»Soldaten kommen heraus«, berichtigte Ichor. Die Neuankömmlinge waren Zweibeiner und hatten auch zwei obere Gliedmaßen...
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»Soldaten kommen heraus«, berichtigte Ichor. Die Neuankömmlinge waren Zweibeiner und hatten auch zwei obere Gliedmaßen. Jedes Individuum hatte nur einen Kopf, einen Mund und eine Nase wie Detringer auch. Sichtbare Schwänze oder Antennen hatten sie nicht. Daß sie Soldaten waren, ließ sich aus ihrer Ausrüstung schließen. Jede Person war schwer beladen mit Dingen, die sich leicht als Projektilwaffen, Gas- und Explosivgranaten, Strahlenprojektoren, Kleinatomwaffen und sonstige ähnliche Instrumente erraten oder erkennen ließen. Jeder trug eine Rüstung, und ihre Köpfe hatten sie mit Plastikblasen umgeben. Es waren zwanzig, die so ausgerüstet waren, und einer, offensichtlich ihr Anführer, der keine sichtbaren Waffen trug. »Ich glaube nicht, daß wir noch länger in diesem Busch bleiben sollen. Für uns wäre es Zeit, herauszukommen und ihnen mit der Würde zu begegnen, die einem Abgesandten des Volkes der Ferlang ansteht«, schlug Detringer vor. Er trat also vorwärts und marschierte, gefolgt von Ichor, den Soldaten entgegen ... BITTSTELLER IM ALL von Robert Sheckley und weitere moderne SF-Stories von URSULA K. LE GUIN, R. A. LAFFERTY, HARLAN ELLISON, THEODORE STURGEON und anderen bekannten Autoren.
In der Reihe der Ullstein Bücher: SCIENCE-FICTION-STORIES Band 1, 2, 11, 12, 53 bis 74
Ullstein Buch Nr. 3579 im Verlag Ullstein GmbH, Frankfurt/M – Berlin – Wien Aus dem Amerikanischen übersetzt von Leni Sobez Umschlagillustration: Signet Umschlaggraphik: Ingrid Roehling Alle Rechte vorbehalten Alle Stories aus THE BEST FROM GALAXY II Copyright © 1974 by Universal-Award-House, Inc. Frankfurt/M – Berlin – Wien Printed in Germany 1979 Gesamtherstellung: Augsburger Druck- und Verlagshaus GmbH ISBN 3-548-03579-5
CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Science-fiction-stories hrsg. von Walter Spiegl. – Frankfurt/M, Berlin, Wien: Ullstein. NE: Spiegl, Walter [Hrsg.] 75. Von Ursula K. Le Guin ... [Aus d. Amerik. übers. von Leni Sobez]. – 1979. (Ullstein Bücher; Nr. 3579: Ullstein 2000) ISBN 3-548-03579-5 NE: Le Guin, Ursula K. [Mitarb.]
Science-FictionStories 75 von Ursula K. Le Guin R. A. Lafferty Harlan Ellison Doris Piserchia Robert Sheckley Theodore Sturgeon Jeffrey Perrin Gene Wolfe Herausgegeben von Walter Spiegl
ein Ullstein Buch Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!
INHALT Einsicht Ursula K. Le Guin ..............................................
6
Strandgut R. A. Lafferty ......................................................
39
Ein Fleckchen Erde Harlan Ellison ....................................................
60
Quarantäne Doris Piserchia ...................................................
80
Bittsteller im All Robert Sheckley ..................................................
92
Ein ungewöhnlicher Kummerjäger Theodore Sturgeon ............................................ 129 Nur eine Zeitfrage Jeffrey Perrin ...................................................... 153 La Befana, die Weihnachtshexe Gene Wolfe ......................................................... 173
Ursula K. Le Guin EINSICHT 1 Berichte von Psyche XIV kamen regelmäßig herein, ehe sich ihr Rückkehrfenster öffnete. Das war reine Routine. Dann meldete ganz plötzlich Commander Rogers, daß sie die Oberfläche verlassen hatten und zum Schiff zurückgekehrt seien, und daß die Vorbereitungen zum Abheben 82 Stunden und 18 Minuten früher als geplant begonnen hätten. Natürlich forderte Houston Erklärungen, doch die Antworten von Psyche waren unberechenbar. Die Verzögerung von 220 Sekunden erwies sich auch nicht gerade als nützlich. Psyche unterbrach immer wieder den Kontakt. Einmal sagte Rogers: »Wenn wir sie nach Hause bringen wollen, müssen wir's jetzt tun«; wahrscheinlich war dies die Antwort auf die Fragen von Houston, aber dann fragte Hughes nach einer Ablesung und sagte etwas von einer Dosierung. Die Sonne machte einen unglaublichen Lärm, und daher war auch der Empfang sehr schlecht. Die Stimmübertragung endete unvermittelt ohne Absage. Die automatische Information vom Schiff lief weiter. Das Abheben war normal. Während der sechsundzwanzig Flugtage kamen nur automatische Berichte herein; diese Tage verbrachten die Astronauten im Drogenschlaf. Bei den Psyche-Missionen gab es keinen medizinischen Monitor. Die einzige Verbindung mit der Crew war der Stimmkontakt. Als sie
sich am 27. Tag nicht meldeten, schlug die Spannung in Houston allmählich in Verzweiflung um. Die Bordautomatik wurde von der Bodenmannschaft dirigiert, und man hatte gerade Psyches Wiedereintrittskurs festgelegt, als im Lautsprecher plötzlich Hughes' Stimme ertönte: »Houston, könnt ihr mir Daten durchsagen? Hier gibt es optische Interferenzen.« Sie versuchten ihn einzuweisen, aber schon der erste Versuch, den er mit manuellen Korrekturen machte, war grauenhaft. Die Bodenkontrolle brauchte fünf Stunden, um den Schaden wieder zu beheben. Man sagte ihm, er solle die Finger von den Instrumenten lassen, sie würden das Schiff schon herunterbringen. Unmittelbar danach verloren sie wieder den Sprechkontakt. Die großen blassen Fallschirme öffneten sich über dem grauen Pazifik und fielen langsam wie Rosen aus dem Himmel. Das von der Hitze gepeinigte Schiff dampfte, jaulte und stürzte; dann hüpfte es noch einmal und schaukelte schließlich auf den langen Wellen. Die Bodenkontrolle hatte ausgezeichnet gearbeitet. Das Schiff lag kaum einen halben Kilometer von der California entfernt. Helikopter hingen darüber, Flöße sammelten sich an, das Schiff wurde stabilisiert, die Luke geöffnet. Niemand kletterte heraus. Da stiegen sie hinein und holten sie. Commander Rogers saß auf seinem Flugsitz, war noch angeschnallt und mit Funk- und Sprechfunk verbunden. Seit etwa zehn Tagen war er tot, und es war klar, warum die anderen seinen Anzug nicht geöffnet hatten. Captain Temski schien körperlich unverletzt zu sein, doch er war verstört und halb betäubt. Er sagte
nichts, reagierte auch nicht auf Instruktionen. Man mußte ihn mit Gewalt aus dem Schiff herausholen, obwohl er keinen Widerstand leistete. Dr. Hughes befand sich in einem Kollapszustand, war aber bei Bewußtsein. Er schien blind zu sein. »Bitte ...« »Können Sie etwas sehen?« »Ja. Bitte, geben Sie mir die Augenbinde.« »Sehen Sie das Licht, das ich Ihnen zeige? Welche Farbe hat es, Dr. Hughes?« »Alle Farben. Weiß. Es ist zu hell.« »Bitte, deuten Sie darauf.« »Es ist überall. Es ist zu hell.« »Der Raum ist aber ziemlich dunkel, Dr. Hughes. Bitte, öffnen Sie jetzt noch einmal Ihre Augen.« »Es ist nicht dunkel.« »Hm. Da liegt wohl eine Überempfindlichkeit vor. Wie ist es jetzt? Ist es nun besser? Dunkel genug für Sie?« »Machen Sie's dunkel, bitte.« »Nein, lassen Sie doch bitte Ihre Hände weg. Ganz ruhig. Schön. Wir legen also die Kompresse wieder drüber.« Der sich wehrende Mann beruhigte sich sofort, als seine Augen bedeckt waren. Er lag still da und atmete schwer. Sein schmales Gesicht im Rahmen eines dunklen Bartgestrüpps sah ölig vor Schweiß aus. »Entschuldigen Sie bitte«, sagte er. »Wollen Sie jetzt bitte die Augen öffnen. Der Raum ist ziemlich dunkel.« »Warum sagen Sie mir das, obwohl er gar nicht dunkel ist?« »Dr. Hughes, ich kann doch kaum Ihr Gesicht er-
kennen. Auf meinem Skop habe ich nur die allerschwächste Rotbeleuchtung sonst gar nichts. Können Sie mich sehen?« »Nein, ich kann des Lichtes wegen nichts sehen.« Der Arzt verstärkte das Licht, bis er Hughes' Gesicht zu erkennen vermochte, diese verkrampften Kiefer, die offenen, bestürzten, verängstigten Augen. »Hier, wird es so etwas dunkler?« fragte er mit dem Sarkasmus der Hilflosigkeit. »Nein!« Hughes kniff die Augen zu. Er war totenblaß geworden. »Benommen ...« murmelte er, »das Wirbeln ...« Dann holte er keuchend Atem und mußte erbrechen. Hughes war unverheiratet und hatte keine nahen Verwandten. Sein engster Freund war, soviel man wußte, Bernard Decelis. Sie waren zusammen im Training gewesen. Decelis war Spezialist auf Psyche XII gewesen – das war die Mission, die seinerzeit die ›Stadt‹ auf dem Mars entdeckt hatte, so wie es Hughes auf XIV war. Decelis wurde zur Debriefingstation Pasadena geflogen, und man sagte ihm, er solle mit seinem Freund sprechen. Die Unterhaltung wurde selbstverständlich aufgezeichnet. D. H. D. H. D. H. D. H.
Hallo, Gerry. Decelis. Barney? Wie geht es dir? Gut. Bei dir alles okay? Klar. War kein Picknick, was? Wie geht es Gloria? Gut, einfach prima. Ist sie schon über Aunt Rhody hinaus?
D. (lacht). Ah, mein Gott, natürlich. Jetzt kann sie schon Greensleeves spielen. Sie behauptet wenigstens, es sei Greensleeves. H. Wozu haben sie dich hergeholt in diese Höhle? D. Um dich zu sehen. H. Ich wollte, das könnte ich auch sagen. D. Das wirst du schon noch. Hör mal. Drei verschiedene Augenspezialisten oder was, zum Teufel, sie sind, so was wie Opthamollywoogers, die meinen, daß deinen Augen absolut nichts fehlt. Drei Ophtamakademiker und ein Neurologe sind's eigentlich. Ein illustrer Verein. H. Dann stimmt also vielleicht etwas in meinem Gehirn nicht. D. Ungefähr in dem Sinne, daß sich irgendwo möglicherweise eine Querverbindung ergeben hat. H. Was ist mit Joe Temski? D. Ich weiß nicht. Den habe ich nicht gesehen. H. Was haben sie dir über ihn erzählt? D. Für ihn haben sie noch keine gemeinsame Partitur ausgearbeitet. Sie sagten nur, er neige dazu, sich ganz in sich selbst zurückzuziehen. H. Zurückziehen! Mein Gott, das würde ich auch sagen. So wie ein Fels in sich selbst zurückgezogen ist. D. Temski? Dieser Witzbold? H. Mit ihm hat's ja angefangen. D. Was war los? H. Dort. An seinem Platz. Er gab einfach keine Antwort mehr. D. Was ist geschehen? H. Nur das. Er gab keine Antwort mehr. Redete
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nicht mehr. Bemerkte nichts mehr. Dwight dachte, es sei Cafard. Apathie. Nennen sie das auch hier so? Man erwähnte es als eine Möglichkeit. Ist draußen etwas Besonderes geschehen? Wir fanden den Raum. Den Raum, ja. Das kam alles mit euren Berichten herein. Ich habe sie gesehen, auch einige von den Holos, die du mitbrachtest. Was, zum Teufel, ist das, Gerry? Ich weiß nicht. Ist es irgendeine Konstruktion? Ich weiß es nicht. Was ist die ganze Stadt? Die muß irgendwie gebaut worden sein. Gemacht. Muß so sein. Woher weißt du das? Wie kannst du das sagen, wenn du nicht weißt, was die Stadt gemacht hat. Ist eine Muschel »gemacht«? Wenn du's nicht wüßtest, wenn du niemals irgend etwas gelernt hättest und nicht die Ähnlichkeit zwischen einer Muschel und einem Aschenbecher erkennen könntest – wüßtest du dann, welches von beiden Stücken »gemacht« wurde? Und zu welchem Zweck? Was hat das zu bedeuten? Und was wäre mit einer keramischen Muschel? Oder einem Wespennest aus Papier? Oder mit einer Druse? Ja, okay. Aber was ist mit diesen Dingen, deren Anordnung du in den Berichten »Taubenschlag« nennst? Ich sah die Holos. Sag mir doch, was hältst du von ihnen? Was hältst du davon? Ich weiß es nicht. Seltsam sind sie. Ich dachte,
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ich könnte mal alle Raumarrangements durch den Computer jagen, um ein verständliches Muster zu finden ... Du scheinst nicht viel davon zu halten. Nein. Schön. Nur ... was willst du für eine Bedeutung programmieren? Mathematische Beziehungen. Alle Arten geometrischer Muster ... Einen Regelmäßigkeitskode. Ich weiß selbst nicht. Wie sah dieser Ort aus, Gerry? Ich weiß nicht. Du warst aber doch oft drinnen? Die ganze Zeit, nachdem wir ihn gefunden hatten. Und diese Schwierigkeiten mit den Augen hast du damals bemerkt? Wie fing das an? Alles wurde unscharf. So wie bei Überanstrengung. Außerhalb des Raumes wurde es noch viel schlimmer. Das ging einige Tage so weiter. Ich konnte alles noch einigermaßen gut sehen, wenn wir das Beiboot zum Schiff brachten. Aber jedesmal wurde es dann schlimmer. Diese Lichtblitze beeinträchtigten meine Tiefenwahrnehmung ganz erheblich, und ich wurde dann ganz benommen. Dwight und ich gaben den Kurs ein; der eine oder andere von uns funktionierte zwischendurch immer mal wieder. Bevor wir aber starteten, hatte er Krämpfe – wie Epilepsie; Dwight, meine ich. Danach war er sehr zittrig, aber sonst schien er ganz normal zu sein. Er brachte uns auch gut hinauf zum Schiff, aber als wir dann angedockt hatten, kam wieder ein solcher Anfall. Jeder der folgenden dauerte län-
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ger. Dazwischen hatte er Halluzinationen. Ich gab ihm Beruhigungsmittel und schnallte ihn an. Die Anfälle erschöpften ihn furchtbar. Als ich dann zu schlafen anfing, kann er schon tot gewesen sein. Ich weiß es nicht. Nein, er starb im Schlaf. Ungefähr zehn Tage vor der Landung hier auf der Erde. Das hat mir niemand gesagt. Du hättest ja auch nichts tun können, Gerry. Ich weiß nicht. Diese Anfälle, die er hatte ... Sie waren wie ... Überlastungen. Als habe es alle seine Sicherungen durchgehauen. Völlig ausgebrannt. Er redete, wenn er die Anfälle hatte. Das waren Ausbrüche, fast wie ein Bellen, als wolle er einen ganzen Satz auf einmal sagen. Aber Epileptiker reden doch nicht, wenn sie Anfälle haben, oder? Das weiß ich nicht. Epilepsie ist jetzt so gut unter Kontrolle, daß man gar nicht mehr viel darüber hört. Sie stellen die Veranlagung dazu fest, und die wird dann sofort kuriert. Wenn Rogers eine solche Anlage hatte ... Ja ... Aber dann wäre er ja nie ausgewählt worden. Mein Gott, er war doch sechs Monate im Raum. Und du? Sechs Tage? So wie du. Ein Mondhüpfer. Dann ist es das also nicht. Glaubst du ... Was? So etwas wie ein Virus? Raumpest? Marsfieber? Geheimnisvolle Sporen, die Astronauten verrückt machen? Na, gut. Das klingt albern. Aber schau mal, die-
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ser Raum war doch versiegelt. Und es sieht so aus, als wäret ihr alle ... Dwight hat eine kortikale Überlastung, Joe wird katatonisch, ich sehe allerhand Dinge. Gibt es eine Verbindung? Nervensystem. Warum verschiedene Symptome bei jedem von uns? Nun ja, Drogen wirken unterschiedlich auf verschiedene Menschen. Glaubst du, wir haben dort drinnen irgendeinen psychogenen marsischen Pilz gefunden? Dort ist nichts dergleichen, es ist tot wie der ganze Rest vom Mars. Du weißt es, du warst selbst dort. Es gibt dort keine verdammten Bakterien oder Viren, es gibt kein Leben, überhaupt kein Leben. Aber es könnte vielleicht ... Wie kommst du darauf? Dieser Raum, den ihr gefunden habt. Diese Stadt, die wir fanden. Stadt! Um Himmels willen, Barney, du redest ja wie ein verdammter Popjournalist! Du weißt verdammt genau, daß dieser ganze Ort eine Ansammlung von Schlammablagerungen ist, soviel wir feststellen konnten. Aber genau läßt sich das überhaupt nicht sagen. Das ist alles viel zu alt, die Bedingungen sind zu unterschiedlich, zu verschieden von allen bekannten. Wir haben da keinen Zusammenhang, wir verstehen nichts, es ist etwas außerhalb des menschlichen Geistes. Städte, Räume all das – wir analogisieren ja nur, versuchen etwas Ungewohntes mit
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unseren Worten auszudrücken. Aber dies läßt sich nicht mit unseren Worten ausdrücken. Das ergibt nämlich keinen Sinn. Das verstehe ich jetzt. Es ist das einzige, das ich jetzt sehen kann! Was siehst du, Gerry? Sehen, wenn ich meine Augen aufmache. Was? Alles, was nicht dort ist und keinen Sinn ergibt. Oh, ich ... Hier ... Komm nur. Schön ruhig bleiben. Schau, es wird alles wieder gut werden, Gerry. Es wird dir bald wieder ganz gut gehen. (unklar) Licht und das (unklar) zu sehen versuchen, was ich berühren kann und was nicht, das verstehe ich nicht, und ich kann nicht ... (unklar). Laß nicht locker. Ich bin da. Nur ruhig, alter Freund ...
2 Hughes, der von der Astrophysik zum Raumprogramm gekommen war, hatte eine ausgezeichnete Beurteilung, ja sogar eine brillante. Darüber machten sich viele seiner militärischen Vorgesetzten Sorgen, denn sie meinten, seine hohe Intelligenz bedeute auch Instabilität und Insubordination. Aber sein Training war sehr solide gewesen, sein Verhalten ohne jede Beanstandung, doch jetzt erinnerte man sich nur allzu häufig daran, daß er schließlich doch ein Intellektueller war. Temski war schwieriger zu erklären. Er war Test-
pilot, Captain bei der Luftwaffe und Baseballspieler, aber jetzt war sein Verhalten noch ungewöhnlicher als das von Hughes. Temski saß nur da, sonst tat er nichts. Er konnte für sich selbst sorgen, und das tat er auch. Das heißt, wenn er hungrig war, und es gab etwas zu essen, aß er mit den Fingern. Mußte er sich erleichtern, so tat er das in einer Ecke. War er schläfrig, legte er sich auf den Boden und schlief. Den Rest der Zeit verbrachte er sitzend. Körperlich war sein Zustand gut, er war auch ziemlich ruhig. Nichts, was zu ihm gesagt wurde, rief die geringste Reaktion hervor, und er hatte an nichts, was um ihn herum vorging, Interesse. Seine Frau wurde gebracht in der Hoffnung, sie könne ihn vielleicht zu einer Reaktion bewegen. Nach fünf Minuten führte man sie weinend hinaus. Weil Temski nicht antworten wollte und Rogers, der ja tot war, nicht konnte, war es ganz natürlich, daß man sich irgendwie an Hughes hielt, der ja doch gewissermaßen vernünftig war. Nichts schien bei ihm in Unordnung zu sein – mit Ausnahme dieser vermutlich hysterischen Blindheit, und so erwartete man von ihm, daß er an ihn gerichtete Fragen vernünftig beantwortete und erklärte, was geschehen war. Das konnte – oder wollte – er jedoch nicht tun. Man brachte einen psychiatrischen Berater, einen vornehmen Herrn namens Shapir. Man bat ihn, mit Temski und Hughes zu arbeiten. Natürlich war es nicht denkbar, daß man zugab, die Mission sei ein Mißerfolg gewesen – das Wort Katastrophe wurde nicht einmal erwähnt –, aber trotz aller Sicherheitsvorkehrungen waren doch ein paar Gerüchte zur
Presse durchgesickert. Unverantwortliche Journalisten wollten unbedingt wissen, warum die Crew der Psyche XIV vor der Öffentlichkeit versteckt werde, und sie betonten, die amerikanische Öffentlichkeit habe ein Recht zu wissen und so weiter. Man hatte es für nötig gehalten, eine Mitteilung herauszugeben über einen neuen Gesundheitstest mit den Astronauten, die länger als fünfzehn Tage im Raum gewesen waren, über Commander Rogers' tragischen Tod durch Herzversagen. Dann war eine ganz neue Artikelserie zu schreiben über Pläne für eine Kuppelstadt »Klein-Amerika« auf dem Mars, und damit wollten die Behörden eine positive Stimmung in der Bevölkerung hervorrufen. Die Leute, auf die es ankam, wußten natürlich, daß das gesamte Psyche-Programm gefährdet war; sie baten also Dr. Shapir, die Astronauten möglichst rasch zu diagnostizieren und zu heilen. Shapir sprach mit Hughes eine halbe Stunde lang über das Essen im Lazarett und die letzten chinesischen Berichte über deren Alpha-Centauri-Sonde, und die Stimmung war entspannt, fast alltäglich. Dann fragte er: »Was sehen Sie jetzt, wenn Sie Ihre Augen öffnen?« Hughes war jetzt auf den Beinen und angezogen, saß eine Weile schweigend da. Eine undurchsichtige Schutzbrille bedeckte völlig seine Augen, so daß er aussah wie jene arroganten Leute, die immer dunkle Brillen tragen. »Das hat noch niemand gefragt«, sagte er. »Auch nicht die Augenärzte?« »Doch, ich glaube, Kray schon. Ganz am Anfang. Ehe sie meinten, ich sei ein mentaler Fall.« »Was sagten Sie ihm damals?«
»Das ist schwer zu beschreiben. Es ist sogar unbeschreiblich. Erst wurde alles unscharf, durchsichtig, wanderte weg. Dann kam das Licht. Zuviel Licht. Wie ein überbelichteter Film. Alles ausgebleicht. Aber damit kam eine Art Wirbel. Veränderte Positionen und Beziehungen, wechselnde Perspektiven, ständige Transformationen. Davon wurde ich ganz benommen. Meine Augen schickten ständig Signale an meine inneren Ohren, glaube ich. Wie diese Krankheit des Innenohres, nur umgekehrt. Da muß doch das Raumempfinden völlig gestört werden, nicht wahr?« »Das Meunieresche Syndrom nennt man das, glaube ich. Ja, das ist richtig. Besonders auf Steilhängen und auf Treppen.« »Es ist so, als blicke man aus großer Höhe auf ... oder hinauf in eine große Höhe –« »Hatten Sie je Schwierigkeiten mit Höhen?« »Ach wo! Niemals. Höhen bedeuten mir nichts. Was ist schon auf und ab im Raum? Nein, sehen Sie, ich habe mich wohl zu wenig bildhaft ausgedrückt. Da gibt es aber kein Bild. Ich habe versucht mehr zu schauen, zu lernen, wie man sehen muß ... Es taugt leider nicht viel.« »Dazu braucht man Mut«, sagte Shapir nach einer Pause. »Was meinen Sie damit?« fragte der Astronaut scharf. »Nun ja, das Auge ist doch schließlich der wichtigste sensorische Empfänger für den bewußten Geist; wenn der nicht mehr existent ist, wenn unverständliche Dinge passieren, die in Widerspruch stehen mit allen anderen sensorischen Empfängern, mit dem Tastsinn, dem Gehör, dem Gleichgewichtssinn und so
weiter; wenn dies jedesmal vor sich geht, wenn Sie versuchen, die Augen zu öffnen, und wenn Sie nicht nur damit leben, sondern sogar noch versuchen müssen, das zu erforschen ... Das klingt nicht leicht.« »Deshalb halte ich ja auch meistens die Augen geschlossen«, meinte Hughes trocken. »Wie ein verdammter Affe, der nichts Böses sehen will.« »Wenn Sie aber die Augen offen haben und auf einen Gegenstand schauen, von dem Sie wissen, daß er da sein muß – Ihre eigene Hand zum Beispiel –, was sehen Sie da?« »Ein großes wirbelndes Durcheinander.« »William James«, sagte Shapir voll Befriedigung. »Wovon hat er gesprochen? Wie ein Baby die Welt empfindet, nicht wahr?« Er hatte eine angenehme, neutrale Stimme; man konnte sich nicht vorstellen, daß er je schimpfen oder schreien könnte. Er nickte ein paarmal und überlegte die Folgerungen dessen, was Hughes gesagt hatte. »Sie sagten vorhin etwas von lernen, Dinge zu sehen. Lernen. Dieses Gefühl also haben Sie?« Hughes zögerte, dann sprach er plötzlich und drängend: »Das muß ich doch. Was kann ich denn sonst tun? Offensichtlich werde ich nie mehr fähig sein, so zu sehen wie früher, so wie es andere Menschen tun. Aber ich sehe noch. Nur verstehe ich nicht, was ich sehe, ich kann nicht einmal zwischen nah und fern unterscheiden. Es ist etwas da, nur kann ich das nicht sagen, weil es keine Dinge sind. Keine Formen. Statt Formen sehe ich nur Transformationen, Transfigurationen. Sagt Ihnen das etwas?« »Ich glaube schon«, antwortete Shapir, »nur ist es ungeheuer schwierig, ein direktes Erlebnis in Worte
zu fassen. Und wenn das Erlebnis neu, einmalig und überwältigend ist ...« »Und irrational. Das ist es doch.« Hughes sprach nun voll Dankbarkeit. »Wenn ich es Ihnen nur zeigen könnte«, meinte er sehnsüchtig. Die beiden Astronauten waren im zehnten Stock eines großen Militärlazaretts in Maryland untergebracht. Dieses Stockwerk durften sie nicht verlassen, und jeder, der es besuchte, mußte zehn Tage in Quarantäne bleiben, ehe er in die Außenwelt zurück durfte: die Marspest-Theorie ging um. Shapir bestand darauf, daß Hughes den Dachgarten besuchen durfte. Danach wurde der Lift sehr gründlich sterilisiert und drei Tage lang abgesperrt. Hughes mußte eine Chirurgenmaske tragen, und Shapir bat ihn, die Brille nicht aufzusetzen. Gehorsam bedeckte er Mund und Nase, als er in den Lift stieg, doch die Augen kniff er zusammen. Der Wechsel vom Halblicht im Lift zum heißen, dunstigen Tageslicht auf dem offenen Dach blieb auf die geschlossenen Augen, soweit Shapir feststellen konnte, ohne Wirkung. Hughes kniff sie gegen das grelle Licht nicht heftiger zusammen als sonst, obwohl er das Gesicht anhob, als fühle er die Wärme der Sonne wohltuend auf seiner Haut. Durch die Gazebinde holte er tief Atem. »Seit März war ich nicht mehr draußen«, sagte er. Natürlich stimmte das. Er war immer in einem Raumanzug oder in einem Krankenzimmer gewesen und atmete konservierte oder klimatisierte Luft. »Konnten Sie sich orientieren?« fragte Shapir. »Nicht im geringsten. Daß ich draußen bin, erzeugt
in mir das Gefühl, ich würde über den Rand des Daches hinauslaufen. Ich fühle mich noch blinder als sonst.« Hughes hatte auf den Gängen und im Lift Hilfe abgelehnt und ertastete sich geschickt mit den Händen den Weg. Trotz seines Witzes, daß er über die Dachkante hinauslaufe, begann er den Dachgarten zu erforschen. Er war freudig erregt, ein aktiver Mann, der aus viel zu langem Eingesperrtsein entlassen war. Shapir beobachtete ihn düster. Die Gartenmöbel waren für ihn ungewohnt, doch er lernte es sofort, wie er danach tasten mußte; er hatte eine ausgesprochene Tast-Intelligenz. Seine Bewegungen waren anmutig auch dann, wenn er in seiner Blindheit gegen etwas stieß. »Wollen Sie nicht die Augen öffnen?« fragte Shapir mit seiner beiläufigen, etwas zögernden Stimme. Hughes blieb stehen. »Gut«, sagte er. Er wandte sich Shapir zu und seine rechte Hand kam tastend in die Höhe. Shapir trat zu ihm und ließ diese Hand nach seinem Arm greifen. Der Griff verstärkte sich, als Hughes die Augen öffnete. Dann ließ er den Arm los, trat einen Schritt zurück, und dann streckte er beide Arme aus. Ein Schrei brach aus ihm heraus. Er legte den Kopf zurück, hatte die Augen weit offen und starrte in den leeren Himmel; mit den Händen griff er nach oben und vorwärts. »Oh, mein Gott«, flüsterte er und fiel zusammen wie ein von einem großen Hammer getroffener Mensch. Psychiatrische Behandlung vom 18. Juli. S. Shapir, Geraint Hughes.
S. Hallo, Sidney. Ich bleibe nicht lange. Hören Sie, das war keine sehr großartige Idee von mir. Das Dach. Tut mir leid. Ich hatte ja keine Ahnung. Aber auch kein Recht. Wäre es Ihnen lieber, ich ginge? H. Nein. S. Na, schön. Ich bin selbst ganz lahm. Ich glaube, ich brauche einen ordentlichen Spaziergang. Gewöhnlich laufe ich immer ein gutes Stück. Ungefähr zwei Meilen zu meinem Büro, den gleichen Weg zurück. Dann kommen auch noch Umwege dazu. Was immer man auch sagen will, New York ist eine schöne Stadt zum Spazierengehen. Man muß nur verstehen, den Weg richtig zu wählen. Hören Sie, ich habe da eine merkwürdige Geschichte über Joe Temski gehört. Eigentlich keine Geschichte, nur eine merkwürdige Tatsache. Wußten Sie, daß in seiner Beurteilung steht, er sei »funktionell taub«? H. Taub? S. Ja, taub. Nun ja, wissen Sie ... ich begann darüber nachzudenken. Ich gehe also hinein und spreche mit Joe, berühre ihn, versuche einen Blickkontakt herzustellen, überhaupt irgendeinen Kontakt, um zu ihm durchzukommen. Nichts geht. Ich hatte Patienten, die mir mit vielen Worten erklärten, »ich kann Sie nicht hören«. Eine Redensart. Aber was dann, wenn es keine Redensart ist? Das kommt manchmal bei kleinen Kindern vor. Man nennt sie zurückgeblieben, und dabei stellt sich heraus, daß sie dreißig, sechzig oder gar achtzig Prozent gehörgeschädigt sind. Nun, vielleicht kann Joe
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mich wirklich nicht hören. So wie Sie mich nicht sehen können. (Pause von etwa 40 Sekunden.) Meinen Sie, er hört etwas? Lauscht? Möglich wäre es. (Pause von 20 Sekunden.) Aber die Ohren kann man doch nicht verschließen. Ich dachte das auch. Das könnte sehr brutal sein, nicht wahr? Nun, ich dachte, wie wär's, wenn wir versuchten, sie für ihn zu schließen? Etwa mit Ohrpfropfen? Er wäre immer noch nicht in der Lage, Sie zu hören. Nein, aber er wäre nicht abgelenkt. Wenn Sie die ganze Zeit auf das Licht aufpassen müßten, könnten Sie ja kaum auf mich oder sonst etwas aufpassen. Stimmt das? Vielleicht ist es mit Joe ähnlich. Vielleicht gibt es da einen Lärm, der bei ihm alles andere überlagert. (20 Sekunden Pause.) Das wäre mehr als Lärm. Ich nehme nicht an, daß Sie sprechen wollen über ... auf dem Dach ... Nein, ist schon gut. Sie wüßten gern, was ich sah, nicht wahr? Selbstverständlich. Aber erst dann, wenn Sie so weit sind. Ja, ich habe soviel anderes zu tun, nicht nur mit Ihnen zu reden. Alle die Bücher, die ich lesen, alle die schönen Frauen, die ich anschauen kann. Sie wissen verdammt genau, daß ich es Ihnen später erzählen werde, weil ich ja sonst keinen habe, mit dem ich reden kann. Oh, zum Teufel, Geraint ... (10 Sekunden Pause.)
H. Verdammt. Tut mir leid, Sidney. Wenn ich Sie nicht hätte, würde ich völlig durchdrehen. Ich weiß das. Sie sind sehr geduldig mit mir. S. Was Sie oben auf dem Dach sahen, stört Sie. Das ist ein Grund, weshalb ich wissen möchte, was es war. Aber was soll's? Wenn Sie allein damit fertig werden, ist's doch gut. Schließlich war es ja so gemeint. Meine Neugier ist mein Problem, nicht das Ihre. Hören Sie. Wir wollen einmal das Reden vergessen. Ich möchte Ihnen diesen Artikel aus Science vorlesen. Colonel Wood hat ihn mir gegeben, und er meinte, Sie würden sich dafür interessieren. Mich hat er interessiert. Er handelt von dem, was sie in dem argentinischen Meteoriten gefunden haben. Die Autoren meinen, wir sollten den Meteoritengürtel nach den Überresten einer transstellaren Flotte durchkämmen, die vor ungefähr sechshundert Millionen Jahren in unserem Sonnensystem havarierte. Natürlich wäre sie zuerst auf dem Mars gelandet. Sind diese Leute vielleicht verrückt? H. Ich weiß nicht. Lesen Sie mir den Artikel vor. Temski schlief sehr tief, und für Shapir war es einfach, ganz gewöhnliche Ohrpfropfen in seine Ohren zu stecken, während er schlief, solche, wie man sie bei Schlaflosigkeit verwendet. Als Temski aufwachte, bemerkte er erst gar nichts Ungewöhnliches. Er setzte sich auf, gähnte, streckte und kratzte sich, sah sich beiläufig um, ob zufällig etwas zu essen da wäre; das alles tat er auf eine so heitere Art, daß Shapir für sich davon überzeugt war, wenn er je ein psychotisches
Verhalten gesehen hatte, dann war es bestimmt nicht so eines gewesen, denn es war ganz anders als sonst irgendein menschliches Verhalten. Temski erinnerte ihn an ein gesundes, zufriedenes, würdiges und zahmes Tier. Nicht an einen Schimpansen, sondern an etwas Milderes und Nachdenklicheres. Vielleicht an einen Orang. Aber der Orang begann sich unbehaglich zu fühlen. Temski schaute sich um, nach links und rechts, und wurde nervös. Vielleicht schaute er auch gar nicht, sondern bewegte nur den Kopf und versuchte, verschwundene Geräusche wiederzufinden. Die verlorene Saite, dachte Shapir. Temski fühlte sich immer mehr gestört und wurde immer alarmierter. Er stand auf und bewegte noch immer rastlos den Kopf. Er schaute quer durch den Raum. Zum erstenmal seit siebzehn Tagen täglichen Kontakts sah er Shapir. Sein gut geschnittenes Gesicht war nun vor Besorgnis und Angst verzerrt. »Wo?« fragte er. »Wo ...« Seine Hände griffen an die Ohren, um die Ursache der Stille zu finden, entdeckte die Ohrpfropfen und nahm einen heraus. Das genügte. »Ah«, sagte er und blieb still stehen. Seine Augen hingen noch an Shapir, doch er sah ihn nicht. Sein Gesicht entspannte sich. Spätere Versuche waren erfolgreicher. Temski war wohl anfangs ziemlich verängstigt, doch er tat mit, wenn er künstlich taub gemacht wurde, und reagierte bereitwillig auf Shapirs Versuche, sich mit ihm durch Zeichen und Berührung und schließlich auf schriftlichem Weg verständlich zu machen. Nach der fünften Sitzung war Temski auch zu längeren Behandlungen bereit, einschließlich der Anwendung einer Droge,
die seine Gehörnervenenden für jeweils ungefähr fünf Stunden lahmlegte. Während der zweiten langen Sitzung bat er, Hughes sehen zu dürfen. Shapir war bereits dahingehend informiert worden, daß er die beiden Astronauten miteinander reden lassen sollte, falls sie den Wunsch hätten, denn eine solche Zusammenkunft könnte vielleicht aufschlußreich sein, wenn sie frei miteinander sprechen könnten. Temski war künstlich taub gemacht worden, deshalb mußte Hughes schreiben. Hughes konnte blind maschineschreiben und bestritt seinen Teil des Dialogs auf einer Reiseschreibmaschine. Nicht alles Material, das sie später im Papierkorb fanden, konnte dann jedoch erfolgreich in das Band mit Temskis gesprochener Unterhaltung eingebaut werden. Die beiden Männer unterhielten sich fast ausschließlich über die Rückreise und die Krankheit von Commander Rogers und über seinen Tod, an den Temski sich nicht erinnern konnte. Hughes beschrieb alle diese Ereignisse, wie er es schon vorher getan hatte, ohne neue Informationen hinzuzufügen. Über den »Raum« (Ort D) oder ihre jeweiligen Wahrnehmungsschäden sprachen sie nur wie folgt: T. Es ist nicht innerlich, nicht wahr? H. Und wenn, dann würden Ohrpfropfen deine Wahrnehmung verbessern. T. Dann ist es aber echt. H. Teufel, ja. T. Schau mal, als sie zum erstenmal diese Pfropfen in meine Ohren steckten und dieses Schweigen herrschte, als ich aufwachte, da kam mir das sehr spukhaft vor. Ich brauchte lange, um von
H. T.
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dort, wo ich war, zurückzukommen. Aber ich kam nicht gern zurück. Als Shapir mir jedoch erzählte, wie lange es her war, und ich mir klar wurde, daß dies die Erde ist, und weißt du, das kam mir ja so unheimlich vor, da dachte ich, das sei vielleicht alles nur so etwas wie eine Halluzination gewesen. Du weißt ja. Gott, war ich vielleicht nicht mehr ganz richtig im Kopf? Da bekam ich Angst. Fast so, als sei ich zwei verschiedene Leute. Aber ich begann es zusammenzusetzen, um zu sehen, daß es nicht nur ein Teil war, sondern ein ... Eine Veränderung. Ja, genau. Es hat mich verändert, ja. Das ist echt. Denn wenn ich hören kann, dann höre ich das. Und wenn du sehen kannst, dann siehst du das. Richtig? Mit anderen Worten, es ist real. Wir müssen künstlich blind und taub gemacht werden, damit wir es nicht hören oder sehen. So ist es doch? (Hughes maschinengeschriebene Antworten auf diese Fragen waren im Papierkorb nicht zu finden gewesen.) ... Oh, nein. Schön. Ich brauchte lange Zeit, oder ich weiß wenigstens, daß es lange war, bis ich allmählich begriff. Erst kam es mir ganz unverständlich vor. Gott, da hatte ich anfangs scheußliche Angst, du oder Dwight, ihr würdet etwas sagen. Und dann waren um eure Stimmen herum diese Schwingungen wie Regenbogen um ein Prisma, so daß man das Prisma selbst nicht sehen kann. Ja, so ist es doch auch
H. T.
H. T.
bei dir, nicht wahr? Ja, genauso ist es, nur eben mit dem Gehör. Es ist so, als werde alles zu Musik, nur ist es keine Musik. Es ist – zuerst wußte ich nicht recht, wie ich es hören sollte. Ich dachte, etwas sei mit meinem Helmradio nicht in Ordnung. Mein Gott! (Er lacht.) Ich konnte ganz einfach nicht folgen, weißt du, den Modulationen oder den Transformationen. Alles war so ganz anders. Aber man lernt. Je mehr man lauscht, desto mehr hört man. Ich wollte, du könntest das auch hören. Weißt du, mir hast du gesagt, es sei ja schon zwei Monate her, seit wir den Mars verlassen hätten und so weiter, und ich glaube dir auch, aber es ist doch ganz und gar unwichtig. Es spielt überhaupt keine Rolle. Nicht wahr, Gerry? ... Ich wollte, ich könnte es sehen, so wie du's siehst. Das muß unwahrscheinlich großartig sein. Aber ich sage dir, ich bin froh, daß sie mich jetzt jeden Tag ablenken. Ich denke, so ist es auch gedacht. Ich war irgendwie ... ich weiß nicht recht, wie ich das sagen soll, ... ich war überschwemmt, überwältigt ... es ist ganz einfach zuviel. Wir sind nicht dafür gebaut, nicht stark genug vielleicht. Wenigstens anfangs nicht. Das kann man doch nicht alles auf einmal aufnehmen. Ich würde ja ganz gern mal versuchen, einiges von dem schriftlich festzuhalten, solange ich noch so für mich bin ... ... Nein, das tu ich nicht. Aber es braucht gar keine Musik zu sein. Verstehst du, es ist ja keine Mu-
sik, ich kann es nur nicht anders beschreiben, weil es so schön ist. Ich glaube aber, ich könnte es schon in Worte fassen. Vielleicht sogar besser. Um zu sagen, was es bedeutet. H. ... T. Wovor hast du Angst?
3 Bernard Decelis und seine Frau riefen Hughes alle paar Tage an, obwohl sie wegen der Quarantäne nicht zu Besuch kommen durften. Am 27. Juli hatten Hughes und Decelis eine sehr bedeutende Unterhaltung über den sogenannten »Raum« von Lage D der Landaufnahmen von Psyche XIV. Decelis sagte: »Wenn ich nicht in das Team XVI komme und diese verdammte Stelle sehe, dann flippe ich aus.« »Sehen heißt glauben«, bemerkte Hughes. Er war nicht mehr so erregbar wie früher, eher gespannt und etwas bitter. »Hör mal, Gerry. War da in diesem Taubenschlag irgendeine Maschinerie?« »Nein.« »Ha! Endlich eine klare Antwort. Ich dachte schon, du würdest Lage D niemals anders beschreiben als daß sie unbegreiflich ist für den menschlichen Geist. Weichst du doch allmählich auf?« »Nein. Ich lerne.« »Was lernst du?« »Wie ich sehen soll.« Nach einer Pause fragte Decelis vorsichtig: »Was sehen?«
»Lage D. Denn das ist alles, was ich sehen kann.« »Du meinst, das ist, was du – wenn deine Augen offen sind ...« »Nein.« Hughes sprach müde, sehr vorsichtig und zögernd. »Es ist viel komplizierter. Ich sehe nicht Lage D. Ich sehe ... die Welt im Licht, das Lage D wirft ... Ein neues Licht ... Der Mann, den du fragen solltest, ist Joe Temski. Oder ihm zuhören. Hast du je den Taubenschlag durch den Computer laufen lassen?« »Ich hatte Schwierigkeiten mit der Programmierung.« »Das dachte ich mir«, sagte Hughes und lachte. »Schick mal das Zeug her. Ich programmiere es. Mit verbundenen Augen.« Temski kam in Hughes' Zimmer und strahlte. »Gerry, ich hab's«, erklärte er. »Was?« »Ich hab's zusammengekriegt. Ich habe dich gehört. Nein, ich habe nicht vom Mund abgelesen. Sag etwas und dreh mir den Rücken zu. Nun, mach schon.« »Leichengift.« »Leichengift. Okay? Siehst du, ich höre dich. Aber die Musik habe ich nicht verloren. Ich bekomme jetzt alles zusammen.« Temski war mit seinen blauen Augen und blonden Haaren schon normalerweise ein gut anzusehender Mann, aber jetzt war er einfach großartig. Hughes konnte ihn nicht sehen, obwohl es der Kameraspion im Ventilatorgrill konnte und tat, aber er hörte die Vibration seiner Stimme und war tief bewegt – und geängstigt. »Geh, nimm doch deine Scheuklappen ab, Gerry«,
sagte die sanfte Stimme. Hughes schüttelte den Kopf. »Du kannst nicht ewig in der Dunkelheit in dir selbst sitzen. Komm heraus. Du kannst dir die Blindheit nicht aussuchen, Gerry.« »Warum sollte ich das nicht können?« »Doch nicht, nachdem du das Licht gesehen hast.« »Welches Licht?« »Das Licht, das Wort, die Wahrheit, die man uns wahrzunehmen und zu begreifen gelehrt hat«, antwortete Temski mit Sanftheit, absoluter Sicherheit und einer Wärme in der Stimme, die wie Sonnenlicht war. »Raus«, sagte Hughes. »Raus mit dir, Temski!« Zwölf Wochen waren vergangen, seit Psyche XIV in den Pazifik getaucht war. Niemand vom Debriefingteam hatte andere und ernsthaftere Symptome gezeigt als die einer großen Langeweile. Hughes war nicht schlimmer dran, Temski voll wiederhergestellt. Als sicher konnte nun angenommen werden, daß dies, was die Crew von Psyche XIV mitgenommen hatte, keine von Viren, Sporen, Bakterien oder anderen körperlichen Erregern hervorgerufene Krankheit war. Die Mehrheit, einschließlich Dr. Shapir, nahm mit verschiedenen Einschränkungen die Hypothese an, etwas in der Anordnung der Elemente des »Raumes« von Lage D müsse wohl während des langen Aufenthaltes dort und im Laufe des außerordentlich intensiven Studiums bei allen drei Männern eine Art Gehirnwäsche hervorgerufen haben, möglicherweise durch eine Art Röhrenblitze mit bestimmten Frequenzen. Es war noch nicht bekannt, um welche Elemente des »Raumes« es sich dabei handeln könnte,
obwohl die Hologramme von Fachleuten sehr intensiv ausgewertet wurden. Psyche XV sollte folglich die Örtlichkeit noch viel gründlicher erforschen, aber alle nur erdenklichen Vorsichtsmaßnahmen zum Schutz und zur Überwachung der Astronauten treffen. Die rätselhaften Elemente von Lage D waren so zahlreich und so kompliziert miteinander verwoben, daß der Versuch, sie irgendwie zu ordnen und zu bewerten für einen einzigen Kopf fast unmöglich erschien. Einige Marsfachleute waren davon überzeugt, daß die seltsamen Eigenschaften des »Raumes« ein geologischer Zufall seien und so aussagekräftig wären wie etwa eine Felsformation, die Jahresringe eines Baumes oder ein Spektrum. Andere wieder waren ebenso davon überzeugt, daß intelligente Wesen die »Stadt« erbaut hatten und sie nur eingehend studiert werden müßte, um etwas über ihre Natur und die Art, wie ihre Gehirne gearbeitet hatten, zu erfahren, also von unvorstellbaren Wesen, die vor 600 Millionen Jahren – diese Datierung war nun nach der Strahlungsabbaumethode absolut sicher – dort gelandet sein mußten. Diese Datierung war allerdings ein fast übermenschlicher Job. T. A. Newman vom Smithsonian Institut drückte sich treffend aus: »Archäologen sind daran gewöhnt, aus den einfachsten und geringsten Dingen eine Menge an Informationen herauszuholen, aus Scherben, einem Stückchen Flint, hier einem Mauerstück, dort einem Grab. Aber was dann, wenn wir von einer uralten Zivilisation nichts haben als nur ein sehr kompliziertes Stück, kompliziert in einem mehr als technischen Sinn. Vergleichen wir es mit einer Ausgabe von Shakespeares Hamlet. Und nehmen wir einmal an, daß die Forscher, die diese Ausgabe
finden, nicht humanoid sind, keine Bücher kennen, kein Theater haben, nicht sprechen, schreiben oder denken wie wir es tun. Was werden sie mit diesem kleinen Artefakt anfangen, mit diesem offensichtlichen Beweis eines Zweckes, einer Kompliziertheit, mit dieser Wiederholung bestimmter Elemente und der Nichtwiederholung anderer, mit der eingeschränkten Regelmäßigkeit der Zeilenlänge und so weiter? Wie sollen sie den Hamlet lesen?« Für jene, die diese Hamlet-Theorie akzeptierten, war der erste Schritt der Einsatz von Computern, und man setzte auch wirklich eine ganze Anzahl davon ein, um die verschiedenen Elemente von Lage D zu analysieren: Raumaufteilung, Größe, Tiefe und den sogenannten »Taubenschlag«, die Proportionen des ersten, mittleren und dritten »Unterraumes«, die ungewöhnlichen akustischen Eigenschaften des »Raumes« im ganzen. Nichts aus diesem Programm hatte bis jetzt sichere Beweise für eine bewußte Planung oder ein vernünftiges Muster erbracht, nichts, genauer gesagt, mit Ausnahme eines Programmes, das von Decelis und Hughes in den neuen Algebraic V der NASA eingespeist worden war; hier hatte man ein Ergebnis bekommen, das aber auch nicht als verständlich bezeichnet werden konnte. Die von der NASA-Leitung schüttelten sich entsetzt, und die paar Wissenschaftler, denen Decelis den Ausdruck gezeigt hatte, lachten herzlich, ehe er als mögliche Fälschung, jedenfalls aber als große Enttäuschung verschwand. Der Ausdruck hatte folgenden Wortlaut: FRAGE TAUBENSCHLAG ORT D MARS
SEKTOR NEUN DECELIS HUGHES GOTT GUT GOTT GOTT GUT DU BIST GOTT NEUFASSUNG NEUFASSUNG TOTALITÄT VERSTÄNDNIS UNSINN WAHRNEHMEN UNSINN NEIN SINN WIRKLICH GUTER GOTT WAHRNEHME ERHALTEN RICHTLINIEN RICHTUNG FORTFAHREN INFORMIERT UNINFORMIERTE GOTT GOTT GOTT GOTT GOTT ENDE Shapir kam herein und fand Hughes auf dem Bett liegen; das tat er jetzt die meiste Zeit. Dabei trug er immer seine Schutzbrille. Er sah weiß und krank aus. »Ich denke, Sie haben übertrieben.« Hughes gab keine Antwort. Shapir setzte sich. »Sie schicken mich zurück nach New York«, sagte er nach einer Weile. Hughes antwortete nicht. »Temski ist entlassen, wissen Sie. Er ist jetzt unterwegs nach Florida. Mit seiner Frau. Ich konnte nicht herauskriegen, was für Sie geplant ist. Ich fragte –« Nach einer langen Pause vervollständigte er den Satz. »Ich bat um weitere zwei Wochen hier bei Ihnen. Nichts zu machen.« »Ist schon gut«, sagte Hughes. »Ich möchte aber in Verbindung mit Ihnen bleiben, Geraint. Briefe können wir ja offensichtlich nicht schreiben. Aber es gibt Telefon. Und Tonbänder. Ich
lasse Ihnen einen Kassettenrekorder da. Wenn Sie sprechen wollen, rufen Sie mich bitte an. Können Sie mich nicht erreichen, sprechen Sie auf Band. Es ist ja nicht dasselbe, aber –« »Sidney, Sie sind ein sehr guter Mensch«, sagte Hughes leise. »Ich wollte –« Nach einem Moment setzte er sich auf. Er griff an sein Gesicht und nahm die Schutzbrille ab. Sie paßte so genau um seine Augen, daß er ziemlich lang dazu brauchte. Als er sie abgenommen hatte, ließ er die Hände sinken und schaute quer durch den Raum zu Shapir. Seine Augen mit den durch die lange Lichtlosigkeit stark vergrößerten Pupillen waren fast ebenso schwarz wie seine Schutzbrille. »Ich sehe Sie«, sagte er. »Verstecken spielen. Ich suche. Sie sind ES. Wollen Sie wissen, was ich sehe?« »Ja«, bat Shapir leise. »Ein Fleck. Ein Schatten. Eine Unvollständigkeit. Ein Rudiment, ein Hindernis. Etwas völlig Unwichtiges. Sehen Sie, es tut Ihnen nichts Gutes, ein guter Mensch zu sein, nicht einmal –« »Und wenn Sie sich selbst ansehen?« »Genauso. Ganz genau dasselbe. Ein Hindernis, eine Belanglosigkeit. Ein Klecks auf dem Blickfeld.« »Blickfeld. Was ist das Blickfeld?« »Was meinen Sie?« fragte Hughes ruhig und müde. »Was ist ein Blickfeld? Was ist Sehen? Natürlich die Wirklichkeit. Ich wurde reprogrammiert, um die Wirklichkeit wahrzunehmen, um die Wahrheit zu sehen. Ich sehe Gott.« Er verbarg sein Gesicht hinter den Händen und bedeckte seine Augen. »Ich war ein nachdenklicher Mann«, sagte er. »Ich versuchte ein vernünftiger Mensch zu sein. Aber was ist schon die
Vernunft, wenn man die Wahrheit sehen kann? Sehen heißt glauben ...« Er schaute wieder zu Shapir auf, und seine dunklen Augen waren gleichzeitig durchdringend und blicklos. »Wenn Sie eine richtige Erklärung finden wollen, dann fragen Sie Joe Temski. Er verhält sich jetzt ruhig. Er wartet seine Zeit ab. Aber er ist es, der Ihnen etwas sagen kann. Und das wird er auch tun, sobald seine Zeit kommt. Er kann übersetzen, was er hört, in Worte übersetzen. Schwieriger ist es mit visuellen Wahrnehmungen. Die Mystiker hatten schon immer Schwierigkeiten, ihre Visionen in Worte zu bringen; nur die nicht, die DAS WORT bekamen, die DIE STIMME hörten. Die standen gewöhnlich auf und handelten, nicht wahr? Temski wird handeln. Aber ich will nicht. Ich weigere mich. Ich will nicht predigen. Ich will kein Missionar sein.« »Ein Missionar?« »Verstehen Sie denn nicht? Sehen Sie nicht, was dieser ›Raum‹ ist? Ein Trainingszentrum, ein Briefingraum, ein –« »Ein religiöses Zentrum? Eine Kirche?« »Nun, auf eine bestimmte Art. Ein Ort, wo man gelehrt wird, Gott zu sehen, Gott zu hören und Gott zu erkennen. Und Gott zu lieben. Ein Bekehrungszentrum. Ein Ort, wo man völlig umgekehrt wird! Und dann will man hinausgehen und die Erkenntnis Gottes den anderen bringen, den Heiden. Weil man jetzt weiß, wie blind sie sind, und wie leicht es ist, zu sehen. Nein, nicht nur eine Kirche, eine Mission. DIE MISSION. Und Sie verstehen DIE MISSION und kommen heraus mit DER MISSION. Sie waren keine Forscher. Sie waren Missionare, brachten die Wahr-
heit, brachten sie zu anderen und den künftigen Rassen, zu all den armen verdammten Heiden, die in tiefster Dunkelheit leben. Sie kannten die Antwort, und sie wollten, daß wir alle sie kennenlernen. Nichts sonst ist wichtig, sobald man dies begriffen hat. Es ist unwichtig, ob Sie ein guter Mensch sind oder ein schlechter, ob ich intelligent oder ein Idiot bin. Nichts in uns spielt eine Rolle, nur daß wir ganz triviale Träger der großen Wahrheit sind. Die Erde ist unwichtig, die Sterne sind unwichtig, der Tod ist unwichtig, nichts ist wichtig. Nur Gott ist wichtig.« »Ein fremder Gott?« »Nicht ein Gott. GOTT, der eine wahre Gott, der in allen Dingen ist. Überall. Ewig. Ich habe gelernt, Gott zu sehen. Ich brauche nur meine Augen zu öffnen, dann sehe ich das Angesicht Gottes. Und ich würde mein ganzes Leben dafür geben, nur noch einmal ein menschliches Gesicht zu sehen, einen Baum, nur einen Baum, einen Stuhl, einen ganz gewöhnlichen hölzernen Stuhl ... Sie können ihren Gott behalten, sie können auch ihr Licht behalten. Ich will die Welt zurück haben. Ich will Fragen bekommen, nicht die Antwort. Ich will mein eigenes Leben zurück haben, und auch meinen eigenen Tod!« Auf Empfehlung des Psychiaters, der den Fall Geraint Hughes übernahm, nachdem Shapir entlassen worden war, brachte man Hughes in ein Militärlazarett für Geistesgestörte. Gewöhnlich war er ein ruhiger Patient, der Anweisungen befolgte, und so hielt man ihn nicht unter strikter Überwachung. Nach elf Monaten Eingesperrtseins unternahm er unglücklicherweise einen erfolgreichen Selbstmordversuch. Er
schlitzte sich die Handgelenke mit einem Löffelstiel auf, den er durch Schleifen am Bettrahmen geschärft hatte. Es ist eine interessante Tatsache, daß er sich an jenem Tag das Leben nahm, als Psyche XV auf dem Mars zur Rückkehr auf die Erde aufbrach und Dokumente und Aufnahmen mitbrachte, die, vom Ersten Apostel ausgelegt, nun die ersten Kapitel der Erleuchtungen der Uralten bilden, die heiligen Texte der heiligen Universalkirche Gottes, die den Heiden das Licht brachte und der einzige Träger der Einen Ewigen Wahrheit ist. Oh, Narren, sagte ich, die dunkle Nacht So vorzuziehn dem wahren Licht. Ich tat es, doch nur der Wahnsinn Wagt davon insgeheim zu wispern. Der Bräutigam bestimmte diesen Ring Für keinen anderen als die Braut.
Originaltitel: FIELD OF VISION. Aus GALAXY 10/73 Copyright © 1973 by UPD Publishing Corporation
R. A. Lafferty STRANDGUT Das wichtigste Ereignis im Leben von Oliver Murex trat ein, als er vier Jahre alt war und eine Muschel fand. Es war eine helle, glänzende Muschel, aber der Junge war zu dumm. Sie war größer als sein eigener Kopf, und der kleine Oliver hatte einen ungewöhnlich großen Kopf. Aus der Höhlung lugten zwei Augen heraus, die intelligenter zu sein schienen als die Olivers. Oliver und die Muschel hatten die gleichen tiefen, schwarzen, glänzenden Augen, die entweder voll spöttischem oder falschem Leben oder völlig tot waren. Bei so glänzenden schwarzen Dingen war es schwierig zu sagen, was davon zutraf. Die große Muschel war sicherlich an jenem Morgen das leuchtendste Ding am Strand, und niemand hätte es übersehen können. Aber George, Hector, August, Mary, Catherine und Helen hatten sie übersehen, und alle waren älter und scharfäugiger als Oliver. Sie hatten Muscheln gesucht und waren in einer locker aufgefächerten Reihe über den Sand gegangen, und der kleine Oliver war hinter ihnen hergetrottet, hatte an nichts gedacht und nach nichts Ausschau gehalten. »Warum hebt ihr nur die blöden kleinen auf und laßt die große Muschel liegen?« piepte er hinter ihnen. Sie drehten sich um, sahen die Muschel und waren verblüfft. Sie war aber auch verblüffend. Warum hatten sie ausgerechnet diese Riesenmuschel nicht gesehen? (Sie mußte zuerst von einem gesehen wer-
den, der mit ihr übereinstimmte. Dann konnte sie auch von anderen, überlegenen Personen erkannt werden.) »Ich hätte sie ja auch nicht gesehen, aber sie hat mir doch gepfiffen«, sagte Oliver. »Das ist eine hebräische Spiralschnecke!« rief George, »und die gibt's in diesem Teil der Welt ja gar nicht.« »Das ist sie nicht. Es ist eine Musikspiralschnecke«, behauptete Mary. »Und ich meine, das ist eine NeptunSpiralschnecke«, riet Hector. »Ich wollte, ich könnte sagen, es ist eine Helen-Spiralschnecke«, sagte Helen. »Aber das ist sie nicht. Das ist überhaupt keine Spiralschnecke. Das ist eine Alphabet-Kegelschnecke.« Das waren die muschelbewußtesten Kinder am Strand, wenigstens in diesem Sommer, und sie hätten ja wirklich eine Spiral- von einer Kegelschnecke unterscheiden können müssen – bis auf den kleinen Oliver. Wie konnte es zu solchen Meinungsverschiedenheiten unter ihnen kommen? »Helen hat recht, es ist eine Kegelschnecke«, sagte August. »Aber keine Alphabet-Kegelschnecke, sondern eine Barthelemy-Kegelschnecke. Eine sehr große sogar.« »Das ist eine Prinz-Kegelschnecke«, erklärte Catherine. Aber alle hatten unrecht. Es war die tödliche Geographie-Kegelschnecke, wenn sie auch dreimal zu groß war, um eine sein zu können. Wie sollten so scharfäugige Kinder nicht eine so fast legendäre Beute erkennen? Oliver behielt seine Kegelschnecke in all den Jahren seines Heranwachsens. Oft lauschte er den entfernten
Geräuschen darin, so, wie es immer Menschen gab, die an Muscheln horchten. Eine Kegelschnecke ist allerdings kein echter Ozeanrauscher. Sie haben nicht das ferne Krachen, auch nicht das Röhren. Sie sind nicht dafür geformt, nicht wie eine Conch, nicht wie eine Vasenmuschel, auch nicht wie eine Scallop, nicht einmal wie die ganz gewöhnlichen Cowries, die Venusmuscheln oder die Helmmuscheln. Kegelmuscheln ergeben ziemlich stoßweise, scharfe Geräusche, die gar nicht von weither klingen. Sie ticken eher, als daß sie röhren. »Andere Muscheln röhren ihre Botschaften schon von weitem«, bemerkte Helen einmal. »Die Kegelmuscheln morsen sie.« Und das Klicken und Ticken der Kegelmuscheln klingt auch wirklich fast so wie das Geschwätz von Telegrafenapparaten. Mancher kleine Junge hat Teddybären oder Spielzeugpandas. Aber Oliver Murex hatte zum Freund seine große Muschel, die auch sein Spielzeug und seine Sicherheit war. Er nahm sie mit ins Bett und trug sie überall mit sich herum. Er verließ sich auf sie. Stellte man ihm eine Frage, so hielt er seine große Kegelmuschel ans Ohr und lauschte, dann erst gab er eine intelligente Antwort. Hatte er jedoch aus irgendeinem Grund seine Muschel nicht greifbar, so schien er keine intelligente Antwort auf irgendeine Frage geben zu können. Manchmal war neben oder unter der Muschel auf dem Boden oder Tisch eine Ansammlung kleiner Flecken oder staubiger Flöckchen zu entdecken. »Komm, laß mich dieses Zeug wegputzen«, sagte Mutter Murex einmal, als sie gerade mit dem Staubsauger herumgeisterte.
»Nein, nein, laß sie in Ruhe, sie gehen schon wieder hinein«, protestierte Oliver. Und die kleinen Flecken, Staubflöckchen oder was immer es auch war, zogen sich in die große Muschel zurück. »Ah, das Zeug ist ja lebendig!« rief die Mutter. »Ist nicht alles lebendig?« fragte Oliver. »Das ist eine Alphabet-Kegelschnecke, und das hab ich ja schon immer gesagt«, erklärte Helen. »Und diese kleinen Rutschdinger sind die Buchstaben des Alphabets, das von der Außenseite der Muschel runterfällt. Die Muschel muß sie wieder verschlucken, und wenn sie wieder verdaut sind, kommen sie erneut heraus, wo man sie dann an ihren Mustern erkennen kann.« Helen glaubte noch immer, daß dies eine AlphabetKegelmuschel sei. Aber das stimmte nicht, denn sie war eine tödliche Geographie-Kegelschnecke. Die kleinen Flecken, die von der Außenseite abzufallen oder auch von innen herauszukriechen und herumzulaufen schienen und wieder verschluckt werden mußten, könnten kleine Kontinente oder Seen gewesen sein, die aus der Geographie-Kegelschnecke herauskamen; sie hätten auch vieles andere sein können. Waren es aber Alphabete (nun, das waren sie – unter anderem), dann waren es überaus komplizierte Alphabete, viel verwickelter als Helen ahnte. Es ist nicht absolut nötig, daß alle Kinder in einer Familie klug sind. Sind sechs von sieben Kindern klug, dann ist das schon recht ordentlich. Die Familie konnte sich den großköpfigen, ein wenig schielenden Oliver mit den komischen Augen leisten, auch wenn er etwas zurückgeblieben war. Meistens schwindelte er sich ganz gut durch. Hatte er seine Muschel dabei,
ging es überhaupt immer gut. Einmal, er war noch in der Grundschule, wurde ihm die Gesellschaft seiner Muschel untersagt. Und da fiel er dann bei jeder Prüfung mit Pauken und Trompeten durch. »Ich sehe Olivers Problem als einen Mangel an Intelligenz«, erklärte Olivers Lehrer dem Vater Murex. »Und Intelligenzmangel wird meistens im Geist gefunden.« »Ich dachte auch wirklich nicht, er sei in den Füßen angesiedelt«, entgegnete Olivers Vater. Aber er wandte sich an einen Psychologen, der seinen begriffsstutzigen Sohn von Kopf bis Fuß untersuchen mußte. »Er ist ein bißchen anders als ein Schizo«, meinte der Psychologe, als die Untersuchung abgeschlossen war. »Er hat zwei konzentrische Persönlichkeiten. Wir bezeichnen sie als Kern- und Mantelpersönlichkeiten, und zwischen ihnen besteht eine gewisse Trennung. Die Mantel- oder äußere Persönlichkeit ist in Olivers Fall recht trübselig. Die innere, die Kernpersönlichkeit, ist jedoch klug genug, doch er ist nur mittels eines besonderen Gegenstandes in der Lage, mit der äußeren Welt in Kontakt zu kommen. Ich glaube, daß Olivers Unterbewußtsein nun in diesem Objekt liegt, und seine Intelligenz ist daran gebunden. Diese Muschel dort ist mental ja recht gut im Gleichgewicht. Schade, daß sie nicht ein Junge ist. Haben Sie eine Ahnung, an welchen Gegenstand sich Oliver so sehr klammert?« »Diese Muschel dort. Die hat er schon eine ganze Weile. Soll ich sie etwa wegschaffen?« »Das liegt ganz bei Ihnen. Viele Väter würden das
in einem solchen Fall tun; fast ebenso viele würden nein sagen. Wenn Sie ihm die Muschel wegnehmen, wird der Junge sterben. Damit ist natürlich auch das Problem gelöst. Ein Problemkind haben Sie dann nicht mehr.« Mr. Murex seufzte und dachte darüber nach. Den ganzen Tag hindurch mußte er Entscheidungen treffen, und er mochte es gar nicht, wenn dies auch noch abends von ihm verlangt wurde. »Ich denke, die Antwort ist nein«, sagte er schließlich. »Ich werde die Muschel und folglich auch den Jungen behalten. Beide sind Stücke, über die man sich gut unterhalten kann. Niemand sonst hat so etwas, das wie das eine oder andere aussieht.« Wirklich, sie waren einander immer ähnlicher geworden, Oliver und die Muschel, beide großköpfig und käferäugig, und beide schienen immer ruhig zuzuhören. Oliver machte sich in der Schule ganz gut, nachdem man ihm wieder erlaubt hatte, die große Muschel ins Klassenzimmer mitzunehmen. Eines Abends kam ein Mann in das Murex-Haus zu Besuch. Dieser Mann war zufällig Konchologe, das heißt, er war ein Muschelfachmann. Und er sprach auch über Muscheln. Er hatte kleine eingewickelte Muscheln in den Taschen und erklärte sie. Dann bemerkte er Olivers große Muschel, und da zog er sich fast einen Riß am hinteren Adduktormuskel zu. »Das ist ja eine Geographie-Kegelschnecke!« rief er. »Eine ganz riesenhafte! Und sie lebt auch noch!« »Ich denke, das ist eine Alphabet-Kegelschnecke«, sagte Helen. »Ich meine eher, es ist eine Prinzen-Kegelschnek-
ke«, meldete sich Catherine. »Nein, nein, das ist eine Geographie-Kegelschnecke, und sie lebt!« »Oh, ich vermute schon seit langer Zeit, daß sie lebt«, warf Vater Murex ein. »Aber verstehen Sie denn nicht? Es ist ein Riesenexemplar der tödlichen Geographie-Kegelschnecke.« »Ja, ich denke schon. Niemand sonst hat eine solche«, sagte Vater Murex. »Wo halten Sie die?« wollte der Konchologe wissen. »Womit wird sie gefüttert?« »Oh, sie hat hier ihre absolute Freiheit, aber sie bewegt sich ja kaum. Und wir füttern sie überhaupt nicht. Sie gehört meinem Sohn Oliver. Er legt sie an sein Ohr und horcht oft in sie hinein.« »Mensch, bei allen galoppierenden Gastropoden! Die wird dem Jungen noch glatt ein Ohr abbeißen!« »Hat sie aber noch nie getan.« »Aber das Ding ist tödlich giftig! Es sind schon Menschen am Stich dieser Kegelschnecke gestorben.« »Ich glaube nicht, daß so etwas auch in meiner Familie schon einmal passiert ist. Ich werde meine Frau fragen. O nein, das ist ja gar nicht nötig. Ich bin sicher, daß noch niemand aus meiner Familie am Stich dieser Schnecke gestorben ist. Ich erinnere mich genau, daß überhaupt noch nie jemand einmal gestorben wäre.« Der Mann, dessen Hobby die Muscheln und Schnecken waren, besuchte die Familie Murex danach nur noch höchst selten. Er hatte Angst vor dieser riesigen Muschel. Eines Tages lieferte der Schulzahnarzt einen sonderbaren Bericht über das, was in Olivers Mund vorging.
»Kleine Krabben fressen die Zähne des Jungen auf, mikroskopisch winzige Krabben«, erzählte der Zahnarzt, ein sehr nervöser Mann, Mr. Murex. »Ich habe noch nie von mikroskopischen Krabben gehört«, erwiderte Mr. Murex. »Haben Sie die auch wirklich gesehen und überprüft?« »O nein, gesehen habe ich sie nicht. Wie sollte ich das? Aber seine Zähne sehen aus, als seien sie von mikroskopischen Krabben angefressen. Ah, ich glaube, ich bin urlaubsreif. Nächste Woche wollte ich wegfahren.« »Verderben die Zähne sehr schnell?« wollte Mr. Murex vom Zahnarzt wissen. »Nein, das ist es ja, was mir so rätselhaft erscheint. Sie werden nicht schlecht. Der Schmelz verschwindet, weil er von winzigen Krabben abgefressen wird, und darin bin ich mir sicher. Aber er wird durch etwas anderes ersetzt, durch ein muschelschalenähnliches Material.« »Oh, das ist dann ganz in Ordnung«, meinte Mr. Murex. »Nächste Woche wollte ich, wie gesagt, Urlaub machen. Ich rufe jemanden an, um zu sagen, daß ich sofort abreise.« Der Zahnarzt reiste also ab und kehrte niemals mehr zu seinem Job oder in seine Wohnung zurück. Später hörte man, erst habe er die Zahnheilkunde aufgegeben, dann auch sein Leben. Aber der kleine Oliver wuchs heran, oder besser gesagt: er wuchs aus. Er schien fast nur aus Kopf zu bestehen, und sein zwergenhafter Körper war nicht viel mehr als eine Art Blinddarm. Er und die große Muschel wurden einander immer ähnlicher, das war
von einem Tag zum anderen festzustellen. »Ich schwöre, manchmal kann ich gar nicht sagen, wer von euch Oliver ist«, sagte Helen Murex einmal. Sie mochte ihren Bruder Oliver und seine Muschel lieber, als dies von seinen anderen Geschwistern behauptet werden konnte. »Wer von euch beiden bist du?« »Ich bin's.« Olivers Geographie-Kegelmuschel lachte. »Ich bin's«, lachte auch Oliver Murex. Dann kam Oliver Murex aus der Schule und trat in das Familiengeschäft ein. Die Familie Murex war eine Firma der Nachrichtenübermittlung, praktisch das größte Unternehmen der Welt in dieser Art. Oliver hatte ein Büro gleich neben dem seines Vaters. Von ihm erwartete man nicht viel. Er schien immer noch ein recht langweiliger Junge zu sein, aber sehr oft gab er fast sofort Antworten auf Fragen, die andere nicht einmal in einer Woche beantworten konnten. Nun, es war entweder Oliver oder seine Muschel, die diese plötzlichen Antworten gab. Ihre Stimmen waren einander nun so ähnlich wie ihr Aussehen, und dem Vater war es ziemlich egal, wer von ihnen antwortete, solange die Antworten schnell und richtig kamen. Und sie waren beides. »Oliver hat eine Freundin«, neckte ihn Helen eines Tages. »Sie sagt, sie werde ihn heiraten.« »Wie kommt er zu einer Freundin?« fragte Bruder Hector erstaunt. »Ja, wie ist das möglich?« wollte auch Mr. Murex wissen. »Schließlich sind wir ja sehr reich«, erinnerte ihn Helen.
»Oh, ich wußte gar nicht, daß die junge Generation überhaupt an Geld interessiert ist«, erwiderte Mr. Murex. »Und schließlich ist es ja Brenda Frances«, sagte Helen. »Oh, natürlich ... Ich habe bemerkt, daß sie an Geld interessiert ist«, sagte Mr. Murex. »Komisch, daß ein so rezessiver Zug in einer jungen Dame von heute auftritt.« Brenda Frances arbeitete in der Firma Murex. Brenda Frances wollte den rundköpfigen Oliver des Geldes wegen haben, das an ihm kleben würde, nur das ganze Schmierentheater, das sich ebenfalls um den jungen Mann abzuspielen schien, interessierte sie nicht. Doch zum erstenmal im Leben wurde Oliver nun richtig wach, angeregt von Brenda Frances' offensichtlichem Interesse. Er tat sogar ein bißchen poetisch und künstlerisch, wenn er mit ihr sprach, und meistens ging es um seine große Muschel. »Weißt du, daß sie gar nicht an jener Küste heimisch war, wo wir sie fanden?« fragte Oliver. »Er sagt mir, er komme aus dem sehr fernen Norden, aus der See Moyle.« »Die verdammte käferäugige Muschel!« beklagte sich Brenda Frances. »Das Ding sieht ja fast lebendig aus. Mir macht es nichts aus, wenn mich die Männer begaffen, aber von einer Muschel lasse ich mir's nicht gern gefallen. Und ich glaube, eine See namens Moyle gibt es gar nicht. Hab noch nie was davon gehört. Im sehr fernen Norden ist gar keine See, da ist nur die Arktis.« »Oh, aber er sagt, das sei sehr weit im Norden«,
versicherte ihr Oliver mit der Muschel am Ohr. (Einmal sagte Helen: »Wenn ihr beide die Köpfe zusammensteckt, weiß man nicht, wer wer ist und wessen Ohr an welcher Muschel lauscht.«) »Sehr und ganz weit im Norden. Und sehr weit jenseits des Arktischen Ozeans.« »Weiter nördlich als bis zur Arktis geht es ja gar nicht«, hielt ihm Brenda Frances vor. »Das ist doch der nördlichste Norden.« »Nein. Er sagt, die See Moyle sei noch viel weiter.« Oliver wiederholte das Wispern und Ticken der Muschel. »Ich meine, vielleicht ist die See von Moyle gar nicht auf unserer Welt.« »O du großer, glattgescheuerter Kahlkopf!« schimpfte Brenda Frances. Die Sache lief hier gar nicht gut. Um Oliver herum gab es soviel blühenden Unsinn, daß er die ganze angenehme Aussicht auf Geld aufwog. »Weißt du, daß er Begleiter hat?« fragte Oliver. »Sehr winzige?« »Wie Flöhe?« »Wie Krabben. Das sind wirkliche Krabben, fast unsichtbar, mikroskopisch winzige Fiedlerkrabben. Sie heißen Gelasimus Notarii oder sogenannte Schriftkrabben. Warum, das weiß ich nicht. Sie leben in seinem Mund und Magen. Wenn sie aber nichts zu tun haben kommen sie heraus. Sie tun sehr viel Arbeit für ihn, seinen ganzen Schriftkram, und sie sind immer da. Ich arbeite ja auch schon seit langer Zeit mit ihnen, aber ich habe es noch nicht sehr gut gelernt, sie ständig richtig zu beschäftigen.« »O ihr großen jaulenden Wölfe!« sprudelte Brenda Frances heraus. »Wußtest du, daß die alten Griechen
Wein in Kegelschnecken transportierten?« fragte Oliver. »Das taten sie deshalb, weil Kegelschnecken innen viel größer sind als außen. Sie gossen ein halbes Dutzend Kegelschnecken in eine Weinamphora, um den Wein zu mischen, und dann gossen sie eine, zwei oder drei Amphoren Wein in jede Kegelschnecke. Diese Kegel haben so viele innere Gänge, daß es praktisch gar keine Grenzen für ihr Fassungsvermögen gibt. Die Griechen beluden Schiffe mit den weingefüllten Kegelschnecken und verschickten diese in die ganze Welt. Mit den Kegeln konnten sie dreimal soviel Wein verschiffen als sie's sonst mit den gleichen Schiffen gekonnt hätten.« »Ja, Weinmuscheln, die brauchen wir wirklich«, murmelte Brenda spöttisch. »Ich werde ihn mal fragen«, sagte Oliver. Beide legten ihre Köpfe aneinander, Oliver und die Muschel. »Er sagt, diese Kegel sind niemals Weintrinker geworden«, verkündete Oliver. »Er sagt, er kann den Wein trinken oder in Ruhe lassen.« »Wenn wir verheiratet sind, mußt du diese dummen Gespräche aufgeben«, sagte Brenda Frances. »Woher hast du das eigentlich?« »Von der Muschel. Aber ich sage dir noch was. Die griechischen Friese, die Basreliefs, die von manchen Muschelfachleuten studiert werden, sind natürlich keine Bildhauerarbeiten. Und griechisch sind sie erst recht nicht. Das sind Bilder von Dingen von anderen Welten, die nur griechisch aussehen. Es sind aber nicht einmal Bilder von Leuten, sondern von irgendeinem Seetang aus der See von Moyle, der nur wie Erdenmenschen aussieht. Ich hoffe, daß damit mein Geheimnis aufgeklärt ist.«
»Oliver, ich habe Pläne für uns«, sagte Brenda Frances bestimmt, »und diese Pläne scheinen mir mit Worten schlecht erklärbar zu sein. Ich habe immer geglaubt, daß die Intimität einer halben Stunde viel mehr wert ist als ein ewiges Gespräch. Komm jetzt, wir sind allein, bis auf dieses alte Seeungeheuer.« »Ich frage aber lieber zuerst meine Mutter«, sagte Oliver. »Mir scheint, wegen dieser Intimität gibt es doch ein paar Fragen, und niemand hat je gedacht, daß sie sich überhaupt einmal für mich ergeben könnte. Ich frag sie lieber.« »Deine Mutter ist zu Besuch bei ihrer Schwester in Peach Beach«, sagte Brenda Frances. »Dein Vater ist beim Angeln auf der Cat-Insel. George und Hector und August sind auf Geschäftsreisen. Mary und Catherine und Helen machen irgendwo in Politik. Zum erstenmal sind sie alle zusammen aus der Stadt weg. Ich bin zu dir gekommen, damit du dich nicht einsam fühlst.« »Mit meiner Muschel fühle ich mich niemals einsam. Du meinst also, das mit der Intimität wäre in Ordnung?« »Ich zweifle nicht daran, aber es wäre ja einen Versuch wert«, meinte Brenda Frances. »Für mich bist du der größte Haupttreffer in der ganzen Stadt. Wo sonst finde ich eine so weiche Birne, an der so viel Geld hängt?« »Wir haben einmal in einem Buch eine Verführungsszene gelesen«, sagte Oliver. »Das war komisch und ein ziemlicher Spaß.« »Wer ist wir?« »Die Muschel und ich.« »Wenn wir verheiratet sind, werden wir das mit
dem Wir schon abstellen«, versprach Brenda Frances. »Aber wie kann die Muschel lesen?« »Mit den Augen, so, wie andere auch. Und die Schriftkrabben übertragen das Gelesene für ihn. Er sagt, solche Verführungsszenen sind dort, woher er kommt, viel lustiger. All diese Verführer versammeln sich nach der ersten hohen Flut nach dem Vollmond. Die Burschen sind alle auf der einen Seite des Flutbeckens, dann pfeift ihr Anführer, und sie legen ihre Milch im Flutwasser ab. Und die weiblichen Muscheln – das ist eine irdische Ausdrucksweise, denn dort sagen sie etwas ganz anderes – sind auf der anderen Seite des Flutbeckens und legen ihren Rogen in das Wasser. Dann pfeift der Anführer wieder, und das ist dann die Verführung. Noch besser ist es wenn beide Monde noch am Himmel stehen. Über der See von Moyle gibt es nämlich zwei Monde.« »Komm schon, Oliver«, drängte Brenda Frances. »Dann kannst du pfeifen, wenn du unbedingt willst, aber dieses Gewäsch über die komische See muß aufhören.« Sie nahm den großköpfigen, kurzbeinigen Oliver unter den Arm und ging mit ihm in das Zimmer, das sie als Verführungsraum ausgewählt hatte. Und die Muschel folgte. »Wie kann denn die Muschel ohne Beine überhaupt laufen?« wollte Brenda Frances wissen. »Er geht ja gar nicht. Er bewegt sich nur. Ich werde das auch bald können.« »Aber das Ding geht doch nicht mit uns ins Bett, Oliver?« »O doch, aber er sagt, er will nur beim erstenmal zuschauen. Du kannst ihn nämlich gar nicht reizen.« »Ah, na gut. Aber ich sag dir, wenn wir verheiratet
sind, gibt's da allerhand Veränderungen.« Sie drehte die Lichter aus, als sie fertig war. Aber sie waren noch keine fünf Sekunden in der Dunkelheit, als sich Brenda Frances schon beklagte. »Warum ist denn auf einmal das ganze Bett so schleimig?« »Muscheln mögen es so. Damit fühlt er sich eher an seinen Ozean erinnert.« »Au! Dieses elende Krabbelzeug! Etwas hat mich gebissen! Sind da irgendwelche Käfer oder so?« »Nein, das sind nur die kleinen Krabben«, antwortete Oliver. »Aber er sagt, die beißen nur Leute, die sie nicht mögen.« »Moment mal, ich werde das Zeug aus dem Bett hinauswerfen.« »Das kannst du nicht. Die sind so klein, daß du sie kaum sehen kannst, und die klammern sich an. Und außerdem müssen sie da sein.« »Warum?« »Das sind Buchstabenkrabben. Sie machen Notizen.« Brenda Frances verließ Bett und Haus in überstürzter Eile. »Der beste Hauptgewinn der Stadt und Schnecken«, maulte Brenda. »Es gibt ja noch andere Städte. Irgendwo muß es doch auch noch einen Dummkopf aus einer geldschweren Familie geben, einen, der nicht einen ganzen verdammten Ozean mit ins Bett bringt.« Wenig später erfuhr man, Brenda Frances habe die Stadt in wütender Eile verlassen. »Diese Verführungsszene war sehr viel weniger befriedigend als in diesem Buch«, erklärte ihm die Muschel über die Buchstabenkrabben. »Wir von der See
von Moyle tun solche Sachen viel besser.« Auf diese Art erhielt sich Oliver seine Tugend. Schließlich war er ja auch für ganz andere Dinge bestimmt. Eine Außenweltperson aus großer und reicher Familie auf dem Gebiet der Nachrichtenübermittlung kam und besuchte Mr. Murex in seinem Haus. »Wir hatten natürlich Ihre Ankunft nicht auf diese Weise erwartet«, sagte Mr. Murex, hatte aber keine Ahnung, wie der andere angekommen war; er war nur ganz einfach da. »Oh, ich wollte nicht auf ein Fahrzeug warten. Sie sind so langsam. Ich übertrug mich eben selbst«, erklärte der Besucher. Sie hatten einander als Wirtschaftsgrößen kennengelernt. Mr. Murex lag sehr viel daran, daß er und seine Familie einen guten Eindruck machten auf diesen so überaus vornehmen Besucher. Er dachte sogar daran, Oliver zu verstecken, aber das wäre ganz bestimmt ein Fehler gewesen. »Das ist aber ein feines Exemplar«, sagte der Besucher. »Wirklich erlesen. Er könnte fast von uns zu Hause stammen.« »Das ist mein Sohn Oliver«, sagte Mr. Murex erfreut. »Und sein Freund hier«, fuhr der Besucher fort, »ich schwöre, der ist von uns zu Hause.« »Da muß wohl ein Mißverständnis vorliegen«, meinte Mr. Murex. »Das andere ist eine Muschel.« »Was ist eine Muschel?« wollte der Besucher wissen. »Werden die Seen der Erde aus Muscheln gezeugt? Wie merkwürdig. Aber, Person Murex, hier muß ein Mißverständnis vorliegen. Das ist wirklich
ein Exemplar von uns zu Hause. Haben Sie denn keine Papiere dafür?« »Von solchen Papieren ist mir nichts bekannt. Was würden diese Papiere angeben?« »Oh, daß Sie für dieses Exemplar zum Beispiel einen guten Preis bezahlt haben. Wir wollen wirklich keinen zwischenweltlichen Konflikt über solche Kleinigkeiten, nicht wahr?« »Was verstehen Sie unter einem guten Preis? Wollen Sie mich das bitte wissen lassen?« »Das werde ich Ihnen mitteilen, wenn ich abreise«, erwiderte die außerweltliche Wirtschaftsgröße. »Wir einigen uns dann schon.« Diese Person hielt sehr viel von Verständigungsmöglichkeiten. Er zog Mr. Murex und George, Mary, Hector, Catherine, August, Helen und natürlich auch Oliver in eine angeregte Unterhaltung über diesen Gegenstand. Und alle waren erstaunt über seine schnellen Entscheidungen. Er kontrollierte sogar noch viel mehr Patente als die Familie Murex, einige von ihnen deckten sich fast mit denen der anderen. Die zwei Größen handelten Ausschließlichkeitsgrenzen ihrer Einflußgebiete aus, und der Besucher schob den ganzen Murex-Klan, ohne daß dieser es gewahr wurde, ein wenig von alten Gebieten weg. Als Mrs. Murex einmal auf dem Tisch eine Ansammlung kleiner Flecken und Staubwölkchen sah – er diente als Konferenz- wie auch als Eßtisch –, rief Mrs. Murex: »Oh, lassen Sie mich hier nur ein wenig sauber machen!« Diese kleinen Flecken und so waren hauptsächlich um den Besucher herum zu sehen. »Nein, nein, lassen Sie das nur«, sagte diese Person. »Ich liebe deren Konversation. Wirklich, das könnten
ja fast Notarii von meiner eigenen Welt sein.« Und von da an ging für die Familie Murex alles eigentlich erstaunlich gut, nachdem sie schon Angst gehabt hatten, sie würden verarmen. Der Besucher sah auf eine fremdweltliche Art recht gut aus. Er hatte keine Zähne, aber sein knochiger Ober- und Unterschnabel wurde mit allem fertig, sogar mit dem Steak, das dem Murex-Klan zu zäh erschienen war, und durchschnitt sogar Knochen und den Teller. »Das ist gebackener glasierter Lehm, wir benützen ihn auch. Eine feine Würze für meine Mahlzeit.« Begeistert mümmelte der Besucher die Scherben. »Und Sie haben sogar Muster und Farben darauf. Das machen wir manchmal bei Kleingebäck.« »Das ist ein unbezahlbares Stück Porzellan«, erklärte Mrs. Murex mit einer Stimme, die einer Klage verdächtig nahe kam. »Ja, unbezahlbar, köstlich und erlesen«, bestätigte der Besucher. »Wollen wir jetzt den Kontrakt und die Vereinbarungen abschließen?« Einige wartende Stenographen kamen mit ihren Maschinen herein. Brenda Frances war nicht unter ihnen, sie hatte die Firma Murex und die Stadt schon verlassen. Die Stenographen nahmen mit ihren Geräten die Verträge und Vereinbarungen auf. »Und ich möchte ein wenig Zeit und Übersetzungsarbeit sparen, indem ich in meiner eigenen Sprache alles diesem Stenographen von meiner eigenen Welt eingebe«, kündigte die Person an. »Ah, das ist ja gar kein Stenograph, wenn Sie sich auch an die Stenographen Ihrer Welt erinnert fühlen könnten.« Mr. Murex versuchte, die Sache von vornherein klarzulegen. »Das ist eine Muschel.«
Aber der große Mann sprach in seiner eigenen Sprache zur Muschel. Und die Muschel pfiff. Dann eilten ganze große Flecken und Wölkchen fast unsichtbarer Buchstabenkrabben in die Muschel hinein, um zu arbeiten. Der Besucher sprach sehr schnell in einer fremdweltlichen Sprache, und sein Schnabel berührte dabei fast die Muschel. »Ah, die Geographie-Kegelschnecke, das ist nämlich dieses Ding«, erklärte Mr. Murex, um den Besucher zu warnen, »sie ist angeblich absolut tödlich.« »Die bringen nur Leute um, die sie nicht leiden können«, antwortete der Besucher und diktierte weiter. Die Buchstabenkrabben taten ihre Arbeit ausgezeichnet. Fertige Kontrakte und Vereinbarungen quollen aus der Mantelhöhle der Muschel. Und das ganze Geschäft war im Handumdrehen erledigt. »Das war's«, sagte der Besucher außerordentlich befriedigt, nachdem er die Papiere gegengezeichnet hatte. Mit seinem Schnabel pickte er ein winziges rituelles Keilchen aus der Wange seiner Gastgeberin, Mrs. Murex. Das war dort, woher er kam, die Verabschiedung. »Und jetzt der angemessene Preis für das Exemplar von zu Hause«, sagte er. »Ich finde solche Austausche immer sehr befriedigend und fruchtbar.« Er hatte einen Sack. Und in diesen Sack stopfte er den kurzbeinigen, großköpfigen Oliver. »Oh, das ist aber kein angemessener Preis«, protestierte Mr. Murex. »Ich weiß, er sieht ein bißchen ungewöhnlich aus, aber das ist mein Sohn Oliver.« »Oh, das ist schon ein angemessener Preis«, entgegnete der Besucher. Auf ein Fahrzeug wartete er
nicht. Die waren ihm viel zu langsam. Er bewegte sich selbst. Und er und Oliver waren auch schon verschwunden. So war also alles, was die Familie Murex noch an ihren verschwundenen Sohn und Bruder erinnerte, die Muschel, diese Geographie-Kegelschnecke. War sie wirklich von der Welt des Besuchers? Und wer kannte schon die wahre Geographie der GeographieKegelschnecke? Oliver saß am Strand der See von Moyle im fernen Norden. Das war aber nicht der kalte, ferne Norden, sondern ein warmer, sonniger Strand in einer anderen Welt weit im Norden. Und Oliver saß da, als gehöre er dazu. Eine Raumveränderung hatte es in Oliver nicht gegeben, nur im Laufe der Jahre eine ganz langsame, an sich kaum merkliche Anpassung, denn eine große Veränderung war ja auch nie nötig gewesen. Oliver war hell und glänzend, das glänzendste Ding an der sonnigen Küste. Er hatte noch immer seinen großen Kopf und seinen kleinen Körper; und zwei kleine, schwarze, glänzende Augen, die aus seiner Mantelhöhlung herausspähten. Oliver war jetzt viel eher eine Muschel, eine ganz besondere und sehr geschätzte Muschel.(Dort verwendeten sie ja diesen Ausdruck nicht. Muschel? War die See von Moyle einer Muschel entsprungen?) Sechs scharfäugige Kinder der örtlich herrschenden Spezies liefen eng aufgeschlossen über den sonnigen Sand, und ein kleineres siebentes Kind trottete hinterher, geistesabwesend und mit abwesenden Augen. Der große Mond war bereits untergegangen, doch der kleine hing noch ganz tief am Himmel und sah wie
eine Silbermünze aus. Und die Sonne war von einem überwältigenden Goldglanz. Die scharfäugigen Kinder hielten nach glänzendem Strandgetier Ausschau und fanden es auch. Und direkt vor ihnen war ein fast legendäres Stück, eine seltene Oliver-Kegelschnecke.
Originaltitel: BY THE SEASHORE Aus GALAXY 11/73 Copyright © 1973 by UPD Publishing Corporation
Harlan Ellison EIN FLECKCHEN ERDE Weil ich an einem Lymphdrüsenkrebs gestorben bin, wurde ich als einziger gerettet, als diese Welt verschwand. So etwas nennt man »spontane Remission«, und wenn ich es richtig verstanden habe, so ist das in der Welt der Medizin nicht ganz ungewöhnlich. Dafür gibt es auch keine Erklärung, der zwei Ärzte zustimmen würden, aber es passiert doch dann und wann. Ihre erste Frage wird die sein: Warum schreiben Sie das, wenn doch sonst alles auf der Welt verschwunden ist? Und meine Antwort darauf ist: Sollte ich verschwinden, und würden sich die Dinge ändern, dann sollte doch ein kleiner Bericht da sein für den oder das, was dann daherkommt. Das ist Heuchelei. Ich schreibe dies, weil ich ein denkendes Wesen mit einem enormen Ego bin, und ich kann den Gedanken nicht ertragen, daß ich hier war, verschwand und überhaupt nichts zurückließ. Weil ich nie Kinder haben werde, die meine Linie weiterführen, so daß wenigstens ein winziges Stückchen meiner Existenz erhalten bliebe, weil ich nie eine Kerbe in diese Welt schlage, weil es keine Welt mehr gibt ... weil ich niemals einen Roman schreiben oder eine Reklametafel bekleben werde und weil mein Gesicht auch niemals am Mount Rushmore für alle Zeiten festgehalten wird – deshalb schreibe ich dies. Darüber hinaus bin ich wenigstens beschäftigt. Ich habe alle drei Quader erforscht, die von dieser Welt noch geblieben sind, und, ganz offen gesagt, es gibt
kaum etwas, womit ich mich amüsieren könnte. Deshalb schreibe ich dies. Ich hatte ja immer die eklige Angewohnheit, mich selbst rechtfertigen zu müssen. Lassen Sie mich nur einmal ein vages Gerücht oder die Spur eines Klatsches über mich selbst hören, und schon verbringe ich Wochen damit, dem nachzugehen, es zu widerlegen und den zur Verantwortung zu ziehen, der diese Bemerkung gemacht hat. Nein, das ist doch wirklich lächerlich. Schon wieder muß ich mich selbst rechtfertigen. Diese Aufzeichnung ist nun einmal da, lesen Sie's, wenn Sie wollen, oder lassen Sie's sein, wenn Sie keine Lust haben. Damit ist die Sache doch erledigt. Ich war im Krankenhaus. Ein Endfall, wie man sagte. Sauerstoffzelt, überall steckten Schläuche und Röhren in mir, dauernd stand ich unter dem Einfluß von Sedativen, und trotz allem war der Schmerz das Übelste, das ich je kennengelernt hatte, denn er hörte niemals auf. Dann ging es mir auf einmal besser. Zuerst starb ich aber. Ich weiß, daß ich starb. Fragen Sie mich nicht, wie ich so etwas sagen kann, aber ich bin völlig sicher, daß ich die Wahrheit sage, und wenn Sie je einmal selbst gestorben sind, dann wissen Sie ja, wie es ist. Selbst unter dem Einfluß dieser Schlummerdroge, die sie in mich hineingepumpt hatten, war in mir noch immer ein Rest von Bewußtsein. Doch als ich starb, war dies so, als sei ich platt an den Kopf eines U-Bahnwagens geschnallt, mit ausgebreiteten Armen und Beinen das Gesicht dem Tunnel und der Schwärze zugewandt, und der Wagen raste mit einer Million-Meilen-Geschwindigkeit den Tunnel entlang. Ich war völlig hilflos. Die Luft wurde aus meinen
Lungen gepreßt, und der Zug raste den Tunnel entlang, einem winzigen Lichtpunkt entgegen. Die Geräusche blieben hinter mir zurück, und ich hörte eine wispernde Stimme, die immer wieder meinen Namen rief: Eu-ge-ne, Eu-ge-ne, Eu-ge-ne ... Schreiend raste ich diesem winzigen Lichtviereck am Ende des Tunnels entgegen, ich schloß meine Augen und sah es auch mit geschlossenen Augen. Und dann wurde ich immer noch rasender vorangeschleudert, mitten in dieses winzige Lichtviereck hinein, das mich blendete, und da wußte ich, daß ich tot war. Sehr viel später, es müssen wohl zweihundert Jahre gewesen sein aber vielleicht war es auch nur ein Tag oder vielleicht zwei, öffnete ich meine Augen, und da lag ich im Krankenhausbett mit einem Laken über meinem Gesicht. So lag ich fast einen ganzen Tag da. Ich sah das Licht der Deckenlampe durch das Laken. Niemand kam, um mir zu helfen, und ich fühlte mich unheimlich schwach und hungrig. Schließlich wurde ich zornig, und ich war so hungrig, daß ich es nicht mehr ertragen konnte. Also warf ich das Laken von meinem Gesicht und zog den letzten Schlauch aus meinem Arm. Ich nahm an daß dies ein Schlauch für intravenöse Ernährung war, und was noch in der Flasche war, hatte mich vor dem Verhungern gerettet. Ich stieg aus dem Bett und steckte meine Füße in die Pantoffeln. Meine Fersen waren rot und trocken wie die Fersen alter Frauen in einem Pflegeheim. In diesem lächerlichen Krankenhausnachthemd ging ich und suchte nach etwas Eßbarem. Erst konnte ich die Krankenhausküche nicht finden,
aber ich entdeckte einen Automaten für Süßigkeiten. Geld hatte ich ja keins dafür, aber nebenan war ein Stationszimmer. Und ich war so wütend, weil man sich gar nicht um mich kümmerte, daß ich einige Schubladen durchwühlte und endlich eine Handvoll Kleingeld fand. Ich aß vier große Kraftriegel, zwei MandelHersheys und eine ganze Schachtel von diesen rosafarbenen Kanadaminzdrops. Ich schmatzte noch an einem tropischen Fruchtbonbon und machte mich auf die Suche nach dem Krankenhauspersonal. Habe ich schon erwähnt, daß das Krankenhaus leer war? Natürlich waren alle weg. Das sagte ich Ihnen ja schon ganz zu Anfang. Aber ich brauchte ein paar Stunden, um mir über diese Tatsache klar zu werden. Ich zog mich an und ging hinaus. Alles sah so aus wie früher. Diese Stadt heißt Hanover, New Hampshire, wenn Sie's wissen wollen. Mit den Namen der Straßen und sonstigen Dingen von früher, als dies noch zur Welt gehörte, mag ich Sie gar nicht langweilen, denn alles hat von mir neue Namen bekommen. Jetzt ist es meine Stadt, sie gehört ganz mir, und deshalb beschloß ich, sie so zu nennen, wie es mir gefiel. Als diese Stadt noch in der Welt war, gab es hier ein Dartmouth College, es gab auch wundervolles Skigelände, und die Winter waren beißend kalt. Jetzt waren die Berge verschwunden, und seit ungefähr einem Jahr gab es keinen Winter mehr. Dartmouth ist ebenso verschwunden. Es lag außerhalb des Gebietes von ungefähr drei Straßenzügen, weil dies alles war, was blieb, als die Welt verschwand. Aber ein Pizzalo-
kal gibt es. Ich weiß nicht, wie man Pizza macht, wenn ich's auch versucht habe. Ich fürchte, das vermisse ich am meisten. Mein Gott, ist das nicht allzu weltlich? Die Welt gibt es doch nicht und doch scheine ich immer auf dieser Pizza herumzureiten. Welch bedauernswerte kleine Kreaturen wir Menschen doch waren! Sind. Ich bin ja noch. Ich war also wieder oder noch am Leben, und ich vermute, der einzige Grund, daß ich mit den übrigen nicht auch verschwand, war der, daß man mich für tot hielt. Ich war tot. Das muß wohl der Grund gewesen sein. Genau weiß ich das natürlich nicht, und ich vermute es nur. Es war auch der einzige vernünftige Schluß, weil sonst nichts einen Sinn zu ergeben schien. Wenn Sie glauben, ich sei schrecklich ruhig und vernünftig gewesen, obwohl das doch wirklich nicht dazu angetan war, dann dürfen Sie mir schon glauben, daß ich furchtbar verzweifelt war, als ich auf die Straße vor dem Krankenhaus hinausging und sah, daß niemand mehr da war. Ich begann zu gehen steckte meinen Kopf in einen Laden nach dem anderen und hielt nach irgendeinem Menschen Ausschau. Von Zeit zu Zeit blieb ich stehen, legte meine Hände um den Mund und schrie: »He! Leute! Eugene Harrison! He! Ist da jemand?« Nicht eine Seele war da. Als es die Welt noch gab, war ich Postangestellter. Ich stamme nicht aus Hanover, ich wohnte in White Sulphur Springs. Man brachte mich nur nach Hanover ins Krankenhaus, damit ich dort sterben konnte. Dann kam ich ans Ende der Welt, also ans Ende der Straße, wo das Krankenhaus stand, und da schaute
ich nur. Ich setzte mich, ließ meine Füße über die Kante baumeln und schaute. Schließlich drehte ich mich herum, lag auf dem Bauch und spähte über die Kante. Unter mir war eine große Schräge, unter dem Gehsteig war Erde, und ich konnte noch die Wurzeln heraushängen sehen, und das Stück Welt, auf dem ich dahintrieb, sah aus wie ein Keil. Unter dem Keil war nichts. Gar nichts. Ich denke aber, daß es doch nicht NICHTS war. Ich versuchte, mich etwa einen Monat später an einem Kletterseil hinunterzulassen, aber wenn ich das Seil über die Kante warf, dann wollte es nicht hinabfallen und hängen, es blieb einfach liegen. Vielleicht, meine ich, gibt es hier auch keine Schwerkraft mehr. Ich stand also auf und beschloß den Klumpen Welt zu umkreisen. Er maß etwa drei Straßenzüge im Quadrat, nur die Häuser, ein Stückchen Park, das Krankenhaus und ein paar kleine Geschäfte. Das Postamt war auch noch da. Etwas später verbrachte ich einen ganzen Tag damit, die Post zu sortieren, die sich hier angesammelt hatte, als die Welt verschwunden war. Dann machte ich einen der Schalter betriebsfertig, ölte die Räder der Post- und Paketkarren und nähte die aufgegangenen Nähte der Postsäcke mit dem schweren dicken Faden und der Monsternadel zu; jedes kleine Postamt ist damit ausgerüstet. Es war einer der langweiligsten Tage meines ganzen Lebens. Über mich selbst will ich gar nicht so viel sagen – schon wieder diese Heuchelei –, nur genug, damit Sie sich ein Bild von mir machen können, denn vergessen oder gesichtslos will ich nicht gern sein. Meinen Namen, Eugene Harrison, aus White Sulphur Springs,
habe ich ja schon genannt, und ich war Postangestellter. Verheiratet war ich nie, aber natürlich hatte ich ein paar Beziehungen zu Frauen, mindestens vier. Keine dauerte sehr lange. Ich glaube, die kriegten mich alle bald satt, aber das weiß ich natürlich nicht genau. Meine Bildung ist bescheiden; ich ging zwei Jahre nach Dartmouth, ehe ich die Schule verließ und bei der Post zu arbeiten begann. Studiert hatte ich Kunst und Literatur, und das heißt, daß ich daran dachte, vielleicht in die Werbung, zum Fernsehen oder zu einer Zeitung zu gehen oder etwas dergleichen zu tun. Aber das war Zeitverschwendung. Ich kann Dinge ordentlich zu Papier bringen, vielleicht sogar ein wenig gefällig, aber ein Schriftsteller bin ich ganz gewiß nicht. Ich kann nicht lange über einer Arbeit sitzen, da wachsen mir immer Ameisen im Sitzfleisch. Außerdem glaube ich, daß ich das Wort »sehr« viel zu häufig benütze. Ich wollte, ich könnte Ihnen erzählen, ich hätte etwas Heroisches oder Bemerkenswertes an mir gehabt, außer dem Sterben natürlich, aber ich bin ungefähr so wie alle anderen Leute, die ich je gekannt habe. Oder wie sie einmal waren. Es gibt sie ja nicht mehr. Und das ist die Wahrheit. Ich meine, man muß schon eine große Persönlichkeit sein, wenn man zugibt, daß man sehr gewöhnlich ist. Meine Socken paßten immer zum Anzug. Manchmal vergaß ich den Benzintank aufzufüllen, dann mußte ich mit einem Kanister zur nächsten Tankstelle laufen und Benzin holen. Manchmal drückte ich mich vor meiner Verantwortung. Gelegentlich machte ich eine galante Geste. Gemüse mag ich nicht. Mein Interesse galt dem Reisen und der Geschichte,
aber viel getan habe ich in der Beziehung auch nie. Einmal reiste ich im Sommer nach Yucatan, und ich las viele historische Bücher. Aber weder das eine noch das andere ist sehr interessant. Mir wäre ja auch viel lieber, ich könnte sagen, daß ich etwas Besonderes sei oder war, aber wie denn? Ich bin einunddreißig Jahre alt und verdammter Durchschnitt. Jawohl, verdammter Durchschnitt, und daran läßt sich, verdammt noch mal, nichts hin- oder wegreden. Ich bin ein Nichts, ein Niemand, und wenn Sie am Schalter Ihre Briefmarken kauften, haben Sie mein Gesicht nicht angeschaut oder sofort wieder vergessen, Sie arrogantes Schwein! Niemals haben Sie auch nur von mir Notiz genommen, niemals haben Sie mich gefragt, wie es mir geht, ob ich einen guten Tag hatte; und Sie haben auch niemals bemerkt, daß ich die Ränder von den Markenbogen, die ich Ihnen verkaufte, abnahm. Manche Leute sammeln ja ganze Bogen, aber die, die nur einzelne Streifen kaufen, mögen diese Randstreifen meistens nicht gern. Aber Sie haben von dem Dienst, den ich Ihnen da leistete, nicht einmal Kenntnis genommen! Darin war ich etwas Besonderes. Kleinigkeiten waren mir wichtig. Und Sie haben nicht einmal darauf aufgepaßt. Ich mag nicht gern noch mehr über mich erzählen. Hören Sie, das ist ungefähr alles, was vorgefallen ist, nicht was mir zustieß, denn ich bin Ihnen ja sowieso egal, also brauche ich Ihnen von mir auch nichts mehr zu erzählen. Bitte, entschuldigen Sie, was ich da eben geschrieben habe. Es war ein Ausbruch. Es tut mir leid. Und leid
tut mir auch, daß ich geflucht habe. Eigentlich wollte ich das ja gar nicht. Ich bin Lutheraner und gehe in die lutherische Erlöserkirche in White Sulphur Springs. Vielmehr, ich ging. Und mir wurde beigebracht, daß man nicht fluchen dürfe. Jetzt werde ich das erzählen, was geschehen ist. Ich ging um den ganzen Weltklumpen herum. Er war nicht sehr sauber abgehackt. Wer die Welt verschwinden ließ, hatte ziemlich schlampig gearbeitet. Die Straßen hörten einfach und recht abgerupft auf, die Telefondrähte hingen da herab, wo sie abgerissen worden waren, und einige verschwanden irgendwohin ins Leere und trieben wie Angelleinen auf dem Wasser. Erzählen müßte ich Ihnen ja auch noch, wie es jenseits der Weltkante aussah: wie ein winterlicher Schneefall, neblig und mit fallenden Lichtklecksen, die wie Schneeflocken aussahen, aber es war auch sehr dunkel. Durch die Dunkelheit konnte ich sehen. Das war es ja auch, was mir Angst einjagte: man sollte nicht durch eine solche Finsternis sehen können. Da draußen war auch ein Wind, doch er wehte nicht. Besser kann ich das nicht beschreiben. Sie müssen versuchen, sich das selbst vorzustellen. Es war auch nicht kalt oder heiß nur angenehm warm. Ich verbrachte also meine Tage in dem, was einmal Hanover gewesen war, und alle allein. An mir war nichts Heroisches. Nur in der ersten Woche habe ich meine Stadt etwa fünfzigmal vor Invasionen gerettet. Das könnte zwar bemerkenswert klingen, aber ich versichere Ihnen, das war es keineswegs. Als es zum erstenmal geschah, kam ich gerade aus dem Buchladen von Dartmouth an der Hauptstraße und hatte
mir etliche Taschenbücher unter den Arm geklemmt, die ich lesen wollte. Da kam dieser Wikinger brüllend die Straße entlang. Er war riesig groß, ein gutes Stück über sechs Fuß hoch, hatte in der Hand eine Axt mit Doppelschneide, die er drohend schwang, auf dem Kopf einen Helm mit zwei Hörnern und einen orangefarbenen Bart im Gesicht. Bekleidet war er mit Fellen und Lederstücken und einem Umhang aus Bärenfell. Er raste direkt auf mich zu, hatte blutunterlaufene Augen und schrie etwas in einer barbarischen Sprache, und aus all dem schloß ich, daß er fest entschlossen war, mich in Stückchen zu zerhacken. Ich hatte Angst, warf ihm die Taschenbücher ins Gesicht und wäre gerannt, hätte ich nur rennen können. Ich wußte jedoch sowieso, daß er mich einholen würde. Aber er tat dann folgendes: Er warf seine freie Hand in die Höhe, um die Taschenbücher abzuwehren, machte einen Bogen um mich herum und rannte von mir weg in eine Seitenstraße. Warum er das tat, begriff ich nicht, aber ich hob meine Taschenbücher wieder auf und rannte hinter ihm her. Ich lief, so schnell ich konnte, und das ist ziemlich schnell, und ich holte auch kräftig auf. Als er einmal über die Schulter schaute und mich herankommen sah, tat er einen Schrei und rannte wie ein Irrer. Und ich jagte ihn direkt über den Rand der Welt hinaus. Er rannte weiter, hinaus in die Dunkelheit mit dem sonderbaren Schneesturm, und da verschwand er auch nach einer Weile, aber ich sah ihn noch mit größter Geschwindigkeit rennen, bis er aus meinem Blickfeld verschwand. Ich hatte aber Angst, ihm zu folgen.
Etwas später am gleichen Tag wehrte ich einen Angriff von einem deutschen Stuka ab, der über die Hauptstraße fegte, dann einen Samurai-Krieger, danach einen Moro mit einem riesenhaften BatangasMesser, etwas später einen Ritter auf einem schwarzen Pferd, der mit eingelegter Lanze auf mich losging, ich wehrte Angriffe von Hunnen, Westgoten, Vandalen und einem Vietcong mit einem Maschinengewehr ab, eine Amazone mit einem Morgenstern, einen Straßenräuber aus Puerto Rico, einen Teddy Boy mit einem Totschläger, einen sehr zerrupften und dazu noch drogensüchtigen Anhänger der Kali mit einem geknoteten Seidenseil, einen venetianischen Schwertkämpfer mit einem Dolch für Linkshänder, und ich weiß nicht, was noch alles, und dies an einem einzigen Tag. So ging es aber die ganze Woche über weiter. Ich hatte alle Hände voll zu tun, wenn ich überhaupt ein bißchen zum Lesen kommen wollte. Dann hörte ganz unvermutet alles auf, und ich konnte endlich meinen Geschäften nachgehen. Aber nichts davon war heroisch. Ich war nur ein Teil einer neuen Ordnung. Erst dachte ich, man wolle mich testen, dann meinte ich, daß dies doch nicht zutreffen könne. Allmählich wurde mir das alles ziemlich langweilig, und ich stellte mich auf die Krankenhausstufen, damit jene, die für das ganze Theater verantwortlich waren, es auch hören konnten, als ich schrie: »Hört mal, ich will von dem Krampf nichts mehr wissen! Das ist doch alles Unsinn, also hört mit dem Quatsch auf!« Und der Quatsch hörte auf. Ich war erleichtert.
Fernsehen und Kino hatte ich nicht. Das Kino war weg. Auch Radio gab es nicht mehr, aber die Elektrizitätsversorgung funktionierte, ich hatte Musik- und auch Sprechplatten. Ich hörte Dylan Thomas zu, der Unter dem Milchwald las, Erroll Flynn erzählte die Geschichte von Robin Hood, und Basil Rathbone brachte Die Drei Musketiere. Ich fand das sehr interessant. Wasser hatte ich, aber Gas und Telefon gingen nicht. Ich hatte es recht gemütlich. Bei Tag gab es keine Sonne, bei Nacht keinen Mond, aber untertags sah ich, wie man bei Tag sehen sollte, und bei Nacht auch klar genug. Da sah ich sie auf den Stufen des Postamts sitzen. Ich glaube, das war ungefähr ein Jahr nach meinem Tod. Ich weiß, das klingt sehr verschroben, aber die Zeit ist jetzt etwas ganz anderes, und ich hatte niemanden mehr gesehen, seit die Invasoren aufgehört hatten, wie Irre in den Straßen herumzuschreien. Sie saß da, hatte die Ellbogen auf die Knie gestemmt, das Kinn auf die Handflächen gelegt. Ich ging die Straße entlang zu ihr und blieb vor dem Postamt stehen. Ich wartete darauf, daß sie aufspringe und etwas schreie, wie »Amok! Amok!« oder etwas dergleichen, doch das tat sie nicht. Sie schaute mich nur eine Weile an. Sie war schrecklich hübsch. Ich habe wenig Talent, die Leute zu beschreiben, wie sie aussehen, aber Sie können mir schon glauben, daß sie sehr hübsch war. Sie hatte ein dünnes weißes Kleid an, und das war durchsichtig, so daß ich sehen konnte, wie hübsch sie überall war. Ihr Haar war lang und grau, nicht von einem alten, sondern von einem jungen Grau, als möge sie eben graue Haare, weil sie elegant und modern
sein wollte. Sie wissen sicher, was ich jetzt ansteuern werde. »Nun, wie fühlen Sie sich?« fragte sie schließlich. »Mir geht es ganz gut. Danke sehr.« »Sind Sie jetzt ganz geheilt?« »Oh, ja, alles ist wieder recht ordentlich zusammengewachsen. Aber wer sind Sie? Und woher kommen Sie?« Sie machte eine Handbewegung zum Ende der Welt und um die Straße herum und zuckte die Achseln. »Ich weiß nicht. Ich bin hier nur so aufgewacht. Alles ist weg. Stimmt doch, oder?« »Ja, das stimmt. Seit ungefähr einem Jahr sind alle weg. Aber wo sind Sie aufgewacht?« »Hier. Ich sitze schon ungefähr eine Stunde da. Eben wollte ich mich ein bißchen orientieren. Ich dachte schon, ich sei ganz allein hier.« »Können Sie sich an Ihren Namen erinnern?« Da schien sie ziemlich verlegen zu sein. »Ja, natürlich. Ich heiße Opal Sellers. Ich komme aus Boston.« »Das hier war Hanover, New Hampshire.« »Wer sind Sie?« »Eugene Harrison. Aus White Sulphur Springs.« Sie sah sehr blaß aus. Ich sagte es nicht, aber dies war das erste, was ich an ihr bemerkte; nicht das durchsichtige Kleid, ihre Blässe. Sie war so weiß, als sei sie zu lange draußen im Schnee gewesen. Ich glaubte, ich könne das Blut unter ihrer Haut sehen, aber vielleicht habe ich mir das auch nur eingebildet. Ich weiß, jemand wird jetzt auf den Gedanken kommen, sie sei ein Geist oder ein Vampir oder sonst irgendeine fremdartige Kreatur gewesen, die nur als Mensch verkleidet war, aber das ist irgendwie Ge-
wäsch, wie Nero Wolfe in seinen Krimis sagen würde. Sie war eine richtige Person, nur das und nichts anderes, und all das andere Zeug können Sie ruhig vergessen, sogar bei all dem, was jetzt kommt. Sie war so echt wie ich auch. »Woher wußten Sie, daß ich krank war?« fragte ich. Sie zuckte die Achseln. »Ich weiß nicht. Vielleicht wußte ich es ganz einfach. Ich sah Sie aus dem Krankenhaus da vorn kommen.« »Dort wohne ich. Aber wie konnten Sie wissen, daß ich krank war? Richtig, ich wäre fast gestorben. Halt, das stimmt nicht ganz, denn ich war wirklich tot, aber jetzt geht es mir wieder gut.« »Und was tun wir hier?« »Nicht viel. Wir lassen's uns nur gut gehen. Der Rest der Welt ist weg, und ich weiß nicht, wohin er verschwunden ist, also bleibt uns gar nichts anderes übrig, als daß wir's uns gemütlich machen. Vor ungefähr acht Monaten hat es ganze Serien verrückter Invasionen gegeben, aber die haben dann ganz plötzlich aufgehört.« »Ich brauche eine Wohnung«, sagte sie. »Wie wär's mit dem Krankenhaus?« »Mir ist das recht. Aber ich wollte eigentlich in eines dieser kleinen Häuser da drüben ziehen. Wenn Sie wollen, können Sie ja das daneben nehmen.« Das tat sie, ich tat es auch, und für ein paar Wochen ging alles wunderhübsch. Bei Frauen bin ich immer ziemlich langsam gewesen, aber vielleicht war's auch umgekehrt, und sie waren langsam mit mir. Ich glaube nämlich fest daran, daß die Frauen eine Strahlung oder so was abgeben, das ihnen die Männer ein wenig vom Leib hält, wenn sie nichts von ihnen wollen.
Viel darüber weiß ich jedoch nicht, um die Wahrheit zu sagen. Wir hatten eine recht herzliche Beziehung, Opal und ich. Sie war in ihrem Haus, ich in meinem. Wir aßen oft zusammen unsere Mahlzeiten und sahen einander auch dazwischen häufig. Einmal, als sie wußte, daß ich im Postamt war, kam sie mit einem Brief zu meinem Schalter und bat um eine Luftpostmarke. Sie hatte Geld. Ich verkaufte sie ihr also. Sie nahm sie auch und sagte: »Danke, daß du diese schmalen weißen Randstreifen entfernt hast. Die machen mir immer Mühe, und meistens zerreiße ich die Marke oder lasse ein Stück Streifen dran. Es war sehr nett von dir, Sir.« Und damit ging sie. Ich war verblüfft und gleichzeitig erfreut und überlegte deshalb gar nicht, an wen sie einen Brief schickte. Oder an wen sie schrieb. Eines Abends aßen wir zusammen, und sie machte Brathühnchen. Der Supermarkt hatte riesige Vorräte, die sehr lange für uns reichten. Natürlich störte es mich irgendwie, daß die Milch immer frisch und das Fleisch auch immer frisch geschnitten war, aber ich stellte mir vor, das gehöre mit zu dem Plan, der auch die Strom- und Wasserversorgung im Gang hielt, der für die Müllabfuhr und Straßenreinigung sorgte. Ich sah zwar niemanden, der dies alles tat, aber getan wurde es, und ich machte mir keine Sorgen darüber. Schauen Sie: Bevor ich starb, als die Welt noch da war, da fuhr ich ein Postauto, privat eine Honda. Ich hatte keine Ahnung, wie die beiden funktionierten; ich meine, ab und zu einmal die Zündkerzen reinigen oder Benzin nachfüllen oder ähnliche Kleinigkeiten
machte ich natürlich schon, aber alles andere? Nein, das wurde ja gemacht, und das genügte. Jetzt war es anders. Aber genauso war es, als alles verschwunden war. Solange alles funktionierte, brauchte ich über die Logik oder Unlogik darin ja nicht nachzudenken. Das hätte ich erst getan, wenn etwas sauer geworden wäre, aber das kam nicht vor, und mehr brauche ich darüber nicht zu sagen. Sie hätten es ja ebenso gemacht. Jedenfalls hatten wir zum Abendessen Brathühner. Die mag ich sehr gern, weil sie's so machte, wie ich sie haben will, schön dunkelgolden und kroß an der Oberfläche, und innen saftig und gleichzeitig trocken, das heißt ohne ölige Schicht, von der man immer einen Fettüberzug an den Zähnen bekommt. Und Wein hatten wir auch. Ich trinke nicht viel. Keine Entschuldigung, ich vertrage nichts. Aber wir hatten Wein. Und ich wurde ein bißchen betrunken, nur ganz wenig. Wirklich. Und ich versuchte, sie zu berühren. Sie war kalt. Sehr kalt. Sehr, sehr kalt. Und sie schrie mich an: »Faß mich ja nie mehr an!« Das war zwei Wochen bevor sie mir sagte, sie liebe mich und wolle die Meine werden. Ich fragte sie, was sie darunter verstehe, »die Meine«. Ich habe nie den Wunsch gehabt, jemanden zu besitzen. Und ich dachte, sie hätte auch nie den Wunsch, der Besitz eines Menschen zu sein, aber gesagt hat sie das auf jeden Fall. »Ich liebe dich und möchte bei dir bleiben.« »Aber wir können doch nirgends –« »Das meine ich ja nicht. Wir könnten hier miteinander wohnen und brauchen einander doch nicht zu
sehen. Ich meine aber, ich liebe dich und möchte den Rest unserer Welt mit dir teilen.« »Ich weiß nicht recht, ob das eine gute Idee ist«, meinte ich. Natürlich wollte ich das, was sie wollte, aber ich hatte Angst, sie könnte mich satt kriegen. Und was dann? Unsere Lage war ja doch schließlich nicht gerade normal, wenigstens nicht nach dem von früher her gewohnten Standard, mit dem ich aufgewachsen bin, wenn Sie wissen, was ich meine. Da wurde sie böse und stakste zur Tür hinaus. Ich wartete ein paar Minuten, damit sie sich abkühlen konnte, und dann ging ich hinaus und schaute mich nach ihr um. Sie war glatt bis zum Rand unserer Welt gegangen und lief immer weiter. Ich denke, sie wußte nicht, daß ich ihr folgte. Ich kehrte in mein Haus zurück und legte mich hin. Als sie zurückkam, es muß ungefähr zwei Stunden später gewesen sein, setzte ich mich auf. »Herrje, wer, zum Teufel, bist du?« fragte ich sie. Sie war noch immer wütend. »Und herrje, wer, zum Teufel, bist du?« war ihre Gegenfrage. »Ich weiß, wer ich bin«, sagte ich, denn ich wurde nun auch wütend, »und ich will wissen, wer du bist. Ich habe doch gesehen, daß du über den Rand hinausgegangen bist. Ich kann das nicht.« »Die einen sind eben talentiert, die anderen nicht. Du wirst wohl lernen müssen, damit zu leben.« Junge, Junge, das war aber eine schnoddrige Antwort! »Ich war zuerst hier!« »Das haben die Indianer auch gesagt, und schau jetzt, was mit ihnen los ist.« »Verdammt noch mal, bist vielleicht dann du für
alle Verrücktheiten verantwortlich, für den ganzen Quatsch, der passiert ist?« Da explodierte sie und schrie mich an. »Ja, du blöder, verantwortungsloser Clown, du mickriger Gartenzwerg, jawohl, ich bin verantwortlich! Das alles hab ich gemacht, die ganze Welt hab ich zerstört. Und was, zum Teufel, willst du jetzt dagegen unternehmen?« Ich war viel zu verblüfft, als daß ich etwas hätte tun können. Ich hätte ja nie angenommen, daß sie dafür verantwortlich wäre, aber weil sie es schon zugab, wußte ich nicht, was ich sagen sollte. Ich versuchte, sie an den Schultern zu nehmen und spürte, wie die Kälte aus ihr herauskam. »Du bist nicht menschlich«, sagte ich. »Geh zur Hölle, du Idiot. Ich bin genauso menschlich wie du. Viel menschlicher.« »Dann würdest du mir wohl besser sagen«, begann ich drohenden Tones, »sonst –« »Sonst was, du Schwachkopf? Sonst wische ich auch noch diesen letzten Brocken aus, dich und alles andere, und dann bin ich wenigstens ganz allein wie damals, bevor ich es tat.« »Du hast's getan?« »Jawohl, ich. Alles weggeblasen. Hab mich nur zurückgelehnt, den Daumen in den Mund gesteckt und gesagt: ›Alles verschwindet, bis auf Eugene Harrison, wo er auch sein mag, und mich, und eine kleine Stadt, in der ich mit ihm zusammen sein kann.‹ Da nahm ich meinen Daumen aus dem Mund, und alles war weg. Boston war weg, und der Himmel und die Erde waren weg und alles andere auch, und ich mußte durch den ganzen Erbsensuppennebel da
draußen gehen, bis ich dich fand.« »Warum?« »Du erkennst mich wohl nicht einmal, du Trottel? Du erinnerst dich nicht mehr an Opal Sellers, oder?« Ich starrte sie fassungslos an. »Du Vollidiot!« Ich starrte immer noch. »Ich war in deiner Abschlußklasse in der High School. Du warst hinter mir, als wir unsere Diplome abholten. Ich hatte ein weißes Kleid an, und als wir aufgerufen wurden, warst du hinter mir. Ich hatte gerade meine Periode und kleckerte. Das war durch das weiße Kleid gegangen. Du hast dich dann über meine Schulter gebeugt und es mir gesagt, und ich war unglaublich verlegen, aber du hast mir dann dein Barrett gegeben, und ich hab's an meinen Po gehalten und dachte, das war das Netteste, Freundlichste und Aufmerksamste, das mir je jemand getan hat. Und ich liebte dich, du gefühlloser, vertrottelter, blöder Hundesohn!« Da ließ sie dann den Schirm oder die Maske oder was immer es war herab. Deshalb war sie ja auch so kalt gewesen, und innen war jetzt diese Opal Sellers, die eines der häßlichsten Mädchen gewesen war, das ich je gesehen hatte, und sie wußte auch, was ich dachte. Sie wartete keine Minute, steckte den Daumen in den Mund, so, wie ich es in der Erinnerung hatte, und da lutschte sie dran, während sie sich umschaute. Aber nichts geschah. Da wurde sie total verrückt und begann zu schreien, daß sie die Kraft auf mich übertragen hätte, und jetzt könne sie mir gar nichts mehr tun. Damit rannte sie zur Tür hinaus.
Ich lief ihr nach, aber sie rannte über den Rand hinaus und immer weiter wie der Wikinger und der Stuka und der Hunne und alle übrigen, und jetzt meine ich, sie hat alle diese Dinge nur deshalb geschickt, damit ich ein wenig Abwechslung hätte und mich als Held fühlen könnte. Und das wär's nun. Verschwunden. Nur so. Wohin? Keine Ahnung. Ich gehe aber von hier nicht weg, das weiß ich bestimmt, aber was soll ich tun? Jemand müßte ihr sagen, daß es mir leid tut, ich meine, sie ist ja doch ein nettes Mädchen und so. Ich bin hier, hab's behaglich, und wer kann schon mehr verlangen als dies? Und sie hat immer von Liebe geredet. Na, verdammt noch mal, Liebe war das bestimmt nicht. Ich glaub's wenigstens nicht. Aber was weiß ich schon? Die Mädchen bekamen mich immer sehr schnell satt. Jetzt muß ich mir selbst beibringen, wie man eine Pizza macht.
Originaltitel: COLD FRIEND. Aus GALAXY 10/73 Copyright © by UPD Publishing Corporation
Doris Piserchia QUARANTÄNE Zuerst kam das Fernsehgerät an die Reihe. Es dauerte lange, bis es demoliert war, denn es war in der Wand eingebaut. An sich wäre jetzt der Generator drangewesen, aber den mußte ich aufsparen, bis ich wußte, wie das Wetter war. Meine Enttäuschung und Angst ließ ich an der Sprechanlage aus; ich riß Drähte heraus, zerschlug Röhren und machte Kleinzeug aus den Kopfhörern, aus denen seit Jahren kein Ton mehr gekommen war. Danach vernichtete ich die Bibliothek. Sie wanderte in die Heizung, jedesmal ein halbes Regal voll. Ich zerstörte praktisch alles im Haus, das eine Barriere zwischen mir und der Welt sein konnte. Nachdem ich im Wohnzimmer einigen Schutt weggeräumt hatte, machte ich mich an einer Stelle der Wand an die Arbeit, wo ich ein Fenster vermutete. Die Mauer war so hart, daß ich drei Bohrer abbrach. Der vierte biß sich endlich in die Wand hinein und fraß sich langsam weiter. Es war der genau richtige Punkt gewesen, denn als die Spitze durchstieß, klirrte Glas. Dieses zersplitternde Glas entfesselte das wilde Tier in meinem Kopf. Ein paar Minuten lang war ich eine richtiggehende Irre. Ich hatte wahnsinnige Sehnsucht nach Flucht und stieß auch wie eine Wahnsinnige immer wieder mit dem Bohrer zu. Mein ganzes Gewicht legte ich in die Arbeit, als er sich durch das
Fenster fraß und auf etwas Hartes traf. Dann entglitt mir der Bohrer, und ich stürzte zu Boden. Ich konnte es nicht glauben. Hinter dem Glas hätte doch ein freier Raum sein, und der Bohrer hätte durchstoßen müssen. Ich krabbelte in die Höhe, drückte meine Nase gegen das Loch und schnupperte wie ein verhungernder Hund. Roch ich da frische Luft? Blies der Wind da draußen? Es dauerte lange, bis ich ein Viereck von Löchern um das Fenster gelegt hatte, und da zitterte ich vor Erschöpfung. Es dauerte dann aber nur ein paar Minuten, bis ich mit einem Hammer das Viereck herausklopfte, dann das Glas und schließlich ... Ich traf auf eine weitere solide Wand. Das war doch unmöglich! Und trotzdem lag hinter dem Glas eine weitere Plastikfläche, die härter war als die innen. Die zweite Wand war stärker als irgendein Bohrer im Haus, und es hatte keinen Sinn, alle zu demolieren. Jemand war da sehr gerissen gewesen. Sie hatten um mein Haus eine Mauer gebaut, ohne daß ich je Verdacht schöpfte. Ich setzte mich auf einen Stuhl und starrte das glänzende Viereck an. Kein Bohrer und kein anderes Handgerät würde je diese Wand zum Nachgeben zwingen können. Aber das machte nichts. Ich konnte ja bis zum Morgen warten – ein Ausdruck, der nur noch bildliche Bedeutung hatte –, und dann würde ich die Mauer eben wegsprengen. Pulver hatte ich genug. Chad hatte mit Munition gearbeitet. Ich konnte leichter im Liegen einschlafen, so daß mir das grelle Licht voll ins Gesicht schien. Ich be-
glückwünschte mich zu meinem Entschluß, endlich auszubrechen. Nein, das wäre gar nicht schlecht. Anfangs hatte mich der Gedanke an diese Seuche da draußen gelähmt, so daß ich fürchtete, meine zwei Grundbedürfnisse würden mich für immer in einem emotionellen Kreuzfeuer gefangenhalten. Ich brauchte Raum um mich, und ich mußte eine Anstekkung vermeiden, falls dieser Erreger da draußen noch herumspukte. Doch das hielt ich eigentlich nicht mehr für möglich. Zuviel Zeit war inzwischen vergangen. Es gab Tausende von Häusern wie dieses hier und jede Menge Menschen. Wir sperrten all die Leute aus den Slums aus und sonderten uns von den Kranken in einer freiwilligen Quarantäne ab. Die aus den Slums und ihre Ratten waren verantwortlich für die Seuche, und deren Unglück war es, daß sie ihre eigene Sicherheit nicht finanzieren konnten. Sie mußten sich immer noch mit den anderen mischen, und nun lebten sie entweder noch, oder sie waren längst gestorben. Wir, die wir genug Geld hatten, um es zu verschleudern, benützten es dazu, uns selbst zu retten. Unsere Häuser hatten wir vollkommen autark gemacht. Wir planten, ein wenig zu arbeiten und die Endprodukte in eine Art Rohrpost zu geben, die alles zu einem Lagerplatz brachte, wo wir es abholen konnten, sobald wir herauskamen. Die automatischen Ausgabegeräte enthielten Unmengen von Lebensmitteln, und Ärzte brauchten wir nicht, weil wir einiges von Medizin und sogar Chirurgie verstanden. In jedem Haus wurde eine Sprechanlage installiert, über die wir anfangs täglich mit unseren Kongreßabge-
ordneten sprachen. Natürlich taten uns die anderen Leute da draußen leid, aber wir waren der Ansicht, sie hätten nur mehr zu arbeiten brauchen, dann hätten sie mehr Geld verdient und mehr sparen können. Dann änderte sich alles allmählich. Ein Jahr verging, und die Leute von der Landesverteidigung schlugen vor, eine Gruppe solle hinausgehen und die Lage prüfen. Der Vizepräsident meinte jedoch, es sei noch zu früh. Wieder verging ein Jahr, und der Vorschlag wurde wiederholt. Niemand hielt das für eine gute Idee. Sie sagten alle: warten. Das taten wir. Wir warteten sehr lange, und allmählich hörten wir auf, miteinander über das Radio zu sprechen. Ich konnte nicht einschlafen. Nach einer Weile tat das Licht meinen Augen weh. Ich schloß sie und ertrug die Pein von Kopfschmerzen, warf mich auf dem Bett herum, versuchte nicht an Chad zu denken, dann beschloß ich, es doch zu tun. Von Anfang an hätte ich mehr an ihn denken müssen. Wer war es, der über das schrieb, was sein könnte? Das ist nämlich der Stern, nach dem Männer ihren Kurs setzen. Chad ist – war – wahnsinnig. Welche Zeitform gilt hier? »Jetzt sind es nur noch wir zwei, Liebes«, sagte er. »Ich meine, wir sollten Gott danken, daß wir diese Krankheit nicht bekommen haben, aber wie wird es dir gefallen, hier ganz allein auf dich selbst angewiesen zu sein? Nun, willst du mir nicht antworten?« Den ersten Tag verbrachten wir damit, vor dem Fernseher zu sitzen. Es war so wie in den ersten Tagen unserer Ehe; meistens schaute er mich an, nicht den Schirm.
»Erinnerst du dich meiner alten Leidenschaft fürs Kochen?« fragte er. »Jetzt haben wir so viel Muße. Ich denke, ich werde dir ein wenig in der Küche helfen.« Es war nicht ruhig genug im Haus. Ich versuchte, den Fernseher ausgeschaltet zu lassen, aber wenn Chad seinen »Laufkrampf« hatte, wie ich sagte, stellte er ihn wieder an. Gelegentlich schaltete ich auch die Klimaanlage aus, aber dann beklagte er sich über die abgestandene Luft. Mit Klagen war er immer sehr schnell bei der Hand. »Warum müssen wir von eins bis drei Uhr täglich so tun, als sei jeder von uns allein im Haus? Das ist doch gespenstisch. Ich bekomme Depressionen, wenn ich dich nicht sehe oder höre. Ich habe allmählich das Gefühl, in einem großen Grab eingeschlossen zu sein.« Später sagte er einmal: »Das ist doch ein Witz. Warum müssen wir unsere Trennungsperioden haben? Zwei Stunden sind sehr lang. Und ich halte nichts von deiner Theorie. Seelische Gesundheit hängt nicht von Einsamkeit und Stille ab. Menschliche Wesen sind nicht – ach, zum Teufel, ich will ganz einfach nicht allein sein. Seit du in dein eigenes Zimmer umgezogen bist, bin ich furchtbar nervös. Ich habe das Gefühl, alle Substanz wird aus dem Haus herausgesogen, und ich werde in ein Vakuum gezerrt, in dem es nichts gibt außer mir.« Dann galt seine Liebe der Bibliothek. Nach einer Weile sagte er: »Ich schwöre, dieses verdammte Ding ist wie ein Museum. Gehe ich hinein und mache die Tür hinter mir zu, setzt auch schon die Verrottung ein. Warum kann ich nicht die Tür offen lassen? Ich mache doch keinen Lärm. Wirklich, die Bibliothek ist
ein Museum. All diese Reihen von Mikrofilmboxen sind doch wie die Augen der Geschichte, die mich anstarren. Was ist nur aus uns geworden? Was tun wir hier? Liebes, wir haben einen Fehler begangen. Das, was wir tun, ist keine Antwort. Nein, warte doch eine Minute. Beruhige dich wieder. Ich sagte doch kein Wort davon, daß wir hinausgehen sollen.« Es gab noch die Radioanlage. »Macht es dir etwas aus, wenn ich einen Anruf mache, Liebes? Wen ich anrufen will? Oh, irgendeinen. Okay, okay, ich hab's vergessen. Nein, ist schon erledigt.« Später: »Wer den ersten Lärm macht, muß den anderen belohnen? Mein Gott, das ist aber ein kindisches Spiel. He, warte doch eine Minute. Ich spiele mit, wenn ich zuerst eine Belohnung bekomme. Nein? Dann spiele ich nicht. Was ist überhaupt mit mir los? Habe ich plötzlich einen unreinen Atem? Du kannst doch an dir selbst auch keine Freude haben. Ich sehe dich nie, ich höre dich nie – was ist so faszinierend daran, immer allein zu sein?« Ich hätte an ihn denken sollen. »Nein, ich will nicht mehr spielen. Nein, ich will nicht leiser reden. Ich mag den Ton meiner Stimme. Ich liebe jedes Geräusch. Ich wollte, das Haus wäre voller Mäuse. Ich wollte, wir hätten einen Hund oder eine Katze. So hilf mir doch – oh, zum Teufel, es tut mir wirklich leid, Liebes. Um Himmels willen, ich sagte doch, daß es mir leid tut. Du brauchst nicht so zu tun, als seien dir die Trommelfelle geplatzt. Was meinst du damit, ich löse mich auf?« Er begann, mit seinem Grammophon zu spielen. Das war schon schlimm genug, aber er suchte auch noch die schlechtesten Stücke aus – blödsinnige Hüp-
fereien aus der Zeit des Bebop. »Du brauchst nur umzuziehen«, sagte er. »Mein Zimmer ist ganz am Ende des Hauses, und so mußt eben du für die Entfernung zwischen uns sorgen. Du brauchst es nicht zu tun, weißt du. Du solltest lieber hereinkommen und zuhören. Das würde dir auch guttun. Wir könnten tanzen. Wie lange ist es schon her, seit wir zum letztenmal getanzt haben? Oder daß wir einander berührten? Hungerst du nicht nach dem Gefühl einer anderen Haut? Hier, Liebes, nimm meine Hand. Na schön, du brauchst sie nicht zu nehmen, nur zu berühren. Berühren. Berühren! Berühre mich! Oh, verdammt noch mal, ich habe doch keine Lepra, ich will mich nur daran erinnern, daß ich lebe! Die Sinne müssen immer wieder angeregt werden, sonst ist man tot. Ich will nicht im Stehen tot sein.« Er mußte endlich aufhören, mir zu folgen. Er hatte meinen Druckpunkt erreicht, und von nun an hatte ich die Wahl zwischen einem Verteidigungsmechanismus oder einem Herzinfarkt. »Warum darf ich nicht hineinkommen?« fragte er oft. Zu oft. »Was tust du da drinnen? Es ist so still. Ich kann gar nichts hören. Bitte, öffne die Tür. Ich weiß, du kannst nur so herumsitzen. Bitte, laß mich bei dir sitzen. Ich mache keinen Lärm. Das verspreche ich. Wir sitzen beisammen und denken in aller Stille, oder wir schwatzen ein wenig. Ehrlich, Liebes, ich glaube, das kann ich nicht länger mehr ertragen.« Nach einem solchen Ausbruch kehrte er in sein Zimmer zurück und begann, die Trommeln zu schlagen. »Ich tu das ja gar nicht. Um Himmels willen, ich habe doch gar keine Trommeln. Und das Grammo-
phon habe ich seit Tagen nicht mehr gespielt. Ich sitze nur auf diesem verdammten Stuhl und starre die verdammte Wand an. Was soll ich denn sonst tun?« Nie hörte er zu trommeln auf. »Was, zum Teufel, ist das wieder? Oh, komm doch, was meinst du, daß du tust? Ich sage dir doch, ich schlage keine Trommeln, und ich trage seit meinen Schultagen keine eisenbeschlagenen Schuhe mehr. Das kannst du doch nicht ernst meinen. Das Haus ist groß genug für uns beide, damit jeder seine Ruhe und seinen Frieden ohne all dieses Zeug hat. Ich warne dich, Liebes, dieses isolierte Zeug kommt nicht wieder runter, wenn es einmal in die Höhe geht. Du versiegelst diese Grenzen, dann hast du ein Haus, das auf die Dauer in zwei Abschnitten geteilt ist. O Gott, was geschieht mit uns? Was wird aus uns? Hörst du mich? Ist es dir wirklich so gleichgültig? Verdammt noch mal, so fang doch an und tu's! Danke, daß du wenigstens eine Tür in dem Ding lassen willst. Ab und zu komme ich schon heraus und sehe nach, ob du noch am Leben bist.« Er hatte auf seiner Seite alles, was er brauchte, ich auf der meinen auch. Oder ich glaubte es wenigstens. Ich hätte ebensogut in Afrika sein können, oder auch in einem Krachlokal. Die Trommeln. Der Bebop und die Stiefel. Die Trommeln. Der Bebop. Die Stiefel. Dieser elende Kerl. Dieser Irre! War das nicht ein Schrei? »Ich kann nicht arbeiten! Manchmal denke ich, es wäre recht gut, keine Dynamitstäbe und Zünder zu machen, sondern eine Bombe, um den ganzen Flügel in die Luft zu sprengen. Ich kann es mir nicht vorstellen. Etwas geschieht, und ich weiß nicht, was es
ist. Ich hungere mich zu Tode nach irgendeiner Substanz. Ich wache auf von Traumunterhaltungen und bin versucht zu kreischen, weil sie nicht Wirklichkeit sind. Ich denke an Leiber rund um mich herum, und ich möchte ausgreifen, um sie zu packen. Ich möchte mich nackt ausziehen und eine Orgie feiern. Mich mit hundert Frauen wälzen, aber am allermeisten sehne ich mich danach, sie zu hören. Ich will etwas hören, außer meinem eigenen Herzschlag. Bitte, bitte, bitte ...« Etwas machte ein so entsetzliches Getöse, daß meine Gehirnzellen auseinanderzubrechen drohten. Wie stellt man eine Lärmquelle fest, wenn man von diesem Lärm förmlich eingehüllt wird? Ich tat das Unmögliche. Ich ging diesem Lärm von Raum zu Raum nach, bis ich zu einer kleinen Öffnung in einer dicken Wand kam. Das war die Quelle meiner Ängste. Diese Geräusche, die Schreie von weither, das Rumpeln von der anderen Seite einer Tür, die nicht mehr offen war. Jemand hatte recht gehabt. Nur Dynamit konnte diesen Verschluß aufbrechen. Verteidigungsmechanismen waren undurchdringlich. Am Morgen kehrte ich zur Arbeit an der Wand zurück. Es dauerte Stunden, bis ich die Vertiefung tief genug hatte, damit die Zünder Platz hatten, Stunden, in denen meine Hände rauh wurden und mir fast der Rücken durchbrach, aber es waren erlesene Stunden, weil ich seit Jahren zum erstenmal etwas tat, das einen vernünftigen Zweck hatte. Es war nicht ganz so wie in Jericho, aber ein Teil der Wand stürzte bei einer furchtbar lauten Dynamitexplosion herab.
Meine Klaustrophobie machte mich zittrig, meine Hände waren schrecklich ungeschickt, meine Knie wurden fast zu Wasser, und ehe ich meinen Kopf durch dieses Loch schieben konnte, sackte ich etliche Male zusammen. Fünf Minuten lang suchte ich sämtliche Schimpfund Fluchwörter zusammen, denn jedesmal, wenn ich ausbrechen wollte, mußte ich es in tiefster Nacht tun. Was sollte ich tun? Ich konnte nur bis zum Morgen warten. Aber der Morgen kam nie. Es wäre wohl nützlich gewesen, wäre ich zu Bett gegangen und hätte ausgeruht. Ich saß aber in meinem großen Lehnstuhl und hatte den Blick auf dieses große Loch geheftet, und so wartete ich auf die Sonne. Geduldig wartete ich, daß dieses Untier in mir sterben sollte. Es mußte doch Raum geben, eine wundervolle Leere, die einem den entsetzlichen Druck von den Knochen nahm, einen herrlichen Sonnenschein, der bis in die Unendlichkeit reichte, einen heftigen Wind, der einen anfauchte, umwirbelte und floh, Regentropfen, die von weit oben herabfielen. Nicht ein einziges Mal schaute ich auf die Uhr, doch allmählich wurde mir klar, daß, wenn je wieder ein Morgen käme, er ja schon da sein müsse, und er mußte jenseits dieses Loches sein. Doch ich sah noch immer nichts anderes als Schwärze. Eine Taschenlampe nützte nichts. Ich sah nur den zersprungenen Gehsteig, die glänzende Oberfläche der nahen Häuser. Im Keller suchte ich ein paar Fakkeln und einen Scheinwerfer, dann kletterte ich durch das Loch hinaus und ging die Straße entlang. Ich mußte mich sehr vorsichtig bewegen, denn Regen
und Wind hatten im Lauf der Jahre viele Löcher verursacht. Dann stand ich in der Straßenmitte und setzte den Scheinwerfer zu Boden. Ich sah das, was dort war, wo der Himmel hätte sein sollen. Aus dem Zustand der Straße schloß ich, daß dieses Ding erst vor kurzem aufgestellt worden war. Es war eine endlose Länge, die im Licht des Scheinwerfers wie solider Stahl aussah. Und das war überall über mir. Ich weiß dies, weil ich diesen lichtlosen Käfig von einem Ende zum anderen durchmaß, dann noch einmal und wieder. Ich hörte damit nicht auf, bis alle Fackeln abgebrannt und die Batterie des Scheinwerfers erschöpft war, so erschöpft, wie der Brocken Herz in meiner Brust. Und nun sitze ich in meinem großen Sessel und tue nichts. Das Loch in der Wand ist wieder verschlossen, weil eine Gruft keine richtige Gruft ist, wenn sie einen Durchgang nach außen hat. Natürlich ist ein Draußen jenseits des Loches, aber das ist nur eine etwas größere Gruft mit viel mehr Stille und Dunkelheit, als ich ertragen kann. Solange ich begraben sein muß, werde ich es ertragen müssen. Ich bin vielleicht die einzige, die dieses Geheimnis kennt. Dort draußen haben sie überlebt, und jetzt zahlen sie's uns zurück. Erst hatten wir sie ausgeschlossen, jetzt sperren sie uns ein. Sie sind menschlicher, als wir es waren. Sie haben unsere Luft nicht vergiftet oder unsere Lebensmittellieferungen unterbrochen. Wir werden weiterleben, bis der letzte von uns tot ist, und erst dann werden sie wohl aufhören, immer noch mehr um und über uns zu bauen. Eines Tages werden sie das alles aus-
graben und ganz von vorn anfangen. Ich sitze in meinem großen Sessel und mache mir Sorgen. Meine Ablenkungsmöglichkeiten habe ich mit eigener Hand vernichtet. Ich weiß, daß ich eines Tages meine Sehnsucht, mit einem Menschen zu sprechen, nicht mehr meistern kann. Und der einzige in der Nähe ist Chad.
Originaltitel: QUARANTINE. Aus GALAXY 9/73 Copyright © 1973 by UPD Publishing Corporation
Robert Sheckley BITTSTELLER IM ALL 1 Detringer war von seinem Heimatplaneten Ferlang wegen »Taten von unglaublicher Roheit« verbannt worden. Er hatte während der Meditationslustbarkeiten frech an seinen Zähnen gesaugt und seine Schwanzwiderhaken aufgestellt, als der Große Allgegenwärtige der Region ihn zu bespucken geruhte. Diese Frechheiten hätten ihm normalerweise nicht mehr als nur ein paar Jahre uneingeschränkter Ächtung eingebracht. Aber Detringer hatte seine Beleidigungen noch unterstrichen durch absichtlichen Ungehorsam während einer Zusammenkunft zu Göttlichem Gedächtnis; zu dieser Zeit hatte er sich hörbar gewisser ziemlich unschöner sexueller Erlebnisse erinnert. Der letzte asoziale Akt war unerhört in der Geschichte von Ferlang: Er hatte gegen die Person eines Ukanisters offene bösartige Gewalt angewendet, damit also auch einen Akt Öffentlicher Aggression begangen, den ersten seit den primitiven Zeiten der Todesspiele. Diese letzte Handlung war besonders abstoßend gewesen, obwohl sie nur zu einer geringen körperlichen, dafür um so größeren Ego-Beschädigung des Ukanisters führte, und dafür verdiente Detringer die scharfe Strafe Ewiger Verbannung. Ferlang ist der vierte Planet einer Sonne mit fünfzehn Planeten, die ziemlich am Rand einer Galaxie
ihre Bahn zieht. Man brachte Detringer mit einem Sternenschiff tief in die Raumleere zwischen den Galaxien und setzte ihn dann in einem winzigen, fast antriebslosen Beiboot aus, um ihn treiben zu lassen. Sein freiwilliger Begleiter war sein getreuer mechanischer Diener namens Ichor. Detringers Frauen – die fröhliche, oberflächliche Maruskaa, die große, nachdenkliche Gwenkifer und die hängeohrige, nicht zu bändigende Uu – ließen sich gemeinsam in einem düsteren Akt Ewiger Abneigung von ihm scheiden. Seine acht Kinder unterzogen sich der Pflicht für Elterliche Ablehnung, wenn auch Deranie, der Jüngste, danach hörbar erklärte: »Mir ist egal, was du getan hast, Daddy, ich liebe dich noch immer.« Man gewährte Detringer jedoch nicht den Trost, dies zu erfahren; selbstverständlich nicht. In der Unendlichkeit des Raumes ließ es sich nicht vermeiden, daß die Energie seines winzigen Schiffes zur Neige ging. Er lernte Hunger, Kälte, Durst und das ununterbrochen pochende Kopfweh des Sauerstoffmangels kennen, als er freiwillig seine Rationen drastisch herabsetzte. Die unermeßliche Leblosigkeit des Raumes breitete sich um ihn herum nach allen Seiten aus, unterbrochen nur von dem unbarmherzigen Gleißen ferner Sonnen. Er hatte die Maschinen des Bootes sofort abgestellt, denn er hielt es für sinnlos, in dieser intergalaktischen Leere Treibstoff zu verschwenden, in der man ja nur vom Fassungsvermögen der Riesenschiffe ausgehen konnte. Er mußte seinen Treibstoff sparen für eine Landung auf einem Planeten, falls sich eine solche Gelegenheit überhaupt je ergeben sollte.
Die Zeit war eine bewegungslose schwarze Gallertmasse, in die er eingeschlossen war. Seiner familiären Verankerungen war er beraubt; ein geringerer Geist als er wäre nach kurzer Zeit daran zerbrochen. Er wollte sich jedoch daran messen. Statt sich einer Verzweiflung zu überlassen, deren Gründe ihn von allen Seiten her umgaben, zwang er sich dazu, sich für die kleinsten Routineangelegenheiten des sterbenden Schiffchens zu interessieren; jede »Nacht« gab er für seinen ton-tauben Diener Ichor ein Konzert, machte Freiübungen übte sich in Schnell-Meditation, schuf für sich einen ausgeklügelten auto-sexuellen Ritus und lenkte sich selbst auf jede nur denkbare auf hundertfältige Weise ab von seiner erdrückenden Gewißheit seines fast sicheren baldigen Todes. Nach einer Zeit, die kein Ende zu nehmen schien, veränderte sich doch allmählich der Charakter des Raumes, erst kaum merklich dann abrupt. Die Kalmenzonen wurden von unsicheren Bedingungen ersetzt. Es gab merkwürdige elektrische Entladungen, die neue Gefahren ahnen ließen. Ein Reihensturm schleuderte ihn ein schmales »Tal« entlang, wirbelte das Boot herum und warf es schließlich achtlos und weit hinaus, mitten in das Herz der Leere. Gerade die Unzulänglichkeit des kleinen Schiffes war der Grund für sein Überleben. Dem jagenden Sturm konnte es keinen Widerstand entgegensetzen, und so überlebte es durch Nachgiebigkeit. Als der Sturm sich schließlich ausgetobt hatte, war der Schiffsrumpf noch immer unversehrt. Über die große Prüfung der Insassen bei dieser Gelegenheit ist wenig zu sagen, oder nur, daß sie eben überlebten. Detringer machte eine Zeit der Be-
wußtlosigkeit durch. Dann öffnete er die Augen und schaute sich benommen um. Danach spähte er durch die Sichtluken und studierte seine Navigationsinstrumente. »Wir haben die große Leere völlig durchquert«, berichtete er Ichor. »Wir nähern uns jetzt den äußeren Grenzen eines Planetensystems.« Ichor stemmte sich auf einem Aluminiumellbogen in die Höhe. »Von welchem Typ ist die Sonne?« fragte er. »Ein Typ O«, erwiderte Detringer. »Lob und Ehre sei Gott«, sang Ichor, dann fiel er zusammen, weil seine Batterien erschöpft waren. Die letzten Sturmausläufer ebbten völlig ab, ehe das Schiffchen die Umlaufbahn des äußersten Planeten überschritt; es war die des neunzehnten Planeten einer mittelgroßen, dicken, lebensspendenden Sonne vom Typ O. Detringer lud Ichor an den Schiffsakkumulatoren auf, obwohl der mechanische Diener protestierte, der Strom wäre viel nützlicher aufgehoben für einen Notfall. Dieser Notfall kam früher als Detringer sich vorgestellt hatte. Seine Instrumente zeigten an, daß der fünfte Planet von der Sonne weg gezählt der einzige sei, der Detringer am Leben halten konnte ohne die unterstützende Hilfe künstlicher Vorrichtungen. Aber er war für die spärlichen Treibstoffvorräte des Schiffchens zu weit entfernt, und weil er jetzt wieder in einer Kalmenzone trieb, wäre ein länger andauernder und ziemlich handfester Antriebsstoß nötig gewesen. Man konnte also nur sitzen, warten und hoffen, daß ein zufälliger Raumgezeitenstrom das Boot mitnähme, oder man sogar zufällig in einen neuen Sturm
gerate. Zugegeben, diese Haltung war überaus konservativ. Es bestand ja immerhin die Gefahr, daß keine Strömung und kein Sturm das Schiffchen die kurze Zeit hindurch antreiben würde, weil das Schiff sich noch aus eigenen Kräften erhalten konnte. Es ließ sich sogar eher noch eine andere Gefahr denken, die nämlich, daß ein Gezeitenstrom oder ein Sturm das Schiffchen in eine unerwünschte Richtung trieben. Egal, wie man auch handelte, die Risiken ließen sich nicht ausschalten. Für Detringer war es charakteristisch, daß er den gefährlichsten Plan wählte, der am meisten Unternehmungsgeist erforderte. Er errechnete den sparsamsten Kurs und die wirtschaftlichste Geschwindigkeit und machte sich daran, die spärlichen Treibstoffvorräte für eine möglichst weite Strecke einzusetzen, und danach mußte er sich eben der Vorsehung überlassen. Er manövrierte ungeheuer vorsichtig und mit Hand und nach Gefühl, so daß er seinem Ziel auf zweihundert Millionen Meilen nahe kam. Dann mußte Detringer die Maschinen abstellen, weil er nur noch genug hatte für etwa eine Stunde Flugzeit im Atmosphärenbereich. Das Boot trieb also durch den Raum, immer noch dem fünften Planeten entgegen, aber so langsam, daß tausend Jahre kaum genügen würden, es an den Rand der Atmosphäre dieses Planeten zu bringen. Detringer brauchte nicht viel Phantasie, sich das Schiffchen als Sarg und sich selbst als seinen etwas verfrühten Bewohner vorzustellen. Aber Detringer weigerte sich, diesen Gedanken auszuspinnen. Er begann wieder mit seinen Freiübungen, Konzerten, Meditationen und auto-sexuellen Riten.
Ichor war von all dem etwas erschüttert. Er selbst war von recht orthodoxer Geisteshaltung und deutete deshalb vorsichtig an, Detringers Handlungsweise sei der Situation unangemessen und folglich Wahnsinn. »Natürlich hast du recht«, antwortete ihm Detringer fröhlich. »Aber ich muß dich daran erinnern, daß Hoffnung, selbst wenn sie unerfüllbar erscheint, noch immer als eine der Acht Irrationalen Segnungen betrachtet und deshalb, gemäß dem Zweiten Propheten, einer viel höheren Größenordnung zugerechnet wird als den Verfügungen für Geistige Gesundheit.« Die Heiligen Schriften besänftigten den brummenden Ichor, und so duldete er stillschweigend Detringers Übungen; ja, er ging sogar so weit, in Harmonie mit ihm einen Choral zu singen, wenn auch dieser Versuch zu einer Kakophonie führte. Trotz allem erschöpften sich die Energievorräte des Schiffchens. Erst gab es Halb-, dann Viertelrationen, die natürlich ihre Handlungsfähigkeit stark beeinträchtigten und sie nahe an den Rand einer völligen Handlungsunfähigkeit brachten. Vergeblich erflehte Ichor seines Herrn Erlaubnis, seine eigenen persönlichen Batterien in des Schiffes Heizsystem entleeren zu dürfen, das selbst fror. »Ach, laß«, antwortete ihm Detringer und zitterte vor Kälte, »entweder gehen wir als Gleichgestellte hinaus und im Besitz jener Kräfte, die wir noch haben – falls wir überhaupt noch hinausgehen können, doch daran hege ich ernstliche Zweifel, weil eben die Beweise für das Gegenteil zu eindrucksvoll sind.« Das Oder ließ er aus Vielleicht läßt sich die Natur vom Temperament beeinflussen. Denn sie war es, die eigens für Detrin-
ger eine starke Strömung, genau auf den Planeten ausgerichtet, schickte, als die Hilfsmittel des Schiffchens fast nur noch Erinnerung waren. Die Landung selbst war einfach für einen Piloten von Detringers Geschick und Glück. Leicht wie ein vom Wind verblasenes Samenkorn schwebte das Schiffchen über der grünen, einladenden Oberfläche des fünften Planeten ein. Als er zum letztenmal die Maschinen abstellte, hatten sie noch Treibstoff für volle siebenunddreißig Sekunden. Ichor fiel auf seine Eisenkernknie und lobte das Gottesgedächtnis, das sich ihrer Gebete erinnert und sie zu diesem Refugium gebracht hatte. Aber Detringer sagte: »Wollen mal erst sehen, ob wir hier auch leben können, ehe wir uns den Mund mit Gebeten fransig reden.« Die fünfte Welt erwies sich als gastfreundlich. Alle Notwendigkeiten des Lebens konnten unter mäßigen Anstrengungen erworben werden, wenn auch nur wenige der Annehmlichkeiten. Eine Flucht war ausgeschlossen: Nur eine weit fortgeschrittene technologische Zivilisation konnte den Hochleistungstreibstoff liefern, der für die Maschinen des Schiffes nötig gewesen wäre. Und eine kurze Übersicht aus der Luft während des Landemanövers hatte gezeigt, daß dieser malerische und einladende Planet keine Zivilisation hatte. Und es gab auch nicht das geringste Anzeichen dafür, daß er von intelligenten Wesen bewohnt wurde. Ichor machte sich mit einem einfachen Verfahren von Querverbindungen bereit, den Rest seines Lebens an diesem Ort zu verbringen. Gleichzeitig riet er De-
tringer, das Unvermeidliche zu akzeptieren. Schließlich wies er darauf hin, daß sie selbst dann, wenn sie zu Treibstoff kämen, nicht wüßten, wohin sie gehen könnten. Selbst wenn sie ein gut ausgestattetes Forschungsschiff zur Verfügung gehabt hätten, wären ihre Aussichten, eine fortschrittliche planetare Zivilisation zu finden, eins zu astronomischen Ziffern gewesen, in einem so winzigen Schiff, mit dem jeder Versuch reiner Selbstmord wäre. Diese Vernünftelei beeindruckte Detringer nicht im geringsten. »Besser suchen und sterben, als vegetieren und leben«, meinte er. »Meister«, erwiderte Ichor respektvoll, »das ist Häresie.« »Ich finde es zwar auch«, erklärte Detringer fröhlich, »aber so denke ich nun eben. Und meine Intuition sagt mir, daß sich schon etwas ergeben wird.« Ichor schüttelte sich und war, trotz Detringers Hoffnungen, glücklich darüber, daß sein Meister und er die Salbung der Ewigen Einsamkeit empfangen würden. Captain Edward Makepease Macmillan stand im Hauptkontrollraum des Forschungsschiffes Jenny Lind und überprüfte das Band, das aus dem 1100 Series Coordinating Computer herauskam. Der neue Planet schien, nach den genauen Messungen der Schiffsinstrumente, keine Gefahr darzustellen. Macmillan war einen langen Weg gereist, bis e r diesen Moment erleben durfte. Macmillan war ein brillanter Student der Lebenswissenschaften an der Universität von Taos gewesen und wollte nun eine große wissenschaftliche Arbeit über Nukleonische Theorie
und Kontrolle schreiben. Seine Doktorthese war betitelt Vornotizen zu gewissen Überlegungen betreffend die (beabsichtigte) Wissenschaft Interstellarer Manövrierkunst und war vom Komitee mit Begeisterung aufgenommen worden. Für das große Publikum wurde sie später unter dem Titel Verirrt und Wiedergefunden im tiefsten Raum mit riesigem Erfolg publiziert. Dies und sein langer Artikel in Nature, betitelt Die Anwendung der Deklinationstheorie bei den Landungsmodalitäten von Raumschiffen, hatten ihn ganz selbstverständlich und konkurrenzlos zum Kommandanten von Amerikas erstem interstellaren Schiff gemacht. Er war ein großer, gut aussehender, kräftig gebauter Mann. Sein Haar war vorzeitig leicht ergraut, denn er zählte erst sechsunddreißig Jahre. In der Navigation waren seine Reaktionen schnell und sicher und sein Instinkt für die Integrität seines Schiffes konnte nur als staunenswert bezeichnet werden. Weniger großartig war seine Fähigkeit des Umgangs mit Menschen. Macmillan war mit einer gewissen Schüchternheit gestraft, einem mangelnden Selbstvertrauen gegenüber anderen, einer Zweifelsucht, die einen entscheidungsfreudigen Fortgang unterminierte. Sicher, als Philosoph war er großartig, doch seine Fähigkeit der Menschenführung wies eine gewisse Schwäche auf. Ein Klopfen an seiner Tür ließ ihn aufschauen. Colonel Kettelman kam herein, ohne gebeten worden zu sein. »Ha, schaut gut aus da unten«, sagte er. »Das Profil des Planeten erscheint recht günstig«, erwiderte Macmillan steif. »Das ist gut«, meinte Kettelman und schaute verständnislos das Computerband an. »Was Interessan-
tes über den Platz?« »Sehr viel«, antwortete Macmillan. »Schon eine Überprüfung auf große Entfernung hat gezeigt, daß wir vermutlich auf einzigartige pflanzliche Strukturen stoßen werden. Darüber hinaus zeigt auch die bakterielle Aufnahme einige Anomalien, die –« »Das Zeug hab ich ja nicht gemeint«, wehrte Kettelman ab, denn er war ein Karrieresoldat und stand Planeten und Kleinlebewesen ziemlich gleichgültig gegenüber. »Ich meinte wichtige Sachen wie fremde Armeen, Raumflotten und dergleichen.« »Es gibt keine Anzeichen für eine Zivilisation da unten«, sagte Macmillan. »Ich zweifle, daß wir je Spuren eines intelligenten Lebens finden werden.« »Hm, nun ja, das läßt sich vorher nie sagen«, widersprach ihm Kettelman hoffnungsvoll. Er war ein stämmiger, breitbrüstiger, unbeugsamer Mann, Veteran des Amerikanischen Hilfsfeldzuges von '34, und im sogenannten Vereinten Bananenkrieg hatte er als Major in den Dschungeln von West-Honduras gekämpft; aus diesem Krieg ging er als Oberstleutnant hervor. Oberst wurde er dann beim unglücklichen New Yorker Aufstand. Damals führte er persönlich seine Männer zum Sturm auf die Gebäude der Subtreasury und hielt dann die Front an der 42nd Street gegen das schlagkräftige Gay Bataillon. Furcht kannte er nicht. Er war ein Soldat für Soldaten, hatte eine unglaublich makellose Führungsakte, war von sich aus schon wohlhabend und nicht unintelligent. Unter den U.S.-Senatoren und TexasMillionären hatte er viele Freunde. Seine Tüchtigkeit hatte ihm die militärische Führung an Bord der Jenny Lind gewonnen.
Nun wartete er sehnsüchtig auf den Augenblick, da er seinen Kampftrupp von zwanzig Marinesoldaten zur Oberfläche des fünften Planeten bringen konnte. Diese Aussicht erregte ihn. Und trotz der Instrumentendaten wußte Kettelman, daß da unten einiges sein konnte, das nur darauf wartete, anzugreifen, kampfunfähig zu machen und zu töten – falls er es nicht vorher tat, was zu tun er jedoch plante. »Da ist etwas«, sagte Macmillan. »Wir haben auf der Planetenoberfläche ein Raumschiff ausgemacht.« »Ah!« rief Kettelman. »Ich wußte doch, daß es da etwas geben müßte. Sie haben nur ein einziges Schiff entdeckt?« »Ja, ein kleines, von etwa dem zwanzigsten Teil des Volumens unseres Raumschiffes und offensichtlich unbewaffnet.« »Diesen Eindruck wollen sie natürlich erwecken«, meinte Kettelman. »Ich möchte wissen, wo die anderen sind.« »Welche anderen?« »Die anderen fremden Raumschiffe und Mannschaften mit ihren Boden-Raum-Waffensystemen und dem ganzen Rest natürlich.« »Die Anwesenheit eines fremden Raumschiffes hat logischerweise nicht unbedingt zu bedeuten, daß weitere Raumschiffe da sind«, erklärte Captain Macmillan. »Nein? Hören Sie mal, Mac, ich habe meine Logik in den Dschungeln von Honduras gelernt«, rieb ihm Kettelman unter die Nase. »Dort war die Regel, wenn Sie einen Heckenschützen mit einer Machete erwischten, konnten Sie sicher sein, daß sich weitere fünfzig oder noch mehr im Busch versteckten und
nur darauf warteten, einem die Ohren abzuschneiden, wenn man ihnen eine Chance gab. Wollte man abstrakte Beweise dafür abwarten, war man voraussichtlich schon tot, ehe man sie erhielt.« »Die Umstände waren da etwas anders«, bemerkte Captain Macmillan. »Und welche Rolle spielt das schon?« Macmillan zuckte zusammen und wandte sich ab. Für ihn war es immer sehr quälend, wenn er mit Kettelman sprechen mußte, und deshalb vermied er dies auch, soweit es möglich war. Der Colonel war ein streitsüchtiger Bursche, stur, leicht in eine schreckliche Wut zu treiben und hatte viele sehr fest zementierte Meinungen, die sich zum größten Teil auf eine unüberwindliche Ignoranz zurückführen ließen. Der Captain wußte, daß die Zuneigung des Colonels für ihn auch nicht größer war als umgekehrt. Er war sich auch darüber klar daß der Colonel ihn für einen Zauderer und Schwächling hielt – mit der einzigen Ausnahme seines wissenschaftlichen Gebietes. Zum Glück waren ihre Tätigkeitsbereiche scharf umrissen und abgegrenzt. Das heißt, das waren sie bis jetzt.
2 Detringer und Ichor standen in einem Wäldchen und beobachteten, wie sich das fremde Raumschiff zu einer tadellosen Landung herabsenkte. »Wer dieses Schiff führt, ist ein unvergleichlicher Meisterpilot«, sagte Detringer. »Den würde ich gern kennenlernen.«
»Du wirst zweifellos deine Gelegenheit bekommen«, antwortete Ichor. »Ganz gewiß ist es kein Zufall, daß sie es vorzogen, unmittelbar neben uns zu landen, wo sie doch die Oberfläche des ganzen Planeten zur Verfügung haben.« »Natürlich haben sie uns entdeckt«, sagte Detringer. »Und sie haben beschlossen, Furchtlosigkeit zu demonstrieren, genau wie ich es in ihrer Lage auch machen würde.« »Das klingt schon vernünftig«, gab Ichor zu. »Aber was wirst du tun in deiner Lage?« »Nun, ich werde selbstverständlich ebenso furchtlos sein.« »Das ist dann also ein historischer Moment. Ein Repräsentant der Völker von Ferlang wird in Kürze mit den ersten intelligenten Fremden zusammentreffen, denen unsere Rasse überhaupt je begegnet ist. Welche Ironie, daß diese Gelegenheit einem Verbrecher vorbehalten bleibt!« »Diese Gelegenheit, wie du dies nennst, wurde mir aufgezwungen. Ich versichere dir, ich habe sie nicht gesucht. Und übrigens, ich denke, wir werden nichts über meine kleinen Differenzen mit den Behörden von Ferlang sagen.« »Du meinst, daß du lügen willst?« »Das ist eine sehr harte Ausdrucksweise«, protestierte Detringer. »Wir wollen lieber sagen, ich erspare meinem Volk die Verlegenheit, einen Kriminellen als ihren ersten Gesandten an eine fremde Rasse vorstellen zu müssen.« »Hm. Ja. Ich vermute, das wird schon in Ordnung sein«, pflichtete ihm Ichor bei. Detringer musterte eindringlich seinen mechani-
schen Diener. »Mir scheint, Ichor, du bist mit meinen Gedankengängen nicht ganz einverstanden.« »Nein, Sir. Aber du mußt ja schließlich verstehen: Ich bin dir treu ohne Nörgelei. Ohne zu zögern würde ich mich jeden Augenblick selbst opfern, wenn es deinem Wohlergehen diente. Ich will dir bis zum Tod dienen, und darüber hinaus, falls dies möglich ist. Aber die Loyalität einer Person gegenüber schließt nicht aus, daß man einen eigenen religiösen, gesellschaftlichen und ethischen Glauben hat. Sir, ich liebe dich, aber dich billigen kann ich nicht.« »Nun, dann bin ich eben gewarnt«, erwiderte Detringer. »Und jetzt zurück zu unseren fremden Freunden. Eine Luke geht auf. Sie kommen heraus.« »Soldaten kommen heraus«, berichtigte Ichor. Die Neuankömmlinge waren Zweibeiner und hatten auch zwei obere Gliedmaßen. Jedes Individuum hatte nur einen Kopf, einen Mund und eine Nase wie Detringer auch. Sichtbare Schwänze oder Antennen hatten sie nicht. Daß sie Soldaten waren, ließ sich aus ihrer Ausrüstung schließen, die sie bei sich trugen. Jede Person war schwer beladen mit Dingen, die sich leicht als Projektilwaffen, Gas- und Explosivgranaten, Strahlenprojektoren, Kleinatomwaffen und sonstige ähnliche Instrumente erraten oder erkennen ließen. Jeder trug eine Rüstung, und ihre Köpfe hatten sie mit Plastikblasen umgeben. Es waren zwanzig, die so ausgerüstet waren, und einer, offensichtlich ihr Anführer, der keine sichtbaren Waffen trug. Er hatte dagegen einen wippenden Stock, möglicherweise ein Rangabzeichen, mit dem er sich immer wieder an die linke obere Hälfte der unteren Gliedmaße tippte, als er seinen Soldaten voran-
marschierte. Gut auseinandergezogen bewegten sich die Soldaten vorwärts und nahmen immer wieder Deckung hinter natürlichen Objekten; so demonstrierten sie eine Haltung extremen Mißtrauens und größter Vorsicht. Der Anführer ging direkt vorwärts, ohne Dekkung zu nehmen. Seine Miene drückte Unbekümmertheit, Tapferkeit oder Dummheit aus. »Ich glaube nicht, daß wir noch länger in diesem Buschzeug bleiben sollten«, schlug Detringer vor. »Für uns wäre es Zeit, herauszukommen und ihnen mit der Würde zu begegnen, die einem Abgesandten des Volkes der Ferlang ansteht.« Er trat also vorwärts und marschierte, gefolgt von Ichor, den Soldaten entgegen. In diesem Moment war Detringer einfach großartig. Jeder in der Jenny Lind wußte ja von dem fremden Raumschiff, das nur eine Meile weit weg war. Es hätte also gar nicht überraschen müssen, als es sich erwies, daß das fremde Schiff einen Fremden an Bord gehabt hatte, der in diesem Moment kühn Kettelmans Soldaten entgegenkam. Es war aber eine Überraschung. Niemand war darauf vorbereitet, einen echten, ehrlichen, merkwürdig aussehenden, lebendigen und sich bewegenden Fremden zu sehen. Diese Gelegenheit schloß zu viele Möglichkeiten mit ein. Um nur eine zu nennen: Was sagt man, wenn man endlich einmal einem Fremden, einem Außenweltler, begegnet? Wie benimmt man sich in einem so ehrfurchtgebietenden historischen Moment? Was immer einem da einfallen mag, es wird alles so oder ähnlich klingen wie: »Dr. Livingston, nehme ich an?« Die Leute werden einen ausla-
chen, weil man etwas so Pompöses oder Banales sagt, und das Gelächter wird sich über Jahrhunderte nicht legen. Einen Fremden zu treffen, das umschließt sämtliche Möglichkeiten für sehr viel Verlegenheit. Sowohl Captain Macmillan als auch Colonel Kettelman probten fieberhaft Begrüßungsworte, verwarfen sie wieder und hofften, daß der C31-Übersetzercomputer seine sämtlichen Transistoren hinausblasen möge. Die Soldaten beteten: Jesus, ich hoffe, er redet nicht ausgerechnet mit mir. Und der Schiffskoch dachte: Herrje, ich fürchte, das erste, was der Bursche da draußen wissen will, ist, was wir hier essen. Aber Kettelman hatte ja die Führung. Er überlegte: Zum Teufel damit! Ich werde ihn nicht zuerst anreden ... Er ging etwas langsamer, damit ihn seine Soldaten überholen konnten, doch die blieben stehen und ließen sich gern von ihrem Colonel anführen. Captain Macmillan blieb direkt hinter seinen Soldaten stehen und wünschte, er hätte nicht seine Paradeuniform mit allen Orden und Ehrenzeichen angelegt. Er war der Mann mit dem meisten glänzenden Metall an der Brust, und ganz selbstverständlich würde der Fremde nun auf ihn losgehen und zu reden anfangen. Alle Terraner blieben stehen. Der Fremde ging weiter. Die Verlegenheit der Terraner wurde zu panischer Angst. Die Soldaten sahen den Fremden an und dachten: Herr Jesus, was wird denn nun passieren? Mit einem Fuß hatten sie sich schon fluchtbereit gemacht. Kettelman sah dies und dachte: Jetzt blamieren sie das ganze Korps und mich auch! Diese Überlegung ernüchterte ihn. Plötzlich erinnerte er sich der Presseleute. Jawohl! Die Reporter
konnten diese Arbeit übernehmen! Dafür wurden sie ja auch bezahlt. »Ganzer Zug HALT!« rief er und ließ seine Leute schußbereit stehen. Der Fremde blieb auch stehen, vielleicht um zu sehen, was sich da weiterhin tat. »Captain«, sagte Kettelman zu Macmillan, »ich schlage vor, daß wir für diesen historischen Augenblick die Reporter loslassen – ich meine, daß wir sie dazu heranziehen.« »Ein ausgezeichneter Vorschlag«, antwortete Captain Macmillan und erteilte den Befehl, die Reporter aus ihrer Stasis zu holen und sofort herzubringen. Dann warteten alle, bis die Reporter kamen. Diese Reporter lagen alle in einem Spezialraum. An der Tür stand »STASIS – Nur autorisiertes Personal zugelassen«. Darunter waren handschriftlich die Worte angefügt: Dürfen nur für eine Top-Story aufgeweckt werden. Fünf Reporter und eine Reporterin lagen in diesem Raum, jede Person in einer eigenen Kapsel. Alle waren sich darin einig gewesen, daß es eine ungeheure Verschwendung subjektiver Zeit sei, wenn sie alle die Jahre durchleben müßten, welche die Jenny Lind brauchte, um in ihr Zielgebiet zu gelangen. Alle waren also bereit gewesen, sich in eine Stasis versetzen zu lassen unter der Voraussetzung, daß man sie sofort aufweckte, wenn sich etwas Berichtenswertes ereignete. Die Entscheidung darüber überließen sie Captain Macmillan, der während seiner Studienjahre an der Universität von Taos als Reporter für die Phoenix Sun gearbeitet hatte. Ramon Delgado, ein schottischer Ingenieur mit ei-
ner ganz sonderbaren Lebensgeschichte, erhielt den Befehl, die Reporter aufzuwecken. Er traf die nötigen Vorkehrungen und nahm die vorgeschriebenen Berichtigungen an ihrem Lebenserhaltungssystem vor. Fünfzehn Minuten später waren sie noch ein wenig benommen, aber bei Bewußtsein und verlangten zu wissen, was vorging. »Wir sind auf einem Planeten gelandet«, berichtete ihnen Delgado. »Das ist ein Planet vom Typ Erde, scheint aber keine Zivilisation und auch keine eigenen intelligenten Lebewesen zu haben.« »Und deshalb weckst du uns auf?« hielt ihm Quebrada vom Südost-Nachrichten-Syndikat vor. »Da ist schon noch mehr dran«, sagte Delgado. »Auf dem Planeten ist ein fremdes Raumschiff, und wir haben Kontakt mit einem intelligenten Fremden bekommen.« »Das ist schon besser«, bemerkte Millicent Lopez vom Woman's Wear Daily und anderen Zeitschriften. »Hast du zufällig gesehen, was der Fremde anhat?« »Könntest du daran abschätzen, wie intelligent er ist?« spöttelte Mateos Upmann von der N. Y. and L. A. Times. »Was hat er denn bisher gesagt?« wollte Angel Potemkin von NBC-CBS-ABC wissen. »Gesagt hat er noch gar nichts«, erwiderte Ingenieur Delgado. »Niemand hat noch mit ihm gesprochen.« »Willst du etwa damit sagen«, erkundigte sich E. K. Quetzala vom Western News Syndicate, »daß der erste Fremde, dem Erdenleute jemals begegnet sind, noch immer wie ein Trottel da draußen steht und ihn niemand hereingebeten hat?«
Die Zeitungsleute rannten hinaus, manche von ihnen hatten noch Drähte und Röhrchen an sich hängen, und grapschten nur schnell im Bereitschaftsraum der Reporter nach ihren Aufnahmegeräten. Draußen blinzelten sie erst einmal in das grelle Sonnenlicht. Drei von ihnen schlossen sich an den C31Übersetzungscomputer an und nahmen ihn mit. Dann rannten alle wieder weiter, schoben die Soldaten weg und kreisten den Fremden ein. Upmann schaltete den C31 ein, nahm eines seiner Mikrofone und reichte ein anderes dem Fremden, der erst einen Augenblick zögerte, ehe er es nahm. »Test, eins-zwei-drei«, sagte Upmann. »Haben Sie verstanden, was ich sagte?« »Sie haben gesagt ›Test, eins-zwei-drei‹«, erwiderte Detringer, und alle atmeten nach diesen ersten denkwürdigen Worten des Fremden erleichtert auf. Upmann würde jedoch in den künftigen Geschichtsbüchern wie ein Vollidiot dastehen. Aber das war ihm egal, solange er überhaupt in die Geschichtsbücher kam, die er selbst zu schreiben gedachte, und so setzte er sein Interview fort. Die anderen fielen ein. Detringer mußte erzählen, was er aß, wie lange und wie oft er schlief, er mußte sein Sexleben beschreiben und seine Abweichungen von der Norm von Ferlang, seine ersten Eindrücke von den Erdenmenschen, seine persönliche Philosophie; man wollte wissen, wie viele Frauen er besaß, wie er mit ihnen zurechtkam, wie viele Kinder er hatte, wie er sich als Persönlichkeit fühlte. Er mußte von seiner Beschäftigung, seinen Hobbys erzählen, von seinem Interesse oder Desinteresse an Gartenarbeit, von seiner Freizeit, seinem Urlaub und so weiter. Man fragte ihn, ob und
womit er sich schon einmal betrunken habe, wie es um seine außerehelichen Sexpraktiken bestellt sei, welche Sportarten er betreibe. Dann wollte man noch seine Ansichten kennenlernen über die Möglichkeit einer Freundschaft zwischen interstellaren intelligenten Rassen, und man interessierte sich auch für die Vor- oder Nachteile eines Schwanzes und für viele weitere Dinge. Captain Macmillan schämte sich jetzt ein wenig vor sich selbst, weil er seine offiziellen Pflichten so sehr vernachlässigt hatte, trat vor und rettete den Fremden, der tapfer versuchte, das Unerklärliche zu erklären und sich sehr damit abplagte. Colonel Kettelman kam nun auch heran, denn er war ja schließlich für die allgemeine Sicherheit verantwortlich; seine Pflicht war es, die Natur und die Absichten des Fremden eindringlich auszuforschen. Zwischen den beiden Offiziellen gab es eine kurze scharfe Meinungsverschiedenheit darüber, wer nun die ersten Worte mit Detringer zu sprechen habe, oder ob man das gemeinsam tun solle. Man traf schließlich die Entscheidung, daß Macmillan, als symbolischer Vertreter der Erdenbevölkerung, sich zuerst dem Fremden nähern sollte, doch es war selbstverständlich, daß dies nur eine zeremonielle Begrüßung zu sein hatte. Kettelman sollte Detringer später treffen, und diese Begegnung sollte dann aktionsorientiert sein. Damit waren die Probleme ganz ordentlich gelöst, und Detringer ging mit Macmillan weg, während die Soldaten zum Schiff zurückkehrten, die Waffen verstauten und sich daranmachten, ihre Stiefel zu polieren.
Ichor hielt sich abseits. Der Reporter der Midwest News Briefs hatte ihn sich für ein Interview geholt. Er hieß Melchior Carrera und schrieb als Reporter der Nachrichtenagentur auch Berichte für Popular Mechanics, Playboy, Rolling Stone und Automation Engineer's Digest. Das Interview war sehr interessant. Detringers Gespräch mit Captain Macmillan lief recht gut. In den meisten Dingen teilten sie einen relativistischen Ausblick, beide besaßen natürlichen Takt, und jeder war zu einem mitfühlenden Verständnis des Standpunktes bereit, der nicht sein eigener war. Sie waren einander sympathisch, und Captain Macmillan stellte mit einigem Erstaunen fest, daß Detringer viel weniger fremd für ihn war als zum Beispiel Kettelman. Das Interview mit Colonel Kettelman folgte sofort, und das war ganz anders. Nach ein paar kurzen Höflichkeiten kam der Colonel direkt zum Geschäft. »Was tun Sie hier?« wollte er wissen. Detringer hatte sich auf die Notwendigkeit einer Erklärung der Lage vorbereitet. Er sagte: »Ich bin eine Art Kundschafter für die Raumflotten von Ferlang. Ein Liniensturm hat mich weit von meinem Kurs abgetrieben, und als mein Treibstoff zu Ende ging, landete ich hier.« »Sie sitzen also fest.« »Ja, das ist richtig. Natürlich nur vorübergehend. Sobald meine Leute das nötige Personal und die entsprechende Ausrüstung freistellen können, werden sie ein Rettungsschiff schicken, um mich abzuholen. Aber das kann natürlich eine ganze Weile dauern. Wenn es Ihnen nichts ausmachen würde, mir ein bißchen Treibstoff zu überlassen, wäre ich Ihnen außer-
ordentlich dankbar.« »Hmmmmm«, meinte Colonel Kettelman. »Wie bitte?« »Hm«, wiederholte der C31-Übersetzungscomputer. »Das ist ein höfliches Geräusch, das von den Terranern gemacht wird, um eine kurze Periode des Nachdenkens zu kennzeichnen.« »Das ist doch eine ganze Menge Quatsch«, erklärte Kettelman. »Hm, das bedeutet gar nichts. Sie sagen, daß Sie Treibstoff benötigen?« »Ja, Colonel. Treibstoff«, bestätigte Detringer. »Aus verschiedenen äußeren Zeichen schließe ich, daß Ihr und mein Raketensystem vergleichbar sind.« »Das Raketensystem der Jenny Lind –« begann der Übersetzungscomputer. »Moment, das ist doch geheim«, sagte Kettelman. »Nein, ist es nicht«, widersprach der C31. »Seit zwanzig Jahren benützt jeder auf der Erde dieses System, und im vergangenen Jahr wurde es offiziell als nicht mehr geheim erklärt.« »Hm«, sagte der Colonel und schaute sehr unglücklich drein, als C31 das Antriebssystem des Schiffes erklärte. »Genau wie ich dachte«, antwortete Detringer. »Ich brauche nicht einmal die Formel abzuändern. Ihren Treibstoff kann ich so benützen, wie er ist. Das heißt, wenn Sie mir etwas davon zur Verfügung stellen könnten.« »Oh, da haben wir keine Schwierigkeiten«, erwiderte Kettelman. »Wir haben eine ganze Menge. Aber ich denke, erst müssen wir uns über ein paar Kleinigkeiten unterhalten.« »Über was etwa?« wollte Detringer wissen.
»Ob es zum Beispiel den Interessen unserer Sicherheit dient, Ihnen den Treibstoff zu geben.« »Darin sehe ich doch kein Problem«, sagte Detringer. »Das müßte ganz klar sein. Ferlang scheint ein Planet mit einer hochentwickelten technologischen Zivilisation zu sein. Als solche sind Sie für uns eine mögliche Bedrohung.« »Mein lieber Colonel, unsere Planeten sind in verschiedenen Galaxien.« »Na und? Wir Amerikaner haben immer unsere Kriege so weit entfernt von zu Hause wie nur möglich geführt. Vielleicht seid ihr Ferlanger auch so. Welche Rolle spielen Entfernungen, solange sie zu überbrücken sind?« Detringer bezähmte sein Temperament und sagte: »Wir sind friedliche Leute, nur auf Verteidigung bedacht und außerordentlich interessiert an interstellarer Freundschaft und Zusammenarbeit.« »Das sagen Sie«, entgegnete Kettelman. »Aber wie soll ich dessen sicher sein können?« »Colonel«, erwiderte Detringer, »sind Sie nicht ein bißchen zu ...« Er suchte nach dem richtigen Wort und wählte eines, das eigentlich nicht zu übersetzen war. »Ein wenig zu ... urmuguahtt?« Der C31 half. »Er will wissen, ob Sie nicht ein bißchen ... paranoid sind.« Kettelman stellte alle Stacheln auf. Nichts konnte ihn mehr ärgern, als wenn ihn jemand für paranoid hielt. Da fühlte er sich verfolgt. »Machen Sie mich nicht stocksauer«, warnte er düster. »Nun, angenommen, Sie erzählen mir einmal, warum ich nicht Befehl erteilen soll, Sie zu töten und
Ihr Schiff im Interesse der Sicherheit der Erde zu Schrott zerlegen zu lassen. Wenn Ihre Leute herkommen, sind wir längst über alle Berge, und die Ferlanger, oder wie Sie sich nennen, haben überhaupt keine Ahnung von uns.« »Das wäre natürlich eine Möglichkeit für Sie«, antwortete Detringer, »wäre nicht die Tatsache, daß ich meinen Leuten über Radio eine Mitteilung durchgab, als ich Ihr Schiff sah. Ich habe weitergesendet, bis zu dem Moment, als ich herauskam, Sie zu treffen. Ich erzählte dem Stützpunktkommandanten alles, was ich ihm über Sie erzählen konnte, auch sprach ich meine Vermutung darüber aus, welcher Typ Sonne die Vorbedingung für Ihre Körperbeschaffenheit sei, ferner in welcher Richtung Ihre Welt liegen müsse. Oh, das ist ganz einfach mit einer Ionenspuranalyse.« »Sie sind ein sehr gerissener Bursche, nicht wahr?« vermutete Kettelman ziemlich dümmlich. »Und ich berichtete auch meinen Leuten, daß ich mir von Ihnen etwas Treibstoff erbitten würde, weil Sie offensichtlich reichlich damit eingedeckt seien. Ich nehme an, man würde es als überaus unfreundlichen Akt betrachten, wenn Sie mir diese Gefälligkeit verweigerten.« »Daran dachte ich doch niemals«, behauptete Kettelman. »Hm. Ich habe den Befehl, keine interstellaren Zwischenfälle zu provozieren ...« »Und?« fragte Detringer und wartete. Es folgte ein langes, unbehagliches Schweigen. Kettelman haßte den Gedanken, einem Fremden, der sein nächster Feind sein konnte, so etwas wie militärische Hilfestellung zu leisten, doch er sah keine
Möglichkeit, sie zu verweigern. »Na schön«, sagte er schließlich. »Ich schicke Ihnen morgen den Treibstoff herüber.« Detringer bedankte sich bei ihm und sprach ziemlich offen über die riesige Größe und ausgezeichnete Bewaffnung der Raumstreitkräfte von Ferlang. Er übertrieb etwas. In der Tat war nicht ein Wort von dem, was er sagte, wahr.
3 Früh am nächsten Morgen kam ein Mensch zu Detringers Schiff und brachte einen Kanister Treibstoff. Detringer sagte ihm, er möge ihn irgendwo abstellen, aber der Mensch bestand darauf, ihn persönlich durch die winzige Kabine zu tragen und ihn in den Treibstofftank zu entleeren. Er sagte, dies sei des Colonels Befehl. »Nun, das ist ein Anfang«, sagte Detringer zu Ichor. »Nur noch ungefähr sechzig weitere Kanister voll.« »Warum schicken die immer nur einen?« fragte Ichor. »Das ist doch sehr unpraktisch.« »Nicht unbedingt. Das hängt davon ab, was Kettelman damit zu erreichen hofft.« »Was meinst du damit?« fragte Ichor. »Nichts, hoffe ich. Warten wir ab, dann sehen wir's schon.« Sie warteten, und viele Stunden vergingen. Endlich wurde es Abend, aber kein weiterer Treibstoff war mehr herübergeschickt worden. Detringer ging zum Schiff der Terraner. Die Reporter wischte er zur Seite
und verlangte eine Unterredung mit Kettelman. Eine Ordonnanz führte ihn in die Wohnräume des Colonels. Es war ein einfach möbliertes Zimmer. An der Wand hingen Erinnerungsstücke, zwei Reihen Medaillen, die auf schwarzem Samt in einem prunkvollen goldenen Rahmen prangten, ein Foto eines Dobermann-Pinschers mit gefletschten Zähnen und ein Schrumpfkopf aus der Zeit der Belagerung von Tegucigalpa. Der Colonel selbst trug nur noch Khakishorts und drückte in jeder Hand und mit jedem Fuß einen Gummiball. »Ja, Detringer, was kann ich für Sie tun?« fragte Kettelman. »Ich kam, Sie zu fragen, warum Sie keinen Treibstoff mehr schickten.« »Nein, wirklich?« Kettelman ließ alle Gummibälle los und setzte sich in einen Direktorensessel mit Lederlehne, auf dem sein Name stand. »Nun, die Antwort darauf erhalten Sie in Form einer Frage. Detringer, wie gelang es Ihnen, eine Radiomitteilung an Ihre Leute zu übermitteln, wenn Sie doch überhaupt keine Funkausrüstung haben?« »Wer behauptet, daß ich keine Funkausrüstung habe?« fragte Detringer. »Ich habe Ingenieur Delgado mit diesem ersten Kanister Treibstoff geschickt«, erklärte ihm Kettelman. »Er hatte Befehl, zu schauen, welches Radiosystem Sie benützten. Er sagte mir, er habe in Ihrem Schiff überhaupt keine Spur einer Funkanlage entdeckt. Ingenieur Delgado ist in diesen Dingen ein ausgekochter Fachmann.« »Wir haben unsere Ausrüstung miniaturisiert«, erwiderte Detringer.
»Das tun wir auch. Aber trotzdem ist eine ganze Menge Klempnerei nötig und sichtbar, doch die scheinen Sie nicht zu haben. Ich darf hinzufügen, daß wir, seit wir uns diesem Planeten näherten, alle Wellenlängen abgehört haben, doch wir haben keine Mitteilung in irgendeiner Form aufgefangen.« »Das kann ich alles erklären«, erwiderte Detringer. »Bitte, tun Sie's doch.« »Das ist ganz einfach. Ich habe Sie angelogen.« »Das ist mir klar. Es erklärt aber nichts.« »Ich bin ja noch nicht fertig. Wir Ferlangi haben ja auch unser Sicherheitssystem, wissen Sie. Bis wir mehr über Sie wissen, ist es nur vernünftig, so wenig wie möglich über uns zu enthüllen. Wenn Sie nun glauben, wir bedienten uns eines so primitiven Verständigungssystems wie Radio, so ist das immerhin ein kleinerer Vorteil für uns, falls wir einander je unter unfreundlichen Umständen begegnen sollten.« »Wie verständigen Sie sich also? Oder tun Sie's nicht?« Detringer zögerte. »Ich nehme an, es spielt keine große Rolle, ob ich's Ihnen sage oder nicht. Früher oder später müßten Sie doch herausfinden, daß meine Spezialität Telepathie ist.« »Oh! Telepathie? Sie behaupten also, daß Sie Gedanken ausschicken und empfangen können?« »Das ist richtig«, erwiderte Detringer. Kettelman starrte ihn einen Augenblick lang an, dann sagte er: »Okay. Was denke ich jetzt?« »Sie denken, ich sei ein Lügner«, antwortete Detringer. »Das stimmt«, gab Kettelman zu. »Aber das lag ja auf der Hand, und ich erfuhr es
nicht durch Gedankenlesen. Sehen Sie, wir Ferlangi sind Telepathen nur innerhalb und mit unserer eigenen Spezies.« »Wissen Sie was?« entgegnete Kettelman. »Ich halte Sie noch immer für einen verdammten Lügner.« »Natürlich. Die Frage ist nur die, ob Sie dessen so sicher sein können.« »Ich bin verdammt sicher«, behauptete Kettelman grimmig. »Aber genügt das auch für Ihre Sicherheit? Überlegen Sie doch einmal. Wenn ich die Wahrheit sage, dann sind Ihre gestrigen Gründe, mir mit Treibstoff auszuhelfen, heute noch ebenso gültig. Sind Sie mit mir einer Meinung?« Widerstrebend gab ihm der Colonel recht. »Wenn ich lüge, und Sie geben mir Treibstoff, dann entsteht Ihnen kein Schaden. Sie haben jemandem geholfen, der sich in einer Notlage befindet, so daß ich mich mit meinem Volk in Ihrer Schuld fühle. Das wäre ein vielversprechender Weg zum Beginn einer guten Beziehung zwischen uns. Und weil Ihre und meine Rasse tief in den Raum vorgestoßen sind, läßt es sich nicht vermeiden, daß wir irgendwo wieder einmal zusammentreffen.« »Ich vermute ebenfalls, daß es sich nicht vermeiden läßt«, gab Kettelman zu. »Aber ich kann Sie hier festnageln und jeden offiziellen Kontakt so lange hinausschieben, bis wir besser vorbereitet sind.« »Sie können versuchen, den nächsten Kontakt hinauszuschieben«, entgegnete Detringer. »Er kann aber jederzeit irgendwo hergestellt werden. Sie haben nun eine Chance für einen guten Anfang. Die nächste Begegnung könnte unter Umständen nicht mehr ganz
so aussichtsreich sein.« »Hmmmm«, sagte Kettelman. »Es gibt also genug Gründe, mir zu helfen, selbst dann, wenn ich lüge. Und vergessen Sie nicht, es ist immerhin möglich, daß ich die Wahrheit sage. In diesem Fall wäre es ein äußerst unfreundlicher Akt, wenn Sie mir den Treibstoff verweigerten.« Der Colonel lief in dem kleinen Raum auf und ab, dann wirbelte er herum. »Sie argumentieren verdammt zuviel!« erklärte er wütend. »Es ist nur mein Glück, daß die Logik ganz auf meiner Seite ist«, erwiderte Detringer. »Er hat recht, wissen Sie«, sagte der C31Übersetzercomputer. »Über die Logik, wissen Sie.« »Halt die Klappe!« »Ich dachte, es sei meine Pflicht, darauf hinzuweisen«, erwiderte C31 spitz. Der Colonel hörte auf, herumzumarschieren und rieb sich die Stirn. »Detringer, verschwinden Sie«, sagte er müde. »Ich schicke Ihnen Treibstoff hinüber.« »Sie werden das nicht bedauern«, versprach ihm Detringer. »Ich bedaure es jetzt schon«, erwiderte Kettelman. »Und nun gehen Sie bitte.« Detringer eilte zu seinem Schiff zurück und erklärte Ichor die guten Nachrichten. Der Roboter war erstaunt. »Ich hatte nicht damit gerechnet, daß er das tun würde«, meinte er. »Ich ja auch nicht«, gab Detringer zu. »Aber es gelang mir doch, ihn zu überzeugen.« Er berichtete Ichor genau von der Unterhaltung mit dem Colonel. »Du hast also gelogen«, stellte Ichor traurig fest. »Ja. Aber Kettelman weiß, daß ich gelogen habe.«
»Warum hilft er dir dann trotzdem?« »Aus Angst, daß ich vielleicht doch die Wahrheit sagen könnte.« »Meister, Lügen ist eine Sünde und ein Verbrechen.« »Noch schlimmer ist es aber, hier festgenagelt zu bleiben«, widersprach ihm Detringer. »Es wäre eine unverzeihliche Dummheit.« »Das ist keine orthodoxe Ansicht.« »Vielleicht wäre es für uns besser, wir würden uns nicht mehr über orthodoxe Ansichten unterhalten.« Nach einer Weile sagte Detringer: »Ich habe jetzt zu arbeiten. Du gehst besser hinaus und siehst zu, daß du etwas zu essen findest.« Schweigend gehorchte der Diener, und Detringer setzte sich vor den Sternenatlas in der Hoffnung, etwas zu finden, wohin er gehen könne, falls er irgendwohin gehen könnte. Der Morgen kam hell und strahlend. Ichor ging zum Erdenschiff hinüber, um mit dem Geschirrspükoboter Schach zu spielen. Mit dem hatte er am Tag vorher Bekanntschaft geschlossen. Detringer wartete auf den Treibstoff. Er war nicht besonders erstaunt, als der Mittag kam und kein Treibstoff geschickt worden war. Aber er war enttäuscht und angewidert und gekränkt. Er wartete noch zwei Stunden, dann ging er zum Erdenschiff hinüber. Man schien ihn erwartet zu haben, denn man führte ihn sofort in die Offiziersmesse. Colonel Kettelman saß in einem tiefen Armsessel. Ein bewaffneter Soldat stand links und einer rechts von ihm. Des Colonels Miene war streng, doch spielte über seine
verwitterten Züge auch so etwas wie boshaftes Vergnügen. Ganz in der Nähe saß Captain Macmillan. Sein gut geschnittenes Gesicht war undurchdringlich. »Nun, Detringer, was gibt es diesmal?« fragte der Colonel. »Ich kam, um Sie wegen des Treibstoffes zu fragen, den Sie mir versprochen haben«, antwortete Detringer. »Aber ich sehe schon, daß Sie nicht die Absicht hatten, Ihr Versprechen auch zu halten.« »Sie haben mich wohl falsch verstanden«, erwiderte der Colonel. »Ich hatte selbstverständlich die Absicht, einem Angehörigen der Streitkräfte von Ferlang mit Treibstoff auszuhelfen, doch was ich da vor mir sehe, ist keine solche Person.« »Wen sehen Sie dann?« erkundigte sich Detringer. Kettelman unterdrückte ein hämisches Grinsen. »Nun, einen Verbrecher, von seinem eigenen Volk und dessen höchstem Gerichtshof gerichtet und ausgestoßen. Ich sehe einen Schurken vor mir, dessen böse Taten in den Annalen der neueren Jurisprudenz von Ferlang ohne Beispiel sind. Ich sehe eine Person vor mir, deren unbeschreibliches Benehmen das strengste Urteil nach sich zog, das Ihr Volk kennt, die Ewige Verbannung in den tiefen Raum. Deshalb sehe ich Sie vor mir stehen. Wollen Sie das etwa leugnen?« »Im Moment leugne ich weder etwas, noch gebe ich etwas zu«, entgegnete Detringer. »Erst möchte ich wissen, aus welcher Quelle Ihre bemerkenswerten Informationen stammen.« Colonel Kettelman nickte einem seiner Soldaten zu. Der Mann öffnete eine Tür und führte Ichor herein, gefolgt von dem Geschirrwäscherroboter. Der mechanische Diener platzte heraus: »Oh, Mei-
ster! Ich erzählte Colonel Kettelman den wahren Hergang der Ereignisse, die zu unserem Exil auf diesem Planeten führten. Und jetzt habe ich dich zum Untergang verdammt! Ich erbitte mir das Recht, mich sofort selbst vernichten zu dürfen als teilweise Gutmachung des durch meine Treulosigkeit angerichteten Schadens.« Detringer schwieg und überlegte fieberhaft. Captain Macmillan lehnte sich dem Diener entgegen und fragte: »Ichor, warum hast du deinen Herrn verraten?« »Mir blieb doch nichts anderes übrig, Captain«, rief der Unglückliche. »Ehe die Behörden von Ferlang mir gestatteten, meinen Meister zu begleiten, haben sie in mein Gehirn einige strenge Befehle geprägt. Sie sind mit Sonderstromkreisen verstärkt.« »Welche Befehle?« »Die Behörden haben mir die Rollen eines Polizisten und Henkers aufgezwungen. Sie forderten, daß ich geeignete Maßnahmen ergreifen müsse, sollte Detringer durch irgendein Wunder sich in der Lage befinden, sich der gerechten Strafe zu entziehen.« Der Tellerwäscherroboter erklärte nun: »Das hat er mir gestern alles erzählt, Captain. Ich bat ihn, diesen Befehlen Widerstand zu leisten. Sir, mir kam das alles wie eine ziemlich schlechte Show vor, wenn Sie wissen, was ich damit meine.« »Oh, ich widerstand, solange ich irgendwie konnte«, versicherte Ichor. »Aber meines Meisters Chancen für eine Flucht verbesserten sich erheblich, und da wurde der Zwang, sie zu verhindern, immer stärker. Nur eine sofortige Unterbrechung der Spezialstromkreise hätte mich aufhalten können.«
Der Tellerwäscherroboter sagte: »Ich habe ihm angeboten, einen Versuch dazu zu unternehmen. Sir, obwohl die einzigen Werkzeuge, die ich zur Verfügung habe, Löffel, Messer und Gabeln sind.« Ichor sagte: »Ich hätte mich nur allzu gern einer solchen Operation unterzogen. Wirklich, ich wollte mich sogar selbst vernichten, um zu verhüten, daß auch nur ein verräterisches Wort meiner unfreiwillig betrügerischen Stimmbox entfleuchte. Aber die Behörden von Ferlang haben mit dieser Möglichkeit schon gerechnet, und so haben sie in mich den Zwang hineinprogrammiert, daß ich nie in ein Herumpfuschen an mir einwilligen dürfe, noch weniger in eine Zerstörung, solange sie nicht nach den Vorschriften meines Staates erfolgte. Ich leistete Widerstand bis zu diesem Morgen, und dann sickerte es allmählich infolge dieses Wertekonflikts aus mir heraus. So begab ich mich also zu Colonel Kettelman und erzählte ihm alles.« »Und da haben Sie nun die ganze düstere Geschichte«, sagte Kettelman zum Captain. »Noch nicht alles«, erwiderte Captain Macmillan ruhig. »Sagen Sie, Detringer, was, genau, waren Ihre Verbrechen?« Detringer berichtete darüber mit ruhiger Stimme, seine Handlungen von unglaublicher Roheit, den Akt Öffentlicher Aggression und den eines Bewußten Ungehorsams, und Ichor nickte dazu bedrückt. »Ich denke, wir haben genug gehört«, sagte Kettelman. »Ich will in diesem Fall wirklich kein Urteil sprechen.« »Einen Augenblick, Colonel«, bat Captain Macmillan. Er wandte sich an Detringer. »Sind Sie jetzt oder
waren Sie je ein Angehöriger der Streitkräfte von Ferlang?« »Nein«, erwiderte Detringer, und Ichor bestätigte mit heftigem Nicken diese Aussage. »Dann ist dieser Mann Zivilist«, stellte Captain Macmillan fest, »und muß von einer Zivilbehörde gerichtet und verurteilt werden, nicht aber von Militärs.« »Davon verstehe ich nichts«, erklärte Kettelman. »Das ist doch alles ganz klar«, sagte Captain Macmillan. »Er ist ein Zivilist, der von einem Zivilgericht verurteilt wurde. Weil zwischen seinem Volk und dem unseren kein Kriegszustand besteht, ist sein Fall auch keine militärische Angelegenheit. In keiner Weise.« »Ich bin trotzdem der Ansicht, daß die Sache in meine Zuständigkeit fällt«, erklärte Kettelman. »Ich weiß mehr über solche Dinge als Sie, Sir, und das sage ich mit allem gebührenden Respekt.« »Ich werde diesen Fall beurteilen«, sagte Macmillan. »Außer Sie übernehmen das Kommando dieses Schiffes mit Waffengewalt, doch das würde ich Ihnen nicht empfehlen.« Kettelman schüttelte den Kopf. »Ich denke nicht daran, mir dafür Minuspunkte in meiner Beurteilung einzuhandeln. Nun, machen Sie schon. Verurteilen Sie ihn.« Captain Macmillan wandte sich an Detringer. »Sir«, sagte er, »Sie müssen verstehen, daß ich nicht meinen persönlichen Neigungen in dieser Sache folgen kann. Ihr Staat hat Sie verurteilt, und ich würde falsch, unverschämt und politisch instinktlos handeln, würde ich dieses Urteil mißachten.«
»Verdammt richtig«, pflichtete ihm Kettelman bei. »Deshalb halte ich das Urteil Ewiger Verbannung aufrecht. Aber ich werde es viel nachdrücklicher erzwingen, als es bisher geschehen ist.« Der Colonel grinste. Ichor gab ein Geräusch der Verzweiflung von sich. Der Tellerwäscherroboter murmelte: »Armer Kerl!« Detringer stand fest und stramm da, und sein Blick hing ruhig am Captain. Macmillan sagte: »Es ist der Urteilsspruch dieses Gerichtshofes, daß der Gefangene sein Exil fortsetzt. Weiter bestimmt das Gericht, daß der Aufenthalt dieses Gefangenen auf diesem angenehmen Planeten ein Vorzug ist, der von den Behörden von Ferlang nicht beabsichtigt war. Deshalb, Detringer, müssen Sie sofort dieses Exil verlassen und in die unendliche Raumleere zurückkehren.« »Das ist ein wirklich strenges, gerechtes Urteil, das ihn Mores lehren wird«, bemerkte Kettelman. »Captain, ich ahnte gar nicht, daß Sie das in sich haben.« »Ich freue mich, daß Sie mir beipflichten«, erwiderte Captain Macmillan. »Ich fordere hiermit, daß Sie die Ausführung dieses Urteils überwachen.« »Es wird mir ein Vergnügen sein.« »Sie setzen dazu alle Ihre Männer ein«, fuhr der Captain fort. »Ich rechne damit, daß Sie die Treibstofftanks des Gefangenen in etwa zwei Stunden aufgefüllt haben können. Ist dies geschehen, muß der Gefangene den Planeten sofort verlassen.« »Den schicke ich noch vor Einbruch der Nacht auf die Reise«, versprach Kettelman. Doch dann schoß ihm etwas durch den Kopf. »He! Treibstoff für seine Tanks? Das wollte Detringer doch die ganze Zeit hindurch!«
»Das Gericht ist nicht interessiert an dem, was der Gefangene wünscht oder nicht wünscht«, erwiderte Macmillan. »Seine Wünsche haben keinen Einfluß auf das Urteil dieses Gerichtes.« »Aber verdammt noch mal, Mensch, verstehen Sie denn nicht, daß Sie ihn damit nur laufen lassen?« rief Kettelman entrüstet. »Ich zwinge ihn ja zu gehen«, erklärte Macmillan. »Das ist doch etwas ganz anderes.« »Na, dann wollen wir mal sehen, was die auf der Erde dazu sagen werden«, bemerkte Kettelman düster. Detringer verbeugte sich, um Unterwerfung zu demonstrieren. Es gelang ihm, sein Gesicht weiter in ernste Falten zu legen, bis er das Erdenschiff verlassen hatte. Vor Einbruch der Nacht hob Detringer ab. Der getreue Ichor war bei ihm, treuer jetzt als je zuvor, nachdem er seine Zwangsprogrammierung entladen hatte. Bald waren sie wieder in den Tiefen des Raumes. »Meister«, fragte Ichor, »wohin gehen wir?« »Zu einer wundervollen neuen Welt«, versprach ihm Detringer. »Oder vielleicht in unseren Tod?« »Vielleicht«, erwiderte Detringer. »Aber meine Treibstofftanks sind voll, und da weigere ich mich, mir Sorgen zu machen.« Eine Weile schwiegen sie. Dann sagte Ichor: »Ich hoffe, daß Captain Macmillan deswegen keinen Ärger bekommt.« »Er schien absolut fähig zu sein, für sich selbst zu sorgen«, erwiderte Detringer.
Als sie wieder auf der Erde waren, wurde Captain Macmillans Handlungsweise zu einem umfangreichen Streitfall. Ehe es jedoch zu einer offiziellen Entscheidung darüber kommen konnte, wurde ein zweiter, diesmal offizieller Kontakt zwischen Ferlang und Erde hergestellt. Der Fall Detringer kam selbstverständlich und unvermeidlich zur Sprache, und man fand ihn so kompliziert, daß man eine schnelle Entscheidung nicht herbeiführen konnte oder wollte. Die Angelegenheit wurde einem Juristenausschuß der beiden Zivilisationen übergeben. Fünfhundertsechs Ferlang- und Erdenanwälte beschäftigten sich ausschließlich damit. Die Argumente pro und kontra konnte man noch viele Jahre später hören. Um diese Zeit hatte Detringer längst ein sicheres Asyl gefunden und nahm eine geachtete Stellung im Volk der Oumenke ein, einer Zivilisation auf einem der Randsterne.
Originaltitel: A SUPPLIANT IN SPACE. Aus GALAXY 11/73 Copyright © 1973 by UPD Publishing Corporation
Theodore Sturgeon EIN UNGEWÖHNLICHER KUMMERJÄGER Im Sommer 1982 blies ein Wind schräg durch die Büros von M&H. Dieser Ausdruck stammte von Mr. Miroshi, denn er hatte eine poetische Ader. Was er damit meinte, war ein bißchen bizarr, bestürzend und in den Folgen unvorhersehbar. Im Lauf eines gewöhnlichen Geschäftstages sollte man es kaum für entscheidend halten, wenn der Computer für die Abteilung Mathematik zum Beispiel ein medizinisches Papier lieferte, das vollständig mit bestürzenden Illustrationen bedeckt ist, oder wenn Marketing einen Überblick über die Importe von Neuseeland wünschte und statt dessen einen Artikel über menschliche Feindseligkeiten und Aggressionen erhielt. Aber M&H war ja auch kein gewöhnliches Geschäft, und deshalb holten sie Merrihew zu Hilfe. Merrihew war auch kein ganz gewöhnlicher Kummerjäger. Mr. Handel, Ko-Präsident von M&H, erklärte Merrihew M&H, als sie sich in ihrer Nische in einem Kaffeehaus nicht weit vom M&H-Hauptquartier entfernt niedergelassen hatten. Das war natürlich Merrihews Vorschlag gewesen; Dinge, die er nicht begriff, übernahm er nicht. »Kein gewöhnliches Geschäft, Mr. Merrihew. Wir sind auch wirklich keine große Firma. Aber Maserati ist auch keine große Firma, und niemand produziert bisher noch Yomeimon Gates. Unsere Methoden sind,
wie ich es nennen würde, ungewöhnlich. Ich will nicht sagen«, fügte er bescheiden hinzu, »einzigartig.« »Das sagt Ihre Reklame von Ihnen.« »Ah, dann wissen Sie also einiges über uns.« Merrihew stand im Ruf, etwas über alles zu wissen, und bat Mr. Handel mit einer Geste, doch weiterzusprechen. Das tat er auch. »Wir sind sehr mannigfaltig und kaufen, verkaufen, vermitteln, stellen her, bauen und produzieren sehr viele Dinge auf verschiedene Arten und an zahlreichen Orten. In aller Sicherheit können wir von uns behaupten, daß jede unserer Aktivitäten in einem gewissen Grad – unterschiedlich, natürlich – erfolgreich ist.« »Von ausgezeichnet in allen Abstufungen bis gut.« »Sie sind sehr liebenswürdig, Mr. Merrihew.« »Sie sind erfolgreich, das ist alles.« »Ah.« Mr. Handel war angenehm berührt. »Sie machen es einem nicht leicht, bescheiden zu sein.« »Bescheidenheit ist nur dann schwierig, wenn sie schmerzlich ist, Mr. Handel, und schmerzlich ist sie nur im Fall der Notwendigkeit. Bitte, fahren Sie fort.« Mr. Handel hob die Brauen zu diesem Stück pragmatischer Philosophie und sprach weiter: »Nun dann, es ist ja kein Geheimnis, daß unsere Grundprodukte Büroausstattungen sind, und unsere Produkte und Dienstleistungen sind nur Mittel zur Förderung dieses Geschäftszweiges. Wir versuchen, unsere Werbung völlig zu integrieren. Das heißt, das Problem diktiert die Lösung, die gewählte Operationsmethode ist es, die das Muster einer Maschine oder eines Gerätes bestimmt. Kämen Sie zum Beispiel zu uns, um
uns zu fragen, ob eine unserer Maschinen auch Orangen verkaufe, Ware befördere oder einen MattoGrosso-Markt errichte oder gar eine Konsumentenumfrage in Prag oder Bangkok veranstalte und auswerte, so würden wir uns diesem Problem auf die beste nur denkbare Art nähern und noch einen Schritt darüber hinaus tun, der uns, wie ich schließlich doch sagen muß, einmalig macht. Wir betreten im wahrsten Sinn des Wortes das Feld. Wir übernehmen die Risiken, wir tun die Arbeit, wir stellen fest, ob unsere Beschäftigung mit diesem Problem ein Optimum darstellt. Hat es den Anschein, als gebe es noch einen anderen, vielleicht besseren Weg, so probieren wir auch den aus. Geschieht das, und das ist oft der Fall, daß eine neue Büromaschine oder auch Methode gefragt ist, so wird diese Maschine oder Methode eben erfunden oder entwickelt. Deshalb sagen wir, ›Ihr Problem bestimmt das Muster unserer Ausrüstung‹.« »Und wie nehmen Ihre Kunden Ihre Einbrüche in Ihr Gebiet auf? Besonders die erfolgreichen?« »Mr. Merrihew«, sagte Mr. Handel, als wolle er nicht ein Phänomen erklären, sondern die allbekannte Tatsache von Tag und Nacht, »sie wissen, daß wir uns dann zurückziehen.« Merrihew hob diesmal eine Braue, und das war eine viel aussagekräftigere Geste als die Anhebung von Mr. Handels beiden. »Finden Sie es manchmal nicht ein wenig ... verführerisch, bei einer netten, kleinen, ertragreichen Operation zu bleiben?« »Man braucht einer Versuchung ja nicht nachzugeben«, erklärte Mr. Handel streng. »Unsere Hauptsorge sind Bürosysteme, und wir sind angestrengt bemüht, dies nicht zu vergessen.«
»Dann können Sie auch nicht verlieren.« »So lange nicht, wie alles arbeitet, was zur Arbeit geschaffen ist.« »Ah«, sagte Merrihew. »Und jetzt kommen wir also zu unserem Problem.« »Ja, jetzt kommen wir zu unserem Problem. Sie werden gleich sehen, wie unerläßlich, ja wie unbedingt und absolut lebenswichtig in einer kleinen, aber ungeheuer reich gegliederten Operation wie der unseren die Wiedergewinnung ist, die sofortige, zuverlässige Wiedergewinnung der in unseren Datenbanken gespeicherten Informationen, die von außen her gewonnen werden. Unsere Operationen hängen nicht nur von der Wiedergewinnung ab, sondern jede Operation, jeder Ablaufsabschnitt in jeder Operation ist eine Demonstration unserer Systeme und kann beobachtet werden.« »Mr. Merrihew, ich habe meinen Spezialalptraum«, sagte Mr. Handel und ließ einen Finger um Seite und Rückseite seines Kragens laufen, eine nur unbedeutende Bewegung, doch bei diesem klugen, energischen kleinen Mann ein Signal großer Müdigkeit und entsetzlicher Anspannung. »In diesem Alptraum steht eine sehr wichtige Person hinter Mr. Samm von der Mathematikabteilung und ist Zeuge von Samms Forderung nach einem bestimmten Zahlensatz. Dann klickt es an der Konsole, und aus dem Schlitz kommt dann so etwas wie dies hier ...« Aus der geräumigen Diplomatentasche hinter ihm zog er einen Pack Papiere heraus und schob sie Merrihew zu. Es war eine typische M&H-Duplikation mit genauer Zeichnung und in lebhaften Farben, ein in alle Einzelheiten gehender Artikel mit dem Titel Alternativen
zur Kolpotomie des Gesäßes. Darunter war ein zweiter mit der Schrift Behandlung von Abszessen des unteren Kieferbogens. Es gab noch viel mehr und viel ausgefallenere Themen. Merrihew hob den ganzen Stapel auf, klatschte die Kanten auf den Tisch und drehte ihn so um, daß er mit dem Gesicht nach unten lag. Da fiel sein Blick auf die halbleere Kaffeetasse, die er mit einer sehr beredten Geste von sich schob. »Dieser Alptraum«, sagte Mr. Handel heiser, »wurde in der Tat zu zwei Dritteln wahr. Das einzige fehlende Element war diese sehr wichtige Person.« Er schüttelte sich diskret und legte einen anderen Papierpack auf den Tisch. »Feindseligkeit und Aggression, eine radikale Ansicht«, las er laut. »Dies flatterte unserem Marketing-Direktor auf den Tisch, als er eine Handelsinformation über die Südinsel von Neuseeland anforderte.« »Das sind selbstverständlich grobe Beispiele. Mich bekümmern die zahllosen kleineren Dinge jedoch viel mehr. Die großen Sachen sieht man ja. Ich muß Ihnen aber nicht beschreiben, wie unheilvoll es sich auswirken kann, wenn ein Komma um eine Dezimale verschoben ist, oder wenn eine einzige Rohmateriallieferung ungenau beschrieben wird, besonders wenn es sich dann um sehr komplizierte Projektionen handelt, in die wir uns hineintasten.« »Ah, ja, ich kann mir allmählich ein Bild machen. Wie oft geschieht dies?« »Das ist ja das Schlimmste daran«, erklärte Mr. Handel. »Ich habe hier eine Zusammenstellung der Vorfälle, der Daten, Zeiten, Örtlichkeiten von Anfragen, der Wiedergewinnung und dergleichen. Und wenn man die Natur dieser – äh – Unregelmäßigkei-
ten beschreiben will, und das sehen Sie ja auch auf den ersten Blick, dann sind sie ziemlich wahllos herausgepickt, so wahllos, wie es nur irgendwie geht in Frequenz, Wesen, Art, Wichtigkeit und allen übrigen Faktoren.« »Und Ihre Stromkreise, Ihre Bänder, Plattenaufzeichnungen und so?« Wieder wurde ein dicker Papierpack auf den Tisch gelegt. Der Berg wurde immer höher. »Ein Gebiet gibt es, das können wir praktisch ausscheiden.« Mr. Handel sprach nun mit etwas mehr Zuversicht und einigem Stolz. »Das sind M&H-Installationen. Natürlich gibt es in einer M&H-Umgebung nur M&HInstallationen, eingerichtet und gepflegt von M&HPersonal. Mr. Merrihew, wir sind immer und allezeit mit diesen Dingen befaßt. Unsere wöchentliche Wartung ist sehr viel gründlicher, als Sie irgendwo sonst eine halbjährliche Inspektion finden können, und unsere Ingenieure und Mechaniker verstehen etwas von ihrem Fach. Und die Computer und ihre Satelliten sind zum überwiegenden Teil mit einer eingebauten Selbstkontrolle ausgestattet und stellen sich in genauen Zeitabständen ihre Diagnose selbst. Nein, Mr. Merrihew, hier finden Sie nicht die Ursache unserer Sorgen. Nein, gewiß nicht.« »Ich denke, Sie haben recht. Da werden wir sie nicht finden«, antwortete Merrihew mit einer Entschiedenheit, die den Kopräsidenten verblüffte. »Das klingt ja ganz so, als hätten Sie das Problem schon gelöst«, bemerkte er. »Oh, das habe ich.« Er griff nach der Karte der Ereignisse und warf noch einen Blick darauf. »Es ist nur so, daß es nicht genügt, zu wissen, was schief läuft.
Ich möchte das WARUM wissen.« »Ich ... kann Ihnen da nicht ganz folgen, Mr. Merrihew.« »Das weiß ich, Mr. Handel. Nun, ich sage Ihnen, was ich möchte, das Sie tun. Wenn ich morgen komme, um Sie zu sehen, dann lassen Sie mich nicht vor.« »Oh ... Wie bitte?« »Aber schicken Sie mich auch nicht weg. Schieben Sie's nur hinaus. In Ordnung?« »Mr. Merrihew, würde es Ihnen etwas ausmachen, mir zu sagen –« »Es macht mir sehr viel aus. Nun muß ich nachdenken. Bis morgen also, Mr. Handel.« Er stand auf, schob sich aus der Nische hinaus und fügte ein Wort hinzu: »Endgültig.« Dann ging er. Mr. Handel blieb sitzen, wo er war, rührte sich nicht und redete kein Wort, und lange dachte er nicht einmal etwas, bis er schließlich doch seine Dokumente zusammensuchte und – selbstverständlich – den Scheck. Dann kehrte er in sein Büro zurück. SANFT war das richtige Wort: Der Raum war sanft. Das Licht war sanft, hier heller, dort weniger hell, geschmackvoll und schmeichelnd. Die Geräusche gingen dorthin, wohin sie gehen sollten, und wurden überall sonst verschluckt. Es herrschte eine wohltuende Desorientierung, denn die Wände, bis zu einem gewissen, sehr geringen Grad auch der Fußboden, waren nicht absolut flach; es gab auch keine bestimmte Abgrenzung dafür, wo die Wand in den Plafond überging. Auf sonderbare Art schien man sich ebenso wenig in einem Gebäude wie in einem fremden Land zu befinden. Das meiste Licht im Raum
wechselte, wenn auch kaum merklich, die Farbe, fast in der wundervollen Art einer Aurora, denn die Veränderung war nicht zu sehen. Man mußte weg- und wieder hinschauen, um sie überhaupt feststellen zu können. Und doch war das Licht beständig und klar, dort, wo es so sein sollte, um die breiten, weichen Bänke herum, und die großzügig ausgelegte Literatur – Magazine, »Kaffeetisch« – Kunstbücher und dergleichen waren nicht offen zu sehen, jedoch i n Reichweite, denn auch sie warben diskret für die M&HProduktionen und Dienstleistungen. Auch um die beiden Spiegel herum war das Licht warm und gleichmäßig; ein raffinierter Schachzug, dachte Merrihew. Aber niemand, der den Empfangsraum von M&H betrat, konnte die Instrumente dieser Symphonie der Subtilitäten zählen, war Miss Kuhli erst an ihrer Konsole. Miss Kuhli – am Tag zuvor hatte Merrihew geglaubt, sie schreibe sich Cooley, weil er es so gehört hatte, und deshalb hatte er sich ein ganz anderes Bild von ihr gemacht – war Eurasierin. Seit der Perfektion und der selbstauferlegten Freiheit der Architektur des Eisenbetons hatten solche Augenlider und so wundervolle Brauenbögen nicht geschaffen werden können, wie sie Miss Kuhli angeboren waren. Ihre Hände schienen aus der Zusammenarbeit zwischen einer Floristin und einem Choreographen zu stammen. Ihr Körper war nicht entworfen worden, er war das erstaunliche Ergebnis einer Inspiration, und ihr Haar vermochte man auf den ersten Augenblick überhaupt nicht zu glauben. Sie war gekleidet mit der raffinierten Spontaneität der Spitzenklasse jeder HauteCouture, über die Merrihew einmal zynisch gesagt
hatte: »Wenn das Trommelfell je einmal tabu werden sollte, dann wird die Haute-Couture eine Möglichkeit finden, daß wir einen Blick darauf werfen können.« Aber das wurde alles zweitrangig, hörte man erst Miss Kuhlis Stimme. Halt, es war nicht nur die Stimme, sondern das Instrument, das Geschick, die Genialität, mit der es gespielt wurde. »Guten Morgen«, sagte sie, als Merrihew eintrat, und um ein Haar hätte er geantwortet: Oh, danke sehr, tausendmal Dank! Und das nur deshalb, weil sie sich herabließ, ihm überhaupt ihre Aufmerksamkeit zu schenken, sogar ihre Zeit, während sie das sagte. »Guten Morgen.« »Kann ich etwas für Sie tun?« erkundigte sie sich mit geschmackvoll gebändigtem Eifer. Merrihew hätte im Handumdrehen zwölf Antworten auf Lager gehabt, und seine Lust war groß, sie auch alle anzubringen. Aber er sagte: »Ich würde gern Mr. Handel sehen.« Ihr Blick flog zu etwas, das nur ein Terminkalender sein konnte, aber so, wie sie das tat, konnte jeder Besucher, dem daran lag, es als Zwinkern auffassen. »Ich werde nachsehen, ob er schon da ist. Ihr Name ist –« »Merrihew.« »Mr. Merrihew!« Das sagte sie mit einem schnellen, warmen Lächeln. Man hätte denken können, sie habe seit Monaten auf dieses Zusammentreffen gewartet. »Lois«, sagte sie zum Holoschirm an ihrer Konsole. »Ist Mr. Handel schon da? Mr. Merrihew ist hier.« So wie sie den Namen Merrihew aussprach, war er in größeren Typen geschrieben als der Rest des Satzes, aber auf diskrete Art nicht in Großbuchstaben und
nicht kursiv. Der Punkt am Ende des Satzes hatte etwas mehr Nachdruck als sonst ein Punkt, war aber beileibe kein Ausrufezeichen. Der Schirm fragte, ob Mr. Merrihew wohl warten würde. Merrihew wollte. Er blinzelte ein wenig vor dem Strahlenglanz von Miss Kuhlis Lächeln und ging zu einer Bank – falls dies wirklich eine Bank war – an der Wand – falls es hier überhaupt eine Wand gab –, wo er am besten alles beobachten konnte. Denn zu beobachten gab es einiges. Miss Kuhlis Konsole trug eine kleine Bronzeplatte, auf der in diskreten kursiven Kleinbuchstaben agnes kuhli stand. Diese Konsole stellte ihrem ganzen Standort nach keine Barriere zwischen ihr und der Welt dar. Sie gehörte auch nicht direkt zum Warteraum. Man hätte sagen können, sie sei eine Konstruktion, die einzig und allein ihrer Bequemlichkeit oder ihrem Behagen diente, für andere sei sie jedoch ohne Bedeutung. Wenn sie saß, war sie auch nicht verborgen, und bis zu einem gewissen Grad nahm sie den Raum ein, den man sonst in einem Wohnzimmer mit anderen teilt. Ihr Operationskreis gehörte jedoch ihr und keinem sonst. Leute kamen, Leute gingen, Leute warteten. Bald beobachtete Merrihew mit einem kleinen zynischen Klaps auf sein Handgelenk, daß Miss Kuhlis eifriges Erkennen Fremder und ihre warme Hilfsbereitschaft nicht auf ihn beschränkt geblieben war. Mit dem, was sie tat, gehörte sie ganz gewiß zu den Besten der Welt, und in ihrer Spezialität war sie weit vollkommener als sonst etwas, das er je gesehen hatte. Aber es war ein kindischer Moment des Bedauerns ... Nie hatte sie es eilig, nie war sie um etwas verle-
gen. Selbst ein zufälliger Beobachter, der Merrihew keineswegs war, hätte sich bald darüber klar sein müssen, daß der Empfang nur ein kleiner Teil dessen war, was sie tat. Ihre Konsole war ständig lebendig – weiche Lichter, sanftes Wispern, winzige Blitze, leisestes Murmeln, und auf alles antwortete sie so, wie es sein mußte. Manchmal schien sie in eine besondere Art von Meditation zu versinken, hatte die Hände auf den Knien liegen und die Augen niedergeschlagen, und da bedurfte es eines scharfen Auges wie das Merrihews, um zu sehen, daß sie sprach, daß sie hier keine meditative Pause einlegte. Auch die winzigen raschen Bewegungen zu dem glitzernden kleinen Ornament an ihrem Hals waren nicht meditativ. Jeder konnte also hier hereingehen und einen schönen, ruhigen, geschmackvollen Raum vorfinden. Noch wichtiger: eine erstaunlich schöne, junge Frau auf einer bequemen Polsterbank, eine Frau, die sich ohne jede Eile daranmachte, sich der Sorgen des Neuankömmlings anzunehmen, als sei er der Einzigste auf der Welt, die tat, was zu tun war und sich dann ruhig und unauffällig scheinbar in ihre eigenen Gedanken zurückzog. Aber es war viel mehr daran. In den Momenten zwischen der Ebbe und Flut der Menschen, die warteten, gingen, kamen, die lieferten, empfingen, die weitergeleitet oder von plötzlich aus anderen Räumen herankommendem Personal abgeholt wurden, kamen auch ganze Gruppen ehrfürchtiger Kinder, die durch das Werk geführt wurden. In den Zeiten der Ruhe war niemand anwesend als Agnes Kuhli – und Merrihew, und sie bestätigte diese ferne Vertrautheit mit einem entzückenden Lächeln; niemals, auch nicht für eine Sekunde, schien sie sich
seiner Anwesenheit nicht bewußt zu sein. Seine scharfen Ohren zogen aus den Wundern des Schallschluckens um sie herum die Flut von winzigen Kleinigkeiten heraus, die sie zu tun hatte. Das Flackern und Pulsieren kleiner Lichter, schnelle Berührungen ihrer schlanken Hände, das Tupfen an Lichtfleckchen, die elektrostatische Schalter sein konnten, das gelegentliche Aufstrahlen des Holoschirmes – immer kam eine kleine Handbewegung, ein mehr gesungenes als gesprochenes Wort. Es war jedoch durchaus nicht so, daß irgendwann einmal Hektik zu bemerken gewesen wäre, durchaus nicht. Als einmal gar nichts los war, also in einer gelegentlichen Flaute, da trafen sich ihre Blicke; dafür hatte er schon gesorgt, denn er hatte sie unentwegt angeschaut, selbst auf die Gefahr hin, daß seine Augäpfel austrockneten; da schenkte sie ihm ein unglaubliches Lächeln. »Oh«, sagte sie, »er hält sie aber hier lange auf.« So besorgt, so mitfühlend. »Hier, ich werde nur schnell –« Ihre Finger huschten über die Konsole, und ihr Gesicht glühte blaß im Schimmer des Holoschirmes, den er nicht sehen konnte. »Lois, Mr. Merrihew wartet nun schon so lange –« Lois antwortete, was offensichtlich gesagt werden mußte, dann starb das Glühen des Schirmes. »Es kam etwas dazwischen«, erklärte Miss Kuhli voll Bedauern, »doch Mr. Handel hätte gern, daß Sie noch ein wenig warten, wenn es Ihnen nichts ausmacht.« »Es macht mir nichts aus«, erwiderte Merrihew herzlich, erhob sich und ging auf sie zu. »Miss Kuhli, würde es Ihnen etwas ausmachen, mir einiges von dem zu erklären, was diese Konsole tut? Ich habe Sie bei der Arbeit beobachtet und –«
»Natürlich, selbstverständlich! Nein, es macht mir nichts aus!« Diesmal war in ihrer Stimme ein richtiges Ausrufezeichen. »Dafür bin ich doch da. Was möchten Sie gern wissen?« Während sie noch sprach, erschien ein bernsteinfarbenes Licht auf etwas, das wie eine handpolierte Walnuß aussah. Ihre Hand hing einen Moment darüber, dann berührte sie es, und es verschwand. »Nun ja, praktisch alles«, sagte Merrihew. »Was war dies, zum Beispiel?« Er deutete auf die Stelle, wo das bernsteinfarbene Licht gewesen war. »Oh, Mr. Samm geht nicht aus zum Essen, und er möchte, daß ihm etwas geschickt wird.« »Dieses kleine Licht hat das alles gesagt?« Sie lachte wie ein Glöckchen. »Nein, er sagte es.« »Ich habe nichts gehört.« »Nein, natürlich nicht.« Sie hob ihr herrliches Haar ein wenig an und enthüllte ein Öhrchen, wie es von den besten Bildhauern aller Zeiten nicht vollkommener hätte geformt werden können. In der Öffnung zum Gehörgang ruhte ein Gerät, das nur aus einem glitzernden Juwel zu bestehen schien. Drähte, Klammern oder dergleichen ließen sich nicht erkennen. »Das ist mein persönlicher Empfänger. Im anderen Ohr habe ich auch einen. Manchmal ist es sehr hübsch mit beiden Ohren zu hören, aber ich kann entweder mit einem oder, falls nötig, auch getrennt mit beiden hören.« »Mikroreichweite FM«, vermutete Merrihew. »Ja. Und ich habe ihm auf die gleiche Art geantwortet.« Sie deutete auf das Juwel an ihrem Hals. »Sie sprachen mit ihm?« »Ja. Ich fragte ihn, ob er das Übliche wünsche, und
er sagte ja bedankte sich, und ich sagte auf Wiedersehen.« »Und die ganze Zeit hindurch haben Sie mit mir gesprochen?« »Nun ... Dazwischen.« »Subvokal – ist dies das richtige Wort?« »Sie wissen aber sehr viel darüber«, stellte sie voll Bewunderung fest. Wieder leuchtete ein bernsteinfarbenes Licht auf, und sie streckte die Hand aus. Diesmal berührte sie die Konsole direkt unter dem Licht, das sofort rot wurde. »Ich habe ihn auf HALT geschaltet«, erklärte sie. Dann machte sie am Ende der Konsole eine winkende Handbewegung, und die Leuchtziffern einer Digitaluhr erschienen, blieben fünf Sekunden lang sichtbar und verschwanden wieder. »Das ist Mr. Damiani von der Abteilung Design. Er hat schon den ganzen Morgen hindurch auf die Lieferung einiger Spezialkomponenten gewartet, und jetzt will er wissen, ob sie angekommen sind. Ich werde ihm sagen, nein, noch nicht und schicke sie hinauf, sobald sie bei mir ankommen und ob ich vielleicht die Fabrik noch einmal anrufen soll. Schauen Sie.« Er beugte sich ihr näher entgegen, während sie das bernsteinfarbene Licht rot werden ließ. Sie lächelte, und er erinnerte sich, daß viele Bauchredner immer ein gleichmäßiges Lächeln beibehalten, während ihre Puppen sprechen; er glaubte, ein hauchleises Murmeln ihrer Stimme zu vernehmen, eine leichte Bewegung ihrer Lippen zu erkennen. Aber die Worte konnte er, obwohl vorgewarnt, freilich nicht hören und nicht von ihren Lippen ablesen. Als sie damit fertig war, sagte er, und das meinte er auch ehrlich:
»Das ist eines der erstaunlichsten Dinge, die ich in meinem ganzen Leben gesehen habe.« Und, Mädchen, du riechst einfach zauberhaft, dachte er noch, sagte es natürlich nicht laut. »Es ist nicht schwer zu lernen«, meinte sie. »Ich glaube, es wäre auch gar nicht einmal nötig, aber in einem offenen Büro wie hier ist es doch recht nützlich – keine Klingeln, kein ›Entschuldigen Sie bitte‹, keine Stecker und Drähte. Und es ist die bestmögliche Demonstration unseres VIP. Das heißt Voice InPut System.« »Was ist das genau?« »Nun, das VIP-System ist die neue M&HComputer-Zentrale. Wir zentralisieren alle Bürofunktionen – oder fast alle – in einen einzigen Computer, aber der ist natürlich auch etwas Besonderes. Wir haben über die Stimme Zugang. Eines Tages«, fuhr sie mit herzbewegender Begeisterung fort – oh, es ist so einfach, dieser Dame zuzuhören, ohne auch nur die geringste Kleinigkeit zu hören; gesegnet sei sie dafür, daß sie ihr eigenes Ablenkungsmanöver ist; »eines Tages, so hoffen wir, werden wir wohl in der Lage sein, das VIP-System so zu verbessern, daß wir Kontaktpunkte in allen Büros haben. Ist es dann soweit, wird es auch nur von einer einzigen Person bedient.« »Von Ihnen.« »Und zwei anderen. Ein Mädchen ist gerade in der Ausbildung«, fuhr sie fort. Immer, während sie sprach, glühten und blitzten Lichter, ihre Finger bewegten sich, schwebten und berührten, um irgendwo kurz liegenzubleiben. »Schauen Sie.« Nun berührte sie eine Stelle an der Wand oder was dies war, etwa
am Boden der Konsole, und eine Schublade glitt heraus. Innen waren vier kleine Fächer. Eines war leer, zwei enthielten je einen Satz Ohrjuwelen und eines ein Ornament wie jenes, das sie am Hals trug. Das nahm sie heraus. »Wie schön«, sagte Merrihew und meinte es auch. Sie meinte es auch und hielt das Schmuckstück in die Höhe. »Warum sollte es auch nicht wirklich so schön sein? Es ist auch schön, innen und außen. Wirklich, einige dieser Mikro-Stromkreise in diesem Ding sind so schön wie irgend etwas, das je ein geschickter Juwelier fertigstellte. Wenn Sie wollen, gebe ich Ihnen, ehe Sie gehen, etwas Literatur darüber.« Sie machte eine Pause, denn der Holoschirm leuchtete auf. Jetzt konnte Merrihew ihn sehen. Er war nur eine Scheibe aus einem opaken Kunststoff, insgesamt von der Größe eines mittleren Fernsehschirmes, und sehr dünn. Auf den ersten Blick hätte man an eine Rückseitenprojektion denken können, doch es war sehr viel mehr daran. Es war so, als schaue man in einen ganz klaren Glaswürfel, in dem nicht das Bild eines Mädchengesichtes, sondern das Gesicht selbst war. Die hübsche blonde Erscheinung fragte: »Aggie, ist Mr. Merrihew noch da?« »Das ist Mr. Merrihew, der mir eben über die Schulter schaut.« »Oh«, sagte das Bild und schaute ihm genau in die Augen. »Hallo ich bin Miss Addamski, Mr. Handels Sekretärin. Es tut mir unendlich leid, daß Sie so lange warten müssen. Ehrlich, Mr. Handel wird Sie holen, sobald es irgendwie geht.« »Das ist schon in Ordnung«, antwortete Merrihew. »Ich bin in guten Händen, wie Sie ja sehen können.«
Miss Addamski lächelte und verblaßte, während Miss Kuhli – herrliches Wesen, dachte er, zu dem, was er sagte, lächelte, ohne jedoch zu kichern. »Wunderschöner Holograph.« »Würden Sie glauben, daß Mr. Miroshi damit noch gar nicht zufrieden ist? Er meinte, mit der Farbwiedergabe könnte noch einiges getan werden.« »Aber hier ist sie sehr viel besser als bei all diesen leidenschaftlichen Rosas und den kranken Grüns die ich bisher kenne.« »Oh, danke ... Aber wo waren wir?« »Beim Juwelier, glaube ich.« »O ja.« Sie hielt den Halsschmuck in die Höhe, den sie aus der Schublade genommen hatte. »Sie werden bemerken, daß hier alles zwölfseitig und mit einem Loch in der Mitte ist. Deshalb ist es so schnell und auch so leicht zu lernen. Sehen Sie, da denken Sie an eine Uhr. Sie geben vor, auf eine Uhr an Ihrem Hals achtzugeben. Es ist leicht zu lernen, welche Seite welche Zahl bedeutet, und sie auch zu finden – zwei Uhr, sieben Uhr und so weiter. Sie können es dazu verwenden, eine Telefonnummer zu wählen, wenn Sie wollen; sie brauchen hier nur einzuschalten –« Sie berührte die Konsole, und ein bernsteinfarbenes Licht glühte auf. »Oder hier das Intercomsystem, Seitenlesen oder etwas aus der Ablage abrufen und dergleichen.« »Ich verstehe das so, das alles bleibt in der M&HAblage, und was Sie wirklich erhalten, ist eine Kopie.« »Du meine Güte! Sie kennen uns ja. Ja, schauen Sie, ich werde es Ihnen zeigen.« Sie berührte die Konsole, fingerte an ihrem Halsschmuck herum, und ein Ab-
schnitt der Konsole wurde die Projektion eines Geschäftsbriefes. »Das ist zur Kontrolle«, erklärte sie, »nur um sicher zu sein, daß es der Brief ist, den Sie kopieren wollen. Ist er es, dann brauchen Sie nur ...« Sie berührte die Konsole an der richtigen Stelle, und fünf Sekunden später kam aus einem Schlitz ein Blatt Papier heraus, das Duplikat des Briefes. »Wirklich erstaunlich. Aber wann wird das VIPSystem eingesetzt?« »Oh, ich müßte Ihnen ja zuerst die alte Art zeigen.« Sie strahlte. »Wollen Sie den gleichen Brief wieder sehen, oder diesmal einen anderen?« »Einen anderen, bitte.« In diesem Moment kam ein junger Mann mit einem Päckchen herein. Fast gleichzeitig, so schien es, trat durch eine innere Tür ein sehr schönes junges Mädchen, nahm das Päckchen und quittierte den Empfang, während der junge Mann sie und Miss Kuhli abwechslungsweise beäugte. Sein Kopf ging hin und her wie bei einem Tennisfan, der einem Meisterschaftsspiel zusieht, und Miss Kuhli fragte ihn nach seiner kranken Mutter. Während dies alles vor sich ging, erschien das Bild eines anderen Briefes auf dem kleinen Schirm. Miss Kuhli bemerkte, daß Merrihew nickte, berührte ihre Kontrolle, und als der junge Mann und die Sekretärin gegangen waren, befand sich der neue Brief in seinen Händen. »Ich fühle mich ein wenig überfordert«, sagte Merrihew, »wie die Zuschauer bei einem Zauberkunststück. Wie haben Sie das gemacht? Ich meine, wann?« Sie schien sich selbst zu genießen. »Zwischen der Zeit, als ich hallo zu ihm sagte, und meiner Frage nach seiner Mutter. Als er Sue das Päckchen übergab.«
»Aber Sie haben nie Ihr Kehlenmikro berührt.« »Oh, das tat ich schon. Ich schaltete hier«, – sie zeigte es ihm – »um das VIP zu aktivieren, und dann gab ich nur die Kodenummer des Briefes, den ich haben wollte.« »Subvokal.« »Ja, das schien gerade die beste Möglichkeit zu sein. Aber nötig war es nicht. Oh, Mr. Samms Essen! Ein unfertiges Geschäft. Damit kann ich es Ihnen zeigen. Ich muß nun das Restaurant anrufen. Sagen wir einmal, ich kenne die Nummer nicht. Ich könnte nachschauen. Oder ich könnte –« Sie fingerte an ihrem Halsjuwel. »Ich könnte die Information rufen. Oder ich kann VIP benützen. Wie jetzt –« Sie berührte eine Stelle an der Konsole. »VIP, wie ist die Nummer des Restaurants Blue Corner?« Ehe sie noch die Worte fertiggesprochen hatte, erschien die Telefonnummer in Leuchtziffern. »Aber das geht noch viel besser.« Sie löschte die Nummer auf dem Schirm, rief VIP und verlangte: »Ich brauche das Blue Corner.« Sofort leuchtete der Holoschirm auf, und sie sahen einen jungen Mann in blauer Schürze. »Blue Corner. Oh –«, sagte der junge Mann und strahlte so auf wie vorher der Schirm. »Miss Kuhli! Wie geht es Ihnen, Miss Kuhli?« »Gut, Ronnie, Mr. Samm ißt heute hier. Wollen Sie um Viertel vor eins das Übliche herüberschicken?« Ronnie schwor ergebenst, das würde er tun, wartete ein wenig auf Kuhlis Lächeln, das ihm auch gewährt wurde, und legte dann auf. »Wunderbar«, sagte Merrihew und konnte nur noch an die Wiederholung dieses abgedroschenen Wortes denken. »Was Sie hier taten, ist die Perfektion dieser
alten, törichten Science-Fiction-Geschichten vom Computer, mit dem man reden kann, vom Roboter, der auf einen gesprochenen Befehl hin handelt.« »Mr. Miroshi sagt, wir hätten niemals etwas perfektioniert«, erklärte ihm Miss Kuhli. »Wir produzieren nur das Beste. Wir haben noch einen weiten Weg bis zum Computer, mit dem sich reden läßt, so wie ich mit Ihnen spreche. Und Sie sehen ja, wir müssen den Computer erst mit einer bestimmten Person bekanntmachen ...« – sie berührte das Juwel an ihrem Hals – »... ehe eine zuverlässige Antwort erwartet werden kann. VIP muß die Diktion, überhaupt die ganze Sprechweise einer Person mit ihrem normalen Wortschatz kennen, sogar die Unterschiede im Nachdruck beim Sprechen. Das arme VIP kann nämlich gar nicht buchstabieren, wissen Sie. Wir haben noch immer unsere eigenen Briefe zu schreiben, aber es erleichtert dies doch ganz erheblich. Warten Sie, ich zeige es Ihnen.« Sie schwenkte ihre Schreibmaschine heraus; dazu mußte sie nur eine schmale Leiste an ihrer Konsole herausziehen und dann wieder hineindrücken, dann klickte es, und eine ganz normale, stabile Tastatur stand schreibbereit da. »Es ist gut möglich, die Maschine so dünn zu halten, da alle Schaltungen elektrostatisch sind. Die anderen Teile sind im Computer.« Sie berührte den Einschalterpunkt, der sofort aufleuchtete, und zwar auf dem gleichen Schirm, auf dem sie vorher die Briefe gesehen hatten. »Und nun bekommen wir Hilfe vom VIP.« Sie aktivierte das System und sagte: »Briefkopf und Datum, bitte.« Sie erschienen auf dem Schirm. »An?«
»Mr. Handel. Von mir.« »An Mr. Handel, VIP.« Sauber, mit den korrekten Abständen und in drei Zeilen aufgeteilt erschienen Mr. Handels Name und Titel, Zimmernummer, Straße und Postleitzahl. Dann kamen drei Zeilen Zwischenraum und danach: Sehr geehrter Mr. Handel: »Wa«, machte Merrihew, der wieder überaus beeindruckt war. Er begann zu diktieren. Miss Kuhlis Finger flogen über die Tasten. Das war irgendwie gespenstisch, denn die Schreibmaschine gab nicht das geringste Geräusch von sich. Es gab keinen Wagen, kein Papier, nichts, aber die leuchtenden Worte erschienen auf dem Schirm, eines nach dem anderen, so, wie gesprochen wurde. Die hießen: Ich habe bestätigt und werde es in wenigen Minuten zu Ihrer vollständigen Zufriedenheit auch beweisen, daß die Quelle der gestern besprochenen Schwierigkeiten in meiner derzeitigen Lokation zu finden ist. Niemand ist perfekt, Mr. Handel, und es ist richtig, was Ihr Partner bemerkte, der kürzeste Weg zur Perfektion ist der, das im Moment Beste zu bieten. Ich gebe zu, das haben Sie bisher getan. Ich denke jedoch, Sie haben übersehen, daß Ihr VIPSystem für eine perfekte Eingabe programmiert ist. Keine Person ist perfekt, weil keine Person nur ein einzelnes Ding ist. Stimmung und Druck könnten eine Facette einer Person nach vorne bringen, obwohl diese Person entschlossen ist, es nicht zuzulassen. Wie leicht es dennoch geschieht hängt von der Person selbst ab, doch für jeden Menschen gibt es einen Punkt oder einen Grad des Druckes, wo sich die Wendung vollzieht und sich eine andere »Person« zeigt. Aber verstehen Sie, es ist keine
grundlegend andere Person. Für einen Computer mit Feineinstellung auf eine Persönlichkeit muß dies jedoch eine verblüffende Wirkung haben. Er kann dann nur das tun, was jeder von uns tut, wenn er verblüfft ist, also eine gute Vermutung treffen. In den zwei Dokumenten, die Sie mir zeigten, dem medizinischen Bericht, der an Ihre Mathematikabteilung geliefert wurde, und der Abhandlung über Aggression und Feindseligkeit, ist ein gemeinsamer Nenner zu finden. Wenn ich mich nicht grundlegend irre, und das ist kaum der Fall, so wollte die Mathematik eine gewisse regelmäßige Zahlenreihe, womöglich täglich, zur Vorbereitung einer graphischen Darstellung. VIP wurde nach Abscissas gefragt und lieferte etwas über Abszesse. Im anderen Fall wurde eine Information über Antipoden verlangt, und gegeben wurde eine Information über Antipathien. Es gibt nur einen einzigen Ort in der Welt, wo diese Wortpaare nahezu gleich ausgesprochen werden, und das ist ein Stadtteil von New York City, bekannt als West Bronx. »Aber nun ... Ich bin in den West Bronx geboren!« rief Miss Kuhli. »Nein, was Sie nicht sagen«, antwortete Merrihew. »Sollen wir weitermachen?« Sie machten weiter. Eine der vielen Facetten des menschlichen Wesens, die unter Streß nach vorn gedreht werden kann, ist der blinde Fleck, Mr. Handel. Die Tatsache, daß jeder der betrüblichen Vorfälle, die Sie mir vorlegten sich in der gleichen Schicht ereigneten und mit dem gleichen Operator, entging Ihnen und allen, die diese Liste sahen.
Zweifellos wäre sie auch mir entgangen, hätte ich Miss Kuhli gesehen, bevor ich sie entdeckte anstatt danach. Während ich dies diktiere, wird es außerdem klar, daß trotz der Schwierigkeiten, die diese Sache Ihnen bereitet hat, auch trotz der ungeheuren Sorgfalt Ihrer Nachforschungen, bisher noch niemand auf die Idee gekommen ist, sie nachzuprüfen. Niemand, am wenigsten Miss Kuhli, würde je daran denken, etwas falsch zu machen. »Mister«, sagte Agnes Kuhli barsch, »jetzt wollen wir hier mal anhalten. Ich arbeite hart und tue mein Bestes – also, was soll das heißen, ›etwas falsch zu machen‹?« »Miss Kuhli«, antwortete Merrihew sanft, »hier schlägt wieder Ihr West Bronx durch.« Für einen langen Moment funkelte sie ihn sehr zornig an. Er hielt ihrem Blick stand und strahlte so viel Ruhe aus, wie er nur konnte. Merrihew konnte, wenn ihm daran lag, sehr viel davon ausstrahlen. Ihr Zorn legte sich allmählich, wurde aber zur Bokkigkeit. Sie besah sich den Text auf dem Schirm. »Noch nie in meinem Leben«, grollte sie, und das war ein richtiges Grollen, »konnte ich so ... ärgerlich werden, daß ich mich so dumm ...« Ihre Stimme blieb hängen, als ihre Augen ein Wort festhielten. »Antipoden ... Oh ... Das war damals, als ...« Überraschend und außerordentlich reizend wurde sie rot bis in die Ohrläppchen. »Sie brauchen mir und keinem Menschen davon zu erzählen. Aber Sie standen unter Streß, nicht wahr? Und VIP nahm Ihre Antipoden als Antipathien und gab Marketing eine psychiatrische Vorlesung statt eines Handelsberichtes.«
»Und das andere Mal, die Abscissas. Das war, als er mir drohte, wenn ich nicht ...« »Scht«, unterbrach er sie. »Das brauche ich nicht zu wissen, solange Sie es tun.« Er winkte ihr. »Tippen Sie weiter.« Die Leistungsfähigkeit eines Büros fordert, daß ein Bürostuhl keine Schmerzen in der Lendengegend hervorrufen darf. Die Bequemlichkeit und das Wohlbefinden der Angestellten ist natürlich sehr wichtig, aber die Grundforderung ist die Anpassung des ganzen Menschen an die Büro-Umwelt. VIP ist so überzüchtet, daß ein so einfacher Grundsatz übersehen werden kann. Wenn nicht und bis VIP so konstruiert werden kann, daß das System fehlerlos auf seinen Operator reagiert, und zwar in jeder Stimmung – lachend, wütend, ängstlich, müde – sollte es nur in Perioden völliger Ruhe eingesetzt werden. Erst wenn VIP sich allen Facetten des menschlichen Wesens anpassen kann, dem irrationalen Kind, den Bigotten, den Tagträumern, den Wunschdenkern, den Sprunghaft-Fiebrigen ebenso wie dem sorgfältig geschulten Büropersonal, empfehle ich den vollen Einsatz. Bis dahin ist es vorzuziehen, wenn Sie zurückgreifen auf die alten Zeichenbretter und alle sonstigen erprobten Hilfsmittel. Meine Rechnung erhalten Sie morgen früh. Im Moment nehme ich Miss Kuhli mit zum Lunch. MERRIHEW. Originaltitel: AGNES, ACCENT AND ACCESS. Aus GALAXY 10/73 Copyright © 1973 by UPD Publishing Corporation
Jeffrey Perrin NUR EINE ZEITFRAGE Als Paul Martin in sein Büro kam, fand er eine Mitteilung auf seinem Schreibtisch: Dr. Arno hat angerufen. Er würde Sie gern in seinem Labor sehen, falls Sie eine Möglichkeit dazu haben. Sofort drückte er eine Taste an seinem Sprechgerät und sagte zu seiner Sekretärin: »Miss Carter, Sie sagen heute alle meine Termine ab. Jedem, der anruft oder kommt, erklären Sie, ich würde mich morgen wieder melden. Und besorgen Sie mir einen Helikopter der Firma. Ja, und dann rufen Sie Dr. Arno an und sagen Sie ihm, ich sei in zwanzig Minuten bei ihm.« Der Helikreuzer wartete schon, als er das Dach erreichte. Nicht oft drängte er so wie jetzt. Aber es wäre unentschuldbar, mit Arno Direktorenspielchen zu treiben, denn erstens war er dafür völlig ungeeignet, weil er sie einfach übersah, und zweitens war er ja nicht nur irgendein Angehöriger seines Forschungsstabes. Er war eine seltene Kombination: ein brillanter Physiker, dessen Erfindungen sich in sehr gute Dollars umsetzten. Martin hatte ihm ein eigenes Labor gegeben und ein recht ordentliches Budget für Ausrüstungen, Rohstoffe und Hilfsmittel und ihm vor allem völlige Freiheit eingeräumt, jede Forschung zu betreiben, für die er sich interessierte. Ungefähr neunzig Prozent seiner Zeit verfolgte er Lieblingstheorien, die, selbst wenn sie bewiesen wurden, keine kommerzielle Auswer-
tung finden konnten. Aber die anderen zehn Prozent hatten die Martin Electronics groß gemacht. Die 150Jahre-Treibstoffzelle, die für die Außenweltkolonien so unerläßlich war; der Schleifenantrieb, der wohl der größte Durchbruch war für die Entwicklung des interstellaren Verkehrs; die multipolarisierte Datenzelle, die zimmergroße Computer auf einen Würfel von kaum einem Kubikmeter reduzierte und sie so zu einem ganz gewöhnlichen Haushaltgegenstand machte. Das waren aber nur ein paar der revolutionärsten Fortschritte, die mit Arnos Forschungen begonnen hatten. Martins Gedankengänge wurden durchbrochen, als er unter sich den R&D-Komplex erblickte. Links, etwas abseits von den anderen Labors, lag Dr. Arnos Großlabor, ein zweistöckiges Gebäude, dessen Einrichtung allein mehr wert war als 25 Millionen Credits. Ein Mann arbeitete dort, Dr. Arno ganz allein. Oder meistens arbeitete er allein. Brauchte er Hilfe, so konnte er aus den anderen R&D-Betrieben soviel Personal haben, wie er wollte. Im Moment arbeitete er wieder einmal allein. Er war draußen auf dem Dach und wartete auf Martin, als der Helikreuzer landete. Das hieß, er mußte das fertig haben, woran er zuletzt gearbeitet hatte. Hatte er sich in eine Sache verbissen, so konnte ihn nicht einmal Feuer aus seinem Labor vertreiben, schon gar nicht eine solche Banalität wie der Besuch seines Chefs. Arno begrüßte den Boß von Martin Electronics eigentlich auch nicht. Nicht einmal »hallo« sagte er, sondern nahm Paul Martin nur am Arm und zerrte ihn schnell in das Labor. Gleichzeitig redete er in sei-
nem ratternden Maschinengewehrstil auf ihn ein, berichtete etwas über Quantenphysik und Zeit und darüber, daß er die Grundlagen des herkömmlichen physikalischen Denkens erschüttern werde. Martin ließ das alles zu einem Ohr hinein, zum anderen hinausgehen, als er den Korridor entlanggeschoben wurde. Er wußte, erst mußte Arno sich ein wenig beruhigen, dann würde er alles so zu hören bekommen, daß auch ein ganz gewöhnlicher Laie es verstehen konnte, denn mehr begriff er von diesem Fach nicht. Paul Martin war kein Wissenschaftler, sondern Geschäftsmann. Von den Wissenschaften hatte er nicht einmal eine vage Ahnung. Wenn man ihm erzählen wollte, was eine Maschine tat, so fragte er niemals, wie sie das machte, und es war ihm auch egal. Aber schneller als jeder andere Mann in der ganzen Galaxie konnte er für eine Erfindung fünfundzwanzig wirtschaftliche Anwendungsmöglichkeiten und mindestens hundert aufnahmefähige Märkte dafür benennen. Als er Dr. Arnos Büro betrat, sah Martin auf dem Tisch eine Metallbox, die kaum größer war als zwei nebeneinanderliegende Zigarettenschachteln, dazu Coveralls und etliche Drähte, die von der Box zu den Coveralls führten. Das mußte »es« also sein. Schließlich beruhigte sich Arno, und nun konnte er unter den üblichen Voraussetzungen alles noch einmal herunterbeten, diesmal in begreiflicher Laiensprache. »Seit der Geburt der Quantenphysik, ganz am Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts, gab es Spekulationen darüber, ob die Zeit quantiziert ist oder nicht.« »Sie sprechen schon meine Muttersprache, aber
ganz sind Sie noch nicht da.« »Gut. Ich gebe Ihnen ein Beispiel. Sie verstehen ein wenig von Elektrizität. Nehmen wir einmal eine ausreichend starke Energiequelle an: können Sie daraus jede gewünschte Menge elektrischer Ladung beziehen?« »Natürlich.« »Falsch. Denn es gibt eine absolute Einheit elektrischer Ladung, nämlich die eines Elektrons. Sie können wohl die Ladung von einer Milliarde Elektronen oder einer Milliarde und einem Elektron erhalten, nicht aber die Ladung einer Milliarde Elektronen und einem halben. Wir sagen also, die Elektrizität ist quantiziert. Hitze ist zum Beispiel nicht quantiziert. Sie können jede Hitzemenge erzeugen.« »Aber der Unterschied zwischen einer Milliarde Elektronen und einer Milliarde und einem halben Elektron ist doch überhaupt nicht wichtig; er ist viel zu trivial.« »Das ist richtig bei jeder normalen Anwendung von Elektrizität. Aber die Tatsache, daß Elektrizität quantiziert ist, hat eine immense wissenschaftliche Bedeutung. Nun, wir haben über die Zeit gesprochen. Wie ich schon sagte, die Physiker haben schon lange darüber gestritten, ob die Zeit quantiziert ist oder nicht. Weil unsere Meßgeräte höchst unvollkommen sind, konnten wir – bis jetzt – diese Frage noch nicht beantworten. Ich habe immer daran geglaubt, daß sie's ist. Intuitiv, nicht wahr, nicht auf Grund experimenteller Daten. Aber ich spielte mit der Idee seit Jahren immer wieder für eine experimentelle Anwendung, und nun endlich kann ich meine Ansicht beweisen. So wie wir heute ein einzelnes Elektron,
das Quantum der Elektrizität, isolieren können, so habe ich ein Gerät entwickelt, das ein einziges Quantum Zeit isolieren kann.« Paul Martin ließ diese letzte Feststellung in seinen Geist hineinsickern, doch es blieb ohne Ergebnis. Er verstand nicht, was die Maschine tat. »Lassen Sie mich das demonstrieren.« Langsam zog Dr. Arno die Coveralls an, doch er paßte genau auf, daß keiner der Drähte, der das Kleidungsstück mit der kleinen Box verband, sich lokkerte. Bis auf den Kopf war dann der ganze Körper bedeckt. Dann hängte er die Box an seinen Gürtel, so daß er die Hände frei hatte. Martin sah aufmerksam zu. Dr. Arno griff aus und drückte einen Knopf auf dem Kästchen. Plötzlich war er nicht mehr da. Martin vergaß zu atmen. Er kniff die Augen zusammen und schaute noch einmal auf diese Stelle hin, wo Dr. Arno gestanden hatte. Er weigerte sich, seinen Augen zu trauen. »Nun?« Sein Herz versäumte einen Schlag, als er sich herumdrehte zu der Stimme. Dr. Arno saß auf einem Stuhl an der Tür. »Aber das ist doch unmöglich! Das ist Teleportation!« »Unsinn. Erstens war es keine Teleportation. Ich ging ganz gemütlich vom Schreibtisch zu diesem Stuhl und setzte mich hin. Zweitens, ich zweifele daran, daß Teleportation unmöglich ist, obwohl ich noch nie damit experimentiert habe. Aber eine Idee wäre es. Vielleicht wenn dies einmal perfekt ist ...« »Aber Sie können ja gar nicht zu diesem Stuhl ge-
gangen sein. Ich sah Sie in dem einen Moment am Schreibtisch stehen, und plötzlich saßen Sie auf diesem Stuhl.« »Das geschah nicht augenblicklich. Nach Ihrer Zeitrechnung war dafür ein Zeitquantum nötig, also ungefähr ein Dreihunderttausendstel einer Sekunde. Ganz genau konnte ich es mit dem Computer noch nicht errechnen. Dieses Gerät ließ mich in ein Zeitquantum gleiten und behielt mich hier für ungefähr zwei Minuten meiner Zeit. Ihre Zeit, und das heißt, das ganze Universum mit meiner Ausnahme, war in eine Dreihunderttausendstel Sekunde eingefroren, während ich zwei Minuten Zeit hatte, herumzugehen.« »Ich kann nicht verstehen, was da geschehen ist. Ich kann meinen Sinnen nicht glauben. Ich kann nicht –« Während er noch sprach, drückte Dr. Arno wieder auf den Knopf, und Paul Martin sprach zu einem leeren Stuhl. Dr. Arno saß hinter seinem Schreibtisch. »Hier, versuchen Sie's doch«, sagte er, als er die Coveralls auszog. »Es kann Ihnen nichts dabei passieren.« Trotz dieser Versicherung dauerte es eine ganze Weile, bis er Martin überredet hatte, in die Coveralls zu schlüpfen. Die ganze Zeit über protestierte er dagegen, daß Dr. Arno ihn da hineinstopfe. Später beschrieb Arno das Erlebnis als ähnlich dem, wenn man ein kleines Kind anzieht, das mit Knöpfen, Reißverschlüssen und Schuhbändern noch nichts anzufangen weiß. Aber schließlich war Paul Martin doch angezogen. »Jetzt warten Sie eine Minute, ich hole nur eine
Münze. Sagen Sie mir, wenn Sie bereit sind, den Knopf zu drücken, dann lasse ich die Münze fallen. Das Ergebnis müßte recht eindrucksvoll sein.« Arno griff in die Tasche und nahm eine Zehncenticreditmünze heraus. »Okay. Fangen wir an.« Martin nahm seinen ganzen Mut zusammen und griff nach dem Knopf. Nichts geschah. Er sah nur, daß Dr. Arno die Münze fallen ließ, doch da schloß er die Augen und drückte auf den Knopf. Alles fühlte sich so an wie vorher. Er versuchte seine Hände zu bewegen – es ging tadellos. Dann dämmerte ihm, daß er den Aufschlag der Münze nicht gehört hatte. Langsam machte er die Augen wieder auf. Arno schien an seinem Platz festgeforen zu sein. Die Münze hing in der Luft. Es war kein Geräusch zu vernehmen. Die akustischen Wellen bewegten sich nicht durch die Luft. Es war wie ein Traum. Halb betäubt bewegte er sich auf die Münze zu. Er streckte die Hand aus und berührte sie vorsichtig. Sie bewegte sich nicht. Er zog die Hand zurück, dann versuchte er es noch einmal. Diesmal fiel die Münze zu Boden. »Ihre zwei Minuten sind um.« Es war sehr beruhigend, Arnos Stimme zu hören, wieder in der Welt der Wirklichkeit zurück zu sein. »Sie sehen ja ziemlich erschüttert drein. Die ersten paar Male war ich es auch. Man braucht ein bißchen, sich daran zu gewöhnen. Das erste Mal werde ich nie vergessen. Damals waren es nur zehn Sekunden, nicht zwei Minuten. Und ich hatte Glück, daß es nicht länger dauerte. Ich hatte nicht damit gerechnet, daß sich die Luftmoleküle
auch nicht bewegen, und so konnte ich nicht atmen. Seitdem dehne ich das Feld eine Kleinigkeit vor dem Gesicht aus, um dieses Problem auszuschalten.« Aber Martin hörte ihm gar nicht zu. Er versuchte noch immer zu glauben, was da geschehen und daß es tatsächlich geschehen war. Er konnte sich selbst noch nicht recht davon überzeugen. Sie diskutierten noch eine ganze Weile darüber. Dann versuchte er noch einmal damit zu experimentieren. Er war noch immer ziemlich erschüttert, aber nicht mehr halb betäubt. Beim drittenmal gewann er Zutrauen zu seinen eigenen Bewegungen. Das vierte Mal genoß er schon. Erst am Abend verließ er das Labor. Er beschloß, sofort nach Hause zu fliegen und nicht erst noch einmal in sein Büro zu gehen. Er wußte, daß er nicht mehr arbeiten konnte, und er hatte ja auch sehr viel zu überlegen. Seine ganze Auffassung vom Universum war irgendwie schwer erschüttert. Was er jetzt wollte und brauchte war ein Drink, eine heiße Dusche und ein wenig Einsamkeit, so daß er gründlich nachdenken konnte. Zu Hause fand er alle drei Dinge. Margaret hatte die Kinder mit nach Buenos Aires genommen zum Novemberkarneval. Das war eine Angelegenheit für zwei Tage, und erst am folgenden Abend würden sie zurückkommen. Bis jetzt war er noch nicht fähig gewesen, sich eine Verkaufsmöglichkeit für dieses Gerät auszudenken, aber er war davon überzeugt daß es sie gab. Mit Dr. Arno war schon lange eine Absprache getroffen, daß alles, wofür er eine wirtschaftliche Verwendung fand, der Firma gehörte. Alles sonst konnte Arno nach Be-
lieben publizieren. Es tat Martins Ego wunderbar gut, wenn er darüber nachdachte, daß von all dem, was Arno bisher veröffentlicht hatte, noch nie etwas für eine wirtschaftliche Verwendung vorgesehen oder ihr zugeführt wurde. Wenn er es nicht konnte, dann konnten es andere auch nicht und dabei war es doch um die unterschiedlichsten Themen gegangen. Dr. Arno meinte, er würde diese Sache veröffentlichen, und er freute sich darauf. Im Herzen war er noch ein Kind. In seinen Augen hatte es ein wenig boshaft geflackert, als er Martin erzählte, er würde seine letzten Erfindungen auf der nächsten Tagung der PWG, der Physikalischen Welt Gesellschaft, ohne Vorwarnung auftischen und dann die Gesichter beobachten, die sie machten, wenn plötzlich mit seiner Ankündigung ihr bisheriges Weltbild und ihre grundsätzliche Denkweise in Trümmer fiel. Gegen Mitternacht war Martin zu dem Schluß gekommen, daß diese Sache zu Arnos neunzig Prozent gehörten, aber er wollte am nächsten Tag noch weiter darüber nachdenken. Inzwischen mußte er aber, wollte er Schlaf finden, die Maschine aus seinem Geist vertreiben. Er schaltete den Fernseher ein, um die Spätnachrichten zu sehen. Sie lenkten ihn sehr schnell ab von Dr. Arnos neuer Erfindung und gaben ihm ein viel ernsteres Thema zum Nachdenken. Die Stardeck IV war in die Außenstation XI gehinkt. Ein Meteor hatte sie getroffen, und die Reparatur würde mindestens sechs Monate beanspruchen. Martin hatte drei Millionen Credits in dieses Abenteuer investiert, und die ganze Summe hatte er borgen müssen. In vierzehn Tagen hatte er eine Zah-
lung von 100 000 Credits zu leisten. Wäre das Schiff ganz nach Fahrplan zurückgekehrt, hätte er einen Reinverdienst von 200 000 bis 250 000 Credits gehabt, mehr als genug, um die Zahlungstermine einzuhalten. Aber im Moment war er nicht besonders flüssig. Was die Sache aber noch verschlimmerte war die Tatsache, daß er als Sicherheit für diesen Kredit die Martin Electronics mit ihrem gesamten Wert von sechs Millionen Credits verpfändet hatte. Wenn er die First Galaxy Commercial Bank nicht fristgerecht bezahlte, konnte die Bank den gesamten Kredit fristlos aufkündigen und so viel von den Aktien verkaufen, daß ihre Ansprüche gedeckt waren. Die Aktien waren unregistriert und daher im Handel nicht frei erhältlich. Wurde ein solches Aktienpaket privat verkauft, so konnte man nicht mehr als die Hälfte des Realwertes erwarten. Das hieß, daß die Bank eventuell alle Holdings von Martin verkaufen mußte. Er ging alle Unterlagen durch und suchte nach einer Möglichkeit, sehr schnell 100 000 Credits aufzutreiben. Er weckte seinen Buchhalter auf und bat ihn, sich an der Jagd zu beteiligen. Aber auch der sah keine Möglichkeiten. Nahezu seine gesamten Mittel waren eingefroren und konnten nicht innerhalb von vierzehn Tagen in Bargeld umgesetzt werden. So lag er also die ganze Nacht wach, dachte und rauchte eine synthetische Zigarette nach der anderen. Gegen Morgen hatte er zwar noch immer nicht geschlafen, doch die Andeutung eines Planes hatte sich in ihm geformt. Er ging an diesem Morgen nicht in sein Büro, sondern kehrte zu Dr. Arnos Labor zurück. »Wie lange können Sie jemanden in einem Zeitquantum festhalten?« wollte er wissen. »Können Sie
diese Zeit über zwei Minuten ausdehnen?« »Ja, das schon, aber nicht sehr viel länger, denn das Gerät braucht eine unabhängige Energiequelle, kann also nicht an ein Stromnetz angeschlossen werden. Ich würde sagen, die oberste Grenze liegt bei vier bis fünf Minuten.« »Ich möchte Sie bitten, mir ein solches Gerät mit der folgenden Spezifikation zu bauen ...« Er nahm ein Stück Papier aus dem Schreibtisch und schrieb: 1. Zeit: 4 bis 5 Minuten, 2. Coveralls müssen unter der Straßenkleidung getragen werden können; die Kleidung ist in das Feld mit einzuschließen, 3. Der Mechanismus wird in einen konventionellen Diplomatenkoffer eingebaut, mit einem Knopf an der Außenseite des Koffers. Der Rest des Koffers muß für den Transport anderer Materialien frei sein, 4. Nur ein Draht, der vom Koffer zur Taille der Coveralls führt, und er muß am Koffer ein- und ausgesteckt werden können. Dieses Papier reichte er Arno. »Nun, können Sie das so machen?« »Natürlich. Da gibt es tatsächlich gar keinen Unterschied außer der Verpackung und der Erhöhung und Verstärkung der Energiequelle.« »Wie lange werden Sie dazu brauchen?« »Wenn ich die bereits fertige Box umbaue, etwa eine Woche.« »Und wenn Sie außer dieser Sache nichts anderes tun?«
»Dann vermutlich drei Tage. Aber ich sehe keinen Grund für eine solche Eile.« »Ich habe einen sehr guten Grund, doch den kann ich jetzt nicht mit Ihnen diskutieren. Ich komme am Freitagnachmittag wieder, um das Gerät abzuholen.« Er rief Miss Carter an, um ihr zu sagen, daß er für den Rest des Tages nicht kommen würde, und bat sie, alle Anrufer und Besucher so gut wie möglich zu vertrösten. Dann begab er sich in das Finanzviertel, wo er mehrere Banken besuchte. Die meiste Zeit verbrachte er in der First Galaxy Commercial, in der er die Quelle seiner Probleme sah. Für den Rest der Woche hielt er seine Bürostunden ein. Die Zeit verging bemerkenswert langsam. Im Büro sprach er mit niemandem, und abends zu Hause ging er Margaret und den Kindern aus dem Weg. Nichts war ihm wichtig, bis er am Freitag in Arnos Labor das Gerät abholte. Das ganze Wochenende hindurch bemühte er sich, so zu handeln, als seien Margaret und die Kinder wirklich noch am Leben, doch es gelang ihm nicht recht. Am Sonntagabend haßten ihn die Kinder, und seine Frau bestand darauf, daß er zum Psychiater gehen müsse. Aber er wußte, wenn morgen das große Gewicht von seinen Schultern fallen würde, wäre er wieder richtig lebendig und könnte sich des Lebens freuen. Nach einer ewigen, schlaflosen Nacht dämmerte schließlich der Montagmorgen heran. Sobald er allein war, rief er Miss Carter an, um ihr zu sagen, er habe eine dringende geschäftliche Besprechung und würde nicht ins Büro kommen. Dann zog er die Coveralls an, darüber einen Geschäftsanzug. Er ließ sich ein Taxi kommen, schlüpfte in seinen
Mantel, zog Lederhandschuhe an, nahm sein Diplomatenköfferchen und verkündete an der Tür, daß er eine sehr früh angesetzte geschäftliche Unterredung habe und daß er unterwegs frühstücken werde. »Ich meine wirklich, du solltest heute nicht ins Büro gehen«, wandte seine Frau ein. »In letzter Zeit warst du nicht du selbst, Lieber.« »Ah, lächerlich, Marge. Ich hatte ein paar schwere Tage, weil ich über ein ganz bestimmtes Problem nachdenken mußte. Diese heutige Besprechung müßte zu einer Lösung führen.« »Nun, mir gefällt es trotzdem nicht. Wenn du aber darauf bestehst, unbedingt gehen zu wollen, dann trink doch wenigstens Kaffee, bevor du weggehst.« »Keine Zeit. Aber ich verspreche dir, daß ich vor dem ersten Termin eine Tasse Kaffee trinken werde.« Er küßte sie zärtlich und ging. Das Taxi wartete schon. Er gab eine Adresse am Rand des Finanzviertels an. Den Rest des Weges konnte er zu Fuß zurücklegen. Vor dem Eingang zur First Galaxy Commercial Bank blieb er stehen und ging Schritt für Schritt noch einmal das durch, was er zu tun hatte. Zum hundertstenmal überdachte er jede Einzelheit seines Planes und suchte nach etwaigen Möglichkeiten eines Versagens. Nachdem er sich zum hundertstenmal davon überzeugt hatte, daß es gar keine Pannen geben könne, hob er den Kopf, straffte die Schultern und betrat die Bank. Drinnen zögerte er nicht. Er wußte genau, was er zu tun hatte. Er ging direkt durch die Halle, wo die Leute Vordrucke ausfüllten, und wartete, um den Abteilungsleiter für Kredite zu sehen. Von seinem
Platz aus hatte er einen ganz unauffälligen Ausblick auf den Eingang zu einem Kassengehäuse. Es hatte eine Summervorrichtung, die einen erst einließ, wenn man erkannt worden war. Er verschanzte sich hinter einer Zeitung. In ihrem Schutz stöpselte er den Draht von seinen Kleidern in das Diplomatenköfferchen. Dann lehnte er sich zurück, gab vor, eifrig zu lesen, und beobachtete heimlich die Tür mit dem Summer. Viele Leute traten ein und gingen wieder. Sicher würde einmal einer die Tür weit genug aufmachen, daß eine zweite Person vorbeigehen könnte. Sie brauchte nicht lange offen zu bleiben. Eine dreihunderttausendstel Sekunde würde reichen. John Marlow war an diesem Morgen frühzeitig aufgewacht. Er hatte sich einen Schnupfen geholt, und seine Augen tränten. Nach zahlreichen Pillen und Nasensprays fühlte er sich wenigstens andeutungsweise wieder wie ein funktionierendes menschliches Wesen. Er fluchte auf die Generationen medizinischer Forscher, die dem Krebs, den Herzkrankheiten und den meisten Infektionskrankheiten das Kreuz gebrochen hatten, die aber noch immer nichts gegen Heufieber hatten als höchstens eine vorübergehende Erleichterung. Menschen mit künstlichen Herzen, Lebern, Nieren oder Lungen liefen auf den Straßen herum, aber nicht einer hatte bisher künstliche Nasenschleimhäute oder Nebenhöhlen. Und wahrscheinlich würde sie auch nie einer haben. Was ihn am meisten ärgerte, war die Tatsache, daß es eine vom Menschen selbst geschaffene Luftverunreinigung war, die das Leben so vieler Menschen unerträglich machte.
Sein Job als Lehrling in der First Galaxy Commercial war nicht besonders interessant und auch keine große Forderung. Die Ausbildung war nicht nennenswert. Man mußte eben eine bestimmte Zeit niedrigerer Dienste durchmachen, ehe man an bedeutendere Arbeiten gesetzt wurde. Der größte Teil seiner Zeit war mit Zahlenarbeit ausgefüllt, die bereits von einem Computer getan war, aber auf Irrtümer durchgesehen werden mußte; seit achtzehn Monaten hatte er keinen solchen Fehler gefunden. Er trank Kaffee und zählte die Tage, bis er nützliche Arbeit tun durfte. Er lächelte, als er daran dachte, daß wenigstens heute die Monotonie von einem gelegentlichen Niesen unterbrochen werden würde. In diesem Licht gesehen erschien ihm der Heuschnupfen nicht mehr als so großes Übel. Als die Kunden allmählich kamen, verging die Zeit etwas schneller, weil er seinem Hobby des Menschenbeobachtens nachgehen konnte. Dafür war die Bank ein sehr guter Ort, weil die merkwürdigsten Menschen kamen. Da war eine alte Frau, die sich jeden Montag ihren Safe öffnen ließ, um glücklich ihren Schmuck und Ihre Aktien anzuschauen. In der Halle saß ein Mann, der liebevoll sein Diplomatenköfferchen streichelte, als sei es der Schlüssel zum Reichtum des ganzen Universums. Ein Anruf unterbrach seine Beobachtungen; man meldete ihm, daß die Computerausdrucke fertig waren. Er ging in den Computerraum, um vier Kopien für den Tag abzuholen. Jeder Ausdruck war eine halbe Handbreite dick und enthielt mehr als sechs Pfund Papier. Legte man ein Blatt davon ans andere, so reichte das Papier bis zur weitest entfernten Zweig-
stelle am Stadtrand. Ted, ein Programmierer, packte sie auf Marlows ausgestreckte Arme, und dann ging er vorsichtig rückwärts hinaus. Eine Kopie lieferte er in Mr. Gates Büro ab, und dieser Gentleman nahm die oberste Kopie vom Stapel. Es war wesentlich angenehmer, als das Gewicht nur noch achtzehn Pfund betrug. Um zwei Kopien am Käfig des Kassieres abzuliefern, mußte er die Halle durchqueren; er tat dies mit angewinkelten Knien und steifem Rücken, die Arme parallel zum Boden, so daß er auf den niedrigen Summer drücken konnte, der ihm Einlaß verschaffte. Als er sich duckte, um den Knopf zu erreichen, spürte er, daß es heute eine zusätzliche Schwierigkeit geben würde, denn er fühlte das Nahen eines ganz gewaltigen Niesens. Er konnte die Kopien nicht absetzen, weil nirgends ein Platz dafür war, so verlagerte er sie schnellstens auf seinen linken Arm und benützte die rechte Hand dazu, nach einem Papiertaschentuch in seiner Jackentasche zu greifen. Der Summer ging. Mit dem linken Arm umklammerte er die Kopien, mit der rechten Hand das Papiertaschentuch, und so schob er mit dem Rücken die Tür auf und drehte sich um, damit er hineingehen konnte. Aber der Niesanfall ließ sich nun nicht mehr aufhalten. Als er sich zusammenkrümmte, entschlüpften seinem Arm die Kopien, und das Taschentuch flog, von dem lauten, kräftigen Luftstrom angetrieben, den er eben von sich gegeben hatte, aus seiner Hand. Seine Augen tränten und waren halb geschlossen, und so versuchte er beides festzuhalten. Gleichzeitig schob er die Tür weit auf. Auf der anderen Seite der Halle drückte Paul Mar-
tin auf einen kleinen schwarzen Knopf an seinem Diplomatenköfferchen, das er auf den Knien hielt, aber unter der Zeitung versteckt war. Alles war wie versteinert. Alles war mäuschenstill. Paul Martin hängte das Köfferchen an den Haken an seinem Gürtel und ging quer durch die Halle. Als er an der geduckten Gestalt vorüberkam, die mitten in der Bewegung eingefroren zu sein schien – sie griff nach einem fallenden Papierstapel, und in der Luft hing ein einzelnes Papiertaschentuch, weiteten sich Martins Augen. Weiter brauchte er nicht zu gehen. Links von ihm waren auf einem Brett ganze Pakete von Zwanzig- und Fünfzig-Credit-Noten gestapelt, jeweils hundert Scheine in einem Paket. Er zählte fünf Pakete Fünfziger und acht Zwanziger. Das waren insgesamt 41 000 Credits. Er schaute auf seine Uhr. Eine Minute und fünf Sekunden waren vergangen. Ein Minimum von zwei Minuten und fünfundfünfzig Sekunden blieb ihm noch, und er hatte bereits all das gesehen, was er an dieser ersten Stelle benötigte. Er öffnete das Köfferchen und griff nach dem obersten Paket der Fünfziger. Es rührte sich nicht. Er versuchte es noch einmal, er schob, zog und zerrte, doch es nützte nichts. Nicht mit aller Kraft konnte er auch nur ein Blättchen Papier bewegen. Zwei Minuten waren vorüber. Wütend attackierte er die Pakete mit den Zwanzigern. Er rammte sie mit seiner Schulter. Es war so, als gehe er gegen eine Stahlkonstruktion an. Zwei Minuten und vierzig Sekunden. Er schaute sich um nach etwas Hartem, womit er die Stapel einwerfen könnte,
aber er konnte auch nicht eines der eventuell nützlichen Werkzeuge bewegen, ebensowenig wie das Geld. Drei Minuten und dreißig Sekunden. In einer letzten ungeheuren Kraftanstrengung umklammerte er den Stapel der Zwanziger, stemmte sich mit beiden Füßen an die Wand und stieß zu. Nichts bewegte sich. Er stieß und zog heftiger. Alles umsonst. Er war so in seine Anstrengung vertieft, daß er gar nicht bemerkte, wie sein Griff sich lockerte. Plötzlich flog er rückwärts durch die Luft. Mit dem Rücken schlug er auf die Ecke von etwas Hartem, Scharfem, Unnachgiebigem. Er spürte, wie eine sich ausbreitende Klinge seinen Mantel, seine Jacke und dann die Haut durchstieß, und da tat er einen lautlosen Schrei. Marlows rechte Hand traf plötzlich einen Mann. Einen fallenden Mann. Einen schreienden Mann. Aber woher war der gekommen? Der Mann schlug auf dem Boden auf und blieb still liegen. Er schrie jetzt nicht mehr. Unter seiner Gestalt sickerte Blut heraus, und schnell wurde eine Pfütze daraus. »Was ist geschehen?« »Wer ist das?« »Was geht hier vor?« »Jemand soll die Polizei rufen!« John Marlow beugte sich hinab und lauschte nach dem Atem des Fremden und fühlte nach dem Puls. Er hörte weder den einen, noch ertastete er den anderen. »John, kennst du diesen Mann? Was tut er hier im Kassenkäfig?« »Er ist tot.« John Marlow stand langsam auf und
schleppte sich zu einem Stuhl. Er verstand nicht, was da geschehen war. Vor einem Augenblick war dieser Mann noch nicht im Kassenkäfig gewesen, das wußte er absolut sicher. Und war das nicht der Gentleman, der vorhin in der Halle gesessen hatte? Ja, natürlich, das war er. Aber möglich war das nicht. Marlow hatte noch gesehen, wie er am anderen Ende der Halle saß, als er rückwärts in den Kassenkäfig hineinging. Marlow erzählte dies auch der Polizei, als sie ankam, und auch bei der ausführlichen Vernehmung, die im Hauptquartier der Polizei stattfand. Es ließ sich nicht übersehen, daß er noch immer unter Schockwirkung stand, so daß also seine Aussage als nur bedingt wertvoll angesehen wurde. Es vergingen noch viele Jahre, ehe er den letzten Alptraum von dem schreienden Mann hatte, der plötzlich vor seinen Augen erschien, aber nur um zu sterben mit einem entsetzten Ausdruck in den weit aufgerissenen Augen. New York, 17. November (AP) – Auch die Ergebnisse der Autopsie brachten kein Licht in den geheimnisvollen Fall des Todes von Paul R. Martin, Industrieller, Vorstandsvorsitzender und Präsident der Martin Electronics Corporation, der am vergangenen Montag offensichtlich an einer Gewalteinwirkung in der Schalterhalle des Hauptsitzes der First Galaxy Commercial Bank starb. Dr. Andrew Stein, der Chef der Polizeiärzte der Stadt, ließ heute verlauten, daß der Tod infolge innerer Verletzungen eintrat, die von einem scharfen Gegenstand hervorgerufen wurden. Die Beschaffenheit der Wunde läßt vermuten, daß es sich um eine flache,
ziemlich spitz zulaufende Waffe handelte, die an der Spitze einen Winkel von 90 Grad bildete. Wenn auch Mr. Martin vor einer großen Anzahl von Zeugen starb, so konnte doch keine Spur von einer Waffe, gleich welcher Art, gefunden werden. Anthony Carp, Chef der Detektive, gab an, daß seine Männer einige Spuren entdeckt hätten, denen sie nun folgten, doch er konnte der Öffentlichkeit über die Natur dieser Spuren noch nichts bekanntgeben. Ferner stellte Dr. Stein fest: »Über die ganze Ausdehnung der Wunde ließen sich Spuren von einem Papiermaterial feststellen, aus dem zum Beispiel Papiertaschentücher bestehen. Wir wissen nicht, wie dieses Papier in die Wunde gelangte oder wie es die ganze Wundinnenfläche bedecken konnte, aber wir glauben nicht, daß dieses Papier zum Tod von Mr. Martin beigetragen hat.« Die private Totenfeier für Mr. Martin findet am Freitag im Krematorium statt. Überlebt wird er von seiner Frau Margaret, 47, und zwei Kindern: Linda, 12, und Thomas, 9.
Originaltitel: JUST A MATTER OF TIME. Aus GALAXY 7/73 Copyright © 1973 by UPD Publishing Corporation
Gene Wolfe LA BEFANA, DIE WEIHNACHTSHEXE Zozz kam von der Grube nach Hause, leckte sein Fell sauber und heulte vor John Bananas Tür. Johns Frau Teresa machte auf und ließ ihn ein. Sie war eine magere Frau, die sich gebückt hielt, ungefähr dreißig oder fünfunddreißig Jahre alt, und ihr schwarzes Haar war grau durchsetzt. Sie lächelte nicht, doch er fühlte, daß sie sich freute, ihn zu sehen. »Er ist noch nicht da«, sagte sie zu ihm. »Wenn du reinkommen willst – wir haben Feuer.« »Ich warte auf ihn«, antwortete Zozz. Seine sechs Beine überschritten höflich die Schwelle, und dann setzte er sich auf den Stein, den Bananas für ihn hereingerollt hatte, als sie Freunde wurden. Maria und Mark spielten irgend etwas mit Flaschenverschlüssen, die auf in den gestampften Erdboden gekratzte Vierecke gelegt wurden. »Hi, Mr. Zozz«, sagten sie, und Zozz erwiderte: »Hi, ihr beiden.« Bananas' alte Mutter, die Zozz am Tag vorher in seinem verrosteten Auto von den Landekissen hergebracht hatte, schaute ihn mit durchdringenden Augen an und floh dann in den angrenzenden Raum. Er hörte, wie Teresa einen tiefen, entspannenden Atemzug tat und ein wenig pfeifend die Luft wieder ausstieß. Er sagte: »Ich glaube, sie meint, ich hätte sie gestern mit Absicht angerempelt.« »Sie ist noch nicht an dich gewöhnt.« »Ich weiß«, gab Zozz zu. »Ich sagte ihr, der Mutter Bananas', es ist ihre Welt,
und sie sind noch nicht an dich gewöhnt.« »Klar«, meinte Zozz. Ein Windstoß von draußen brachte einen Schwall kalter Luft herein, so daß der strenge Geruch vertrieben wurde, der durch die Schwingtür zum Stall an der anderen Wandseite kam. »Ich sag dir, es ist höllisch, wenn man in einem so winzigen Haus die Mutter des Mannes bei sich haben muß.« »Sicher«, antwortete Zozz. »Daddy ist daheim!« verkündete Maria. Ratternd ging die Tür auf, und Bananas kam herein. Er sah müde und doch fröhlich drein. Bananas arbeitete auf dem Fleischermarkt. Seine Wangen waren blau vor Kälte, doch seine beiden Hosenaufschläge waren mit rotem Blut getränkt. Er küßte Teresa und zauste das Haar beider Kinder. »Hi, Zozzy«, sagte er. »Hi, na wie läuft alles?« erkundigte sich Zozz und rückte ein wenig zur Seite, damit Bananas seinen Rücken wärmen konnte. Jemand stöhnte, und Bananas fragte ziemlich besorgt: »Was ist denn das?« »Nebenan«, sagte Teresa. »Hä?« »Nebenan. Eine Frau.« »Oh, ich dachte, es könnte vielleicht Mutter sein.« »Ihr geht's gut.« »Wo ist sie?« »Im Hinterzimmer.« Bananas runzelte die Brauen. »Dort ist kein Feuer. Sie wird sich zu Tode frieren.« »Ich hab ihr ja nicht gesagt, sie soll dorthin gehen. Sie kann sich in eine Decke wickeln.«
Zozz sagte: »Ich bin's. Ich störe sie.« Er stand auf. »Setz dich wieder«, sagte Bananas. »Ich kann gehen. Ich wollte ja nur guten Tag sagen.« »Setz dich doch.« Bananas wandte sich an seine Frau. »Liebling, du solltest sie wirklich nicht allein da draußen lassen. Versuch's doch mal, ob du sie reinholen kannst, ja?« »Johnny ...« »Teresa, verdammt noch mal!« »Okay, Johnny.« Bananas zog seine Jacke aus und setzte sich vor das Feuer. Maria und Mark waren zu ihrem Spiel zurückgekehrt. »Nettes Ding«, bemerkte er so leise, daß es die Kinder nicht hören konnten. »Ich denke, deine Mutter macht sie nervös«, antwortete Zozz. »Na klar«, meinte Bananas. »Das ist hier keine leichte Welt.« »Für uns Zweibeiner? Nein, ganz bestimmt nicht. Aber du wirst nicht erleben, daß ich hier weggeh.« »Das ist gut«, erwiderte Zozz erfreut. »Ich meine, du hast ja hier einen Job. Es gibt genug Arbeit.« »Das stimmt.« Unerwartet sagte Maria: »Wir haben hier genug zu essen, und Mark und ich, wir zwei finden auch Holz für das Feuer. Wo wir vorher waren, da gab's nichts zu essen.« »Erinnerst du dich denn daran, Liebling?« »Ein bißchen.« »Hier sind die Leute arm«, meinte Zozz. Bananas zog seine Schuhe aus, kratzte den Straßen-
schmutz ab und warf ihn ins Feuer. Er sagte: »Wenn du uns meinst, Leute wie wir sind überall arm.« Er machte eine Kopfbewegung zum Hinterzimmer. »Du sollst sie von unserer Welt erzählen hören.« »Deine Mutter?« Bananas nickte. »Du solltest hören, was sie zu sagen hat.« »Deine Mutter? Über eure Welt?« Bananas nickte. »Daddy, wie ist Großmutter hergekommen?« wollte Maria wissen. »So wie wir.« »Du meinst, sie hat etwas unterschrieben?« fragte Mark. »Einen Arbeitsvertrag? Nein. Dafür ist sie zu alt. Sie hat eine Karte gekauft. Weißt du, ungefähr so, wie wenn man etwas in einem Laden kauft.« »Warum ist sie denn gekommen?« fragte Maria. »Halt den Mund und spiel. Störe uns nicht.« »Wie ging's mit der Arbeit?« erkundigte sich Zozz. »Na, so.« Bananas schaute wieder zum Hinterzimmer. »Sie ist zu etwas Geld gekommen, aber das ist ihre Sache. Ich hab sie nie danach gefragt.« »Klar.« »Sie sagt, sie hat jeden Dollar ausgegeben, damit sie herkommen konnte. Du weißt, seit fünfzig, sechzig Jahren gibt's nicht mal auf der Erde mehr Dollars, aber sie sagen's immer noch. Wie gefallt dir das?« Er lachte, und Zozz lachte auch. »Ich hab sie gefragt, wie sie wieder zurückkommen will, aber da hat sie gesagt, sie geht nicht zurück. Sie will hier bei uns sterben. Was soll ich da schon drauf sagen?« »Das weiß ich auch nicht.« Zozz wartete darauf,
daß Bananas etwas sagte, und als er das nicht tat, fügte er hinzu: »Ich meine, sie ist doch schließlich deine Mutter.« »Ja, sicher.« Durch die dünne Wand hörten sie wieder die kranke Frau stöhnen, dann ging jemand herum. Zozz sagte: »Muß schon sehr lange her sein, daß du sie zuletzt gesehen hast.« »Ja. Zweiundzwanzig Newtonische Jahre. Hör mal, Zozzy –« »Hm ...?« »Weißt du was? Ich wollte, ich hätt sie nie wieder zu sehen gekriegt«, sagte Bananas. Zozz blieb die Antwort darauf schuldig und rieb sich nur die Hände, Hände, Hände. »Ich weiß schon, das klingt lausig.« »Ich verstehe, was du meinst.« »Mit dem, was die Fahrt hierher gekostet hat, hätte sie gut für den Rest ihres Lebens zurechtkommen können.« Bananas schwieg eine Weile. »Früher war sie eine große, dicke Frau, als ich noch ein Kind war, verstehst du? Eine große, dicke Frau mit einer lauten Stimme. Und schau sie dir jetzt an. Ausgetrocknet und gebeugt. Es ist fast so, als sei sie gar nicht meine Mutter. Und weißt du, was das einzige wie früher an ihr ist? Das schwarze Kleid. Das ist alles, was ich an ihr erkenne, das einzige, das sie nicht verändert hat. Sie könnte leicht eine Fremde sein. Sie erzählt Geschichten über mich, an die ich mich überhaupt nicht erinnern kann.« »Gestern hat sie uns auch eine Geschichte erzählt«, sagte Maria. Und Mark fügte hinzu: »Bevor du nach Hause ge-
kommen bist. Von der Hexe.« »Von der, die den Kindern Geschenke bringt«, ergänzte Maria. »Sie heißt La Befana, die Weihnachtshexe.« Zozz zog die Lippen von seinen doppelten Fangzähnen zurück und wackelte mit dem Kopf. »Ich mag Geschichten.« »Sie sagt, es ist fast Weihnachten, und an Weihnachten sind drei weise Männer aufgebrochen, um das kleine Kind zu suchen, und an der Tür einer alten Hexe hielten sie an und fragten, wo das kleine Kind zu finden sei, und sie sagte es ihnen. Die drei Weisen haben dann die Hexe aufgefordert, mit ihnen zu kommen.« Die Tür zum anderen Zimmer ging auf, und Teresa und Bananas' Mutter kamen heraus. Bananas' Mutter trug einen Teekessel. Sie drückte sich um Zozz herum, um ihn an den Haken zu hängen, damit sie ihn über das Feuer schwingen konnte. »Und sie hat ausgefegt und wollte nicht mitkommen«, fuhr Maria mit der Geschichte fort. »Sie hat gesagt, sie würde nachkommen, wenn sie fertig ist«, ergänzte Mark. »Sie war wirklich schon sehr alt und sehr häßlich. Paß mal auf, ich will dir zeigen, wie sie ging.« Er sprang auf und hoppelte im Raum herum. Bananas schaute seine Frau an und deutete zur Wand. »Was ist das?« fragte er. »Eine Frau. Ich sagte es dir doch schon.« »Dort drinnen?« »Im Obdachlosenheim sagten sie ihr, sie könne dort bleiben. Aber das ging nicht, weil alle Räume voll Männer sind.«
»Und als sie dann fertig war«, fuhr Maria fort, »dann ging sie und suchte IHN, nur konnte sie IHN nicht finden, und sie fand IHN auch niemals.« »Ist sie krank?« »Sie ist zusammengebrochen: sie ist schwanger, Johnny, das ist alles. Hab keine Angst um sie. Drinnen ist ein Mann bei ihr.« »Weißt du was von dem Baby Jesus, Mr. Zozz?« fragte der kleine Mark. Zozz suchte nach Worten. »Johnny, mein Sohn ...« »Ja, Mama.« »Dein Freund ... Haben die hier einen Glauben, Johnny?« »Die nebenan sind Juden«, bemerkte Teresa. Zozz sagte zu Mark: »Siehst du, das Jesuskind ist niemals auf meine Welt gekommen.« Und Maria sagte: »Und so geht sie überallhin mit ihren Geschenken und sucht IHN, und bei jedem Kind, das sie findet, läßt sie etwas zurück, aber sie sagt, das tut sie nicht deshalb, weil sie glaubt, das Kind könnte ER sein, wie manche Leute glauben, ER ist nur ein Ersatz. Sie kann niemals sterben. Sie muß das immer und ewig tun. Nicht wahr, Grandma?« Die gebückte alte Frau sagte: »Nicht immer und ewig, Liebes. Nur bis morgen abend.«
Originaltitel: LA BEFANA. Aus GALAXY 1/73 Copyright © 1973 by UPD Publishing Corporation