kompetenzmessung in der empirischen Bildungsforschung besteht also darin, aus dem komplexen Geflecht von Wissen, Fähigkeiten und Fertigkeiten, die die Kompetenz ausmachen, einen Aspekt zu isolieren, von dem angenommen werden kann, dass er – gewissermaßen als „conditio sine qua non“ – alle weiteren Kompetenzfacetten bedingt und dessen Beherrschung nicht trivial ist. So zeigen, um auf das Beispiel der Lesekompetenz zurückzukommen, die Ergebnisse der PISA-Lesetests, dass ein nicht unerheblicher Prozentsatz der getesteten Schüler (zumindest in Deutschland) bereits an der Aufgabe scheitert, sich lesend den Inhalt einfachster Texte zu erschließen. Nachdem ein solcher Kompetenzaspekt als Voraussetzung des an sich komplexeren Konstrukts identifiziert wurde, besteht der nächste Schritt der empirischen Bildungsforschung darin, ihn der empirischen Überprüfung mit quantitativen Testverfahren zugänglich zu machen. Die hierbei eingesetzten Tests sind Leistungstests, d. h. es werden Aufgaben unterschiedlicher Schwierigkeit konstruiert, mit denen man beansprucht, den fraglichen Kompetenzaspekt direkt zu messen. Das zugrunde liegende Skalierungsmodell ist ein eindimensionales Raschmodell, mit dem die Testergebnisse so skaliert werden, dass sich die Leistungen der Testpersonen auf einer einzigen Schwierigkeits-, bzw. Fähigkeitsdimension abbilden lassen. Abschließend werden empiriegeleitet Kompetenzstufen ermittelt, anhand derer Aussagen über die Verteilung unterschiedlicher Stichproben (bei PISA: Schüler aus verschiedenen Teilnehmerstaaten) gemacht und die auch inhaltlich interpretiert werden können. Das Vorgehen der empirischen Bildungsforschung zur Kompetenzmessung ließe sich also in etwa so skizzieren:
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1. 2. 3. 3
Reduktion des Konstrukts auf eine (kognitive) Grundkompetenz, die als Voraussetzung weiterer (auch auf gesellschaftliche Teilhabe ausgerichtete) Facetten des Konstrukts gelten kann. Operationalisierung der Grundkompetenz und Konstruktion entsprechender Leistungstests. Skalierung der Ergebnisse auf einer Fähigkeitsdimension und Ermittlung von Kompetenzstufen.
Impulse der empirischen Bildungsforschung für die Messung von Medienkompetenz
Im Folgenden soll nun durchgespielt werden, welche Schritte sich für die Kompetenzmodellierung und -messung bei einem an die Vorgehensweise der empirischen Bildungsforschung angelehnten Verfahren ergeben würden. Dies geschieht mit der Intention, aufzuzeigen, welchen Erkenntnisgewinn ein solches Verfahren bringen würde, aber auch, wo es an Grenzen stößt bzw. welche Fragen es unbeantwortet lässt. 3.1 Reduktion des Konstrukts Wendet man einen kognitions-psychologisch fundierten Kompetenzbegriff an, würde man davon ausgehen, dass jeglicher Form des Medienhandelns eine wie auch immer geartete kognitive Struktur zugrunde liegt, die für das Verständnis und die Vorhersage des Verhaltens das eigentlich Wesentliche ist. Der primäre Untersuchungsgegenstand wären also die kognitiven Schemata oder Strukturen, die es dem Mediennutzer erlauben sich Medieninhalte zu erschließen und diese einzuordnen. In der Terminologie der Medienkompetenzmodelle wäre damit die Facette des Medienwissens, aber auch der Medienkritik als eine kognitive Kompetenz sowie die kognitiven Anteile der Mediengestaltung und Mediennutzung angesprochen. Einen solchen übergreifenden Medienkompetenzbegriff vertritt z. B. Vollbrecht (2001: 58), der dafür plädiert, den Begriff Medienkompetenz allein für medienbezogene kognitive Strukturen zu reservieren. Zu fragen wäre nun, ob innerhalb der kognitiven Aspekte eine Reduktion auf grundlegende medienbezogene kognitive Wissensbestände und Fertigkeiten möglich ist. Lehnt man sich an die vier Grunddimensionen des Konstrukts nach Baacke (1998) an, wäre die Facette des Medienwissens sicherlich zentral. So geht auch Groeben (2004: 34) davon aus, dass Medienwissen, bzw. Medialitätsbewusstsein die Voraussetzung für alle weiteren medienbezogenen Verarbeitungsprozesse darstellt. Medienwissen ließe sich als notwendige Voraussetzung
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von Medienkritik und Mediengestaltung auffassen, denn ohne entsprechendes Wissen über das Medium ist die kritische Analyse und Reflexion von Medieninformationen und -einflüssen genauso schwer möglich wie der produktive Umgang mit Medien ohne deklaratives und vor allem prozedurales Medienwissen denkbar ist. Allerdings ist Medienwissen als Voraussetzung für diese weiteren Facetten nicht hinreichend, so dass eine Messung, die sich allein auf das Medienwissen konzentriert, zu kurz greift. Auch mit Bezug auf die Facette „Mediennutzung“ ist eine Fokussierung auf das Medienwissen problematisch, denn diese bedingen sich wechselseitig. Medienwissen wird häufig im Prozess der Mediennutzung erworben und aufgebaut. Das Wissen wirkt gleichzeitig auf die Mediennutzung zurück und beeinflusst diese (Schwan/Hesse 2004: 75). Medienwissen ist also nicht nur Voraussetzung für (kompetente) Mediennutzung, sondern auch deren Folge. Überlegungen wie diese machen deutlich, dass die Verengung des Kompetenzbegriffs auf kognitive Aspekte nicht mit der Konzentration auf die Messung einer einzelnen Facette des Konstrukts gleichgesetzt werden kann. Stattdessen müsste für jede der Facetten geprüft werden, ob sich fundamentale Wissensbestände oder Schemata identifizieren ließen, die die Grundlage einer Testkonstruktion bilden könnten. Außerdem müsste neben einer kognitiven Komponente die tatsächliche Nutzung einbezogen werden, z. B. indem neben einer kognitiven Dimension eine Nutzungsdimension modelliert wird und somit von vornherein von einem mehrdimensionalen Kompetenzmodell ausgegangen würde. 3.2 Operationalisierung des Konstrukts und Konstruktion von Leistungstests Es stellt sich nun die Frage der Operationalisierung und Testentwicklung. Anders als beim Konstrukt Lesekompetenz, bei dem die Operationalisierung auf den prozeduralen kognitiven Aspekt des Konstrukts, d. h. die Dekodierfähigkeit des Lesers, fokussiert ist, erscheint es für die Messung von Medienkompetenz nicht sinnvoll, sich allein auf prozedurale Wissensbestände zu beschränken. So definiert Groeben (2004: 34) Kategorien im deklarativen Wissensbereich, um die Facette Medienwissen als Voraussetzung für nachgeordnete Kompetenzbereiche zu beschreiben (z. B. Wissen über wirtschaftliche, rechtliche Rahmenbedingungen einzelner Medien, Wissen über spezifische Arbeits- und Operationsweisen von Medien usw.). Prozedurale Wissensbestände (technisch-instrumentelle Fertigkeiten bis hin zu komplexen kognitiven Verarbeitungsmustern) fasst er als Teil der Facette „Medienspezifische Rezeptionsmuster“ auf. Auch andere Autoren schließen deklarative und prozedurale Wissensbestände in die Operationalisierung des Konstrukts ein (z. B. Naumann/Richter/Groeben 1999 für das Kons-
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trukt der Computerkompetenz). Leistungstests zur Messung von Medienkompetenz müssten also sowohl Items enthalten, die auf die Messung deklarativen, wie auch prozeduralen Medienwissens abzielen. Für beide Bereiche kann darüber hinaus mit Vollbrecht (2001: 58) festgestellt werden, dass die Operationalisierung auf „Regelwissen“ abzielen sollte, d. h. auf Wissensbestände auf einem mittleren Abstraktionsniveau. Vollbrecht versteht darunter in Anlehnung an Luhmann (1996: 192) Schemata oder Skripts, die es dem Nutzer erlauben, neue Medienerfahrungen einzuordnen bzw. Nutzungssituationen zu meistern. Damit wären auch Aspekte der Kritikfähigkeit und der Mediengestaltung angesprochen. Die Operationalisierung sollte also nicht auf die Kenntnis spezieller Programme, Akteure, Anwendungen und technischer Komponenten abzielen, sondern auf das Vorhandensein grundsätzlicher Zusammenhänge, Muster und Routinen. Sowohl für das deklarative als auch für den prozedurale Wissen stellt eine solche Forderung hohe Anforderungen an die Kreativität der Testentwickler, da die Beschaffenheit eines solchen „Regelwissens auf mittlerem Abstraktionsniveau“ bisher noch unzureichend erforscht ist. Andererseits könnte gerade in der Operationalisierung und empirischen Messung mit unterschiedlichen Testverfahren ein Weg bestehen, Erkenntnisse über das Wesen medienbezogener Wissensstrukturen zu gewinnen. Eine Schwierigkeit besteht schließlich auch darin, Verfahren zu finden, die bei möglichst hoher Validität gleichzeitig effizient durchführbar sind. Es ist fraglich, ob die in der empirischen Bildungsforschung verwendeten Papier-undBleistift-Verfahren geeignet sind, um deklaratives und prozedurales Medienwissen im Sinne einer Kompetenzmessung angemessen zu erfassen. Dies gilt insbesondere im Bereich der audiovisuellen und der computerbasierten Medien. Gerade für die computerbasierten Medien existieren zwar bereits alternative Bewertungsverfahren, wie z. B. Lernportfolios (Bertelsmann-Stiftung 2002), die sich allerdings aufgrund der relativ aufwändigen Anwendung und Auswertung nicht für die Leistungsmessung bei großen Stichproben eignen. Vielversprechend ist die Entwicklung szenario-basierter Tests (z. B. Lennon et al. 2003; Katz, 2007), die jedoch ebenfalls in der Entwicklung und Anwendung aufwändig sind. 3.3 Skalierung der Ergebnisse auf einer Fähigkeitsdimension und Ermittlung von Kompetenzstufen Spätestens bei der Operationalisierung stellt sich ein weiteres Problem, das bisher ausgeklammert wurde, nämlich, dass die für kompetentes Medienhandeln notwendigen deklarativen wie auch prozeduralen Wissensbestände, wie auch die tatsächliche Nutzung, über verschiedene Medien hinweg kaum verallgemeinert werden können. Medienwissen und Mediennutzung ist in weiten Teilen medien-
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spezifisch. Jemand könnte z. B. umfassende Kenntnisse über das Medium Internet haben und gleichzeitig über das Zeitungswesen kaum Bescheid wissen. Der Umgang mit dem Computer erfordert wesentlich umfangreichere technischinstrumentelle Fertigkeiten als der mit dem Radio. Jemand sieht häufig fern und liest selten Zeitung. Deshalb wird man bei der Operationalisierung und der Formulierung von Testitems nicht umhin kommen, diese medienspezifisch zu formulieren. Neben eine kognitive und eine Nutzungsdimension (s. o.) träte also die Auffächerung der Messung nach verschiedenen Medien. Ein an das Vorgehen der empirischen Bildungsforschung angelehntes Verfahren bestünde dann darin, medienspezifische Skalen bzw. Subtests zu entwickeln, für die man anhand der gewonnenen Daten prüfen würde, ob sie sich zu einem Gesamtscore zur Abbildung von Medienkompetenz zusammenfassen lassen (ähnlich wie das Vorgehen zur Ermittlung mathematischer Kompetenz, bei dem ebenfalls heterogene mathematische Wissensbestände, z. B. im Bereich der Grundrechenarten, Geometrie, Algebra, usw. abgefragt und am Ende akkumuliert werden). Dabei ließe sich im Rahmen der Skalierung der Ergebnisse Erkenntnisse darüber gewinnen, ob und welche Teile von Medienwissen sich auf einer homogenen Dimension abbilden lassen und welche Wissensbestände in medienspezifische Dimensionen zerfallen. Dies hätte auch theoretische Implikationen, insofern als dass z. B. gestützt auf empirische Befunde diskutiert werden könnte, inwieweit bzw. bezogen auf welche Kompetenzbereiche es sinnvoll ist, statt von Medienkompetenz von „Medienkompetenzen“ zu reden, wie es bspw. Gapski (2006: 27) vorschlägt. Die empirisch fundierte Ermittlung von Kompetenzstufen könnte, unter der Voraussetzung, dass die im vorangegangenen erläuterten Probleme der Operationalisierung und Testkonstruktion zufrieden stellend gelöst werden können, schließlich interessante Ergebnisse zu qualitativen Niveau-Unterschieden hinsichtlich der kognitiven Aspekte von Medienkompetenz erbringen. Untersuchungen zu Zusammenhängen der analysierten Kompetenzfacetten mit demographischen Merkmalen, z. B. Aspekten des Geschlechts oder des sozioökonomischen Status könnten sich anschließen. 4
Schlussfolgerungen
Welche Schlussfolgerungen ergeben sich aus unseren Überlegungen für die Medienpädagogik? Zunächst zeigt sich, dass die Messung von Medienkompetenz auch unter den Prämissen der empirischen Bildungsforschung ein komplexes und diffiziles Unterfangen bleibt. Die Reduktion des Konstrukts auf einen einzelnen Wissens- bzw. kognitiven Fertigkeitsbereich ist kaum möglich, will man sich nicht den Vorwurf der unzulässigen Vereinfachung des Konstrukts einhandeln.
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Auch bezüglich der Operationalisierung des Konstrukts gibt es, wie oben angerissen, noch eine Reihe ungelöster Probleme. Völlig ausgeblendet bleibt aus der Perspektive der empirischen Bildungsforschung auch das (theoretische wie empirische) Problem, ob Medienkompetenz tatsächlich als kognitiver „Output“ des Bildungssystems verstanden werden kann, inwiefern man mit einer solchen Messung den außerhalb formalinstitutioneller Arrangements stattfinden Prozessen von Kompetenzentwicklung im Kontext von Mediensozialisation gerecht wird und wie sinnfällig ein solches Vorgehen vor dem Hintergrund (medien-)pädagogischer Fragestellungen überhaupt ist. Dies sei nochmals am Beispiel der Lesekompetenz, die durch ihren Bezug auf Schriftmedien im weiteren Sinn als Teilkompetenz von Medienkompetenz aufgefasst werden kann (Tulodziecki 2003: 33), verdeutlicht: Unter Lesekompetenz wird in den PISA-Studien „die Fähigkeit, geschriebene Texte unterschiedlicher Art in ihren Aussagen, ihren Absichten und ihrer formalen Struktur zu verstehen und sie in einen größeren sinnstiftenden Zusammenhang einzuordnen, sowie in der Lage zu sein, Texte für verschiedene Zwecke sachgerecht zu nutzen“ verstanden (Deutsches PISA Konsortium 2001: 22). Der Fokus wird im Weiteren verengt auf Lesekompetenz im Sinne effektiver individueller Informationsverarbeitung. Dass eine solche Reduzierung nicht im Gegenstand selbst begründet liegt, wird überzeugend von Hurrelmann (2006: 169ff) dargelegt. Vor allem weist sie darauf hin, dass ein umfassendes Verständnis von Lesekompetenz gegenüber der verengten Sichtweise, die in den PISA-Studien eingenommen wird, insbesondere für die Erklärung der Ursachen von (mangelnder) Lesekompetenz und für das Nachdenken über Fördermaßnahmen deutlich vorteilhafter wäre (Hurrelmann 2006: 164ff). Gegenüber einer rein funktionalistischen Sicht auf Lesekompetenz, aus der Aufgaben abgeleitet werden, die auf den instrumentellen Gebrauch von Gebrauchstexten ausgerichtet ist, geht auch die neuere Diskussion innerhalb der Deutschdidaktik eher auf Distanz (vgl. Barsch 2006). Darin wird kritisch bemerkt, dass mit einem engen Begriffsverständnis von Lesekompetenz auch ein enger Begriff von Literalität verbunden ist: Wenn Literalität jedoch „ein intertextuelles und intermediäres Phänomen ist und Lesen eine kulturelle Praxis bildet, dann sollte Lesen nicht auf Informationsverarbeitung reduziert werden, wie es in der PISA-Studie angelegt ist“ (Barsch 2006: 172). In diesem Zusammenhang sei abschließend darauf hingewiesen, dass die Genese von Medienkompetenz, vor allem in Form von Mediennutzung, unabweisbar eine biografische Sinndimension hat (vgl. Schulte Berge/Schoett/Garbe 2002), welche von der Seite des Subjekts her zu rekonstruieren ist. Das bedeutet, dass im Lichte bestimmter biographischer Funktionen bestimmte Medienhand-
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lungen als kompetent eingeschätzt werden, die in einer isolierten, rein äußerlichen Betrachtungsweise ganz anders erscheinen. Bezüglich dieser Aspekte hätte man – jenseits von Leistungstests – zu fragen, wie Mediennutzung mit subjektiven Erfahrungen und Handlungsmustern vor dem Hintergrund milieubedingter Sozialisationsprozesse verbunden ist. Ableiten ließe sich daraus das Erfordernis einer Verbindung von verschiedenen Methodendesigns (im Sinne von Triangulation), um eine Brücke zu schlagen zwischen empirisch-quantitativer und qualitativer Forschung. Welchen Gewinn, bzw. welche Erkenntnisse könnte man sich dennoch davon versprechen, die Erfassung von Medienkompetenz entlang den Strategien der empirischen Bildungsforschung zu entwerfen? Eine Reduktion von Medienkompetenz auf die kognitiven Komponenten könnte dazu anzuregen, die Verbindungen dieser kognitiven Bestandteile in Verbindung zu bringen mit Daten zu Mediennutzung, -kritik und -gestaltung und damit Impulse geben, sich stärker empiriegestützt mit der inneren Struktur des Konstrukts auseinanderzusetzen als dies bisher der Fall war. Ein Ziel könnte es sein, für den Bereich der Medienkompetenz Kompetenz-Strukturmodelle zu entwerfen und empirisch zu prüfen, wie es gegenwärtig für verschiedene andere Kompetenzbereiche in der empirischen Bildungsforschung versucht wird. Mit der Hinwendung zu Methoden der empirischen Bildungsforschung ergäbe sich für die Medienpädagogik darüber hinaus möglicherweise die Gelegenheit, stärker als bisher Anschluss zu finden an die momentan intensiv geführte Diskussion der Bildungspolitik bezüglich Kompetenzen und Standards. In Bezug auf deren Fokus der empirischen Modellierung, das heißt der Operationalisierung, Messung und Vergleichbarkeit könnte sich das Konstrukt der Medienkompetenz somit als Bindeglied erweisen. Zur Folge hätte dies vermutlich eine deutlichere Wahrnehmung der Medienpädagogik als eigenständige Teildisziplin mit dem Signal, die Bearbeitung zentraler Fragen des Medienzeitalters nicht allein der empirisch orientierten Medien- und Kommunikationswissenschaft, Psychologie oder Soziologie zu überlassen.
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Klaus Peter Treumann, Markus Arens, Sonja Ganguin
Die empirische Erfassung von Medienkompetenz mit Hilfe einer triangulativen Kombination qualitativer und quantitativer Forschungsmethoden
1
Problemaufriss und Zielsetzung des Beitrags
Im Kontext der internationalen Schulleistungsstudien (z.B. PISA) und der Formulierung von Bildungsstandards im schulischen und außerschulischen Bereich hat gegenwärtig die Definition, Operationalisierung bzw. Erfassung von Kompetenz einschließlich ihrer Diagnose und Förderung eine ganz erhebliche Bedeutung erlangt (z.B. Klieme/Hartig 2007). Diese Zielsetzungen werden ebenfalls im Bereich der Medienpädagogik zunehmend intensiv diskutiert, so unlängst auf der Herbsttagung der Sektion Medienpädagogik an der Universität Paderborn, und zwar nicht nur in Einzelvorträgen, sondern auch in einer ausgedehnten Podiumsdiskussion zum Abschluss der Tagung. Dabei ist anzumerken, dass gerade in der obigen erziehungswissenschaftlichen Teildisziplin eine relativ lange Tradition besteht, das Konzept in verschiedenen – teils miteinander konkurrierenden – Modellen (etwa Aufenanger 1997, 1999, 2001, 2002; Baacke 1996a, b, 1999; Groeben 2002; Moser 2000, Pöttinger 1997; Schorb 1997; Tulodziecki 1997, 1993) differenziert zu explizieren und es auf verschiedene inhaltliche Gebiete des institutionalisierten und informellen Lernens von und mit Medien anzuwenden. Vor dem Hintergrund des skizzierten Aufgabenhorizontes kommt der Frage der empirischen Erfassung des mehrdimensionalen theoretischen Konstrukts der Medienkompetenz eine zentrale Bedeutung zu. Schwerpunktmäßig werden daher in diesem Beitrag methodologische und forschungsmethodische Aspekte behandelt, die anhand eines inhaltlichen Beispiels in kondensierter Form verdeutlicht werden: Die Kernthese lautet, dass das komplexe Konzept der Medienkompetenz auf der erfahrungswissenschaftlichen Ebene vor allem durch eine aufeinander abgestimmte Kombination qualitativer und quantitativer Methoden im Sinne des methodologischen Paradigmas der Triangulation erfassbar ist. In diesem Zusammenhang wird eine Strategie dargestellt, deren Kern auf einem replizierba-
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ren und intersubjektiv nachkontrollierbaren Verfahren zur Identifizierung prototypischer Fälle basiert. Es ist von Treumann im Rahmen von zwei umfangreichen empirischen Forschungsprojekten (Treumann/Meister/Sander u.a. 2007; Treumann/Baacke/Haacke u.a. 2002) entwickelt worden. In ihnen bildet das von Dieter Baacke konzipierte Bielefelder Medienkompetenz-Modell die zentrale Theoriefolie. 2
Methoden-Triangulation als Schwerpunkt
Im Anschluss an Webb et al. (1966) entwickelt Denzin (1970, 1989) das Konzept der Methoden-Triangulation1 und unterzog es einer weiteren Systematisierung. So unterscheidet er zwischen der Triangulation innerhalb einer Methode („within method“) und zwischen verschiedenen Methoden („between methods“). Die Triangulation qualitativer und quantitativer Forschungsmethoden kann zur Lösung des Zielkonfliktes beitragen, der zwischen den folgenden konkurrierenden Teilzielen empirischer Forschung besteht, nämlich: x x x
Der Generalisierbarkeit von Ergebnissen im Sinne einer Erreichung möglichst verallgemeinerungsfähiger (repräsentativer) Aussagen über Einstellungen und Verhaltensweisen von Akteuren in einer Population, zu präzisen Aussagen über die Wirkungen von Einflussfaktoren zu gelangen, d.h. eine maximale Genauigkeit der Wirkungskontrolle über die untersuchten Variablen zu erzielen (z.B. in Experimenten) sowie der Erfassung von sozialen Kontexten einschließlich der Deutungen und Pläne der in ihnen handelnden Subjekte (vgl. Treumann 1998).
Allerdings hat sich die von Denzin aufgestellte These, dass man durch einen Mehrmethodenansatz notwendigerweise zu verlässlicheren und gültigeren Ergebnissen kommt als bei der Anwendung nur einer einzigen Forschungsmethode [Integrationsthese (Treumann 1998) bzw. Konvergenz-Modell (Kelle/Erzberger 1999)] nicht zuletzt aufgrund forschungspraktischer Erfahrungen relativiert. Vielmehr ist diese Art der Methodenkombination imstande, breitere vielfältigere und tiefere Erkenntnisse über die untersuchten sozialen Phänomene zu liefern als bei Applizierung lediglich einer einzigen Methodenklasse [KomplementaritätsModell (Treumann 1998)].
1
Andere Begriffe lauten etwa „Multimethodisches Vorgehen“, „Methodenkombination“, „Methodenmix“ bzw. „Mixed Methods“ oder „Integrative Sozialforschung“.
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Ein noch weitgehend ungelöstes Problem bei der Triangulation qualitativer und quantitativer Methoden stellt die Tatsache dar, dass die meisten Untersuchungen ihre Analyse sowie ihre Interpretation der Ergebnisse realisierter qualitativer und quantitativer Forschung jeweils getrennt voneinander durchführen und – wenn überhaupt – erst im Nachhinein aufeinander beziehen, (vgl. Greene/Caracelli/ Graham 1989; Treumann 1998; Seipel/Rieker 2003). Zur Lösung dieses Forschungsdesiderats hat Treumann einen Beitrag beigesteuert, der eine replizierbare Strategie zur optimalen Auswahl von Personen aufgrund quantitativ gewonnener Ergebnisse enthält, die in einem weiteren Analyseschritt qualitativ interviewt oder beobachtet etc. werden können, wobei die dann erhaltenen Befunde zu einer Relativierung, Verbreiterung oder Vertiefung der quantitativen Ergebnisse im Sinne der Komplementaritätsthese führen können, die eine substantielle Erhöhung des empirischen Gehalts von theoretischen Konstrukten – hier der Medienkompetenz – beinhaltet. 3
Ein Erfahrungsbeispiel zur multimethodischen Erfassung von Medienkompetenz
Im Folgenden werden zum einen die zentralen Ablaufschritte der angewandten triangulativen Strategie dargestellt und zum anderen wird über wichtige forschungspraktische Erfahrungen informiert. Der Schwerpunkt unserer Ausführungen liegt, aus Gründen eines erhofften Transfers im Hinblick auf das Design und die Durchführung anderer empirischer Forschungsvorhaben zur Medienforschung und -pädagogik, eindeutig auf den methodologischen und methodischen Aspekten und hier wiederum auf dem Nachweis von Erkenntnisgewinnen über den Untersuchungsgegenstand aufgrund eines der quantitativen Phase nachgeschalteten qualitativen Forschungsabschnittes. Ausgewählte inhaltliche Befunde werden vor allem dargelegt, um den wissenschaftlichen Mehrwert der angewendeten Forschungsstrategie zu verdeutlichen 3.1 Standardisiert-quantitativer Teil (Phase 1) Diese Phase bestand aus insgesamt drei Teilschritten. (a) Einer repräsentativen Fragebogenerhebung zur Erfassung der Medienkompetenz Jugendlicher schlossen sich (b) Hauptkomponenten- bzw. Faktorenanalysen zur Aufdeckung der internen Binnenstruktur der Unterdimensionen des Bielefelder Medienkompetenz-Modells an, die wiederum die Ausgangsdaten für (c) die Durchführung von Clusteranalysen zur Rekonstruktion einer empirisch gestützten Typologie jugendlichen Medienhandelns bildeten.
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Zu (a): Das Projekt umfasste eine repräsentative Stichprobe von n = 3.271 Jugendlichen im Alter von 12 bis 20 Jahren aus den drei Bundesländern Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen-Anhalt und Nordrhein-Westfalen. Es war als Panoramastudie angelegt, da es die ganze Vielfalt der Mediennutzung in den Blick zu nehmen suchte. Der standardisierte Fragebogen bestand insgesamt aus 121 Fragen, darunter ein Großteil zur Operationalisierung der vier Dimensionen „Mediennutzung“, „Medienkunde“, „Mediengestaltung“ und „Medienkritik“ des Bielefelder Medienkompetenz-Modells in Form von Selbstauskünften Jugendlicher mit Ausnahme der Items zur Messung der Teildimension „Informative Medienkunde“, die als Wissenstest angelegt waren. Zu (b): Um das Teilziel einer empirischen Rekonstruktion der Binnenstruktur der Dimensionen des Bielefelder Medienkompetenz-Modells zu erreichen, sind von uns jeweils Hauptkomponenten (vulgo: Faktoren-)analysen (Orthogonale Rotation gemäß Varimaxkriterium) der Interkorrelationen von Variablenbatterien zur Messung von 8 der insgesamt neun Unterdimensionen des Modells gerechnet worden. Es ergaben sich u.a. die folgenden Hauptergebnisse: (b1) Mit Hilfe der insgesamt m = 32 erhaltenen Hauptkomponenten, die wechselseitig inhaltlich voneinander unabhängig sind, lassen sich inhaltlich interpretierbare Binnenstrukturen von q = 8 Unterdimensionen des Bielefelder Medienkompetenz-Modells rekonstruieren. (b2) Die Ausprägungen, welche die Jugendlichen auf diesen insgesamt 32 abgeleiteten Variablen höheren Allgemeinheitsgrades – gemessen als z-Werte – besitzen, bilden die Ausgangsdaten für die nachfolgende Clusteranalyse. Zu (c): Dieser Teilschritt hat die Entwicklung einer empirisch fundierten Typologie von Jugendlichen im Hinblick auf ihre Medienkompetenz zum Ziel. Dazu wurden die Daten entsprechend aufbereitet2 und zwischen allen Personenpaaren der Analysestichprobe als Ähnlichkeitsmaß zwischen ihnen die quadrierten euklidischen Distanzen berechnet, die wiederum die Grundlage für die Durchführung der nachfolgenden Clusteranalysen bildeten. Es ließen sich insgesamt sieben inhaltlich prägnante Clustertypen (Hierarchische Clusteranalyse nach Ward mit nachfolgender Clusterzentrenanalyse) von Jugendlichen bezüglich ihrer Medienkompetenz aus dem Datenmaterial rekonstruieren. Sie erlauben es, die Fülle individueller Muster der Medienkompetenz angemessen in relativ wenige Handlungsklassen zusammenzufassen, derart, dass zum einen die in einem Clustertyp vereinigten Jugendlichen sich bezüglich ihrer Medienkompetenzprofile über die 32 Hauptkomponenten möglichst ähnlich sind (Prinzip der Homogenität) und zum anderen eine maximale Unähnlichkeit zwischen den 2
Nach Ausschluss jener Fälle, die mehr als bei einem Drittel aller Hauptkomponenten fehlende Werte aufwiesen oder als multivariate Outlier identifiziert wurden, ergab sich eine endgültige Analysestichprobe von n = 1.662 Jugendlichen für die clusteranalytische Typenbildung.
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Profilen der Angehörigen aus verschiedenen Clustern besteht (Prinzip der Heterogenität). Die n = 1.662 Jugendlichen verteilen sich wie folgt auf die sieben Clustertypen: „Buchorientierte“ (20,4 %), „Positionslose“ (20,3 %), „Kommunikationsorientierte“ (19,1 %), „Konsumorientierte“ (17,4 %), „Computer- und Internetfreaks“ (12 %), „Unterdurchschnittliche“ (7,8 %), sowie „Gestalter“ (3,1 %). So zeichnen sich etwa diejenigen 339 Jugendlichen, die dem Cluster der „Buchorientierten“ angehören, hinsichtlich ihrer Medienkompetenz entlang der 32 Hauptkomponenten durch eine charakteristische mittlere Profillinie aus (siehe Abb. 1). Ausgangspunkt der inhaltlichen Bestimmung dieses Clusters bildet die Basislinie (z = 0), die den Durchschnittswert aller 1.662 Jugendlichen über die Komponenten abbildet und damit dem statistisch definierten Durchschnittsjugendlichen entspricht3. Es zeigt sich, dass die Angehörigen dieses Clusters weit überdurchschnittlich vor allem Printmedien (vor allem Bücher) rezipieren, den PC und das Internet informationsorientiert nutzen, über ein ausgeprägtes literarisches Bildungswissen und überdurchschnittliches Wissen über das Mediensystem verfügen, in der Lage sind, gezielt Unterstützung und Hilfe aus ihrer Umgebung (Familienangehörige, Peers etc.) bei Problemen mit dem Rechner zu aktivieren, in vergleichsweise erheblichen Maße Texte für den Alltag (z.B. für die Schule) zu produzieren, ein massives Interesse an Aufklärung, Information und Bildung zeigen sowie eine eher reglementierungsbefürwortende Haltung einnehmen, wenn es etwa darum geht, „schreckliche“ Bilder in den (Fernseh-) Nachrichten nicht zu zeigen. Dagegen nutzen sie vergleichsweise selten Comics, 3
Während auf der Abszisse die 32 Hauptkomponenten als empirisch rekonstruierte Teilaspekte der vier Dimensionen des Bielefelder Medienkompetenz-Modells platziert wurden, sind auf der Ordinate die z-Werte abgetragen. Die Profillinie für ein bestimmtes Cluster ergibt sich aus der Verbindung der Koordinaten seines Centroids bzw. Schwerpunkts im 32-dimensionalen Raum, der durch alle Hauptkomponenten aufgespannt wird. Beispielsweise ergibt sich ein z-Wert von rund 0,81 für das Cluster der „Buchorientierten“ auf der Hauptkomponente „Rezeptive Nutzung von Printmedien (Zeitungen, Zeitschriften, Bücher)“ als einem Teilaspekt der Unterdimensionen „Rezeptive Mediennutzung“ dadurch, dass die z-Werte aller Angehörigen des Clusters der „Buchorientierten“, die ihren individuellen Ausprägungen auf dieser Komponente entsprechen, gemittelt werden, d.h. in unserem Fall aufsummiert und durch n = 339 dividiert werden. Alle z-Werte mit einem positiven Vorzeichen sind größer und alle z-Werte mit einem negativen Vorzeichen sind kleiner als der Mittelwert der z-Skala, der gleich Null ist und dem Durchschnitt der Gesamtstichprobe der Jugendlichen entspricht. Der sich in unserem Beispiel als arithmetischer Mittelwert von z = + 0,81 ergebende Profilpunkt für die Hauptkomponente „Nutzung von Printmedien (Zeitungen, Zeitschriften, Bücher)“ bedeutet, dass die „Buchorientierten“ im Vergleich zur Gesamtstichprobe aller Jugendlichen – sie wird durch den Wert z = 0 repräsentiert – dieser Medienaktivität in weit überdurchschnittlichem Ausmaß nachgehen. Ein negativer z-Wert, wie etwa -0,60 für die „Hard- und softwarebasierte Gestaltungskomponente“ der Unterdimension „Kreative Mediengestaltung“ signalisiert, dass ein solches Medienhandeln von den „Buchorientierten“ vergleichsweise selten praktiziert wird.
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den Walk-/Disc-/Minidiscman/MP3-Player, das Handy sowie Computerspiele und gestalten in weit unterdurchschnittlichem Ausmaß die von ihnen verwendete Hard- und Software (z.B. Arbeitsspeicher erweitern, Netzwerkkomponenten installieren, Programmieren, eigene Websites erstellen). Des Weiteren stellen wir für den außenstehenden Leser das Profildiagramm des Clustertyps der „Unterdurchschnittlichen“ dar4 (vgl. Abb. 2), um zum einen beispielhaft die substantiellen Unterschiede hinsichtlich der Medienkompetenz zu verdeutlichen und zum anderen die Begrenztheit der Clusterbezeichnung aufgrund einer rein quantitativen Analyse zu dokumentieren, die erst durch die nachträglichen qualitativ bestimmten Fallanalysen und -vergleiche ihre inhaltlich gehaltvollere Deutung erfährt (siehe Kap. 3.2).
4
Die Profildiagramme der anderen fünf Medienkompetenz-Typen sind aus Platzgründen nicht dargestellt. Eine ausführliche Darstellung der Cluster und ihrer Kompetenzprofile findet sich im 6. und 15. Kapitel der Studie (s. Treumann/Meister/Sander et al. 2007, S. 196-215; S. 770733. Auf S. 772 hat sich in der Abb. 15.10.1 leider ein Druckfehler eingeschlichen. Dort müssen am linken Rand von Abb. 15.10.1 die Clusterbezeichnungen der „Kommunikationsorientierten“ und „Konsumorientierten“ vertauscht werden).
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Abbildung 1:
Buchorientierte
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Abbildung 2:
Unterdurchschnittliche
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3.2 Qualitativer Teil (Phase 2) Diese Phase bestand aus insgesamt vier Teilschritten: (a) Der Definition und Auswahl prototypischer Jugendlicher folgten (b) die Durchführung und Auswertung leitfadenorientierter Interviews, welche bei einigen der sieben (Medienkompetenz-)Typen im Sinne des Komplementaritätsprinzips entweder zu ihrer (c) Umdefinition oder (d) Merkmalsanreicherung führten. Zu (a): Da unser DFG-Projekt mit dem methodologischen Ziel konzipiert wurde, zu einer möglichst dichten Verknüpfung quantitativer und qualitativer Forschungsmethoden zu gelangen, wählten wir aus jedem MedienkompetenzCluster im Durchschnitt fünf prototypische Fälle für leitfadengestützte Interviews aus. Das sind solche Jugendliche, die sich möglichst nahe am Clustercentroid befinden, d.h. eine – im Vergleich zu den sonstigen Angehörigen des jeweiligen Medienkompetenz-Typs – minimale Euklidische Distanz5 zum Clusterschwerpunkt aufweisen.6 Die Abbildung 3 zeigt in geometrischer Veranschaulichung die Lage prototypischer Fälle am idealisierten Beispiel7 von drei Clustern im zweidimensionalen Hauptkomponenten-Raum. Durch die Auswahl prototypischer Jugendlicher anhand der clusteranalytischen Typologie einer repräsentativen Personenstichprobe, wobei die Typologie zudem auf einer theoriebezogenen Repräsentativität medientheoretisch bedeutsamer Merkmale basiert, nämlich der Hauptkomponenten innerhalb der Subdimensionen des Bielefelder Medienkompetenz-Modells, mithin durch diese doppelte Repräsentativität von Stichprobe und Variablenset lässt sich – so die Annahme – zumindest prinzipiell eine Auswahl von qualitativ zu gewinnenden Sinndeutungen eben dieser Jugendlichen erreichen, die eine optimale Verallgemeinerungsfähigkeit der spezifischen inhalt5
6
7
Im Sonderfall des drei- oder niedrigdimensionaleren Raumes (also einschl. Flächen u. Geraden) stimmt die euklidische Distanz zwischen zwei beliebigen Punkten mit dem anschaulichen Abstand überein, d.h. mit der Länge der geradlinigen Verbindungslinie der beiden Punkte („kürzeste Strecke“). Die SPSS-Prozedur „Clusterzentrenanalyse“ berechnet unter den Schaltflächen „Optionen/Statistiken/Clusterinformationen für jeden Fall Abspeichern“ für jede Person im Cluster ihre Euklidische Distanz zum entsprechenden Clustermittelpunkt. So weisen etwa die prototypischen Jugendlichen Stefanie, Katrin, Heiner, Christoph, Britta und Jenny Euklidische Abstände von 2,737; 2,748; 2,768; 3,149; 3,197 u. 5.508 Einheiten zum Clustercentroid auf, während der arithmetische Mittelwert der Distanzen aller 339 Angehörigen dieses Typs zum Clusterschwerpunkt 17,0 Einheiten beträgt und damit im Durchschnitt rund fünf Mal so groß ist (vgl. Treumann/Meister/Sander et al. 2007, S. 798). Der Begriff der idealisierten Darstellung meint, dass in der empirischen Realität dagegen zum einen die Grenzen der Cluster meist aneinanderstoßen und zum anderen eine unregelmäßige Gestalt annehmen können. Auf jeden Fall bleibt aber das konstitutive Merkmal für die Definition der prototypischen Fälle erhalten, nämlich ihre minimale Distanz vom jeweiligen Clustermittelpunkt.
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lichen Konstellationen der Personen- und Merkmalspopulation leistet (vgl. Treumann 1998: 172 u. 177).
Abbildung 3:
Geometrische Veranschaulichung der Lage prototypischer Fälle am idealisierten Beispiel von drei Clustern im zweidimensionalen Hauptkomponenten-Raum
Zu (b): Die fünf thematischen Felder des Leitfadens mit dessen Hilfe die ausgewählten prototypischen Jugendlichen interviewt wurden, bezogen sich auf (a) die „Lebensweltliche Einbettung der Mediennutzung“, (b) die „Selbst- versus Fremdsozialisation und den Einfluss von Gleichaltrigen-Gruppen bei der Aneignung von Medienkompetenz“, (c) die „Medialen Lieblingsaktivitäten und den Einfluss von Peergroups“ sowie auf die „Bedingungen zur Erlangung eines Expertenstatus“, (d) „Aspekte einer medial vermittelten versus selbst generierten Jugendkultur“ sowie (e) auf die „Reflexion der eigenen und der elterlichen Einstellungen und Bewertungen von Medien“. In allen fünf Themenbereichen bezogen sich die Fragen auch auf die im Bielefelder Modell enthaltenen Dimensionen der Medienkompetenz, so dass eine medientheoretische Klammer bzw. Brücke zwischen den quantitativen und qualitativen Zugängen zum Gegenstandsbereich der Untersuchung bestand.
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Insgesamt haben wir Einzelinterviews mit 38 Jugendlichen aus den sieben Clustern durchgeführt, von denen 33 in die weitere Analyse eingingen. Die Auswertung der Interviewtranskriptionen erfolgte zum einen mit Hilfe der strukturierten qualitativen Inhaltsanalyse (Mayring 1979: 115). Zur Unterstützung des Codierungsprozesses setzten wir dazu das Softwareprogramm MAXqda (Kuckartz 1999) ein. Zum anderen wurde dieses Vorgehen mit der sozialwissenschaftlich orientierten hermeneutischen Interpretation ausgewählter Textstellen kombiniert, die für die Fragestellungen der Untersuchung als besonders relevant angesehen wurden (vgl. Schröer 1994; Soeffner/Hitzler 1994). Der erste Auswertungsschritt in der qualitativen Phase konzentrierte sich auf Einzelfallanalysen der prototypischen Jugendlichen jedes einzelnen Clustertyps im Sinne einer detaillierten und umfassenden Betrachtung der Einzelfälle mit Bezug auf deren Deutungsmuster und soziale Kontexte im Hinblick auf ihr Medienhandeln [z.B. Explikation ihrer (Kompetenz-)Erfahrungen, (Situations-)Deutungen, Relevanzsetzungen, Handlungsintentionen sowie ihrer Peergroups-Beziehungen und -Aktivitäten]. Dem schloss sich in einem zweiten Schritt die Durchführung von Fallvergleichen zwischen den prototypischen Jugendlichen zur Gewinnung von Clusterportraits als ganzheitliche qualitative Charakterisierung fallübergreifender Merkmale des jeweiligen Medienkompetenztyps 8 an. Zu (c): Im ersten Fall ist die empirische Gehaltserweiterung bei den mittels Clusteranalysen rekonstruierten Typen der Medienkompetenz durch die qualitative Einzelfallanalyse und die Methode des Fallvergleichs zur Gewinnung von Clusterportraits so weitgehend, dass die qualitativ gewonnenen Befunde eine Umbenennung eines bestimmten Typus jugendlicher Medienkompetenz implizieren. Dieser Vorgang der inhaltlichen Uminterpretation soll am Beispiel des Clustertyps der „Buchorientierten“ erläutert werden. Die „Buchorientierten“ lassen sich fallübergreifend zwar durch eine affirmative Einstellung zum Lesen kennzeichnen, d.h. die interviewten Jugendlichen schätzen das Lesen in ihrer Freizeit als positiv ein, aber dieser Umstand führt entgegen traditioneller Erwartungen an die Printrezeption und auch im Gegensatz zum klassischen Bild der „Leseratte“ nicht zwangsläufig dazu, dass alle prototypischen Jugendlichen ausgiebig und gezielt die Printmedien nutzen. Vielmehr wird die aus den quantitativen Ergebnissen (siehe Abschnitt 4) gewonnene Annahme, dass sich die Jugendlichen dieses Clustertyps durch ein ausgeprägtes Leseverhalten von den anderen Clustern unterscheiden, einzelfallspezifisch aufgebrochen. Von den insgesamt sechs prototypischen Angehörigen der „Buchorientierten“ lassen sich nur drei als VielleserInnen („Bücherwürmer“) 8
Weitere Informationen finden sich in Treumann/Meister/Sander et al. 2007, Kap. 3; 8; 15.2; 15.5 und 15.6.
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charakterisieren, nämlich „Britta, die spannungsorientierte Krimileserin“, „Stefanie, die Bücher lesende Musterschülerin“ und „Jenny, die lesende Außenseiterin“. Hingegen sind „Katrin, der Serien- und Horrorfan“, „Heiner, der vielseitig Interessierte“ und „Christoph, der sportorientierte Mediennutzer“ als Gelegenheitsleser zu kennzeichnen.9 Gleichzeitig normieren aber alle interviewten Jugendlichen das Lesen entsprechend den traditionell erwähnten Bewertungen, die an sie in Herkunftsfamilie und Schule herangetragen werden, positiv, was dazu führt oder führen kann, dass die Heranwachsenden ihr eigenes Leseverhalten negativer bewerten als es eigentlich ist. Aus den obigen Details lässt sich die folgende Interpretationshypothese synthetisieren: Durch die Printrezeption der Jugendlichen prägt sich bei ihnen ein Interesse von sozial positiv normierten Bildungs- und Wissenszusammenhängen aus. Diese neuen sich ergebenden Facetten des Clusterportraits der „Buchorientierten“ veranlassten uns nach mehreren intensiven gemeinsamen Diskussionsrunden mit allen Projektbeteiligten zu einer inhaltlichen Umdefinition dieses Clustertyps in die „Bildungsorientierten“, denn offensichtlich wird von allen diesen Jugendlichen der Habitus des Viellesens als ein hohes Bildungsgut angesehen, und zwar weitgehend unabhängig von dem Ausmaß der eigenen Printrezeption.10 Diese durchgängige Bildungsorientierung der prototypischen Jugendlichen erhält aber auf der Ebene ihres tatsächlichen Medienhandelns jenseits von Institutionen des formalen Lernens eine konkurrierende inhaltliche Füllung. Denn alle prototypischen Jugendlichen favorisieren die Bücher-Genres „Kriminal-, Fantasie- und Horrorgeschichten“. Klassische Literatur wird von ihnen dagegen kaum freiwillig gelesen. Über die mittels Büchern rezipierte Phantasiewelt, die für den Einzelnen subjektiv unterschiedlich sein kann, werden die dargestellten – meist jugendlichen – Protagonisten (z.B. die 16-jährige Schülerin Carietta White in dem Roman „Carrie“ von Stephen King) zu Identifikationsfiguren, mit deren Hilfe die eigenen Lebenszusammenhänge und Probleme (z.B. Mutter-TochterBeziehungen oder die erste Periode als Beginn der Reifung zur Frau) reflektiert werden. Die Selbstreflektion dieser Jugendlichen bzw. ihre Selbstlernprozesse stehen dem traditionellen Bildungsanspruch gegenüber, der vor allem über schu9 10
Bei den hier verwendeten Kurzbezeichnungen für die Jugendlichen handelt es sich um Namensgebungen, welche die einzelfallspezifische Rekonstruktionsarbeit in komprimierter Form ausdrücken (vgl. Treumann/ Meister/ Sander u.a. 2007, Kap. 8.2.1). Um die Darstellung der Medienkompetenztypen für die Leserin und den Leser nicht zu verkomplizieren, haben wir in der Buchveröffentlichung des Projektendberichts (Treumann/ Meister/ Sander u.a. 2007) durchgängig die am Ende unseres Rekonstruktionsprozesses sich ergebenden Bezeichnungen (Namen) verwendet. Über den Prozess unserer methodentriangulativ orientierten Erkenntnisgewinnung im DFG-Projekt wird erstmals in dem hier vorgelegten Beitrag im Einzelnen berichtet.
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lische Verpflichtungen an die Jugendlichen herangetragen wird, und beide gehen aus Sicht der Heranwachsenden nicht ineinander auf. Der Zusammenhang zwischen dem Leseverhalten und der Bildungsorientierung der Jugendlichen dieses Clustertyps wird nicht mehr (allein) über einen internalisierten klassischen Bildungsanspruch hergestellt, sondern verdeutlicht sich auf der Ebene der Aneignung von Medienkompetenz offenbar in ihren Selbstreflektionsprozessen, die sich nicht primär über die Rezeption eines traditionellen Literaturkanons, sondern über eigenerzeugte interessen- bzw. unterhaltungsgeleitete subjektive Sinndeutungen nachzeichnen lassen. Diese Identifikationsprozesse bleiben aber auch bei den „Bildungsorientierten“ nicht allein auf die Rezeption von Büchern beschränkt, sondern sind in das allgemeine Medienhandeln der Angehörigen dieses Clustertyps – vor allem in ihre Nutzung von Fernsehen und Internet – eingebettet.11 Bei zwei weiteren Medienkompetenztypen ergab sich ebenfalls durch die Integration der Ergebnisse der qualitativen Forschungsphase eine so massive Erweiterung ihres empirischen Gehalts, dass auch sie umdefiniert wurden. Zum einen handelt es sich um den mit Hilfe der quantitativen Methode der Clusteranalyse rekonstruierten Typ „Die Unterdurchschnittlichen“. Erst durch die Einzelfallanalyse und die Methode des Fallvergleichs sowie die dadurch resultierenden Befunde, die zur Rekonstruktion von Clusterportraits führten, belegten vielfältig, dass die meist unterdurchschnittliche Ausprägungen der Angehörigen auf den 32 Hauptkomponenten der (Unter-)Dimensionen des Bielefelder MedienkompetenzModells darauf zurückzuführen sind, dass die Jugendlichen in einem anregungsarmen sozialen Milieu aufgewachsen sind, das ein geringes kulturelles Kapital aufweist und wenig Impulse zur Auseinandersetzung insbesondere mit Neuen Medien vermittelt, was wiederum dazu führt, dass sie in der Regel keinen qualifikatorisch-interessengeleiteten Anspruch an die Medien entwickeln, zumal auch entsprechende schulische Anstöße und Hilfen nicht auszumachen sind, so dass es nahe liegt, sie als „Die Deprivierten“ zu kennzeichnen. Auch bezogen auf die „Computer- und Internetfreaks“ implizieren die Ergebnisse, die mittels qualitativer Methoden der Datenerhebung und -analyse gewonnen wurden, zum anderen eine derart weitgehende empirische Gehaltserweiterung, dass eine Umdefinition 11
Die hier dargelegten Befunde und Interpretationen laden geradezu zu einer Neuformulierung des Bildungsbegriffs hin zu einem medial vermittelten Konzept ein, das Facetten enthält, die durch selbstsozialisatorische bzw. informelle Lernprozesse der Jugendlichen in Auseinandersetzung mit Medieninhalten und -protagonisten individuell und gruppenbezogen in (jugend) kulturellen Kontexten generiert werden. Die Leserin und der Leser seien aber daran erinnert, dass die obigen Ausführungen schon allein wegen der andersgearteten Zielsetzung des Buchbeitrags, nämlich einer methodologischen und forschungsmethodischen und auch wegen der beschränkten Seitenvorgaben knapp gehalten bleiben müssen. Die angedeutete Reformulierung muss einer gesonderten Veröffentlichung vorbehalten bleiben.
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in „Die Allrounder“ angemessen erscheint, da sie sich nicht nur an den Neuen Medien orientieren, diese in ihrem Sinne anwenden und mit ihnen kreativ umgehen, sondern ebenso die alten Medien gezielt nutzen.12 Zu (d): Die triangulative Verknüpfung qualitativer und quantitativer Forschung mit Hilfe der Auswahlstrategie prototypischer Fälle führt bei den anderen vier Clustertypen zwar nicht zu ihrer Umbenennung, aber auch bei ihnen zu einer Vergrößerung des empirischen Gehalts durch zumindest breitere und vielfältigere Erkenntnisse über die Angehörigen der jugendlichen Medienkompetenztypen. Wir demonstrieren diesen Sachverhalt am Beispiel des Clusters der „Konsumorientierten“. Die qualitativen Analysen der Interviews mit insgesamt sechs prototypischen Fällen führen zum einen zu einer inhaltlichen Erweiterung der quantitativen Befunde, die – was das Verhältnis der Konsumorientierten zu den Neuen Medien angeht – eine extensive Nutzung von Computer und Internet durch die Clusterangehörigen belegt. Aus den qualitativen Interviews lässt sich darüber hinaus rekonstruieren, dass sie den Computer als „Nebenbei-Medium“ benutzen, was sich beispielsweise an den beiden folgenden Belegzitaten ablesen lässt: x x
„der Rechner läuft, wenn ich von der Schule komme, bis abends, wenn ich schlafen gehe“ (Felix, 17 Jahre) „dann hör’ich (auf dem PC) halt entweder Musik drüber, das mach ich auch ziemlich viel, einfach nur (…) Musik hören“ (Johannes, 17 Jahre)
Darüber hinaus wird der PC von den „Konsumorientierten“ als Multifunktionsanlage eingesetzt, was u.a. die beiden nachstehenden Interviewzitate dokumentieren: x x
„PC, da mach ich eigentlich alles drüber bei mir im Zimmer, da hab ich meine Musikanlage dran gekoppelt und (…) halt auch meine Spiele so“ (Johannes, 17 Jahre) „da kann man sich besser aus der Videothek zwei, drei (DVD’s) ausleihen und sich die dann (auf dem PC) angucken“ (Boris, 18 Jahre)
Bezogen auf ihre Peerorientierungen ergeben die quantitativen Analysen, dass die „Konsumorientierten“ sich häufig der „Jugendszene der Computerfreaks und 12
Aus Platzgründen muss es in dem vorgelegten Beitrag bei einer kursorischen Charakterisierung der beiden letztgenannten Clustertypen bleiben. Detaillierte Informationen findet die Leserin und der Leser in diesem Zusammenhang in Treumann/ Meister/ Sander 2007 in den Kapiteln 6.5, 8.5 u. 15.10 („Die Unterdurchschnittlichen“ bzw. „Die Deprivierten“) sowie in den Abschnitten 6.1, 8.1 u. 15.10 („Die Computer- und Internetfreaks“ bzw. „Die Allrounder“).
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Internetuser“ zuordnen. Die qualitativen Analysen konkretisieren und erweitern den obigen Befund, indem sie zeigen, wie medienbezogene Aktivitäten Kontakte zwischen den Peers initialisieren. Das verdeutlichen zum einen die beiden ersten Zitate, die sich auf Spiele-Events zwischen den Jugendlichen beziehen: x
„Dann rufen wir uns meistens an, sagen ‚wir gehen jetzt rein’ und dann spielen wir (…) gegeneinander oder miteinander gegen andere“ (Johannes, 17 Jahre) „hab ich mich mit Freunden getroffen und ein bisschen Netzwerk gespielt“ (Felix, 16 Jahre)
x
Zum anderen entwickeln sich Kontakte zwischen Gleichaltrigen über gemeinsame Kinobesuche oder Video- und Fernseh-Events: „Dragon Ball“13 gucken wir immer (…). Dazu treffen wir uns (..), das ist auch ein Hauptgesprächsthema“ (Johannes, 17 Jahre) „gemeinsame Fernsehabende (…). Oder dann gucken wir uns mal ein Video an oder so“ (Jan, 15 Jahre)14
x x
Die nachstehende Abbildung 4 stellt die bisherige Argumentation in einer systematischen Zusammenschau von Teilergebnissen der quantitativen und qualitativen Analysen in Bezug auf die Nutzungsweisen des PC’s in Alltagskontexten sowie auf die Peerorientierung und den „Medienkonsum“ der jugendlichen Angehörigen dieses Medienkompetenztyps dar: Quantitativ
Qualitativ Computer als „Nebenbei“Extensive Nutzung von Verhältnis zu Medium und MultifunktiComputer und Internet Neuen Medien onsanlage Zugehörigkeit zur Jugend- Medienbezogene HandPeerorientieSzene der Computer- lungsweisen initialisieren rungen freaks/ Internetuser Peerkontakte Abbildung 4: Das Cluster „Die Konsumorientierten“ und seine prototypischen Jugendlichen: Zusammenschau von Teilergebnissen der quantitativen und qualitativen Analysen 13 14
„Dragon Ball“ ist eine japanische Comicserie, die auf dem gleichnamigen Manga beruht. In ihr kämpfen gute und böse Protagonisten mit Hilfe von magischen Drachenkugeln um die Macht auf der Welt. Weitere Belegzitate zu den oben angesprochenen Themenkomplexen sind in Treumann/ Meister/ Sander u.a. 2007, Kap. 8.3 enthalten.
Die empirische Erfassung von Medienkompetenz
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Die qualitativen Interviews führten mithin im Sinne der Komplementaritätsthese zu breiteren und vielfältigeren Erkenntnissen über das Medienhandeln Jugendlicher und ihr spezifisches Merkmalsmuster von Medienkompetenz. So zeigt sich etwa beim Clustertyp der „Konsumorientierten“, dass die unterhaltensorientierte Nutzung der Neuen Medien nicht mit grundsätzlicher Passivität zu verbinden ist, sondern durchaus kreative Formen des Medienumganges beinhaltet, wenn der PC als „Multifunktionsanlage“ genutzt wird oder über jugendliche Gesellungsformen der Peer-Netzwerke das gemeinschaftliche Medienerleben und der Mediengenuss gesucht wird. 4
Fazit und Ausblick
Zunächst einmal ist zu konstatieren, dass sich das Leitprinzip der Triangulation im Kontext der von uns durchgeführten Studie sowie im Lichte ihrer Ergebnisse erfolgreich bewährt hat. Die Kombination verschiedener Erkenntnisstrategien wurde der Mehrdimensionalität des Untersuchungsgegenstandes offenbar gerecht. Sie führte zu Ergebnissen, mit deren Hilfe es möglich ist, die Ausformulierung unterschiedlicher Typen von Medienkompetenz im Jugendalter darzulegen. Unter methodologischen Perspektiven lassen sich aufgrund der von uns gemachten Forschungserfahrungen besonders die folgenden Aspekte hervorheben: x
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Das vorgestellte triangulativ-konzipierte Forschungsdesign zur differenzierten Erfassung von Medienkompetenz stellt nach unserem Dafürhalten einen möglichen und gangbaren Weg dar, um zu einer engeren Verknüpfung qualitativer und quantitativer Analyseperspektiven im Hinblick auf mehrdimensional strukturierte Forschungsgegenstände zu gelangen als das bislang bei getrenntem Einsatz beider Methodenklassen der Fall gewesen ist. Das methodologische Leitprinzip der Triangulation vor allem im Sinne der Komplementaritätsthese führt zugleich zu umfassenderen und tiefergehenden Befunden als bei Applizierung nur einer der beiden Methodentypen. Offenbar ist ein Transfer des Verfahrens der triangulativen Kombination quantitativer und qualitativer Forschungsmethoden zur empirischen Erfassung, Strukturaufdeckung und sozialen Kontextuierung von Medienkompetenz wie sie von Baacke konzipiert wurde, auch auf andere Modelle möglich (z.B. auf die Konzeptionen von Aufenanger, Groeben, Moser, Pöttinger, Schorb oder Tulodziecki). Was den speziellen methodischen Aspekt der Klassifikation von Personen angeht, so ist sie nicht allein auf das primär explorativ ausgerichtete Verfahren der Clusterverfahren beschränkt, sondern es könnte auch das mehr inferenzstatistisch ausgerichtete Verfahren der Analyse latenter Klassen (Latent
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Class Analysis (LCA)) angewendet werden. Damit wäre das Konzept der Operationalisierung prototypischer Fälle nicht mehr allein an die Klassifikationsstrategie der Clusteranalyse gebunden, sondern in dem Sinne generalisierbar, als dass es sich ebenso mit Hilfe anderer Verfahren der empirischquantitativen Kategorienbildung, wie etwa der LCA realisieren ließe. Bei der LCA wären die prototypischen Fälle als jene Personen definiert, welche die höchste Zuordnungs- oder Zugehörigkeitswahrscheinlichkeiten zu den jeweiligen vorab identifizierten Klassen bzw. Typen aufweisen. Die Methoden-Triangulation wäre nicht nur bei Large-Scale-Untersuchungen, sondern auch bei weniger umfangreichen empirischen Arbeiten ein wichtiges Mittel zur Erkenntniserweiterung über den jeweils zu beforschenden Gegenstandsbereich, denn es gilt bei der Konzeption und beim Forschungsdesign eine möglichst große Bandbreite unterschiedlicher Forschungsmethoden und deren Kombinationsmöglichkeiten jenseits ausgetretener Pfade vorab kompetent zu reflektieren. In der Promovendenausbildung (insbesondere bei Graduiertenkollegs, Graduate Schools, Forschungsschulen) ist es von zentraler Bedeutung, zu Beginn ein für alle Promovenden verpflichtendes Qualifizierungsmodul „Triangulation“ vorzusehen, damit die KollegiatInnen, die oftmals in unterschiedlichen sozialwissenschaftlichen Kontexten im Rahmen ihrer BA/MAAusbildung „einsozialisiert“ worden sind (z.B. mehr qualitativ orientierte Erziehungswissenschaftler/Medienpädagogen versus fast ausschließlich quantitativ geschulte Psychologen/Medienwissenschaftler) ein breites Spektrum der Forschungsmethoden aus dem qualitativen und dem quantitativen Paradigma sowie deren potentielle Kombinationsmöglichkeiten kennenlernen und sie sich diese gegebenenfalls im Lichte der gewählten Fragestellungen für ihr Dissertationsvorhaben aneignen können.
Zum Abschluss noch eine Bemerkung: Das Konzept der (Methoden)Triangulation erhebt keinen imperialistischen Anspruch! Nach wie vor wird ein erheblicher Teil der Forschungsarbeiten in der Erziehungswissenschaft im Allgemeinen und der Medienpädagogik im Besonderen aus Untersuchungen bestehen, die entweder qualitative oder quantitative Methoden anwenden. Gleichwohl sollten die Erkenntnischancen einer möglichst eng aufeinander abgestimmten Kombination beider Forschungszugänge und damit der wissenschaftliche Mehrwert einer solchen Forschungsstrategie nicht außer acht gelassen werden.
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Teil II Web 2.0 und Medienkompetenz
Dorothee M. Meister, Bianca Meise
Emergenz neuer Lernkulturen – Bildungsaneignungsperspektiven im Web 2.0
Die aktuelle Diskussion um die Vielfalt und Relevanz von Web 2.0- bzw. SocialWeb-Anwendungen verleiht dem Internet einen Aufmerksamkeitsschub. Der öffentliche Diskurs wird vor allem durch die auf Partizipation und Kollaboration basierenden Möglichkeiten der Repräsentation und Gemeinschaftsbildung beherrscht. Die Nutzer stellen selbst Filme auf Videoplattformen ein, äußern sich in Kommentaren zu Online-Artikeln, führen ihren privaten Blog oder stellen sich in virtuellen Sozialen Netzwerken dar und werden mit diesen Aktivitäten selbst zu Produzenten von Inhalten. Mit dieser Evolution des Internet sind neben wirtschaftlichen sowie politischen ebenso explizit pädagogische Hoffnungen verbunden. So wird diese Entwicklung sowohl als Chance zur Ausbildung einer neuen Lernkultur verstanden als auch als lang ersehnte technische Übersetzung didaktischer/konstruktivistischer Lernkonzeptionen. Informelles Lernen, individuelles und selbstgesteuertes Lernen, aber auch kooperatives, gemeinschaftliches oder mobiles sind die Schlagworte, die innerhalb der pädagogischen Diskussion dominieren. Bei aller Euphorie darf dennoch nicht übersehen werden, dass diese Potentiale keineswegs durch die Technik allein Realität werden. Aktive Beteiligung, gelungene Selbstdarstellung und Lern- und Bildungsprozesse bedürfen mehr als nur der bloßen Existenz der technischen Möglichkeiten. Neben medienwissenschaftlichen Perspektiven auf das Social Web und der Diskussion um die Emergenz neuer Lernkulturen werden wir der Frage nachgehen, unter welchen Bedingungen sich diese Entwicklungen vollziehen können. Angesichts des technologischen Fortschritts und der veränderten Nutzungengewohnheiten des Internet sollten bisherige Lern- und Bildungskonzepte überdacht werden. 1
Das Phänomen Web 2.0
Web 2.0 ist ein diffuser Begriff, der vielfältige Entwicklungen umschreibt und je nach Perspektive unterschiedlich ausgelegt wird. Grob kategorisiert steht diese Wortschöpfung für den Ausbau infrastruktureller Rahmenbedingungen (vgl.
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Dorothee M. Meister, Bianca Meise
Castells 2005), technische Neuerungen (vgl. O’Reiley 2005) und veränderte Nutzungsformen (vgl. Tapscott 2009) des Internet. Diese drei Entwicklungen bedingen einander und sind weder einzeln noch hierarchisch als Zentralentwicklung zum Web 2.0 zu interpretieren, da erst das komplexe Zusammenspiel dieser Faktoren dem Phänomen Web 2.0 eine neue Qualität verleiht. Zu den infrastrukturellen Rahmenbedingungen zählen vor allem der Zuwachs von Breitbandanschlüssen und geringere Internet-Zugangskosten. Ebenso sind in diesem Zusammenhang schnellere und stabilere Internetleitungen, der Ausbau von Drahtlosnetzwerken, steigende Serverkapazitäten, sinkende Preise für Soft- und Hardware und eine zunehmende Digitalisierung zu nennen. Auf technischer Seite ermöglichte die Entwicklung neuer Browser- und Programmtechnologien den zeitgleichen Zugriff von sehr vielen Nutzern – weltweit. Zudem ist das Internet durch bestimmte Implementierungen einfach und komfortabel zu bedienen. Der Technikstandard AJAX beispielsweise lässt das Internet dynamischer und interaktiver werden, da er das partielle Laden von Seiten erlaubt (Gehrke/Gräßer 2007). Eine weitere zentrale Entwicklung zeigt sich in der Hinwendung zu freier Software, bei der viele Entwickler an der Optimierung der Programme arbeiten, wenngleich die Lebenszyklen der Versionen dadurch immer kürzer werden. Zudem werden die Programme immer einfacher, können leichter weiterentwickelt und mit völlig anderen Programmfragmenten rekombiniert werden. Die Software befindet sich nicht mehr ausschließlich auf dem PC, sondern auch verstärkt auf mobilen Endgeräten, mit denen Daten aus dem Internet abgerufen und gesandt werden können. Die Speicherung und Verarbeitung von terminlichen, geographischen und persönlichen Daten entwickelt sich zu einem enormen Wettbewerbsvorteil für die Internetfirmen (O’Reiley 2005). Als Beispiel lässt sich der Online-Buchhändler Amazon anführen: Hier wird das Konsumverhalten der Käufer gespeichert, um daraus Statistiken zu generieren, die als Grundlage für Kaufempfehlungen dienen. Die Kaufinteressenten wiederum greifen häufig auf Bewertungen vorheriger Käufer als Produktinformation zurück. Die Verwendungsgewohnheiten der Internetnutzer haben sich ebenso mit den technischen und infrastrukturellen Bedingungen gewandelt. Durch sinkende Verbindungs- und Hardwarekosten sowie der vereinfachten Handhabung der Technik ist das Internet für viele Menschen zum festen Bestandteil ihres alltäglichen Medienhandelns geworden. Kenntnisse über Programmiersprachen sind nicht mehr notwendig, da Inhalte nun über einfache Content-ManagementSysteme eingestellt werden können. Analog dazu stellt die grundlegendste Innovation innerhalb des Web 2.0 die Entwicklung der Nutzer von Konsumenten zu Produzenten von Inhalten dar. Darüber hinaus ist, wie innerhalb der technischen Entwicklungen erwähnt, das Internet dynamischer geworden. Diese Neuerungen
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ermöglichen eine qualitativ bessere Handhabung für die Nutzung: surfen, arbeiten und organisieren gestaltet sich nun schnell, einfach und effizient. Um persönliche Kontakte zu pflegen greifen die Nutzer beispielsweise auf virtuelle Soziale Netzwerke, E-Mail-Programme oder Instant Messenger zurück. Ebenso zählen Online-Recherchen, Online-Banking, sowie der Kauf, Tausch und die Bewertung von Waren und Dienstleistungen zu typischen Aktivitäten im Internet. Die nächste Generation wächst angesichts dieser Entwicklungen unter gänzlich anderen Bedingungen auf als dies noch vor 20 Jahren der Fall war. Tapscott (2009) macht bei der Net-Genaration insgesamt acht Normbereiche aus, die sich grundlegend gewandelt haben. Dazu gehört auch eine Veränderung ihres Bildungsverhaltens. 2
Lernen und Bildung im Zeitalter des Web 2.0
Um auf Emergenzen im Web 2.0 eingehen zu können, erscheint es uns hilfreich zu sein, zunächst unser Lern- und Bildungsverständnis einzuführen. Lernen ist zwar ein selbstverständlicher Bestandteil des menschlichen Lebens, will man es definieren, so gelangt man indes zu sehr heterogenen und vielfältigen Versuchen der Beschreibung, die letztlich nur aus der jeweils eingenommenen Perspektive begründbar sind (vgl. Tremel 1994/1995). In unserer Annäherung an den Begriff folgen wir Schäffter (2001, S. 164), der unter Lernen „eine kognitive Strategie, mit widerständigen Ereignissen und Erfahrungen in Auseinandersetzung mit der inneren und äußeren Umwelt umzugehen“ versteht. Damit kann das Lernen auch als „Aneignung neuer Möglichkeitsräume und Optionen“ (ebd., S. 163) gedeutet werden. Die permanenten Lern- und Wandlungsprozesse, denen Personen einschließlich ihres Selbstkonzeptes und ihrer Identität ausgesetzt sind, erfordern damit nicht nur intentionale Lernprozesse, wie sie in Schule, Hochschule, Ausund Weiterbildung vermittelt werden, sondern ergeben sich auch spontan aus Lebenssituationen heraus (vgl. Ecarius 1998). Pädagogisch strukturierte Lernprozesse basieren auf den basalen Schichten von Aneignungsprozessen, die auch als Tiefenstrukturen des Lernens bezeichnet werden (vgl. Schäffter 2001). Anders ausgedrückt lernen wir zunächst in alltagsgebundenen Kontexten, und erst wenn das alltagsgebundene Lernen ein Wissensproblem nicht mehr zu lösen vermag wird institutionelles Lernen aufgesucht. In Schule, Ausbildung und Weiterbildung repräsentieren dabei unterschiedliche Freiwilligkeitsgrade des Zugangs. Festhalten lässt sich indes, dass (freiwillige) Lernanlässe erst dann zustande kommen, wenn die gefestigten Erwartungsstrukturen an der Außenwelt scheitern, sich also ein Widerstand bietet, beziehungsweise eine ‚Irritation’ stattfindet.
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Welche Aspekte des Lernens im Kontext des Web 2.0 von Bedeutung sind kann sehr unterschiedlich beschrieben werden. Im Folgenden gehen wir auf vier Dimensionen von Lernen ein, die im Zuge der Möglichkeiten des Web 2.0 besondere Bedeutung erlangen. 2.1 Steigerung von Flexibilität und Reflexibilität: Ein erster Zugang zu Lernprozessen, wie sie im Social Web stattfinden können, kann mit Bateson (1990) erfolgen, für den Lernen auf einer höheren Stufe nur dann stattfindet, wenn eine Irritation auf genügend Flexibilität trifft, mit einerneuen Situation umzugehen beziehungsweise wenn Kontextlernen möglich ist. Bateson unterscheidet fünf Lernebenen (0-IV), wobei die Logik der Lernebenen dahingehend gedeutet werden kann, dass „von Ebene zu Ebene die Flexibilität des Subjektes, mit immer komplexer aggregierten Informations- und Problemeinheiten umzugehen, steigt“ (Marotzki 1997, S. 193). So gesehen kann eine Irritation auch als ein Sprung auf eine übergeordnete Lernebene gedeutet werden. Während beim Lernen 0 lediglich ein eingeschränktes Lernen in Form einer Verhaltensänderung stattfindet, die auf einem Reiz-Reaktions-Verhältnis basiert, erfolgt ein erster Flexibilitätsschub auf der zweiten Lernstufe (Lernen I), auf der kontextspezifische Muster das Verhalten beeinflussen und das Subjekt dann weiß, was in einer Situation einem angemessenen Verhalten entspricht. Auf der dritten Lernebene (Lernen II) verändert sich die Art und Weise der Interpunktion. Das bedeutet, es findet eine Veränderung in der Menge der Auswahlalternativen statt. Hier kann also innerhalb bereits Bekanntem Neues oder anderes ausgewählt werden, bisherige Schritte können verbessert oder verändert werden, wenn dies die Umwelt zulässt. Diese Veränderung eines dominierenden Musters gilt als zweiter Flexibilitätsschub. Auf der Lern-Stufe III wird Erlerntes nach Bateson reflexiv revidiert sowie ein neuer, anderer Strukturzusammenhang hergestellt, wofür entsprechende soziale Räume und Erfahrungen unterstützend nötig sind. Da Menschen auf dieser Ebene Flexibilität gegenüber den Kontexten gewinnen und durch eine höhere Reflexivität gekennzeichnet sind, kann man auch von „Bildung“ sprechen (vgl. Marotzki 1990). Der Unterschied zwischen Bildung und Lernen besteht demzufolge darin, dass Lernprozesse lediglich Wandlungsprozesse umfassen, bei denen keine Neustrukturierung vorgenommen wird (vgl. Ecarius 1998). Somit stehen für uns die Möglichkeiten im Fokus, unter denen im Web 2.0 eine Steigerung von Reflexivität und Flexibilität angeregt wird, Aspekte, die für uns bei der Bewertung von Bedeutung sind.
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2.2 Expansives Lernen Ein weiterer Zugang zum Lernen stellt der subjektorientierte Ansatz von Holzkamp (1993) dar, der sich aus Sicht der Kritischen Psychologie für die subjektiven Begründungen des Lernens interessiert. In dieser Sicht muss aus Lehren nicht notwendig ein Lernen folgen, denn das Subjekt braucht gute Gründe, warum es sich einen Sachverhalt aneignen möchte. Holzkamp unterscheidet deshalb in defensives und expansives Lernen. Von einem expansiven Lernen wird dann gesprochen, wenn subjektive Lerngründe vorliegen, etwa eine Erweiterung/Erhöhung von „Weltverfügung/Lebensqualität“ (Holzkamp 1993, S. 191). Eine Person eignet sich aufgrund eines Handlungsproblems dann die spezifischen Kenntnisse an, die sie braucht, um ihre Aktivitäten fortzusetzen, womit die Erweiterung von Handlungsmöglichkeiten und Reflexion möglich werden. Defensives Lernen hingegen findet dann statt, wenn es um eine „Abwehr von Handlungseinschränkungen“ geht, oder wenn Sanktionen drohen. Eine Person lernt dann zwar auch, jedoch konzentriert sie sich eher darauf, wenig Aufwand zu betreiben, wodurch das Lernen einen widerständigen Charakter erhält und kaum eine Auseinandersetzung mit dem Inhalt noch eine Reflexion des Gelernten stattfindet. Im Alltag mischt sich häufig das defensive und expansive sowie das reflexive Lernen, trotzdem erscheint es bedeutend zu sein, dass im Grunde nur ein expansives Lernen zu Bildungsprozessen, wie sie bei Bateson auf der Stufe III beschrieben sind, führen kann – Aspekte, die gerade bei Web-Anwendungen relevant sein können. 2.3 Informelles Lernen Lernen, und dies stellt eine weitere Perspektive dar, findet sowohl in institutionalisierten als auch in nicht institutionalisierten Kontexten statt. Diese Differenz wird häufig im Rahmen des informellen Lernens (Colardyn/Bjornavold 2004; Dehnbostel 2005; Dohmen 1996; Livingstone 1999) geführt. Gerade in beruflichen Zusammenhängen kommt gegenwärtig dem informellen Lernen eine zunehmende Bedeutung zu, da oftmals sehr schnell Wissensdefizite im Berufsalltag gelöst werden müssen, um bestimmten Anforderungen zu genügen. Informelles Lernen kann definiert werden als Lernen, das im Arbeits- oder Freizeitkontext stattfindet und in Bezug auf Lernziele, Lernzeit oder Lernförderung nicht strukturiert ist und üblicherweise nicht zur Zertifizierung führt. Es ergibt sich aus Interesse oder aus Arbeits- und Handlungsanforderungen und führt als Lernergebnis zu Situationsbewältigungen und Problemlösungen. Dabei kann informelles Lernen sowohl zielgerichtet sein als auch nichtintentional erfolgen.
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2.4 Lebenslanges Lernen Lernen stellt keine kurzfristige Angelegenheit dar, sondern ereignet sich lebenslang. In diesem Kontext dominieren, so Kade und Seitter (1998), drei Möglichkeiten, wie Individuen Bildungsangebote in ihre alltägliche Lebenspraxis integrieren können, über Bildung, Risiko und Genuss. Das lebenslange Lernen kann demnach in einer positiv-affirmativen Perspektive die emanzipativen und demokratischen Steigerungsmöglichkeiten in den Blick nehmen und über Bildung zur Steigerung, Entwicklung und Entfaltung der Persönlichkeit beizutragen. Geht man allerdings nicht mehr von einem linear gedachten Bildungsprozess im Lebensverlauf aus, sondern begreift Bezugspunkte wie Ungewissheit und Nichtwissen als Normalitäten der Lebensführung in modernen Gesellschaften (vgl. Dewe 1999; Ecarius/Meister 1999), dann sieht sich das lebenslange Lernen einer Risikozumutung ausgesetzt. In der „Multioptionsgesellschaft“ (Gross 1994) erscheint es heute für die Biographie geradezu zwingend, mit Gestaltungspotentialen genauso wie mit Unsicherheiten umgehen zu können. Lernen und Bildung bieten in diesem Kontext Verstetigungsformen, die Zugänge sichern oder beispielsweise über Zertifikate den beteiligten Personen das Gefühl der Zugehörigkeit vermitteln (vgl. Kade/Seitter 1998, S. 55). Das lebenslange Lernen findet aber auch gegenwartsbezogen und damit auf den Moment gerichtet statt, womit man von der Vorstellung abrücken kann, mit Lernen einen Mangel beheben zu wollen. Vielmehr eröffnet sich eine Form des Lernens, die jenseits eines Nützlichkeitsdenkens und befreit von Effektivitätsvorstellungen geschieht. Über ein Lernen, das nun mit Freizeit, Spaß und Vergnügen gekoppelt ist, dringen ‚weiche‘ Lernformen und damit sozusagen der Bereich des Nicht-Lernens in den Horizont des lebenslangen Lernens ein. 3
Web 2.0 Dienste und deren Lern- und Bildungsanknüpfungspunkte
Um die Lern- und Bildungsmöglichkeiten im Sinne der oben beschriebenen Lernkonzeptionen zu betrachten, werden wir zunächst auf die zentralen Web 2.0Nutzungsdimensionen eingehen. Dies umfasst die Sphäre des Bloggens, der Kollaboration und des Sharings, sowie des virtuellen, sozialen Netzwerkens. Diese verschiedenen Möglichkeiten des Web 2.0 sind längst nicht so eindeutig voneinander abzugrenzen wie diese Kategorisierung vermuten lässt. Vielmehr muss beachtet werden, dass sich diese Dimensionen gegenseitig beeinflussen, was sich vor allem durch die Überlagerung diverser Nutzungspraktiken und – möglichkeiten verdeutlicht. Mit dem Web 2.0 entwickelte sich die mittlerweile weitverbreitete Publikationsoption des Bloggens. Die Wortschöpfung Weblog leitet sich aus der Ver-
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bindung der Worte Web und Logbuch ab (vgl. Schmidt 2006, S. 13). Die Blogsphere bezeichnet dementsprechend die Gesamtheit aller Blogger. Zu den Besonderheiten von Blogs gehören die regelmäßige Aktualisierung und die reziproke Bezugnahme untereinander. Jeder Blogeintrag wird mit einem Zeitstempel oder Permalink versehen und ist somit einzeln adressierbar, wodurch die starke Vernetzung resultiert. Eine andere Art der Verbindung stellen Trackbacks dar. Alle Beiträge die sich auf einen Blogeintrag beziehen werden durch Trackbacks unter diesem aufgeführt und ermöglichen somit die weitere Kommunikation auf Beiträge zu verfolgen und eventuell auf diese Kommunikation zu reagieren. Um direkt auf einen Blogeintrag antworten zu können wurde die Kommentarfunktion entwickelt, die sich jeweils unter jedem Eintrag befindet. Gegenlesen und Kommentieren fungiert in diesem Kontext somit als Partizipations- und Anerkennungsform, die auch eine Gemeinschaftsbildung evozieren: So etablieren sich kleinere Gruppen innerhalb der Blogsphere, die sich im ständigen Austausch miteinander befinden (vgl. Jörissen, Marotzki 2008, S. 211ff). Durch dieses Prinzip der Vernetzung sind Weblogs jenseits des Internet dementsprechend kaum sinnvoll zu gebrauchen, denn die Texte entwickel ihre Logik medienimmanent gerade durch die Struktur der Links und Verweise. Die vernetzte, interaktive Struktur der Weblogs kann auch als Resultat technischer Besonderheiten gesehen werden, denn Weblogs werden in der Regel mit Hilfe von einfach zu bedienenden Content-Management-Systemen erstellt. Heute braucht ein Blogger weder umfassende Kenntnisse einer Programmiersprache noch detaillierte Webdesign-Kenntnisse, während die ersten Blogger noch gute HTML-Kenntnisse benötigten. Die Programmierung und Gestaltung von Weblogs sind mittlerweile durch Programme von Dienstleistern so stark automatisiert und so vereinfacht, dass sich das Weblog-Genre auch unter Nutzern ohne Web-Editor-Kenntnissen verbreiten konnte (vgl. Lohmöller 2005, S. 221; Schmidt 2006, S. 14; Möller 2005, S. 126). Inhaltlich stellen sich Blogs sehr differenziert dar, da sich die Bandbreite von persönlichen Blogs bis hin zu thematischen Blogs jeglicher Art erstreckt. Hierbei ergeben sich unmittelbare Anknüpfungspunkte an das expansive und das informelle Lernen. Jenseits eines expliziten Lernkontextes können Blogs dazu beitragen, sich intensiv mit interessierenden Themen zu befassen, mit anderen Interessierten auszutauschen und an Problemlösungen mitzuarbeiten. Die unmittelbare Verfügbarkeit dieser Informationsquellen sowie deren starke Vernetzung können zu Lern- und Bildungsprozessen beitragen, da dadurch eine gewisse Dynamik entsteht, die dem Nutzer Wissen komfortabel bündelt. Ist der Nutzer zudem auch Produzent eigener Beiträge ist eine Auseinandersetzung mit dem jeweiligen Sujet ohnehin notwendig, um in dieser stark vernetzten Gemeinschaft nicht als Unwissender zu gelten.
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Innerhalb der Sphäre der Kollaboration und des Sharings wird gemeinsam an Projekten gearbeitet und verschiedene Arten von Daten ausgetauscht. Die Anbieter dieser Plattformen fungieren nur noch als Mittler, indem sie die Infrastruktur bereitstellen. Produzenten der Inhalte sind die User (vgl. O’Reiley 2005). Als illustrierendes Beispiel kann hier Wikipedia angeführt werden. Hier produzieren die Nutzer das Wissen und handeln untereinander durch Verbesserungen an den Artikeln einen Wissenskonsens aus. Durch diese Auseinandersetzungsprozesse können bisherige Wissensbestände und Annahmen erweitert, korrigiert oder konkretisiert werden. Ein typisches Beispiel für Sharing bietet Youtube, da die Nutzer hier audiovisuelles Material er- und oder einstellen. Auch beim Sharing können sich informelle Lernprozesse anschließen: So muss das einzustellende Material erstellt, bearbeitet und gesendet werden. Diese Arbeitsschritte verlangen ein gewisses Maß an medialen Kompetenzen wie bspw. die Bedienung einer Digitalkamera, die Digitalisierung analogen Materials sowie die Bearbeitung der Beiträge mittels Schnittsoftware. Wahrscheinlich ist, dass in diesem Zusammenhang pragmatische Problemlösungen angestrebt werden und sich somit unbemerkt informelle Lernprozesse vollziehen. Die Mitglieder von sozialen Netzwerken stellen sich im Web mit einem persönlichen Profil dar. Die Ausweitung der Kontakte sowie deren Pflege stehen bei diesen Plattformen im Vordergrund. Auch hier gibt es eine große thematische Bandbreite, die sich von Singlebörsen, über Musik-Communities und Schüler/Studenten-Communities bis hin zu beruflichen Plattformen wie Xing erstreckt. Durch die Gestaltung der Community werden meist schon bestimmte Normen und Regeln impliziert. So werden die Kontaktaufnahme (standardisierte oder individuell zu produzierende Kontaktanfragen), Zugang (Name, Avatar, Homepage), Gratifikationen und Sanktionen (Meldung bei Verstößen) durch diese Gestaltungselemente vorherbestimmt (vgl. Jörissen, Marotzki 2008). Darüber hinaus kann der Nutzer zumindest teilweise bestimmen, wem er welche Informationen zugänglich macht. Besonders Plattformen wie Xing sind dazu prädestiniert Lern und Bildungsprozesse anzustoßen, sie zu beschleunigen oder eine neue Orientierung zu bieten. Durch den Fokus auf berufliche Interessen und Fähigkeiten können hier Interessierte Berufstätige Informationen austauschen, Anregungen für Fragestellungen geben oder aber Experten für Themengebiete direkt kontaktieren. Da die wenigstens Nutzer nur Blogger, nur Nutzwerker sind oder nur Kollaboration und Sharing betreiben, ist anzunehmen, dass viele vielfältige Nutzungsoptionen des Web 2.0-Angebots simultan be- und genutzt werden. Gerade durch das komplexe Zusammenspiel des Informationsaustausches über unterschiedliche Vermittlungskanäle, die Nutzung mehrerer Rechercheressourcen und
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des kommunikativen Dialogs sind auch Bildungspotentiale im Sinne einer Steigerung von Reflexivität und Flexibilität möglich, die letztlich auch die Ausformung neuer Problemlösungsstrategien und -strukturen evozieren kann. Nach diesem allgemeinen Überblick zu Web 2.0-Diensten sowie deren Lern- und Bildungspotentialen, werden wir im Folgenden auf verschiedene Formen von Blogs in Lernkontexten, Communities of Practise und die Personal Learning Environment eingehen, um die zuvor allgemein skizzierten Lernprozesse an konkreten Beispielen zu verdeutlichen. 3.1 Blogs in Lernkontexten Ein Beispiel für Blogs als Foren für Informationen und Diskussionen über verschiedene Wissensgebiete sowie über Bildungsthemen im engeren Sinne ist der „BildungsBlog“ (http://bildung.twoday.net/). Hier werden Nachrichten, Meinungen, Kommentare und Ankündigungen zu den verschiedensten Themen des netzbasierten Lehrens und Lernens bereitgehalten. Der Blog beinhaltet zahlreiche Rubriken, die mit einer entsprechenden Blogroll verbunden werden, auf der die wichtigsten Vertreter eines Sachgebietes sowie aktuelle Schwerpunkthemen zu finden sind. In diesem Kontext werden häufig die Grenzen von wissenschaftlicher und anwendungsorientierter Expertise nicht stringent eingehalten, da das Thema und das Engagement im Vordergrund steht. Auch der Blog der GMK befasst sich dezidiert mit Bildungsthemen (http://gmkblog.de/). Dem Nutzer wird hier die Möglichkeit eröffnet, vielseitige und dokumentierte Zugänge zu spezifischen Fragen zu erhalten und so ein persönlich von einem Wissenschaftler gefiltertes Spektrum an Informationen zu erhalten. Ebenso existieren medienpädagogisch-didaktische Blogs im Kontext von Lehren und Lernen. Diese Blogs bearbeiten Themen meist pragmatisch und instrumentell und gehen beispielsweise Fragen nach, ob und wann PowerpointPräsentationen sinnvoll sind. Das Learning Circuit Blog (http://learningcircuits. blogspot.com/) ist hierfür ein Beispiel. Eine besondere Form der Reflexion von Bildungsprozessen bieten Lerntagebücher, die als Blog geführt werden, da sie neben dem Bildungsfokus ebenso das Interesse bzw. die Leidenschaft zum Schreiben adressieren. Charakteristisch ist hier der persönliche Stil des Schreibens, der sich stark an den Gepflogenheiten in der Blogsphäre orientieren. Auch in dem Bildungsbereich hat sich über die Authentizitätsproblematik eine Kultur der Offenheit etabliert, die zu einer erstaunlich hohen Vertrautheit beim Schreiben zum Ausdruck kommt. Blogs werden darüber hinaus als Foren der öffentlichen und politischen Reflexion des gesellschaftlichen Umgangs mit Wissen und Medien genutzt. Bloggen kann somit als Möglichkeit der öffentlichen Meinungsbildung und der
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mündigen gesellschaftlichen Teilhabe verstanden werden, die bis hin zur Gegenöffentlichkeit reichen. Eines der bekannten Beispiele in diesem Zusammenhang ist der mit dem Grimme-Online-Preis ausgezeichneten BildBlog (http://bildblog.de), das von zwei freien Journalisten eingerichtet wurde, um Falschmeldungen der Bild-Zeitung und anderer Medien richtig zu stellen und um mangelhaft recherchierte Meldungen zu korrigieren. 3.2 Communities of Practice Communities of Practice (Wenger 1998) sind ein besonderes Konstrukt im Web 2.0. Interessierte Lernende arbeiten dauerhaft oder sporadisch zusammen an Problemlösungen. Jeder Lernende hat einen mehr oder weniger großen Anteil am Lernzuwachs und ist je nach individueller Beteiligung stärker eingebunden in das soziale Lernerlebnis. Solche Communities sind sowohl on- als offline zu pflegen und ermöglichen ihren Mitgliedern somit ein hohes Maß an zeitlicher Flexibilität. Diese Flexibilität gewinnt angesichts der mobilen Kommunikationsmöglichkeiten deutlich an Kontur. Nicht nur das Maß der Beteiligung in verschiedenen Communities kann von den Teilnehmern je nach Interessenlage gestaltet werden, sondern auch das Engagement innerhalb einer bestimmten Gemeinschaft. So ist es möglich die individuelle Lern- und Wissenserarbeitungsbeteiligung von eher passiv rezipierend bis aktiv evozierend mit der Gemeinschaft auszuhandeln (vgl. ebd.). Durch die soziale Komponente solcher Strukturen entwickelt sich ein Netzwerk von reziprok aufeinander bezogenen und angewiesenen Lernenden, die je nach derzeitiger Rolle eine entsprechende Verantwortung gegenüber den anderen Gemeinschaftsmitgliedern empfinden. Communities of Practice bestehen aus Mitgliedern, die alle ein Interesse besitzen sich in diese Gemeinschaft einzubringen und die Problemlösungen weiterzuentwickeln. Dadurch können soziale Bindungen, Vertrauen sowohl in Personen als auch zu Inhalten und soziales Ansehen erwachsen, die diese Art von Lern- und Bildungskontext nicht mit Pflicht oder Zwang verknüpfen sondern ein persönliches Bedürfnis darstellen, für sich selbst und die Gemeinschaftsmitglieder zu lernen und wechselseitig voneinander zu profitieren. 3.3 Personal Learning Environments Aktuell zeigen sich Auswirkungen der technologischen Entwicklung zu vereinfachten Programmen bzw. Programmteilen, die leicht kombiniert werden können. So nutzen mittlerweile verschiedene Plattformen die Implementierung von Plug-Ins zu anderen Plattformen, um ihre Oberfläche für die Nutzer attraktiver zu gestalten und Zusatznutzen anzubieten. Solche Entwicklungen zeigen sich beispielweise bei Youtube, wo durch entsprechende Implementierungen Videos
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sofort zum Myspace- oder Facebook-Account hinzugefügt werden können. Somit findet ein Ablösungsprozess der Inhalte statt, indem diese in beliebige Plattformen eingebunden werden können und nicht nur innerhalb einer geschlossenen Community verfügbar sind (vgl. Jörissen, Marotzki 2008). Eine Lernorganisationsentwicklung, die sich analog zu diesen technologischen Innovationen entwickelt sind Personal Learning Environments. In den meisten Fällen müssen sich Lernende auf verschiedenen Plattformen einloggen, verschiedene reale Lerntreffen organisieren, ihre Aufgaben proprietär lösen und nachvollziehen. Dies erfordert vom Lernenden ein hohes Maß an Organisation, häufiger Plattformwechsel und eine Bindung, die sich mehr an dem jeweiligen Bildungsanbieter als an dem persönlichen Bildungsfortschritt orientiert. Durch individualisierte Lernoberflächen können die Bildungsbemühungen des Individuums zusammengefasst, nachvollzogen und leicht verwaltet werden. So befinden sich auf diesem Desktop bspw. die nächsten Termine der realen Lerngruppen, der Zugang zu allen Online-Lernaktivitäten sowie die dazugehörigen Lernfortschritte, die letzten Recherche-Seiten usw. Diese Art der Lernorganisation bewirkt die Personalisierung des Lernens, d. h. die verschiedenen Weiterbildungsbemühungen werden mit dem Subjekt verknüpft, bieten dem Lernenden einen Überblick (vgl. Neuhaus 2007). Einen Schritt weiter kann diese Perspektive mit den Überlegungen von Jörissen und Marotzki (2008) entwickelt werden. Da sich generell ein Ablösungsprozess der Inhalte von Plattformen vollzieht, ist ebenso ein umfassender individualisierter Online-Desktop möglich. Diese Ausgangsplattform würde alle virtuellen Aktivitäten des Subjekts entfragmentarisieren, einen Sinnzusammenhang, Orientierung und Kontrolle über die Aktionen bieten. Mit dieser oberflächlich betrachteten organisatorischen Annehmlichkeit, ergeben sich jedoch bei eingehender Analyse im Hinblick auf das lebenslange Lernen ganz neue Perspektiven. So erhält das Lernen neben Kommunikation, Arbeit, Spiel und Unterhaltung einen festen Platz innerhalb der alltäglichen, selbstverständlichen virtuellen Tätigkeiten. 4
Neue Lernkulturen
Angesichts dieser qualitativen Veränderungen von Lern- und Bildungsprozessen gilt es, über die Emergenz neuer Lernkulturen nachzudenken. Die vielfältigen globalen und spezialisierten Wissensangebote, die über mobile Medien zugänglich sind, führen letztlich dazu, dass das Lernen nicht mehr nur auf eine bestimmte Lernzeit im Lebenslauf reduziert werden kann und sich Wissensräume nicht mehr auf wenige lokal begrenzte Orte beschränken. Die BluetoothTechnologie, Wireless LAN an zahlreichen Access-Points und UMTS ermöglichen zunehmend, dass mit den vielfältigsten Geräten Zugang zum Internet be-
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steht. Hilfreich sind vor allem die mobilen Geräte, angefangen bei Laptops, Palms, Handys, MP3-Player usw. Dadurch verändern sich sichtbar soziale Praktiken: Die Privatsphäre und die öffentliche Kommunikation durchwirken einander zunehmend. Für das Lernen bspw. auf einem Campus sind schon jetzt deutliche Veränderungen in der Kommunikation und im Lernverhalten zu bemerken. Wenn eine Uni mit W-Lan ausgestattet ist und die meisten Studierenden Laptops nutzen, treten Veränderungen ein: Die Studieren betreiben verstärkt elektronische Kommunikation, sie surfen im Internet während Veranstaltungen, googlen nach Begriffen, die sie nicht kennen, schauen in Wikipedia nach Hintergrundinformationen, oder sie betreiben Multitasking, kommunizieren über icq etc. Die Trends, die sich dabei abzeichnen sind, dass so etwas wie „swarming“ stattfinden kann, dass sich also etwa Studierende zu „Schwärmen“ ortsunabhängig zusammenschließen, um ein bestimmtes Thema zu bearbeiten, sei dies nun real oder virtuell, um in begrenzten Lernzonen zu arbeiten und dann auch wieder auseinander zu gehen, wenn das Ziel erreicht wurde. Gleichzeitig macht sich im Lernverhalten auch bemerkbar, dass Informationen allgegenwärtig sind und sich gerade über virtualisierte Formen die Wahrnehmung von Realität erweitert (vgl. Alexander 2004). Insgesamt verliert damit das „sesshafte Lernen“ an Bedeutung. Die Lernenden der Zukunft sind gleichsam nomadisch immer auf Wanderschaft, um an verschiedensten Stationen das für sie bedeutsame Wissen „abzugrasen“. Diese „Wanderschaft“ findet allerdings nicht orientierungslos im Sinne eines „lost in hyperspace“ statt, sondern, wie dies auch beim Nomadismus der Fall ist, gibt es feste Wanderwege, in denen sich die Nomaden in Gruppen und in einem ganz bestimmten Rhythmus bewegen (vgl. ebd.). Um die Vielfalt der Informationen sowie deren Vertrauenswürdigkeit entdecken und bewerten zu können, bedarf es Strukturen, die dem Nutzer eine dementsprechende Navigation erleichtern. Ebenso wie dies auf Wanderschaften in unbekannten Gebieten der Fall ist, gilt es auch hier eine Landkarte zu etablieren, die sich ständig um neue Informationen aktualisiert. Pfade müssen angelegt und deren Gangbarkeit durch die Nutzung anderer Informations- und Wissenssucher nachvollziehbar werden. Nicht zuletzt sind auch didaktische Orientierungsstationen, „Oasen“, auf diesen Pfaden nötig, wo Themen ansprechend aufbereitet sind, Empfehlungen für Anfängerpfade vorhanden sowie Inhalte strukturiert und bewertet werden können. Orientierung kann in diesem Zusammenhang auf vielerlei Arten aufgebaut werden. So greift bspw. die Blogsphere auf Blogringe oder auch Blogmetros zurück, um die Informationen zu strukturieren. Einen Blogring kann sich jeder Nutzer entweder individuell selbst zusammenstellen oder aber auf großen Bloganbieterseiten den eigenen Blog und die Präferenzblogs ordnen oder auch die
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Blogsphere (zumindest die unter diesem Service gemeldeten) nach weiteren interessanten Blogs durchsuchen. Auf den Seiten solcher Anbieter kann man sich als Blogger einer Metro angliedern. Metros sind lokale Strukturierungsfunktionen, die die lokal ansässige Blogsphere karthografiert. Eine weitere Entwicklung in diesem Kontext markiert das gemeinschaftliche Indexieren von Inhalten, auch Folksonomien oder social tagging genannt. Dabei belegen die Nutzer Inhalte mit verschiedenen assoziierten Schlagworten. Dadurch, dass Inhalte nicht nur durch ein Schlagwort verortet werden, gestaltet sich die Suche nach bestimmten Inhalten komfortabler. Immer öfter tauchen in diesem Zusammenhang auch TagClouds auf, die den semantischen Kontext eines Inhalts widerspiegeln. Dabei werden häufig vergebene Tags graphisch größer dargestellt, um deren quantitativ stärkere Relevanz zu symbolisieren (vgl. Jörissen, Marotzi 2008, S. 213ff). Um eine gewisse Orientierung hinsichtlich der Inhalte und der Autoren zu etablieren, eignet sich der Aufbau einer virtuellen sozialen Gemeinschaft. Wie bereits bei den Communities of Practice erwähnt, trägt der ständige Austausch innerhalb einer Gemeinschaft zum Aufbau von Beziehungen der Mitglieder untereinander bei. Nach einer entsprechenden Sozialisationszeit können die Mitglieder besser einschätzen welche Inhalte von welchen Personen als vertrauenswürdig zu betrachten sind, so dass hier das Risiko von Fehl- und Falschinformationen reduziert werden kann (vgl. Neuhaus 2007). Ähnliches findet bereits bei E-Bay oder mitfahrzentrale.de statt. Durch die Bewertung durch Mitglieder, die bereits Erfahrungen mit einem Verkäufer, Käufer, Fahrer oder Mitfahrer gesammelt haben erhalten Nutzer, ohne diesen Erfahrungshintergrund eine Orientierung bezüglich der Vertrauenswürdigkeit der Mitglieder. Dieses Prinzip ist natürlich auch im Bereich von Bildungs- und Lerndimensionen denkbar. Auch wenn diese bereits vorhandenen Praktiken in Lern- und Bildungszusammenhängen genutzt werden, bedürfen die Inhalte ebenso einer entsprechenden didaktischen Aufbereitung. So sollten die Lernarrangements Bildungsziele formulieren, Lernfortschritte und Aufgabenstellungen möglichst verständlich, attraktiv und transparent aufbereiten, um Lern- und Bildungsprozesse anzuregen, eigenmotiviertes Lernen zu unterstützen und eventuelle Unsicherheiten auf ein Minimum zu reduzieren. 5
Digitale Spaltung und Medienkompetenz
Es zeichnet sich ab, dass sich für bestimmte Gruppen von Web 2.0-Nutzern die Möglichkeitsräume des Lernens so erweitern, dass es zu einer strukturellen Veränderung von Lerngewohnheiten kommt. So können sich einige Personenkreise in modernen Gesellschaften mit Hilfe digitaler Medien ohne großen Aufwand zahlreiche Wissensquellen erschließen, um die eigenen Interessengebiete zu
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erweitern, zu vertiefen und mit anderen zu teilen, so dass Lernen und Bildung im Lebensverlauf neue Impulse erhalten. Die andere Seite dieser Entwicklung bedeutet jedoch, dass ein nicht unerheblicher Teil der Bevölkerung kaum Anteil nimmt an den Möglichkeiten, die digitale Medien bieten (van Dijk 2005; Castells 2005). Wir stehen hier an einem Grenzpunkt, an dem Teile der Bevölkerung von Entwicklungen ausgeschlossen werden, die sie mangels Medienkompetenz, Interesse oder Notwendigkeiten nicht beherrschen, oder dass manche Gruppen nicht in der Lage sind, diese Bildungsanregungen des Netzes für sich im Sinne von Reflexionsangeboten und eines Perspektivwechsels nutzen können. Das lebenslange Lernen findet unter defizitären Bedingungen eben keine Entsprechung. Wir müssen hier sehr genau auf Gruppen achten, die die Angebote im Netz gerade nicht unter einer Steigerungsperspektive im Bildungsverhalten nutzen können, die nur schlecht in der Lage sind, aus den Unsicherheiten, die durch die vielen Angebote entstehen, eigene Sichtweisen und Orientierungen zu entwickeln und die letztlich beim Genuss die anregende Bildungsdimension aus dem Blick verlieren und sich mit der reinen Unterhaltungsfunktion von digitalen Medien begnügen. Aufgrund verschiedener Studien zur Nutzen von digitalen Medien muss vermutet werden, dass dies auf einen nicht unerheblichen Anteil der Bevölkerung zutrifft (vgl. Eimeren/Frees 2009; Treumann, Meister, Sander u.a. 2007) . Eine solche digitale Spaltung bedeutet, dass etwa eine hohe Verunsicherung bezüglich Netzsicherheit oder Problemen mit Hard- und Software bestehen, dass kaum Fähigkeiten ausgebildet sind, verschiedenste Quellen für einen Lerngegensand heranzuziehen. Dies hat zur Konsequenz, dass nur vertrautes Terrain im Netz beschritten wird und kaum Auseinandersetzungen mit Neuem gesucht wird, da die Angst vor Orientierungslosigkeit und Verunsicherungen dominieren. Der Ausweg für diese Gruppe ist eher ein Widerstand gegen Bildungsprozesse und eine Hinwendung zur Unterhaltungsorientierung, womit die Lebens-, Bildungs- und Arbeitschancen erheblich reduziert werden. Da den eher gebildeten und netzversierten Bevölkerungsgruppen die Bewältigungen umso besser gelingt, steigt die Kluft durch digitale Medien noch an. Die Vermittlung von Medienkompetenzen könnte indes eine Möglichkeit zur Reduzierung dieser Kluft beitragen. 6
Ausblick
Bildungsprozesse finden an viel mehr Andockstationen und Oasen statt als dies bisher in den Blick genommen wurde. Allerdings braucht es inhaltliche, formale, ethische und Werte-Auseinandersetzungen, um Reflexionsprozesse und Perspektivwechsel auszulösen. Die Beispiele aus allen Bereichen des Web 2.0 verdeutlichen, dass sich neue Wissensquellen in einer noch nicht bekannten Weise „bei-
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läufig“ und alltagsgebunden zur Entdeckung neuer Informationen und Lernzusammenhänge eignen. Die Online-Medien eröffnen dabei die ganze Spannbreite von Lernen und Bildung: Angefangen bei einfachen Internet-Recherchen, die vorhandene Deutungen bestärken, über das Besuchen von Blogs oder Wissensnetzwerken, die bisherigen Einsichten eine neue Wendung geben oder die eigene Expertise erweitern und ergänzen. Schließlich ermöglichen Interaktion, Partizipation, Gestaltung und Kommunikation in virtuellen Welten oder virtuellen Communities eine hohe Flexibilität im Umgang mit Selbst- und Weltzuschreibungen sowie letztlich eine Neustrukturierung von Lern- und Bildungsgewohnheiten (vgl. Marotzki 1997). Diese Entwicklungen stellen aber auch neuartige kognitive und motivationale Anforderungen an die Lernenden. Wer das Medium souverän beherrscht und somit über Medienkompetenz verfügt, kann seine bereits existierende Lernpraxis ausweiten. Irritationen, die im Alltag auftreten und die über erweiterte Wissensformen „geheilt“ werden können, bieten diesem Personenkreis eine gute Möglichkeit, relativ bequem an Informationen zu gelangen. Die Nutzung von Online-Medien bedeutet jedoch gleichzeitig, dass der Selektionsaufwand steigt, nämlich richtige, zuverlässige, wichtige Informationen aus der „Flut“ an Angeboten auszuwählen. Um sich darin nicht zu verlieren, bedarf es sowohl Suchstrategien als auch eines klar definierten Lernziels, das die schon bestehenden Kenntnisse erweitert oder optimiert. Das digitale Lernen bietet also keine Quelle der Gewissheit, vielmehr bedarf es einer Ethik, die das Handeln leitet und die eine Orientierung im Handeln erkennen lässt. Angesichts der vielfältigen Angebote muss man auch Nein sagen können, um die Richtung seiner Identität wirklich selbst bestimmt zu gestalten und die Sinnhaftigkeit des Lebens zu gewährleisten. Für die Profession der Lehrenden bzw. für das Bereitstellen von Angeboten bedeutet dies, dass mehr Bedarf an attraktiver Aufbereitung des Lehrstoffes für die Stoffvermittlung vorhanden ist und die Bedeutung des Moderators und Begleiters von Lernprozessen steigt. Dadurch verändert sich die gewohnte Rollenteilung und Aufgabenstruktur auch innerhalb organisierter Lehr- und Lernkontexte. In unseren Lern- und Bildungskonzepten sollten wir also auf expansive, Flexibilität und Reflexivität betonende Steigerungsperspektiven Wert legen. Die neuen Möglichkeiten des Web können hier Oasen und Ankerpunkte bilden, innerhalb derer sich Lernende auf Zeit und für ein bestimmtes Thema zusammen schließen. Pädagogische Konzepte tragen in diesem Kontext dazu bei, Anschlussmöglichkeiten und Orientierungspfade zu legen.
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Web 2.0 als pädagogische Herausforderung
Web 2.0-Anwendungen zeichnen sich durch eine fortwährende Dynamik aus. Charakteristisch für diese Entwicklung sind die Partizipation der Nutzer und der permanente Austausch der Beteiligten. Neue Formen von Beteiligung, Teilnahme, Mitwirkung und Mitbestimmung kristallisieren sich heraus. Kennzeichnend für diese Bewegung ist eine Ethik der Kooperation. Kollektiv werden Ressourcen erschlossen, Kompetenzen und Potenziale zur Verfügung gestellt. Es handelt sich um ein auf ein hedonistisches Interesse beziehendes Unterstützungssystem auf Gegenseitigkeit. Kooperiert wird im Rahmen gemeinsamer Angelegenheiten. Web 2.0 fördert die Tendenz, dass die NutzerInnen Personen mit gleichen Interessen und/oder Intentionen finden. Es handelt sich um auf Tauschprinzip beruhende Beziehungen, bei der die Teilnahme freiwillig ist und eine Personenorientierung vorherrscht. Nicht kognitiv-rationale Entscheidungen (lineare Klassifikationen) oder sequentielle Wahrnehmungsprozesse (wie z.B. beim Lesen) werden weniger durch das Web 2.0 gefördert, sondern eher das assoziative und kombinatorische Denken. Entlang nicht-linearer Navigationsstrukturen entsteht augenblicklich ein pulsierendes Web im Web mit einem hohen Grad an Vernetzung. Verweise und Zuordnung erfolgen durch die handelnden Subjekte, wodurch sie nachvollziehbar werden. Unser Bildungssystem steht vor der Herausforderung, auf diese Entwicklung zu reagieren. Die Nutzbarmachung der Web 2.0-Philosophie erfordert ein Lernverständnis, das insbesondere aus konstruktivistischer Perspektive seit Jahren gefordert wird (u.a. Siebert 2005), aber sich in der Praxis kaum durchgesetzt hat. Lernen wird ausgehend von diesem Verständnis als Aufbau, Ergänzung oder Umbau eines in der Wahrnehmung der Lernenden subjektiven Konzeptsystems über die Welt verstanden (Sander 2005: 52). Demgemäß bedarf es der Notwendigkeit, sich an den vorhandenen Einstellungen, Deutungen, Lernpräferenzen und Wahrnehmungsstrukturen der Lernenden zu orientieren. „Von herausragender Bedeutung ist die Verknüpfung neuen Lernens mit den Konzeptsystemen der Lernenden“ (ebd.: 56).
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Jugendliche nutzen die Web 2.0-Technologien. In ihrem Wahrnehmungssystem konstituieren sich durch die Nutzung dieser Technologien synaptische Verschaltungen in ihrem Gehirn, die ihr Lernverständnis und damit auch ihre Aneignungsweise von ‚Wirklichkeit’ nicht unberührt lassen. Will man Schüler und Jugendliche da abholen wo sie sind, bedarf es der Auseinandersetzung mit deren durch das Web 2.0 geprägten Konzeptsystem des Lernens. Die Integration von Web 2.0-Technologien (u.a. Wikis, Weblogs, Podcasts, Messenger, Handys) könnte somit innovative Impulse für den pädagogischen Alltag eröffnen, wenn man diesem Anspruch gerecht werden will. Die genannten neuen Technologien eröffnen außergewöhnlich spannende interaktive Lernerfahrungen. Doch der Einsatz dieser Technologien alleine genügt nicht. Entscheidend dabei ist die Akzeptanz der durch Web 2.0 zum Ausdruck kommenden neuen Lernphilosophie. 1
Pädagogik der Navigation
In Anbetracht der anstehenden Herausforderungen bedarf es einer dringlichen Reform des aktuell vorherrschenden Bildungskonzeptes. Die zukünftigen Pädagogen werden ihre Methodenkompetenz erweitern müssen: konstruktives, rekonstruktives, spiralmethodisches, szenarisches und rollenbasiertes Lernen müssten als Ensemble unterschiedlicher Lerndidaktiken ebenso eine Bedeutung erhalten, wie die Selbstverständlichkeit, den Lernprozess so zu gestalten, dass situiertes Lernen möglich ist, d.h. Lernen verbunden mit authentischen Problemsituationen. Das jeweilig zu Lernende wird in Beziehung gesetzt mit realen Kontexten, die in Beziehung mit der materiellen Lebenswelt der Lernenden stehen. Fächerübergreifende, ganzheitliche und lernpräferenzorientierte Lernerfahrungen sollten in die zu schaffende Lernumgebung einbezogen werden. Bei Bildungsmaßnahmen müssen Non-Linearität, wurzelartige Lern-Strukturen (Rhizome), Interaktivität und Lernen mit Unterstützung von Hypermedia (HypertextLernen) integriert werden. Lernen wird in diesem Kontext als Selbstermächtigung angesehen, bei dem Spaß und Freude Teil des Lernens bilden. Die Lernenden werden nicht nur an der Zielfestlegung des Lernens, der Metadiskussion über den Verlauf des Lernprozesses bzw. des Projekts und der Beurteilung des Lernergebnisses beteiligt, sondern übernehmen die Vorgänge weitgehend selbst. Sie dürfen mit Hilfsmitteln arbeiten, eine assoziative Bearbeitung von Aufgabenstellungen ist möglich. Durch die neuen Technologien haben die Lehrenden keine Nadelöhrfunktion, sie sind nicht mehr länger die Schwellenhüter, Bewahrer und Bewerter von „Wissen“. Damit einher geht eine Veränderung der Rolle der PädagogInnen. Sie werden zu Coaches, Mentoren oder besser gesagt zu den Navigatoren des Lernpro-
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zesses. Sie sind zuständig für die Generierung der Lernumgebung; sie organisieren die Lernarrangements, sie fördern die Auseinandersetzungen der Lernenden mit dem Lernangebot. Dieses Konzept nenne ich die „Pädagogik der Navigation“ (Röll 2003). Die Lernenden werden des selbstgesteuerten Lernens befähigt. In dem zukünftigen Lernraum übernehmen die Lernenden Funktionen, die vorher nur den Lehrenden zugestanden wurde. 2
Strukturelle Herausforderungen
Einige Schlagworte sollen das Wechselverhältnis zwischen gesellschaftlichen Anforderungen und der mit Web 2.0 veränderten Kommunikationskultur skizzenhaft aufzeigen. Damit möchte ich die Dringlichkeit, sich mit neuen Bildungskonzepten zu beschäftigen, verdeutlichen. x x x x x x x x x
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Die Massenausbildung ist ein Produkt der Industriegesellschaft. In der Wissensgesellschaft dominieren individuelle Produktionsabläufe und Flexibilität, die durch einen molekularen Ansatz geprägt sind. Der effiziente Umgang mit Wissen wird in Zeiten von globalisierten Märkten zusehends zu entscheidenden Wettbewerbsvorteilen. In Folge dieser Entwicklung kommt es zu einer Entgrenzung des Lernens. Raum und Zeit als Bedingung für Lernen lösen sich auf. Gelernt werden kann überall. Die Ausbildung in der Jugendphase genügt nicht mehr, um sich lebenslang zu qualifizieren. Neben den traditionellen Bildungsorten drängen andere Institutionen auf den Bildungsmarkt. Das Grundprinzip des Internets ist geprägt von Hypertexten, die als Fragmente delinear miteinander verknüpft sind. Es gibt keine hierarchisch gegliederte Struktur. Durch Weblogs, Wikis und RSS (really simple syndication) werden diese digitalen Informationsfragmente immer kleiner. Die Metaerzählung verliert an Bedeutung. An ihre Stelle treten Heterogenität, Mikroelemente und eine fraktale Dynamik. Der alltägliche Umgang mit dem Internet stärkt individuelle Lernstrategien, bei denen die Lernziele offen sind. Dies widerspricht dem Lernkanon der traditionellen Bildung, der an einem festgelegten Curriculum ausgerichtet ist. Kooperative und kollaborative Lernformen erlauben, dass Lernende voneinander und miteinander lernen (peer-education). Damit wird die soziale Konstruktion der Wissensgenerierung stärker hervorgehoben.
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Dies führt zu neuen Herausforderungen an die Pädagogik, die am ehesten von konstruktivistisch geprägten Lernkonzepten bewältigt werden können. Bei diesen Konzepten wird der Lernprozess als forschungsorientiertes Lernen verstanden. Die Lehrenden erforschen, was die SchülerInnen bereits wissen und was sie interessiert. Dann erforschen die Lehrenden mit den Lernenden gemeinsam Fragen, die sich stellen. Danach sollte der Unterricht so gestaltet sein, dass forschendes explorierendes Lernen möglich ist. Anstelle von Vorgaben werden Probleme bearbeitet, über die die Lernenden gemeinsam nachdenken. Es geht nicht um das Finden und Entwickeln von Lösungswegen, sondern um das Entwickeln eigener Denkmodelle. Beim Lernen darf das Bedürfnis nach sozialer Eingebundenheit und sozialer Zugehörigkeit nicht vernachlässigt werden. Da Emotionen wesentliche Impulsgeber bei den Lernprozessen sind, gilt es eine Lernumgebung zu implementieren, bei der eine sozio-emotionale Bindung zwischen den Lernenden und den Lehrenden möglich ist. Ausgangsbedingung ist, dass die SchülerInnen über soziale Kompetenzen verfügen. Daher gilt der Vermittlung dieser Kompetenz die gleiche Aufmerksamkeit wie der Aneignung von Inhalten. Die Einzelnen werden entsprechend ihres Wissensstands und ihrer Lernpräferenzen mit dem Lernstoff konfrontiert oder können selbstständig die Auswahl über die modular aufgebauten Informationsquellen und Interaktionsformen treffen. Information und Wissen entstehen aus den Interaktionen der Menschen mit ihrer Umgebung (Kontextualisierung). Daher muss Raum zur Verfügung stehen, um sich lernend in Interaktionen mit anderen und dem Lebensumfeld zu erfahren. Wie schon herausgestellt ist es bedeutsam, eine situierte Lernsituation zu generieren (Mandl/Gruber/Renzl: 1997). Als vorteilhaft hat es sich erwiesen, wenn ein gemeinsames Lernfeld die Ausgangslage des Lernens bildet. Bei einem gemeinsamen Lernfeld können die unterschiedlichen Kompetenzen produktiv eingebracht werden. Das Neue bedeutet dann nicht die In-Frage-Stellung des bisherigen Denkens, sondern eine komplementäre Sicht, eine andere Perspektive. Diese Einstellungsänderung gelingt insbesondere dann, wenn den Lernenden bewusst wird, dass es unterschiedliche Perspektiven (Einstellungen) geben kann. Durch diese Methode wird ein ressourcenorientiertes Lernen begünstigt. 3
Wissensgesellschaft
Ein verändertes Lernkonzept wird auch durch die Diskussion um die Schlüsselqualifikationen, die im Zuge der Entwicklung hin zu einer Wissensgesellschaft benötigt werden, immer dringlicher. Unsere Dienstleistungsgesellschaft erfährt im Moment einen weiteren Differenzierungsprozess, den Wandel von der Infor-
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mations- zur Wissensgesellschaft. Die Generierung, Reproduktion, Distribution, Übertragung und Verwertung von Ideen sind der Rohstoff der Wissensgesellschaft. Während in der Informationsgesellschaft das physische Silizium eine wesentliche Bedeutung hat, wird in der Wissensgesellschaft der immaterielle Denkprozess bedeutsamer. Das exemplarische Produkt der Informationsgesellschaft ist der Chip, das exemplarische Produkt der Wissensgesellschaft ist Wissen. Zukünftig werden nicht mehr Daten, sondern Ideen ausschlaggebend sein. Ausgangsbedingungen der Wissensgesellschaftsdebatte sind der strukturelle Wandel unserer Arbeitswelt, die Deregulierung der Finanzmärkte, die grenzenlose Investitionspolitik weltweit operierender Unternehmen und neue Technologien. Diese Entwicklung wird durch immer leistungsfähigere Kommunikationsund Informationstechnologien begünstigt. Die gesellschaftlichen Veränderungen zwingen die nationalen Ökonomien zur Anpassung. Eine Reaktion ist die europäische Integration, eine weitere, die Veränderung unseres Bildungs-, Lern- und Wissenskonzepts. Im Kontext dieser Entwicklung werden die zukünftigen Arbeitnehmer andere Schlüsselqualifikationen benötigen. Galten früher Aufmerksamkeit, Fleiß, Ordnung und ein gutes Gedächtnis (Informationswissen) als wichtige allgemeine Kompetenzen, werden heute andere Qualifikationen gefordert. Angesichts wechselnder Kundenpräferenzen, kürzerer Produktlebenszyklen werden Kreativität, Flexibilität, Spontaneität, Selbständigkeit, Selbstbewusstsein und Selbstdistanz, Teamfähigkeit, Kompetenz zum systemischen bzw. vernetzten Denken, systematische Problemstrukturierung im Sinne einer vielschichtigen Problemlösungskompetenz sowie mentale Beweglichkeit zu maßgeblichen Schlüsselkompetenzen. Bedeutsam wird die Fähigkeit in vorher nicht adaptierten Erfahrungskontexten Kompetenzen aktualisieren zu können. Aus diesen Gründen bedarf es auch eines komplexeren Verständnisses des Wissensbegriffes. In unserer Kultur wird das theoretisch-kognitive, das deklarative Wissen (explizite Wissen) höher als das handlungsrelevante Wissen bewertet, da es sich in technischen Daten und grammatisch und semantisch korrekten Sätzen ausdrücken lässt. Offensichtlich gibt es in unserem Bildungssystem eine Hegemonie des sprachlich-mathematisch-naturwissenschaftlichen Weltbildes. Gerade in Anbetracht der hohen Bedeutung des Audiovisuellen bei den Neuen Medien überrascht die Vernachlässigung der visuellen Medien, ebenso der Musik, der Körpermedien und der Phantasie. Die folgende Ideenskizze soll die Komplexität eines erweiterten Wissensbegriffs verdeutlichen.
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Abbildung 1:
Wissensbaum (Röll 2003: 29)
Beim Orientierungswissen handelt es sich um Sach- und Faktenwissen. In diesem Kontext wird Wissen verstanden als Zunahme der Kenntnisse von Daten und Fakten (to know what). Das Orientierungswissen lässt sich weiter differenzieren in ein Überblick verschaffendes und ein konzeptuelles Wissen, die Befähigung auf Grund von Erfahrungen und begrifflichen Ausdrucksformen Konzepte zu entwerfen und damit über Begriffe, Ideen und
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Erfahrungen sinnvolle Zusammenhänge zu erschließen. Ebenso lassen sich unter diesem Aspekt die Kenntnisse von Regeln, Programmen und Gesetzen subsumieren (Prinzipienwissen). Das Erklärungswissen wird auch als Erkenntniswissen bezeichnet. Hier geht es um Einsicht in Ursachen und Zusammenhänge (to know why). Mit diesem Wissen sind Gewissheits- und Geltungsansprüche verbunden, in denen auch Überzeugungen, Werte und Normen sowie Einstellungen, Haltungen und Perspektiven zum Ausdruck kommen. Das Kontextwissen spielt u.a. bei der kognitionspsychologischen Lerntheorie eine wichtige Rolle. Dieses Wissen wird benötigt, um eine Beobachtung, ein Objekt oder einen Begriff in einen bekannten Zusammenhang (Kontext) zu integrieren (to know the context). Mit dem Kontextwissen wird auch der Grad an Wissen bestimmt, über den ein Mensch in einem Wissensgebiet verfügt. Das Kontextwissen lässt sich unterscheiden in die Herstellung von semantischen Bezügen und in die implizite Kompetenz der Zuordnung. Das Quellenwissen, das Wissen, wo etwas steht (to know where), wo die gesuchten Informationen zu bekommen sind, wo Referenzen zu bereits gefundenen Daten vorhanden sind, wird in der Zukunft eine enorme Bedeutung erhalten. In Anbetracht komplexer Speicherungsmedien und zeit- und raumübergreifender Zugriffsmöglichkeiten bedarf es keineswegs des permanenten personalen Zugriffs auf die unterschiedlichen deklarativen Wissenskomponenten. Da in erheblichem Maße die Aneignung dieses Wissens über verstreute Texte (in der Regel Internet) erfolgt, wird das Quellenwissen die Befähigung zum hypertextualen Denken verlangen. Dazu gehören auch die Fähigkeit der Auswahlentscheidung und somit die Einordnung der gefundenen Texte sowie die kritische (wissenschaftstheoretische) Beurteilung der jeweiligen Quellen. Anschauliches Wissen ist geprägt durch perspektivische Wahrnehmung und intentionale Richtung. Sehen bedeutet bereits eine begriffliche Unterscheidung eines Beobachters. Visuelles Wissen kann bereits als Resultat einer analytischen Zuschreibung durch einen Beobachter verstanden werden. Aus dem Chaos der Sinnesempfindungen müssen unsere Sinnesorgane Formen auswählen. Der Kunstpsychologe Arnheim (1980: 24) spricht der Wahrnehmung Erkenntnisfunktion zu, da für ihn kein Unterschied besteht zwischen Wahrnehmung und Begriff. Für ihn gibt es einen Zusammenhang zwischen Anschauen und anschaulichem Denken. Da die Medienproduzenten gerade mit diesen Mitteln arbeiten, bedarf es zunehmend der Befähigung, diese Botschaften zu decodieren bzw. in einem handlungsorientierten Kontext zu codieren (to know to imagine). Die Befähigung zur Visualisierung gehört ebenfalls zu dieser Wissensart. Der Gehirnforscher Pöppel (2000: 26) nennt sie Vorstellungswissen. Gerade
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in multimedialen Lernsystemen dienen Visualisierungen der Vermittlung von Wissen und der Unterstützung des Aufbaus visuellen Wissens, zumal sich durch Visualisierung Informationen sehr viel schneller und effektiver vermitteln lassen.Wissen über bestimmte Bewegungsabläufe (to be in balance), wie z.B. das Schreiben mit einem Federhalters, das Spielen eines Musikinstrumentes, das präzise Schlagen eines Golfballes kann als Körperwissen bezeichnet werden. Dieses Wissen ist eingebettet in Rituale des Alltags und wird in der Regel nicht hinterfragt. Ebenso zähle ich zu dieser Wissensform die Befähigung intuitive Entscheidungen treffen zu können. Wenn auch dieses (implizite) Wissen selten bewusst ist, ist es jedoch nicht irrational. Für Varela (2000: 144) ist die ‘Verkörperung‘ die Voraussetzung sich in der Welt zurechtzufinden. Für ihn sind mentale Fähigkeiten (Wissen) untrennbar mit der Aktivität und Bewegung des Körpers verbunden. Er geht dabei von einer sich gegenseitig bestimmenden intensiven Wechselbeziehung von Innen (lokale Prozesse) und Außen (systemische Zustände) aus. Für ihn ist eine der wichtigsten Erkenntnisse der letzten Jahre, dass es keine klare Trennung zwischen Gedächtnis, Gefühl und Vorstellung gibt. Mit Handlungswissen oder auch Verfügungswissen sind die Methoden und die Problemlösungsmuster gemeint, wie etwas bewerkstelligt wird und die Fähigkeit, die zum praktischen Handeln befähigt sowie die Befähigung zum Handeln in konkreten Lebensbezügen (to know how). Fähigkeiten, Methoden und Problemlösungen können auch ohne bewussten oder verbalen Verweisungszusammenhang abgerufen werden. Dieses Wissen basiert wesentlich, aber nicht umfassend auf implizitem Wissen und beinhaltet vor allem visuelle und räumliche Repräsentationen. Der Erwerb dieser Wissenskomponenten erfolgt im Wesentlichen durch ‘Lernen vom Kontext‘. 4
Lernpräferenzen
Eine wesentliche Komponente nicht nur der Entwicklungen, die durch das Web 2.0 begünstigt werden, ist die Individualisierung. Die Pädagogik ist daher gezwungen, will sie sich produktiv mit dieser Entwicklung auseinandersetzen, individuelle Lernmöglichkeiten zuzulassen. Der jeweilige Lernstoff sollte lernerzentriert angeboten werden. Der Lernende und sein Bedarf stehen im Zentrum der Aufmerksamkeit und nicht mehr ein allgemeingültiges Curriculum. Ein am Subjekt orientiertes Lernkonzept verlangt eine dynamische Lernumgebung. Schulen müssen sich als lernendes System verstehen, das auf die jeweiligen Anforderungen reagiert. Dabei scheint es sinnvoll zu sein, kein monolithisches Konzept zu entwickeln, sondern multioptionale Konzepte, die entsprechend der jeweiligen Anforderungen verändert werden können.
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Darüber hinaus benötigen wir einen paradigmatischen Wechsel im Verständnis von Lernprozessen. Die Grundannahme müsste lauten: „der Lernende ist kompetent“. Lernen bedeutet nicht der Ausgleich eines Defizits, sondern eine erweiterte Qualifikation eines kompetenten Menschen. Die bei den Lernenden vorhandenen Kompetenzen sollten innerhalb des Lernprozesses Berücksichtigung finden. Beim Lernprozess sollte somit an den Ressourcen und nicht an den Defiziten angesetzt werden. Die Projektgruppe Atlantis der Hochschule Darmstadt arbeitet an einem Modell, das davon ausgeht, dass dem Lernenden entsprechend seiner Lernpräferenz methodisch und didaktisch der Lernstoff unterschiedlich angeboten werden sollte. Die Lernenden werden entsprechend ihres Wissensstandes und ihrer Lernpräferenz mit dem Lernstoff konfrontiert oder können selbstständig die Auswahl über die modular aufgebauten Informationsquellen und Informationsformen treffen. In die gleiche Richtung argumentieren Kerres/Nattland (2007: 38). Sie gehen davon aus, dass Lernplattformen sich in eine Richtung entwickeln sollten, in der es möglich ist, die Lern- und Arbeitsumgebung persönlich zu konfigurieren. Die Lernpräferenzforschung geht davon aus, dass unterschiedliche Bedürfnisse beim Lernen auf eine unterschiedliche Lerneffektivität hinweisen. „Jeder Erwachsene hat seinen eigenen Lernstil, um notwendige Verhaltensänderungen einzuleiten und einen individuellen Kognitionsstil, mit Informationen umzugehen“ (Klimsa 1993: 263). Obwohl diese Zusammenhänge in der wissenschaftlichen Diskussion seit längerer Zeit bekannt sind und zur Alltagserfahrung gehören, wird dieser Sachverhalt in der Regel in der Bildung und Ausbildung ignoriert. Die Folgerung, wegen der Komplexität des Gegenstands die Berücksichtigung von Lernpräferenzen zu vernachlässigen, halte ich für problematisch. Nach meiner Auffassung steht es außer Zweifel, dass es unterschiedliche Lernpräferenzen gibt. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit, den Lernprozess so zu gestalten, dass unterschiedliche Präferenzen angesprochen werden. Wenn es auch schwierig ist, eine umfassende Lernpräferenztypologie zu entwickeln, lassen sich nach meiner Auffassung folgende Lernpräferenzen differenzieren: 1. 2.
Kognitiv-rationales Denken. Kausales Denken, intellektuelles Erkennen, analytisches Vorgehen und somit das logische Prinzip leiten diesen Lernpräferenztyp. Pragmatisch-experimentelles Konstruieren. Dieser Präferenztyp bevorzugt abstrakte Begriffsbildung in Kombination mit konkretem Denken und aktivem Experimentieren.
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Organisatorisch-strukturelles Verwalten. Zur Beurteilung von Realität dienen diesem Präferenztyp Daten, Fakten und Zahlen. Realität ist für ihn alles was konkret und empirisch überprüfbar ist. Sensorisch-kinästhetisches Wahrnehmen. Der sinnenorientierte Präferenztyp lässt sich vornehmlich durch die Wahrnehmung der Sinne (Gesicht, Geruch, Geschmack, Hautempfindlichkeit, Gleichgewichts- und Bewegungssinn) leiten. Emotional-personenorientiertes Kommunizieren. Entscheidungen werden von diesem Präferenztyp aus subjektiver Position formuliert (Innen-Orientierung). Sie stehen im Zusammenhang von persönlichen und sozialen Wertvorstellungen. Intuitiv-kreatives Schöpfen. Ideen und Gesamtzusammenhänge sind für diesen Lerntyp bedeutsam. Er kann (avantgardistische) Entwürfe machen, Potentiale, Möglichkeiten und Visionen erkennen.
Die detaillierte Darstellung dieses von mir entwickelten Lernpräferenzmodells (www.lerno.de) sprengt den Rahmen dieses Textes.1 Damit die Lernenden die Chance haben, den Lernstoff ausgehend von ihren Fähigkeiten anzueignen, empfiehlt es sich das Konzept des selbstgesteuertes Lernens zur Grundlage des Lernprozesses zu machen. 5
Makromodell: Selbstgesteuertes Lernen
Beim selbstgesteuerten, erkundenden, ganzheitlichen und situationsbezogenen Lernen mit Neuen Medien sehe ich Potentiale für angemessene Lernprozesse in Zeiten von Web 2.0. Die Lernenden werden motiviert, eigene Strategien zum Lernen zu entwickeln. Beim selbstgesteuertem Lernen wird Lernen zu einem aktiven, problemorientierten, sozialen und konstruktiven Prozess. Der Vorteil des selbstgesteuerten Lernens mit Neuen Medien ist, dass diese Lernform eine enorme Vielfalt an Lernmöglichkeiten eröffnet. Neue Medien sind keine neuen Nürnberger Trichter. Sie bieten aber, weil die Lernumgebung vielfältige Lernprozesse zulässt und sofern die Bedürfnisse, Interessen und Lernvoraussetzungen der Lernenden gewahrt bleiben, eine ausgesprochen günstige Ausgangsposition für das Lernen in der Wissensgesellschaft. Selbstgesteuertes Lernen bedeutet die Verknüpfung von Selbstlernen und individueller Sinnsuche. Voraussetzung ist, dass die Möglichkeit zur Selbstverwirklichung und Selbstentfaltung gegeben ist. Der Begriff wird unterschiedlich 1
Das Konzept ist bereits 2005 (Röll) konzeptioniert worden. Eine ausführliche Darstellung dieses Lernpräferenzmodells verbunden mit didaktischen Empfehlungen ist in Kürze geplant. Röll 2009: Lernpräferenzen (in Vorbereitung).
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verwendet, je nachdem, ob ein Ziel gegeben ist (woraufhin), ob die Inhalte des Lernens im Vordergrund stehen (was), ob die Modalitäten des Lernprozesses betont werden (wo, wann, wie lange), ob der Lernweg im Vordergrund steht (wie, mit welchen Hilfsmitteln, auf welche Weise, allein oder mit anderen). Der Begriff bedarf daher der Differenzierung. Bei vielen Projekten wird von selbstgesteuertem Lernen gesprochen. In der Realität handelt sich aber um selbstbestimmte oder selbstorganisierte Lernprozesse. Selbstgesteuertes Lernen ist ein Prozess, bei dem die Lernenden bereit und fähig sind, ihr Lernen eigenständig zu planen, zu organisieren, umzusetzen, zu kontrollieren und zu bewerten, sei es in Kooperation mit anderen oder als Einzelne. Selbstgesteuertes Lernen kennzeichnet:
Autonomie erleben, Kompetenz erleben, das beglückende Gefühl des Selbstmachens, das Erleben sozialer Einbindung, eine egalitäre kommunikative Beziehungskultur, neue Umgangsweise mit der Welt, Produktionslust, Faszination.
Allerdings stehen Pädagogen heute immer auch in formalen Zwängen (curriculare Vorgaben, Erziehungsauftrag), die eine optimale Nutzung der neuen Technologien unter Berücksichtung selbstgesteuerter Lernprozesse nicht oder kaum zulässt. Ebenso darf nicht vernachlässigt werden, dass viele Pädagogen mit ganz anderen pädagogischen Lernphilosophien in ihrer Ausbildung konfrontiert wurden. Ebenso blockiert die Angst vor der Technik und es besteht eine Verunsicherung, sich auf eine von Web 2.0 beeinflusste Lernkultur einzulassen. 6
Mikromodelle – methodische Anregungen
Makromodelle, die daran orientiert sind, das gesamte Bildungsprinzip in Frage zu stellen und neu zu verorten, haben in Anbetracht des im Moment vorherrschenden Bildungs-Technokratismus geringe Chancen. Daher scheint es umso bedeutsamer, Mikromodelle in den pädagogischen Alltag zu integrieren. Wenn Lernen in kleinen Lerneinheiten und kurzen Schritten vollzogen wird und sich der Fokus des Lernprozesses auf Mikroaspekte bezieht, spricht man vom Mikrolernen (Hug 2007). Der Begriff wird auch verwendet, wenn Web 2.0 Techniken Verwendung finden. Mit diesem veränderten Verständnis von Lernen soll an die Mikrolernaktivitäten bei den Netzbenutzern angeknüpft werden. Weblogeinträge und Bookmarks können ebenfalls als Elemente von Mikrolernen angesehen wer-
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den. Die kognitive Last beim Lernen wird reduziert. Die positive Integration von diesen Mikromodellen könnte dann dazu beitragen, dass Stück für Stück der pädagogische Alltag reformiert wird. 6.1 Self Generated Content (SGC) Ein ideales Instrument für die Erzeugung von Content sind Wikis. Sie können in vielfältiger Weise im pädagogischen Alltag eingesetzt werden. Beispielhaft möchte ich auf das Wiki des Regiomontanus Gymnasiums in Haßfurt hinweisen.2 Da ich mich an anderer Stelle ausführlich mit Wikis beschäftigt, richte ich hier mein Augenmerk auf die Potenziale von Weblogs.3 Weblogs lassen sich ebenfalls als Forum zur Erstellung und Publikation von Inhalten einsetzen. Sie sind besonders gut geeignet, wenn es darum geht Inhalte so einfach wie möglich zu erstellen. Im Vergleich zu Content Management Systemen (CMS) gibt es den Nachteil, dass nur Verknüpfungmöglichkeiten über Hyperlinks oder die Trackback-Funktion möglich sind. Ansonsten kann ein Weblog nach Themen (Kategorie) und Datum strukturiert werden. Eine besondere Bedeutung erhalten die Weblogs durch die Feedback-Funktion. Weblogs begünstigen den Sinnbezug der Lernenden: „Weblogs sind ein ideales Werkzeug dafür, wenn Lernen weniger als Weitergabe von kodifiziertem Wissen und mehr als Konversation und Bedeutungsstiftung der Lernenden verstanden wird (Stangl 2005). Content wird nach meinen Erfahrungen wesentlich schneller in Weblogs produziert. Während die Studierenden bei dem Wikiprojekt vergleichbar einer Hausarbeit und/oder einem Referat agieren, d.h. sich genau überlegten, welche Inhalte ins Wiki hineinkommen, entstehen bei Weblogs die Texte oder die Kommentare zu gefundenen Seiten schneller und spontaner. Die Bereitschaft und Befähigung zur Kollaboration ist besser als bei Wikis. Lernende, die eine Struktur benötigen, um Wissen zu prozessieren, haben allerdings bei Weblogs Schwierigkeiten. Im Bildungskontext bieten sich Weblogs vor allem zur Dokumentation und als Plattform für die Ergebnispräsentation an. Im Weblog können Diskussionsergebnisse aus Kleingruppen publiziert werden. Die Lernenden können auf diese Texte durch die Kommentarfunktion reagieren. Ebenso kann ein Weblog als persönliches oder gemeinschaftlich genutztes Lerntagebuch fungieren. Dadurch kann den Lernenden der jeweilige Lernfortschritt bewusst gemacht werden. Das 2 3
http://www.gfx-toxic.de/share/wiki/index.php/Hauptseite Röll (2008): Konzepte in der Jugendarbeit - Selbstgesteuertes Lernen mit Wiki. In: Jürgen Ertelt/Franz Josef Röll (Hrsg.): Web 2.0 – Jugend online als pädagogische Herausforderung. München 2008.
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individuelle Lern- und Schreibverhalten der Lernenden kann dokumentiert und reflektiert werden. Ebenso sind Weblogs ideal geeignet für Projekttagebücher. Wenn Projektgruppen arbeitsteilig arbeiten, können die jeweiligen Ergebnisse und der Stand der Arbeiten von allen verfolgt werden. Es können Nachfragen gestellt und bei Bedarf kann Hilfestellung gegeben werden. 6.2 Fragmentarisches Lernen Fragmentierte Kommunikation ist typisch für die mobile Gesellschaft des 21. Jahrhunderts. Im Internet wird informell Wissen aus vielen, verstreuten Informationsfragmenten aufgebaut. Typisch für diese Kommunikationskultur können Email, SMS und Chat gelten. Lernszenarien und Bildungsprozesse verändern sich kontinuierlich. Wesentliche Teile des Erwerbs von informellem Wissen werden über Kommunikationsprozesse erzielt, die sich als Mikro-Kommunikationsformen bezeichnen lassen. Sinnvoll scheint es daher zu sein, die Dynamik der mobilen Gesellschaft bei der Entwicklung und Konzeption von Lernprozessen einzubinden und pädagogisch zu nutzen, wie dies z.B. die europäische Akademie für Microlearning macht.4 Die Lernschritte sind beim Mikrolernen kurz, daher sind die Lerneinheiten klein und überschaubar. Episoden, Fragmente und kleine Elemente sind die Ausdrucksformen. Mikrolernen bedeutet Lernen in kleinen Schritten und mit direktem Feedback. Die Aufgabe der Pädagogen ist es, ein didaktisches Design zu entwickeln (Lernumgebung), das es ermöglicht mit verstreuten digitalen Informationsfragmenten, selbstgesteuerte Lernprozess zu initiieren. Beispielhaft möchte ich eine Methode vorstellen. Ursprünglich und eigentlich werden Storyboards zur Visualisierung von Drehbüchern und zur Planung einzelner Filmszenen in Form von Skizzen eingesetzt (vor dem eigentlichen Drehbeginn). Ein Storyboard ist somit eine sequenzielle Bilderfolge, die die Einstellungen eines Filmes oder einer MultimediaProduktion visualisiert. Handlungsverläufe werden bildlich dargestellt. Das Storyboard ist ablauforientiert und vermittelt so einen ersten Eindruck für die spätere Umsetzung. Das Storyboard dient zur Denk- und Planungshilfe. Es hat die Funktion eines roten Fadens, der durch die Handlung führt. Das Storyboard dient vor allem zur thematischen Strukturierung von Beiträgen. Es ist eine hervorragende Technik zur Visualisierung von Ideen. Es kann daher auch als Kommunikationsmittel genutzt werden, um Gedanken visuell mitzuteilen und um Projektoder Produktionsteams eine Arbeitsgrundlage zu liefern. Projektvorhaben kön4
Die Europäische Akademie für Mikrolernen hat sich zur Aufgabe gestellt, Forschungsergebnisse und best-practice Beispiele einem breiten Publikum zugänglich zu machen http://www. eamil.org/mediawiki/index.php/Main_Page
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nen konkretisiert und verbindliche Vorgaben der Realisation für alle Beteiligten gemacht werden.5 Im Mittelpunkt der Methode des Storytelling steht das Ziel, durch Erzählen und Zuhören ‘Wissen‘ aufzubauen. Vor allem im englischen Sprachraum ist diese Methode verbreitet. Beim Storytelling ist ein wesentliches Prinzip, die Zuhörerinnen und Zuhörer in die Geschichte einzubeziehen. Die Geschichte wird nicht nur ‘gehört‘ sondern auch ‘erlebt‘. Hierbei kann Lernerfolg und emotionales Wohlbefinden miteinander verbunden werden. Dies dient dann als Brücke, um nachhaltiges Wissen aufzubauen. Von Geschichten (Stories) ging schon immer eine große Faszination aus. Geschichten liefern seit dem Beginn der Menschheit Vorstellungen zur Erklärung der Welt, bieten Alternativen zur Bewältigung von Alltagsproblemen, machen Angebote zur Identifikation oder vermitteln auf unterhaltsame Weise Lebensweisheiten. Mit Hilfe von Geschichten kann die eigene Lebensumwelt besser verstanden und der persönliche Horizont erweitert werden. Meist wird Storytelling für das Erzählen von Geschichten im Englischunterricht verwendet. Das Zuhören, Verstehen, soziales Handeln und die sprachliche Kompetenz kann verbessert werden.6 Kinder und Jugendliche wachsen in einer Kultur auf, die von Computerspielen geprägt ist, bei der es nicht nur um motorische Geschicklichkeit geht, sondern auch um komplexe Rollenspiele. Ihre Lerner-Rolle bleibt davon nicht unberührt. Diese im informellen Lernprozess erworbenen spielerischen Muster können für das Lernen eingesetzt werden können. Mit Hilfe von bildhaften Ausdrucksformen und interaktiven Rollenspielen können deren Erfahrungen mit digitalen Geschichten produktiv eingebunden werden. Dies wird Game Based Learning genannt. Game Based Learning beschreibt die Anwendung von Spielen mit dem Zweck des Lernens mittels digitaler Medien.7 Pivec/Koubek/Dondi (2004) haben an der FH Graz ein Spiel mit dem Titel UniGame entwickelt. Gelungenes spielorientiertes Lernen verknüpfen sie mit folgenden Kriterien:
Informationssuche, Erkennbarkeit der wesentlichen Informationen, Entwicklung einer Verhandlungsstrategie,
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Weitergehende Informationen sind unter folgenden Webseiten zu finden: http://incompetech. com/beta/linedGraphPaper/ storyboard.html und http://www.lehrer-online.de/dyn/bin/359304-360532-1-verona_arbeitsmaterial-storyboard.jpg Weitergehende Informationen sind unter folgenden Webseiten zu finden: http://de.wikipedia. org/wiki/Storytelling, http://www.storyarts.org Weitere Informationen zum Konzept Game Based Learning ist folgenden Webseiten zu entnehmen: http://www.e-teaching.org/didaktik/konzeption/methoden/lernspiele/ game_based _learning/, http://www.e-learningcentre.co.uk/eclipse/Resources/games.htm, http://www. educational-gaming.de/
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Austausch divergierender Argumente, Einfluss auf Entscheidungsprozesse.
Als Beispiel für Game based learning kann die Wirtschaftssimulation TopSIMBasic aufgeführt werden.8 Der Spieler hat trotz interner und externer Störeinflüsse ein Unternehmen mit Weitblick zu führen. Bei dem „Spiel“ Environmental Detectives untersucht ein Forscherteam die Quelle einer gesundheitlichen Bedrohung für eine Stadt. Gleichzeitig vermittelt sie dabei sowohl biochemische Kenntnisse als auch wissenschaftliche Arbeitsweisen.9 6.3 Vom Mindmap zum semantischen Informationsmanagement Mindmaps basieren auf dem Prinzip der Visualisierung von Gedanken. Ausgehend von freien Assoziationen werden Begriffe zueinander in Beziehung gesetzt. Mit Mindmaps kann die individuelle Verknüpfung von Gedächtnisinhalten sichtbar gemacht werden. Sie bilden somit einen idealen Einstieg in die Bearbeitung eines neuen Themas. Inzwischen gibt es mit MindManager (Mindjet) eine kommerzielle Software zur Erstellung von Mindmaps.10 Aufgrund der intuitiv zu bedienenden Benutzeroberfläche lassen sich Inhalte und Zusammenhänge einfach darstellen, Ideen können spielerisch ausgearbeitet, Planungsprozesse Schritt für Schritt nachvollziehbar gemacht werden. MindManager bietet ganz unterschiedliche Funktionen zur Visualisierung bzw. optischen Verankerung von MindmapInhalten, so z.B. Text- und Zweigformatierungen, Icons, Beschriftungen oder Grafiken. Ebenso ist es möglich Hyperlinks und freie Anmerkungen zu den Zweigen hinzufügen. Der Präsentations-Modus erlaubt eine optimale Darstellung der Maps. Der MindManager ist ein einfaches Mittel zur Dokumentation und Besprechung strategischer Überlegungen. Er ist ein ideale Arbeitsoberfläche für die Selbstorganisation und gut geeignet für die Teamarbeit. Darüber hinaus gibt es die Möglichkeit mit dem Brainstorming-Modus Ideen besonders schnell einzugeben. MindManager als visuelles Whiteboard fördert die schnelle, einfache und unbegrenzte Erfassung von Ideen, Daten und Informationen. Zusammenhänge können sofort erkannt und Ideen flexibel geändert werden. Multi-Maps erlauben die gemeinsame Darstellung unterschiedlicher Mindmaps, die mit Hyperlinks 8 9 10
http://www.topsim.com/de/planspiele/ http://www.educationarcade.org/gtt/Handheld/Intro.htm und http://education.mit.edu/ar/ed. html http://www.mindjet.com/de/. Als nichtkommerzielle Alternative von Mindmaps ist FreeMind zu empfehlen (http://freemind.softonic.de/)
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miteinander verknüpft sind. Informationen können zielgruppengerecht präsentiert, neue Inputs jederzeit eingearbeitet werden. Die Weiterentwicklung des Mindmap-Konzept heisst OpenMind. Diese Software steht für die nächste Softwaregeneration zum Aufnehmen, Organisieren, Weitergeben und Präsentieren von Information. Es können komplexe Zusammenhänge einfach grafisch dargestellt und damit das Verständnis dafür gefördert werden. Es ist möglich, effizienter zu planen und Ideen schneller in Aktionen umzusetzen. Basierend auf dem erprobten visuellen Mapping-System, fördert OpenMind die Kreativität, klärt das Denken und erleichtert das Treffen von Entscheidungen und das Lösen von Problemen.11 Wenn wenig Zeit zur Verfügung steht, können so genannte WebQuests helfen, die Lernenden in eine forschende Position zu versetzen. Bei dieser Methode [gestellte Aufgaben werden vor allem mit Hilfe von unterschiedlichen Quellen (u.a. Internet)] wird das handlungsorientierte und autonome Lernen gefördert. Es handelt sich um ein entdeckendes Lernen. Die aktiv-konstruktive Auseinandersetzung mit den Inhalten hilft metakognitive Denkstrukturen aufzubauen. Zu den jeweiligen Themen werden von den PädagogInnen unterschiedliche Rechercheorte vorbereitet. 6.4 Vom Zeugnis zum Lernprozessbegleiter Die Leistungen der Web 2.0 Generation lässt sich nicht in Noten abbilden. Es bedarf einer komplexeren Darstellung der im Verlauf von Lernprozessen erworbenen Fähigkeiten. Portfolios scheinen wesentlich besser geeignet zu sein. Portfolios wurden bisher für Werkmappen oder Projektdokumentationen eingesetzt. Als elektronischer Lernprozessbegleiter könnten sie dazu dienen die unterschiedlichen Fähigkeiten der Schülerinnen und Schüler angemessener abzubilden. ePortfolios werden bereits in verschiedenen Projekten erprobt.12 Eingesetzt werden sie u.a. als: x x x x x 11 12
elektronische Sammelmappen, die ähnlich wie Blogs strukturiert sind, eine Auswahl persönlicher Dokumente, die den eigenen Entwicklungsstand, repräsentieren, aber auch die persönlichen Lernprozesse reflektieren, Reflektion der eigenen Arbeiten, eine Sammlung von Wissensdokumenten, ‘virtuelle‘ Sammlungen als eine Form von Leistungsvorlage,
http://www.matchware.com/ge/products/openmind/default.htm http://www.eportfolio-hessen.de/ und www.eportfolio.at
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Methode für selbstgesteuertes Lernen, ein digitales Lernwerkzeug.
Schülerinnen und Schüler erlernen mit dem ePortfolio das Reflektieren und Präsentieren des Gelernten (Reflexions- und Präsentationskompetenz). Zusätzlich wird die Fähigkeit des konstruktiven und produktiven Umgangs mit neuen Medien geschult (Medienkompetenz). Individualisierte und binnendifferenzierte Lernarrangements sind möglich. Bei der Portfoliomethode von Hilzensauer/ Hornung-Prähauser (2005) wird zuerst die Zielsetzung geklärt und der Kontext für die digitale Portfolioarbeit festgelegt. Danach werden Artefakte mit Lernziel gesammelt, ausgewählt und verknüpft. Anschließend folgt ein Reflexionsprozess, der zugleich den Lernprozess steuert. Danach werden die ePortfolio Artefakte präsentiert und weitergegeben (kommuniziert). Zum Schluss folgen eine Bewertung und die Evaluation der Lernprozesse, um den Kompetenzaufbau zu verdeutlichen. Mittelfristig könnten ePortfolios die bisherige Notengebung ablösen. Die bzw. der Lernende stellt selbstständig eine Auswahl verschiedener Arbeiten zusammen, Diese Arbeiten stehen in Bezug zu einem Lernziel. Die Erstellung und Bearbeitung des Lernziels ist selbst organisiert. Die erzielten Produkte (Lernergebnisse) und der Prozess der Erarbeitung (Lernpfad/Wachstum) werden dokumentiert und belegen die Kompetenzentwicklung. Webbasierte Lernmöglichkeiten und aktuelle Publizierungswerkzeuge im Internet ermöglichen die Speicherung, Vernetzung und die permanente Weiterverarbeitung und gewährleisten zugleich eine flexible Nutzung für unterschiedliche Darstellungsmethoden. 7
Ausblick: Extended Blended Learning
Die Mehrzahl der E-Learning-Kurse geht von einem linearen Konzept aus. Ausgehend von einer Problemstellung sind Aufgaben zu bewältigen. Nach Bewältigung des Stoffes kann der Wissensstand überprüft werden. Durch asynchrone (Foren, E-mails) und synchrone Kommunikationsformen (Chats, Audiokonferenzen und Whiteboard-Kommunikation) werden interaktive Kommunikationsformen integriert. Die den E-Learning-Modulen zu Grunde liegende Lernphilosophie basiert auf dem Behaviorismus. Bei diesem Verständnis geht es vorwiegend um das Antrainieren von Faktenwissen als Verhaltenskompetenz. Statt Fähigkeiten auszubilden, werden Gedächtnisleistungen gefordert. Lernungewohnte lassen sich durch reine E-Learning-Kurse auch bei Integration von synchronen Kommunikationsangeboten selten ansprechen.
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Eine höhere Akzeptanz erhält E-Learning wenn Präsenzphasen, so genanntes face-to-face-Lernen (f2f-L), integriert werden. Mit f2f-L kann auf den Bedarf nach Reflexion, sozialer Eingebundenheit und kommunikativer Erfahrung angemessen reagiert werden. Die Kombination zwischen E-Learning und Präsenzphasen wird Blended Learning genannt. Blended Learning wird der Komplexität von Lernprozessen wesentlich besser gerecht als die „reinen“ E-LearningAngebote. Das Blended Learning Konzept basiert aber auch in der Regel auf der Idee des Kurskonzeptes. Meist ist kein didaktisches Konzept erkennbar, was genau in den Phasen der Präsenzlehre gemacht werden sollte. Oft gibt es keinen Unterschied zwischen dem Lernstoff, der per E-Learning (e-L) vermittelt und dem Lernstoff, der in der Präsenzlehre vermittelt wird (f2f-L). Bei unserem Konzept werden die kognitiven Wissensbausteine über E-Learning vermittelt, während beim f2f-L die Reflexion, die Kontextualisierung des Lernstoffes, die soziale Dimension, die Methodenvermittlung und das Lernen des Lernens im Vordergrund stehen. Die Projektgruppe Atlantis Universität13 der Hochschule Darmstadt hält es darüber hinaus für notwendig, das traditionelle Blended Learning Konzept um den Aspekt des projektbasierten Lernens zu erweitern (Bleimann/Röll 2006). Werden projektorientierte Lernphasen (pro-L) einbezogen, ist es besser möglich, der hohen Komplexität divergierender Lernsituationen gerecht zu werden. Die extended version von Blended Learning bedeutete somit die Integration von projekt- bzw. goal-based-orientiertem Lernen. Beim goal-based-orientierten Lernen14 steht die Bewältigung einer realen Aufgabe im Vordergrund. Es gibt keinen pädagogischen Schonraum. Es werden kreative Denkprozesse ausgelöst und der Lernende löst, ausgehend von seiner Lernpräferenz, eine projektbezogene Zielaufgabe. Die Bewältigung von Aufgaben begünstigt die intrinsische Motivation und fördert das Denken in Zusammenhängen. Das führt zu einem erheblichen Kompetenzzuwachs und kreativer Selbstwahrnehmung. Der Lernende wird aktiv in ein simuliertes Geschehen einbezogen. Beim Modell von Schank wählen werden die Lernenden mit einem Inhalt konfrontiert, den der Lehrende auswählt. Das Paradigma des Lernens wird durch die Zielvorgabe und gegebenenfalls mittels erarbeiteter oder vorgegebener Szenarien beeinflusst, aber nicht so stringent wie bei Modellen, bei denen es um das Beherrschen von Lerninhalten geht. Die Zielorientierung kann sehr variabel gehandhabt werden. Die Lehrenden können verschiedene Ziele entwerfen, um 13
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Diese Projektgruppe wird von meinem Kollegen Udo Bleimann vom Fachbereich Informatik koordiniert. Neben dem Fachbereich Informatik, dem Institut für grafische Datenverarbeitung arbeiten KollegInnen und StudentInnen aus den Fachbereichen Media, Gestaltung, Informations- und Wissensmanagement und Sozialpädagogik in dieser Arbeitsgruppe miteinander. Der Begriff und die Grundidee des goal-based-Konzeptes wurde von Schank (1992) geprägt.
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Anfängern mit unterschiedlichen Interessen zu helfen, die gleichen Fähigkeiten zu erwerben. Es hat sich nach meinen Erfahrungen aber auch als sinnvoll erwiesen, den Lernenden die Entscheidung selbst zu überlassen. Nach meinem Modell können sie ihre Ziele für das Erwerben der gewünschten Fähigkeiten selbstständig festlegen. GBS sind auf ein konkretes produktives Lernziel gerichtet. Die Zielaufgabe wird in einen situativen Kontext gestellt, die somit sowohl den Erwerb von Wissen impliziert als auch konkrete Fertigkeiten vermittelt. Die Lernenden müssen eine Aufgabe innerhalb eines authentischen Kontextes bewältigen. Ein wesentlicher Aspekt ist, dass die Lernenden das Thema bzw. das Ziel interessant finden. Zum Bearbeiten der Aufgaben werden umfangreiche Materialien zur Verfügung gestellt. Die zu lernenden Fähigkeiten werden bei der Lösung der Aufgabe erworben, bei einer Tätigkeit oder dem angestrebten Ziel. Für die beim GBS zu bewältigenden Aufgaben werden Komponenten (Materialien) zur Verfügung gestellt, die das Interesse des Lernenden wecken sollen. Im Zentrum des Lernens steht ein Ziel (Goal). Dieses Ziel kann nur erreicht werden, wenn der Lernende sich Fertigkeiten (Skills) erwirbt. Mit diesen Fähigkeiten gelingt es, die ZielAufgabe zu bewältigen.
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Theo Hug
Mikrolernen – konzeptionelle Überlegungen und Anwendungsbeispiele
Ausgehend von einigen Überlegungen zu aktuellen Medienrelevanzbekundungen und Technologieversprechungen wird im vorliegenden Beitrag Mikrolernen als relationales Konzept vorgestellt. Weiters werden Möglichkeiten der Didaktisierung anhand von Versionen und Varianten der Fokussierung von MikroDimensionen im Lernprozess aufgezeigt. Anwendungsbeispiele verdeutlichen die Unterstützung individueller und sozialer Formen des Wissensaufbaus. Abschließend wird für Didaktiken des Mikrolernens und Formen bricolierender Bildung votiert, die auf der Gestaltung von Erwägungskulturen und mittlere Wege zwischen Stegreif-Orientierungen und „gesichertem Planungswissen“ basieren. 1
Ausgangsüberlegungen
In alltagsweltlichen, politischen, ökonomischen und wissenschaftlichen Diskursen wird unisono konstatiert, dass die Medien zunehmend bedeutsam geworden sind. Ausdrücke wie Medien-, Informations-, Kommunikations- und Wissensgesellschaft nehmen in Gesellschaftsbeschreibungen und Zeitdiagnosen einen besonderen Stellenwert ein. Dabei wird in aller Regel zugestanden, dass die Medien eine bedenkenswerte Rolle in den Prozessen des Aufwachsens und Lernens, der Entwicklung von Identitäten, Wertorientierungen und Alltagsästhetiken oder bei der Gestaltung von Selbst- und Weltbezügen spielen. Kurzum: Dass Medien an der Schaffung von Wirklichkeiten und an der Gestaltung von Kommunikationsprozessen beteiligt und als Instanz der Sozialisation zu berücksichtigen sind, steht heute außer Zweifel. In diesem allgemeinen Sinne werden ihnen durchaus konstruktive Züge zugestanden, und zwar auch und gerade dann, wenn die medialen Einflüsse und Wirkungen als destruktiv beurteilt werden. Wenn es aber darum geht, wie diese Rolle zu modellieren und zu gewichten ist, wie die Perspektiven im Zusammenhang von Fragen des Lernens und der
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Bildung spezifiziert werden können und inwiefern eine Berücksichtigung der Medien als Sozialisationsinstanz angemessen ist, dann scheiden sich die Geister. Nicht nur in konzeptioneller Hinsicht oder im Hinblick auf Reichweiten und Charakteristika von Konstruktivität und Medialität sind höchst unterschiedliche Auffassungen anzutreffen. Wir finden auch in anwendungsbezogenen Kontexten ein breites Spektrum von Initiativen, wobei vor allem mit den „e-Themen“ und „e-Aktivitäten“ vielerorts große Hoffnungen auf technologische Lösungen sozialer, gesundheitlicher sowie lern- und bildungsbezogener Probleme aller Art in demographisch sich ändernden Gesellschaften verknüpft werden. Aber selbst die gelingenden Beispiele sozio- und lerntechnologischer Lösungsansätze können über eines nicht hinwegtäuschen: In der Geschichte technologischer Entwicklungen und deren Nutzung gibt es vermutlich kein zweites Beispiel, das ähnlich vielfältige Verheißungspotenziale wie die digitalen Informations- und Kommunikationstechnologien aufweist. Das Reservoir der IKTVersprechungen scheint noch lange nicht ausgeschöpft zu sein, und der Grad der erfahrenen Leere der Versprechungen scheint die massenhafte Bereitschaft sich auf immer neue Versprechungen einzulassen kaum zu mindern. „Jetzt ist es soweit: Mit Web 2.0 und m-learning wird das möglich, was mit E-Learning anvisiert war“, tönt es allenthalben, während das Web 3.0 schon in der Pipeline auftaucht, bevor das Semantic Web „real“ geworden ist. Wie immer man die Web 2.0-Euphorien beurteilen mag, E-Learning hat im Großen und Ganzen als Hoffnungsträger für pädagogisch oder sozial-kritisch motivierte Reformen und Veränderungsprozesse ausgedient. Am meisten profitiert haben die Soft- und Hardwareindustrien sowie die Verwaltungsbürokratien, die vielerorts neue Zwänge geschaffen und Prozesse der „Blackboardisierung“1 vorangebracht haben. Freilich können auch gelingende und kostengünstige Beispiele von E-Learningearning-Anwendungen angeführt werden (Bsp. Webquest). Insgesamt aber erinnern die wenigen didaktisch motivierten Förderprogramme auf nationaler und internationaler Ebene in Relation zu den Technologieförderprogrammen eher an die halbherzige Unterstützung der Einrichtung einiger Waldlehrpfade in Relation zu den Ausgaben für den Bau von Autobahnen und Bahnstrecken. Ein Vergleich mit den Ausgaben für fragwürdige Maßnahmen in den Bereichen Sicherheitspolitik und Militär würde noch ernüchternder ausfallen. 1
Damit ist jenes problematische Bündel von Dynamiken der Normierung didaktischer Arrangements, der Reduktion von Optionen mediengestützter Lehr-/Lernprozesse auf den Funktionshorizont einer proprietären Software, der Favorisierung technologiegetriebener Entwicklungen, der Herstellung von Unbildung als Normalität (vgl. Liessmann 2006), der Trivialisierung von Prozessen der Wissens- und Kompetenzerwerbs und der Verbreitung von Regressionszumutungen für (hochschul-)didaktisch interessierte WissenschaftlerInnen und e-LearningExpertInnen gemeint, das an etlichen Universitäten und Hochschulen wirksam werden konnte.
Mikrolernen – konzeptionelle Überlegungen und Anwendungsbeispiele
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Die schwierigen ökonomischen Bedingungen tragen nicht zur Überwindung von „educational lags“ bei, erst recht nicht in Zeiten internationaler Finanzkrisen. Hinzu kommt die Spannung zwischen Medien-Desiderata im Diskurs der Allgemeinen Pädagogik und der Kernfrage, wie pädagogische Grundvorgänge unter den Bedingungen medialisierter Lebenswelten modelliert, gestaltet und reflektiert werden können. Eine Perspektive für brauchbare Antworten bietet das Konzept des Mikrolernens, das hier vorgestellt wird. Dabei wird für ein Verständnis bricolierender Bildung votiert, das Bildung als Medienbildung versteht und diese weder auf Qualifizierung noch auf Kompetenzerwerb reduziert. 2
Mobile Kommunikation, Web 2.0 und Micromedia
Wie immer wir den Zusammenhang von Megatrends der Digitalisierung, Individualisierung, Globalisierung und der Mobilität modellieren oder einzelne Trends gewichten, die Technisierung der Welt in Form von Digitalisierungsprozessen hat Ausmaße erreicht, die wissenschaftlichen und gesellschaftlichen „Fortschritt“ mitunter als automatisch ablaufenden, zweckfreien Prozess erscheinen lassen. Aber auch wenn wir der These vom Verschwinden der Zwecke zugunsten einer universellen Techno-Logik der Mittel skeptisch gegenüber stehen, sollten wir die Digitalisierungs- und Medialisierungsprozesse nicht unterschätzen. Sie sollten auch dann ernst genommen werden, wenn wir von einem Zusammenspiel von Entwicklungsdynamiken (vgl. Rusch 2007) und von einer relativen Bedeutung technologiegetriebener Prozesse ausgehen. Dies lässt sich am Beispiel mobiler Kommunikation leicht verdeutlichen. Hier kommen gewissermaßen alle genannten und auch weitere Megatrends zusammen, wobei die Bedeutung der Mobilität oft insofern verkürzt verstanden wird, als lediglich geografische oder (über-)regionale und nicht auch soziale, kulturelle oder kognitive Mobilität gemeint ist. Abgesehen von den InternetDiensten haben an der Schwelle zum 21. Jahrhundert keine anderen Informations- und Kommunikationstechnologien so intensive Entwicklungsdynamiken erfahren wie die mobilen Kommunikationsmedien und -dienste. Das Interesse an diesen Kommunikationstechnologien hat zwar in neuerer Zeit erheblich zugenommen, die einschlägige wissenschaftliche Forschung ist aber zumindest im deutschen Sprachraum noch relativ wenig entwickelt, und es liegen kaum wissenschaftlich fundierte Aussagen über alltagsweltliche Nutzungszusammenhänge, Potenziale der Demokratiepolitik und der Überwindung von digital-divideDynamiken, individuelles und kollektives Proximitätsmanagement (NäheDistanz-Verhältnisse), Aspekte der Mediensozialisation (Bsp. Rezeptionsästhetik, Prozesse der Identitätsbildung oder Ludifikation) oder Sozialraumdynamiken (Bsp. Gemeinschaftsbildung, Öffentlichkeit und Privatheit) vor.
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Diese Situation dürfte sich schnell ändern, zumindest was die anwendungsorientierten und ökonomisch motivierten Bestrebungen betrifft. Dafür sprechen nicht zuletzt Buchtitel wie „Mobile Web 2.0: The Innovator’s Guide to Developing and Marketing Next Generation Wireless/Mobile Applications” (Jaokar/Fish 2006) oder „Next Generation Wireless Applications: Creating Mobile Applications in a Web 2.0 and Mobile 2.0 World“ (Golding 2008). Die Titel machen deutlich, dass es hier vor allem um marktnahe Konzepte und Überlegungen geht, wobei bis dato die Darstellungsmodi der Form „2.0“ in Anlehnung an Versionierungsroutinen aus der Softwarebranche teilweise irreführend sind. Die Integration des sogenannten „Mitmach-Web“ mit mobilen Anwendungen ist derzeit noch nicht soweit entwickelt, dass von einer massenhaften Verbreitung neuer Geschäftsmodelle gesprochen werden kann. Vielmehr wird fieberhaft nach neuen Geschäftsmodellen gesucht, wobei die Rede von kollektiver Intelligenz, „swarm effects“ oder sozialen Netzwerken eher an altbekannte Motive erinnert. Dies zeigt sich beispielsweise an der Metaphorik, die O’Reilly (2005) in seiner Web 2.0-Charakterisierung verwendet: „If an essential part of Web 2.0 is harnessing collective intelligence, turning the web into a kind of global brain, the blogosphere is the equivalent of constant mental chatter in the forebrain, the voice we hear in all of our heads.” (O’Reilly 2005)
Wie aber Tiziana Terranova (2007) gezeigt hat, mutet die gehäufte Verwendung des Ausdrucks „harnessing”2 im Text von O’Reilly angesichts von Web 2.0Slogans wie „user generated content“, „user control“ oder freie Nutzung von Internetdiensten für alle eher seltsam an. Analoges gilt im Hinblick auf mobile Applikationen. Auch hier stellt sich die Frage nach der Gestaltung neuer Anwendungen sowie deren sozialen, politischen und ökonomischen Implikationen. In diesem Zusammenhang stellen die Prozesse der Veränderung in der Medienindustrie und Fragmentierung von Zielgruppen und Publika wie auch des Wissens und Medienlandschaften eine Herausforderung dar. Eines der häufig verwendeten Stichworte für zukunftsorientierte Lösungen ist dabei „micro“ (vgl. microcontent, microlearning, micromedia, etc.). Die Tragweite dieser „micro“-Entwicklungen wird gerne unterschätzt wie auch die Bedingungen der „micromedia“-Produktion. Umair Haque (2005) nennt einige Bedingungen, auf die insbesondere bei mobilen Anwendungen zu achten ist: „Micromedia is media produced by prosumers (or amateurs; sometimes, it’s called ‘consumer-generated content’). Micromedia differs fundamentally from mass media. 2
Auf Deutsch „vorspannen, anschirren, sich etwas zu Nutze machen“.
Mikrolernen – konzeptionelle Überlegungen und Anwendungsbeispiele
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First, it’s usually microchunked. Second, because it’s microchunked, it’s plastic. Third, micromedia is liquid: prosumers can trade info about it via ratings, reviews, tags, comments, playlists, or a plethora of others. These are also micromedia; micromedia whose economic value lies in its complementarity with other micromedia.” (Haque 2005)
Fragen der mobilen Kommunikation sind freilich nicht auf marktnahe Überlegungen beschränkt. Ganz im Gegenteil, in diesem neuen Zweig der Medien- und Kommunikationsforschung geht es u .a. um folgende Fragestellungen: x x x x x x x
Welche sozialen Gruppen sind in welcher Weise in mobile Kommunikationsnetze integriert und warum? Welche symbolischen Bedeutungen haben die mobilen Kommunikationsmittel für ihre NutzerInnen? Wie werden Fragen des Vertrauens sowie bei der Herstellung von Öffentlichkeiten und Nähe-Distanz-Verhältnissen mit mobilen devices neu geregelt („proper distance“)? Welche neuen Gestaltungsräume entstehen für Lern- und Bildungszwecke? Wie wird das Zusammenspiel unterschiedlicher Kommunikationsformen gestaltet und welche Funktionen hat dabei die mobile Kommunikation? Welche Rolle spielen mobile Anwendungen im Kontext sozialer Mobilität, politischer Institutionen oder bei der Organisation sozialer Proteste (Bsp. „just-in-time-democracy“)? Welche Bedeutung hat die mobile Kommunikation im Hinblick auf Digital-Divide-Dynamiken?
Erste Antworten und zukunftsweisende Fragestellungen finden sich beispielsweise in den Sammelwerken von Nyíri (2003a) und Katz (2008). Im vorliegenden Beitrag ist das Augenmerk auf mobile Mikrolernanwendungen und neue Optionen bricolierender Bildung gerichtet. 3
m-Learning und Microlearning
Ob und inwieweit m-Learning als neuer Hoffnungsträger fungieren kann, hängt nicht zuletzt davon ab, was wir darunter verstehen wollen. Was ist mit „mLearning“ gemeint und was mit „Microlearning“? Ähnlich wie bei E-Learningearning überwiegen auch bei m-Learning technologiegetriebene Verständnisse. So beantwortet etwa Agnes Kukulska-Hulme
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(2005) die Frage „What is mobile learning?“ mit Fokus auf physische Mobilität und mobile Technologien: „What is new in ‚mobile learning’ comes from the possibilities opened up by portable, lightweight devices that are sometimes small enough to fit in a pocket or in the palm of the one’s hand. Typical examples are mobile phones […], smartphones, palmtops and handheld computers […]; Tablet PC’s, laptop computers and personal media players can also fall within its scope.” (Kukulska-Hulme 2005: 1)
Ohne Zweifel spielt die Multifunktionalität und Leistungsfähigkeit mobiler Technologien und insbesondere auch die Konvergenz und zunehmende Verfügbarkeit von Diensten eine wichtige Rolle. Angesichts der vielen anderen relevanten Dimensionen erscheint jedoch eine erweiterte Perspektive angezeigt, die die Gestaltungs- und Nutzungszusammenhänge und nicht alleine oder in erster Linie die technischen Aspekte derselben in den Blick bekommt. Diese Zusammenhänge beziehen sich beispielsweise auf x x x x x
verschiedene Aspekte und Ebenen von Mobilität und deren Zusammenwirken (Bsp. sozial, kognitiv, konzeptuell, raum-zeitlich, technologisch) Modalitäten der Aneignung sowie der Habitus-, Gemeinschafts- und Identitätsbildung cross-over Dynamiken inhaltlicher, didaktischer und technologischer Art (einschließlich kontextübergreifender Aspekte) die Relation formeller und informeller Dimensionen neue Chancen und Bedeutungen von ‘anytime’, ‘anywhere’ oder ‘justin-time’.
Es geht also beim mobile learning nicht alleine um die „Übertragung von content“ mittels mobiler Devices und dergleichen, sondern vielmehr um die Befähigung zur Aneignung und Entwicklung jenes Wissens, das für erfolgreiches Handeln in veränderlichen Lagen und Kontexten sowie in sich wandelnden Lernräumen erforderlich ist. Die Vielfalt der Aspekte, die dabei zu berücksichtigen sind, und ihre Komplexität sind mit primär technologisch orientierten Ansätzen nicht angemessen zu bewältigen. Sie legen mehrperspektivische Zugriffe (vgl. Nyíri 2003b, Pachler 2007) oder etwa einen kultur-ökologischen Ansatz nahe, wie er von Norbert Pachler et al (2008) entwickelt wird.3 3
Einen Überblick über Projektaktivitäten auf EU-Ebene bietet Gussenstätter (2005), eine Fülle von Projekten und Einzelaktivitäten ist in der „kaleidoscope mobile learning initiative“ vernetzt (s. http://mlearning.noe-kaleidoscope.org/).
Mikrolernen – konzeptionelle Überlegungen und Anwendungsbeispiele
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Was die erwähnte Vielfalt der Aspekte betrifft, so haben Gunther Kress und Norbert Pachler unter dem Titel „Thinking About the ‘m’ in Mobile Learning“ (2007) eine Fülle von Anregungen zusammengetragen. Dabei fungieren die Stichworte Flexibilität und Portabilität, Multifunktionalität, Multimodalität, Nonlinearität, Interaktivität und kommunikatives Potenzial, sowie MetaKollaboration, Virtualität und Hyperrealität als Ankerpunkte für ihre Überlegungen (Kress/Pachler 2007: 142-144). Die erweiterten Perspektiven des m-Learning, die sich im Lichte dieser Anregungen ergeben, lassen sich nur dann sinnvoll als Teilaspekte des ELearningearning behandeln, wenn auch letzteres unter den Auspizien von Lernkultur und Lerntheorie, Theorie der Mediensozialisation und Medienkompetenz, Didaktik und Bildungstheorie sowie Kommunikationstheorie und Kultursemiotik und jedenfalls nicht primär unter technologischen Auspizien behandelt wird. Eine entsprechende Akzentverschiebung und alternative Fokussierung zu den verbreiteten technologischen Orientierungen bietet auch das Stichwort „microlearning“. Microlearning ist eine Sammelbezeichnung für verschiedene informelle Lernaktivitäten im Kontext von Social Software Anwendungen, inzidentelles Lernen mit digitalen Medien, mechanistisches Lernen mit „Lernobjekten“, SMSAnwendungen, etc. Im weitesten Sinne kann Microlearning als „Lernen mit Microcontent“ verstanden werden, als Lernen mit kleinen und kleinsten Einheiten sowohl im Hinblick auf den Umfang des Lernstoffs als auch im Hinblick auf zeitliche Dimensionen. Auch wenn der Ausdruck oft im Sinne sehr spezieller Konzepte verwendet wird (s. u.), soll er hier zunächst im Sinne eines MetaModells verstanden werden, dessen Konkretisierungen cross-over Charakter haben. Insgesamt sind damit Perspektiven markiert, die in unterschiedlichen didaktischen und lerntheoretischen Diskurszusammenhängen entfaltet werden können. Entsprechend lassen sich anhand verschiedener Dimensionen (Bsp. Zeit, Inhalt, Form, Prozesstyp) sehr unterschiedliche Versionen und Varianten auseinander halten.
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Abbildung 1:
Versionen und Varianten des Microlearning (eigene Darstellung)
Im Einzelnen kann es dabei um Fragmente, Facetten, Episoden, spezifische Fertigkeiten, sehr spezielle Teilaufgaben – kurzum: um „micro-steps“ im Kontext eines übergreifenden Zusammenhangs gehen. Dies soll anhand von drei Beispielen aufgezeigt werden, die alle „mobilen Charakter“ haben. 3.1 Flocabulary Die Idee zur Entwicklung von Flocabulary stammt ursprünglich von Blake Harrison auf dem Hintergrund von Lernschwierigkeiten mit schulischem Abfragewissen in der Sekundarstufe. Er hat zusammen mit Alex Rappaport die Idee des „vocabulary rap“ weiterentwickelt und flocabulary.com begründet. In ihrem Mission Statement heißt es: „Flocabulary uses the educational power of hip-hop music to foster literacy and promote academic success in the classroom and beyond. Through a range of multimedia products and live performance programs, we bring our concept of music and learning to students and teachers worldwide.”4
4
www.flocabulary.com
Mikrolernen – konzeptionelle Überlegungen und Anwendungsbeispiele
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Im Kern geht es dabei einerseits darum, Hip-hop-Rhythmen sowie Merksprüche und Gedächtnisstützen für schulische Lernzwecke zu kreieren. Andererseits spielen dabei auch lebensweltliche Dimensionen der Jugendlichen eine tragende Rolle. Die ersten prototypischen Beispiele bezogen sich auf SAT-Vokabeln5 sowie auf Beispiele aus dem Geschichts- und dem Literaturunterricht. Die Hörbeispiele, die online kostenfrei zur Verfügung gestellt werden, vermitteln einen sehr guten Eindruck, wie die Lerneinheiten aufgebaut sind und auch als mp3files mobil verwendet werden können.
Abbildung 2:
Flocabulary-Screenshot (Quelle: www.flocabulary.com)
Detaillierte Evaluierungsberichte zum Einsatz der Lernhilfen sind unseres Wissens verfügbar. In einer Pressemeldung wird von einem Erfolg berichtet, der zumindest anteilig auf den Einsatz von Flocabulary zurückgeführt wird: „Menchville High reports that the average SAT writing score for 11th graders in August 2005 was 420. In April 2006, after Flocabulary was introduced into the curriculum, the average score rose to 477.” (Garvin 2006) 5
SAT ist ein Akronym für Scholastic Aptitude Test (Standardtest für die Zulassung zum Studium).
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Es wäre allerdings sehr verkürzt, hier das Augenmerk alleine auf die Steigerung von Gedächtnisleistungen zu legen. Mindestens so wichtig sind hier Fragen der Motivation sowie der institutionalisierten Lernkultur und ihrer Anschlussfähigkeit an Jugendkulturen. 3.2 Integriertes Mikrolernen Im Gegensatz zu „Microteaching“ (vgl. Dwight & Ryan 1969) ist „Microlearning“ ein relativ junger Begriff. Erst in neuerer Zeit sind verschiedene Verwendungsweisen im Zusammenhang von E-Learningearning-Ansätzen und Mediendidaktiken in Umlauf gekommen (s. Abb. 12). Der Innsbrucker Ansatz des Mikrolernens wurde einerseits auf dem Hintergrund diverser E-LearningearningProjekte6 und von Grundlagenforschungen in den Bereichen Medienpädagogik, sozialwissenschaftliche Alltagstheorie, Lebensweltforschung, Symbolischer Interaktionismus, Konstruktivismus und Wissenstheorie erwickelt. Die ersten konkreten Microlearning-Anwendungen wurden im Kontext ausseruniversitäter Forschungen7 kreiert und zur Patentierung angemeldet (vgl. Gassler 2004). Ein besonderes Charakteristikum dieser ersten Anwendungen bestand im Anspruch der Integration des Lernens in private und/oder berufliche Alltagsroutinen („unobtrusive push“), wobei pull und push letztlich unauflöslich miteinander verzahnt sind und die Qualität und Dynamik der Relationen nur in Bezug auf die verschiedenen Nutzungsformen näher hin charakterisiert werden kann. Eine Leitidee, die für die Gestaltung der Lernprozesse bedeutsam ist, lautete entsprechend „Making use of the use of media“.
6 7
Vgl. z.B. http://bases.uibk.ac.at Austrian Research Centers (ARC), Research Studio E-Learning Environments (2003-2006, Studioleitung: Theo Hug, operative Leitung: Gerhard Gassler sowie Silvia Gstrein und Christian Bablick) mit Unterstützung des Österreichischen Bundesministeriums für Wirtschaft und Arbeit und der Tiroler Zukunftsstiftung. Anwendungsorientierte Weiterentwicklungen der Innsbrucker Mikrolernsysteme werden von den Begründern im universitären Kontext und neuerdings auch in der Yocomo GmbH (www.yocomo.at), einem Spin-off der Austrian Research Centers (ARC) und der Universität Innsbruck betrieben.
Mikrolernen – konzeptionelle Überlegungen und Anwendungsbeispiele
Abbildung 3:
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Beispiel einer Lernfrage (eigene Darstellung)
Abbildung 3 zeigt eine der ursprünglichen Anwendungen im Bereich des Fremdsprachlernens, wobei der Abfragemodus mit unterschiedlichen Devices (Bsp. PC-Bildschirmschoner, Mobiltelefon usw.) eingesetzt werden kann. Die hier gezeigte Anwendung hat den Charakter einer mobilen Trainingsanwendung, bei der die Fragemodalitäten auf einem Lernalgorithmus und Selbstüberprüfungsroutinen basieren (Lernkartei-System). Darüber hinaus können Multiple-ChoiceFragen sowie auch Bild- und Tondokumente in den Lernprozess integriert werden. Selbstverständlich sind andere Lern-Varianten etwa unter Verwendung von Bildgeschichten, Karikaturen oder storyline concepts möglich (vgl. Hug 2005). Der Innsbrucker Ansatz ist in paradigmatischer und lerntheoretischer Hinsicht anschlussfähig an alle Konzeptionen, da der relationale Zusammenhang von Mikrolerneinheiten, Lernformen, Lernzielen, Wissenstypen, Interaktionszusammenhängen und situativen Dimensionen unterschiedlich modelliert werden kann. Im Detail figuriert der Ansatz freilich im Fall instrumenteller oder mechanistischer Lernformen anders als im Fall erfahrungsreflexiver Formen oder Ermöglichungsdidaktiken. Entsprechend resultiert die faktische Charakteristik primär aus dem Gebrauchszusammenhang, der intendierten Zielsetzung, der motivationalen Ausgangslage, den Modalitäten der Getriebenheit durch Interessen, Märkte, Technologien oder Didaktiken und nicht aus einer paradogmatischen VorwegZuordnung. Die Ausfaltung der Mikrodimensionen erfolgt in komplementärer Weise etwa als Lernanreiz beim mechanistischen Lernen (Bsp. Vokabellernen),
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als Reflexionsanlass beim selbstreflexiven Lernen (Bsp. Themenzentrierte Interaktion), als „Stimmungsbarometer“ beim emotionalen Lernen (Bsp. Selbstmanagement), als episodisches Element beim game-based learning (Bsp. „simulation globale“) oder als Schlüsselinformation beim problemlösenden Lernen (Bsp. Webquest). Die Realisierung dieser und anderer Möglichkeiten der Ausfaltung ist gegenwärtig eher durch den technologischen Entwicklungsstand determiniert und nicht durch einen Mangel an kreativen Anwendungsszenarien oder konzeptionellen Optionen. 3.3 Frequency 1550 Das Projekt „Frequency 1550“8 ist ein Pilotversuch aus dem Jahre 2005, der von der Waag Society (Amsterdam) in enger Kooperation mit der Amsterdam Montessori School und dem Mobilfunkbetreiber KPN Mobile mit Unterstützung lokaler Behörden (Municipal Archives Amsterdam) durchgeführt wurde. Die Lernumgebung hat den Charakter eines „location-based city games” für SchülerInnen der Sekundarstufe. In pädagogischer Hinsicht sind dabei konstruktivistische Lerntheorien, Gruppenlernen und Teamarbeit, lebensweltliche Aspekte („digital lifestyle“), Förderung von Kreativität, Förderung von Präsentationsund Reflexionsfähigkeit sowie die Einbindung der Lerninhalte in vorgegebene Curricula bedeutsam. Für die Realisierung der Ziele wurden verschiedene Technologien (Bsp. GPS, Mobiltelefon, Internet, Multimedia-Produktionswerkzeuge) miteinander vernetzt. In der Lernanwendung geht es um die spielerische Aneignung von historischem Wissen über Amsterdam.
8
http://freq1550.waag.org, http://www.waag.org/project/frequentie
Mikrolernen – konzeptionelle Überlegungen und Anwendungsbeispiele
Abbildung 4:
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Screenshot von Frequency 1550 (Quelle: http://www.frequentie1550.nl/)
Joost Raessens schreibt dazu: „Frequency 1550 […] enables people to participate in a game that is a guided tour along the most significant historic buildings and sites of Amsterdam (such as the Schreierstoren) and learn about their architecture and preservation on the basis of episodes from the life stories of ordinary people (such as the innkeeper of ‘t Aepgen). The game offers a compelling reconstruction of micro-aspects of everyday life in the medieval city of Amsterdam.” (Raessens 2007: 212)
Die ersten Ergebnisse der Begleitforschung, die Raessens (2007: 208-212) berichtet, sind ermutigend. In allen pädagogischen Lernzielbereichen (s. o.) sind überwiegend positive Ergebnisse zu verzeichnen. Ich will allerdings zwei kritische Einwände und Überlegungen zu bedenken geben: Der erste bezieht sich auf die Verzweckung spielerischer Formen, die in der Geschichte der Pädagogik durchaus eine lange Tradition haben. Hier gilt es aber auch die Grenzen der Instrumentalisierung auszuloten und im Auge zu behalten. Die zweite Überlegung bezieht sich auf Kostenfragen. Ähnlich wie es in den sogenannten „Notebook“Klassen zu schwer durchschaubaren Dynamiken angesichts sozio-ökonomischer
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Unterschiede kommen kann und häufig kommt, stellen sich auch im Fall von Frequency 1550 ähnliche Fragen. Zumindest handelt es sich hier um ein sehr kostenintensives Projekt, das ohne beachtliche staatliche Förderung und hohes Sponsoring nicht betrieben werden könnte. Ich will es hier bei diesen Beispielen belassen. In der Literatur sind etliche weitere beschrieben (vgl. Hug 2007). Darüber hinaus lassen sich auch anhand der Stichworte „remix“, „modding“ oder „mashups“ im Internet sowohl wenig bemerkenswerte Einzelaktivitäten als auch zukunftsweisende Bemühungen finden, bei denen Mikrolern- und Informationssysteme eine tragende Rolle spielen. 4
Fazit und Ausblick
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass im Spannungsfeld von technologischen, medialen, sozio-kulturellen und ökonomischen Entwicklungen in den letzten rund 10 Jahren Interaktionsräume, Wissensformen und Medienkulturen entstanden sind, die eine Neubetrachtung von Mikro-Dimensionen des Lernens und deren Relation zu Meso- und Makro-Ebenen nahe legen. Die historische Übersicht über Reproduktionsprobleme und Pädagogisierungsformeln von Hermann Veith (2003: 185) ließe sich damit fortsetzen. Mikrolernen kann angesichts der anhaltenden Glokalisierung (Robertson 1992) und Medialisierung als pädagogische Relevanzformel aufgefasst werden, die zusammen mit der Pädagogisierungsformel „Kompetenzentwicklung“ und Leitbegriffen wie „Selbst-/Fremdsteuerung“, „Emergenz“, „Vernetzung“ und „(neue) Lernkultur“ einen zeitgenössischen Diskurs markieren, der auf die Veränderung der allgemeinen Bedingungen der Vergesellschaftung und des Aufwachsens, die Dynamik von Prozesslogiken und nicht zuletzt die Erfordernisse des „Lebenslangen Lernens“ Bezug nimmt. Damit ist eine paradigmatische Perspektive für Fragen des Lernens in Mediengesellschaften eröffnet, die verbreitete technologiegetriebene Formen des eund m-learnings überwindet. Microlearning kann als cross-over Konzept sozusagen in verschiedenen Arten und Weisen ausbuchstabiert werden. Analoges gilt für den Ausdruck „Mikrodidaktik“, der in zwei Grundbedeutungen verwendet wird: Einmal bezieht er sich auf die Gestaltung der MikroLerneinheit selbst (in Bezug auf Inhalt, Medialität, Interaktivität etc.), und zum Zweiten bezieht er sich auf die Einbettung der Mikro-Einheiten in übergreifende Meso- oder Makrozusammenhänge (in Bezug auf Sequenzierungen, Lernarrangements, Lernziele, Curricula, institutionelle Dimensionen, etc.). Nachdem die Differenzierung von Mikro-, Meso- und Makroebenen auf unterschiedliche Weise modelliert werden kann (vgl. Tabelle 1), sind fall- und kontextbezogene Explikationen angezeigt.
Mikrolernen – konzeptionelle Überlegungen und Anwendungsbeispiele
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Example 1
Example 2
Example 3
Example 4
Example 5
Example 6
Linguistics
Language learning
Learning contents
Course structure
Competency classification
Sociology
vocables, phrases, sentences
learning objects, micro content
learning objects
words, letterfigure combinations, sentences
situations, episodes
sub areas, narrow themes
texts, convermacro sation, level linguistic communication
sociocultural specifics, complex semantics
micro single level letters
meso level
topics, subjects
topics, lessons
courses, curricular structures
competencies of learners or teachers
individualized learning
designing a lecture
group learning or organizational learning
designing a curriculum
learning of generations, learning of societies
Tabelle 2: Microlearning – mesolearning – macrolearning (s. Hug/Friesen 2007: 17)
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Mikrolernen ist also nicht schon per se einer spezifischen Lerntheorie verpflichtet. Es handelt sich hier vielmehr um ein relationales Konzept mit vielfältigen Anwendungsperspektiven, die in vielen Fällen „Brückenschlag“-Charakter zwischen formellen und informellen Lernformen haben. Die Integration dieser Perspektiven in übergreifende Konzepte der Didaktik und der Wissensorganisation ist in entsprechend vielfältiger Weise möglich. Es ist entsprechend flexibel mit unterschiedlichen didaktischen Orientierungen und Designs kombinierbar. Gleiches gilt für verschiedene Zielsetzungen (Bsp. Wissenstransfer, Wissensanwendung, Festigung des Gelernten) sowie für die Verknüpfung mit Ansätzen des Medien-, Wissens- und Kommunikationsmanagements (vgl. Maier 2007, Gläser 2008, Meckel/Schmid 2008). Inwieweit damit neue (leere) Versprechungen artikuliert sind oder nicht, wird sich bald herausstellen und soll hier dem kritischen Urteil der LeserInnen überlassen bleiben. Meines Erachtens muss Bildung nicht zwangsläufig Halbbildung, Unbildung oder „Flickering Minds“ (Oppenheimer 2003) bedeuten, auch wenn die Modalitäten der Mobilmachung im Zusammenhang immer neuer Hypes solches nahelegen. Wenn Didaktiken des Mikrolernens und Formen bricolierender Bildung auf die Gestaltung von Erwägungskulturen (Blanck 2002, Blanck/Schmidt 2005) und mittlere Wege zwischen Stegreif-Orientierungen und „gesichertem Planungswissen“ setzen (vgl. Hug et al. 2007), dann bestehen durchaus gute Chancen für wünschenswerte Entwicklungen jenseits der vielen Trivialisierungsveranstaltungen.
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Risikokompetenz als Teil der Medienkompetenz – Wissensformen im Web 2.0
Der vorliegende Beitrag entfaltet das Konzept der Risikokompetenz als notwendigen Bestandteil einer zeitgemäßen Medienkompetenz. Risikokompetenz wird verstanden als die Fähigkeit, Ungewissheit reflexiv zu erkennen und entweder in Fachwissen zu überführen oder durch Rückgriff auf Heuristiken zu bewältigen. Vor dem Hintergrund einer Diagnose des Umgangs mit „Wissen“ im Web 2.0 wird die These vertreten, dass Techniken und Anwendungen des Web 2.0 eine Zunahme von Ungewissheit bewirken. Dies gilt es aus der Sicht einer modernen Medienpädagogik aufzugreifen, etwa bei der Konzeption von Bildungsprozessen, die Techniken des Web 2.0 nutzen. Techniken, Anwendungen und Nutzungsformen im World Wide Web, die seit einem grundlegenden Artikel des Softwareentwicklers und Verlegers Tim O’Reilly aus dem Jahr 2005 (vgl. O’Reiley 2005) unter das Stichwort Web 2.0 gefasst wurden, haben in vielen gesellschaftlichen Bereichen eine große Aufmerksamkeit erfahren, nicht zuletzt auch im Bereich der Bildung. Dabei steht die Funktionalisierung von Techniken und Anwendungen des Web 2.0 im Vordergrund, wie der Bericht der Expertenkommission Bildung mit neuen Medien (2007) deutlich zeigt: Web 2.0 gilt als treibende Kraft von Innovationen sowohl im Bildungswesen als auch in der Arbeitswelt. Trotz dieser grundsätzlich affirmativen Bewertung der Möglichkeiten, die Web 2.0 für Bildungsprozesse bieten soll, lässt sich im Zusammenhang mit klassischen Formen der Schaffung und der Vermittlung von Wissen ein Unbehagen feststellen. Dies äußert sich in Skepsis gegenüber der Verlässlichkeit von Informationen im Web 2.0 und Bedenken gegenüber Fähigkeiten, Fertigkeiten und Wissen, die auf deren Grundlage erworben werden. Anschaulich formuliert wird das Unbehagen im Bild eines Arztes, der vor einer kritischen Behandlung das Weblog einer Kollegin konsultiert. Für die akademische Ausbildung wird regelmäßig kolportiert, dass einzelne Professoren oder gar ganze Fakultäten Studierenden grundsätzlich verbieten, für wissenschaftliche Arbeiten die Wikipedia zu nutzen oder aus der Wikipedia zu zitieren.
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Jenseits dieser ersten ambivalenten Zuschreibungen wird im ersten Teil des Beitrags diskutiert, auf welche Formen von Wissen im Web 2.0 implizit oder explizit Bezug genommen wird. Beobachtungen zu ausgewählten Phänomenen im Web 2.0 werden in diesem Teil abschließend zu drei Thesen verdichtet, die die Funktionalisierung von Techniken und Anwendungen des Web 2.0 im Bereich der Bildung betreffen. Im zweiten Teil des Beitrags wird der Begriff der Risikokompetenz als Teil der Medienkompetenz konzipiert. Die Unterscheidung zweier Formen der Risikokompensation erschließt eine mögliche Funktionalisierung von Web 2.0 in mediendidaktischen und medienpädagogischen Handlungsfeldern, die anschließend für die Gestaltung von Lernszenarien vorgestellt wird: Während im klassischen Verständnis von Lehren und Lernen Ungewissheit in Fachwissen überführt wird, dient die Anwendung von Heuristiken dazu, unter Bedingungen der Ungewissheit kompetent zu handeln. Beide Formen sind notwendig, gleichberechtigt und aufeinander bezogen. 1
Der Umgang mit Wissen im Web 2.0
Im Folgenden soll die Entwicklung und Reichweite des Web 2.0, vor allem aber die Nutzung und Funktionalisierung hier zugerechneter Techniken und Anwendungen im pädagogischen Kontext vor dem Hintergrund der Frage diskutiert werden, auf welche Formen von Wissen implizit oder explizit Bezug genommen wird. Eine notwendigerweise vereinfachte Unterscheidung dreier Wissensformen dient als Instrument, Techniken des Web 2.0 und ihre Nutzung im Detail zu betrachten. Dabei wird von einer Transformation des Wissensbegriffs in der historischen Entwicklung ausgegangen, die als drei grundlegende Wissensformen einen vormodernen narrativen Wissensbegriff, einen neuzeitlichen Wissensbegriff und einen postmodernen Wissensbegriff unterscheidet. Dass die Transformation des Wissensbegriffs ein zentrales Merkmal der technischen und sozialen Entwicklung ist, die als „Web 2.0“ bezeichnet wird, ist unsere Prämisse, die wir anschließend anhand von drei beispielhaften Phänomenen erläutern und begründen. Betrachtet werden zum ersten Formen der Begründung von Wissen in der Wikipedia, zum zweiten Techniken der „Social Navigation“ in Form von Empfehlungssystemen und zum dritten die kollaborative Klassifikation von Wissensquellen durch gemeinschaftliches Indexieren. Die Beschränkung auf konkrete Phänomene ist dienlich, da der Begriff „Web 2.0“ längst zur sozialen Konstruktion im Sinne eines Mythos, eines Symbols oder einer Erwartung geworden ist (vgl. Maaß & Pietsch 2007: 7ff). Drei Thesen zur Funktionalisierung des Web 2.0 im Bildungsbereich leiten abschließend über zur Konzeptualisierung von Risikokompetenz.
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1.1 Transformation des neuzeitlichen Wissensbegriffs Wissen ist eine für die Neuzeit grundlegende Kategorie. Es ist das programmatische Anliegen der Aufklärung, Ungewissheit, Glauben und Meinungen in intersubjektiv überprüfbare Gewissheit zu überführen. Dieser neuzeitliche Begriff von Wissen stellt sich damit gegen das Vorher, das sich als Vormoderne bezeichnen lässt – mit der Absicht der Emanzipation, sowohl in individueller als auch in gesellschaftlicher Hinsicht. Gesellschaftliche Entwicklungen und historische Ereignisse wie auch grundlegende Widersprüche im abendländischen Konzept der Vernunft legen nahe, darüber hinaus ein Nachher der Neuzeit zu beschreiben – gängig ist dafür in Bezug auf Jean-François Lyotard (1993) der Begriff der Postmoderne. Aus dieser hier sehr reduziert dargestellten Transformation des Wissensbegriffs ergeben sich drei grundlegenden Wissensformen: -
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Nach dem vormodernen narrativen Wissensbegriff der Frühzeit bilden Glauben und Meinungen, gestützt durch mündliche oder später schriftliche Überlieferung, die Grundlage für Entscheidungen und Handlungen. Erzählungen von Ereignissen, Fakten, Anekdoten bis hin zur Folklore stehen für das Wissen der Vormoderne. In Erzählungen werden kulturelle Güter (z.B. ein technisches Verfahren, ein für die Gemeinschaft sinnstiftendes Ereignis) bewahrt und weitergegeben. Das erzählte, „narrative“ Wissen legitimiert sich selbst, indem Erzählungen immer wieder erzählt und weitergetragen werden (vgl. Lyotard 1993: 68ff). Nach dem neuzeitlichen Wissensbegriff hingegen wird Wissen durch raumzeitlich sowie personell unabhängige Überprüfung und Beweisführung legitimiert, wobei diese sich an wissenschaftlichen, vernunftbezogenen Standards und Methoden orientiert. Nach Lyotard (vgl. Lyotard 1993: 76ff) steht der neuzeitliche Wissensbegriff für „diskursives Wissen“. Der uns geläufige neuzeitliche Wissensbegriff ist in Abhängigkeit von bestimmten Personengruppen (z.B. die der Wissenschaftler) definiert und gekennzeichnet durch das Grundmuster der vernunftbezogenen, intersubjektiv nachvollziehbaren und rationalen Legitimation. Der Anspruch der wissenschaftlichen Begründung und Überprüfung von Wissen ist bereits seit der Aufklärung Programm, auch wenn dieser Anspruch erst in den vierziger Jahren des zwanzigsten Jahrhundert zuerst in den USA und seit den sechziger Jahren in Europa zu einem breiten gesellschaftlichen Strukturwandel geführt hat (vgl. Bonß 2002: 4f). In jüngster Zeit, insbesondere mit dem Aufkommen und der zunehmenden Popularität des World Wide Web als globale, mehrsprachige und ubiquitäre „Wissensquelle“ werden wesentliche formale Merkmale des neuzeitlichen Wissensbegriffs übernommen und perfektioniert – vor allem
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die raum-zeitliche Ungebundenheit sowie die personelle Unabhängigkeit. Darüber hinaus ist festzuhalten, dass die Institutionalisierung der Bildung in Schulen und Universitäten von der Aufklärung bis zur Gegenwart dem Grunde nach am neuzeitlichen Wissensbegriff orientiert ist. Mit Hilfe eines postmodernen Wissensbegriffs lassen sich – je nach Denkrichtung – entweder grundlegende Widersprüche oder gar das Scheitern und damit das Ende des neuzeitlichen Projekts der Aufklärung deuten. Zu nennen wäre unter anderem die Konzeption einer „Dialektik der Aufklärung“ nach Horkheimer und Adorno (1973). Lyotard hingegen erklärt das postmoderne Wissen als Wissen um das Ende der „großen Erzählungen“, also jener ideologischen Grundwahrheiten, die allem menschlichen Tun und Denken als Ziel innewohnen. Das „postmoderne Wissen“ erklärt er als Wissen um das prinzipielle Scheitern dieser Deutungsangebote (Emanzipation des Subjekts, Dialektik des Geistes, Hermeneutik des Sinns). An ihre Stelle treten jedoch weder ein vormoderner Wissensbegriff noch die viel zitierte „postmoderne Beliebigkeit“, sondern auf einer reflexiven Ebene das Wissen um die Kontingenz einer von einer Gruppe vorläufig als „Wahrheit“ erklärten Einsicht (vgl. Lyotard 1993: 191f).
Wissenschaftliche Erkenntnis, nach Lyotard diskursives Wissen in seiner wissenschaftlichen Ausprägung, führt folglich nicht zu dauerhaft gültigen Wahrheiten, sondern wird im postmodernen Wissensbegriff in ihrer prinzipiellen Kontingenz erkannt, wahrgenommen und reflektiert. Diese Kontingenz ergibt sich aus dem Bezug auf die jeweilige Gruppe, die Wissen zur „Wahrheit“ erklärt, aber auch in Bezug auf die Erhöhung sozialer, natürlicher und ökonomischer Risiken, die den wissenschaftlich-technischen Fortschritt begleiten. So sind Ungewissheit, Unsicherheit und Ambivalenzen – je nach Denkrichtung – wesentliche Elemente der Moderne selbst, der späten Moderne oder eben der Postmoderne (vgl. Bonß 2002). Der moderne Mensch als Teil einer „Risikogesellschaft“ handelt unter Bedingungen der Ungewissheit, da sowohl seine bloße Informiertheit – auch wenn sie tendenziell zunimmt – als auch die Komplexität des Wirkungsgefüges seines Handelns keine sicheren, deterministischen Voraussagen über die Folgen seines Handelns ermöglichen. Nach Ulrich Beck (1986) wird (Selbst-)Reflexivität zum Kennzeichen der Transformation der Moderne. Die Unterscheidung in einen vormodernen narrativen Wissensbegriff, einen neuzeitlichen Wissensbegriff und einen postmodernen Wissensbegriff ist an dieser Stelle notwendigerweise vereinfacht zu verstehen – sie dient als Instrument, Formen der Begründung von Wissen im Web 2.0 aufzuschlüsseln. Eine erste Gegenüberstellung dieser drei Konzeptionen von Wissen mit Techniken und Anwendungen des Web 2.0 zeigt, dass alle drei Wissensformen hier im
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zeitlichen Nebeneinander zu finden sind: In Weblogs oder beim Instant Messaging wird Wissen personengebunden erzählt und weitergegeben. Das World Wide Web dient als ubiquitäre Quelle für Wissen, und wird zu Zwecken des Lehrens und Lernens funktionalisiert. Zusammenarbeit und Kommunikation in Informationssystemen führt zu einer sozialen Aushandlung über die Gültigkeit von Wissen. Im Folgenden soll diese Gegenüberstellung an drei ausgewählten Beispielen konkretisiert und im Detail analysiert werden. 1.2 Formen der Qualitätssicherung in der „Wikipedia“ – oder: Die Wiederkehr neuzeitlicher Begründungsformen Die Wikipedia gilt als eine der wichtigsten Anwendungen im Web 2.0. Inhalte werden von Nutzern selbst generiert (Stichwort „User Generated Content“) und stehen frei zugänglich als Gemeingut zur Verfügung (Stichwort „Open Content“). Die Bearbeitung der Artikel in der Wikipedia erfolgt kollaborativ – jeder Lesende kann sofort einen Artikel editieren. Am oft vorgenommenen Vergleich zu traditionellen Enzyklopädien wie der Encyclopædia Britannica interessiert der grundlegende Unterschied: An die Stelle der Autoritäten- oder Gelehrtenmeinung, die maßgeblich für die Gültigkeit eines Artikels in einer traditionellen Enzyklopädie ist, tritt in der Wikipedia eine besondere Form der sozialen Aushandlung (vgl. Weinberger 2007: 138). Das Ergebnis wird als „Weisheit der Massen“ interpretiert (vgl. Surowiecki 2005), die unter bestimmten Bedingungen (Meinungsvielfalt, Unabhängigkeit des einzelnen Urteils, Dezentralisierung und Aggregation) dem Urteil von Experten überlegen sei. Spätestens seit dem Jahr 2006 ist in der Wikipedia vermehrt die Einführung von Routinen zu beobachten, die der Qualitätssicherung dienen. Ein Teil dieser Routinen zur Qualitätssicherung setzt auf gemeinschaftliche oder gegenseitige Beurteilung einzelner Beiträge, so vor allem die Maßnahmen zur Bewertung von Artikeln. Für die deutschsprachige Wikipedia sind dies unter anderem Review, Auszeichnung zum exzellenten Artikel und Auszeichnung zum lesenswerten Artikel (vgl. Wikipedia [Deutschsprachige Ausgabe] 2007b). Bemerkenswert ist aber, dass ein anderer Teil von Maßnahmen der Qualitätssicherung aus neuzeitlichen, wissenschaftlich orientierten Begründungsmustern besteht. Zwei Beispiele: -
Artikel in der Wikipedia sollten nur Aussagen enthalten, die durch zuverlässige Quellen begründet werden können (vgl. Wikipedia [Deutschsprachige Ausgabe] 2007a). Für die Quellenangabe gelten die Anforderungen, die im wissenschaftlichen Diskurs für Belege durch Aussagen anderer Autoren gelten: Sie sollten der Herkunft nach bekannt, nachprüfbar und nach den Grundsätzen des wissenschaftlichen Arbeitens erstellt worden sein.
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In vielen Fällen umstritten ist die Enzyklopädiewürdigkeit eines Lemmas. Ein Gegenstand (d.h. ein Thema) sollte relevant genug sein, um in der Wikipedia unter einem eigenen Eintrag abgehandelt zu werden. Die Relevanzkriterien, die über die Enzyklopädiewürdigkeit im Einzelfall entscheiden sollen, sind Anlass für laufende Auseinandersetzungen (Wikipedia [Deutschsprachige Ausgabe] 2007c). Bemerkenswert ist z.B. für die Enzyklopädiewürdigkeit noch lebender oder toter Personen, dass für bestimmte Personengruppen zur Begründung auf institutionelle Autorität verwiesen wird. Wissenschaftler erhalten einen Eintrag, wenn sie eine Professur an einer Hochschule innehaben (ausgenommen davon sind Juniorprofessoren). Politiker sind enzyklopädiewürdig, wenn sie bestimmte politische Ämter bekleiden oder bekleidet haben (ausgenommen sind jedoch Parteiämter). Artikel über Soldaten werden akzeptiert, wenn sie der Dienstgradgruppe der Generäle oder Admiräle angehören.
Neben der Begründung durch soziale Aushandlung im Diskurs unter den an einem Wikipedia-Artikel beteiligten Personen treten also Begründungen, die außerhalb des Diskurses liegen. Diese Gründe sind neuzeitlich modern in dem Sinne, dass sie sich an wissenschaftlichen Begründungsmustern sowie an Autoritäten- oder Gelehrtenmeinungen orientieren, und diesen, gerade in Zweifelsfällen, den Vorzug geben. Dort, wo die soziale Aushandlung über Aussagen in der Wikipedia, interpretiert als „Weisheit der Massen“ (vgl. Surowiecki 2005) und damit als postmodernes Wissen, an Grenzen stößt, greifen die an der Wikipedia beteiligten Personen auf neuzeitliche Begründungsmuster für Wissen im Sinne einer wissenschaftlichen, raum-zeitlich sowie personell unabhängigen Überprüfung und Beweisführung zurück. 1.3 Empfehlungssysteme – oder: Das Konzept der „Social Navigation“ als Handlungsorientierung und Entscheidungshilfe Techniken der „Social Navigation“ in Form von Empfehlungssystemen setzen das Prinzip der „Weisheit der Massen“ nicht durch Aushandlung im Diskurs um, sondern durch die maschinelle Auswertung des Verhaltens von Personen, die dasselbe Informationssystem nutzen. Bekanntes Beispiel ist der Verweis auf verwandte Produkte im Online-Shop Amazon.com, Inc., der durch statistische Auswertung von Informationen sowohl über das Kaufverhalten, als auch über das Verhalten bei der Auswahl von Produkten zustande kommt. Aus dem Kaufinteresse bzw. der Kaufentscheidung eines Kunden für zwei Produkte wird auf die Ähnlichkeit dieser Produkte geschlossen, wobei Ähnlichkeit hier bedeutet, dass ähnliche Bedürfnisse befriedigt werden. Eine Vielzahl von zwei Produkten
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betreffende Kaufinteressen bzw. Kaufentscheidungen führt zu der Annahme, dass einem Kunden, dem ein Produkt gefällt, mit hoher Wahrscheinlichkeit auch das andere Produkt gefällt. Was für Kauf- und Konsumentscheidungen gilt, wird schließlich auf die Nutzung der Informationssysteme selbst übertragen. Empfehlungssysteme stellen nicht nur Produkte vor, sondern auch Informationen bereit – wobei im Beispiel von Amazon.com für den Handel mit verschiedenen Waren beides zusammenfällt (vgl. Schafer, Konstan & Riedl 1999). Das Konzept der autoritären und wohl begründeten Lehrmeinung, die sich in redaktionell vorbereiteten Programmen oder in didaktisch begründeten Empfehlungen manifestiert, wird zugunsten maschinell aggregierter Rankings verdrängt. Die Resultate entsprechender sozialer Abstimmungsprozesse, so die Grundannahme, folgen ausschließlich der Kontingenz des Verhaltens der beteiligten Personen und sind besser als zentral geplante und redaktionell vorgenommene Eingrenzungen und Empfehlungen geeignet, die Bedürfnisse einzelner Personen zu erfüllen. Es darf jedoch bezweifelt werden, dass die Resultate entsprechender Abstimmungsprozesse ausschließlich in der Kontingenz des Verhaltens der beteiligten Personen begründet sind. Es werden sich immer Faktoren bestimmen lassen, die außerhalb der Gruppe der beteiligten Personen wirksam sind und damit unter dem Einfluss bestimmter Interessen stehen. Einfaches, aber einleuchtendes Beispiel ist, dass für Interessenten an „Kassandra“ von Christa Wolf bei „Amazon.de“ auch „Danton’s Tod“ von Georg Büchner empfohlen wird – ein Umstand, der seinen Grund weniger in der Verwandtschaft der beiden Werke hat als darin, dass beide Werke zur Pflichtlektüre für das Abitur, z.B. in NordrheinWestfalen, zählen (vgl. das entsprechende Beispiel bei Weinberger 2007: 60). Die Verbreitung von Marketingbotschaften in sozialen Netzwerken (vergleichbar mit Mundpropaganda, auch als „virales Marketing“ bezeichnet“) zielt darauf ab, die Meinungsbildung in sozialen Netzwerken im Sinne einzelner Akteure am Markt oder im politischen Prozess zu beeinflussen. Ob aber eine Beziehung zwischen zwei Informationselementen durch eine inhärente Verwandtschaft, durch ein selbstbestimmtes Interesse von vielen Personen oder im Gegensatz dazu durch eine autoritäre Urheberschaft (wie im Fall eines Bildungskanons oder einer Intervention durch gezieltes Marketing) zustande kommt, kann im Ergebnis nicht mehr rekonstruiert werden. Techniken der „Social Navigation“ perfektionieren Merkmale des postmodernen Wissensbegriffs. Einsichten, die durch statistische Analysen aus dem Verhalten einer Gruppe von Personen gewonnen werden, gelten als nützlich, handlungsleitend und damit richtig, und so mindestens vorläufig als wahr. Eine perfekte technische Umsetzung verdeckt jedoch die Entstehung und damit die Begründung dieser Informationen. Unter Umständen werden sie nicht als vorläufiges Wissen erkannt und für wissenschaftlich überprüftes Wissen gehalten.
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Gleichzeitig lassen sich die Faktoren, die das Verhalten der beteiligten Personen beeinflussen, nicht oder nur mit gewissem Aufwand, rekonstruieren. 1.4 Gemeinschaftliches Indexieren – oder: Die semi-professionelle Organisierung von Informationen Mit der für Web 2.0-Anwendungen typischen Technik des gemeinschaftlichen Indexierens, bekannt unter dem Stichwort Tagging und dem Konzept der Folksonomies, treten spontane und individuelle Beschreibungen von Wissensbestandteilen an die Stelle von professionell entwickelten, verhältnismäßig dauerhaften und unveränderlichen Kategoriensystemen. Letztere zählen zum neuzeitlichen Verständnis von Wissen: Wissensquellen werden nach fachwissenschaftlichen Kriterien organisiert und durch systematische Kategorien in Bibliotheken katalogisiert. Diese Form der Wissensorganisierung ist in den Händen von Fachreferenten, Bibliothekaren und Wissenschaftlichen Dokumentaren institutionell gebunden, professionell organisiert und gründet auf Techniken der Informationswissenschaft. Letztere dienen der Komplexitätsreduktion, indem einerseits eine Inhaltserschließung erleichtert wird, andererseits seriöse Wissensquellen aus dem Überangebot an Information besser selektiert werden. Beim gemeinschaftlichen Indexieren dagegen nehmen Personen ohne Bezug auf Klassifikationen oder kontrollierte Vokabulare subjektive Beschreibungen von Elementen vor. Diese Beschreibungen werden zunächst nur für den persönlichen Gebrauch vergeben, z.B. für selbst genutzte Webseiten (in Form von Lesezeichen, auch Bookmarks genannt) oder für selbst erstellte und bereit gestellte Fotografien. Die Webanwendung del.icio.us ist das bekannteste Beispiel für die gemeinschaftliche Verwaltung von Lesezeichen für das Web. Flickr organisieren die Nutzer ihre Fotografien über Tags, also Etiketten, die die Bilder beschreiben. Anhand von Schlagworten lassen sich Wissensbestandteile nicht nur aktiv erschließen, z.B. über eine Suche nach Schlagworten. Zu einzelnen Wissensbestandteilen, z.B. einer besuchten Webseite oder einem ausgewählten Bild, lassen sich zudem anhand gleicher Schlagworte in inhaltlicher Beziehung stehende Elemente auswählen (vgl. Mathes 2004). Die spontane, individuelle und (im Vergleich zur informationswissenschaftlich begründete) laienhafte, allenfalls semi-professionelle Beschreibung von Wissensbestandteilen hat mit den Nachteilen zu kämpfen, die die Techniken der Informationswissenschaft zu bewältigen suchen. Die Verwendung von Synonymen ist hier ein offensichtliches Beispiel, wenn etwa die Verschlagwortung einmal nach „Pädagogik“, ein anderes Mal nach „Bildungswissenschaft“ erfolgt. Zu den grundlegenden Schwierigkeiten beim Indexieren ist auch die Granularität der begrifflichen Ordnung zu zählen, die von mit einem Fach vertrauten Personen in
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der Regel feiner vorgenommen wird als von fachfremden Personen: Während z.B. eine nicht mit mediendidaktischen Fragen befasste Person sich mit einem umfassenden Stichwort wie „E-Learning“ bescheiden wird, wird eine in mediendidaktische Fragen eingearbeitete Person „Online-Seminare“ von „OnlineBetreuung“ unterscheiden. Die einfach zu diagnostizierenden Nachteile des gemeinschaftlichen Indexierens führen nun zu ambivalenten Reaktionen. Auf der einen Seite werden diese Nachteile bewusst in Kauf genommen – zugunsten einer schnellen, billigen und aktuellen Form der Wissensorganisierung, die zwar nicht perfekt, aber durchaus effizient ist (vgl. Mathes 2004: 8). Auf der anderen Seite zielen aktuelle Forschungsarbeiten der Informationstechnik darauf ab, diese Unzulänglichkeit durch technische Routinen zu bewältigen, z.B. mittels Auflösung von Synonymen durch Ähnlichkeitsvergleiche und Lexika sowie mittels Kontextualisierung von Suchbegriffen (vgl. Christopher & Nancy 2006). Beide Perspektiven halten am neuzeitlichen Wissensbegriff fest: Die kontextgebundene Verschlagwortung durch viele Laien wird an der fach- und informationswissenschaftlich begründeten Verschlagwortung in Bibliotheken durch Experten gemessen. Beide Perspektiven übersehen, dass die Kontextgebundenheit der individuellen Auszeichnung von Wissensbestandteilen das zentrale Merkmal des gemeinschaftlichen Indexierens ist. Das heißt: Zwischen der Person, die eine Beschreibungen vergibt, und der Beschreibung besteht ein individueller Bezug. Das ist jedoch nur im Vergleich zur fach- und informationswissenschaftlich begründeten Verschlagwortung ein Nachteil. Aus einer pragmatischen Sicht geben „Folksonomies“ gerade durch die Kontextgebundenheit ein treffendes Bild über die Gruppe von Personen ab, die gemeinsam indiziert. In Folksonomies abgebildet wird also zu der Gruppe zugehörendes Wissen, nicht aber allgemeingültiges Wissen entsprechend dem neuzeitlichen Wissensbegriff. Gemeinschaftliches Indexieren folgt einem postmodernen Wissensbegriff. Die Legitimation entstehenden Wissens ist gruppenbezogen und rein diskursiv, wobei auch hier der Diskurs durch Technik verdeckt stattfindet. Gleichzeitig greift gemeinschaftliches Indexieren auf einen vormodernen Wissensbegriff zurück. Wissen ist gebunden an individuelle Erlebnisse, persönliche Fundstücke, flüchtige Ereignisse und subjektiv relevante Fakten – der Wortbestandteil „folk“ aus dem Englischen im Kofferwort Folksonomie bringt das deutlich zum Ausdruck. 1.5 Drei Thesen zur Transformation von Wissen im Web 2.0 Formen der Begründung in der Wikipedia, Techniken der „Social Navigation“ als Empfehlungssysteme und die kollaborative Klassifikation von Wissensquellen durch gemeinschaftliches Indexieren – an diesen drei ausgewählten Phäno-
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menen des Web 2.0 können zwei Tendenzen beobachtet werden: Erstens wird diskursives Wissen im Sinne des neuzeitlichen Wissensbegriffs popularisiert. Neben der Gruppe der Wissenschaftler, die für die jeweils eigene Disziplin die Gültigkeit von Aussagen ermitteln, treten viele soziale Gruppen, die im Web 2.0 über die Gültigkeit und die Verbreitung von Wissen entscheiden, z.T. ohne Kenntnis über den Prozess der sozialen Aushandlung. Zweitens finden sich in den Diskursen verschiedene Formen der Legitimation von Wissen, d.h. vormoderne, neuzeitliche und postmoderne, nicht nur zeitlich, sondern auch räumlich nebeneinander – d.h. ununterscheidbar im Rahmen einzelner Informationsangebote. Dies führt zu einem prinzipiellen Zuwachs an und zu neuen Formen von Ungewissheit. Vorläufigkeit, Meinung, fehlender Kontext bei Informationsbestandteilen oder Prägung durch Einzelinteressen sind nur die wichtigsten Eigenschaften von Informationen, die im Web 2.0 zur Verfügung stehen, und kennzeichnend für deren ungewissen Status. Entscheidend ist, dass der Status dieser Informationsbestandteile nicht immer rekonstruiert werden kann. Aus (medien-) pädagogischer Sicht liegt es nahe, die mit dieser Ungewissheit verbundenen Kontingenzen und Risiken zu reflektieren und sich damit auf der Handlungsebene einem postmodernen Wissensverständnis anzunähern. Ungewissheit bedeutet: Wer auf der Grundlage von Wissen aus dem Web 2.0 handelt, setzt sich der Gefahr aus, statt auf Fachwissen auf vorläufige Informationen, individuelle Meinungen, dekontextualisierte Einzelinformation oder durch Einzelinteressen beeinflusste Schlussfolgerungen zurückzugreifen. Weiß eine handelnde Person aber um diese prinzipielle Kontingenz des Wissens im Web 2.0, so handelt sie unter Bedingungen der Ungewissheit und geht folglich (sich der Gefahr bewusst) ein Risiko ein. Dabei geht es nicht um die Gefahren des Handelns im Web 2.0 (wie die Gefahren des Missbrauchs von Personen, Betrug oder Datenschutz, das ist ein ganz eigenes Thema), sondern um Handlungen, deren Rationalität sich auf Wissensbestandteile stützt, die mit Techniken und Anwendungen des Web 2.0 erworben wurden. Diese Beobachtungen lassen sich zu drei Thesen verdichten, die einen mediendidaktischen Bezug herstellen: -
Erstens bewirkt die praktische Verwendung von Web 2.0-Techniken nach derzeitigem Stand eine Erosion von neuzeitlichen Formen der Vermittlung und Schaffung von Wissen. Dies gilt insbesondere da, wo entsprechende Anwendungen (wie Wikis, Weblogs) oder Techniken (wie „Social Navigation“ oder kollaboratives Indexieren) zu Zwecken des Lehrens und Lernens genutzt werden.
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Zweitens besteht in diesen Fällen die Gefahr, dass durch die Funktionalisierung von Techniken und Anwendungen des Web 2.0 gängige Verfahren des Erwerbs fachlicher Kompetenzen umgangen oder verkürzt werden. Drittens bleiben Potenziale hinsichtlich einer angemessenen Nutzung entsprechender Techniken und Anwendungen ungenutzt, solange nicht der Umgang mit Ungewissheit bei der Gestaltung entsprechender Lernszenarien thematisiert wird.
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Risikokompetenz als Handlungsfeld der Medienpädagogik
Wenn nun Web 2.0 als treibende Kraft für längst fällige Reformen im Bildungsbereich verstanden wird, entspricht dies einer positiven Deutung der angesprochenen Erosion. Dabei gilt jedoch umgekehrt: Techniken und Anwendung des Web 2.0 eignen sich genau dann nicht für Zwecke des Lehrens und Lernens, wenn Bildungsarbeit, wie in den traditionellen Institutionen der Bildung üblich, auf Vermittlung und Erwerb von Fachwissen ausgerichtet ist. Web 2.0 mit seinen spezifischen Techniken und Anwendungen bewirkt objektiv eine Zunahme von Ungewissheit, was als Fortschreibung der Risikogesellschaft nach Ulrich Beck gedeutet werden kann. Es ist Aufgabe des medienpädagogischen Handelns, darauf zu reagieren – gerade dann, wenn Techniken und Anwendungen des Web 2.0 im Kontext von Bildung funktionalisiert werden. Notwendige Fertigkeiten, Fähigkeiten und Kenntnisse, die es ermöglichen, unter Bedingungen der Ungewissheit zu handeln, lassen sich unter dem Begriff der „Risikokompetenz“ zusammenfassen. Als Konzept findet sich dieser Begriff in sehr unterschiedlichen Anwendungsbereichen – überall dort, wo persönliche Risiken oder Risiken als Folge von persönlichen, unternehmerischen sowie politischen Entscheidungen zu bewältigen sind. Ein prominenter Zugang zur Risikokompetenz in Bezug auf das persönliche Risiko findet sich etwa in der Drogenhilfe (vgl.: Franzkowiak 1999). Auch im Bereich der Bewegungserziehung und Sportpädagogik kommt dem Umgang mit Risiken unter dem Stichwort der Wagniserziehung in jüngerer Zeit eine große Bedeutung zu – vor allem aufgrund der Erkenntnis, dass das Eingehen von Risiken mit der Bewältigung von Entwicklungsaufgaben durch Kinder und Jugendliche verbunden ist (vgl. Neumann 1999: 129ff). In der Erlebnispädagogik begegnen sich die Zugänge der Drogenhilfe und der Sportpädagogik. Hier werden Situationen aufgesucht oder inszeniert und damit pädagogisch instrumentalisiert, die sich durch besondere Merkmale auszeichnen. Neben der Eigenaktivität, der Naturnähe und dem Gruppenbezug ist dies vor allem die Ernsthaftigkeit einer zu bewältigenden Aufgabe (im Gegensatz zu einer bloßen Übung). Diese wird meist durch ein subjektiv empfundenes Risiko vermittelt. Im Bereich der berufli-
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chen Bildung findet sich der kompetente Umgang mit Risiken als Bildungsziel traditionell im Bereich des Arbeitsschutzes und der Sicherheitsforschung (vgl.: Elke & Stapp 2001). Da aber unternehmerische Entscheidungen grundsätzlich von Ungewissheit geprägt sind, gelten sowohl das Eingehen als auch das Management von Risiken als grundlegende Kompetenzen im wirtschaftlichen Handeln, sei es im Projektmanagement, auf dem Kapitalmarkt oder bei der Führung von Unternehmen. Zum Aufbau entsprechender Kompetenzen tragen einerseits kalkulatorische Ansätze des Risikomanagements bei, ausgehend von grundlegenden Ansätzen der rationalen Bewertung von Risiken (vgl.: Götze, Betz & Mikus 2001). Andererseits finden sich im Bereich des Führungskräftetrainings wieder Berührungspunkte mit der Erlebnispädagogik. Für die erziehungswissenschaftliche Reflexion wurde Ungewissheit und die damit verbundene Notwendigkeit, unter Bedingungen der Unsicherheit pädagogisch zu handeln, in jüngster Zeit neu konzeptualisiert (vgl.: Helsper, Hörster & Kade 2003; Keiner 2005). Obwohl oder gerade weil der Umgang mit Risiken in verschiedenen Bereichen thematisiert, als (Aus-)Bildungsziel definiert und in pädagogischen Kontexten schließlich auch funktionalisiert wird, steht ein verbindendes Modell derjenigen persönlichen Voraussetzungen, die zum kompetenten Handeln unter Bedingungen der Ungewissheit befähigen, noch aus. Im Folgenden wird ein entsprechendes Modell von Risikokompetenz bezogen auf den Umgang mit Techniken und Anwendungen des Web 2.0 skizziert. Dazu ist vom Begriff des Risikos auszugehen. Risiken beziehen sich immer auf Ungewissheit darüber, welche Folgen Handlungen haben können. Ein Risiko ist daher gleichzusetzen mit der Möglichkeit, dass mit einer Handlung (oder dem Unterlassen einer Handlung), der eine Entscheidung zu Grunde liegt, unerwünschte Resultate verbunden sein können. Wer alles weiß und vorhersehen kann, geht kein Risiko ein. Nur in Bezug auf mögliche, nicht sichere Auswirkungen von Handlungen sprechen wir von einem Risiko. Mit Niklas Luhmann (vgl.: 2005: 131ff) können wir zwischen dem aktiven Umgang mit Ungewissheit, also dem Eingehen von Risiken und dem passiven Ausgesetztsein gegenüber ungewissen Ereignissen, also dem Betroffensein von Gefahren, unterscheiden. Der Unterscheidung von Risiko und Gefahr entspricht die Unterscheidung von Ungewissheit und Unwissenheit. Während Ungewissheit ein bewusst wahrgenommener Mangel an Wissen ist, steht Unwissenheit oder Unkenntnis für einen Mangel an Wissen, der Personen oder Gruppen nicht bekannt ist. Wer also unter Bedingungen der Ungewissheit Risiken eingeht, weiß um die Ungewissheit. Wer unter Bedingungen der Ungewissheit handelt, ohne den Mangel an Wissen zu erkennen, ist Gefahren ausgesetzt. Grundlage einer Risikokompetenz ist daher in einem ersten Schritt die Fähigkeit, Ungewissheit zu erkennen. Diese Fähigkeit, Situationen als riskant ein-
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zuschätzen, ist notwendigerweise reflexiv: Sie bezieht sich auf das Verhältnis zwischen den eigenen, personalen Voraussetzungen (also dem, was man selbst über eine Situation, Handlungsoptionen und mögliche Resultate weiß) und den Anforderungen der Situation selbst. Für Techniken und Anwendungen des Web 2.0 wurde diagnostiziert, dass diese nicht nur eine Zunahme von Ungewissheit bewirken, sondern die Ununterscheidbarkeit zwischen Ungewissheit und Fachwissen zunimmt. Risikokompetenz in Bezug auf Web 2.0 hat daher zur Voraussetzung, über Fähigkeiten zu verfügen, unsicheres Wissen in den medienspezifisch verfassten Formen zu erkennen. Es gilt, narratives, also personengebunden erzähltes Wissen (z.B. in Form von Weblogs) von sozial verhandeltem Wissens (z.B. in Wikis) oder Autoritäten- oder Gelehrtenaussagen (z.B. in Fachpublikationen) zu unterscheiden. Erste personale Voraussetzung für Risikokompetenz ist daher, über Kriterien zu verfügen, die unsicheres Wissen und Fachwissen kennzeichnen. Die Fähigkeit, Ungewissheit in Abgrenzung von Fachwissen reflexiv zu erkennen ist aber nur der erste Schritt. In einem zweiten Schritt geht es bei der Bewältigung von Ungewissheit um die Entscheidung, ob Ungewissheit in Fachwissen überführt werden soll oder ob eine Entscheidung unter den Bedingungen der Ungewissheit getroffen werden soll. Während im zweiten Fall eine Person anerkennt, dass entsprechende Situationen als Wagnis zu bewältigen sind, setzen im ersten Fall klassische Lernprozesse ein. Gerade für die Funktionalisierung von Web 2.0-Anwendungen im Kontext von Lehren und Lernen ist diese Unterscheidung zweier Formen der Risikokompensation entscheidend: Führt die Konfrontation mit Situationen, in denen Wissen vorläufig, individuell erzählt und begründet sowie sozial ausgehandelt und damit unsicher ist, dazu, auf traditionellen Wegen Wissen zu erwerben, z.B. durch Studium originaler Quellen, durch vertieftes Verständnis von autorisierten Argumenten, durch empirische Überprüfung von Hypothesen oder durch anerkannte Formen der Argumentation und Beweisführung? Oder zielt die Konfrontation mit Wissen im Web 2.0 darauf ab, besser unter Bedingungen der Ungewissheit zu handeln? Während also im ersten Fall die Reflexion von Ungewissheit dazu führt, diese in Fachkompetenz zu überführen, zielt der zweite Fall darauf ab, Kompetenzen im Umgang mit Ungewissheit zu erwerben. Folgende Abbildung veranschaulicht die beiden genannten Schritte in der Bewältigung von Ungewissheit und die beiden Handlungsalternativen im dritten Schritt: Ê 3.1 Überführen in Fachwissen 1. Ungewissheit erkennen Æ 2. Entscheidung Ì 3.2 Reflexiver Umgang mit Ungewissheit
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Beide Möglichkeiten sind gleichberechtigt zu betrachten. Da zunehmend in vielen Wissensbereichen und deren Anwendungsgebieten im Beruf und Alltag Entscheidungen auf der Grundlage von unsicherem Wissen zu treffen sind, sind sie nicht nur für Anwendungen des Web 2.0 konstitutiv. Eine einseitige Betrachtung des ersten Falls, d.h. der Überführung in Fachwissen, vernachlässigt daher sowohl Erfordernisse methodischer Kompetenzen neben reinen Fachkompetenzen als auch in Bezug auf Techniken und Anwendungen des Web 2.0 deren spezifisches Merkmal, auch unsicheres Wissen zu transportieren. Auf der anderen Seite vernachlässigt eine einseitige Betonung der sozialen Aushandlung von Wissen im Web 2.0 klassische Formen der Schaffung und der Vermittlung von Wissen zugunsten einer rein affirmativen Betrachtung der Praxis des Web 2.0. Dabei gilt es in pädagogischer Perspektive, die Entscheidung für den einen oder anderen Fall als Wegentscheidung nicht vorwegzunehmen. Selbstbestimmt und begründet entweder gesichertes Fachwissen heranzuziehen oder weiter auf der Grundlage von Ungewissheit zu handeln, zählt selbst zur Risikokompetenz. Im zweiten Fall setzt ein dritter Schritt zur Bewältigung von Ungewissheit auf Mittel, die es ermöglichen, trotz Ungewissheit zu handeln. In der Kognitionspsychologie werden diese Mittel als Heuristiken bezeichnet und erforscht. Sie sind einfache und effiziente Regeln (Faustregeln), die helfen, komplexe Probleme zu lösen. Ein bekanntes Beispiel ist die Regel vom einzigen guten Grund (auch Take the best-Heuristik, vgl. Gigerenzer 2007: 145ff): Bei der Wahl zwischen Alternativen führt die Entscheidung nach einem einzigen, prominenten Merkmal in den meisten Fällen zu einem ähnlich zufriedenstellenden Ergebnis wie eine Wahl, die verschiedene Merkmale systematisch in Betracht zieht und sogar gewichtet. Selbst professionelle fachliche Entscheidungen, z.B. in der Medizin, orientieren sich an dieser Regel. Voraussetzung ist allerdings, das prominente Merkmal zu kennen und reflexiv zu erkennen, dass dieses die heuristische Entscheidung leitet. Wer also auf der Grundlage von unsicherem Wissen im Web 2.0 handelt, bricht seine Suche nach Informationen dann ab, wenn er ein hervorragendes Merkmal gefunden hat, das seine Entscheidung begründen kann. Im Kontext des Web 2.0 könnte ein solches hervorragendes Merkmal eben der Blog eines Experten, der statistisch gehäufte Zusammenhang zwischen zwei Merkmalen, oder einfach die rekonstruierte Herkunft der Fundstelle sein. In pädagogischer Perspektive gilt es, diese Merkmale als spezifische Kompetenz des Handelns unter Bedingungen der Ungewissheit in ihrer Ambivalenz zu verstehen und zu fördern.
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Ausblick
Eine Grundthese dieses Beitrags lautet: Wenn Techniken und Anwendungen des Web 2.0 in Bildungszusammenhängen nicht nur thematisiert, sondern auch funktionalisiert werden, so wird die ihnen eigene Ungewissheit zu einer mediendidaktisch relevanten Kategorie. Das mag intendiert sein oder eben nicht. Letzteres, Ungewissheit als Nebenwirkung des Einsatzes von für das Web 2.0 typischen Anwendungen, kann dem eigentlichen Zweck entgegenstehen – im besseren Fall lernen die Lernenden dann etwas anderes als intendiert, nämlich den Umgang mit Ungewissheit, im schlechteren Fall lernen sie nichts. Das ist bei der Gestaltung von Lernszenarien, in denen Techniken und Anwendungen des Web 2.0 funktionalisiert werden, zu beachten. Die im ersten Teil vorgenommene Unterscheidung von Wissensformen im Web 2.0 führte zur Feststellung, dass mit der Funktionalisierung von Web 2.0 zum Zwecke der Bildung eine Zunahme von Ungewissheit und, damit verbunden, die Notwendigkeit der Berücksichtigung von Risikokompetenz einhergeht. Ein Ansatz zur Integration von Risikokompetenz in den Diskurs zur Medienkompetenz wurde im zweiten Teil dargelegt. Zentrales Ergebnis ist hier die Unterscheidung zweier gleichberechtigter Formen der Risikokompensation – einerseits die Überführung von Ungewissheit in Fachwissen im klassischen Verständnis von Lehren und Lernen, andererseits die Anwendung von Heuristiken mit dem Ziel, unter Bedingungen der Ungewissheit kompetent zu handeln.
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Jan Schmidt, Claudia Lampert, Christiane Schwinge
Nutzungspraktiken im Social Web – Impulse für die medienpädagogische Diskussion
In den vergangenen Jahren haben sich die Nutzungsmöglichkeiten und -praktiken im Internet deutlich verändert. Angestoßen wurde diese Entwicklung vor allem durch die fortschreitende Diffusion von leistungsfähigen Breitbandanschlüssen und innovativern Software-Anwendungen. Als Sammelbegriff für diese Veränderungen hat sich die Bezeichnung ‘Web 2.0‘ eingebürgert und Eingang in die öffentliche Diskussion gefunden (vgl. bspw. Spiegel 2007). Allerdings besteht bisweilen Unsicherheit darüber, was eigentlich das Neue am Web 2.0 ist und ob – nicht zuletzt auch aus medienpädagogischer Perspektive – gesellschaftlicher Handlungsbedarf besteht, um auf die Veränderungen zu reagieren. Im Vergleich zu anderen Themen (wie zuletzt beispielsweise bei der Debatte über Computerspiele) ist im Zusammenhang mit Web 2.0 zu beobachten, dass die öffentliche Berichterstattung uneins scheint, ob das Gefahren- oder das Partizipationspotenzial schwerer wiegt und wie die Entwicklung im Netz insgesamt zu bewerten ist. Die hohe soziotechnische Dynamik erschwert den Überblick über das Angebotsspektrum und führt dazu, dass trotz eines scheinbar souveränen Umgangs von Heranwachsenden mit den neuen Möglichkeiten bislang noch vergleichsweise wenig diskutiert wird, welche Herausforderungen das Web 2.0 an Kinder und Jugendliche und damit auch an die Medienpädagogik stellt. Der vorliegende Beitrag möchte einen Impuls für die weitere Diskussion über Medienkompetenz im Zusammenhang mit Web 2.0 geben. Dazu wird zunächst eine Gegenstandbeschreibung und -eingrenzung vorgenommen, an die sich ein Überblick über bisherige Befunde zur Nutzung von Web 2.0-Angeboten anschließt. In diesem Zusammenhang zeigt sich bereits sehr deutlich, dass eine rein angebotsbezogene Perspektive nicht hinreichend ist, sondern der Blick auf die unterschiedlichen Nutzungspraktiken gerichtet werden muss, um daran anknüpfend Überlegungen über notwendige Kompetenzen anzustellen. Aus Sicht der Autoren sind diese eng mit den Aufgaben Identitäts-, Beziehungs- und Informationsmanagement verbunden.
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Web 2.0: Begriffliche Grundlagen und empirische Befunde
Der Begriff „Web 2.0“ wurde erstmals Ende 2004 als Titel einer Konferenz verwendet. 2005 hat der amerikanische Verleger Tim O’Reilly (2005) ihn in einem Essay eingehender beschrieben und ein Bündel von Veränderungen identifiziert, die das derzeitige Internet von früheren Phasen abheben sollen. Der Zusatz „2.0“ lehnt sich an eine Konvention aus der Software-Entwicklung an, grundlegend veränderte Fassungen eines Software-Programms mit einer neuen Versionsnummer zu versehen. Bezogen auf das Internet bzw. das World Wide Web impliziert die Bezeichnung also einen qualitativen Sprung nach vorne, der sich nach O’Reilly unter anderem in innovativen Praktiken der SoftwareEntwicklung und -bereitstellung sowie in veränderten Geschäfts- und Erlösmodellen für das internetbasierte Wirtschaften äußere. Aus sozialwissenschaftlicher Sicht ist vor allem der Befund bedeutsam, dass (wie im Folgenden noch näher ausgeführt wird) die Möglichkeiten des einzelnen Nutzers steigen, eigene Inhalte im Web bereitzustellen und mit anderen zu teilen. Die Formel „Web 2.0“ hat Kritik auf sich gezogen, weil sie vorrangig ein marketingtaugliches Label zur Propagierung bestimmter Geschäftsmodelle im Internet sei, darüber hinaus aber eine Worthülse mit unklarer Bedeutung bleibe (vgl. Gapski/Gräßer 2007: 13). Sie suggeriert zudem eine revolutionäre Veränderung, während die tatsächlichen Nutzungs- und Entwicklungspraktiken vielmehr zahlreiche Kontinuitäten bzw. inkrementelle Veränderungen gegenüber früheren Phasen der Internetentwicklung aufweisen (vgl. Schmidt 2008). Der Begriff „Social Web“ erscheint aus sozialwissenschaftlicher Sicht daher besser geeignet und wird im Folgenden verwendet, weil er a) keine Unterscheidung zeitlicher Phasen enthält, b) auf das World Wide Web als zunehmend universalen Dienst des Internets verweist und c) den grundlegenden sozialen Charakter derjenigen Anwendungen des Internets betont, die Kommunikation und anderes aufeinander bezogenes Handeln zwischen Nutzern fördern, also über die Mensch-MaschineInteraktion hinausgehen. Die bisherige Forschung zu Social Web-Anwendungen lässt sich grob unterteilen in:
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anwendungsbezogene Untersuchungen, beispielsweise zu Weblogs (vgl. Armborst 2006; Schmidt 2006b; Krauss 2008), zu Wikis (vgl. Pentzold 2007; Stegbauer/Schönberger/Schmidt 2007; Stegbauer/Bauer 2008), zu Podcasts (vgl. Mocigemba 2006; Martens/Amann 2007) oder zu Kontaktplattformen bzw. Social Network Sites (vgl. Boyd/Ellison 2007; Renz 2007; Koch/Richter 2008) sowie Studien zum Einsatz in spezifischen Nutzungskontexten, insbesondere im Bereich der internen wie externen Organisationskommunikation (vgl. Zerfass/Boelter 2005; Döbler 2007; Hass/Walsh/Kilian 2008; Zerfass/Welker/ Schmidt 2008b) sowie des E-Learnings und Wissensmanagements (vgl. Dittler/Kindt/Schwarz 2007; Gaiser/Hesse/Lütke-Entrup 2007).
Daneben liegen inzwischen auch für Deutschland bevölkerungsrepräsentative Daten zur Verbreitung von einschlägigen Anwendungen vor. So nutzten laut der ARD/ZDF-Onlinestudie im Jahr 2007 elf Prozent der Deutschen bzw. 20 Prozent der Onliner zumindest einmal pro Woche Social Web-Anwendungen (vgl. Haas et al. 2007).1 In dieser Gruppe sind Männer, Unter-30-jährige sowie formal höher gebildete Personen überrepräsentiert. Mit Blick auf Jugendliche und junge Erwachsene liegen bislang vor allem Untersuchungen vor, die sich mit dem Zugang und der allgemeinen Nutzung von Social Software-Angeboten befassen. Der im Vergleich zu anderen Altersgruppen stärker unterhaltungsorientierten Nutzung der jüngeren Zielgruppen entsprechend (vgl. van Eimeren/Frees 2007) werden Audio- und Videoportale sowie Communities bevorzugt von den Jüngeren genutzt. Fast die Hälfte (46%) der 14- bis 19-jährigen schaut sich mindestens einmal wöchentlich Videos an bzw. lädt Videodateien herunter, Audiodateien werden von 39 Prozent angehört bzw. heruntergeladen. Unter den 20- bis 29jährigen sehen 24 Prozent regelmäßig Online-Videos an bzw. laden sie herunter, im Audiobereich sind es 28 Prozent. Die Online-Enzyklopädie Wikipedia wird von 82 Prozent der 14- bis 19-jährigen und 58 Prozent der 20- bis 29-jährigen zumindest selten genutzt (vgl. Gscheidle/Fisch 2007: 400).
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In der ARD/ZDF-Online-Studie wurden sechs Formen von Social Web-Angeboten berücksichtigt: Wikipedia, Bilder- und Videocommunities (z.B. Flickr, YouTube), Lesezeichensammlungen (z.B. Mister Wong), soziale Netzwerke (z.B. Xing, MySpace), Weblogs und virtuelle Spielewelten (vgl. Gscheidle/Fisch 2007: 399).
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Nutzungspraktiken und Anforderungen im Social Web
Sowohl die Vielfalt der erwähnten Anwendungen und Nutzungskontexte als auch die unterschiedlichen Grade ihrer Diffusion machen deutlich, dass eine Betrachtung zu kurz greift, die sich entweder isoliert auf einzelne Anwendungen oder alleine auf spezifische Einsatzfelder konzentriert. Stattdessen erscheint es ratsam, den Blick auf die unterschiedlichen Nutzungspraktiken zu richten, also kollektiv geteilte Verwendungsweisen im Umgang mit den Social WebAnwendungen in den Fokus zu rücken. Aus dieser Perspektive kristallisieren sich zwei grundsätzliche Modi der Nutzung heraus: Eine aktiv-gestaltende Nutzung, die als eines der Kernmerkmale des Social Web gilt, sowie die passivrezipierende Nutzung von Inhalten, die andere Personen oder Organisationen bereitgestellt haben. Beide Nutzungsmodi sind insofern nicht völlig trennscharf, als dass auch aktive-gestaltende Nutzer gewisse Teile ihrer Onlinezeit mit der Rezeption von Informationen verbringen. Wortschöpfungen wie „Prosument“ (eine Verbindung aus „Produzent“ und „Konsument“; vgl. z.B. Grimm/Rhein 2007: 152f.) oder „Produser“ (eine Kombination von „production“ und „usage“; vgl. Bruns 2008; Guenther/Schmidt 2008) verweisen zudem darauf, dass Episoden der aktiven und passiven Nutzung im Internet für viele Personen nahtlos ineinander übergehen. Dennoch ist diese grobe Unterscheidung zunächst hilfreich und wird auch in empirischen Untersuchungen wie der ARD/ZDF-Online-Studie 2007 eingesetzt. Ihr zufolge rufen 76 Prozent derjenigen Onliner, die zumindest selten ein Weblog nutzen, nur Informationen ab, während umgekehrt etwa ein Viertel selbst aktiv ist, also eigene Beiträge oder Kommentare verfasst (Gescheidle/Fisch 2007: 401). Bei anderen Social Web-Anwendungen ist die Anzahl der selbst produzierenden Teilnehmer im Vergleich zu den nur abrufenden Teilnehmern noch geringer: Nur sieben Prozent der Nutzer von Videoportalen wie YouTube, und nur sechs Prozent der Nutzer von Wikipedia haben bereits eigene Videos eingestellt bzw. an Artikeln der Online-Enzyklopädie mitgearbeitet (ebd.: 401). Entlang dieser beiden Pole lässt sich somit eine aufschlussreiche Beobachtung machen: Auch bei den Social Web-Anwendungen dominiert eine passivrezipierende Nutzungsweise (siehe auch MPFS 2007). Die technikdeterministische Vorstellung, dass allein die bloße Möglichkeit zur Bereitstellung eigener Inhalte bereits zu einer entsprechenden Nutzung führe, ist demnach haltlos. Eine verfeinerte Typologie der Nutzer von Social Web-Anwendungen haben die SWR Medienforschung und das Medienforschungsinstitut „result“ auf Grundlage der ARD/ZDF-Onlinestudie sowie vertiefender Erhebungen vorgelegt (vgl. Haas et al. 2007; Gerhards/Klingler/Trump 2008). Sie beziehen dort neben der Unterscheidung von aktiven und passiven Nutzern, die sie als „gestaltend“
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vs. „betrachtend“ bezeichnen, auch die Publikumsdimension mit ein. Deren Pole sind „individuelle Kommunikation“ (d.h. Austausch zwischen einer geringen Anzahl festgelegter Kommunikatoren) und „öffentliche Kommunikation“, bei der ein potenziell unbestimmbares Publikum an der Kommunikation teilhat. In diesem zweidimensionalen Feld verorten die Autoren insgesamt acht Nutzertypen (vgl. Abbildung 1), die sich teilweise überschneiden.2 Zwei dieser Typen, die „Infosucher“ und die „Unterhaltungssucher“, machen keinen Gebrauch von den aktiv-gestaltenden Optionen des Social Web. Die übrigen Typen, darunter beispielsweise „Produzenten“, „Profilierte“ oder „Netzwerker“, unterscheiden sich jeweils in dem Grad, zu dem sie sich an breitere Öffentlichkeiten wenden bzw. zu dem sie die gestaltenden Möglichkeiten ausnutzen.
Abbildung 1:
Abbildung 1: Typologie der Web 2.0-Nutzer (Quelle: Gerhards/Klingler/Trump 2008, S. 139)
Der Vorzug dieser Typologie ist, dass sie keinen direkten Bezug auf einzelne Anwendungen nimmt, sondern übergreifende Verhaltensmuster beschreibt und 2
Die Identifizierung dieser Nutzertypen geschah auf Grundlage von qualitativen Interviews und Gruppendiskussionen, die Quantifizierung anschließend anhand einer Online-Befragung unter Social-Web-Nutzern (N=501).
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durch den Einbezug der Publikumsdimension den sozialen Charakter der Nutzung berücksichtigt. Um Medienkompetenzen für das Social Web zu identifizieren, ist sie allerdings nur eingeschränkt geeignet: Sie zeigt verschiedene Rollen auf, die Nutzer im Gebrauch bestimmter Anwendungen einnehmen können, gibt aber keine ausführliche Auskunft über einzelne Aspekte konkreter Nutzungsepisoden, in denen spezifische Kompetenzen nötig werden. Hierfür erscheint die Unterteilung geeigneter, die für die kommunikationssoziologische Analyse von Social Software eingeführt wurde und die zwischen drei anwendungsübergreifenden Handlungskomponenten Identitätsmanagement, Beziehungsmanagement und Informationsmanagement unterscheidet (Schmidt 2006a, 2007; vgl. auch Tabelle 1). Anders ausgedrückt: Anwendungen des Social Web bieten den Nutzern die Möglichkeit, Aspekte der eigenen Person (Interessen, Meinungen und Erlebnisse, aber auch Kontaktinformationen o.ä.) im Netz zu veröffentlichen und soziale Beziehungen zu anderen Menschen zu artikulieren, zu pflegen bzw. gegebenenfalls neu zu knüpfen. Dies kann individuell unterschiedlich stark ausgeprägt sein und verschiedene Anwendungen umspannen. Wie in der obigen Typologie deutlich wird, gibt es beispielsweise Nutzer, die vorrangig als „Netzwerker“ aktiv sind, sich also vor allem auf Kontaktplattformen wie studiVZ oder XING einbringen. Für Nutzer vom Typ „Selbstdarsteller“ hingegen ist es u. U. attraktiv, zusätzlich auch noch ein eigenes Weblog oder einen Podcast zu führen, in denen insbesondere Aspekte des Identitätsmanagements an Bedeutung gewinnen.
Nutzungspraktiken im Social Web – Impulse für die medienpädagogische Diskussion
Handlungskomponente Identitätsmanagement Beziehungsmanagement Informationsmanagement
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Tätigkeiten
Beispiele
(selektives) Präsentieren von Aspekten der eigenen Person (Interessen, Meinungen, Wissen, Erlebnisse …) Pflege von bestehenden und Knüpfen von neuen Kontakten
Ausfüllen einer Profilseite; Erstellen eines eigenen Podcasts
Auffinden, Rezipieren und Verwalten von relevanten Informationen
Bestätigen oder Annehmen von Kontaktgesuchen; Verlinken von anderen Weblogeinträgen Einordnen von Informationen aus Wikis; Taggen einer Website; Abonnieren eines RSSFeeds; Bewerten eines Beitrags (z.B. durch Punktevergabe oder Kommentieren)
Tabelle 1: Handlungskomponenten im Social Web Ähnlich wie die Trennung zwischen dem aktiv-produzierenden und dem passivrezipierenden Handlungsmodus ist auch die zwischen den drei Handlungskomponenten in hohem Maße analytisch. In der konkreten Internetnutzung fließen beispielsweise Aspekte des Identitäts- und Beziehungsmanagements oft zusammen, da die Präsentation der eigenen Person in der Regel Bezug auf ein bestimmtes Publikum nimmt, über das mehr oder weniger genaue Kenntnisse vorliegen können. Nutzer richten also die Informationen, die sie online von sich preisgeben, zu einem gewissen Grad auch an dem vorgestellten Publikum aus. Dadurch widmet sich beispielsweise das Weblog eines selbstständigen PRBeraters, der sich an Kollegen und potenzielle Kunden richtet, anderen Themen und stellt eine andere Art der Selbstpräsentation dar als das persönliche OnlineJournal eines jugendlichen Tokio-Hotel-Fans. Die Betreiber von Kontaktplattformen fragen je nach der grundlegenden Ausrichtung ihres Angebots unterschiedliche persönliche Informationen ab, um die Selbstpräsentation gegenüber spezifischen Publika bzw. Bezugspersonen zu unterstützen: XING ist als Plattform für professionelle Kontaktpflege konzipiert und erfasst daher insbesondere berufliche Informationen wie Expertise oder Arbeitserfahrungen; die studentische Plattform studiVZ sieht dagegen Profilinformationen wie Lieblingsmusik, Lieblingsfilme oder den Beziehungsstatus vor.
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Identitäts- und Beziehungsmanagement sind Leistungen, die nicht allein im Internet erbracht werden müssen. Die gesteigerten Erwartungen der Lebens- und Arbeitswelt im Hinblick auf Flexibilität, Mobilität und lebenslanges Lernen fördern den Trend zum „networked individualism“ (Wellman 2001). Der Einzelne ist dadurch zunehmend herausgefordert, sich neue soziale Netzwerke aufzubauen oder bestehende Kontakte aufrecht zu erhalten und zu pflegen, um an Sozialkapital zu gelangen. Zudem sind gerade für Jugendliche die Präsentation des eigenen Selbst und das Eingehen sozialer Beziehungen wichtige Prozesse der Identitätsfindung und -bildung, beispielsweise in Peer Groups oder subkulturellen Stilgemeinschaften, aber auch in Partnerschaften. Anwendungen des Social Web unterstützen diese Anforderungen und das „Networking“ als aktive Tätigkeit. Dabei manifestieren sich die Ergebnisse des Beziehungsmanagements in Kontakt- oder Freundeslisten, oder in Verlinkungen und Kommentaren auf einem Weblog, sind also nach außen hin erkennbar und für andere einsehbar. Diese Informationen geben zu einem gewissen Grad Aufschluss über die Persönlichkeit und die Interessen einer Person, stellen insofern auch wiederum Facetten des Identitätsmanagements dar. Sozialpsychologische Experimente auf der Kontaktplattform Facebook zeigen beispielsweise, dass das Aussehen und die Kommentare von Freunden einen Einfluss auf die Einschätzung der Persönlichkeitsmerkmale eines Profileigners haben (vgl. Walther et al. 2008). Bislang ist noch weitgehend ungeklärt, welchen Einfluss dieses öffentlich Machen unterschiedlicher Teile des eigenen sozialen Netzwerks auf die Wahrnehmung der sozialen Beziehungen selbst hat. Bestätigte Beziehungen werden plattformeinheitlich bezeichnet (bspw. als „Freunde“ auf studiVZ oder als „Kontakte“ auf XING), was die Nuancen überdeckt, die Menschen zwischen Freundschaften unterschiedlicher Intensität, zwischen Bekanntschaften, Kollegen oder Verwandten wahrnehmen. Die Kooperation einiger Fernsehsendungen mit Social Web-Plattformen kann darüber hinaus zu einer Intensivierung parasozialer Beziehungen3 führen, wenn z. B. Bewohner aus dem „Big Brother“-Haus über das zugehörige Internetangebot als „Freunde“ deklariert werden können4 oder die Kandidaten im amerikanischen Vorwahlkampf mySpace-Profile einrichten –
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Als parasozial werden Beziehungen bezeichnet, die zu Medienpersonen aufgebaut werden und die über die Rezeptionssituation hinaus bestehen. Zum Konzept der parasozialen Interaktion und der parasozialen Beziehung siehe Horton/Wohl (1956). Die Bewohner des Big-Brother-Hauses verfügen alle über ein Profil auf der Partner-Website Sevenload.com, in dem sie Angaben zu ihrer Person (Geschlecht, Alter, Schuhgröße, Hobbies, „Wissenswertes“, Vorlieben und Abneigungen machen. Über den Link „Freunde werden“ kann man (scheinbar) „Kontakt“ zu den Bewohnern aufnehmen und bei Bedarf auch mit anderen Fans dieser Person. Die Kontakte werden nach kurzer Zeit zur Liste der „bestätigten“ Freunde hinzugefügt.
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Barack Obama hat bereits über 330.000 „Freunde“ auf dieser Plattform gewonnen, John McCain etwa 50.000.5 Wiederholte Episoden des Identitäts- und Beziehungsmanagements führen aber nicht nur dazu, dass Facetten des eigenen sozialen Netzwerks online artikuliert werden. In dem Maße, wie Nutzer des Social Web bestimmte Informationen für andere Personen zugänglich machen, entsteht eine Vielzahl von miteinander verbundenen und sich überlappenden öffentlichen Sphären. Diese umfassen themenspezifische, wie auch persönliche Öffentlichkeiten – also solche Angebote, die nur für einen sehr eingeschränkten Personenkreis relevant sein mögen, weil ihn mit dem Urheber eine persönliche Bekanntschaft verbindet. Diese neuen vernetzten Öffentlichkeiten haben zudem strukturelle Eigenschaften, die veränderte Strategien des Informationsmanagements erfordern und zwar in zweierlei Hinsicht: In Bezug auf das Verhandeln von Grenzen zwischen Privatsphäre und Öffentlichkeit einerseits, und in Bezug auf das Navigieren und Recherchieren in den Informationsgefügen andererseits. Auf beide Aspekte soll im Folgenden näher eingegangen werden. Danah Boyd (2007) arbeitet vier Merkmale solcher „mediated networked publics“ heraus, die sie von nicht-mediatisierten Öffentlichkeiten in face-to-faceSituationen unterscheiden: 1.
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Persistenz (persistence): Kommunikationsakte und bereit gestellte Informationen sind in den onlinebasierten Umgebungen nicht flüchtig, sondern werden gespeichert, um asynchrone Kommunikation zu ermöglichen. Gleichzeitig bleiben sie dadurch jedoch auch noch nach Tagen, Monaten und Jahren auffindbar und aggregierbar. Durchsuchbarkeit (searchability): Die gespeicherten Kommunikationsakte können anhand von Suchbegriffen recherchiert und aufgefunden werden. Dadurch lassen sich Informationen zu einer Person oder einem Thema, die an unterschiedlichen Stellen im Netz gespeichert sind, zusammentragen. Derzeit betrifft dies vor allem noch Texte, doch es erscheint plausibel, dass mittelfristig auch Audio- oder Videodaten ähnlich gut von Suchmaschinen erschlossen werden können. Replizierbarkeit (replicability): Digitale Informationen können ohne Qualitätsverlust kopiert werden, so dass es schwer bis unmöglich wird, ein „Original” von einer „Kopie” zu unterscheiden. Dieser Umstand kann neue kreative Praktiken des Kombinierens und Re-Mixens von Inhalten genauso fördern wie das missbräuchliche Verwenden von Fotos,
Vgl. die kontinuierlich aktualisierten Daten unter http://www.techpresident.com/scrape_plot/ myspace [letzter Abruf: 31.3.2008].
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Videos oder Texten in einem anderen als vom Urheber intendierten Kontext. Unsichtbare Publika (invisible audiences): In vielen Situationen ist nur schwer abzuschätzen, welche Reichweite die jeweiligen themenspezifischen oder persönlichen Öffentlichkeiten haben, da Leser, Zuhörer oder -seher erst dann sichtbar werden, wenn sie sich selbst zu Wort melden, also beispielsweise einen Kommentar im Weblog oder im Gästebuch einer Profilseite hinterlassen. Dieser Umstand erschwert das Identitätsmanagement, das wie oben geschildert immer in Bezug auf Publika geschieht.
In ihrer Kombination führen diese Merkmale dazu, dass Grenzen zwischen unterschiedlichen sozialen Situationen und zwischen Graden von Öffentlichkeit und Privatsphäre durchlässig werden. Einmal eingestellte Informationen sind möglicherweise noch in zehn und mehr Jahren abrufbar, und sie sind möglicherweise auch für Personen sichtbar, für die sie nicht gedacht sind – man denke an das private Weblog, das von Kollegen oder Vorgesetzten gelesen wird. Unsere Identität besteht zwingend aus unterschiedlichen Facetten, die sich vor allem aus unterschiedlichen Rollenverpflichtungen und -kontexten zusammensetzen, die wir oft aus gutem Grund getrennt halten. Im Netz können diese zusammenfallen, was uns vor neue Herausforderungen stellt, denn Informationsmanagement folgt in dieser Hinsicht aus dem Identitäts- und Beziehungsmanagement: Welche Informationen mache ich welchen Gruppen zugänglich? Welche technischen Eigenschaften benutzter Anwendungen fördern die Sichtbarkeit einzelner Daten; welche ermöglichen es, eingeschränkte Publika z.B. für private Fotos oder Schilderungen persönlicher Erlebnisse zu definieren? Hinzu treten Routinen und Selektionskriterien die notwendig sind, um sich in den entstehenden vernetzten Öffentlichkeiten zu orientieren und die jeweils individuell relevanten Informationen zu erhalten. So wie im Social Web neue Kanäle für die Publikation und Verbreitung von Inhalten (Texte, Videos, Fotos oder Ton) entstehen, gewinnen dort auch neue Mechanismen der Selektion und des Filterns an Bedeutung. Zu den Leistungen der etablierten Gatekeeper des professionellen Journalismus treten zwei Prinzipien hinzu, die beide darauf beruhen, dass Nutzer selbst die Kanalisierung von Aufmerksamkeit übernehmen. Das erste Prinzip lässt sich als „Weisheit der Masse“ umschreiben, weil es die aggregierten Handlungen einer Vielzahl von Nutzern heranzieht, um Ranglisten von populären Themen oder Inhalten zu erstellen.6 Dies geschieht beispielsweise durch eine Übersicht von häufig abgerufenen Clips auf einer Videoplattform 6
Die Bezeichnung „Weisheit der Masse“ geht auf das englische „wisdom of the crowds“ zurück (vgl. Surowiecki 2004).
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(wie z.B. bei YouTube), von häufig in Weblogs verlinkten Filmen und Büchern (wie bei technorati.com) oder häufig verschlagworteten Quellen (wie bei misterwong.de). Als typische Visualisierungsform hat sich, ausgehend von kollaborativen Verschlagwortungssystemen, die „tag cloud“ eingebürgert. Sie stellt einzelne Schlagworte je nach der Häufigkeit ihres Vorkommens größer und/oder farblich hervorgehoben dar. Schließlich eröffnen manche Angebote auch die Möglichkeit, einzelne Beiträge oder Inhalte explizit zu bewerten, um so besonders qualitativ hochwertige Beiträge identifizieren zu können. Anders als beim journalistischen Gatekeeping in redaktionell erstellten Angeboten, das auf der professionellen Ausbildung und dem privilegierten Zugang zu Mitteln der Herstellung von Öffentlichkeit beruht, gehen somit im Social Web die Entscheidungen der einzelnen Nutzer in die Hierarchisierung von Inhalten und damit in die Aufmerksamkeitslenkung ein. Allerdings bevorzugen diese Mechanismen per definitionem diejenigen Inhalte, die eine möglichst große Anzahl von Personen interessieren. Für Nischenthemen kann dieses Verfahren möglicherweise ungenügende Resultate erzeugen, weswegen viele Nutzer auf ein weiteres Prinzip vertrauen, das als „Weisheit des eigenen Netzwerks“ umschrieben werden kann. Damit ist die Möglichkeit gemeint, sich mit Hilfe der RSSTechnologie7 ein individuelles Repertoire relevanter Quellen zusammenzustellen. Die meisten Angebote aus dem Bereich der Social Software (d.h. beispielsweise Weblogs oder Podcasts) sind auf diese Weise „abonnierbar“, aber auch eine wachsende Anzahl von Akteuren aus dem Bereich der Medien- oder Organisationskommunikation stellen ihre Inhalte als RSS-Feed zur Verfügung. Der einzelne Nutzer kann diese mit Hilfe von speziellen Programmen (den „Feed Readern“) vormerken und so unkompliziert über Aktualisierungen auf dem Laufenden gehalten werden. Dadurch ist es beispielsweise möglich, einzelne Weblogs, Wikiseiten und sogar Suchabfragen (bei spezialisierten Suchdiensten wie technorati.com) zu verfolgen, was zeitaufwändige Besuche auf einer Vielzahl einzelner Seiten zu vermeiden hilft. Wird ein neuer Inhalt publiziert, erhält der Nutzer (ähnlich einer E-Mail) eine Benachrichtigung in seinem Feed Reader, kann dort eine Zusammenfassung oder den ganzen Text einsehen und dann entscheiden, ob die ursprüngliche Webseite noch aufgerufen werden soll.
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RSS ist die Abkürzung für „Really Simple Syndication“ und bezeichnet ein spezifisches Format zur Darstellung von Inhalten im Internet, das auf der Auszeichnungssprache XML beruht. Grundlegende Informationen und weiterführende Links finden sich im entsprechenden Wikipedia-Eintrag unter http://de.wikipedia.org/wiki/RSS.
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Die bisherige Diskussion der drei dominierenden Handlungskomponenten des Social Web hat deutlich gemacht, dass das gegenwärtige Internet dem einzelnen Nutzer neue Möglichkeiten eröffnet, eigene Inhalte beizusteuern, mit anderen zu teilen und sich an öffentlichen Diskussionen zu beteiligen. Dieser „usergenerated content“ umfasst nicht nur Formate wie Texte, Videos, Fotos, Musik o.ä., sondern in wachsendem Maße auch persönlich relevante Informationen. Diese werden teils beabsichtigt, teils unbeabsichtigt an unterschiedlichen Stellen im Netz hinterlassen und prägen das Bild, das sich andere Personen von einem Nutzer machen können. Zwar hat nicht jeder Internetnutzer Interesse oder die notwendige Zeit, sich aktiv auf entsprechenden Plattformen, in Weblogs oder in Wikipedia einzubringen. Doch auch für diejenigen Personen, die das Social Web rein passiv-rezipierend verwenden, verändern die geschilderten Prozesse das Umfeld, in dem Informationen bereitgestellt und gefiltert werden. Aus diesen Veränderungen, die Gapski/Gräßer (2007: 25) als „Verwirklichung der informationellen Selbstbestimmung“ würdigen, folgen neue Herausforderungen: Etablierte Informationsmonopole und Kommunikationskanäle, ob im Journalismus, dem Marketing, der Politik oder der Vermittlung von Wissen, werden zwar nicht vollständig obsolet oder verdrängt, erhalten jedoch neue Konkurrenz – zumindest um die Aufmerksamkeit der Nutzer, die zunehmend knappes Gut wird. Aus medienpädagogischer Perspektive stellt sich daher zwangsläufig die Frage nach den erforderlichen Kompetenzen, um einen eigenständigen Umgang mit Social Web-Angeboten zu ermöglichen. Müssen bzw. können die existierenden Medienkompetenzansätze erweitert werden, oder braucht es eine spezifische ‘Web 2.0‘-Kompetenz? Einen ersten Ansatz bietet der von Gapski und Gräßer (2007) formulierte Vorschlag zur „Medienkompetenz 2.0“; dort wird Medienkompetenz definiert als „Fähigkeit zur Selbstorganisation eines Einzelnen oder eines sozialen Systems im Hinblick auf die sinnvolle, effektive und reflektierte Nutzung technischer Medien, um dadurch die Lebensqualität in der Informationsgesellschaft zu steigern“ (ebd.: 27).8 Ein vorrangig an Technologien bzw. Angeboten ausgerichtetes Verständnis von Medienkompetenz würde schon allein deshalb zu kurz greifen, da es technischen Entwicklungen immer hinterherhinken würde. Stattdessen plädiert der vorliegende Beitrag dafür, Medienkompetenzen entlang der grundlegenden Handlungskomponenten zu verstehen: Ein kompetenter, d.h. insbesondere selbstbestimmter Umgang mit dem Social 8
Der Begriff der Lebensqualität erscheint aus unserer Sicht diskussionswürdig, da er sehr subjektiv ist. Nicht jeder empfindet Partizipation, Mobilität, Flexibilität etc. als Aspekte von Lebensqualität. Wertneutral geht es hierbei zuvorderst um Ziele, die durch die Vermittlung bestimmter Kompetenzen auf unterschiedlichen Ebenen erreicht werden können.
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Web liegt dann vor, wenn das eigene Informations-, Identitäts- und Beziehungsmanagement erfolgreich und unter Reflektion der intendierten wie möglichen unintendierten Folgen geschieht. Dies schließt beispielsweise das Wissen um die technischen Optionen ein, Einstellungen zum Schutz der eigenen Privatsphäre gegenüber unbekannten Personen vorzunehmen, aber auch die Kompetenz, sich der entstehenden Öffentlichkeiten zu bedienen, um lokales bürgerschaftliches Engagement oder den Informationsaustausch zu einem persönlich relevanten Interessensgebiet zu fördern. Schon jetzt zeichnet sich ab, dass die „digital natives“ (Prensky 2001), d.h. diejenigen Personen, die mit digitalen Medien aufwachsen, das Spektrum verfügbarer Medien anders nutzen. Die „digital immigrants“, d.h. die Generation der Erwachsenen, die sich die digitalen Medien erst nachträglich aneignen, können und sollten sich darum bemühen, diese Perspektive nachzuvollziehen, werden aber – bis auf einige Ausnahmen – in diesen digitalen Lebenswelten nie vollkommen heimisch werden. Die (medien-) pädagogische Aufgabe besteht vor allem darin, Heranwachsenden einen selbstbestimmten Umgang mit aktuellen und künftigen digitalen Medienangeboten zu ermöglichen, indem sie die Auseinandersetzung und Reflektion mit den oben aufgezeigten Dimensionen anregen und fördern, denn „Medienkompetenz entwickelt sich eher in (psychischen und sozialen) Systemen, wenn geeignete Rahmenbedingungen und Stimuli geschaffen werden“ (Gapski/Gräßer 2007: 27, Hervorheb. im Original). Optimale Rahmenbedingungen wurden bislang vor allem in der aktiven Medienarbeit gesehen, die den Kindern und Jugendlichen einerseits produktive Erfahrungen und andererseits eine kritische Auseinandersetzung mit Medienangeboten ermöglichte und darüber hinaus auch eine Beteiligungsmöglichkeit bot. Angesichts der oben beschriebenen Entwicklungen und Möglichkeiten stellt sich allerdings die Frage, ob der ursprüngliche Ansatz der handlungsorientierten Medienpädagogik bzw. der aktiven Medienarbeit mit Blick auf die Social WebAngebote noch angemessen bzw. zeitgemäß ist. Welchen Stellenwert hat beispielsweise das Konzept von Gegenöffentlichkeit, die ursprünglich darin begründet liegt, „eigene Positionen zu Gegenständen sozialer Realität öffentlich zu machen und/oder Interessen öffentlich zu artikulieren, um die Chancen ihrer Durchsetzbarkeit zu erhöhen“ (Schell 2005: 15). Wie verändert sich dieser Anspruch angesichts der Möglichkeiten im Social Web, von Angeboten wie YouTube und MySpace? Auch die Bedeutung von Partizipation ist in diesem Zusammenhang zu überdenken und insbesondere mit Blick auf bildungsferne Heranwachsende zu diskutieren, die nach wie vor vom Digital Divide am stärksten betroffen sind (vgl. TNS Infratest 2007: 14). Zudem fehlen bislang grundlegende wissenschaftliche Erkenntnisse zu den angesprochenen Entwicklungen: Welche Bedeutung haben die sozialen Online-Netzwerke für Kinder und Jugendliche und
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welche konkreten Nutzungsweisen favorisieren sie? Welche Sensibilität besteht auf Seiten der Heranwachsenden hinsichtlich der Veröffentlichung und Persistenz von persönlichen Daten? Wie schätzen sie die Qualität von nutzergenerierten Inhalten ein, und wie bewerkstelligen sie die eigene Identitätsentwicklung unter Rückgriff auf Optionen des Social Web? Neben der Medienkompetenz gilt es aber auch, die medienpädagogische Kompetenz (vgl. Aufenanger 1998) zu berücksichtigen. Manche Angebote des Social Web entziehen sich weitgehend der Kontrolle von Eltern und Pädagogen und sind bislang auch von den Regelungen des gesetzlichen Jugendmedienschutzes weitgehend unberührt. Beispiele aus der öffentlichen Berichterstattung z.B. zur Bewertung von Lehrern auf Seiten wie www.spickmich.de oder schülerVZ zeigen, dass sich viele Eltern und Pädagogen überfordert fühlen und diesen Angeboten kritisch und ablehnend gegenüber stehen. Hier zeichnet sich ein deutlicher Bedarf an Handlungsempfehlungen ab, die Eltern und Lehrer in ihrer medienpädagogischen Kompetenz stärken. Eine zentrale Aufgabe der Medienpädagogik wird es daher sein, Arrangements von (sozialen) Situationen bereit zu stellen (vgl. Röll 2003), die das Lernen und den souveränen Umgang mit den neueren technologischen Entwicklungen begünstigen.
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Teil III Medienkompetenz und Web 2.0 in Bildungsinstitutionen
Ingrid Paus-Hasebrink, Tanja Jadin, Christine W. Wijnen, Anja Wiesner
Wikis und Weblogs in der Schule – Erfahrungen mit einem österreichischen Pilotprojekt
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Zum konstruktivistischen Lernparadigma als Chance für neue didaktische Einsatzszenarien
Kinder wachsen in mediatisierten Lebenswelten auf; so stellt ihr Umgang mit technischen Innovationen und konvergierenden Medienumgebungen eine bedeutsame Herausforderung und (Entwicklungs-)Aufgabe für sie selbst, ihre Eltern, aber auch für die Schulen dar. Insbesondere das Internet und damit zusammenhängend zunehmend auch Web 2.0-Anwendungen sind aus dem Alltag heutiger Kinder und Jugendlicher nicht mehr wegzudenken. Vor allem die Schule wird sich verstärkt damit auseinandersetzen müssen, wie sie die Kompetenz zum selbstgesteuerten Lernen bei Schülern1 fördern kann, um ihnen zu helfen, mit den Anforderungen des Arbeitslebens adäquat umzugehen (vgl. Meister 2004: 487). Neue mediale Entwicklungen, wie etwa Web 2.0 mit seinen vielfältigen Einsatzformen, u.a. Weblog und Wiki,2 auch im Kontext von Lernprozessen zu
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Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird darauf verzichtet, jeweils sowohl die weibliche als auch die männliche Form anzuführen; die männliche Form schließt daher sowohl weibliche als auch männliche Personen ein. Weblogs und Wikis sind Content Management Systeme. Ein Weblog ist gekennzeichnet durch eine umgekehrte chronologische Reihenfolge von Beiträgen und Kommentaren zu eben diesen Beiträgen. Kommunikationswissenschaftlich stellen Weblogs ein Genre oder Medienschema dar, „das seinen Platz zwischen ‚normalen’ Webseiten und asynchronen Formen der computervermittelten Kommunikation (wie E-Mail oder Diskussionsforen) einnimmt“ (Schmidt 2006: 21). Im Gegensatz zu diesen Diensten aber bieten Weblogs die Chance einer häufigeren Aktualisierung und mehr Möglichkeiten zum kommunikativen Austausch. Zudem erlauben sie – anders als die asynchrone zumeist textbasierte interpersonale Kommunikation dieser Art – die Einbindung multimedialer Elemente (vgl. ebd.). Bei einem Wiki arbeiten mehrere Autoren an einem webbasierten Dokument. Neben Wiki und Weblog lassen sich noch andere Web 2.0Anwendungen unterscheiden, so etwa Social Bookmarking Tools, wie del.icio.us, zur gemeinsamen Sammlung von Links, oder Flickr zur Fotosammlung. Zudem gibt es im Kontext von
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nutzen, kann eine Reihe von Vorteilen bieten und Kindern helfen, einen selbstständigen Umgang mit (neuen) medialen Entwicklungen zu erlernen (vgl. ebda). Nach Kerres/Nattland (vgl. 2007: 52) lässt sich dies vor allem im Kontext einer aktiven und sozialen Lernumgebung verwirklichen. Als Vorteile gelten unter anderem zeit- und ortsunabhängiges Lernen, die Editierbarkeit, Dokumentation und Wiederverwendbarkeit von Inhalten, Wechsel zwischen unterschiedlichen Kommunikationsphasen und der Zugriff auf andere digitale Informationsquellen (vgl. Hesse/Garsoffky/Hron 2002); dabei bietet sich das Konzept des kollaborativen Lernens an. Es zielt auf ein teamorientiertes, kooperatives bzw. kollaboratives Lernen ab (vgl. ebd.; Rothmeier/ Mandl 2002). Lernende zeigen sich dabei motivierter und profitieren von den unterschiedlich verfügbaren Ressourcen in der Gruppe (vgl. Fischer/Waibel 2002). Technische Probleme und mangelnde Nutzerakzeptanz, fehlende soziale Hinweisreize, Phänomene wie soziales Faulenzen und Trittbrettfahren können jedoch die virtuelle Zusammenarbeit erschweren (vgl. Fischer/Waibel 2002; Reinmann-Rothmeier/ Mandl 2002). Doch nicht nur Vor- bzw. Nachteile kennzeichnen das kollaborative Lernen, sondern auch zentrale allgemeine Merkmale können die Lernprozesse und Lernergebnisse beeinflussen. So spielen neben individuellen Eigenschaften (z.B. Vorwissen, Motivation) auch Gruppenmerkmale (z.B. die Art der Zusammensetzung) und Aufgabenmerkmale eine bedeutende Rolle für erfolgreiches computerunterstütztes Lernen; das Kommunikationsmedium selbst ist ebenso von Bedeutung (vgl. Reinmann-Rothmeier/Mandl 2002). Weblogs und Wikis werden bereits für Lehr- und Lernzwecke in der Hochschule eingesetzt und entsprechend evaluiert. (vgl. Wageneder/Jadin 2007). Neben ihrem Einsatz in der universitären Lehre stellt sich aber auch die Frage, ob bzw. wie sich diese neuen Möglichkeiten des Internets erfolgreich in den schulischen Unterricht integrieren lassen. Aus diesem Grund wurde von der Universität Salzburg in Kooperation mit der Telekom Austria, Saferinternet.at sowie dem Bundesministerium für Unterricht, Kunst und Kultur (BMUKK) ein Pilotprojekt an österreichischen Schulen durchgeführt.
Web 2.0 noch Videoplattformen wie Youtube und Podcasts. Am häufigsten werden jedoch für Lehr- und Lernzwecke derzeit Weblogs und Wikis eingesetzt.
Wikis und Weblogs in der Schule – Erfahrungen mit einem österreichischen Pilotprojekt
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Zum Projekt „Web 2.0-Klasse“
Das Projekt „Web 2.0-Klasse“ wurde im Juni 20073 an neun österreichischen Hauptschulen4 (Schüler von 11 bis 14 Jahren5) durchgeführt. Die Auswahl der betreffenden Schulen richtete sich nach ihrer Nähe zu den sieben Nationalparkregionen in Österreich. Zur Projektvorbereitung nahmen die Direktoren und Lehrer an einem zweitägigen Workshop zur Einführung in die Arbeit mit Wikis und Weblogs teil; den beteiligten Schulen wurde anschließend ein schulübergreifender Wiki für die Arbeit der Schüler sowie ein Weblog, der für den Austausch der Direktoren und Lehrer bestimmt war und als Support-Plattform diente, zur Verfügung gestellt. Den Lehrpersonen blieb es dabei selbst überlassen, auf welche Weise sie das Projektthema „Die Nationalparks Österreichs“ in ihren Unterricht integrierten; sie waren jedoch gebeten worden, den Schülern die Wahl der Themen sowie die Art der Bearbeitung (alleine oder in Gruppen, Informationssuche etc., schulübergreifende oder nur klasseninterne Zusammenarbeit im Wiki) möglichst selbst zu überlassen. Den Lehrern oblag es, die Ergebnisse der Projektwoche selbst zu beurteilen. Voraussetzung für die Schüler war lediglich, sich mit ihrem nächstgelegenen Nationalpark auseinanderzusetzen und die Ergebnisse ihrer Arbeit im schulübergreifenden Wiki allen anderen beteiligten Schulklassen zugänglich zu machen. Die Evaluation6 zielte darauf, die wahrgenommenen Lerneffekte und die Motivation zu überprüfen, nicht jedoch den Lernerfolg selbst bzw. die Beurteilung der Schülerprodukte. 3
Zum Design der Studie
Im Zuge der Untersuchung wurden alle Beteiligten schriftlich befragt; in ausgesuchten Schulen fanden Klassengespräche sowie Leitfadeninterviews mit ausgewählten Schülern, Lehrern und Direktoren statt. Eine Inhaltsanalyse des SchülerWikis sowie des Lehrer-Weblogs rundete die Studie ab. 3
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Das Projekt startete am 10. und 11.05.2007 mit einem Einführungsworkshop für die Lehrer und Direktoren. Anschließend konnte in den Schulen mit der Arbeit begonnen werden; die meisten widmeten sich aber in den letzen Schulwochen im Juni 2007 dem Projekt. Die Evaluation erfolgte in der letzten Juni- und der ersten Juliwoche. In ländlichen Regionen – wie auch bei diesem Projekt – können österreichische Hauptschulen im weitesten Sinne als Gesamtschulen betrachtet werden, da aufgrund topographischer und infrastruktureller Gegebenheiten nur wenige Kinder schon im Alter von 10 Jahren die Unterstufe eines Gymnasiums besuchen (können). So werden in der Regel Schüler unterschiedlicher Niveaus in einer Klasse unterrichtet. Es handelt sich hierbei um die sechste und siebte Schulstufe. In einer Klasse war jedoch auch ein Mädchen im Alter von 15 Jahren. Siehe dazu die Gesamtstudie unter http://www.telekom.at/Content.Node/verantwortung/ sponsoring/projekte/web20klasse-evaluationsbericht.pdf (12.03.2008).
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Ingrid Paus-Hasebrink, Tanja Jadin, Christine W. Wijnen, Anja Wiesner
Um einen möglichst umfassenden Blick auf den Untersuchungsgegenstand – die Arbeit der Schüler und der Lehrkräfte mit dem im Rahmen dieses Projekts zur Verfügung gestellten Wiki und Weblog – zu erhalten, wurden verschiedene Methoden der Datenerhebung miteinander kombiniert.7 Den Kern dieser Evaluationsstudie bildete eine schriftliche Befragung aller Beteiligten auf zwei Ebenen: Die Schüler (n= 169) wurden mittels eines Onlinefragebogens zu ihrer allgemeinen Mediennutzung, zu ihrer Internetnutzung im Besonderen (inkl. Web 2.0-Anwendungen), zur Bewertung des Schul- und Klassenklimas sowie zur Bewertung des gesamten Projektverlaufs befragt. Die Fragen waren geschlossen mit vorgegebenen Antwortkategorien, zum Abschluss konnten die Schüler aber in freien Textfeldern weitere Bemerkungen anfügen. Um mögliche Einflüsse von Seiten der Lehrenden auszuschließen, wurden diese gebeten, während der Fragebogenerhebung den Raum zu verlassen. Gleichzeitig waren zumindest zwei Personen des Evaluationsteams anwesend, um den Kindern bei Unklarheiten oder technischen Problemen behilflich zu sein. Das Team informierte die Schüler darüber, dass die Fragebögen anonym ausgewertet werden und die Lehrer keinen Einblick in die Ergebnisse erhalten. Des Weiteren wurde darauf geachtet, dass sich die Kinder während des Ausfüllens des Fragebogens weder mündlich noch schriftlich austauschten. Die beteiligten Lehrer und Direktoren (n= 27)8 wurden mit einem klassischen „Paper & Pencil“-Fragebogen befragt; es handelte sich weitgehend um geschlossene Fragen,9 mit denen die Mediennutzung und Fragen zum Projektverlauf (Vorteile, Nachteile, Probleme, Verwendung von Weblog und Wiki im Projekt) erfasst wurden. Des Weiteren wurden die Befragten gebeten, Auskunft über ihre Verwendung von Computer und Internet im Unterricht, ihre Einschätzung des Potentials neuer Medien im Unterricht und zu ihrer allgemeinen Einstellung gegenüber dem Internet und Web 2.0-Anwendungen im Besonderen, ihre Bewertung des Schul- und des Klassenklimas sowie über wahrgenommene Lerneffekte zu geben. Zur detaillierten Ergänzung der Ergebnisse aus der schriftlichen Befragung fanden mit ausgewählten Personen Leitfadeninterviews statt; diese mündliche Befragung erfolgte auf vier Ebenen: Vier der hauptverantwortlichen Lehrer wurden in Leitfadeninterviews zu ihren Erfahrungen während des Projekts sowie zu ihren Zukunftsperspektiven zum 7 8 9
Das Forschungsdesign dieser Studie wurde den teilnehmenden Lehrpersonen und Direktoren im Rahmen des einführenden Workshops erklärt; sie wurden zudem gebeten, ihre Erfahrungen während des Projekts in einem Dokumentationsbogen festzuhalten. Bei den am Projekt beteiligten Lehrern handelte es sich in der Mehrzahl (n= 17) um Lehrpersonen, die mehrere Fächer unterrichteten; zehn der insgesamt 27 Lehrpersonen waren Mathematiklehrer. Der Fragebogen wurde am Tag der Befragung vom Evaluationsteam mitgebracht und direkt an der Schule ausgefüllt.
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Einsatz von Web 2.0 im Unterricht befragt.10 Mit vier ausgewählten Schulklassen wurden zudem offen gehaltene Gespräche geführt.11 Diese dienten einem Screening zur Auswahl einzelner Schüler für Leitfadeninterviews. Diese Einzelinterviews wurden mit jenen Schülern geführt, die sich entweder im Klassengespräch durch ein großes Engagement und reges Mitteilungsbedürfnis auszeichneten oder bei denen erkennbar war, dass sie die kollektive Meinung der Klasse nicht ganz teilten und das Bedürfnis hatten, ihre persönliche Meinung auch zu äußern (aber im Klassengespräch nicht immer damit durchkamen).12 Zusätzlich zur schriftlichen und mündlichen Befragung wurden der ProjektWiki sowie der Projekt-Weblog einer quantitativen und qualitativen Inhaltsanalyse (Mayring 2003) unterzogen, um die im Wiki präsentierten Anwendungsformen, die Arbeitsweise und den Umgang mit dem Wiki sowie im Weblog die Kommunikation der Lehrkräfte und Direktoren zu untersuchen.13 4
Zum Stellenwert von Medien im Alltag der Schüler: Welche Rolle spielt das Internet?
Zu einer angemessenen Beurteilung des Projekts „Web 2.0-Klasse“ bedarf es einer Auseinandersetzung mit dem Medienalltag der beteiligten Personen. So wurde mittels geschlossener Fragen in einem Ja-Nein-Antwortformat erfasst, ob 10
11 12
13
Um die Aussagen der Befragten besser einordnen zu können, wurden sie zudem um Angaben zu ihrer Mediennutzung gebeten. Obwohl vor allem die Lehrkräfte in direktem Kontakt mit den Schülern standen und diese während ihrer Arbeit begleiteten, wurde in die mündliche Befragung auch die Perspektive zweier Direktoren einbezogen. Dies ist damit zu begründen, dass die Schulleiter zum einen durch einen gewissen Abstand einen besseren Überblick über den gesamten Projektverlauf an ihrer Schule hatten (z.B. allgemeine Stimmung während des Projekts, Motivation der Lehrer und Schüler) und zum anderen eine wesentliche Rolle in der Schaffung eines geeigneten Umfelds für dessen Durchführung spielten (z.B. Genehmigung von Exkursionen, fächerübergreifendem Arbeiten; das Blocken von Stunden) bzw. auch im Hinblick auf die Ermöglichung eines zukünftigen Web 2.0-basierten Lehrens und Lernens eine große Bedeutung haben werden. Klassengespräche ermöglichen es im Besonderen, Stimmungen aufzunehmen und ein spezielles Thema im Klassenverband zu diskutieren (vgl. Darbyshire/ MacDougall/ Schiller 2005: 421). Im Mittelpunkt der Leitfadeninterviews mit den ausgewählten Schülern standen einerseits ihre Erfahrungen im Projekt und etwaige Zukunftsszenarien des Einsatzes von Web 2.0 in der Schule, andererseits ihr Medienumgang und ihre Mediennutzung. Sowohl die Leitfadeninterviews als auch die Klassengespräche wurden mittels thematischen Kodierens (vgl. Flick 1995) ausgewertet. Daneben wurden in erster Linie von den hauptverantwortlichen Lehrenden während des gesamten Projekts Dokumentationsbögen geführt; durch sie ließen sich neben den schriftlichen und mündlichen Befragungen zusätzliche (erklärende) Informationen über den Projektverlauf erhalten. Die Bögen wurden wie die Klassengespräche und die Leitfadeninterviews ebenfalls mittels thematischen Kodierens (vgl. Flick 1995) ausgewertet.
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die Schüler zu Hause über Computer und Internet verfügen und wie häufig sie beides nutzen (5-Punkte-Likert-Skala mit den Ankern „niemals“, „einmal pro Monat“, „einmal pro Woche“, „mehrmals pro Woche“ und „täglich“). Die Ergebnisse zeigen, dass die Mehrheit der Schüler einen eigenen PC (63,9%) besitzt; 83,7% der Schüler können von zu Hause aus das Internet nutzen. Die meisten nutzen das Internet mehrmals pro Woche (41,6%), 25,3% sogar täglich, und nur 6 % geben an, von zu Hause aus niemals im Internet zu surfen. Das Internet (5-Punkte-Skala mit den Ankern „sehr oft“, „oft“, „manchmal“, „selten“, „nie“ und der Option „kenne ich nicht“ bei 18 Internetanwendungen zur Auswahl und einem offenen Antwortfeld) verwenden die Schüler vor allem um zu surfen (70,1%) und zu chatten (42%). Im Bereich der Web 2.0-Anwendungen stehen das Onlinestellen von Audiobeiträgen (36,4%) und das Ansehen von Videos (33,1%) im Vordergrund; Wikis werden eher passiv (32,9%) als aktiv (20,6%) genutzt. Die Plattform „My Space“ wird von einem Drittel der Heranwachsenden selten bis manchmal besucht; nur 5,6% verwenden diese Plattform oft. Weblogs werden ebenfalls eher gelegentlich genutzt; der Großteil der Befragten (60,3%) begnügt sich mit dem Lesen, aber 40,6% der Kinder hat sich bereits als Weblog-Autor betätigt (siehe Abb.1).
Abbildung 1:
Nutzung von Web 2.0 Anwendungen durch Schüler (Angaben in Prozent)
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Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die am Projekt beteiligten Schüler über ein umfangreiches Medienrepertoire verfügen. Sie sind mit Internet und Computer ausgestattet und nutzen diese Medien im Schnitt mehrmals pro Woche. Im Bereich des Web 2.0 werden Wikis regelmäßiger als Weblogs aufgesucht; einige Kinder nutzen auch aktiv die partizipativen Möglichkeiten dieser Internetangebote und stellen ihren Freunden Audiobeiträge zur Verfügung oder schreiben in Wikis und Weblogs. 5
Wie wird der Einsatz von Wikis und Weblogs im Unterricht bewertet?
Um beurteilen zu können, wie die befragten Lehrpersonen neue Medien im Unterricht bewerten, wurden deren Internetnutzung und im Besonderen der Umgang mit Web 2.0-Anwendungen untersucht. Von den 27 am Projekt beteiligten Lehrern14 gaben 81,5% an, oft im Internet zu surfen (5-Punkte-Skala mit den Ankern „sehr oft“, „oft“, „manchmal“, „selten“, „nie“ und der Option „kenne ich nicht“ bei 18 Internetanwendungen zur Auswahl und einem offenen Antwortfeld). Dabei wird vor allem in Wikis gelesen (51,8%).15 18,5% der Lehrer geben an, dass sie oft in Weblogs lesen und Bilder online stellen. Die Möglichkeit, sich Videos anzusehen (11,1%), Audiobeiträge anzuhören (3,7%) und in einem Wiki mitzuschreiben (3,7%), wird jedoch seltener genutzt. Zu bemerken ist, dass 22,2% der Lehrpersonen selten bis manchmal die Plattform „My Space“ besuchen. Wie neue Medien in den Unterricht integriert werden, hängt unter anderem von der Einstellung der Lehrpersonen ab. Daher wurden die Positionen der Lehrer gegenüber dem Internet als Kommunikations- und Informationsmedium in Anlehnung an Eichenberg (vgl. 2005) mit Hilfe eines fünfstufigen semantischen Differentials erhoben. Demgemäß hatten die Lehrer sechs bzw. neun Eigenschaftspaare zum Internet als Kommunikations- bzw. Internetmedium zu bewerten (z.B. ob das Internet als Informationsmedium zuverlässig oder unzuverlässig einzuschätzen ist). Dabei zeigten t-Tests, dass das Internet als Informationsmedium hinsichtlich Praktikabilität, t(25) = 10,90; p < .000, Schnelligkeit, t(27) = 10,36; p < .0001 und Einfachheit, t(26) = 9,73; p < .0001 signifikant positiver beurteilt wird denn als Kommunikationsmedium. Im Zusammenhang mit Kommunikationszwecken wird das Internet jedoch als signifikant zuverlässiger eingeschätzt als mit Informationszwecken, t(25) = 11,35; p < .0001. Des Weiteren wird das Internet aus Perspektive der Lehrpersonen im Hinblick auf seine Informationsfunktion von 59,2% als informationsüberflutend, 14 15
Unter den Befragten waren auch Direktoren. Die Prozentangaben beziehen sich auf die Summenwerte der Angaben „oft“ und „sehr oft“.
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gleichzeitig aber von 55,6% als übersichtlich beurteilt. 80,8% der Lehrer schätzen das Internet als unverbindliches und 81,5% als persönliches Kommunikationsmedium ein. Jeweils 42,3% der Befragten beurteilen das Internet als kooperationsfördernd und beständig. Welche dieser Medien werden aber nun tatsächlich im Unterricht eingesetzt? Über zwei Drittel der Heranwachsenden geben an, dass mehrmals pro Woche mit Computer (65%) und Internet (62,5%) gearbeitet wird. Einmal in der Woche erfolgt der Computereinsatz im Schulalltag von 25,8% der Kinder, und 23,1% geben an, dass das Internet einmal wöchentlich genutzt wird. Eine tägliche schulspezifische Nutzung dieser Medien (Computer 7,4% und Internet 8,1%) ist offensichtlich eher selten. 41,7% der Lehrer geben hingegen an, den Computer mehrmals pro Woche im Unterricht einzusetzen; 20,8% tun dies täglich. Das Internet verwenden 16, 7% täglich und 33,3% mehrmals pro Woche in schulischen Kontexten. Computer und Internet können (für die am Projekt beteiligten Schulen) daher als integraler Bestandteil des Schulunterrichts betrachtet werden, denn nur 8,3% der befragten Lehrpersonen benötigen diese Medien nicht für den Unterricht. Zusätzlich zur Frage nach der allgemeinen Verwendung von Computer und Internet im Unterricht wurden die Lehrer auch gebeten, Auskunft über den Einsatz diverser medialer Werkzeuge im Unterricht zu geben 5-Punkte-Skala mit den Ankern „sehr oft“, „oft“, „manchmal“, „selten“, „nie“ und der Option „kenne ich nicht“ bei 18 Internetanwendungen zur Auswahl und einem offenen Antwortfeld (5-Punkte-Likert-Skala mit den Ankern „sehr oft“, „oft“, „manchmal“, „selten“, „nie“ bei 15 Computer- und Internetanwendungen zur Auswahl). Am häufigsten kommen Textverarbeitungsprogramme (88% der Lehrer antworten mit „oft“ und „sehr oft“) zum Einsatz; des Öfteren werden auch Programme zur Präsentationserstellung (44%) sowie Lernprogramme auf CD-Roms (33,4%) herangezogen. Lernspiele und Lernprogramme aus dem Internet werden wie Videos und DVDs lediglich manchmal bis selten im Unterricht eingesetzt. In fünf der neun untersuchten Schulen ist zudem eine Lernplattform in Verwendung (siehe Abb. 2).
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Abbildung 2:
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Verwendung medialer Werkzeuge der Lehrer für den Schulunterricht (Angaben in Prozent)
Generell stehen die am Projekt beteiligten Lehrpersonen dem Einsatz neuer Medien im Unterricht sehr positiv gegenüber: 38,4% stimmen der Auffassung, dass diese den herkömmlichen Unterricht gut ergänzen sehr zu; weitere 49,9% stimmen eher zu; die restlichen 11,5% der Befragten sind geteilter Meinung.16 Dieser Trend spiegelt sich ebenfalls in der Beurteilung17 des Einsatzes von Web 2.0-Anwendungen im durchgeführten Schulprojekt wieder. Insgesamt beurteilten 75,1% der Lehrer den Einsatz von Web 2.0 als positiv (33,3% stimmten sehr und 41,8% eher zu); weitere 16% konnten dem nur teilweise zustimmen. 16
17
Mit einer Skala von sechs selbstformulierten Aussagen wurde die Einstellung zu den so genannten neuen Medien (Cronbach`s Alpha = .73; z.B. „Neue Medien können den herkömmlichen Unterricht gut ergänzen“) mittels eines Fünf-Punkte-Antwortformats („stimme überhaupt nicht zu“ bis „stimme voll und ganz zu“) erfasst. Die Einstellung zu Web 2.0 Anwendungen im Projekt wurde mittels einer Skala von fünf selbstformulierten Items (Cronbach’s Alpha = .55, z.B. „Die Schüler fühlen sich durch den Einsatz von Weblog, Wikis und dergleichen überfordert.“) anhand einer Fünf-PunkteAntwortformats („stimme überhaupt nicht zu“ bis „stimme voll und ganz zu“) erfasst.
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Demgemäß wurde der Einsatz von Wikis, Weblogs und anderen Web 2.0Anwendungen auch von 77,7% der Lehrkräfte als geeignet für die Altersgruppe der 11- bis13-jährigen eingeschätzt, jedoch sprachen sich 11,1% deutlich dagegen aus. Nach Abschluss des Schulprojekts konnten sich 81,4% der Lehrer vorstellen, auch zukünftig mit Web 2.0-Anwendungen im Unterricht zu arbeiten. Insgesamt wurde der Einsatz des Wikis18 (75,1%) und des Weblogs19 (40,8%) im Projekt „Web 2.0-Klasse“ von den beteiligten Lehrpersonen als positiv bzw. sehr positiv beurteilt, jedoch zeigten sich deutliche Unterschiede zwischen diesen beiden Medien. Mit dem Wiki wurde generell sehr gerne gearbeitet (91,7% Zustimmung); 83,4% der Lehrer bestätigten, während des Projekts keine Schwierigkeiten im Umgang mit dem Wiki gehabt zu haben. Demgemäß waren zwei Drittel der Lehrpersonen der Meinung, dass sich Wikis für Gruppenarbeiten eignen würden. Das Weblog machte den Lehrern im Verlauf des Projekts sichtlich mehr Probleme, denn nur 41,7% berichteten von einem unproblematischen Einsatz. Daher gab auch nur ein Viertel an, gerne mit Weblogs zu arbeiten. Am ehesten konnten sich die Lehrpersonen vorstellen, Weblogs zur Dokumentation von Arbeitsschritten einzusetzen (45,8%), als Lerntagebuch wurde dieses Medium aber eher als ungeeignet eingestuft (nur 22,7% Zustimmung). Der Beurteilung von Weblogs ist hinzuzufügen, dass der den Lehrkräften und Direktoren als Kommunikationsplattform zur Verfügung gestellte Projekt-Weblog generell wenig genutzt wurde. Aus persönlichen Interviews geht hervor, dass für viele die Hemmschwelle zu groß war, sich aktiv als Weblog-Autor zu betätigen. 6
Subjektiv wahrgenommene Lerneffekte
In der vorgestellten Evaluationsstudie ging es nicht darum, objektive Lerneffekte zu messen, dennoch wurden sowohl Schüler als auch Lehrer nach ihrem subjektiv wahrgenommenen Wissens- und Erfahrungszuwachs20 befragt. Alle Lehrer bestätigten, durch das Projekt „Web 2.0-Klasse“ etwas gelernt zu haben; besonders hervorgehoben wurde der Erwerb neuer Fähigkeiten und Kenntnisse (96,1%). Über 80% der Lehrpersonen gaben an, dass ihre positiven Erwartungen an das Projekt sogar übertroffen wurden. Die Befragten betonten vor allem, viel über neue Medien erfahren zu haben (85,2%) und stellten für sich selbst soziale sowie inhaltliche Lerneffekte fest. So waren 63% der Meinung, eine neue Art der Zusammenarbeit mit ihren Schülern kennengelernt zu haben. Zudem äußerte sich 18 19 20
Skala mit drei selbstformulierten Items (Cronbach’s Alpha = .63) mit 5-Punkte Antwortformat. Skala mit vier selbstformulierten Items (Cronbach’s Alpha = .88) mit 5-Punkte Antwortformat. In Anlehnung an das Projekt „Wir werden Weltmeister“ (verfügbar über: http://www1.bpb.de/files/0LE0TT.pdf (01.04.2007) wurden dazu Items im 5-Punkte Antwortformat (z.B. Ich konnte neue Fähigkeiten und Kenntnisse erwerben) selbst formuliert.
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jeder zweite Lehrer (55,6%) auch Neues zum Thema Nationalpark, unter dessen Motto dieses Schulprojekt stand, erfahren zu haben. Die Schüler hatten ebenfalls das Gefühl, im Projekt etwas gelernt zu haben. Sie nannten vor allem einen Wissenszuwachs hinsichtlich des Umgangs mit Computer und Internet (77,2%), gefolgt von der Angabe, mehr über Nationalparks erfahren zu haben (71%) und den allgemeinen Erwerb neuer Fähigkeiten und Kenntnisse (66,7%). Über 58% der Heranwachsenden gaben an, viel über neue Medien dazugelernt zu haben. Des Weiteren hob die Hälfte hervor, gelernt zu haben, wie man in einer Gruppe arbeitet (44,4%). Dies hatte ihnen offensichtlich auch besonderen Spaß gemacht, denn 69,1% hat es gefallen, im Team zu arbeiten; 59,3% zeigten sich erfreut darüber, eine andere Form des Schulunterrichts genossen zu haben. 7
Zur sicheren Nutzung des Internets
Im Kontext eines medienkompetenten Umgangs mit dem Internet spielen Fragen der sicheren Nutzung ebenfalls eine zentrale Rolle. So wurden Schüler und Lehrer im Rahmen der Evaluation des Pilotprojekt Web 2.0-Klasse danach gefragt, welche Erfahrungen sie bereits in Bezug auf heikle Inhalte gemacht haben und was sie tatsächlich als bedenklich einschätzen.21 Wie die quantitative Online-Befragung ergab, waren die meisten Schüler der Meinung, dass man im Internet interessante Informationen finden könne (64,4%); sie zeigten sich jedoch auch davon überzeugt, dass man im Internet vorsichtig sein müsse (55,7%). So gaben 21,8% der Heranwachsenden an, im Internet schon einmal bedenkliche Inhalte gefunden zu haben;22 dazu zählten sie vor allem Pornographie, Gewinnspiele und Wetten. Während des Projekts, so die Aussage der Befragten, konzentrierten sie sich aber im Wesentlichen auf die Aufgabe des Projekts (34,8%) statt auf zielloses Surfen im Internet (16,9%).
21
22
Im Lehrer-Fragebogen wurde dies mit Hilfe einer Frage nach bedenklichen Inhalten mit offenen Antwortmöglichkeiten erfasst. Im Schüler-Fragebogen wurde eine entsprechende Frage zu den allgemeinen Erfahrungen gestellt; zusätzlich wurde mit Hilfe einer geschlossenen Frage (Statement-Vorgabe mit fünfstufiger Antwortskala) speziell nach bedenklichen Erfahrungen während der Projektwoche gefragt. Die Schüler wurden in den persönlichen Interviews danach gefragt, was für sie persönlich bedenkliche Inhalte sind.
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Abbildung 3:
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Aspekte zum Umgang mit dem Internet (Die Zustimmung setzt sich aus den Werten „stimme eher zu“ und „stimme sehr zu“ der 5-Punkte-Skala zusammen; Angaben in Prozent.)
Hinsichtlich der Beurteilung bedenklicher Internetinhalte lassen sich auch deutliche genderspezifische Unterschiede identifizieren. Auf die Frage „Beim Surfen im Internet habe ich schon einmal bedenkliche Inhalte gefunden“ antworteten signifikant häufiger sowohl Lehrer als auch Schüler, dass sie bereits auf bedenkliche Inhalte gestoßen seien als Lehrerinnen bzw. Schülerinnen (MLehrer = .42; p < .05;M Schüler = .16, p < .05). Dieser Befund geht einher mit dem ebenfalls signifikant häufigeren ziellosen „Herumsurfen“ im Internet: Die Schülerinnen stimmten der Aussage „Wir haben im Internet ziellos herumgesurft“, deutlich seltener zu (U = -.19; p < .05.); in den persönlichen Gesprächen äußerten sie sich auch häufiger darüber, dass man im Internet genau so vorsichtig (z.B. Fremden gegenüber) sein müsse, wie in der ‚realen Welt’. So erwähnten in den qualitativen Leitfadeninterviews beispielsweise zwei Schülerinnen und ein Schüler, dass sie schon einmal durch unabsichtliches Vertippen auf Internetseiten gekommen seien, die nicht jugendfrei gewesen seien. Die beiden Mädchen gaben an, dass sie dies extrem schockiert habe und dass sie mit ihren Eltern darüber gesprochen
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und diese dazu veranlasst hätten, derartige Seiten zu sperren. Der Junge nahm dieses Erlebnis offensichtlich wesentlich gelassener als die Mädchen und berichtete davon, sich gemeinsam mit Freunden darüber amüsiert zu haben. Viele der qualitativ befragten Schüler berichteten, dass sie im Internet schon des Öfteren Werbebannern – diese zählten für sie neben Seiten mit pornographischen Inhalten, Gewinnspiel und Wetten zu bedenklichen Inhalten – begegnet seien, hinter denen sie zweifelhafte Links vermuteten. Die Schüler betonten aber zugleich, dass sie solche Banner bewusst nicht anklicken würden. So erzählte beispielsweise ein Junge, dass der Familiencomputer von einem Virus infiziert wurde, weil sein Vater einem bedenklichen Link gefolgt sei und betonte, dass er selbst aber „nicht so dumm“ sei, etwas anzuklicken, von dem er nicht „überzeugt“ sei. Die Beurteilung von Internetinhalten im Hinblick auf ihre Qualität und Relevanz sei jedoch nach Aussage der Lehrpersonen den meisten Schülern sehr schwer gefallen, ebenso zu verstehen, dass man keine persönlichen Daten ins Netz stellen dürfe, da alles was sie im Internet schreiben würden, nicht nur von jedem gelesen, sondern auch Jahre später noch abgerufen werden könne. Die Kinder selbst gaben in den persönlichen Gesprächen einerseits zwar an, nicht alles zu glauben, was im Internet zu lesen sei, andererseits konnten sie jedoch nicht begründen, wann man einem Inhalt vertrauen könne und wann nicht. Bei näherem Nachfragen, woran bedenkliche Inhalte erkannt werden könnten, zeigten alle Schüler große Unsicherheit. Die Hinweise ihrer Lehrer, keine persönlichen Daten oder Unüberlegtes mehr ins Netz zu stellen, wollten alle befragten Kinder eigenen Bekundungen nach in Zukunft beherzigen. Die befragten Lehrer berichteten zudem, dass es sich im Projekt als schwierig herausgestellt habe, Heranwachsenden beizubringen, Inhalte aus dem Internet nicht einfach ohne Quellenangabe übernehmen zu dürfen. So hätten die Schüler Zitierregeln immer wieder ignoriert bzw. vergessen. Erst durch häufige Ermahnungen sowie insbesondere die eigene aktive Arbeit im Internet seien sie nach und nach dafür sensibilisiert worden. 8
Überlegungen zu Chancen und Konsequenzen von Wikis im Schulunterricht
Wie die Evaluation des Pilotprojekts „Web 2.0-Klasse“ gezeigt hat, halten Wikis Potenziale für kollaboratives Lernen bereit. Sie eignen sich zur Bereicherung des Unterrichts und zur Motivations- und Lernförderung von Schülern. Dazu bedarf es jedoch, wie die Befragung der Lehrer und Schüler gezeigt hat, einer didaktisch möglichst anregenden und abwechslungsreichen Integration in den Unterricht; als geeignet dafür erscheint ein projektorientiertes Unterrichtssetting. Vorausset-
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zung dafür sei es, Abstand von einem ‚harten Treatment’ zu nehmen und Entwicklungen zu fördern, die ein ‚weiches’ zulassen (vgl. ebd.). Ein effektiver Einsatz von Wikis in den Unterricht erfordere jedoch eine Veränderung von Schul- und Unterrichtsstrukturen. Im Vordergrund stehe dabei nach Aussagen der befragten Lehrpersonen die Chance, unbürokratisch projektorientiertes Arbeiten zu ermöglichen, das heißt Unterrichtsstunden blocken bzw. Exkursionen unternehmen sowie Projekte in einem interdisziplinären Lehrerteam durchführen zu können, damit neben organisatorischen Aufgaben noch genügend Zeit bleibe, auf die je spezifischen Bedürfnisse der Schüler einzugehen (vgl. PausHasebrink/Jadin/Wijnen 2007: 89) Derartige Forderungen knüpfen an reformpädagogische Ansätze an und lassen den Ruf nach der damit proklamierten Projektarbeit (vgl. Jürgens 1995) wieder lebendig werden. Lehrende fühlen sich zudem herausgefordert, wie die Evaluation deutlich gemacht hat, ihre Rolle vom Wissensvermittler zum Moderator zu verändern bzw. selbst stärker die Aufgabe eines ‚Supervisors’ zu übernehmen. Dies würde, wie eine Lehrerin hervorhob, verstärkt die Möglichkeit bieten, pädagogisch tätig zu werden, das heißt Schüler anzuleiten und, wenn nötig, sie beim Auswählen, Aufbereiten und Bewerten zu unterstützen (vgl. Paus-Hasebrink/Jadin/Wijnen 2007: 90). Eine derartige Unterrichtskonstellation erscheint als eine gute Voraussetzung auch zur gezielten Vermittlung von Medienkompetenz, insbesondere auch im Hinblick auf einen sicheren Umgang mit dem Internet. Wie die Evaluation des Pilotprojekts Web 2.0-Klasse gezeigt hat, bietet der Einsatz von Web 2.0Anwendungen – im vorliegenden Fall von Wikis – tatsächlich die Chance, die Medienkompetenz der Schüler zu stärken. Die qualitativen Ergebnisse der Evaluation haben erkennen lassen, dass sich die Schüler im aktiven Einsatz und in der Auseinandersetzung mit Wikis als „Werkzeug“ gleichzeitig kritisch mit Internet-Diensten auseinandergesetzt haben; sie haben etwa im eigenen Tun erfahren, wie wichtig Selektion und Recherche sind und konnten erste Erfahrungen sammeln, Angebote im Netz zu bewerten und nach Qualitätskriterien (z.B. Quellenangaben, Informationsgehalt) auszuwählen.23 Die Schüler haben, wie die Evaluationsergebnisse zeigen bzw. sie selbst bzw. ihre Lehrer erzählten, auch die Erfahrung gemacht, dass sie „nicht einfach herumsurfen“ können, um nicht ihr (selbst) gestecktes Unterrichts- bzw. Lernziel zu verfehlen. In weiterführenden und zeitlich besser ausgestatteten Projekten mit Wikis im Schulunterricht böte sich in Folge die Chance, für Kinder schwer einzuordnende bzw. zu verarbeiten23
In der Konfrontation mit dem wichtigen Thema Urheberrecht erhielten die am Projekt beteiligten Schüler die Chance, selbst zu erfahren, wie nötig die Kennzeichnung von Quellen ist. So haben einige Schüler explizit Wert darauf gelegt, dass eigene Produkte nicht von anderen ohne Offenlegung benutzt, also plagiiert, werden dürfen: „Da muss man sagen, woher man das hat“.
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de Erfahrungen mit Netzinhalten aktiv im Unterricht zu thematisieren und zu bearbeiten. Anknüpfend an ihren eigenen Erfahrungen könnte bei den Schülern Vertrauen aufgebaut werden, das nötig ist, damit gegebenenfalls entsprechende Hilfestellungen angenommen werden. Zudem könnte ein pädagogisch begleiteter Medieneinsatz die Chance erhöhen, sowohl Tendenzen des ‚Digital Divide’ entgegenzuwirken24 als auch eine kompetente, das meint zugleich sichere Nutzung des Internetsm, zu stärken.
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24
Eine am Projekt „Web 2.0-Klasse“ beteiligte Lehrerin merkte kritisch an, dass es jedoch nicht ausreiche, die Schulen technisch gut auszustatten; sondern auch die Elternhäusern, damit alle Kinde erfolgreich mit Web 2.0-Anwendungen arbeiten zu könnten. Die Lehrerin gab zu bedenken, dass in ihrer Region nur ca. 25% der Kinder auch in ihren Elternhäusern über einen Internetzugang verfügen. Sie habe Sorge, dass ihre Klasse in „Digitale“ (Kinder, die auch zu Hause über einen Internetanschluss verfügen) und „Analoge“ (Kinder, die ausschließlich in der Schule das Internet nutzen können) auseinanderfallen könnte.
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Ingrid Paus-Hasebrink, Tanja Jadin, Christine W. Wijnen, Anja Wiesner
Paus-Hasebrink, Ingrid/Jadin, Tanja/Wijnen, Christine W. (2007): Lernen mit Web 2.0. Aktualisierter Bericht zur Evaluation des Projekts „Web 2.0-Klasse“. Verfügbar über: http://www.telekom.at/Content.Node/verantwortung/sponsoring/projekte/web20klasseevaluationsbericht.pdf (12.03.2008) Reinmann-Rothmeier, Gabi/Mandl, Heinz (2002): Analyse und Förderung kooperativen Lernens in netzbasierten Umgebungen. In: Zeitschrift für Entwicklungspsychologie und Pädagogische Psychologie 34, 1, S. 44-57. Wageneder, Günter/Jadin, Tanja (2007): E-Learning2.0 – Neue Lehr-/Lernkultur mit Social Software? In: Verein „Forum Neue Medien“ (Hrsg.): E-Learning: Strategische Implementierungen und Studieneingang. Tagungsband 13. fnm-austria Tagung. Graz: Verlag Forum Neue Medien. Auch [Online] Verfügbar unter: http://wageneder.net/artikel/fnma-13.html [17.1.2007].
Frederik G. Pferdt, H.-Hugo Kremer
Berufliches Lernen mit Web 2.0 – Medien(entwicklungs)kompetenz und berufliche Handlungskompetenz im Duell?
Einleitende Gedanken und Ausgangsfragen „Web 2.0“ und „Social Media“ gelten heute längst nicht mehr als fremde Terminologien aus dem Fachjargon der Informatik. Diese Technologien haben bereits Einzug in Alltag und Berufsleben gefunden – ob als Wiki, Podcast, Videotauschplattform YouTube oder auch Networkingplattform StudiVZ resp. Facebook und sie werden fortwährend durch neue Angebote, wie z. B. derzeit Ning, als Plattform zur Erstellung eines individuell angepassten sozialen Netzwerks erweitert. Diese Technologien werden von Jugendlichen aufgegriffen und tragen erheblich zu einer Veränderung der individuellen Lebenswelten bei.1 Den digita1
Vgl. hierzu die Ergebnisse der aktuellen JIM Studie 2007 zur Web 2.0 Nutzung und der ARD/ZDF Online Studie 2007. Zusammenfassend stellt die JIM-Studie 2007 fest, dass fast jeder Jugendliche im Vergleich zu den neunziger Jahren ein Handy besitzt. Die Verbreitung von Internetzugängen in privaten Haushalten war vor zehn Jahren vergleichsweise schwach ausgeprägt und nur ein überschaubarer Anteil von Jugendlichen hatte damals schon eigene Erfahrungen im Internet gemacht, während die heutige „Generation @“ oder „net-generation“ bereits im Internetzeitalter groß und mit IuK-Technologien sozialisiert wird. „Ein Viertel der jugendlichen Internetnutzer beteiligt sich aktiv am „Web 2.0“ und produziert mindestens mehrmals pro Woche eigene Inhalte, sei es durch das Einstellen von Bildern, Videos, Musikdateien oder das Verfassen von Beiträgen in Blogs oder Newsgroups. Fast jeder dritte Junge und jedes fünfte Mädchen mit Interneterfahrung trägt so regelmäßig zum „Web 2.0“ bei, besonders aktiv sind die 14- bis 17-Jährigen“ (Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest/JIM-Studie 2007: 42). Beobachtungen von Kindern und Jugendlichen nach Meckel 2007 zeigen, dass heutzutage auf einem Schreibtisch sowohl ein Computer als auch ein Handy vorzufinden sind, mit denen fast zeitgleich Hausaufgaben erledigt, SMS geschrieben, telefoniert, gechattet, Onlinespiele absolviert werden. Suchmaschinen wie Google und das Onlinelexikon Wikipedia benutzt werden. Eine Sozialisation von Jugendlichen vollzieht sich damit automatisch mit dem Computer, dem Internet und dem Handy (vgl. Meckel 2007:17). Auf ähnliche Ergebnisse verweisen auch Dilger/Hertle/Kremer 2002, Kremer 2008 oder Pferdt 2007a.
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Frederik G. Pferdt, H.-Hugo Kremer
len Medien wird ein weiteres Mal ein hohes Potenzial für Lehr- und Lernprozesse beigemessen und mit ihnen ist die Hoffnung verbunden, Innovationen für Lehren und Lernen erreichen zu können. Die Expertenkommission „Bildung mit neuen Medien“ erklärt, dass Web 2.0-Technologien ein neues Paradigma zur Nutzung neuer Medien darstellen und weist innerhalb ihres Berichts auf folgende Potenziale hin: „Das Web 2.0 eröffnet ungeahnte Möglichkeiten der Vernetzung, der Gruppenbildung, der kooperativen Produktion von Inhalten, der Herstellung von Öffentlichkeit und Lenkung von Aufmerksamkeit, der Verwaltung und Erschließung von Informationen und Wissen bis hin zur Selbstdarstellung. Vernetzte Internettagebücher (mittels Blogs), kooperativ geschriebene Texte (mittels Wikis), neue Formen der Produktempfehlungen (durch Nutzerbewertung), neue Dienste zur kooperativen Erschließung von Wissen durch kooperative semantische Techniken (Folksonomies) wie auch das gemeinsame Bereitstellen und Bewerten von Inhalten (z. B. Videos, Fotos, Podcasts, Texte) haben mittlerweile signifikante Verbreitung und Akzeptanz gefunden“ (Expertenkommission 2007: 3).
Web 2.0 stellt sich damit gleichermaßen als Herausforderung und Chance für die berufliche Bildung dar. Allerdings bleibt offen, inwiefern neue Lernformen durch Web 2.0 Technologien unterstützt und getragen werden können. In diesem Zusammenhang gilt es zu untersuchen, ob diese Veränderung mit den Anforderungen beruflicher Bildung in Einklang zu bringen ist. Analysiert werden muss dabei insbesondere, wie sich Nutzungsformen von Web 2.0 mit dem Konzept der beruflichen Handlungskompetenz verbinden lassen oder anders formuliert: Welche Potenziale bietet Web 2.0 im sog. „Mitmach-Web“ für die Entwicklung einer beruflichen Handlungskompetenz? Im Rahmen des BLK- Modellversuchs „Kooperatives Lernen in webbasierten Lernumgebungen in der beruflichen Erstausbildung“ (KooL) werden derartige Nutzungsformen erprobt und untersucht. Im vorliegenden Beitrag sollen vor dem Hintergrund der Bedingungen in der beruflichen Bildung die Nutzungsformen dahingehend reflektiert werden, ob Mediennutzungsformen Chancen zur Entwicklung beruflicher Handlungskompetenz leisten können bzw. inwiefern Gefahren bestehen, dass diese Zielsetzung durch dominierende Mediennutzungsformen überlagert werden. Genauer betrachtet, bildet sich ein Spannungsfeld zwischen einerseits einer Kompetenz Medien zu entwickeln und der Entwicklung beruflicher Handlungskompetenz. Zumindest kann die These aufgestellt werden, dass eine Medien(entwicklungs)kompetenz nicht zwingend einer beruflichen Handlungskompetenz gleich gesetzt werden kann und die eine auch nicht aus der anderen gefolgert werden kann. In einem ersten Schritt möchten wir mit Anmerkungen zur beruflichen Bildung einen Ausgangspunkt für die weiteren Überlegungen bestimmen, daran anschließend Potenziale von Social Software diskutieren, um dann, basierend auf Erfahrungen aus dem Modellversuch KooL,
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eine erste Positionsbestimmung zur Entwicklung beruflicher Handlungskompetenz vorzunehmen. 1
Berufsbildungsperspektive – Anmerkungen zur lernfeldstrukturierten Bildungsgangarbeit in der beruflichen Bildung
1.1 Lernfeldkonzept – Kompetenzorientierung in der beruflichen Bildung Seit 1996 werden neue bzw. neugeordnete Ausbildungsberufe nicht mehr nach Fächern sondern nach Lernfeldern strukturiert.2 Lernfelder orientieren sich hierbei an Handlungsfeldern. Sie werden als didaktisch-aufbereitete Handlungsfelder interpretiert. Lernfelder werden für die Unterrichtsarbeit in Form von Lernsituationen präzisiert. Wir verstehen diese Lernsituationen didaktisch i. S. von innovativen Lernumgebungen. Bei der Gestaltung der Lernsituationen resp. von Unterricht muss daher der Bezug zu den „individuellen“ Handlungsfeldern der Lernenden wieder hergestellt werden. Dies zeigt sich darin, dass die in Lernsituationen angebotene Theorie in einen Anwendungszusammenhang gebracht wird. Das erworbene Wissen bezieht sich nicht abstrakt auf die Wirklichkeit, sondern soll auf konkrete Handlungsfelder und deren Problemstellungen bezogen werden. Eine Grundidee ist somit, Lerntransfer durch den Erwerb situierter Theorie zu unterstützen.3 Im Übrigen zeigt dies bereits, dass es keinen Widerspruch zwischen Fachtheorie (Fachinhalten) auf der einen Seite und Lernfeldern bzw. daraus abgeleiteten Lernsituationen auf der anderen Seite gibt. Vielmehr stellen Lernfelder neue Ordnungssysteme für das Fachwissen dar. Vor diesem Hintergrund ist es nach unserer Auffassung verkürzend, wenn vereinfachend zwischen Wissenschaftsorientierung und Situationsorientierung differenziert wird. Festzuhalten ist damit: Handlungsfelder werden didaktisch zu Lernfeldern aufbereitet. Lernfelder bieten einen Rahmen zur Rekonstruktion von Lebenssituationen. Diese sind nicht betriebsspezifisch zu entwickeln, sondern sollen Generalisierungen von betrieblichen und außerbetrieblichen Lebensräumen der Lernen2
3
Traditionell wurden Curricula in der beruflichen Ausbildung nach Fächern geordnet, so fanden sich z. B. in der kaufmännischen Ausbildung Fächer wie Allgemeine Wirtschaftslehre, Spezielle Wirtschaftslehre, Rechnungswesen oder Organisationslehre wieder. Es sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass diese Fächer nicht mit einer Wissenschaftsorientierung, wie sie beispielsweise von Dauenhauer vertreten wird, verbunden sind. Ein Kritikpunkt bestand u.a. darin, dass es kaum gelang, Wissen und Kompetenzen, die in diesen Strukturen aufgebaut wurden, in berufliche Handlungsfelder zu übertragen. Vereinfachend könnte hier angeführt werden, dass in derartigen Bildungskonzepten lediglich träges Wissen entwickelt wurde (vgl. Dauenhauer 2001 /2004, insbesondere Band 1: 205ff. und Band II:13 – 31; vgl. zu didaktischen Handlungskonzepten auch Euler/Hahn 2004: 57ff.; Kremer 2003). Vgl. Sloane/Twardy/Buschfeld 1998: 320 oder Mandl/Gruber/Renkl 1993 und 1994.
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den darstellen. Die Überführung von Handlungsfeldern in Lernfelder ist Bestandteil der Curriculumentwicklung, die einerseits von Rahmenlehrplankommissionen aufgearbeitet, aber auch für die Arbeit in berufsbildenden Schulen vorbereitet wird. Teile curricularer Präzisierungsarbeiten, und die Bestimmung einer bildungstheoretischen Position, die bisher außerhalb der Schule vorgenommen wurden, sind nun in den Schulen auszuführen. Auf der Grundlage der Lernfelder werden Lernsituationen entwickelt. Mit der Lernfeldkonzeption ist im Sinne eines handlungsorientierten Unterrichts die Ausarbeitung komplexer LehrLernarrangements verbunden. In solchen Arrangements werden die kasuistischen Strukturen des Handlungsfelds rekonstruiert, jedoch zum einen mit einer Bildungsabsicht und nicht als funktionale Vorbereitung auf Betriebsarbeit und zum anderen mit dem Anspruch, Fachwissen zu situieren. Ziel dieser Arrangements ist die Förderung transferfähigen Wissens, welches das Handeln der Lernsubjekte in potenziellen Handlungsfeldern der Praxis verbessert. (vgl. auch Gruber/Mandl/Renkl 2000 oder Law 2000) Aufgabe der Schule bzw. der Lehrerinnen und Lehrer ist es daher, aus Lernfeldern Lernsituationen zu entwickeln. Hierbei kann auf das Konstrukt der komplexen Lehr-Lernarrangements zurückgegriffen werden.4 Ziel ist es, den Transfer des in Lernsituationen von Lernenden erarbeiteten Wissens in die Lebenssituation (Handlungsfelder) der Lernenden zu unterstützen. Dies verlangt einerseits eine Differenzierung der Curricula an der einzelnen Schule bzw. im Bildungsgang und vor diesem Hintergrund die Entwicklung komplexer Lernumgebungen. Diese beiden didaktischen Aufgaben können als Kernaufgaben von Schulen angesehen werden.5 Eine Aufgabe besteht in der Entwicklung, Implementation und Evaluation komplexer Lernumgebungen. Eine Präzisierung der Zielvorgaben kann entsprechend der Ausbildungsrichtlinien über das Konstrukt „Berufliche Handlungskompetenz“ erfolgen: Berufliche Handlungskompetenz wird beispielsweise im zugrunde liegende Rahmenlehrplan „als die Bereitschaft und Fähigkeit des einzelnen, sich in gesellschaftlichen, beruflichen und privaten Situationen sachgerecht, durchdacht sowie individuell und sozial verantwortlich zu verhalten“ verstanden(KMK 1996/2000: 9). Handlungskompetenz entfaltet sich in den Dimensionen von Fachkompetenz, Personalkompetenz und Sozialkompetenz. Bezug nehmend auf die Dimensionen Sache, Gruppe und Person verlangt dies den Aufbau unterschiedlicher Wissensformen. Eine Differenzierung kann anlehnend an die verschiedenen Wissensformen als Orientierungswissen, Prozesswissen und Verantwortungswissen gekennzeichnet 4 5
Vgl. Achtenhagen/John 1992; Achtenhagen 1993; Achtenhagen 1999; Kaiser/Kaminski 1999; Riedl 2004: 80ff. Vgl. Ebner 2002.
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werden. Das „Wissen über Konzepte, Zusammenhänge und Erklärungen“ (Kremer 2007: 29) lässt sich unter dem Begriff Orientierungswissen zusammenfassen, Wissen über Vorgänge und Arbeitsschritte kann als Handlungswissen bezeichnet werden, Verantwortungswissen umfasst das Wissen um ethische Bewertungen, die sich beispielsweise auf die Verantwortbarkeit von Handlungen beziehen. Die verschiedenen Wissensformen können auf dieser Grundlage in Bezug zur materiellen Seite, d. h. zum jeweiligen Gegenstand der Kompetenz gestellt werden, was insgesamt zu einer „situativen Präzisierung“ (Kremer 2007) führt.67
Abbildung 1:
Kompetenzmodell in Anlehnung an Kremer 2007
Im zweiten Schritt geht es um die Entwicklung innovativer Lernumgebungen. Es können hier die folgenden Gestaltungskriterien hervorgehoben werden8: Situierung, Selbststeuerung und Kooperation.
6 7 8
Vgl. zur Struktur des Wissens auch Baumgartner 1993 und zu Wissensarten grundlegend Ryle 1949 oder Anderson 2001; Pferdt 2007b. Die Nähe zu handlungstheoretischen Überlegungen wird hier deutlich, soll aber nicht Gegenstand der Ausführungen sein. Vertiefend kann auf die handlungstheoretische Diskussion auf Aebli 1980 und 1981 verwiesen werden. Vgl. Kremer 2003: 156 ff.; Kremer/Sloane 1999; Braukmann 1993.
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Situationsprinzip Dies bedeutet, die Lernsituation soll in Anwendungsstrukturen eingebunden werden, was beispielsweise durch Fallstrukturen erreicht werden kann. Damit ist verbunden, dass die Lernsituation auf induktivem Wege zum Lernen über fachliche Erkenntnisse und Verfahren führt. Gerstenmeier/Mandl (2001: 5) kennzeichnen situierte Lernumgebungen als die Zusammenführung psychologischer, technologischer und philosophischer Elemente und heben hervor, dass diese Lernumgebungen eine Konstruktion von Wissen bewirken und eine Kontextgebundenheit des Wissenserwerbs ermöglichen sollen. Dörr/Strittmatter (2002: 30f.) stellen folgende Anforderungen für eine Situationsbezogenheit erwünschter Lernprozesse vor: Lernumgebungen konfrontieren Lernende mit authentischen Aufgabenstellungen, die aus einem (beruflichen) Alltagskontext stammen. Diese sollen das Identifizieren, Definieren und Lösen von Problemen vereinfachen. Die Konstruktion und nicht die Reproduktion von Wissen steht dabei im Vordergrund. Das Angebot verschiedener Perspektiven eines Sachverhalts fördert die 9 kognitive Flexibilität der Lernenden. Selbststeuerung Die Selbststeuerung von Lernprozessen als eine weitere relevante Gestaltungskomponente bezieht sich sowohl auf Lernziele wie auch auf Lernmethoden. Dilger (2007: 72) bezieht sich auf Zimmermann (1990: 3ff.) und weist Merkmale einer Lernsituation aus, in denen selbstgesteuertes Lernen möglich ist: Danach sollte die Lernsituation Freiräume in Bezug auf Lernabsichten, -zeiten und -methoden für Individualentscheidungen enthalten. Des Weiteren muss die Lernsituation die Möglichkeit zur Selbstinstruktion enthalten und dem Lernenden bei seiner Lernhandlung das Erleben der eigenen Verursachung ermöglichen und führt den Lernenden damit nicht nur auf die Bewältigung eines Gegenstandes bzw. einer Aufgabe zurück, sondern auf die eigene Lernhandlung, die damit auch in den Fokus der Gestaltung des Lehr-Lernprozesses gerückt wird. Kooperation Kooperation wird als eine weitere zentrale Gestaltungskomponente komplexer 10 Lernumgebungen betrachtet. Kooperation deutet auf die Gestaltung einer Lernumgebung hin, die individuelle Lernhandlungen beeinflusst. Positive Effek9 10
Vgl. grundlegend zu situiertem Lernen Lave/Wenger 1991 oder Greeno 1998. Jedoch darf kooperatives Lernen nicht nur auf die Zielsetzung der Verwirklichung von Lernzielen, d.h. Lernende organisieren sich in Gruppen um gemeinsam eine Problemstellung zu bewältigen, reduziert werden, sondern kooperatives Lernen kann selbst Ziel didaktischen Handelns sein.
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te auf kognitiver, sozialer und motivationaler Ebene werden Lernumgebungen, die nach dem Prinzip der Kooperation gestaltet sind, zugeschrieben. Diese positiven Effekte werden durch Aspekte wie ein hohes Maß an Interaktion und Kommunikation zwischen Lernenden, motivationale Wirkungen durch ein Zusammenhaltsgefühl in der Gruppe, die Herbeiführung kognitiver Konflikte und Dissonanzen sowie Modellernen durch die Beobachtung anderer im Team, gefördert. Nicht zu unterschätzen ist der Aspekt, dass kooperative Situationen zu positiver Interdependenz führen, d.h. es besteht die Möglichkeit, dass alle Mitglieder der Gruppe das Ziel erreichen können (vgl. ausführlicher Johnson/Johnson/Johnson Holubec 2002). Das Verständnis von Kooperation in diesem Konzept wird dabei nicht als Sonderform oder einzelne Gruppenarbeit gesehen, sondern die Gestaltung kooperativer Lernformen wird als durchgängiges Gestaltungselement verstanden. 1.2 Zur Implementation komplexer Lernumgebungen Die vorgestellten Gestaltungskriterien ermöglichen das Design von komplexen Lernumgebungen, die jedoch erst implementiert werden müssen, da das Design und die anschließende Implementation zwei Schritte in einem Gesamtprozess darstellen. Konkret bedeutet dies, dass die Umsetzung des Lernfeldkonzepts und die damit verbundene Implementation komplexer Lernumgebungen – wie an verschiedenen Stellen empirisch belegt – den Lehrkräften in der Praxis erhebliche Schwierigkeiten bereitet, die oftmals dazu verleiten, sich dem Problem auf dem Wege zu entziehen, auf fächerstrukturierte Lehrmethoden zurückzugreifen und unter dem Deckmantel des Lernfeldkonzepts weiterhin nicht handlungsrele11 vantes Wissen aufzubauen. In zwölf Jahren Curricular-Reform ist die Implementation des Lernfeldkonzeptes in die berufliche Bildung immer noch als problematisch zu beschreiben, da viele betroffene Lehrkräfte erst bei Umstrukturierung des Bildungsganges mit diesem Konzept konfrontiert werden. Implementationsprobleme lassen sich spezifischer auf verschiedenen Organisationsebenen identifizieren: (1) Auf der Makroebene, d.h. auf der Ebene der Curriculumentwicklung: Es geht hier um Fragen der Gestaltung von curricularen Vorgaben, wie z.B. das Problem der Abgrenzbarkeit und Spezifizierung von Handlungsfeldern. (2) Auf der Mesoebene, d.h. insbesondere auf der Ebene der Schulorganisation: Die Implementation des Lernfeldkonzepts verlagert verstärkt curriculare Entwicklungsarbeiten an die einzelnen Schulen, was zu unterschiedlichen Problemen führt. (3) Auf der Mikroebene, d.h. auf der Ebene der Unterrichtsführung: Fragen, wie die Gestaltung von Lernsituationen, die Simulation von Arbeitspro11
Vgl. beispielsweise die Studien von Kremer 2003.
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zessen und die didaktische Parallelität zwischen Lern- und Arbeitsprozessen ermöglicht werden kann.12 Den Blick zurück auf digitale Medien gerichtet, bleibt zu erörtern, welche Potentiale Social Media für das Design und die Implementation komplexer Lernumgebungen bieten. Welche Charakteristika mit Social Media verbunden werden, soll in einem ersten Schritt geklärt werden, um danach die Potenzialität auszuloten. 2
Medienperspektive – Social Media als didaktische Rezepturen?
Web 2.0 oder der neuen Generation des Web mit mehr Interaktivität und Social Media, mit der unzählige Individuen über das Netz aktiv oder passiv kommunizieren, sind drei Charakteristika inhärent. Das erste Charakteristikum ist das Verschwinden der Trennung von lokalen und zentralen Daten und Anwendungen. Als zweites Charakteristikum ist das Verschmelzen der Grenzen zwischen Produzenten und Konsumenten von Medieninhalten kennzeichnend. Das letzte Charakteristikum beschreibt die Personalisierung von Information durch die Kombination von Push- und Pull-Diensten (vgl. auch Kerres 2006). In Abgrenzung zu traditionellen Medien wie Bücher, Tafel etc. lassen sich Medien der Web 2.0-Generation wie Social Media folgendermaßen charakterisieren: x x x
x
12
Sie stehen online, zentral und öffentlich zur Verfügung und steigern ihren „Wert“ durch einen „je mehr (Partizipation) desto besser“ -Effekt. Sie bieten die Möglichkeit des Identitätsmanagements, d.h. die Schaffung einer Netz-Identität zur (virtuell) öffentlichen Selbstdarstellung. (Identitätsmanagement) Sie schaffen ein Kooperationsmanagement: Ermöglichung der Verbindung unterschiedlicher Individuen mit gleichen Interessen zur „Community-Bildung“. Kooperative Prozesse können so evoziert werden. (Kooperationsmanagement) Sie unterstützen ein Informationsmanagement. Die Möglichkeit der Sammlung von Informationen und Inhalten (Content) und der weltweiten Distribution dieses Content wird ermöglicht. (Informationsmanagement) (vgl. auch Schmidt 2006 und Pferdt 2007a).
Vgl. zur Implementationsproblematik didaktischer Innovationen vertiefend Kremer 2003 und Kremer/Sloane 2001: 21.
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Einzelne relevante Social Media Formate sind folgende: Das Social Media Format „Weblog“ Weblogs sind Webseiten, die von Individuen oder Gruppen als umgekehrt chronologische Journale mit der Möglichkeit zur Kommentierung angelegt sind, in denen diskursiv über unterschiedlichste Inhalte ein Austausch stattfinden kann oder individuelle Erfahrungen dokumentiert werden können. In Blogs kann Bezug auf andere Blogs genommen werden, was „blogging“ zu einer gemeinschaftlichen Tätigkeit macht. Individuelle Darstellungen und Dokumentationen von Prozessen lassen sich ebenfalls mit Blogs verwirklichen. Das Social Media Format „Wiki“ Ein Wiki kann als ein kollaboratives Schreibwerkzeug definiert werden, über das Gruppen miteinander interagieren können, um ein selbst festgelegtes Ziel (z. B. die gemeinsame Produktion eines Beitrages) zu erreichen, indem sie Inhalte kreieren oder redigieren. Der Inhalt kann durch sehr einfache Operationen ständig weiterentwickelt werden. Der Prozess der Entwicklung über diskursive Mechanismen übt eine gleich hohe Relevanz aus wie das Produkt. Das Social Media Format „Podcast“ Podcasts sind Audio- oder Videobeiträge, die von Individuen oder Gruppen produziert und im Internet angeboten werden. Über einen sog. RSS-Feed lassen sich die Mediendateien abonnieren und auf mobilen Geräten abspielen. RSS (Really Simple Syndication)-Feeds sind allgemeines Kennzeichen für Medien der Web 2.0 und Social Media Generation. Sie stehen für einen InformationsPush-Dienst, der vom User abonniert werden kann und aktuelle Beiträge anzeigt. 3
Potenziale von Social Media zur Gestaltung komplexer Lernumgebungen
Zur Untersuchung von Potenzialen, die Social Media inhärent sind, muss ein Referenzrahmen ausgewiesen werden, da Potenzialität immer nur in Bezug auf einen Referenzrahmen identifiziert werden kann. Diesen bilden hier die Gestaltungskriterien komplexer Lernumgebungen, wie sie weiter oben ausgewiesen wurden (vgl. 1.1). Es geht also konkret um die Frage, welche Potenziale Social Media-Anwendungen zur Gestaltung komplexer Lernumgebungen bergen? Die Gestaltungskriterien von komplexen Lernumgebungen und die Charakteristika von Social Media lassen Überschneidungspunkte im didaktischen Möglichkeitsraum erkennen und auf den ersten Blick auf erhebliche Potenziale von digitalen Medien zur Gestaltung von komplexen Lernumgebungen schließen.
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Abbildung 2:
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Komplexe Lernumgebungen und Social Media
Das Ziel der Selbststeuerung kann durch die Arbeit mit beispielsweise der WikiTechnologie verwirklicht werden. Ein zunächst leeres Dokument erfordert in einem ersten Schritt die Festlegung des Lernziels und darüber hinaus das eigenverantwortliche Durchführen des Lernprozesses. Zur Reflexion des Lernprozesses dienen beispielsweise Weblogs, eingesetzt als Diskursmedium oder ePortfolios. Hilfreiches Instrument zur Situierung von Lerninhalten können beispielsweise Videos sein. Angelehnt an den Anchored-Instruction-Ansatz werden die Lernenden audiovisuell dazu angeregt, sich in eine beruflich relevante und authentische Situation einzufinden (vgl. z. B. Brown/Collins/Duguid 1989). Videos können dann auf Plattformen diskutiert und kommentiert werden. Neben den Möglichkeiten zur Bereitstellung von Inhalten und Lerngegenständen bieten sich Möglichkeiten der Kommunikation und Kooperation, der aktiven Partizipation und Entwicklung, die Social Media in diesem Zusammenhang schaffen. Die Lernenden können zunehmend die Rolle der Medienentwickler einnehmen und aktiv in die Gestaltungsprozesse von Medien eingebunden werden. Noch einmal aufgegriffen, führen die Charakteristika von Social Media zu der These, dass sie in der Lage sind, Keimzelle nicht nur für einen Paradigmenwechsel im WorldWideWeb, sondern auch für einen Paradigmenwechsel
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vom Lehren zum Lernen zu sein13, da durch den Einsatz dieser Mediengeneration Wissen individuell konstruiert resp. entwickelt und sozial geteilt werden kann. Noch mehr: Sie unterstützen aktiv die Partizipation am Entwicklungsprozess und lösen somit die passive Aufnahme von Inhalten auf. Medien dienen hier im doppelten Sinne als Entwicklungswerkzeuge. Sie unterstützen einerseits die Entwicklung von Lerninhalten durch Tools zum Schreiben (Wikis, Weblogs), Sprechen (Podcasting), Darstellen (eVideos, YouTube) und Austauschen (StudiVZ, Xing, Skype, Ning). Andererseits suggeriert dieser Prozess der Entwicklung von Medien lernförderliche und damit kompetenzentwickelnde Eigenschaften. Durch die Anlage der Medien und die sinnvolle didaktische Einbindung werden Lernende somit aktiv zu Gestaltern ihres Lernprozesses und die Entwicklungs- bzw. Lernwerkzeuge sind eingebunden in didaktische Arrangements und dienen der Diskussion, Interaktion, Dokumentation und der kooperativen Entwicklung und Erarbeitung von Problemstellungen. Im Rahmen des Modellversuchs KooL werden derartige Nutzungsformen konkret entwickelt und erprobt, die nun vorgestellt werden sollen. 3.1 Medienbasierte Entwicklungsprototypen aus dem Modellversuch KooL Im Rahmen eines Modellversuchs – Kooperatives Lernen in webbasierten Lernumgebungen in der beruflichen Erstausbildung (KooL) – des BLK-Programms SKOLA (Selbstgesteuertes und kooperatives Lernen in der beruflichen Erstausbildung) werden die Potenziale von Social Media erkannt und Akzente dieser Potenziale zur Förderung von kooperativen Lernformen gesetzt. Konkret werden u.a. prototypische innovative Lernumgebungen gestaltet, die kooperatives Lernen mit Social Media ermöglichen, um damit eine Optimierung beruflicher Bildung hinsichtlich der spezifischen Rahmenbedingungen im Berufsfeld Glas zu erreichen. Diese äußern sich beispielsweise in der Heterogenität, der hohen Spezialisierung der Betriebe auf Teilkompetenzen des Berufs, in der Unterbrechung der Ausbildung in schulische und betriebliche Phasen, in großer räumlicher Entfernung der Lernenden in der schulischen Ausbildungsphase und der Betriebe, in
13
„I believe that the read/write Web, or what we are calling Web 2.0, will culturally, socially, intellectually, and politically have a greater impact than the advent of the printing press. I believe that we cannot even begin to imagine the changes that are going to take place as the twoway nature of the Internet begins to flower, and that even those of us who have spent time imagining this future will be astounded by what happens.“ Diese Auswirkungen beschreibt Steve Hardagon am 4.03.2008 auf seinem Blog und zieht damit den Vergleich zur Erfindung des Buchdrucks.
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sich ständig verändernden Inhalten der Ausbildung und im Aufbau von trägem Wissen.14 Exemplarisch werden im Folgenden zwei Projekte des Modellversuchs herausgegriffen und konkretisiert: Das Projekt „Glaskompendium“ und das Projekt „English for Glassprofessionals“: 3.2 Kooperatives Wissensnetzwerk – Das Glaskompendium Aus der Problemlage der Nichtverfügbarkeit eines Lehrbuchs für den Bereich der Glasfachschulen und einem sich wandelnden Lernverständnis wurde ein Wiki als interaktives Instrument zum diskursiven und damit kooperativen Aufbau eines Wissensnetzwerkes von Lernenden gestaltet. Das sog. Glaskompendium zeichnet sich dadurch aus, dass es als Entwicklungsinstrument für Fachinhalte orts- und zeitunabhängig ist und von Lernenden koopera(k)tiv gestaltet wird. Dem Ziel der einmaligen Entwicklung eines Lehrbuchs wird damit kaum Rechnung getragen. Vielmehr dient das Glaskompendium als Instrument, Inhalte sukzessive zu entwickeln und gemeinsam zu erarbeiten und zu dokumentieren. Die zentrale Verfügbarkeit der Inhalte spielt ebenfalls eine große Rolle. Das Social Media Format „Wiki“ unterstützt dabei die konstruktiven Möglichkeiten der Gestaltung von Lernumgebungen, die sich durch Aktivität und kooperative Entwicklung von Inhalten auszeichnen. Hier unterscheidet sich das Glaskompendium von Wikipedia, dem Online-Lexikon, da förderliche Rahmenbedingungen für die Gestaltung eines Glaskompendiums geschaffen werden mussten, was sich beispielsweise über die Steuerung von Prozessabläufen der Lernenden ausdrückt sowie über motivationale Faktoren wie beispielsweise Zertifikate. Gerade zu Beginn wurde eine Produktperspektive eingenommen, die sich dadurch auszeichnet, dass alle an dem „fertigen“ Ergebnis interessiert waren. Diese Orientierung hat sich im Projektverlauf zu einer Prozessorientierung gewandelt, die vielmehr den Lernprozess bei der Erstellung der Beiträge fokussiert. Diese Orientierung zeichnet sich dadurch aus, dass didaktische Fragen im Gegensatz zu organisatorischen oder technischen Fragen in den Vordergrund rückten. Die Entwicklung des Glaskompendiums konnte nicht über eine einfache Implementation der Wiki-Technologie erreicht werden. Als zentraler Kern wurde ein komplexes Konzept zur Qualitätssicherung entwickelt, das die Abläufe zwischen 14
Das staatl. Berufskolleg für Glas, Keramik und Gestaltung in Rheinbach (siehe http://rheinfit.de/ModellversuchKooL.htm) steht als Entwicklungsschule bereit und wird wissenschaftlich von der Professur für Wirtschaftspädagogik, insbesondere Mediendidaktik und Weiterbildung in Paderborn begleitet. Die Lehrkräfte des BK Rheinbach haben sich innerhalb der letzten zwei Jahre den Herausforderungen gestellt, die didaktischen Potenziale von Social Media in Entwicklungsprojekten umzusetzen.
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den verschiedenen Schülergruppen steuert. Die Verantwortung für die Qualität der Beiträge im Wiki trägt eine Schülerredaktion. Die Aufgaben der Schülerredaktion bestehen, neben der Beurteilung der vorliegenden Artikel in Papierform, in der Beratung der Autoren hinsichtlich der Artikelqualität, der Freigabe der Artikel und schließlich in der Veröffentlichung innerhalb der verschiedenen Plattformen. Die Schülerredaktion erfährt wiederum eine Beratung durch die anderen Schülergruppen. Es soll hiermit nur angedeutet werden, dass die WikiTechnologie nicht einfach übertragen werden kann, sondern umfassende Maßnahmen zur didaktischen Nutzung erforderlich sind (vgl. auch Kremer 2008). Durch die gegenseitige Beurteilung von Texten wird u.a. Sozialkompetenz über das Ausüben von Feedback und Kritik gefördert. 3.3 Webbasiertes Fremdsprachenlernen – English for Glasprofessionals Der Anspruch der EfGP Lernumgebung ist es, den Lernenden kooperatives, selbstgesteuertes und webbasiertes Lernen zu ermöglichen, das kontextuelles vernetztes Denken und Problemlösekompetenz fördert. Es geht darum, den Lernenden in den Mittelpunkt zu stellen und sein Mediennutzungsverhalten aufzunehmen um daraus eine lernerzentrierte Lernkultur zu entwickeln. Übergreifendes Ziel ist die Förderung einer berufsbezogenen Fremdsprachenkompetenz, die sich in fremdsprachendidaktischen Lernzielen niederschlägt. Darunter fällt (1) Rezeption, als Fähigkeit zum Verstehen mündlicher wie schriftlicher fachlicher Äußerungen in der Zielsprache; (2) Interaktion und Produktion, als Fähigkeit in der Zielsprache in authentischen beruflichen Kontexten situationsgerecht zu kommunizieren und zu schreiben sowie (3) Mediation, als Fähigkeit zur freien und stilistisch angemessenen Wiedergabe von Inhalten in der Mutter- und Fremdsprache (vgl. Merkenich 2008). Die EfGP Lernumgebung offeriert zwei Programmebenen. Auf der ersten Ebene werden medienbasierte interaktive Tools wie Glass-Dictionary, interaktiver Vokabeltrainer, Memory, Hangman, Wettbewerbsspiele, etc. angeboten. Diese Tools können als Lernauslöser interpretiert werden, die durch ihre multimediale Präsentation und Multimodalität bzw. Multikodalität medienunterstützte Lernprozesse ermöglichen. Kommunikationsmedien wie Forum, Chat und Videoconferencing Tools gehören ebenso zum Programm wie Wikis und Weblogs. Diese beiden Tools werden insbesondere als Lernwerkzeuge eingesetzt und dienen der Dokumentation und Diskussion von Lernergebnissen bzw. der kooperativen Erarbeitung von Problemstellungen (vgl. Merkenich 2007). Die zweite Ebene bietet den Lernenden sog. „Glass Lessons“ an, die als komplexe Lernaufgaben authentisch gestaltet sind. Kernstück dieser Lessons sind sog. VideoTasks, die nach dem didaktischen Prinzip des „Anchored-Instruction“ aufgebaut
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sind.15 Diese Video-Tasks werden aus der konkreten Umgebung der Lernenden im Modellversuch generiert und stellen somit authentische „Anker“ dar, die die Lernenden motivieren und ihnen die Möglichkeit bieten, anhand einer möglichst realitätsnahen Situation eigenständig, explorativ und kreativ Probleme zu erkennen, zu definieren und zu lösen (vgl. auch Merkenich 2007). In einer explorativen Studie wurde deutlich, dass trotz technischer Schwierigkeiten die verwendeten Social Media-Anwendungen (Wiki, Weblog und Podcast) vor allem wegen ihres kreativen Potenzials einen Anreiz zu neuartigem Lernen darstellten. Wenige technische Schwierigkeiten und einige Unsicherheiten im Umgang mit Social Media, die durch Coaching der Lehrkräfte erfolgreich überwunden wurden, schränkten diese Funktion nur unwesentlich ein (vgl. Kremer/Pferdt/Budde 2008). Es können hier zwei unterschiedliche Formen des Lernens mit Social Media unterschieden werden. Im ersten Typ werden Medien einzelne Aufgaben im Lernprozess zugewiesen, so z. B. die Konfrontation der Lernenden mit einer authentischen Situation oder der Unterstützung einer Selbsteinschätzung durch die Lernenden. Im zweiten Typ wird der Prozess der Medienentwicklung als Lernprozess genutzt. 4
Von der Medienperspektive zum didaktischen Medienkonzept (2.0) – Medienentwicklung und Entwicklung beruflicher Handlungskompetenz?
Die Entwicklung des Glaskompendiums ist als vollständige Handlung der Lernenden in den Bildungsgängen des Berufskollegs Rheinbach angelegt. Erfahrungen im Modellversuch zeigen vor allem eines: Die Lernenden werden aktiviert und gestalten ihren Lernprozess in einer Lernumgebung. Dies wird vor allem durch die Entwicklung von Social Media wie die Erstellung eines Podcasts oder das Entwickeln eines Lehrbuches im Wiki-Format erreicht. Letztlich wird damit der Medienentwicklungsprozess als Lernprozess genutzt. Die Lernenden bauen so zwar eine hohe Medien(entwicklungs)kompetenz auf, jedoch ist fraglich ob die Ausrichtung an beruflichen Handlungsfeldern erreicht werden kann. Zudem ist differenziert zu betrachten, ob die Situationen, in denen die Lernenden sich befinden, tatsächlich Situationen sind, die sie auch im Berufsalltag zu bewältigen haben, oder ob die beruflich relevanten Situationen nicht gänzlich andere sind und somit ein neues Transferproblem aufgebaut wird. Medienentwicklung könnte aus dieser Perspektive als neues Fach interpretiert werden, das die Lerninhalte der Lernenden determiniert. Folge dessen wäre der Aufbau trä15
Vgl. hierzu die Studie von Bransford et al. 1990, der den Anchored-Instruction-Ansatz maßgeblich geprägt hat.
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gen Wissens und das Entstehen eines damit verbundenen Transferproblems der Lernenden, so dass das Ziel der beruflichen Handlungskompetenz wieder aus dem Blickfeld gerät. Die Gleichsetzung von Medienentwicklungsprozessen mit der Entwicklung beruflicher Handlungskompetenz, die in der Literatur häufig vorgenommen wird16, muss an dieser Stelle kritisch reflektiert werden. Fraglich ist beispielsweise, ob auf diesem Wege zwar eine umfassende Mediengestaltungskompetenz aufgebaut wird, jedoch die „berufliche Könnerschaft“ im Sinne Jürgen Zabecks verloren geht (vgl. Zabeck 2004). Damit wird die Forderung erhoben, dass der Medienentwicklungsprozess wiederum in berufliche Handlungssituationen einzubinden ist und er dementsprechend der Bewältigung dieser Situationen dient. Die Nutzungsformen von Social Software können damit nur begrenzt als eigenständiger Handlungsprozess betrachtet werden, sondern sind vielmehr in berufliche Handlungskontexte einzubinden, die dann die Entwicklung und Nutzung eines Glaskompendiums erfordern. Gerade hier besteht die Gefahr der Verselbständigung von Medien.
16
Erpenbeck und Sauter 2007 differenzieren beispielsweise kaum zwischen Medienentwicklung und Kompetenzentwicklung und gehen von einer allgemeinen Potenzialität von Web 2.0 Werkzeugen aus. Für die Entwicklung beruflicher Handlungskompetenz wären Faktoren in Lernsituationen, wie komplexe und authentische Situationen, Personen und Ressourcen (Handlungsraum), Aktivität, Rückmeldung (Handlungsablauf) und Präsentation, Dokumentation und Ergebniskontrolle (Handlungsergebnis) genauer zu spezifizieren (vgl. hierzu auch Buschfeld 2003).
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Abbildung 3:
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Didaktisches Medienkonzept 2.0
Medienentwicklungsprozesse mit Social Media können dann als Chance begriffen werden, sofern eine Einbindung des Lernens mit Social Media in beruflich relevante Kompetenzentwicklungsprozesse gelingt und Medienentwicklungsprozesse im Kontext von Lernsituationen verankert werden. Gerade Social Media und allgemein Web 2.0 stellt sich als innovative Chance zur Unterstützung individueller Lernwege mit vielfältigen Formen des Austauschs und der Rückmeldung dar. Der Versuch, Medienentwicklungskonzepte mit den Anforderungen beruflicher Bildung zusammenzubringen, bleibt schwierig. Die Gefahr einer Verdrängung beruflicher Entwicklungsprozesse durch Medienentwicklungsprozesse ist nicht zu übersehen. Es ist hier kontraproduktiv auch versteckte Duelle von Kompetenzkonzepten als Auslöser von Konfusionen in der beruflichen Praxis aufzunehmen, was in diesem Aufsatz als Spannungsfeld identifiziert wurde. Insbeson-
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dere Lehrkräfte werden bis heute mit diesen zwei Konzepten, die nicht unmittelbar kompatibel sind, konfrontiert und sollen Umsetzungsmöglichkeiten für die Unterrichtsgestaltung finden. Für die Weiterentwicklung erscheint eine konstruktive Zusammenführung der Potenziale Social Media und Formen beruflichen Lehrens und Lernens erforderlich und nicht die Profilierung eines Kompetenzverständnisses.
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Kerstin Mayrberger
Web 2.0 in der Hochschule – Überlegungen zu einer (akademischen) Medienbildung für „E-Learning 2.0“
Einleitung Mit dem zunehmenden Einzug von E-Learning1 in die Hochschulen gehen Ansprüche wie Hoffnungen einher. So wird für den Bereich Lehre aus hochschuldidaktischer Perspektive idealerweise eine Unterstützung der Veränderung der Lehr- und Lernkultur erwartet, womit in erster Linie eine stärkere Orientierung an den Lernenden bei der Gestaltung von Lernprozessen (mit digitalen Medien) im Sinne eines „Shift from Teaching to Learning“ gemeint ist (vgl. Welbers/Gaus 2005). Konsequenterweise wären hier Veränderungen der institutionellen Rahmenbedingungen notwendig, die alle Phasen des lebenslangen Studierens und Lernens in Form eines „Student Lifecycles“ berücksichtigen sollten (vgl. Schulmeister 2007) und verändertes Lehren und Lernen ermöglichen.2 Zusätzlich eröffnen sich als Folge der technischen und sozialen Weiterentwicklung des Internets hin zum sog. Web 2.0 neue Möglichkeiten des Lehren und Lernens mit digitalen Medien. Inwiefern diese neuen technischen und vor allem sozialen Möglichkeiten von den Lehrenden und Lernenden zusätzliche oder alternative medienbezogene Kompetenzen für akademische Lehr- und Lernprozesse erfordern und worin sich diese ausdrücken können, soll in diesem Beitrag erörtert werden. 1 2
E-Learning steht hier allgemein für das Lehren und Lernen mit digitalen Medien in der Hochschule. In der Praxis zeigt sich, dass die Einführung von E-Learning in der Hochschule häufig als zusätzliche Last zur aktuellen Bolognareform betrachtet wird. Diese Einstellung verlangt eine medien- und hochschuldidaktisch wohl begründete Überzeugungs- und Beratungsarbeit, um Lehrende zu motivieren und zu befähigen, durch die Integration von E-Learning sowohl die Gestaltung der eigenen Lehre verbessern zu können als auch auf organisationaler und strategischer Ebene trotz Bologna-Prozesses eine relative Entlastung erfahren zu können (vgl. dazu die Erfahrungen aus der Projektlinie „Awareness/ Neue Lehr- und Lernkultur“ im BMBF-Projekt „KoOP – Konzeption und Realisierung hochschulübergreifender Organisations- und Prozessinnovationen für das digitale Studieren an Hamburgs Hochschulen“ unter http://www.unihamburg.de/E-Learning/koop.html [15.06.09] sowie Mayrberger (2008a).
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Kerstin Mayrberger
Die Auseinandersetzung erfolgt vor dem Hintergrund medienpädagogischer und hochschuldidaktischer Überlegungen. Es wird eingangs auf das aktuelle Verständnis von E-Learning 2.0 und damit verbundene Konsequenzen für das akademische Lehren und Lernen eingegangen (Kap. 1). Im Anschluss daran findet eine Auseinandersetzung mit medienbezogenen Kompetenzen für die Hochschullehre statt (Kap. 2), bevor erörtert wird, inwiefern ein Mehr an für die erfolgreiche Integration von E-Learning 2.0 in die akademische Lehre vonnöten ist (Kap. 3) und ein Fazit (Kap. 4) gezogen wird. 1
E-Learning 2.0 in der akademischen Lehre
Es liegt weder für das Verständnis von Web 2.0 noch für E-Learning 2.0 eine allgemeine Begriffsbestimmung vor. Daher werden im Folgenden Merkmale angeführt, mit denen sich E-Learning 2.0 beschreiben lässt. Im Anschluss werden Konsequenzen für die Hochschullehre benannt und hinsichtlich ihrer Bedeutung für einen Wandel der akademischen Lehr- und Lernkultur diskutiert. 1.1 Zum Begriff E-Learning 2.0 Das „Web 2.0“3 zeichnet sich in erster Linie durch eine veränderte Haltung und damit einhergehend einem veränderten Umgang mit dem Internet aus, bei dem die Gedanken der Kommunikation, Partizipation, Kollaboration und sozialen Vernetzung von Personen zentral sind. Sie können mittels sog. „Social Software“4 wie Weblog, Wiki, Podcast, ePortfolio und Social-Bookmarkingdienste oder Netzwerk-Dienste unter Verwendung von RSS-Feeds technisch ermöglicht werden. Web 2.0 wird aktuell als ein Konzept für soziale und technologische Entwicklungen im Internet diskutiert (vgl. u.a. Panke 2007), das sich durch eine Reihe von Merkmalen auszeichnet. Für den Bereich der Hochschullehre schlagen sich die Ideen dieses Konzepts im Schlagwort „E-Learning 2.0“5 nieder.
3 4
5
Der Begriff „Web 2.0“ geht auf Tim O’Reilly (2005) zurück. Vgl. http://www.e-teaching.org/technik/kommunikation/socialsoftware [15.06.09]; Panke (2007) weist darauf hin, dass das Web 2.0 sowohl durch Social Software als auch Semantic Web-Technologie geprägt wird. Für den vorliegenden Beitrag wird der Fokus auf die Interaktionsmöglichkeiten durch Social Software gelegt. Die Einführung des Begriffs „E-Learning 2.0“ in die öffentliche Diskussion wird Stephen Downes (2005) zugeschrieben, der die neue Version vom E-Learning wie folgt begründet: „And now, e-learning is evolving with the World Wide Web as a whole and it’s changing to a degree significant enough to warrant a new name: E-Learnig 2.0“. In der vorliegenden Arbeit wird das Schlagwort „E-Learning 2.0“ im Sinne einer Metapher für die Beschreibung eines Lehren und Lernens mit digitalen Medien im Sinne von „2.0“ verwendet.
Web 2.0 in der Hochschule
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E-Learning 2.0 steht hier für die Adaption des Web 2.0-Konzepts auf Bereiche der Bildung. Es lässt sich allgemein durch einen hohen Grad an Interaktivität, Selbstorganisation, Partizipation, Kooperation bzw. Kollaboration, CommunityOrientierung und Nutzerzentrierung charakterisieren und grenzt sich damit vom bisherigen vornehmlich anbieter- bzw. lehrendenzentrierten E-Learning mit vorwiegend distribuierendem Charakter ab (vgl. u.a. Kleimann 2007; Panke 2007). Kerres (vgl. 2006, S. 6) charakterisiert allgemein die Entwicklung vom Web 1.0 zum Web 2.0 und spezifiziert diese mittels folgender drei Merkmale für Bildungsinstitutionen im Sinne von E-Learning 2.0: Die Nutzer werden zu Autoren, Lernen wird ubiquitär und das Private wird zunehmend (netz-)öffentlich und damit Lernen zur Performanz. Entsprechend stellt ein wesentliches technisches Merkmal die (zusätzliche) Möglichkeit der Verlagerung von Aktivitäten vom Desktop und von einer (geschlossenen) Lernumgebung direkt ins (weltweit öffentliche) Netz dar. Die Umsetzung erfolgt idealerweise in Form eines persönlichen, webbasierten Portals zum Internet, der „Personal Learning Environment“ (PLE), die unabhängig von Institutionen lebenslang zur Verfügung stehen kann (vgl. auch Kerres et al. 2009; Bernhardt/Kirchner 2007). Die Diskussion um ein E-Learning 2.0 befindet sich noch in den Anfängen, so dass sich bisher keine Definitionsrichtung für diese Entwicklung durchgesetzt hat. Vielmehr werden die Begriffe Web 2.0 und E-Learning 2.0 mit Hilfe von Abgrenzungen zu den vorangegangenen Versionen beschrieben und eingegrenzt. Im Folgenden werden auf Grundlage solcher Gegenüberstellungen (vgl. Kerres 2006; Panke 2007; Kleimann 2007; Wageneder/Jadin 2007; Ehlers 2008) Merkmale von E-Learning 2.0, die für die Diskussion eines veränderten medienbezogenen Kompetenzbegriffes von Bedeutung sind, zusammengeführt und ergänzt, wobei kein Anspruch auf Vollständigkeit erhoben wird: x x
x
Die technische Plattform für das Lehren und Lernen ist eine persönliche Lernumgebung (PLE) im Internet in Form eines Lernportals mit Inhalten und Werkzeugen und webbasierte Social Software. Die technische Handhabung ist für jeden leicht möglich. Web 2.0 steht für einfache Software-Anwendungen mit zum Teil beschränktem Funktionsumfang, die für jeden ohne besondere Schulung bedienbar sind (z.B. Desktop im Netz, Weblog, Social Bookmarking, Wiki). Die Inhalte werden (auch) von den Lernenden erstellt, zusammengestellt und entwickelt („user-generated content“). Der Austausch von Inhalten ist unbegrenzt möglich. Im E-Learning 2.0 sind kleine Wissensressourcen („Microcontent“) wichtiger als ganze Kurse.
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Kerstin Mayrberger
x x x x x x x x x x x x x
Die Rollenverteilung zwischen Studierenden und Lehrenden formiert sich neu (Lehrende als Gestaltende einer Lernumgebung und Moderatoren bzw. Begleitende des individuellen Lernprozesses). Der/die Lehrende geleitet die Lernenden durch die virtuelle Lernlandschaft und fördert deren Lern- und Reflexionsprozesse. Das Lernen findet selbstständig und idealerweise selbstorganisiert statt. Das Lernen ist geprägt durch gemeinschaftliches Lernen (Kooperation und Kollaboration) sowie von Kommunikation und Interaktion. Das Lernen findet (halb-)öffentlich im Internet statt. Das Lernen verschwimmt zunehmend mit der alltäglichen Lebenspraxis. Eine Abgrenzung zwischen Studium/Lernen und Alltag/Freizeit ist weniger möglich, so dass man von einer Entgrenzung sprechen kann. Das Lernen erfolgt auch in informellen Kontexten. Der Lernort ist das Internet, in dem sich auch die technischen und inhaltlichen Ressourcen befinden. Lernen und Lehren wird damit zu jeder Zeit und an jedem Ort mit Internetzugang möglich („ubiquitous computing“). Datenverwaltung und -erhaltung erfolgen im Internet (u.a. PLE, Media Sharing). Die Erhöhung der Partizipation bei der Erstellung von (Lern-)Inhalten und der Gestaltung von Lernprozessen ist ein wesentliches Ziel. Die Strukturierung der Inhalte erfolgt individuell durch die Lernenden und in der Community z.B. mittels Tagging. Die Lernresultate werden in Form einer formativen Dokumentation des Lernprozesses für die Lernenden, die Co-Lernenden oder die/den Lehrenden (z.B. ePortfolio, Weblog, Wiki) festgehalten. Die Qualitätssicherung [der (öffentlichen) Lernresultate] erfolgt auch durch Peers im Sinne von sozialem Feedback.
Anhand dieser Zusammenstellung wird deutlich, dass es bei E-Learning 2.0 nicht allein um die Verwendung der neuen Möglichkeiten des Internets geht, sondern dass sich E-Learning 2.0 vor allem durch eine veränderte Auffassung von Lehren und Lernen bzw. von der Rollenverteilung in Lehr- und Lernprozessen auszeichnet. Genauer betrachtet stecken hinter E-Learning 2.0 kaum didaktische Neuerungen, die nicht schon in den letzten Jahren aus hochschul- und mediendidaktischer Perspektive hinsichtlich einer stärkeren Individualisierung von Lernprozessen mit Hilfe von E-Learning diskutiert wurden.6 6
Für die weitere Diskussion wird auf folgende Arbeitsdefinition für E-Learning 2.0 im (formalen) Kontext akademischen Lehrens und Lernens Bezug genommen: E-Learning 2.0 meint die Adaption des Web 2.0-Konzepts auf die Gestaltung von Lehr- und Lernprozessen mit Hilfe
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1.2 Herausforderungen für das akademische Lehren und Lernen Die aufgelisteten Aspekte können gleichermaßen als Gestaltungsempfehlungen für didaktische E-Learning-Szenarien aufgefasst werden, damit ein Lehren und Lernen im Sinne von „2.0“ gelingen kann – begrenzt auch in formalen Kontexten. Dass die praktische Umsetzung von E-Learning 2.0 in der Hochschule nicht so widerspruchsfrei möglich ist, wird im Folgenden anhand der Perspektiven Institution, informelles Lernen und Selbstorganisation angedeutet. Kleimann (2007: 156 f.) erläutert ausführlich, dass einem E-Learning 2.0 noch die Realität der Hochschule als Hindernis gegenüber steht. Dies stellt sich dar in Form von Exklusivität (u.a. Hochschulzugang, begrenzte Lerngruppen), Reliabilität (u.a. Qualitätssicherung, Bewertung von Lernerfolgen), Standardisierung (u.a. Homogenisierung formaler Bildungskontexte) und Institutionalisierung (u.a. Verlässlichkeit, Dauer, öffentliche Finanzierung) dar. Demnach müsse E-Learning 2.0 „(...) transformiert werden, um in die Hochschullandschaft zu passen“ (ebd.: 157). Dass E-Learning 2.0 die Hochschulbildung revolutionieren werde, hält Kleimann insofern für unwahrscheinlich. Eine der größten zu überwindenden Hürden scheint die Diskrepanz zwischen dem Web 2.0-Konzept, das vorwiegen im Kontext informeller Lernprozesse anzusiedeln ist und der Integration von E-Learning 2.0 in die Hochschule, die im (akademischen) Bildungskontext nie gänzlich ohne formalen Rahmen auskommen wird, zu sein. Der Überblick Overwiens (2005) zu Begriffen rund um das informelle Lernen7 untermauert den bisherigen Eindruck, dass es nicht möglich sein wird und auch nicht erstrebenswert erscheint, Prozesse informellen Lernens in formalen Kontexten zu simulieren. Das wäre nicht authentisch. Vielmehr sollte es darum gehen, der aufgezeigten Diskrepanz zwischen dem Potential von Lehren und Lernen im Sinne von E-Learning 2.0 und den formalen Rahmenbedingungen an Hochschulen pragmatisch zu begegnen und hier neue und
7
von Web 2.0-Technologien. Es zeichnet sich durch Anteile formaler und informeller Lernprozesse aus. E-Learning 2.0 impliziert eine Rollenverschiebung: Lehrende gestalten und begleiten die Lernprozesse der Lernenden. Lernende sind relativ autonom und tragen die Verantwortung für ihren Lernprozess, den sie idealerweise selbst organisieren und gemeinschaftlich durchlaufen. Die Partizipation der Lernenden erfolgt durch die Erstellung eigener Inhalte und der kommunikativen Beteiligung am Lehr- und Lernprozess. E-Learning 2.0 findet im (öffentlichen) Internet statt. Exemplarisch sei hier die Definition informellen Lernens in Abgrenzung zum formalen und nicht formalen Lernen der Europäischen Kommission von 2001 angeführt, die Overwien (2005: 346) in seinem Überblick wie folgt angibt: „Lernen, das im Alltag, am Arbeitsplatz, im Familienkreis oder in der Freizeit stattfindet. Es ist (in Bezug auf Lernziele, Lernzeit oder Lernförderung) nicht strukturiert und führt üblicherweise nicht zur Zertifizierung. Informelles Lernen kann zielgerichtet sein, ist jedoch in den meisten Fällen nichtintentional (oder inzidentell/beiläufig).“
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treffende Begriffe zu entwickeln, die sich z.B. in Richtung „informal education“ oder „informelle Bildung“ orientieren.8 Für E-Learning 2.0 stellt die Fähigkeit zur Selbstorganisation eine zentrale Gelingensbedingung dar. Für den vorliegenden Kontext ist vor allem die folgende Aussage von Interesse: „Mit der leichtfertigen Prämisse, Selbstorganisation sei jedem jederzeit möglich, sind sozialromantische und pseudodemokratische Vorstellungen verbunden. Und die können einen blind machen dafür, dass Selbstorganisation eine Aufgabe ist, auf die man vorbereitet und bei der man auch gefördert werden muss (...)“ (ebd.: 15). Das interessante an dem Aspekt der Selbstorganisation im Rahmen von Bologna ist, dass einerseits eine Passung nicht leicht zu realisieren ist (vgl. Reinmann/Sporer/Vohle 2007), andererseits die selbstorganisierten zumindest aber selbstgesteuerten Anteile des Studiums ein wichtiges Merkmal des zukünftigen akademischen Lehrens und Lernens sein werden. Carstensen (2007: 211) betrachtet diese „als eine wesentliche Ressource der Lehre, die es zu gestalten gilt. E-Learning wird als zeit- und ortsunabhängiges Hochschulsetting zum Schlüsselprozess dieser Gestaltung.“ Die kritischen Perspektiven auf E-Learning 2.0 zeigen exemplarisch auf, dass ein deutlicher theoretischer wie auch empirischer Entwicklungsbedarf besteht. Dennoch hat dieses Konzept auf Ebene der Lehrpraxis nicht nur Konjunktur, sondern auch medien- und hochschuldidaktisches Potential, weshalb es lohnenswert erscheint, die Frage nach notwendigen medienbezogenen Kompetenzen für ein E-Learning 2.0 weiter zu verfolgen. 2
Medienbezogene Kompetenzen für die Hochschullehre
Mit dem didaktischen Potenzial, das Social Software für die Gestaltung von Lehr- und Lernprozessen mit sich bringt, sind spezifische und veränderte Anforderungen an die medienbezogenen Kompetenzen der Lehrenden und Lernenden verbunden. Damit einher gehen zudem Fragen wie: Ist der Begriff der Medienkompetenz überhaupt noch brauchbar für die aktuellen Entwicklungen in der medialen Umwelt? Ist es sinnvoll, den Medienkompetenzbegriff weiterzudenken, obwohl eine zufriedenstellende (wissenschafts-)theoretische Begründung noch aussteht?9 Sollte besser auf alternative oder erweiterte Begriffe wie „media literacy“ (vgl. Moser 2004) oder Medienbildung (vgl. Marotzki 2004; Jörissen/Marotzki 2009) zurückgegriffen werden, um den veränderten Ansprüchen 8 9
„Im Unterschied zum informellen Lernen wird von informeller Bildung (‚informal education’) dann gesprochen, wenn Lehrende oder Mentoren Verantwortung für die Gestaltung des informellen Lernens übernehmen.“ (Overwien 2005: 345). Vgl. z.B. die kritische Auseinandersetzung mit dem Begriff Medienkompetenz von Kübler (1996), Groeben (2002), Moser (2004) oder Gapski (2004).
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gerecht zu werden? Welcher (Medien-)Kompetenzbegriff ist in Zeiten von Bologna mit der Orientierung am „Outcome“ der Studierenden sinnvoll und wie wird mit der Frage der Messbarkeit umgegangen?10 Zudem stellt sich die noch weiter reichende Frage, inwiefern für das Lehren und Lernen im akademischen Bereich, in dem das Internet und Web 2.0-Anwendungen eher als Werkzeuge, denn als Bildungsmedien betrachtet werden, ein Begriff von Medienkompetenz aus der (medien-)pädagogischen Diskussion akzeptabel ist? Diese Frage stellt sich vor allem deshalb, da im Zuge der Integration von E-Learning in die Hochschulen primär von „eCompetence“ (vgl. u.a. Schneckenberg 2006) oder „akademischer Medienkompetenz“ (vgl. u.a. Wedekind 2008) gesprochen wird und der Fokus hier auf die Ausbildung von medienspezifischen Kompetenzen liegt. Für den vorliegenden Beitrag erscheint es sinnvoll, auf der Ebene der persönlichen Medienkompetenz anzuknüpfen, um erste Klärungen vorzunehmen. Im Folgenden wird insofern erörtert, welche Kompetenzen im Sinne von ELearning 2.0 auf Seiten der Lehrenden und Lernenden im Rahmen akademischer Lehre angemessen ercheinen.11 2.1 Persönliche Medienkompetenz Das Thema „Medienkompetenz“ wurde in den vergangenen Jahren breit rezipiert. Zurück geht der „klassische“ Begriff von Medienkompetenz auf das Bielefelder Kompetenz-Modell nach Baacke (1996), der diesen Begriff in den 1970er Jahren in die medienpädagogische Diskussion einführte und die folgenden Dimensionen unterscheidet: (1) Mediennutzung (rezeptiv-anwendend/ interaktiv-anbietend), (2) Medienkunde (informativ/ instrumentell-qualifikatorisch), (3) Mediengestaltung (innovativ/ kreativ) und (4) Medienkritik (analytisch/ reflexiv/ ethisch). Bis heute liegen in der Medienpädagogik unterschiedliche Vorschläge für die Fassung von Medienkompetenz als normativer Bezugsrahmen vor (vgl. für einen Überblick u.a. Gapski 2001; Groeben/Hurrelmann 2002). Im Folgenden wird der Begriff Aufenangers (1997) zu Grunde gelegt, der die folgenden sechs Dimensionen vorschlägt: x
10 11
kognitive Dimension (d.h. u.a. Wissen, Verstehen und Analysieren im Medienzusammenhang)
Vgl. zur Problematik eines adäquaten Kompetenzbegriffs als Bezugspunkt für Medienkompetenz u.a. Gapski (2006). Auf das Verhältnis der beiden Perspektiven aus medienpädagogischer Perspektive wird hier nicht näher eingegangen, da dieses an anderer Stelle ausführlich erfolgt ist (vgl. Mayrberger 2008b).
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x x x x x
moralische Dimension (d.h. Betrachtung und Beurteilung von Medien unter ethischen Aspekten) soziale Dimension (d.h. Befähigung, die eigenen Rechte im Bereich Medien politisch zu vertreten und Thematisierung sozialer Auswirkungen von Medien) affektive Dimension (d.h. Umgang mit Unterhaltung und Genuss bei der Mediennutzung) ästhetische Dimension (d.h. Verständnis von Medien als Ausdrucksund Informationsmöglichkeit und Fähigkeiten zur ästhetischen Gestaltung von Medieninhalten) Handlungsdimension (d.h. Fähigkeit, Medien aktiv zu gestalten, sich mit Medien auszudrücken, zu informieren oder zu experimentieren sowie Medien handhaben zu können)
Diese Position erscheint hier interessant, da es sich um einen medienpädagogischen Ansatz handelt, der vielfältige Aspekte vereint, auf alte wie auf neue Medien ausgerichtet ist und dem Anspruch gerecht wird, potenziell Entwicklungen der (nahen) Zukunft mit zu berücksichtigen. Zudem ist dieses Konzept für den Bereich des akademischen Lehrens und Lernens anschlussfähig, da eine Übertragung auf unterschiedliche Institutionen sowie Alters- und Zielgruppen möglich ist. 2.2 Akademische Medienkompetenz Als akademische Medienkompetenz bezeichnet Wedekind (2004) die Weiterentwicklung eines medienpädagogischen Begriffs von Medienkompetenz für die Hochschullehre. Er beschreibt akademische Medienkompetenz als (…) die Fähigkeit von Hochschullehrenden und -lernenden zum kompetenten, verantwortungsvollen und reflektierten Umgang mit digitalen Medien in den unterschiedlichen akademischen Tätigkeitsfeldern von Forschung, Lehre und Entwicklung. Sie beinhaltet medienbezogene Handlungsfähigkeit und umfasst darüber hinaus auch die Beurteilungsfähigkeit der (Aus-) Wirkungen des Einsatzes von modernen IuK-Technologien. Die Medienkompetenz stellt sich im akademischen Umfeld in Abhängigkeit von Zielgruppen und Anwendungen differenziert dar. Medienkompetenz bedeutet hier, über die Kenntnisse, Fähigkeiten und Fertigkeiten des computergestützten und netzbasierten Präsentierens sowie multimedial und telemedial gestützten Lehrens und Lernens zu verfügen. (Wedekind 2004: 269)
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Für den vorliegenden Kontext ist hier von Interesse, dass akademische Medienkompetenz als Kompetenz von Lehrenden und Lernenden betrachtet wird.12 Ergänzend weisen Merkt und Schulmeister (2004) darauf hin, dass ein Medienkompetenzbegriff im Hochschulbereich, der nur auf die Einführung in den Werkzeuggebrauch für E-Learning oder als Training für Softwareanwendungen und Lern- und Kommunikationsplattformen verstanden wird, zu kurz greift. So betonen sie ausdrücklich die Notwendigkeit, akademische Medienkompetenz um die Dimensionen Didaktik und Lehrpersönlichkeit zu erweitern, so dass die Kompetenzentwicklung „über das Erlernen von Fähigkeiten, Methoden, Wissen, Einstellungen und Werten hinaus, als Beitrag zur Professionalisierung“ (ebd.: 115) von Hochschullehrenden verstanden werden sollte. Die Kompetenzentwicklung als individueller Lern- und Entwicklungsprozess ist in diesem Verständnis an die Persönlichkeit des Lehrenden gebunden und die Entwicklung einer persönlichen akademischen Medienkompetenz wird bei dieser Begriffsbestimmung nur im Kontext der Entwicklung einer allgemeinen hochschuldidaktischen Kompetenz als sinnvoll und notwendig erachtet. Die akademische Medienkompetenz wird eng mit hochschuldidaktischer Lehrkompetenz in Verbindung gebracht, über die in erster Linie die Lehrenden verfügen sollten. Im Folgenden wird dieser Fokus allerdings erweitert und davon ausgegangen, dass es sich hier um eine persönliche und zugleich spezifische medienbezogene Kompetenz von Lehrenden wie Lernenden für das akademische Lehren und Lernen handelt. Das Attribut „akademisch“ wird verwendet, da es sich hier um einen spezifischen Kontext und eine spezifische Zielgruppe handelt. Es wird davon Abstand genommen, akademische Medienkompetenz allein auf den Kontext Lehren und Lernen (sowie Prüfen) mit digitalen Medien zu beschränken. Vielmehr wird dafür plädiert, diese im Zuge der Integration von Web 2.0 in den Hochschulkontext auch auf Ebene des persönlichen Informations- und Wissensmanagements zu sehen sowie die Diskussion um eine medienpädagogische Perspektive zu erweitern. 2.3 Dimensionen von Medienkompetenz für E-Learning 2.0 Zur Integration von Social Software in die akademische Lehre liegen erste Erfahrungen vor (vgl. u.a. Panke/Oestermeier 2006; Bernhardt/Kirchner 2007; Dittler/Kindt/Schwarz 2007; Franklin/Harmelen 2007; Wageneder/Jadin 2007; Dittler 2009). Im Folgenden stellen sie neben eigenen Lehrerfahrungen den Bezugsrahmen dar, um die aufgezeigten Dimensionen von Medienkompetenz (vgl. Kap. 12
Vgl. für eine ausführliche Präzisierung des Begriffs Medienkompetenz für (Hochschul-) Lehrende Wedekind (2008).
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2.1) exemplarisch aus Perspektive des Lehrens und Lernens im Sinne von ELearning 2.0 zu spezifizieren und einen ersten Eindruck zu vermitteln: (1) kognitive Dimension: Die Lehrenden sind in der Lage eine didaktisch und technisch begründete Wahl hinsichtlich webbasierter Werkzeuge bzw. von Social Software-Anwendungen für die Lehrveranstaltung zu treffen, die die kollaborative Erstellung von Inhalten durch die Studierenden und den sozialen Austausch fördern. Sie verfügen über ein technisches und konzeptionelles Wissen zu Hypermedia und Multimedia, wie über Kenntnisse von Anbietern von Web 2.0Diensten und -Werkzeugen. Die Lehrperson kann Informationen und Inhalte kritisch aus dem Netz auswählen und online zur Verfügung stellen. Sie ist in der Lage, gemeinsam mit den Lernenden eigene Hypertexte zu erstellen und deren Besonderheiten zu erfassen und dabei auf z.B. lerntheoretische Erkenntnisse zur Gestaltung von Lernumgebungen, in der die Lernenden die aktive Gestaltung der Inhalte übernehmen, zurückzugreifen. Sie ist in der Lage die Erstellung einer PLE anzuregen und zu begleiten. Die Lernenden und Lehrenden wissen um die Potenziale und Grenzen von Social Software für Lernprozesse. Sie wissen um den Aspekt der Öffentlichkeit sowie um die Möglichkeiten der Erstellung von Inhalten für das Netz. Die Lernenden kennen Formen von Informationen und Inhalten, die das Netz zur Verfügung stellt und wissen um das Bestehen von Urheber- und Persönlichkeitsrechten. (2) moralische Dimension: Lehrende Wissen um die Diversität der Studierenden und beachten z.B. spezifische Voraussetzungen der Lernenden und genderspezifische oder interkulturelle Aspekte, die bei der vermehrten Online-Kommunikation im Rahmen von E-Learning 2.0 relevant sind. Zudem sind die Lehrenden und Lernenden in der Lage, sich mit rechtlichen Fragen zum Urheberrecht auseinanderzusetzen (z.B. Phänomen Plagiate; Einstellen eigener Inhalte ins Netz). Bei der Wahl von Web 2.0-Werkzeugen für die Lehre ist die Lehrperson in der Lage, nicht nur unter didaktischen sondern auch unter moralischen Aspekten auszuwählen. Lehrende und Lernende sind in der Lage, sich damit auseinander zu setzen, inwiefern aus Perspektive der Verminderung einer Digital Divide die Erstellung eines Weblogs oder ePortfolio im Internet für alle Beteiligten machbar ist. (3) soziale Dimension: Die Lehrperson ist in der Lage, die Interaktion und Kommunikation im virtuellen Raum zu gestalten und zu fördern und aus der Perspektive der Lernenden auf Grund eigener Erfahrungen mit OnlineKommunikation nachzuvollziehen und zu verstehen. Sie räumt den Teilnehmenden genügend Reflexionsraum ein, um sich über ihre (neuen) Kommunikationsund Interaktionserfahrungen auszutauschen. Die Lernenden sind entsprechend in der Lage, die Potenziale einer Lehrveranstaltung im Sinne von E-Learning 2.0
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auszunutzen. Den Lernenden ist deutlich, dass die erfolgreiche Nutzung von Social Software mit dem Grad der Bereitschaft zur (freiwilligen) Kommunikation einhergeht. Sie kennen die Grundregeln der Online-Kommunikation und sind mit -Verhaltensweisen vertraut. Zudem sind die Lernenden in der Lage, ihren Lernprozess selbst zu organisieren. (4) affektive Dimension: Der bzw. dem Lehrende/n und den Studierenden ist bekannt, dass die Integration von digitalen Medien im Lehr- und Lernprozess auch unterhaltsam sein darf (z.B. Videobeispiele, Simulationsspiele). Erfahrungen im Umgang mit virtuellen Welten in der Lehre liegen vor. Ebenso haben Lehrende wie Lernende erfahren, welche positiven Gefühle die Erstellung eines eigenen Video- oder Audiobeitrags für das Internet mit sich bringen kann. Schließlich sind sich die Lehrenden wie auch Lernenden darüber im klaren, dass die Nutzung des Computers für das E-Learning 2.0 in einem zeitlich angemessenen Rahmen bleiben sollte. (5) ästhetische Dimension: Die Lehrperson verfügt über grundlegende Kenntnisse und Fähigkeiten des (digitalen) Visualisierens und ästhetisch ansprechenden Gestaltens von Lernumgebungen. Die Studierenden können eine eigene OnlineUmgebung unter ästhetischen Gesichtspunkten gestalten. So ermöglicht z.B. das Anlegen eines eigenen Weblogs zugleich auch die kreativen Grenzen von Social Software kennen zu lernen. Das Einstellen eigener Audio- oder Videobeiträge sowie Bilder ins Netz, z.B. in Community-Netzwerke, erfolgt auf Basis von ästhetischen Kenntnissen und Regeln der Community. (6) Handlungsdimension: Lehrende wie Lernende sind in der Lage, mit der zur Verfügung stehenden Hard- und Software umzugehen, verfügen über Kenntnisse des jeweiligen Supports und Wissen um entsprechende Fortbildungsangebote. Lehrende wie Lernende verfügen über (Grund-)Kenntnisse und Fertigkeiten, selbst Medien produzieren und gestalten zu können (z.B. Podcast, Weblog, Videoclip, Online-Diashow). Lehrende wie Lernende sind in der Lage, auch wissenschaftlich mit Web 2.0-Anwendungen zu arbeiten. Die Fähigkeit, eigene (Text-)Beiträge für das Netz erstellen zu können und das Wissen um Möglichkeiten, Kommentare bei Dritten zu hinterlassen, ist vorhanden und gehört zum Alltag. Lernende sind Mitglied in einer Online-Community und in der Lage eigene Profile anzulegen und Anwendungen miteinander zu vernetzen. Das exemplarisch und illustrativ aufgezeigte Wissen und Können der Lehrenden und Lernenden zeigt, dass der gewählte medienpädagogische Begriff persönlicher Medienkompetenz nach Aufenanger für E-Learning 2.0 anschlussfähig ist. Allerdings scheint eine persönliche Medienkompetenz für den akademischen Bereich nicht mehr ausreichend, wenn man z.B. Aspekte wie das Handeln der Lernenden im Netz stärker in den Fokus nehmen möchte.
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Mehr als akademische Medienkompetenz für E-Learning 2.0
In den vorangegangenen Ausführungen hat sich gezeigt, dass sowohl die Lehrenden wie auch Lernenden für ein E-Learning 2.0 über eine persönliche Medienkompetenz verfügen sollten. Darüber hinaus ist deutlich geworden, dass sowohl Lehrende wie auch Lernende im Zuge E-Learning 2.0 über ein großes Maß an (selbst-)reflexiven Kompetenzen verfügen müssen, die es ermöglichen, sich als Person u.a. angemessen zum Internet und seinen technischen und sozialen Möglichkeiten, zu den veröffentlichten Inhalten, zu den Mitlerner/innen sowie zu sich selbst in Beziehung zu setzen. Damit wird deutlich, dass für Lehrende wie auch Lernende eine persönliche Medienbildung von Bedeutung ist, die über eine Ausbildung von Kompetenzen hinaus geht. 3.1 Von der akademischen Medienkompetenz zur Medienbildung für ELearning 2.0 Medienbildung ist nicht mit Medienkompetenz gleichzusetzen, sondern setzt diese voraus und schließt sie mit ein. So beschreibt Aufenanger (2000: 37) Medienbildung als „einen ganzheitlichen Aspekt der Persönlichkeit der Menschen“, der „eher als Habitus (...) gegenüber den neuen Medien verstanden werden“ könne. Aufenanger stellt relativierend fest, dass „Medienkompetenz sich auf die reine Anwendung auf Medien bezieht, während Medienbildung gleichzeitig die Fähigkeit beinhaltet, sich reflexiv zu den Medien zu verhalten.“ Demnach umfasse eine gelungene Medienbildung sowohl den „kompetenten Umgang mit den Medien“ als auch „die Reflexion über sie, sowie die Fähigkeit, sich auf unbekannte Mediensituationen angemessen einstellen zu können“ (38). Folglich müsse wer medienkompetent sei, nicht zugleich auch über Medienbildung verfügen, da sich diese erst ausbildet. E-Learning 2.0 hat hier auf Grund der technischen und sozialen Neuerungen, die im Internet möglich sind, das Potenzial neue (Aus)Bildungsprozesse einer Medienbildung zu ermöglichen. In diesem Sinne sei auch auf Marotzki (2004) verwiesen, der unter Bezug auf Mittelstraß Medienbildung im Zusammenhang von Verfügungswissen bzw. Faktenwissen und Orientierungswissen reflektiert und zu dem Schluss kommt, dass „Medienkompetenz überwiegend dem Aufbau von Verfügungswissen entspricht und Medienbildung über das Verfügungswissen hinaus Orientierungswissen ermöglicht“ (64), das „Wissen und Fähigkeiten, die Orientierungsleistungen ermöglichen“ (71), umfasst. Dass es kaum sinnvoll ist, Medienkompetenzmodelle, die im Zuge der klassischen Medien entwickelt wurden, auf die neuen Informationstechnologien zu übertragen, macht er an der Unterscheidung fest, dass das Internet „als das avancierteste Beispiel für neue Informationstechnologien ein konsequent interak-
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tives Medium“ darstellt und „mit seinem Gebrauch bestimmte Risiken verbunden [sind], die bei den klassischen Medien unbekannt sind“ (Marotzki 2004: 65). Dem kann hier in den Grundzügen nur zugestimmt werden. Allerdings zeigt das ausgewählte Medienkompetenzmodell mit seinen Dimensionen, dass Modelle von Medienkompetenz, die unter Einbezug alter wie neuer Medien entwickelt wurden, für einen Transfer auf Ebene der persönlichen Medienkompetenz durchaus tauglich sind. Marotzki sieht es als wesentlich an, dass für Medienbildung das Verständnis des Internets als Kultur- und Bildungsraum konstitutiv sei. Insofern betrachtet er (ebd.: 71) Medienbildung insgesamt als „kreative(s) Projekt, Menschen Hilfestellungen zu bieten, die Möglichkeit der neuen virtuellen Welten für sich zu erschließen, um auf diese Weise die Chance zu erhalten, im neuen kulturellen Raum des Internet sich zu bewegen und ihre Stimme zu erheben.“ Mit dieser Auffassung von Medienbildung wird neben der (selbst-)reflexiven Komponente auch der Gedanke der Emanzipation herausgestellt, der im Zuge der Diskussion um die Integration digitaler Medien in die Hochschullehre zu Gunsten notwendiger Medienkompetenz bei Lehrenden und Lernenden stärker in den Hintergrund gerückt zu sein scheint. Im Anschluss an diese Darstellung scheint es nun sinnvoll, Überlegungen anzustellen, inwiefern die Diskussion um die Notwendigkeit und Förderung medienbezogener Kompetenzen für die akademische Lehre im Sinne von ELearning 2.0 nicht von vornherein auf der Ebene einer entsprechenden Medienbildung ansetzten sollte, die die persönliche Medienkompetenz für den akademischen Kontext voraussetzt und einschließt. Im Folgenden wird dem Begriff der Medienbildung im Sinne von E-Learning 2.0 allerdings keine populäre Versionenbezeichnung angehängt, da sich der dargestellte Grundgedanke der Medienbildung bezogen auf digitale Medien und das Internet nicht durch Auftauchen des Web 2.0-Konzepts bzw. entsprechender Anwendungen verändert. Es scheint eher das Gegenteil der Fall zu sein, nämlich dass sich ursprüngliche Überlegungen zur Medienbildung durch die technischen und sozialen Entwicklungen im Internet nun stärker entfalten können. Insofern lässt sich festhalten, dass eine Medienbildung im Sinne von E-Learning 2.0, die die jeweils (akademische) Medienkompetenz einschließt, eine elementare Voraussetzung auf Seiten der Lehrenden und Lernenden für eine erfolgreiche und verantwortliche Integration von E-Learning in Lehr- und Lernprozesse im akademischen Kontext darstellt. Wo die Förderung von akademischer Medienkompetenz und darüber hinaus von Medienbildungsprozessen für ein E-Learning 2.0 notwendig ist und ihren Platz haben könnte, zeigen die Folgenden exemplarischen Überlegungen.
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3.2 Lernende, Lehrende und E-Learning 2.0 – Status quo und Förderbedarfe Studierende in der Hochschule verfügen (noch) nicht über die (akademische) Medienkompetenz, die ihnen gerne zugeschrieben wird und die sie automatisch zu einer „Ne(x)t Generation“ werden lassen, die schon heute veränderte Formen des Lehrens und Lernens in der Hochschule fordert (vgl. u.a. Seufert 2007). Dieses weist Schulmeister (2008) im Rahmen einer Metaanalyse anhand ausgewählter nationaler und internationaler Studien nach, die sich mit dem Mediennutzungsverhalten von Studierenden und ihren Ansprüchen an eine akademische Lehre (mit digitalen Medien) beschäftigen. So zeigen die referierten Studien (ebd.: 99 ff.) u.a., dass Studierende heute einen moderaten Medieneinsatz vorziehen und auf Präsenzlehre nicht verzichten möchten. Zudem wird die Qualität der Lehrveranstaltung von den Studierenden in erster Linie an der Professionalität der Lehrperson und nicht am Medieneinsatz festgemacht. Interessant ist zudem die Aussage, dass der Wunsch nach mediengestützter Lehre dort zunimmt, wo Studierende im Rahmen von Lehrveranstaltungen gute Erfahrungen mit ELearning sammeln konnten. Weiter wird mit Bezug auf einer internationalen Studie referiert, dass „Studierende gar nicht über das erwartete Maß an Fähigkeiten verfügen, kompetent mit dem Computer umzugehen“ (ebd.: 111) und dass im Bereich der sogenannten Media Literacy Schwächen bei den Fähigkeiten zur gründlichen Recherche und der Bewertung solcher Ergebnisse vorliegen (ebd.). Dass die Studierenden die digitalen Medien stärker nutzen und Computer und Internet selbstverständlicher Teil der Lebenswelt geworden sind (vgl. u.a. JIM 2008) bleibt für zukünftige Entwicklungen im E-Learning bedeutsam. Demnach scheint es angebracht, nicht nur die Lehrenden, sondern auch die Studierenden beim Erwerb einer (akademischen) Medienkompetenz stärker zu unterstützten. Dieses stellt eine Voraussetzung dafür dar, dass der selbstverständliche Umgang mit digitalen Medien im akademischen Lernprpozess alltäglich wird und idealerweise die Selbstorganisation von Lernen im Sinne von ELearning 2.0 unterstützt wird so dass ein verändertes Lehren und Lernen erst möglich wird. In diesem Zusammenhang gewinnt die Tatsache an Bedeutung, dass die Förderung bzw. Ausbildung von Medienkompetenz in den Bereich der sogenannten überfachlichen Kompetenzen oder Schlüsselkompetenzen fällt, die expliziter Gegenstand der Lehre in Bologna-konformen Studiengängen sein sollen (vgl. u.a. Carstensen 2007: 210). Im Sinne der obigen Ausführungen erscheint es ebenfalls angemessen, über die Kompetenzförderung hinaus, die Studierenden bei der Entwicklung von Medienbildung für ein E-Learning 2.0 zu unterstützen. In diesem Zusammenhang kommt den Lehrenden als Gestaltende der Lernszenarien und Begleiter des Lernprozesses eine bedeutende Rolle zu. Diese Ausgangslage erfordert von Lehrenden, die Lehren und Lernen im Sinne
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von E-Learning 2.0 gestalten und fördern wollen, ebenfalls eine ausgeprägte akademische Medienbildung. In der aktuellen Diskussion um notwendigen Kompetenzen für Hochschullehrende zur Integration von E-Learning in die akademische Lehre ist neben dem beschriebenen Konzept einer akademischen Medienkompetenz das Modell von eCompetence prominent (vgl. u.a. Schneckenberg 2006; Seufert 2008). Das Modell der eCompetence, das für diesen Kontext auf die Lehrenden bezogen wird, wird unterschiedlich mit Inhalt gefüllt, wobei die Förderung in anwendungsbezogenen und mediendidaktischen Fähigkeiten und Fertigkeiten dominiert. Im Zuge der Entwicklung von E-Learning und dem Anspruch mittels ELearning didaktische Innovationen zu ermöglichen, sollte dieses Modell weiter gefasst werden. Ein solches erweitertes Konzept von eComptence mit Fokus auf die Hochschullehre und -lehrende integriert dann sowohl medienpädagogische Kompetenzen für den Hochschulbereich als auch hochschuldidaktische Kompetenzen und stellt eine akademische Medienkompetenz ins Zentrum (ausführlicher erläutert bei Mayrberger 2008b). Nach den vorliegenden Ausführungen muss dieses Modell erneut überdacht und um die Perspektive einer Medienbildung im Sinne von E-Learning 2.0 erweitert werden. Damit wird es zu einem erweiterten Modell einer Medienbildung für E-Learning 2.0 im akademischen Kontext – hier mit Fokus auf die Lehrenden – das kompetenzbezogene Ansätze integriert.
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Abbildung 1:
Medienbildung für E-Learning 2.0 im akademischen Kontext (Lehrende)
Folglich sollten Konzepte zur Förderung einer umfassenden Lehrkompetenz für den akademischen Bereich auch diese umfassende Perspektive der Förderung von Medienbildung im Sinne von 2.0 Rechnung tragen und in entsprechenden Modulen und Angeboten, die sich mit der Förderung von Medienkompetenz beschäftigen, berücksichtigen. Eine solche Modifikation bestehender oder noch zu entwickelnder Fort- und Weiterbildungskonzepte könnte den Prozess unterstützen, Lehrende u.a. darin zu befähigen, ihren persönlichen Interaktions- und Handlungsraum auf das Internet auszuweiten und u.a. Social Software derart in die Lehre zu integrieren, dass die Studierenden darin gefördert werden, selbstorganisiert, -reflexiv und verantwortlich miteinander zu lernen. Auf der anderen Seite gilt es auch die Lernenden in ihren Aneignungsprozessen zu unterstützen und eine spezifische Medienbildung für das Lernen mit digitalen Medien im Sinne von 2.0 zu fördern.13 13
Vgl. für exemplarische Maßnahmen Stratmann et al. (2008) und für eine alternative Perspektive die Ausführungen zu E-Learning-Kompetenzen von Thillosen/Hansen (2009).
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Fazit und Ausblick
Dieser Beitrag ist der Frage nachgegangen, inwiefern die technischen und sozialen Entwicklungen, die mit dem Web 2.0-Konzept einhergehen und im Bereich der Bildungsinstitutionen unter E-Learning 2.0 gefasst werden, von den Lehrenden und Lernenden zusätzliche oder veränderte medienbezogene Kompetenzen für (formale) akademische Lehr- und Lernprozesse erfordern. Es konnte gezeigt werden, dass ein E-Learning 2.0 von Lehrenden wie auch Lernenden zusätzlich einer Medienbildung bedarf, die eine akademische Medienkompetenz voraussetzt und einschließt. Darüber hinaus benötigen vor allem Lehrende weitere medienpädagogische und hochschuldidaktische Kompetenzen, um akademische Lehre im Sinne von E-Learning 2.0 zu gestalten. Hierfür wurde ein erweitertes Modell von eCompetence im Sinne von 2.0 vorgeschlagen. Im Laufe der Auseinandersetzung wurde auch deutlich, dass es noch weiterer theoretischer Klärungen und empirischer Untersuchungen bedarf, die sich zum Beispiel dem Aspekt der Selbststeuerung oder dem Widerspruch zum informellen Lernen im Bereich der akademischen Lehre im Sinne von E-Learning 2.0 im Kontext von Bologna widmen. Das Anliegen, den Wandel des akademischen Lehrens und Lernens zu fördern, stellt nach wie vor eine Herausforderung dar, die im Zuge der aktuellen Hochschulentwicklungsprozesse in absehbarer Zeit vermutlich nur in sehr kleinen Schritten voran gehen wird. E-Learning 2.0 hat hier eine verstärkende Funktion und kann wichtige Impulse geben, insofern die Beteiligten für ein solches Lehren und Lernen gerüstet und offen sind. Es ist absehbar, dass es immer nur zu einer Annäherung des Konzepts von Web 2.0 und den institutionellen Bedingungen von Hochschule kommen kann. Hier Bedarf es konkreter pragmatischer und praxiserprobter Handlungsempfehlungen, um den notwenigen Veränderungsprozess in der Breite unterstützen zu können und plausibel zu machen. Das aufgezeigte Potenzial von E-Learning 2.0 für die akademische Lehre auszuschöpfen, bleibt eine Herausforderung für die Lehrenden wie die Lernenden und Bedarf der spezifischen Förderung einer umfassenden Medienbildung.
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Zusammenfassung Ausgehend von der momentanen Situation der (Chemie)-Lehrerfortbildung und vor dem Hintergrund neuer Bildungsstandards wird ein Fortbildungsmodell vorgestellt, das am Chemielehrerfortbildungszentrum der Universität Frankfurt erprobt wird. Zentrales Element sind Blended-Learning-Kurse, die im Rahmen eines Projektes zur Verbesserung der Medienkompetenz („Lehr@mt“1) entwickelt werden. Eine Evaluation erfolgt durch Fragebögen und Interviews. Erste Erfahrungen lassen bereits Aussagen über die Akzeptanz und die Notwendigkeit des Angebotes zu. Auf der Basis der Ergebnisse soll ein Modell für den Erwerb von Medienkompetenz exemplarisch für Chemielehrkräfte entwickelt werden, das sich an den Bildungsstandards orientiert. 1
Eine kurze Betrachtung des Begriffs der Medienkompetenz
Da der Begriff der Medienkompetenz nicht einheitlich definiert ist, soll hier kurz auf den Begriff selbst, weiterhin auf die Teilbereiche der Medienkompetenz eingegangen werden, die für unser Fortbildungsmodell relevant sind. Medienkompetenz kann durchaus als Modebegriff bezeichnet werden, der in unterschiedlichen Kontexten verwendet wird, je nach Herkunft unterschiedliche Bedeutungsvielfalt aufweist und einem ständigen Wandel unterworfen ist. Gapski sammelte allein im Zeitraum von 1996 - 2001 104 Definitionen der Medienkompetenz in unterschiedlichsten Zusammenhängen (Gapski 2001). Es wäre eine Aufgabe für die Medienpädagogik, sich um die Klärung der Bedeutungen des Begriffs zu bemühen (vgl. Aufenanger 1997). 1
Lehr@mt: Medienkompetenz als phasenübergreifender Qualitätsstandard in der Lehrerbildung, ein Projekt des AfL (Amt für Lehrerbildung) und der Universität Frankfurt. Näheres dazu unter http://afl.bildung.hessen.de/ unter dem Suchbegriff Lehr@mt.
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1.1 Definitionen von Medienkompetenz Im Folgenden sollen exemplarisch einige Definitionen genannt werden, obwohl Spanhel anmerkt: „Medienkompetenz lässt sich nicht definieren, nur explizieren“. Er selbst sieht Medienkompetenz als Handlungsfähigkeit „…zur Bewältigung unterschiedlichster mediengeprägter Alltagssituationen und Probleme“ (Spanhel 2002). Medienkompetenz kann ganz einfach als „Fertigkeit im Umgang mit Medien“ verstanden werden (Schorb 2007, S. 15), die weiter ausdifferenziert werden kann. Aufenanger stellt fest, „dass Medienkompetenz eine allgemeine Fähigkeit beschreiben soll, die prinzipiell auf alle Medien bezogen ist, die dürfte damit über grundlegende Fähigkeiten bestimmbar sein, in einer durch Medien geprägten Welt sich zurechtzufinden und zu handeln“ (Aufenanger 1997). Wagner sieht sie als „Werkzeug der Weltaneignung“ (Wagner 2004). Tulodziecki beschreibt sie als „Fähigkeit und Bereitschaft zu einem sachgerechten, selbstbestimmten, kreativen und sozial verantwortlichen Handeln in einer von Medien mitgestalteten Welt“ (Tulodziecki 2007). Er spricht damit schon die verschiedenen Dimensionen an, auf die sich Medienkompetenz bezieht. Trotz unterschiedlicher Ausformulierungen scheint aber allen gemeinsam zu sein, dass mit Medienkompetenz eine Handlungsbefähigung erzielt wird. 1.2 Bereiche der Medienkompetenz Eine grundlegende Einteilung von Medienkompetenz stammt von Baacke, der als Teilbereiche Medienkunde, Medienkritik, Mediennutzung und Mediengestaltung nennt (Baacke, 1998). Weitere Differenzierungen ergeben sich durch die Einteilung nach Dimensionen (Aufenanger 2001), Teilkompetenzen (Moser 2006) oder nach Medienarten (Spanhel 1999). (Eine Übersicht findet sich in Tulodziecki 2007). Prinzipiell geht es immer um zwei Bereiche: zum einen den des Wissens über und Beurteilung von Medien und die intellektuelle Auseinandersetzung mit ihnen bezüglich der Möglichkeiten und Gefahren ihres Einsatzes und zum anderen den des eingeübten Könnens, also spezifischer Handfertigkeiten im Umgang vor allem mit neuen Medien, die ein technisches Verständnis voraussetzen. Um nach Tulodziecki kompetent handeln zu können, also existierende Medienangebote zu nutzen und eigene Medienbeiträge zu gestalten, bedarf es Kenntnisse und Fähigkeiten im Bereich der Gestaltungsmöglichkeiten, die Medien bieten, aber auch Wissen darüber, welche Wirkungen mit Medien erzielt werden können und welche Bedingungen der Produktion und Verbreitung gelten.
Wodurch erwerben Lehrkräfte Medienkompetenz?
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1.3 Medienkompetenzmodelle - Standards für den Medienkompetenzerwerb Für den gestuften Erwerb von Medienkompetenz wurden sowohl von Tulodziecki als auch Moser Medienkompetenzmodelle mit formulierten Standards für die einzelnen Stufen entwickelt (Moser 2006, Tulodziecki 2007). Moser unterteilt Medienkompetenz in drei Handlungsfelder: x x x
Anwendung und Gestaltung Austausch und Vermittlung Reflexion und Medienkritik
Diese sind jeweils wiederum in drei Kompetenzfelder gegliedert: x x x
Sachkompetenz Methodenkompetenz Sozialkompetenz
In diesen neun Bereichen gibt es dann jeweils noch drei Stufen, also insgesamt 27 Kompetenzbereiche. Dieses Modell findet sich im Testsystem „Test your ICT-Knowledge“ der Universität Zürich wieder. Bei Tulodziecki findet man als übergeordnete Kompetenzbereiche: x x x x x
Medienangebote sinnvoll auswählen und nutzen Eigene Medien gestalten und verbreiten Mediengestaltung verstehen und bewerten Medieneinflüsse erkennen und aufarbeiten Bedingungen der Medienproduktion und -verbreitung durchschauen und beurteilen
Dazu werden für den jeweiligen Kompetenzbereich Kompetenzaspekte formuliert (zum Beispiel: zum ersten Bereich „Medienangebote sinnvoll auswählen und nutzen“ finden sich die Aspekte Information, Kommunikation, Unterhaltung und Spiel, Kommunikation und Kooperation). Für die Untergliederung in Niveaus werden verschiedene Entwicklungstheorien herangezogen, z.B. Ansätze zur psychomotorischen, zur affektiv-motivationalen, zur intellektuellen, zur psychosozialen oder zur moralischen Entwicklung, die ein vom Alter abhängiges Leistungsspektrum in den Anforderungsbereichen begründen. Dies führt zu einem gegliederten Kompetenzmodell, das sich
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in drei Niveaus aufspaltet, die zu Ende der vierten, sechsten und neunten Jahrgangsstufe der allgemein bildenden Schulen erreicht werden sollen. 1.4 Medienkompetenz in der Schule Medienkompetenz gilt als Schlüsselqualifikation für das spätere Berufsleben und muss daher in der Schule vermittelt werden. Da es sich hier um den Umgang mit Zeichensystemen handelt, kann man in ihr eine grundlegende Fähigkeit der Kommunikation sehen und letztendlich eine Voraussetzung der Aneignung von Bildung überhaupt (Spanhel 2002). Aus den oben erwähnten Bereichen der Medienkompetenz leitet Tulodziecki fünf Aufgabenbereiche für die Schule ab, die die Grundlage medienpädagogischen Handelns darstellen sollen. Um ihrem Bildungsauftrag gerecht zu werden, muss Schule Konzepte zur Umsetzung dieser Kompetenzbereiche entwickeln um schließlich Medien zur Verbesserung von Lehre und Lernen einsetzen zu können. Lehrkräfte sollten dafür „medienkompetent“ sein: „Lehrpersonen, die Kinder und Jugendliche in der Entwicklung von Medienkompetenz anregen und unterstützen, müssen also über diese Kompetenz selbst verfügen.“ (Herzig 2007, S. 286)
Dieses Ziel ist nicht neu. Bereits 1997 forderte Tulodziecki, dass in der Aus- und Weiterbildung von Lehrern auf Medien eingegangen werden muss (Tulodziecki 1997) Medienkompetenz zu dieser Zeit bezog sich primär auf den Umgang mit Video und Film und ersten Lernprogrammen am Computer bzw. Lernumgebungen. In den letzten Jahren hat sich das Spektrum der Medien, mit denen man umgehen muss, und ihre Einsatzgebiete stark erweitert. In Folge dessen sollten sich auch die diesbezüglichen Kenntnisse der Lehrkräfte entsprechend vertieft haben: „Lehrende müssen wissen, wie und wann sie neue Medien in Lehr-Lern-Prozessen einsetzen können, sie müssen Medienwirkungen beurteilen können und für einen gleichberechtigten Zugang zu neuen Medien im Unterricht sorgen.“ (Gruber 2006, S. 4)
Allerdings stellt Bernd Schorb fest, dass es mit der Medienkompetenz nicht zum Besten steht: „Generalisierend lässt sich, dass Medienkompetenz ein Schlagwort in aller Munde ist, aber sie steht den Menschen noch nicht zur Verfügung und ihre Entwicklung wird primär im Bereich des Funktionalen, der Vermittlung technischer Fähigkeiten, gefördert. Weder können die Schulen auf ausgearbeitete Curricula zur umfassenden Vermittlung von Medienkompetenz zurückgreifen, noch die Lehrerbildung.“ (Schorb 2007, S. 16)
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Schorb erwähnt, dass die Förderung vor allem in Bereichen der Medienkompetenz stattfindet, die man den Handlungskompetenzen Tulodzieckis oder den Sach- und Methodenkompetenzen Mosers zuordnen kann. Wir halten es nicht für trivial, in diesem Bereich zu fördern. Es wird zwar immer wieder verlangt, Medienkompetenz müsse über das bloße Handhaben hinausgehen, es bedürfe vor allem auch der Bewertung und Beurteilung des Medieneinsatzes, aber die technische Beherrschung und das Kennen der Möglichkeiten ist eine Voraussetzung für die Auseinandersetzung mit den weiteren Teilbereichen von Medienkompetenz. In diesem Zusammenhang erscheint es sinnvoll, zwischen herkömmlichen Medien wie einem Buch und den sog. „Neuen Medien“ wie dem Computer zu unterscheiden. Denn zu letzteren bedarf es eines speziellen technischen Könnens, um sie handhaben zu können, um Anwendungen nutzen und eigenen Beiträge gestalten zu können. Der Umgang mit der Technik ist unserer Einschätzung nach allerdings der Bereich der Medienkompetenz, der von Lehrkräften am wenigsten beherrscht wird. Ängste und Hemmungen im Umgang mit der Technik verhindern letztendlich die Auseinandersetzung mit den Medien und den Einsatz dieser im Unterricht. Somit kann eine Weitergabe von Medienkompetenz von Lehrern an Schüler nicht stattfinden. Der Begriff der „Computerängstlichkeit“ spiegelt dies wieder. Rosen und Weil (1995) konnten bei Lehrkräften der Sekundarstufe I (naturwissenschaftliche vs. geisteswissenschaftliche Fächer) ein Vermeidungsverhalten feststellen: Auch wenn sie die Möglichkeit der Computernutzung hatten, wurde das Gerät nicht eingesetzt. Der Hauptgrund der Nicht-Nutzung lag in der Unsicherheit im Umgang mit dem Computer: Wer den Computer häufig nutzt, hat eine geringere Computerängstlichkeit als jemand, der ihn selten nutzt. 1.5 Fortbildungen zur Steigerung der Medienkompetenz Hier setzen unsere Fortbildungen an: Der Schwerpunkt liegt auf dem Kennen lernen von Einsatzmöglichkeiten „Neuer Medien“ im konkreten Fachunterricht einschließlich der Schulung und vor allem des Übens technischer Handfertigkeiten. Durch geeignete Lernumgebungen bei Lehrerfortbildungen wollen wir Prozesse der Medienbildung anregen, die neben der Reflexion über Medieneinsatz und -gestaltung gerade auch die Handlungsaspekte mit einschließen.
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Bildungsstandards statt Lehrpläne - eine Herausforderung für Schüler und Lehrkräfte
2.1 Bildungsstandards und Bildungsziele „Bildungsstandards formulieren Anforderungen an das Lehren und Lernen, benennen die Ziele der pädagogischen Arbeit ausgedrückt als erwünschte Lernergebnisse der Schüler; sie greifen Bildungsziele auf und benennen Kompetenzen, welche Schülern vermittelt werden müssen, um diese Ziele zu erreichen. Bildungsziele fordern von Schülern Entwicklung und verpflichten gleichzeitig Gesellschaft und Bildungseinrichtungen, diese Entwicklung zu garantieren.“ (BMBF 2003)
Um die durch die gesetzlichen Vorgaben geforderten „outcome“-Standards für alle Schüler erreichen zu können, müssen als Voraussetzung einheitliche „opportunity-to-learn“-Standards geschaffen werden, d.h. alle Schüler sollten die gleichen Voraussetzungen für ihre Entwicklung vorfinden. Wird dieses Ziel erreicht, hofft man dadurch die Qualität deutscher Schulen verbessern zu können, was nach den Ergebnissen der PISA-Studie offensichtlich notwendig ist. Die Umstellung von output-orientierten Lehrplänen auf outcome-orientierte Bildungsstandards, d.h. von Wissenserwerb zu Kompetenzerwerb, schließt auch den Bereich der Medienkompetenz mit ein. 2.2 Standards für Medienkompetenz Standards für die Medienkompetenz von Schülern wurden wiederholt formuliert, z.B. von ISTE2 (ISTE 2000) oder die bereits oben erwähnten Kompetenzmodelle von Moser und Tulodziecki. Diese gelten allerdings (noch?) nicht verpflichtend für die Schule und haben noch keinen Eingang in die Lehrpläne gefunden. Stattdessen können sie ein Anhaltspunkt für die medienpädagogische Arbeit von Lehrkräften sein und der Entwicklung von Konzepten zur Vermittlung von Medienkompetenz an Schulen dienen. Setzt man diese Standards in Bezug zu den Lehrplänen des Landes Hessen, findet man darin sowohl allgemeine als auch fachspezifische Anforderungen. Der Einsatz neuer Medien ist für alle Fächer gefordert und ist in den Fachunterricht integriert. Als Begründung wird zu Recht aufgeführt, dass der Erwerb von Medienkompetenz nur durch regelmäßiges Üben in unterschiedlichen Kontexten erfolgen kann. Für das Fach Chemie z.B. wird als Methode die Simulation von Experimenten mit dem Computer genannt.
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ISTE: International Society for Technology in Education
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Erwerben Schüler Medienkompetenz tatsächlich im Unterricht? Wie der Bundesbildungsbericht 2006 zeigt, ist dies nicht der Fall. Lernende eignen sich Kenntnisse der Computernutzung zur Zeit vor allem außerhalb der Schule an (Bildungsbericht 2006). Außerschulische Angebote sollen sogar gefördert werden, etwa in Form des Erwerbs eines Zertifikats für Computerkenntnisse wie z.B. den Europäische Computerführerschein ECDL oder den Europäische Computerpass Xpert (Amtsblatt3 12/04). Dies kann nur eine Notlösung sein, denn diese Zertifikate sind mit Kosten verbunden, womit das Erreichen der Bildungsziele für sozial Schwächere gefährdet ist und die Chancengleichheit in Frage gestellt wird. Auch das zeigt der oben erwähnte Bericht: Je niedriger der soziale Status, umso häufiger findet Computernutzung in der Schule statt. Die Schule muss also ein wichtiges Feld für den Erwerb von Medienkompetenz bleiben. 2.3 Standards für Lehrkräfte? Aus dem bisher Gesagten wird deutlich, dass Lehrkräfte über entsprechende Qualifikationen verfügen müssen, um Medienkompetenz vermitteln zu können. Wie erwerben sie aber selbst diese Qualifikationen? Standards für die Lehrerbildung in Deutschland wurden von der KMK 2004 beschrieben, allerdings nur für die Phase I und II, d.h. für Studium und Referendariat/Vorbereitungsdienst (KMK 2004). Von Studierenden wird darin gefordert: „(…) kennen Konzepte der Medienpädagogik und -psychologie und Möglichkeiten und Grenzen eines anforderungsgerechten Einsatzes von Medien im Unterricht.“ Referendare sollen die folgenden Fähigkeiten entwickeln: „(…) integrieren moderne Informations- und Kommunikationstechnologien didaktisch sinnvoll und reflektieren den eigenen Medieneinsatz.“ Diese Anforderungen wurden für den Bereich der Phase II weiter ausformuliert und für die einzelnen Fächer näher beschrieben. Die Regelungen werden für zukünftige Lehrergenerationen greifen. Lehrkräfte, die bereits im Schuldienst sind, müssen bislang jedoch keine Medienkompetenz nachweisen. Gleichzeitig werden sie aber mit entsprechenden Anforderungen täglich konfrontiert, die im Laufe ihres Berufslebens durch den technischen Fortschritt immer komplexer werden. Es ist fraglich, ob die hierfür 3
Das Amtsblatt ist das offizielle Mitteilungsorgan des Hessischen Kultusministeriums.
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notwendigen Kompetenzen tatsächlich vorhanden sind. Auf Grund der Studie „E-Learning in Deutschland 2005 – Sonderteil Schule“4 könnte man dies zunächst annehmen, da Lehrerinnen und Lehrer überdurchschnittlich mit Internetanschlüssen versorgt sind und fast alle einen PC besitzen. Genauere Informationen liefert hier allerdings die im Oktober 2006 veröffentlichte Studie mit dem Titel „Lehre oder Leere?“ ((N)ONLINER-Atlas 2006). Sie zeigt den geringen Einsatz neuer Medien im Fachunterricht. Als Beispiel: Nur 7 % aller deutschen Chemielehrkräfte setzen den PC im Unterricht ein. Hier scheint es also auf Seiten der Lehrkräfte ein Ungleichgewicht zu geben zwischen den Anforderungen und den Möglichkeiten, diesen Anforderungen gerecht zu werden. In einer eigenen Umfrage im Jahr 2006 (Weiß/Bader, unveröffentlicht) an 148 hessischen Schulen zur Ausstattung mit neuen Medien in Chemie wird diese in über 2/3 aller Fälle als nicht gut bezeichnet. Nur vier der befragten Fachsprecher gaben an, dass die Lehrkräfte im Umgang mit der Software gut geschult seien. Der Aufwand für den Einsatz wird gegenüber dem Nutzen von 97 Befragten kritisch gesehen. Gleichzeitig wird jedoch von 60 Umfrageteilnehmern angegeben, dass sich die Schülerwahrnehmung durch neue Medien verbessert. Hier scheint sich also eine Diskrepanz widerzuspiegeln einerseits um das Wissen einer besseren Vermittlung von fachlichen Inhalten unter Einsatz Neuer Medien und gleichzeitig einem Nachholbedarf in der Ausstattung sowie der Nichtnutzung vorhandener Medien auf Grund mangelnder Kenntnisse der Technik. Bildungsstandards wurden geschaffen, um Qualität von Schule zu steigern. Dabei wurde außer Acht gelassen, dass zu einem guten Qualitätsmanagement auch immer die Personalentwicklung gehört. Gerade im Bereich neuer Technologien hat Wissen eine kurze Halbwertszeit. Daraus resultiert ein gesteigerter Fortbildungsbedarf des Personals, wobei Fortbildung hier die Schulung technischer Kompetenzen mit einschließen muss. 2.4 Nachsitzen für Lehrer? Spiegelt man den Fortbildungsbedarf etwa an dem Modell von Moser, das oben kurz beschrieben wurde, fällt eine Besonderheit auf. Kompetenzen der grundlegenden unteren Niveaus fehlen Lehrkräften oft. Dagegen sind Kritikfähigkeit, Reflexionsvermögen und sozial-moralisches Urteilsvermögen hoch entwickelt. Diese Aspekte befinden sich im Kompetenzmodell von Tulodziecki, das sich an Entwicklungsstufen orientiert, auf den höchsten Niveaus. Diese Tatsache hat Auswirkungen auf die Gestaltung unserer Fortbildungen. Das soll an einem Beispiel erläutert werden: 4
Bezug dieser Studie: http://www.ibusiness.de/shop/db/ib_shop.3199hr.3397hr.html, z.Zt. allerdings nicht lieferbar, Stand: 23.9.2008
Wodurch erwerben Lehrkräfte Medienkompetenz?
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Tabelle 1: Beispiele für Standards niedriger Niveaus aus den Medienkompetenzmodellen Es ist z.B. Bestandteil unserer Fortbildungen, sich über Chat und Forum auszutauschen (vgl. Beispiele für Standards in Tabelle 1) und diesen Austausch mit den Kollegen zu reflektieren. Dies ist in den Kompetenzmodellen in unteren Niveaus als Standard angesiedelt, aber in der Praxis tatsächlich von Nöten. Viele Lehrer, die an den Fortbildungen teilnehmen, haben noch nie gechattet und machen hier ihre ersten Erfahrungen. 2.5 Fazit für die Gestaltung von Lehrerfortbildungen Man kann festhalten: Was Lehrern oftmals fehlt, sind grundlegende Handhabungsmöglichkeiten für den Umgang mit neuen Medien, sollen dies aber Schülern vermitteln. Die überaus größte Zahl heutiger Lehrer ist nicht mit neuen Medien aufgewachsen, was, wie gesagt, zu Computerängstlichkeit und Unsicherheiten führt. In den von uns konzipierten Fortbildungen möchten wir Lehrer in speziellen Lernumgebungen zur selbstständigen Auseinandersetzung mit neuen Medien anregen. Denn nur durch eigene Erfahrungen ist es möglich, sich Medienkompetenz anzueignen und damit letztendlich den von Tulodziecki geforderten Bildungsauftrag im Bereich neuer Medien zu erfüllen und medienpädagogische Konzepte zu entwickeln. Dieser Prozess erfordert Zeit für Fortbildungsmaßnahmen. Die zeitliche Überlastung der Lehrkräfte, die mittlerweile zu gesundheitlichen Beeinträchtigungen führt (Bauer 2004), macht es allerdings notwendig, nach geeigneten Wegen der Fortbildung zu suchen.
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Situation der (Chemie)- Lehrerfortbildung in Hessen
3.1 Hessens Lehrkräfte sammeln Punkte Durch das neue Hessische Lehrerbildungsgesetz von 2004 wird Fortbildung zum integrierten Bestandteil des Berufsbildes von Lehrkräften erhoben (HLbG 2004). Hessische Lehrerinnen und Lehrer sind dazu angehalten, ein sog. „Qualifizierungsportfolio“ anzulegen und sog. „Fortbildungspunkte“ zu sammeln. In drei Jahren sollen so 150 Punkte erworben werden. In der Praxis werden Punkte für Fortbildungsveranstaltungen zeitabhängig vergeben: Eine halbtägige Fortbildung wird mit 5, eine ganztägige mit 10 Punkten honoriert. Das Hessische Institut für Qualitätsmanagement (IQ) akkreditiert die Veranstaltungen, die in der Regel durch einen Fragebogen evaluiert werden müssen. Durch diese Maßnahmen soll die Qualität gesichert werden. Des Weiteren soll die Schulleitung zusammen mit dem Kollegium Schwerpunkte für die Fortbildung festlegen und in einem jährlichen Mitarbeitergespräch mit jeder Lehrkraft die persönlichen Ziele definieren. Bereits vor der Einführung der Fortbildungspflicht wurden am Chemielehrerfortbildungszentrum in Frankfurt sowohl regelmäßig Kurse angeboten als auch empirische Untersuchungen zum Fortbildungsverhalten von Lehrkräften durchgeführt (Bader/Höner/Melle, 2004). Es zeigte sich eine hohe Nachfrage nach den Fortbildungsmaßnahmen. Als wesentliche Hinderungsgründe für eine Teilnahme konnten weite Entfernungen zum Veranstaltungsort und besondere familiäre Umstände, wie Probleme bei der Kinderbetreuung, ermittelt werden. Dies führte zu dem von Aljanazrah und Bader erprobten Ansatz, Fortbildungskurse anzubieten, die die Präsenzzeiten durch Blended-Learning-Arrangements reduzieren. (Aljanazrah, A. M./Bader, H. J., 2006). Die Ergebnisse zeigten, dass dieser Ansatz ein Erfolg versprechendes Modell für die Lehrerfortbildung ist. Darauf basierend wurde nunmehr ein erweitertes Modell entwickelt, das zusätzlich das Element der Steigerung der Medienkompetenz im Hinblick auf verbesserte Handlungsfähigkeit integriert. 3.2 Steigerung der Medienkompetenz: das Drei-Fliegen-Konzept In den stark auf Teilnehmeraktivierung ausgelegten Fortbildungen werden drei Ziele verfolgt und somit „drei Fliegen mit einer Klappe“ geschlagen: x
Die Fortbildung vermittelt fachliche, für den Unterricht relevante Inhalte, beispielsweise neue Zugänge zum Thema Kunststoffe oder Nachwachsende Rohstoffe. Dazu können Experimente, die für die Schule geeignet sind, im Rahmen eines der Präsenztage erprobt werden.
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x
x
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Verknüpft mit dem Thema wird pro Kurs eine Methode vermittelt, beispielsweise das Erstellen elektronischer Mindmaps, das Ausarbeiten eines Webquests oder das Arbeiten mit einem chemischen Zeichenprogramm. Dabei geht es zum einen um technische Fähigkeiten aber auch um die entsprechende Mediendidaktik. Durch das Bearbeiten von Aufgaben, etwa des Erstellens einer Mindmap zum Thema „Öle und Fette als Nachwachsende Rohstoffe“, das Bereitstellen des Ergebnisses auf der Lernplattform und die Beteiligung an der Kommunikation während der Onlinephasen wird der Umgang mit dem PC geübt. Der Computer wird selbst zum Lerngegenstand der Fortbildung, was Bedienkompetenzen betrifft. Ebenfalls Bestandteil der Fortbildung ist die kritische Reflexion über Einsatzmöglichkeiten im Unterricht.
Die Blended-Learning-Veranstaltungen besitzen eine P-O-P-Struktur. Am ersten Präsenztag, der dem Kennen lernen der Teilnehmer und der Gruppenbildung dient, werden Fertigkeiten im Umgang mit den ausgewählten Methoden bzw. Werkzeugen vermittelt. Zudem werden für die Onlinephase wichtige Funktionen eingeübt (Dateien auf einen Server laden, im Forum kommunizieren etc.). Es folgt eine drei- bis vierwöchige Onlinephase, in der die Teilnehmer die genannten Aufgaben bearbeiten müssen. Dabei erhalten sie fachliche Informationen über ein Internetportal. Bei den Aufgaben handelt es sich nicht um einfache Abfragen, sondern um komplexe, zum Teil in Gruppen zu bearbeitende Aufträge, die die Nutzung von Medienwerkzeugen einschließt. Während der gesamten Onlinephase werden die Teilnehmer tutoriell betreut über Forum, Email oder Telefon. Der zweite Präsenztag ist in der Regel der oben aufgeführte Praktikumstag (vgl. Abbildung 1).
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1. Präsenzphase
Onlinephase
2. Präsenzphase
Methodenschulung
Informationen
Labortag
Kennen lernen der Teilnehmer
Lösen von Aufgaben
Erfahrungsaustausch
1 Tag
4 Wochen
1 Tag
Virtueller „Treffpunkt“ für den Austausch von Informationen, Hilfestellungen, Lösungen zu den Aufgaben, etc.(Passwortgeschützt)
Abbildung 1:
Struktur der Fortbildung
Der wesentliche Unterschied zu herkömmlichen Veranstaltungen liegt darin, dass während der Onlinephase Inhalte des ersten Präsenztages vertieft werden und das Gelernte angewandt wird. Es gehört zum Inhalt der Kurse, die vermittelten Techniken einzuüben oder sich in einem Forum über Fragen zum Stoffgebiet auszutauschen. Nicht durch Sehen oder Zuhören, sondern vor allem durch die aktive Auseinandersetzung mit dem Stoff wird Medienkompetenz erworben. Die technische Komponente hat hier dieselbe Berechtigung wie z.B. die Reflexion über den Einsatz der Medien bzw. der Werkzeuge. Denn es sind oft gerade die technischen Komponenten, die den Teilnehmern die meisten Probleme bereiten, bei denen sie aber hier nicht alleine gelassen werden. Die Veranstaltungen werden mittels Fragebögen (Pre, post- und follow-up nach einem halben Jahr) und Interviews (am zweiten Präsenztag) evaluiert und nach den Rückmeldungen der Teilnehmer kontinuierlich verbessert, um sie optimal den Bedürfnissen der Zielgruppe anzupassen. 3.3 Erste Erfahrungen Bisher wurden vier verschiedene Kurse, z.T. schon mehrfach, durchgeführt. Die einzelnen Kursgruppen waren meist sehr heterogen zusammengesetzt, sowohl was das Alter der Teilnehmer als auch die Medienkompetenzen betraf. So wurden die als Voraussetzung geforderten soliden Grundkenntnisse in üblicher Office-Software individuell sehr unterschiedlich definiert, wodurch es zu Über- und Unterforderungen kam. Die Kurse wurden von den Lehrkräften durchgehend gut bewertet. Sie sprechen von einem hohen Lernzuwachs, der jedoch von großer zeitlicher Investition begleitet ist. Vor allem Teilnehmer und Teilnehmerinnen
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mit geringen Vorkenntnissen bestätigen einen Anstieg ihrer Medienkompetenz. Es wurde überwiegend angegeben, dass die Motivation für den Einsatz neuer Medien erhöht wurde. Abbildung 2 zeigt exemplarisch erste Evaluationsergebnisse des Postfragebogens, den die Teilnehmer am zweiten Präsenztag ausfüllten. Sie fühlen sich motiviert, mehr mit neuen Medien zu arbeiten und schätzen den Lernzuwachs im Vergleich zu herkömmlich organisierten Anwesenheitsveranstaltungen, wie sie normalerweise als Fortbildungen angeboten werden, höher ein. Die Fortbildung hat mich motiviert
Ich habe mehr gelernt als bei einer klassischen Präsenzveranstaltung
60
60
50
50
40
40
Prozent
Prozent
mehr mit neuen Medien zu arbeiten
30
30
20
20
10
10
0 Trifft eher nicht zu Trifft eher zu Trifft völlig zu
N = 48
Abbildung 2:
0 Trifft gar nicht zu
Trifft eher Trifft eher Trifft völlig nicht zu zu zu
N = 48
Erste Ergebnisse des Postfragebogens
Als Motivation zur Teilnahme wurde Interesse am jeweiligen Themenschwerpunkt und an den vermittelten Methoden angegeben, aber auch das Ausgleichen eigener Defizite im Bereich der Medienkompetenz. Die großen organisatorischen Vorteile von Blended-Learning-Veranstaltungen wie die freie zeitliche Disposition und die entfallenden An- und Abfahrten sowie die Möglichkeit, die Inhalte zu Hause vertiefen zu können, werden ebenfalls positiv gewertet. Eine geringere Rolle scheint der Erwerb der für hessische Lehrkräfte notwendigen Fortbildungspunkte zu spielen. Folgende Auszüge aus Interviews im Anschluss an den zweiten Präsenztag zeigen deutlich, dass eigene Defizite erkannt werden und eine Verbesserung zum einen der Handfertigkeiten erzielt werden kann als auch die Reflexion über den Einsatz bestimmter Medien angeregt wird. Die halboffenen Interviews wurden mittels Leitfragen durchgeführt, hier finden sich Antworten auf die Frage, von was die Teilnehmer am meisten profitiert haben:
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Und wovon profitieren Sie von dieser Fortbildung am meisten? „Also einmal damit, dass ich mehr Sicherheit im Umgang mit Internet und Chats - und wovon ich eigentlich zum Teil gar nicht wusste, dass es das gibt, diese Foren da - dass ich das halt lerne (…)“ „Insofern, als ich überhaupt nicht darüber reflektiert habe, wie wenig ich doch vom Computer weiß oder mit dem Umgang mit dem Computer weil ich immer nur gewisse standardisierte Dinge gemacht habe. Und durch diese Fortbildung, vor allem die umfangreichen Arbeitsaufträge, die man zu Hause erledigen musste, ist das Handling mit dem Computer Dinge das für viele selbstverständlich ist, für mich auch selbstverständlicher geworden.“ „Es ist nämlich so, dass ich in meiner Kindheit nicht einen Computer irgendwo rumstehen hatte, sondern eigentlich ja so bis zum Erwachsenenalter weitgehend ohne Computer aufgewachsen bin und von daher bin ich da nicht perfekt, aber es interessiert mich eben. Und ich versuche mich da halt weiterzubilden und da halt einfach sicherer zu werden (…).“ „Und davon profitier ich, auch in dem Umgang mit dem Internet und dem Chatraum, Foren, da konnte ich Erfahrungen sammeln, das war dann noch ein Nebeneffekt, das wir dort gearbeitet haben – hat es Sinn, so etwas in der Schule einzusetzen – für mich sag ich jetzt mal: Garantiert nicht! Das persönliche Gespräch ist immer noch der bessere Weg und ich sehe meine Schüler, die kann ich jeden Tag sehen, von daher würde ich glaube ich auf so eine Lernform in der Schule ganz bestimmt nicht kommen. Gut, so hier war das OK.“ „Eben genau dieses Kennen lernen von einer Plattform. Also damit habe ich mich bisher nicht auseinander gesetzt. Die Arbeit über Foren, die Mitarbeit dann sozusagen mit anderen an einem Thema. Das miteinander Diskutieren übers Internet, ja über irgendwelche Fragestellungen, Probleme, die man halt hat. Und dadurch, dass das über vier Wochen gezogen war, war man also gezwungen, immer wieder da am Ball zu bleiben, um das was man gelernt hatte schon immer wieder noch mal zu üben und noch mal zu üben und noch mal zu üben, so dass man halt eigentlich jetzt auch so ein ganz gutes Handling drauf hat.“
Trotz der genannten Vorteile und guten Ergebnisse sind die Teilnehmerzahlen – bei intensiver Werbung – deutlich geringer als erwartet. Während reine Präsenzveranstaltungen des Chemielehrerfortbildungszentrums in Frankfurt von etwa 15 Teilnehmern durchschnittlich besucht werden und oft schnell ausgebucht sind, liegen die Zahlen bei Blended-Learning-Veranstaltungen im Bereich von acht Teilnehmern. Allerdings scheint das Interesse an neuen Medien generell vorhanden zu sein, denn eintägige Präsenzveranstaltungen zu mediendidaktischen Themen sind gut besucht. 3.4 Akzeptanz des Angebotes Die Gründe für die geringe Akzeptanz des Angebotes sind wahrscheinlich vielschichtig und sollen in einer gesonderten Studie untersucht werden, in der vor-
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rangig die Teilnehmer der Präsenzveranstaltungen des Chemielehrerfortbildungszentrums Frankfurt befragt werden. Derzeit gehen wir von folgenden Hypothesen aus: x
x
x x x x x
4
Durch die Onlinephasen ist es erforderlich, zu Hause an den Inhalten der Fortbildung zu arbeiten. Der notwendige Zeitaufwand ist nicht so gut planbar wie der für eine reine Präsenzveranstaltung bzw. wird falsch eingeschätzt. Der Mehraufwand an Arbeit kann nicht durch Unterrichtsfreistellung wie bei herkömmlichen Präsenzveranstaltungen kompensiert werden. Lehrkräfte halten sowohl den Einsatz von E-Learning-Angeboten als auch von mediendidaktischen Inhalten für einen nicht notwendigen Bestandteil sowohl von Fortbildungen, als auch des naturwissenschaftlichen Unterrichts. Die Nutzung eines Computers wird immer noch als problematisch angesehen. Auf Grund fehlenden Kompetenzempfindens bestehen Ängste, sich während des Kurses eine Blöße zu geben. Innerhalb der Kurse werden Aufgaben gestellt, die von Lehrkräften bearbeitet und abgegeben werden müssen. Der Perspektivenwechsel vom „Bewertenden“ zum „Bewerteten“ ist ungewohnt und wird vermieden. Angebote, bei denen man sich „die Punkte hart erarbeiten muss“ (Originalkommentar eines Teilnehmers), sind im Vergleich zu reinen Anwesenheitsveranstaltungen unattraktiv. Durch unzureichende Ausstattung an den Schulen ist eine zeitnahe Umsetzung der Kursinhalte nicht möglich. In den letzten 5-10 Jahren wurden im Bildungssektor sehr viele Reformen auf den Weg gebracht, die sicherlich oftmals sinnvoll und nötig waren, aber die auch eine hohe zusätzliche Arbeitsbelastung für die meisten Lehrkräfte mit sich brachten. Die Bereitschaft, sich in einer solchen Zeit des Umbruchs auf weitere arbeitsintensive Dinge einzulassen, ist eher gering.
Ausblick
Der Grad der Medienkompetenz, den Lehrkräfte erwerben sollen, ist bisher nicht definiert. Während angehende Lehrkräfte in Phase I und II Medienkompetenzerwerb in die Ausbildung integriert haben, gehört dies in Phase III (Lehrkräfte im Schuldienst) nicht zur Pflicht. Es ist zu diskutieren, ob es sinnvoll wäre, auch für ausgebildete Lehrkräfte Mindeststandards für Medienkompetenz festzulegen und diese nach Bereichen zu spezifizieren. Sie erlegten nicht nur die Pflicht auf, sich
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im Bereich neuer Medien fortzubilden. Aus ihnen könnte gleichzeitig auch das Recht auf ein geeignetes Fortbildungsangebot abgeleitet werden, um einen Unterricht im Sinne der gültigen Bildungsziele gestalten zu können. Nicht nur für die Lehrkräfte selbst, auch für die Organisation Schule und für fortbildende Institutionen wäre es sinnvoll, Medienkompetenz definieren und gestuft vermitteln zu können. Dabei könnte ein dreiphasiges Vorgehen sinnvoll sein: x
x
x
Bestimmung der eigenen Medienkompetenz: Lehrkräfte sollen sich selbst testen, inwieweit sie über Medienkompetenz verfügen, z.B. mit Hilfe des in Zürich entwickelten Tests „Test your ICT-Knowledge“ (IBE). Der Vorteil besteht darin, das eigene Niveau selbst einschätzen und auf dieser Basis geeignete Kurse belegen zu können. So könnte die Angst vor Überforderung genommen werden und die Hemmschwelle zum Besuch solcher Veranstaltungen herabgesetzt werden. Außerdem könnten eigene Defizite besser erkannt werden, was die Motivation für die Teilnahme erhöht. Ausweisung von Fortbildungsveranstaltungen im Bereich Neue Medien für Kompetenzstufen: Sie folgt aus dem ersten genannten Punkt. Nach der Selbsteinschätzung sollten Teilnehmer die für sie geeigneten Kurse auswählen können. Deshalb müssten Fortbildungsveranstalter sich an vergleichbaren Stufen orientieren und ihre Veranstaltungen entsprechend deklarieren. Erwerb eines Medienkompetenzzertifikats: Durch das erfolgreiche Belegen verschiedener Fortbildungsmaßnahmen könnte eine Lehrkraft ein Kompetenzzertifikat erwerben. Damit würde ein zusätzliches Anreizsystem geschaffen. Denkbar wäre hier auch der Erwerb des Zertifikats über die verschiedenen Phasen der Lehrerbildung hinweg.
Dieser Vorschlag könnte zu einem Modell des gestuften Erwerbs von Medienkompetenz in der Lehrerbildung führen. Allgemein akzeptierte Vorgaben und damit Standards können allerdings nicht alleine von einem Fach ausgehen, sondern müssen in einer fächerübergreifenden Diskussion gesucht werden. Bis zur Umsetzung sind viele Hürden zu nehmen, wie z.B. die der Finanzierung – nicht nur der Fortbildungen sondern auch des Ersatzes ausfallenden Unterrichts. Denn eine umfangreiche Qualifikation im Bereich Neuer Medien kann nicht mit zusätzlichen Arbeitsbelastungen einhergehen, sondern muss zeitliche Entlastung mit sich bringen. Beginnen sollte dieser Prozess mit einem Umdenken im Bereich der Lehrerfortbildung, die nicht mehr nur an verbrachter Zeit, sondern an tatsächlich erworbenen Kompetenzen gemessen werden sollte.
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Aiga von Hippel
Vermittlung von Medienkompetenz in der Erwachsenenbildung – eine Analyse der Angebots- und Nachfrageseite
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Einführung und Überblick
Medienpädagogische Erwachsenenbildung hat als Ziel die Förderung von Medienkompetenz Erwachsener. Medienkompetenz ist auch für Erwachsene im Kontext der Wissensgesellschaft eine grundlegende Kompetenz. Medienkompetenz wird zu einer „Voraussetzung zur Bewältigung zukünftiger Anforderungen im Alltag (...). In diesem Sinne ist es auch von elementarer gesellschaftlicher Bedeutung, den Erwerb der hier notwendigen Kompetenzen und Qualifikationen allen zu ermöglichen. Dabei kommt der Erwachsenenbildung eine besondere Bedeutung zu.“ (Projektgruppe Neue Medien 2001: 2). Erwachsenenbildung hat neben Kindergarten, Schule und außerschulischer Kinder- und Jugendbildung die Aufgabe, Medienkompetenz zu vermitteln. „Medienkompetenz ist (...) eine Aufgabe lebenslangen Lernens“ (Baacke 1998: 2). Die Erwachsenenbildung setzt sich auf verschiedenen Ebenen mit Medien auseinander (vgl. Stang 2003). Beispielsweise im Bereich der neuen Medien wird das Internet auf der Organisationsebene für Marketing genutzt, auf Lehr-/Lernebene werden Web 2.0Technologien eingesetzt (vgl. Kerres 2006; de Witt/Czerwionka 2007) und auf der Angebotsebene können Blogs, Wikis und Podcasts zum Thema werden – sei es um sie selbst zu gestalten oder um Kenntnisse über diese zu erlangen. Medienkompetenz wird oft im informellen Bereich, in pädagogisch ungeplanten und unstrukturierten Lernprozessen, erworben (vgl. Gapski 2001: 107; Livingstone/Thumin 2003: 10). Im Fokus des vorliegenden Beitrags steht der nonformale Erwerb von Medienkompetenz in Einrichtungen der Erwachsenenbildung. Der Beitrag analysiert die Angebots- wie die Nachfrageseite in der medienpädagogischen Erwachsenenbildung. Er gibt einen Überblick über den aktuellen Forschungsstand in der empirischen Bildungsforschung zur Vermittlung von Medienkompetenz in der Erwachsenenbildung.
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Aiga von Hippel
Im Folgenden wird zunächst die Angebotsseite analysiert (vgl. Punkt 2). Hier werden mehrere Programmanalysen zu medienpädagogischen Angeboten in der Erwachsenenbildung miteinander verglichen und zentrale Trends herausgearbeitet. Im dritten Punkt wird komplementär die Nachfrageseite beleuchtet. Hier werden Studien zu Weiterbildungsinteressen im Medienbereich diskutiert. Abschießend soll die Relevanz der Ergebnisse für die Gestaltung medienpädagogischer Erwachsenenbildungspraxis, sowie für die Forschung aufgezeigt werden (vgl. Punkt 4). 2
Medienpädagogische Angebote in der Erwachsenenbildung: die Angebotsseite
Medienpädagogische Erwachsenenbildung wird von zahlreichen Institutionen realisiert. Zu nennen sind hier Volkshochschulen, Kirchen, Landesmedienanstalten, Gewerkschaften, politische Stiftungen, private Anbieter, Vereine u.a. (vgl. ausführlich von Hippel 2007: 104ff.). Es werden unterschiedliche Themenschwerpunkte zu verschiedenen Medien an ausdifferenzierte Zielgruppen vermittelt. Um die Angebotsseite untersuchen zu können, reicht die Weiterbildungsstatistik nicht aus, da nicht ersichtlich ist, welche konkreten Angebote thematisch erfasst wurden. Um thematische Gewichtungen zu untersuchen, sind daher Programmanalysen notwendig (vgl. Tietgens 1998: 63). Sie ergänzen und konkretisieren das Bild der Weiterbildungsstatistik (vgl. Nolda 2003: 215). Es gibt insgesamt nur wenige Programmanalysen, die Medien zum Thema haben, alle aktuellen Studien sollen hier vorgestellt werden. Im Folgenden wird der Forschungsstand hierzu anhand einer Programmanalyse zu kirchlichen Angeboten, sowie zweier Analysen zu medienbezogenen Angeboten an Volkshochschulen aufgezeigt.1 Darüber hinaus werden eine institutionenübergreifende Programmanalyse zu medienpädagogischen Angeboten in der Erwachsenenbildung vorgestellt und abschließend gemeinsame Trends herausgearbeitet.
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Öffentlich zugängliche Programmanalysen zu medienbezogenen Veranstaltungen beispielsweise speziell in der politischen Erwachsenenbildung waren nicht auffindbar. Eine weitere Programmanalyse zu Volkshochschulen (vgl. Knaller 1993) wurde aufgrund des Alters der Studie hier nicht mit aufgenommen.
Vermittlung von Medienkompetenz in der Erwachsenenbildung
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2.1 Programmanalyse kirchlicher Angebote In einer exemplarischen Programmanalyse von kirchlichen Programmangeboten kommen Heuer/Robak (2000: 129) zu dem Ergebnis, dass wider Erwarten auch in der katholischen Erwachsenenbildung die EDV-Grundbildung zu einem profiltragenden Bereich gehört – die katholischen Bildungsanbieter scheinen hier mehr als die evangelischen anzubieten: „Während die Evangelische Erwachsenenbildung einen aufklärerischen Bildungsansatz favorisiert und damit einen an Selbstbestimmung orientierten Akzent setzt, sieht die Katholische Erwachsenenbildung ihre Aufgabe im Abstützen der sozialen Lebenswelt.“ (Heuer/Robak 2000: 133). Zum Abstützen der sozialen Lebenswelt gehört auch die EDVGrundbildung als Bewältigung veränderter sozialer und beruflicher Anforderungen, die daher bei der katholischen Erwachsenenbildung einen höheren Stellenwert einnimmt, wohingegen die politische Bildung stärker bei der evangelischen Erwachsenenbildung zu finden ist. 2.2 Medienbezogene Veranstaltungen an Volkshochschulen 2.2.1 Angebote zu Multimedia an Volkshochschulen Mader (1998) untersuchte die Ankündigungstexte zu Multimedia-Angeboten von 55 deutschen Volkshochschulen (Datengrundlage: Frühjahrssemester 1996 bis Frühjahrssemester 1997). Sie stellte fest, dass allein zwischen 1996 und 1997 die Anzahl der Angebote zum Internet stark angestiegen ist (vgl. Mader 1998: 54ff.). Jedoch machen Angebote zur „kritischen theoretischen Auseinandersetzung mit dem Phänomen Multimedia unter gesellschaftspolitischen Aspekten“ nur 4% dieser Angebote aus (ebd.: 57). Mader kritisiert zusammenfassend, dass viele medienkritische Angebote auf einer theoretischen Ebene bleiben, „während die technisch orientierten EDV-Angebote sich im wesentlichen auf die praktische Annäherung beschränken und die gesellschaftliche Einbettung der neuen Kommunikationstechniken höchstens streifen“ (Mader 1998: 61). 2.2.2 Neue Medien als Thema und Inhalt von Volkshochschulangeboten Ähnlich stellt Stang in seiner Untersuchung fest, dass Angebote der VHS im Bereich Neue Medien zu mehr als 90% im Programmbereich „Arbeit-Beruf“ verortet sind. Seine These in diesem Zusammenhang lautet: „Dadurch, dass die technische Infrastruktur mit den Programmschulungen in der Regel ausgelastet ist, bleibt kaum Raum für Experimente in anderen Programmbereichen.“ (Stang 2003: 140f.). In Bezug auf den Veränderungsbedarf, der durch Neue Medien in
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Aiga von Hippel
Volkshochschulen ausgelöst wird, nennen die Volkshochschulen somit auch den größten Veränderungsbedarf im Bereich der Angebotsentwicklung (vgl. ebd.: 236). 2.3 Institutionenübergreifende Programmanalyse Die Ergebnisse der hier vorgestellten institutionenübergreifenden Programmanalyse und der explorativen Untersuchung von Weiterbildungsinteressen im Bereich Medien (siehe Punkt 3) waren in eine größere Untersuchung eingebettet, die ein dreistufiges Design, das Programmanalyse, Fragebogenerhebung und problemzentrierte Interviews mittels Methodentriangulation (vgl. Flick 2004) integriert. Empirische Ausgangspunkte waren die Handlungsmotive und Weiterbildungsinteressen von Teilnehmenden an medienpädagogischer Erwachsenenbildung, sowie das Programmangebot der medienbezogenen Erwachsenenbildung (vgl. von Hippel 2007). Für die institutionenübergreifende Programmanalyse wurden sechs Institutionen, die medienpädagogische Erwachsenenbildung anbieten, als Beispiele exemplarisch ausgewählt. Es gingen 676 medienbezogene Veranstaltungen in die Analyse ein. Auswahlkriterien waren die Offenheit des Zugangs für alle Adressaten und der gesellschaftliche Auftrag, da hier eine besonders große Bandbreite an medienbezogenen Themen in gesellschaftlicher und pädagogischer Verantwortung erwartet wurde.2 Angelehnt an das theoretical sampling (vgl. Strauss/Corbin 1996) wurde eine größtmögliche Heterogenität angestrebt und nicht eine Stichprobe aus einer Institutionenform (z.B. nur Volkshochschulen). Ausgewählt wurden folgende Institutionen, von denen die ersten drei auf die Förderung von Medienkompetenz spezialisiert sind: MedienKompetenzZentrum der Landesmedienanstalt Saarland – als ein spezialisierter Anbieter zur Förderung der Medienkompetenz Medienkompetenzzentrum der Medienanstalt Sachsen-Anhalt – als eine zum MedienKompetenzZentrum vergleichbare Institution MedienKompetenzZentrum des Erzbistums Köln – als ein ebenfalls spezialisierter Anbieter mit einem kirchlichen Träger VHS Saarbrücken – als eine großstädtische Volkshochschule Politische Akademie der Friedrich-Ebert-Stiftung – als eine politische Stiftung ver.di Bildungsangebote – als ein gewerkschaftlicher Bildungsträger Diese Auswahl erhebt keinen Anspruch auf Repräsentativität – es gibt viele verschiedene Anbieter, die auch medienbezogene Veranstaltungen anbieten, die 2
Aus diesem Grund wurde auch keine kommerzielle Einrichtung in die Auswahl mit aufgenommen und die betriebliche berufliche Bildung nicht mit eingeschlossen.
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jedoch nicht in die Analyse mit aufgenommen werden konnten (s.o.). Dennoch kann auf Basis der Analyse der Einzelfälle, einer institutionenübergreifenden Auswertung und eines Vergleichs mit den anderen Programmanalysen etwas über Breite und Schwerpunkte der medienbezogenen Themen, über Entwicklungspotenziale sowie über Profile der Einrichtungen in Bezug auf Medien gesagt und gemeinsame Trends herausgearbeitet werden. Neben den Einzelfallanalysen der Programme nach der qualitativen Inhaltsanalyse (vgl. Mayring 1995) erfolgte eine institutionenübergreifende Betrachtung um mögliche Muster und Strukturen sichtbar machen zu können. Datengrundlage für die Analyse waren die schriftlichen Jahresprogramme der Institutionen aus dem Jahr 2004. Wie sich in den Einzelfallanalysen der sechs Institutionen zeigte, gibt es ein breites Themenspektrum im Bereich medienpädagogischer Angebote und unterschiedliche Angebotsprofile. Es wird der gesellschaftliche Bedarf in Form von Kursen zum technischen Umgang (instrumentellqualifikatorische Medienkunde) stark in den Programmen abgebildet, etwas weniger der pädagogische Auftrag in Form von Angeboten zur Medienkritik. Betrachtet man Programme als Ergebnis von Programmplanungshandeln, so werden sich darin immer – sofern die Kurse stattfinden und nicht ausfallen – auch Interessen der Adressaten spiegeln. Um die Institutionen miteinander zu vergleichen, wurden die Anteile der Medienkompetenzdimensionen nach Baacke (die inhaltsanalytisch den Angeboten zugeordnet worden waren) innerhalb einer Institution in nachfolgender Abbildung verdeutlicht. Dabei geht es nicht um die quantitative Verteilung, sondern eher um die relative Verteilung der Medienkompetenzdimensionen, die das Angebotsprofil der jeweiligen Institution widerspiegelt. Auf eine Darstellung der genauen Zahlen wird daher verzichtet. Die Unterschiede in der absoluten Anzahl der Medienkompetenzdimensionen (z.B. VHS Stadtverband Saarbrücken sehr viel, FES weniger) liegen in der jeweiligen Anzahl der medienbezogenen Angebote begründet.
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Abbildung 1:
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Verteilung der Medienkompetenzdimensionen in den sechs untersuchten Institutionen
Den Programmausschreibungen konnte, wie aus obiger Abbildung ersichtlich, selten die Dimension der Mediennutzung zugeordnet werden. Hierbei handelt es sich wohl um ein forschungsmethodisches und konzeptionelles Problem, das auf die mangelnde Trennschärfe der Medienkompetenzdimensionen nach Baacke verweist. Gleichzeitig kann dies auch darauf hindeuten, dass die Institutionen weniger Angebote hierzu anbieten, außerdem handelt es sich vermutlich um eine „implizite“ Dimension, die nicht explizit in den Ankündigungstexten verschriftlicht wird. Es fehlen Angebote, die explizit den Medienumgang begleiten in der Form, dass sie die Teilnehmenden in einem selbstbestimmten Umgang mit Medien stärken. Hier könnten Teilnehmende beispielsweise in der Entscheidung, zwischen einem genussvollen und einem analytischen Umgang situationsadäquat zu wählen, unterstützt werden. Allerdings fehlt hierfür möglicherweise ein bewusst wahrgenommener Bedarf bei den Adressaten (s. Punkt 3).
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Die Dimension der Medienkunde (instrumentell-qualifikatorisch) ist insbesondere bei der VHS Stadtverband Saarbrücken dominierend. In etwas abgeschwächter Form spielt sie auch beim Medienkompetenzzentrum der Medienanstalt Sachsen-Anhalt (zusammen mit der Mediengestaltung) sowie beim MedienKompetenzZentrum des Erzbistums Köln eine große Rolle. Man könnte das Ergebnis des Vorherrschens der instrumentell-qualifikatorischen Medienkunde so interpretieren, dass hier dem aktuellen Bedarf und den Interessen der Adressaten nachgekommen wird (vgl. Punkt 3), es jedoch weniger darum geht, Bedarf bzw. neue Bildungsinteressen zu wecken. Besonders ausgewogen in der Verteilung der Medienkompetenzdimensionen (ohne Berücksichtigung der Mediennutzung) scheinen das Programm des MedienKompetenzZentrums der Landesmedienanstalt Saarland, der Politischen Akademie der FES und die Angebote von ver.di. Bei diesen drei Anbietern ist auch die Medienkritik in ähnlichem Ausmaß wie die anderen Dimensionen vorhanden. Ursachen für die relativ geringe Anzahl von Angeboten zu Medienkritik lassen sich empirisch nicht eindeutig erkennen. Mögliche Gründe könnten eine geringe Nachfrage (vielleicht auch aufgrund mangelnder Nutzenerwartungen auf Seiten der Adressaten), Mangel an geeigneten Lehrkräften oder aktuelle Thementrends anderer Art sein. Aus pädagogischer Sicht sollte Kritik nicht eine Angebotsdimension, sondern sie sollte das Ziel jeder medienpädagogischen Erwachsenenbildung sein. Vergleichbar ist diese Forderung nach Integration von Medienkritik in alle medienpädagogischen Veranstaltungen mit der Forderung nach Integration allgemeiner, politischer und beruflicher Lernziele sowie -inhalte. Siebert diskutiert beispielsweise eindrücklich, dass nur wenige Erwachsene explizit Veranstaltungen über Weltwirtschaft, Umwelt- und Entwicklungspolitik besuchen wollen, sich ökologische Fragen jedoch in Koch- und Diätkursen geradezu aufdrängen (vgl. Siebert 1999: 714). Siebert stellt dazu fest: „Es ist kein missionarischer Übereifer, wenn Pädagogen/-innen auf Gefährdungen des Friedens, der Gerechtigkeit und der Umwelt aufmerksam machen“ (ebd.). Bei der Programmanalyse ließ sich erkennen, dass typischerweise die Dimension Medienkunde (instrumentell-qualifikatorisch) in Kombination mit Mediengestaltung auftritt, sowie die Medienkunde (informativ) mit Medienkritik. Darin spiegeln sich zwei Linien der Medienpädagogik: die Förderung von Partizipation durch Mediengestaltung und die Förderung eines kritischen Umgangs mit Medien aufgrund von Kenntnissen über sie. Als innovativ kann man Angebote sehen, die die Dimensionen anders kombinierten (siehe Beispielangebote der Einzelfallanalysen in von Hippel 2007: 213ff.). Insbesondere Angebote, die Mediengestaltung und Medienkritik verknüpfen, können potenziell den pädagogischen Anspruch einlösen, durch das Selbsttun auch anders zu rezipieren, was
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allein durch Mediengestaltung nicht vorausgesetzt werden kann, wie die Interviewergebnisse zeigten. Betrachtet man die Ergebnisse der Studie von von Hippel (2007), so könnte weiteres Interesse auf der Nachfrageseite geweckt werden, wenn die Programmplanung mögliche Mediennutzungsmotive stärker in Betracht ziehen und diese in Form von Nutzenbeschreibungen den Adressaten verdeutlichen würde. Um mögliche Schwellenängste abzubauen, könnten die Anforderungen (Einstiegsvoraussetzungen) und angesprochenen Zielgruppen präzisiert werden. Die Sensibilität für die Wichtigkeit des kritischen Umgangs mit Medien könnte durch Weiterbildungsangebote in diesem Bereich (ebenfalls mit konkreter Nutzenbeschreibung) erhöht werden, sowie durch den Einbezug des kritischen Umgangs auch in technik- bzw. gestaltungsorientierte Angebote. 2.4 Vergleich der Ergebnisse der Programmanalysen – Trends Insgesamt zeigt sich, dass die institutionenübergreifende Programmanalyse in eine ähnliche Richtung wie die anderen Studien verweist (was für die Generalisierbarkeit der Ergebnisse spricht), darüber hinaus jedoch detaillierte Angaben zu Themen und Medienkompetenzdimensionen – und dies im Vergleich verschiedener Institutionen – machen kann. Bei der institutionenübergreifenden Untersuchung lassen sich Schwerpunkte in der Vermittlung der Medienkompetenzdimensionen (nach Baacke 1999) ausmachen. Es überwiegt die instrumentell-qualifikatorische Medienkunde, die stark mit dem gesellschaftlichen Bedarf assoziiert ist. Ähnliche Ergebnisse ergab auch eine Befragung der Anbieterseite. So stellten Treumann et al. 1999 bei einer Befragung von 14 nordrhein-westfälischen Erwachsenenbildungsanbietern fest, dass insbesondere die Dimensionen Medienkunde und Mediennutzung aus Sicht der Programmverantwortlichen angeboten wurden, während die Dimensionen Mediengestaltung und Medienkritik eher unterrepräsentiert waren. Als Erklärung gaben die Interviewten an, dass „im Bereich der Medienkritik und der Mediengestaltung keine kostendeckende Teilnehmergröße zustande“ komme (Treumann et al. 2002: 342f.). Weiterhin zeigt sich ein typisches Muster der Kombination von Medienkompetenzdimensionen auf Angebotsebene: die instrumentell-qualifikatorische Medienkunde wird häufig mit der Mediengestaltung und die informative Medienkunde oft mit Medienkritik verbunden angeboten. Dass die Dimension „Mediennutzung“ im Vergleich zu den anderen Dimensionen in der institutionenübergreifenen Programmanalyse eher selten vergeben wurde, deckt sich mit den Ergebnissen von Mader (1998), der konstatiert,
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dass die inhaltliche Nutzung der Medien eher selten im Vordergrund steht, sondern meist die technische Vermittlung ohne den inhaltlichen Bezug. Vergleicht man das Angebot des katholischen Bildungsanbieters MedienKompetenz-Zentrum des Erzbistums Köln mit der exemplarischen Programmanalyse von Heuer/Robak (2000) zeigen sich ebenfalls Parallelen. Heuer/Robak (2000) stellten fest, dass die katholischen Institutionen neben christlichreligiösen Themen Angebote zum Abstützen der sozialen Lebenswelt anbieten – z.B. in Bezug auf Medien die zahlreichen Computerkurse, da Computer mittlerweile als fester Bestandteil der sozialen Lebenswelt gesehen werden können. Das Abstützen der sozialen Lebenswelt spiegelt sich außerdem in der Alltagsnähe mehrerer Angebote des MedienKompetenzZentrums. Ähnlich wie in der Volkshochschulprogrammanalyse von Mader (1998) fand sich auch bei der institutionenübergreifenden Analyse bei der VHS Stadtverband Saarbrücken die größte Zahl der Medienangebote im Fachbereich „Berufliche Bildung“. Die quantitative Assoziierung von Medienangeboten mit der beruflichen Weiterbildung scheint – bei sicher vorhandenen Abweichungen – ein typisches Merkmal für Volkshochschulen zu sein (vgl. auch ähnliche Ergebnisse bei Stang 2003 und für österreichische Volkshochschulen Knaller 1993). Schon vor mehr als zwanzig Jahren merkte Faulstich an: „Curricular geht es demnach darum, Ansätze zu entwickeln, welche technische Kompetenzen mit gesellschaftlicher Einsicht und Handlungsbereitschaft verbinden, d.h. der vorfindlichen Trennung „beruflicher“ und „allgemeiner“ Bildung, welche auch die Angebote der Erwachsenenbildung zur IT durchzieht, gegenzusteuern.“ (Faulstich 1985: 129). Die Trennung in allgemeine und berufliche Weiterbildung findet sich bei vielen der untersuchten medienbezogenen Angebote. Ganz anders sieht dies jedoch die Teilnehmendenseite: hier zeichnet sich eine Vermischung privater und beruflicher Verwertungsinteressen und eine Entgrenzung an (s.u.). Was fehlt, ist mithin die gesellschaftliche Einbettung von Medien und die Einbindung von Medienkritik in Veranstaltungen, was wiederum von den Kursleitenden eine besondere Kompetenz erfordern würde. In diesem Punkt ging es um die medienpädagogischen Veranstaltungen – also um die Angebotsseite – im nächsten geht es um die Adressatenseite, um Teilnahmefälle und stattgefundene Unterrichtsstunden, in denen sich Teilnehmerinteressen manifestieren.
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Weiterbildungsinteressen im Bereich Medien: die Nachfrageseite
Die folgenden Daten aus verschiedenen Erhebungen der Weiterbildungsstatistik – so das Berichtssystem Weiterbildung sowie die Volkshochschulstatistik – geben Aufschluss über Teilnahmefälle und Kursstunden in der (non)formal organisierten medienpädagogischen Erwachsenenbildung. In ihnen spiegelt sich die Nachfrage nach medienbezogenen Veranstaltungen. Darüber hinaus wird eine explorative Studie zu Weiterbildungsinteressen im Bereich Medien vorge-stellt. 3.1 Ergebnisse der Weiterbildungsstatistik 3.1.1 Ergebnisse des Berichtssystem Weiterbildung Das Berichtssystem Weiterbildung IX zeigt die Wichtigkeit von Veranstaltungen mit Medienbezug in der allgemeinen und beruflichen Weiterbildung. Der Themenbereich „Computer, EDV, Internet“ ist auch 2003 der quantitativ größte Themenbereich der allgemeinen Weiterbildung nach Teilnahmefällen mit 16%, darauf folgen Sprachkenntnisse mit 15% und Gesundheitsfragen mit 13% (vgl. BMBF 2006: 303; BMBF 2008: 14). Im Jahr 2000 lagen die Teilnahmefälle im besagten Themenbereich noch bei 21%, es ist also ein Rückgang um 5% zu verzeichnen (vgl. BMBF 2006: 304). Der Themenbereich „Computer, EDV, Internet“ umfasst vermutlich insbesondere Angebote mit Betonung der instrumentellqualifikatorischen Medienkunde, weitere Veranstaltungen mit Medienbezug sind sicher unter anderem unter den Rubriken „Kunst, Literatur“ und „Aktive Freizeitgestaltung“ zu finden, die jedoch dort nicht einzeln ausgewiesen werden. In der beruflichen Weiterbildung machen Kurse, in denen die EDV im Vordergrund steht, 17% der Teilnahmefälle aus – die Quote wäre wahrscheinlich noch höher, wenn alle Veranstaltungen einbezogen würden, die EDV-Elemente enthalten. Im Gegensatz zur allgemeinen Weiterbildung hat sich in der beruflichen Weiterbildung der Anteil der EDV-Kurse seit dem Jahre 2000 nicht nennenswert verändert (vgl. ebd.: 320). 3.1.2 Ergebnisse der Volkshochschulstatistik Die Volkshochschulstatistik weist sechs Programmbereiche aus (in Klammern der Anteil an den Unterrichtsstunden insgesamt der VHS): Politik – Gesellschaft – Umwelt (4,4%), Kultur – Gestalten (12,2%), Gesundheit (17,5%), Sprachen (40,1%), Arbeit – Beruf (17,7%), Grundbildung – Schulabschlüsse (8,1%) (vgl.
Vermittlung von Medienkompetenz in der Erwachsenenbildung
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Pehl/Reitz 2005: 8).3 Im ersten, zweiten und fünften Programmbereich sind medienbezogene Veranstaltungen zu erwarten. Im Programmbereich „Politik – Gesellschaft – Umwelt“ gibt es kein eigen ausgewiesenes Fachgebiet zu Medien, es ist jedoch anzunehmen, dass innerhalb der Fachgebiete auch Angebote mit Medienbezug gemacht werden.4 Im Programmbereich „Kultur – Gestalten“ gibt es eigene Fachgebiete wie „Medien“ und „Medienpraxis“. Im Programmbereich „Arbeit – Beruf“ gibt es drei medienbezogene Fachgebiete: IuK-Grundlagen/ allg. Anwendungen, Kaufmännische IuK-Anwendungen und Technische IuKAnwendungen. Bundesweit fallen 29,3% der Unterrichtsstunden auf das Fachgebiet IuK-Grundlagen/allg. Anwendungen, weitere 5,4% auf Kaufmännische IuKAnwendungen und 3,1% auf Technische IuK-Anwendungen. Über alle Bundesländer hinweg machen die Kurse aus dem Fachgebiet „IuK-Grundlagen/allg. Anwendungen“ den größten Anteil innerhalb des Programmbereichs aus (Durchschnitt BRD: 49,1%). Im Programmbereich „Kultur – Gestalten“ entfielen 2004 bundesweit nur 3,1% der Unterrichtstunden auf das Fachgebiet „Medienpraxis“ und 0,6% auf das Fachgebiet „Medien“. Im Bundesdurchschnitt machen Kurse aus dem Fachgebiet Medien 0,6% innerhalb des Programmbereichs aus, Kurse aus dem Fachgebiet Medienpraxis einen größeren Anteil, nämlich 2,9%. Im Programmbereich „Arbeit – Beruf“ sind die Kurse und Unterrichtsstunden des Fachgebiets „IuK-Grundlagen/allg. Anwendungen“ seit den 1970er Jahren kontinuierlich bis 2001 angestiegen, um dann bis 2004 leicht abzusinken. Jedoch gibt es auch 2004 doppelt so viele Kurse in diesem Fachgebiet wie 1991, des Weiteren ist der Anteil des Fachgebiets am Programmbereich seit dem Jahr 2000 annähernd gleich hoch geblieben. Im Programmbereich „Kultur – Gestalten“ schwankt die Anzahl der Kurse des Fachgebiets „Medien“ (Film, Fernsehen, Video, Multimedia) seit 1977 bis 2004 zwischen 317 (1990) und 743 (1998) absolut. Der Anteil des Fachgebiets „Medienpraxis“ (praktische Entsprechung des Fachgebiets „Medien“) am Programmbereich „Kultur – Gestalten“ hat seit 1977 bis 2004 fast kontinuierlich abgenommen (1977: 4,8%; 2004: 2,9%). Auch die absolute Anzahl an Kursen nimmt seit 1994 ab. Möglicherweise hat eine Verlagerung der Medienpraxis in den Programmbereich „Arbeit – Beruf“ bei Veranstaltungen zur Internetgestaltung stattgefunden, dies lässt sich aufgrund der Daten jedoch nicht belegen.
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Alle folgenden Daten in diesem Unterkapitel beruhen auf Pehl/Reitz 2005, Datengrundlage ist das Jahr 2004. Z.B. unter Politik: Medienpolitik, und Erziehungsfragen/Pädagogik: Medienerziehung für Eltern.
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3.2 Explorative Studie zu Weiterbildungsinteressen im Bereich Medien In einer explorativen Studie zu Weiterbildungsinteressen im Bereich Medien wurden Teilnehmer eines Medienkompetenzzentrums (MKZ des Landesmedienanstalt Saarland) in einer dreistufigen Fragebogenerhebung (N=82) und problemzentrierten Interviews (vgl. Witzel 2000) (N=19) unter anderem zu ihren Weiterbildungsinteressen im Bereich Medien befragt (vgl. von Hippel 2007). Die offene Frage im Fragebogen nach den Lernwünschen in Bezug auf Medien haben 64 Befragte beantwortet (mithin mehrere Antworten möglich). Die meisten Nennungen betrafen den Bereich Fernsehen/Film, Internet, Computer und Hörfunk. Ein Großteil der Nennungen (75 Nennungen) bezieht sich auf den eher technischen Umgang mit Medien (Nutzung und Gestaltung), ein geringerer Anteil (16 Nennungen) bezieht sich explizit auf den eher analytischen und kritischen Umgang. In den Interviews wurden die Gesprächspartner gefragt, welche Weiterbildungsinteressen sie im Bereich Medien aktuell hätten. Wie auch bei der quantitativen Erhebung wird deutlich, dass ein Großteil der Interviewpartner Weiterbildungsinteressen im Bereich des eher technischen sowie auch des organisatorischen und gestalterischen Umgangs mit Medien nennt. Nur ein kleinerer Teil nannte von sich aus Interessen im Bereich des eher analytischen Umgangs mit Medien. Das hier empirisch konkretisierte, größere Interesse an technikorientierten Kursen lässt sich möglicherweise dadurch erklären, dass ein Lernbedarf erst bemerkt wird, wenn die eigenen Kenntnisse nicht ausreichend sind: „Manipulation, Fehlinformation und Wirklichkeitsverzerrung, durch Emotionalisierung und Trivialisierung bestehende Qualitätsmängel fallen nicht immer auf. Der Bedarf, die eigene Medienkompetenz zu verbessern, wird vor allem bei technischen Neuerungen geweckt, die es erfordern, sich gezielt mit Anwendungs- und Nutzungsfunktionen auseinanderzusetzen.“ (Pietraß 2006: 112). Dass die medienpädagogische Erwachsenenbildung hier die Bildungsbereitschaft insbesondere im medienkritischen Bereich fördern kann, zeigten die Interviews jedoch auch (vgl. ausführlich von Hippel 2007). 3.3 Diskussion und Zusammenfassung Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Medien – insbesondere Computer und Internet – sowohl in der beruflichen, als auch in der allgemeinen Weiterbildung eine bedeutende Rolle spielen und hier – trotz eines geringen Rückgangs – weiterhin eine starke Nachfrage besteht. Die berufliche Weiterbildung in Form einer instrumentell-qualifikatorischen Medienkunde überwiegt, allerdings lassen die Forschungsergebnisse aufgrund der Aggregation der Daten keine Auskunft über das Interesse an „kleinen“ Themengebieten zu. Sie geben keinen Aufschluss über
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konkrete Themen auf Kursebene und über die Entstehung der Interessen der Teilnehmer. Die Motive der Teilnehmenden, medienpädagogische Angebote zu besuchen, sowie spezifische Weiterbildungsinteressen im Bereich Medien wurden erstmals in der dargestellten Studie von von Hippel (2007) in den Blick genommen. 4
Ausblick
Bezieht man die Ergebnisse von Angebots- und Nachfrageseite aufeinander, fällt insbesondere die übereinstimmende Fokussierung auf den technischen Umgang mit Medien auf. Damit bleibt es aus pädagogisch-normativer Sicht eine Herausforderung, Medienkritik in alle medienpädagogischen Veranstaltungen zu integrieren und neue Interessen bei den Adressaten zu wecken. Die nachfolgend aufgeführten Forschungsdesiderata und praktischen Handlungsempfehlungen diskutieren diese Herausforderung weiter. 4.1 Forschungsdesiderata Der vorliegende Beitrag gab einen Überblick über den Forschungsstand zur Angebots- und Nachfrageseite bei der Vermittlung von Medienkompetenz in der Erwachsenenbildung. Weitergehender Forschungsbedarf zeichnet sich darüber hinaus in den folgenden Punkten ab. 4.1.1 Forschung zur Angebotsseite Weitergehende längsschnittlich angelegte Programmanalysen zu medienpädagogischen Angeboten könnten Aufschluss über die Entwicklung der Medienthemen über einen längeren Zeitraum geben. Sie könnten Thementrends und –entwicklungen aufzeigen. Aufgrund der dargestellten Ergebnisse erscheint insbesondere die Integration von Medienkritik in technikorientierte Kurse eine bedeutende pädagogische Aufgabe. Ertragreich wäre hier die Entwicklung und anschließende Untersuchung von medienpädagogischen Angeboten auf Kursebene sowie einer Analyse des didaktischen Designs des Kurses. Nachdem in den Programmanalysen die Ankündigungstexte analysiert wurden, wäre es weiterführend interessant, die Kursebene zu untersuchen. Zu diskutieren wäre, inwiefern Ausschreibungen und Kursrealität übereinstimmen, ob Medienkritik implizit vermittelt wird und ob die Erwartungen der Adressaten aufgrund der Ausschreibungen erfüllt werden. Aus diesem Punkt folgt auch der nächste, der die Qualifikation der Dozenten betrifft.
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Wenn Medienkritik in alle medienpädagogischen Veranstaltungen integriert werden soll, stellt dies hohe Anforderungen an die jeweiligen Dozenten. Bislang fehlen Studien zur fachlichen, didaktischen und medienpädagogischen Qualifikation von Dozenten in der medienpädagogischen Erwachsenenbildung, sowie zu ihrem medienpädagogischen Weiterbildungsbedarf. 4.1.2 Forschung zur Nachfrageseite Es besteht weiterer Forschungsbedarf zu Weiterbildungsinteressen im Bereich Medien. Interessant wäre hier insbesondere eine repräsentative Befragung, die auch einzelne Medienthemen mit erfassen würde. Ebenfalls von Interesse wären weitergehende Forschungen zum Zusammenhang von Weiterbildungsinteressen und Angebotsentwicklungen. Das Entstehen von Weiterbildungsinteressen im Bereich Medien und die Möglichkeiten Bildungsbedarf zu wecken, könnten weiter exploriert werden. In Bezug auf die neuen Medien, beispielsweise die Web 2.0-Technologien, wäre es möglich, zu untersuchen, wie sich Weiterbildungsinteressen in Bezug auf ein noch recht neues Thema entwickeln und welche Programme die Erwachsenenbildungsinstitutionen anbieten. Hier könnten auch Interviews mit Experten – den Planern in der Erwachsenenbildung – weiterführend sein, um ihre Sicht auf den Weiterbildungsbedarf der Adressaten zu explorieren und gleichzeitig mit den Interessen der Adressaten zu vergleichen. 4.2 Pädagogische Relevanz der Ergebnisse Aus den oben dargestellten Ergebnissen zur Angebots- und Nachfrageseite lassen sich einige mögliche pädagogische Handlungsstrategien formulieren (vgl. ausführlich von Hippel 2007). 4.2.1 Einbezug von Medienkritik in medienpädagogische Angebote Die Annahme, dass, wer selbst Medien gestalten kann, auch kritisch mit Medien umgeht, hat sich in der Untersuchung von von Hippel (2007) eher als Trugschluss erwiesen. Mediengestaltung kann eine Voraussetzung für Medienkritik sein, ist jedoch nicht hinreichend. So zogen beispielsweise die Interviewpartner der Studie nicht von allein eine Verbindung zwischen Bildbearbeitung und möglicher Bildmanipulation. Verknüpfte der Dozent Mediengestaltung mit Hinweisen zur Medienmanipulation, interessierten sich jedoch auch die Teilnehmenden dafür. Der Einbezug von Medienkritik in Kurse zur Mediengestaltung erscheint aufgrund der empirischen Ergebnisse der vorliegenden Untersuchung hier als besonders bedeutsam, will man nicht nur medienkompetente Hobbyfilmer, son-
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dern gleichzeitig auch medienmündige Individuen fördern. Medienkritik und Mediengestaltung werden bislang selten explizit auf Angebotsebene verknüpft. 4.2.2 Wecken von Bildungsbedarf Es ist nicht der Lerngegenstand selber, der per se interessant/uninteressant, beruflich oder allgemein bildend konnotiert ist, sondern der Erwachsene gibt dem Gegenstand eine Bedeutung. Je nachdem, welche Bedeutung Medien im Alltag des Erwachsenen haben, hat er Interesse an verschiedenen medienpädagogischen Angeboten. Menschen nutzen Medien gemäß ihrer Interessen, die wiederum von ihrer Lebenswelt, ihrer sozialen Lage, ihren Werteinstellungen und Persönlichkeitseigenschaften beeinflusst sind. Dies hat sich auch empirisch bei der Analyse des Besuchs von medienpädagogischen Veranstaltungen in der Erwachsenenbildung gezeigt. Wenn für den Erwachsenen die Vermittlung von Medienkritik in seinem Alltag nicht relevant ist oder sich die Relevanz nicht erschließt oder er sich bereits für medienkritisch hält, wird er an pädagogisch intendierten Bemühungen zur Förderung einer kritischen Medienkompetenz von sich aus kein Interesse zeigen. Interpretiert mit dem Symbolischen Interaktionismus (vgl. Blumer 1972) sind diese Bedeutungen auch sozial konstruiert und veränderbar und wie sich in den Interviews zeigte (vgl. von Hippel 2007), kann die Erwachsenenbildung prinzipiell die Bildungsbereitschaft der Teilnehmenden auch für andere Themen fördern und neue Bedeutungsnuancen in sozialer Interaktion fördern (z.B. im Bereich Medienkritik). Aufgabe der Erwachsenenbildung kann es hier sein, Interesse zu wecken und Relevanz aufzuzeigen. Dies kann zum einen auf Kursebene und zum anderen auf Programmplanungsebene geschehen. Sowohl in der quantitativen als auch in der qualitativen Befragung zeigte sich, dass die Teilnehmenden von sich aus eher Interesse an Veranstaltungen zeigen, in denen es um den Gebrauch von und den Umgang mit Medien geht. Gleichzeitig hatten Teilnehmende aufgrund des weiterführenden Angebots des MedienKompetenzZentrums ihre Interessen auch auf Angebote zur Medienkritik ausgeweitet. Erwachsenenbildung ist also durchaus in der Lage, die Sensibilität für die Bedeutung des kritischen Umgangs mit Medien zu erhöhen. Dies kann zum einen durch Weiterbildungsangebote in diesem Bereich geschehen sowie zum anderen durch den Einbezug von Medienkritik in technik/gestaltungsorientierte Kurse. Dazu bedarf es allerdings kompetenter Dozenten und Mitarbeiter (vgl. auch Knaller 1993).
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4.2.3 Fortbildung der Kursleitenden Wie Studien zeigen, verfügen Kursleitende oftmals weder über medienpädagogisches, noch über didaktisches Berufswissen, die meisten werden aufgrund ihrer Fachkenntnisse in anderen Bereichen angestellt (vgl. Meueler 1999: 680). Es besteht hier ein steigender Fortbildungsbedarf (vgl. Kade et al. 1999: 164). Wie sich in der Studie von von Hippel (2007) gezeigt hat, besteht nicht nur ein medienbezogener Fortbildungsbedarf in Mediendidaktik, sondern auch in der Planung von medienpädagogischen Angeboten in der Erwachsenenbildung, um hier insbesondere medienkritische Aspekte zielgruppenorientiert in Veranstaltungen einbringen zu können. Das empirische Aufzeigen und Aufeinanderbeziehen von Angebots- und Nachfrageseite in der medienpädagogischen Erwachsenenbildung kann dazu beitragen, die umfassende Förderung von Medienkompetenz Erwachsener zu konkretisieren und weitere Verbesserungsmöglichkeiten zu diskutieren.
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Markus Arens ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Fakultät für Erziehungswissenschaft der Universität Bielefeld; AG Medienpädagogik, Forschungsmethoden und Jugendforschung; E-Mail:
[email protected] Dr. Timo Borst ist Leiter IT-Entwicklung, Deutsche Zentralbibliothek für Wirtschaftswissenschaften (ZBW) in Kiel/Hamburg; E-Mail:
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Mag. Dr. Tanja Jadin ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Fakultät für Informatik, Kommunikation und Medien der FH OÖ Forschungs- und Entwicklungs GmbH; E-Mail: http://www.jadin.eu Prof. Dr. Benjamin Jörissen ist Vertretungs-Professor für Angewandte Medienwissenschaft an der Universität der Bundeswehr München; E-Mail:
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Prof. Dr. Heinz Moser ist Abteilungsleiter an der Pädagogischen Hochschule Zürich, Schweiz, sowie Honorarprofessor für Medienpädagogik an der Universität Kassel; E-Mail:
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