Axel Groenemeyer (Hrsg.) Doing Social Problems
Axel Groenemeyer (Hrsg.)
Doing Social Problems Mikroanalysen der Konstruktion sozialer Probleme und sozialer Kontrolle in institutionellen Kontexten
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1. Auflage 2010 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2010 Lektorat: Frank Engelhardt VS Verlag für Sozialwissenschaften ist eine Marke von Springer Fachmedien. Springer Fachmedien ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in the Netherlands ISBN 978-3-531-17192-0
Inhalt Vorwort
I.
II.
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Doing Social Problems – Kontexte und theoretische Perspektiven der Konstruktion sozialer Probleme Axel Groenemeyer Doing Social Problems – Doing Social Control. Mikroanalysen der Konstruktion sozialer Probleme in institutionellen Kontexten – Ein Forschungsprogramm
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Raimund Hasse, Lucia Schmidt Der Arbeitsbegriff in der Soziologie sozialer Probleme und im Neo-Institutionalismus. Konzeptualisierung und Anwendung im Forschungsfeld Bildungsungleichheit
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Ralf Wetzel Zur organisationalen Verfertigung von Behinderung. Über den kollektiven Umgang mit Differenz anhand neuerer organisationstheoretischer Sprachangebote
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Analysen der institutionellen Konstruktion und Bearbeitung sozialer Probleme Bernd Dollinger Doing Social Problems in der Wissenschaft. Sozialpädagogik als disziplinäre Form der Problemarbeit
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Ursula Unterkofler Wandel der Vorstellung von Hilfe in der Sozialen Arbeit. Auswirkungen auf die Problemarbeit im Feld der Drogenhilfe
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Inhalt
Brita Krucsay, Roland Gombots Nischen in der Marktlogik? Zum Einfluss institutioneller Einbettung auf Konzeptualisierungen sozialer Probleme in der Sozialen Arbeit
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Uwe Flick, Gundula Röhnsch „Ich sehe, dass Menschen vor Diagnosen davonlaufen“ – Chronische Krankheit jugendlicher Obdachloser aus der Sicht von Experten und Expertinnen
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Stefan Dreßke Soziale Problemarbeit in der medizinischen Rehabilitation. Zur Körpernormalisierung bei Behinderung
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Kurt Möller Ausstiege aus dem Rechtsextremismus – Wie professionelle Ausstiegshilfen Themen- und Bearbeitungsdiskurse über Rechtsextremismus (re)produzieren und modifizieren
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Steffen Zdun Doing Social Problems bei der Polizei im Straßenkulturmilieu
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Oliver Brüchert „Gewalt ist keine Lösung“. Der Beitrag von Kampagnen der Kriminalprävention zur Konstruktion sozialer Probleme
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Marc Loriol, Valérie Boussard, Sandrine Caroly Ethnische Diskriminierung in Dienstleistungsorganisationen. Ein berufsübergreifender Vergleich
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Verzeichnis der Autoren und Autorinnen
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Vorwort
Angestoßen über Diskussionen in der US-amerikanischen Soziologie sozialer Probleme über Social Problems Work 1 und entsprechende Beiträge in der Zeitschrift Soziale Probleme 2 hatte die Sektion Soziale Probleme und Soziale Kontrolle 2008 einen Call for Papers für eine Sitzung auf dem Soziologiekongress in Jena veröffentlicht. Der Titel der Veranstaltung lautete „Doing Social Problems – Doing Social Control. Die Konstruktion und Bearbeitung sozialer Probleme in Professionen und Institutionen sozialer Kontrolle“. Offenbar traf dieser Titel eine Fragestellung, die viele Kollegen und Kolleginnen bereits umtrieb, denn die Resonanz auf den Aufruf war außerordentlich umfangreich, so dass auf der entsprechenden Sitzung in Jena tatsächlich nur ein kleiner Teil der Vorschläge als Vorträge realisiert werden konnte. Hieraus ist dann die Idee für dieses Buch entstanden. Ziel der Veranstaltung war es, nicht nur einen ersten Überblick über ein in der Soziologie sozialer Probleme bislang wenig beachtetes Forschungsfeld zu geben, sondern gleichzeitig auch anhand von Beispielen sein empirisches Forschungspotential zu präsentieren. Doing social Problems beschäftigt sich mit zunächst einfach klingenden Fragen: Woher wissen z. B. die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen der Sozialen Arbeit eigentlich, das ein Problem ein sozialpädagogisches Problem ist? Wie identifiziert die Polizei einen Verdächtigen? Wie kommt ein Psychiater zu seiner Diagnose und was folgt daraus? Wie kommt es, dass Klienten und Klientinnen nach bestimmten Kriterien ungleich behandelt werden, obwohl bei den Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen keine Anzeichen von Diskriminierungsabsicht feststellbar sind? Das Forschungsfeld und die mit ihm verbundenen Fragestellungen sind keineswegs neu, allerdings wurden sie in der Soziologie sozialer Probleme bislang kaum wahrgenommen. In einigen Spezialdisziplinen wie der Kriminalsoziolo-
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Siehe insbesondere Best 2008; Holstein 1992; Holstein/Miller 1993; Loseke 2003; Miller 1992; Miller/Holstein 1989. Siehe insbesondere Best 2006; Groenemeyer 2006, 2007; Savelsberg 2006; Schmidt 2007.
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Vorwort
gie, der Medizinsoziologie, der Rechtssoziologie oder der Sozialen Arbeit liegt demgegenüber durchaus schon eine Vielzahl einzelner Untersuchungen mit ähnlichen Fragestellungen vor, die allerdings weder über einen gemeinsamen konzeptionellen Rahmen verfügen noch vergleichend angelegt sind. Es geht um die Anwendung und Konstruktion von Kategorien sozialer Probleme im Alltag durch Institutionen der Problembearbeitung oder Instanzen sozialer Kontrolle. Doing social Problems und Doing social Control beschreibt – vereinfacht gesagt – Kategorisierungsprozesse und ihre Folgen in institutionellen Kontexten. Grundlage für diese Prozesse sind allgemeine Kategorien sozialer Probleme wie Krankheit, Kriminalität, Armut, Sozialisationsdefizit etc., die in modernen Gesellschaften als allgemein akzeptiert und als unhinterfragt evident vorgestellt werden, die aber gleichwohl sozial konstruiert worden sind und im Alltag immer wieder neu sozial konstruiert werden. Damit ist weder etwas über die Angemessenheit und Unangemessenheit der Kategorien gesagt noch ihr Realitätsgehalt bezweifelt, sondern nur eine zentrale Fragestellung der Soziologie sozialer Probleme thematisiert: die soziologische Problematisierung von Problematisierungen als ein empirisches Forschungsprogramm. Für die Analyse von Konstruktionsprozessen sozialer Probleme hat die Wahl der Perspektive eines Doing social Problems zwei Konsequenzen: Es wird erstens Abstand genommen von Vorstellungen eines einheitlichen Karrieremodells der Konstruktion sozialer Probleme. Soziale Problemkategorien entstehen demgegenüber in verschiedenen Arenen oder sozialen Feldern mit jeweils spezifischen feldspezifischen Regeln und Relevanzkriterien. Zweitens werden die Kategorien sozialer Probleme zwar über aktives Handeln hergestellt und in diesem Sinne sozial konstruiert, aber dieses Handeln (Claimsmaking Activities) entsteht und entwickelt sich immer in einem institutionalisierten Kontext von Diskursen, Wissen und Orientierungen, Normen und Regeln, Ressourcen- und Machtverteilungen. In diesem Prozess gewinnen die verfügbaren Kategorien sozialer Probleme selbst den Status von Institutionen als selbstverständliche, unmittelbar evidente und routiniert angewendete Interpretationsmuster, die zudem eingebettet und stabilisiert werden durch Organisationen mit z. T. weitreichenden Macht- und Eingriffsbefugnissen. Die vorliegenden Beiträge in diesem Band nähern sich dieser Perspektive aus unterschiedlichen Richtungen und mit jeweils unterschiedlichen Schwerpunkten. Gleichwohl wird deutlich, dass sich die behandelten Einzelaspekte in ein gemeinsames Bild fügen, das sowohl Parallelen zwischen verschiedenen Institutionen der Problemarbeit erkennen lassen als auch Anstöße für weitere vergleichende Analysen geben können.
Vorwort
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Literatur Best, Joel, 2006: Amerikanische Soziologie und die Analyse sozialer Probleme. Soziale Probleme 17/1: 20-33. Best, Joel, 2008: Social Problems. New York: W.W. Norton & Co. Groenemeyer, Axel, 2006: Gesellschaftspolitische Relevanz und soziologische Reputation. Eine kleine Geschichte über 30 Jahre Soziologie sozialer Probleme in Deutschland. Soziale Probleme 17/1: 9-19. Groenemeyer, Axel, 2007: Die Institutionalisierung vom Problemdiskursen und die Relevanz der Soziologie sozialer Probleme. Soziale Probleme 18/1: 5-25. Holstein, James A., 1992: Producing People. Descriptive Practise in Human Service Work. S. 23-39 in: Miller, G. (Hrsg.), Current Research on Occupations and Professions. Vol. 7. Greenwich, Conn.: JAI. Holstein, James A./Miller, Gale, 1993: Social Constructionism and Social Problems Work. S. 131152 in: Miller, G./Holstein, J.A. (Hrsg.), Constructionist Controversies. Issues in Social Problem Theory. New York: de Gruyter. Loseke, Donileen R., 2003: Thinking about Social Problems. An Introduction to Constructionist Perspectives. New York: Walter de Gruyter. [2. Auflage]. Miller, Gale, 1992: Human Service Practice as Social Problems Work. S. 3-21 in: Miller, G. (Hrsg.), Current Research on Occupations and Professions, Vol. 7. Grennwich, Conn.: Jai. Miller, Gale/Holstein, James A., 1989: On the Sociology of Social Problems. Perspectives on Social Problems 1: 1-16. Savelsberg, Joachim J., 2006: Soziale Probleme in Deutschland und in den Vereinigten Staaten: Vergleichender Kommentar zu Best und Steinert und Vorschläge. Soziale Probleme 17/1: 4554. Schmidt, Lucia, 2007: Problemarbeit und institutioneller Kontext. Soziale Probleme 18/1: 26-41.
I. Doing Social Problems – Kontexte und theoretische Perspektiven der Konstruktion sozialer Probleme
Axel Groenemeyer
Doing Social Problems – Doing Social Control Mikroanalysen der Konstruktion sozialer Probleme in institutionellen Kontexten – Ein Forschungsprogramm
1. Einführung Moderne Gesellschaften haben verschiedene soziale Systeme, Institutionen und Organisationen ausdifferenziert, die auf die Bearbeitung sozialer Probleme spezialisiert sind, wie z. B. Soziale Arbeit, Polizei, Justiz und Strafvollzug, Organisationen des Gesundheitssystems und der Psychiatrie oder auch Institutionen des sozialen Sicherungssystems und Kommunalverwaltungen der Planung und Durchführung von Integrationsmaßnahmen. Diese Organisationen oder Institutionen sind jeweils mit bestimmten Ressourcen, Rechten und politischen Aufträgen oder Programmen ausgestattet und haben jeweils ganz spezifische Formen und Techniken der Problembearbeitung ausgebildet. Sie funktionieren auf der Grundlage jeweils unterschiedlicher Logiken und haben dazu jeweils spezifische Wissensbestände, professionelle Orientierungen und Techniken entwickelt, die sie deutlich voneinander zu unterscheiden scheinen. Das Gemeinsame an diesen Organisationen und den sie charakterisierenden Handlungsformen ist zunächst ihr Bezug zu sozialen Problemen. Sie sind das Ergebnis oder die Konsequenz erfolgreicher öffentlicher und politischer Problematisierung und setzen damit eine bestimmte gesellschaftlich und politisch akzeptierte Definition von Kategorien sozialer Probleme voraus, die den Institutionen den offiziellen Organisationszweck und einen allgemeinen Rahmen für die durchzuführenden Maßnahmen und Handlungsformen vorgeben. Im Anschluss an Gusfield (1989) kann hier auch von „Troubled Persons Industries“ gesprochen werden (vgl. auch Loseke 2003b: 139 ff.) Mit der Institutionalisierung bestimmter Organisationen und Maßnahmen der Problembearbeitung oder sozialen Kontrolle werden Erwartungen im Alltag
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über die Existenz und Berechtigung von Problemkategorien verifiziert. Solange es keine bearbeitende Stelle gibt, bleiben Problematisierungen vage, umstritten und können als nicht wirklich existent angesehen werden, zumindest sind sie gesellschaftlich kaum relevant. Sie schaffen gleichzeitig einen Rahmen für Erwartungen und Interpretationen von Betroffenheit. Wenn es eine Suchtberatungsstelle gibt, dann gibt es auch Sucht und damit die Möglichkeit, eigene und fremde Verhaltensweisen als Sucht zu interpretieren. Mit ihrer Etablierung werden diese Organisationen zur offiziellen Adresse für die Betroffenen oder potentiell Betroffenen von sozialen Problemen, die damit immer auch bestimmte Bilder von Maßnahmen und Reaktionsweisen verbinden. So ist z. B. der Mensch, der Patient oder Patientin im Gesundheitssystem wird, folglich von Krankheit betroffen, bei einem Klienten oder einer Klientin der Sozialen Arbeit erwartet man eine Hilfsdürftigkeit und wer von Maßnahmen des Kriminalsystems betroffen wird, ist ein (potentieller) Krimineller, eine (potentielle) Kriminelle oder ein Opfer von Kriminalität. Umgekehrt muss jemand, der sich an eine Einrichtung des Gesundheitssystems wendet, schon vorher seine Situation als zumindest potentiell krank definiert haben. Die Aufnahme von Problemkategorien in Diagnosemanuals, in Strafgesetzbücher oder in die Entwicklungen von Hilfsangeboten und Maßnahmen dokumentiert dann nicht nur Zuständigkeiten, sondern ermöglicht sowohl den professionellen Problemarbeitern und -arbeiterinnen als auch (potenziell) Betroffenen einen abgesicherten Sinn- und Interpretationsrahmen für möglicherweise bereits vorher eher diffus als problematisch wahrgenommene Zustände und Verhaltensweisen und selbst für Situationen, die vorher vielleicht als eher unproblematisch angesehen oder als selbstverständlich interpretiert worden sind. Eine weitere Gemeinsamkeit von Institutionen der Bearbeitung und Kontrolle sozialer Probleme ergibt sich aus ihrem Charakter als öffentliche, personenbezogene Dienstleistungsorganisationen. Es handelt sich um „Street-Level Burocracies“ (Lipsky 1980; Maynard-Moody/Musheno 2003; Prottas 1979), also um Organisationen, die, versehen mit einen öffentlichen oder politischen Auftrag, Interaktionsprozesse zwischen Klientel und öffentlichen Diensten organisieren, Hilfen und Beratung bereithalten, Kontrollen durchführen, Ressourcen und Status verteilen oder Techniken der Veränderung von Personen anwenden. Ein zentrales gemeinsames Merkmal der verschiedenen Institutionen der Problembearbeitung ist die unmittelbare face-to-face Interaktion in der konkreten Problembearbeitung. Die Organisationen und Institutionen der Problembearbeitung verkörpern erfolgreich etablierte allgemeine Kategorien von sozialen Problemen, die durch
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spezifisch geschultes Personal dann auf konkrete Personen und Situationen angewendet werden. Aus der abstrakten Kategorie Kriminalität, Krankheit, Hilfsbedürftigkeit oder Sozialisationsdefizit werden Fälle gemacht, die im Rahmen der institutionellen Vorgaben und Handlungslogiken entsprechend bearbeitet werden oder, wenn die Zuweisung zu den entsprechenden organisationsspezifischen Problemkategorien fehlschlägt, an andere Stellen verwiesen oder abgewiesen werden. Über die konkrete Fallbearbeitung im Alltag von Institutionen der Problembearbeitung werden also abstrakte Kategorien sozialer Probleme zu konkreten Betroffenheiten gemacht. Die Anwendung abstrakter Problemkategorien auf konkrete Fälle im Alltag ist allerdings ein höchst voraussetzungsreicher Prozess. Zunächst müssen die Problemkategorien gesellschaftlich als relevant und allgemein akzeptiert bzw. über politisch-administrative Entscheidungen als bearbeitungswürdig und bearbeitbar angesehen werden, damit es überhaupt zu einer Institutionalisierung kommt. Die Organisationen sind aber nicht nur ein Abbild politischer Entscheidungsprozesse und Programme, sondern entfalten ein Eigenleben der Interpretation und Bearbeitung von Problemkategorien. Die Anwendung der Problemkategorien im Alltag der Problembearbeitung schließlich setzt ein bestimmtes Wissen, spezifische Orientierungen und Techniken voraus, die dann in Interaktionsprozessen zwischen Professionellen und Betroffenen eingesetzt werden. Hierbei handelt es sich um einen Aushandlungsprozess, der zwar mit unterschiedlicher Macht auf Seiten der Organisation und auf Seiten der Betroffenen abläuft, an dem aber die Betroffenen aktiv beteiligt sind. Klienten bzw. Klientinnen und Patienten bzw. Patientinnen müssen Symptome, Defizite oder Belastungen äußern, eventuell sogar aktiv eine Inanspruchnahme initiieren, Tatverdächtige bringen Entlastungsgründe und Erklärungen vor usw., die dann in Interaktionen mit den Problemarbeitern und -arbeiterinnen die Zugehörigkeit des Falls zur entsprechenden Problemkategorie konstruieren und darauf aufbauend spezifische Techniken der Problembearbeitung begründen. Es sind diese Prozesse der Konstruktion sozialer Probleme im Alltag der institutionellen und organisatorischen Kontexte der Problembearbeitung und ihre Konsequenzen, die als Doing social Problems beschrieben und analysiert werden sollen. Eingebunden ist dieses Forschungsprogramm in die Soziologie der Konstruktion sozialer Probleme, das u. a. durch die mittlerweile klassischen Arbeiten von Spector und Kitsue (Kitsuse/Spector 1973; Spector/Kitsuse 1973, 1977) angestoßen wurde. Ursprünglich bezieht sich dieses Programm einer Soziologie sozialer Probleme auf die Fragestellung, wie bestimmte Situationen, Verhaltensweisen und Bedingungen im öffentlichen und politischen Raum problematisiert
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werden. Dabei geht es in erster Linie um die Analyse von Aktivitäten, Strategien und Prozesse, über die (kollektive und kooperative) Akteure versuchen, bestimmte Ideen und Interpretationen als problematisch angesehene Sachverhalte darzustellen und zu verbreiten. Es wird damit also die Frage formuliert, wie und in welcher Art und Weise bestimmte Phänomene als problematische und zu verändernde Tatbestände aus der Vielzahl möglicher problematischer Phänomene ausgewählt und zu sozialen Problemen gemacht werden. Die Soziologie sozialer Probleme folgt damit einem wissenssoziologischen oder diskursanalytischen Programm. 1 Während im klassischen Programm der Konstruktion sozialer Probleme zunächst die Aktivitäten kollektiver und kooperativer Akteure, wie z. B. soziale Bewegungen und Professionsverbände, oder moralische Unternehmer eine besondere Aufmerksamkeit erfuhren, wurde die stärkere Berücksichtigung der Ebene der konkreten Problemkonstruktion im Alltag von Holstein und Miller mit dem Konzept der Social Problems Work eingebracht. (Holstein 1992; Holstein/Miller 1993b; Miller 1992; Miller/Holstein 1989). Intention war hierbei eine Erweiterung des konstruktivistischen Programms, „to include those practices that link public interpretive structures to aspects of everyday reality, producing recognizable instances of social problems“ (Holstein/Miller 1993b: 132). In vielen Fallstudien der US-amerikanischen Soziologie sozialer Probleme steht die Interpretations- und Konstruktionsleistungen kollektiver gesellschaftlicher Akteure häufig im Vordergrund, wobei strittig war, inwieweit und in welcher Form soziale Kontexte der Konstruktion thematisiert werden können, ohne quasi das konstruktivistische Programm zu verlassen. Doing social Problems oder Social Problems Work bezieht sich nun nicht nur auf interne Strukturen und Regeln des Hervorbringens von Problemkategorien, sondern erhebt explizit den Anspruch, institutionelle und organisatorischen Kontexte bei der Analyse zu berücksichtigen: “While studies on social problems work focus on interpretated practice, they also incorporate context. Not only are social problems representations organizationally produced and preferred models for interpretations, but their use is conditioned by prevailing local preferences, practices and resources. Both image and attachment are organizationally embedded …; categories and practices through which they are applied reflect local interpretative circumstances and culture” (Holstein/Miller 1993b: 148). 1
Auf eine Diskussion der erkenntnistheoretischen und methodologischen Grundlagen, die für einige Zeit die Soziologie sozialer Probleme beschäftigt hat, wird hier verzichtet (siehe hierzu ausführlicher Albrecht 1990; Albrecht 2001; Miller/Holstein 1993; Schetsche 2000).
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Allerdings finden die lokalen Konstruktionen sozialer Probleme nicht beliebig oder willkürlich statt, sondern sie sind eingebunden in den institutionellen Kontext der Organisation, der ebenso wie gesellschaftliche, kulturelle und politische Bedingungen einen Rahmen schafft, der als Bedingungen der Möglichkeit für Problemkonstruktionen im Alltag funktioniert. Zum Verständnis der Prozesse der Konstruktion sozialer Problemkategorien erscheint es demnach sinnvoll, über die mikrosoziologische Rekonstruktion von Interaktionsprozessen hinaus auch dessen Verbindung zu institutionellen und kulturellen Kontexten mit in den Blick zu nehmen. Häufig wird für die Beschreibung der Problematisierung von einem stufenförmigen Prozess – einer Karriere sozialer Probleme – ausgegangen, in dem sowohl die Entstehung öffentlicher und politischer Issues und ihre Verarbeitung innerhalb des politischen Systems als auch die konkrete, häufig professionelle Bearbeitung von Problemfällen in Organisationen als Phasen eines Problematisierungsprozesses beschrieben werden. Allerdings folgen diese Prozesse empirisch nur sehr selten dem angenommenen Karrierepfad. Von daher scheint es hilfreicher, nicht von festgelegten Phasen oder Stufen, sondern von unterschiedlichen Ebenen, Feldern oder Arenen auszugehen, die jeweils spezifische Kontexte und Rahmenbedingungen für Problematisierungen und damit auch für die Arbeit in Institutionen und Organisationen der Problembearbeitung darstellen. Für die Analyse der Mobilisierung von Öffentlichkeit sind offenbar andere Konzepte notwendig als für die Analyse der Konstruktion und Bearbeitung politischer Issues innerhalb der Organisationen des politischen Systems (Kapitel 2). Schließlich folgt die alltägliche Problemarbeit des Doing social Problems anderen Bedingungen und folgt einer anderen Logik als die politische Institutionalisierung von Problemkategorien Doing social Problems ist die Anwendung von Regeln, Techniken und Wissen auf individuelle Problemlagen und Problemsituationen. Grundlage hierfür ist ein Prozess der Kategorisierung und ihre Begründung in Rahmen von legitimierten Wissensbeständen, die für die Institutionen der Problembearbeitung typisch sind. Hierzu wird in der Regel auf Gesetzestexte und Vorschriften, Diagnosehandbücher, Risikochecklisten oder Programme zurückgegriffen, die als ein selbstverständliches Wissen routiniert angewendet werden und die Grundlage für Aushandlungsprozesse mit den Betroffenen darstellen. Die Institutionalisierung von Kategorien sozialer Probleme in Organisationen und Maßnahmen der Problembearbeitung sowie ihre Anwendung im Rahmen des Doing social Problems stattet die Problemkategorien mit einer eigenen Wirklichkeit aus, die reale Folgen hat, insbesondere für die Betroffenen. In die-
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sem Sinne ist Doing social Problems nicht nur die Anwendung von Wissen, Regeln und Techniken, sondern immer auch eine Art von Moralarbeit (moral Work). Die Institutionen der Problembearbeitung verkörpern jeweils bestimmte gesellschaftlich bzw. politisch positiv bewertete Ziele und Wertideen, und die Kategorisierung von Personen beinhaltet eine moralische Bewertung, die Grundlage und Bezugspunkt für das Selbstbild der Betroffenen ist. Darüber hinaus ist Problemarbeit immer auch die selektive Verteilung von Ressourcen und die Zuteilung von Statuspositionen in routinierter und scheinbar technisch neutraler Form (vgl. Hasenfeld 2010a, 2010b). Doing social Problems kann damit auch als eine Form institutioneller Diskriminierung analysiert werden (Kapitel 3).
2. Doing Social Problems im Kontext der Problematisierung sozialer Probleme Dass bestimmte gesellschaftliche Bedingungen oder individuelle Verhaltensweisen problematisch sind, ist keineswegs unmittelbar evident. Zumindest werden sie gesellschaftlich erst dann relevant, wenn sie öffentlich als problematisch thematisiert werden. Das Gemeinsame an sozialen Problemen ist es, das sie gesellschaftlich als problematisch und veränderbar interpretiert und so zum Gegenstand von öffentlichen und politischen Debatten werden. So hat es immer Bedingungen gegeben, die zu bestimmten Zeiten als normal und selbstverständlich angesehen wurden, während sie zu anderen Zeiten als zentrale politisch zu veränderte Probleme thematisiert wurden (z. B. Diskriminierungen von Frauen oder Tabakkonsum), genauso wie es Probleme gegeben hat, die zu heftigen Konflikten geführt haben, die heutzutage aber als normal und unproblematisch aufgefasst werden (z. B. Homosexualität oder Masturbation). Selbst wenn bestimmte Sachverhalte in der Gesellschaft nahezu durchgängig als problematisch aufgefasst wurden, so hat sich ihr Problemcharakter im Laufe der Zeit verändert oder ist nach wie vor umstritten (z. B. Drogen und Alkoholkonsum als Sünde, Krankheit oder Kriminalität). Soziale Probleme stellen also gesellschaftliche Konstruktionen dar, und die Soziologie sozialer Probleme hat die Frage zu bearbeiten, wie und unter welchen Bedingungen bestimmte Sachverhalte, Konditionen oder Verhaltensweisen in der Gesellschaft problematisiert, d. h. zu sozialen Problemen gemacht worden sind und gemacht werden. In diesem, durch die Arbeiten von Spector und Kitsuse (1973, 1977) angestoßenen konstruktivistischen Programm der Analyse sozialer Probleme geht es
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in erster Linie um die Analyse von Aktivitäten, Strategien und Prozesse, über die individuelle, kollektive oder kooperative Akteure es schaffen, gesellschaftliche Bedingungen oder Verhaltensweisen öffentlich als problematisch zu konstruieren und bestimmte Charakterisierungen des Problems zu verbreiten. Soziale Probleme werden demnach nicht als evident problematische Bedingungen oder Verhaltensweisen aufgefasst, die einen Schaden verursachen oder gegen Moral und Normen verstoßen, sondern als (rhetorische) Strategien der öffentlichen Erhebung von Ansprüchen (Claimsmaking-Activities). Dieses Programm ist zu einem fruchtbaren eigenständigen empirischen Forschungsfeld geworden, das mittlerweile über eine unübersehbare Vielzahl von Fallstudien abgebildet wird (als Überblicke siehe z. B. Best 1989, 2001; Holstein/Miller 1993a, 2003; Loseke/Best 2003; Miller/Holstein 1993). Dabei stehen überwiegend rhetorische Strategien kollektiver gesellschaftlicher Akteure im Vordergrund, mit denen bestimmte Problemdefinitionen und Problematisierungen in den öffentlichen Diskurs gebracht werden. 2 In diesem Programm wird nicht nach den Ursachen für oder die Verbreitung von Betroffenheiten gefragt, und die Wirksamkeit und Folgen politischer Maßnahmen auf die Problembetroffenen stehen ebenfalls nicht im Zentrum des wissenssoziologischen Programm. Vielmehr geht es um Fragen der Art, wie und warum sind bestimmte soziale Phänomene zu einer bestimmten Zeit und an einem bestimmten Ort als problematisch und veränderungsbedürftig konstruiert worden? Wie und warum waren bestimmte Akteure an diesem Prozess der Problematisierung beteiligt, wie und warum wurden soziale Probleme gerade in dieser Form und nicht in einer anderen problematisiert? Wie und warum fanden diese Charakterisierungen des sozialen Problems allgemeine Verbreitung und Anerkennung oder Akzeptanz? Wie und warum sind mit diesen Charakterisierungen des sozialen Problems bestimmte Politiken verbunden? Welche Folgen hat die Formulierung und Institutionalisierung von Politiken für die Konstitution des sozialen Problems? (Groenemeyer 2003: 10 f.). Es geht im Wesentlichen um die Analyse der Initiierung und Etablierung öffentlicher Diskurse, in denen Problemkategorien formuliert werden (Ibarra/Kitsuse 1993). 3 Soziale Probleme stellen kulturelle Deutungsmuster oder Diskurse 2 3
Von daher ist auch folgerichtig vorgeschlagen worden, statt des Begriffs „social problem“ eher von „public problems“ zu sprechen (Gusfield 1981). In diesem Sinne macht es durchaus Sinn, nicht von einer Soziologie sozialer Probleme, sondern eher von einer Soziologie öffentlicher Problemdiskurse oder einer Soziologie sozialer Problemkategorien zu sprechen. Diese Unterscheidung macht umso mehr Sinn als zumindest im US-amerikanischen Kontext die Soziologie sozialer Probleme häufig auf dieses Programm reduziert wird, d. h. mit der Analyse von Problemkategorien in öffentlichen Diskursen identi-
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dar, in denen bestimmte Sachverhalte als problematisch und veränderungsnotwendig präsentiert und als jeweils spezifische Problemkategorien an Institutionen der Problembearbeitung adressiert werden. 2.1 Prozesse und Ebenen der Problematisierung sozialer Probleme In vielen Ansätzen und Lehrbüchern zur Soziologie sozialer Probleme wird davon ausgegangen, dass die Problematisierung sozialer Probleme einem typischen Muster folgt, das als Stufen- oder Karriereprozess abbildbar ist (siehe Best 2008; Groenemeyer 1999: 52 ff.; Schetsche 1996). 4 Demnach werden in der Gesellschaft bestimmte Issues formuliert und als Forderungen an das politische System adressiert. Aus der Sicht des politischen Systems fungieren diese als Inputs, die dann im politischen Prozess bearbeitet werden und in Programme und Maßnahmen, dem Output, umgesetzt werden. Die Maßnahmen wirken dann wiederum auf die gesellschaftliche Thematisierung im Sinne einer Rückkopplungsschleife zurück. In den Untersuchungen zur Problematisierung sozialer Probleme finden sich zumeist Modelle, die insbesondere die Phasen der Konstruktion von Inputs durch gesellschaftliche Akteure und deren Claimsmaking-Activities ausdifferenziert haben. Insbesondere die Phasen Claimsmaking, Media Coverage und Public Reactions markieren die Initiierung und Etablierung von Problemkategorien im öffentlichen Raum, während „Policymaking“ für Prozesse der Konstruktion sozialer Problemkategorien im politischen Prozess steht. Social Problems Work bezieht sich auf die institutionalisierte und organisierte Problembearbeitung (Schaubild 1) Die Vielzahl von Pfeilen, die teilweise zeitliche Abfolgen, teilweise aber auch Einflussrichtungen andeuten sollen und alles mit allem verbinden, weist auf die Verlegenheit hin, in die derartige Phasenmodelle geraten, wenn die Empirie der Fallstudien komplexere Verlaufsmuster zeigen, die letztlich überall ihren Ausgangspunkt nehmen können.
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fiziert wird, während die Erforschung der sozialen Probleme, sowohl im Rahmen konstruktivistischer Perspektiven als auch im Sinne der politikorientierter Analysen, eher im Rahmen von Spezialdisziplinen wie Kriminologie, Soziologie sozialer Ungleichheit, Public Health etc. verortet wird (vgl. ausführlicher zur Spaltung der Soziologie sozialer Probleme Groenemeyer 2003) Diese Modelle orientieren sich implizit an einem einfachen Input-Output-Modell der Entstehung von Politiken, dass in den 1950er und 1960er Jahren entwickelt wurde und seine klassische Ausformulierung bei David Easton (1965) findet.
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Schaubild 1: Die Karriere sozialer Probleme Public Reactions
Policymaking
Media Coverage
Social Problems Work
Claimsmaking
Policy Outcomes
Quelle: Best 2008: 329
Unabhängig davon, dass derartige Phasenmodelle keine eigenständige Erklärungskraft haben und zunächst nur einer beschreibenden sequentiellen Strukturierung des Prozesses der Konstruktion sozialer Probleme dienen sollen, die zudem in verschiedenen empirischen Fallstudien meistens nicht reproduziert werden können, sind diese Modelle durchaus als ein heuristischen Instrument nützlich für die deskriptive Strukturierung zentraler Elemente in diesem Prozess. In diesem Sinne versteht auch Best (2008: 329) sein Prozessmodell sozialer Probleme. Der wesentliche heuristische Nutzen dieses Modell besteht darin, dass es zumindest andeutet, dass die Konstruktion sozialer Probleme durch kollektive Akteure immer durch spezifische institutionelle Kontexte strukturiert oder gerahmt wird (vgl. Hilgartner/Bosk 1988). Die einzelnen Phasen des Modells markieren dann nicht unterschiedliche Etappen in einer zeitlich geordneten Sequenz der Problematisierung, sondern verschiedene gesellschaftliche Sphären, Arenen, soziale Felder oder Institutionen, in denen jeweils spezifische Bedingungen und Logiken die Konstruktion sozialer Probleme leiten (siehe Groenemeyer 2007). Jede Problematisierung nimmt in einem anderen Kontext selbst wiederum andere Züge an, muss uminterpretiert und den Bedingungen und der Logik des Kontextes angepasst werden, um in diesem Kontext Sinn zu machen und mit den konkreten Erfahrungen und Interessen der dort handelnden Menschen und
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der Organisation kompatibel und kohärent zu sein (Evers/Nowotny 1987: 21). Aus der Perspektive der Institutionen der Problembearbeitung stellen z. B. die Öffentlichkeit und das politische System dann einen Bezugsrahmen und Kontext der Problemarbeit dar, weniger im Sinne einer direkten kausalen Verbindung dergestalt, dass die Politik oder die öffentlichen Diskurse in direkter Weise die Arbeit bestimmen, sondern eher über die Bereitstellung und Beschränkung von Ressourcen, allgemeinen Orientierungen und Programmatiken, auf die zumindest rhetorisch Bezug genommen werden muss. Außerdem wird deutlich, dass die verschiedenen Aspekte des Konstruktionsprozesses sozialer Probleme auch in anderen sozialwissenschaftlichen Spezialdisziplinen mit jeweils spezifischen Analysekonzepten bearbeitet werden, die üblicherweise nicht unmittelbar der Soziologie sozialer Probleme zugerechnet werden (z. B. Soziologie sozialer Bewegungen, Medienforschung, Public Policy Forschung, Professionsforschung) (Schaubild 2). Schaubild 2: Felder der Problematisierung sozialer Probleme
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soziale Bewegungen Professionelle Moralunternehmer Verbände Interessengruppen Betroffene Massenmedien Wissenschaft
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Diskursstrategien Deutungsmuster Mobilisierung Medienwirkung Medicalization Punitivität Public Attention Agenda Setting
Doing Social Problems
PolicyMaking
öffentlicher Diskurs
ClaimsMaking
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Einfluss Organisationslogik pol. Gelegenheiten Wahlen Implementation Governance Politics / Polity Deutungsmuster pol. Agenda-Setting
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Profession Organisationslogik Interaktion Fallkonstruktion Diagnosen Problemzuschreibung Stigmatisierung Prävention Intervention
Insgesamt stellen die Konstruktion von Problemkategorien in der Öffentlichkeit, aber insbesondere auch die Konstruktion politischer Programme und die mit ihnen verbundenen Verteilungen von Ressourcen, die Zuweisung von Rechten und Aufgaben wie auch die Strukturen politischer Steuerung und Kontrolle einen institutionellen Rahmen für die Organisationen der Problemarbeit dar, in
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dem die alltägliche Bearbeitung und Kontrolle sozialer Probleme an Klienten 5 und Klientinnen stattfindet. 2.2 Die Problematisierung sozialer Probleme als gesellschaftliche und politische Formierung von Diskursen Ausgangspunkt ist die Annahme, dass soziale Probleme nicht nur erst über ihre öffentliche Problematisierung zu sozialen Problemen gemacht worden sind, sondern dass sie auch in einer bestimmten Art und Weise interpretiert werden. Problematische Sachverhalte sind nur über eine jeweils spezifische Kategorisierung Gegenstand von Diskursen, also z. B. als Krankheitsproblem, als Kriminalitätsproblem, als Gerechtigkeitsproblem, als Erziehungsproblem. Im Prinzip könnte mit Bezug auf die gleichen Phänomene auch anders gesprochen und sie damit auch anders behandelt werden. Tatsächlich lässt sich für alle relevanten sozialen Probleme zeigen, dass sich im Laufe der Zeit ihre Definitionen und z. T. auch die institutionellen Zuständigkeiten ihrer Bearbeitung verändert haben oder dass zumindest der Charakter des Problems, seine Ursachen, seine Verbreitung und Betroffenheiten sowie Vorstellungen einer angemessenen politischen oder professionellen Bearbeitung umstritten und Gegenstand von Debatten sind oder für lange Zeit waren. Normalitätserwartungen und gesellschaftliche Sensibilitäten für bestimmte Phänomene verändern sich, wodurch neue Anlässe für Problematisierungen entstehen oder bisher als problematisch und veränderbar angesehen Verhaltensweisen oder Bedingungen entproblematisiert werden und z. B. fortan als normales Lebensstilelement zumindest toleriert oder akzeptiert werden. Soziale Probleme sind also nicht Situationen, Bedingungen oder Verhaltensweisen, die unhinterfragt als solche im Laufe der Gesellschaftsentwicklung entstehen, die einen Schaden oder eine Störung für die Gesellschaft darstellen und die deshalb für alle als evident in der gleichen Form existieren. Vielmehr haben Problemkategorien immer eine Geschichte der Problematisierung, d. h. eine Geschichte von Claimsmaking-Activities durch gesellschaftliche oder politische Akteure und sind in diesem Sinne sozial konstruiert. Soziale Probleme werden erst über ihre erfolgreiche Etablierung in öffentlichen und politischen Diskursen als relevant und sinnvoll erachtet. Sie konstituieren eine eigene Wirklichkeit, insofern sie Konsequenzen sowohl für Betroffene als auch für Beob5
Der Begriff der Klientel wird hier in einer weiten Bedeutung verwendet als Akteur, der mit einer Einrichtung der Problembearbeitung in Kontakt kommt und zum Gegenstand der Problemarbeit gemacht wird, ungeachtet dessen, dass in einzelnen Institutionen Spezialbezeichnungen wie Patient/Patientin; Verdächtigte oder Angeklagte, Anspruchsteller, Adressat/Adressatin u. ä. gebräuchlicher sind.
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achter haben, die den Lebensbedingungen und Situationen, dem eigenen Handeln und Leiden einen Sinn und Bedeutungsrahmen geben. Die besondere Bedeutung öffentlicher und politischer Diskurse über soziale Probleme besteht genau darin, dass sie Problemerfahrungen strukturieren und ein kollektives Wissen bereit stellen, anhand dessen Menschen im Alltag und in Organisationen der Problembearbeitung ihr eigenes Denken, Fühlen und Handeln interpretieren und sie in Auseinandersetzung damit ihr Handeln ausrichten. Die Fallstudien der Problematisierung rekonstruieren soziale Probleme im Wesentlichen als (erfolgreiche) rhetorische Strategien oder Diskurse von Akteuren im gesellschaftlichen Raum, insbesondere durch soziale Bewegungen, Betroffenengruppen, Organisationen von Experten, Expertinnen und Professionelle (die z. T. als Advokaten für Betroffene auftreten), Interessen- und Lobbygruppen, moralische Unternehmer und Massenmedien sowie durch die Wissenschaften. Sehr viel seltener werden, zumindest in der US-amerikanischen Soziologie sozialer Probleme, Problematisierung durch staatliche und politische Organisationen untersucht. Soziale Probleme nehmen demnach ihren Ausgangspunkt über die Herstellung von Öffentlichkeit und die Mobilisierung von Überzeugungen, Anhängerschaft oder zumindest Akzeptanz für bestimmte Ansprüche und Problemdeutungen in Öffentlichkeit und Politik (vgl. ausführlicher dazu z. B. Gerhards 1992; Schetsche 1996: 87 ff., 2008: 107 ff.). Nimmt man als allgemeine Bestimmung von Problemen die Feststellungen oder Interpretation einer Diskrepanz zwischen Vorstellungen von gewünschten Zuständen und der Interpretation der tatsächlichen Situation, so sind soziale Probleme immer an bestimmte gesellschaftlich akzeptierte Wertideen gebunden, die den Vergleich zwischen dem angestrebten und tatsächlich interpretierten Zustand leiten und die argumentativ vorgebracht und mobilisiert werden müssen, um Forderungen von Veränderungen zu begründen. Dabei ist es unerheblich, ob nun Wertideen nur rhetorische Werkzeuge der Überzeugung darstellen, die Gruppeninteressen oder Ideologien verdecken, oder tatsächliche Überzeugungen und Betroffenheiten widerspiegeln (vgl. Groenemeyer 1996), die Problematisierung von Phänomenen setzt immer die Behauptung der Verletzung von zentralen gesellschaftlichen Werten (z. B. Gerechtigkeit, Fairness, Freiheit, Gleichheit) voraus. Die Deutungen von Phänomenen als problematisch und die mit ihnen verbundenen Eigenschaften und Kategorisierungen müssen gesellschaftlich anschlussfähig sein, d. h. sie müssen verstanden, als relevant erachtet und akzeptiert werden, damit bestimmte Ideen und Maßnahmen der Veränderung legitimiert werden können. Anschlussfähigkeit bedeutet auch, dass die thematisierten
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Problemkategorien und ihre Erklärung eine interne und externe Kohärenz aufweisen. Allerdings bedeutet dies nicht Kohärenz oder Widerspruchsfreiheit im Sinne einer wissenschaftlichen Logik, vielmehr müssen sie kompatibel sein mit Definitionen, Ideologien und Bewertungen, die das jeweilige Feld kulturell bestimmen. So sind z. B. Problematisierungen, die Familien betreffen, schwierig zu vermitteln, insofern das Familienbild der meisten Gesellschaften durch Ideen von Liebe, Sicherheit und Geborgenheit geprägt ist und eine Problematisierung von Gewalt und Ungleichheiten in der Familie sich gegen diese positive Konnotation durchsetzen muss, was nur gelingt, wenn gleichzeitig die davon betroffenen Familien als nicht „richtig“ funktionierende Familien marginalisiert werden können. Im Anschluss an Ideen, die zunächst in Bezug auf soziale Bewegungen entwickelt worden sind, können die diskursiven oder rhetorischen Strategien kollektiver gesellschaftlicher Akteure als „Frames“ oder „Deutungsrahmen“ rekonstruiert werden (vgl. Snow/Benford 1988). Im Mittelpunkt steht dabei die Annahme, dass gesellschaftliche kollektive Akteure einen Deutungsrahmen entwickeln müssen, innerhalb dessen sie Erklärungsmöglichkeiten, Lösungsstrategien und Mobilisierungsanreize für ein gesellschaftlich relevantes Thema anbieten. Die Mobilisierung öffentlicher Unterstützung für bestimmte Probleme und Problemdeutungen folgt demnach einem bestimmten Muster. Darin enthalten sind notwendigerweise immer Strategien der Identifizierung und überzeugenden Definition von Problemen sowie Ursachenannahmen bzw. Schuldzuschreibungen. Dies beinhaltet auch die durchaus strategische Wahl eines identifizierenden Namens, die Konstruktion von Betroffenheit und Betroffenengruppen, der rhetorische Rückgriff auf Statistiken als Indikator einer möglichst weiten Verbreitung sowie häufig dramatisierende Beispiele, die Emotionen hervorrufen und so öffentliche Diskurse mobilisieren können (diagnostique frame). Hinzu kommen Strategien der Mobilisierung als Rhetoriken der Rechtfertigung von Problematisierungen über die Darstellung von Verletzungen zentraler Wertideen und die Begründung von Veränderungsnotwendigkeiten. Auch hierbei ist der Appell an affektive Betroffenheiten bedeutsamer als empirische und logische Stimmigkeit (motivational frame). Schließlich ist eine überzeugende Mobilisierung von Unterstützung und Akzeptanz für bestimmte Problemdeutungen gebunden an die Entwicklung und rhetorische Aufbereitung effektiver Lösungs-, Bearbeitungs-
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oder Kontrollmöglichkeiten, die als Forderungen zumeist an die Politik adressiert werden (prognostique frame) (vgl. auch Best 2008: 30 ff.). 6 Wichtig bei diesen strategischen Überlegungen der aktiven Problematisierung ist nicht, ob und inwieweit Argumente einen strikten Logik folgen oder auf strenger wissenschaftlicher Analyse basieren, sondern dass sie mobilisieren und überzeugen. Deshalb spielen bei Claimsmaking-Activities auch affektive oder emotionale Aspekte eine zentrale Rolle. Problematisierungen müssen unkompliziert, verständlich und ansprechend sein, sie haben zumeist eine dramatische Gestalt und werden häufig über dramatisierende und moralisierende Geschichten von Einzelschicksalen präsentiert. Als Mittel der Schaffung öffentlicher Aufmerksamkeit finden sich in den Diskursen Anknüpfungen an Alltagsmythen sowie Rhetoriken von Skandalisierungen und moralischen Kreuzzügen (vgl. ausführlicher zu den Diskursstrategien Loseke 2003b: 51 ff.; Schetsche 1996: 87 ff.). Sie schaffen häufig Identifikationsmöglichkeiten über die Konstruktion unschuldiger Opfer, die Sympathie und Empathie erzeugen, oder sie schaffen Abgrenzungsmöglichkeiten durch die Konstruktion möglichst extremer oder gar enthumanisierter Schuldiger, die für die Notwendigkeit von Veränderung und Kontrolle mobilisieren sollen. Die Konstruktion des Ausmaßes von Sympathie und Antipathie sowohl mit Problemverursachern als auch mit Problemopfern bestimmt entscheidend mit, welche Form der Problematisierung sich durchsetzt und welcher Typus von Organisationen der Problembearbeitung institutionalisiert wird. Die öffentliche und politische Konstruktion z. B. von Kriminellen als Opfer gesellschaftlicher Umstände legitimiert eher eine Institutionalisierung von Maßnahmen der Hilfe, während ihre Konstruktion als niederen Motiven und Interessen folgende Menschen eher die Institutionalisierung von Maßnahmen der Exklusion und der Bestrafung nahe legen (vgl. Groenemeyer 2001). 7 Es ist verständlich, dass die Erfahrungen in den Institutionen der Problembearbeitung mit konkreten Fällen der Problemkategorien nur selten den öffentlichen und medial verbreiteten Problemkategorien der Problematisierung entsprechen. Nicht nur, dass in öffentlichen Diskursen häufig möglichst dramatisierte 6
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Das Konzept des „Framings“ findet in ähnlicher Weise auch in politikwissenschaftlichen Theorien und Untersuchungen zur Erklärung von Fragen nach den Prozessen des politischen Agenda-Settings und den Bedingungen politischer Entscheidungsfindung Verwendung (vgl. als allgemeinen Überblick z. B. Hajer 2008; Nullmeier 1993; Rein/Schön 1993) Es ist überlegt worden, ob nicht die Konstruktion von Sympathie und Antipathie mit Abweichungen einem langfristigen Muster gesellschaftlicher Entwicklung folgt, dass an kulturelle Vorstellungen der Bedrohung und Restabilisierung sozialer Ordnung gekoppelt ist (vgl. Melossi 2000; 2008)
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Einzelfälle von Problembetroffenheiten vorherrschen, die in der alltäglichen Problemarbeit eher selten sind, eine Rolle spielt auch, dass die öffentlichen Problematisierungen gleichzeitig mit den dramatisierenden Einzelfällen ein allgemeines Bild von Problemkategorien präsentieren, das in der Problemarbeit wiederum auf konkrete Einzelfälle angewendet werden muss. Im den meisten Fallstudien der Soziologie sozialer Probleme zur Problematisierung geht es meistens um die Entstehung oder Erstproblematisierung sozialer Probleme, sie beschäftigen sich häufig mit relativ neuen und spezifischen Problematisierungen. Tatsächlich ist die Erstproblematisierung dieser Art von Problemen insofern besonders wichtig, weil damit häufig eine besondere Problemkompetenz und Zuständigkeit für das erfolgreiche Deutungsmuster etabliert werden kann. Das Problem wird also quasi zum Eigentum des kollektiven oder kooperativen Akteurs, der damit nicht nur Ansprechpartner für Massenmedien und die Politik werden kann, sondern häufig auch automatisch die Zuständigkeit der Bearbeitung übertragen bekommt, wenn sich das Deutungsmuster durchgesetzt hat, insbesondere dann, wenn es sich um kooperative Akteure einer organisierten Gruppe von Experten bzw. Expertinnen oder von Professionellen handelt (vgl. Gusfield 1981, 1989). Auch bei der Erstproblematisierung von Themen ist ein Bezug zu bereits etablierten Problemkategorien notwendig, um kulturelle Anschlussfähigkeit und Kohärenz zu sichern. Dabei wird auf bereits erfolgreich institutionalisierte Kategorisierungen zurückgegriffen, wenn z. B. „Internetsucht“ oder „Spielsucht“ in medizinisch-psychiatrischen Diskursen verortet wird oder „Gewalt an Schulen“ als Kriminalitätsproblem im Sicherheitsdiskurs behandelt wird. Öffentliche Problemdiskurse sind also in tradierte kulturelle Muster eingebettet, die Aktivitäten der Problematisierung leiten und als Bedingungen der Möglichkeit ein bestimmtes und begrenztes Reservoir von Formen von Problemkategorien vorgeben. Diese liegen zumeist bereits in institutionalisierter Form, z. B. als etablierte Organisationen der Problembearbeitung oder als Organisationen der Professionen und Berufsverbände, vor. Problemkategorien mit einer historisch langen Geschichte – wie z. B. Kriminalität, Armut, Krankheit/psychische Störungen, Diskriminierung – stellen „Masterdiskurse“ sozialer Probleme dar (Albrecht 2001: 130 f.), denen über ihre Institutionalisierung der Status eines selbstverständlichen und natürlichen kulturellen Deutungsmusters zukommt und die dadurch mit einer prinzipiell hohen
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Anerkennung und Orientierungsmacht rechnen können. 8 Ein Großteil aktuellerer Problemdiskurse kann von daher auch als Anhängsel oder Ausweitung von „Masterdiskursen“ analysiert werden. Die erfolgreiche Institutionalisierung einer Problemkategorie führt einerseits zu einer Erhöhung der Sensibilität für verwandte Themen, ermöglicht andererseits aber auch ihre strategische Nutzung, indem neue Problematisierungen an diese erfolgreichen Diskurse angehängt werden können, um damit von dessen unhinterfragten Plausibilität und Erfolg zu profitieren. Im Prozess der Mobilisierung öffentlicher Diskurse kommt den Massenmedien eine entscheidende Rolle zu. 9 Dabei sind Medien aber keineswegs nur als Vermittler von Themen anzusehen, die von Akteuren (Claimsmaker) im gesellschaftlichen Raum produziert werden. Die Auswahl und die Art der Aufbereitung von Themen und Problematisierungen erfolgt in den verschiedenen Medien nach eigenen Kriterien, zumindest teilweise treten sie auch als eigene Akteure der Problematisierung auf. Ob und wie sie allerdings mit der Berichterstattung tatsächlich Wirkungen erzielen, ist Gegenstand der Medienwirkungsforschung, die allerdings nur selten für die Soziologie sozialer Probleme in Anspruch genommen wird. Dabei werden insbesondere zwei Dimensionen von möglichen Wirkungen hervorgehoben: 1. Medienwirkungen im engeren Sinne als direkte Auswirkungen der Medienprodukte auf das Denken und Handeln der Rezipienten und Rezipientinnen („wie gedacht und gehandelt wird“) und 2. das AgendaSetting oder Agenda-Building als Auswirkungen der Medienberichte auf die Auswahl relevanter Themen und ihrer Bedeutung in öffentlichen Diskursen („worüber gedacht und diskutiert wird“). Öffentliche Problemdiskurse haben immer einen sehr fragilen und wechselhaften Charakter, insofern sie mit dem Problem begrenzter und schwankender Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit konfrontiert sind, wobei die Problematisierungen immer in Konkurrenz zu anderen Problematisierungen, aber auch zu anderen Kategorisierungen desselben Problems stehen, sie haben sich auf einem „Markt der Problematisierung“ zu bewähren (Hilgartner/Bosk 1988). Da Institu-
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Ein Großteil der Studien zu den Entwicklungen der Problemdiskurse der Masterthemen verortet sich allerdings eher außerhalb der Soziologie sozialer Probleme und ist eher in den Spezialdisziplinen der Erforschung sozialer Probleme zu finden (vgl. z. B. Conrad 2007; Conrad/Schneider 1980; Evers/Nowotny 1987; Foucault 1973; 1977; Garland 1985, 2008; Groenemeyer 2001, 2008). Die Analyse von Medienpräsentationen sozialer Probleme ist zu einem wesentlichen Instrument der empirischen Analyse von Problematisierungsprozessen geworden, insbesondere auch deshalb, weil Medienarchive mittlerweile in elektronischer Form leicht zugänglich sind und so ohne größeren Aufwand empirische Analysen ermöglichen (siehe Schetsche 2008).
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tionen der Problembearbeitung quasi eine Schnittstelle zwischen öffentlicher Politik und Bürger bzw. Bürgerinnen darstellen, sind sie in der Legitimation ihrer Klassifikationen, Orientierungen und Techniken häufig unmittelbar von den medialen Problematisierungskonjunkturen tangiert und müssen sich zumindest symbolisch, rhetorisch oder programmatisch entsprechend positionieren. Soziale Probleme stellen also kulturelle Deutungsmuster dar, die aus drei Dimensionen bestehen: Erstens, die Identifizierung problematischer und zu verändernder Sachverhalte als überzeugende Definition und Begründung des problematischen Charakters, womit in der Regel auch Ursachenannahmen bzw. Schuldzuschreibungen verbunden sind (Diagnoserahmen); zweitens die Identifikation von Zuständigkeiten und Lösungsmöglichkeiten des Problems (Lösungsrahmen) und schließlich drittens enthalten soziale Problemkategorien qua Definition eine moralische Bewertung, die gerade den Problemcharakter ausmacht (vgl. Nedelmann 1986: 33), der über Stilisierung von Dringlichkeit und Veränderungsnotwendigkeiten über spezifische Rhetoriken und Strategien verdeutlicht werden muss (Mobilisierungsrahmen). Für Institutionen der Problembearbeitung sind öffentliche Diskurse und die in ihnen etablierten Problemkategorien von Bedeutung, insofern sie die Organisationen mit Legitimation und Reputation für die von ihnen durchgeführten Maßnahmen und Angebote versorgt. Dies ist nicht nur, vermittelt über politische Entscheidungen, relevant für die Ausstattung mit Ressourcen, sondern hat unmittelbaren Einfluss z. B. auf die Inanspruchnahme. So ist z. B. im Feld der Kriminalität die Anzeigebereitschaft unmittelbar mit der öffentlichen Problematisierung bestimmter Kriminalitätskategorien verknüpft, im Bereich psychischer Störungen hängt die Entwicklung und Aufnahme von Diagnosekategorien und ihre Verwendung zumindest teilweise von ihrer Thematisierung in öffentlichen Diskursen ab und auch im Bereich Sozialer Arbeit wird die Inanspruchnahme und die Problembeschreibungen durch die Klientel direkt durch öffentliche Diskurse beeinflusst. Darüber hinaus sind natürlich auch die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen in den Institutionen der Problembearbeitung direkt in öffentliche Diskurse involviert, insofern ihre Arbeit öffentlich sichtbar und problematisierbar ist. Zudem sind sie Teil einer (Fach)Öffentlichkeit, deren fachliche und professionelle Orientierungen zumindest auch durch kulturelle Bilder von Problemkategorien in der Öffentlichkeit geprägt werden. Die Problemkategorien öffentlicher Diskurse bilden somit einen wichtigen Bestandteil der institutionalisierten Kultur von Problembearbeitungen im Alltag.
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2.3 Die Institutionalisierung sozialer Problemkategorien als Public Policy Institutionen der Problembearbeitung existieren in der Regel auf der Grundlage politischer Entscheidungen, die nicht nur den rechtlichen Rahmen setzen und die Organisationen mit Ressourcen und Personal ausstatten, sondern auch die allgemeine Programmatik der Problembearbeitung und damit Zuständigkeiten festlegen. Auch wenn die Institutionalisierung nicht unmittelbar über Entscheidungen des politischen Systems zustande kommen, sondern durch private Initiative oder Verbände, so setzt auch hierfür in der Regel das politische System zumindest rechtliche Rahmenbedingungen. Damit ist nicht ausgeschlossen, dass Institutionen der Problembearbeitung ohne politische Entscheidungen etabliert werden. So hat es z. B. Schutzräume für Frauen, die in einer Partnerschaft oder Ehe Gewalt ausgesetzt waren, aufgrund verschiedener Initiativen gesellschaftlicher Gruppen und als organisierte Selbsthilfe bereits gegeben, bevor entsprechende Gesetze z. B. gegen Gewalt in der Ehe erlassen worden waren oder politische Fördermaßnamen diese Projekte auch finanziell absicherten. Ähnliche Projekte der Problembearbeitung lassen sich auch in anderen Feldern finden, in denen Selbsthilfeaktivitäten verbreitet sind oder sich spezialisierte Verbände eines gesellschaftlich definierten Problems annehmen. Zudem findet die Problemarbeit auch in Wirtschaftsunternehmen und selbstverständlich auch in privaten Haushalten und sozialen Netzwerken statt. In diesen Fällen erfolgt also zumindest anfänglich die Institutionalisierung der Problembearbeitung ohne den Weg über das politische System, häufig entstehen darüber allerdings politische Institutionalisierungen in Form von Fördermaßnahmen oder rechtlichen Rahmensetzungen. Von zentraler Bedeutung ist hier, dass über politische Entscheidungen in Form von Rechtsetzungen, Programmen und Ressourcenverteilungen Problemkategorien einen anerkannten, offiziellen Status gewinnen, mit denen sich dann alternative Problemkonstruktionen auseinandersetzen müssen. Durch die politische Entscheidung auf verschiedenen Ebenen (national, regional, lokal) werden bestimmte Formen der Kategorisierung mit Deutungsmacht ausgestattet, und sie gewinnen dadurch einen hegemonialen Anspruch von Legitimität und Richtigkeit des Problemdiskurses. Für die hier zu behandelnde Fragestellung nach den politischen Kontexten des Doing social Problems ist es weniger von Bedeutung, wie Problemkonstruktionen innerhalb des politischen Systems zustande kommen als vielmehr, in welcher Form die Rahmensetzung für Institutionen der Problembearbeitung erfolgt. Soziale Probleme als gesellschaftliche Deutungsmuster, in denen Diagnose, Zuständigkeiten und Mobilisierung von Unterstützung präsentiert werden, sind
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aus der Perspektive des politischen Systems durch Ambiguität oder Ambivalenz gekennzeichnet. In der Regel finden sich in öffentlichen Diskursen unterschiedliche Deutungsmuster und Bewertungen eines sozialen Problems, die miteinander konkurrieren. Dabei geht es nicht nur um den Charakter, die ‚richtige’ Kategorisierung oder Diagnose eines Problems, sondern auch um die Bewertung seiner Dringlichkeit und um konfligierende Interessen und Perspektiven bei der Auswahl von Zuständigkeiten und Lösungsmöglichkeiten. Diese Ambiguität kann als ein grundlegendes Merkmal der Deutungsmuster sozialer Probleme angesehen werden. Während Entscheidungsunsicherheit im politischen Prozess als Unmöglichkeit einer präzisen Vorhersage von Ereignissen im Prinzip über ein Mehr an Informationen reduziert werden kann, ist dies für Ambiguität von Deutungsmustern nicht der Fall. Mehr oder verlässlichere Informationen helfen z. B. bei der Reduzierung der Unsicherheit über die Verbreitung und Folgen von HIV, aber sie sagen nichts darüber aus, ob Aids ein Gesundheitsproblem, ein pädagogisches, moralisches oder politisches Problem darstellt (siehe Hajer/Laws 2006; March/Olson 1979; Zahariadis 2003). Unterschiedliche kollektive und kooperative Akteure konfrontieren die Organisationen des politischen Systems mit unterschiedlichen Deutungsmustern und Präferenzen, die zudem häufig nicht in politisch und administrativ handhabbarer Form präsentiert werden; es gibt in der Regel keine festgelegte Technologie der Problembearbeitung und die Beteiligung am Entscheidungsprozess innerhalb des politischen System ist wechselhaft (March/Olson 1979), so dass politische Entscheidungen über soziale Probleme keinem stringenten Muster der rationalen Zielbestimmung und Mittelauswahl folgen können. Zur Reduzierung dieser grundsätzlichen Ambiguität und Ambivalenz politischer Bearbeitung sozialer Probleme haben sich spezifische „politische Domänen“ (policy domains) herausgebildet, die die Ansprüche der Bearbeitung sozialer Probleme in spezialisierte Felder parzellieren (Burstein 1991). Dabei handelt es sich nicht nur um die organisatorische Arbeitsteilung von Zuständigkeiten in den Organisationen des politischen Systems (Ressorts, Abteilungen u. ä.), sondern um mehr oder weniger institutionalisierte Netzwerke von an einem Problem interessierten und als kompetent angesehenen Akteuren innerhalb und außerhalb des politischen Systems: „ ... politics proceeds primarily in numerous relatively self-contained policy domains, each operating more or less autonomously with its own issues, actors, and processes” (ebd.: 239). Zu diesen Netzwerken gehören insbesondere entsprechende Abteilungen oder Ressorts innerhalb des politischen Systems, aber auch z. B. Wohlfahrtsverbände, Interessenverbände, wissenschaftliche Experten und Expertinnen sowie besonders im Feld
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engagierte Vertreter und Vertreterinnen von Medien und sozialen Bewegungen, sofern diese einen gewissen Organisationsgrad und eine organisatorische Verlässlichkeit erreicht haben. Besonders auf lokaler Ebene sind auch Vertreter und Vertreterinnen der Institutionen der Problembearbeitung dauerhaft in die spezifischen Politiknetzwerke integriert. Die starke institutionelle Verflechtung politischer Entscheidungsfindung mit gesellschaftlichen Akteuren erlaubt nicht nur den Austausch von Informationen zwischen politischer Entscheidung und konkreter Problembearbeitung im Alltag, sondern auch die präventive politische Regulierung von Konflikten und stellt damit auch einen zentralen Beitrag zu Implementierung der politischen Programme und Maßnahmen dar. Politiknetzwerke sichern für das politische System also Handlungs- und Steuerungsfähigkeit, während es den gesellschaftlichen Akteuren der Problematisierung Möglichkeiten des politischen Einflusses bietet (vgl. Nedelmann 1986). 10 Die Unterteilung in politische Domänen oder Felder (z. B. Gesundheitspolitik, Kriminalpolitik, Bildungspolitik, Sozialpolitik) reflektiert nicht ‚Sachnotwendigkeiten’, sondern Unterscheidungen der dominanten Konzeptualisierung sozialer Probleme; sie ist in den kulturellen Kategorisierungsschemata sozialer Probleme verankert. Die politischen Felder sind als Netzwerke jeweils unterschiedlicher Akteure, die bestimmte kulturelle Logiken, Orientierung und Rahmen der Konstruktion sozialer Probleme miteinander teilen, institutionalisiert, und stellen in diesem Sinne eine Form der Institutionalisierung jeweils spezifischer gesellschaftlicher Problemdiskurse dar. 11 Für die Institutionalisierung vom Organisationen und Maßnahmen der Problembearbeitung ist der Zugang zu diesen Policy Domains von entscheidender Bedeutung. Logischerweise wird die Art der Problembearbeitung durch das jeweilige Politikfeld vorgegeben. Wenn also z. B. ein soziales Problem als relevant im Feld der Gesundheitspolitik angesehen wird, sind damit gleichzeitig bestimmte politische und gesellschaftliche Akteure aus diesem Feld am Prozess
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In der politikwissenschaftlichen Literatur werden sie auch als „epistemologische Gemeinschaften“, als „Adocacy Coalitions“, als „diskursive Verhandlungssysteme“, „Diskurskoalitionen“, „Policy Communities“, „Issue Networks“ oder einfach als „Politiknetzwerke“ thematisiert, wobei jeweils deutliche Unterschiede hinsichtlich ihrer Bedeutung und Offenheit bzw. Geschlossenheit gemacht werden (vgl. die entsprechenden Beiträge in Fischer/Miller/Sidney 2007; Héritier 1993; Sabatier 2007; sowie Schneider/Janning 2006: Kap. 6). Nullmeier/Rüb (1993) thematisieren eine ähnliche Problematik unter der Perspektive von „Wissensmärkten“, wobei weniger die soziale Zusammensetzung von Netzwerken, sondern eher die in ihnen vorherrschenden kulturellen Deutungsmuster im Vordergrund stehen (vgl. auch Ratzka 2008).
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der Politikformulierung und -implementation beteiligt, aber in der Regel nicht Akteure, die z. B. eher eine sozialpolitische Rahmung des Problems bevorzugen. Damit steigt die Wahrscheinlichkeit, dass das soziale Problem eine gesundheitspolitische Bearbeitung erfährt, insofern nicht über die Politiknetzwerke anderer Politikfelder eine alternative Perspektive mobilisiert wird. Diese stabile Institutionalisierung der Politikfelder erklärt auch, warum es so bedeutsam ist, neue Problematisierung an bereits bestehende Problemrahmungen anzuschließen, denn wenn es für ein soziales Problem keine Zuständigkeit in Form etablierter Domains gibt, fehlen nicht nur Ansprechpartner innerhalb oder mit Bezug zum politischen System, sondern es fehlen auch institutionalisierte Technologien innerhalb des politischen System mit diesem Problem umzugehen. Es ist allerdings auch deutlich, dass die aktive Beteiligung an Politiknetzwerken Ressourcen auf Seiten gesellschaftlicher Akteure voraussetzt. Perspektiven, Betroffenheiten und Interessen, die weder organisations- noch sanktionsfähig sind, haben von daher kaum eine Chance, direkt die Problematisierung und die Institutionalisierung von Problemlösungen zu beeinflussen. 12 Gusfield (1981, 1989) verwendet hierfür die Metapher des „Eigentums“ als „ability to create and influence the public definition of a problem“ …. “The metaphor of property ownership is chosen to emphasize the attributes of control, exclusiveness, transferability, and potential loss also found in the ownership of property” (Gusfield 1981: 10). “To “own” a problem is to be obligated to claim recognition of a problem and to have information and ideas about it given a high degree of attention and credibility, to the exclusion of others. To “own” a social problem is to possess the authority to name that condition a “problem” and to suggest what might be done about it. It is the power to influence the marshalling of public facilities-laws, enforcement abilities, opinion, goods and services – to help resolve the problem. To disown a problem is to claim that one has no such responsibility” (Gusfield 1989: 9 f.). Es ist die zentrale Bedeutung der Verflechtung in spezialisierten Policy Domänen, die auch die in vielen Untersuchungen zur Problematisierung sozialer Probleme zumindest implizite Grundannahme einer Problematisierung durch kollektive oder kooperative Akteure aus der Gesellschaft infrage stellen. Zwar stellen soziale Bewegungen zentrale kollektive Akteure der Problematisierung für viele Politikfelder dar, aber ihr Erfolg in der Institutionalisierung von Problemkategorien hängt davon ab, ob und inwieweit es ihnen gelingt, einen Zugang 12
Die Verflechtung politischer Steuerungs- mit gesellschaftlichen Regelungsmechanismen wird vielfach in der politikwissenschaftlichen Literatur als „Governance“ thematisiert (siehe Benz 2004; Benz et al. 2007).
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zu etablierten Politiknetzwerken zu erhalten oder zumindest in diesen Gehör zu finden. Bereits existierende kooperative gesellschaftliche Akteure (z. B. Interessen-, Professionsverbände und Wohlfahrtsverbände stehen demgegenüber quasi routinemäßig in einem direkten wechselseitigen Austausch mit Institutionen des politischen Systems. Diese Wechselseitigkeit der Verflechtung macht auch die aktive Rolle politischer und staatlicher Institutionen bei der Problematisierung sozialer Probleme deutlich, da sie in Konkurrenz zu anderen Politikfeldern auf Unterstützung und damit auf Mobilisierung in der Öffentlichkeit und bei gesellschaftlichen Akteuren angewiesen sind. Die kooperativen gesellschaftlichen Akteure werden also nicht nur für die Informationsbeschaffung über das Politikfeld, für die Konfliktregulierung und für die Implementation von Programmen und Maßnahmen benötigt, sondern sie stellen für die Organisationen des politischen Systems auch wichtige Koalitionspartner der aktiven Problematisierung dar. Dies ist in den verschiedenen Policy Domains unterschiedlich ausgeprägt, aber besonders deutlich in Politikfeldern, die durch einen geringen Organisationsgrad gesellschaftlicher Interessengruppen und professionellen Perspektiven gekennzeichnet sind, wie z. B. im Feld der Kriminalpolitik. Bedrohungsszenarien der öffentlichen Sicherheit und Ordnung werden regelmäßig von Institutionen des politischen Systems produziert, auch wenn soziale Bewegungen hier durchaus einen Anteil haben. Für die Organisationen des politischen Systems erfüllen soziale Probleme eine wichtige Rolle der Mobilisierung von Unterstützung, die durchaus auch strategisch genutzt wird (z. B. in Wahlkämpfen, vgl. Beckett 1997; Simon 2007). Dies verweist auch darauf, dass die Problematisierung sozialer Probleme innerhalb des politischen Systems Funktionen erfüllen kann, die nichts mit der direkten Problemlösung zu tun haben und eher zu „symbolischen“ Formen der Politik führen, die signalisieren, dass etwas getan wird (Edelman 1977; 1988), möglicherweise etwas, dass vorher schon immer zu den Routineaufgaben von Verwaltungen und Organisationen der Problembearbeitung gehörte und nun unter einem neuen Etikett ‚verkauft’ oder gefördert wird. Zunächst scheint es überzeugend davon auszugehen, dass für soziale Probleme jeweils spezifische Formen der Problembearbeitung gesucht werden, die mit dem Diagnoserahmen kompatibel sind. Dies ist allerdings keineswegs zwingend. Angesichts konkurrierender gesellschaftlicher Deutungsmuster sozialer Probleme ist es häufig plausibler davon auszugehen, dass sich Problemdeutungen an bereits vorhandene politische und organisatorische Lösungen und Strategien ‚anhängen’, d. h. vorhandene politische oder administrative Lösungen (Programme, Institutionen, Maßnahmen) suchen sich ihre sozialen Probleme, nach
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Kriterien politischer Opportunität, dem jeweils aktuellen politischen Klima und den in der Policy Domain mobilisierten Ressourcen (vgl. Kingdon 2001; March/ Olson 1979; Rochefort/Cobb 1994: 24 ff.; Zahariadis 2003). Die Institutionen der Problemarbeit sind zwar häufig direkt, insbesondere auf lokaler Ebene, oder indirekt, z. B. über Trägerverbände auf regionaler und nationaler Ebene, an der Formulierung von Politiken der Problemarbeit beteiligt, gleichwohl haben Politiken der Problemarbeit in Form von Programmen einen eher allgemeinen Charakter. Sie definieren abstrakte Problemkategorien und Zielgruppen sowie allgemeine Regeln der Verteilung von Ressourcen, Zuständigkeiten und Verfahrensweisen, die die alltägliche Problemarbeit in Institutionen rahmen, aber nicht genau vorgeben können. Die Programme, Regeln und Techniken müssen durch die Organisationen oder Gruppen der Problemarbeit implementiert und in Regeln für Alltagsroutinen (Standing Operating Procedures) transformiert werden. Dabei sind grundsätzlich andere Akteuren als im Prozess der Politikformulierung beteiligt, die eigene Orientierung, Kompetenzen und Rahmungen in den Prozess einbringen. Der hierbei vorhandene Spielraum variiert je nach Programmtyp. Er ist bei der Umsetzung von Verwaltungsvorschriften in einer Bürokratie geringer als bei politischen Programmen, die nur allgemeine Ziele vorgeben, die Umsetzung aber den einzelnen Institutionen der Problemarbeit überlassen. In den Programmen werden allgemeine Typen von Zielgruppen definiert, die, entsprechend des im politischen Prozess konstruierten Lösungsrahmens der politischen Domain, administrative Kriterien von Anspruchsberechtigungen und Kontrollaktivitäten festlegen, institutionelle Zuständigkeiten definieren und darauf bezogene Techniken der Bearbeitung sowie Typen der Intervention beschreiben. 13 So wird z. B. aus dem sozialen Problem Kinderarmut eine administrativ handhabbare Kategorie von Betroffenheiten, die Anspruchsberechtigungen definiert für finanzielle Unterstützungs- oder Ausgleichszahlungen, oder es werden Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe mobilisiert und gefördert, Kindertagesstätten einzurichten, um alleinerziehenden Müttern die Berufstätigkeit zu ermöglichen. Aus dem sozialen Problem rechtsextreme Gewalt werden polizeiliche Strategien der Kontrolle, politische Bildungsmaßnahmen oder sozialpädagogische Ausstiegshilfen; aus dem sozialen Problem unangepassten Alkoholkonsums wird die Diagnosekategorie Alkoholismus mit entsprechenden medizi13
Es gibt verschiedene Ansätze, Politik-, Programm- oder Interventionstypen nach ihrer Technologie, ihren Wirkungsbedingungen oder Folgen für die Gesellschaft und das politische System zu unterscheiden (siehe z. B. Kaufmann 1982; 1999; Kaufmann/Rosewitz 1983; Lowi 1972; Mayntz 1982).
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nisch-psychiatrisch-therapeutischen Interventionsformen, eine rechtliche Kategorie des Jugendschutzes oder des Verbots von Alkoholkonsum in der Öffentlichkeit oder eine Maßnahme der Besteuerung usw. Das Programm selbst schafft über diese Festlegungen einen spezifischen, quasi offiziellen kulturellen Rahmen oder einen Diskurs für die Kategorisierung eines sozialen Problems. Selbst wenn dieser Rahmen nicht unumstritten ist und über verschiedene Programme unterschiedlich ausgefüllt wird, bilden die politischen Kategorisierungen und Zuständigkeiten einen Bezugspunkt, an dem sich alternative Problematisierungsformen orientieren müssen. In diesem Sinne gewinnen die Problemkategorien den Status einer eigenen Realität, die in Institutionen und Organisationen von Zuständigkeiten ihren Ausdruck findet. Institutionen der Problembearbeitung stellen also ‚geronnene Problemdiskurse’ dar, „weil sie Lösungen anbieten für Fragen, die in ihrer ursprünglichen Form nicht mehr gestellt werden müssen. Sie sind Orte, in denen Diskurse sich verlangsamen und schließlich zum Schweigen kommen, wo neue Routinen und Selbstverständlichkeiten Entlastung bieten“ (Evers/Nowotny 1987: 25). Die ‚offizielle’ Problemkategorisierung legt Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten fest, nicht nur im formalen Sinne, sondern auch kulturell; die „Eigentümer“ des sozialen Problems werden quasi amtlich beglaubigt (Gusfield 1989). 2.4 Die Institutionalisierung sozialer Problemkategorien als spezifische Form von Organisation Schon die Schaffung und Implementierung eines Programms als Organisation symbolisiert eine spezifische Form der Problematisierung. Die Entwicklung und Förderung einer Einrichtung zur Implementierung eines therapeutischen Programms, die Etablierung einer Beratungsstelle oder die Schaffung einer Organisation der Jugendhilfe weist darauf hin, dass die Ursachen des Problems im Individuum zu suchen und zu bearbeiten sind. Die politische Übertragung desselben Problems an das Strafrecht, die Justiz oder die Schaffung einer speziellen Organisation der Polizei schafft ein Kriminalproblem. Klassischerweise wurde die Institutionalisierung politischer Entscheidungen in der Implementationsforschung zunächst als „Top-Down-Prozess“ analysiert. Zentrale Frage hierbei war, warum die Umsetzung von Politik in sozialpolitisches Handeln so häufig problematisch ist und die Ergebnisse der Politik deshalb nicht den Intentionen des politischen Programms entsprechen (als Überblick siehe z. B. Pülzl/Treib 2007). In dieser Perspektive wird Implementation als ein apolitischer, administrativer bzw. technischer Prozess verstanden, der verschiedenen Störungen ausgesetzt ist. Politik bezieht sich hier nur auf den po-
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litischen Entscheidungsprozess, in dem klare politische Ziele definiert und Ressourcen verteilt werden, die dann über eine hierarchische Kontrolle an die ausführenden Organisationseinheiten vermittelt und dort in technischer Weise in konkretes Handeln umgesetzt werden. Die hierarchische Kontrolle der Übersetzung von Programmen scheitert allerdings regelmäßig und führt umso eher zu „Implementationsfehlern“, je mehr Organisationen und kollektive Akteure am Prozess der Umsetzung beteiligt sind. Hieraus wurde u. a. von einigen Autoren der Schluss gezogen, dass Politiken weniger durch politische Programme als vielmehr durch das relativ autonome Handeln auf der Ebene der Umsetzung bestimmt werden. Organisationen der Problembearbeitung sind eben nicht quasi „neutrale“ Instrumente der Implementation und Umsetzung politischer Programme. Sie sind immer auch Systeme der Herstellung einer spezifischen eigenständigen organisationsadäquaten Konstruktion sozialer Probleme mit spezifischen Regelsystemen und einem spezifisch geschulten Personal. Damit werden die Organisationen der Problembearbeitung zu eigenständigen Akteuren im politischen Prozess. Es geht weniger um das Problem einer fehlgeleiteten Kontrolle der Implementation, sondern um die Untersuchung von Politik auf der Ebene der Interaktion zwischen Organisationen und Bürger bzw. Bürgerinnen. Auf dieser Ebene der „Street-Level Bureaucracies“ wird Politik sozialer Probleme real und folgenreich: „the decisions of street-level bureaucrats, the routines they establish, and the devices they invent to cope with uncertainties and work pressures, effectively become the public policies they carry out.“ … „Public policy is not best understood as made in legislatures or top-floor suites of high-ranking administrators, because in important ways it is actually made in the crowded offices and daily encounters of street-level workers’’ (Lipsky 1980: xii, Hervorhebung im Original). Aus Vorstellungen eines “Top-Down-Prozesses” der Implementation wurde so die gegenteilige Vorstellung eines „BottomUp-Prozesses“ (Pülzl/Treib 2007). Die Perspektive des Doing social Problems oder der Problemarbeit nimmt hier eher eine vermittelnde Zwischenposition ein. Ihr Ausgangspunkt ist sowohl die konkrete Problemarbeit im Alltag der Organisationen als auch dessen institutioneller Kontext. Lipsky (1980: 14 f.) beschreibt die Interpretations- und Entscheidungsspielräume bei der Umsetzung politischer Programme in den Institutionen der Problembearbeitung als den spezifischen Charakter dieser Organisationen, der sich aus der Notwendigkeit der Anwendung allgemeiner Kategorien auf individuelle Fälle von Betroffenheiten ergibt. Darüber muss in den Organisationen der Pro-
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blembearbeitung zumindest teilweise die grundsätzliche Ambiguität von Problemdeutungen reproziert werden, was eindeutige und vorab festgelegte Regeln und Techniken unmöglich macht. Diese Ambiguität resultiert allerdings auf dieser Ebene weniger direkt aus konfligierenden kulturellen Deutungen sozialer Probleme als vielmehr aus der Notwendigkeit der Aushandlung von Problemdeutungen und Techniken mit einer Klientel, die nicht notwendigerweise denselben Deutungsrahmen folgt wie die Professionellen. Organisationen der Problemarbeit müssen folglich Regeln und Verfahren der Sicherung von Inanspruchnahme, Compliance oder zumindest von Akzeptanz bei der Zielpopulation entwickeln, nicht nur um angestrebte Effekte zu erzielen, sondern auch um die Legitimation der Problemarbeit in Öffentlichkeit und Politik zu gewährleisten. Hierbei handelt es sich um ein grundsätzliches Problem der „Troubled Persons Industry“, allerdings muss es eine empirische Frage bleiben, inwieweit Spielräume der Inanspruchnahme und der Akzeptanz zwischen verschiedenen Institutionen variieren und welche Techniken und Regeln der Sicherung von Akzeptanz eingesetzt werden. Entscheidend hierfür ist die Ausstattung der Organisationen mit legitimierter Eingriffsmacht und Probleme der Akzeptanz stellen sich für die Polizei und die Schule anders dar als für Beratungsstellen der Sozialen Arbeit. Insbesondere für Institutionen der Verteilung knapper Ressourcen stellt sich dieses Problem quasi in negativer Form dar, nämlich, über welche Mechanismen kann die Inanspruchnahme begrenzt werden und potentielle Klientel abgeschreckt werden (Hasenfeld 2010a; Lipsky 1980: 87 ff.). Als „geronnene Problemdiskurse“ sind die Organisationen direkt abhängig von öffentlichen und politischen Diskursformationen über soziale Probleme und ihren wechselnden Konjunkturen von Deutungsrahmen und Bedeutung. Hieraus entstehen grundsätzliche Spannungen zwischen stabilen professionellen Deutungsmustern und professionellen Orientierungen der Problemarbeiter und -arbeiterinnen, die auf der Grundlage ihrer Ausbildung spezifische Deutungsrahmen sozialer Probleme verkörpern, und der Legitimierung von Ressourcen und Techniken der Problemintervention und sozialen Kontrolle. Von daher ist die konkrete Problemarbeit eingebunden zwischen den Orientierungen und Ansprüchen der Klientel auf der einen Seite und den gesellschaftlichen und politischen Legitimationsanforderungen auf der anderen Seite. Eine Folge dieser Spanungsverhältnisse ist die tendenzielle Abkopplung von Organisationsprogramm und
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-rhetorik von den tatsächlichen Handlungs- und Interaktionsformen innerhalb der Organisation. 14 Ein wichtiges Mittel der Regulierung sowohl von Problemen der Inanspruchnahme als auch von Akzeptanz und Legitimation stellt bereits das institutionelle Arrangement der Organisation dar. Das institutionelle Setting der Organisationen signalisiert nicht nur spezifische Orientierungen der Konstruktion sozialer Problemkategorien, sondern symbolisiert und leitet gleichzeitig auch Ansprüche an Definitionskompetenzen und Durchsetzungsmacht. Hierzu gehören die Uniform von Polizeibeamten, die Robe der Richterin oder der weiße Kittel medizinischen Personals ebenso wir auch die situative und räumliche Anordnung der Beteiligten und die öffentliche Präsentation der Organisation (z. B. Raumausstattung, Sitzordnung, Hinweisschilder; siehe z. B. Ludwig-Mayerhofer/Behrend/Sondermann 2007), die als klassische Disziplinartechniken bereits von Foucault (1977) beschrieben wurden (siehe Groenemeyer/Rosenbauer 2010). Die konkrete Arbeit der Bearbeitung und Kontrolle sozialer Probleme in Organisationen ist eingebettet in einen institutionalisierten Kontext, der sie nicht nur mit Ressourcen und normativen Erwartungen in Form von Zielvorstellungen, Programmen und Regeln ausstattet, sondern auch Interpretationsregeln und Deutungsschemata oder Frames bereitstellt, aus denen sich die Orientierungen in der konkreten Problemarbeit speisen. Diese Kombination aus kulturellen und organisatorischen Erwartungen geben den Rahmen vor, in dem Doing social Problems stattfindet (Schaubild 3). Allerdings sehen sich die Problemarbeiter in den Organisationen mit individuellen Problemlagen und handlungsfähigen Subjekten konfrontiert, die eigene Orientierungen, Vorstellungen und Ressourcen in die Problemarbeit einbringen. Zudem sind die „Vorgaben“ keineswegs widerspruchsfrei und enthalten die grundsätzliche Ambiguität von Deutungsmustern sozialer Probleme. Doing social Problems thematisiert diesen Prozess, in dem im Rahmen des institutionalisierten Kontexts allgemeine Problemkategorien im Alltag routinemäßig auf konkrete Problemlagen und -situationen angewendet und damit reproduziert werden.
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Organisationen der Problembearbeitung entsprechen so dem Typus „institutionalisierter Organisationen“ (Meyer/Rowan 1977), in denen Routinen entwickelt werden müssen, die sowohl in ihrer Programmatik als auch in der Begründung ihrer Techniken Rationalitätsmythen nach innen und nach außen produzieren.
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Schaubild 3: Rahmenbedingungen und Kontexte des Doing Social Problems Institutionen der Problemarbeit
kodifizierte Normen, Recht und Kategorien
Deutungsmuster in Öffentlichkeit und Medien
professionelle Regeln und Deutungsmuster
Doing Social Problems
Wissenschaft Klientel, Adressaten
politischer Kontext (politics, polity, policy)
Organisationsformen, Ressourcen, organisatorisches Netzwerk
3. Doing Social Problems als situatives Erzeugen von Kategorien in institutionellen Kontexten. For some, social problems are just another day in the office. (Hilgartner/Bosk 1988: 57)
Mit der Einführung der Idee von Social Problems Work zielen Holstein und Miller (Holstein 1992; Holstein/Miller 1993b; Miller 1992; Miller/Holstein 1989) auf zwei grundlegende Erweiterungen des konstruktivistischen Programms in der Soziologie sozialer Probleme. Zum einen sollte das Augenmerk auf die praktische Verwendung von Problemkategorien im Alltag gelegt werden. Social Problems Work wird dementsprechend definiert als “any and all activity implicated in the recognition, identification, interpretation, and definition of conditions that are called ‘social problems’. Social problems work can be any human activity contributing to the practical ‘creation’ or understanding of an instance of a social problem” (Miller/Holstein 1989: 5). Das Konzept Social Problems Work ist demnach zunächst sehr breit angelegt und zielt ganz allgemein auf die Verwendung von Problemkategorien im Alltag, was sich sowohl auf professionelle Problemarbeit in Organisationen der
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Problembearbeitung als auch auf Alltagskonstruktionen von sozialen Problemen, z. B. in privaten und öffentlichen Diskursen, in sozialen Bewegungen, Interessenverbänden oder Organisationen des politischen Systems bezieht, also auf die Frage, wie abstrakte Problemkategorien in praktisches Handeln im Alltag eingesetzt werden, was in allen Phasen oder auf allen Ebenen des Problematisierungsprozesses stattfindet (vgl. Loseke 2003b). Tatsächlich wird allerdings das Konzept häufig auch enger gefasst und dann nur auf die Arbeit innerhalb von Institutionen und Organisationen der Problembearbeitung bezogen (vgl. z. B. Best 2008; Schmidt 2008). Während sich die erste Erweiterung auf eine thematische Ausweitung der Soziologie sozialer Probleme bezieht, ist die zweite Erweiterung eher methodologischer und theoretischer Art. Ausgehend von Interaktionsprozessen im Alltag sollen die institutionellen Kontexte explizit in die Analyse einbezogen werden. Aus einer rein mikrosoziologischen Perspektive können Interaktionsprozesse im Alltag als situative Interaktions- und Aushandlungsprozesse rekonstruiert werden und aus ihrer eigenen Interaktionslogik heraus erklärt werden. Dabei finden ethnomethodologische, phänomenologische und sprach- bzw. konversationsanalytische Perspektiven Anwendung (vgl. insbesondere die beiden Themenhefte der Zeitschrift Social Problems: Maynard 1988; Zimmerman 2005). Als eine spezifische Perspektive der Social Problems Work und des Doing social Problems können damit wichtige Fragestellungen bearbeitet werden, z. B. über die Logiken der Anwendung von Kategorisierungen im Alltag und die konversationsanalytischen Mikroregeln ihrer Konstruktion, über die Regeln der Herstellung von Kompatibilität der Perspektiven oder die sprachliche Reproduktion von Machtprozessen und Phänomenen der Produktion von Ungleichheiten und Diskriminierungen. Allerdings erheben Holstein und Miller den Anspruch, dass diese Interaktionslogiken auch über ihre Einbettung in institutionelle Kontexte rekonstruiert werden müssen. Das heißt, die in den Organisationen stattfindenden Interaktions- und Aushandlungsprozesse sind nur verständlich zu machen über ihre Rückbindung an Prozesse der gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Konstruktion von Problemkategorien und ihre Ausstattung mit Ressourcen, Macht, institutionellen Regeln, Orientierungen und Legitimation. Social Problems Work oder Doing social Problems wird so als eine aktive Verwendung von
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Problemkategorien in einem spezifischen Kontext – als lokale Artikulation gesellschaftlicher Problemdiskurse – rekonstruiert. 15 Damit kann dann auch die Frage nach den kulturellen und sozialen Folgen des Doing social Problems, die über den individuellen Fall oder die situative Interaktion hinausgehen, gefragt werden. So geraten sowohl emergente Prozesse institutioneller Diskriminierung als auch Auswirkungen des Doing social Problems auf kulturelle Bilder sozialer Probleme in Öffentlichkeit und Politik in den Blick. 3.1 Doing social Problems als Kategorisierungsarbeit Die erfolgreiche Institutionalisierung sozialer Problemkategorien in der Öffentlichkeit und Politik erfordert eine prägnante Dramatisierung und konstruiert damit ein „typisches“ Bild und allgemeine Regeln der Definition von Betroffenheiten. In den Einrichtungen der Problembearbeitung sind die Professionellen demgegenüber mit individuellen Subjekten, einzigartigen und differenzierten Situationen sowie mit komplexen und ambivalenten Formen der Problembetroffenheit konfrontiert. Problemarbeit bedeutet in erster Linie den Versuch der Veränderung von Menschen, sei es ihres Status, ihrer Ressourcen oder ihrer Kompetenzen, Motivationen oder Orientierungen. Aus der Perspektive der Professionellen in den Einrichtungen der Problembearbeitung stellen dabei Problembetroffene oder Adressaten das „Rohmaterial“ der Organisation dar (Hasenfeld 2010b: 11 ff.). „Rohmaterial“ bedeutet nicht, dass die Individuen als passive Objekte behandelt werden oder dass im Interaktionsprozess von ihrer Individualität und Subjektivität abgesehen werden könnte, vielmehr wird damit zum Ausdruck gebracht, dass sie im Kontakt mit der Organisation zunächst einem Transformationsprozess unterliegen. Aus Individuen werden Klienten oder Klientinnen, Patienten oder Patientinnen, Verdächtige, Angeklagte oder Antragsteller. Damit sie zu Gegenständen der Problemarbeit werden können, müssen aus ihnen Fälle gemacht werden (siehe auch Best 2008: 235 ff.; Holstein 1992; Lipsky 1980: 59 ff.; Loseke 2003b: 146 ff.). Entsprechend der jeweiligen Definition und Institutionalisierungsform der Organisation sowie den ihnen zugrunde liegenden Problemdefinitionen vollzieht sich dieser Transformationsprozess als jeweils spezifische Form der Sortierung, Klassifizierung und Kategorisierung. Dabei muss zunächst die Frage geklärt 15
Holstein und Miller machen bei dieser Begriffsverwendung direkte Anleihen bei Foucault und beziehen sich auf die Idee des „institutionellen Denkens“ von Douglas (1991).
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werden, ob die Person überhaupt als Fall für die Organisation der Problembearbeitung infrage kommt, d. h. ob die präsentierten Informationen und Situationsmerkmale mit den institutionellen Problemschemata kompatibel sind. Sollte dies fehlschlagen, so wird die Person entweder an eine andere Institution der Problembearbeitung verwiesen oder gänzlich abgewiesen. Falls die Fallkonstruktion grundsätzlich gelingt, wird versucht, die Person in ein mit den institutionalisierten Techniken der Fallbearbeitung kompatibles Schema der Problembearbeitung einzusortieren, um damit eine angemessen Behandlung in Verbindung bringen zu können und möglicherweise eine Prioritätsentscheidung der Bearbeitung zu ermöglichen. Das Schlüsselinstrument der Bewältigung von Kontingenzen der Lebenspraxis der Klientel durch Professionelle ist die Diagnose als eine Form der Typisierung, mit der die Individualität der Klientel in professionell und institutionell handhabbare Kategorien der Fallbearbeitung überführt werden und alle ‚überflüssigen’ Informationen der persönlichen Lebenspraxis ausgeblendet werden. Die Art der Diagnose und der dabei verwendeten Ressourcen reflektiert das institutionelle Setting und die in der Organisation verkörperten Wissensbestände, Orientierungen und Bearbeitungsmöglichkeiten. Die Ressourcen der Diagnose variieren hinsichtlich ihres Grades an Formalität und Legitimation. Sie können die Gestalt formalisierter Instrumente annehmen, wie z. B. Diagnosemanuale (ICD oder DSM) in Einrichtungen des medizinischen Systems, das Strafgesetzbuch für Polizei und Justiz oder die Sozialgesetzbücher für Dienste im Bereich der Sozialen Arbeit. Daneben wird aber auch auf weniger fundierte bzw. weniger konsensuelle Instrumente zurückgegriffen, wie z. B. Risikochecklisten der Kategorisierung von Kindesmissbrauch oder -vernachlässigung. Die Verwendung dieser Instrumente bzw. der Rückgriff auf sie bei der Begründung von Diagnosen verschafft der Kategorisierung eine besondere Objektivität und Legitimität, da sie als wissenschaftlich fundiert angesehen bzw. mit besonderer politischer Macht ausgestattet werden. Da Einrichtungen der Problembearbeitung z. T. mit weitreichenden Eingriffsbefugnissen gegenüber der Klientel (auch gegen deren Willen) ausgestattet sind und über Entscheidungen der Organisation z. T. weitreichende Statusänderungen bewirkt werden, dienen diese formalisierten Ressourcen der Kategorisierung nicht nur technischen Zwecken der Auswahl adäquater Behandlungen, sondern immer auch der Legitimierung und Rechtfertigung von Entscheidungen. Ob und in welchem Ausmaß allerding diese Instrumente tatsächlich explizit für die Kategorisierung herangezogen werden, erst im Nachhinein zur Rechtfertigung (als Accounts) von Interventionen herangezogen werden oder ob die in-
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stitutionalisierten und in der Organisation verfügbaren Technologien die Diagnose leiten, muss eine empirische zu klärende Frage bleiben. Tatsächlich dürfte aber auch praktische Erfahrung eine ganz zentrale Ressource der Kategorisierung sein. Über die Arbeitserfahrung in den Organisationen der Problembearbeitung entwickeln Professionelle z. T. eigene Bilder typischer Problembetroffenheiten. Die praktische Erfahrung führt dann zu Vorstellungen und Kriterien „normaler“ Problemfälle, wie sie z. B. Sudnow (1965) für die Justiz beschrieben hat. „Normale“ Problemfälle haben den Vorteil, dass für sie routinierte Reaktions- und Behandlungsformen vorliegen, während außergewöhnliche Fälle (sofern sie nicht ganz auf dem institutionellen Kategorienschema herausfallen) zumindest Mehraufwand erfordern. Schließlich wird die Sensibilität für Kategorisierung und Diagnose auch durch lokale Organisationskulturen und vor allem durch öffentliche und politische Thematisierungs- und Problematisierungskonjunkturen beeinflusst (Loseke 2003b: 146 ff.). Die Metapher des „Rohmaterials“ impliziert einen weiteren Aspekt der Kategorisierung. Analog zur Bearbeitung von Rohmaterial in anderen Produktionsprozessen kann die Transformation der Individuen als eine Anpassung an die Erfordernisse des Produktionsprozesses und der Organisation verstanden werden. Institutionen der Problembearbeitung haben jeweils spezifische Mechanismen entwickelt, über die aus individuellen Subjekten angepasste Klienten und Klientinnen werden können. Hierzu gehört zunächst einmal die Etablierung von Kriterien der Relevanz von Informationen. Wer z. B. mit dem medizinischen System in Kontakt kommt, wird hinsichtlich gesundheitlicher Aspekte wahrgenommen und beurteilt. Entsprechende Informationen im Verhalten, in der Präsentation und in der Biographie werden entsprechend dieser Orientierung selektiert und im Rahmen der institutionellen Vorgaben interpretiert. Dazu gehört u. U. auch die Rekonstruktion der gesamten Biographie vor dem Hintergrund der aktuellen Problemkategorisierung (klassisch hierzu für das Feld der justiziellen Konstruktion von Jugendkriminalität Cicourel 1969). Alle weiteren Informationen, die für die Individuen und ihre Lebenserfahrung und -praxis relevant sind, finden keine Berücksichtigung oder werden bereits im Interaktionsprozess zurückgewiesen oder ignoriert. Eine Diagnose ist aber nicht nur die gezielte Selektion relevanter Informationen über eine Person, sondern diese kreiert auch Verhaltenserwartungen sowohl auf Seiten der Professionellen als auch auf Seiten (potenzieller) Klientel. Die Erwartungen beeinflussen dann die weitere Informationsauswahl und führen zu Unterscheidungen in „gute“ und „schlechte“ Klientel oder aber auch
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zu einer Verweigerung der Fallannahme, wenn die in der Institution verfügbaren Kategorisierungen nicht passen oder passend gemacht werden können, oder gegebenenfalls die Anwendung von Zwangsmaßnahmen, wenn die Klientel Compliance verweigert. Der Status des Klienten oder der Klientin kreiert so eine Rolle, die über verschiedene Mechanismen Konformität mit den Anforderungen des „Produktionsprozesses“ sichert. Neben den bereits angesprochenen disziplinierenden Instrumenten der zeitlichen und räumlichen Strukturierung der Interaktionssituation zählen hierzu auch die direkte Verteilung von Sanktionen und Ressourcen, sowohl materieller als auch immaterieller Art. Lipsky (1980: 61 ff.) fasst diese Mechanismen unter der treffenden Überschrift „Teaching the Client Role“ zusammen. Das Besondere des Produktionsprozesses sozialer Dienste ist seine Abhängigkeit von der mehr oder weniger aktiven Teilnahme der Klientel. Die Charakterisierung personenbezogener Dienstleistungen als „Ko-Produktion“ thematisiert diesen Aspekt als Abhängigkeit des Verlaufs und der Ergebnisse der Problemarbeit von Aushandlungsprozessen zwischen Klientel und Professionellen. die sich allerdings je nach Institution jeweils unterschiedlich gestalten. 16 Je nach Ausmaß der Freiwilligkeit der Inanspruchnahme, der Abhängigkeit der Klientel von den Ressourcen der Organisationen und der möglichen Konsequenzen von Kategorisierungen für die Klientel sind auch die Chancen der erfolgreichen Durchsetzung von Situationsdefinitionen von Professionellen und Betroffenen ungleich verteilt. In diesem Sinne ist Kategorisierung immer auch ein Aushandlungsprozess von Macht. Der Interaktionsprozess zwischen Klientel und Professionellen ist das zentrale Instrument der Problemarbeit und die Etablierung interpersonaler Beziehungen ist ein zentrales Merkmal personenbezogener sozialer Dienste, insbesondere wenn ihr Programm sich auf die Veränderung von Identitäten bezieht. Hasenfeld (2010: 21) weist darauf hin, dass die Qualität der Beziehung zwischen Klientel und Professionellen besonders dann entscheidend für den Produktionsprozess in Institutionen der Problembearbeitung wird, wenn a) eine wiederholte oder dauerhafte Inanspruchnahme notwendig ist, b) die Technologie der Institution eine extensive Erforschung von Biographien und individueller Lebenspraxis erfordert, c) interpersonale Beziehung die zentrale Form der Intervention darstellt, d) Compliance für die Zielerreichung ein zentrale Rolle spielt
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Strauss et al. (1985) analysieren diesen Prozess der wechselseitigen Abhängigkeit von Klientel und Professionellen für den Bereich der Medizin mit dem Konzept des „Service Trajectory“.
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und e) wenn die Konsequenzen der Intervention in Bezug auf Status und Ressourcen hoch sind. Grundsätzlich werden die Kategorien sozialer Probleme in Interaktionsprozessen aktiv produziert und die von diesen Interpretationen Betroffenen beteiligen sich aktiv daran, indem sie Symptome schildern, Rechtfertigungen vorbringen und entsprechende Informationen zum Fall liefern. In Antizipation darauf, welche Informationen die Problemarbeiter oder -arbeiterinnen für relevant halten und wie sie diese interpretieren, kann die eigene Präsentation von der Klientel entsprechend ausgerichtet werden. Im Wissen um den institutionellen Orientierungsrahmen der Organisation wird dabei die Präsentation mit mehr oder weniger Kompetenz strategisch orientiert, was allerdings entsprechende Kompetenzen und Ressourcen auf Seiten der Klientel voraussetzt. In diesem Sinne kann der Aushandlungsprozess von Diagnosen, Situationsdefinitionen und Kategorisierungen als ein Mechanismus der Reproduktion sozialer Ungleichheit fungieren und zu impliziten Formen institutioneller Diskriminierung beitragen. 3.2 Doing social Problems als Moralarbeit Doing social Problems ist immer auch eine moralische Praxis, sie ist „Moralarbeit“ (Hasenfeld 2010a). Die Transformation von Individuen in Klientel bedeutet eine Veränderung des moralischen Status einer Person. Eine Diagnose, ein polizeilicher Verdacht oder eine Identifizierung von Vernachlässigung in der Jugendhilfe ist immer eine bewertende Problemzuschreibung an die betroffene Person. Selbst die Vergabe einer Note durch Lehrpersonal ist nicht nur eine Bewertung des Wissens, sondern gleichzeitig auch eine Bewertung des moralischen Wertes eines Schülers oder einer Schülerin. Moral Work bedeutet also, dass Personen (und nicht nur Handlungen) in der Problemarbeit einer Bewertung unterzogen werden. Bei der Zuweisung einer psychiatrischen Diagnose, der Zuordnung zu einer Verdachtskategorie durch die Polizei oder der Interpretation von Kindesmissbrauch oder Drogenabhängigkeit in der Sozialen Arbeit handelt es sich nicht um rein technische Angelegenheit, sondern immer auch um ein (zumeist negatives) Werturteil über die Person. Je nach Institution ist mit der Kategorisierung in unterschiedlichem Ausmaß immer auch die Zuschreibung von Verantwortlichkeit und Schuld verbunden, die ihren Ausdruck findet in der Behandlung z. B. als Täter oder Opfer (Loseke 2003b: 75 ff.) oder als „würdige“ oder „unwürdige“ Anspruchssteller (Hasenfeld 2010a; Maynard-Moody/Musheno 2003: 97 ff.). Darüber hinaus beinhalten auch die Zuschreibung von Veränderungsfähigkeiten und -möglichkeiten bei der Klientel sowie die Konstruktion von erwünschten bzw. realistischen Behand-
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lungszielen immer auch moralische Urteile, die von verschiedenen Merkmalen der Person und der Interaktionssituation geleitet werden. Eine Klientel, die als Opfer unkontrollierbarer Umständen konstruiert wird, der eine hohe Compliance im Interaktionsprozess sowie eine hohe Veränderungsbereitschaft und -fähigkeit zugeschrieben wird und sich als „guter“ Klient präsentiert, kann mit einer anderen Behandlung rechnen, als Personen, die diesen Kriterien nicht entsprechen. Aufgrund der speziellen Macht von Institutionen bei der Zuweisung von Status, Ressourcen und Situationsdefinitionen ist moralische Arbeit immer auch eine bedeutende Ressource (oder Begrenzung) der Identitätsbildung betroffener Personen, insofern nicht nur die Kategorisierung, sondern auch ihre moralische Bewertung in das Selbstkonzept der Betroffenen integriert wird und insofern mit der moralischen Kategorisierung und Bewertung eben auch eine Verteilung von Ressourcen (materiellen wie immateriellen) verbunden ist. Bereits die Existenz der Institution und die mit ihr verbundene Lizenz, z. T. weitreichende Eingriffe in das Leben der Klientel vorzunehmen und Änderungen ihrer Ausstattung mit Ressourcen und ihres Status vorzunehmen, beinhaltet das moralische Urteil, dass damit problematische Situationen und Personen bearbeitet werden sollen. Die Kategorisierung und ihre moralische Bewertung sind in den Institutionen also nicht Gegenstand expliziter Entscheidungen durch die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen, sondern Bestandteil des institutionalisierten Doing social Problems: „Because they are embedded in the organizational routines, they become a part of the „invisible hand“ that controlls workers’ behavior and actions“ (Hasenfeld 2010b: 13). Die Unsichtbarkeit der moralischen Dimension der Problemarbeit wird durch den Rückgriff auf die institutionellen Technologien der Organisation gefördert. Hinter professionellen Fachsprachen und formalisierten Diagnosesystemen, die nur professionellen zugänglich sind, erscheinen Entscheidungen über die Verteilung von Ressourcen, die Definition der Probleme und Behandlungsnotwendigkeiten sowie die Reaktions- und Behandlungsform und ihr Verlauf als eine rein technische Angelegenheit. Die Bedeutung kultureller Zuschreibungen, Symbole, Normen und Werte für den Prozess der Kategorisierung, d. h. sein Charakter als soziale Konstruktion in einem institutionellen Kontext verschwindet hinter den unhinterfragten Routinen der praktischen Arbeit. Tatsächlich sind aber bereist die Institutionen der Problemarbeit selbst mit spezifischen moralisch aufgeladenen Problemkategorien verbunden. Die Institution der Kriminalität z. B. handelt qua Definition auf der Grundlage einer Verantwortungs- und Schuldzuschreibungen, ist also eher mit der Kategorie Täter befasst, während die Institution Soziale Arbeit eher mit der Zuschreibung von
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Hilfsbedürftigkeiten oder Förderbedarfen agiert und insofern der Opferkategorie näher steht (vgl. Groenemeyer 2001). Gleichwohl muss diese Unterscheidung auch innerhalb dieser Institutionen spezifiziert und am Fall immer wieder neu differenziert werden. So ist z. B. in der Jugendhilfe klar, dass das Kind Gegenstand der Behandlung ist, eventuell noch die überforderte Mutter, sofern sie nicht eindeutig Täterin ist, aber kaum der schlagende Vater, der möglicherweise „nur“ ein Opfer des Arbeitsmarktes ist. 3.3 Doing social Problems als Emotionsarbeit Sowohl die besondere Bedeutung der Beziehung zwischen Klientel und Professionellen als auch die moralische Dimension der Kategorisierung verweisen unmittelbar auf Emotionen im Prozess des Doing social Problems. In ihrer klassischen Studie über die Arbeit von Flugbegleiterinnen hat Hochschild (1990: 30) den Begriff der „Gefühlsarbeit“ (emotional Labor) eingeführt zur Beschreibung von Prozessen der strategischen Gefühlspräsentation und des Gefühlsmanagement, die zu einem Bestandteil des Arbeitsprozesses in Dienstleistungsberufen geworden sind. Je mehr die Institutionen der Problemarbeit auf die Etablierung und Stabilisierung von Interaktionsbeziehungen angewiesen sind, desto mehr wird Emotionsarbeit zu einer zentralen Kompetenz der Beziehungsarbeit und zu einer Ressource der Organisation: „Emotional labor is the instrument through which worker-client or state agent-citizen interaction occur” (Guy et al. 2010: 291). 17 Emotionsarbeit wird zwar als individuelle Kompetenz der Problemarbeit verstanden, aber ihr Ausmaß und ihr Ausdruck werden durch das institutionelle Setting der Organisation vorgegeben. Während in Organisationen, in denen Beziehungsarbeit zu den Techniken der Problemarbeit gehört und Compliance eine zentrale Rolle spielen, wie z. B. in Situationen der Beratung, Erziehung und Therapie, ist der mehr oder weniger strategische Einsatz von Emotionen für den Aufbau und die Aufrechterhaltung der Beziehung notwendig. Demgegenüber zeichnen sich andere Institutionen der Problemarbeit gerade durch die Kontrolle von Emotionen aus, die dort als ein Ausweis von Professionalität angesehen wird, wie z. B. bei der Polizei und Justiz sowie in der Medizin. Das Gefühlmanagement wird hier als Symbol von Autorität und Macht eingesetzt, um bei der Klientel Wirkungen zu erzielen.
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Hasenfeld (2010: 26 ff.) weist darauf hin, dass besonders in diesen Organisationen der Anteil von Frauen unter den Professionellen deutlich überwiegt, es sich also bei dieser Art von Dienstleistungsarbeit um „gendered work“ handelt.
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Auf der anderen Seite ist der strategische Einsatz von Emotionen und des Gefühlsmanagement aber auch eine Ressource, die durch die Klientel im Prozess der Kategorisierung eingesetzt werden kann. In diesem Prozess dient das Emotionsmanagement dann ebenfalls als Signal für sozialen Status, Kompetenz, Macht und Respektabilität und beeinflusst nicht nur die Kategorisierung, sondern auch das Ergebnis der gesamten Problemarbeit. In diesem Sinne sind die Aushandlungsprozesse zwischen Professionellen und Klientel nicht nur ein Austausch sprachlicher Informationen, Rechtfertigungen und Bewertungen, sondern immer auch eine Aushandlung auf der Ebene der emotionalen Präsentation. Auch auf dieser Ebene hat jede Organisation spezifische Regeln etabliert, die den „richtigen“ und angemessenen Ausdruck von Gefühlen regulieren und gegebenenfalls auch sanktionieren. Allerdings handelt es sich auch bei diesen Prozessen nicht um Strategien im Sinne individueller bewusster Entscheidungen oder Programme. Emotionsarbeit und Regeln des Managements von Gefühlen sind Ressourcen der Institutionen und eingebettet in organisatorische Settings, die das Auswahl und die Sozialisation von Personal mit entsprechenden Kompetenzen und Orientierungen ebenso steuern wie auch bestimmte Typen von Klientel selektieren und produzieren. Ein weiterer Aspekt der Bedeutung von Emotionen im Doing social Problems ergibt sich aus der moralischen Dimension der Kategorisierungsprozesse. Die moralische Konstruktion von Verantwortlichkeiten und Schuld und die Zuschreibung von Attributen der „guten“ und „schlechten“ Klientel ist unmittelbar mit der Zuteilung von Sympathie und Antipathie verbunden. Schuldige und Verantwortliche für Schäden „verdienen“ Verurteilung und Sanktion, während Opfer im Prinzip als unschuldig angesehen werden und Gefühle von Mitgefühl, Betroffenheit und Hilfsbereitschaft hervorrufen (siehe Loseke 2003a: 123 ff.; Maynard-Moody/Musheno 2003: 97 ff.). Der Versuch der Kontrolle dieser Emotionen gehört allerdings in vielen Organisationen der Problemarbeit zu einem Ausweis von Professionalität und ist Gegenstand von Supervisionen, während in anderen Organisationen der explizite Ausdruck von Sympathie und Solidarität zu einem expliziten Programm erhoben werden.
4. Die Bedeutung des Doing social Problems Kategorien sozialer Probleme leiten Interaktionsprozesse in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens. Sie sind Gegenstand politischer Diskurse, mobilisieren soziale Bewegungen und finden ihren Ausdruck als Berichterstattung in den
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Medien und als Themen der Unterhaltungsindustrie. Im Alltag wird selbstverständlich auf sie zurückgegriffen, um andere Personen und ihr Verhalten zu bezeichnen und um eigenen Befindlichkeiten und Verhaltensweisen Sinn zu geben. Sie stellen eine allgemeine kulturelle bzw. moralische Ressource dar, auf die Interpretationen von Störungen zurückgreifen. Kategorien sozialer Probleme sind in unterschiedlichem Ausmaß institutionalisiert und werden so als selbstverständlich und allgemein evident behandelt. Diese Institutionalisierung nimmt in vielen Fällen die Form von Organisationen an und bildet spezifische Formen von Experten und Expertinnen aus, die als Spezialisten und Spezialistinnen die Deutung und Bearbeitung sozialer Problem mehr oder weniger monopolisieren. Durch die Schaffung spezialisierter Organisationen wird eine Problemkategorie quasi amtlich beglaubigt und erhält einen besonderen Status von Legitimität und Stabilität, an dem sich auch alternative Interpretationen eines Problems orientieren müssen. In diesen Organisationen werden die Problemkategorien über Interaktionsprozesse in legitime Betroffenheiten verwandelt, indem sie zu Fällen gemacht werden. Doing social Problems oder Problemarbeit verweist darauf, dass es sich hierbei um ein aktives Herstellen handelt, das nach bestimmten, identifizierbaren Regeln funktioniert. Dabei geht es nicht um die Frage, ob diese oder jene Form der Kategorisierung und der Bearbeitung eines sozialen Problems angemessen ist oder zu seiner Lösung beiträgt, sondern zunächst nur um eine Rekonstruktion und Erklärung der Art und Weise, wie diese Institutionen in ihrem Inneren funktionieren und warum sie so funktionieren wie sie funktionieren. Zur Beschreibung von Konstruktionsprozessen sozialer Probleme wird häufig von einem Karrieremodell ausgegangen, das die Entstehung von Problemkategorien über Ansprüche und Protest aus der Gesellschaft ableitet, die dann in den politischen Prozess eingespeist und schließlich in den Organisationen der Problemarbeit oder den Instanzen sozialer Kontrolle nur noch angewendet werden. Doing social Problems findet zwar in einem institutionalisierten Kontext statt, aber es wirkt auf diesen Kontext zurück und produziert ihn über die routinierte Problemarbeit mit. Jeder Fall ergibt ein spezifisches Bild eines sozialen Problems, das über die Bearbeitung als Fall wiederum in vielfältiger Weise in die Arenen der Politik und Öffentlichkeit zurückgespielt wird: als Wahrnehmung von Erfolglosigkeit in dem Sinne, dass das Problem über die Bearbeitung nicht aus dem Blickfeld von Öffentlichkeit und Politik verschwindet, als Stabilisierung vorherrschender Problemdeutungen, als Differenzierung von Problemkategorien oder als Protest von Betroffenen über ungerechte oder ungerechtfertigte Behandlungen usw. In der konkreten Problemarbeit, d. h. in der Interaktion
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zwischen Organisation und Klientel sowie in ihren Ergebnissen zeigen sich die Resultate der Politiken, ihre Programmatiken und der ihnen zugrunde liegenden Problemdeutungen, genauso wie Problemarbeit und ihre Ergebnisse auch umgekehrt öffentliche und politische Problematisierungen anstoßen können. Problemarbeit ist folgenreich, insbesondere auch für Betroffene. Organisationen der Problemarbeit verändern in Verbindung mit der Kategorisierung den Status von Personen, erweitern oder reduzieren Ressourcen, eröffnen Chancen und Handlungskompetenzen oder sanktionieren. Die Kategorisierung als Klient oder Klientin stellt dabei eine bedeutsame Ressource für die Identitätsbildung dar, entweder als Stigmatisierung oder als sicherheitsstiftende Möglichkeit, der eigenen Situation oder dem eigenen Verhalten einen Sinn zu geben. Jede Kategorisierung ist immer auch ein Selektionsprozess. Dies bezieht sich nicht nur auf die Auswahl relevanter Informationen im Prozess des Doing social Problems, sondern insbesondere auch über die damit verbundene Bevorzugung und Benachteiligung bestimmten Typen von Klientel. Insofern mit dem damit die Verteilung von Ressourcen, Chancen und Sanktionen verbunden ist, beschreibt das Doing social Problems Prozesse der Diskriminierung. Diesen liegen aber nicht unbedingt individuelle Einstellungen und Orientierungen der Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen der Einrichtungen zugrunde, vielmehr sind sie eingebettet in die institutionelle Logik der Organisationen. In diesem Sinne haben wir es dann mit Prozessen institutioneller Diskriminierung zu tun. Diese Perspektive des Doing social Problems erhält so noch ein weiteres zeitdiagnostisches und gesellschaftskritisches Potential, wenn sich die Analyse nicht auf die Interaktionslogiken von Aushandlungsprozessen beschränkt, sondern ihre Einbettung in gesellschaftliche und politische Diskurse einbezieht. Prozesse der Medikalisierung, der Kriminalisierung, der Ökonomisierung oder der Pädagogisierung müssen sich in der konkreten Problemarbeit widerspiegeln und nicht nur in veränderten Diskursen, Organisationsrhetoriken und den organisationalen Mythen, die möglicherweise mit der tatsächlichen Arbeit in den Organisationen der Problemarbeit kaum etwas zu tun haben. Veränderungen der grundlegenden Orientierungen der Bearbeitung und Kontrolle sozialer Probleme müssten sich also auf der Ebene der Auswahl, Kategorisierung und Behandlung der Klientel nachweisen lassen. Umgekehrt können so auch Bedingungen und Prozesse der Entstehung und Entwicklung gesellschaftlicher und politischer Diskurse zurückgebunden werden an das Routinehandeln im Alltag und aus diesem erklärt werden. Zwar sind mikroanalytische Untersuchungen von Instanzen sozialer Kontrolle keineswegs neu, aber in der Regel werden in ihnen nur einzelne Institutio-
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nen (Polizei, Justiz, Soziale Arbeit, Medizin, Psychiatrie) mit spezifischen Fragestellungen isoliert untersucht. Doing social Problem erhebt dagegen den Anspruch, Prozesse der Kategorisierung und Bearbeitung sozialer Probleme in einer vergleichenden Perspektive unter einem gemeinsamen konzeptionellen Dach analysieren zu können.
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Lucia Schmidt – Raimund Hasse
Der Arbeitsbegriff in der Soziologie sozialer Probleme und im Neo-Institutionalismus Konzeptualisierung und Anwendung im Forschungsfeld Bildungsungleichheit
1. Einleitung Die Soziologie sozialer Probleme und der soziologische Neo-Institutionalismus weisen grundlegende Unterschiede, aber auch wichtige Verbindungslinien auf. Zu diesen Verbindungslinien zählt, dass der Rückgriff auf Arbeit als theoretischer Grundbegriff ein hervorstechendes Merkmal der Theoriedynamik beider Forschungsfelder ist. Diese Übereinstimmung ist auffällig, weil dem Arbeitsbegriff in anderen Forschungszusammenhängen schon seit geraumer Zeit ein allgemeiner Bedeutungsverlust attestiert wird (siehe etwa Ritzer 1989) und seine Tauglichkeit als Schlüsselkategorie kritisch hinterfragt worden ist (Offe 1983). Im Unterschied zu diesen Diskussionen, in denen es um die Bedeutung von Arbeit als Strukturmerkmal der (industriellen) Gesellschaft oder gar als primärer Stätte der Wirklichkeitserfahrung ging, dient der Arbeitsbegriff in der Soziologie sozialer Probleme und im Neo-Institutionalismus lediglich der Beschreibung situierten, sinnhaften Handelns. Er rückt damit in konzeptionelle Nähe zum Alltagsbegriff der sozialkonstruktivistischen Forschungstradition (Berger/Luckmann 1969). So führt Harris (2008) in seiner Analyse unterschiedlicher Forschungsfelder der konstruktionistischen Soziologie aus: „Reality is not automatic, natural or self-generating; it is created by people`s actions. This broad premise has led to the development of many interesting concepts that build directly on the metaphor of humans as construction workers“ (Harris 2008: 240). Seit dem Aufkommen des ethnomethodologisch und, unter Rekurs auf Douglas (1986), im weiteren Sinne institutionentheoretisch inspirierten Konzepts der Problemarbeit richtet sich das Forschungsinteresse in der Soziologie sozialer Probleme vermehrt auch auf die alltägliche Herstellung konkreter Pro-
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Lucia Schmidt – Raimund Hasse
blemfälle in lokalen Kontexten, von der dabei angenommen wird, dass sie sich in kontextuell vorgezeichneten Bahnen bewegt. Gegenüber dem zunächst dominanten Ausgangskonzept der Claimsmaking Activities nach Spector/Kitsuse (1977) – konzipiert als quasi unternehmerischer Einsatz von relativ autonomen Akteuren, ausgerichtet auf die Etablierung übergeordneter Problemkategorien – lässt sich somit eine Neuausrichtung der Soziologie sozialer Probleme beobachten. Auf den ersten Blick scheint es, als zeichne sich im theoretischen Diskurs des Neo-Institutionalismus eine ganz ähnliche Entwicklung ab: Im Zusammenhang mit der Suche nach einer soliden Mikrofundierung des Neo-Institutionalismus hat man bislang institutionelle Unternehmer und deren zielgerichtete Aktivitäten, die institutionelle Neuerungen initiieren und vorantreiben, in das Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt. Seit einiger Zeit wird nun mit dem Konzept der institutionellen Arbeit ein weiterer Weg der Mikrofundierung des Neo-Institutionalismus diskutiert. Wie zu zeigen sein wird, ist dieses Konzept – trotz deutlicher Unterschiede zu seinem prominenten Vorläufer – im Kern allerdings nicht mehr als eine spezifische Form der Erweiterung. Der Beitrag stellt in Kapitel 2 und 3 die hiermit benannten Konzepte vor und verweist hinsichtlich des Konzepts institutioneller Arbeit auf aussichtsreiche Möglichkeiten der Weiterentwicklung. Kapitel 4 erörtert die Anwendung des Arbeitsbegriffs im Forschungsfeld der Bildungsungleichheit.
2. Arbeit in der Soziologie sozialer Probleme In der Soziologie sozialer Probleme, die Probleme als Konstrukte engagierter Akteure begreift, ist Unternehmertum in gewisser Weise das Ausgangskonzept schlechthin. Für die US-amerikanische Forschungstradition kann heute das Vorliegen von Untersuchungen zu einer „Unmenge an sozialen Problemen“ (Best 2006: 29) verzeichnet werden. Für frühe Studien gilt mehrheitlich, dass sie die gesellschaftliche Schaffung und Etablierung neuer Problemdefinitionen durch engagierte, relativ autonome Claimsmakers behandeln, die sich zielgerichtet und quasi unternehmerisch verhalten. Den hier berücksichtigten Akteuren der Konstituierungsprozesse ist gemeinsam, dass sie einer neuen Problemdefinition zu gesellschaftlicher Anerkennung verhelfen wollen: „Definitions are produced by those who argue for and act on their conceptions of social conditions. Rather than speaking of ‘Society’ in the abstract, we prefer to locate these specific organizations, groups or individuals who take positions and propose specific definitions” (Spector/Kitsuse 1977: 7 f.). Seit dem Aufkommen der konstruktionistischen Perspektive wurden verschiedene Vorschläge zur Kategorisierung von
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Problemproduzenten vorgelegt (siehe z. B. Best 1989). Betroffene sind hier ebenso verortet wie professionelle Experten, soziale Bewegungen und andere Akteure. In der Regel gehen hier zu berücksichtigende Studien davon aus, dass die Definitionsmacht der Akteure nach ihrer Ausstattung mit Ressourcen variiert. Dabei liegt ein weiter Ressourcenbegriff zu Grunde, der sich auch auf Grade an Legitimität und Prestige bezieht, die die jeweiligen Akteure gesellschaftlich genießen. Ebenso wird das – vorhandene oder eben nicht vorhandene – Erfahrungswissen aus vorherigen Beteiligungen an Problematisierungsprozessen berücksichtigt. So sind Schmidt (1999: 43 ff.) zufolge Vertreter der prestigeträchtigen medizinischen Profession, die in erfolgreicher Problematisierung bereits erfahren sind, klar im Vorteil gegenüber als psychisch krank deklarierten Betroffenen, die als Novizen im Problematisierungsprozess agieren und dabei eine Deutung vertreten, die sich von etablierten medizinisch-professionellen Sichtweisen stark unterscheidet. Hilgartner und Bosk (1988) haben in einem einflussreichen Beitrag, in dem von der Konstituierung sozialer Probleme auch als Vermarktung gesprochen wird, noch eher beiläufig auf die Gruppe derjenigen Akteure aufmerksam gemacht, die ihren Beitrag auf vergleichsweise unscheinbare Art in ihrem beruflichen Alltag leisten: „(N)ot all actors who market social problems can be considered ‚activists’. For some, social problems are just another day at the office“ (Hilgartner/Bosk 1988: 57). Wenig später wurde in der konstruktionistischen Soziologie sozialer Probleme das Konzept der Social Problems Work konturiert, das auf die Schaffung von Problemfällen in lokalen Kontexten bezogen ist. Der Arbeitsbegriff findet sich schon in der klassischen Ausformulierung der auf Claimsmaking Activities bezogenen konstruktionistischen Perspektive: „(S)ocial problems activities are the work of many people – journalists, doctors, politicians, social workers, consumer advocates, and union organizers. Many aspects of social problems may be approached through the study of the people who work in various stages of the process of creating social problems” (Spector/Kitsuse 1977: 75, Hervorhebung im Original). Der frühen Konzeptualisierung zufolge besteht die in Problematisierungsprozessen geleistete Arbeit im Wesentlichen in den Strategien, die relativ ungebundene Akteure 1 in der Konstruktion von Problemkategorien wie der Glücksspielsucht (siehe Schmidt 1999; 2007) einsetzen. Das Konzept der Problemarbeit, das nachfolgend in der US-amerikanischen Soziologie sozialer Probleme auf viel Anklang gestoßen ist, weicht von dieser frühen Konzeptualisierung ab. Genauer betrachtet, wird die konstruktionistische Perspektive um wichtige, bislang vernachlässigte Aspekte erweitert. Der Blick richtet sich zunehmend auf 1
Im neo-institutionalistischen Diskurs werden diese oft als ‚unleashed actors’ bezeichnet.
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die „procedures for expressing and applying ... culturally shared categories to candidate circumstances“ (Holstein/Miller 1993: 133), wobei man mit der Soziale-Probleme-Arbeit nun konkret die Praktiken fokussiert, mit denen Problemfälle im lokalen Setting konstruiert werden. Bezogen auf das genannte Beispiel der Glücksspielsucht wären diese z. B. in Einrichtungen der sogenannten Spielerhilfe zu untersuchen (siehe Rossol 2001). Wenngleich der Praxisbegriff im interaktionistischen Konstruktionismus bislang nicht hinreichend präzisiert ist, können mit Marvasti (2008) folgende Eckpunkte benannt werden: „IC rejects individualistic and acontextual interpretations of practice. Similarly, IC does not reduce practice to behavior or verbal utterances that presumably manifest an actor`s motive or intentions. Instead, practice is viewed as ongoing and purposeful action directed at others and mediated by the social context“ (Marvasti 2008: 318). Während die Soziologie sozialer Probleme hier bevorzugt den Arbeitsbegriff verwendet, lassen sich in der Literatur noch weitere Vokabulare identifizieren, die eine Auseinandersetzung mit Praktiken indizieren (siehe Marvasti 2008: 318 f.). Ausformuliert wurde das Konzept der Problemarbeit zuerst in den Arbeiten von D.R. Loseke (1989), G. Miller (1992) und J.A. Holstein (1992). 2 Führende Repräsentanten der amerikanischen Social Problems-Forschung weisen es heute, vor dem Hintergrund zahlreicher empirischer Studien zum Thema, als richtungsweisend und fruchtbar aus (vgl. Best 2004, 2006). In den Worten zentraler Autoren ist ein erklärtes Ziel ihrer Analysen die Erweiterung des konstruktionistischen Forschungsbereichs „to include those practices that link public interpretive structures to aspects of everday reality, producing recognizable instances of social problems“ (Holstein/Miller 1993: 132). Als Orte der Problemarbeit bzw. als lokales Setting, in dem diese stattfindet, stehen Organisationen im Zentrum der Betrachtung. Der organisatorisch- gebliche Einflussgrösse für die Ausformulierung von Problemen und ist in der Untersuchung entsprechend zu berücksichtigen: „While studies of social problems work focus on interpretive practice, they also incorporate context. Not only are social problems representations organizationally produced and preferred models for interpretations, but their use is conditioned by prevailing local preferences, practices and resources. Both image and attachment are organizationally embedded …; categories and practices through which they are applied reflect local interpretative circumstances and culture” (Holstein/Miller 1993: 148). In anderen Worten: Die Interpretationen der Problemarbeiter sind geformt durch die interpretativen Strukturen und Ressourcen, die lokal verfügbar und 2
Der Beitrag von Loseke (1989) blieb als wichtige ‚Anfangsunternehmung’ an anderer Stelle (Schmidt 2008) leider unberücksichtigt.
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akzeptabel sind. In der konkreten, problemkonstituierenden Fallbeschreibung – wie z. B. derjenigen eines jugendlichen Delinquenten – werden jeweils verfügbare Ressourcen nutzbar gemacht, die im Prozess der Sinnzuschreibung zur Anwendung kommen (siehe dazu Holstein/Miller 1993: 144 f.). Damit verläuft Problemarbeit quasi in organisatorisch vorgezeichneten Bahnen, während die Akteure sich bemühen, alltagspraktischen Belangen gerecht zu werden. Insofern Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen in ‚human service and social control settings’ sich schon qua Aufgabenstellung mit Problemfällen und -lagen befassen, gehört Problemarbeit gerade für sie zum Tagesgeschäft und zur Alltagsroutine. Soziale Dienste und Einrichtungen sozialer Kontrolle stellen somit ein vielversprechendes Untersuchungsterrain dar, dem sich empirische Studien bislang auch bevorzugt gewidmet haben (siehe Miller/Holstein 1997). Wie bereits im Falle der Analyse übergeordneter Problematisierungsprozesse nimmt die sprachliche Herstellung von Problemen in der Analyse von Problemarbeit einen zentralen Stellenwert ein. In diesem Zusammenhang ist auf einen frühen Theoriebeitrag hinzuweisen, der Work as Reality Maintaining Activity: Interactional Aspects of Occupational and Professional Work (Miller 1990) zum Titel hat. Sprachliche Äußerungen sind demzufolge zu analysieren als „medium and process through which social realities are formulated, expressed and applied in situations“ (Miller 1990: 165). Darüber hinaus werden accounts – „persons’ use of language to formulate and express accounts through which actions are explained and justified“ (Miller 1990: 165) – hier als besonders relevante Arbeitsform ausgewiesen. Von Loseke (1989) wurde eine Fallstudie vorgelegt, die in diesem Zusammenhang als wegweisend angesehen werden kann. Die Studie untersucht die Aufnahmeentscheidungen der Mitarbeiterinnen eines Frauenhauses und analysiert die – gegenüber Kolleginnen vorgebrachten – Begründungen dafür, wer als legitime Klientin des Frauenhauses gelten kann. Diese Entscheidungen sind im Alltag nicht immer leicht zu treffen, was bedingt, dass sie (auch) gegenüber anderen Mitarbeitern zu erklären und zu legitimieren sind – „in order to protect integrity by establishing that decisions are nonarbitrary, warranted, and noncapricious“ (Loseke 1989: 174). Als Kontext, der die Begründungspraxis gegenüber diesem ‚wissenden Publikum’ informiert, werden spezifische social Problems Claims bzw. Problemerwartungen, formal-organisatorische Strukturen und Rahmenbedingungen der Klientinnenselektion miteinbezogen. Insgesamt zeigt sich: „While worker practical activities of accounting reproduced the social problem of wife abuse and the social collectivitiy of ‘battered woman’, it would be a mistake to imagine these workers as free agents. They were organizational actors, not ‘sovereign beings’, their understandings and practices both reflected and reproduced a larger ‘institutional reality’… . Workers’ categoriza-
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tions and depictions of persons were consistent with their practical understandings of organizational purposes, possibilities, and limitations, and it was these organizational characteristics which led to the all but synonymous depictions of ‘battered woman’ and ‘appropriate client’” (Loseke 1989: 190). Die hierzu komplementäre Forschungsstrategie der Analyse von Client Work – skizziert in Miller (1990) – zielt darauf ab, die Problemarbeit derjenigen zu untersuchen, die sich selbst als berechtigte Klienten und Klientinnen sozialer Dienste präsentieren und dies mehr oder weniger organisationskonform gegenüber den dortigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern begründen (siehe Spencer 1997, 2001). Festzuhalten bleibt, dass das Konzept der Problemarbeit das zuvor so dominante der Claimsmaking Activities in der US-amerikanischen Diskussion keineswegs ersetzt hat. Vielmehr hat es die Perspektive in fruchtbarer Weise um relevante Aspekte und Analyseoptionen ergänzt – und auf diesem Wege eben auch modifiziert. 3 Wie im Folgenden gezeigt wird, bleibt die im neo-institutionalistischen Diskurs nun vermehrt diskutierte institutionelle Arbeit – in der bislang vorliegenden Fassung – ihrem Vorgängerkonzept des institutionellen Unternehmertums in spezifischer Weise stärker verhaftet.
3. Arbeit im Neo-Institutionalismus Der neo-institutionalistische Forschungsansatz wird heute zumeist mit organisations- und makrosoziologischen Fragestellungen identifiziert und diese machen den Kern bislang vorliegender Analysen aus (Hasse 2006). Zwar war mit Zucker (1977) bereits einer der grundlegenden Beiträge zur Fundierung des NeoInstitutionalismus dezidiert mikrosoziologisch ausgerichtet, das theoretische Interesse richtete sich jedoch ions- und Makroebene. Zugleich hat sich aber auch im Neo-Institutionalismus eine akteurs- bzw. handlungsbezogene Ausrichtung etablieren können. Ihren Ausgangspunkt hat diese Entwicklung in einer Wiederentdeckung – in der „rediscovery of purposive agencies, being conceptualized as something which is not covered by institutional factors“ (Hasse/Krücken 2008: 541). Im Zentrum der Aufmerksamkeit steht bislang insbesondere der Akteurstypus des institutional entrepreneurs, der aktiv und zielgerichtet interveniert und auf diese Weise institutionelle Neuerungen initiiert und vorantreibt. Ein wichtiger Grundstein für die bis dato zu verzeichnende Vielzahl von Beiträgen zum
3
In den Worten von Miller (1992: 7): „Analyses of social problems work extend and recast the claims-making perspective by considering how representations of social problems are expressed and applied to candidate cases”.
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Thema institutionelles Unternehmertum wurde von DiMaggio (1988) gelegt. Als wegweisend gilt bis heute insbesondere folgende Textstelle: „New institutions arise when organized actors with sufficient resources (institutional entrepreneurs) see in them an opportunity to realize interests that they value highly“ (DiMaggio 1988: 14). Das zugeordnete Akteursspektrum ist breit gefasst und beschränkt sich nicht auf Organisationen – als bevorzugtem Untersuchungsgegenstand des Neo-Institutionalismus – oder gar heroische Individuen, die sich als institutionelle Unternehmer betätigen. Vielmehr können auch Professionen, so genannte Standardsetzer und soziale Bewegungen in das „engineering of institutions“ involviert sein (vgl. Hasse/Krücken 2008: 542). Festzuhalten bleibt, dass der Begriff des institutionellen Unternehmers in der Regel mit dem Prototyp eines strategisch initiierten, interessen- und machtpolitisch motivierten Institutionenwandels verbunden wird (Beckert 1999) sowie mit Akteuren, die es verstehen, bestehende institutionelle Elemente in innovativer Weise zu neuen Bedeutungen zu rekombinieren und diverse institutionelle Logiken für ihre Zwecke zu nutzen. Der so umschriebene Akteurstypus wurde bislang vielfach als aussichtsreicher Weg der Mikrofundierung des Neo-Institutionalismus angesehen. Auch der Terminus institutional Work findet sich bereits bei DiMaggio (1988), wobei diese Tätigkeitsform als Reproduktionsleistung bestandsinteressierter Akteure, aber auch als Element der Konstitutierung von Institutionen beschrieben wird (DiMaggio 1988: 13 ff.). Der Begriff stieß im neo-institutionalistischen Diskurs anfangs kaum auf Resonanz; nachfolgende Bezugnahmen akzentuierten den Reproduktionscharakter institutioneller Arbeit (so Meyer/Hammerschmid 2006: 169). Mit Lawrence/Suddaby (2006) wurde dann ein Beitrag zur Mikrofundierung des Neo-Institutionalismus zur Diskussion gestellt, der das Ziel hat, die bislang disparaten Untersuchungen, die sich dem Bereich der institutionellen Arbeit zuordnen lassen, unter einem gemeinsamen konzeptuellen Dach zusammen zu führen und die spezifische Forschungsagenda in ihren Grundzügen zu entwerfen. Als Beiträge, die das Konzept der institutionellen Arbeit stützen, werden Paul J. DiMaggios Interest and Agency in Institutional Theory (1988) sowie ein Theoriebeitrag von Christine Oliver (1991) benannt, der mit Strategic Responses to Institutional Processes überschrieben ist. Als zweiter Grundpfeiler fungiert die Soziologie der Praxis, die situierte Handlungen von Individuen und Gruppen zum Gegenstand hat, mit denen diese den Anforderungen in ihrem Alltagsleben begegnen. 4 Mit Schatzki/KnorrCetina/Savigny. (2001) wird demnach angenommen, „that ... the social is a field of embodied, materially interwoven practices centrally organized around shared 4
Eine Zusammenführung von Praxistheorien und Neo-Institutionalismus wird derzeit vermehrt anvisiert (siehe Hasse/Krücken 2005; Florian 2008; Schiller-Merkens 2008).
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practical understandings” (Lawrence/Suddaby 2006: 219). Die Autoren legen dar, dass sie institutionelle Arbeit im Sinne dieser Praxisperspektive als intelligente und situierte Handlungsweisen konzipieren, die sich von strategischen Handlungen autonom agierender Akteure unterscheiden. 5 Definiert wird institutionelle Arbeit hier als „the purposive action of individuals and organizations aimed at creating, maintaining and disrupting institutions“ (Lawrence/Suddaby 2006: 215). Damit handelt es sich um eine vergleichsweise weite Konzeption institutioneller Arbeit, die sich erstens auf die Schaffung, zweitens auf die Aufrechterhaltung bzw. Reproduktion und drittens auf die Zerstörung oder auf das Aufbrechen von Institutionen bezieht. Die Autoren systematisieren zahlreiche vorliegende empirische Untersuchungen zu diesen Themenbereichen und gruppieren sie in drei entsprechende Arbeitskategorien. Auf dieser Grundlage ordnen äten zu, wie sie im Ra hmen empirischer Studien identifiziert worden sind. Das neue Forschungsterrain der institutionellen Arbeit wird abgesteckt als „the sets of practices through which individual and collective actors create, maintain and disrupt the institutions of organizational fields“ (Lawrence/Suddaby 2006: 220). Die analysierten Praktiken lassen sich pointiert als „Anstrengungen kulturell kompetenter Akteure“ (Walgenbach/Meyer 2008: 112) beschreiben. Genauer: Als Anstrengungen von Akteuren, die nicht nur über kulturelle Kompetenz verfügen, sondern auch über starke praktische und sensuelle Fähigkeiten sowie über die Kompetenz, ihre Ressourcen gewinnbringend einzusetzen (vgl. Lawrence/Suddaby 2006: 219). Zugleich wird hervorgehoben, dass hier keine schlichte Rückkehr zum Modell des rationalen Akteurs vollzogen werden soll: „Rather, we draw on an understanding of actors as rational in the sense that they are able to work with institutionally-defined logics of effect or appropriateness …, and that doing so requires culturally-defined forms of competence and knowledge, as well as the creativity to adapt to conditions that are both demanding and dynamic …“ (ebd.: 219). Auf dieser Grundlage wird das Konzept institutioneller Arbeit auf ein breites Spektrum an so befähigten Akteuren bezogen, das auch die vormaligen institutionellen Unternehmer beinhaltet. So betonen Lawrence und Suddaby mit Bezug auf die Schaffung von Institutionen: „(T)he creation of new institutions requires institutional work on the part of a wide range of actors, both those with the resources and skills to act as entrepreneurs 5
Demnach ist die Untersuchung institutioneller Arbeit nicht „intended to move back to an understanding of actors as independent, autonomous agents capable of fully realizing their interests through strategic action; instead, a practice perspective highlights the creative and knowledgeable work of actors which may or may not achieve its desired ends and which interacts with existing social and technological structures in unintended and unexpected ways“ (Lawrence/Suddaby 2006: 219).
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and those whose role is supportive or facilitative of the entrepreneurs endeavours …” (ebd.: 217). Wie ersichtlich, werden die Unterstützer von unternehmerisch Arbeitenden hier (zumindest implizit) als vergleichsweise minderbemittelte Akteursvariante beschrieben, die entsprechend ‚gewöhnlichere’ Arbeitsleistungen erbringen. Die vorgeschlagene Definition von bestandserhaltender Arbeit stellt zunächst ihren absichtsvollen Charakter heraus: „In general, institutional work aimed at maintaining institutions involves supporting, repairing or recreating the social mechanisms that ensure compliance. Thus, in reviewing the empirical institutional literature for instances of such work, we searched for any concrete description of an actor engaged in some activity that was intended to maintain the controls which underpinned an institution“ (Lawrence/Suddaby 2006: 230). Die Analyse der empirischen Beiträge zur Aufrecht- bzw. Bestandserhaltung von Institutionen resultiert allerdings in der wichtigen Beobachtung, dass die Bandbreite der geleisteten Arbeit entlang eines sogenannten Kontinuums der Verständlichkeit angesiedelt werden kann (ebd.: 234). Demnach sind diejenigen Arbeits- bzw. Praxisformen, die der Aufrechterhaltung von Regelsystemen dienen – begrifflich umschrieben als ‚enabling, policing and deterring’ – durch einen hohen Grad an Verständlichkeit gekennzeichnet in dem Sinne, dass sich die beteiligten Akteure über die mit ihrer Arbeit verbundenen Absichten und Einflüsse im Klaren sind. Am anderen Ende des Spektrums befindet sich die Reproduktion von Normen und Glaubenssystemen – untergliedert in die Praktiken ‚valorizing/demonizing, mythologizing and embedding/routinizing’. Für diese wird angenommen, dass sie von den Akteuren nicht verstanden werden: „(T)he actors engaged in the routines and rituals of reproduction appear to be largely unaware of the original purpose, or the ultimate outcome, of their actions“ (Lawrence/Suddaby 2006: 234). Hervorzuheben ist, dass Routineaktivitäten und rituellen Praktiken eine ursprüngliche Verständlichkeit nicht abgesprochen wird. Vielmehr wird angenommen, dass diese den Akteuren quasi entglitten bzw. verloren gegangen ist. Eine zweite wichtige Beobachtung, die sich den Autoren zufolge aus der Analyse ergibt, ist, dass die Aufrechterhaltung von Institutionen nicht per se mit Stabilität oder der Abwesenheit von Veränderung gleichgesetzt sollte. Weit eher gelte, dass aufrechterhaltende Arbeit einige Mühen erfordert und häufig überhaupt erst als Resultat einer ‚Unruhe’ in der Organisation oder ihrer Umwelt auftritt (ebd.). In ihrer Darstellung von Untersuchungspfaden, auf denen die Erforschung institutioneller Arbeit vorangetrieben werden kann, weisen die Autoren unter anderem zwei Ausrichtungen hohe Bedeutung zu, die auch in der Soziologie sozialer Probleme ihren Stellenwert haben. Dabei handelt es sich zum Einen um die Untersuchung von Rhetorik als sprachlich-strategischen Überzeugungsver-
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suchen, wie sie z. B. in Suddaby/Greenwood (2005) vorgenommen wird. Zum Anderen handelt es sich um die Untersuchung sprachlich transportierter Mythen bzw. legitimierender Erklärungen (accounts). Hier kann beispielhaft eine Studie zur Diskriminierung am Arbeitsplatz (Creed/Scully/Austin 2002) angeführt werden. Hervorzuheben ist, dass die Untersuchung von accounts an klassische institutionalistische Beiträge anknüpfen kann, in denen die Relevanz verfügbarer Vokabulare bereits klar herausgestellt worden ist. So stellen Meyer/Rowan (1977) fest: „The incorporation of institutionalized elements provides an account (Scott and Lyman 1968) of its activities that protects the organization from having its conduct questioned. The organization becomes, in a word, legitimate and it uses its legitimacy to strengthen its support and secure its survival ... The labels of the organization chart as well as the vocabulary used to delineate organizational goals, procedures, and policies are analogous to the vocabularies of motive used to account for the activities of individuals …” (Meyer/ Rowan 1977: 349). 6 Auf zentrale Kritikpunkte und Weiterentwicklungsmöglichkeiten, die sich in der Auseinandersetzung mit dem Konzept institutioneller Arbeit ergeben, kann im Rahmen des vorliegenden Beitrags nur in aller Kürze eingegangen werden. Vor allem ist festzuhalten: Indem Lawrence/Suddaby (2006) institutionelle Arbeit im Kern als quasi-unternehmerische Aktivität kulturell kompetenter Akteure konzipieren, vertreten sie ein Akteurs- und Handlungskonzept, das mit demjenigen des institutional entrepreneurs noch weitgehend übereinstimmt. Die Tragfähigkeit des Konzepts ist allerdings in Frage zu stellen, da eine grundlegende Kritik im Raume steht. Dieser Kritik zufolge hat der Neo-Institutionalismus mit der Öffnung für einen strategischen Umgang mit Institutionen „seine theoretische Grundlage, nämlich das auf der Arbeit von Berger/Luckmann basierende Verständnis von Institutionen als internalisierten Selbstverständlichkeiten des alltäglichen Lebens, preisgegeben und beschäftigt sich eigentlich gar nicht mehr mit institutionalisierten Praktiken (Tolbert/Zucker 1983)“ (Meyer/ Hammerschmid 2006: 167). Diese fundamentale methodologische Inkonsistenz ist demnach im neo-institutionalistischen Diskurs schon frühzeitig problematisiert worden. Aufzulösen ist sie im Rahmen des vorgestellten Konzepts institutioneller Arbeit nicht, da hier von absichtsvollen Handlungen ausgegangen wird. Mit einer Konzeptualisierung, die den alltäglichen Charakter und die kontextuelle Einbettung institutioneller Arbeit stärker herausstellt, kann dem Problem methodologischer Inkonsistenz aber entgegengewirkt werden. In Hinblick auf diesen naheliegenden Vorschlag ist ein aktueller Beitrag von Powell/Coly6
Zucker (1977: 728) spricht von „ready-made accounts”, an denen sich die erfolgreiche Institutionalisierung von Handlungen erkennen lässt.
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vas (2008) weiterführend. Den Autoren zufolge werden Individuen, die derzeit die institutionalistische Analyse bevölkern, entweder als ‚cultural dopes’ oder als heroische Agenten beschrieben. Zwar seien Letztere aus guten Gründen in den Blick genommen worden, das zugehörige Konzept wurde seither jedoch womöglich überstrapaziert. 7 Die Autoren schlagen ihrerseits nun die Suche nach einem dritten Weg zwischen habitualisierter Wiederholung und schlauen Agenten des Wandels vor. Ausgangsannahme ist hierbei, „that most micro motives are fairly mundane, aimed at interpretation, alignement, and muddling through” (Powell/Colyvas 2008: 277). Im Zusammenhang mit der Fokussierung des alltäglichen Charakters von Institutionen (re-)produzierenden Aktivitäten wird angemahnt, dass es nun an der Zeit sei, sich verstärkt der Frage zuzuwenden, „how the local affairs of existing members of a field can both sustain and prompt shifts in practices and conventions. The ongoing activities of organizations can produce both continuity and change, as such pursuits vary across time and place” (ebd.). Die Analyse richtet sich demnach zuvorderst auf alltägliche, lokal situierte Praktiken, die Institutionen (re-)produzieren. Hinsichtlich nützlicher Theoriebausteine, die dabei verwendet werden können, wird von Powell/Colyvas ein breites Spektrum benannt und zusammenfassend diskutiert, das von der Ethnomethodologie über Goffman`s Interaction Rituals und Weicks Theorie des Sensemaking in Organizations (Weick 1995) bis hin zur sozialpsychologischen Legitimationsforschung reicht. Festzuhalten bleibt, dass vor dem Hintergrund dieses Entwurfs eine Modifikation des Konzepts institutioneller Arbeit angezeigt erscheint, die einer Annäherung von Neo-Institutionalismus und Soziologie sozialer Probleme in diesem Forschungsfeld ganz offensichtlich entgegenkäme. Darüber hinaus liegt es nahe, das Konzept institutioneller Arbeit stärker auf den Aspekt der Aufrechterhaltung von Institutionen zu fokussieren. Die Empfehlung, nicht länger Fragen der Schaffung oder Auflösung, sondern solche der Aufrechterhaltung bzw. Reproduktion von Institutionen in den Vordergrund zu rücken, stößt im Neo-Institutionalismus derzeit vielfach auf Resonanz (vgl. Delbridge/Edwards 2007: 202). Diese Fragen gelten nun als große, aber bislang vernachlässigte Herausforderung und Analysen zum Themenbereich werden dementsprechend als besonders lohnendes Erfordernis dargestellt (Scott 2007). Wenngleich Lawrence/Suddaby (2006: 234) daraus keine Schlussfolgerungen für das von ihnen vorgeschlagene Konzept ziehen, formulieren auch sie For7
„The move to consider institutional entrepreneurs was motivated by a desire to replace the over-socialized individuals who seemed slavishly devoted to habit and fashion. But the celebration of entrepreneurs has perhaps gone to far, as not all change is lead by entrepreneurs, and surely heroic actors and cultural dopes are a poor representation of the gamut of human behaviour” (Powell/Colyvas 2008: 277).
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schungsperspektiven in diese Richtung: „We clearly need to focus more attention on the ways in which institutions reproduce themselves. Indeed, this may be a more fundamental question for institutional research, in many respects, than the question how institutions are created. While institutional entrepreneurs are interesting because of the scale and scope of the product of their actions, the real mystery is how social structures can be made self-replicating and persist beyond the life-span of their creators”.
4. Bildungsungleichheit als Forschungsfeld Im konkreten Bezug auf das Forschungsfeld der Bildungsungleichheit soll im Folgenden verdeutlicht werden, inwiefern der skizzierte arbeitsanalytische Zugang eine aussichtsreiche Ergänzung oder Alternative zu bisherigen Forschungsperspektiven darstellen kann. Dazu werden zentrale Ausrichtungen und Befunde der neueren deutschsprachigen Bildungsforschung vorgestellt, die mit dem Problem der ungleichen Bildungschancen von Kindern mit Migrationshintergrund befasst ist und sich dabei insbesondere auf zentrale Schnittstellen im ! " #
Anwendung des Arbeitskonzepts im Forschungsfeld Institutionelle Diskriminierung konturiert. Mit John W. Meyer (1977) kann Bildung als hochentwickelte Institution moderner Gesellschaften beschrieben werden, als „system of social legitimation which confers success on some and failure on others“. Schulen sind demzufolge Erfahrungsorte eigener Art: „ (A) student is in a position of experiencing (a) the immediate socializing organization, (b) the fact that this organization has the allocating power to confer status on him, and (c) the broader fact that this allocation power has the highest level of legitimacy in society” (Meyer 1977: 75). Organisationen des Bildungs- und Ausbildungsbereichs und die in diesem Kontext vorfindbaren (Entscheidungs-)Praktiken beeinflussen individuelle Chancen und Lebensmöglichk $ % ' *
Untersuchung von institutioneller (Problem-)Arbeit besondere Aufmerksamkeit zuteil werden zu lassen. In diesem Zusammenhang kann ein Hauptaugenmerk der (Re-)produktion von Bildungsungleichheit gelten. Dies auch vor dem Hintergrund, dass Ungleichheitsthemen im aktuellen sozialwissenschaftlichen Diskurs einen hohen Stellenwert einnehmen. Im Bereich des Neo-Institutionalismus haben Beiträge zu Themen sozialer Ungleichheit gleichwohl noch Ausnahmecharakter. Sieht man einmal ab von neo-institutionalistischen Analysen des modernen Wohlfahrtsstaates (Hasse 2003; Strang/Chang 1993), liegen sie vornehmlich in Form
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makrosoziologischer Reflexionen zur Stratifikation in der modernen Gesellschaft und zum Ideal der Bildungsgleichheit vor (siehe Meyer 2001a, 2001b). Die konstruktionistische Problemsoziologie ist hinsichtlich des Themas ‚Soziale Ungleichheit’ sicher auch als Nachzügler zu bezeichnen; es gewinnt dort aber derzeit sichtbar an Bedeutung. So sind aktuelle Beiträge zu verzeichnen, die inhaltliche und methodische Grundlegungen des Themenbereichs vornehmen (Harris 2006; Berard 2006) oder sich in empirischen Fallstudien mit Ungleichheit befassen (Berbrier/Pruett 2006). 8 Bildungsungleichheit manifestiert sich u. a. darin, dass die ethnisch-kulturelle Herkunft in vielen Ländern bis heute eine maßgebliche Determinante des Bildungserfolgs darstellt. So belegen vorliegende bildungsstatistische Daten für die Schweiz nahezu ausnahmslos die Überrepräsentation von Schülern und Schülerinnen mit Migrationshintergrund in niedrig qualifizierenden bzw. ihre Unterrepräsentation in höher qualifizierenden Schulen (vgl. Kronig 2003a: 126 f.). Zu verzeichnen ist eine stabile, bereichsweise sogar zunehmende und dauerhafte Ungleichverteilung von Bildungschancen entlang ethnischer Kriterien. Wissenschaftliche Studien richten den Blick nun verstärkt auf Ursachen und Mechanismen, die der Reproduktion von Bildungsungleichheit zugrunde liegen. Mit dem Übertritt von der Grundschule in die verschiedenen Schulformen der Sekundarstufe I wird eine entscheidende Weichenstellung für die weitere Schullaufbahn vollzogen. In den letzten Jahren ist die Forschung zur Übertrittsproblematik in den deutschsprachigen Ländern erkennbar intensiviert worden (siehe z. B. Baeriswyl et al. 2006; Ditton/Krüsken 2006; Kristen 1999). Ausgelöst wurde das vermehrte Interesse unter anderem durch Befunde der ersten PISA-Studie, die auf einen bedeutsamen Zusammenhang zwischen familiärem Hintergrund der Schüler und Schülerinnen und den Übertrittsentscheidungen hingewiesen haben (vgl. Baumert/Schümer 2001). Mit Blick auf die soziale Herkunft kann dieser Zusammenhang heute als gesichert gelten (Ditton/Krücken/Schauenberg 2005). Unterschieden wird dabei zwischen primären und sekundären Effekten der sozialen Herkunft als Mechanismen der Reproduktion von sozialer Ungleichheit (Boudon 1974). Während sich der primäre Effekt auf herkunftsbedingte Leistungsunterschiede bezieht (verursacht durch schichtspezifische Sozialisationsbedingungen), beschreibt der sekundäre Effekt die über Leistungsunterschiede hinausgehenden Differenzen in den familialen Bildungsentscheidungen. Zu den vielzitierten Befunden zählt hier, dass die Bildungsaspirationen der Eltern sozial selektiver sind und sich deutlich weniger an den Leis-
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Nach eigener Einschätzung findet man sich dabei in bester Gesellschaft, denn zu den „recent trends in sociology (and related social sciences)“ zählt „an ever-increasing consensus that ‚inequality’ should be the central theme of social research“ (Harris 2006: 223).
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tungen der Kinder orientieren, als dies für die Empfehlungen der Lehrkräfte zum weiterführenden Schulbesuch gilt (Ditton 1989; Ditton/Krücken/ Schauenberg 2005). Auch für Lehrerempfehlungen ist aber ein Zusammenhang mit sozialen Merkmalen wie Schülergeschlecht und Migrationshintergrund nachweisbar, wie u. a. neuere Auswertungen der deutschen Daten der IGLU-Studie belegen (siehe Stubbe/Bos 2008). Generell gilt, dass nun verschiedene Erklärungsansätze für die geringeren Bildungserfolge von Kindern mit Migrationshintergrund vorliegen, die – je nach Schwerpunktsetzung des jeweiligen Beitrags – in unterschiedlicher Weise systematisiert und gewichtet werden. So unterscheidet Diefenbach (2007) die kulturell-defizitäre und die humankapitaltheoretische Erklärung, die Erklärung durch Merkmale der Schule oder Schulklasse und die Erklärung durch institutionelle Diskriminierung. Zugleich wird verdeutlicht, dass die verschiedenen Ansätze mehrheitlich „bei weitem nicht so gut durch empirische Forschung geprüft sind, wie man angesichts der Brisanz von Bildungsfragen ... meinen sollte“ (Diefenbach 2007: 235). Die derzeitige Befundlage im Forschungsfeld verweist auf ein multifaktorielles Bedingungsgefüge. Demnach wirken verschiedene au- und innerschulische Einflussgrö + -Choice-Theorien orientierten Erklärungsmodelle des individuellen Bildungsverhaltens zugrunde gelegt werden. In diesem Zusammenhang sind bereits mehrere langfristig angelegte Projekte initiiert worden, die auf die empirische Analyse der Entstehung elterlicher Bildungsaspirationen und der Formation von Bildungsentscheidungen im Familienund Haushaltskontext ausgerichtet sind (siehe Becker/Lauterbach 2007: 11 f.). Pointiert formuliert, modellieren die neueren, auf Boudon (1974) zurückgehenden Ansätze der rationalen Schulwahlentscheidungen Bildungsverläufe grundsätzlich als Ergebnis von rationalen Bildungsentscheidungen, die unter # >* $ *
individuellen Präferenzen oder Zielvorgaben (im Sinne der Kosten-Nutzen Abwägung von Bildungsinvestitionen) getroffen werden. Institutionelle Strukturen des Bildungssystems werden also berücksichtigt, aber lediglich als Kontextbedingungen für individuelle Entscheidungsprozesse. Benachteiligende Effekte
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der Schule auf Bildungslaufbahnen spielen in diesen Ansätzen keine Rolle (vgl. Dravenau/Groh-Samberg 2005: 106 f.). Einer so ausgerichteten Perspektive stehen Erfahrungen von versagter Anerkennung oder erlebter Diskriminierung gegenüber, wie sie etwa in qualitativen Studien zu Bildungsbiographien von Migranten und Migrantinnen dokumentiert sind (Juhasz/Mey 2003; Schulze 2007). Folgt man den Analysen des Schweizer Bildungsforschers Kronig, werden ausserschulische Ursachen, insbesondere in Hinblick auf die deutliche Überrepräsentation von Kindern mit Migrationshintergrund in Klassen mit besonderem Lehrplan, stark überschätzt (Kronig et al. 2000; Kronig 2003a, 2003b, 2007). Es kann vielmehr angenommen werden, dass Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund durch die Selektionsmechanismen der Schule und eine ungleiche Zuweisungspraxis zu den verschiedenen Schultypen systematisch benachteiligt werden. Die Relevanz dieser schulimmanenten Einflussfaktoren ist in der Schweiz insbesondere für die Zuweisungen zu Sonderschulen und -klassen belegt (siehe z. B. Kronig/Haeberlin/ Eckhart 2000; Lanfranchi 2005a, 2005b). Schulverursachte Benachteiligung zeigt sich – in der Schweiz und andernorts – aber auch hinsichtlich des Übertritts in die Sekundarstufe I und ihre verschiedenen Regelschultypen. 9 Zugleich sind allerdings die Befunde von Studien in Rechnung zu stellen, die vielfach als Gegenevidenzen gegen die Annahme einer Benachteiligung von Migranten bei weiterführenden Bildungsentscheidungen angeführt werden (Esser 2001; Kristen 2002, 2006). So kommt Kristen (2006) in einer neueren, an Rational-Choice Ansätzen orientierten Untersuchung zu dem Schluss, dass „derzeit keine Anzeichen dafür zu bestehen scheinen, dass Grundschulkinder aus bestimmten Herkunftsgruppen systematisch diskriminiert werden und deshalb am ersten Bildungsübergang schlechter abschneiden als Mitschülerinnen und Mitschüler ohne Zuwanderungshintergrund. Gleichzeitig kann diese Schlussfolgerung in Anbetracht der begrenzten Datenlage nur vorsichtig gezogen werden und sollte deshalb in zukünftigen Studien einer rigoroseren Prüfung unterzogen werden“ (Kristen 2006: 94). Entsprechend und mit konkretem Bezug auf institutionelle Diskriminierung warnt auch Diefenbach (2007) vor voreiligen Interpretationen angesichts der bislang spärlichen Datenlage und stellt den Forschungsbedarf hinsichtlich des Beitrags der Schule und der Lehrer zur Reproduktion von ungleichen Bildungschancen deutlich heraus. Dieser spezifische Forschungsbedarf wird in der Bildungsforschung nun weitgehend übereinstimmend geltend gemacht – so auch von Ditton (2007), der unterschiedliche Schwerpunktsetzungen bislang vorliegender Studien zum Beitrag von Schule und Leh9
Als Überblick über Schweizer Forschungsergebnisse zur Chancengerechtigkeitsproblematik über alle Bildungsstufen hinweg siehe Coradi Vellacott/Wolter (2005).
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rern herausarbeitet. Zugleich tritt Ditton für eine Anwendung des RationalChoice Ansatzes auch auf Handlungsweisen und Bildungsempfehlungen von Lehrern ein und erörtert diesbezügliche Eckpunkte. Mit dem Rational-Choice Ansatz wird wiederum eine deutlich individuenzentrierte Sichtweise angeraten, diesmal bezogen auf die Beurteilung und Selektion durch einzelne Lehrpersonen. Auch Ansätze, die subjektive Vorurteile und Einstellungen von Lehrerinnen und Lehrern fokussieren, beziehen sich auf individuelles Entscheidungsverhalten. Eine Alternative hierzu ist es, das Problem nachhaltiger Chancenungleichheit als Resultat von Prozessen zu konzipieren, die weitgehend unabhängig von einzelnen Personen und deren aktuellen Interessen, Motivlagen und Strategien wirken, und die Organisation Schule deutlich stärker ins Zentrum der Aufmerksamkeit zu rücken. Schulische Selektionsentscheidungen und darauf bezogene Darlegungen von Akteuren lassen sich hier konzeptuell als Alltags- bzw. Arbeitspraktiken fassen. Wichtige Anschlüsse liefern zum Einen einzelne Studien, in denen Selektionsentscheidungen als Problem professionellen Lehrerhandelns untersucht worden sind. Lehrerbeurteilungen gelten dabei auch als „Praxis einer in Organisationen tätigen Profession“ (vgl. Terhart/Langkau/Lüders 1999; Lüders 2001a, 2001b). Zum Anderen sind selbstverständlich vorliegende Studien zu berücksichtigen, die institutionelle Diskriminierung und damit den Zusammenhang von Organisation und sozialer Ungleichheit zum Fokus haben. Der Schul- und Ausbildungskontext bildet im Rahmen neuerer deutschsprachiger Untersuchungen zum Thema einen Schwerpunkt der empirischen Forschung. Das Forschungsinteresse richtet sich insbesondere auf die Identifizierung grundlegender Mechanismen institutioneller Diskriminierung – d. h. von organisatorischen Strukturen, Regeln und Praktiken, die Diskriminierungseffekte hervorbringen (Bommes/Radke 1993; Gomolla/Radtke 2002; Berger/Kahlert 2005a). Die Ursachen von Benachteiligung werden in organisatorischem Handeln lokalisiert und ‚normale‘ Strukturen und Praktiken in Organisationen rücken ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Hinsichtlich der konkreten Entscheidungsfindung diskriminierender Akteure gilt allerdings, dass diese sich bei aller Aufmerksamkeit in situ kaum beobachten lässt. Zugänglich und ertragreich sind aber nachträglich vorgetragene Begründungen, die der Legitimation der Entscheidungen dienen. Folgt man Gomolla/Radtke (2002), sind die Strukturierung von Entscheidungen und die Zuschreibung von Sinn über retrospektive Begründungen unschwer erfassbar (siehe Schmidt 2008). In jedem Fall lassen sich retrospektive Begründungen für benachteiligende schulische Selektionsentscheide als relevante Form der Problemarbeit verstehen, mit deren Analyse wichtige Einblicke in den Untersuchungskontext Schule gewonnen werden können. Von einem hinreichenden
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Forschungsbedarf ist schon deshalb auszugehen, weil „die institutionen- und/ oder organisationssoziologische Perspektive eine zentrale und bislang wenig angenommene Herausforderung für die sozialwissenschaftliche Bildungsforschung darstellt“ (Berger/Kahlert 2005b: 14). Eine Herausforderung innerhalb dieser zentralen Herausforderung liegt nun darin, auch die Schullaufbahnentscheidungen, die von Eltern und Schülern bzw. Schülerinnen getroffen werden, stärker in ihrem institutionellen Kontext zu verorten. Gomolla und Radtke (2002: 254) verweisen darauf, dass es sich bei Schülerinnen und Schülern um Organisationsmitglieder handelt, die gegenüber Lehrer und Lehrerinnen, denen die Leistungsrolle zukommt, die Komplementärrolle des – in spezifischer Weise unterstützungsbedürftigen – Klienten einnehmen. Somit könnte mit Blick auf Schülerinnen und Schüler von Client Work gesprochen werden. Auch mit Blick auf die Eltern scheint der Klientenbegriff zumindest in bestimmten Situationen nicht unpassend zu sein. So steht zu vermuten, dass erfolgreich absolvierte Schulaufnahmegespräche und anberaumte Elterngespräche mit gutem Ausgang u. a. auch der organisationskompatiblen Klientenarbeit von Eltern geschuldet sind, die über entsprechende Wissens- und Sprachressourcen verfügen. Hinsichtlich der Formation von Bildungsentscheidungen der Eltern und Schülerinnen oder Schüler sind – neben prägenden Erfahrungen mit der Institution Schule – noch weitere Kontexte mitzuberücksichtigen. Bevor man allerdings die Aufmerksamkeit wieder auf Schüler oder Schülerinnen und Eltern verlagert, gilt es, den Beitrag von Schule und Lehrpersonal zur Reproduktion von ungleichen Bildungschancen deutlich herauszuarbeiten.
5. Fazit Wie auch der Titel des vorliegenden Readers verdeutlicht, lassen sich neben dem Arbeitsbegriff derzeit noch weitere Vokabulare identifizieren, die die Auseinandersetzung mit Praktiken indizieren (siehe Marvasti 2008: 318 f.). Die in der US-amerikanischen Problemsoziologie etablierte und im Neo-Institutionalismus nun vermehrt diskutierte „metaphor of humans as construction workers“ (Harris 2008: 240) steht in diesem Zusammenhang für eine Perspektive, die Praktiken in ihrem (organisatorisch-)institutionellen Kontext analysiert. Die in den obigen Ausführungen konturierte Perspektive scheint überdies geeignet, in unterschiedlichen Forschungsfeldern eingesetzt zu werden. Dementsprechend ist eine Begrenzung der Erforschung von Problemarbeit auf die ‚üblichen Verdächtigen’ im Bereich der human service and control settings (Sozialarbeit, Polizei etc.) unseres Erachtens weder erforderlich noch wünschenswert. Denn: Im Kontakt mit Kunden, Klienten oder anderen Organisationsmitgliedern kommt es
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auch andernorts vielfach zu Problemen. Zugleich ist davon auszugehen, dass z. B. die Notwendigkeit einer Inanspruchnahme von Einrichtungen der Sozialfürsorge nicht selten auch durch zeitlich vorgelagerte Problemarbeit in Schulen, Ausbildungsbetrieben und Wirtschaftsunternehmen (mit-)verursacht wird. Will man folgenreiche Arrangements und Arbeitspraktiken untersuchen, stellen diese Organisationen zweifellos ein lohnendes Untersuchungsterrain dar.
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Zur organisationalen Verfertigung von Behinderung Über den kollektiven Umgang mit Differenz anhand neuerer organisationstheoretischer Sprachangebote 1
1. Über den Sinn eines Nachdenkens über Behinderung Die Auseinandersetzung mit dem Phänomen von Behinderung erfolgt funktionsgemäß vor allem in den Bereichen der Sonder- bzw. Integrations- bzw. Rehabilitationspädagogik sowie der Sozialpädagogik (Wissenschaft), der Beschulung (Erziehung) der Sozialarbeit (Soziale Unterstützung) und der Sozialpolitik (Politik). In der Soziologie wird es kaum, und wenn überhaupt, nur als Randerscheinung behandelt (Bendel 1999), eine organisations- bzw. managementtheoretische Auseinandersetzung fehlt; es scheint hier vor allem an Anlässen und sinnhaften Bezügen zu aktuellen Problemen zu mangeln. Nun verkörpert Sinn als Kategorie immer die Selektion aus einer Fülle von prinzipiell Möglichem und so soll im Folgenden ein organisationstheoretischer Zugriff darauf in der Vermutung einiger nicht nur „sinnvoller“, sondern auch überaus nützlicher Bezüge für Organisationstheorie und Integrationspraxis versucht werden. Vermutet werden mehrere Aspekte: Zunächst wird am Begriff von Behinderung ein Stück jüngster sozialwissenschaftlicher Wissenschaftsgeschichte sichtbar. Weiterhin – und das dürfte die organisationstheoretisch und soziologisch interessante Vermutung sein – wirkt Behinderung bei der Analyse von (organisationalen) Sinnprozessen als eine Art „Treibmittel“, das prinzipiell ablaufende Prozesse, Zusammenhänge und Phänomene sehr kontrastreich und feinkörnig hervortreten lässt. Schließlich eröffnet sich auch aus interventionistischer Sicht ein anders gelagerter, wenn auch keineswegs einfacherer Zugang.
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Leicht überarbeitete und gekürzte Fassung aus: Soziale Probleme 13/2 (2002): 185-200.
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Im Folgenden werden diese Vermutungen angerissen. Zunächst geht es um die skizzenhafte Aufarbeitung von Begrifflichkeiten (Kapitel 2), der soziologische Begriff des Stigmas und der Stigmatisierung wird unter dem Lichte neuerer systemtheoretischer bzw. organisationstheoretischer Entwicklungen einer Revision unterzogen (Kapitel 2 und 3), Behinderung wird als konfliktreicher und problematischer Sinnstiftungsanlass in Organisationen gekennzeichnet (Kapitel 4-6) und schließlich werden knapp integrationspraktische Konsequenzen (Kapitel 7) gestreift.
2. Begrifflichkeiten Eine Auseinandersetzung mit den organisationalen Auswirkungen der Beschäftigung von Menschen mit Behinderung bedarf klarer und scharfer Begrifflichkeiten. Daher geht es im Folgenden um einen knappen Umriss von drei wesentlichen Begriffen: Behinderung, Organisation und Sinn. 2.1 Zum Begriff von Behinderung Behinderung als soziales Konstrukt Die sozialwissenschaftliche Fassung des Behinderungs-Begriffs hat in den letzten 40 Jahren einige durchaus dramatische Veränderungen erfahren. Waren bis in die 1980er Jahre noch medizinistische, an Funktionseinschränkungen und Defiziten der Individuen orientierte Verständnisse vorherrschend, kam es im Zuge des intensiveren sozialwissenschaftlichen Zugriffs zu einem Wechsel in der Begriffs-Logik. Ausgehend von interaktionistischen Formulierungsversuchen (insbesondere Goffman 1967 [1963]) schlugen ab den 1980er Jahren auch zunehmend konstruktivistische (Walthes 1997; Münch 1997; Wetzel 1999) und systemtheoretische (Fuchs 2002, 1995; Fuchs et al. 1994) Einflüsse auf die Begriffsbildung durch (siehe überblicksartig Bendel 1999). In Folge dessen löste nicht mehr ein defizitäres Merkmal einer Person die Behinderungseigenschaft aus, sondern die Zuschreibung einer Andersartigkeit durch die soziale Umgebung einer Person. Behinderung wurde als ein soziales Konstrukt beschrieben, das durch Zuschreibung zu sozialer Realität gerinnt und dabei zu Benachteiligungen führt. Vor allem im sonderpädagogischen Bereich wurde im Laufe dieser Entwicklungen mehrfach von einem radikalen Paradigmenwechsel gesprochen, der bis hin zur (rhetorischen) Selbst-Infragestellung der Disziplin führte
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(siehe Eberwein 1998; Bleidick 1988). Demzufolge kann Behinderung gefasst werden als x Resultat einer kollektiv verdichteten, geteilten Unterscheidung, die x im Laufe von Kommunikationsprozessen anhand von Phänomenen, die die Beteiligten mit in die Kommunikation einbringen (Körperlichkeiten), entwickelt und als x negativ konnotierte Abweichung von einer abstrakten, kollektiv konstruierten Norm gedeutet wird. Im Zuge dieser Entwicklung geriet der Körper zusehends aus dem Blick. Dies lag durchaus in der Intention vieler Wissenschaftler und auch Anwender, da mit dem Abstand zum Körper auch der Abstand zu einer defektologischen, an psychophysischen Merkmalen orientierten Beschreibung wuchs und damit die direkte „Schuldfähigkeit“ bzw. Verantwortlichkeit des Individuums für seine Behinderung überbrückt wurde. 2.2 Behinderung als Aspekt von Körperlichkeit Die neuere systemtheoretische Literatur bietet jedoch einige sehr vielversprechende Angebote, Körperlichkeit wieder in den Blick zu nehmen. Dies findet sich zunächst in originär auf das Problem der Behinderung fokussierten Arbeiten (Fuchs 1995, 2002); des Weiteren erfährt Körperlichkeit auch prinzipiell eine eigene systemtheoretische Bearbeitung, v. a. durch Karl-Heinrich Bette (siehe Bette 1999: 58 ff., 1989). Insbesondere aus der Argumentation von Peter Fuchs geht hervor, dass Behinderung auch als „Behinderung von Kommunikation“ (Fuchs 1995) gedeutet werden kann. Behinderung verweist demnach trotz (und auch wegen) aller sozialer Konstruktion auch auf den Aspekt von Körperlichkeit und damit einhergehenden strukturellen Koppelungsproblemen (Luhmann) bei der Partizipation an Kommunikation. Dieses Kopplungsproblem ist von allen Menschen prinzipiell zu bewältigen, da psychische Systeme nicht ohne weiteres miteinander kommunikationsfähig sind (siehe dazu ausführlicher Aderhold/Jutzi 2002; Fuchs 2001; Luhmann 1993). Behinderte Menschen haben diesbezüglich ein besonderes Problem, sich auf die in der „Normalkommunikation“ anstehenden „Normalkommunikationsanforderungen“ einzustellen. Jemand, der nicht sprechen kann, hat also schon aus körperlichen Gründen und aus den kommunikativ eingespielten Mindestanforderungen, die an die Teilnehmer in Interaktionen gestellt sind (z. B. Sprechen können), Probleme. Es handelt sich also um allgemeine Probleme, die natürlich je nach Systemkontext (Politik, Wissenschaft, Interaktion, Organisation, Netzwerk) variieren, und im Falle von
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Behinderungen noch gesteigert werden. Mit den beiden unterschiedlichen und auch gegensätzlichen Aspekten von Behinderung wird auf ein grundsätzlich vorliegendes Paradoxon von Kommunikation verwiesen: Kommunikation ist ebenso sozial konstruiert und körperlos wie auch körpergebunden; in dieser paradoxen Situation findet sich schließlich jedes Individuum wieder. 2.3 Fazit Prinzipiell soll Behinderung jedoch hier nicht als Eigenschaft einer Person oder die Verschiedenheit einer Person gelten, sondern einen (!) Umgang mit Verschiedenheit im Rahmen von gesetzten Unterscheidungen in Kommunikationsprozessen (Walthes 1997: 91) bezeichnen. Behinderung stellt, wie noch ausführlicher dargestellt wird, ein Erklärungsmuster zur Bezeichnung und Bewältigung der (selbst) getroffenen Unterscheidung dar. Es erklärt die in die Kommunikation eingebrachten Phänomene (Körperlichkeiten), indem diese als Eigenschaften der jeweiligen Person bezeichnet und definiert werden. Aus einer solchen Erklärung und der daraus resultierenden Zuschreibung von Identitäts- und Verhaltenserwartung entstehen letztlich die bekannten kognitiven und materiellen Benachteiligungen. Behinderung ist ein soziales Konstrukt zur Erklärung und Bewältigung von in den Kommunikationsprozess hineingetragenen Kommunikationsproblemen. An dieses Muster werden nun weitere Aspekte angebunden, die „Behinderung“ als Ausprägung eines Stigmas (Hohmeier 1975; Jones et al. 1984) kennzeichnen. Dazu gehört vor allem die Hinzufügung von weiteren, insbesondere negativen Eigenschaften in das „neue“ Bild über die betroffene Person sowie die Ausbildung von rollenhaften Erwartungen an die Person. Die klassische Definition von Stigmatisierung bezeichnet einen Prozess, in dem einer stigmatisierbaren Person oder Personengruppe von außen eine solch vereinfachende und abwertende Eigenschaft zugesprochen, und daran anschließend recht konkrete Verhaltenserwartungen geknüpft werden. Inwieweit sich die Person damit auseinander setzt bzw. identifiziert, hängt dabei nicht allein von der Stärke und Qualität der Zuschreibung ab, sondern auch vom Stigma-Management der betroffenen Person (siehe Ashforth/Humphrey 1995; Stone/Collela 1996). Behinderung ist – kurz gesagt – ein Stigma, das auf Personen appliziert wird, um sie rasch erklären zu können und ihr Verhalten ebenso rasch vorhersagbar zu machen. Stigma produziert Erwartung und vereinfacht somit die Wahrnehmung von Individuen.
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3. Charakterisierungen von „Organisation“ Nach dieser definitorischen Setzung bedarf es eines anschlussfähigen Organisationsbegriffs. Dieser muss in der Folge einige wesentliche Begriffe bearbeiten können. Dies betrifft so zentrale Aspekte wie Wahrnehmung, Kognition, Handlung, (individuelle und soziale) Identität, Kollektivierung, Störung bzw. Interruption usw. müssen im Beschreibungsraster für die Organisation wieder auftauchen und beschreibbar sein. Weiterhin geht es um die Beschreibung von Dynamiken, von Veränderungen. Die Nachzeichnung einer Konfrontation der Organisation mit einem Stigma und deren Folgen bedarf einer prozesshaften Analyse. Gegenüber den momentanen Umbrüchen im sonderpädagogischen Bereich lebt der Begriff der Organisation seit einiger Zeit recht bequem. Man ist sich weitläufig über die Pluralität des Begriffes einig und bedient sich, je nach wissenschaftstheoretischem, -politischem und manchmal auch ideologischem Belieben in der Präsenzbibliothek der Organisationstheorie; der gegebenen Ausdifferenziertheit bzw. dem gegebenen Reifestadium dieser Bibliothek zum Dank. 2 Postmoderne Strömungen in der Organisationstheorie betonen zudem den Konversationscharakter in der Auseinandersetzung, das Stellen von Fragen ist wichtiger geworden als das Geben von Antworten (Magala 1997; Weik 1995). Dies soll nicht heißen, dass die organisationstheoretische Debatte leidenschaftslos geworden ist. Lediglich der „Missionswille“, mit dem manches Organisationsverständnis (wie z. B. beim Human-Relations und in deren Nachgang auch in manchen Facetten der HdA-Bewegung) verfolgt wurde, scheint gebrochen. Die hier benötigten Begriffe legen eine psychologistische bzw. sozio-psychologische Beschreibungsfolie nahe. Handlung, kollektive Handlung bzw. Kommunikation stehen im Zentrum, die durch Kognition (und Emotion) ihrer Träger bzw. bestimmt werden. Organisationen können daran anschließend wie folgt gekennzeichnet werden: Organisationen sind soziale Gebilde, die aus den aufeinander abgestimmten Handlungen ihrer Mitglieder bestehen (Barnard 1938; March/Simon 1958; Weick 1985 >1969@). Organisationen besitzen Grenzen, bzw. eine System-Umwelt-Differenz, um die herum sich herauskristallisiert, was die Organisation ist. Im Laufe des Organisationsprozesses bilden sich
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Als recht einfaches Indiz für diese Ausdifferenzierung kann die zunehmende Publikation von Überblickswerken mit den verschiedenen klassischen bzw. moderneren Organisationstheorien herangezogen werden. Allein in Deutschland zeigt sich dieser Trend v. a. in den drei Auflagen von Kieser (1995-2000) sowie den Bänden von Frese (1992), Ortmann/Sydow/Türk (2000), Türk (2000) sowie Weik/Lang (2001).
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spezifische Erwartungen (Luhmann 1993: 139 ff., 377 ff.) an das Verhalten, d. h. vor allem an die Handlungen der einzelnen Mitglieder aus, die sich zunehmend verfestigen und schließlich in formalisierten Rollen/Funktionen (materiell werden diese Rollen z. B. in Stellen- und Funktionsbeschreibungen fixiert) niederschlagen und die Organisation strukturieren (Aderhold 1999: 55). Die Organisation „entindividualisiert“ sich mit fortdauernder Existenz. Das konkrete Individuum tritt in seiner Bedeutung für die Organisation in den Hintergrund (zum Zeitpunkt der Gründung war dies anders), es geht stattdessen darum, dass von (irgend)einer Person eine bestimmte Handlung bzw. ein bestimmtes Verhalten ausgeführt werden kann (Barnard 1948). Personen werden austauschbar, die Beschäftigung von Personen wird nicht von bestimmten Persönlichkeitsmerkmalen abhängig gemacht, sondern von für die jeweilige Position maßgeblichen Fertigkeiten/Fähigkeiten (Luhmann 1964). Im Laufe des Organisationsprozesses schaffen sich Organisationen ihre Umwelten selbst. Sie sind nicht gezwungen, sich einer äußeren Realität zu unterwerfen, sondern bringen ihre Realitäten selbst hervor. Dieses Verständnis wurde durch kognitivistische Arbeiten (v. a. March/Simon 1958), sozialpsychologische Beiträge (v. a. Weick 1985) sowie konstruktivistische Verweise aus der Kommunikationstheorie (u. a. Watzlawick 1977) der Kybernetik (u. a. von Foerster 1992), der Neurobiologie (Roth 1992, 2001; Varela 1992;) und nicht zuletzt durch die systemtheoretischen Bezüge Luhmanns (1993) hervorgebracht.
4. Sinn und Sinnstiftung Sinn wird im Weiteren gefasst als „bestimmte Strategie des selektiven Verhaltens unter den Bedingungen hoher Komplexität. Durch sinnhafte Identifikationen ist es möglich, eine im Einzelnen unübersehbare Fülle von Verweisungen auf andere Erlebnismöglichkeiten zusammenzufassen und zusammenzuhalten, Einheit in der Fülle des Möglichen zu schaffen und sich von da aus dann selektiv an einzelnen Aspekten des Verweisungszusammenhangs zu orientieren“ (Luhmann 1971: 12). 3 Um Komplexität reduzieren zu können, ist folglich Sinnstiftung eine Tätigkeit, die Menschen ständig ausführen. Sinnstiftung ereignet sich permanent, Individuen und Kollektive finden sich selbst in einem ständig 3
Zu einer ausführlichen jüngeren Diskussion der grundlegenden soziologischen Sinn-Rezeptionen bei Weber, Mead, Schütz, Luhmann und Bordieu siehe u. a. Lueger (2001: 115 ff.) sowie Wittenbecher (1999).
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ablaufenden „Sinnprozessieren“ (Luhmann 1993: 101). Ein Operieren frei von Sinn ist nicht möglich (Luhmann 1993: 96), Sinn ist äquivalenzlos und nichtnegierbar. Nicht-Sinn bzw. Un-Sinn gibt es nicht; diese Begriffe sind paradox. Sinn wird hier nicht als Metapher verstanden, sondern elementarer: „Sensemaking is what it is, namely, making something sensible. Sensemaking is to be understood literally, not metaphorically“ (Weick 1995: 16). Sinn zu generieren bedeutet Bezüge herzustellen, Ereignisse, Handlungen und Begriffe miteinander zu verbinden und Ordnung in Form einer (zumeist sprachlich hergestellten) Sequenz herzustellen. Alles, was es zur Produktion von Sinn bedarf, sind zwei Elemente und eine Verbindung. Damit liegt die kleinste denkbare Sinn-Struktur (Weick 1995) vor, die die beteiligten Individuen und Kollektive im anschließenden Konstruktionsprozess anreichern, ausbauen, verfeinern und illustrieren. Sinnstiftung wird vor allem dann notwendig, wenn bewährte Sinnstrukturen nicht mehr passen bzw. wenn für eine überkomplexe, neuartige Situation kein Bedeutungsmuster existiert. Das passiert, wenn entweder etwas eintritt, was nicht erwartet war bzw. etwas Erwartetes gerade nicht eintritt. In diesem Falle kann an vorhandene Sinnstrukturen nicht mehr angeschlossen werden, d. h. diese Sinnstrukturen können keine Handlungsorientierung mehr leisten. Unter Sinnstrukturen wird im kleinsten denkbaren Fall die Kombination dreier Elemente verstanden, eines Indikators (Cue), eines Bezugsrahmens (Frame of Reference) und einer Verbindung zwischen beiden. Geht Sinn verloren, so verschaffen vorhandene Sinnstrukturen keine übersichtlichen Situationen mehr, sie leisten keinen Beitrag mehr zur handlungsfähigen Erklärung der Situation. Über Sinnstiftung werden nun neue bzw. modifizierte Sinnstrukturen geschaffen. Dabei wird zunächst versucht, aus der Situation Indikatoren herauszuarbeiten. Unter solchen Indikatoren können einfach strukturierte kognitive Anker verstanden werden, durch die die aktuelle Situation prinzipiell eingeschätzt und, in einem klassischen Duktus, kategorisiert werden kann. Gelingt es in einem weiteren Schritt, diese Indikatoren in abstraktere Bezugsrahmen (Frames of Reference) einzuordnen, entsteht Sinn. Unter Bezugsrahmen können „Wortschätze“ bzw. „Vokabularien“ (Weick) verstanden werden, die Kollektive im Laufe der Zeit in Form von kohärenten, miteinander verkoppelten und auch emotional besetzten Überzeugungen, Werten und Normen ausprägen. Weick (1995: 109 ff.) nennt als Beispiele solcher Bezugsrahmen Ideologien, Kontrolle dritter Ordnung, Handlungstheorien, Geschichten oder auch Traditionen. Sobald
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eine solche Sinnstruktur vorliegt, wird sie im weiteren Verlauf angereichert und ausgeschmückt, bis sie als nicht mehr viabel angesehen und verworfen wird. 4 Entweder Handlungen oder Überzeugungen wirken als Treiber der Sinnstiftung. Was letztlich den Impuls antreibt, hängt von der aktuellen Situation und von folgenden Fragen ab (Weick 1995: 133 ff., 155 ff.): x Wie ausgeprägt sind vorformulierte Erwartungen (expecting)? x In welchen erzählerischen bzw. argumentativen Strukturen befinden sich die Akteure? In welcher Form haben die Akteure die Möglichkeit, Alltagserfahrung auszutauschen, zu reflektieren und kollektive Erinnerung zu verfertigen (arguing)? x Wie stark ist die Bindung der Akteure an ihre Handlungen (committing)? Wie stark und virulent sind Rechtfertigungszwänge? Das Verständnis über die Situation, die Stiftung von Bezügen (zwischen Indikator und Bezugsrahmen) wird über Narration erzeugt, insbesondere über ‚laute Selbstgespräche‘ (Kieser 1998; Watson 1995; Weick 1977), wobei Sprechen auch als Handeln verstanden wird. Die Individuen „narratieren sich in ihre vermutete Bedeutung in die Situation hinein“ (Weick 1995: 30). Wie nun Sinnstiftung prozessural vonstatten geht, kann anhand des Weickschen Prozessmodells des Organisierens mit den vier Teilprozessen: 1. ökologischer Wandel, 2. Gestaltung, 3. Selektion sowie 4. Retention nachvollzogen werden (Schaubild 1). 5 Ausgangspunkt ist eine Umweltveränderung, die entweder als von außen initiiert wahrgenommen (ökologischer Wandel) oder aber als selbst erzeugt empfunden wird (Enactment).
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Eine verwissenschaftlichte Illustration dieser Sinnstiftung findet sich im der Methode der Grounded Theory nach Glaser und Strauss (1998): Auch hier werden Texte – also mehrdeutige Situationen von einer Forscherin bzw. einem Forscher mit Sinn versehen, in dem der Text über mehrere Schritte codiert wird. Der Code in der Grounded Theory ist durchaus mit dem Indikator, dem cue bei Weick vergleichbar – abgesehen davon, dass die Methode der Grounded Theory prinzipiell als Illustration einer wissenschaftlichen Sinnstiftung herangezogen werden kann. Auch die weitere Bearbeitung der Codes, ihre Aggregation über „Codierparadigmen“, die als kognitive bzw. Kausal-Karten bezeichnet werden können, besitzt eine verblüffende Ähnlichkeiten zu den Denkfiguren Weicks. Das Prozessmodell wurde bereits 1969 von Weick eingeführt, von ihm aber bis heute (siehe Weick 2001) verwendet. Obwohl das Modell vor allem für die Beschreibung für Sinnstiftung in Organisationen erarbeitet wurde, kann es über diesen Kontext hinaus auch für andere sozialen Settings herangezogen werden.
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Schaubild 1:
Das Prozessmodell Karl Weicks
Ökologischer Wandel
Gestaltung (Enactment)
Selektion
Retention
Die wichtigste Gestaltungsleistung liegt in der Einklammerung und Heraushebung von als relevant wahrgenommenen Ereignissen aus dem undifferenzierten Strom von Informationen und Geschehnissen. Daran anschließend wird versucht, die herausgelösten Einklammerungen mit einer Bedeutung zu versehen, indem entweder ein bekanntes, existierendes Muster von Bezügen auf die Veränderungen zu deren Erklärung gelegt oder ein neues erarbeitet wird (Selektion). Ereignisse werden mit Begriffen bezeichnet und über Indikatoren (Cues) verallgemeinert. Im Anschluss wird entschieden, welche Indikator-BezugsrahmenVerbindungen die mehrdeutigen Ausgangsmomente reduzieren helfen. Für die Frage, ob ein erfolgreiches Bedeutungsmuster wieder verwendet oder eine Neuproduktion vorgezogen wird, ist das Vertrauen, dass eine Person in seiner Erfahrung besitzt, ausschlaggebend. Durch Selektion eines Bedeutungsmusters reduziert sich die Mehrdeutigkeit der Ausgangssituation und die Akteure können eine Handlungsfähigkeit entwickeln. Zuletzt kommt es zur Speicherung der ausgewählten Bedeutungsmuster (Retention). Die abgelegten Muster beeinflussen im weiteren Verlauf sowohl Gestaltungs- (Enactment) als auch Selektionsprozesse. Bekannte und erfolgreich angewendete Bedeutungsmuster schränken die Bandbreite an möglichen Einklammerungen im Gestaltungsprozess sowie die in Frage kommenden Bedeutungsmuster während der Selektion ein. Das Ergebnis einer sich derart vollziehenden Sinnstiftung ist eine verständlich gemachte Umwelt, ein „enacted Environment“. Diese gestaltete Umwelt ist der Referenzpunkt aller weiteren Aktivitäten, der ursprüngliche Ereignisstrom tritt dahinter zurück. Auf diesen Grundlagen entwickelte sich in den frühen 1990er Jahren der organisationstheoretische Ansatz der „Organizational Sensemaking Studies“. Zu den grundlegenden Denkweisen dieses Ansatzes gehört es, Sinn als Grundbegriff in den Mittelpunkt aller Betrachtungen zu stellen und davon auszugehen, dass alles menschliche Tun und Denken darauf hinaus läuft, eine überschaubare, verständliche und anschlussfähige Welt aufzubauen. Die Organiszational Sense-
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making Studies stehen damit in der Tradition des Symbolischen Interaktionismus (Blumer, Mead), der Ethnologie (Garfinkel, Geertz) sowie des Kognitivismus, 6 (March/Simon 1958; Neisser 1976) und aktualisieren dieses Forschungsprogramm unter Einbeziehung neuerer konstruktivistischer Arbeiten (Schmidt 1992) sowie organisationstheoretischer Entwicklungen (Weick 1995; Gioia/ Chittipedi 1991; Heideloff 1998). 7 Als Hauptvertreter dieser Theorielinie gilt Karl Weick (insb. 1995), der eine ausgearbeitete Systematik zur organisationalen Sinnstiftung vorlegte. 8
5. Stigmatisierung als Sinnstiftung? In den klassischen Formulierungsversuchen (z.B. Goffman 1967 [1963]; Hohmeier 1975; Jones et al. 1984; Cloerkes 1997) wird, wie oben bereits angedeutet, Stigmatisierung gekennzeichnet als sozialer Prozess, in dem einer Person von ihrer sozialen Umwelt eine generalisierte, abwertende Verhaltenserwartung gleichsam „übergestülpt“ wird. Die Herstellung einer solchen Erwartung ereignet sich im Sozialisationsprozess, den jeder Mensch insbesondere in der Kindheit und Adoleszenz durchläuft (siehe hierzu insb. die Studien von Allport 1971). Dabei werden Verhaltensroutinen an- und wieder abtrainiert sowie Wahrnehmungsmuster eingeübt, die irgendwann als Verhaltensrepertoire und Handlungsprogramme (Skripten) zur Verfügung stehen. Das Stigma selbst scheint „irgendwo da draußen“ aufbewahrt zu werden, ein genau bestimmter Ort der „Verwahrung“ bzw. eine ausgefeilte Vorstellung über den Prozess der Verfertigung existieren kaum. Lediglich der Verweis auf gesellschaftliche Normen, von denen die genauen Verhaltensressourcen abgeleitet werden, wird bemüht, verbunden mit der Feststellung, dass durch die Ausübung dieser Ableitungen gleichzeitig auch die Verfestigung der zugrundeliegenden Norm geschieht (siehe dazu exemplarisch Wetzel 1999). Die eben knapp ausgebreitete Idee der Sinnstiftung kann sich dem Phänomen der Stigmatisierung sowie der Verfestigung und Aufbewahrung von Stigmata auf eine andere Weise nähern, die u. U. durchaus fruchtbar sein kann: Bei
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Für einen Überblick über Folgen des Kognitivismus in der Organisationstheorie und -praxis siehe Hilse (2000). Zum Überblick über Sensemaking Studies, insbesondere den neueren Ansätzen von Karl Weick siehe Wetzel (2001). Luhmann (1993) trieb diese Überlegung noch weiter, in dem er die radikale und nicht-überbrückbare Trennung der sinnbasierten Systeme Bewusstsein und Kommunikation einführte.
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der Begegnung zweier Menschen (Interaktion) müssen sinnhafte Bezüge aufgebaut werden, um Komplexität, d. h. Mehrdeutigkeit und Unsicherheit zu reduzieren sowie Anschlüsse aufbauen zu können. In solchen Interaktionszusammenhängen können nun Stigmata als Sinnstiftungsmuster verstanden werden, die erst im Moment der Kommunikation entworfen werden, um genau diese Mehrdeutigkeitsprobleme, die doppelte Kontingenz (Luhmann) der Situation, überwinden zu können. Stigmata stellen aus dieser Sicht letztlich angereicherte Sinnstrukturen im Sinne von Weicks „minimal sensible structures“ (1995: 109 ff.) dar: Sie bestehen aus (mindestens) zwei Elementen, die miteinander verknüpft sind. Die beiden Elemente sind: Indikatoren. Sie werden aus den Verhaltensweisen bzw. dem Erscheinungsbild des Gegenübers heraus „entdeckt“. Körperliche Merkmale und bestimmte Verhaltensauffälligkeiten, die einer Normalitätserwartung widersprechen, können als solche Indikatoren angesehen werden (Kleck 1968). Bezugsrahmen. Für den Fall der „Feststellung“ von Behinderung an der Person des Gegenübers besteht der wichtigste Bezugsrahmen in der Ideologie der Normalität. Weick versteht unter Ideologien ein „shared, relatively coherently interrelated set of emotionally charged beliefs, values, and norms that bind people together and help them to make sense of their world“ (Trice/ Beyer, zitiert nach Weick 1995: 111). Als eine derart funktionierende Norm kann auch „Normalität“ verstanden werden: Hinter dem Begriff verbirgt sich die abstrakte Konsensfiktion von Gesellschaften über das Idealbild der Körperlichkeit und der psycho-physischen Grundverfassung (Neubert/ Cloerkes 1987), eine Tendenz hin zur körperlichen Perfektion, bei der Behinderung bzw. körperliche und psychische Versehrtheit als teilsystemübergreifende Exklusionsauslöser bzw. Inklusionsbarrieren wirken. Die Verbindung zwischen diesen beiden Elementen wird während der Kommunikation hergestellt. Dabei kommen Erwartungen zum Einsatz, die durch gegenseitige Bestätigungen (selbsterfüllende Prophezeiungen) verifiziert werden. Im Ergebnis „macht“ das Verhalten des Gegenübers „Sinn“, d. h. die solchermaßen erstellte Sinnstruktur kann über beliebige Verhaltenssequenzen des Gegenüber gelegt werden, ohne dass ein Verlust von Anschlussmöglichkeiten befürchtet werden muss. Was immer der Andere tut – es kann abgeleitet werden, warum er das tut, was er erreichen will und warum er sich gerade so verhält und nicht anders. Das Resultat einer solchen Kombination – die „Entdeckung“ der Behinderung des Anderen – kann eine mögliche Variante einer Sinn-Struktur bezeich-
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nen. Diese Entdeckung ist von Indikatoren (Körperlichkeiten, bestimmte Verhaltensweisen) abgeleitet und in Bezugsrahmen (Normalität, „Helfen“, usw.) verortet. Was ist in dem Moment der „Entdeckung“ passiert? Für eine auf eine Person gerichtete Einklammerung (Ereignis, Handlungsweise) wird ein Indikator definiert und in passende Bezugssysteme eingeordnet. Damit verbunden sind erstens die potentielle Generalisierung von einer als Eigenschaft markierten Wahrnehmung (vermeintliches Merkmal) auf eine Person und zweitens die Herstellung der Vorhersagbarkeiten über das Verhalten des Gegenübers. Mit der Kopplung von Indikator und Bezugsrahmen kristallisiert sich eine Bedeutung heraus; ein bestimmtes Ereignis wird plötzlich verständlich und „macht Sinn“. Um diese Sinnstruktur lagert sich eine Reihe von Informationen an, die die Sinnstruktur bestätigen und im Kontext dieser Bedeutungsstruktur selbst erst (vermeintlich ausschließlich) verständlich und plausibel macht. Ein Stigma entsteht in genau diesem Moment, als Bezeichnung einer bestimmten Sinn-Struktur. Ein Stigma wäre folglich eine auf Tradition und Sozialisation abgestützte Verknüpfung von Indikatoren (herauslösbaren Verhaltensweisen) und Bezugsrahmen (z. B. Normalität als Ideologie, Re-Inklusionsnotwendigkeit als Paradigma, Diskriminierung als theory-of-action). Das Stigma wird dabei gleichermaßen von „außen importiert“ wie innerhalb der Kommunikation erst erzeugt. „Import“ meint dabei den Rückgriff auf bereits in anderen Kontexten sozialisatorisch erworbener und u. U. bereits selbst erprobter Sinnstrukturen, Erzeugung meint die Herstellung einer neuen Sinnstruktur. Behinderung wird über den Rekurs auf vermeintliche Eigenschaften, die Addition (Erfindung) von weiteren negativen ‚Eigenschaften‘ sowie der generalisierenden Abwertung als Sinn etabliert. Eine solche Sinn-Struktur muss jedoch nicht die einzige verfügbare sein. Regelmäßig kommt es zur Konstruktion bzw. Aktivierung unterschiedlicher Sinnstrukturen, die je nach ihrer inneren Plausibilität und Erklärungskraft zur Bearbeitung der Situation ausgewählt und verwendet werden. Zusammenfassend können mit dem Begriff der Stigmatisierung drei unterschiedliche Aspekte subsummiert werden: 1. Im klassischen Duktus bezeichnete der Begriff die Zuschreibung eines existierenden Stigmas zu einer Person/Gruppe. 2. Unter der eben aufgezeigten theoretischen Perspektive kann darüber hinaus unter Stigmatisierung auch der Prozess der Herstellung eines Stigmas verstanden werden.
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3. Schließlich wird dabei deutlich, dass Stigmatisierung den Prozess der Herstellung eines Bedeutungsmusters meint, zu dem immer Alternativen bereitgehalten werden. Diskriminierung erfolgt nie in einer Zwangslage, in einem „Sinn-Notstand“, vielmehr existieren ständig sinnhafte Alternativen, zwischen denen anhand unterschiedlichster Kriterien gewählt wird. Bei der Charakterisierung von Behinderung als potentielle Sinn-Struktur darf jedoch ein Aspekt nicht außer Acht gelassen werden. Ein direkter Deutungszugriff sowohl auf die Körperlichkeit wie auch auf das ständig mitgeführte soziale Konstrukt existiert nicht. Insbesondere Körperlichkeit wirkt nicht „physisch“, nicht direkt auf psychische und soziale Systeme, sondern muss wiederum über strukturelle Koppelung Irritation und Resonanz im jeweiligen System auslösen. Das bedeutet, dass sowohl Körperlichkeit als auch das soziale Konstrukt systemspezifisch als relevante Differenz eingeführt und ausgedeutet werden müssen, sei es durch Sprache oder andere Sinnstiftungsmedien (Bette 1999: 58). Diese Ausdeutung geschieht dabei immer unter Bezug auf systemeigene Sinnprinzipien bzw. kollektiv verdichtete Deutungsmuster (Baitsch 1993). Konstrukt und Körperlichkeit müssen „denkbar“ und auch „handhabbar“ im Sinne von anschlussfähig gemacht werden, im Duktus von Weick könnte man auch von der Reduktion der mitgeführten Mehrdeutigkeit sprechen (Weick 1995). Insofern legt der je eigene, systemspezifische Sinnstiftungsprozess in Verlauf und Ergebnis dauerhaft die Qualität des Umgangs mit Behinderung fest.
6. Aspekte der Sinnproduktion beim organisationalen Umgang mit Behinderung Diese systemspezifische Ausdeutung von Körperlichkeit und Konstrukt „Behinderung“ läuft in Organisationen unter anderen Umständen und Bedingungen ab als in sonstigen sozialen Konstellationen. Die damit verknüpften Sinnstiftungsanstrengungen erfolgen kollektiv, in gewissem Sinne „arbeitsteilig“. In Organisationen liegen zudem kaum Fluchtmöglichkeiten für den Einzelnen vor, zumindest nicht in den Freiheitsgraden wie bei spontanen, zufälligen Begegnungen außerhalb von Organisationen. Darüber hinaus unterscheiden sich jedoch vor allem die entscheidenden Kontexte von Erwartungen und Handlungen, auf denen sich die kollektiven Anstrengungen zur Generierung von Bedeutungsmustern gründen (Weick 1995). Das hat Folgen für den organisationalen Umgang mit Behinderung.
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6.1 Zur Differenz von Erwartungsstrukturen Behinderung – bzw. allgemeiner: Stigmata – und Organisation haben auf den ersten Blick wenig miteinander zu tun. Allerdings sind beide ohne eine Grundlage überhaupt nicht vorstellbar. Behinderung als Verhaltenserwartung Wie aus den eingangs vorgenommenen begrifflichen Schärfungen hervorgegangen ist, wird mit einem Stigma auch eine bestimmte Verhaltenserwartung verknüpft, die u. U. bis hin zu einer Rollenerwartung verfestigt sein kann. Sobald Behinderung als Sinn-Struktur einer Situation ausgewählt wurde, werden daraus auch konkrete Verhaltenserwartungen abgeleitet. Erst mit Hilfe solcher Erwartungen gelingt es, die soziale Komplexität der Interaktion zu bewältigen, doppelte Kontingenzen zu bearbeiten und eine Kommunikation in Gang zu bringen. Erwartungen liefern Ausgangspunkte für Vordergrund-Hintergrund-Unterscheidungen im Verhalten des Gegenüber, konzentrieren Aufmerksamkeiten und kreieren somit sinnhafte Bezüge, aus denen das Verhalten letztlich erklärt und eigenes Anschlusshandeln erzeugt werden kann. Erwartungen erlauben die Trennung von relevanten und nicht-relevanten Informationen und die Ausblendung „überflüssiger“ und „störender“ Information – Abstraktion und Generalisierung werden möglich. Sobald das wahrgenommene Verhalten des Gegenüber in einigen wenigen Aspekten den Erwartungen entspricht, wird der soziale Kognitionsprozess abgebrochen – die Analyse des fremden Verhaltens wird gestoppt und das Bild vom Anderen „im Kopf“ erwartungskonform vervollständigt (Weick 1995: 146). Deutlich werden solche Erwartungen in den landläufig bekannten Stereotypen: Behinderte sind arbeitsam, genügsam, hoch motivierte Arbeitskräfte, allerdings auch launisch, schwer beeinflussbar, oft krank usw. Erwartungen in Organisationen Auch in Organisationen spielen Erwartungen eine kaum zu unterschätzende Rolle, sie „stellen die Bausteine für die Struktur von Organisationen dar“ (Aderhold 1999: 57). Die Funktions- und Stellenbeschreibungen, die in Organisationen überall – egal ob schriftlich oder stillschweigend fixiert – vorliegen, können als formalisierte und über die Zeit stabilisierte Erwartungen verstanden werden. Diese formalen und rigiden Erwartungen lenken das Verhalten in Organisationen grundlegend. Die Erwartungskonformität des individuellen Verhaltens wird zum Maßstab von Leistungsbeurteilung, Karriereverlauf, sozialer Akzeptanz und Unterstützung. Neben diesen für das Individuum zentralen Aspekten stellt die Erwartungskonformität von individuellem Verhalten auch den Maßstab für
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die Effektivität und Effizienz von organisationalem, also interdependentem Handeln dar. Eine Organisation kann nur funktionieren, wenn sich die Individuen in ihren organisational miteinander verkoppelten Verhaltensweisen an die „Spielregeln“ halten und das tun, „was von ihnen erwartet“ wird. Kurz: Erwartungen sind die Grundlage für organisationale Routine, für situationsübergreifende Stabilität. Organisationen sind nun ständig damit beschäftigt, solche Erwartungsroutinen aufzubauen, zu erhalten bzw. den momentanen Gegebenheiten anzupassen. Werden solche Erwartungsstrukturen in Organisationen schwerwiegend irritiert, kommt die Organisation „ins Schlingern“ (Fuchs 2000: 5), im Extremfall steht die Existenz der Organisation selbst in Frage. Zum Problem parallel inkongruenter Erwartungsstrukturen Nun sind die Strukturen von stigmabezogenen Erwartungen und organisationalen Erwartungen grundverschieden. Stigmabezogene Erwartungen leiten Antizipationen für individuelle Verhaltensweisen aus Konstrukten über Körperlichkeiten ab. Aus organisationalen Erwartungen hingegen werden auf der Basis kollektiver Theorien (Baitsch 1993) Vorstellungen über individuelle und konzertierte Verhaltensweisen u. a. bzgl. horizontaler Differenzierung (Arbeitsteilung) und vertikaler Integration (Hierarchie) der Organisation generiert. Sobald jedoch Mitglieder stigmatisierter Personengruppen in ‚normalen’ Organisationen auftreten, die nicht explizit für diesen Personentypus etabliert sind, wirken diese unterschiedlichen Erwartungsstrukturen nebeneinander. Dies ist zunächst nichts Ungewöhnliches. Die Parallelität (Gleichzeitigkeit) von unterschiedlich strukturierten und auf unterschiedliche Verhaltenskontexte bezogenen Verhaltenserwartungen ist in Organisationen üblich, alltäglich und auch nicht vermeidbar, da Individuen nicht nur einem Verhaltenskontext angehören. Sie unterhalten vielmehr vielfältige Beziehungen zu unterschiedlichsten Systemen, mit denen jeweils spezifische Erwartungsstrukturen verbunden sind. Anders als die meisten organisationsfremden Erwartungen schlagen jedoch die das Stigma „Behinderung“ betreffenden Erwartungen auf den Arbeitskontext, d. h. auf die Organisation durch. Ob sich ein Mann mit zwei Kindern wie ein Familienvater verhält, ist für eine Organisation regelmäßig unerheblich. Nicht so bei „Behinderten“. Für die Erfüllung organisationaler Erwartung ist es durchaus wichtig, ob ein körperbehinderter Mitarbeiter mit Bandscheibenschaden acht Stunden an einer Presse stehen kann und was im Falle von auftretenden gesundheitlichen Problemen geschieht bzw. ob eine psychisch kranke Frau im Außendienst als solche erkennbar ist und ob sie die entsprechende Stabilität und Flexibilität im Umgang mit „schwierigen“ Kunden aufbringen kann. Es ist demnach fraglich, ob die
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Verhaltenserwartungen, die aus der „Behinderungseigenschaft“ entspringen, mit den organisationalen Verhaltenserwartungen kombiniert und abgestimmt werden können. Solange dies unklar bleibt ist offen, welche Erwartungskategorie zur Beurteilung der jeweiligen Person herangezogen werden soll, um zu entscheiden, ob sich die Person erwartungskonform verhält oder nicht. Wenn aber das nicht geklärt ist, können weiterhin auch keine Konsequenzen (Anreize, Sanktionen) für eventuell erwartungsdivergentes Verhalten festgelegt werden. Um dies aufzulösen, wird zuerst die Synchronisierung dieser divergenten Erwartungsstrukturen durch die Priorisierung der funktionsbezogenen Erwartung versucht: Kann der „Behinderte“ die in der Arbeitsaufgabe immanenten Anforderungen erfüllen? Diese Bestimmung fällt zunächst relativ leicht, da zumeist anhand medizinischer Gutachten bzw. sozialjuristischer Feststellungen die „Leistungsfähigkeit“ der „Betroffenen“ „objektiv“ (und offensichtlicher als bei jedem anderen Beschäftigten) festgestellt und mit den Stellenanforderungen verglichen werden kann. Der direkt durchführbare Vergleich zwischen Einschränkungen und Arbeitsanforderungen liefert wichtige Hinweise für die Antizipation von Verhaltensweisen der betroffenen Person und unterstützt folglich den Aufbau von organisationsspezifischen Erwartungen. Dadurch werden jedoch nur Teilaspekte bearbeitet. Die im Stigma mittransportierten psychologischen Aspekte (Abwehr von Identitätsbedrohung, Reaktionsdilemma, Kontaktvermeidung usw., siehe dazu genauer Cloerkes 1997) werden von den funktionsorientierten Erwartungen nur zum Teil berührt und könnten – selbst wenn dies thematisiert werden würde – kaum formuliert werden. Hier werden Tabubereiche berührt, die de facto öffentlich nicht oder nur unter großen Anstrengungen besprechbar sind. Dennoch müssen auch für diese Aspekte Erwartungen ausgeprägt werden, um auch Anschlussfähigkeiten herstellen zu können. Es zeigt sich, dass die Erwartungen, die in Stigmata transportiert werden, nicht mit organisationalen Erwartungen homogen bzw. synchron sind, wie sollten sie auch. Es existieren an einigen Stellen Resonanzen, vielerorts liegen jedoch Lücken und Inkongruenzen vor, die angepasst und ausgefüllt werden müssen. Die Bearbeitung dieser Erwartungsdisparitäten, die Identifikation von „Erwartungslücken“ und deren Ausfüllung sowie die Generierung von Handlungsanschlüssen sind die Aufgaben, denen die Organisation im kollektiven Sinnstiftungsprozess gegenübersteht. Insbesondere die nicht-funktionalisierbaren, auf die Identitätskonstruktionen der Individuen gerichteten Aspekte des Sinnstiftungsmusters „Stigma Behinderung“ können für die Organisation problematisch werden. Individualität und Personalität werden als Referenzgrößen des Stigmas aktiviert, was Irritationsmöglichkeiten in nicht zu unterschätzendem Umfang
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aufbaut. Wenn diese Irritationen über die Struktur der Organisation (formale Erwartung) nicht oder nur zum Teil aufgefangen werden können, sind Instabilitäten, „Strapazierungen“ (Fuchs 2002) wahrscheinlich. 6.2 Zur Bedeutung von gebundenen Handlungen Die Auseinandersetzung mit Stigmata und stigmatisierbaren Personen läuft in Organisationen unter anderen Umständen und Bedingungen ab als in sonstigen alltäglichen Konstellationen. Diskrepante Erwartungsstrukturen waren ein erstes Indiz hierfür. Eine zweite Unterscheidung liegt in der Gebundenheit und Interdependenz von Handlungen in Organisationen. Organisationen können als Pools von „Ineinandergreifenden Verhaltensweisen“ (Weick 1985: 130 ff.) gedacht werden, d. h. als Sätze von aufeinander bezogenen individuellen Verhaltensweisen bzw. Handlungen, die kollektiv zusammengesetzt werden, um mehrdeutige Situationen aufzulösen und bearbeitbar zu machen. Akteure in Organisationen handeln qua Definition nicht solitär, sondern beziehen sich auf die Handlungen Dritter. Sie veranlassen Dritte zu Handlungen, um Anschlüsse für eigenes Handeln zu erreichen. Dies wird nötig, da bestimmte Ziele nicht ohne die Aktivitäten von anderen Organisationsmitgliedern erreicht werden können. Ebenso befriedigen die Akteure durch die Ausübung von eigenen Handlungen ebensolche Anschlussinteressen Dritter. Einzelne dieser aufeinander bezogenen und voneinander abhängenden Handlungen bezeichnet Weick auch als „doppelte Interakte“ (Weick 1985: 161 ff.) und betrachtet sie als kleinste Einheiten von Organisationen. Der Bezug von Handlungen auf Handlungen setzt dabei das ständige Beobachten des Kooperationspartners in der Organisation voraus. Alles Handeln des Gegenübers wird unter dem Aspekt der Anschlussfähigkeit eigenen Handelns an dieses Handeln kontrolliert und interpretiert. Hinzukommt, dass eigenes Handeln auch immer so ausgeführt wird, dass es für Dritte anschlussfähig bleibt – es wird ex post mit Sinn versehen. Wenn Erwartungen – wie im vorangegangenen Abschnitt gesehen – jedoch nur in eingeschränktem Maße Orientierungsleistungen zur Sinnzuweisung übernehmen können (da sie fehlen bzw. sich überlagern bzw. nicht unmittelbar verwendbar sind) und in akuten Situationen ein Zwang zur unmittelbaren Handlung besteht, kommt es zu spontanen Handlungen, die erst im Nachhinein mit Sinn versehen werden. 9 Diese Sinnstiftungsleistung müssen die Handelnden zunächst für sich
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Die Idee, dass Kognition der Handlung nachläuft, ist die zentrale Aussage Karl Weicks. Obwohl bereits 1969 formuliert, wird sie bis heute auch unter dem Einfluss aktueller neurobiologischer Erkenntnisse heiß diskutiert. Zu einem knappen Überblick über die Debatte, insbeson-
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selbst erbringen, aber – und dies ist für Organisationen wiederum charakteristisch – vor allem für die Kooperationspartner, auf deren Handlungen der Akteur angewiesen ist. Weick nennt dies „committed Action“ (Weick 1993). Die Handlungen verpflichten, „binden“ den Akteur, Sinn um diese Handlungen unter Bezug auf Dritte herzustellen. Die spontane Handlung wird darüber retrospektiv legitimiert und so erklärt, als wenn sie bereits vor ihrer Ausführung so intendiert war. Unter solchen Bedingungen läuft auch die Bearbeitung von Stigmata in Organisationen ab. Inhalt und Form von spezifischen Handlungen in der Interaktion mit stigmatisierbaren bzw. stigmatisierten Personen sind im Moment fehlender Verhaltenserwartung relativ unwichtig, entscheidend ist, wie die Handlung im Anschluss im Blick auf die Handlungspartner legitimiert und plausibilisiert wird. Die handelnde Person gibt Signale an Beobachter bzw. an Dritte ab, mit denen sie in Beziehung steht. Die Bedeutung, die die Handlung mit originärem Bezug zur (potentiell) stigmatisierten Person erhält, hängt auch und vor allem von der sozialen Kontrolle und der damit verbundenen sozialen Akzeptanz der Bedeutung bei den anderen Organisationsmitgliedern ab. Je stärker Kontrolle und Ausrichtung auf Dritte, desto stärker ist der Einfluss von Legitimation auf den Sinnstiftungsprozess. Diese dauerhafte „Eingebundenheit“, die kaum auflösbare Verpflichtung gegenüber Dritten in Organisationen, ist dabei eines der wesentlichsten Kriterien, die Organisation in der Transportation, Produktion und Verarbeitung von Stigmata von der Interaktion unterscheidet: Können sich Akteure in losen Interaktionszusammenhängen relativ unproblematisch aus der Situation zurückziehen, fällt das in Organisationen deutlich schwerer. Der konkrete, Umgang mit ‚Behinderten‘ ist ein ständig beobachteter und die ständige Beobachtung der je individuellen Umgangshandlungen mit der betreffenden Person liefert die Grundlage für die kollektive Verfertigung von Sinnstrukturen, innerhalb derer die jeweilige Person und das ständig von ihr mitgeführte Kommunikationsproblem in der Organisation bearbeitbar gemacht wird. Die solchermaßen gebundene Handlung verweist weiterhin auf organisationsspezifische Bezugsrahmen, die die Sinnstiftung maßgeblich beeinflussen, da Aspekte wie soziale Akzeptanz und Verständlichkeit im organisationalen Kontext auch immer auf abstraktere organisationsspezifische Deutungs- und Identitätsmuster bezogen sind. Zu diesen Bezugsrahmen zählt Weick (1995: 109 ff.)
dere unter Verweis auf philosophische, neurobiologische und kognitionspsychologische Bezüge siehe Lenzen (2001).
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insbesondere organisationale Handlungstheorien (Theories of Action) und organisationale Geschichten. Dahinter verbirgt sich, dass die kollektive Verfertigung von Sinnstrukturen letztlich an der Aufrechterhaltung organisationaler Handlungsfähigkeit vermittelt über Sprache (Geschichten) orientiert ist und dabei von organisationalen Identitätsmustern (Baitsch 1993; Schreyögg 1991) und Wissensbeständen (Willke 1998) geprägt wird. 6.3 Zum Problem eingeschränkter Besprechbarkeit Sinnstiftung ist kein rein kognitiver Vorgang, sondern ebenso ein sozialer. Zur Prozessierung von Sinn bedarf es entsprechender Medien, das wichtigste ist die Sprache (Czarniawska 1997). Sprache liefert ein Codier- und Zuweisungsinstrumentarium, das selbst das Vor- und Unbewusste sowie das Nicht-Besprechbare markieren und kommunizieren kann. Die Akteure generieren und verfeinern ihre individuellen Bedeutungen, in dem sie entweder in vermeintlich rationalisierten, offiziellen Meetings bzw. Treffen die aufgestellten Bedeutungen mit Widersprüchen konfrontieren lassen und dabei argumentativ die Plausibilität bzw. Stabilität der Deutungsmuster prüfen. Als weit wichtiger und einflussreicher für die kollektive Verfertigung von Sinn stellen jedoch nicht-normierte Narrationen, d. h. so etwas wie „laute Selbstgespräche“ (Weick 1977) dar, über die einzelne Organisationsmitglieder ihre eigenen Deutungstendenzen für sich selbst sichtbar und für Dritte auch beobachtbar und anschlussfähig machen (Watson 1995). Eine metakommunikative Auseinandersetzung über die durch Körperlichkeit bzw. bemerkter Verhaltensauffälligkeit erzeugten Kommunikationsprobleme im Sinne einer „hörbaren“ sprachlichen Validierung von stigmatisierenden Sinn-Strukturen steht jedoch unter einem Tabuvorbehalt, bzw. unterliegt einer „Thematisierungsschwelle“ (vgl. Kieserling 1999: 205 ff.). Eine ungeschützte Besprechung ist, wenn überhaupt, nur in engen Grenzen möglich. Sinnstiftung in Tabubereichen ist entsprechend schwierig und erfordert erhöhte Aufmerksamkeit sowie Konfliktfähigkeit, da auf die Beteiligten eine Reihe von kognitiven und emotionalen Belastungen zukommt. Wie kann man sich jedoch eine unter solchen Bedingungen ablaufende Sinnstiftung vorstellen? Zunächst wäre ein Wechsel des Vermittlungsmediums möglich. Explizite Sprachlichkeit wird durch nonverbale Deutung von Handlung und der Ausübung von Anschlusshandlungen als Signalisierung von Verstehen und Anschluss-Angebote ersetzt. Eine andere, sprachnähere Variante läge in einer Substitution von Inhalten der Narrationen. Es wird nicht über die Kommunikationsprobleme an sich gesprochen, sondern über damit verknüpfte, z. B. verursachende oder daraus resultie-
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rende Aspekte. Dies würde auf Sprach- bzw. Sprechlücken deuten, die u. U. mit Surrogaten zugestellt werden. Als dritte Variante könnte auch eine ausdrückliche, d. h. durchaus auch strategisch benutzte sprachliche Bearbeitung zählen. Hier würden am Beispiel des Umgangs mit dem „Problem Behinderung“ bestimmte Aspekte der Organisation für Interne und/oder Externe illustriert werden und somit ein Substitut für andere, momentan nicht besprechbare Kommunikationsstörungen darstellen. Nicht zuletzt: Auch Schweigen stellt eine (wenn auch paradoxe, vgl. Luhmann/Fuchs 1989) Kommunikationsweise dar.
7. Und wo bleibt die Integration? Eine Schlussbemerkung Von Integration war in den vorangegangenen Überlegungen keine Rede, und dies, obwohl doch eigentlich eine Ausrichtung auf dieses normative Konzept nahe läge. Bislang ging es um die Kennzeichnung von Stigmatisierung als Sinnstiftung – ob Sensemaking-Prozesse wertend sind, und ob Sensemaking per se eine Diskriminierung enthält, war noch nicht Thema. Darum konnte es in diesem Text auch noch nicht gehen. Vielmehr sollte das Wesen von Stigmata aus einer anderen Sicht beleuchtet werden: Stigmata existieren nicht irgendwo frei schwebend an einem unbekannten sozialen Ort, um von dort im Bedarfsfalle von Einzelnen in konkreten Interaktions- und Kommunikationssituationen „importiert“ zu werden, sondern sie entstehen mit und in der Kommunikation. Damit einher geht jedoch auch die Erkenntnis, dass sie kaum „eliminiert“, beiseite geschafft, ausgelöscht werden können – sie gehören zum Alltag menschlicher Aktivität. Stigmata sind vielmehr das Ergebnis einer sozialen Sinnstiftungsbemühung von Individuen und können robuste, über alltagsweltliche wenn auch organisationsfremde Erfahrungen validierte Sinnstiftungsmuster in Organisationen bereitstellen. Behinderung (als Stigma-Beispiel) stellt ein u.U. viables SinnMuster dar: Es ist auf der Basis von beobachtbarer Verhaltensauffälligkeit eruiert, es wurde ein zugehöriger und verwendbarer Bezugsrahmen (u.a. Normalität) entdeckt, die Verknüpfung gelang und die Verfeinerung bzw. Ausschmückung ist „already in progress“. Stigma „ist“ Sinn und Diskriminierung „ist“ sinnbasiert. Andererseits bedeutet dies aber nicht, dass erfolgreiche Sinnstiftung per se stigmatisierend und diskriminierend ist. Erfolgreiche Sinnstiftung sagt lediglich etwas über die Validität und Nützlichkeit des erarbeiteten Sinn-Musters innerhalb der selbst entworfenen und mit Leben gefüllten Umwelt aus, und stellt das darin ebenso selbst verorteten Selbst dar. Nur zur Sicherstellung: Inklusion in Sinnstiftungsprozessen hat nichts zu tun mit Integration in Beschäfti-
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gungsprozessen. 10 Genau in dieser Differenz liegt jedoch der zentrale Verweis der Sinnstiftungs-Perspektive für die Integrationsbewegung: Es geht um die Erarbeitung von ebenso „Erfolg versprechenden“ Alternativen zu tendenziell stigmatisierenden und potentiell diskriminierenden Sinn-Strukturen. Das eine, durchaus viable Muster muss eben nicht das Alleinige im Umgang mit sozial markierbaren Individuen bleiben: „Schaffe Möglichkeiten!“ Dieser (einzige – und zumeist missverstandene) Imperativ Heinz von Foersters (1993) könnte als zentrale Handlungsanweisung für eine integrationsorientierte Beeinflussung von Sinnstiftungsprozessen in Organisationen gelten.
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Auf ähnliche Weise arbeitet Saake (2001) mit dem Begriff der Inklusion im einige Parallelen aufweisenden Bereich der Geriatrie. Es darf auch gar nicht auf eine Substitution der Begriffe von Integration und Inklusion hinauslaufen, da Inklusion nichts mit „Wohnlichkeit“ zu tun hat (siehe insb. dazu und zur Kritik des Fuchsschen Inklusionsbegriffs Nassehi 2000).
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II. Analysen der institutionellen Konstruktion und Bearbeitung sozialer Probleme
Bernd Dollinger
Doing Social Problems mit Wissenschaft Die Entwicklung der Sozialpädagogik als disziplinäre Form der Problemarbeit
1. Einführung: Das Problem wissenschaftlichen Problemwissens Gemäß landläufiger Meinung stellt wissenschaftliches Wissen einen Sonderfall dar: Es kommt nach besonderen Regeln zustande, muss sich selbst immer wieder in Frage stellen, es muss konsistent und logisch aufgebaut sein und sich disziplinären Vorgaben unterwerfen. Lange Zeit galt es auch wissenschaftstheoretisch als relativ unbestritten, dass es deshalb mit alltäglichen Wissensformen kaum vergleichbar ist. Vor allem, wo Fehler auftraten, schien der Sonderstatus der „Wissenschaftlichkeit“ verletzt worden zu sein, während ansonsten gleichsam auf ‚adäquate’ Weise Wissenschaft betrieben werde. Rudolph Virchow (1877: 32) stellte diesen Anspruch heraus, indem er die Verantwortung des Wissenschaftlers betonte, nur das als wissenschaftliche Erkenntnis zu kommunizieren, „was wirklich objective Wahrheit ist“. Lediglich erwiesene Tatsachen sollten der Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt werden und die Chance erhalten, in den Common Sense einzumünden. Es gibt gute Gründe, diesem Verständnis von Wissenschaft kritisch zu begegnen. Zwar wird kaum daran gezweifelt, dass sich wissenschaftliches und alltägliches Wissen grundlegend unterscheiden. Jenes ist auf einen skeptischen Wahrheitsbegriff verpflichtet, dieses auf die Anforderung, in praktischen Handlungszusammenhängen zu „funktionieren“ und „plausibel“ zu wirken (vgl. Plessner 1980: XIV). Dennoch legten wissenschaftstheoretische Arbeiten offen, dass wissenschaftliches Wissen nicht nur dann kulturellen, politischen, persönlichen und anderen Einflüssen unterliegt, wenn – wie auch immer bestimmbare – Fehler passieren. Die Einflüsse kommen auch bei ‚normaler’ wissenschaftlicher Arbeit zum Tragen. Explizit pointiert diese Erkenntnis Bloor in seinem „strong Programme“ des Konstruktivismus; auch als „wahr“ betrachtetes Wissen ist
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demzufolge eng mit wissenschaftsexternen Einflüssen verwoben (vgl. Bloor 1976: 4 f.). Unabhängig von der Auseinandersetzung um dieses Programm (vgl. Schützeichel 2007) ist festzuhalten, dass wissenschaftliches Wissen in jedem Fall abhängig ist von vielfältigen Einflussfaktoren. Wie etwa wissenschaftssoziologische Laborstudien belegen, sind selbst naturwissenschaftliche „Fakten“ im Sinne des Wortes „gemacht“ (vgl. Weingart 2003: 67: ff.). Sie sind dies nicht im Sinne einer arbiträren Konstruktion, sondern sie zeigen sich als Ergebnisse organisational eingebundener, interaktional ausgehandelter und symbolisch geformter Praktiken, und dies gilt für Befunde in den Natur- wie auch in den Sozialwissenschaften (vgl. Knorr Cetina 2002: 245 ff.). Knorr Cetina (1995: 128) betont dabei eine „,starke’ Rolle der Kultur“, um die Flexibilität und interpretative Offenheit von Prozessen der Erkenntnisproduktion hervorzuheben. Die Ergebnisse der wissenschaftssoziologischen Analysen waren nach Knorr Cetina bezüglich der naturwissenschaftlichen Artikulation von Fakten „überraschend“ (ebd.: 111), da deren Genese als kulturelle Praxis dechiffriert wurde. Umso nahe liegender ist es, die Konstruktion sozialwissenschaftlicher Befunde auf affine Weise zu betrachten. Es stellt keine besondere Irritation (mehr) dar, ihre Hervorbringung im Kontext weltanschaulicher Perspektiven oder Modi (hochschul-) politischer Steuerung zu verorten (vgl. zu letzterem Münch 2007). Im Falle sozialwissenschaftlicher Erkenntnisse ist schon der Gegenstand des Wissens – einem allgemeinen Sinne nach „das Soziale“ bzw. „die Gesellschaft“ – nicht konsensuell bestimmbar und seine epistemische Identifizierung als kontingent zu bezeichnen. Mit der Art der Herangehensweise und der jeweiligen Theoretisierung ändert sich dessen Gestalt, und schon die Idee einer Gesellschaft ist nur als Ausdruck spezifischer Werthaltungen und Interessen denkbar (vgl. Tenbruck 1981). Unterschiedliche Soziologien generieren unterschiedliche Gesellschaften. Betrifft dies die Soziologie und die Sozialwissenschaften insgesamt, so wird die kontingente Wissensbasis bei einem Bezug auf soziale Probleme noch deutlicher. Was soziale Probleme ‚sind’, ist bekanntlich umstritten. Selbst „objektivistische“ Problemsoziologien gehen davon aus, dass Probleme nur dann diskursiv präsent sind, wenn sie als solche definiert und anerkannt sind (vgl. Peters 2002: 20 ff.). Ohne selektive definitions- und interessensabhängige Problemkonstruktionen können sie zumindest nicht öffentlich existieren, soweit herrscht Einigkeit in der Problemsoziologie. In zentraler Weise wird die Kontingenz des Wissens um soziale Probleme von konstruktionistischen Positionen anerkannt, denen zufolge in agonalen Auseinandersetzungen jeweils festgelegt wird, was
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ein Problem ‚ist’. 1 Problemwissen, so ließe sich zusammenfassen, ist kontingent. Es wird kulturell hervorgebracht und kann auch in sozialwissenschaftlichen Aussagenzusammenhängen und Theorien nicht als Repräsentation ‚an sich’ problematischer Lebenszusammenhänge betrachtet werden. In den Worten von Humphreys und Rappaport (1993: 897), die das Gemeinte am Beispiel der Förderung von Drogenforschung ausführen: „As every American researcher knows, where goes the public eye, grant money and publications are soon to follow.“ Und mit dem öffentlichen Auge, so die Autoren, gehe auch die kulturelle Bewertung des betreffenden Sachverhalts auf die Wissenschaft über und leite sie zu entsprechenden Kategorisierungen von Sachverhalten. Es liegt deshalb nahe, den Ansatz der social Problems Work (Holstein/Miller 2003) auf wissenschaftliches Arbeiten zu beziehen. Nach Holstein und Miller ist social Problems Work eine interaktionale und interpretativ-performative Hervorbringung von Problemen, wobei in den Akt der Problemarbeit konstitutiv lokale, kulturelle und institutionell-organisatorische Vorgaben einfließen, ohne die entsprechende Leistungen nicht möglich wären (ebd.: 87) 2. Dies ist auf den Bereich wissenschaftlichen Wissens zu transferieren. Es verweist zwar auf besondere Arten der Problemarbeit, da dieses Wissen permanent in Frage zu stellen ist; es ist zu belegen und auf Wahrheitsgehalte hin zu überprüfen. Gleichwohl erfolgt dies in einem dynamischen kulturellen Rahmen, der kommunizierte Befunde und Inhalte ko-konstituiert. Eine „reine“ Wissenschaft außerhalb kultureller Einflüsse bleibt eine Fiktion. Zudem ist geltend zu machen, dass im Sinne der social Problems Work der Einfluss organisationaler Steuerung auf wissenschaftliches Arbeiten ernst zu nehmen ist (vgl. entsprechend Holstein/Miller 2003: 85). Auch wenn wissenschaftliches Arbeiten in hohem Maße spezifischen disziplinären und wissenschaftsethischen bzw. -theoretischen Prinzipien gerecht zu werden hat, üben – in derzeit wohl wachsendem Maße – Organisationen Einfluss auf wissenschaftliches Arbeiten aus (vgl. Meier 2007). Sozialwissenschaftler und Sozialwissenschaftlerinnen betreiben demnach Problemarbeit. Ohne aktives, kulturell rückgebundenes Problemmaking wären Sozialwissenschaften kaum denkbar. Dies gilt es im Folgenden am Beispiel der Sozialpädagogik zu zeigen. Ein Punkt ist diesbezüglich allerdings noch anzusprechen: Um sozialwissenschaftliche Problemarbeit zu analysieren, müssen die entsprechenden – ihrerseits wissenschaftlichen – Ausführungen für sich reklamieren, zumindest weit1 2
Zu entsprechenden, hier nicht näher verfolgten Auseinandersetzungen vgl. Albrecht 1990, 2001; Best 2006; Peters 2002; Schetsche 2008. Der Ansatz wird im Folgenden nicht näher beschrieben. Zur Übersicht siehe – neben den Beiträgen dieses Bandes –: Holstein 1992; Holstein/Miller 2003; Loseke 1997; Miller/Holstein 1997.
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gehend unabhängig von den Bedingungen und Voraussetzungen operieren zu können, die die wissenschaftliche Problemarbeit kennzeichnen. Es ist ein Standpunkt der analytischen Beobachtung einzunehmen, der eine höhere Autonomie von kulturellen Zusammenhängen für sich beansprucht als das jeweils analysierte sozialwissenschaftliche Erkenntnisobjekt. Die entsprechenden Analysen müssen reflexiven Status einnehmen (vgl. Schmidt 2007: 36), um die Art und Weise fokussieren zu können, durch die die Produktion und Kommunikation von Problemwissen disziplinär konturierte Zugehörigkeiten definiert und Artikulationsmöglichkeiten zulässt. Erst durch diese Voraussetzung ist zu begründen, dass wissenschaftliches ebenso wie alltägliches oder professionelles Wissen daraufhin untersucht werden kann, wie Probleme performativ als solche qualifiziert werden, wie sie als Sachverhalte besonderer Eigenart klassifiziert und bewertet werden. Das Konzept der social Problems Work kann hier wertvolle Anregungen liefern, wenn es wissenschaftstheoretisch ‚angereichert’ und auf akademische Diskurse bezogen wird. Dies soll im Folgenden am Beispiel der Sozialpädagogik demonstriert werden, womit die Ausführungen nicht als Anwendungsfall einer Soziologie sozialer Probleme fungieren, sondern als Element einer „reflexiven Sozialpädagogik“ zu verstehen sind (vgl. im Einzelnen Dollinger 2008a). Um dies zu verdeutlichen, ist zunächst auf die prinzipielle Kontingenz der sozialpädagogischen Bearbeitung und Theoretisierung von Problemlagen einzugehen.
2. Sozialpädagogik als Alternative: Kontingenz und programmatische Notwendigkeit Schon ein kurzer Blick in die Geschichte der Sozialpädagogik zeigt, dass sie um ihren Status als Wissenschaft und Praxis stets ringen musste. Sie war und ist eine spezifische Form der Theoretisierung und Bearbeitung sozialer Problemlagen, die sie in ihrem Sinne konzipieren und etablieren muss. Sie muss bestrebt sein, in aktiver Problemarbeit ihre Problemsichten zu hegemonalisieren und alternative Perspektiven zu delegitimieren (vgl. Dollinger 2010). Ohne Kämpfe und Konflikte um die legitime Deutung sozialer Wirklichkeit hat die Sozialpädagogik – ebenso wie die Sozialpolitik (vgl. Kaufmann 2003) – nie existiert. Dennoch sieht man sich, wenn die Kontingenz der Bearbeitung sozialer Probleme disziplintheoretisch und -geschichtlich ernst genommen werden soll, mit einer Schwierigkeit konfrontiert: Die sozialpädagogische Theorie ist in hohem Maße funktionalistisch ausgerichtet. Die in der Disziplin dominierenden Ansätze erklären Sozialpädagogik als solche mit einer im Prozess der Modernisierung aufbrechenden Problemhaftigkeit des gesellschaftlichen Lebens, auf die
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die Sozialpädagogik reagiert und antwortet. Die Moderne sei charakterisiert durch eine „sozialpädagogische Verlegenheit des gesellschaftlichen Körpers“ (Mennicke 1926: 331), denn aus der sozialen Entwicklung ergebe sich ein Problem der (Re-)Integration sozial freigesetzter Individuen. Es gehe für die Sozialpädagogik darum, „den heutigen Menschen dazu zu bringen, sich in das gesellschaftliche Ganze zu fügen“ (Mennicke 2001 [1937]: 48) und hierbei bewusst eine werthafte Verbesserung der sozialen Zustände und der individuellen Entwicklungschancen anzustreben. Mennickes Argumentation ist charakteristisch. Er verweist auf die Funktion der Sozialpädagogik, als notwendiges Korrelat von Modernisierungsprozessen zu operieren. Folgt man dieser Darstellung, so kennt die Moderne ein genuin sozialpädagogisches Problem. Es muss zwar nicht öffentlich als solches anerkannt sein und die Sozialpädagogik muss nicht durch die Sozialpolitik für die sozialpädagogischen Probleme als zuständig deklariert werden, aber falls der Sozialpädagogik die entsprechende Anerkennung und Zuständigkeit verweigert werden, kommt es nach dieser Perspektive zu einer „falschen“ Bearbeitung der jeweiligen Problemlagen, denn „die psychosozialen Bewältigungskonstellationen [enthalten B.D.] selbst einen pädagogischen Aufforderungscharakter“ (Böhnisch/Schröer/Thiersch 2005: 103). Die betreffenden Probleme erscheinen objektiv begründet in der Struktur der Gesellschaft als sozial-pädagogisch zu bearbeitende Derivate einer krisenhaften Entwicklung der Moderne. Alternative Problemdeutungen werden dadurch prinzipiell ausgeschlossen. 3 Die in der Sozialpädagogik vorherrschende Problemtheorie ist objektivistischer Natur. Wissenschaftliche Problemarbeit am Beispiel der Sozialpädagogik zu analysieren, verlangt demnach zuerst, Kontingenzen nachzuweisen (2.1). Dies kann auf disziplinäre Kristallisationen bezogen werden (2.2), um auf dieser Basis rekapitulieren zu können, wie aus analytischer Sicht die Argumentationsstruktur dieser Form von Problemarbeit konzeptualisiert werden kann (3.). 2.1 Frühes Kontingenzbewusstsein Angesichts der objektivistischen Problemtheorie der Sozialpädagogik, durch die sie ihr entgegenlaufende Problemdeutungen delegitimiert, mag es überraschend
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Uhlendorff (2009) beschreibt das Argumentationsmuster folgendermaßen: „Das Sozialpädagogische Problem ist ein wissenschaftlicher Begriff für eine pädagogisch und sozialpolitisch motivierte gesellschaftliche Diagnose, bei der Aneignungsprobleme von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen bzw. Vermittlungs- oder Erziehungsschwierigkeiten in Familien beschrieben werden, die durch gesellschaftliche Modernisierungsprozesse strukturell bedingt sind.“
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sein, dass Kontingenzen entsprechender Problemdeutungen schon frühzeitig offenkundig waren. Bereits im Kontext der Diskussionen um eine „soziale Frage“ wurden Zweifel artikuliert, ob sich tatsächlich ein neuartiger objektiver Problemgehalt eingestellt habe. Es wurde eingebracht, es habe sich stattdessen vorrangig die Bewertung bestimmter Erscheinungen geändert und deshalb sei eine neuartige Problemsicht aufgetreten. So merkte Johann Gottfried Hoffmann an, die Annahme einer originären pauperistischen Verarmung der Völker sei „durchaus unerweislich“ (Hoffmann 1965 [1845]: 368). Geändert habe sich weniger die objektive Armut als vielmehr die Einschätzung, es handle sich bei bestimmten Formen der Ungleichheit um nicht zu tolerierende Probleme. Es ging mit diesen Anmerkungen nicht darum, Armut zu negieren; Hoffmann war selbst frühzeitig an der Erkundung ihrer Virulenz mit Blick auf die Industrialisierung beteiligt. Stattdessen wurde auf die Abhängigkeit der Wahrnehmung des Pauperismus von kulturellen und subjektiven Bewertungsmaßstäben abgestellt. Im Zentrum der Analyse muss gemäß dieser Theoretisierung die „Definitionsmacht öffentlicher (oder auch wissenschaftlicher) Problematisierung“ (Pankoke 2001: 1677) stehen. Sie erst machte aus der Wahrnehmung sozialer Ereignisse eine problembeladene „soziale Frage“, die die Gesellschaft bedrohte und zur Revision drängte. So wurde ausgiebig über die „soziale Frage“ gestritten. Welche Lösung die „richtige“ sei, war ebenso unklar wie die Frage als solche. Wer auf sie eine Antwort gab, verfolgte letztlich eine spezifische Art von Frage, so dass die Perspektivenabhängigkeit der Problematisierung offensichtlich war. Am Beispiel Hoffmanns wird deutlich, dass dies zumindest manchen Zeitgenossen frühzeitig bewusst war. Dies führte nicht zuletzt zu der Erkenntnis, dass eine pädagogische Intervention nur ein Mittel der Wahl neben anderen war. Die verschiedenen Definitionen der „sozialen Frage“ suchte der Jurist, Politiker und Staatswissenschaftler Franz Joseph Buß (1843: VIII) auf den Punkt zu bringen, indem er auf folgende Ursachenkonstruktionen hinwies: auf wirtschaftliche, gesundheitliche, rechtlichstaatliche, unterrichtliche und sittlich-religiöse Aspekte. Wer als Pädagoge auf die pauperistische oder im Rahmen der (frühen) Industrialisierung thematisierte Armut blickte, musste demnach alternative Ursachenkonstruktionen delegitimieren und nachweisen, dass Erziehung zumindest auch eine sinnvolle Maßnahme zur Bekämpfung war. Im Kontext des Pauperismus repräsentiert Adolph Diesterweg das in diesem Sinne prominenteste Beispiel. In der ersten seiner zuerst 1836 publizierten Lebensfragen der Zivilisation klagte er Armutsdeutungen an, die Indifferenz nahe legten, die für Armut den Einzelnen allein verantwortlich machten, die sie theologisch konzipierten oder die aus anderen Gründen Gegenmaßnahmen verwehrten (Diesterweg 1890 [1836]: 182). Verarmung sollte als zeitgenössisches Problem anerkannt werden, um unter Beteiligung einer sozial
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ausgerichteten Erziehungspraxis und Erziehungstheorie ein breites Spektrum an Maßnahmen implementieren zu können (vgl. Dollinger 2006: 134 ff.; Geißler 1990). Um dieses Bewusstsein und diese Forderungen kulturell zu verankern, griff Diesterweg die genannten alternativen Problemdeutungen an und artikulierte drängenden Handlungsbedarf. Folge man ihm, so war schnell zu handeln, und zwar auch durch das Mittel der Erziehung. 2.2 Disziplinäre Abgrenzungen Es musste folglich um die Durchsetzung und Etablierung von Problemsichten gerungen werden. Man war sich der Kontingenz der eigenen Haltung bewusst und betrieb auch im Rahmen wissenschaftlicher Darstellungen eine wirkungsvolle Form der Problemarbeit, in die Momente der Problempolitik stets integriert waren. Es würde deshalb wenig Sinn machen, die politischen und performativen Qualitäten der wissenschaftlichen Behandlung von Problemwissen zu negieren. Bereits die Ansprache besonderer sozialer Sachverhalte – ein Bildungsbedarf des „Pöbels“, ein Sittlichkeitsdefizit „verwahrloster“ Jugendlicher, die Untragbarkeit von Bildungsungleichheiten zwischen sozialen Klassen u. a. m. – leistete eine normative Bewertung und Klassifikation, mit der sich Hinweise auf „rationale“ Bearbeitungsformen eines sozialen Problems verbanden. Selbst wenn manche Ausführungen zur „sozialen Frage“ aus heutiger Sicht generalisierend, voreingenommen und simplifizierend erscheinen mögen, so illustrieren sie lediglich prinzipielle Mechanismen der Problemkommunikation und -arbeit. Aktuelle Auseinandersetzungen um die Konzipierung sozialer Probleme verweisen deshalb zurück auf den Modellfall der „sozialen Frage“, in der problematisierte Sachverhalte auf besondere Weise zusammengefasst waren. Sie fungierte als Klammer, die auf sozialen Wandel und gesellschaftliche Verhältnisse zurückführte, was in der jeweiligen Gegenwart störend oder unschicklich erschien. Und angesichts der sehr breiten Diskussionen und des grundlegenden Bedrohungsgefühls, das ihr attestiert wurde, nimmt es kaum Wunder, dass auch die Pädagogik sich in diesem Kontext neu orientierte. Sie wurde als soziale Wissenschaft und Praxis dekliniert, d. h. als „Sozialpädagogik“ (vgl. Dollinger 2006; Schröer 1999), die sozialwissenschaftliches Bezugswissen in die pädagogischen Reflexionen involvierte, um auf dieser Grundlage zum Akteur der Diskussionen um eine „adäquate“ Bearbeitung der „sozialen Frage“ zu werden. Dies wurde von dem Wissen begleitet, lediglich eine Möglichkeit der Thematisierung des sozialen und individuellen Lebens zu artikulieren. Rhetorische Strategien der Kontingenzreduktion, der Plausibilisierung und Legitimierung der eigenen Position und der Diskreditierung alternativer Denkformen waren in den entsprechenden Ausführungen involviert, und sie sind dies bis heute. Dies
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sei im Folgenden dargestellt, indem exemplarisch Schlaglichter der disziplinären Entwicklung in den Blick genommen werden. a) Sozialpädagogik als soziale Pädagogik Frühe Ausführungen zu einer explizit als solche bezeichneten Sozialpädagogik verweisen auf die 1840er Jahre (vgl. Kronen 1980). 1844 verwendete Karl Mager – wie Diesterweg durch eine liberale Haltung geprägt – den Terminus „Sozialpädagogik“, u. a. um eine kulturelle Krise anzuprangern, in der Bildungsprivilegien herrschten und dem Bürgertum politische Handlungsmöglichkeiten und freiheitliche Artikulationen vorenthalten wurden. Mager formulierte eine recht deutliche Zeitkritik, schließlich ging es ihm um nichts weniger als um eine „gründliche Umgestaltung der gesellschaftlichen, insbesondere der Schulverfassung in Deutschland“ (Zimmermann 1912: 14). Als nach den Ereignissen von 1848 deutlich wurde, dass dies auf absehbare Zeit unrealistisch war, resignierte er und zog sich zurück. Seine pädagogisch-politische Art der Krisenbearbeitung war aussichtslos geworden. Diesterweg – nach Mager zweiter Begriffsverwender im Jahre 1850 – war hier hartnäckiger; er behielt seine zeitkritische Haltung bei und monierte restaurative Tendenzen. Auch gegen Widerstände artikulierte er seine Kritik. Was Diesterweg und Mager einte, war nicht nur das inhaltlich ähnlich gelagerte Interesse an einer Sozialpädagogik, sondern auch der Versuch einer disziplinären Etablierung. Als Leiter des Berliner Stadtschullehrerseminars suchte Diesterweg den angehenden Lehrkräften „ein quasi akademisches Selbstverständnis für den Beruf zu vermitteln“ (Wehler 1996: 482) und Magers Bestrebung ging in die Richtung, der Pädagogik eine eigenständige Fakultät an den Universitäten einzuräumen (vgl. Kronen 2007). Begründet wurde dies nicht zuletzt durch die kulturelle Mission und Problemarbeit, die Erziehung und Lehrerschaft leisten sollten. Mager und Diesterweg verwiesen nachhaltig auf eine basale Gefährdung der Gesellschaft durch untere Schichten, die zur Revolution und zum Umsturz der Gesellschaft tendierten, wenn sie nicht durch Reformen, an denen eine sozial orientierte Pädagogik zu beteiligen war, hieran gehindert würden. Als Liberale hielten sie an den im Modernisierungsprozess aufgebrochenen Freiheitschancen des Einzelnen fest, suchten sie aber durch Bildungsvermittlung wertorientiert auszugestalten und sozial zu kontextualisieren. Somit war die Pädagogik zwar noch keine akademische Wissenschaft, aber u. a. sozialpädagogische Themenstellungen ermöglichten ihre weitergehende Konturierung (vgl. Manhart 2007: 19, zur Disziplingeschichte Horn 2008). Die Bearbeitung gesellschaftlicher Krisen wurde zur Aufgabe einer Sozialpädagogik, deren implizite Problemdeutungen mit politischen (und weiteren) Widerständen konfligierten.
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b) Sozialpädagogik versus Fürsorgewissenschaft Die disziplinäre Etablierung der Sozialpädagogik erfolgte erst deutlich später, in völlig geänderten politischen Rahmenbedingungen. Die erste Professur für Sozialpädagogik – genauer: für „Fürsorgewesen und Sozialpädagogik“ – hatte im Jahre 1920 Christian Jasper Klumker inne (vgl. Reyer 2002: 224). Er war der Ansicht, Fürsorge beinhalte „in allen Formen ein Stück Erziehung“ (Klumker 1929: 590), aber ein Pädagoge war der Fürsorgetheoretiker Klumker nicht. Im Gegenteil bestand zum damals aufkommenden Verständnis von Sozialpädagogik und zu entsprechenden Vertretern einer geisteswissenschaftlichen Pädagogik ein Konkurrenzverhältnis. Es verdeutlicht auch hier, in der Zeit der Weimarer Republik, Auseinandersetzungen um die ‚zutreffende’ Problematisierung sozialer Auffälligkeiten. Inhaltlich betraf dies nicht mehr „Pöbel“ oder „Proletariat“ wie bei Mager und Diesterweg, sondern vornehmlich als „verwahrlost“ geltende Jugendliche und die Frage, ob sie durch Mittel und Wissensbestände der Sozialpolitik, der Medizin, der Theologie, der (Familien-)Fürsorge oder eben der Pädagogik adressiert werden sollten. Die Auseinandersetzungen und Konflikte waren überaus vielschichtig (vgl. Dollinger 2006: 389 ff.; Niemeyer/Schröer 2003). Es war noch nicht gesichert, ob „die Bearbeitung sozialer Probleme mit pädagogischen Programmen wirklich Reflexionsgegenstand der Erziehungswissenschaft sein sollte und könnte“ (Gängler 2001: 781), und um dies durchzusetzen, bedurfte es nennenswerter theoriepolitischer und rhetorischer Anstrengungen, die aus sozialpädagogischer Sicht insbesondere mit dem Namen Herman Nohl verbunden sind. In dem Versuch, seine Professur für „praktische Philosophie mit besonderer Berücksichtigung der Pädagogik“ (1920) bzw. sein 1922 neu geschaffenes Ordinariat für Pädagogik in Göttingen zum Ausbau geisteswissenschaftlicher Pädagogik zu nutzen, bemühte Nohl sich um eine pädagogische Durchdringung der Arbeit mit verwahrlosten und anderweitig sozial auffälligen Jugendlichen im Sinne einer Sozialpädagogik. Für Nohl bedeutete dies insbesondere die Notwendigkeit, sich von einer sozialwissenschaftlich ausgerichteten Fürsorgetheorie – als Vorläufer einer gegenwärtig propagierten „Sozialarbeitswissenschaft“ (vgl. Bango 2001; Flösser/Otto 1992; Merten/Sommerfeld/Koditek 1996; Rauschenbach 1999: 269 ff.) – zu distanzieren: Es gehe nicht primär um die Veränderung der sozialen Umwelt, denn es sei zu bedenken, dass „die größte Not stets in der Seele selber ist, und daß die größere Hälfte aller Hilfe Erziehungshilfe sein muß“ (Nohl 1965 [1928]: 46). Die Ausbildung von Jugendwohlfahrtspflegern müsse auf „eine innere Einheit“ bauen, und diese liege „in der pädagogischen Gesinnung und Einsicht“ (ebd.: 49). Mithin war die Arbeit mit der betreffenden Klientel vorrangig eine Aufgabe der Pädagogik und Verwahrlosung war durch
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Erziehung zu beantworten. Die Fürsorgetheorie sollte dadurch in ihrem Anspruch auf dieses Arbeitsfeld relativiert werden. Weitere Angriffe gingen gegen die Sozialpolitik, die mindestens eines pädagogischen Gegenpols bedurfte, und v. a. gegen die christliche Fürsorgetradition. Ihr konnte in einer Zeit zunehmender Kirchenaustritte vorgehalten werden, dass sie „nicht mehr ‚in die Zeit passen’“ (Weniger 1990 [1929]: 181) würde, ja die Lage sogar verschlimmere, da sie Jugendliche durch ihre Fürsorgepraxis in die „Opposition“ (Behnke 1931: 642) treibe. Diese und weitere Distanzierungen dienten der Konturierung einer sozialpädagogischen Problemsicht auf Verwahrlosung, inklusive einer entsprechenden Ätiologie und Interventionsforderung. Die Etablierung der Sozialpädagogik als pädagogische Form des Umgangs mit jugendlicher Devianz forderte, diese in der „Seele“ des Einzelnen zu verorten, um sie der Erziehung zugänglich zu machen. Um dies zu leisten, wurden kulturelle Semantiken der Kulturkritik, der Jugendbewegung und der Gemeinschaftlichkeit fruchtbar gemacht. Sie führten zur Problematisierung einer Krankheit der Seele – einer Krankheit, die weniger ärztliche als pädagogische Maßnahmen zu verlangen schien. c) Akademisierung als Normalisierung? Die genannten Konflikte dauerten an und sie erstrecken sich bis in die Gegenwart. Deutlich wird dies u. a. an Diskussionen, in denen eine „Normalisierung“ der Sozialpädagogik zum Thema wird, da hier Problemarbeit in Auseinandersetzung mit der Wahrnehmung disziplinärer Institutionalisierung sichtbar wird. Disziplinäre Normalitätsunterstellungen und kontingente Problemartikulationen treffen gleichsam aufeinander. Die Einführung des universitären Studiengangs Sozialpädagogik mit erziehungswissenschaftlicher Rückbindung wurde 1969 beschlossen (vgl. im Einzelnen Rauschenbach 2002). Die Studienrichtung Sozialpädagogik entwickelte sich im Rahmen des Studiums der Diplom-Pädagogik zur am meisten von Studierenden gewählten Schwerpunktsetzung und die Beschäftigung mit sozialen Problemen erfuhr im erziehungswissenschaftlichen Kontext eine neue Qualität und Intensität (vgl. Böllert 2008: 66). 4 So ist in den vergangenen Jahren die Anzahl sozialpädagogischer Professuren deutlich angewachsen: Von 1995 bis 2006 stieg die Zahl „an den universitären Standorten, an denen sie eigenständig in der
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Die neueren Studienstrukturen in Bachelor- und Master-Studiengängen zeigen diesbezüglich eine wachsende Heterogenität bzw. einen „Wildwuchs“ (Horn 2008: 26); erziehungswissenschaftliche Basisstrukturen scheinen stärker als zuvor in den Hintergrund zu treten, allerdings ist insgesamt nach wie vor ein breites Angebot an sozialpädagogischen Studienmöglichkeiten gegeben (vgl. Horn/Wigger/Züchner 2008).
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Hochschulstatistik ausgewiesen ist, … von 57 auf 83“ (Krüger/Schnorr/Weishaupt 2008: 89), also um 46 Prozent. Zudem expandierte im 20. Jahrhundert die Quantität der in sozialen Berufen tätigen Personen deutlich (vgl. Rauschenbach 1999). Unter anderem auf diese akademische und professionelle Etablierung bezieht sich die „Normalisierungsthese“, die von Lüders und Winkler 1992 vorgelegt wurde. Im Kern steht die Annahme, die Nachfrage und Inanspruchnahme sozialpädagogischer Leistungen sei „mittlerweile auf allen Ebenen und in nahezu jeder Hinsicht Normalität“ (Lüders/Winkler 1992: 364) geworden, d. h. mit Blick auf die Disziplin, Profession und die Leistungsnachfrage durch Adressaten und Öffentlichkeit. Interessanterweise wird die „Normalisierung“ allerdings nicht mit einer Entproblematisierung begründet. Die Sozialpädagogik sei „normalisiert“, jedoch sei dies begleitet von krisenhaften Tendenzen wie einem „Verlust an Gewißheiten“, da die Sozialpädagogik als Perspektive und Kontur diffundiere. Zudem sei die Normalisierung in einer Gesellschaftsformation erreicht worden, „die alle Kinder und Jugendlichen mit Problem- und Lebenslagen konfrontiert, die nach neuen pädagogischen Antworten verlangen“ (ebd.: 367). Die gegenwärtige Gesellschaft bringe mithin generalisierte Problemkonstellationen mit sich. Aus dieser Annahme entgrenzter Problembetroffenheiten wird für die Sozialpädagogik abgeleitet, dass sie um Zuständigkeiten derzeit in besonderer Weise ringen müsse. Es treten, diesen Diagnosen zufolge, „neue soziale Anomien, Paradoxien und soziale Ungleichheiten“ auf den Plan, „die von der bisherigen Institutionalität des Sozialstaats nicht mehr eingeholt werden“ (Lenz/ Schefold/Schröer 2004: 14). Die Tatsache, dass professionelle Referenzen und tradierte Bezüge auf Arbeitsfelder aktuell umstritten sind, da eine sozialpädagogische Bearbeitung in Frage stehe, wird in dieser Hinsicht nicht als prinzipielles Kennzeichen von Sozialpädagogik interpretiert, sondern als gegenwärtiges Krisensymptom (vgl. Böhnisch/Schröer/Thiersch 2005: 13). Soziale Probleme verwiesen an sich auf einen sozialpädagogischen Bearbeitungsmodus, allerdings werde er nicht immer realisiert und sozialpolitisch gestützt. Deshalb wird politisch gehaltvolle Problemartikulation nahe gelegt, durch die sozialpädagogische Verfahrensweisen (re-)etabliert werden. Sieht man davon ab, dass die Normalisierungsthese an sich umstritten ist, da u. a. auf eine Bindung der Sozialpädagogik an mehr oder weniger besondere Problemlagen aufmerksam gemacht wird (vgl. Schaarschuch 1996; Seelmeyer 2008), so weist auch die Normalisierungsthese Bezüge zur Problemarbeit auf. In ihrem Rahmen werden soziale Krisen mit der Anforderung thematisiert, sie pädagogisch zu beantworten. Es wird auf Krisensymptome hingewiesen, die kulturell kommuniziert werden; sie werden modernisierungstheoretisch gedeutet, als Überforderung des Einzelnen dekliniert und dadurch prinzipiell zu „Fällen“ der
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Sozialpädagogik. Ein instruktives Beispiel gibt Rauschenbach (1999: 246), der auf Modernisierungsfolgen wie „Anonymität, Diskontinuität und Isolation“, auf „Sinnkrisen und Orientierungsverlust, Depression und Angst, Ausstieg in die selbstverklärende Innerlichkeit oder in die fassadenhafte Scheinwelt zerstreuter Äußerlichkeit, … Rauschmittelgenuß, Trauer, Schmerz quälende Ungewißheit“ usw. verweist. Diese alltäglichen, negativen Erfahrungen werden zu Symptomen subjektiver, gesellschaftlich bedingter Überforderung und zu einer Aufforderung an sozialpädagogisches Handeln. Dieses wird im Umkehrschluss als zentraler Modus einer zumindest palliativen Beruhigung der Schattenseiten sozialer Entwicklung legitimiert. Disziplin- und professionspolitisch werden sozialpädagogische Haltungen dadurch unmittelbar gestützt. Teilweise wird dies, ähnlich den sozialpädagogischen Warnung vor revolutionären Bestrebungen in der Mitte des 19. Jahrhunderts, durch Drohungen begleitet, es käme bei einer nicht sozialpädagogischen Problembearbeitung zur Gefährdung der gesellschaftlichen Ordnung: Modernisierungsbedingtes Risikoverhalten Jugendlicher gefährde in der Form von Gewalttätigkeit nicht nur die betreffenden Akteure selbst, sondern auch andere Menschen „in ihrer leibseelischen Integrität“ (Böhnisch 1999: 135). „Die lebensalterstypische antisoziale Rücksichtslosigkeit der Jugend“ (ebd.: 190) werde durch Prozesse der Modernisierung und Individualisierung nicht länger sozialintegrativ gewendet, sondern zur pädagogisch zu kanalisierenden Gefahr. In diesem Sinne wird Problemarbeit geleistet, die die kulturelle Diskreditierung von Gewaltaffinität disziplinpolitisch nutzt, Adressaten sozialpädagogischer Unterstützungsleistungen als potentielle Gewalttäter klassifiziert und die Sozialpädagogik als Interventionsmodus ausweist, der zwischen gesellschaftlicher Entwicklung und subjektiver Handlungsorientierung vermittelt.
3. Wissenschaftliche Problemarbeit als Etablierung distinkter Deutungsstrukturen Die gezeigten Beispiele könnten vielfältig erweitert und im Einzelnen auf die diskursive Konstitution disziplinärer Sozialpädagogik bezogen werden. Intendiert ist hier allerdings nicht eine Rekonstruktion der disziplinären Geschichte der Sozialpädagogik, sondern es sollen Hinweise für die enge Bindung dieser Geschichte an spezifische Formen der Problemarbeit vermittelt werden. Die genannten Punkte belegen die entsprechende, grundsätzlich agonal verfasste Struktur sozialpädagogischer Artikulationen von Problembezügen. Um Positionen der „Legitimität“ zu besetzen und sozialpädagogische Handlungsoptionen zu begründen, rezipieren die wissenschaftlichen Theorien der Sozialpädagogik
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kulturelles Problemwissen, das theorieintern verarbeitet und mit diskursiv plausiblen, diachron und synchron anschlussfähigen Positionen in Beziehung gesetzt wird. Nur in Interaktion mit kulturell verfügbaren Semantiken der Problematisierung war und ist es aussichtsreich, die Kontingenz der spezifisch pädagogischen Problembearbeitung zu unterdrücken und Unterstützung für die entsprechenden Arsenale des Wissens und der Intervention zu mobilisieren. Die disziplinäre Problemarbeit weist demnach als Spezifikum eine Amalgamierung auf: Kulturell verfügbares und gleichsam plausibilisierungsfähiges Problemwissen wird mit Wissensformen vermengt, die der Logik disziplinärer Artikulation entsprechen können. Etwa das sozialwissenschaftliche Motiv der Herauslösung des Einzelnen aus tradierten Mustern sozialer Beziehungen und/ oder kultureller Wertorientierungen durch Prozesse gesellschaftlicher Modernisierung, Individualisierung, Rationalisierung, Kapitalisierung bzw. Differenzierung lässt sich als überdauerndes Motiv in sozialpädagogischen Theorien rekonstruieren. Es wird mit einer stresshaften, sozialisatorisch bedingten Überlastung der Entscheidungspotentiale des Einzelnen und seines subjektiven Steuerungsvermögens assoziiert und lässt pädagogische Gegenmaßnahmen plausibel erscheinen. Auf diese Weise werden makro-, meso- und mikrosoziale Prozesse relationiert, da – unabhängig von der genauen Auflösung – von gesellschaftlichen Krisen auf Sozialisationsdefizite geschlossen wird, die sich in devianten subjektiven Orientierungen und Handlungsweisen kristallisieren. Sozialpädagogisches Wissens wird entsprechend mehrdimensional verortet, indem es gesellschaftstheoretisch fundiert und gleichzeitig erziehungswissenschaftlich als personal orientierte und methodisch anschlussfähige Artikulation problembezogenen Handlungsbedarfs institutionalisiert wird. Es kommt hinzu, dass die betreffenden Semantiken in ihrem Problemgehalt öffentlich und kulturell aussagekräftig sind. So war etwa die von der Sozialpädagogik in jüngerer Vergangenheit breit rezipierte Annahme einer radikalisierten Individualisierung „aus der öffentlichen Debatte nicht mehr wegzudenken“ (Schroer 2000: 9) – ebenso, wie z. B. Auslassungen zur „sozialen Frage“ im 19. Jahrhundert bei weitem kein wissenschaftsinternes Diskursfeld abbildeten, sondern ebenfalls breite öffentliche Resonanz fanden. So lässt sich konstatieren, dass sozialpädagogisches Wissen sich durch komplexe disziplinäre und wissenschaftsexterne Diskursstrukturen auszeichnet. Zu ihrer Analyse kann das Konzept von „Deutungsstrukturen“ Verwendung finden (vgl. Dollinger 2008a: 75 ff.). Sie beziehen sich auf einzelne Deutungsbzw. Problemmuster, die relationiert werden, um Sachverhalte zu bewerten und zu klassifizieren. Als Deutungsstrukturen treten sie in institutionalisierter Form als Felder möglicher Wahrnehmung auf: Einzelne Sachverhalte werden als Sachverhalte spezifischer Qualität, etwa als psychosoziale Probleme, identifi-
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ziert und damit in den betreffenden Wahrnehmungshorizont involviert. Nach Holstein und Miller (2003: 72 f.) verweisen „interpretive structures“ auf diskursiv verfügbare, kulturelle Klassifikationsraster, die subjektive Erfahrungen ermöglichen und steuern. Wie Schimank (2007: 117) festhält, lassen sich wissenschaftliche Theorien hierauf beziehen. Die Theorien sind hierzu analytisch in umfassendere kulturelle und politische Rahmungen einzubinden, denn problembezogene Deutungsstrukturen werden nicht nur wissenschaftsintern konstituiert. Sie beruhen, auch im Falle wissenschaftlichen Wissens, auf kulturellen Diskursvorgaben. Sozial-/Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen blicken in der Regel nicht aus wertneutralem Interesse heraus auf objektive Daten, um auf dieser Grundlage ein Problem als solches zu entdecken und zu artikulieren. Im Gegenteil, „someone is shaping the problems that are posed, and someone is deciding what research will be funded. Society’s problems are overwhelmingly defined by policymakers whose agendas guide, however indirectly it may seem, social science research and intervention“ (O’Neill 2005: 18). Dies verweist allerdings nicht vorrangig auf personale Referenzen („someone“). Anzuerkennen ist vielmehr die Abhängigkeit theoretischer und empirischer Forschungspraxis, soweit sich diese auf soziale Probleme bezieht, von umfassenderen politischen Problemzurechungen, die ihrerseits in kulturelle Deutungen von Sachverhalten eingebettet sind. „Problemwahrnehmungen“, so Schetsche (2008: 107), „basieren auf kollektiv geteilten Wissensbeständen, welche die soziale Wirklichkeit gleichzeitig abbilden und generieren“. Auch wenn Schetsche dies nicht unmittelbar auf wissenschaftliches Wissen bezieht, ist im oben gezeigten Sinne dessen Integration in kulturell und politisch etablierte Deutungen der betreffenden Sachverhalte in Rechnung zu stellen. In der Konsequenz finden sich Strukturanalogien von wissenschaftlichen Problemdeutungen und alltäglichen Sichtweisen von Problemen (vgl. Furnham/Lowick 1984; Furnham/Thompson 1996), die ihrerseits relativ wenig mit – soweit statistisch zugänglichen – ‚objektiven’ Problemverteilungen und -entwicklungen zu tun haben. Wie z. B. Beckett (1997) für den Kriminalitätsdiskurs zeigt, folgen öffentliche und politische Problemdiskurse nicht zwingend statistisch nachweisbaren Problemlagen, sondern sie führen ein prinzipielles „Eigenleben“: Sie gehorchen Diskurslogiken, die mit institutionalisierten Interessen von Diskursteilnehmern eng verwoben sind, ohne im Besonderen auf „empirische“ Problemgehalte zu reagieren. Ausgehend von den meist impliziten Rekursen wissenschaftlicher Problemkommunikation auf diese kulturellen Diskurshorizonte lässt sich hieraus ableiten, dass wissenschaftliche Problemarbeit in hohem Maße durch wertbezogene, perspektivische Formen der Problemdarstellung gesteuert wird, die als epistemische Grundlage wissenschaftlichen Problemwissens fungieren.
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Freilich handelt es sich keineswegs um einen Automatismus. Problemwissen kann reflexiv zugänglich und sichtbar gemacht werden und in seinen latenten Effekten der Wahrnehmungssteuerung erschlossen werden. Sozialpädagogisches Wissen kann analysiert werden, indem empirisch rekonstruiert wird, welche spezifischen, zwingend werthaltigen Problemdeutungen es kommuniziert, mit welchen anderen Problemmustern es diese in Beziehung setzt und wie durch Anschlüsse an historische und zeitgenössische disziplinäre Gehalte und Diskursvorgaben Deutungsstrukturen konstruiert werden. Insofern sich die Sozialpädagogik i. d. R. auf sozial situierte Subjektzustände richtet (vgl. Dollinger 2008a; Winkler 1988), die bildungstheoretisch qualifiziert werden, zeigt sich im Ergebnis eine für sozialpädagogisches Wissen distinkte Bezugnahme subjekt- und sozialorientierter Problemmuster. Sie werden auf eine Weise verbunden, die die Konstitution von Bildungsräumen zulässt und dem Einzelnen Entwicklungschancen öffnet, die in Richtung des mindestens latent implementierten Wertund Normenbezuges prästrukturiert sind. Konkret kann dies beispielsweise bedeuten, dass theoriearchitektonisch eine Überforderung des Subjekts konzipiert wird, die durch sozialen Wandel begründet wird und die nicht nach vorrangig ordnungspolitischen, justiziellen oder primär sozialpolitischen Interventionen zu verlangen scheint, sondern nach einer sozialen Pädagogik und Bildungsvermittlung. So ist das sozialpädagogisch häufig nachgefragte Motiv individueller Überforderung plausibel mit komplexen gesellschaftlichen Verhältnissen, mit erodierenden familialen und anderen sozialen Beziehungsmustern, mit subjektiver Belastung und mit pädagogischen Orientierungshilfen zu verbinden, um dadurch eine sozialpädagogische Position ausweisen zu können. Um dies zu erreichen, bedarf die sozialpädagogische Theoriebildung eines prekären Balanceaktes zwischen „etablierter“ Theorie und aktueller Zeitdiagnostik (vgl. Dollinger 2008b). Wer eine disziplinäre Verankerung theoretischer Aussagen realisieren will, muss an wissenschaftlich bearbeitete, zeitlich entfaltete Inhalte anschließen, über die sich eine Disziplin als solche konstituiert (vgl. Merten 1998). Da die Sozialpädagogik soziale Probleme thematisiert, die auf wechselnde Art und Weise konzipiert werden, muss sie sich selbst permanent verändern, indem neuartige Wissensformen in den Theoriebestand integriert werden. Sie muss folglich zumindest zum Teil zeitdiagnostisch sensitiv sein, darf hierüber aber die „klassische“ Theoriearbeit nicht außer Acht lassen, ansonsten würde sie zur lediglich populären Suche nach gegenwärtigen Trends kultureller Selbstvergewisserung. Es ist eine immer neu auszurichtende und wissenschaftstheoretisch legitimierbare Relationierung „neuer“ und anerkannter Wissensbestände einzuhalten. Dies kann z. B. angestrebt werden, indem die in der Sozialpädagogik diachron etablierte Problematisierung einer sozialen und kulturellen Freisetzung des Menschen aktualisiert und mit synchronen sozial-
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wissenschaftlichen Befunden – einer zunehmenden Individualisierung, Pluralisierung o. ä. – abgeglichen wird und dabei „Reflexionen zur empirischen Tragfähigkeit“ (Thole/Ahmed/Höblich 2007) entsprechender Diagnosen angestellt werden. Es ist zu hoffen, durch empirische Belege unhaltbare Theorieofferten widerlegen zu können. Allerdings entziehen sich Zeitdiagnosen in ihrem spekulativen Gehalt zumindest teilweise einer empirischen Prüfung. Reflexive Analysen von Theoriekonstruktionen, wie sie im vorliegenden Beitrag unternommen werden, scheinen deshalb unverzichtbar, um sinnhafte Beschränkungen zeitdiagnostischer Emphase anzumahnen. Auch diese Anstrengungen können allerdings nichts daran ändern, dass die Sozialpädagogik als Disziplin grundlegend an kultureller Problemarbeit partizipiert und in dieser Hinsicht Zeitdiagnostik betreibt. Die Sozialpädagogik geht von kulturellen Problemzurechnungen aus, verarbeitet sie nach eigenen Interessenslagen und Diskursregeln und gibt sie in diesem Prozess sowohl an öffentliche Akteure wie auch an professionelle Sozialpädagogik zurück.
4. Fazit Problemwissen ist grundsätzlich agonal verfasst. Wer über soziale Probleme spricht, konkurriert per se mit alternativen Deutungsmöglichkeiten und ist i. d. R. bestrebt, die eigene Perspektive kulturell zu hegemonialisieren und ihre kontingente Basis zu eliminieren. Hierin unterscheidet sich alltägliche nicht von wissenschaftlicher Problemarbeit. Auch diese operiert mit „black boxes“ (vgl. Schützeichel 2007: 320), d. h. mit Argumentationsstrukturen, welche die Offenheit, implizite Normativität und Entscheidungsabhängigkeit der eingenommenen Sichtweisen und Interventionsforderungen chiffrieren. Sie werden als Notwendigkeiten und (vermeintlich) in einer Sache begründete Objektivitäten kommuniziert. Ein wesentlicher Unterschied zwischen alltäglicher und wissenschaftlicher Problemarbeit liegt allerdings darin, dass letztere daran interessiert sein muss, sich selbst über diesen Sachverhalt aufzuklären. Sie muss im reflexiven Zugriff die „schwarzen Kästen“ öffnen, soweit dies möglich ist, und zwar unabhängig davon, ob dies durch die Infragestellung tradierter Selbstverständlichkeiten schmerzhaft sein mag oder nicht. Immerhin kann so etwas über Spezifika besonderer Arten der Problemarbeit erfahren werden.
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Ursula Unterkofler
Wandel der Vorstellung von Hilfe in der Sozialen Arbeit Auswirkungen auf die Problemarbeit im Feld der Drogenhilfe
1. Einleitung Das Konzept der ‚Soziale-Probleme-Arbeit’ (vgl. Miller 1992; Miller/Holstein 1993) richtet das Untersuchungsinteresse einer Soziologie sozialer Probleme auf die Konstruktion konkreter Problemfälle im Alltag. Es geht hier nicht um die Untersuchung übergeordneter Problemdefinitionen, die durch gesellschaftliche Definitionsprozesse entstehen. Vielmehr interessiert die Frage, wie diese abstrakten Ansprüche, die in Form allgemeiner Policies an Akteure der Problemarbeit herangetragen werden, von diesen „in praktisches Handeln übersetzt werden“ (Schmidt 2008: 30). Ein beträchtlicher Anteil dieser konkreten Problemkonstruktionen erfolgt innerhalb professionalisierter oder organisierter Handlungszusammenhänge. Insofern es sich dabei um das Handeln professioneller Akteure handelt, wird deutlich, dass diese Problemkonstruktionen weniger durch individuelle Ziel- oder Wertvorstellungen der Akteure als vielmehr durch das institutionelle Setting und die darin versammelten Interessen und Ansprüche beeinflusst werden. Konstitutiv für Soziale Arbeit ist gerade das Zusammenwirken unterschiedlicher Ziele und Aufgabenstellungen. Eine der zentralen empirisch zu beantwortenden Fragestellungen ist deshalb, in welcher Weise die Prinzipien und Ansprüche der jeweiligen Institutionen und ihre typischen Logiken der Problembearbeitung miteinander in Konkurrenz treten bzw. spezifische Bündnisse eingehen (vgl. Groenemeyer 2008: 89). In diesem Beitrag werde ich zeigen, wie sich das institutionelle Setting Sozialer Arbeit gestaltet und inwiefern dabei unterschiedliche Vorstellungen von Hilfe, d. h. unterschiedliche Definitionen sozialer Probleme und sozialer Kontrolle aufeinander treffen (Abschnitt 2). Anschließend werde ich die Profession
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Sozialer Arbeit in den Blick nehmen, um den Wandel der Vorstellung von Hilfe im sozialarbeitstheoretischen Diskurs exemplarisch an Hand zweier Theorien aufzuzeigen (Abschnitt 3). In der Folge wird die Frage gestellt, ob sich der beschriebene Wandel des Hilfeverständnisses auch in der Praxis Sozialer Arbeit manifestiert, d.h. welche Auswirkung er auf die konkrete Problemarbeit der Sozialarbeiter hat. Im Rahmen der Darstellung einer Untersuchung des Deutungsmusters Hilfe im Arbeitsfeld akzeptierender Drogenarbeit wird diese Frage beantwortet (Abschnitt 4). Schlussendlich werden in einem Resümee eine Einschätzung des Beitrags vorgenommen sowie zukünftige Forschungsperspektiven aufgezeigt (Abschnitt 5).
2. Soziale Arbeit als Hilfe und Kontrolle vor dem Hintergrund ihres institutionellen Settings Soziale Arbeit befasst sich mit der Bearbeitung sozialer Probleme: Als Disziplin erforscht sie zunehmend Zusammenhänge sozialer Problementstehung und Problemlösung, als Profession arbeitet sie an der Lösung und Prävention sozialer Probleme. Dabei behandelt sie solche sozialen Probleme, die den Status von ‚public issues’ in einer Gesellschaft besitzen (vgl. Engelke 1993: 102). Die konkrete Konstruktion von Problemfällen erfolgt dabei immer eingebettet in ein institutionelles Setting, in lokale Präferenzen, Praktiken und Ressourcen. Eine Besonderheit Sozialer Arbeit besteht darin, dass in Auseinandersetzung mit staatlichem Auftrag einerseits und mit Interessen der Adressaten andererseits unterschiedliche, teils widersprüchliche Ziele und Aufträge erfüllt werden müssen. Genannt wird ein nicht aufzulösender Widerspruch, gleichzeitig Hilfe und Kontrolle leisten zu müssen, indem Sozialarbeiter und Sozialarbeiterinnen sowohl Anwälte der Hilfebedürftigen als auch Kontrolleure im Auftrag des Staates bzw. der Gesellschaft sein müssen. Diese Problematik erwächst daraus, dass der Begriff des Helfens bereits ein Defizit impliziert, d. h. Vorab-Definitionen dessen, was normal und wünschenswert ist. Dies wird aus Sicht professioneller Akteure Sozialer Arbeit meistens als Entmündigung der Hilfesuchenden begriffen. Der Versuch, diese „Paradoxie professionellen helferischen Handelns“ (Gängler 2001: 772) aufzulösen, führt zu einer Delegation der Problemdefinitionen an die Hilfebedürftigen. Diese sollen unterstützt werden, ihre eigenen Zielvorstellungen und Lebensentwürfe zu verwirklichen. Ganz abgesehen davon, dass dies Adressaten voraussetzt, die über ihren Hilfebedarf – Problemdefinitionen genauso wie Lösungsmöglichkei-
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ten – Bescheid wissen, ignoriert diese Interpretation von Hilfe, dass Soziale Arbeit fast ausschließlich unter den Bedingungen staatlicher Auftragserfüllung tätig ist 1 (vgl. Bommes/Scherr 2000: 44 ff.). Die Diskussion um den Widerspruch von Hilfe und Kontrolle macht deutlich, dass in der Praxis Sozialer Arbeit unterschiedliche Anliegen und Ansprüche aufeinander treffen. Betrachtet man das institutionelle Setting Sozialer Arbeit, wird deutlich dass diese nicht nur von den Adressaten einerseits und vom Staat andererseits artikuliert werden. Schon die Diskussion an sich lässt zwischen den Zeilen erkennen, dass auch die Profession bestimmte Vorstellungen dessen hat, was Hilfe sein soll. Im institutionellen Setting können im Wesentlichen vier unterschiedliche Institutionen bzw. Akteure ausgemacht werden, die mit unterschiedlichen Aufträgen, Forderungen, Anliegen und Ansprüchen an das Handeln der Sozialarbeiter in konkreten Problemsituationen herantreten. Als erstes ist der politische Kontext zu nennen. Soziale Arbeit findet immer im Kontext gesellschaftlicher Problemdiskurse statt, innerhalb derer soziale Probleme zu ‚public issues’ werden (vgl. Groenemeyer 2007: 10). Nicht nur adressieren diese Diskurse Soziale Arbeit zum Teil in Form von kodifizierten Normen, Recht, kulturellen Bildern usw., auch und vor allem werden durch den Staat als „zentrale Institution der Problembearbeitung“ (ebd.: 14) konkrete Aufträge an die Organisationen Sozialer Arbeit vergeben. Soziale Arbeit als gesellschaftliche Institution zur Herstellung und Sicherung sozialer Ordnung ist hier Dienstleistungserbringerin für den Staat, dessen Aufträge mehr oder weniger eindeutige Definitionen von sozialer Ordnung, von sozialen Problemen und von sozialen Problemlösungen beinhalten. Insofern spiegeln die staatlichen Aufträge neben konkreten Vorstellungen darüber, was Hilfe ist, auch Forderungen nach Kontrolle der Adressaten Sozialer Arbeit wider. Zweitens findet Soziale Arbeit in institutionalisierter Form statt. Institutionen sozialer Problemarbeit sind Organisationen Sozialer Arbeit, wie z. B. staatliche und nichtstaatliche, konfessionelle und nichtkonfessionelle Träger. Sozialarbeiter sind als professionelle Helfer Mitglieder dieser Organisationen, die zur Bereitstellung sozialer Dienstleistungen dienen. Einerseits bilden diese spezifische Strukturen und Prozesse aus, um routinemäßiges Organisationshandeln zu ermöglichen. Andererseits bilden Organisationen auch Eigeninteressen aus (vgl. Flösser 2008: 244). Innerhalb der Organisationen Sozialer Arbeit bestehen, angeleitet durch Leitbilder, Wertvorstellungen und Organisationskultur, aber auch
1
Dies gilt zumindest für Soziale Arbeit, wie sie in Deutschland und in vielen europäischen Staaten organisiert ist.
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durch spezifische Organisation von Hilfeprozessen ebenfalls bestimmte Vorstellungen von Hilfe. Auch daraus resultieren Anforderungen an Kontrolle der Adressaten, da die spezifischen Organisationsstrukturen und die institutionalisierten Prozesse der Hilfeleistung eine Anpassung der Adressaten erfordern, ohne die sie nicht vom Hilfeangebot der jeweiligen Organisationen profitieren können. Mit zunehmender Professionalisierung Sozialer Arbeit ist drittens die Profession Soziale Arbeit von Bedeutung. Da Sozialarbeiter und Sozialarbeiterinnen professionelle Helfer sind, greifen sie in ihrer Handlungspraxis nicht auf ihr persönliches Relevanzsystem, sondern auf spezifisches Expertenwissen zurück. Ihr Handeln bewegt sich im Gegensatz zu Laien deshalb im Rahmen der Relevanzen ihres Fachgebietes (vgl. Hitzler 1994: 25 f.). 2 Aufgrund von Verwissenschaftlichung und Professionalisierung finden in der Sozialen Arbeit nicht nur wissenschaftliche Debatten über Theorie und Praxis Sozialer Arbeit statt, auch die sozialarbeiterische Praxis wird durchdrungen von Wissen, das in diesen Diskursen entwickelt wurde. Zunehmend wird auf theoretisch begründete Begriffe, Konzepte und Deutungsmuster sowie auf Forschungsergebnisse zurückgegriffen (vgl. Miethe 2007: 20). Durch den Rekurs auf dieses Wissen erfahren die Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter Sinnhaftigkeit, d. h. in diesem Rahmen Fachlichkeit beim alltäglichen Handeln. Auch dieses Expertenwissen beinhaltet Definitionen sowohl darüber, was Hilfe für die Adressaten Sozialer Arbeit bedeutet als auch welche Mechanismen sozialer Kontrolle angemessen und notwendig sind. Schlussendlich bringen viertens auch die Adressaten Sozialer Arbeit bestimmte Anliegen und Forderungen gegenüber den Sozialarbeitern ein. Sie haben meist eigene Vorstellungen, ob und inwieweit sie hilfebedürftig sind. Sie können demnach nicht als passiver Gegenstand der Problembearbeitung, sondern müssen als aktive Interaktionspartner in den konkreten Situationen der Problembearbeitung betrachtet werden. Ihre Definitionen des Problems sowie ihre Lösungsideen und -vorstellungen weichen nicht selten von denen der Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter ab und werden deshalb zum Gegenstand eines Aushandlungsprozesses (vgl. Dewe/Otto 2001: 1416 ff.). 2
Wird von Sozialarbeitern bzw. Sozialarbeiterinnen als Experten und Expertinnen gesprochen, so wird im Folgenden nicht auf die eingeschränkte Definition von Schütz (1972: 96) zurückgegriffen, sondern auf die in der hermeneutisch-wissenssoziologischen Polizeiforschung weiterentwickelte Definition. Diese greift die Definition von Schütz auf, erweitert sie aber. Experten und Expertinnen verfügen demnach nicht nur über wissenschaftlich begründetes, explizites Wissen, sondern auch auf in der Handlungspraxis entstandenes und angeeignetes impliziertes, routinisiertes Wissen (vgl. Schröer 1994: 230 ff.).
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In der konkreten Problemarbeit sind die Professionellen mit den genannten Vorstellungen von Hilfe und entsprechend mit Ansprüchen an Kontrolle konfrontiert. Diese sind – wie sich auch in den Ergebnissen der empirischen Untersuchung in diesem Beitrag zeigen wird – meist widersprüchlich und kaum vereinbar. Dennoch müssen die Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter innerhalb dieses institutionellen Settings handeln. Empirisch stellt sich deshalb die Frage, wie die Vorstellungen und Interpretationen von Hilfe aussehen, auf deren Grundlage die Professionellen in konkreten Problemsituationen handeln, und inwieweit die Ansprüche der unterschiedlichen Institutionen und Akteure durch ihr Handeln repräsentiert werden. Bevor dies in Abschnitt 4 an Hand einer Untersuchung im Arbeitsfeld akzeptierender Drogenarbeit geschieht, soll jedoch die Profession als Bestandteil des institutionellen Settings genauer untersucht werden. Sie produziert jene sozialarbeitswissenschaftlichen Diskurse, welche nicht nur auf Ebene der Theoriebildung und Lehre wirken, sondern auch auf Ebene der Problembearbeitung als konkrete Fallkonstruktion. Im folgenden Abschnitt soll gezeigt werden, welche Vorstellungen von Hilfe durch Theorien Sozialer Arbeit vermittelt wurden und werden. Das heißt, es wird das Wissen über Hilfe dargestellt, das professionsliterarisch fixiert ist und Auskunft darüber gibt, welches Hilfeverständnis angehenden Sozialarbeiterinnen sowie Praktikern von Seiten der Profession als handlungsleitendes professionelles Wissen an die Hand gegeben wird.
3. Wandel der Interpretation von ‚Hilfe’ innerhalb des sozialarbeitstheoretischen Diskurses Verfolgt man die Entwicklung der Vorstellungen und Interpretationen von Hilfe in der Sozialen Arbeit, wird ein grundlegender Veränderungsprozess deutlich. Während Soziale Arbeit sich früher eher als Auftragsempfängerin staatlicher Ansprüche sah, wurden zunehmend eigene Definitionen sozialer Probleme und angemessener Lösungsmöglichkeiten entwickelt. Diese Entwicklung soll im Folgenden exemplarisch an Hand herausgegriffener Theorieansätze Sozialer Arbeit skizziert werden. 3 Als Beispiel für traditionelle Theorien Sozialer Arbeit kann die Theorie der Fürsorge von Hans Scherpner (1962) herausgegriffen werden. In seinem Haupt3
Eine Aufarbeitung des gesamten Diskurses ist im Rahmen dieses Beitrags nicht möglich. Eine Übersicht über die wichtigsten theoretischen Positionen sowie ihre Definitionen der Funktion Sozialer Arbeit bei der Problemdefinition und -lösung findet sich bei Engelke (1993: 97 ff.).
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werk, das er Anfang der 1950er Jahre als Vorlesung konzipierte, legt er seine Auffassung von Hilfe folgendermaßen dar. Hilfe wird als fürsorgerisches Handeln beschrieben und als den allgemeinen politischen Zielsetzungen untergeordnetes Handeln angesehen. Die geltenden gesellschaftlichen Werte und Lebensentwürfe werden als Rahmen fürsorgerischer Hilfe angenommen. Die Kompetenz zur Definition dessen, wer hilfebedürftig ist und was als hilfebedürftig gilt, wird weder dem professionellen Helfer oder der Helferin noch der Hilfsorganisation oder den Hilfebedürftigen selbst zugesprochen, sondern als rein gesellschaftlicher und politischer Definitionsprozess angesehen. Als Folge dessen wird nicht nach der Interpretation eines individuellen Hilfebedarfs gefragt, sondern danach, über welche Ressourcen die hilfebedürftigen Gesellschaftsmitglieder verfügen, um zum Bestehen und zur Weiterentwicklung der Gemeinschaft als Ganzes beizutragen. Dennoch darf Hilfe nicht unpersönlich sein, d. h. sie muss auf die Person des Hilfebedürftigen ausgerichtet sein. Nur persönliche Beeinflussung kann den Hilfebedürftigen zur richtigen Einstellung in Bezug auf die Anforderungen der Gesellschaft bringen (vgl. Scherpner 1962: 122 ff.). Betrachtet man diese Vorstellung von Hilfe als Fürsorge vor dem Hintergrund des institutionellen Settings Sozialer Arbeit, stellt man fest, dass eine in der Moderne üblicherweise unterstellte gemeinsame Zielsetzung innerhalb der Gesellschaft als Zielsetzung Sozialer Arbeit übernommen wird. Auftrag Sozialer Arbeit ist damit die Integration der Hilfebedürftigen in die Gesellschaft, indem diese einen für sie möglichen Beitrag zur Erreichung dieser gesellschaftlichen Zielsetzung leisten. Die Organisationen Sozialer Arbeit gestalten ihre Strukturen und Prozessen entsprechend der gesellschaftlichen Aufträge. Professionelle Zielsetzungen werden nicht entwickelt, zumindest nicht in Bezug auf die Definition sozialer Probleme. Vielmehr kann die Profession Wissen anbieten in Bezug darauf, wie der Soll-Zustand erreicht werden kann, d. h. wie die Betroffenen dazu bewegt werden können, ihren Beitrag zur gesamtgesellschaftlichen Zielsetzung einzubringen (ebd.: 157 ff.). Die Problemdefinitionen und Lösungsvorstellungen der Hilfebedürftigen selbst werden nicht in den Hilfeprozess miteinbezogen. Sie werden als abweichende Individuen betrachtet, die mit Hilfe der Sozialarbeiter und Sozialarbeiterinnen aus dem gesellschaftlichen Abseits zurück in deren Mitte geführt werden sollen. Im Rahmen der zeitgenössischen Theorieentwicklung Sozialer Arbeit entwickelte sich ein neues Verständnis davon, was Soziale Arbeit leisten soll, kann oder will. Dieses richtet sich in weiten Teilen gegen die Vorstellungen von Hilfe als Fürsorge. Exemplarisch wird hier das systemisch-prozessuale Paradigma in der Sozialen Arbeit herausgegriffen, vertreten insbesondere durch Silvia Staub-
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Bernasconi. 4 Die Aufgabe Sozialer Arbeit wird dort nicht mehr betrachtet als eine Berichtigung fehlerhaften Verhaltens von Individuen oder Gruppen innerhalb der Gesellschaft. Vielmehr kritisiert Staub-Bernasconi (1998: 52) die Definition abweichenden Verhaltens lediglich als soziale Auffälligkeit. Hingegen werden alle sozialen Zustände in der Gesellschaft als Ergebnis von Austauschund Umwandlungsprozessen gesehen. Soziale Probleme sieht sie als Praktiken, die eine zufriedenstellende Bedürfniserfüllung aller Menschen verhindern (vgl. Staub-Bernasconi 2002: 249 ff.). Kennzeichnend im Vergleich zum Verständnis von Hilfe als Fürsorge sind Veränderungen in zweierlei Hinsicht: Erstens geschieht eine eigene disziplin- und professionsbezogene Definition sozialer Probleme. Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter werden als Expertinnen bzw. Experten für soziale Probleme beschrieben, die soziale Probleme definieren, sie erklären und über Normen und Werte für deren Beurteilung verfügen. Dabei werden soziale Probleme immer sowohl als Probleme von Individuen als auch im Zusammenhang mit der Sozialstruktur und Kultur gesehen; auch ihre Erklärung bezieht sich auf die Verknüpfung mikro- und makrosozialer Aspekte. Als Grundlage für die Beurteilung sozialer Probleme und für die Definition eines Soll-Zustands werden Menschenrechte, hier wiederum in gleicher Weise die Freiheits- und Bürgerrechte wie auch die Sozialrechte herangezogen. Die professionellen Definitionen sozialer Probleme und sozialer Problemlösungen können dabei gesellschaftlichen und politischen Problemdefinitionen durchaus widersprechen (vgl. Staub-Bernasconi 2007: 180 ff.). Zweitens wird der Probleminterpretation durch die Adressaten hohe Priorität zugemessen. Auch hier kann der prozessual-systemische Ansatz exemplarisch für die gesamte Theorieentwicklung Sozialer Arbeit herangezogen werden: Zunehmend hat sich hier die Idee Verständnis von ‚Hilfe zur Selbsthilfe’ durchgesetzt. Dabei wird das Recht der Hilfebedürftigen auf Selbstbestimmung und Autonomie – auch bei Interessen, die gesellschaftlichen und politischen Standards widersprechen – ins Zentrum der Hilfe gestellt: „Wenn immer möglich soll versucht werden, der Sichtweise der KlientInnen Priorität einzuräumen“ (StaubBernasconi 1998: 56). Dies bedeutet jedoch keineswegs die Verleugnung gesellschaftlicher bzw. staatlicher Aufträge oder der Rahmenbedingungen der Organisationen Sozialer Arbeit. Die Interpretationen problematischer Situationen durch die Klienten und Klientinnen selbst sowie ihre Lösungsideen werden jedoch als wichtigste Anliegen bei der Problemarbeit angesehen. Definitionen von Proble4
Der dargestellte Wandel des Verständnisses von Hilfe könnte ebenfalls am Beispiel subjekttheoretischer (Winkler 1988), lebensweltlich orientierter (Thiersch 2002; Böhnisch 2001) oder ökosozialer (Wendt 1990) Theorien Sozialer Arbeit dargestellt werden.
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men und angemessenen Lösungen finden in einem Aushandlungsprozess zwischen Klientel und Sozialarbeiterin bzw. Sozialarbeiter – die auch die anderen Ansprüche des institutionellen Settings repräsentiert – statt. Das Aushandlungsergebnis wird dann als Arbeitsauftrag betrachtet (vgl. Staub-Bernasconi 2007: 271 ff.). Die Verwissenschaftlichung und Professionalisierung Sozialer Arbeit hat demnach nicht nur dazu geführt, dass der eigenen Profession innerhalb des institutionellen Settings mehr Bedeutung zugemessen wird – wodurch vermehrt Konflikte zwischen professionellen, organisationalen und staatlichen Ansprüchen auftreten; innerhalb des neuen Verständnisses der „Hilfe zur Selbsthilfe“ ist ein wesentliches Arbeitsprinzip in allen Ansätzen, der Sichtweise der Adressaten Sozialer Arbeit hohe Bedeutung einzuräumen. Ihnen wird die ‚Expertenschaft’ 5 für ihr eigenes Leben zugestanden, da sie selbst am besten ihre Situation, ihre Belastungen und Ressourcen kennen sowie die Folgen für ihre Entscheidungen tragen müssen. Im Gegensatz zu fürsorgerischen Ansätzen werden Abweichungen von gesellschaftlichen Vorstellungen nicht per se als defizitär bewertet. Hilfebedürftige werden so zu Mitkonstrukteuren ihres eigenen Falls und bringen bisher nicht berücksichtigte Interpretationen von sozialen Problemen und möglichen Lösungen in den Konstruktionsprozess ein. In einem derartigen Aushandlungsprozess artikulieren die Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter zusätzlich professionelle Anliegen, die mit gesellschaftlichen und organisatorischen Aufträgen konkurrieren können. Letztere können zwar nicht ignoriert werden, ihnen wird aber innerhalb des institutionellen Settings weniger Bedeutung eingeräumt als noch im fürsorgerischen Hilfeverständnis. Mit dem dargestellten Wandel der Interpretation von Hilfe in der Sozialen Arbeit gewinnt die alltägliche Problemarbeit deutlich an Komplexität. Während früher ‚lediglich’ gesellschaftliche bzw. staatliche Aufträge erfüllt werden mussten, stellt sich die alltägliche Problemkonstruktion nun als komplexe Aufgabe dar, die darin besteht, zwischen den unterschiedlichen Aufträgen, Ansprüchen, Anliegen, Forderungen und Vorstellungen zu vermitteln und eine für alle Beteiligten akzeptable Lösung zu erarbeiten.
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‚Expertenschaft’ wird hier als Terminus der sozialarbeiterischen Fachsprache verwendet. Wissenssoziologisch gesehen handelt es sich bei den Adressaten Sozialer Arbeit jedoch um ‚Spezialisten’ ihres eigenen Lebens, da sie zwar Sonderwissen über ihre je spezifischen Lebenssituationen und -bedingungen haben, aber in Bezug auf ihr persönliches Relevanzsystem handeln. Experten und Expertinnen hingegen beziehen sich immer auf das Relevanzsystem des Fachgebietes und müssen darüber hinaus über eine spezifische Ausbildung verfügen (vgl. Hitzler 1994: 22).
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Empirisch ist nun zu klären, inwieweit das neue Verständnis von ‚Hilfe zur Selbsthilfe’ den Status eines Wissens erreicht hat, auf das die Akteure Sozialer Arbeit in ihrer alltäglichen Handlungspraxis in Interaktion mit ihren Adressaten zurückgreifen. Das heißt, es ist zu untersuchen, welches Hilfeverständnis in der Praxis Sozialer Arbeit vorherrscht und inwieweit dieses vom professionsliterarisch fixierten Wissen abweicht bzw. ob es diesem Rechnung trägt. Im Folgenden wird deshalb eine Studie dargestellt, die das Deutungsmuster Hilfe in einem Arbeitsfeld Sozialer Arbeit – in der akzeptierenden Drogenarbeit – untersucht.
4. Ausprägung des Deutungsmusters Hilfe in der Praxis akzeptierender Drogenarbeit Erkenntnisleitendes Interesse der qualitativen Untersuchung war die Frage, welche Vorstellungen von Hilfe in Einrichtungen akzeptierender Drogenarbeit von den dort tätigen Sozialarbeitern als angemessen betrachtet werden. Spezifischer formuliert: Auf welches Wissen über Hilfe, auf welches Deutungsmuster Hilfe greifen sie als Experten bei der alltäglichen Konstruktion von Problemfällen sowie bei deren Lösungen zurück? Bevor die Untersuchungsergebnisse dargestellt werden, sollen im Folgenden die theoretisch-methodologischen Grundlegungen, das Forschungsfeld sowie die Anlage der Untersuchung skizziert werden, um den Rahmen abzustecken, innerhalb dessen die genannte Fragestellung empirisch bearbeitet wurde. 4.1 Theoretisch-methodologische Grundüberlegungen In der dargestellten Untersuchung wird nicht davon ausgegangen, dass professionsliterarisch fixiertes Wissen, in diesem Fall das beschriebene Verständnis von Hilfe, von den Sozialarbeitern und Sozialarbeiterinnen in der Praxis einfach angewandt werden kann. Vielmehr wird eine hermeneutisch-wissenssoziologische Sicht eingenommen, die Wissen als Grundlage und als Produkt des Expertenhandelns interpretiert. Das bedeutet, dass die Professionellen als Expertinnen und Experten sich einerseits Wissen aneignen – dies geschieht sowohl explizit durch die Aus- und Weiterbildung als auch durch berufliche Sozialisation und Erfahrung –, andererseits müssen sie dieses Wissen im Zuge alltäglicher Konstruktion und Lösung konkreter Problemfälle immer wieder neu auslegen und tragen damit zur Entstehung neuen Wissens bei (vgl. Reichertz/Schröer 1994: 60).
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Expertenwissen umfasst demnach nicht ausschließlich explizites, wissenschaftlich begründetes Wissen, sondern auch Formen von Wissen, die in der alltäglichen Handlungspraxis der Experten entstehen und nicht unbedingt explizit verfügbar sind. Vielmehr muss zur Untersuchung von empirisch vorfindbaren Logiken des Expertenhandelns „die wissenssoziologische Frage nach dem Routinewissen der Professionellen in berufstypischen Standardsituationen, … nach dem Routinewissen, das Professionelle in den Stand setzt, in bestimmten Situationen effektiv, schnell und ‚richtig’ zu handeln“ (Soeffner 2004: 239), gestellt werden. Es reicht deshalb nicht aus, explizites Wissen zu untersuchen. Will man die konkrete Problemkonstruktion durch die Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter verstehen, muss ebenfalls implizites, routinisiertes Wissen sowie Erfahrungswissen (vgl. Böhle 2005: 12 f.) rekonstruiert werden. In der vorliegenden Untersuchung wird eine Analyse des Deutungsmusters Hilfe durchgeführt, da ein wissenssoziologischer Deutungsmusterbegriff diese unterschiedlichen Wissensarten fassen kann. Das Deutungsmuster Hilfe wird als von den Experten und Expertinnen geteilter Wissensbestand verstanden, der Situationsdefinitionen und Handlungsmöglichkeiten, aber auch Hintergrundwissen zur sachlichen und normativen Richtigkeit des Deutungsmusters enthält und dementsprechend strukturiert ist (zur Bestimmung eines wissenssoziologischen Deutungsmusterbegriffs vgl. Plaß/Schetsche 2001). Forschungsfeld Die dargestellte Untersuchung hat in einem Arbeitsfeld Sozialer Arbeit, in der akzeptierenden Drogenarbeit stattgefunden. Akzeptierende Drogenarbeit als eine Form der Bearbeitung des Drogenproblems entwickelte sich Mitte der 1980er Jahre in Abgrenzung zu bestehenden Formen der Drogenhilfe. Unterschiedliche Entwicklungen 6 der Drogenproblematik führten zu der Einschätzung, die bestehende abstinenzorientierte Drogenpolitik und Drogenhilfe würde die vorhandene Problematik nicht angemessen bearbeiten (vgl. Stöver 1999: 24). Mit dem Ziel der Bearbeitbarkeit vor allem der Problematiken von Langzeitkonsumenten und -konsumentinnen, die das abstinenzorientierte Drogenhilfesystem nicht erreichte, wurden akzeptierende, konsumbegleitende und gesund6
Genannt sei hier eine Verengung des Hilfsangebots durch Ausschluss konsumbegleitender Hilfen zur Verbesserung der Grundversorgung und der Risikominimierung beim Drogengebrauch, einseitige Betrachtung von Sucht als Krankheit, Verengung auf stationäre Langzeittherapie, die damals geringe Reichweite der Hilfeangebote sowie deren geringe Nutzung, dadurch mangelnde Reichweite von Aidsprävention in der Suchthilfe bei gleichzeitig steigender Zahl der HIV-Infektionen sowie steigende Mortalitätsraten, Beschaffungskriminalität und Sekundärkosten (vgl. Reuband 1999: 332; Schroers 1995: 26; Stöver 1999: 24).
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heitsfördernde Hilfeangebote im Hilfesystem implementiert. In den Angeboten akzeptierender Drogenarbeit wird demnach aktueller Drogenkonsum akzeptiert sowie ein Hilfebedarf angenommen, der sich nicht in erster Linie auf Konsumveränderung bezieht. Vielmehr wird Versorgung, Information und Beratung ohne die Voraussetzung einer Abstinenzmotivation der Drogenkonsumenten angeboten. Die Untersuchung fand in zwei Kontaktläden für Drogenkonsumenten statt. Kontaktläden sind Einrichtungen des Drogenhilfesystems, die vor allem Langzeitkonsumentinnen und -konsumenten ansprechen. Diese leiden meist unter vielfältigen Problemen wie Armut, sozialer Desintegration, physischer und psychischer Verwahrlosung. Die Zielgruppe ist meist durch die Einnahme zahlreicher unterschiedlicher Drogen und Medikamente gekennzeichnet. Darüber hinaus zeigen die Adressaten oft einen massiven Missbrauch von Alkohol. Sie verfügen häufig kaum über tragfähige soziale Beziehungen außerhalb der Drogenszene und haben wenig Kontakt zum abstinenzorientierten Teil des Drogenhilfesystems. Kontaktläden bieten für diese Zielgruppe möglichst niedrigschwellige Hilfen an. Im Vordergrund steht zunächst die Versorgung der Drogenkonsumenten und -konsumentinnen im Hinblick auf die Befriedigung von Grundbedürfnissen wie Essen und Trinken, Aufenthaltsmöglichkeit in einem geschützten Raum, medizinische Grundversorgung, Vergabe von sterilem Spritzbesteck und Kondomen sowie Wasch- und Duschmöglichkeit. Weitere Angebote beziehen sich auf Hilfestellungen in Bezug auf alltagspraktische Probleme, die bei Bedarf wahrgenommen werden können. Information und Beratung umfassen Bereiche wie Aufklärung über Gesundheitsprävention, Informationen zu sozialrechtlichen Fragen, Informationen über das soziale und medizinische Hilfesystem, aber auch Krisenintervention, Beratung zur Bewältigung gescheiterter Entzugs- und Therapieversuche, psychosoziale, Drogen- und Sozialberatung, Rechts- und Schuldnerberatung sowie Vermittlung in andere Einrichtungen des Hilfesystems. Diese Angebote werden von den im Kontaktladen arbeitenden Sozialarbeitern angeboten. Zusätzlich zur Arbeit in direkter Interaktion mit den Drogenkonsumentinnen und -konsumenten finden außerhalb der Kontaktladenöffnungszeiten regelmäßige Teambesprechungen statt. In diesen findet eine Reflexion, Planung und Abstimmung der gemeinsamen Arbeit statt. Diese Reflexionsarbeit in
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Teambesprechungen stellt neben der Arbeit in Interaktion mit den Klienten eine institutionalisierte alltägliche Handlungspraxis der Sozialarbeiter dar. 7 Anlage der Untersuchung Für die Rekonstruktion des Deutungsmusters Hilfe, das in der Praxis akzeptierender Drogenarbeit vorfindbar ist, wurden unterschiedliche Daten im beschriebenen Forschungsfeld erhoben. Erstens wurden Teambesprechungen aufgezeichnet, in denen die Sozialarbeiter ihre Arbeit reflektieren und sich auf bestimmte Definitionen konkreter Problemfälle oder -situationen sowie auf ein gemeinsames Handeln verständigen. Dadurch wurden geteilte Deutungsschemata für die Analyse zugänglich, auf die in diesem Prozess zurückgegriffen wird. Zweitens wurden teilnehmende Beobachtungen in den Kontaktläden durchgeführt. Die Handlungspraxis in Interaktion mit der Klientel, die durch die Beobachtungsprotokolle fixiert wurde, stellt einerseits den Kontext der in den Teambesprechungen diskutierten Problemfälle und Situationen dar. Andererseits beinhaltet sie Formen und Interpretationen von Hilfe, wie sie konkret geleistet wird. Darüber hinaus wurden gegen Ende des Auswertungsprozesses leitfadengestützte Interviews geführt, die Aufschluss über die Logiken der Wissensverwendung und die Sinnsetzungen der Sozialarbeiter geben können. Damit wurden Sinn-, Vorstellungs- und Erfahrungshorizonte in Form explizit verfügbarer Bedeutungszuschreibungen und Situationsdefinitionen erhoben. Die Erhebung der genannten unterschiedlichen Daten erwies sich als angemessen, innerhalb des beschriebenen Forschungsfeldes die für die Fragestellung relevanten Formen von Wissen zu erfassen. 8 In einem zirkulären Forschungsprozess wurde das Deutungsmuster Hilfe rekonstruiert, indem mit Hilfe der komparativen Analyse und der Kodierverfahren nach Strauss/Corbin (1996) die unterschiedlichen Datenarten aufeinander bezogen wurden und zu einer Theorie über das in der Praxis akzeptierender Drogenarbeit vorfindbare Deutungsmuster Hilfe verdichtet wurden. Ergebnisse der Untersuchung Im Folgenden wird das Deutungsmuster Hilfe dargestellt, das in den untersuchten Kontaktläden empirisch vorgefunden wurde.
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Die Informationen über das Forschungsfeld beruhen auf Einrichtungsbeschreibungen (Konzeptionen der Einrichtungen, Prospekte), auf Erfahrungen während des Forschungsprozesses sowie aus Informationen aus der Fachliteratur akzeptierender Drogenarbeit (vgl. Michels/Stöver 1999; Schuller/Stöver 1990). Die Erhebung fand in mehreren Stufen von November 2007 bis März 2008 statt.
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Das Hilfeverständnis der Sozialarbeiter baut auf einer akzeptierenden Haltung gegenüber ihrer Klientel auf. Akzeptanz bedeutet dabei einerseits, Drogenkonsumenten und -konsumentinnen als Menschen zu akzeptieren, andererseits umfasst sie das Recht der Drogenkonsumentinnen und -konsumenten auf Selbstbestimmung in ihrer Lebensgestaltung. Akzeptanz von Drogenkonsumenten als Menschen bedeutet, dass das Interesse der Sozialarbeiter und Sozialarbeiterinnen ihrer Klientel gegenüber nicht auf den Drogenkonsum und die daraus resultierenden Hilfebedarfe beschränkt wird. Stattdessen sehen sie ihre Klientel als Persönlichkeiten, die spezifische Lebensumstände aufweisen, welche zwar auch durch den Drogenkonsum geprägt sind, aber nicht nur durch diesen. Nw: mhm und da find ich auch dass im vordergrund nicht der drogenkonsum steht also ich vergess des auch oft (F-I-1: 100)
Als typische Lebensumstände können neben dem Drogenkonsum beispielsweise Armut, Wohnungslosigkeit und Strafverfolgung genannt werden. Hinzu kommt, dass Verantwortung für Kinder bestehen kann. Spezifische Verhaltensweisen können eine hohe Ambivalenz in den Entscheidungen, Drogenhandel und Gewalt als alltägliche Verhaltensweisen in der Kultur der Drogenszene oder extreme Formen der Gestaltung von Paarbeziehungen sein. Trotz aller Problematik, die die Lebensumstände und Verhaltensweisen der Drogenkonsumenten in der Gesellschaft aufweisen, verweisen die Sozialarbeiter und Sozialarbeiterinnen darauf, dass ihre Klienten das Recht haben, ihre Lebensgestaltung selbst zu bestimmen. Akzeptanz bedeutet deshalb, dass die Sozialarbeiter und Sozialarbeiterinnen den Drogenkonsumentinnen und -konsumenten – so wie allen Menschen – das Recht auf Selbstbestimmung zugestehen. Lm: dass es eben ganz klar is dass es nur darum gehen soll was die LEUTE WOLLEN und nich was was was irgendjemand meint was BESSER für sie wäre ja, ... weil des is eben auch diese ANMAßUNG über die ich mich dann oft ärger ja, (Iw: mhm) diese pädagogische anmaßung irgendwie ich weiß aber was gut für dich is ja, des is eben das was auch mit der akzeptierenden haltung irgenwie VERMIEDEN werden soll ja (F-I-1: 88)
Dabei sprechen sie sich selbst wie allen anderen gesellschaftlichen Akteuren die Expertenschaft für eine möglichst gute Lebensgestaltung ihrer Klientel ab. Vielmehr gehen sie davon aus, dass nur diese selbst entscheiden kann, welche Prioritäten sie in ihrem Leben setzen und was eine angemessene Perspektive in Bezug auf deren zukünftige Lebenssituation sein kann. Dies drückt sich einerseits dadurch aus, dass sie akzeptieren, dass die Klientel selbst definiert, was für sie gerade problematisch ist (z. B. ihr Konsum, ihre finanzielle Lage, ihre Be-
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ziehungsgestaltung, akute Wohnungslosigkeit), was sie im Hinblick auf diese Situation verändern wollen und welche Ziele sie sich dabei setzen (hier am Beispiel eines von Wohnungslosigkeit bedrohten Klienten): Lm: des is halt die frage generell was du halt dann was man halt dann sondieren müsste will er jetz wirklich einfach nur irgendwo UNTERKOMMEN oder, will er ein dach übern KopfNw: -ich glaub ... der hat gesagt ihm is total wichtig hier zu arbeiten ja und im endeffekt er will hier seine gerichtsstunden [gerichtlich auferlegte sozialstunden] weitermachen die sind des wichtigste und brau und braucht im endeffekt ein dach übern kopf (Mm: mhm; Lm: ja gut) ... (F-KV-2: 178-179)
Andererseits beinhaltet es, dass die Sozialarbeiter und Sozialarbeiterinnen von der Klientel auch nicht erwarten, dass diese sich von ihnen als Experten bzw. Expertinnen gesellschaftlich positiv bewertete Ziele setzen lassen. Das bedeutet, dass sie keine Erwartungen an sie herantragen in Bezug auf eine Veränderung ihrer Lebensumstände, auf eine Konsumveränderung vor allem in Richtung Konsumreduktion oder Abstinenz sowie auf eine weitergehende Inanspruchnahme von Hilfe. Hilfe wird angeboten als Unterstützung bei Bedarf sowie als Angebot, Kontakt aufzunehmen oder Beziehungen zu knüpfen. Zwar wird Kontakt auch von Seiten der Professionellen hergestellt. Die Entscheidung, ob Hilfebedarf besteht und ob Hilfe angenommen wird, muss von der Klientel jedoch selbst getroffen werden. Hw: manche kommen auch einfach und wollen in ruhe dasitzen und kaffee trinken … und wenn sie etwas brauchen dann kommen sie schon … (F-BP-K-1: 60)
Es gibt unterschiedliche Möglichkeiten für die Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter, im Kontaktladen Akzeptanz zum Ausdruck zu bringen. Die folgenden drei Möglichkeiten akzeptierenden Handelns erfordern zunehmend engeren Kontakt zu den Drogenkonsumenten und -konsumentinnen: Die erste Handlungsmöglichkeit, Ansprechpartner mit möglichst geringen Erwartungen zu sein, stellt die Voraussetzung zur Kontaktaufnahme zwischen Klientel und Professionellen dar. Die Würdigung von Lebensrealität und deren Bewältigung als zweite Handlungsalternative erfordert bereits eine Interaktionsgeschichte zwischen beiden. Die Ermöglichung und Förderung von Selbstbestimmung der Klienten durch die Sozialarbeiter und Sozialarbeiterinnen als dritte Möglichkeit stellt eine besondere Qualität der Interaktion dar, die in der Auseinandersetzung mit persönlichen Zielen und Perspektiven ihrer Verwirklichung besteht. Sozialarbeiter und Sozialarbeiterinnen treten im Kontaktladen als Ansprechpartner für die Drogenkonsumentinnen und -konsumenten auf. Als Ansprech-
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partner zeichnen sie sich dadurch aus, dass sie ihrer Klientel möglichst geringe Erwartungen entgegenbringen, was sie tun oder nicht tun soll. Diese Entscheidungen müssen die Drogenkonsumenten und -konsumentinnen selbst treffen. Wenn sie jedoch Kontakt aufnehmen oder Hilfe in Anspruch nehmen wollen, ist es Aufgabe der Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter, ansprechbar zu sein und zur Verfügung zu stehen. Aw: und WENN sie mich brauchen und WENN sie irgendwie hilfe in anspruch nehmen wollen DANN soll aber auch jemand da sein. ... (Iw: mhm) aber ich bin nich dafür da ihnen zu sagen wohin sie gehen sollen ... (D-I-2: 44)
Neben der Ermöglichung von Kontaktaufnahme dient diese Handlungsmöglichkeit, die wenig Beziehung zwischen Sozialarbeitern und Klienten voraussetzt, der Unterstützung der Drogenkonsumenten und -konsumentinnen bei lebenspraktischen Problemen auf Grund von Armut und Drogenkonsum. Grundbedürfnisse nach Ernährung, Erholung, Kleidung oder Hygiene werden dadurch befriedigt. Darüber hinaus werden Maßnahmen der Gesundheitsprävention (Vergabe von Utensilien für Safer-Use und Safer-Sex) 9 sowie medizinische Hilfeleistung angeboten. Lm: ja ... ja und nich zu vergessen also dass vieles natürlich auch sehr BANALE PRAGMATISCHE sachen sind wie einfach den ... stress den sie halt mit ihrem leben haben und vieles seh ich jetz gar nich so auf den auf den drogenkonsum bezogen sondern is einfach auch ARMUTSPROBLEME (F-I-1: 99)
Nehmen die Klienten und Klientinnen das Kontaktangebot der Sozialarbeiter und Sozialarbeiterinnen darüber hinaus wahr, bedeutet akzeptierendes Handeln im Kontaktladen, die Lebensrealität der Klientel, die oft von diesen selbst als problematisch angesehen wird, genauso wie deren Bewältigung durch die Klientel zu würdigen. Dies bezieht sich sowohl auf ihre Biografien Klienten als auch auf ihre aktuell Lebenssituation. Würdigen bedeutet dabei in einem ersten Schritt zuzuhören und Interesse an dem zu zeigen, was die Klienten erzählen. Bm: merkst du des dass sie langsam anfängt ... mir übern KRIEG zu erzählen ... und über ihre ... TRAUMATISCHEN erlebnisse? ... s ma des letzte mal schon aufgfalln ... Cm: ja, s ist da bricht vielleicht was auf ...“ (D-KN-1: 94-95)
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Utensilien für risikoarmen Drogenkonsum (Sterile Spritzen und Nadeln, Ascorbinsäure, steriles Wasser) und risikoarmen Geschlechtsverkehr (Kondome)
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Des Weiteren kann Interesse und Verständnis ausgedrückt werden durch die Fortführung von Gesprächen, indem beispielsweise durch Interpretationsangebote an die Klienten diese zu weiteren Erzählungen ermutigt werden oder bestimmte Bewältigungsstrategien positiv bewertet werden. Sind die Drogenkonsumenten und -konsumentinnen bereit, sich auf eine Auseinandersetzung mit den Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen über ihre eigenen Ziele und über Möglichkeiten ihrer Erreichung einzulassen, bedeutet akzeptierendes Handeln eine Ermöglichung und eine Förderung von Selbstbestimmung. Die Aufgaben der Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter sind dabei die Berücksichtigung von Bedingungen, die ungünstig für eine offene Auseinandersetzung mit den Klienten sind, eine Unterstützung der Klienten bei Entscheidungsprozessen sowie bei der Zielverfolgung. Ungünstige Faktoren für eine offene Auseinandersetzung sind beständiger Veränderungsdruck bei der Klientel, der von außen kommt und den sie unabhängig von ihren eigenen Bedürfnissen und Zielen verinnerlicht sowie die Normativität des Drogenhilfesystems, die bewirkt, dass die Klienten und Klientinnen Abstinenzwünsche äußern, weil sie denken, dies sei die Voraussetzung für eine Hilfeleistung. Lm: weil VIELE des auch so GELERNT haben ja, ich muss mich jetz erst mal VERKAUFEN als ja ich will ja irgendwie eigentlich was VERÄNDERN oder oder ähm was an meim konsum will den mein konsum REDUZIEREN oder äh oder oder CLEAN [abstinent] werden“ (F-I-1: 82)
Um eine offene Auseinandersetzung mit den Klienten zu ermöglichen, müssen diese Bedingungen berücksichtigt werden, indem die Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter die eigene akzeptierende Haltung transparent machen. Darüber hinaus ist eine Beziehung zwischen Klienten und Sozialarbeitern Voraussetzung, um sich gemeinsam über persönliche Themen auseinanderzusetzen. Wird auf diese Weise eine offene Auseinandersetzung ermöglicht, kann eine Unterstützung der Klienten bei Entscheidungsprozessen erfolgen. Dies geschieht als Hilfestellung bei der Reflexion der Klienten über ihre Ziele. Lm: „beim denken zu helfen ja, und zwar in dem sinne auch äh drüber äh also rau äh rauszufinden äh was SIE wirklich WOLLEN“ (F-I-1: 95)
Dies gilt sowohl für Entscheidungen bezüglich einer Konsumveränderung wie auch für generelle Veränderungswünsche der Klienten. Die Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter verfügen dabei zwar nicht über die Expertenschaft in Bezug auf ‚richtige’ Entscheidungen, sie können aber Unterstützung einerseits im Hinblick auf Reflexionsmöglichkeiten anbieten und andererseits dabei helfen, den Realitätsbezug von Zielen oder Wünschen der Klienten herzustellen.
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Das bedeutet die Ermutigung der Klienten, selbstbestimmt für die eigenen Ziele einzutreten, indem Ziele gemeinsam mit ihnen auf ihre Realisierbarkeit hin überprüft werden. Für diese Prüfung stellen die Sozialarbeiter ihren Klienten ihr Wissen zur Verfügung, über das sie selbst als Experten und Expertinnen verfügen, wie z. B. Wissen über die Beschaffenheit des Drogenhilfesystems oder Wissen über sonstige Hilfsangebote wie Wohnungslosen- oder Sozialhilfe. Darüber hinaus können sie auch auf Grund ihrer Beziehungen im Hilfesystem schnell benötigte Informationen einholen. Über den Realitätsbezug von Möglichkeiten im Hilfesystem hinaus werden bei der Entwicklung von Handlungsschritten auch die individuellen Fähigkeiten der Klienten und Klientinnen berücksichtigt. Bm: mit den leuten ihre ressourcen SUCHEN erstmal und auch mit dem heran mit dem WISSEN und mit der haltung dran gehen da SIND ressourcen (Iw: mhm) da SIND punkte die laufen und des is des is so n so n ANSATZPUNKT auch (D-I-2: 144)
Dadurch werden die Klienten in ihrer Handlungsfähigkeit unterstützt und bekommen die Möglichkeit, statt Enttäuschungen eigene Handlungsfähigkeit zu erleben. Ausdruck davon, dass die Sozialarbeiter und Sozialarbeiterinnen die Ziele der Klienten tatsächlich akzeptieren, ist die Unterstützung der Klientel bei deren Zielverfolgung. Dabei übernehmen sie die Aufgabe, die Klienten bei der Durchführung einzelner Handlungsschritte zu unterstützen durch zur Verfügung stellen von Hilfsmitteln zur Zielerreichung, beispielsweise von Kommunikationsmedien, durch Hilfe bei der Zusammenarbeit mit Ämtern oder durch das Treffen von Vereinbarungen mit den Klienten sowie deren Überprüfung. Darüber hinaus leisten sie Vermittlungsarbeit im Hilfesystem und ermöglichen der Klientel damit den Zugang zu ihrem Hilfebedarf angemessenen Angeboten. Hilfeleistung im Kontaktladen bedeutet demnach, dass Drogenkonsumenten und -konsumentinnen damit rechnen können, dass Sozialarbeiter und Sozialarbeiterinnen ihnen mit einer akzeptierenden Haltung gegenübertreten. Diese drückt sich darin aus, dass den Klienten unter Zugestehen des Rechts auf Selbstbestimmung – überspitzt formuliert – das Feld zur Bestimmung des Hilfebedarfs überlassen wird: Hilfe wird denen geleistet, die aus freien Stücken ein von ihnen bestimmtes oder in Zusammenarbeit mit den Sozialarbeitern identifiziertes Problem lösen wollen. An die Hilfeleistung werden darüber hinaus möglichst wenige Bedingungen gestellt, d. h. es werden kaum Erwartungen an Zielbestimmung und Verhalten der Klienten deutlich gemacht. Eine derartige Definition von Hilfe beschränkt sich auf die Klientel bzw. Adressaten Sozialer Arbeit als Akteure des institutionellen Settings. Sie folgt
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demnach der in der sozialarbeiterischen Theorie vorgefundenen Vorstellung, die Interessen und Anliegen der Adressaten in den Mittelpunkt der Hilfeleistung zu rücken. Die Klienten und Klientinnen werden dabei zu (Mit-)Konstrukteuren ihres eigenen Problemfalls. In der Praxis fungiert diese Vorstellung von Hilfe jedoch nicht als alltäglich umsetzbare Agenda. Vielmehr ist sie als Ideal anzusehen, dem möglichst nahe zu kommen Aufgabe professioneller Sozialer Arbeit im Kontaktladen ist. Denn in der alltäglichen Problemarbeit zeigt sich, dass dieses Hilfeverständnis sich genauso wie der zugrunde liegende Akzeptanzbegriff in hohem Maße über seine Grenzen konstituiert. Dies äußert sich darin, dass Akzeptanz nicht einfach vorhanden ist oder nicht, vielmehr muss sie in der Interaktion mit der Klientel laufend hergestellt werden. Der Prozess der Hilfeleistung ist damit ein Prozess der Konstruktion von Akzeptanz in der Interaktion und geschieht in der laufenden Auseinandersetzung mit ihren Grenzen. Deren Einhaltung im Kontaktladen muss durch die Sozialarbeiter kontrolliert werden. Lm: es is halt immer schwierig des auszutarieren ja, also wie weit komm ich der kontrollfunktion nach, inwieweit hat die auch vielleicht FACHLICH ne ne berechtigung oder n sinn, äh und inwieweit nehm ich mich da zurück um um ähm ja, um eben akzeptierend zu sein (F-I-1: 33)
Die Grenzen des Hilfeideals als Priorisierung der Anliegen der Klientel erwachsen aus den weiteren Institutionen des institutionellen Settings: Fachliche, gesellschaftliche und organisatorische Anforderungen können nicht verleugnet werden und müssen im Hilfeprozess mit berücksichtigt werden. Die Konstruktion von Problemfällen und Lösungen stellt sich deshalb dar als Gratwanderung zwischen Erfüllung des Hilfeideals einerseits und Berücksichtigung der Ansprüche der anderen Institutionen als Grenzen des Hilfeideals andererseits. Im Folgenden werden fachliche Ziele, staatlichen Anforderungen und organisatorische Grenzen in ihrer Widersprüchlichkeit zum beschriebenen Hilfeideal an Hand konkreter Beispielen dargestellt, wobei die Relevanz des Konzepts der Konstruktion konkreter Problemfälle und angemessener Lösungen in der alltäglichen Arbeit der Sozialarbeiter deutlich werden soll. Betrachtet man zunächst die Profession als Institution, die zunehmende Bedeutung im institutionellen Setting erlangt hat, muss man festhalten, dass das beschriebene Hilfeideal als eine Errungenschaft der Professionalisierung Sozialer Arbeit bereits als eine Zielsetzung Sozialer Arbeit angesehen wird. Auch wenn die Klientel selbst von diesem fachlichen Anliegen profitiert, zeigt sie sich ihm gegenüber aber auch durchaus ambivalent. Selbstbestimmung bedeutet einerseits eine freiere Lebensgestaltung, andererseits aber auch, dass Entscheidungen und Verantwortung nicht abgegeben werden können.
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Bm: unsere klienten ... neigen schon dazu verantwortung abzugeben (D-I-2: 122)
Das Ideal der „Hilfe zur Selbsthilfe“ impliziert jedoch, dem Bestreben, Verantwortung abzugeben, nicht nachzugeben. Es kann deshalb schon bei diesem grundlegenden fachlichen Anspruch zu Widersprüchen hinsichtlich der Zielsetzung der Klienten kommen. Um zu zeigen, dass und wie professionelle Ziele Klienteninteressen widersprechen können, wird im Folgenden exemplarisch der Anspruch der Harm Reduction, des risikoarmen Drogengebrauchs beschrieben. Als dem Anspruch übergeordnete Ziele können Gesundheitsförderung und Überlebenshilfe angesehen werden. Harm Reduction zielt auf eine zumindest minimale Konsumkontrolle ab, um Überdosierungen, die Ansteckung mit Infektionskrankheiten wie Hepatitis und HIV oder eine gesundheitliche Verelendung zu verhindern, die letztendlich mit dem Tod enden kann. Dagegen bedeutet Akzeptanz von Drogenkonsum ein Zugestehen des Selbstbestimmungsrechts auch bei riskanten Konsummustern. Nw: ich denk die leute die jetz zu UNS kommen im alter zwischen sag ma mal dreißig und sechzig, die haben ja schon so n LANGEN weg HINTER sich ja, die sind ja ihre EIGENEN helfer ... da brauch ICH ja äh da brauch ich DAZU [zu ihrem Drogenkonsum, U.U.] auch nich unbedingt was SAGEN“ (F-I-1: 85)
Die Gratwanderung, die gegensätzlichen Ansprüche einerseits von Akzeptanz jeglichen Konsums und andererseits von Gesundheitsförderung zu berücksichtigen, ist von den Sozialarbeitern grundsätzlich zu leisten. Sie spitzt sich zu, je akuter Gesundheitsschädigungen und Lebensgefährdung wahrgenommen werden. Bm: des auszuhalten einfach dass dass wir hier mit ner ... potenziellen gefahrengruppe zu tun ham und auch dass begleitungen unter ... ja immer wieder auch STERBEbegleitungen sind im prinzip und DES einfach so stehnzulassen is natürlich sehr sehr schwer und sehr sehr anstrengend (D-I-2: 41)
Zwar muss letztendlich akzeptiert werden, wenn Drogenkonsumenten und -konsumentinnen sich für riskante Konsummuster entscheiden, dem eigenen Leben bzw. der eigenen Gesundheit keinen großen Wert beimessen und Gesundheitsschädigungen bis hin zum Tod als eines von vielen Risiken ihres Lebens betrachten. Dennoch wird versucht, ein Bewusstsein der Klientel für die Gefährdung ihrer Gesundheit zu schaffen und dadurch ihre diesbezüglichen Entscheidungen zu beeinflussen. Als Handlungsmöglichkeit steht dabei in erster Linie die Möglichkeit zur Verfügung, Konsumverhalten, insbesondere Risikokonsum, sowie Gesundheitsrisiken aktiv anzusprechen.
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Nw: dass dieser konsum dass es äh dass der konsum in MAßEN stattfindet oder eben nich ... was heißt in maßen ... hm dass n gewisser EIGENSCHUTZ noch da is dass AUFKLÄRUNG da is was wir ja auch viel haben (Lm: mhm) und ... dass dass man da darüber noch in n GESPRÄCH kommt. ja, also ähm ... bezüglich ÜBERDOSIERUNGEN, oder ... ja sonstigen gefahren auch ... (Iw: mhm) dass da einfach dass des immer wieder GEWECKT wird ja was die leute auch SCHON dann mit sich auch anstellen. ohne zu sagen des is jetz aber ZU VIEL ja, des is ja auch so ne gratwanderung (F-I-1: 83)
In diesem Konflikt zeigt sich die Gratwanderung zwischen gegensätzlichen Ansprüchen nicht nur in der Frage, ob riskanter Konsum angesprochen werden soll oder nicht. Darüber hinaus besteht sie vor allem in der Schwierigkeit, das Gespräch angemessen zu führen. Das bedeutet, dass es gelingen muss, gleichzeitig ein Bewusstsein der Klienten und Klientinnen für von ihnen eingegangene Risiken zu schaffen sowie ein Erleben des Gesprächs durch den Klientel als Eingriff in die Autonomie oder als moralische Intervention zu vermeiden. Für ein gelingendes Gespräch ist hohe Sensibilität und Erfahrung der Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter notwendig, da angemessenes Handeln in hohem Maße von der Reaktion des Klienten in der konkreten Interaktion abhängt. Deshalb ist eine wichtige Bedingung für die Ermöglichung eines erfolgreichen Gesprächs über Konsumverhalten eine Beziehung zwischen Sozialarbeiter oder Sozialarbeiterin und Klient. Lm: teilweise hab ich des auch BEWUSST zurückgeschraubt des zu thematisieren n grade bei leuten die ähm die ich noch NICH gut kenn oder die NEU hier rein kommen ahm hab ich mir teilweise die frage nach m nach nach dem konsumverhalten verkniffen, weil ... ich so n bisschen den eindruck hatte die leute denken dann ... automatisch und als erstes daran aha, der will mich irgendwie KONTROLLIEREN ja, (Iw: mhm) oder sofort damit verbunden is m, jetz muss ich irgendwie äh mich RECHTFERTIGEN für mein konsum ja, und dass ich dann auch keine authentische auskunft äh bekomme“ (F-I-1: 88)
Ist die Voraussetzung einer Beziehung zwischen Klient oder Klientin und Sozialarbeiter erfüllt, besteht die Aufgabe der Sozialarbeiter darin, das Gespräch so zu führen, dass zwar ein Bewusstsein der Klienten für die Thematik geschaffen werden kann, die Entscheidung über das Handeln hingegen muss den Klienten und Klientinnen überlassen werden. Auf Grund der Relevanz der Ziele Überlebenshilfe und Gesundheitsförderung finden hier in entsprechenden Situationen trotz eines klientenzentrierten Hilfeverständnisses Interventionen statt, ohne dass oder schon bevor die Drogenkonsumentinnen und -konsumenten einen Hilfebedarf definieren bzw. ihren Konsum problematisieren. Harm Reduction im
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Kontaktladen stellt damit eine Einschränkung der Prämisse der Konsumakzeptanz dar. Betrachtet man die staatlichen Aufträge innerhalb des institutionellen Settings akzeptierender Drogenarbeit, zeigt sich, dass das Anliegen der Harm Reduction nicht nur fachliches Ziel, sondern auch staatlicher Auftrag ist. Während hier professionelle und staatliche Ansprüche übereinstimmen, ist das beim folgenden Beispiel nur teilweise der Fall: Für konflikthafte Situationen im Kontaktladen sorgt insbesondere der staatliche Auftrag, das gesetzliche Drogenverbot und damit Legalität im Kontaktladen aufrecht zu erhalten. Das Verbot von Drogenkonsum und -handel in den Kontaktläden wird unterschiedlich begründet. Als Folge der Drogengesetzgebung einerseits ist es als extern gesetzte Grenze zu verstehen. Andererseits erwächst es aus dem fachlichen Anspruch der Sozialarbeiter, im Kontaktladen Schutz vor den Bedingungen der Drogenszene zu bieten. Unabhängig von seiner Begründung gerät die Umsetzung dieser Grenze in Konflikt mit der Akzeptanz von Drogenkonsum durch die Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter. Dieser wird, genauso wie Drogenhandel, als ein Teil der Lebensrealität der Klienten angesehen. Lm: ich VERSTEHS oder des gehört halt DAZU und ich hab ein verständnis dafür dass sie halt ihr zeug [drogen] äh kaufen wollen und KONSUMIEREN wollen und ... ja, und wenn sie sich entschieden haben so zu leben und also dann können sie des MACHEN (F-I-1: 29)
Die Umsetzung des Verbots von Drogenkonsum und -handel im Hinblick auf die Begründung durch die Gesetzeslage ist für die Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter besonders konfliktbehaftet, da sie eine prohibitive Drogenpolitik selbst nicht befürworten. Lm: „ich habs immer auch n stück weit als n äh n ZUGESTÄNDNIS an die exisexistierende drogenPOLITIK und an die RECHTSSPRECHUNG an die GESETZESLAGE ja, äh (Iw: mhm) immer ... n stück weit n zugeständnis gesehen“ (F-I-1: 29)
Dennoch können sie nicht selbst entscheiden, ob sie diese Hausregel umsetzen oder nicht. Ein Tolerieren der Missachtung des Verbots hätte strafrechtliche Konsequenzen für die Sozialarbeiter und Sozialarbeiterinnen oder die Schließung der Einrichtung zur Folge. Im Hinblick auf die Begründung hingegen, Schutz vor den Bedingungen der Drogenszene zu bieten, ist die Grenze für die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen selbst fachlich sinnvoll. Sie dient in diesem Sinne der Vermeidung von Verhalten, das die Klienten in Verbindung mit Konsum und Handel zeigen und das von den Professionellen negativ bewertet wird.
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Aktueller Drogenkonsum der Klientel in der Einrichtung 10 würde zu einer Atmosphäre führen, die von Aggressionen und Konflikten geprägt ist. Aus diesem Grund ist nicht nur der Konsum von illegalen, sondern auch von legalen Suchtmitteln (Alkohol, verordnete Substitutionsmittel oder Medikamente) in den Kontaktläden verboten. Lm: dieses veränderte verhalten möcht ich hier drin nicht HABEN ja, da genügt schon des was sie mitbringen ja, des muss jetz was sie von draußen mitbringen und äh ja, ähm des genügt schon des müssen müssen sie hier nich noch durch KONSUM irgendwie verstärken des schafft des führt ja oft dann zu äh aggressionen (F-I-1: 35)
Dasselbe gilt für den Drogenhandel. Dieser entwickelt sich darüber hinaus schnell zum bestimmenden Thema im Kontaktladen, neben dem kein Platz mehr ist für die Angebote, die im Kontaktladen vorgehalten werden und die sich über den Drogenkonsum hinaus auf weitere Thematiken beziehen. Durch das Verbot von Drogenkonsum und -handel sollen aus fachlicher Sicht Bedingungen geschaffen werden, die dazu beitragen, dass die Klienten nicht auf ihren Drogenkonsum reduziert werden und sich auch selbst so erleben können. Es wird hier deutlich, dass das gesetzliche Drogenverbot als staatlicher Anspruch den Interessen der Klienten deutlich widerspricht, den professionellen Anliegen jedoch nur teilweise. Der staatliche Anspruch ist durch seine gesetzliche Manifestierung hier jedoch so stark, dass ihm Priorität eingeräumt werden muss. Dies zeigt sich in seiner Implementierung als Hausregel. Sie stellt bereits eine institutionalisierte Möglichkeit zur Durchsetzung von Ansprüchen dar, die höchste Priorität haben. Die Hausregeln müssen jedoch in der alltäglichen Arbeitspraxis auch durchgesetzt werden. Dafür bestehen unterschiedliche Handlungsmöglichkeiten. Diese repräsentieren den Handlungsspielraum, der zwischen der Wahrung von Akzeptanz und der Notwendigkeit von Maßnahmen zur Regeleinhaltung besteht. Grundlage für alle Handlungsmöglichkeiten ist dabei die Übernahme von Kontrollaufgaben durch die Sozialarbeiter und Sozialarbeiterinnen. Sie müssen während ihrer Arbeit immer das Geschehen im Kontaktladen im Blick behalten, um bei Bedarf angemessen reagieren zu können. Lm: des immer so da mach ich den POLIZISTENjob ja, des is eine der der des is bei den schwierigkeiten auch mit dieser mit mit der AKZEPTANZ und und zwar 10
Die Hausregel verhindert zwar den aktuellen Konsum in der Einrichtung. Was dadurch nicht verhindert werden kann und soll, ist das Erscheinen von Klientel in oft stark intoxikiertem Zustand.
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innerhalb von unserem system und unserer rechtssprechung da is dieser SPAGAT den wir da machen müssen ja, da zwischen einerseits empathischen hilfestellung, ja, und auf der andern seite halt n n ne KONTROLLFUNKTION ja, (Iw: mhm) also mit diesen hausregeln ja, n n n polizistenjob im prinzip ja, und des is so (Nw: genau) ... und des hab ich immer als schwierig empfunden ja, bei der arbeit (F-I1: 31)
Bei der Umsetzung der Hausregel wird besonders deutlich, dass die unterschiedlichen Aufgaben der Professionellen – einerseits die Wahrung von Akzeptanz des Drogenkonsums und von Szeneverhalten, andererseits die notwendige Wahrung der Grenzen – widersprüchliche Anforderungen an die Sozialarbeiter repräsentieren. Da diese Widersprüche nicht aufgelöst werden können, muss die Gewichtung der unterschiedlichen Ansprüche jeweils im konkreten Einzelfall geschehen. Dies gestaltet sich insbesondere deshalb schwierig, weil meist auf Grundlage unsicherer Informationen entschieden werden muss. Lm: „ich find ich find äh diese dieses diese austarierung irgendwie wie akzeptierend oder wie kontrollierend man ist das macht sich auch ganz gut daran fest dass meiste wenns jetz ums DEALEN geht äh dass meistens das ja so is du siehst ja FAST NIE äh die die konkrete handlung du siehst nie irgendwie das GELD UND DEN STOFF [drogen] … und da stellt sich dann genau die FRAGE ja, okay greif ich da jetz TROTZDEM ein ja, und äh geb auch und geb gleich n HAUSVERBOT ja, oder (klopft auf den tisch) sag ich halt nix weil ich ge was GENAUES hab ich ja nich gesehen ja, (Iw: mhm) es schaut halt so aus WIE“ (F-I-1: 51)
Auf Grundlage der Informationen, die durch Kontrolle erlangt wurden, entscheiden die Sozialarbeiter zwischen den Möglichkeiten, a) nicht einzugreifen, da die Informationen zu Gunsten des Akzeptanzanspruchs ausgelegt werden, b) einzugreifen, indem die Vermutung geäußert wird, dass gegen eine Hausregel verstoßen wurde und eine Verwarnung ausgesprochen wird oder c) einzugreifen, indem ein Hausverbot ausgesprochen wird. In der alltäglichen Umsetzung des Drogenverbots wird eine Gratwanderung zwischen der Einhaltung des Hilfeideals auf Grundlage der Akzeptanz der spezifischen Lebensbedingungen und der notwendigen Grenzsetzung auf Grund staatlicher (und auch fachlicher) Ansprüche deutlich. Die konkrete Abwägung der Relevanz von Akzeptanz von Drogenkonsum, -handel oder kulturellen Besonderheiten der Drogenszene einerseits und Grenzsetzung andererseits muss immer in der jeweils konkreten Situation durch einzelne Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter vollzogen werden. Abschließend soll ein Blick auf organisatorische Grenzen des Hilfeideals geworfen werden. In erster Linie sind hier die Hausregeln zu nennen. In den Hausregeln manifestieren sich die Ansprüche eines reibungslosen Ablaufs in der
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Hilfeeinrichtung. Das Verbot von Drogenkonsum und -handel in der Einrichtung garantiert das Überleben der Einrichtung, da diese bei Missachtung des gesetzlichen Drogenverbots von Schließung bedroht wäre. Dasselbe gilt für das Verbot von Hehlerei in der Einrichtung. Das Verbot von verbaler und nonverbaler Gewalt soll eine Atmosphäre im Kontaktladen schaffen, in der ein Zusammenleben und -arbeiten möglich ist. Die Einhaltung der Hausregeln gilt als minimale Voraussetzung, die an die Klientel gestellt wird, wenn diese sich in der Einrichtung aufhalten oder vom Hilfsangebot profitieren möchten. Bm: der mensch wird so lange hier akzeptiert so lange er die hausregeln einhält er oder sie und des sind … denk ich mir ein stück weit unsere grenzen (D-I-2: 22)
Schon aus diesen minimalen Anforderungen ergeben sich jedoch vielfache Widersprüche zu Problemdefinitionen der Klientel. Weder Drogenkonsum, noch Drogenhandel, noch Gewalt sieht sie oft als problematisch an, vielmehr stellen alle drei alltägliche Handlungsroutinen dar, die sie zum Überleben in der Drogenszene benötigt. Als weiterer Punkt sind die beschränkten Öffnungszeiten der Hilfeeinrichtungen zu nennen, die auf begrenzte Ressourcen zurückzuführen sind. Oft werden dringende Hilfebedarfe kurz vor Schließung des Kontaktladens an die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen herangetragen. Auf Grund des Anspruchs, dass Hausregeln und Öffnungszeiten eingehalten werden müssen, entstehen vielfältige Konflikte, die die Sozialarbeiter – wie oben am Beispiel des Drogenverbots gezeigt – bearbeiten müssen. In der Praxis akzeptierender Drogenarbeit wird demnach den Ansprüchen aller Institutionen und Akteure des institutionellen Settings Rechnung getragen – jedoch je nach Problemsituation in unterschiedlicher Weise. Beim Handeln greifen die Sozialarbeiter auf ein Deutungsmuster Hilfe zurück, das typische Situationsdefinitionen bereithält. Diese umfassen die Beschreibung typischer Konfliktsituationen zwischen den widersprüchlichen Ansprüchen sowie Handlungsalternativen, die die jeweils möglichen Prioritätskonstellationen der Ansprüche definieren. Dabei bleiben zwangsläufig Handlungsspielräume offen. Denn im Zuge der konkreten Problemarbeit muss eine Ausdeutung des Angebots an typischen Situationsdefinitionen stattfinden, indem dieses an die konkreten Bedingungen der jeweiligen Situationen angepasst wird. Dabei zeigt sich, dass eine Unterordnung der Interessen der Klientel in bestimmten Situationen nicht vermieden werden kann. Sie wird jedoch fast immer als problematisch angesehen.
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5. Wandel der Vorstellung von Hilfe in der Sozialen Arbeit – Auswirkungen auf die Problemarbeit? Wie in diesem Beitrag exemplarisch gezeigt wurde, findet auf Ebene des theoretischen Diskurses Sozialer Arbeit ein Wandel der Vorstellung von professioneller Hilfe statt. Im Rahmen von Professionalisierungsprozessen entwickeln Akteure Sozialer Arbeit dort zunehmend eigene Definitionen sozialer Probleme und angemessener Lösungsmöglichkeiten. Innerhalb der sozialarbeitstheoretischen Diskurse verschiebt sich die Relevanz der Definitionen von Hilfe durch die unterschiedlichen Institutionen und Akteure des institutionellen Settings: Während der Gesellschaft bzw. dem Staat in der Vorstellung von Hilfe als Fürsorge die alleinige Definitionskompetenz in Bezug auf soziale Probleme zugestanden wurde, befindet sich diese im Verständnis von „Hilfe zur Selbsthilfe“ immer mehr auf Seiten der Profession Sozialer Arbeit. Kennzeichnend dabei ist, dass damit die Problemdefinitionen der Adressaten Sozialer Arbeit in den Mittelpunkt rücken, da eine Berücksichtigung dieser zum obersten fachlichen Anspruch erwächst. Die Klienten und Klientinnen werden damit zu maßgeblichen Mitkonstrukteuren ihres eigenen Falls. Staatliche und organisatorische Definitionen und damit Ansprüche hingegen werden zwar nicht verleugnet, jedoch zumindest als zweitrangig eingeschätzt. Empirisch stellte sich die Frage, ob dieser Wandel auf theoretischer Ebene auch in der Praxis Sozialer Arbeit wirksam wird, d. h. ob die Vorstellung von „Hilfe zur Selbsthilfe“ in der Praxis handlungsleitend ist. Zumindest für das Arbeitsfeld akzeptierender Drogenarbeit kann diese wie folgt beantwortet werden: Alle Bestandteile des institutionellen Settings bzw. das Wissen über die entsprechenden Ansprüche sind im vorgefundenen Deutungsmuster Hilfe enthalten. Gefasst in typische Situationsdefinitionen mit angemessenen Handlungsmöglichkeiten wird den unterschiedlichen Ansprüchen dabei je nach Situation unterschiedliches Gewicht beigemessen. Dabei bleiben jedoch Handlungsspielräume offen. Für die Handlungsentscheidung muss jede Sozialarbeiterin und jeder Sozialarbeiter zwar einerseits auf das Deutungsmuster zurückgreifen, um im Rahmen fachlich angemessenen Handelns zu bleiben, sie oder er muss es aber andererseits in konkreten Situationen immer ausdeuten und dabei die jeweiligen Bedingungen der Situation berücksichtigen. Das bedeutet, den Sichtweisen der Klientel wird zwar weitest möglich hohe Priorität zugemessen, jedoch immer auch widersprüchliche fachliche, gesellschaftliche und organisatorische Ansprüche im Blick zu behalten und diese unter Umständen auch schwerer zu gewichten als die Interessen der Klientel. Demnach hat der Wandel der Vorstellung von
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Hilfe in den sozialarbeitstheoretischen Diskursen sehr wohl die Praxis akzeptierender Drogenarbeit durchdrungen. Was in der Theorie jedoch klar formuliert werden kann, stößt in der Praxis auf komplexe Problematiken: Die konkrete Problemarbeit der Sozialarbeiter in der akzeptierenden Drogenarbeit stellt eine permanente situationsbezogene Gewichtung der Relevanz der unterschiedlichen, teils widersprüchlichen Ansprüche, Aufträge, Anliegen und Forderungen dar. Die vorgestellte Untersuchung kann damit Ergebnisse liefern, die Aufschluss über die konkrete Problemarbeit in der Sozialen Arbeit gibt, d. h. über die permanente Konstruktion sozialer Probleme bzw. Problemfälle sowie derer Lösung bzw. Bearbeitung. Sie zeigt, wie in der alltäglichen Praxis auf theoretisches Wissen zurückgegriffen wird, dass die Kenntnis theoretischer Diskurse aber nicht ausreicht, um die alltägliche Konstruktion sozialer Probleme im Alltag typischer Akteure der Problemarbeit verstehen zu können. Allerdings liefert sie zur Erforschung dieser Problematik – selbst bezogen auf die Soziale Arbeit – nur einen kleinen Beitrag. Denkt man an andere Bereiche Sozialer Arbeit im Drogenbereich, wie z. B. abstinenzorientierte Angebote, oder an andere Arbeitsfelder wie z. B. Jugendhilfe, Familienhilfe, Arbeitsbereiche der Resozialisierung wie Wohnungslosen- oder Straffälligenhilfe und die ihnen je eigenen Bedingungen, wird deutlich, dass hier nur ein kleiner, spezifischer Ausschnitt Sozialer Arbeit untersucht wurde. Es kann nicht ohne weiteres geschlossen werden, dass in anderen Arbeitsfeldern Sozialer Arbeit ähnliche Hilfeverständnisse vorfindbar sind. Dies zu beantworten wäre Gegenstand weiterer Untersuchungen. Dennoch ist dies ein Beitrag, das enorme Forschungsdefizit im Bereich konkreter Problemkonstruktion durch Sozialarbeiter zu verkleinern.
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Wandel des Deutungsmusters Hilfe in der Sozialen Arbeit
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Brita Krucsay – Roland Gombots
Nischen in der Marktlogik? Zum Einfluss institutioneller Einbettung auf Konzeptualisierungen sozialer Probleme in der Sozialen Arbeit
…noch seltsamere Probleme werden anvisiert, an jedem Tag für den kommenden Tag bestellt, die Probleme werden erfunden und in Umlauf gebracht, es gibt die Probleme nicht, reden hört man von ihnen und redet deswegen darüber. Ingeborg Bachmann: Malina
1. Strukturmerkmale Sozialer Arbeit – Die „Dialektik des Doppelmandats“ Ein zentrales Charakteristikum von Sozialer Arbeit sind deren heterogene Handlungs- und Arbeitsfelder. Der Versuch, in der einschlägigen Literatur eine ‚gültige’ Definition der konstitutiven Zielsetzung von Sozialer Arbeit zu finden, ist mit einer Vielzahl an (Selbst- und Fremd-)Verständnissen, (Selbst- und Fremd-) Beschreibungen und letztendlich wiederum die Problematisierung derselben konfrontiert. Das Spektrum ist beachtlich: Von der Sichtweise der Institution Soziale Arbeit als verlängertem Arm staatlicher Herrschaft bis hin zur Sozialarbeit als emanzipatorischem Ansatz mit dem Anspruch der Gesellschaftsveränderung, wie sie in der einschlägigen Literatur (z. B. Anhorn/Bettinger 2005) dargestellt wird. Während beispielsweise Link (2006) in seiner Rezeption Donzelots „die Sphäre der Sozialarbeit als flexible(s) Feld zur Produktion normalisierter Charaktere (Link 2006: 143) begreift, versteht Hitzler (1997) Soziale Arbeit als eine „analytisch-therapeutische Reaktionsweise“ auf allgemeine gesellschaftliche Verunsicherung, die explizit ein Gegenstück zu präventiv-repressiven Bewältigungsstrategien (etwa über polizeiliches Vorgehen u. ä.) bildet. Sol-
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che „analytisch-therapeutischen Reaktionsweisen“ würden darauf abzielen, die als „eigentlichen“ deklarierten (sozialen, wirtschaftlichen, psychischen) Ursachen von gesellschaftlich oder teilgesellschaftlich als „problematisch“ etikettierten Verhaltensweisen von Personen aufzudecken und zu beseitigen – in der Annahme, damit würde auch das verschwinden, was (lediglich) als Symptom anzusehen sei (Hitzler 1997: 185 f.). Im grundsätzlich-kritischen Hinterfragen der eigenen Profession, insbesondere unter macht- und ideologietheoretischen Aspekten, hat die Sozialarbeit, sowohl in der Theorie als auch in der Praxis, selbst einige Routine entwickelt und würde damit letztere Charakterisierung vermutlich selbst als undifferenziert idealisierte Darstellung bezeichnen, wobei sie den darin enthaltenen Anspruch wohl unterschreiben würde. Nun soll hier aber nicht die Behauptung aufgestellt werden, dass die Soziale Arbeit in der gesellschaftspolitischen Position wäre, ihre Ziele autonom definieren zu können – oder anders formuliert: über eine solche Verfügungsgewalt bzw. -macht zu verfügen. Denn die Zielformulierungen für die Soziale Arbeit sind im Kern politische Prozesse. Im politischen System wird über die Durchsetzung oder Vernachlässigung von bestimmten sozialen Interessen, sowohl sozialpolitischer als auch rechtspolitischer Agenden betreffend, entschieden. Auch das politische System agiert hier nicht autonom, sondern reagiert wiederum auf „soziale Probleme“ – ist doch die Grundlage des „Helfens“ die Wahrnehmung eines „Problems“. Solang sich aber die theoretische Reflexion der Sozialen Arbeit an der Leitdifferenz von Konformität und Devianz orientiert, wird sie unter Effizienzverdacht stehen: da eher eine Kontinuierung der Hilfsbedürftigkeit denn ihre Behebung unterstellt werden könne. 1 Damit wird deutlich, dass gesellschaftliche Entwicklungsprozesse und die Realisierung Sozialer Arbeit in ihren jeweiligen Institutionalisierungsformen miteinander verflochten sind. Wie diese Zusammenhänge thematisiert und „öffentlich“ verhandelt werden, ist eine Frage der Auseinandersetzung um die „legitime Interpretation“, die mit „Ort und Zeit und mit den ideologischen Positionierung der Diskursteilnehmer“ (Pilgram/Schlechter 2009: 1) variiert. Am besten lässt sich das anhand einer historischen Entwicklungsskizze verdeutlichen. So wurde in der Frühphase staatlicher Sozialpolitik an bestehende gemeinschaftliche Selbsthilfe- und Fürsorgeeinrichtungen angeknüpft. Dabei galt es, die aufkommenden sozialen Konflikte (im Zuge der Industrialisierung) durch eine „pazifizierende“ Sozialpolitik zu entschärfen. Die wichtigste kulturelle Vo1
Baecker (1994: 94) verweist in diesem Zusammenhang auf die Paradoxie der Problemschaffung durch Problemidentifizierung, die die Intervention der Sozialen Arbeit einerseits auszeichnet, andererseits auch unter Legitimationszwang setzt.
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Brita Krucsay – Roland Gombots
raussetzung war der grundlegende Wandel der sozialen Deutungsmuster: Gesellschaftliche Verhältnisse wurden nicht mehr als „naturgegeben“ angesehen, sondern als durch menschliches Handeln hergestellte Verhältnisse gedeutet (vgl. Ullrich 2005: 23). Im Zuge der modernen Staatenbildung waren zwei Probleme zu lösen: Einerseits die politische Durchsetzung kultureller Homogenisierungsprozesse als Nationalisierung des Staates, andererseits die Inklusion der aus den feudalen Bezügen freigesetzten Untertanen als Staatsbürger. Die Lösung des ersten Problems erfolgt durch eine staatliche Bildungs- und Kulturpolitik, und das Inklusionsproblem wird an den „Wohlfahrts- und Rechtsstaat“ delegiert (vgl. Halfmann/Bommes 1998: 86). Die Repressionsmaßnahmen (durch das Recht) und die Umverteilungsmaßnahmen (durch die Wohlfahrt) erfüllen von Anbeginn die Funktion das gesellschaftliche Gemeinwohl zu stabilisieren und zu sichern. Diese Ordnungs- und Umverteilungslogik bleibt dann auch im späteren Wohlfahrtsstaat erhalten, wenngleich sich daraus unterschiedliche „Wohlfahrtsstaatsregime“ (Esping-Andersen 1990) herausbilden und sich regionenspezifisch ausdifferenzieren. In Österreich setzte sich nach dem 2. Weltkrieg ein breiter gesellschaftlicher Konsens über den Wohlfahrtsstaat durch, nicht zuletzt wegen seiner „pazifizierenden“ Wirkung. Seit den 1990er Jahren zeichnen sich hier aber merkbare Veränderungen ab (vgl. Tálos 2005: 13). Soziale Arbeit in ihrer modernen Form als intermediäre, soziale Interventionsform zwischen Staat und Adressaten diente damit schon immer zwei ‚Herren’: Der Staat verteilt die öffentlichen Gelder und möchte sicher gehen, dass die Gelder effektiv und effizient eingesetzt werden und fordert dafür Kontrolle. Auf der anderen Seite sind die Klienten und Klientinnen auf die Hilfe angewiesen (wollen das aber nicht sein). 2 In dieser Grundkonstellation, die feldintern als „Doppeltes Mandat“ bezeichnet wird, bewegt sich die Soziale Arbeit. Sie kann sich nur in diesem Antagonismus bewegen, ihn aber nicht einseitig auflösen. Unabhängig davon ob eine Maßnahme über einen Träger erfolgt oder direkt vom Bund, Land oder der Gemeinde durchgeführt wird: Die Soziale Arbeit
2
Thematisiert wird diese Kritik unter dem Schlagwort „Entmündigung durch Experten und Expertinnen“, vor allem durch Selbsthilfegruppen und Selbsthilfeorganisationen. Deutlicher hingegen wird dies bei so genannten „Randgruppen“ – etwa bei der Anstaltsunterbringung psychisch Kranker. Hier können sich die Grenzen zwischen helfend-unterstützenden und repressiv-kontrollierenden Interventionen verwischen. Jedoch aufgrund der Heterogenität der Handlungsfelder und dem damit in Verbindung stehenden Institutionalisierungsgrad gestaltet sich die „Kontrollfunktion“ sehr unterschiedlich aus. Das Kontinuum reicht hier von der gesetzlichen Beauftragung (wie z. B. in der Jugendwohlfahrt, Bewährungshilfe, Sachwalterschaft) bis zum kommunal-lokalem Engagement (wie z. B. „Grätzlarbeit“, Organisation von Seniorentreffs).
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bleibt beiden „Auftraggebern“ verpflichtet. Die Gesellschaft (in Form der Sozialpolitik bzw. Rechtspolitik) fordert die Anpassung an die herrschenden Normen und hegemonialen Werte (z. B. die Herstellung einer Bereitschaft zur Existenzsicherung durch eigene Lohnarbeit oder die Achtung des Eigentums etc.). Entsprechend ‚bietet’ Soziale Arbeit nicht nur Hilfe an, sondern fungiert auch als Kontrollorgan (mit explizit rechtlichem Auftrag z. B. in der Jugendwohlfahrt oder mit impliziten Erwartungen z. B. in der außerschulischen Jugendarbeit). Gerade diese Logik der staatlichen Beauftragung von Sozialer Arbeit macht die parallele Ausformung sowohl kontrollierender/disziplinierender als auch helfender Interventionsformen in der Sozialen Arbeit plausibel. Sie sind konstitutives Element der Sozialen Arbeit im Wohlfahrtsstaat moderner Prägung. Eine „kritische Praxis“ kann die Soziale Arbeit nur in der Form entwickeln, indem sie ihre Doppelfunktion von „Hilfe und Kontrolle“ kritisch-reflexiv wendet und helfend-unterstützende vor repressiv-kontrollierende Maßnahmen stellt. Inwieweit ihr eine solche Praxis gelingt, ist letztendlich eine empirische Frage. So lassen sich in der so genannten „Renaturalisierung“ Sozialer Arbeit, etwa in der auf den Sozialraum bezogenen Sozialen Arbeit, Gegentendenzen zur „Kontrollgesellschaft“ lesen. Diesen Ansätzen ist die Ausrichtung am „Lebensraum“, am „Nahraum“ und an der „Lebenswelt“ gemeinsam (vgl. Otto/Ziegler 2005: 130 f.).
2. Ökonomisierung der Sozialen Arbeit, Ökonomisierung des Sozialen Gegenwärtig wird die Doppelfunktion von „Hilfe und Kontrolle“, nicht zuletzt aus der (Selbst-)Wahrnehmung der „Präkarisierung“ Sozialer Arbeit, in Theorie und Praxis thematisiert. Dies wird anhand von zwei einander sich bedingenden Diskursen erläutert. Der erste Diskursstrang bezieht sich auf die sozialpolitischen Rahmenbedingungen von Sozialarbeit. Darin wird auf einen zentralen Widerspruch in den Bedingungen Sozialer Arbeit aufmerksam gemacht. Dieser Widerspruch bestehe darin, dass die Aufgabenstellungen der Sozialen Arbeit und die zur Verfügung stehenden Mittel in keiner tragbaren Relation (mehr) zueinander stehen. Verantwortlich wird hier der Prozess des Rückbaus wohlfahrtsstaatlicher Maßnahmen gemacht (vgl. Bourdieu 2004: 53 f.). In diesem Zusammenhang wird eine „Vermarktwirtschaftlichung“ im Bereich der sozialen Sicherung und der Sozialen Arbeit konstatiert. Darin, sowie in anderen sozial- und rechtspolitischen Reforminitiativen, spiegelt sich der Trend zur Privatisierung sozialer Risken. Na-
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hezu durchgehend sehen sich soziale Dienste, ob in staatlicher, wohlfahrtsverbandlicher oder privatwirtschaftlicher Trägerschaft, einer gemeinhin als Qualitätssicherung verklausulierten betriebswirtschaftlichen Rationalität des KostenNutzen-Kalküls ausgesetzt, Deckelungen der Ausgabenseite höhlen das sozialstaatliche Prinzip der Bedarfsorientierung aus, und staatliche Ausschreibungsund Vergabepraktiken stellen neuartartige Wettbewerbssituationen und Konkurrenzverhältnisse unter den Anbietern her, die auf längere Sicht einen grundlegenden Wandel der überlieferten Strukturen, Inhalte und Ziele sozialer Dienstleistungen nach sich ziehen werde (Anhorn 2005: 17). Seit Mitte der 1990er Jahre lässt sich demnach eine „Ökonomisierung“ der Sozialen Arbeit und die Entstehung eines nach dem Konkurrenzprinzip organisierten Markts der bezahlten Arbeit mit sozialen Problemen beobachten. Die auf die Herstellung sozialer Gerechtigkeit ausgerichtete Soziale Arbeit gerät dadurch unter erheblichen Legitimations- und Änderungsdruck. Hintergrund ist die „grundlegende Verschiebung im Verhältnis von Wirtschafts- und Sozialpolitik“ (ebd.: 19). Der Wohlfahrtsstaat wird nicht mehr als Problemlöser, sondern als Problemverursacher, Sozialleistungen werden nicht mehr als stabilisierende Faktoren, sondern als hemmende Kostenfaktoren für das Wirtschaftswachstum angesehen. Die „Ökonomisierung“ der Sozialen Arbeit verstärkt aber die Tendenz „aufgrund eines politisch zu verantwortenden Ressourcenmangels die sozialarbeiterischen Unterstützungs-möglichkeiten in materieller, personaler und finanzieller Hinsicht einzuschränken“ (Bakic/Diebäcker/Hammer 2007). Dadurch wird Soziale Arbeit zur „Exklusionsverwaltungsagentur“ (Pilgram/Schlechter 2009: 16) und das „doppelte Mandat“ von „Hilfe und Kontrolle“ wird nun aufgespaltet in Hilfe für die (noch) Integrierten und Kontrolle für die (bereits) Ausgeschlossenen. Im zweiten Diskursstrang wird die Verschiebung vom „fürsorglichen“ zum „aktivierenden“ Staat aufgezeigt: Die Bereiche der sozialen Sicherung und der Sozialen Arbeit werden dem Kalkül ökonomischer Nutzenabwägungen untergeordnet und auf „sozialdisziplinierende“ Zugriffe und Überprüfung der individuellen Compliance reduziert. Wer versagt, wird entweder materiell abgestraft oder die Interventionen zielen auf eine Korrektur des „devianten“ Individuums ab, um ein korrigiertes, „normales“ Individuum hervorzubringen. 3 Die Argumente beziehen sich hier vor allem auf die Interventionsebene der Sozialen Arbeit, oder anders gesagt: auf die Ebene der berufspolitischen Ethik der „Parteilichkeit“. Wird die Parteilichkeitsanspruch aufgegeben, so zerbricht auch die
3
Vgl. z. B. für das Handlungsfeld der Kriminalisierung (Stehr 2005: 279 ff.), in Bezug auf arbeitsmarktpolitische Maßnahmen Dimmel (2007: 25 f.).
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Dialektik des sozialarbeiterischen Doppelmandates. Zugleich verwandelt sich Soziale Arbeit tendenziell in ein willfähriges Instrument defensiver, den Markt als Sachzwang akzeptierender Elendsverwaltung, die der sozialpolitischen Kosmetik dienlich ist, ob sie das will oder nicht (Dimmel 2007: 18). Daran schließt die zentrale Frage an, ob die Institution Soziale Arbeit nur noch eine reine soziale Dienstleistung ist oder ob sie weiterhin der Notwendigkeit eines sozialpolitischen Engagements nachkommen kann bzw. will. Ihr sozialpolitisches Engagement leitet sich aus ihren Erfahrungen in der direkten Auseinandersetzung mit den unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen ab. Gerade als Institution des Wohlfahrtsstaates weist die Soziale Arbeit auf die paradoxe Erfahrung in der Spätmoderne hin, dass zwar immer mehr Menschen „kulturell inkludiert“ werden, dieser Prozess jedoch mit „struktureller Exklusion“ einhergeht (vgl. Young 2001, 196.). Diese Diskursstränge verweisen auf die Programmatik des Neoliberalismus: Wirtschaftlichkeit als zentrales Bewertungskriterium wird damit nicht nur Leitmotiv für direktes Herrschaftshandeln (und entsprechende Politiken), sondern fließt als ideologischer Bestandteil gesellschaftlicher Wissensbestände in die an Regierungsziele geknüpften „Technologien des Selbst“ ein, die die Selbstmodifikation und Selbsttransformation der Individuen auf „sanfte“, „ökonomische“ Weise ermöglichen (Bröckling/Krasmann/Lemke 2000: 29). Entscheidend ist die Durchsetzung einer autonomen, unternehmerischen Subjektivität als gesellschaftliches Leitbild, wobei die eingeklagte Selbstverantwortung in der Ausrichtung des eigenen Lebens an betriebswirtschaftlichen Effizienzkriterien und unternehmerischen Kalkülen besteht (ebd.: 30). Die dargestellten Entwicklungen lassen vermuten, dass auch Soziale Arbeit als Regierungstechnik wirksam wird – wobei „Hilfe“ und „Kontrolle“ möglicherweise gar nicht widersprüchlich gedacht werden müssen, sondern vielmehr beide unterschiedliche Techniken desselben Regierungshandelns darstellen: Dann nämlich, wenn Hilfe darauf ausgerichtet ist, das betreute Individuum in die Lage zu versetzen, sich in ein „rationales Subjekt“ zu transformieren, das seine „Freiheit“ dazu nützt, „Initiative, Anpassungsfähigkeit, Dynamik und Flexibilität“ zu beweisen, kurz, sich den Logiken des Marktes anzupassen (Bröckling/Krasmann/Lemke 2000: 30). ‚Globale’ Perspektiven auf Sozialpolitiken behandeln in erster Linie den Kontrollaspekt Sozialer Arbeit. Wie aber sieht die sozialarbeiterische Praxis in jenen Feldern aus, in denen es nicht in erster Linie um Verwaltung geht, sondern um ‚offene’, unterstützende Klienten- und Klientinnenarbeit? Schließlich stellt sich auch die Frage, inwieweit sich unterschiedliche sozialpolitische Rahmen-
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Brita Krucsay – Roland Gombots
bedingungen auf die sozialarbeiterische Praxis auswirken, eventuell so etwas wie unterschiedliche lokale Sozialarbeitskulturen hervorbringen. Empirische Evidenz über die Ausprägungen und Beschaffenheit solcher lokaler Kulturen sozialer Arbeit lässt sich aus der Makroperspektive allerdings nicht gewinnen. Mit der folgenden Skizze wollen wir zur Schließung dieser empirischen Lücke anregen, denn gerade die Analyse lokaler Ausprägungen von Problemdiskursen Sozialer Arbeit, könnte u. E. zu einem besseren Verständnis ‚lokaler’ wie auch ‚globaler’ Trends beitragen.
3. Unterschiedliche Ausprägungen sozialarbeiterischer Praxis Der vorliegende Beitrag geht der Frage nach, inwieweit institutionalisierte Soziale Arbeit als Teil eines Apparats der Marktlogik, der vornehmlich auf die Anpassung an herrschende Produktionsbedingungen abzielt, zu begreifen ist und inwieweit sie überhaupt die Möglichkeit hat, jenseits dieses Rahmens Zielsetzungen im Sinne von Freiräumen zu finden. Dies soll anhand der Konzeptualisierungen „problematischer Klienten“ – in diesem Fall Jugendliche – durch unterschiedliche sozialarbeiterische Einrichtungen, wie sie uns im Rahmen einer laufenden Studie begegneten, dargestellt werden. Die Fragestellung entwickelte sich aus einem laufenden Forschungsprojekt 4 im Rahmen einer Auftragsforschung, einer ethnografischen Studie zu Jugendlichen, die sich im öffentlichen Raum aufhalten und gemeinhin als „Problemfälle“ gelten, weil sie von der Mehrheitsgesellschaft als deviant bzw. delinquent wahrgenommen werden. Um einen Zugang zu den Jugendlichen zu finden, führten wir eine Reihe von Experteninterviews mit Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen unterschiedlicher sozialarbeiterischer Einrichtungen. Ursprünglich als Mittel zum Zweck der Zugangseröffnung zu den Jugendlichen angelegt, betrachteten wir die Interviews zunächst vor allem als Lieferanten von ‚hard Facts’ (etwa Treffpunkte und -zeiten, ‚konkrete Einschätzungen’, Empfehlungen). Entgegen unserer impliziten Vorannahme, mit einer zunehmenden Anzahl an Gesprächen ein immer kohä-
4
„Jugend, Devianz, Exklusion. Ein Projekt zur politischen Bildung junger AußenseiterInnen“. Ziel des Forschungsprojektes ist es, am Beispiel schulpflichtiger Jugendlicher, die sich gemeinschaftlich in delinquenten Subkulturen organisieren, nachzuzeichnen, wie Prozesse der Ausschließung vonstatten gehen, wie sie empfunden werden und welche Folgen sich daraus für die Einführung eines anspruchsvollen Programms „Politische Bildung“ in der Schule ergeben.
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renteres Bild der Situation als problematisch erachteter Jugendlicher zu erhalten, entfaltete sich vor unseren Augen stattdessen eine bemerkenswerte Vielzahl von Beschreibungen, Konzeptualisierungen und Strategien sozialer Intervention wie auch sehr unterschiedliche Zugänge zu unserem Anliegen. Die sehr differierenden Beschreibungen über die Jugendlichen sowie – damit korrespondierend – der eigenen Arbeit in einem gleichzeitig sehr überschaubaren geografischen Raum, inspirierte uns dazu, der Frage nachzugehen, wie diese verschiedenen Konzeptualisierungen innerhalb eines scheinbar kohärenten Tätigkeitsfeldes zustande kommen und welche Logik ihnen innewohnt; x Welche Elemente der Normalisierung von Individuen und welche Elemente von Subversion werden in der Praxis sozialer Arbeit aber nun tatsächlich wirkmächtig? x Welche Faktoren beeinflussen die institutionellen Möglichkeitsräume? Wie lautet nun die Kernthese, die wir auf der Grundlage des empirischen Materials entwickelten? Wir gehen davon aus, dass die institutionellen Rahmenbedingungen, die aus einem „marktwirtschaftlichen“ oder einem „wohlfahrtsstaatlichen“ Verständnis des Sozialen und damit der Sozialen Arbeit, erwachsen, nicht nur ‚von außen’ die Arbeitsbedingungen der Sozialarbeit beeinflussen, sondern ebenso in das Selbstverständnis und das Bewusstsein der sozialen Problemarbeiterinnen und -arbeiter hineinwirken, es durchdringen, und damit einen entscheidenden Anteil an der Gestaltung der Arbeitspraxis, konkret: der Wahrnehmung von und dem Umgang mit Klienten und Klientinnen, haben. Die empirischen Ergebnisse der Interviews mit Experten und Expertinnen aus vergleichbaren Einrichtungen 5 weisen in diese Richtung: alle Gesprächspartnerinnen beziehen sich auf einen, in seinen Grundkomponenten weitgehend identischen Rahmen, der für die Konstituierung sozialer Probleme verantwortlich gemacht wird. Jedoch differieren die daraus abgeleiteten Schlussfolgerungen. Aus ihnen resultieren unterschiedliche Problemdefinitionen welche wiederum Unterschiede im professionellen Handeln konstituieren. 3.1 Gemeinsamkeiten Zunächst zu den Gemeinsamkeiten: Wie unterschiedlich die Konzeptualisierungen von „sozialen Problemen Jugendlicher“ im Feld der Jugendarbeit auch im-
5
Unterschiede gab es nur hinsichtlich der Trägerschaft und damit in Verbindung stehend, in den finanziellen Rahmenbedingungen der jeweiligen Einrichtungen.
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mer sein mögen – der thematisierte Rahmen, auf den jeweils Bezug genommen wird, bleibt gleich. Dieser besteht aus den Komponenten a) Markt (Bildungsmarkt, Arbeitsmarkt, Konsum) und b) Armut und soziale Ungleichheit, die wie folgt miteinander in Zusammenhang stehen und interagieren: Am Bildungs- und Arbeitsmarkt muss man zunächst einmal teilnehmen, um dann über Konsum partizipieren zu können. Dieser Annahme impliziert die Logik der „Verwertbarkeit“, die wiederum über Ausbildung und entsprechende Bildungsabschlüsse zustande kommt. Ausschluss oder Abweichung und in diesem Zusammenhang „soziale Probleme“ werden relational zum Markt definiert. Gleichzeitig wird das Auseinanderklaffen zwischen den vom Bildungssystem genährten Hoffnungen und Erwartungen einerseits und den tatsächlichen (Teilnahme-)Chancen der Jugendlichen als „soziale Reproduktion“ andererseits thematisiert. Soziale Ungleichheit wird damit fortgeschrieben. Vermittelt wird dieses Scheitern über die Schule, die „nicht funktioniert“. 3.2 Unterschiede Soweit zum übereinstimmenden Rahmen: Aus dieser identischen Sicht „der Realität“ werden dann aber sehr unterschiedliche Konsequenzen des Umgangs mit diesen Rahmen bzw. dieser Realität abgeleitet, wie sich an einer systematisierten und zu Idealtypen verdichteten Aufstellung der unterschiedlichen Problematisierungen und Konzeptualisierungen zeigt. Wir nennen diese Idealtypen im Folgenden „Pädagogische“ und „Antipädagogische“ Zugänge. Die zentralen Charakteristika der beiden Typen sind in der folgenden Gegenüberstellung tabellarisch angeführt (Tabelle 1).
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Nischen in der Marktlogik?
Tabelle 1: Idealtypen pädagogischer Orientierungen Zugang
Pädagogisch x Die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen für die Jugendlichen werden von den Betreuern als unfair beschrieben.
Rahmenbedingungen
Beschreibung der Jugendlichen
Terminologie, Kategorien, Vokabular
Normalität
Antipädagogisch x Die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen für die Jugendlichen werden von den Betreuern als unfair beschrieben.
x Chancen sind ungleich verteilt (Teilha- x Chancen sind ungleich verteilt (Teilbe in den jeweiligen gesellschaftlichen habe in den jeweiligen gesellschaftliFunktionssystemen) chen Funktionssystemen) x Die „geringen“ Chancen sollen aber genutzt werden.
x Da das Ideal des „bürgerlichen Le-
x Homogenisierung: Beschreibung als defizitäre Individuen mit weitgehend identischen, fehlerhaften Merkmalen.
x Heterogenisierung: Verweigerung individuenbezogener Beschreibungsund Deutungskategorien.
x Charakterisierung der Jugendlichen primär als „(Ziel-)Gruppe“ von Sozialer Arbeit.
x Knappe Beschreibungen als „heterogene Gruppen“.
bens“ nicht erreichbar ist, gilt es die „Nischen“ und „Freiräume“ zu nutzen.
x Verschmelzung von wissenschaftlichen x Umfeldbezogene Kategorisierungen: (soziologische, psychologische und pä- Konzeptualisiert über Interessen(gedagogische) und alltäglichen Kategogensätze) im Wirkungskreis der rien im Diskurs. Mehrheitsgesellschaft vs. Marginalisierte Jugendliche. x Normatives, moralisch aufgeladenes Problemvokabular, bezogen auf das Individuum.
x Soziologisches Vokabular: Fokussierung auf Rahmenbedingungen.
x Zentraler Begriff der „Identität“.
x Anspruch auf Wertneutralität.
x Moralischer Normalitätsbegriff :
x Empirischer Normalitätsbegriff:
x Normalität des Individuums wird betont.
x Normenrelativierung unter Einbeziehung subkultureller Ausrichtungen.
x Normalbiografie: Bildungsweg – Abschluss einer (Aus-)Bildung, Wille zum Aufstieg, Wahrnehmen sozialer Mobilität, Teilhabe am Markt.
x Normal sind jene Phänomene, die in der Realität vorkommen.
x Normal ist Handeln, das im Verhältnis zu den Rahmenbedingungen begründx Normalität der Familie: Intakte Familie bar ist. mit beiden Elternteilen.
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Brita Krucsay – Roland Gombots
x Grundsätzlicher und permanenter Be- x Sozialraum und Infrastruktur als pridarf an Hilfe, Beratung und psychosomärer Bedarf. zialer Unterstützung durch erwachsene x Punktueller und anlassbezogener Jugendliche im ExpertInnen. Verhältnis zur Bedarf an weiterer Beratung bzw. Einrichtung x Wissensvorsprung der Einrichtung, psychosozialer Unterstützung. Betreuer sind die Experten. x Jugendliche sind die Experten bzw. Expertinnen ihrer Lebenswelten. x Die Jugendlichen müssen an die „realen Verhältnisse“ herangeführt und kompatibel gemacht werden. x Aufrechterhaltung des Ideals von „sozialer Mobilität“ und der Illusion von „Chancengleichheit“.
x Die Jugendlichen sollen dabei unterstützt werden vorhandene Ressourcen im bestehenden Rahmen zu nützen (Infrastruktur, Raum, Recht).
x Einrichtung stellt Wissen, Kommunikation, Infrastruktur in unterschiedliKonsequenz für chen Kontexten zur Verfügung (z.B. den Auftrag der x Umfunktionierung von „Humanballast“ Parknutzung, Internet, Aufnahmestuzu „Humanressourcen“ Einrichtung dio usw.). x Unterstützung beim „Durchwursteln“. Es geht ums – einigermaßen angenehme – Überleben. x Kurzfristige, jedenfalls gegenwartsbezogene Perspektive. x Beschäftigung mit dem „Selbst“: Selbsterfahrung, Selbstbefragung, Introspektion. Selbstentäußerung als ‚Beichte’. Techniken, Methoden, Instrumente
x „Fürsorgliche Belagerung“ und „Missionierung“. x Kontinuierliches „Einfangen“ der Jugendlichen.
x Kommunikation und Präsenz. x Betreuer bzw. Betreuerinnen im Hintergrund. x Bindung der Jugendlichen am Sozialraum. x Diffuser Betreuungsrahmen, kaum Regeln.
x „Beziehungsarbeit“ ist zentral, Bindung der Jugendlichen an Personen. x Präventionsgedanken (Gewalt, Sucht und sonstige Bedrohungen). x Jugendliche müssen auch vor den Forschenden beschützt werden. Zugang zum angetragenen Forschungsanliegen
x Ob sie mitmachen, obliegt den Jugendlichen.
x Forschung bindet Ressourcen der Sozi- x Projekt grundsätzlich „begrüßt“, „erwünscht“. alarbeiter und Sozialarbeiterinnen. x Arbeit der Jugendlichen mit Forscher bedeutet Intervention in die Soziale Arbeit (und damit potentielle Störung).
Nischen in der Marktlogik?
Resümee
x missionarisch x normativ x ergebnisorientiert x Individualisierung gesellschaftlicher Widersprüche (Auflösung)
163 x subkulturell ausgerichtet x normenrelativierend x prozessorientiert x Annehmen von und arbeiten mit gesellschaftlichen Widersprüchen
1. Der pädagogische Typus lässt sich dahingehend charakterisieren, dass „missionarisch“ auf die Veränderung bzw. Anpassung der Individuen hingearbeitet wird. Der Schwerpunkt liegt bei der „Funktionsfähigkeit“ der Klienten und Klientinnen in den Teilsystemen (Bildung, Arbeitsmarkt usw.) der funktional differenzierten Gesellschaft. Demzufolge werden die Klienten und Klientinnen durchweg als hochgradig defizitär dargestellt. Möglich wird das mittels ihrer Beschreibung als homogene defiziente Gruppe. So werden z. B. Migranten und Migrantinnen etwa folgendermaßen charakterisiert: „… bei denen klappt es mit der österreichischen Identität nicht ... die sprechen absichtlich falsches Deutsch“. „Die schauen überhaupt nicht auf ihre Gesundheit, haben kein Gspür für den eigenen Körper, ... kettenrauchen, ernähren sich total ungesund, die haben total schlechte Zähne ... aber dann gehen sie ins Solarium und ins Fitness-Studio“. Auch die beschriebene materielle Armut der Klienten und Klientinnen wird auf deren intellektuellen und emotionalen Gesamtzustand verallgemeinert: So ist die „Allgemeinbildung ganz unterstes Niveau“, „ausdrücken können sie sich überhaupt nicht ... haben kaum Vokabular“, was wiederum zu einer erhöhten „Konfliktunfähigkeit“ der Jugendlichen führt. Sie werden als tendenziell brutal gezeichnet, gekoppelt an einen Mangel an Bildung und Einsicht in die und Reflexion der eigenen Situation. Eine zentrale Bedeutung kommt hier dem Konzept einer funktionierenden „Identität“ zu, werden doch die Klienten und Klientinnen v. a. dadurch definiert, dass es mit ihrer (nationalen, geschlechtsbezogenen, familienbezogenen etc.) Identität „nicht klappt“. Während diese Darstellungen der Jugendlichen als „Mängelwesen“ einen homogenisierenden Effekt haben, ist im Unterschied dazu der sozialarbeiterische Zugang stark individualisierend: Gilt es doch, die Jugendlichen dazu zu motivieren, „an sich selbst zu arbeiten“. Sei es, indem eine Ausbildung angetreten wird oder – empirisch etwas wahrscheinlicher – eine Selbstreflexion und Selbstdarstellung der Jugendlichen hinsichtlich der Fragen „Was macht mich aus? Wo will ich hin? Was ist mir wichtig?“ erfolgt.
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Bei den Zielsetzungen für ihre Klienten orientieren sich die Sozialarbeiterinnen implizit an hegemonialen Normalitätsvorstellungen, in Hinblick auf den Lebensstil (s. o.), Bildung, Ausbildung und Erwerbsstatus. „Die meisten Eltern verfügen nur über ein geringes Bildungsniveau ... sie haben kaum pädagogische Konzepte, meistens sind beide Elternteile berufstätig und haben kaum Zeit für ihre Kids. Die Jugendlichen sind sich selbst überlassen, das überfordert sie ... und lassen sich auf den Konsum zurückfallen. Sie tun sich schwer, mit ihrer Freizeit was anzufangen. Sie hängen meistens nur herum und warten dann schon auf die Jugendbetreuer“. Bemerkenswert ist hier die Vorstellung, dass a) es geradezu pädagogische Konzepte für die Eltern braucht, um Freizeit mit Kindern zu gestalten, b) diese nur bei „gebildeten“ Eltern aufzufinden sind und c) die Kinder, sofern sie den „vernünftigen“ Umgang mit Freizeit von ihren Eltern nicht erlernen konnten, mit der Gestaltung ihrer Freizeit überfordert sind. Nicht zuletzt gehören auch Kernfiguren meritokratischen Denkens zu den verwendeten Deutungsmustern bei den Sozialarbeitern und Sozialarbeiterinnen. So beschreibt eine Sozialarbeiterin die Bildungssituation folgendermaßen: „Das ist schade, weil einige der Jugendlichen auch ein Studium schaffen würden, sie bekommen aber keine Unterstützung. ... mit dem Hauptschulbesuch kommen sie aus ihrer Lebenssituation nicht raus“. Die Deutungsmuster orientieren sich bei diesem Typus an einer individualistisch organisierten Gesellschaft, d. h. das Subjektive muss als Biografie darstellbar/ erzählbar sein. Die Jugendlichen sollen befähigt werden, Selbstbeschreibungen und Selbstpräsentationen als „Biografie“ anzufertigen, da Statuszuweisungen in einer funktional differenzierten Gesellschaft nicht per se fixiert sind. Sozialarbeiter sehen sich als „Anleiter“ für solche Anfertigungen: Die gegenwärtige „Spätmoderne“, die häufig durch „Individualisierung“ und „Pluralisierung“ der Lebenswelten sowie „Entstabilisierung“ sozialer Strukturen charakterisiert wird (vgl. z. B. Baumann 2003; Beck 1986), erfordert neue Strukturierungs- und Orientierungsarbeit von den Individuen, die permanente Arbeit an sich selbst als „lebenslanger Prozess biografischer Arbeit“. Sozialarbeiter liefern dazu den „Leitfaden“ für diese kollektiven Selbstbeschreibungen. 2. Der antipädagogische Typus entzieht sich dagegen einer Homogenisierung und nimmt gleichzeitig Abstand von vereinfachenden, stereotypen Beschreibungen und differenziert Charakterisierungen der Klienten und Klientinnen nuan-
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ciert aus. So beschreibt ein Streetworker „seine“ Jugendlichen zunächst als Migranten und Migrantinnen, führt aber später hinzu: „... das Migrantenmilieu entspricht ja eigentlich der früheren Arbeiterklasse“. In seinen weiteren Ausführungen erwähnt er wiederholt diese Kategorien, um die Beschreibungen in einen möglichen Kontext zu stellen. Diese Art verhältnisbezogener Kategorisierungen implizieren einen „distanzierteren“ Blick, der die Individuen permanent im Kontext gesellschaftlicher Bedingungen verortet und damit auch die Ursache möglicher Konfliktfelder nicht auf das „defizitäre“ Individuum bezieht (etwa bei der Beschreibung der Kausalkette: „geringe materielle Ressourcen, dadurch wenige Möglichkeiten der Durchsetzung eigener Interessen z. B. im öffentlichen Raum“). Im Gegensatz zur individualisierenden Terminologie des pädagogischen Typus greift der antipädagogische Typus vor allem auf verhältnisbezogene Charakterisierungen zurück (und relativiert auch diese in weiterer Folge häufig). Dieser „distanzierte Blick“ führt in seiner Konsequenz schließlich zu einer fatalistisch-entspannten Haltung gegenüber den Jugendlichen: Während der pädagogische Typus die Normverstöße bzw. gar delinquentes Verhalten der eigenen Klientel explizit beklagt, beschreibt der antipädagogische Gesprächspartner Delinquenz gleichsam schulterzuckend als „Normalität“ (die sich z. T. aus ungleichen Besitzverhältnissen ergibt). „Eigentlich is das ganz normal ... die fladern ein Handy und weil’s so einfach geht, machen sie’s wieder“. Die Sozialarbeiter und Sozialarbeiterinnen konstituieren sich in diesem Typus als „kollektive Identitäts- und Normalitätsfolien“, da Solidarität in Form von kollektiven Erfahrungsräumen für benachteiligte Jugendliche nur bedingt bzw. kaum abrufbar ist (z. B. der Bezugsrahmen einer organisierten „Arbeiterjugend“ als relevanter Erlebnis- und Erfahrungsraum). In ihren Deutungsmustern hinterfragen sie die hegemonialen Bilder von „Jugendlichkeit“, „Attraktivität“, „Zukunft“, „Chancengleichheit“ usw. Dieser von der öffentlichen Sphäre (Politik, Schule und nicht zuletzt von den Medien) definierten und „gestylten“ Jugendlichkeit setzen die Sozialarbeiter und Sozialarbeiterinnen einerseits hilfestellenden „Realismus“ und konstruktive „Gesellschaftskritik“, andererseits lähmende „Lethargie“ und destruktiven „Zynismus“ entgegen. „Wie soll ich die beschreiben? ... Naja, das sind halt Jugendliche, die sich im Park treffen …“ Unabhängig von „positiver“ oder „negativer“ Rahmung ist bzw. bleibt der Kern dieses sozialarbeiterischen Typus eine rein kompensatorische Herangehenswei-
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se, denn die Biografien der Jugendlichen sind, unter dem Gesichtspunkt der gegenwärtigen sozialen Strukturen (meritokratisches Prinzip), nicht erzählbar, nicht darstellbar und letztendlich findet de facto eine „Müllverwaltung“ der exkludierten Jugendlichen statt. Provokativ ausgedrückt agieren die Sozialarbeiter und Sozialarbeiterinnen auf dem Boden einer potemkinschen Bühne des Relativismus. In Abgrenzung zum pädagogischen Typus reflektiert der antipädagogische Typus die sozialen Reproduktionsbedingungen zwar kritisch mit, setzt diesen aber auf der Interventionsebene nicht wirklich etwas entgegen, Betreuungsaufgaben und Zielsetzungen bleiben „diffus“.
4. Resümee und offene Fragen Worauf lassen sich diese unterschiedlichen Zugänge zurückführen? Wir gehen davon aus, dass es nicht um individuelle, persönliche Unterschiede in der Arbeitsweise der Problemarbeiterinnen geht, sondern um Strukturen, die bestimmte Konzeptualisierungen scheinbar ‚logisch’ nahe legen. Was die institutionellen Rahmenbedingungen der sozialarbeiterischen Einrichtungen angeht, fällt auf, dass es in der Finanzierung und damit Existenzsicherheit der Einrichtungen deutliche Unterschiede gibt: So gehören einige (drei) zu einem Träger, der eine fixe, extrem hohe jährliche Subvention bezieht (die den gesamten Personalkostenaufwand abdeckt), der politisch verankert ist und damit sehr große Sicherheiten und Spielraum gewährleisten kann (ein Job als Betreuer oder Betreuerin ist fast ein „pragmatisierter“ Job). Anders bei den weiteren Trägern. Zwar sind diese nicht akut in ihrer Existenz bedroht, müssen jedoch ihre Finanzierungen aus unterschiedlichen Quellen beziehen. Eine Grundsubvention ist entweder gar nicht oder nur sehr niedrig vorhanden. Sie sind daher auf spezielle Projektfinanzierungsformen angewiesen und sind letztlich permanent unter Legitimationszwang vor den unterschiedlichen Geldgebern. 6
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Die Steuerung über Ziele und Leistungsvereinbarungen zeigt einen gegenwärtigen Wechsel vom Sozialversicherungsstaat hin zu einem bedarfsprüfenden Wohlfahrtsstaat an, der unter den Prämissen des New Public Managements soziale Hilfe strikt dem Kalkül ökonomischer Nutzenabwägungen und sozialdisziplinierender Zugriffe unterwirft. Dieser Logik folgend wird auch die Beauftragung von Sozialer Arbeit dahin gehend verregelt, dass nur solche sozialen Dienstleistungsorganisationen Aufträge bekommen, die bestimmte „Qualitätskriterien“ erfüllen. Diese Qualitätskriterien offenbaren sich dann bei genauerer Betrachtung als Berichts- und Rechtfertigungspflichten im Leistungsvertragsmanagement gegenüber dem öffentlichen Finanzier. Oft liegen diese – und für die fachliche Arbeit oft kontraproduktiv – quer zur regulativen Idee wie zum Beispiel der Verschwiegenheitspflicht.
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Die dargestellten unterschiedlichen Konzeptualisierungen korrespondieren mit den jeweiligen institutionellen Rahmenbedingungen: So ist die pädagogischindividualisierende Ausrichtung primär bei jenen Einrichtungen angesiedelt, die sich als „Projekte“ am „Soziale-Probleme-Markt“ jeweils erneut über Ergebnisorientierung legitimieren müssen, um ihre temporären Projektfinanzierungen zu beziehen. Eine „antipädagogische“ Haltung, die sich nicht über die „Bearbeitung defizitärer Individuen“ legitimiert, ist dagegen primär vor dem Hintergrund verhältnismäßig gesicherter Strukturen, zumeist in Form fixer Subventionierungen, möglich. In einem nach dem Konkurrenzprinzip organisierten Markt wird ein erheblicher Druck auf die Soziale Arbeit erzeugt, in dessen Folge nun „Marktnischen“ z. B. mit dem Präventionskonzept erschlossen werden. So kann der stetig wachsende ‚Präventionsmarkt’ als Möglichkeit der zusätzlichen Finanzierung und Etablierung eines Standbeins im Feld der Sozialen Arbeit, neben den klassischen Angeboten (psychosoziale Beratung und Betreuung) begriffen werden. Es scheint, dass die aus marktwirtschaftlichen Gegebenheiten erwachsende Ausdifferenzierung der Institutionen einhergeht mit einer Legitimation durch Spezialisierung und „Professionalisierung“ in Hinblick auf die entsprechenden Zielgruppen. Die Gefahr ist hier zum einen, dass zur Problemidentifizierung bestimmte Persönlichkeits- bzw. Identitätsmerkmale herangezogen werden, andererseits die Legitimation der Problembearbeitung in einer strikteren Ergebnisorientierung besteht. Insofern stellt sich die Frage, ob der Trend zur Ausdifferenzierung und Spezialisierung von sozialen Problembearbeitungsinstitutionen auch Hand in Hand geht mit einer verstärkt normativen Ausrichtung, oder mit anderen Worten: Der verstärkten Orientierung an einem Ideal gesellschaftlicher Erwünschtheit. In diesem Fall sind diese Logiken durchaus verallgemeinerbar, selbst über die Arbeit mit Jugendlichen hinaus. Zu fragen wäre, in wie weit die Problemfokussierung in Beobachtung und Arbeit mit Jugendlichen wiederum Auswirkungen hat auf den soziopolitischen Diskurs und das soziale Feld der Sozialen Arbeit insgesamt bzw. mit den betreuten Jugendlichen, zusammenwirkt. Gleichzeitig stellt sich für das Fach der Soziologie – insbesondere im Bereich der Auftragsforschung – die Herausforderung, vordefinierte Problemfelder zu untersuchen. Daran anschließend stellt sich die Frage, auf welcher Ebene die sozialwissenschaftliche Forschung ansetzen kann, im Bewusstsein, dass sie gesellschaftliche Wissensbestände mitkonstituiert, ohne diese Vordefinitionen zu übernehmen und Etikettierungen fortzuschreiben und ohne dabei in einen Endlosregress zu geraten.
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Wir haben versucht darzulegen, dass sich diese Entwicklungen – in den Bereichen Sozialarbeit und Sozialpolitik – am besten verstehen lassen, wenn man sie als miteinander in Beziehung stehende Aspekte eines sozialen Feldes betrachtet, das sich seinerseits in einem Veränderungsprozess der Neustrukturierung befindet. In den Praktiken der sozialpolitischen Maßnahmen verschiebt sich der Schwerpunkt von der wohlfahrtsstaatlichen zur ökonomischen Modalität. Ausgangspunkt für diese Verschiebung bilden Diagnosen über die mangelnde Effizienz sozialarbeiterischen Handelns bei der Lösung sozialer Probleme. Das damit in Verbindung stehende Legitimationsproblem – nicht nur für die sozialen Dienstleister, sondern auch für den die Wohlfahrt organisierenden Staat – zwingt in diesem Feld zu „Optimierungen“. Die Optimierungsversuche folgen dabei einer Marktlogik, jedoch fehlen personenbezogenen Dienstleistungen bestimmte typische Merkmale von Waren. Die „Produktion“ und die „Konsumation“ dieser Dienstleistungen stehen in einem erwartbaren Interaktionsprozess, dessen Qualität sich nur sehr geringfügig standartisieren lässt, da dieser im Einzelfall von den an der Interaktion beteiligten Personen abhängt. In einer Gesamtbetrachtung zeigt sich, dass ein nach dem Konkurrenzprinzip organisierter Markt der bezahlten Arbeit mit sozialen Problemen nach speziellen Problemdefinitionen mit differenten Kriterien verlangt, um die eigene Arbeit zu legitimieren und die Finanzierung abzusichern. Die sozialpolitischen Strategien und Praktiken entstehen üblicherweise als lokale Lösungen für soziale Probleme. Diese lokalen Strukturen subsumieren sich zu institutionellen Rahmenbedingungen für die Soziale Arbeit und sind entscheidend für die Entwicklung spezifischer Deutungs- und Handlungsmuster bei den Fachkräften, wie anhand der empirischen Studie gezeigt werden konnte.
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„Ich sehe, dass Menschen vor Diagnosen davonlaufen“ Chronische Krankheit jugendlicher Obdachloser aus der Sicht von Experten und Expertinnen
1. Jugendobdachlosigkeit in Deutschland Jugendliche leben nicht nur in den armen Ländern Osteuropas oder der so genannten Dritten Welt auf der Straße, sondern auch in vergleichsweise reichen Ländern wie Deutschland. Entgegen landläufiger, vor allem von den Medien verbreiteten Vorstellungen, handelt es sich jedoch bei den Betroffenen hierzulande nur ausnahmsweise um unter 14-Jährige ‚Straßenkinder’, sondern überwiegend um Jugendliche und junge Erwachsene. Schätzungen des Landesjugendamtes Berlin zufolge leben in der Hauptstadt ca. 3000 Jugendliche auf der Straße, im gesamten Bundesgebiet sollen es gemäß Angaben des Ministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend bis zu 7000 Betroffene sein. Darüber, ob diese Zahlen zu hoch oder zu niedrig gegriffen sind, gehen die Meinungen der Experten und Expertinnen auseinander. Ohnehin liegen dazu, wie die Lebenswelt der Jugendlichen jenseits solcher statistischen Angaben aussieht, bisher nur begrenzte Erkenntnisse vor. Im Gegensatz zu Straßenkindern und -jugendlichen in osteuropäischen, lateinamerikanischen, afrikanischen oder asiatischen Ländern, im Gegensatz aber auch zu erwachsenen Obdachlosen in Deutschland, sind Straßenjugendliche hierzulande eher selten akut obdachlos. Sie übernachten kaum über längere Zeit hinweg im Freien und halten sich vor allem tagsüber auf der Straße auf, um an gut frequentierten innerstädtischen Plätzen Passanten um Kleingeld anzusprechen oder um sich mit Gleichaltrigen zu treffen. Nachts hingegen kommen die Jugendlichen meist bei Szenenbekannten unter, die (wieder) über ein eigenes Quartier verfügen und dieses in der Szene zur Mitnutzung anbieten. Solche Unterkünfte erscheinen häufig als sehr prekär und sind demnach in einem baufälli-
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gen, gesundheitsbedenklichen Zustand und materiell mangelhaft ausgestattet. So fehlt es nicht selten an einer Kochgelegenheit oder einem Kühlschrank. Auch müssen diese Quartiere meist mit anderen Szenenangehörigen geteilt werden, so dass sich z. B. bestimmte Infektionskrankheiten leicht ausbreiten können. Ohnehin weiß der Einzelne nie, bei wem genau er nachts unterkommt, schließlich sind die ‚Aufnahmekapazitäten’ von Szenenangehörigen begrenzt. Jugendliche wiederum, die (kurzzeitig) eine eigene Wohnung mit regulärem Mietvertrag haben, ‚scheitern‘ häufig an den institutionellen Anforderungen, um dauerhaft Zugang zu angemessenem Wohnraum zu finden und diesen finanziell halten zu können (Avramov 1998: 15 f.; Thomas 2005: 140). Zudem stellt sich ihnen eine langfristige Klärung der Wohnsituation angesichts insgesamt sehr unklarer Lebensperspektiven oft als sekundär dar. 1.1 Gesundheit und Krankheit im Kontext von Jugendobdachlosigkeit Verglichen mit Gleichaltrigen der ‚Durchschnittsbevölkerung’, ist die gesundheitliche Situation von Jugendlichen und jungen Erwachsenen ‚auf der Straße’ als prekär anzusehen. Zu den häufigen Beeinträchtigungen, unter denen die Betroffenen leiden, gehören Haut- und Atemwegskrankheiten, Verletzungen, Depressionen und Diabetes. Zudem sind die Jugendlichen signifikant häufiger als die nicht auf der Straße lebenden Gleichaltrigen von schweren chronischen Erkrankungen wie Hepatitis C oder – insbesondere im internationalen Maßstab von HIV/Aids betroffen (vgl. Barry/Ensign/Lippek 2002: 146; Ensign/Bell 2004: 1246). Im Diskurs über die Ursachen einer solchen erhöhten Krankheitsanfälligkeit von Jugendlichen und jungen Erwachsenen ‚auf der Straße’ werden im Wesentlichen zwei Faktoren benannt – zum einen das Gesundheitsverhalten der Betroffenen, das häufig sehr riskant ist. So konsumieren die Jugendlichen meist intensiv Alkohol und Drogen, lassen sich auf ungeschützten Sexualverkehr ein und ‚regeln’ Konflikte gewaltsam. Zum anderen zeigt sich, dass die Jugendlichen von der medizinischen Regelversorgung oft nicht erreicht oder sogar institutionell diskriminiert werden. So besteht zwar theoretisch ein Zugang zum Versorgungssystem, die Betroffenen sind aber mit hohen Hürden konfrontiert, um Leistungen in Anspruch zu nehmen. Vor allem die Praxisgebühr sowie Zuzahlungen zu Medikamenten, Heil- und Hilfsmitteln lassen die ohnehin geringe Bereitschaft von jugendlichen (und erwachsenen) Obdachlosen, im Krankheitsfall einen Arzt aufzusuchen, weiter sinken. Zwar könnten Wohnungslose bei ihrer Krankenkasse einen Antrag auf Zuzahlungsbefreiung stellen, sie ‚scheitern’ aber häufig an den dafür
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erforderlichen Formalitäten. Zudem erweist es sich für sie ‚auf der Straße’ sehr schwierig, Quittungen zu sammeln, um die Ausgaben für Medikamente und sonstige Heilmittel nachzuweisen. Nicht nur Belege der eigenen Bedürftigkeit, auch die Chipkarte, die zur Inanspruchnahme medizinischer Leistungen berechtigt, wird unter den Bedingungen des Straßenlebens oft verloren oder gestohlen, was die Krankenbehandlung erschwert und für die Betroffenen mit zusätzlichen Kosten verbunden ist (Kunstmann 2006). Wie es in einschlägigen Studien für erwachsene Obdachlose diskutiert wird, dürfte eine bedarfsgerechte Versorgung auch von Jugendlichen ‚auf der Straße’ zudem dadurch erschwert werden, dass diese Personengruppe aufgrund intensiven Alkohol- und Drogenkonsums, einer mangelhaften Körperhygiene sowie eines sozial wenig angemessenen Verhaltens oft als nicht ‚(Arzt-)praxistauglich‘ gilt. Unkenntnis über die Lebenslage von Wohnungslosen und bestehende Vorurteile und Abneigungen beim medizinischen Personal gegenüber solchen ‚schwierigen‘ Patienten und Patientinnen führen dazu, dass der spezielle Hilfebedarf der Zielgruppe oft nicht erkannt wird, zumal dieser von den Betroffenen meist nur ungenügend artikuliert wird. Auch aus ökonomischen Gründen (Kostenreduktion, Zeitmanagement) ist das Interesse von niedergelassenen Ärzten und Ärztinnen an wohnungslosen Patienten gering. 1.2 Chronische Krankheit jugendlicher Obdachloser als soziales Problem Im Fall von akuten – oder chronischen – Krankheiten und Beschwerden sind obdachlose Jugendliche im Besonderen auf niedrigschwellige medizinische und soziale Angebote angewiesen, in deren Rahmen sie von Ärzten kostenlos betreut und von Sozialarbeitern im Hinblick auf eine gesündere Lebensweise beraten werden. Es ist davon auszugehen, dass aus der Sicht der Betroffenen auf die entsprechenden Dienste, die Institutionen und deren Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen auf der einen Seite und aus deren Wahrnehmung der (potentiellen) Klientel auf der anderen Seite ein komplexes Interaktionsgefüge entsteht. Eine besondere Rolle darin dürfte die (unterschiedliche) Bedeutung haben, die aus Sicht jeweils von Betroffenen und Experten dem Gesundheits- und Krankheitsverhalten einerseits und den Lebensbedingungen und der institutionellen Versorgung andererseits für die gesundheitliche und soziale Situation der Jugendlichen zukommt. So kann angenommen werden, dass das Auseinanderklaffen von Erwartungen und Wahrnehmungen auf beiden Seiten zur Verstetigung und Intensivierung von Krankheit und der Zugehörigkeit zur Szene auf der Straße beitragen. Was kennzeichnet die soziale Situation chronisch kranker jugendlicher Obdachloser? Chronische Krankheiten lassen sich als ein kritisches Lebensereignis
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verstehen, das oft sehr weit reichende Folgen für die weitere Lebensgestaltung hat. So hängen mit der Beeinträchtigung einerseits gewisse Dauerbelastungen zusammen, die sich aus dem (unsicheren) Krankheitsverlauf oder aus Behandlungsmaßnahmen ergeben. Ausgehend meist vom Zeitpunkt der Diagnose, bedeutet die Erkrankung andererseits einen radikalen Bruch in der Biographie, der häufig die physische, psychische und soziale Identität des Betroffenen in Frage stellt (vgl. Bury 1982; Corbin/Strauss 2004: 98). Den bisherigen Werdegang des Betroffenen tangieren chronische Krankheiten, indem sie mit weit reichenden, oft unumkehrbaren Veränderungen verbunden sind. Diese stellen das alltägliche Handeln und den gewohnten Tagesablauf in Frage und vermitteln ein Bewusstsein von der Endlichkeit des Lebens. Besonders für Jugendliche nur schwer akzeptabel, werden somit auch Zukunftspläne fraglich (vgl. Bury 1982: 169; Schaeffer 2004: 22). Indem sie mit Schmerzen und sonstigen Bedrängnissen verbunden sind, erschüttern chronische Krankheiten den Glauben an die eigene Unverwundbarkeit, der unter Jugendlichen verbreitet ist. Diese müssen sich zudem mit der ihnen im Alltag entgegengebrachten Vorstellung auseinandersetzen, derzufolge ‚Jugend’ und ‚Gesundheit’ ein- und dasselbe ist, so dass sich der Einzelne in der Pflicht sieht, seine Krankheit vor Anderen zu erklären (vgl. Ohlbrecht 2006: 255). Auch unabhängig von öffentlichem Rechtfertigungsdruck wird die chronische Erkrankung zu einer Belastung, weil sie vom Betroffenen mit ‚Altsein’ assoziiert wird und damit die eigene Jugendlichkeit zweifelhaft macht (vgl. Bury 1982: 171). Bei obdachlosen Jugendlichen ist davon auszugehen, dass sie zwei biographische Brüche verkraften müssen – den einen durch die Krankheit, den anderen durch die Zuwendung zum Straßenleben induziert. Von Interesse ist weiterhin, wie sich die Jugendlichen mit ihrer Krankheit auseinandersetzen und auf welche sozialen Ressourcen sie zurückgreifen können. Durch die Zugehörigkeit zu einer Straßenszene und die mehr oder minder kontinuierliche Obdachlosigkeit geraten die Jugendlichen – auch ohne Erkrankungen – in ein Spannungsfeld eines ganzen Bündels sozialer Probleme – von mangelhafter Ernährung, über Sucht, Drogen, Alkohol, Gelegenheitsprostitution, Gewalt und Eigentumsdelikte, Schulprobleme etc. (vgl. Flick/Röhnsch 2008). Entsprechend geraten die Jugendlichen auch in ein Netz unterschiedlicher institutioneller Zuständigkeiten, wenn sie auffällig werden, bzw. potentieller Anlaufstellen, wenn sie Unterstützung benötigen oder suchen. Aus dieser diffusen Situation resultiert die auch empirisch interessante Frage, was eigentlich passiert, wenn Zuständigkeiten oder Bedarfe thematisch werden.
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2. Theoretischer Rahmen: Soziale Repräsentationen als Fokus auf Doing social Problems Will man dieses Gefüge theoretisch betrachten, kann die Perspektive der Soziologie sozialer Probleme einen fruchtbaren Ansatzpunkt bieten. Für eine Auseinandersetzung mit chronischer Krankheit bei jugendlichen Obdachlosen als soziales Problem kann man zunächst einmal die folgende Definition von Spector/ Kitsuse zugrunde legen: Soziale Probleme sind „die Aktivitäten von Gruppen, die – ausgehend von unterstellten Gegebenheiten – Unzufriedenheit artikulieren und Ansprüche geltend machen“ (1973: 146, zit. n. Groenemeyer 2007: 8). Was passiert, wenn Jugendliche mit einer chronischen Erkrankung, die auf der Straße leben, ihre Ansprüche geltend machen wollen? Bleibt man in der in diesem Band zugrunde liegenden theoretischen Perspektive auf soziale Probleme, setzt der Prozess des Doing social Problems bzw. des Social Problems Work ein: „Social problems work involves procedures for expressing and applying … culturally shared categories to candidate circumstances … For example, labeling persons ‘mentally ill’ or ‘homeless’ requires the availability of the categories plus the interpretive activity through which a category is articulated with a case” (Holstein/Miller 1993: 153). Bevor dieser Prozess empirisch analysiert wird, sollen noch einige eher theoretische Vorbemerkungen vorangestellt werden. In ihrer Beschreibung des social Problems Work Ansatzes verknüpfen Holstein und Miller zwei soziologische Theorietraditionen. Eine ethnomethodologisch informierte Version des sozialen Konstruktivismus in der Tradition von Garfinkel (1967) und Spector/Kitsuse (1973) bzw. Ibarra/Kituse (1993) wird mit dem Ansatz der kollektiven Repräsentationen in der Tradition von Durkheim (1981 [1912]), vor allem in der Version von Douglas (1987), kombiniert: “... a more ethnomethodological concern for the interpretative practices by which everyday realities are locally accomplished, managed, and sustained urges constructionism to broaden its focus to include those practices that link public interpretative structures to aspects of everyday reality, producing recognizable instances of social problems. We refer to such practices as social problems work. … The approach combines ethnomethodologial impulses with concerns for collective representations…” (Holstein/ Miller 1993: 152). Durkheims (1967 [1898]) Gegenüberstellung von individuellen Repräsentationen als Gegenstand der Psychologie und kollektiven Repräsentationen als Gegenstand der Soziologie schließt parallel die Pole Individuum vs. Gesellschaft und Instabilität vs. Stabilität ein. Diese dreifache Polarität konkretisiert
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sich in seiner Untersuchung zum Selbstmord (Durkheim 1983 [1897]) in der These der Anomie als Verlust der Stabilität, die eine kollektive Repräsentation dem Individuum bieten kann. Durkheims Idealbild einer kollektiven Vorstellung war der katholische Glaube vor der Reformation (Moscovici 1984: 950). Eine solche kollektive Repräsentation wird von allen Mitgliedern einer Gesellschaft geteilt und ist stark von Stabilität und Statik geprägt: „Sie ist insofern kollektiv, als sie in der Gemeinschaft begründet ist, in der sie in homogener Weise von allen Mitgliedern geteilt wird. Sie ist weiterhin gemeinschaftlich in dem Maße, in dem sie von mehreren Generationen von Individuen geteilt wurde und deshalb einen Zwang über sie ausübt, der in allen sozialen Situationen zutrifft“ (Moscovici 1988: 218). Die Anthropologin Mary Douglas (1987: 91) beschäftigt sich vor dem Hintergrund von Durkheim ausführlicher mit der Frage, Wie Institutionen denken und welcher Einfluss davon auf das Denken ihrer Mitglieder ausgeht: „Wenn die Institutionen für uns Klassifikationen vornehmen, scheinen wir einiges von der Unabhängigkeit zu verlieren, die wir anders durchaus gehabt haben könnten“. Durkheims Konzept der kollektiven Repräsentationen wurde in den 1950er Jahren von dem französischen Sozialpsychologen Serge Moscovici aufgegriffen und im Konzept der „sozialen Repräsentationen“ (vgl. Moscovici 2008 [1961] und Flick 1995) weiter ausdifferenziert. Im Vergleich zu kollektiven sind soziale Repräsentationen stärker sozial differenziert – d. h., es existieren verschiedene Ausprägungen, Formen und Typen von sozialen Repräsentationen. So bestehen etwa – um an Durkheims Idealvorstellung anzusetzen – mittlerweile verschiedene Religionen ‚konkurrierend’ nebeneinander, wodurch der stabilisierende Einfluss der einzelnen Religion auf die Gesellschaft als Ganze verloren geht und in Bezug auf das Individuum zumindest insoweit eingeschränkt wird, als es nunmehr mit der Frage konfrontiert ist, ob es – angesichts der Alternativen – überhaupt noch und was es glauben will. Wichtiger ist jedoch noch die Annahme der Dynamik sozialer Repräsentationen. Im Gegensatz zu klassischen Religionen werden sie aus verschiedensten Quellen gespeist, aktuell v. a., aber nicht nur aus den verschiedenen Wissenschaften. Typisch ist für soziale Repräsentationen weiterhin die Transformation der Wissensbestände, die aus solchen Quellen bezogen werden. Die Art der Transformation fällt sowohl hinsichtlich der Inhalte, als auch der Form des Wissens in unterschiedlichen sozialen Gruppen und Kontexten verschieden aus. Diesen Gedanken greift etwa Sperber (1985: 75) mit der Frage nach der Epidemiologie sozialer Repräsentationen auf: „Entsprechend ist eine Epidemiologie
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der Repräsentationen zuerst und vor allem eine Analyse ihrer Transformationen; sie betrachtet die Reproduktion von Repräsentationen als einen Grenzfall der Transformation“. Kollektiven Repräsentationen wird – für die Gesellschaft wie für das Individuum – eine stabilisierende und homogenisierende Wirkung zugeschrieben. Soziale Repräsentationen wirken im Gegensatz dazu eher differenzierend und dynamisierend. So unterscheidet Moscovici (1988: 221) hegemoniale, emanzipierte und polemische Repräsentationen als Subtypen sozialer Repräsentationen. Hegemoniale Repräsentationen werden von allen Mitgliedern einer strukturierten sozialen Gruppe geteilt, ohne von ihnen hervorgebracht worden zu sein, womit sie Durkheims Modell am ähnlichsten sind. Beispiel wäre eine in der Gesellschaft vorherrschende Vorstellung davon, was Obdachlosigkeit ist. Emanzipierte Repräsentationen entstehen im Austausch und in der Teilung von bestimmten Interpretationsweisen. Sie verlieren dabei jedoch ihre enge Bindung an eine spezifische Klasse von Experten und Expertinnen und werden zu einem alltäglichen Wissensbestand. Zum Beispiel fließen in das alltägliche Wissen über chronische Krankheiten medizinisches Spezialwissen und praktische Erfahrungen von betroffenen Laien und Ansichten der Allgemeinheit etc. ein. In Bezug auf Obdachlosigkeit wären dies differenziertere Vorstellungen von Straßenleben und Wohnungslosigkeit, die im Umgang mit dem Problem bei verschiedenen Berufsgruppen aus deren praktischen Erfahrungen resultieren. Der letzte Typ – polemische Repräsentationen – wird im Zusammenhang mit sozialen und politischen Konflikten bei den beteiligten Parteien relevant. Beispiel hier wären die regelmäßig in der Presse zu verzeichnenden Skandalisierungen des Problems der Jugendobdachlosigkeit mit dramatischen, aber empirisch nicht unterfütterten Fallzahlen, die auch dem Ziel dienen, finanzielle und mediale Unterstützung für bestimmte Initiativen und Organisationen zu erreichen. Entsprechend dieser verschiedenen Formen verlagert sich die Funktion sozialer Repräsentationen im Vergleich zu kollektiven Repräsentationen: „Kurz, die hauptsächlichen Funktionen von sozialen Repräsentationen sind Kommunikation und Handlung; Gruppenzwang und Gruppengeschlossenheit sind sekundäre Funktionen. Menschen schaffen Repräsentationen nicht so sehr in einem logischen oder berechnenden Prozess als in einem Kommunikationsprozess mit und durch Einwirkung auf andere oder die Welt. Sie setzen sogar jede Handlung in einen semiotischen oder ‚kommunikativen’ Akt um, indem sie Bedeutungen und Symbole übermitteln“ (Moscovici 1984: 951). Dabei wird schon deutlich, dass soziale Repräsentationen nicht einfach vorgegeben sind, wie Durkheim für kollektive Repräsentationen annimmt. Viel-
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mehr werden sie in einem Transformationsprozess etwa auf der Basis wissenschaftlichen Wissens von Individuen in sozialen Kontexten über die Prozesse der Interpretation und Sinnzuschreibung hervorgebracht. Darüber entwickeln sich in unserem Beispiel etwa die Vorstellungen von Obdachlosigkeit über das in der Ausbildung erworbene wissenschaftliche Wissen in der Auseinandersetzung mit der eigenen beruflichen Praxis zu spezifischen – berufs- und institutionenbezogenen – sozialen Repräsentationen weiter, die das Umgehen mit konkreten Fällen und Situationen beeinflussen. Ergänzt man die Perspektive des Doing social Problems um die der Sozialen Repräsentationen, löst man sie von der Idee einer kollektiven Vorstellung davon, was etwa „Obdachlosigkeit“ oder was „chronische Krankheit“ ist. Stattdessen wird sie dafür geöffnet, dass es jeweils unterschiedliche Vorstellungen dieser Phänomene gibt, die von sozialen Bedingungen – z. B. dem jeweiligen beruflichen oder institutionellen Hintergrund ihrer ‚Träger’ – beeinflusst sind, die wiederum beeinflussen, was als soziales Problem wahrgenommen wird und vor allem wie. An dieser Stelle wird das Konzept des institutionellen Denkens von Douglas wieder relevant, wenn auch nicht so schematisch, wie Douglas das unter Rückgriff auf Durkheim verstanden hat. Die Agenda der Forschung zum Doing social Problems, die Holstein/ Miller (1993: 151) formulieren, bekommt dann eine neue Aktualität: „The task of social problems theorists ... is to reconstruct members’ ways ... of constituting social problems as moral objects ... by focusing on the ‘condition-categories’ that are applied and used in practical circumstances to produce meaningful descriptions and evaluations of social reality“. Diese Agenda lässt sich in Bezug auf das in diesem Beitrag zentrale soziale Problem – chronische Krankheit im Kontext Jugendobdachlosigkeit – in zwei Richtungen realisieren: Einerseits kann man konkrete Interaktionsprozesse analysieren, die auftreten, wenn ein (obdachloser) Jugendlicher mit einem konkreten (gesundheitlichen) Problem um Hilfe nachsucht. Dann wäre bspw. die Interaktionsanalyse eines Gespräches zwischen Arzt und Jugendlichem der Ansatzpunkt – ähnlich wie in den Beispielen, die sich bei Holstein/Miller (1993: 155159) finden. Andererseits kann man aber auch die andere Seite der potentiellen Beziehung betrachten, um herauszufinden, woran es ggf. liegt, wenn diese nicht zustande kommt. Dann wird aus der einen Richtung interessant, welche Hilfesucherfahrungen die Jugendlichen in solchen Situationen gemacht haben bzw. auf Nachfrage anführen auch als Begründung dafür, warum sie bei Problem nicht (mehr bzw. sofort) um Hilfe nachsuchen. Aus der anderen Richtung wird dann interessant, welche Einschätzungen Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen po-
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tentiell oder tatsächlich addressierbarer Institutionen zu Problemlage und Hilfesuchverhalten jugendlicher Obdachloser mit chronischen Erkrankungen haben bzw. berichten und welche Vorstellungen dabei deutlich werden. Schließlich wird in dem Zusammenhang interessant, welche Barrieren aus beiden Perspektiven wahrgenommen und berichtet werden und wie sie sich ggf. unterscheiden und auch verändern: „Auf dieser Ebene geht es im Wesentlichen um den Einbezug von Mikro-Interaktionskontexten, die für die Ausbildung von Orientierungen, Motivationen und Interpretationsschemata von Akteuren relevant werden. Im Prozess der institutionell eingebetteten Problembearbeitung bewerkstelligen und reproduzieren die Akteure Diskurse über soziale Probleme in einem Prozess, den man ... als „doing social problems“ ... analysieren kann. Die Institutionen der Problembearbeitung reproduzieren über ihre alltägliche Anwendung in Maßnahmen und Interaktionsprozessen jeweils bestimmte Problemdiskurse, die allerdings im Laufe dieses „doing social problems“ jeweils immer eine spezifische neue Färbung erhalten und so einen schleichenden Wandel von Deutungsmuster bewerkstelligen“ (Groenemeyer 2007: 16 f.). Entsprechend soll im Folgenden empirisch beleuchtet werden, wie sich das Doing social Problems im Kontext chronischer Krankheit bei jungendlichen Obdachlosen darstellt, welche Erfahrungsweisen und Vorstellungen dabei aufeinander treffen bzw. einander gegenüber stehen.
3. Methodik der Studie Die hier zugrunde gelegte qualitative Untersuchung wurde in der Zeit von Juni 2006 bis Mai 2007 von der Deutschen Forschungsgemeinschaft gefördert (FL245-10/2) und in einer deutschen Großstadt (Berlin) durchgeführt. 1 Studienteilnehmer waren zum einen obdachlose Jugendliche und junge Erwachsene, zum anderen Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen gesundheitlicher und sozialer Einrichtungen, die mit den Betroffenen regelmäßig zu tun haben. Sie sind insofern als die Experten und Expertinnen für deren gesundheitlichen und sozialen Belange anzusehen.
1
Sie erfolgte im Anschluss an ein erstes Projekt zu Gesundheitsvorstelllungen und -verhalten obdachloser Jugendlicher (FL245-10/1), das von 2004 – 2006 ebenfalls von der DFG gefördert wurde. Darin wurden parallel zu teilnehmenden Beobachtungen Interviews mit 24 Jugendlichen zu verschiedenen gesundheitsrelevanten Themen durchgeführt (vgl. Flick/Röhnsch 2008 für einen Überblick über beide Studien und ihre Ergebnisse).
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Chronische Krankheit jugendlicher Obdachloser
3.1 Die Befragung von betroffenen Jugendlichen Auf der Ebene der Betroffenen wurden in die Studie 12 obdachlose Jugendliche – je 6 junge Frauen und Männer – im Alter zwischen 14 und 25 Jahren einbezogen, die sich regelmäßig in einer einschlägigen (Bahnhofs-) Szene aufhielten (Tabelle 1). Tabelle 1: Chronisch kranke obdachlose Jugendliche: Sample nach Alter und Geschlecht Alter (in Jahren)
Geschlecht männlich
weiblich
gesamt
14 – 17 18 – 25
1 5
3 3
4 8
N
21,5
16,8
19,2
6
6
12
Das Krankheitsspektrum unserer Befragten ist weit gefächert und reicht von eher leichten Beeinträchtigungen wie Allergien über Asthma bis hin zu schweren Erkrankungen wie Hepatitis C oder Adipositas. Der Zugang zu obdachlosen Jugendlichen erfolgte durch Beteiligung an aufsuchender Sozialarbeit ‚auf der Straße‘ und einer zielgruppenspezifischen Anlaufstelle. Im Verlauf dieses mehrwöchigen Feldaufenthalts gelang es, (unausgesprochene) Vorbehalte der Betroffenen gegenüber der geplanten Befragung weitgehend abzubauen. Speziell chronisch kranke Straßenjugendliche wurden nach Hinweisen der Sozialpädagogen und Sozialpädagoginnen angesprochen, die im Rahmen der aufsuchenden Arbeit vor Ort sind und wissen, welche der in der Szene aktuell angetroffenen Jugendlichen chronisch krank sind. Zudem wurden die Jugendlichen direkt gefragt, ob sie unter chronischen Krankheiten leiden. Als Erklärung wurde angefügt, dass damit Erkrankungen gemeint sind, die regelmäßig auftreten, lang anhaltend sind oder immer wiederkehren und die oft auch eine dauernde ärztliche Behandlung erforderlich machen. Zur besseren Illustration wurden Beispiele für solche Krankheiten benannt. Die Befragung der Jugendlichen fand in der bereits erwähnten zielgruppenspezifischen Anlaufstelle statt, in der der Interviewerin ein von äußeren Ablenkungen ungestörter Raum zur Verfügung gestellt wurde. Die Jugendlichen wur-
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den mittels episodischer Interviews (Flick 2008: Kap. 3) befragt. Darin wurden konkrete, zielgerichtete Fragen (etwa dazu, auf welche Ursachen die Betroffenen ihre chronische Krankheit zurückführen) mit Erzählaufforderungen, die sich auf bestimmte Situationen und Erfahrungen beziehen, kombiniert. Der Leitfaden umfasste Fragen zum subjektiven Krankheitsverständnis, zu den Ursachenvorstellungen und Verlaufs- sowie Folgenerwartungen in Bezug auf die Krankheit; zum Alltag mit chronischer Krankheit ‚auf der Straße’, zu Therapiemaßnahmen, zur Bewältigung der Erkrankung, zum Gesundheitsverständnis und zum Einstieg in das Straßenleben. Alle Aussagen zu einem Bereich (z. B. Umgang mit krankheitsbezogenen Belastungen) wurden zunächst fallbezogen thematisch kodiert (Flick 2007). Fallübergreifend wurden Vergleichsdimensionen bestimmt, um Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den einzelnen Interviews aufzuzeigen (vgl. Kelle/Kluge 1999). Entlang diesen Dimensionen und ihren Merkmalsausprägungen wurden die Fälle gruppiert und hinsichtlich bestimmter Merkmalskombinationen untersucht. Durch Fallkontrastierungen wurden zunächst die Fälle innerhalb einer Gruppierung auf Ähnlichkeiten verglichen. Fallvergleiche zwischen den Gruppen sollten bestehende Unterschiede zwischen diesen verdeutlichen. So entstehende Typen von Deutungs- und Handlungsmustern wurden in ihren Sinnzusammenhängen analysiert und interpretiert. Dazu dienten abermals Fallvergleiche und -kontrastierungen innerhalb und zwischen den Gruppen. 3.2 Die Befragung von Experten und Expertinnen Was die Gewinnung von Experten und Expertinnen als Interviewpartner anbelangte, sollten Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen unterschiedlicher gesundheitlicher und sozialer Einrichtungen angesprochen werden, um somit das Spektrum an Hilfsangeboten in seiner Bandbreite und Spezifität zu repräsentieren. In die Studie wurden demnach zwölf Experten – 5 Ärzte bzw. Ärztinnen und 7 Sozialarbeiter bzw. Sozialarbeiterinnen – einbezogen, die die Jugendlichen entweder in ihren Szenen vor Ort und mithin ‚an der Basis’ versorgen oder die sich auf die medizinische und soziale Betreuung spezieller Gruppen von obdachlosen Jugendlichen spezialisiert haben (Tabelle 2).
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Tabelle 2: Experten: Berufsgruppen und Tätigkeitsfeld Experten / Expertinnen Tätigkeitsfeld
Ärzte
Sozialarbeiter
gesamt
Basisversorgung (Straßensozialarbeit und Obdachlosenarztpraxen; niedergelassene Ärzte)
3
3
6
Medizinische und soziale Betreuung spezieller Gruppen (z.B. Prostituierte, Stricher, Hepatitis C-Kranke; intravenöse Drogenkonsumenten)
2
4
6
5
7
12
N
Mit den Mitarbeitern gesundheitlicher und sozialer Einrichtungen wurden leitfadengestützte Experteninterviews durchgeführt. Der Leitfaden beinhaltete Fragen dazu, wie die Professionellen Bewältigungsanforderungen und -vermögen der Betroffenen einschätzen, welche Verläufe chronische Krankheiten unter den Bedingungen des Straßenlebens haben können, wodurch diese determiniert werden und ob aus der Sicht der Experten in der Versorgung von chronisch kranken Straßenjugendlichen ein Defizit besteht. Gefragt wurde auch danach, welche Möglichkeiten die Betroffenen haben, bedarfsgerechte Hilfen in Anspruch zu nehmen, wie diese Angebote angenommen werden und durch welche Hindernisse die Jugendlichen nach Expertenmeinung von der Inanspruchnahme abgehalten werden. Die Experteninterviews wurden nach der von Meuser/Nagel (2002) für diese Interviewform eigens entworfene und ausführlich beschriebene Methode ausgewertet.
4. Ergebnisse Ausgehend von den subjektiven Sichten der Betroffenen, wird zunächst dargelegt, wie chronisch kranke obdachlose Jugendliche mit ihrer Beeinträchtigung umgehen. Anschließend wird der Frage nachgegangen, wie sich das Bewältigungsverhalten der Jugendlichen nach Erfahrung der interviewten Experten darstellt. Von speziellem Interesse ist, durch welche lebensweltlichen Faktoren der Umgang mit der chronischen Erkrankung geprägt wird und welche Barrieren die
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Jugendlichen daran hindern, professionelle Hilfen zu suchen. Abschließend wird analysiert, inwieweit sich die Sichtweisen von Jugendlichen und Experten zum Umgang mit chronischer Krankheit ‚auf der Straße’ voneinander unterscheiden. 4.1 Umgang mit der Krankheit auf der Straße – Sichtweisen von betroffenen Jugendlichen In den Antworten und Erzählungen lassen sich drei Muster des Bewältigungsverhaltens der von uns befragten chronisch kranken Straßenjugendlichen finden, die sich im Hinblick auf ihren Problembezug voneinander unterscheiden. Ignorieren Für dieses Muster, das auf sieben Befragte zutrifft, ist es typisch, dass die Jugendlichen den Schweregrad ihrer Erkrankung sowie deren möglichen Folgen nicht wahrhaben wollen. Sie versuchen, so zu leben, als sei ‚nichts geschehen’ und betrachten die Krankheit als eine lästige Gewohnheitssache. Die Jugendlichen gehen davon aus, dass negative Folgen ihrer Krankheit allenfalls in ferner Zukunft eintreten. Somit scheinen noch genügend Möglichkeiten vorhanden zu sein, um ihnen vorzubeugen. Das Erfordernis, die Erkrankung kontinuierlich durch aktives Handeln zu beeinflussen, wird somit kaum gesehen. Ohnehin erweist sich das unter den Bedingungen des Straßenlebens als schwierig, da es an Möglichkeiten mangelt, um z. B. die Ernährung ‚krankengerecht’ zu gestalten oder um sich zu schonen, wenn akute Symptome auftreten. Um alltägliche krankheitsbedingte Belastungen zu lindern oder ihnen vorzubeugen und um die Erkrankung insgesamt zu akzeptieren, ist für diese Jugendlichen der Konsum von Alkohol und Drogen sehr funktional. „Wenn ich auf Drogen bin, kann ich meinen Körper besser akzeptieren. Wenn mir dann jemand sagt: ‚Zieh dich nackt aus’, kann ich dat machen, ohne dass ich 2 mich jetzt schäme.“ (Pia , 17 Jahre, Adipositas; Asthma; Heuschnupfen)
Zwar verneinen es diese Jugendlichen, von Szenenmitgliedern gemieden oder herabgesetzt zu werden, weil sie krank sind. Allerdings wenden sich die Befragten im Fall von krankheitsbedingten Belastungen kaum an Bekannte aus der Szene, da diese aus Sicht der Betroffenen nur ein geringes Verständnis für das Leben mit einer chronischen Krankheit aufbringen und zu stark mit eigenen Problemen beschäftigt wirken, um helfen zu können.
2
Alle Namen der Jugendlichen sind anonymisiert, Angaben zu deren Alter und Krankheiten entsprechen dagegen den Selbstaussagen der Interviewpartner und -partnerinnen.
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Ärzten bzw. Ärztinnen gegenüber sind die Jugendlichen in dieser Gruppe sehr misstrauisch eingestellt. Vor allem beklagen die Befragten, dass Ärzte und Ärztinnen von ihrer Lebenswirklichkeit wenig Ahnung haben, sie nicht ernst nehmen und in Behandlungspläne nicht einbeziehen. Zudem stößt die meist schulmedizinische Ausrichtung von Ärzten auf Ablehnung. Auch fällt es diesen Befragten schwer, für die Praxisgebühr sowie für Zuzahlungen zu Medikamenten aufzukommen, so dass auf den Arztbesuch in der Regel verzichtet wird. Stattdessen weichen die Jugendlichen in dieser Gruppe auf riskante Formen der Selbstbehandlung aus, wobei sie davon ausgehen, ohnehin besser als der Arzt oder die Ärztin zu wissen, was dem eigenen Wohlbefinden gut tut und was nicht. „Und wenn ick dat [Asthmaspray] aber nehme, dann hab’ ick nächsten Morgen auf jeden Fall krieg’ ick dann wieder 'n bisschen schwerer Luft so. Und deswegen nehm’ ick dat jetzt eigentlich gar nicht mehr so, sondern hab’ immer nur noch mein Notfallspray.“ (Bastian, 14 Jahre, Asthma)
Verbittern Dieses Muster, das auf vier Jugendliche zutrifft, ist dadurch gekennzeichnet, dass die Erkrankung in den Augen der Betroffenen gravierende Auswirkungen zum einen für den weiteren Lebensweg und zum anderen für den unmittelbaren Alltag hat. So fühlen sich diese Befragten von Szenenangehörigen subtil ausgegrenzt oder offen massiv herabgesetzt. Während die Jugendlichen befürchten, aufgrund ihrer krankheitsbedingten körperlichen Schwäche von den Anderen ausgenutzt zu werden, müssen sie zudem erfahren, dass ihnen vorgebliche Freunde innerhalb der Szene die Unterstützung sogar in Alltagsangelegenheiten verweigern. Damit ist eine erhöhte Abhängigkeit von potentiell ‚gutwilligen’ Helfern und Helferinnen verbunden, was einer Entwürdigung der eigenen Person gleichkommt. „Du musstest ja jeden am Arsch lecken, dass du mal irgendwo pennen konntest (…) die meisten kannten dich dann gar nicht mehr, also hast du auch keine Möglichkeiten gehabt, mal irgendwo mit hinzugehen bei anderen Jungen in ’ne Wohnung.“ (Daniel, 24 Jahre, Hepatitis C; Amputation des rechten und drohende Amputation des linken Unterschenkels)
Infolge solcher Erfahrungen werden diese Befragten zu ‚Einzelkämpfern’, die niemandem mehr vertrauen können und wollen. Sie betrachten sich als zu abgeklärt, um von Anderen Hilfe zu erwarten. Gegenseitige Unterstützung und An-
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Uwe Flick – Gundula Röhnsch
teilnahme an der Situation des Gegenübers erscheint als etwas, das fern jeglicher Lebenswirklichkeit ist. Im Rahmen auch einer Anpassung an die ihnen von Außen entgegengebrachte Ablehnung fühlen sich diese Befragten letztlich an ihrer Krankheit schuldig oder erleben diese zumindest als persönlichen Makel. In dem Kontext erscheint auch der eigene Körper als abstoßend und verachtenswert. Gefühle von Hilflosigkeit, Verzweiflung und Selbsthass sind die Folge, denen diese Jugendlichen durch den Konsum von Alkohol und Drogen sowie durch ein sehr selbstdestruktives Verhalten beizukommen versuchen. Letzteres umfasst Suizidversuche und andere Formen der Selbstverletzung ebenso wie die kompensatorische Zufuhr von Nahrung. „(…) ich hatte ’n Freund, und der hat rumerzählt: ‚Also, die ist ja so fett und hässlich, und die muss ich mir erst schön saufen.’ Hab’ ich mir ’ne Flasche Wodka geholt und ’n Eistee, und dann ging’s los. Danach hab’ ich mir versucht, die Pulsadern aufzuschneiden.“ (Denise, 16 Jahre, extreme Adipositas; Tierhaarallergie; (unabgeklärte) Milchallergie)
Unter den Bedingungen des Straßenlebens, das davon geprägt ist, nach Übernachtungsmöglichkeiten zu suchen und irgendwie zu Geld zu kommen, sehen die Jugendlichen in dieser Gruppe kaum Möglichkeiten, sich um die eigene Gesundheit zu kümmern und dazu zum Arzt zu gehen. Wenn um ärztliche Unterstützung nachgesucht wird, dann erst, nachdem sich die Krankheit so zugespitzt hat, dass sie sich nicht länger ‚aushalten’ lässt und eine (notfall-)medizinische Behandlung unabdingbar macht. Sich der Krankheit stellen Dieses Muster, das sich bei einem Jugendlichen findet, ist dadurch charakterisiert, dass sich der Befragte bei Freunden und, je nach Gelegenheit, auch im Fernsehen und Internet über seine Krankheit informiert. Diese erscheint somit als weniger bedrohlich und als potentiell beeinflussbar. Zu einer solchen Einschätzung trägt zudem bei, dass sich der Befragte mit Gleichaltrigen, die von derselben Erkrankung betroffen sind, darüber austauscht, wie dieser am Besten beizukommen ist. Unterstützung erfährt dieser Jugendliche aber auch von Szenenangehörigen, die verständnisvoll auf die Krankheit reagieren. Der Befragte empfindet es insbesondere als entlastend, dass er sich mit seiner Beeinträchtigung nicht vor den Anderen rechtfertigen muss. Zwar dient Alkohol diesem Jugendlichen als alltägliches Mittel, um gemeinsam mit Szenenangehörigen Spaß und Abwechslung zu erleben, steht aber
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in keinem Zusammenhang zur Krankheit und wird nicht ‚benötigt’, um diese aushalten zu können. Zu einem verantwortungsbewussten Krankheitsverhalten gehört für diesen Jugendlichen auch, im Fall einer Zuspitzung einzelner Symptome zum Arzt zu gehen und dessen therapeutischen Empfehlungen einzuhalten. Diese erscheinen nicht als ‚Anordnungen’ des Arztes, die fraglos hinzunehmen sind, sondern werden auch in ihrem Sinn nachvollzogen. „... morgens und abends die eine Salbe und am nächsten Tag die Cortisonsalbe. Weil, die eine Salbe ist, damit 's nicht juckt, und die andere Salbe ist dann das Cortison, damit sich die Haut wieder aufbaut. Und das soll man ja Tag für Tag ja wechseln.“ (Erik, 23 Jahre, Neurodermitis)
Fazit zum Umgang mit der Krankheit aus der Sicht von Betroffenen Werden die Bewältigungsmuster unserer Untersuchungsteilnehmer und -teilnehmerinnen einander gegenübergestellt, zeigt sich ein Kontinuum, inwieweit die Jugendlichen meinen, das eigene (Bewältigungs-) Verhalten aktiv steuern und somit den weiteren Krankheitsverlauf beeinflussen zu können (Tabelle 3). Tabelle 3: Bewältigungsmuster der Jugendlichen Jugendliche Muster Ignorieren Verbittern Sich der Krankheit stellen N
männlich
weiblich
gesamt
3 2 1
4 2 -
7 4 1
6
6
12
Attributionsdimension Opfer der Straße selbst Schuld
Am einen Ende des Kontinuums finden sich demnach die Jugendlichen, die ihre Erkrankung ignorieren und sich als ein ‚Opfer der Straße’ ansehen, das gar keine andere Möglichkeit hat, als die Krankheit über sich ergehen zu lassen. Am anderen Ende des Kontinuums befindet sich der Jugendliche, der sich seiner Krankheit stellt, was mit der Übernahme eines hohen Maßes an Eigenverantwortung für den Fortgang der Erkrankung verbunden ist. Verläuft diese ungünstig, bedeutet das in der Sicht des Befragten, selbst ‚Schuld’ daran zu sein und im Umgang mit der Erkrankung ‚versagt’ zu haben.
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Hindernisse, die einem Arztbesuch entgegenstehen – Sichtweisen von Betroffenen Die Ansichten der Jugendlichen dazu, aus welchen Gründen sie auf den Arztbesuch verzichten, lassen sich zu drei Kategorien zusammenfassen, die sich keinem der gerade genannten Bewältigungsmuster eindeutig zuordnen lassen und insofern als übergreifend anzusehen sind. Hinderlich dafür, einen Arzt oder eine Ärztin aufzusuchen, sind demnach: x lebensweltliche Faktoren – die Befragten haben auf der Straße weder Zeit noch Geld, um sich um gesundheitsbezogene Belange zu kümmern und dazu den Arzt aufzusuchen (6 Jugendliche), x Abneigung und Misstrauen dem (schulmedizinisch orientierten) Arzt oder der Ärztin gegenüber, der sich aus Sicht der Befragten nicht auf ihre Lebenswirklichkeit einlassen kann und der Behandlungsempfehlungen ausspricht, die sich unter den Bedingungen des Straßenlebens kaum umsetzen lassen (7 Jugendliche), x fatalistische Einstellung zur Erkrankung, die als schicksalhaft hingenommen wird, was es erübrigt, auf den weiteren Verlauf der Krankheit Einfluss nehmen zu wollen und dazu auch den Arzt aufzusuchen (8 Jugendliche). Die bislang beschriebenen Umgangsweisen und Einschätzungen der betroffenen Jugendlichen zu ihrer Krankheit im Kontext Straßenleben und den Barrieren gegenüber einer Inanspruchnahme professioneller Unterstützung bilden die eine Seite der (zustande kommenden oder verhinderten) Interaktion im Kontext des Doing social Problems. Die andere Seite lässt sich aus den im Folgenden behandelten Vorstellungen der Experten und Expertinnen rekonstruieren. 4.2 Umgang mit der Krankheit auf der Straße – Sichtweisen von Experten und Expertinnen Die von uns befragten Ärzte bzw. Ärztinnen und Sozialarbeiter bzw. Sozialarbeiterinnen gehen überwiegend davon aus, dass sich chronisch kranke Straßenjugendliche angesichts ihrer Beeinträchtigung sehr passiv verhalten. Sie beschreiben folgende drei Muster des Umgangs mit Krankheiten. Ignorieren Mehrheitlich verweisen diese Experten darauf, dass die Jugendlichen ihre chronische Krankheit nicht ernst nehmen. Das beruht einerseits auf „Wissensdefizi-
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ten“ und Wahrnehmungsverzerrungen. So können Symptome keinem Krankheitsbild zugeordnet werden. Zudem neigen Betroffene zu bestimmten Fehleinschätzungen, denen geringe Kenntnisse ebenso wie szeneninterne Mythen zugrunde liegen. So werden Hepatitis C-Erkrankungen unter Bezugnahme auf die eher seltenen HIV-Infektionen in ihrem Auftretens- und Ansteckungsrisiko sowie in ihrem Schweregrad, ihrem Verlauf und ihren Folgen oft (deutlich) unterschätzt. Andererseits wollen die Betroffenen ihre Erkrankung auch aus Angst vor den Konsequenzen gar nicht wahrhaben. Sie spielen daher Beschwerden über lange Zeit hinweg herunter. An ärztlichen Gesprächen sind die Jugendlichen nicht interessiert, die eigene Unwissenheit dient vielmehr der subjektiven Entlastung. Auch, wenn die Krankheit bereits bekannt ist, versuchen die Betroffenen noch, Informationen über diese zu unterdrücken und eigene Entscheidungen über Behandlungsform und Therapiebeginn hinauszuzögern. Es ist den Jugendlichen egal, welche Folgen dieses Verhalten haben kann. „Ich sehe, dass Menschen vor Diagnosen davonlaufen. Dass auch Klientinnen glasklar sagen ‚Ich habe Angst.’, zum Beispiel schon bei bekannter HIV-Erkrankung. ‚Ich will dazu nichts wissen. Ich will mich nicht behandeln lassen. Ich 3 will gar nicht sehen, wie es enden kann.’“ (Frau Altmann)
Nach Meinung dieser Experten wird die Krankheit für die Jugendlichen auch zunehmend bedeutungslos angesichts der Fülle von lebensweltlichen Belastungen und Anforderungen. Chronisch krank zu sein, reiht sich ein in die alltäglichen Entwürdigungen und markiert nur einen weiteren Punkt innerhalb der eigenen zunehmend sinnlos und trostlos werdenden Lebensperspektive. Um die eigene Krankheit zu ‚vergessen‘ oder sie wenigstens weiterhin als bedeutungslos wahrnehmen zu können und ein Gefühl von Betroffenheit nicht aufkommen zu lassen, erweist sich für die Jugendlichen der Konsum von Alkohol und Drogen als funktional. Ohne die Substanzen würden die Jugendlichen aus Sicht dieser Experten und Expertinnen unter der Doppelbelastung – derer sich die Betroffenen insgeheim bewusst sind – durch Krankheit und verfestigte Lebenssituation förmlich zusammenbrechen. Alkohol und Drogen sind insofern der Kitt, der die Jugendlichen psychisch am Leben hält. „Die Wirkung [von Alkohol und Drogen] ist natürlich auch genau das, was die Jugendlichen sich wünschen (...) die Realität nicht zu spüren, die sie ja kaum aus3
Alle Namen sind Pseudonyme, die den Beruf des Interviewpartners verdeutlichen sollen: Mit Namen, die mit „A“ beginnen, sind Ärzte bzw. Ärztinnen bezeichnet, ein „S“ am Anfang verweist auf einen Sozialarbeiter bzw. Sozialarbeiterinnen.
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halten können, weil sie genau wissen, wie die ist ... da würde dann dieses ganze Konstrukt [des Lebens auf der Straße], was da eigentlich schon total am Bröckeln ist, auf die Leute einbrechen.“ (Herr Sager)
Krankheit als Wendepunkt Allerdings verweisen zwei Sozialarbeiter darauf, dass die Krankheit für einige wenige Betroffene auch zu einer Zäsur wird, die sie dazu bringt, die bisherige Lebensweise kritisch zu überdenken. Insbesondere Krankenhausaufenthalte können zu einer Sensibilisierung für die eigenen gesundheitlichen Belange führen und das Bestreben erwecken, bestimmte (Verhaltens-)Risiken zu meiden, auch mit Hilfe von Sozialarbeitern und Sozialarbeiterinnen. Eine Änderung der eigenen Lebensweise läuft somit auf einen partiellen Ausstieg aus dem Straßenleben hinaus. Wenn die Erkrankung dafür jedoch den einzigen Anlass bildet, halten die Experten und Expertinnen eine nachhaltige Änderung der eigenen Lebensweise für wenig wahrscheinlich. Um dauerhaft zu sein, bedarf die Abkehr von den bisherigen Lebensverhältnissen nicht nur eines äußeren Drucks, sondern auch innerer Überzeugung. Schließlich sind mit dem Abschied vom Straßenleben auch Verlusterlebnisse verbunden, die nicht kompensiert werden können, wenn es an neuen, subjektiv sinnvollen (Lebens-)Inhalten mangelt. „Ich glaube, dass die Erkrankung selber wirklich nicht ausreicht, um zu sagen ‚Ich verändere jetzt alles‘ ... wenn von Innen nicht der Wunsch kommt, auch wirklich was zu verändern, dann funktioniert ’s auch meistens nicht. ... dieses Sicherheitsdenken, das haben die ja so gar nicht, und für was tauschen sie’s dann auch ein.“ (Herr Seitz)
Inanspruchnahme von Unterstützung und (informeller) Hilfe Einige Ärzte und Sozialarbeiter verdeutlichen, dass die Jugendlichen angesichts ihrer Erkrankung um soziale Unterstützung nachsuchen. Dazu wenden sie sich vor allem an Szenenangehörige, die die Betroffenen zur Ärztin oder zum Arzt schicken, ihnen Ratschläge zum Umgang mit der Erkrankung erteilen oder praktische Hilfe leisten, z. B. durch das Anlegen von Verbänden. Die letztgenannten Formen der Unterstützung empfinden die befragten Experten und Expertinnen aber als ambivalent. So verweisen sie darauf, dass die Jugendlichen als medizinische Laien nicht die erforderlichen Kompetenzen haben, um (Selbst-)Behandlungen durchzuführen. Infolgedessen droht informelle Hilfe die gesundheitlichen Probleme zu vergrößern. Durch die erhaltene Unterstützung sind die Jugendlichen zudem von der Szene abhängig und an deren Erwartungen eines konformen, mithin riskanten Verhaltens gebunden. Überdies stehen ihnen in der
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Szene keine Ressourcen zur Verfügung, die geeignet wären, nachhaltig krankheitsbedingte und zugleich lebensweltliche Belastungen zu lindern. Die Betroffenen bleiben somit in ihrer Situation gefangen, Zugänge zu sozialen Bezügen jenseits der Straße sind versperrt. „Sich auseinander zu setzen heißt, man baut so Pseudonetze auf ... wenn sich so fünf Kaputte aneinander festhalten, dann müssen sie sich ganz doll festhalten und finden keinen Weg aus dieser Situation, jedenfalls alleine zu fünft nicht. Das ist das Problem, ne. Sie stagnieren beziehungsweise steigen noch weiter ab.“ (Frau Ahlberg)
Die Experten und Expertinnen in dieser Gruppe verdeutlichen auch, dass die Jugendlichen Ärzte und Ärztinnen im Vergleich zu Szenenangehörigen eher selten als Ansprechpartner im Fall von akuten Symptomen ansehen. Sofern sie überhaupt zum Arzt gehen, halten sie diesen in der Regel für den allein Verantwortlichen für ihre Gesundheit. Fazit zum Bewältigungsverhalten aus Sicht der Experten Zusammenfassend unter der Frage betrachtet, wie problembezogen sich das Bewältigungsverhalten der Jugendlichen darstellt, zeigen sich in den Deutungen der Experten Ähnlichkeiten zu den Sichtweisen der Betroffenen: Nach den Erfahrungen der befragten Ärzte bzw. Ärztinnen und Sozialarbeiter bzw. Sozialarbeiterinnen lässt sich das Verhalten der Jugendlichen auf einem Kontinuum ansiedeln, das von ‚selbst Schuld an der gesundheitlichen Situation’ und ‚Opfer der Straße’ reicht (Tabelle 4). Letzteres schlägt sich darin nieder, dass sich die Jugendlichen, deren Möglichkeiten zu einem ‚angemessenen’ Krankheitsverhalten unter den aktuellen Lebensbedingungen begrenzt sind, darauf verlassen, dass ihnen ihr soziales Umfeld angesichts von krankheitsbedingten Belastungen hilft. Teils suchen die Betroffenen auch aktiv um die Unterstützung von Szenenbekannten nach. Hingegen sind die Jugendlichen nach Meinung der Experten dann selber Schuld an ihrer gesundheitlichen Lage, wenn sie ihre Erkrankung ignorieren und nicht aktiv werden, um bestimmten Symptomen vorzubeugen oder deren Auswirkungen zu begrenzen. Die Krankheit wird aufgrund der generellen Lage der Jugendlichen auf der Straße auch nicht wirklich zum Wendepunkt im Leben.
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Tabelle 4: Umgang mit chronischer Erkrankung aus Sicht der Experten Berufsgruppe Ärzte
Sozialarbeiter
gesamt*
Attributionsdimension
Ignorieren
3
6
9
selbst Schuld
Krankheit als Wendepunkt
--
2
2
Inanspruchnahme von Unterstützung und (informeller) Hilfe
2
1
3
Bewältigungsform
N
Opfer der Straße 5
7
12
* Mehrfachnennungen berücksichtigt
4.3 Hindernisse für die Inanspruchnahme von formeller Unterstützung Die von uns befragten Experten benennen eine Vielzahl von Hemmnissen, welche die Jugendlichen an der Inanspruchnahme von Angeboten des medizinischen Regelsystems, aber auch von komplementären Projekten hindern. Wie im Weiteren dargestellt wird, sind diese Hindernisse teils externen, teils internen Ursprungs. Hindernisse im administrativ-strukturellen Bereich Von einem Sozialarbeiter abgesehen, verdeutlichen die Befragten, dass die Jugendlichen durch die Strukturen des medizinischen Regelsystems davon abgehalten werden, ärztliche Unterstützung zu suchen. So verfügen die Betroffenen oft nicht über die finanziellen Mittel für die Praxisgebühr oder für Zuzahlungen zu Medikamenten. Während die Jugendlichen ihre Chipkarte ‚auf der Straße’ oft von vornherein nicht bei sich haben, erweisen sich für sie dann, wenn ihnen diese entwendet wurde, die Modalitäten als zu kompliziert, um eine neue Versichertenkarte zu beantragen. Die mit dem Arztbesuch verbundenen finanziellen Aufwendungen ebenso wie die oft unklaren administrativen Zugangserfordernisse lassen die ohnehin geringe Bereitschaft der Jugendlichen, um ärztliche Unterstützung nachzusuchen, weiter sinken. Den Aufwand, der an den Arztbesuch geknüpft ist, scheuen die Jugendlichen nach Meinung dieser Experten auch, weil sie unmittelbar ‚nichts davon haben’. Für die Gesundheit sehen die Jugendlichen zudem nicht die eigene Person, sondern ‚die Gesellschaft‘ in der Verant-
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wortung. Diese ist Schuld, wenn ihre einzelnen Mitglieder aufgrund fehlender Möglichkeiten, zum Arzt zu gehen, erkranken. „… ihr Geld für die Kippen kriegen sie noch zusammen, aber den Zehner für den Arzt, den sie so weggeben müssen und scheinbar auch nichts dafür bekommen, weil, das ist ja in deren Augen ganz stark ’ne Dienstleistung, die muss der Staat jetzt bringen, weil ‚Ich bin hier Bürger‘, so kommt mir das immer ein bisschen vor.“ (Herr Seitz)
Gesundheitliche Angebote nehmen die Jugendlichen nach Expertenmeinung auch deshalb nicht an, weil diese zu wenig bedürfnisorientiert arbeiten. So schließen stationäre Aufenthalte in Krankenhäusern oder Therapieeinrichtungen die Mitnahme von Haustieren aus. Von ihren (einzigen) Bezugsobjekten wollen sich die Jugendlichen aber oft nicht trennen. Auch erscheint es ihnen als unverantwortlich, die Tiere für die Zeit des eigenen stationären Aufenthalts Anderen anzuvertrauen. Um den Jugendlichen aus dem Zwiespalt zwischen der Bindung ans Tier und der Notwendigkeit, sich in Behandlung zu begeben, herauszuhelfen, sehen die Experten und Expertinnen die Einrichtungen in der Pflicht, sich für Tiere zu öffnen, diese als mögliche Partner im Therapieprozess zu verstehen und weniger als potentielle Krankheitsquelle. Solche Ansinnen werden zugleich als illusorisch zurückgewiesen. „… wo es Therapieplätze gibt, wo man Tiere mitnehmen kann … wo man das auch noch mitnutzen könnte, gerade was Tiere und die Verbindung dazu anbelangt … vielleicht ’ne Utopie, weil ’ne stationäre Einrichtung und Tiere gehören nicht zusammen, das eine hat mit Gesundheit zu tun und Tiere immer mit Bazillen.“ (Herr Siebel)
Hindernisse in der Person des Betroffenen Alle von uns befragten Ärzte und Ärztinnen und die Mehrheit der Sozialarbeiter und Sozialarbeiterinnen beklagen, dass chronisch kranke Jugendliche eine Zielgruppe sind, die aufgrund einer geringen Vertrauensbereitschaft schlecht von gesundheitlichen und sozialen Hilfen erreicht wird. Sofern sie diese annehmen, gilt es als sehr mühsam, die Betroffenen dazu zu bewegen, Behandlungsempfehlungen umzusetzen und Regeln, die von therapeutischen Einrichtungen aufgestellt wurden, einzuhalten. Für die Experten und Expertinnen erklärt sich die mangelnde Behandlungsbereitschaft der Zielgruppe daraus, dass diese über gesundheitliche Belange wenig ‚aufgeklärt’ ist und ein nur geringes Gesundheitsbewusstsein hat.
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So können die Betroffenen Schmerzen oder andere körperliche Unpässlichkeiten oft nicht exakt benennen und sind sehr unsicher, auf welche Krankheit bestimmte Symptome hinweisen könnten. Zudem weichen die Ansichten der Jugendlichen dazu, unter welchen Bedingungen sie gesund oder krank sind, stark von den mittelschichtorientierten Gesundheits- und Krankheitsvorstellungen der Expertinnen und Experten ab. Nach außen hin verdeutlichen die Betroffenen mithin ein Gesundheitsverhalten, das als sehr hart erscheint und davon geprägt ist, Beeinträchtigungen möglichst lange auszuhalten. Da sie Symptome nicht ernst nehmen, fühlen sich die Jugendlichen auch dann noch wohl, wenn ihr gesundheitliches Erscheinungsbild in den Augen dieser Experten buchstäblich ‚erschreckend‘ ist. „… wann die das Gefühl haben, dass sie eigentlich krank sind. Und das is' irgendwie häufig zwanzig Meter hinter unserer professionellen, persönlichen Ziellinie ..) wenn ich so frage ‚Warum bist Du da nie hingegangen?’ ‚Wieso? Ich hab’ mich doch wohl gefühlt.’ Das war egal. Ob man nu dreißig Kilo wiegt oder fünfunddreißig Kilo.“ (Frau Solms)
Wiederum sind es vor allem konkrete Symptome, die den Jugendlichen überhaupt ein Bewusstsein vermitteln, nicht gesund zu sein. Vor allem Infektionen mit Hepatitis C- oder mit HI-Viren, die (zunächst) ohne fühlbare Beschwerden verlaufen, erlauben es den Betroffenen, sie auszublenden und die Auseinandersetzung mit ihnen zu verschieben. Während ein solches ‚Nicht wissen Wollen‘ in den Augen der Expertinnen und Experten oft sehr fatalistisch determiniert ist, betrachten es diese auch als problematisch, dass die Selbstaufgabe oft dazu führt, dass die Betroffenen nicht nur die eigene, sondern auch die Gesundheit des Umfeldes ‚auf ’s Spiel setzen’, indem sie dieses über die eigene Erkrankung im Unklaren lassen. Wenn die Jugendlichen angesichts ihrer Krankheit resignieren und die Ansicht vertreten, dass (auch) bezüglich der Gesundheit ‚alles keinen Sinn mehr‘ hat, lösen sie damit eher negative Reaktionen bei den Mitarbeitern sozialer und gesundheitlicher Einrichtungen aus. In Ausnahmefällen stellen diese die Betroffenen vor die Wahl, entweder die eigene Erkrankung als solche anzuerkennen oder mit dem Entzug von formellen Hilfen rechnen zu müssen. Im Rahmen eines ärztlichen ‚Wer nicht hören will, muss fühlen‘ erfahren die Jugendlichen mithin mögliche Konsequenzen ihrer Selbstaufgabe. „... das muss ein Mensch haben, Einsicht in eine Krankheit. Wenn er die nicht hat, arbeite ich mit dem nicht zusammen. Dann kann er auch ... auf der Straße sterben.“ (Frau Apelt)
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Auch der intensive Alkohol- und Drogenkonsum der Jugendlichen hält diese nach Meinung dieser Experten von der Inanspruchnahme professioneller Hilfe ab. Der Substanzgebrauch führt dazu, dass die Betroffenen Termine mit Ärzten oder Sozialarbeitern nicht einhalten, Medikamente verlieren oder deren regelmäßige Einnahme vergessen. Eine solche geringe Compliance wird durch die Einbindung in die Szene, die den Einzelnen oftmals dazu ermutigt, Probleme durch Alkohol oder Drogen zu ‚lösen’, verstärkt. Auf den Umgang mit der Krankheit wirkt sich die Szene auch dadurch negativ aus, dass sie einzelne ‚ausstiegswillige’ Jugendliche dazu animiert, bei erlebten Enttäuschungen während der Reintegration den Weg zurück in die Geborgenheit der Gruppe zu suchen und auf jegliche weitere Betreuung zu verzichten. „… wir haben da sehr viele Patienten, die haben sich behandeln lassen in Krankenhäusern. Nun, die sind da den nächsten Tag, die treffen ihre Gruppe, die sagt ‚Ja, Junge, trink mal einen, und dann ist es okay.’ Da ist der wieder drin. Der kommt da alleine wieder nicht raus.“ (Herr Achmatow)
Wenn die Betroffenen aufgrund der Lebensweise von ihren formellen Bezugspersonen für unzuverlässig gehalten werden und diese Sichtweise für sich übernehmen, bewirken nicht eingehaltene Behandlungsempfehlungen ein Reuegefühl. Die Jugendlichen schämen sich insbesondere dann, weiterhin um Unterstützung nachzusuchen, wenn sie bisher positive Erfahrungen mit Ärztinnen bzw. Ärzten oder Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeitern gemacht haben, so dass sie deren voraussichtliche Enttäuschung über die eigene ‚Nachlässigkeit‘ nicht miterleben wollen. Hindernisse in der Einstellung von Experten und Expertinnen Die Expertinnen und Experten heben hervor, dass sich eine negative Einstellung zur Zielgruppe hinderlich auf die Arbeit mit dieser auswirkt. Wenn die Betroffenen spüren, dass ihnen die Professionellen nicht vertrauen und sie offen oder insgeheim ablehnen, verzichten sie auf die Inanspruchnahme formeller Hilfe. Eine der Befragten räumt ein, dass auch sie selbst die Jugendlichen für das Straßenleben verurteilt und dessen Ursachen individualisiert. Angesichts des eigenen Unverständnisses für die Lebensweise der Jugendlichen zweifelt die Expertin daran, ob es ihr überhaupt noch möglich ist, den Betroffenen nachhaltig zu helfen. In dem Kontext wird auch der Ansatz der niedrigschwelligen Arbeit, den Jugendlichen zunächst keine Anforderungen an eine Verhaltensänderung zu stellen, kritisch gesehen. Auch eine zu große eigene Betroffenheit angesichts der Situation der Jugendlichen erlebt eine Expertin als hinderlich für die professionelle Arbeit mit der Zielgruppe. Zwar geht diese Befragte davon aus, dass die
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Möglichkeiten, ‚auf der Straße’ wirksam zu helfen, nahezu zwangsläufig begrenzt sind. An der Lebenssituation der Jugendlichen kaum etwas ändern zu können und akzeptieren zu müssen, dass deren Wohlbefinden nachhaltig beeinträchtigt ist, wird dennoch auch als eigenes ‚Versagen’ verstanden. „… ich finde es schwieriger, mit den ganz jungen Patientinnen zu arbeiten, weil meine Betroffenheit auch oft noch größer ist. Und zu sehen, wie viel kindliches Bedürfnis da häufig unbefriedigt ist, macht es schwierig, denn ich kann es nicht befriedigen.“ (Frau Altmann)
Fazit zu Hindernissen für die Inanspruchnahme von Unterstützung Wie die Bewältigungsreaktionen der Betroffenen, lassen sich nach den Deutungen der befragten Ärzte bzw. Ärztinnen und Sozialarbeiter oder Sozialarbeiterinnen auch die Barrieren, die die Jugendlichen davon abhalten, im Fall von krankheitsbedingten (und sozialen) Belastungen professionelle Unterstützung zu suchen, der Dimension ‚selbst Schuld an der gesundheitlichen Situation’ und ‚Opfer der Straße’ zuordnen (Tabelle 5). Nehmen die Jugendlichen demnach aus eher personalen Gründen (geringe Vertrauensbereitschaft, intensiver Konsum von Alkohol und Drogen) Angebote der Gesundheitsversorgung nicht in Anspruch, ist es nach Meinung der Experten gerechtfertigt, ihnen die Schuld oder zumindest die Verantwortung an ihrer gesundheitlichen Lage zuzuweisen. Sind die Betroffenen demgegenüber aus administrativ-strukturellen Gründen (Praxisgebühr, Zuzahlungen zu Medikamenten) an der Inanspruchnahme gesundheitsbezogener Angebote gehindert, erscheinen sie als ein Opfer der gegenwärtigen Lebensumstände, die einem adäquaten Umgang mit der Erkrankung entgegenstehen. Tabelle 5: Hindernisse für die Inanspruchnahme von Hilfen Berufsgruppe Hindernisse (Mehrfachnennungen)
Ärzte
Sozialarbeiter
gesamt
Attributionsdimension selbst Schuld
Person des Jugendlichen
5
5
10
Einstellung der Experten
2
2
4
Administrativ-strukturell
5
6
11
5
7
12
N
Opfer der Straße
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4.4 Bewältigungsverhalten der Jugendlichen und Barrieren für die Inanspruchnahme formaler Hilfen aus Sicht der Betroffenen und der Experten Im Folgenden wird überblicksartig dargestellt, inwieweit die Einschätzung des Umgangs mit chronischer Krankheit ‚auf der Straße’ durch Betroffene und Experten korrespondiert oder voneinander abweicht. Wie deutlich wurde, gehen die befragten Ärzte und Sozialarbeiter überwiegend davon aus, dass die Erkrankung von den Betroffenen ignoriert wird. Das spiegelt sich auch in den Interviews mit den Jugendlichen selbst wider. Dass diese ihre chronische Krankheit verharmlosen, betrachten die Expertinnen und Experten als ausgesprochen dysfunktional, weil damit krankheitsbedingten Belastungen auch kurzzeitig nicht abgeholfen wird und diese langfristig eher noch verschärft werden, da eine (weitere) Chronifizierung der Erkrankung zu erwarten ist. Während die Experten und Expertinnen davon ausgehen, dass die Jugendlichen angesichts solcher Folgen ‚selbst Schuld’ sind, wenn sie ihre Krankheit nicht wahrhaben wollen, stellt letzteres aus Sicht der Betroffenen häufig eine Notlösung dar. Unter den gegenwärtigen Lebensbedingungen sehen sie keine Möglichkeiten, um bestimmte Krankheitssymptome zu lindern oder diesen vorzubeugen. Angesichts dessen fügen sich die Betroffenen resigniert in ihr ‚Schicksal’ und erscheinen als ein ‚Opfer der Straße’. Um die Erkrankung – deren Symptome und Auswirkungen – auszuhalten, erweist sich für die Jugendlichen der Konsum von Alkohol und Drogen als funktional, wobei er subjektiv einer Problemlösung gleichkommt. Eine solche Ansicht steht in starkem Widerspruch zu den Erfahrungen der befragten Experten und Expertinnen, die vielmehr davon ausgehen, dass der Substanzgebrauch zum einen mit eigenständigen Gesundheitsrisiken verbunden ist, zum anderen krankheitsbedingte Belastungen heraufbeschwört, verschlimmert und einen angemessenen Umgang mit diesen erschwert. Wenig förderlich auf das Krankheitsverhalten wirkt sich nach Ansicht der befragten Expertinnen und Experten auch das Szenennetzwerk der Jugendlichen aus. Zwar vermag dieses, akute Notlagen kurzfristig zu überbrücken, z. B. durch die Bereitstellung einer (provisorischen) Unterkunft, in die sich der Einzelne im Fall von akuten Symptomen zurückziehen kann, oder durch die notdürftige Versorgung von Wunden. Während Szenenangehörigen hierfür nach Meinung vor allem der befragten Ärztinnen und Ärzte die erforderlichen Kenntnisse fehlen, gehen mit solchen Formen der Unterstützung auch neue Formen der Abhängigkeit einher – schließlich ist der Einzelne zu ‚Dank’ verpflichtet, häufig verbunden mit erhöhter Loyalität gegenüber der Szene und deren riskanten Normen.
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Wie die Expertinnen und Experten, verweisen auch die Jugendlichen selbst darauf, dass sich Szenenangehörige angesichts krankheitsbezogener Belastungen meist wenig hilfreich verhalten, so dass bei ihnen auch kaum um Unterstützung nachgesucht wird. Stattdessen versuchen die Betroffenen, ihre Erkrankung möglichst vor den Anderen zu verbergen, um nicht in der eigenen Schwäche ausgenutzt und als Szenenmitglied abgewertet zu werden. So, wie die Jugendlichen häufig darauf verzichten, sich im Fall von krankheitsbedingten Belastungen an Szenenangehörige zu wenden, nehmen sie nur selten ärztliche (oder sozialarbeiterische) Hilfe in Anspruch. Deutlicher, als es die Experteninterviews vermuten ließen, lassen die Interviews mit den Jugendlichen Rückschlüsse darauf zu, dass die Inanspruchnahme medizinischer Leistungen nicht nur durch sozioökonomische Barrieren erschwert ist. Vielmehr prägen auch negative Erfahrungen mit Ärzten und Ärztinnen, die von den Betroffenen generalisiert werden, das weitere Hilfesuchverhalten. Die Jugendlichen beklagen vor allem, dass sich Ärztinnen und Ärzte ihnen gegenüber wenig einfühlsam verhalten und sie als medizinische Laien abstempeln. Zudem wird es von den Betroffenen weniger als ‚helfend’ denn als ‚kontrollierend’ erlebt, wenn Ärzte therapeutische (Verhaltens-)Empfehlungen als verbindlich ansehen, die sich unter den Bedingungen des Straßenlebens nur schwer umsetzen lassen. Wenn die Jugendlichen auf Arztbesuche in der Regel verzichten, dann auch deshalb, weil sie mit der Sicherung des täglichen Überlebens beschäftigt sind, was oft so aufwändig ist, dass keine Ressourcen mehr vorhanden sind, um sich um gesundheitliche Belange zu kümmern. Ohnehin erscheint die eigene chronische Krankheit aufgrund eben ihrer Dauerhaftigkeit nicht selten als ‚Normalität’, an die sich gewöhnt werden kann und die daher auch keinen Handlungsdruck (mehr) auslöst. Anders als die Betroffenen, nehmen die Expertinnen und Experten mehrheitlich an, dass die Jugendlichen durch das Leben auf der Straße einerseits und die chronische Krankheit andererseits hochgradig belastet sind und einen hohen Hilfebedarf haben. Dabei betrachten die befragten Ärzte und Sozialarbeiter, ähnlich wiederum wie die Betroffenen, eine grundlegende soziale Absicherung als Voraussetzung für die Bereitschaft, für die eigene Gesundheit aktiv zu werden. In Einzelfällen führt das Bestreben, zunächst das sozioökonomische Überleben der Jugendlichen zu sichern und ihnen die Grundlagen einer selbständigen Lebensführung zu vermitteln, dazu, dass sich Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter für die gesundheitlichen Belange der Betroffenen nicht zuständig fühlen. Sie geben in dem Kontext die Verantwortung an die Ärzte und Ärztinnen ab
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oder gehen davon aus, dass sich Gesundheit im Zuge der sozialen Stabilisierung von selbst einstellt. Zusammenfassend (Tabelle 6) zeigt sich, dass sich die Einschätzungen von Betroffenen und Experten zum ‚Umgang mit chronischer Krankheit auf der Straße’ teils nur graduell voneinander unterscheiden, teils auch deutlich voneinander abweichen. Letzteres trifft zum einen zu im Hinblick auf die Bedeutung von Alkohol und Drogen als ‚problemlösend’ aus Sicht der Jugendlichen und ‚problemverschärfend’ nach Meinung der Experten und Expertinnen. Zum anderen unterscheiden sich Jugendliche und Experten in ihrer Wahrnehmung des gesundheitlichen Hilfebedarfs, den die Betroffenen als eher gering ansehen, die befragten Ärzte und Sozialarbeiter dagegen als hoch. Gemeinsamkeiten in den Sichtweisen von Experten und Betroffenen treten hingegen zu Tage, was die Einschätzung des Bewältigungsverhaltens als ein ‚Ignorieren der Krankheit’ sowie das insgesamt wenig hilfreiche Verhalten von Szenenangehörigen im Fall krankheitsbedingter Belastungen anbelangt. Tabelle 6: Umgang mit chronischer Krankheit ‚auf der Straße’: Sichtweisen von Jugendlichen und Experten im Vergleich Jugendliche
Experten / Expertinnen
Ignorieren chronischer Erkrankung (Resignation)
Bewältigung chronischer Krankheiten ‚misslingt‘
Alkohol und Drogen als subjektive ‚Problemlösung‘
Alkohol und Drogen verhindern Problemlösung
negative Erfahrungen v. a. mit Ärzten verhindern weitere Inanspruchnahme von Hilfe
Jugendliche durch Krankheit und Straßenleben belastet – besonderer Hilfebedarf
Szenennetzwerk nutzt chronische Krankheit aus, wenig empathisch
Szenennetzwerk verfestigt Straßenleben, interne Hilfe – neue Abhängigkeiten
Attributionsdimension selbst schuld
Opfer der Straße
5. Implikationen für eine zielgruppenspezifische Versorgung Die Ergebnisse dieser Studie verdeutlichen die Notwendigkeit, ärztliche, psychosoziale und sozialpädagogische Hilfsangebote für obdachlose Jugendliche besser miteinander zu vernetzen. Vor allem sollten die Jugendlichen in pädago-
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gischen Einrichtungen die Möglichkeit haben, zugleich verschiedene gesundheitsbezogene präventive und kurative Angebote kostenlos in Anspruch nehmen zu können (vgl. Nyamathi et al. 2005). Von den medizinischen Diensten, die sich an die Zielgruppe der Obdachlosen richten, verlangt das, sich stärker am Arbeitsansatz der aufsuchenden Sozialarbeit zu orientieren. Das würde bedeuten, dass sich die Ärztinnen und Ärzte zu den Aufenthaltsorten der Jugendlichen hinbegeben und nicht in ihren Praxen auf diese ‚warten‘. Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter, die häufig die einzigen formalen Bezugspersonen für (chronisch kranke) Jugendliche und junge Erwachsene ‚auf der Straße’ sind, könnten in dem Kontext Türöffner für die medizinisch-gesundheitliche Versorgung sein, indem sie die Betroffenen stärker als bisher auch für ihre gesundheitlichen Belange sensibilisieren und zur Inanspruchnahme von ärztlicher Unterstützung motivieren. In unserer Studie hat sich gezeigt, dass obdachlose Jugendliche und junge Erwachsene häufig noch über ihre Eltern krankenversichert sind. Unabhängig davon, ob sie zwischenzeitlich aus verschiedenen Gründen zu Obdachlosenärzten gehen, suchen sie daher bei Bedarf auch immer wieder niedergelassene Ärzte und Ärztinnen auf. Diese stehen somit vor der Aufgabe, sich mit den speziellen Belangen ihrer ‚schwierigen’ Klienten auseinanderzusetzen und auch zu akzeptieren, dass diese ein anderes Sprachverständnis haben als sie selbst und sich ihrerseits anders ausdrücken, dazu in der Regel nicht nüchtern sind und ungepflegt wirken, wenn sie die Praxis aufsuchen. Um Verständnisschwierigkeiten möglichst zu umgehen, die nach Aussage unserer Betroffenen vor allem zwischen Ärztinnen bzw. Ärzten– weniger zwischen Sozialarbeitern bzw. Sozialarbeiterinnen – und Jugendlichen bestehen, bietet sich (auch insofern) eine Mittlerfunktion für die psychosozialen Berufsgruppen an. Diese könnten demnach schriftliches Informationsmaterial für das medizinische Personal erstellen, in welchem auf die Lebenslage der Zielgruppe eingegangen wird. Im Rahmen der Kontaktanbahnung zu (chronisch kranken) obdachlosen Jugendlichen sollten Erwartungen an ein krankengerechteres Verhalten der Betroffenen, das Risiken meidet, die genaue Einhaltung von Behandlungsempfehlungen beinhaltet und mithin im Gegensatz steht zu den Normen der Szene, vorerst nicht zu hoch sein. Ansonsten erscheint es als wahrscheinlich, dass sich die Betroffenen ‚kontrolliert’ fühlen und auf die weitere Inanspruchnahme von Unterstützung verzichten. Mittelfristig allerdings dürften sich Angebote der Gesundheitsversorgung nicht allein auf (chronische) Krankheiten von Betroffenen konzentrieren, sondern müssten auch deren Alkohol- und Drogenkonsum thematisieren, da an-
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sonsten eine nachhaltige gesundheitliche Besserung kaum zu erwarten ist. Hierbei wären das Verständnis der Jugendlichen von Alkohol und Drogen als Medikament im Krankheitsfall zu hinterfragen und somit die Sichten von Betroffenen an die von Experten anzunähern, wonach diese Substanzen einer Lösung gesundheitlicher und sozialer Probleme entgegenstehen. Während ärztliche oder sozialarbeiterische Angebote, die am szenengebundenen Alkohol- und Drogenkonsum der Jugendlichen ansetzen, Szenenangehörige einbeziehen sollten (vgl. Rice et al. 2005: 1119), müssten krankheitsbezogene Angebote stärker die Privatsphäre des Betroffenen beachten. Schließlich haben die Ergebnisse unserer Studie gezeigt, dass die Jugendlichen meist davor zurückscheuen, vor Szenenangehörigen über krankheitsbezogene Belange zu sprechen. Rückzugsräume vor den Anderen lassen somit erwarten, dass die Jugendlichen offener sind für Versuche von Ärzten und Sozialarbeitern, die Krankheit und die damit verbundenen Anforderungen stärker ins Bewusstsein der Betroffenen zu rücken. Auch die Sicht der Experten und Expertinnen legt es nahe, Szenenangehörige aus Gesprächen über die Krankheit raus zu halten und sie nicht im Umgang mit der Erkrankung der Betroffenen anzuleiten. Ein solcher auf Selbsthilfe zielender Ansatz wird angesichts des allgegenwärtigen Ressourcenmangels ‚auf der Straße’ als wenig adäquat angesehen. Damit auf die unterschiedlichen Problemlagen von obdachlosen Jugendlichen und jungen Erwachsenen angemessen reagiert und dazu ein großes Spektrum diagnostischer und therapeutischer Hilfen angewandt werden kann, empfiehlt sich allgemein eine integrierte Versorgung der Zielgruppe. Wenn mithin medizinische und soziale Hilfen aus einer Hand gewährt werden, erspart das den Betroffenen weite Wege zwischen den einzelnen Versorgungsangeboten, die anderenfalls die Bereitschaft, Unterstützung anzunehmen, weiter verringern würden.
6. Doing social Problems im Kontext chronischer Krankheit obdachloser Jugendlicher Im Ergebnis unserer Interviews mit Jugendlichen und Experten ist deutlich geworden, dass die Deutungen des sozialen Problems ‚Chronische Krankheiten unter den Bedingungen des Straßenlebens’ entlang der Dimension ‚Opfer der Straße’ und ‚selbst Schuld’ erfolgen. Dabei zeigt sich etwa an den Vorstellungen zum Umgang mit der Krankheit, die sich unter die Kategorie „Ignorieren“ fassen lassen, wie damit jeweils unterschiedliche Pole dieser Dimension reali-
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siert werden. Aus Sicht der Jugendlichen resultiert dieses Ignorieren aus den Bedingungen des Straßenlebens – andere Probleme sind darin dominanter als die Erkrankung. Aus der Sicht der Expertinnen und Experten wird dieses Ignorieren eher zum Beleg dafür, was die Jugendlichen selbst zur Bewältigung und Veränderung ihrer Situation beitragen könnten, es aber nicht tun. Die Lokalisierung des einzelnen aktuellen Problems und damit auch der damit zu aktivierenden Hilfe bzw. Bedarfe am einen oder anderen Pol bestimmt dann auch die Reaktionsweisen der Beteiligten. Insbesondere die administrativ-strukturellen Rahmenbedingungen regeln den Zugang der Jugendlichen zu vorhandenen bzw. notwendigen Hilfsangeboten. Vor allem entscheiden diese aus Sicht von Betroffenen ebenso wie von Professionellen darüber, ob Ressourcen zur Verfügung stehen, um mit chronischen Krankheiten ‚angemessen’ umzugehen. Eine medizinische Versorgung, die die Jugendlichen nur unter bestimmten, aktuell kaum erfüllbaren Bedingungen erhalten (Zahlung von Praxisgebühr und Medikamentenkosten; Einhaltung von Behandlungsempfehlungen), bewirkt demnach, dass die Betroffenen zu Opfern ihrer derzeitigen Lebenssituation werden. Werden hingegen den Jugendlichen auf struktureller Ebene bedarfsgerechte und zielgruppenspezifische Angebote zur Verfügung gestellt und bleiben diese aus persönlichen Vorbehalten oder aus Unlust und Apathie ungenutzt, tragen die Betroffenen aus eigener Sicht und nach Expertenmeinung selbst die Verantwortung, wenn sie gesundheitlich weiter verelenden (vgl. Abbildung 1). Abbildung 1: Doing Social Problems selbst Schuld
Doing social Problems
Institution Administration
Opfer der Straße
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Wie sich an den Aussagen der Expertinnen und Experten zum Umgang der Jugendlichen mit chronischer Erkrankung zeigt, sind die diesbezüglichen Vorstellungen der Sozialarbeiter anders akzentuiert als bei den Ärzten (Tabelle 4). Das Ignorieren der Krankheit, aber auch deren Potential als Wendepunkt, steht eher aus Sicht der Sozialarbeiter und Sozialarbeiterinnen im Vordergrund, während die Inanspruchnahme von Hilfe eher für die Ärztinnen und Ärzte zum Thema wird. In den sich dabei abzeichnenden Unterschieden in der Akzentuierung vergleichbarer Themen – zwischen den Jugendlichen und den Professionellen, aber auch zwischen den Sozialarbeitern und Ärzten – wird deutlich, dass die Vorstellungen in diesem Feld sich mit dem eingangs beschriebenen Konzept der sozialen Repräsentationen nach Moscovici eher als mit dem Konzept der kollektiven Repräsentation im Sinne von Durkheim und der Verwendung bei Holstein/ Miller beschreiben lassen. Interessant werden dabei die Konzepte und Begriffe der Klassifikation und Identifikation sozialer Probleme, wie sie in den Deutungen der befragten Experten zum Vorschein kommen. In diesem Prozess der Klassifikation realisiert sich die von Holstein/Miller (1993: 154) skizzierte Perspektive auf eine sehr spezifische Weise: „.... we suggest that social problems work be more broadly understood to include any and all activity implicated in the recognition, identification, interpretation and definition of conditions that are called ‘social problems’”. Eine zentrale Frage ist in dem Kontext auch, wie die Jugendlichen in die Planung und Gestaltung von Hilfen einbezogen werden können, sollen nicht die ohnehin schon bestehenden Gefühle der Handlungsohnmacht noch verstärkt werden (vgl. de Winter/Noom 2003: 335). Auch vor dem Hintergrund unseres Studienergebnisses, dass die Betroffenen im Gegensatz zu den Experten und Expertinnen eher selten davon ausgehen, dass sie einen besonderen Hilfebedarf haben, erscheint eine stärkere Beteiligung der Jugendlichen an gesundheitlichen und sozialen Maßnahmen sinnvoll. Anderenfalls wäre zu erwarten, dass sich die Betroffenen durch unterschiedliche Hilfsangebote schnell „fürsorglich belagert“ (vgl. Hoops/Permien 2003: 195) fühlen und sich im Weiteren zurückziehen.
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Stefan Dreßke
Soziale Problemarbeit in der medizinischen Rehabilitation. Zur Körpernormalisierung bei Behinderung
1. Formierung der Identität körperlich Behinderter Folgt man der Konzeptionierung sozialer Probleme durch Holstein und Miller (1993) lassen sich auch für die soziale Konstruktion von Körperbehinderung zwei mit einander verwobene Perspektiven identifizieren (vgl. Cloerkes 2003). 1 Zum einen sind es die sozialen Repräsentationen, mit denen Körperbehinderungen als kollektive Formierungen identifiziert werden. Im öffentlichen Diskurs werden Leitbilder, Erscheinungsformen und Typisierungen von Körperbehinderung formuliert. Interessensgruppen, etwa der Behindertenbewegung oder der Vertreter von Wohlfahrtsorganisationen, treten sich in der politischen Arena gegenüber oder bilden Allianzen und organisieren so den Blick auf Behinderung mit dem Ziel, Ansprüche abzustecken und Interessen durchzusetzen (vgl. Clorkes 2001). In diesem Diskurs scheint sich eine Typisierung abzuzeichnen: Einerseits ist Behinderung nach wie vor eine Hilfe beanspruchende Beeinträchtigung, die Abhängigkeit nach sich zieht und Rücksichtnahme verlangt. Andererseits wird Behinderung zunehmend mit Aktivität, Leistungsorientierung, Teilnahme am öffentlichen Leben, Familiengründung und geregelter Arbeit in Verbindung gebracht. Die pflegebedürftige Bewohnerin eines Altenheimes und die querschnittsgelähmte Olympiakämpferin sind beides Ikonen dieser Typisierung.
1
Das Kapitel ist die erweiterte und stark veränderte Fassung eines Vortrags auf der Jahrestagung der Midwestern Sociological Society in Des Moines, Iowa, 2.4.-5.4.2009. Für Anregungen habe ich Ron Berger, University of Wisconsin-Whitewater, und Christina Papadimitriou, Rehabilitation Institute of Chicago, zu danken.
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Beide Pole werden durch eigene normative Grundhaltungen getragen, die in den jeweiligen Begleitdiskursen wissenschaftlich legitimiert werden: Die Rehabilitationswissenschaften versuchen, einen Zustand entsprechend der Erwartungen der Mainstreamgesellschaft herzustellen. Die disability studies dagegen kritisieren dieses „medizinische Modell“ und erheben den Anspruch einer „eigenen“ Normalität sowie die Anerkennung der Behinderung als akzeptierte menschliche Erscheinungsform (vgl. Davis 2006; Dederich 2007; Waldschmidt/Schneider 2007). Zugleich gibt es zwischen den beiden Denkformen eine Anzahl von wechselseitigen Beeinflussungen und Vermittlungen (Kuhlmann 2003; Shakespeare 2006): So ermöglichen korrektive medizinische Behandlung und Rehabilitation überhaupt erst, dass Behinderte nachhaltig an die Öffentlichkeit treten und zum Sprecher ihrer Sache werden. Und so sind es gerade diese Erfolge, die der medizinischen Wissenschaft weiteren Auftrieb und Legitimation verleihen. Die zweite Perspektive ist die des Alltags mit Behinderung, wobei sich nicht Vertreter abstrakter kollektiver Interessen gegenüber stehen, sondern professionelle Verfahrensarbeiter und Behinderte sowie deren Angehörige, die versuchen, „das Beste daraus zu machen“. In der Zuweisung konkreter Identitäten geht es um Anpassung und Sozialisation, um die Aushandlung von Reziprozität sowie um die Einordnung in sozialpolitisch oder medizinisch vorgezeichnete Etikette und die entsprechenden Verfahren. Es ist Arbeit in Krankenhäusern, Wohneinrichtungen, Werkstätten und Selbsthilfeeinrichtungen, mit der Organisationsrationale und Eigeninteressen durchgesetzt werden, wie diese konkret auch aussehen mögen. Derartige soziale Problemarbeit ist Aushandlung im Sinne von Strauss (1978), in der professionelle und alltagspraktische Deutungen aufeinander treffen, häufig konfligieren sowie in Übereinstimmung zu bringen sind und mit der Risiken und Misserfolge verbunden sind. Der Betroffene wird zu einem „Fall“, der in seiner Zeitlichkeit und in typisierten Verlaufsdynamiken gedacht ist. Die professionelle Problembearbeitung stößt auf die Widerständigkeit der Behinderten und ihrer Angehörigen, die eigene biographische Projekte verfolgen, welche in den Organisationsrationalen aufgehen, aber mitunter auch davon abweichen können. Konformität und Kooperation sind damit nicht selbstverständlich, sondern müssen mühsam hergestellt werden. Orientiert sind diese Aushandlungen an den öffentlichen Diskursen und Leitbildern, in denen kollektive Repräsentationen von Behinderung allerdings nicht eins zu eins umgesetzt, sondern deutungsbedürftig sind. Der vielstimmige und unübersichtliche öffentliche Diskurs trägt den Notwendigkeiten des Alltags der Problembearbeitung oftmals kaum Rechnung.
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Gegenstand des Kapitels ist die Formierung der Identität körperlich Behinderter als ein Prozess sozialer Zuschreibungen am Beispiel der Erstbehandlung querschnittgelähmter Patienten. Ausgangspunkt ist die Überlegung, dass „fertige Menschen“ nach einem Unfall oder einer plötzlich und unvorhergesehen eingetretenen Krankheit aus ihrem Leben gerissen sind. Lebensplanungen, biographische Projekte und Aspirationen werden vollständig durcheinander gebracht, und die dauerhaften körperlichen Einbußen machen einen radikalen Perspektivenwechsel in fast allen Lebensbereichen notwendig, wenngleich sich manches auch mit einer Behinderung nicht verändern muss. Der plötzliche Eintritt einer Querschnittlähmung liegt in der Regel jenseits typisierter Erwartungshorizonte der Lebensplanung und Lebensgestaltung. Im Unterschied zu anderen einschneidenden Lebensereignissen, wie chronische Krankheit, Arbeitslosigkeit oder Scheidung, ist der Eintritt der Behinderung nur sehr mangelhaft sozial vermittelt, denn die Möglichkeit dauerhafter körperlicher Schädigung ist nicht oder nur in sehr geringem Maß im Handeln bewusst bedacht. Einer selbständigen Lebensführung sind zunächst enge Grenzen gesetzt, und es wird eine dauerhafte Kooperation mit den Experten vorausgesetzt, wobei erwartet wird, niemals aufzugeben, zu kämpfen und dabei doch eine realistische Haltung zu wahren. Im Kern der neuen Umstände stehen die veränderten Erfahrungen des nunmehr eingeschränkten und defizitären Körpers. Der Körper lässt sich nicht wieder herstellen, die Schädigung ist dauerhaft und tiefgreifend. Sie umfasst alle körperlichen Vorgänge: Mobilität, Nahrungsaufnahme, Ausscheidung, Schlafen, Kleidung, Sexualität, Körpergefühl, Körperausdruck sowie die Darstellung der Person (zur Soziologie des Körpers vgl. Shilling 1993; Schroer 2005). Die Grenzen des Körpers, der neu erkundet werden muss, um Handlungsspielräume wieder erweitern zu können, werden nur allzu bewusst. Soziale Problemarbeit der medizinischen Rehabilitation ist die Kontrolle von körperlichen Abweichungen durch Behandlung. Dabei sind zwei vernachlässigte Verknüpfungen zu bedenken: Zum einen muss die Medizin immer auch als ein moralisches Unternehmen angesprochen werden, wie es schon Parsons (1958) mit Bezug auf die Krankenrolle formuliert hat. Legitimität erzielt die Medizin nicht zuletzt dadurch, dass sie das abweichende Verhalten „Krankheit“ als einen vor Sanktionen geschützten Bereich definiert, mit der Zielvorgabe, dass Patienten diesen Bereich wieder verlassen. Arzt-Patienten-Kontakte und Krankheitsbewältigung werden in der Medizinsoziologie zumeist unter dem Gesichtspunkt der Normalisierung betrachtet. Die Allgegenwärtigkeit von Krankheit, Pflegebedürftigkeit und Behinderung würde aber gerade die Analyse der Kontrolle abweichenden Verhaltens jenseits einer kritischen Perspektive wieder notwendig machen. Zum
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anderen ist auf die Dimension des Körpers für die Bearbeitung sozialer Probleme hinzuweisen. In Bezug auf Behinderung drängt sich die Verkörperung des sozialen Problems auf, sie ist aber auch auf anderen Gebieten wie Obdachlosigkeit, Kriminalität, Drogen und Prostitution bedeutsam. Körper wird zwar immer vorausgesetzt, zum Beispiel als Geschlechts- oder Präsentationskörper, soziale Problemarbeit ist jedoch als Inkorporierung abweichenden Verhaltens kaum Gegenstand von Untersuchungen. Beide Verknüpfungen sollen in diesem Kapitel exemplarisch behandelt werden: Die Rehabilitationseinrichtung ist eine Sozialisationsinstanz, in der Einsichten und Einstellungen als „Körperarbeit“ vermittelt werden. Behinderung fordert neue Identitätszuweisungen, die über den Körper gesteuert sind – zumindest ist das der Ausgangspunkt der vorliegenden Untersuchung. Der Perspektivenwechsel von nicht behindert zu behindert scheint besonders drastisch zu sein. Die mangelnde soziale Vermittlung, die Unerwünschtheit und die Dauerhaftigkeit von Behinderung ziehen nach sich, dass der Behindertenstatus nicht freiwillig eingenommen wird. Damit ist die Sozialisationsarbeit zu „behindert“ als einer neuen Identitätszuweisung während der medizinischen Erstbehandlung besonders voraussetzungsvoll. Dieser Perspektivwechsel muss in Aushandlungsprozessen vom Personal der Rehabilitationseinrichtungen forciert und unter Umständen gegen den Patienten durchgesetzt werden. Insofern ist die Erstbehandlung als ein Forderungs- und vielleicht sogar als Zwangsmilieu und das Krankenhaus als eine moralische Anstalt zu analysieren (vgl. auch Dreßke 2008). Die Formierung von Querschnittgelähmten wurde über neun Monate mit teilnehmenden Beobachtungen in einer spezialistischen Querschnittabteilung untersucht und das Datenmaterial anhand von Fallverläufen ausgewertet (vgl. Strauss/Corbin 1996). Zunächst wird gezeigt, wie überhaupt der querschnittgelähmte Patient als typisierter Fall konstituiert wird. Anschließend wird die stationäre Rehabilitation als ein verschärftes Behandlungsmilieu charakterisiert, allerdings ohne dass dort tatsächlich eine Heilung erreicht wird.
2. Der Beginn einer moralischen Karriere: Falltypisierung in der Rehabilitation Querschnittgelähmter in einem Beispiel Wie jede Einrichtung hat auch eine Rehabilitationsabteilung typische Falldynamiken und als typisch geltende bearbeitbare Probleme vor Augen. Fujimura (1987) macht mit ihrem Konzept des do-able Problems darauf aufmerksam,
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dass die Zuweisung von Problemen keine Etikettierung ist, in der die Kompatibilität zu den Zuständigkeiten einer Organisation schlicht behauptet bzw. beobachtet wird. Vielmehr werden Verantwortlichkeiten und Aufgaben entsprechend der Organisationsrationalen in einem Konstruktions- und Aushandlungsprozess überhaupt erst vereinbart. Im Rahmen des Handlungsrepertoires von Organisationen stehen ganz bestimmte Handlungsoptionen zur Verfügung, die von Organisationszielen, Professionsideologien und möglichen Handlungsstrategien abhängen. Soziale Problemlösungsorganisationen stehen vor der Aufgabe, aus einer diffusen Gemengelage ein bearbeitbares Problem zu extrahieren. So werden im Krankenhaus aus Patientenpersonen Patientenfälle, womit Kontingenzen reduziert und bearbeitet, Spielräume eingegrenzt bzw. ausgelotet und die Funktionsfähigkeit des Krankenhauses für ihren Aufgabenzuschnitt gekennzeichnet werden (vgl. für die Herstellung von „Fällen“ die Untersuchung von Notunterkünften für Frauen von Loseke 1997). Über die Praxis der Definition von Problemfällen, lassen sich ganz grundsätzliche Kenntnisse über die Arbeitsweisen von Organisationen gewinnen. Mit einem Fallbeispiel aus den teilnehmenden Beobachtungen soll illustriert werden, wie ein Problemfall definiert wird, der Eingang hält in die weitere institutionell angeleitete Sozialisation, in der am Ende der Sozialtypus des Behinderten entsteht. Herr Wilke ist 19 Jahre alt und hat seine komplett insensible Paraplegie (d. h. der gesamte Unterkörper, einschließlich Blase und Darm, sind gelähmt und gefühllos.) durch einen Autounfall erworben. Am Unfallgeschehen ist er als Fahrer mit seiner Freundin und ihrem beteiligt. Die Insassen des zweiten beteiligten PKWs sind mit dem Schrecken davongekommen. Die Schuldfrage war zum Zeitpunkt Beobachtung noch nicht geklärt. Die Erstversorgung auf der Intensivstation dauert etwa eine Woche, anschließend liegt er auf der Normalstation zur Rehabilitation. Die Fraktur heilt sehr schnell und der Verlauf kann als erfolgreich eingeschätzt werden. Herr Wilke verfügt am Ende seines relativ kurzen Aufenthalts nach 22 Wochen über das Optimum an funktionalen Fähigkeiten. Die Konstituierung seines Falls wird anhand von Typisierungen rekonstruiert, die zum Beginn seiner rehabilitativen Behandlung vergeben werden. Hier ein Auszug aus dem Beobachtungsprotokoll: Herr Wilke wird in der wöchentlichen Stationsbesprechung am zweiten Tag seines Aufenthalts diskutiert. Anwesend sind die Vertreter der Funktionsbereiche: die Stationsärztin, die Stationsschwester, ein Krankengymnast, eine Ergotherapeutin, der Psychologe und die Sozialarbeiterin. Die Ärztin bestätigt, dass Herr Wilke das stützende Oberkörperkorsett nicht mehr benötigt. Nach dieser kurzen Mitteilung werden die psychischen und sozialen Probleme diskutiert. Über die meisten Kenntnisse zum Patienten verfügt der
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Psychologe, der ihn bereits auf der Intensivstation besucht hat. Aber auch dem Krankengymnasten und der Ergotherapeutin ist der Patient aus der Behandlung bereits bekannt. Die Ärztin hält sich im Weiteren zurück. Der Psychologe sagt, er rede nicht so gern mit dem Patienten, wenn der Vater dabei ist. Bei dem Unfall ist das Kind seiner Lebensgefährten verstorben, das aber nicht seines war. Im Team ist man sich darüber einig, dass er immer noch nicht über den Tod des Kindes hinweg gekommen ist. Am Bett hat Herr Wilke ein Plüschtier, mit dem das Kind noch im Auto gespielt hat. Es wird gemutmaßt, dass das Plüschtier das tote Kind symbolisiert und er damit seine Trauer bewältigt. Auch seine Freundin wird angesprochen, die mit einem Schädel-Hirn-Trauma in einer anderen Klinik liegt und Gedächtnisprobleme hat. Eigentlich sollte sie Beurlaubung bekommen, damit sie ihren Freund besuchen kann. Allerdings war die Klinik, in der sie liegt, dagegen. Der Patient sei kindlich, hat die Hauptschule abgebrochen und keine Berufsausbildung begonnen. Seine Eltern sind geschieden, die Mutter hat sich neu verheiratet. Herr Wilke wollte bei seinem Vater die Wohnung umbauen und wird als sehr gutmütig bezeichnet. So hat er seinem Vater sein Handy geborgt, mit dem dieser Schulden gemacht und noch nicht bezahlt hat. In einem weiteren Beispiel wird von seinem Auto gesprochen, das er dem Vater geborgt hat. Der Informationsaustausch über Herrn Wilke macht einen diffusen Eindruck: Jeder Teilnehmer bringt das ein, was er oder sie über den Patienten weiß. Gegenstand der Aushandlungen im Team ist es, den Patienten als Fall für Pflege und weitere Therapien, als „Rehafall“, zu identifizieren. Dabei wird sich, wie im medizinischen Milieu üblich, an den Pathologien orientiert, die in der medizinischen Arbeitsteilung bzw. in den fachlichen Disziplinen subsumiert werden. Qua ärztlicher Definition ist Herr Wilke ein Patient der Querschnittabteilung. Thematisch werden die medizinischen Dispositionen allerdings nicht in der multiprofessionellen Teambesprechung, sondern in der ärztlichen Arena, in der Diagnose und Behandlung verhandelt werden. Die medizinischen Dispositionen gehen als feststehende Fakten in die Teambesprechung ein. Wenn die Beteiligten sich über das therapeutische Regime im Klaren sind, könnten sie zur Besprechung des nächsten Patienten übergehen. Tatsächlich ist für den Erfolg der Rehabilitation weniger die medizinische Indikation ausschlaggebend. Es werden immer wieder Beispiele von Patienten mit schweren Schädigungen genannt, die trotzdem ein hohes Maß an Selbständigkeit erreicht haben. So wird im Beobachtungszeitraum mehrmals von drei jugendlichen Patienten berichtet, die durch einen Badeunfall verunglückt sind. Bei ähnlichen Lähmungshöhen gewinnt nur einer von ihnen eine aktive Orientierung auf seine Behinderung. Die beiden anderen haben sich nach Aussagen des Arztes zurückgezogen und von ihren Eltern versorgen lassen, was als Misserfolg verbucht ist. Das zentrale Topos der Teamsitzung ist der moralische Status des Patienten zur Abschätzung der Falldynamik. Prognostiziert wird der Rehabilitationserfolg, also die Chance, dass die neuen Zuweisungen als querschnittgelähmt tatsächlich aufgenommen werden. Zunächst dominiert der Psychologe das Gespräch, indem er die Trauerbewältigung und die Vater-Sohn-Beziehung anspricht. Herr Wilke wird als ein Problemfall geführt, bedingt durch den Tod des Kindes seiner Freundin. Dass er allerdings über den Tod des Kindes hinweggekommen ist, wäre innerhalb der zwei Wochen nach dem Unfall nicht realistisch und würde pathologisch gedeutet werden. Unausgesprochen bleibt, dass hinter
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der Trauer um das Kind Selbstvorwürfe stehen und mit der Trauer auch die eigenen körperlichen Beeinträchtigungen bearbeitet werden. Das Personal ist mit Ausnahme des Psychologen allerdings nicht darauf vorbereitet, Patienten in ihrer Trauer zu begleiten – und auch dieser findet kaum Zugang zum Patienten. Der Tod des Kindes wird im weiteren Fallverlauf der nächsten Wochen nicht mehr angesprochen, das Plüschtier findet kaum noch Beachtung und landet schließlich auf dem Sideboard. Im auf Zukunft und Aktivität hin orientierten Rehabilitationsmilieu ist für den Tod praktisch kein Platz. Obwohl die „Trauer“ zu dominieren scheint, ist sie nur als oberflächliche Rahmung zu sehen. Zentral sind immer die Organisationsziele. Für die Zuweisung als behindert sind, nachdem die medizinischen Fakten feststehen, die neuen sozialen Verortungen der zentrale Gegenstand. Den familiären Verhältnissen wird für das Verlaufsregime eine hohe Bedeutung zugewiesen, wobei nahezu jede Eltern-Kind-Beziehung kritisch beobachtet wird. Nach dem Unfall befindet sich der Patient in einem „Schockzustand“. Angehörige können den Patienten emotional stabilisieren, aber auch die Moral des Patienten durch ihren Fassungsverlust beeinträchtigen und damit die therapeutischen Rationalen konterkarieren. Insofern ist auch die Trauerbewältigung als Fassung wahren angesprochen und darf durch den Vater nicht gestört werden. Der Psychologe versucht, den Patienten zu isolieren, ganz nach dem Bild der modernen Medizin, um psychische Dispositionen in ihrer „Reinform“ zu identifizieren. In der Teamsitzung spricht der Psychologe zunächst die Beziehungen zum Vater an, der trotz der prekär eingeschätzten emotionalen Bindungen als wichtigster Ansprechpartner identifiziert ist, schließlich wird von den engsten Beziehungen zum Patienten berichtet. Neben den emotionalen Dimensionen spielt das familiäre Unterstützungspotential eine Rolle, das durch Scheidung und Wiederheirat problematisch zu sein scheint, obwohl durchaus stabile Hilfebeziehung, auch wieder zwischen Vater und Sohn berichtet werden. Mit der Beziehung zu den Eltern werden zukünftige Rollenkonstellationen eingeschätzt, denn zu vermeiden ist, dass Eltern wieder alte Versorgerund Sorgerollen übernehmen. Letztendlich muss der Patient zwar in eine funktionierende, solidarische Gemeinschaft entlassen werden, aber die Betreuung in der Familie ist für junge Patienten nur als Übergangslösung akzeptabel, zumindest im Hinblick auf die körperlichen Potentiale wie bei Herrn Wilke. Die weitaus schlechteste Möglichkeit wäre eine institutionelle Unterbringung, die beste eine selbständige Wohnform. Die Familienverhältnisse von Herrn Wilke scheinen erst einmal unklar zu sein, zumal er sich im Prozess der Abnabelung von den geschiedenen Eltern befindet. Hier kann sich Konfliktstoff verbergen, um die Beanspruchung von Versorgung, aber genauso um das Zurückziehen aus Verpflichtungen. Das Personal muss Ansprechpartner finden, diese unterstützen und auf Hilfeleistungen verpflichten, soll die Entlassung möglichst frühzeitig und komplikationslos vonstatten gehen. Die Zuschreibung von Gutmütigkeit und Kindlichkeit sind auch Chiffren von Entwicklungsprozessen zum Erwachsenwerden und weisen sowohl auf persönliche Eigenschaften als auch auf zugeschriebene Körpervorstellungen hin, die im Kontext von Schicht und Geschlecht zu denken sind. Gefordert ist die pragmatische Körpernutzung während der Rehabilitation als körperliche Umorientierung, Ertüchtigung und Sport. Das Kindliche und Unfertige bedeutet aber auch, dass sich der neue Körper noch formieren lässt und in das Identitätskostüm aufgenommen werden kann.
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Bei den Einschätzungen des Personals geht es um nichts weniger als um die Koordinaten des bisherigen und des zukünftigen Lebens, und darum, welche dieser Koordinaten den Patienten in der Therapie zukünftig stabilisieren werden. In der professionellen Arena wird die Verknüpfung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft hergestellt, stellvertretend für den Patienten, der aus dem Zeitkontinuum herausgerissen ist. In der Fallcharakterisierung entsteht das Bild eines typischen Querschnittpatienten: jung, männlich, aus der Unterschicht kommend und verunfallt. Drei Themen scheinen den Fall von Herrn Wilke zu konstituieren: Das Trauerthema scheint zwar zunächst herausragend zu sein, ordnet sich aber den Therapiezielen unter, wobei es darum geht, die intrinsische Motivation zur Mitarbeit am Behandlungsregime zu evaluieren und im Anschluss daran herzustellen. Das betrifft auch die Angehörigen, deren Unterstützungspotential aktualisiert werden muss. Ausgeblendet wird in der Fallkonstituierung, dass Identitätsformierung gerade bei Behinderung über den Körper gesteuert wird und nicht ausschließlich appellierend ist. Körperpraktiken der Pflege und das Erlernen neuer Körpertechniken sind zwar immer mitbedacht, werden jedoch im Kontext der Fallkonstituierung zunächst als selbstverständlich vorausgesetzt. Thematisiert wird der Körper später in konkreten Behandlungskontexten und wenn Falldynamiken korrigiert werden müssen. Die Rehabilitationsabteilung versteht sich als Sozialisationseinrichtung, in der eine Beeinträchtigung als außeralltäglicher Zustand im Selbstkonzept des Patienten verankert wird, indem das Konzept der Behinderung gegen das der Krankheit durchgesetzt wird. Behinderung fordert viel stärker als Krankheit die Akzeptanz und die Mitarbeit der Patienten, soll sich ein nachhaltiger Behandlungserfolg einstellen. Die Beteiligung der Patienten kann nicht vorausgesetzt werden, sondern muss erst mühsam hergestellt werden.
3. Zwischen Krankheit und Rehabilitation Die übliche Erwartung an einen Krankenhausaufenthalt ist immer noch die des weitgehend passiven Patienten, der nur abzuwarten braucht, bis es besser wird und „lediglich“ die Zumutungen von Diagnostik und Therapie zu tolerieren hat. Orientiert wird auf Genesung, zumindest auf die Herstellung des Zustandes, so als ob nichts geschehen wäre. Das Kurative sieht den Patienten in einem Moratorium der Entlastung von seinen Alltagsverpflichtungen. Patienten haben zwar an der Behandlung mitzuarbeiten, aber eben nur daran und nach dem Krankenhausaufenthalt kann das Leben wie bisher weiterzugehen (vgl. Gerhardt 1991).
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Mit dem Dominieren chronischer Krankheiten ist diese Vorstellung sicherlich eine Idealisierung, allerdings eine, die immer noch zielführend für die Krankenhausmedizin ist, die in Krankheitsepisoden, aber nicht in Krankenkarrieren denkt. Für die meisten „frisch behandelten Querschnitte“, so der Sprachgebrauch in der untersuchten Abteilung, gilt jedoch, dass der alte gesundheitliche Zustand nicht mehr erreicht wird und so mit der Vorstellung einer Krankenrolle gebrochen wird. Das Personal der Rehabilitationsabteilung hat eine Verlaufskurvendynamik vor Augen, an deren Ende es gilt, einen Patienten als einen Behinderten und eben nicht als Gesunden zu entlassen (vgl. zur Rehabilitandenrolle auch Safilios-Constantin 1970). Zur Organisation dieses Perspektivenwechsels sind dann zwei gegenläufige Organisationsprinzipien zu vereinbaren: die Kurativorientierung des Krankenhauses und die Orientierung auf Rehabilitation. Die Dimension des Kurativen wird durch die Ärzte repräsentiert, an die sich alle Hoffnungen der Patienten heften, von denen sie aktive Interventionen erwarten. Im Programm der Arbeitsteilung steht der pflegerische Arbeitsbereich dagegen für „Versorgtwerden“, womit die in der Behandlung ertragenen Zumutungen ausgeglichen und abgefedert werden. In diesem Erholungs- und Schutzraum dominiert der emotionale Code des Femininen, im Gegensatz zum sachlich-maskulinen Code der Ärzteschaft, unbenommen davon, ob Frauen oder Männer die jeweiligen Positionen innehalten (Walby/Greenwell 1994). Der Denkstil des Kurativen ist auch auf der Querschnittabteilung vertreten, insbesondere auf der Intensivstation und in den ersten Tagen nach den chirurgischen Eingriffen. Während der Rehabilitation zieht sich die Medizin jedoch zunehmend aus dem Kurativgeschehen zurück und überlässt die therapeutischen Anstrengungen dem paramedizinischen Personal. Ärzte evaluieren die Therapiefortschritte und konzentrieren sich auf die Komplikationen, die sich aus der Querschnittlähmung ergeben. Mit der Behandlung von Frakturen, Spastiken, Inkontinenz, Hautproblemen oder Schmerzen zeigt der Arzt, dass er nicht an dem Zentralproblem des Querschnitts, der Regenerierung der Nervenstränge, arbeitet und der Patient in dieser Hinsicht nicht viel von ihm erwarten kann. Damit ist aber nicht verbunden, dass Patienten ein geringes Maß an Verpflichtungen übernehmen. Das Gegenteil ist der Fall: Rehabilitation ist ein verschärftes Behandlungsmilieu, was die Forderungen an die Patienten angeht, wobei das Personal systematisch Heilungserwartungen enttäuschen muss. Zur Notwendigkeit der intensiven Mitarbeit kommt die Notwendigkeit hinzu, die neuen Einstellungen mit veränderten Körpertechniken (im Sinn von Mauss 1975) zu verknüpfen und im Selbstkonzept zu stabilisieren.
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Das hat Konsequenzen für die Arbeitsteilung von ärztlichen, pflegerischen und paramedizinischen Tätigkeiten. Im Gegensatz zur Arbeitsteilung im Kurativmilieu wandelt sich der pflegerische Bereich von einem Rückzugsgebiet zu einem Kampffeld von Ansprüchen und Forderungen an den Patienten. Rehabilitation bedeutet aus pflegerischer Perspektive, dass Patienten neue Techniken erlernen, ihren Körper selbst zu pflegen. Besonders bezeichnend ist die Kontrolle der Ausscheidungen – eine zentrale Tätigkeit für die Pflegekräfte und ein unangenehme für die Patienten. Patienten erwarten, dass das Ausscheidungsmanagement, Blasenkathetern und Darmentleerung, vom Pflegepersonal schnell, sauber und diskret durchgeführt wird. Dabei distanzieren sie sich von ihren eigenen Verunreinigungen, indem sie sich während der Pflegetätigkeiten ablenken (zu den Distanzierungstechniken vgl. auch Dreßke 2005). Eine Aufgabe der Rehabilitation ist es aber, dass Patienten ihr Ausscheidungsmanagement soweit wie möglich selbst beherrschen. Dies kann allerdings nur erfolgreich sein, wenn sie ihre Beeinträchtigung auch im Selbstbild verankern, so dass selbstverständliche Handlungsabläufe möglich werden. Zu welchen Schwierigkeiten es kommen kann, zeigt folgendes aus den Beobachtungen kondensiertes Fallbeispiel von Herrn Gabriel, einem 21-jährigen Patienten, der sich in der Erstbehandlung befindet. Zunächst wird Herr Gabriel, wie alle anderen erstbehandelten Patienten, auch vom Pflegepersonal kathetert, was dem Patienten keine Schwierigkeit zu bereiten scheint. Nachdem sich Herr Gabriel auf der Station etwas eingelebt hat und etwas selbständiger geworden ist, z. B. mit dem Rollstuhl zu den Therapien fährt, regt das Pflegepersonal an, dass er das Kathetern selbst ausführt. An das Kathetern wird er von den Pflegekräften langsam herangeführt, indem sie die Pflegetätigkeiten nicht mehr bei seiner stillschweigenden „Abwesenheit“ ausführen. Vielmehr wird der Patient zunehmend daran beteiligt. Zuerst werden ihm die einzelnen Schritte erklärt, so dass Herr Gabriel ihre Bedeutung ermessen kann: sterile Handschuhe anziehen, Penis desinfizieren, Katheter in die Harnröhre einführen. Alsbald übernimmt Herr Gabriel schon einige Schritte selbst, ihm widerstrebt allerdings das Einschieben des Katheters in die Harnröhre, obwohl er nach eigener Aussage den Penis nicht fühlt. Die Pflegekräfte vermuten eine emotionale Überforderung, die sie zwar nachvollziehen können, aber nicht akzeptieren. Schließlich eskaliert der Konflikt zwischen Patient und den Pflegekräften, als der Versuch eines Pflegers kläglich scheitert, dem Patienten das Kathetern beizubringen. Herr Gabriel verliert die Fassung, als er versucht, den Katheter in die Harnröhre zu schieben. Die Prozedur muss vom Pfleger beendet werden, auch ihm gelingt es nicht auf Anhieb. Anschließend reagiert der Pfleger abweisend, fast wütend. Der Pfleger tröstet Herrn Gabriel nicht (wie zu erwarten wäre), sondern schlägt nur den Besuch des Psychologen vor. Nach diesem Fehlschlag wird das Katheternlernen zwei Wochen ausgesetzt, bis der Patient von anderen Pflegekräften wieder herangeführt wird.
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Patienten nehmen an, dass die Kontrolle der Körperausscheidungen weiterhin zu den Selbstverständlichkeiten gehört, die von den Pflegekräften übernommen werden – sie werden ja wieder gesund. Damit sehen sie sich selbst im Rückzugsraum einer auf Wiederherstellung ausgerichteten Krankenrolle. Dieser Schutzraum wird aufgebrochen, wenn verlangt wird, dass Patienten neue Techniken der Körperausscheidungen zu lernen haben. Dies ist deshalb so problematisch, weil die Körperausscheidungen zu den unhinterfragbaren zivilisatorischen Selbstverständlichkeiten gehören und es sich in besonders drastischer Weise zeigt, dass der Körper nicht mehr automatisch funktioniert. Im Nicht-LaufenKönnen wird zunächst die zentrale Einbuße gesehen. Patienten müssen nun lernen, dass die Gefahren der Behinderung für die Aufrechterhaltung ihrer Würde in den Intimbereichen liegen. Ist das Ausscheidungsmanagement habitualisiert, ist eine zentrale Passage zur Rehabilitandenrolle und später zur Behindertenrolle durchlaufen. Die zu erlernenden Ausscheidungstechniken stellen in besonderer Weise einen Angriff auf die männliche Geschlechtsidentität dar. Hier sieht das Personal auch die Ursache der Widerständigkeit des Patienten. Für Herrn Gabriel sei es schon diskreditierend genug, nicht wie üblich urinieren zu können, noch schlimmer nun, dass er auf diese Weise selbst an sich Hand anlegen muss. Er kann sich nicht mehr von den Pflegeverrichtungen distanzieren und so tun, als ob nichts wäre. Mit dem selbständigen Ausführen des Katheterns wird dem Patienten nun klar, dass tiefverwurzelte Dimensionen seiner Identität vom körperlichen Unvermögen betroffen sind (vgl. zur Konzeption der hegemonialen Männlichkeit Connell 2006). Professionelle Macht demonstrierend nimmt das Personal in Kauf, dass Herr Gabriel nach dieser Degradierung einige „schlechte“ Tage hat, in denen er sich deprimiert zurückzieht und ihm vorgeführt wird, wie brüchig seine „alte“ Identität ist. Das Personal findet allerdings Kompromisse, mit denen diese brüchige Identität stabilisiert wird. Die Widerständigkeit des Patienten, die zunächst als psychische Disposition gesehen wurde, wird später auf eine anatomische Anomalie der Harnröhre (einen „Knick“) zurückgeführt, die das Einführen des Katheters erschwert. Aufgrund dessen hätte Herr Gabriel auch Angst gehabt, sich zu verletzen. Mit dieser Begründung wird der Patient in die Lage versetzt, im Nachhinein sein Gesicht zu wahren. Es sind immerhin handfeste, sachliche und maskulin zugewiesene Probleme, die er nun überwunden hat. Zumindest in diesem Punkt kann Männlichkeit aktualisiert und der Patient geschützt werden. Hier findet ein Wechselspiel zwischen Degradierung und Gratifikation, zwischen Abweisen und Zuweisen von Identitätsansprüchen statt. Abgewiesen
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wird die alte männliche gesunde Identität, zugewiesen und verstärkt dagegen eine behinderte und beschädigte Identität, in der Männlichkeit trotzdem dramatisiert werden kann (vgl. auch Lüke 2006). Bei den wenigsten Patienten treten diese Konflikte in solcher Stärke auf. Das Beispiel zeigt aber, mit welcher Routine die Widerständigkeit des Patienten überwunden wird. Das überaus harsche Vorgehen des Pflegers wird weder vom Arzt noch im Pflegeteam kritisiert, wenngleich er sich selbst für einige Zeit aus der Patientenbetreuung zurückzieht. Es ist schlicht gefordert, dass Herr Gabriel im Zeitplan bleibt, und das heißt, dass er Kathetern lernt und zwar nicht erst am Ende seines Krankenhausaufenthalts. Eigentlich ist an dem Problem nichts Neues: Pflegekräfte mussten immer schon die von den Patienten ungeliebten ärztlichen Anordnungen durchsetzen und für Disziplin auf ihren Stationen sorgen. In besonderer Weise müssen Patienten jedoch ihre körperlichen Defizite aufnehmen, wobei sie die selbständige Ausführung intimer Verrichtungen gerade nicht als eine Verbesserung sehen – zumindest nicht sofort. Im Beispiel geht es mit der Ausscheidungskontrolle weniger um einen ärztlichen, sondern um einen pflegerischen Arbeitsbereich, für den die Pflegekräfte im Rahmen der ärztlichen Aufsichtspflicht zuständig sind. Der Erfolg bzw. Misserfolg in der Zuweisung neuer Identität wird also direkt dem Pflegepersonal und nicht dem Arzt zugeschrieben. Die konfliktbehafteten Aushandlungen zur Zuweisung der Rehabilitandenrolle setzen sich in den therapeutischen Settings der Krankengymnastik und der Ergotherapie fort. Obwohl die Anforderungen für die Patienten nachvollziehbarer sind als in den pflegerischen Tätigkeitsbereichen, werden doch auch hier unterschiedliche Botschaften vermittelt. Einerseits gibt es Therapien, die sich nach Auffassung des Patienten seiner Wiederherstellung widmen, andererseits solche, die die Dauerhaftigkeit der Behinderung festschreiben. In einer traditionellen Krankenrolle können sich Patienten bei Therapien sehen, in denen sie den „passiven“ Part übernehmen, etwa bei der Elektrostimulation, Ergometertraining (elektrisches „Fahrradfahren“) und Vojtamassagen. Mit diesen Therapien kann die Hoffnung verbunden sein, dass die ursächliche Schädigung für den Querschnitt, die Unterbrechung der Nervenleitung, wieder repariert wird. Schnell lernen Patienten, dass Körperfunktionen an die Nervenreizleitung gekoppelt sind und entwickeln Vorstellungen von unterbrochenen Nervensträngen, deren Enden sich gegenseitig suchen, um sich wieder verknüpfen können. Obwohl Therapeuten als auch Ärzte dem Patienten darüber aufklären, dass die Regenerierung der Nerven unabhängig von den therapeutischen Anstrengungen ist, wird auch das Bild vermittelt, dass durch krankengymnastische Übungen die
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„Erinnerung“ der Nervenbündel geweckt würde und so ihr Zusammenwachsen unterstützt werden. Zwar richten sich die Therapien nicht primär an die Widerherstellung der Nerven, sondern an die Stärkung bestehender Körperfunktionen, dennoch werden Patienten in ihren Aspirationen zur Gesundung unterstützt. Therapeuten und Ärzte nehmen zunächst eine indifferente und abwartende Haltung ein und unterstützen damit die Motivation der Patienten, sich an Therapien aktiv zu beteiligen. Neben den „Nerven“ gibt es den wichtigeren Therapiebereich der „Muskeln“, in denen die Patienten weitaus stärker in ihrer Eigenbeteiligung gefordert sind und ein Höchstmaß an körperlichen Leistungen erbringen müssen. Krankengymnasten sprechen wiederholt von „Hochleistungssport“. Die Motivation hier mitzuarbeiten ist am größten, da in der Wahrnehmung der Patienten die Chance besteht, dass ganz unmittelbar am Laufen gearbeitet wird, etwa durch Übungen am Laufband. Die Motivation der Patienten zur Therapieteilnahme sinkt, je weiter sich die therapeutischen Übungen vom Ziel des Laufens entfernen. Die Patienten werden zu Akteuren ihrer eigenen Wiederherstellung, wenn schon die Heilungserwartungen von den Ärzten enttäuscht werden. Voraussetzung dafür ist allerdings eine angemessene Körperbeherrschung durch den Aufbau der Oberkörpermuskulatur, womit wiederum die aktive Auseinandersetzung mit dem Behindertsein forciert wird. Zum Zeitpunkt der ersten Laufbandübungen haben dann schon die ersten Adaptionen an die Beeinträchtigung stattgefunden. So führt die Krankengymnastik vor Augen, wie fremd der Körper geworden ist und wie wenig sich die unteren Extremitäten noch dirigieren lassen. Auch im Therapiebereich der „Muskeln“ werden Fortschritte von Patienten und Therapeuten unterschiedlich bewertet. Während Patienten ihre unbeholfenen Bewegungen als Laufen interpretieren, sind die Therapeuten skeptischer und sehen hier nur die erstarkte Hüftmuskulatur, die die Beine voran schiebt. Über Herrn Gabriel, der große Hoffnung an seinen Fortschritt verbindet, wird von einem „Scheinfußgänger“ gesprochen.
4. Rehabilitation als Motivationsarbeit Will man das Konzept der „totalen Institution“ auf Rehabilitationsabteilungen anwenden, so lässt sich eine Arbeitsteilung von verwahrenden und therapeutischen Tätigkeitsbereichen beobachten (vgl. Goffman 1991). In der Selbstwahrnehmung üben Pflegekräfte therapeutische, wenn nicht auch pädagogische Tätigkeiten aus, vermitteln sie den Patienten doch zentrale Fähigkeiten zur Selb-
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ständigkeit. Aus der Patientenperspektive gehört die Pflege jedoch zum bewachenden Personal, das Disziplin, Tagesabläufe und Organisationsroutinen sicherstellt. Zur Dimension der „Bewachung“ gehört auch, dass fast alle Informationen über den Patienten auf der Station zusammenlaufen und so das Pflegepersonal über den Gesamtzusammenhang von therapeutischen Fortschritten und moralischem Zustand in Kenntnis gesetzt ist. „Verwahrung“ ist nicht nur eine territoriale Kategorie, bezogen auf die Disziplinierung der Patienten im Krankenhaus, „Verwahrung“ bezeichnet auch das dauerhafte Festschreiben des defizitär aufgefassten Körpers und hat damit eine zeitliche Dimension. Tatsächlich geht es in der Pflege viel stärker als in den Therapien um den moralischen Status der Patienten, denn hier ist es besonders wichtig, den Hoffnungen auf Wiederherstellung entgegenzuwirken. Die Orientierung auf Heilung würde die weitere Mitarbeit am Selbständigwerden entbehrlich machen. Demgegenüber werden die therapeutischen Tätigkeitsbereiche mit Fortschritt und Wiederherstellung in Verbindung gebracht, also aus Patientensicht dem eigentlichen Ziel ihres Aufenthalts. Trotzdem auch hier Adaptionen an die Beeinträchtigung forciert werden, besteht eine höhere Akzeptanz der therapeutischen Anforderungen. So sehen Patienten in den Berufsgruppen eine Rangordnung: „Die Pflege sind die Bösen, die Krankengymnasten die Guten“, wie ein Krankengymnast berichtet, der früher als Pfleger gearbeitet hat. Damit tut sich ein Konfliktbereich zwischen der pflegerischen und der therapeutischen Profession auf, der darin begründet ist, auf welche Weise Patienten zu den jeweiligen Anforderungen, der Mitarbeit am Therapieprogramm bei gleichzeitiger Akzeptanz der Behinderung, motiviert werden müssen. Das zentrale Problem der Rehabilitation Querschnittgelähmter ist keine medizinisches, es ist ein moralisches. Patienten haben während der Rehabilitation eine radikal veränderte Haltung zu ihrem Körper einzunehmen. Das schließt allerdings nicht aus, dass nach der erfolgreichen Rehabilitation Dimensionen „alter“ Einstellungen wieder kontinuiert werden. Individualisierende Strategien weisen den Patienten einen neuen Ort zu. Es wird von sozialen Verortungen und Bindungen ganz nach dem Modell der Biomedizin separiert, um den Körper in seiner Reinform und ohne störende Einflüsse zu diagnostizieren und zu behandeln. Während der Behandlung muss der Patient seinen Körper objektivieren und zumindest teilweise von seinem Selbst trennen. Ständig sind andere Menschen mit und an ihm beschäftigt, der gesamte Alltag wird durch andere gesteuert. Die reziproke Asymmetrie ist für beide Seiten, Experten und Patienten, eine identitätssichernde Handlungseinstellung: Experten können leidenschaftslos, gefasst und ohne Skrupel ihre behandlungsnotwendigen verletzenden Tätigkeiten
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ausüben, die immer auch Identitätsverletzungen sind, und Patienten können sich vor diesen Verletzungen schützen, indem sie sich distanzieren. Getragen wird die Objektivierung vom Konsens der Wiederherstellung, der aber bei einer Querschnittslähmung auf der Expertenseite aufgekündigt wird. Dadurch, dass die Körperareale, denen die pflegerische Sorge vornehmlich gilt, nicht mehr gefühlt werden bzw. dauerhaft objektiviert sind, kann sich die intrinsische Motivation verringern, den Körper als integriertes Ganzes wieder dem Selbst einzuverleiben und zu subjektivieren. Die Gefährdung besteht dann in der körperlichen Vernachlässigung und aufgrund dessen in wiederholter und, nach Maßgabe der Experten, selbstverschuldeter Behandlungsbedürftigkeit. Für den Patienten gibt es zunächst nur die Aussicht auf einen defizitären und fremden Körper, der dauerhaft Gegenstand medizinischer Behandlung ist. Die Arbeit des Personals richtet sich gegen diese Einstellung: Es wird eine neue zeitliche Perspektive jenseits der Wiederherstellung gegeben und daran gearbeitet, die unerträglichen Beeinträchtigungen in das Identitätskorsett aufzunehmen. Eine Aufgabe der Rehabilitation ist es also, trotz mangelnden Körpergefühls eine verletzungsfreie Körpersteuerung zu vermitteln. Nicht immer gelingt diese Neujustierung des nunmehr behinderten Körpers, wenn etwa die betroffenen Körperareale abgespalten und vom Selbst dissoziiert werden. Die Subjektivierung der Behinderung besteht in der Habitualisierung neuer Körpertechniken und der Bewusstmachung, dass der Körper weniger fremd ist – dies ist dann eine therapeutische Aufgabe. Mit dieser zumindest teilweisen neuen KörperIdentität können sich Patienten vergesellschaften. Der Ausschluss von Heilung bedeutet die Aufnahme behindertengerechten Verhaltens, sowohl was Einstellungen als auch was Körpertechniken betrifft. Diese werden zwar formal in Therapien gelernt, setzen aber zusätzlich auch Erfindungsgabe und den Lernmodus von „Versuch-und-Irrtum“ voraus.
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Zur Körpernormalisierung von Behinderung
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Kurt Möller
Ausstiege aus dem Rechtsextremismus. Wie professionelle Ausstiegshilfen Themen- und Bearbeitungsdiskurse über Rechtsextremismus (re)produzieren und modifizieren
1. Einleitung Der vorliegende Beitrag nimmt seinen Ausgangspunkt bei zwei Behauptungen, die mit Verweisen auf soziologisch-phänomenologische, interaktionstheoretische bzw. wissenssoziologische und konstruktivistische (Grundlagen-)Theorien so gut zu begründen sind, dass eine nähere Herleitung hier verzichtbar erscheint (vgl. Berger/Luckmann 1969; Berger/Pullberg 1965; Best 1995a, 2003, 2006; Holstein/Miller 1993; Schütz 1960; Schütz/Luckmann 1975, 1984). Zum Ersten: Die Bearbeitung sozialer Probleme greift nicht nur bereits vordefinierte soziale Probleme auf, sondern beeinflusst durch die Beschäftigung mit ihnen auch das Verständnis der sozialen Probleme selbst; Entsprechende Prozesse vollziehen deshalb in einem Doing social Problems. Zum Zweiten: Mittels eines Doing social Control werden im Rahmen von Problembearbeitungspraxen auch Auffassungen darüber produziert, welche konzeptionellen und praktischen Grundlagen, also vor allem welche Begründungen, Zielgruppen, Zielsetzungen, Methoden, Verfahrensweisen, Rahmenbedingungen und ggf. auch Evaluationssettings Aktivitäten der Problembearbeitung kennzeichnen (sollten). Im Folgenden sollen solche Prozesse des Doing social Problems und des Doing social Control exemplarisch auf dem Felde der Bearbeitung des gesellschaftlichen Problems „Rechtsextremismus“ in Deutschland verfolgt werden, genauer: bei der ideellen und praktischen Förderung der Distanzierungsprozesse von rechtsextremen Orientierungen, die sich professionelle Ausstiegshilfen bei ihrer Klientel zum Ziel setzen. Im Vordergrund steht dabei nicht das Bemühen, einen bestimmten theoretischen Ansatz aus dem Spektrum der sozialwissenschaftlichen Deutungsangebote für Institutionalisierungsprozesse empirisch zu
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untermauern. Vielmehr geht es eher umgekehrt darum, Erfahrungen und Beobachtungen der mit dieser Arbeit befassten Experten und Expertinnen in theoretische Kontexte zu stellen, um sie mit deren Hilfe zu deuten. Insoweit hier verschiedene theoretische Kontexte bemüht werden, die sich im Spannungsfeld zwischen ‚objektivistischen’ Soziale-Probleme-Theorien und konstruktivistischen Ansätzen auffinden lassen, wird eine Analyseweise gewählt, die auf der Ebene der von Joel Best (2006) als dritte Möglichkeit beschriebenen Ausrichtung der Problemsoziologie liegt, eine die z. B. von Lucia Schmidt als die „vielleicht vielversprechendste“ angesehen wird (2007: 29). Da es sich bei der Tätigkeit der Ausstiegshilfen aus dem Rechtsextremismus um ein i. e. S. empirisch noch äußerst unzureichend erforschtes Arbeitsfeld handelt – ein Umstand, der nicht zuletzt damit zusammenhängt, dass einerseits der Persönlichkeitsschutz der Aussteigenden besonders hohe Herausforderungen an thematisch einschlägige Forschungsvorhaben darstellt, andererseits den professionellen Einrichtungen (z. B. Verfassungsschutz, Justiz und Polizei) und den bei ihnen beschäftigten Akteuren selbst wenig an detailreicher Außendarstellung ihrer Vorgehensweisen in der Öffentlichkeit liegt –, wird hier auf Beobachtungen einiger professionell begleiteter Ausstiegsverläufe im Rahmen eines Forschungsprojekts zu Ein- und Ausstiegen rechtsextrem Orientierter (vgl. Möller/ Schuhmacher 2007; mit Abstrichen auch: Rommelspacher 2006), Darstellungen in der Aussteigerliteratur (u. a. Bar 2003; Fischer 2001; Greger 2005; Hasselbach 1993; Hewicker 2001; Lindahl/Mattson 2001; Schröder 2002; Zentrum demokratische Kultur 2002), Recherchen bei Ausstiegshilfen, Auswertungen zugänglicher Konzepte und Berichte (vgl. Bjørgo 2001, Innenministerium NRW 2003; Innenministerium Baden-Württemberg 2004; Landeskriminalamt 2002; Landesamt für Verfassungsschutz Sachsen 2006; Lindhal 2001; NCCP 2001; dazu auch Schelletter 2006) sowie auf informelle Gespräche mit Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in den Einrichtungen Bezug genommen. Nicht zuletzt wegen der insgesamt noch dürftigen Datenbasis, werden die so ermittelten Befunde hier als Thesen formuliert und zur Diskussion gestellt. Dabei wird die Untersuchung beschränkt auf die seit 2001 beim Bund bzw. bei den Ländern angesiedelten staatlich-institutionellen Hilfen und innerhalb dieser auf solche Programme, die (auch) sozialarbeiterische Fachkräfte beschäftigen. 1 Diese Beschränkung erscheint auch deshalb nötig, weil Organisationsfor1
Für in Teilbereichen ähnlich gelagerte Ausstiegshilfen siehe die private Initiative von EXIT ([http://www.exit-deutschland.de]), die Erstberatung von ARUG (siehe [http://www.arug.de]) und das pädagogische ‚Knastprojekts’ „Verantwortung übernehmen – Abschied von Hass und Gewalt“ (vgl. dazu Heitmann/Korn 2006).
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men der Arbeit sowie professionelle Regeln und Deutungsmuster, die in Institutionen der sozialen Problemarbeit gelten, einen wesentlichen Aspekt der Rahmenbedingungen sowohl des Doing social Problems als auch des Doing social Control darstellen. Es existieren jedoch sehr unterschiedliche Ausstiegshilfen unterschiedlicher Träger und unterschiedlicher professioneller Zusammensetzungen der Mitarbeiterteams – z. B. Ausstiegsprogramme in Händen der Landeskriminalpolizei (in Baden-Württemberg), bei Verfassungsschutzämtern (auf Bundesebene, in Sachsen und in Bayern), beim Landesjustizministerium (in Niedersachsen), bei Jugendbehörden und -einrichtungen (in Rheinland-Pfalz, wo das Landesjugendamt Träger ist oder in NRW, wo die Arbeitsgemeinschaft Kinder- und Jugendschutz koordinierend verantwortlich zeichnet). Hinzu kommt, dass sich auch die Zugänge und die Organisation der Hilfen für Ausstiegswillige sehr unterschiedlich darstellen. Sie erstrecken sich von der Konzentration auf Hotline- und Email-Adress-Angebote für Ausstiegsinteressierte und Bevölkerungshinweise (z. B. beim Landesamt für Verfassungsschutz Sachsen), über das Abwarten von Aussteigernachfrage (z. B. in NRW oder bei der privaten Initiative EXIT) bis hin zu Ansätzen aufsuchender Arbeit in der Szene (wie in Baden-Württemberg und Sachsen-Anhalt).
2. Thesen zum Doing Social Problems in Austiegshilfen 1.
Doing social Problems in Ausstiegshilfen (re)produziert als Diskursbeitrag: „Rechtsextremisten und -extremistinnen machen nicht nur Probleme, sie haben auch welche“
Bis in die 1990er Jahre hinein wurde in den Fachöffentlichkeiten derjenigen Professionen und Einrichtungen, die mit der Bearbeitung der Rechtsextremismus-Problematik befasst waren und sind, also etwa bei Verfassungsschutz, Polizei, Justiz, Sozialer Arbeit und Pädagogik, der Rechtsextremismus ganz überwiegend als soziale und politische Problemlage gesehen, die ihre Träger der Gesellschaft bescheren, nicht oder kaum aber als ein Phänomen, das seinen Trägern selbst zum Problem werden kann oder das erst durch sozialräumlich und individuell vorhandene Schwierigkeiten der Lebensbewältigung (zumindest mit) hervorgerufen wird. Noch heute bestimmt diese Sichtweise in weiten Teilen den medial veröffentlichten und politischen Diskurs. Entsprechend dominieren Auffassungen über Problembearbeitungen, die davon ausgehen, die Problematik ohne eine Fokussierung auf die individuellen Problemlagen angehen zu können, die diejenigen umtreibt, die anfällig sind oder gar als Problemträger öffentlich
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auffällig werden. Eine Auseinandersetzung mit den extrem rechten politischen Inhalten, den Lebenslagen und Lebensbewältigungsformen der als potenzielle oder reale Problemträger Identifizierten erfolgt dann nicht. Die Perspektive gipfelt in der Überlegung, dass man mit Partei- und Organisationsverboten oder weiteren rechtlichen Repressionen und Ausgrenzungen der als Rechtsextremisten Enttarnten oder Verdächtigten aus dem politischen Diskurs oder aus Einrichtungen der Sozialen Arbeit erfolgversprechend Problemlösungen betreiben kann. Der mediale Diskurs im Anschluss an die im Dezember 2008 auf den Passauer Polizeidirektor Mannichl begangenen Messerattacke, für die damals ein oder mehrere rechtsextremistische Täter vermutet wurden, ist ein gutes Beispiel dafür: Einmal mehr wurde mit Bezug auf das Verbrechen und seine mutmaßlichen Hintermänner nach einem Verbot der NPD gerufen, obwohl zunächst eher Hinweise auf eine potenzielle Täterschaft von Angehörigen der unorganisierten, im Jargon des Verfassungsschutzes „subkulturell gewaltbereit“ genannten Szene bzw. aus Kreisen von Mitgliedern der sogenannten „freien Kameradschaften“ verbreitet wurden. Nahezu gänzlich beiseite gedrängt wurde die Reflexion jener Argumente, die schon seit vielen Jahren gegen ein Verbot von rechtsextremen Parteien wie NPD, DVU und anderen in die Waagschale geworfen werden. Argumente wie die, dass erstens Organisationsverbote nicht das Weiterbestehen extrem rechter Mentalitäten und Einstellungen verhindern, dass zweitens ein Misslingen von Verbotsverfahren kontraproduktiv sein wird, weil es Legitimationszuwächse für die mit ihnen Überzogenen mit sich bringt, dass man drittens bestenfalls Zeitgewinne einfährt, weil Organisationsverbote allenfalls kurzfristig die Szene verunsichern, sie über kurz oder lang aber zu organisatorischen Umbenennungen und Umschichtungen führen, die an der personellen Substanz der extremen Rechten nicht viel ändern, dass viertens solche Umschichtungen sogar die Gefährlichkeit der extremen Rechten für die Demokratie durch ein Abdrängen radikaler Akteure in Militanz oder gar Terrorismus noch verschärfen könnten, kulminieren letztlich in der Auffassung, dass eine symptomfixierte Symbolpolitik ursachenbezogene Strategien nicht ersetzen kann. Allein schon die Existenz von Aussteigerprogrammen – wie im übrigen auch die von Projekten aufsuchender Arbeit mit rechtsextremistisch orientierten Jugendlichen (vgl. dazu etwa Bleiß et al. 2004; Gulbins et al. 2007) – hingegen signalisiert: Rechtsextremistisch Orientierte haben selber Probleme, denn sonst müsste man ihnen ja keine Hilfen anbieten: Probleme mit ihrem Rechtsextremismus und Probleme in ihren Lebensverhältnissen und -vollzügen ‚hinter’ ihrem Rechtsextremismus. Sie macht deutlich: Solange diese Probleme nicht ge-
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löst werden, bleibt Rechtsextremismus attraktiv und eine Ablösung von ihm unwahrscheinlich. Das bloße Vorhandensein von problemgruppenbezogenen Bearbeitungsinstanzen wie Ausstiegshilfen ist offenbar Indiz für die gesellschaftliche Legitimität eines bestimmten Problemverständnisses. Genauer: Je mehr, je flächendeckender und je dauerhafter sich ein spezifischer Problemumgang institutionell verfestigt und er selbst staatlich organisiert bzw. staatlich finanziell gestützt wird, um so deutlicher wird die gesellschaftliche Anerkennung jener Problemwahrnehmung zum Ausdruck gebracht, die ihm zu Grunde liegt. Von dieser Spitze der „Problemkarriere“ aus (vgl. Schetsche 1996) erfolgen Rückwirkungen auf die gesellschaftlich verbreiteten Vorstellungen von dem sozialen Sachverhalt, der als das soziale Problem ‚Rechtsextremismus’ gedeutet wird. Freilich haben sich die intra- und interinstitutionell geltenden Problemdeutungen konkurrierenden Definitionen und Interpretationen auch auf größeren Wissensmärkten zu stellen, auf denen einschlägige Themen verhandelt werden (vgl. Nullmeier/Rueb 1993). Soweit Wissensmärkte über institutionelle und professionelle Grenzen hinausreichen und eine allgemein zugängliche massenmedial organisierte Öffentlichkeit darstellen, kommen Aspekte gesellschaftlicher Deutungsmacht und spezifische Regeln der Thematisierung sozialer Probleme ins Spiel. Sie können etwa dazu führen, dass in den Reihen politisch Verantwortlicher – aus welchen Gründen im einzelnen auch immer – Wissens- und Deutungsbestände vorherrschend bleiben, die in den Fachöffentlichkeiten vielfach als inadäquat, anachronistisch oder zumindest auf dem Hintergrund der Intention erfolgreicher Problembearbeitung als einseitig und insgesamt wenig zielführend betrachtet werden. 2.
Aussteigerprogramme stellen Institutionalisierungen eines Deutungsmusters des Rechtsextremismus dar, das die unmittelbare Arbeit mit den Individuen ins Zentrum ursachenbezogener Strategien stellt.
Die Praxis der Ausstiegshilfen setzt ein Wissen darüber voraus, dass erstens individuelle und kollektive Abwendungen von rechtsextremen Haltungen solange nicht erfolgen, wie die Probleme ungelöst bleiben, die im biographischen Prozess zu rechtsextremistischen Hinwendungen geführt haben, und das zweitens entsprechende Problembearbeitungen ohne Unterstützung für die Träger und Trägerinnen dieser Probleme ausbleiben oder allenfalls zufällig erfolgen. Damit wird unterstellt, dass Rechtsextremismus nicht hinreichend makroanalytisch als gesamt-gesellschaftliches Phänomen zu begreifen ist, sondern er einen politisch-kulturellen Sachverhalt darstellt, dessen Genese und Kontrolle vor al-
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lem mikroanalytisch in den Prozessen zu verfolgen ist, die sich in den ‚kleinen Lebenswelten’ (Benita Luckmann) abspielen. In mindestens einem zweifachen Sinne wird so das politisch-kulturelle Problem ‚Rechtsextremismus’ als ein soziales Problem in einer spezifischen Form begriffen: Zum ersten werden entsprechende Einstellungen und Verhaltensweisen als Resultate von Sozialisation gedeute, also als Ergebnisse eines Prozesses der produktiven Auseinandersetzung eines aktiven Subjekts mit seiner natürlichen, sächlichen und sozialen Umwelt (vgl. Hurrelmann 2002). Zum zweiten und durchaus damit zusammenhängend wird aber auch deutlich, dass es sich um eine mehrheitlich als unerwünscht bezeichnete Symptomatik handelt, deren Entstehungs- und Entwicklungshintergrund mit weiteren sozialen Problemen zusammenhängt. Der Ursachenbezug einer auf die Problemträger ausgerichteten Bearbeitungsstrategie ist also nicht nur durch einen Verursacher-Bezug abgedeckt. Vielmehr ist er im Schwerpunkt darauf ausgerichtet, einerseits die Rechtsextremismus begünstigenden strukturellen Voraussetzungen in den Lebensbedingungen der Betroffenen abzubauen und andererseits den Prozess der Erfahrungsproduktion und der subjektiven und milieubezogenen Erfahrungsstrukturierung so zu beeinflussen, dass rechtsextreme Haltungen letztendlich keine Optionen mehr sind, die individuell problembewältigungs- und lebensfunktional erscheinen. Ausstiegshilfen stehen somit für eine Strategie sozialer Kontrolle, die gleichermaßen auf sozialisatorische Weichenstellungen wie auf infrastrukturelle Änderungen setzt, diese aber im unmittelbaren Kontakt mit den Trägern und Trägerinnen der Probleme und in Koproduktion mit ihnen alltagsbezogen vornimmt. Ungeachtet dessen, wie sich im Konkreten diese Bearbeitungsstrategie umsetzt und ob sie durch Strategien politischer Einmischung ergänzt wird, die die Verantwortung anderer Akteure, z. B. von Politikerinnen und Politikern, für demokratiefreundliche Lebensbedingungen, herausfordern: Allein dieser Zuschnitt und seine durch staatliche Förderung und Institutionalisierung belegte zunehmende gesellschaftliche Anerkennung auch über Modellprojektphasen hinaus – wie z. B. neuerdings bei der „Aussteigerhilfe rechts“ in Niedersachsen – fundiert Kontrollstrategien, die in dieser Weise vorgehen. So wie eine bestimmte Problemdeutung durch die bloße Existenz von Aussteigerprogrammen und das Wissen um sie in spezifischer Weise genährt wird, so erhält auch der Diskurs über geeignete Maßnahmen ‚gegen rechts’ schon durch die bloße soziale Tatsache vorhandener Kontrollstrategien des erwähnten Zuschnitts Impulse. Zu ihnen gehört, dass eine ausschließliche Konzentration auf zivilgesellschaftliche Strategien der Stärkung des demokratischen Gemeinwesens unzureichend ist (vgl. auch Lynen van Berg/Palloks/Steil 2007) und die Förderung zivilgesell-
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schaftlicher Aktivitäten nicht gegen eine Arbeit mit dem Problemklientel ausgespielt werden darf. 3.
Die Institutionalisierung von Ausstiegshilfen verdeutlicht: Das soziale und politische Problem „Rechtsextremismus“ ist nicht nur partei-, organisations-, ja nicht einmal nur szenen- und cliquenverhaftet, sondern wird auch von Individuen getragen
Insofern sich Ausstiegshilfen explizit im Kern ihres Aufgabenspektrums um Einzelfälle kümmern, bringt ihre Arbeit zum Ausdruck, dass die Problematik ‚Rechtsextremismus’ sich nicht nur in Wahlerfolgen rechtsextremer Parteien, im Auftreten von Organisationen, in rechtsextremer Propaganda und in Horden Unruhe stiftender rechter Demonstranten zeigt. Sie dokumentiert außerdem: Nicht erst szenemäßige Vernetzung und kollektiver Zusammenschluss in rechten Cliquen machen die Problematik aus. Sie ruft eigentlich Banales ins Bewusstsein: Wenn nicht einzelne Subjekte irgendwann im biographischen Verlauf ihres Lebens die Entscheidung treffen würden, sich rechtsextrem zu orientieren, gäbe es die Problematik nicht. Bearbeitungsstrategien müssen also die Ebene des Individuums erreichen. Im sozialarbeiterischen und sonstigen Diskurs über geeignete Bearbeitungsweisen sozialer Probleme stärken die Ausstiegshilfen damit jenen den Rücken, die neben Gemeinwesen-, Gruppen-, Cliquen- und Szenearbeit mit Problemträgerinnen und -träger der Einzelfallhilfe eine Schlüsselrolle zuweisen. Dabei ist an eine Einzelfallhilfe zu denken, die in Arbeit an der Biographie besteht und darauf abzielt, Subjekte zu befähigen, im eigenen Leben biographische Weichenstellung in Richtung auf Gewaltfreiheit und demokratische Überzeugungen vorzunehmen. Auch hier gilt wiederum: Bereits bevor alltägliche und institutioneninhärente Deutungsmuster sowie konkrete Interaktionsweisen und -regeln zu analysieren sind, um den innerhalb der konkreten Arbeitstätigkeiten sich vollziehenden Definitionsprozess der sozialen Problematik ‚Rechtsextremismus’ und von sozialer Kontrolle überhaupt in seinem jeweils vorläufigen Status zu identifizieren (vgl. Holstein/Miller 1993), strukturiert die Anlage der Hilfen selbst den Hilfeprozess in bestimmter Weise vor. Die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen der einschlägigen Organisationen und Institutionen (be)finden sich in einem Setting, das ihre Wahrnehmungs- und Definitionsprozesse nicht voraussetzungsfrei erscheinen lässt (vgl. auch Best 1995b: 346 ff.). Es verleiht ihnen – unter Umständen sogar auch gegen ihren Willen – einen Rahmen, von dem im praktischen Handeln nicht abstrahiert werden kann. Das Problem rechtsextremer Orientierungen und Verhaltensweisen selbst muss zwangsläufig als ein biogra-
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phisch zustande gekommenes und biographisch zu überwindendes verstanden werden. Und: Ausstiegshilfen sind keine Ausstiegshilfen, d. h. sie sind nicht als solche zu verstehen und zu bezeichnen, wenn sie nicht – zumindest auch – Arbeit mit Individuen und an Biographien sind. 4.
Erfolgsmeldungen von Ausstiegsprogrammen signalisieren in den öffentlichen und fachöffentlichen Diskurs hinein: Ausstiege sind möglich, sie befördernde Interventionen nutzbringend
Ausstiegsprogramme bekunden Erfolge: Sie vermögen es, Rechtsextremisten den Ausstieg aus der Szene schmackhaft bzw. beschreitbar zu machen. Egal, ob die Erfolgskriterien klar, eindeutig und vielleicht sogar offensichtlich überzeugend definiert sind, egal auch, woran der Erfolg im einzelnen und in der Gesamtheit gemessen wird: Die Tatsache, dass von offizieller Seite aus, d. h. von staatlichen und damit von den meisten noch als vertrauenswürdig angesehenen Institutionen ‚Erfolg‘ vermeldet, gelegentliche Rückschläge und die Kosten dieser als positiv gewürdigten Effekte als tragbar betrachtet werden und eben deshalb die Arbeit dauerhaft weiterbetrieben wird, legitimiert in den Augen der Öffentlichkeit die Tätigkeit der Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen in den Ausstiegshilfen im Grundsatz. Damit wird ein Bild über Chancen der Problembearbeitung erzeugt, das verdeutlicht: Neben ordnungs- und strafrechtlicher Repression – und ggf. auch in Kombination eben damit – ist in einer Vielzahl von Einzelfällen eine Distanzierung von rechtsextremistischen Aktivitäten und Zusammenhängen über die Gewährung individueller Begleitung im Ausstiegsprozess möglich. Dabei wird kommuniziert und positiv registriert, dass diese Einzelfälle auch den so genannten ‚harten Kern‘ der Szene betreffen. So kann der sich der Eindruck festsetzen, dass die Bemühungen zum ‚Austrocknen‘ der Szene beitragen; dies vor allem deshalb, weil davon ausgegangen werden kann, dass nahezu jeder Aussteiger multiplikatorisches Potenzial besitzt, d. h. mindestens rd. 10 Personen aus seinem politischen Umkreis mitreißt oder sie wenigstens in den bisherigen politischen Zuordnungen zu irritieren vermag und über diese Irritation erste Ausstiegsüberlegungen anstößt. Insgesamt zeigen die vermeldeten Erfolge der Programme mindestens zweierlei auf. Erstens: Rechtsextremismus ist zurückdrängbar und ist nicht zwangsläufig eine Sackgasse der politischen Biographie, aus der es kein Entrinnen mehr gibt. Zweitens: Es macht Sinn, zur Unterstützung solcher biographischer Entwicklungen (tendenzieller) (Re-)Demokratisierung der politischen Orientie-
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rung mittels öffentlicher Gelder und des Einsatzes staatlicher Stellen Hilfeleistungen bei den Prozessen der Distanzierung zu gewähren. Fassen wir die für die Theoriebildung sozialer Problemarbeit interessanten Erkenntnisse der Thesen 1-4 zusammen, so lässt sich festhalten: Allein der Umstand, dass professionelle Ausstiegshilfen existieren, produziert ein bestimmtes Verständnis vom sozialen Problem ‚Rechtsextremismus’ sowie ein bestimmtes Verständnis von sozialer Problemarbeit in diesem Feld. Die (Re-)produktion von Problemdeutungsmustern sowie von Vorstellungen und Praxen sozialer Kontrolle durch die professionellen Kräfte und ihre Interaktionen mit ihrer Klientel werden durch diese soziale Tatsache unhintergehbar gerahmt. Die Faktizität der damit gegebenen Strukturen ist nicht in kulturalistischkommunikative Zuschreibungen und Sprachspiele auflösbar. Sie beschränkt die Wahrscheinlichkeit und Vielfalt von Praxen und Deutungen schon bevor die Variationsbreite jeweils aktueller institutionentypischer Interaktionen durch professions- und/oder institutionenspezifische Tradierungen normativ-kultureller Interpretationsmuster und ihrer Inhalte, vermeintliche Selbstverständlichkeiten, Regelhaftigkeiten von Tätigkeitsabläufen, Routinen, Rezeptwissen u. ä. m. Begrenzungen erfährt. Eine strikt konstruktivistische Sichtweise auf die Genese sozialer Probleme und die Prozesse der sozialen Problemarbeit (vgl. etwa Ibarra/Kitsuse 1993) würde diese nur vermeintlich ‚objektive’ Bedingung negieren und als sprachlich konstituierte Bedingungskategorie begreifen. Sie könnte anführen, dass das, was hier als reale Existenz des sozialen Problems ‚Rechtsextremismus’ und als reale Existenz von darauf bezogenen Ausstiegshilfen bezeichnet wird, letztlich als Produkt von vor allem kognitiven und kommunikativen Konstruktionsleistungen sich diskursiv austauschender Subjekte zu verstehen ist. Selbst wenn man der konstruktivistischen Perspektive so weit folgen würde, erhöbe sich die Frage, welche Stellenwerte der subjektiv erfahrenen materiellen Beschaffenheit der Welt, dem ontologischen Körper-Bezug und der Historizität sowohl der gesellschaftlichen Entwicklung als auch des individuellen Daseins zugemessen werden. Will man sich bei Antworten auf sie ‚unterhalb’ erkenntnistheoretischer Argumentsebenen bewegen – und dies liegt praxeologisch nahe –, so ist mit Joel Best in Erinnerung zu rufen, dass es nicht als bloßer Zufall zu betrachten ist, dass bestimmte Personen mit bestimmten Gründen und bestimmten sprachlichen Begriffen und Mustern zu bestimmten historischen Zeitpunkten bestimmte Probleme aufgreifen (Best 1995b: 346). Im Sinne des von ihm propagierten kontextuellen Konstruktivismus wird forschungspraktisch – wenn man so will – neben der Konstruktion von Realität auch die „Realität von Konstruktionen“ berück-
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sichtigt (Albrecht 2001: 143). Eben dies erscheint für die Analyse von Praxis unumgänglich, treten doch die Bedingungen der Praxis ihren Akteuren als historisch gewachsene Strukturen entgegen, die sich als Faktizität sehr weitreichend Geltung verschaffen (vgl. auch Groenemeyer 2007). Hier zeigt sich das nicht zu hintergehende Faktum der Historizität von Erfahrung. Wissenssoziologisch betrachtet erfordert es eine „systematische Berücksichtigung der dialektischen Beziehung zwischen struktureller Wirklichkeit und menschlicher Konstruktion von Wirklichkeit in der Geschichte (Berger/ Luckmann 1969: 198; Hervorhebung K.M.). Es schlägt sich in Bezug auf Institutionalisierungsprozesse darin nieder, dass die ihnen innewohnenden impliziten Objektivierungen, die über Habitualisierungen, Routinisierungen und Typisierungen erfolgen, für diejenigen, die sie unmittelbar externalisierend konstruieren noch als fluide, in Emergenz begriffen und veränderbar erfahrbar sind (jedenfalls soweit sie nicht in „Entfremdung“ übergegangen sind), während sie den später in diesen Prozess eintretenden Akteuren zunehmend als „verhärtete“ und „verdichtete“ Objektivationen entgegentreten. Letztere bilden für sie entweder in der Form von „Vergegenständlichungen“ oder gar in Gestalt von „Verdinglichungen“ eine ‚objektive Welt’, die dazu herausfordert, sich sozialisatorisch mit ihr auseinanderzusetzen (vgl. Berger/Pullberg 1965; Berger/Luckmann 1969). Aus soziologisch-phänomenologischer Sicht hat der in diesen Objektivationen aufgehobene „gesellschaftliche Wissensvorrat“ „empirische Priorität“, während dem „subjektiven Wissenserwerb“ „grundsätzliche Priorität“ zugeschrieben wird (Schütz/Luckmann 1975: 134). Bekanntlich sind nach dem ThomasTheorem die Folgen von Situationen spätestens dann real, wenn Menschen die Situationen als real definieren (Thomas/Thomas 1928: 572). Daraus lässt sich schlussfolgern: Selbst wenn kontextuelle Bedingungen von (in unserem Falle institutionelle) Praxen als Resultate von im wesentlichen vorgängigen Konstruktionsleistungen zu begreifen sind, so treten sie doch den mit ihnen in späteren Reifikationsstadien Konfrontierten in der Struktur von Objektivationen entgegen. Mit Bezug auf die hier fokussierte Problematik heißt dies: Vorhandene und die Arbeitsstrukturen der Institutionen ausrichtende Definitionen von Rechtsextremismus als soziales Problem treten als Gegenstände des gesellschaftlichen Wissens, institutionalisierte Deutungsmuster und Formen sozialer Problemarbeit, wie die der Ausstiegshilfen, als mehr oder weniger gut auf sie gemünzte Vergegenständlichungen auf, d. h. als soziale Tatbestände, dessen Charakter als Produkte menschlicher Konstruktionsleistungen nicht mehr wahrgenommen wird. Schon dieser Grad von Objektivation bringt ein gewisses Beharrungsvermögen in sich und suggeriert relativ dauerhaft die Legitimität der
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die Institutionen leitenden Definitionen und Problemzuwendungen. Dies gilt zumindest solange wie der Umgang mit ihnen nicht zu Irritationen der mit ihnen verbundenen Kontinuitätsidealisierungen (vgl. dazu Schütz/Luckmann 1975) führt, wie sie nachvollziehbar kommuniziert werden und wie sie im Kräftespiel der thematisch einschlägigen Wissensmärkte bestehen können. Dass wiederum die unter den Thesen 1-4 abgehandelten Deutungsmuster und Praxisausrichtungen vor allem auf den Wissensmärkten sozialwissenschaftlich informierter Fachlichkeiten, also u. a. etwa im Rahmen des Fachdiskurses über geeignete Konzepte Sozialer Arbeit, durchsetzungsfähig sind, kann damit in Zusammenhang gebracht werden, dass hier vor allem Sozialisation gestaltende, subjektorientierte und biographische Ansätze vorherrschen und als adäquate Antworten auf gesamtgesellschaftliche Entwicklungen wie Modernisierung und Individualisierung angesehen werden. In einer Gesellschaft, in der zunehmend den Individuen und weniger den Kollektiven Entscheidungsoptionen und -zwänge zukommen, Orientierungen dafür aber immer weniger aus einer Berufung auf weit geteilte, als selbstverständlich geltende oder gar Allgemeingültigkeit beanspruchende Normen bezogen werden können, wird vor allem die eigene Biographie zum Referenzpunkt des Orientierungsaufbaus. So wie die rechtsextreme Affinisierung und ggf. auch die Konsolidierung und Fundamentalisierung im Kontext sozialisationsrelevanter biographischer Erfahrungen und ihrer subjektiven Sedimentierungen gesehen wird, so wird auch der Prozess der Distanzierung als eine individual-biographische Entwicklung betrachtet, die auf Selbstthematisierungen beruht. Letztere so zu unterstützen, dass sie zur Gewinnung politischer Reflexivität führt, ist dementsprechend der zentrale Ansatzpunkt von Interventions- (und im Übrigen auch von Präventions-) Strategien. Zumindest innerhalb dieser Fachöffentlichkeiten verblasst damit die Überzeugungskraft von Bearbeitungsweisen sozialer Probleme, die sich (allein) auf rechtliche Regelungen und Repression konzentrieren. 5.
Die Institutionalisierung von Ausstiegshilfen facht nolens volens die Debatte über Ausstiegsdefinitionen, potenziell auch über die eigene professionelle Identität an
Was soll man als Ausstieg aus dem Rechtsextremismus begreifen: Das Ablegen eines entsprechenden Outfits und das Ändern der Frisur? Das Abschwören vom Skinhead-Kult? Das Nichtmehrverbinden von rechter Einstellung und Gewalt? Das Strafrechtlich-nicht-(mehr)-einschlägig-in-Erscheinung-Treten? Den Aufbau und das Halten von Partei- bzw. Organisations- und Szenedistanz? Oder die
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grundlegende und als dauerhaft einzustufende Veränderung von Mentalitäten und Einstellungen im Sinne ihrer (Re-)Demokratisierung? Fragen wie diese kommen zwangsläufig spätestens dann auf, wenn Zielformulierungen von Erlassen und/oder Förderprogrammen in konkrete Praxis übersetzt werden müssen – und dies in unterschiedlichen Institutionen mit unterschiedlicher professioneller Besetzung. Wenn dies etwa die Polizei tun muss, weil sie – wie etwa in Baden-Württemberg, Hessen oder Sachsen-Anhalt – Träger eines Ausstiegsprogramms ist, gelangen Grundsatzfragen aufs Tapet: Ist mit dem polizeilichen Auftrag der Strafverfolgung und der Gefahrenabwehr das Ansinnen, Einstellungsänderungen zu erreichen, noch abgedeckt? Wo Soziale Arbeit involviert ist – wie in Niedersachen, NRW, Rheinland-Pfalz und anderswo –, steht zur Debatte, wie weit der (z. B. im gegenwärtig vorherrschenden Lebensbewältigungskonzept, aber auch in verwandten theoretisch-konzeptionellen Grundorientierungen der Profession; vgl. Böhnisch 2008) erhobene Anspruch, soziale Integration und individuelle Handlungsfähigkeit der Klientel angemessen zu fördern, verfolgt werden soll: Ist ein erzielter Abbau von rechtsextremer Auffälligkeit und Gewalt als Zielerreichung zu verbuchen, auch wenn rechtsextreme Mentalitäten und Einstellungen – vielleicht trotz mehrjähriger Betreuungsleistungen – in der Latenz bzw. unausgedrückt weiter bestehen bleiben? Die Zwangsläufigkeit, mit der diese Fragen die entweder von außen herangetragenen oder die aus professionellem Selbstverständnis zugeschriebenen Auftragslagen zum Gegenstand der Reflexion machen, resultiert letztlich aus dem Umstand, dass die in Ausstiegshilfen erforderlichen Praxen ohne systematisierende konzeptionelle Grundlagen nicht durchführbar sind, mithin Zielsetzungen als wesentliche Elemente von Konzeptualisierungen unumgänglich sind. Im Prozess der Zielfindung wiederum gilt es zwischen Vorgaben übergeordneter Stellen, Trägerinteressen, fachlichen Standards und persönlich repräsentiertem beruflichen Verständnis zu Orientierungsmarken zu gelangen, die – so ließe sich aus sozial-konstruktivistischer Perspektive annehmen – im Geflecht der daraus erwachsenden Anforderungen wenigstens Viabilität (vgl. z. B. Glasersfeld 1995), d. h. hier (zumindest relative) Irritations- und Widerspruchsfreiheit bieten. Sie zu erreichen, fällt auch deshalb schwer, weil es sich sowohl für Polizeials auch für Soziale Arbeit um ein innovatives Arbeitsfeld ohne bereits eingeschliffene Zielvorstellungen handelt. Als entsprechend auslegungsbedürftig erweisen sich Richtziele wie „Gefahrenabwehr“, „Aufbau demokratischer Orientierungen“ oder „Ausstieg aus der Szene“. Damit sind Fragestellungen aufgeworfen, die die Kernbestände der professionellen Aufgaben und damit zusam-
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menhängenden Identitätsbezüge von Polizist bzw. Polizistinnen und Sozialarbeiterinnen bzw. Sozialarbeiter gleichermaßen berühren. Da an dieser Stelle professionsgebundene Kontinuitätsidealisierungen, Routinen und Bestände an Rezeptwissen nicht weiterhelfen können, werden für die in Aussteigerprogramme involvierten Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen hier Konstruktionsleistungen erforderlich, die die Interpretationsräume zentraler Aufgabenbeschreibungen ausloten. Für Polizeiarbeit liegt es dann im Kontext von Aussteigerberatung nahe, „Gefahrenabwehr“ als sekundäre oder tertiäre Prävention zu begreifen, die darauf abzielt, ein strafrechtlich relevantes Rückfälligwerden der Adressaten und Adressatinnen zu verhindern. Im Rahmen sozialarbeiterisch betriebener Ausstiegshilfe ist ein Selbstverständnis naheliegend, das die Kernaufgabe der (Re-)Konstruktion von sozialer Integration und individueller Handlungsfähigkeit ihrer Klientel (vgl. Böhnisch 2008) bzw. von Lebenskontrolle, Integration und Kompetenzentwicklung (vgl. Möller 2007, 2009a) weitreichender deutet. Ein Nicht-mehr-(einschlägig)-Straffälligwerden kann für sie allenfalls als Durchgangsetappe auf dem Weg zu einer (Wieder-) Gewinnung von Handlungsautonomie gesehen werden, für die auf jeden Fall mehr als die bloße Distanz zu Kriminalität, rechtsextremer Szene und Gewaltauffälligkeit kennzeichnend ist. In denjenigen Institutionen, wo beide Professionen kooperativ an der Ausstiegsberatung beteiligt sind – wie etwa in Baden-Württemberg –, treffen damit unterschiedliche Auffassungen aufeinander, die zu Aushandlungsprozessen zwischen den Professionen zwingen. Insoweit der interinstitutionelle Austausch auch als ein interprofessioneller angelegt ist, werden solche Aushandlungsprozesse auch zu arbeitsfeldspezifischen Diskursen von fächerübergreifendem Zuschnitt. Da davon ausgegangen werden kann, dass die in Ausstiegshilfen beschäftigten sozialen Problemarbeiter und -arbeiterinnen auch über ihr spezielles Arbeitsfeld hinaus in Fachdiskurse eingebunden sind – z. B. über Fachaustausche, Fortbildungen etc. –, erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, dass arbeitsfeldspezifische Diskursbestände auch in weiter gesteckte professionelle und ggf. auch professionsübergreifende Themendiskurse diffundieren. Dabei ist anzunehmen, dass weder die professions- und institutionenspezifischen noch die darüber hinausreichenden „kulturellen Milieus“ Nedelmann (1986a, 1986b), also die kommunikativ-interaktiv konstruierten Felder um Wissen, Werte, Normen und Affekte, die mit dem sozialen Problem (hier also: Rechtsextremismus) verbunden sind, ohne Modifikationen bleiben. Das heißt, es wird ein Prozess der Ausdifferenzierung von Deutungsmustern, der Neujustierung von problemrelevanten Werten und Normen und der Veränderung von „Wertladungs-Intensitäten“,
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also des Ausmaßes an emotionalem Engagement, das Akteure in die Problemwahrnehmung bzw. -bearbeitung investieren, angestoßen. Es handelt sich um einen Prozess, der in den folgenden Thesen differenzierter verfolgt wird. 6.
Die professionelle Praxis zeigt: Ausstieg(shilfe) ist komplex, komplexer als die Programminstallierenden dies anscheinend vorher abgesehen haben
Die gesammelten, allerdings für Außenstehende schwer zugänglichen Erfahrungen von Ausstiegsprogrammen legen Zeugnis ab von der Komplexität des Ausstiegsprozesses von Rechtsextremisten bzw. Rechtsextremistinnen und damit auch von der notwendigen Komplexität der Ausstiegshilfen. Mindestens vier Aspekte kennzeichnen diese Komplexität: Erstens. Anders als dies anfänglich die vorherrschende sicherheitsbehördliche Auffassung war, ist Ausstiegshilfe nicht als ein abruptes „Herausbrechen“ einer „Zielperson“ aus der Szene verstehbar. Ein Ausstieg verläuft vielmehr prozesshaft in Stadien, gelegentlich auch mit Rückschlägen. Deshalb braucht auch Ausstiegshilfe eine gewisse Dauer. Zweitens. Anders als die Formel vom „Herausbrechen“ eines einzelnen Aktivisten oder einer Aktivistin aus dem Szenezusammenhang suggeriert, geschieht Ausstieg realiter nicht durch eine quasi mechanische Fremdeinwirkung von außen. Ohne Zutun des Aussteigers bzw. der Aussteigerin, ohne dass er oder sie bewusste Entscheidungen trifft und sich einen erwünschten Zustand selbst erarbeitet, vollzieht sich kein Ausstieg, der diese Bezeichnung verdient und Nachhaltigkeit aufweist – unabhängig davon, ob die unterlegte Ausstiegsdefinition sich mit der Verhinderung von Rückfälligkeit in einem strafrechtlichen Sinne begnügt oder weitaus umfassender die Veränderung des politischen Weltbilds und des damit zusammenhängenden Verhaltens als entscheidendes Kriterium setzt. Drittens. Neben einem Zugewinn politischer und persönlicher Reflexivität sind biographische Weichenstellungen in Richtung auf System- und Sozialintegration unerlässlich. Ein Blick auf die Probleme, die rechtsextrem Orientierte haben, offenbart: die je individuellen Integrations-, Anerkennungs- und Gestaltungsbilanzen fallen im allgemeinen negativ aus: Fast immer liegen biographische Brüche vor, sind psychische und emotionale Probleme zu bewältigen, sind Schwierigkeiten der Einfädelung in eine Normalbiographie auch jenseits der Rechtsextremismus-Problematik zu überwinden. Arbeit, Wohnen, Bildung, Familie, Freizeitgewohnheiten, Partnerschaft, Freunde – an zahlreichen Fronten ist Ausstiegshilfe gefordert (vgl. Möller/Schuhmacher 2007).
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Viertens. Anfangs war in den sicherheitsbehördlichen Programmen daran gedacht, Ausstiegswillige als V-Leute in Undercover-Einsätzen in der Szene zu belassen, um sie als Informanten nutzen zu können. Auch hier war es das spezifische Doing social Control der Ausstiegshilfepraxis, das offensichtlich werden ließ, dass ein derartiges Vorgehen Rollen- und Identitätskonflikte auf beiden Seiten schaffen würde: bei den Beratenen bzw. Betreuten und bei deren professionellen Begleitern und Begleiterinnen. Die Letztgenannten wären dann eindeutig mehr als nur „Helfer“; die Ersteren müssten zu mehr bereit sein als nur zum Ausstieg und somit weitaus höhere Zugangsschwellen zur Ausstiegsberatung bzw. Barrieren während des Begleitungsprozesses überwinden. Anknüpfend an Nedelmanns Begrifflichkeit des „kulturellen Milieus“ lassen sich also Differenzierungen des Wissens um die vor allem biographisch relevanten Verwurzelungen des sozialen Problems ‚Rechtsextremismus’ selbst sowie, damit verbunden, um das Funktionieren von Ausstiegshilfen beobachten, die aus (von der Mitarbeiterschaft) wahrgenommenen Erfordernissen einer Erfolg versprechenden und ihre Ziele erreichenden Praxis von Ausstiegshilfe resultieren. Es werden neue Vorstellungen und Ideen über Problemzusammenhänge und ihnen gerecht werdende Bearbeitungsweisen mobilisiert. Obwohl Nedelmann den Fokus auf politische Akteure richtet, lassen sich auch in Bezug auf Professionelle in den Ausstiegseinrichtungen jene drei Transformationstätigkeiten registrieren, die zu den genannten Ausdifferenzierungen führen: Erstens wird eine Spezifizierung der Ziele der Arbeit und ihrer Realisierungsalternativen vorgenommen, indem einerseits – wie bereits erwähnt – der Diskurs um den Ausstiegsbegriff eröffnet wird und indem andererseits in Absetzung vom Bild des „Herausbrechens“ und der mechanischen Fremdeinwirkung die prozessförmige begleitende Arbeit im Kontext biographischer Erfahrungen und Herausforderungen betont wird. Zweitens wird dabei ein Wissenschaftsbezug vorgenommen, der der Legitimierung des entsprechenden Verständniswandels dient. Drittens werden gegenüber der Ausgangslage zum Startpunkt der Projekte Adressierungen in Bezug auf Forderungen, Problemverursacher und Bearbeitungszuständigkeiten modifiziert. So wird beispielsweise in denjenigen Programmen, die aufsuchende Szenearbeit beinhalten, allen voran das LKA-Programm Baden-Württembergs, Jugendhilfe zur Zusammenarbeit aufgefordert: Wo von Seiten der Polizei Sympathisanten oder Mitläufer aufgespürt werden, eine Aussteigerberatung wegen noch geringer szeneinterner Vernetzung und/oder ideologischer Verhärtung aber noch nicht angezeigt erscheint, sollen solche Fälle in die Aufmerksamkeit der örtlichen Jugendhilfeträger ‚vermittelt’ werden. Postuliert werden dann sozial-
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arbeiterische und pädagogische Hilfen, die ‚Ausstiege’ aus Randszenen oder rechtsextrem aufgeladenen Einstellungs- und Mentalitätsbeständen realisieren bzw. weiter fortschreitende Einstiege verhindern und dabei im Kontakt mit dem vorhandenen Aussteigerprogramm stehen sollen. Mit der Formulierung solcher Anliegen werden neue Diskursfelder eröffnet, hier etwa der Diskurs über Sensibilität, Effektivität und Zuständigkeit von Jugendarbeit bei der Bekämpfung von Rechtsextremismus oder der Diskurs über die Chancen und Grenzen einer Zusammenarbeit von Polizei und Sozialer Arbeit, wobei sich solche Diskurse nicht ohne weiteres derart steuern lassen, dass sie auf das engere Themenfeld der Rechtsextremismusbearbeitung begrenzt bleiben (vgl. dazu auch Möller 2009b). Als Problemverursacher bleiben zwar die rechtsextrem orientierten Personen, hier: als Ausstiegswillige bzw. als Ausstiegskandidaten, im Fokus. In dem Maße jedoch wie sie als Subjekte in ihrem sozialen Umfeld und seinen strukturellen Gegebenheiten wahrgenommen werden, kommen Verursachungsmomente ins Blickfeld, für die Verantwortung oder gar Schuld nicht mehr einseitig personal zugeschrieben werden können: deprivierte sozio-ökonomische Verhältnisse, zerstörte familiale Beziehungen, Arbeitslosigkeit, Bildungsdefizite, desolate Wohnverhältnisse, Desorganisationen der Sozialräume, politische Unterlassungen, milieuspezifische Geschlechterbilder u. ä. m. Einerseits wird mit dieser Horizontöffnung der Problemkontext, der aus der Sicht der Problembearbeitung wünschenswerterweise zu beeinflussen sein sollte, erheblich ausgedehnt, so dass neue Möglichkeiten, aber auch Aufgaben der Ausgestaltung der Arbeit entdeckt werden können. Andererseits nimmt die sich selbst zuzuschreibende Bedeutsamkeit der eigenen Helferrolle im Problembearbeitungsprozess in dem Maße ab wie das Bewusstsein für die Komplexität realer und potentieller Einflussfaktoren auf die Zielerreichung wächst. Infolgedessen wandeln sich Erwartungen an den Zuständigkeitsbereich und an die Erfolgswahrscheinlichkeit der eigenen Arbeit, und auch das Bild von der diesbezüglichen Gewichtung verschiedener Problembearbeitungsinstanzen verändert sich. Die konkret auszufüllende Berufsrolle sieht sich herausgefordert, sich einzupendeln zwischen dem Pol permanenter Erreichbarkeit und Allzuständigkeit auf der einen Seite und dem Pol faktischer Bedeutungs- und Nutzlosigkeit auf der anderen Seite. Dass das Postulat der „Vernetzung“ – etwa zwischen Polizei- und Sozialarbeit oder allgemeiner zwischen Instanzen der Repression und solchen der Förderung und Unterstützung – in solchen Kontexten zu Zwecken der Reduktion von (problembezogener und professioneller) Komplexität z. Zt. unter Fachkräften eine Art ‚Catch all Term’ darstellt, dürfte dem Umstand
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geschuldet sein, dass über diese Vokabel die Verantwortung kollektiv und sozialräumlich verteilt werden kann, ohne Abstriche an der Relevanz des eigenen Arbeitsfelds vornehmen oder es in Konkurrenz zu anderen Arbeitsfeldern setzen zu müssen und/oder den Vorwurf auf sich zu ziehen, sich der Problembearbeitung entziehen zu wollen. Man kann sich in den leicht ersichtlichen Begrenzungen seines Arbeitsfeldes einrichten und die Relevanz der dort verrichteten Tätigkeiten durch Betonung ihrer Anschlussfunktion an andere Felder der sozialen Problemarbeit sichern. Eine so vorgenommene Modifikation des kulturellen Milieus der Problemdeutung und -bearbeitung bietet für alle Beteiligten Entlastung von Erwartungsenttäuschungen und ist für die Sicherung stellen- und institutionenbezogener Kontinuität ebenso funktional wie für eine sie stützende (Sozial-)Politik; für letztere jedenfalls solange, wie sie sich weniger unter akutem Einsparungsdruck als von Seiten der Öffentlichkeit mit dem Anspruch konfrontiert sieht, gegen ein als Skandalon betrachtetes soziales Problem ‚auf breiter Front’ anzugehen, mithin also eine themenzentrierte „Wert-Ladungs-Intensität“ (Nedelmann 1986a) vorliegt, die kulturell den Eindruck der Dringlichkeit einer Problemreduktion produziert. 7.
Der Bearbeitungsdiskurs formuliert explizit und/oder implizit die Botschaft: Sozialarbeiterische Fachlichkeit ist für professionelle Ausstiegshilfen unverzichtbar
Der in der sechsten These ausgebreitete Zusammenhang macht schon deutlich, dass es für einen begleiteten Ausstieg lebensweltorientierter Hilfen bedarf. Dass sie zu vermitteln nicht zum Aufgaben- und Kompetenzspektrum von Verfassungsschützern und Sicherheitsbeamten gehört, ist offensichtlich; ebenso, dass wohl keine Profession geeigneter dafür erscheint als die der Sozialen Arbeit, sieht sie doch explizit „Lebensweltorientierung“ (vgl. zuletzt z. B. Thiersch/ Grunwald/Köngeter 2005) oder doch Vergleichbares wie die bewältigungsorientierte Hilfe in schwierigen Lebenslagen (vgl. z. B. Böhnisch 2008) geradezu als ihr Markenzeichen an. Sozialarbeiterische Fachlichkeit ist aber aus einem noch viel grundsätzlicheren Befund als Ausstiegsbegleiter gefordert. Empirische Untersuchungen über die Entstehungs- und Entwicklungsbedingungen rechtsextremer Orientierungen lassen erkennen: Rechtsextrem Orientierte suchen innerhalb der rechten Szenen genau das, was die Soziale Arbeit als zentrale Vermittlungsaufgabe besitzt: Individuelle Handlungsfähigkeit und Sozialintegration, genauer: Chancen zu Lebensgestaltung, d. h. zu Lebenskontrolle, Integration und Entwicklung von Selbst- und Sozialkompetenzen (vgl. Möller/Schuhmacher 2007). Wenn die in-
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nerhalb rechtsextremer Kontexte dafür angebotenen Befriedigungsformen als problematisch zu betrachten sind – etwa: nationale Selbstüberhöhung, Minderheitenabwertung, Ausgrenzung, Gewalt etc. –, dann stellt sich die Frage, wie Soziale Arbeit durch das Angebot funktionaler Äquivalente hier Abhilfe schaffen kann (vgl. Möller 2007). Mithin offenbart sich: Aus Ausstiegen müssen ‚Umstiege’ werden, aus einem „raus aus…“ ist ein „hin zu…“ zu folgern. Kurzatmiger Interventionismus kann eine nachhaltige Präventionswirkung nicht gewähren. Das Involviertsein von Sozialer Arbeit in die Bearbeitung der Rechtsextremismus-Problematik konfrontiert sie deshalb auch mit Grundfragen ihres Selbstverständnisses und ihrer Außendarstellung im Bearbeitungsdiskurs. Zu ihnen gehört nicht zuletzt die Frage, ob Soziale Arbeit sich nur als Lebensbewältigungshilfe vornehmlich in Krisen und Notlagen versteht oder auch als Dienstleisterin für die Gestaltungsinteressen der Adressaten und Adressatinnen auftritt. Bislang eher implizit als ausdrücklich propagieren die Protagonisten dieses Arbeitsfeldes damit die Relevanz des Gestaltungsparadigmas gegenüber dem traditionellen Hilfeparadigma der Sozialen Arbeit und beeinflussen deshalb einen Diskurs, der arbeitsfeldübergreifend seit längerem geführt wird (vgl. z. B. Niemeyer 1999; Möller 2002: 44 ff.) und dabei nicht zuletzt auch von konstruktivistischen Ansätzen der Pädagogik und Sozialen Arbeit belebt wird (vgl. etwa Arnold/Siebert 1995; Kleve 2005). In Nedelmanns Diktion lässt sich in diesem paradigmatischen Wandel in zweifacher Weise eine Modifikation des „moralischen“ Aspekts des „kulturellen Milieus“, in welches das soziale Problem ‚Rechtsextremismus’ und seine Bearbeitungsweisen eingebettet sind, ausmachen: Zum einen erscheint das soziale Problem als ein Sachverhalt, der als Konsequenz unzureichender Realisierungschancen und Praxen von Lebensgestaltung gedeutet werden kann. Es gilt damit nicht allein als Resultat von Orientierungsentscheidungen der Problemträger, sondern auch als Ausfluss von Bedingungen, unter denen diese Orientierungsentscheidungen zu Stande gekommen sind. Die Zurechnung von ‚Schuld’ wird dadurch schwieriger und durch die von ‚Verantwortung’ ergänzt. Zum anderen wird im Zusammenhang damit die Arbeit am Problem „moralisch“ neu geladen: Je weniger individuell oder kollektiv Problemträgern ‚Schuld’ zugeschrieben werden kann, desto mehr verlieren im Problemumgang Aspekte wie Rache, Sühne und Strafe an Bedeutung. Demgegenüber erscheint dann eine Hilfe nicht nur funktional im Sinne einer Problemreduktion, sondern auch moralisch legitim, die die Problemträger auch durch die Veränderung der strukturellen Bedingungen ihrer Orientierungen in den Stand versetzt, Neuorientierungen vorzu-
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nehmen. Die Empörung über „Glatzenpflege auf Staatskosten“ (Buderus 1998) verliert so zunehmend ihre moralische Basis. 8.
Professionelle Ausstiegshilfen beleben die Debatten um legitime Befugnisse, Abgrenzung, Dialog und Kooperation der beteiligten Institutionen und Professionen neu
Die Ausstiegsprogramme setzen – wie erwähnt – unterschiedlich an. Dies betrifft vor allem 1. die institutionelle Einbettung, 2. den professionellen Zuschnitt der Hilfen und 3. die Art des Kontaktschließens mit Ausstiegswilligen bzw. als potenziell ausstiegswillig betrachteten Personen. Zu 1.: Die Unterschiedlichkeit der institutionellen Verankerung der Ausstiegsprogramme wird in mancher Hinsicht als problematisch eingeschätzt. Sie sorgt aber dafür, dass der Diskurs darüber in Gang gehalten wird, wie weit repressive Maßnahmen reichen und welche Funktion demgegenüber Sozialen Hilfen zuzusprechen ist. Dieser Diskurs konkretisiert sich in Fragen wie: Wie weit reichen die Zuständigkeiten von Verfassungsschutz, Polizei, Justizsystem und Pädagogik bzw. Sozialer Arbeit bei der Bearbeitung einer gesellschaftlichen Problemlage wie Rechtsextremismus? Wie sind die Erfolgsaussichten einer Arbeit innerhalb dieser Institutionenzusammenhänge einzuschätzen, wie die Erfolgsaussichten bei einer interinstitutionellen Kooperation? Darf diese erfolgen? Wenn ja: wie und bis wohin? Zu 2.: Nicht nur interinstitutionell steht die Kooperationsfrage im Raum, sondern auch intrainstitutionell stellt sich die Frage nach dem Zusammenwirken der beteiligten Professionen. Bietet eine längere Haftstrafe (erst) eine aussichtsreiche Gelegenheit zur sozialarbeiterischen Intervention bei strafrechtlich aufgefallenen Rechtsextremisten? Sollte ein Aussteigerprogramm deshalb – wie in Niedersachsen – beim Justizministerium angesiedelt sein und sollten sich seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter primär um Inhaftierte kümmern? Oder: Wie erfolgreich ist eine Verunsicherungsstrategie der Szene und ihres Umfelds, die mittels proaktiver Gefährder- bzw. Gefährdetenansprache durch die Polizei an Szenetreffs und an den Haustüren einschlägig Auffälliger erfolgt (wie sie das baden-württembergische LKA-Programm durchführt) ? Und wie hilfreich ist es dann, bei sich daraus ergebenden Gesprächsgelegenheiten auch sozialpädagogische Fachlichkeit mit im Boot zu haben? Kurzum und pointiert: Der 1970er-Jahre-Diskurs über die Alternative „Repression oder Soziale Hilfen“ differenziert sich aus. Diese Ausdifferenzierung eröffnet auch die Frage nach einem möglichen Zusammenspiel der Professionen und einem Neuzuschnitt ihrer Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten.
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Zu 3.: Das Spannungsfeld des Zustandekommens eines Erstkontakts bewegt sich zwischen zwei Polen: Die einen (z. B. Exit) bauen darauf, dass eine entwickelte Ausstiegsmotivation bereits vor dem Kontakt zur Ausstiegsberatung vorhanden ist und dann eben zur Kontaktsuche führt. Andere Modelle suchen auch aktiv bekannte Rechtsextreme, aber auch Sympathisanten und Gefährdete aus dem Umfeld rechter Szenen auf, um so möglichst frühzeitig Distanzierungsprozesse im Sinne eines Abrückens von rechtsextremen Orientierungszusammenhängen zu beeinflussen. Diese unterschiedlichen Herangehensweisen haben für den einschlägigen Diskurs mindestens zwei Folgen: Sie halten zum ersten fachöffentlich den Diskurs darüber aufrecht, ob Ausstiegsmotivation professionell aufbaubar ist oder professionelle Hilfen erst bei gleichsam ‚nachgewiesener‘ Ausstiegswilligkeit einsetzen dürfen. Sie lassen zum zweiten die Frage aufkommen, inwieweit eine verfassungsschützerische, polizeiliche, aber auch sozialarbeiterische Ausspionierung, Verdächtigung, ‚fürsorgliche Belagerung’ oder gar ‚Kolonialisierung der Lebenswelten’ von Bürgern und Bürgerinnen legitim ist. Dieser Diskurs ist anschlussfähig an andere Debatten um die Befugnis bzw. Befugniserweiterung von Sicherheitsorganen z. B. an die Debatten um die Legitimität von öffentlicher Video-Überwachung oder von Online-Untersuchungen. Insgesamt führt die Ausdifferenzierung der Problemwahrnehmung und -bearbeitung, die ihren Niederschlag auch in der Vielfalt einbezogener Institutionen und Professionen findet, tendenziell dazu, die „Wert-Ladungs-Intensität“ (Nedelmann 1986a) sowohl der Problemlage als auch ihrer Bearbeitungsweisen zu verringern. Je rationaler das Problem gesehen wird und je stärker die Selbstverständlichkeit von Umgangsweisen mit ihm etabliert ist, desto weniger eignet sich beides, Problem und Problemumgang, für hoch moralisierende Wertungen – es sei denn, es werden massenmedial neue Stimmungskonjunkturen angefacht (wie im Falle des eingangs erwähnten öffentlichen Diskurses im Anschluss an die Messerattacke auf Polizeidirektor Mannichl), durch die Entdifferenzierungen angestoßen und ehedem in den Hintergrund gedrängte „Entweder-oder-Lösungen“ neu ventiliert werden. 9.
Die Existenz von Ausstiegshilfen trägt dazu bei, das Thema ‚Rechtsextremismus’ und den Diskurs über seine Bearbeitung (wie auch die Bearbeitung als ähnlich empfundener Aufgaben) in den Diskursen der Akteure betroffener Institutionen und Professionen und in den Instanzen ihrer politischen Steuerung aufrecht zu erhalten.
Sobald die Bearbeitung einer sozialen Problematik relativ dauerhaft in institutionellen Strukturen verankert ist, wird erfahrungsgemäß der Problematik selbst
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Relevanz zugesprochen. Durch Stellen, Funktionszuweisungen, Gestellung von Räumen und materiellen Ressourcen, durch ein Berichtswesen, durch Gremienbeteiligung, durch Kooperation mit anderen Trägern und Wissenschaft, durch Fortbildungsaktivitäten u. v. m. verstetigt sich ein Arbeitsbereich zu einer gewissen Selbstverständlichkeit. Sein Infragestellen wird jedenfalls zunehmend schwieriger; die Chancen, den Problem-Diskurs aufrechtzuerhalten steigen damit. Sensibilisierungen der Institutionen für die Problematik nehmen im Regelfall zu, themenbezogene professionelle Reflexionen werden befördert. Solche Konsolidierungen sind zum einen dadurch zu erklären, dass sie zunehmend Gelegenheitsstrukturen dafür schaffen, Realität interaktiv zu konstruieren. Zum anderen und weitreichender basieren sie aber auch darauf, dass ein fortschreitendes Doing social Problems und Doing social Control Vergegenständlichungsprozesse vornimmt, als deren Resultate Phänomene entstehen, die den Subjekten, zumal denjenigen, die die Vergegenständlichungsprozesse nicht selbst mitgetragen haben, sondern die erst nachträglich eingebunden werden, als soziale Tatsachen gegenübertreten. Die Diskurse über sie werden damit im wahrsten Sinne des Wortes substanziell, sie beziehen sich auf Strukturen, die als real empfunden werden – und deshalb auch reale Folgen haben. Keineswegs bedeutet dies jedoch, dass die (vorläufigen) Selbstverständlichkeiten unterschiedlicher Diskurs-Arenen (z. B. von Praxis, Wissenschaft und Politik) übergreifend konsensfähig sind. Um dies zu werden, müssten sie sich auf umfassenderen Wissensmärkten behaupten können, in die diese Arenen eingebunden sind. Hier Durchsetzungsfähigkeit zu gewinnen, ist jedoch – darauf gehen die beiden folgenden Thesen ein – speziell für die Sphäre der Praxis schwierig 10. Die Erfahrungen und Einschätzungen der Praktiker und Praktikerinnen in der Ausstiegshilfe beeinflussen die offiziellen Verlautbarungen der Steuerungsebene wenig oder gar nicht Aus Praxisperspektive vorgenommene Beobachtungen, Erwägungen und programmrelevante Schlussfolgerungen erreichen die Steuerungsebene eher selten. Grund dafür ist nicht zuletzt, dass die Legitimation der Arbeit zwischen den Ebenen operativer Praxis und politischer Steuerung differiert. Etwas vergröbert: Praktikerinnen und Praktiker legitimieren ihre Arbeit mit Hilfe fachlicher Standards sowie gegenüber ihren Kollegen, Kolleginnen, Vorgesetzten und bestenfalls zusätzlich ihrer Klientel. Ein Mitglied der politischen Steuerungsebene legitimiert seine Entscheidungen stark entlang Überlegungen über ihre Außenwirkung, das Image der Institution und in Hinsicht auf das Erzielen von Akzeptanz in der Öffentlichkeit. Dies lässt sich an zwei Beispielen zeigen: Erstens, für die
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auf mediale Wahrnehmung orientierten Leitungs- und Steuerungsebenen sind Erfolge von Problembearbeitungen am leichtesten quantitativ darstellbar und vermittelbar. Entsprechend legen sie Wert auf möglichst hohe Aussteigerzahlen als Erfolgsnachweis. Die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen in den ‚Niederungen der Praxis’ hingegen wissen darum, wie definitionsabhängig, fallabstrahierend und nahezu beliebig entsprechende Angaben zu Stande kommen und wie wenig sie deshalb im Grunde über die Qualität der geleisteten Arbeit und ihre Wirkung in die Szene hinein aussagen. Gleichwohl fällt es ihnen schwer, durchzusetzen, dass Erfolg nach qualitativen Maßstäben bestimmt und kommuniziert wird. Zweitens, und eng zusammenhängend mit dem gerade Genannten: Die Zieldefinition „Ausstieg“ kann zwischen offiziellen Programmangaben und Arbeitspapieren von Praktikerinnen und Praktikern nicht unwesentlich abweichen. Insidern ist durchaus bekannt, dass bei (vermutlich nicht nur) einem Ausstiegsprogramm in dem darauf bezogenen Landeserlass das im konkreten Betreuungsverhältnis zu erreichende Ziel der Ausstiegshilfe in einem strafrechtlich nicht zu beanstandenden Lebenswandel gesehen wird, wogegen in Arbeitspapieren der Ausstiegshelferinnen und -helfer – viel tiefer gehender – der erfolgte Abbau rechtsextremer Einstellungsmuster als Erfolgskriterium betrachtet wird – übrigens deshalb, weil sie sich durch Wissenschaft-Praxis-Kooperation zu einer solchen Auffassung angeregt fühlten, also sich Bearbeitungsdiskurse von Wissenschaft und Praxis hier einmal überschnitten haben. Wissenssoziologisch betrachtet zeigt sich hier in Anlehnung an die wissenspolitologische Nomenklatur von Nullmeier/Rüb (1993), dass sich solche innerhalb von Praxis vorgenommene „Deutungsinnovationen“ oft als gegenüber dem „dominanten Wissen“ nicht durchsetzungsfähig zeigen. Dabei spielt eine Rolle, dass ‚Erfolge’ sich öffentlich – auch aufgrund der Rationalitäten medialer Darstellung – am leichtesten quantifizierend ausweisen und sich damit unkomplizierter Loyalitäten sichern lassen. Es ist jedoch auch in Rechnung zu stellen, dass u. U. beide Seiten gar kein Interesse an einem dokumentierten übergreifenden Konsens hegen, weil die Innovation ‚Unruhe’ mit sich bringen und zwangsläufig zum Neuaufbau von „Notwendigkeitskonstruktionen“ führen müsste. Damit würde ein Prozess losgetreten, der auf der einen Seite an die Grundfesten professioneller Selbstverständnisse rühren würde (z. B.: Ist es polizeiliche Aufgabe, Einstellungsänderungen zu bewirken?) und auf der anderen Seite neue Legitimationserfordernisse für die politische Steuerung heraufbeschwören könnte. Solange der Widerspruch zwischen offizieller Darstellung und praktischem Handeln nicht offen thematisiert wird, können beide Seiten ‚Business as usual’ betreiben und bleiben von neuen Herausforderungen unbehelligt.
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11. Institutionelle Ausstiegshilfen nehmen nur schwachen Einfluss auf den öffentlichen und den jeweiligen fachöffentlichen Diskurs Ausstiegshilfen arbeiten aus naheliegenden Gründen sehr diskret. Sie sind sicherheitsbedacht. Datenschutz und vertrauliche Behandlung von Informationen werden sehr ernst genommen. Ausstiegswillige sollen untereinander nicht voneinander erfahren und Ausstiegswillige sind vor ihren (Ex-)KameradInnen zu schützen. Zum Teil werden auch Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen durch die Verwendung von Alias-Namen persönlich geschützt. Nur wenige treten als Referenten und Referentinnen an die Fachöffentlichkeit oder Öffentlichkeit. Die Weitergabe von Arbeitsabläufen und -erfahrungen unterliegt größeren Kontrollen als man dies aus anderen Arbeitsbereichen kennt. Auch zu wissenschaftlichen Zwecken kommt man nur sehr bedingt und begrenzt an Informationen heran. Hinzu kommt: Längst nicht alle Länder betreiben ihre Aussteigerprogramme mit der gleichen Ernsthaftigkeit und Intensität. Wenn ein Pfarrer ohne erkennbare Vorerfahrungen im Nebenamt nahezu ohne Vernetzungen mit anderen relevanten Institutionen die Beratung in einem Landesprogramm betreibt, bekommt die Arbeit zwangsläufig einen anderen Charakter als wenn drei hochprofessionelle, auch nach außen gut vernetzte und stark motivierte Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen zur Verfügung stehen, die sich intensive konzeptionelle und z. T. auch innovative Überlegungen zu ihrer Arbeit machen. Es sind also strukturelle Gegebenheiten, die die ‚Reichweite’ der Mitarbeiterdiskurse über Ausstiegsprogramme begrenzen. Ihr Doing social Problems und ihr Doing social Control spielt sich in einem Rahmen ab, der Diskursmodi, Diskurszugänge und institutionelle, (inter)professionelle bzw. arbeitsfeldspezifische Diskursprodukte in spezifischer Weise modifiziert.
3. Fazit Institutionalisierte Ausstiegshilfen sind ein gutes Beispiel für Prozesse des Doing social Problems und des Doing social Control. Sie verleihen der sozialen Problematik, an der sie arbeiten – hier: Rechtsextremismus –, eine bestimmte Kontur. Der Bearbeitungsdiskurs über die Problematik erhält aus ihrer Arbeit spezifische Anregungen. Sie zeigen aber auch auf, dass Praxiserfahrungen vielfach nicht unmittelbar bestätigend oder Praxis verändernd in den Prozess der Problembehandlung eingespeist werden. Vielmehr haben sie oft einen Kreislauf der sozialen Problem-
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identifizierung und -bearbeitung zu durchlaufen, in dem andere als Praxisrationalitäten wirkmächtig sind: Claimsmaking Activities politischer Akteure, (massen)mediale Thematisierungs-Praktiken, „kulturelle Milieus“ professioneller und institutioneller Selbst- und Fremddeutungen, Funktionsweisen unterschiedlicher Wissensmärkte und ihrer Geltungskonkurrenzen um legitime Problemdeutungen und Problembearbeitungen u. ä. m. Die Realitäts(re)konstruktionen, die vorgenommen werden, sind nicht von den Bedingungen zu lösen, unter denen sie zu Stande kommen – auch dann nicht, wenn man diese Bedingungen (z. B. Interessen, Werte und Strukturen) wiederum als Ergebnisse von Realitätskonstruktionen betrachten will, treten sie doch den Subjekten als soziale Tatsachen entgegen, die Produkte eines Vergegenständlichungsprozesses sind. Zumal dann, wenn wissenschaftliche soziale Problemanalyse nicht darauf verzichten will anwendungsorientiert zu arbeiten, kann sie nicht davon absehen, „dass Konstruktionen nicht in beliebiger Weise Relevanz erhalten“ (Groenemeyer 2007: 21).
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Steffen Zdun
Doing Social Problems der Polizei im Straßenkulturmilieu
1. Einleitung Seit einigen Jahren etabliert sich ein neuer Ansatz in der Soziologie sozialer Probleme. Die Rede ist vom Konzept des Doing social Problems bzw. der Soziale-Probleme-Arbeit. Es beruht auf den Arbeiten von Gale Miller (1992) und James Holstein (1992) (siehe auch Holstein/Miller 1993). Im Unterschied zu einer Vielzahl weiterer Ansätze im Forschungsbereich sozialer Probleme beschäftigen sie sich nicht mit gesellschaftlichen Definitionsprozessen, sondern mit „der Konstruktion konkreter Problemfälle im Alltag“ (Schmidt 2007: 30). Der Blick wird auf die Vermittlung zwischen Theorie und Praxis durch die Vertreter der Institutionen sozialer Problemarbeit gerichtet, z. B. Polizei, Sozialarbeit und Justiz. Diese sind gleich in mehrfacher Hinsicht aktiv. Zum einen nehmen sie in ihrem Berufsalltag wechselseitige Aushandlungsprozesse über Normen und den Umgang mit ihrem sozialen Gegenüber vor. Zum anderen schaffen sie im Verlauf dieser Aushandlungsprozesse soziale Realität, die sich auf beiden Seiten in Selbstverständlichkeiten niederschlägt. Hierbei ist von permanenten Veränderungen auszugehen, weil sich sowohl die sozialen Probleme als auch ihre Bearbeitungsstrategien wandeln können. Auch wenn davon auszugehen ist, dass sich bestimmte Alltagspraktiken (zeitweise) etablieren und reproduzieren, müssen diese nicht immer gleich ablaufen. Schrittweise Veränderungen und neue Färbungen ergeben sich beispielsweise dadurch, dass neue Mitarbeiter hinzukommen oder die Klientel wechselt bzw. einen Wandel durchläuft. Kennzeichnend für den Konstruktionscharakter ist zudem die Art der Institution. Typischerweise unterscheiden sich etwa die Aushandlungsprozesse von Sozialarbeitern bzw. Sozialarbeiterinnen und ihrer Klientel deutlich von denen der Polizei. Denn unterschiedliche berufliche Interpretationsmuster werden in
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den Institutionen sozialisiert und verschiedene Handlungsstrategien gehören zu ihrem jeweiligen Repertoire (vgl. Holstein/Miller 1993). Es gibt bereits eine ganze Reihe Fallstudien zu diesem Themenkomplex in den USA, allerdings hinkt der deutschsprachige Diskurs dem deutlich hinterher (vgl. Schmidt 2007). Das Ziel dieses Beitrags ist es, Licht ins Dunkel des Doing social Problems der Polizei in Deutschland zu bringen. Von außen betrachtet wirkt die Ordnungsmacht meistens wie eine einheitliche, in sich geschlossene Institution. Als Normdurchsetzer sollte die Polizei zudem nur entsprechend der Gesetze handeln und Vergehen stets auf die gleiche Weise bearbeiten. Wie alle großen Organisationen hat aber auch die Polizei ihr Eigenleben, und es gibt durchaus Unterschiede im Handeln und Auftreten sowie Spannungen zwischen den verschiedenen Diensteinheiten. Ein typisches polizeiliches Gegenüber mehrerer Diensteinheiten wie des Wach- und Wechseldienstes und der Kriminalkommissariate sind auffällige Jugendliche und Heranwachsende aus sozial benachteiligten Stadtgebieten. Diese verüben tatsächlich häufiger als Jugendliche aus anderen Quartieren Straftaten im öffentlichen Raum, und die Anwohner fühlen sich daher eher bedroht und rufen die Polizei. Zudem unterliegen die bereits Polizei bekannten Jugendlichen ohnehin einem erhöhten Verfolgungsdruck und werden häufiger als andere Heranwachsende Personenüberprüfungen unterzogen. Aufgrund des alltäglichen Umgangs der Polizei und dieser Jugendlichen bilden sich u. a. Stereotypen heraus, die rasch auf alle Jugendlichen in dem Stadtviertel und teilweise auf ganze Bevölkerungsgruppen angewendet werden. Hingegen kann aus dem ständigen Kontakt bestimmter Diensteinheiten der Polizei mit dem polizeilichen Gegenüber auch eine Art von Verbundenheit resultieren. Sowohl Stereotypen als auch Verbundenheit bilden sich in den Handlungsmustern der Polizei ab und sind Resultate des Doing social Problems der Polizei. Im Folgenden werden mit Hilfe des Konzepts der Straßenkultur zunächst die Einstellungen und Verhaltensweisen von Jugendlichen und Heranwachsenden aus sozial benachteiligten Stadtteilen beschrieben. Die mit der Straßenkultur verbundenen Normen und Handlungen sind Grundlage, um die Beziehungen zwischen diesen Jugendlichen und der Polizei zu verstehen. Anschließend wird auf die selektive Polizeiarbeit in diesen Stadtteilen eingegangen, die eine Seite des Doing social Problems ausmacht. Es werden sowohl die Stereotypen der Beamten thematisiert als auch die Hintergründe der selektiven Polizeiarbeit. Die andere Seite des Doing social Problems sind die informellen Aushandlungsstrategien der Polizei. Es wird auf Unterschiede zwischen dem Wach- und Wechsel-
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dienst und den Kriminalkommissariaten eingegangen sowie auf die Beweggründe für die Anwendung informeller Lösungsstrategien. Die präsentierten Erkenntnisse beruhen weitgehend auf der von 2001 bis 2004 durch die Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderten Studie „Polizisten im Konflikt mit ethnischen Minderheiten und sozialen Randgruppen“ (Schweer/Strasser/Zdun 2008). Vergleichend wurden in der Stadt Duisburg empirische Untersuchungen zu zentralen Fragen der Polizeikultur mit Polizeibeamten und -beamtinnen verschiedener Diensteinheiten durchgeführt. Dem wurden Teilstudien mit ethnischen Minderheiten und sozialen Randgruppen zu ihrem Verhältnis zur Polizei gegenübergestellt. Als Vertreter der Straßenkultur wurden junge Russlanddeutsche und Türken befragt. Zudem beinhaltete die Untersuchung Befragungen mit Asylbewerbern, Prostituierten, Obdachlosen und Drogenabhängigen.
2. Die Straßenkultur Der Begriff der Straßenkultur wird in der Wissenschaft im Wesentlichen auf zweierlei Art interpretiert: Einerseits wird er im Rahmen der Produktion von Kulturgütern verwendet, d. h. als Synonym für Jugendkulturen oder -szenen wie die Graffiti- oder HipHop-Szene (siehe z. B. Guzman 2005; Kelly/Pomerantz/ Currie 2005). Die Straße wird hier als ein sozialer Raum der Kreativität, der gestaltet wird und aus dem neue Stilelemente hervorgehen, beschrieben (vgl. Martin 2005). Diese Begriffsauslegung ist abgekoppelt von Diskursen über Gewalt und andere Formen der Devianz, denn Graffitis werden beispielsweise nicht als Form von Vandalismus, sondern nur als Ausdruck von Kunst thematisiert. Die im Weiteren präferierte Interpretation des Begriffs bezeichnet ein Werte- und Normensystem, das Grundlage eines Gewaltphänomens ist, das weitgehend in sozial benachteiligten Sozialräumen der Unterschicht zu beobachten ist und auf der demonstrativen Zurschaustellung von Härte und Maskulinität beruht. Auch wenn entsprechende Jugendgruppen und ihre Normen schon seit den Ursprüngen der Chicagoer Schule und von zahlreichen Subkulturtheoretikern beschrieben werden, so war es Elijah Anderson (1990), der den Begriff der Street Culture für ein bestimmtes Konglomerat von Werten und Normen geprägt hat. Einzelne der daran anknüpfenden Denk- und Handlungsmuster unterliegen zwar regionalen und kulturellen Besonderheiten, allerdings treten die meisten dieser Muster weltweit in ähnlicher Form auf. In Deutschland ist die Straßenkultur beispielsweise bei rechtsextremen Skinheads und gewaltbe-
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reiten Jugendcliquen von Türken und Russlanddeutschen zu beobachten (vgl. Hüttermann 2000; Zdun 2007a, 2007b). Solche Milieus und Gruppen unterliegen einem fortwährenden Wandel. So gab es beispielsweise in Westeuropa in den vergangenen Jahrzehnten nachhaltige Veränderungen in der Straßenkultur. Auf wesentliche Aspekte dieses Wandels haben Dubet und Lapeyronnie (1994) aufmerksam gemacht, die am Beispiel französischer Vorstädte beschreiben, wie eine ethnische Durchmischung der Bevölkerung dazu beigetragen hat, dass in einstmals homogenen Nachbarschaften viele Rituale der Vergemeinschaftung der Bewohner und Bewohnerinnen verloren gegangen sind. Die Folge war, dass sich die Identität stiftende Wirkung der Gewalt junger Männer verändert hat. Ursprünglich war öffentliche Gewalt durch die soziale Kontrolle der Erwachsenen reglementiert worden und zu einer Art von Initiationsritus der Heranwachsenden avanciert, wobei die Nachbarschaft als Hort der Vergemeinschaftung fungierte (vgl. Zdun/Strasser 2009). 1 Diese Rolle der Erwachsenen ist, so argumentieren Dubet und Lapeyronnie weiter, im Zuge der ethnischen Durchmischung der Quartiere schrittweise verloren gegangen. Der Verlust sozialer Kontrolle durch die Familie und Nachbarschaft ist jedoch nur ein Grund, warum mancherorts die Gewalt in diesen Stadtvierteln zunimmt (vgl. Vigil 2003). Begünstigend für steigende Brutalität wirkt sich auch der Verlust von Regeln der Fairness im Kampf aus (vgl. Zdun 2007c). Hinzu kommt Konkurrenz unter Jugendlichen, z. B. um Anerkennung, Bildung und Ausbildung, Chancen auf dem Arbeitsmarkt, aber auch um illegale Märkte (vgl. Vigil 2003). Schließlich ist es problematisch, wenn in Folge von Langeweile und zunehmender Perspektivlosigkeit die Bereitschaft zur Anwendung von Gewalt ansteigt und das Individuum dafür zudem Respekt durch den Freundeskreis erfährt. Denn Gewalt kann für die Betreffenden rasch zu einer der wenigen Ressourcen avancieren, um Reputation zu erlangen (vgl. Baron 1998; Groenemeyer 2005). Die Folge ist, dass sich die Erwachsenen, die früher für soziale Kontrolle zuständig waren, mittlerweile im Alltag immer häufiger von den Heranwachsenden bedroht fühlen. Von nachbarschaftlicher Vergemeinschaftung kann dann keine Rede mehr sein. Auch die Aufnahme in die Welt der Erwachsenen scheint einem Wandel zu unterliegen. So zeigen eigene Studien (Zdun 2007a), dass es kaum noch darum geht, sich in der Jugend durch öffentliche Gewalt im Viertel einen Namen zu 1
Ähnliches beschreiben Bloch/Neiderhoffer (1958) für die USA der 1950er Jahre in ihrer GangStudie, in der sie bereits damals die Frage aufwarfen, welche Bedeutung Gewalt für die Generierung von Männlichkeit hat.
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machen; das stellte in traditionellen Arbeiter- und Unterschichtsquartieren oftmals eine Art Vorstufe zum Erwachsenwerden dar. Vielmehr wird man inzwischen von der Gemeinschaft eher erst dann als Erwachsener anerkannt, wenn man das jugendliche Probierverhalten mit Gewalt und Drogen hinter sich gelassen hat (vgl. J. Miller 2001). Man soll am Ende der Jugendphase Abstand von der Kämpfer- und Beschützerrolle nehmen und stattdessen in die Ernährerfunktion hineinwachsen, um eine eigene Existenz aufzubauen und eine Familie zu gründen. Dieser Wandel ist von großer Tragweite für die Gemeinschaft konstituierende Wirkung von Gewalt in der Straßenkultur. In postmodernen Gesellschaften ist man nämlich kaum mehr in der Lage, sich durch Schlägereien über die Peer Group hinaus Anerkennung zu verschaffen. Gewalt verkommt selbst in den Quartieren der Straßenkultur zu einem Randphänomen auffälliger Heranwachsender, dessen vergemeinschaftende Kraft im Wesentlichen darin besteht, die Clique von Außenstehenden abzugrenzen und den gemeinsamen Frust über die eigenen Lebenssituation zu kompensieren (vgl. Zdun/Strasser 2009). Obwohl die gesellschaftliche Belohnungs- und Anerkennungswahrscheinlichkeit von Gewalt abnimmt, kann paradoxerweise dennoch von einer Verschärfung der Lage in der europäischen Straßenkultur gesprochen werden. Zahlreiche aktuelle Studien deuten darauf hin, dass die Intensität und Häufigkeit von Gewalt dieser Gruppen in manchen Staaten zugenommen hat (siehe hierzu z. B. Eisner 2001; Heitmeyer 2002; Katz 2007; Thome/Birkel 2007). Eine Zuspitzung macht sich vor allem dort in Westeuropa bemerkbar, wo zunehmende wirtschaftliche Probleme, der Abbau des Sozialstaates und Schwierigkeiten bei der Integration von Migranten und Migrantinnen auftreten, z. B. in Deutschland und Frankreich (vgl. Legge 2008). In verschiedenen Staaten Osteuropas sowie den US-amerikanischen Ghettos ist dieser Trend schon seit längerem festzustellen, und die Gewalt hat extremere Formen angenommen, z. B. in Form von kriminellen Gangs. Das gilt besonders in Regionen, die in den vergangenen Jahrzehnten einem schwerwiegenden sozialen Wandel bzw. erheblichen politischen, sozialen und wirtschaftlichen Transformationsprozessen unterlagen (vgl. Gallup Organisation 2007; Krajeweski 2003; Vigil 2003; Williams 2001). Neben unterschiedlichen Ausprägungen der regionalen Intensität und der Häufigkeit der Delikte im Straßenkulturmilieu sind zahlreiche Gemeinsamkeiten bei den Normen und Einstellungsmustern festzustellen. Die in Straßenkulturen bestehenden sozialen Hierarchien bzw. Anerkennungsdisparitäten zwischen Jugendlichen und jungen Erwachsenen sehen die Unterordnung rangtiefer Personen vor, dennoch werden unterwürfige Verhaltensweisen kaum akzeptiert (vgl.
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Bourgois 1996). Wer mit Respekt behandelt werden möchte, sollte sich in seinem sozialen Umfeld keine Schwäche eingestehen und Streitigkeiten nicht ausweichen. Wer seine Reputation nicht verteidigen kann oder möchte, wird als feige abgestempelt. Innerhalb der Gruppe bedeutet das, dass es vielfach verpönt ist, über Ängste und Sorgen zu sprechen. Mit Blick auf Außenstehende wird erwartet, dass man schon auf vermeintliche Kränkungen und Bedrohungen reagiert. Vigil (2003: 228) nennt drei beispielhafte Situationen, die fast unweigerlich zu Auseinandersetzungen führen: feindselige Blicke, zufällige Begegnungen mit rivalisierenden Gruppen und Affronts, die eine Vergeltung erfordern, z. B. Beleidigungen. Die Straßenkultur kennzeichnet somit die Einforderung eines offensiven Verhaltens in Konfliktsituationen und die Vergeltung von „Unrecht“; dessen Definition unterliegt wiederum der Gruppe, die sich als Normsetzer und Institution sozialer Kontrolle betrachtet. Hierbei legt man deutlich weniger Wert als Mittelschichtangehörige auf die zwei wesentlichen Faktoren zur Begrenzung öffentlicher Gewalt, die Elias (1969) in seinem Werk zum Zivilisationsprozess beschreibt. Elias zufolge lernten die Menschen aufgrund zunehmender Selbstkontrolle, 1. Konflikte weniger aggressiv beizulegen und 2. das Gewaltmonopol des Staates zu akzeptieren. Demnach sehen soziale Beziehungen die weitgehende Ablehnung von (körperlicher) Gewalt zur Zielerreichung vor, ein Zuwiderhandeln hätte einen Statusverlust zur Folge. Zwar hat Elias mit seiner eurozentristischen Sicht auf die Entwicklung von öffentlicher Gewalt recht, dass sie in Westeuropa nachgelassen hat, allerdings ist ihm entgegenzuhalten, dass das weder weltweit in gleicher Form zu beobachten ist noch sind in den westeuropäischen Straßenkulturen die Selbstkontrolle und die Akzeptanz der Polizei so stark ausgeprägt wie bei der übrigen Bevölkerung. Denn in Straßenkulturen kommt es einerseits darauf an, Probleme selbst zu regeln, d. h. die Polizei nicht einzuschalten, um soziale Anerkennung zu erlangen (vgl. Zdun 2007a). Andererseits, so argumentiert Foglia (1997), spielen staatliche Sanktionen eine nachrangige Rolle bei der Reglementierung jugendlichen Verhaltens. Vielmehr ist die soziale Kontrolle durch das Umfeld maßgebend. Eigene Daten von jungen Russlanddeutschen zeigen beispielsweise, dass mehr als zwei Drittel derjenigen, die aus dem Straßenkulturmilieu stammen, die Hilfe der Polizei strikt ablehnen (vgl. Zdun 2008: 54). Von denjenigen Aussiedlern, die nicht der Straßenkultur zuzurechnen sind, würden hingegen mehr als zwei Drittel die Polizei in Anspruch nehmen, wann und wie auch immer sie in eine Opfersituation geraten. Neben den Regeln der Straßenkultur gibt es speziell bei Migranten aber noch weitere Erklärungen dafür, die Polizei grundsätzlich
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abzulehnen. In manchen Ländern besteht ein „traditionelles Misstrauen“ in die Polizei, das von Kindheit an internalisiert wird und nach der Einreise in Deutschland nur schwer abzulegen ist. Eine typische Ursache des Misstrauens ist Korruption im Herkunftsland. Die Bestechlichkeit der Polizeibeamten zeigt sich einerseits bei willkürlichen Verkehrskontrollen und Personenüberprüfungen, die nur der Aufbesserung geringer und dem Ausgleich nicht gezahlter Gehälter dienen. Andererseits äußert sich Korruption dadurch, dass sich vermögende Kriminelle „freikaufen“ können oder gar nicht erst verfolgt werden. Zudem wird mancherorts von Polizisten bei der Auswahl der Fälle der Weg des geringsten Widerstandes bevorzugt (vgl. Frisby 1998). Ermittlungen gegen bestimmte Personenkreise werden nicht aufgenommen, so dass sich eine Anzeige nicht lohnt, sondern den Anzeigenden eher noch in die Gefahr bringt, anschließend von korrupten Beamten selbst verfolgt zu werden. Deshalb verwundert es nicht, dass in diesen Ländern der Standpunkt vertreten wird, die Polizei sorge durch ihr willkürliches Vorgehen für mehr Probleme als sie Nutzen stiftete (vgl. Luff 2000). Laut Sasse (1999: 227) führt dies zu einem Respekt, der an „,Angst‘ vor der staatlichen Obrigkeit“ grenzt, die aus deren „Distanz, Härte und Konsequenz“ resultiert. Denn vielerorts ist die Polizei ebenfalls für ihre Brutalität bekannt und die Folter von Verdächtigen zählt zur Alltagspraxis (vgl. Voswinkel 2004). Solche Erfahrungen und Ängste helfen zudem zu erklären, warum selbst manche Migrantenjugendlichen aus benachteiligten Stadtteilen die Polizei als Opfer nicht in Anspruch nehmen wollen, obwohl sie die Straßenkultur ablehnen. Bedeutsam ist für die Straßenkultur des Weiteren, dass ihre Normen nicht nur für die jungen Männer, sondern auch für die jungen Frauen relevant sind. Beide Geschlechter wachsen mit ihnen auf und lernen, Beleidigungen und unterwürfiges Verhalten abzulehnen; auch wenn sie damit vielfach auf unterschiedliche Art umgehen (vgl. Vigil 2003). Für die Männer ist es wichtig, ein Image von Maskulinität durch die Verteidigung der eigenen Ehre und der Ehre anderer zu etablieren, vor allem die der Partnerin, der Familienmitglieder (besonders der Mutter) und der Clique. Durch die Zurschaustellung von Körperkraft und durch Machtdemonstrationen versuchen sie, ihr Image zu stärken und persönliche Schwächen zu kaschieren (vgl. Findeisen/Kersten 1999; Messerschmidt 1995). Allerdings sind Macht und Respekt limitierte Ressourcen, so dass es zu Konkurrenz kommt – man möchte andere dominieren, um selbst besser da zustehen. Speziell Jugendliche mit wenigen Möglichkeiten, um Reputation und Selbstbewusstsein aufzubauen, können leicht der Versuchung erliegen, diese durch Kämpfe herbeizuführen. Alternativen, um „sich zu zeigen“, sind Status-
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symbole (teure und moderne Kleidung, Autos, Schmuck und Uhren) (vgl. Dowdney 2002), die Menge an Drogen, die man verträgt, Waffen und Partnerinnen. Die Frauen haben in vielen dieser Gruppen kaum Entscheidungskraft und dienen eher dazu, die Männlichkeit ihrer Partner zu demonstrieren. Dafür haben sie sich so zu verhalten, wie die Partner es von ihnen erwarten, z. B. indem sie diese als ihre „Beschützer“ anerkennen und sie ihnen treu sind. In einigen Ländern, wie den USA, bilden Frauen allerdings inzwischen eigene Gangs oder versuchen, ihre Position in gemischt-geschlechtlichen Gangs aufzuwerten, indem sie die Verhaltensweisen der Männer nachahmen (vgl. Chesney-Lind/Hagedorn 1999; Vigil 2003). Diese Entwicklungen sind in verschiedenen Straßenkulturen allmählich auch in Europa zu beobachten, z. B. in der deutschen Skinheadszene (vgl. Bruhns/ Wittmann 2002). Ebenso wie den Männern dient ihnen ein Image von Härte als Selbstschutz, da schlagkräftige Mädchen im Alltag seltener belästigt werden (siehe hierzu auch Jones 2004; Ness 2004). In der Regel sind die Männer innerhalb der Straßenkultur allerdings sowohl aus männlicher als auch aus weiblicher Sicht die Verteidiger. In Deutschland kann man dies besonders in gewaltbereiten Cliquen von Russlanddeutschen und Türken beobachten. Den Männern bleibt das Anwenden körperlicher Gewalt vorbehalten. Damit beabsichtigen diese nach Connell (1999), den Frauen „keinen Zugang zu den ernsten Spielen des Wettbewerbs [zu geben], in denen über die Verteilung von gesellschaftlichen Machtpositionen entschieden wird“ (zit. nach Meuser 2001: 14; vgl. Goffman 2001). Diese „Geschlechtslogik des Gewalthandelns“ lasse sich, so Connell weiter, überall da beobachten, „wo (zumeist junge) Männer in kollektiver Aktion Gewalt gegen andere Männer ausüben“. Letzten Endes läuft es darauf hinaus, dass den Frauen das Recht auf Gegenwehr ab- und den Männern die Beschützerrolle zugesprochen wird. Den Frauen wird weder das physische noch das psychische Potenzial für den Umgang mit körperlicher Gewalt zugebilligt. Das Recht zum Einsatz von Gewalt wird zu einer Frage von Macht – die Macht, Probleme zu regeln und die Partnerin zu kontrollieren. Auf diese Weise konstruieren die jungen Männer ihre Identität, denn nur durch Erfolge können sie, so Gilmore (1990), regelmäßig ihren männlichen Status unter Beweis stellen. Außerdem weist Kersten (1997) auf die kulturell unterschiedliche Interpretation von Männlichkeit hin und geht davon aus, dass die jeweils legitime Interpretation innerhalb einer Kultur entsprechende hegemoniale und subordinierte Männlichkeiten konstituiert. Denn es besteht eine große Spannweite von Selbstbehauptungsstrategien in den Quartieren, in denen sich
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Straßenkulturen etablieren, und es ist nur eine kleine Gruppe von Männern, die regelmäßig aktiv durch Gewalt in Erscheinung tritt. Ein Großteil der Heranwachsenden aus diesen Stadtteilen wird eher selten in Auseinandersetzungen verwickelt bzw. provoziert diese zumindest nicht (vgl. Zdun 2007a). Zu diesem Personenkreis bemerkt Vigil (2003: 234): „Nonetheless, they have to learn how to negotiate and navigate through the aura of aggression and violence that pervades certain places.” Sie verfügen über andere Ressourcen, um Anerkennung zu gewinnen und ihr Image zu konstruieren. Sie verstehen es und werden darin von ihren Familien und Freundeskreisen bestärkt und unterstützt, nicht unter den Einfluss devianter Jugendbanden zu geraten. Das unterstreicht, dass Gewalt selbst in den Quartieren der Straßenkultur nur aus Sicht des Freundeskreises des Individuums eine Quelle der Anerkennung ist (vgl. Bereswill 2003). Mit Blick auf die gewaltbereiten Heranwachsenden gilt es ferner zwischen so genannten „Wanna Bes“ und „Veteranen“ zu unterscheiden (vgl. MacYoung 1992). Besonders die Erstgenannten, die noch in der Hierarchie ihres Milieus aufsteigen, d. h. sich einen Namen machen müssen, streben nach Reputation. Es wird bewusst das Risiko von Verletzungen und Inhaftierungen in Kauf genommen, zumal das Milieu nicht den Eindruck vermittelt, im Falle einer Inhaftierung soziale Anerkennung einzubüßen. Vielmehr können sowohl Gefängnisaufenthalte als auch Verletzungen durch Kämpfe und andere Mutproben der Reputation dienen. Verschiedene Studien deuten sogar darauf hin, dass etablierte Gruppenmitglieder den Nachwuchs dazu anstiften, Straftaten sowie Angriffe auf rivalisierende Banden zu verüben (vgl. Vigil 2003). Denn die Veteranen haben sich und anderen oftmals nichts mehr zu beweisen, und ihre Reputation kann ihnen sogar als Schutz vor Herausforderern dienen (vgl. Silverman 2004). So verstehen sie sich darauf, unnötigen Streitigkeiten auszuweichen und Beschwichtigungen dafür einzusetzen, dass Situationen mit Konfliktpotenzial nicht zu Handgreiflichkeiten eskalieren. Dieses Verhalten dient einerseits als Selbstschutz, andererseits ihrem Selbstbild des Erfahrenen und Gerechten, durch das sie sich zusätzlich vom aufstrebenden Nachwuchs abgrenzen (vgl. MacYoung 1992). Es ist also neben dem Geschlecht die Rolle des Alters bzw. der Reife für Gewaltanwendungen relevant. Trotzdem ist nicht zu verkennen, dass in Straßenkulturen eine allgemeine Akzeptanz aggressiver Denk- und Handlungsmuster besteht. Ohne diese könnten ihre Normen und Werte auch nicht aufrechterhalten werden. So hängt das männliche Überlegenheitsdenken und Machtgehabe beispielsweise nicht zuletzt von der Akzeptanz durch die Frauen ab (vgl. Goffman 2001). Diese lehnen es zwar oftmals ab, dabei zusehen zu müssen, wie ihre
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Partner verletzt werden, und sind dagegen, wenn diese nur der Anerkennung wegen kämpfen. Allerdings befürworten es nicht wenige junge Frauen dieses Milieus, verteidigt zu werden, sobald sie sich bedroht fühlen. Sie bevorzugen männliche Beschützer und akzeptieren es als Erwachsene, wenn ihre Töchter ebenso wie ihre Söhne die Regeln der Straßenkultur internalisieren – zum Selbstschutz. Es trägt somit nicht nur der Einfluss der Cliquen und Väter dazu bei, dass die Straßenkultur über Generationen hinweg tradiert wird, sondern die Frauen dieses Milieus sind daran ebenfalls beteiligt (vgl. Enzmann/Brettfeld/ Wetzels 2004; Zdun 2007c). Allerdings endet an dieser Stelle in der Regel der Einfluss der Frauen auf die Gewalt. Die Männer wünschen nicht, dass die Frauen versuchen, ihr Konfliktverhalten zu verändern; das gilt sowohl für aggressive Jugendliche als auch für weniger aggressive, denn sie möchten nicht kritisiert werden. Außerdem scheint das Konfliktverhalten nur bedingt dazu zu dienen, die Frauen zu beeindrucken – das ist nur wichtig, wenn jemand eine Partnerschaft eingehen möchte. Das Gewalthandeln zielt meistens vielmehr darauf ab, sich gegenüber den männlichen Peers zu positionieren, die die entscheidende Instanz für die Anerkennung des Individuums sind (vgl. Rebellon 2006). Resümierend ist festzuhalten, dass sämtliche in diesem Kapitel genannten Normen und Werte einem funktionalen, Status verbürgenden Charakter dienen, den die Gewalt in der Straßenkultur hat. Das ist eine Erklärung dafür, warum die Mehrzahl der Auseinandersetzungen unter Ausschluss derer stattfindet, die diese Normen ablehnen; sowohl Partnerinnen als auch Außenstehende. Diesen Schluss legen auch Subkulturtheoretiker wie Walter Miller (1958) nahe, die davon ausgehen, dass der Ausgangspunkt für die meisten Auseinandersetzungen in diesen Kreisen persönliche Streitigkeiten und das Streben nach Reputation sind, d. h. es handelt sich nicht um eine Revolte gegen die Mittelschicht und ihre Normen. Eine andere bzw. ergänzende Erklärung liefert Richard Felson (1987) mit seinem Konzept der Routine Activities. Er geht davon aus, dass das zeitliche und räumliche Zusammentreffen von motivierten Tätern, passenden Opfern und fehlenden Schlichtungs- bzw. Schutzinstanzen die Wahrscheinlichkeit von Gewalt erhöht. Daraus lässt sich ableiten, dass speziell diejenigen jungen Gruppenmitglieder, die auf Streit aus sind, sich in Situationen und an Orte begeben, an denen sie davon ausgehen können, dass ihre Bedürfnisse befriedigt werden. Da es sich hierbei vorzugsweise um Orte handeln dürfte, an denen man auf Personen trifft, die ebenfalls an Streit interessiert sind, verwundert es nicht, dass Ausei-
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nandersetzungen oftmals mit anderen Angehörigen der Straßenkultur erfolgen (vgl. Kennedy/Baron 1993). Dadurch kann zudem das Risiko verringert werden, dass staatliche Verfolgungsbehörden aufmerksam werden. Das würde der Funktionalität der Gewalt ohnehin schaden und die Betreffenden in die Gefahr bringen, inhaftiert und verurteilt zu werden. Es besteht ein geringeres Anzeigerisiko durch Gegner und Opfer, die aus dem eigenen Milieu stammen, da man deren Reaktionen besser einschätzen kann. Hinzu kommt, dass auf die Straßenkultur die empirische Erkenntnis anzuwenden ist, dass sich Täter und Opfer häufig kennen (vgl. Fattah 1991; Gordon Atehortua 2002). Es handelt sich allerdings um eine „Sozialromantisierung der Gaunerehre“, wenn man davon ausgeht, dass es milieuintern zu keinen Anzeigen und keinem Verrat kommen würde. Sie finden nur seltener statt, und es gilt sie rechtfertigen zu können, wenn sie bemerkt werden. Als gängige Legitimationsstrategien nennt Topalli (2005), dass man damit Freunden oder sich selbst helfen kann bzw. dass man sich damit für den Verrat eines Rivalen rächen möchte. Trotz der demonstrativen Ablehnung der Institution Polizei ist Kooperation also nicht grundsätzlich ausgeschlossen. Teilweise ist von gemeinsamen Aushandlungsprozessen auszugehen, die im Weiteren näher thematisiert werden.
3. Selektive Polizeiarbeit Das auffällige und der Polizei gegenüber eher ablehnende Verhalten der Straßenkulturjugendlichen bleibt nicht ohne Folge. Es beeinflusst die Einstellungen und das Auftreten der Polizeibeamten und -beamtinnen gegenüber den Heranwachsenden nachhaltig. Die Alltagserfahrungen der Polizisten können im Sinne des Doing social Problems zu einer sozialen Realität werden, die gegenseitigen Vorurteilen und Stereotypisierungen Vorschub leistet. Die polizeilichen Einsätze werden zu Aushandlungsprozessen, die als Grundlage dafür dienen, negative Alltagserfahrungen zu verallgemeinern, so dass eine differenzierte Betrachtungsweise auf der Strecke bleibt. Die Etablierung von Stereotypisierungen birgt zudem die Gefahr, mit dem eigentlichen Stigma weitere negative Eigenschaften zu verbinden. Erschwerend kommt hinzu, dass negative Ereignisse in Einsatzsituationen, die Polizeibeamtinnen und -beamte mit Angehörigen ethnischer Minderheiten und sozialer Randgruppen erleben, als persönlichkeitsspezifische Merkmale interpretiert und auf die Gruppe übertragen werden können. Da be-
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stimmte Gruppen der Bevölkerung vornehmlich die Klientel der Polizei darstellen, prägen insbesondere sie das Bild der Polizeibeamten von Minderheiten. Die Ergebnisse der Studie zur Polizei in Duisburg (Schweer/Strasser/Zdun 2008: 21) belegen etwa, dass jene Polizisten und Polizistinnen, die ausgeprägte Vorurteile gegenüber Migranten haben, mit Ausländern tendenziell negative Eigenschaften verknüpfen – abgeleitet vom Bild des „schlechten Ausländers“, der uns nicht nur nicht „nützt“, sondern auch „ausnutzt“, und somit keine Bereicherung, sondern eine Gefahr für unsere Gesellschaft darstellt. Sie sind auch mehrheitlich der Ansicht, dass Ausländer und Ausländerinnen der Polizei mit Vorurteilen begegnen und nicht bereit sind, ihre Arbeit zu unterstützen (vgl. Schweer/Zdun 2005). Das bedeutet, dass problematische Einstellungen und Verhaltensweisen einer Teilgruppe der Migranten – wie die Jugendlichen der Straßenkultur – unzulässig auf andere heranwachsende und erwachsene Migranten übertragen werden. Nun ließe sich argumentieren, dass die Haltung des Polizeibeamten gegenüber Migranten von sekundärer Bedeutung ist, solange er seine Einstellung dienstlichen Erfordernissen unterordnet und diese nicht sein Verhalten anleitet. Dass dem – entsprechend der Annahmen des Doing social Problems Ansatzes – nicht so ist, belegen aber die Ergebnisse der Beamtenbefragung von Schweer und Strasser (2008: 21 f.). Auf die Frage „Denken Sie einmal selbstkritisch über Ihre Umgangsformen mit Ausländern nach. Behandeln Sie diese anders als einen Deutschen?“, antworteten von jenen, die mit Ausländern primär negative Eigenschaften verbinden, 18,6 Prozent mit „Ja, eher benachteiligend“. Für die Gesamtpopulation beträgt der entsprechende Wert 5,8 Prozent. Das ist ein Indiz dafür, dass negative Einstellungen gegenüber ethnischen Minderheiten durchaus Eingang in polizeiliche Handlungsmuster finden. Vieles deutet darauf hin, dass Migranten im Brennpunkt polizeilichen Interesses stehen. Hier gilt es aber zu differenzieren, denn die verstärkte Kontrolle gilt nicht dem ausländischen Normalbürger, das polizeiliche Interesse zielt vielmehr auf bestimmte Gruppen ab: vor allen anderen auf Jugendliche der Straßenkultur und Asylbewerber. Das sind jene Gruppen der Bevölkerung, mit denen nicht nur viele Polizeibeamte und -beamtinnen, sondern auch viele Bürger und Bürgerinnen ein erhöhtes Kriminalitäts- und Gewaltpotenzial verbinden. Aus der Sicht des Normdurchsetzers ist in diesen Fällen eine verstärkte Kontrolle nur „natürlich“, verspricht sie doch polizeilichen Erfolg. So fördern die polizeiinterne Sozialisation und die Struktur der Polizei Vorurteile und kreiert Stereotypen, wodurch u. a. „Ethnizität als gesellschaftliche Klassifizierungskategorie in die Selektionsentscheidungen einer Organisation“ (Proske 1998:
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180) einfließt. Und in vielen Fällen bedeutet Selektion Diskriminierung (vgl. Gesemann 2003). Verstärkt wird diese Tendenz dadurch, dass die Polizei als Institution häufig als „Werkschutz“ (Kutscha 2001: 218) der Stadt und privater Geschäftsleute instrumentalisiert wird. Man bedient sich ihrer auch, um sozialstrukturelle Defizite zu verdecken und spezifische Personengruppen als Verursacher von sozialen Problemlagen zu definieren. „Social junks“ sollen aus dem öffentlichen Raum verdrängt werden, damit die eigentlichen Ursachen für (Armuts-)Kriminalität aus dem Blickfeld der Öffentlichkeit verschwinden. Insofern müssen sich auch kriminalpräventive Räte die Frage gefallen lassen, inwiefern sie dazu beitragen, an der Konstruktion polizeilicher „Feindbilder“ mitzuwirken. Immerhin benötigen jene stellenweise Kriminalität geradezu, um die eigene Institution und Aktivität zu legitimieren (vgl. van den Brink 2005). Was den polizeilichen Umgang mit ethnischen Minderheiten und sozialen Randgruppen anbelangt, scheint die Kategorie „Ausländer“ daher nicht selten von sekundärer Bedeutung zu sein; vielmehr ist der soziale Status des polizeilichen Gegenübers ausschlaggebend. Die Überprüfung eines Anfangsverdachts gestaltet sich bei Menschen mit einer geringeren Beschwerdemacht wesentlich unproblematischer. Die Rechtmäßigkeit einer Leibesvisitation wird ein schwarzafrikanischer Asylbewerber kaum in Frage stellen können, auch wenn er polizeilich nicht in Erscheinung getreten ist und der Anfangsverdacht lediglich darin besteht, dass die Person „schwarz“ ist (vgl. Schweer/Strasser 2008). Ebenso sieht es bei den meisten Straßenkulturjugendlichen aus, die wiederholt Personenüberprüfungen unterzogen werden, um ihnen zu signalisieren, dass die Zusammenkünfte an ihren Treffpunkten polizeilich und von Anwohnern unerwünscht sind. Dies deckt sich mit den Annahmen von Ganter (2003: 44), der argumentiert, dass: „die unbewusste Wahrnehmung bestimmter Symbole oder ‚Schlüsselreize’ zu einer weitgehend automatisch ablaufenden Aktivierung von Stereotypen und Vorurteilen führen, die alle weiteren Vorgänge der Definition der Situation mehr oder weniger festlegt. ... Dies ist vor allem dann der Fall, wenn die Kategorisierungen mit gut sichtbaren äußerlichen Merkmalen (z. B. Hautfarbe, Alter, Geschlecht) verbunden sind, wenn diese zudem in der jeweiligen Situation besonders auffällig sind ... und wenn die Kategorien oder Schemata häufig aktiviert, und damit ins Gedächtnis gerufen werden“. Nicht der Ausländerstatus ist das entscheidende Kriterium, sondern die Verkettung personen- und situationsspezifischer Merkmale. Das bedeutet aber auch, dass polizeiliche Selektionsmechanismen eben nicht willkürlich sind, sondern wesentlich aus erfahrungsgesättigten Alltagsroutinen resultieren. Anders als
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psychodynamische und persönlichkeitsorientierte Erklärungsversuche fasst die Forschungsrichtung der social Cognition die Stereotypisierungen nicht als irrationale und pathologische Phänomene, sondern „als mehr oder weniger ‚normale’ Folgen allgemeiner kognitiver Regelmäßigkeiten und Abläufe auf. Ein zentraler Ansatzpunkt für diese Sichtweise ist die Erkenntnis, dass menschliche Organismen über eine beschränkte Kapazität zur Aufnahme und Verarbeitung von Informationen verfügen. Dieser Mangel der kognitiven Grundausstattung des Menschen ist ... letztlich nur durch Strategien und Heuristiken der Komplexitätsreduktion zu bewältigen“ (Ganter 2003: 42). Darüber hinaus werden negative Verhaltensweisen von ethnischen Minderheiten und sozialen Randgruppen meist als persönlichkeitsspezifische Defizite betrachtet, positive dagegen auf situationsspezifische Ursachen zurückgeführt. Dies kann bei Polizisten zu der Einstellung führen, dass der Jugendliche aus einem Straßenkulturviertel, der keiner devianten Gruppe angehört, lediglich die Ausnahme von der Regel darstellt. Wenn es sich bei Stereotypisierungen nicht um pathologische Phänomene handelt, sondern diese Teil des sozialen Lernens und der „normalen“ Sozialisation sind, dann „unterscheidet sich der Erwerb bzw. die Übernahme von Stereotypen und Vorurteilen nicht wesentlich vom Erwerb von Erwartungen, Bewertungen und Verhaltensmustern in anderen Zusammenhängen“ (Ganter 2003: 50). Demnach ist davon auszugehen, dass unterschiedliche berufliche Alltagserfahrungen der Polizeibeamtinnen und -beamten auch zu Unterschieden hinsichtlich ihrer Stereotypen and ihrer Verhaltensweisen gegenüber Minderheiten führen. Die eigenen Daten (Zdun 2007a) belegen am Beispiel der Russlanddeutschen solche Unterschiede zwischen verschiedenen Dienstgruppen der Polizei. Sowohl der Berufsalltag der Beamten und Beamtinnen des Wach- und Wechseldienstes als auch der der Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen der Kriminalkommissariate ist durch den Kontakt mit auffälligen Jugendlichen geprägt. Die uniformierte Polizei trifft allerdings meist unter anderen Umständen als die der Kommissariate auf die Heranwachsenden. Die uniformierten Polizeibeamten erleben die Heranwachsenden in der Regel nur beim Patrouillieren und auf der Wache. Im Zuge von Personenüberprüfungen, bei Vernehmungen oder bei Anzeigen durch die Migranten erfahren sie diese vor allem als Personen, die sich beschweren bzw. der Polizei gegenüber eine ablehnende Haltung einnehmen. Teilweise stoßen sie bei Personenüberprüfungen und Verhaftungen auch auf Gegenwehr, so dass eher nicht von einem kooperativen Verhältnis die Rede sein
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kann (vgl. Schweer/Zdun 2005). In der Hektik des Berufsalltags erlebt man das polizeiliche Gegenüber also oftmals eher negativ. Die Zivilbeamten und -beamtinnen der Kriminalkommissariate treffen zwar bei ihren Einsätzen auch häufig auf Ablehnung bei Vernehmungen und Verhaftungen, aber sie lernen durch ihre Szenekontakte und Gespräche mit den Jugendlichen (und deren Angehörigen) auch die Menschen (hinter den Taten) kennen. Es fällt ihnen daher teilweise leichter zu differenzieren. Dementsprechend fällt bei vielen Minderheitsangehörigen auch die Bewertung des Verhaltens von Zivilbeamten deutlich besser aus als die der Uniformierten des Wach- und Wechseldienstes (vgl. Schweer/ Zdun 2005). Hieraus können Einstellungsunterschiede gegenüber „Aussiedler“ zwischen den verschiedenen Dienststellen erklärt werden (Tabelle 1). Tabelle 1: Einstellungsmuster der Beamten des Wach- und Wechseldienstes und der Kriminalkommissariate in Bezug auf Aussiedler (in %) Ja, das ist Ja, das ist ganz und gar überwiegend ein Vorurteil ein Vorurteil
Nein, das ist eher kein Vorurteil
Nein, das ist überhaupt kein Vorurteil
WW
KK
WW
KK
WW
KK
WW
KK
Aussiedlern ist es doch egal, ob sie ihr Geld legal oder illegal verdienen
20,2
29,1
56,0
64,6
19,0
3,8
4,8
2,5
Aussiedler meckern ständig
7,1
7,7
27,4
50,0
46,4
37,2
19,0
5,1
Russen sind fast alle Alkoholiker
26,5
32,1
42,2
51,3
22,9
14,1
8,4
2,6
WW = Wach- und Wechseldienst (n=85), KK = Kriminalkommissariat (n=79) Quelle: Zdun (2007a: 38)
Schon die Klassiker der empirischen Polizeiforschung (z. B. Feest/Blankenburg 1972) verweisen darauf, dass es Unterschiede bei der Behandlung von Konfliktparteien gibt. Heuer (1998: 401) fügt zu Recht hinzu, dass „im polizeilichen All-
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tag Gerechtigkeit nicht durch Gleichbehandlung garantiert wird“. So scheint ein wichtiges Kriterium bei der Entscheidung, welche Maßnahmen den Beamten angemessen erscheinen, darin zu bestehen, mit welchen Personen und Gruppen sie es zu tun haben. Auch die Frage, wie das polizeiliche Gegenüber angeredet wird, hat mit der sozialen Position des Betroffenen zu tun. Heranwachsende der Straßenkultur und Migranten werden häufiger geduzt als der erwachsene, sozial etablierte oder so erscheinende einheimische Bürger. Verbale Entgleisungen resultieren nicht so sehr aus fremdenfeindlichen Einstellungen, vielmehr spiegeln Kraftausdrücke, die von Außenstehenden als diskriminierend gedeutet werden könnten, häufig den ‚Umgangston der Straße’ wider. Beamte, die sich in der Straßenkultur behaupten wollen, müssen sich z. T. deren subkulturellen Normen und Regeln anpassen. Die Polizei reagiert aber auch darauf, wie das polizeiliche Gegenüber in der jeweiligen Situation dem Beamten oder der Beamtin gegenübertritt. Wenn sich die betreffende Person kooperativ, wenn nicht gar unterwürfig, oder aber aggressiv und ablehnend verhält, hat das nicht nur einen entscheidenden Einfluss darauf, ob Einsätze eskalieren, sondern auch darauf, ob die Beamten eine formelle oder informelle Lösungsstrategie wählen. Bei der Wahl der Lösungsstrategie spielen soziodemografische Merkmale der Klientel ebenfalls eine Rolle: Frauen kommen häufiger in den Genuss informeller Lösungsstrategien als Männer; sie sind auch seltener Ziel von Verkehrskontrollen und Personenüberprüfungen (vgl. Schweer/Strasser 2008). Schließlich ist das Setting, in dem der Kontakt stattfindet, für das polizeiliche Verhalten bedeutsam. Wird die Situation von den Beamten als bedrohlich eingestuft oder gilt das polizeiliche Gegenüber als latent gewalttätig, hat das ein deutlich konsequenteres Einschreiten zur Folge. Das äußert sich dann im Anlegen von Handfesseln oder in der Anwendung physischen Zwangs. Polizisten sehen diese Maßnahmen in erster Linie als Eigensicherung der am Einsatz beteiligten Personen. Mangelndes Ansehen oder Geringschätzung der Polizei durch das polizeiliche Gegenüber wird von den Beamtinnen und Beamten nicht bloß als Respektlosigkeit bewertet. Vielmehr scheint damit eine erhöhte Gewaltbereitschaft assoziiert zu werden, somit auch eine erhöhte Eigengefährdung. Ein ‚rabiates Vorgehen’ bei Kontakten mit Bevölkerungsgruppen, die der Beamte oder die Beamtin als problematisch einstuft, stellt dann eine Handlungsstrategie dar, um unmissverständlich zu demonstrieren, wer ‚Herr im Ring’ ist, nicht zuletzt um die eigene körperliche Unversehrtheit zu garantieren.
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Im Gegenzug werden Polizistinnen und Polizisten nicht selten von Angehörigen ethnischer Minderheiten und sozialer Randgruppen als Repräsentanten eines als ungerecht empfundenen Staates wahrgenommen und für (antizipierte) Diskriminierung verantwortlich gemacht (vgl. Gesemann 2003). Das kann nicht nur zur Verschärfung von Einsatzsituationen beitragen, sondern auch dazu führen, dass der repressive Charakter polizeilicher Arbeit von diesen Bevölkerungsgruppen überbetont wird. So ist auch zu erklären, dass im Gegensatz zur ausländischen „Normalbevölkerung“ so genannte Problemgruppen wie die Jugendlichen der Straßenkultur ein deutlich geringeres Vertrauen in die polizeiliche Arbeit aufweisen. Allerdings müssen sich die Vertreter solcher Minderheiten teilweise gar nicht erst delinquent verhalten, um sowohl bei Anwohnern als auch bei der Polizei Argwohn hervorzurufen (vgl. Strasser/Zdun 2003). Dazu führen bereits regelmäßige Treffen im öffentlichen Raum, die für manche Jugend- und Migrantengruppen ein typisches Freizeitverhalten darstellen und durch die räumliche Enge zu Hause sowie fehlende Freizeitangebote in ihren Quartieren begünstigt werden. Das wird von den Einheimischen aber selten verstanden und als befremdend und bedrohlich empfunden. Die Folge sind Ängste und Anrufe bei der Polizei, die wiederum vermehrte Kontrollen bewirken – auch für Jugendliche, die sich nichts zu Schulden kommen lassen.
4. Informelle Aushandlungsprozesse im Polizeialltag Mit den Problemen sozialer Marginalisierung und der daraus resultierenden Armuts- und Gewaltkriminalität werden vor allem die operativen Kräfte der Polizei konfrontiert, die mit schwindenden Ressourcen das wachsende Konfliktpotenzial unter Kontrolle halten sollen. Unklarheiten und Überschneidungen von Zuständigkeiten sowie fehlende einheitliche Maßgaben zum Umgang mit dem polizeilichen Gegenüber lassen die Institution der Polizei zu einem nicht homogenen Gebilde werden. Es gibt daher weder die Polizei oder den Polizeialltag noch den typischen Polizisten. Eine wesentliche Differenzierung kann man beispielsweise zwischen verschiedenen Diensteinheiten der Polizei vornehmen. Es gibt sowohl die Beamten und Beamtinnen des Wach- und Wechseldienstes, die in Problemstadtteilen Streife laufen, den Bürgern und Bürgerinnen Präsenz zeigen und ihren Dienst in der Regel nach Vorschrift machen. Daneben gibt es weitere Polizeieinheiten, die sich vom Auftreten der uniformierten Streifenpolizei deutlich unterscheiden.
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Die Mitglieder der Einsatztrupps zur Bekämpfung der Straßenkriminalität sind beispielsweise die klassischen ‚Jäger’ der Polizei. Sie agieren in Zivil, arbeiten meistens nachts und verfügen über ein hohes Maß an Autonomie. Den Großteil ihrer Einsätze bestimmen sie selbst. Integraler Bestandteil ihrer Aktivitäten ist die Überprüfung von – in ihren Augen – verdächtigen Personen und Fahrzeugen, wobei die Personenüberprüfungen und Fahrzeugkontrollen nicht nur die Funktion haben, Kriminelle aufzuspüren, sondern auch dazu dienen, Präsenz im Revier zu zeigen. Hiervon versprechen sich die Beamten einen nachhaltigen Präventionseffekt: Potenziellen Gesetzesbrechern soll signalisiert werden, dass rechtsfreie Räume nicht geduldet werden – nach dem Motto: „Die Straße gehört uns!“ (vgl. Schweer/Strasser 2008). Die unterschiedliche Berufsauffassung der Diensteinheiten beinhaltet auch einen unterschiedlichen Umgang mit den Jugendlichen der Straßenkultur. Da die Aktivitäten der Einsatztrupps nur zu einem geringen Teil von außen veranlasst werden, sind die Beamtinnen und Beamten dieser Organisationseinheit stärker als die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen des Wach- und Wechseldienstes auf ihre berufliche Erfahrung und Informationen aus dem Milieu angewiesen. Hierbei bilden sich auch Stereotypen heraus, und es kommt zu einer selektiveren Kontrollpraxis als bei den Beamtinnen und Beamten des Wachund Wechseldienstes, denn Kontakte und Ermittlungen konzentrieren sich insbesondere auf Szenejugendliche. Problematisch ist, dass die polizeilich konstruierte Wirklichkeit eine Mischung aus den erwähnten Stereotypen und den Erfahrungen des polizeilichen Alltags darstellt, die sich wiederum gegenseitig bedingen. Auf diese Weise bedienen die im Einsatz gemachten Erfahrungen gängige Stereotypen („Straßenkulturjugendliche stiften Unruhe“), auf der anderen Seite bestimmen Stereotypen das polizeiliche Handeln (eine Gruppe von Heranwachsenden, die sich in einem Straßenkulturviertel im öffentlichen Raum trifft, wird nahezu automatisch kontrolliert und wenn möglich des Ortes verwiesen). Aufgrund ihrer Sprache, ihres Habitus und ihrer Vorgehensweise entsprechen die Mitglieder der Einsatztrupps am ehesten dem Dirty-Harry-Image (Schweer/Strasser 2008: 15). Mehr als die Angehörigen des Wach- und Wechseldienstes werden sie Teil der Straßenkultur. Hüttermann (2000: 534) bezeichnet diesen Beamtentypus in Anlehnung an den amerikanischen Begriff Street Cop auch als Street Corner-Polizei. Die von diesen Beamten und Beamtinnen getragene Street Cop Culture widerspricht der Management Cop Culture der polizeilichen Führungsebene. Hüttermann (2000: 533 f.) bemerkt daher weiter, dass „die ‚management cop ulture’ ... von sacharbeitenden und managerialen Polizisten und solchen Beamten getragen (wird), welche die Behörde nach au-
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ßen beispielsweise in der korporativen Welt und der medialen Öffentlichkeit repräsentieren. Demgegenüber stehen die Beamten der ‚Street Cop Culture’ mit einem Bein in der korporativen und mit dem anderen Bein in der leibhaftigen Welt“ (vgl. zur Polizeikultur auch Behr 2000, 2006). Die Alltagspraxis der Jäger und ihr hoher Grad an Autonomie stoßen somit polizeiintern durchaus auf Ablehnung, da sie sich der Kontrolle durch die polizeiliche Organisation bzw. Führung weitgehend entziehen. Dieser Umstand widerspricht dem Selbstverständnis der Managementkultur von Polizei, das geprägt ist durch hierarchische Struktur, Kontrolle sowie formal korrektes Auftreten. Auch die Nähe zum polizeilichen Gegenüber schürt bei den Vorgesetzten Ängste, da bei zu langer Verweildauer in dieser Organisationseinheit ein Abdriften ins kriminelle Milieu befürchtet wird. Hinzu kommt, dass das Vokabular der Beamten, das sich am Slang der Straße orientiert, ihre Art, sich zu kleiden, sowie ihr häufig hemdsärmeliges Auftreten bei der Führung nicht selten Irritationen auslösen. Aus Sicht der Jäger ist hingegen genau dieser Umgang mit dem polizeilichen Gegenüber im Berufsalltag unabdingbar. Respekt im Milieu erlangt man häufig über den Weg der Demonstration rhetorischer Schlagfertigkeit, der Stärke, der Männlichkeit und des Durchsetzungsvermögens, „denn rhetorische Provokationen der Polizei durch die Szene sind ein Mittel, das sich besonders für den gruppeninternen Kampf um knappe statusverbürgende Anerkennung eignet“ (Hüttermann 2000: 539). Je besser der Beamte oder die Beamtin die „Spielregeln des Charakterwettkampfs“ beherrscht, desto seltener ist er gezwungen, Organisationsmacht ins Spiel zu bringen oder physische Gewalt anzuwenden. Sich auf den formalen Apparat zurückzuziehen, wird nicht nur vom polizeilichen Gegenüber, sondern auch von den eigenen Kollegen und Kolleginnen als Schwäche empfunden. Seine Autorität garantiert seine Handlungsfähigkeit in nahezu allen Situationen. So entpuppt sich die Street Corner-Polizei für die Jugendlichen in der Straßenkultur als Konkurrent und strategischer Partner auf der Suche nach dem ‚Kick’. Durch diese Art des Doing social Problems findet die Polizei Zugang zu dieser Subkultur und kann Konflikte auf einem niedrigen Niveau halten (vgl. Gesemann 2003). In diesem Kontext kann sogar von einer emotionalen Verbindung zwischen diesen Beamten und dem polizeilichen Gegenüber gesprochen werden. Letzteres hat für den Jäger ein Gesicht, wobei seine Bindung an das kriminelle Milieu nicht nur seinen polizeilichen Erfolg garantiert, sondern auch Quelle seiner Autorität ist, denn „je anonymer eine Institution erfahren wird, umso weniger wird ihr ... ‚Autorität’ zugeschrieben“ (Fiedler 2001: 29).
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Anders als die Management Cop Culture, die sich am first Code der Institution orientiert, richtet sich die Street Cop Culture nach dem second Code der Straße, demzufolge polizeiliches Handeln für das System funktional sein muss. Der Polizeiforscher Rafael Behr (2000: 227) kommt zum Schluss, dass „neben dem first Code des Rechts noch eine Polizistenkultur existiert, deren second Code in Form von subkulturellen Handlungsmustern für die Beamten ebenfalls normative Bindungswirkung entfaltet. Diese bilden das Scharnier zwischen institutioneller Struktur und individueller Handlung.“ Diese Handlungsmuster sind „aber in ihrer ethischen Grundlage nicht eindeutig: Sie erklären zwar das Funktionieren von Polizeiarbeit, dies schließt aber auch deviantes Verhalten ein“. Dies beruht darauf, dass polizeiliches Handeln in der Straßenkultur dann funktional ist, wenn es im Sinne der subkulturellen Regeln legitim ist. Aus dem alltagspraktischen Kalkül der Reduzierung eigener Schreibarbeit und der Überzeugung heraus, dass repressive Maßnahmen beispielsweise bei Bagatelldelikten niemandem nutzen und teilweise sinnlos sind, allerdings ein Vertrauensverhältnis zu den Jugendlichen aufgebaut werden kann, wenn man hin und wieder informelle Lösungsstrategien anwendet, kommen eben jene Strategien zum Einsatz. Dazu kann es etwa bei bestimmten Wiederholungstaten kommen, die auf den ersten Blick niemandem direkten Schaden zuzufügen scheinen, wie der Besitz kleinerer Mengen weicher illegaler Drogen, die offensichtlich für den Eigenbedarf des Heranwachsenden bestimmt sind. Bei einem solchen Drogenfund kann diesem dann beispielsweise empfohlen werden, die Drogen in einen Gully zu werfen, anstatt für den Besitz eine Anzeige zu erhalten. Die Droge wird somit unbrauchbar gemacht, der Jugendliche entgeht einem Strafverfahren und die Polizeibeamten haben weniger Arbeitsaufwand und der Heranwachsende wird sich in Zukunft eventuell einmal als hilfreich erweisen, wenn die Polizisten bei ihren Ermittlungen Hilfe aus der Szene benötigen. Informelle Lösungsstrategien wie diese haben letzten Endes nicht nur den Zweck, polizeiliches Handeln effektiv zu gestalten, sondern beinhalten auch eine moralische Komponente. Man handelt gerecht, wenn auch nicht unbedingt im Rahmen der Gesetze. Hier offenbart sich das unauflösbare Dilemma polizeilicher Arbeit: Street cops sind auf eine praktikable Routine angewiesen, soll der Polizeiapparat nicht kollabieren. Der polizeilichen Führung ist dieses Erfordernis zwar bewusst, dennoch muss sie nach außen hin dokumentieren, dass solche Handlungsmuster, sobald sie öffentlich bekannt werden, ein individuelles Fehlverhalten der jeweiligen Beamten darstellen. Andernfalls würde sie die Existenz des second Code nicht nur zugeben, sondern ihn sogar legitimieren. Das führt dazu, dass infor-
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melle Lösungsstrategien nur unter bestimmten Umständen und nicht fortlaufend angewendet werden. Denn sonst laufen die Beamten nicht nur eher Gefahr, Schwierigkeiten mit der Führungsebene zu bekommen, sondern sie würden auch bestimmten Gesetzen teilweise ihre Bedeutung entziehen. Die Anwendung der informellen Lösungsstrategien erfolgt daher ebenfalls selektiv. Typische Selektionskriterien für die Anwendung informeller Lösungsstrategien sind das Setting und das Verhalten des polizeilichen Gegenübers. Nur wenn die Rahmenbedingungen es zulassen, werden Polizeibeamte und -beamtinnen geringe Gesetzesübertretungen nicht zur Anzeige bringen. Beispielsweise wird es eher dazu kommen, wenn das polizeiliche Gegenüber alleine ist und vor allem, wenn keine unbeteiligten Beobachter anwesend sind, die das ‚Fehlverhalten’ der Polizisten bei deren Vorgesetzen melden könnten. Zudem kann es sich begünstigend auswirken, wenn die Beamtin oder der Beamte die Täter bereits kennen. Dann nämlich können sie deren Reaktionen und kooperativen Nutzen bei künftigen Ermittlungen besser einschätzen. Heranwachsende, die sich den Beamten gegenüber ablehnend verhalten und die die Polizei keinen Nutzen eines solchen Verhaltens erkennen lassen, werden seltener in den Genuss informeller Lösungsstrategien kommen. Das Doing social Problems bei informellen Lösungsstrategien unterliegt somit ebenfalls bestimmten Selektionsmechanismen, die sich im Berufsalltag der Beamten etablieren und in Selbstverständlichkeiten niederschlagen können. Bei Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen des Wach- und Wechseldienstes ergibt sich hingegen ein ganz anderes Bild von den Szenejugendlichen, da sie sich in der Regel nur punktuell mit deren sozialem Hintergrund auseinandersetzen und keine Kontakte zu ihnen aufbauen. Ihr Eindruck von den Jugendlichen mag somit zwar mehr von Vorurteilen und Stereotypen getrübt sein, allerdings führt das auch eher zu einer Gleichbehandlung sämtlicher Heranwachsender in diesen Stadtgebieten. Diese Gleichbehandlung ist jedoch nicht grundsätzlich als positiv zu beurteilen, besonders dann nicht, wenn sie auf Vorurteilen und Stereotypen beruht. Dann leisten die geringeren Szenekontakte und die Vorurteile beispielsweise dem negativen Nebeneffekt Vorschub, dass sich die nicht devianten Jugendlichen durch wiederholte und aus ihrer Sicht willkürliche Personenüberprüfungen diskriminiert fühlen. Für Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen des Einsatztrupps zur Bekämpfung der Straßenkriminalität stellt dagegen die Verfolgung der Straßenkriminalität einen essentiellen Bestandteil ihrer täglichen Arbeit dar. Sie sind mit den Lebensbedingungen, typischen Tatmotiven des Milieus und den „üblichen Verdächtigen“ vertraut. Deshalb gehen sie bei ihren Ermittlungen auch selektiver vor, nutzen
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teils Informationen aus der Szene und behandeln die Heranwachsenden eher nach den Normen der Straßenkultur. Das hinterlässt bei diesen den Eindruck, mehr Respekt zu erfahren, als sie es von den Uniformierten gewohnt sind. Die eigenen Daten bestätigen, dass aus Sicht der Straßenkulturjugendlichen informelle Lösungsstrategien vornehmlich von Zivilfahndern praktiziert werden und man sich von diesen besser behandelt fühlt (vgl. Zdun 2008; Zdun/Celikbas 2008).
5. Fazit Der Doing social Problems Ansatz ist ein vielversprechendes Konzept zur Untersuchung und Beschreibung sozialer Probleme im Kontext von Institutionen, die in ihrem Berufsalltag mit unterschiedlichsten Formen sozialer Probleme konfrontiert werden. Das Konzept bietet eine gute Grundlage, um soziale Aushandlungsprozesse und deren Übergang in die soziale Realität darzustellen. Am Beispiel der deutschen Polizei und der Heranwachsenden aus dem Milieu der Straßenkultur konnte dies anschaulich praktiziert werden. Der Doing social Problems Ansatz erlaubt es, in der Analyse über Allgemeinplätze zum Verhältnis von Polizei und problematischen Jugendlichen hinauszugehen. Es lassen sich vielfältige Differenzierungen vornehmen, die neue Einblicke in den Berufsalltag der Vertreter der Institution Polizei geben. Hierzu zählt neben der Beschreibung von Selektionseffekten und Stereotypisierungen seitens verschiedener polizeilicher Diensteinheiten deren ebenfalls unterschiedliche Anwendung informeller Lösungsstrategien. Die Polizei verliert in der Analyse ihren Status als einheitliche Institution, und sie kann besser in ihren Logiken und Handlungsabläufen verstanden werden. Wie die verschiedenen Kapitel dieses Bandes zeigen, ist der Doing social Problems Ansatz für verschiedene Berufsgruppen und Settings ein fruchtbares Konzept, das es in Deutschland in Zukunft mit weiterführenden (Fall)Studien zu vertiefen gilt. Auch wenn viel von den bisherigen Ergebnissen gelernt werden kann, basieren viele von ihnen noch auf Daten, denen keine explizite Untersuchung zu Doing social Problems zugrunde liegt. Vertiefende Fragestellungen und originäre Konzeptionen dürften dazu beitragen, dass Deutschland nicht nur im Forschungsstand aufholen kann, sondern dass auch relevante Erkenntnisse und Verfeinerungen des Konzepts des Doing social Problems hervorgebracht werden können.
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Oliver Brüchert
„Gewalt ist keine Lösung“ Der Beitrag von Kampagnen der Kriminalprävention zur Konstruktion sozialer Probleme
1. Einleitung Es ist heute nicht leicht, alles, was unter dem Etikett „Prävention“ stattfindet, auf einen präzisen Begriff zu bringen. Kriminologische Differenzierungen zwischen positiver und negativer General- und Spezialprävention taugen für eine sozialwissenschaftliche Analyse ebenso wenig wie die (sozial)pädagogische Unterscheidung von primärer, sekundärer und tertiärer Prävention. 1 Ein sozialwissenschaftlicher Begriff von „Prävention“ hätte eben diese wissenschaftlichen Definitionsversuche als wichtigen Teil des Feldes, das es zu beschreiben gilt, mit in den Blick zu nehmen. Wenn Prävention heute in erster Linie als Kriminalprävention verstanden wird, hat das unmittelbar damit zu tun, dass die Kriminologie und die Strafrechtswissenschaft mit ihren Studien und theoretischen Konzepten diese Perspektive ausgearbeitet haben. Wenn Prävention sich schwerpunktmäßig an deviante Jugendliche im Handlungsfeld Schule richtet, hat das unmittelbar damit zu tun, dass Psychologie und Sozialpädagogik diese Praxis anleiten und Generationen von Sozialarbeitern in diesem Verständnis ausgebildet haben. Ein sozialwissenschaftlicher Begriff von Prävention hätte
1
Dieses von Caplan 1964 für eine klinisch-medizinische Praxis ausgearbeitete Präventionsverständnis bezieht sich eigentlich auf die Vorbeugung, Früherkennung und Behandlung/Rückfallvermeidung psychischer Erkrankungen, ist aber für sozialpädagogische und erziehungswissenschaftliche Debatten bis heute prägend. Das ist zugleich ein Hinweis auf ein weiteres wichtiges Feld von „Prävention“, die Medizin bzw. öffentliche Gesundheitskampagnen. Obwohl sich Indizien anführen ließen, dass Kriminalprävention und Gesundheitsdebatten viele Berührungspunkte haben, beschränken sich die folgenden Ausführungen aus praktischen Gründen auf den kriminalpräventiven Bereich.
Kampagnen der Kriminalprävention
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aber vor allem auch die Auswirkungen dieser Definitionsversuche auf die Problemwahrnehmung der verschiedenen Akteure in den Blick zu nehmen. Kriminalpräventive Kampagnen wie das „Deutsche Forum für Kriminalprävention“ (DFK) oder die „Polizeiliche Kriminalprävention“ [http://www.polizei-beratung .de] richten sich in erster Linie an das Bewusstsein der Bürger. Sie versprechen Aufklärung, warnen vor Gefahren und rufen dazu auf, Sicherheit im öffentlichen Raum durch aufmerksames Hinsehen und Eingreifen aktiv mit zu gestalten. Diese Form der Bürgerbeteiligung erfordert die Ausarbeitung eines Problembewusstseins: Die Bürger sollen selbst in der Lage sein, Gefahren zu erkennen, sie sollen ihr soziales Umfeld beobachten, um Anzeichen von Missbrauch und Verwahrlosung zu identifizieren oder zu melden, bevor es zu spät ist. Kriminalpräventive Kampagnen geben also vor, die Bürger zu lehren, wie man Schlechtes von Gutem unterscheidet, Kriminalität von Konformität, Gewalt von zivilisierter Konfliktlösung, zerrüttete von intakten Familien. So erschaffen sie notwendig ein sehr spezifisches Bild sozialer Probleme. Dessen Problematik liegt nicht allein in der Kriminalisierung sozialer Ungleichheit. Die „Kultur des Hinsehens, des frühzeitigen Erkennens von Auffälligkeiten“ (DFK) ist geprägt von einer visuellen Logik, die besagt, dass grundsätzlich alle Menschen verdächtig erscheinen, die sich nicht in ein bestimmtes Raster der Normalität fügen. Dazu bieten sich neben den „Fremden“ und Jugendlichen, die für die allgemeine Kriminalitätswahrnehmung traditionell eine entscheidende Rolle spielen, auch alle jene an, die sich die sozialen und kulturellen Standards der Mehrheitsgesellschaft nicht leisten können oder wollen. Was die Gesellschaft als Kriminalität wahrnimmt, welche sozialen Probleme identifiziert werden, ist Ergebnis eines komplexen Zuschreibungsprozesses im Zusammenspiel wissenschaftlicher Wissensproduktion, der Erweiterung und Verteidigung professioneller Handlungsfelder, des normierenden und kontrollierenden Zugriffs verschiedener Institutionen (mindestens: Strafrecht, Polizei, Sozialarbeit), der politischen und medialen Aufmerksamkeit, Skandalisierung und Dramatisierung, den Coping-Strategien der Betroffenen bis hinein in einzelne Interaktionen zwischen den verschiedenen Akteuren. Prävention greift nicht (nur) in Problemlagen ein oder beugt ihnen vor, sie erzeugt sie zugleich mit. Dazu muss man überhaupt keinen konstruktivistischen Standpunkt einnehmen, das liegt vielmehr in der Natur dessen, was gemeinhin unter Prävention verstanden wird: Kriminalität bereits im Vorfeld zu verhindern, soziale Probleme bzw. Problemlagen zu bearbeiten, bevor sie entstehen.
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Oliver Brüchert
Das sei im Vorgriff auf ein Beispiel kurz illustriert: Der Umgang Jugendlicher mit „neuen Medien“ rückt nicht etwa deshalb in den Fokus von Präventionsbemühungen, weil Handy und Internet für sich genommen für schädlich befunden werden, sondern weil von ihnen bestimmte schädliche Wirkungen eben vor allem auf Jugendliche ausgehen könnten: Zum Beispiel wird befürchtet, dass Extremismus und Gewaltverherrlichung im Internet die Bereitschaft Jugendlicher erhöht, sich rechtsradikal zu orientieren und gewalttätig zu werden. Anders ergäbe sich kein präventiver Handlungsbedarf, man würde allenfalls noch darüber diskutieren, ob man den „Extremisten“ die Kommunikationsmöglichkeiten einschränken möchte, oder sie im Namen der Redefreiheit und der kritischen Auseinandersetzung mit den Inhalten gewähren lässt. Im Folgenden werde ich Beispiele aktueller Präventionskampagnen auf die Frage hin untersuchen, welche Problemlagen sie identifizieren und welche allgemeinen Tendenzen in der gesellschaftlichen Wahrnehmung und Hervorbringung sozialer Probleme sich darin spiegeln. Als Untersuchungsgegenstand beschränke ich mich auf die großangelegten Bewusstseins-Kampagnen, die sich an eine allgemeine Öffentlichkeit wenden und Themen setzen, Handlungsfelder und Probleme definieren, aber auch ganz praktisch Material und Serviceleistungen für konkrete Projekte zur Verfügung stellen. Aufgrund des Kampagnencharakters ist dieses Material gut geeignet, die grundsätzlichen Themen herauszuarbeiten, auf die sich der Präventionsdiskurs bezieht. Die veröffentlichten Materialen, Medien und Informationsbroschüren stellen die Zusammenhänge zwischen Kriminalität/Gewalt und sozialen Problemlagen, um die es hier gehen soll, immer wieder ausdrücklich her. 2 Damit ergibt sich zugleich auch eine Eingrenzung des Feldes auf den definitorisch klar umrissenen Bereich der Kriminalprävention – die Frage, ob es sich überhaupt um „Prävention“ (im Selbstverständnis der involvierten Akteure) handelt, muss hier nicht immer wieder neu gestellt werden.
2. Eine kleine Geschichte zur Kriminalprävention: Das schwarze Schaf im weißen Pelz Ich möchte mit der ausführlichen Beschreibung eines Beispiels beginnen:
2
Mit den Problemen, die sich durch diese Kopplung von (Jugend-)Sozialarbeit und Kriminalbzw. Gewaltprävention für die sozialpädagogische Praxis ergeben, befassen sich u. a. die Beiträge in Freund/Lindner 1990.
Kampagnen der Kriminalprävention
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Nero und Matthias sind Schafe, äußerlich kaum zu unterscheiden, abgesehen davon, dass Nero stets grimmig dreinschaut und seine Baseballkappe „falsch herum“ trägt, während Matthias immer fröhlich aussieht und die Sonnenblende seiner Baseballkappe sich dort befindet, wo sie die Augen vor der Sonne schützt. Schauplatz der Handlung ist eine Schule, die abgesehen von der artgerechten Gestaltung der Einrichtung (der Unterricht findet im Freien auf einer Wiese statt und einziges Möbelstück ist eine Tafel) keine Besonderheiten aufweist. Eine ganz normale Schule eben, von denen es Tausende im Lande gibt. Wie auf fast jeder Schule gibt es auch hier eine Bande Halbstarker, die sich die Zeit damit vertreiben, ihre Mitschüler zu tyrannisieren, statt dem Unterricht zu folgen. Nero ist der „Chef“ der Bande, Matthias ist der Neue in der Klasse und damit prädestiniertes Opfer ihrer Aggression. Wie auf fast jeder Schule gibt es überforderte Lehrer, einen Direktor, der sich hinter der Bürokratie verbarrikadiert („gerade heute hat das Ministerium eine Kreideverbrauchsstatistik für die letzten 12 Jahre angefordert“) und jede Menge Mitschüler, die sich mit der Herrschaft der Bande insoweit arrangiert haben, dass sie Nero und seinen Untergebenen möglichst aus dem Weg gehen. Wenn die Bande sich nähert, heißt es „da kommt Nero“ und alle Unterhaltungen verstummen, die Schafe verfallen in eine angstvolle Starre und hoffen, dass die Bande es auf jemand anderen abgesehen hat. Matthias ist anders. Er liest gerade ein Buch und unterhält sich mit zwei Schülerinnen, als die Schlägertruppe sich nähert, um ihm gleich „am ersten Tag (zu) zeigen, wer an dieser Schule das Sagen hat“. Matthias bleibt cool, als Nero ihn anspricht: „Schau, schau! Ein Neuer! Sehr schön! Würde sich der Herr uns wohl vorstellen? Bitte ...“ – „Matthias ... meine Eltern sind hierher gezogen ... und wie heißt Du?“ – „Nero ... nach einem coolen römischen Kaiser ... merk Dir den Namen gut ...“ – „Richtig! Dieser Irre, der die Stadt angezündet hat ...“
Die Szene erinnert stark an das Western-Motiv des einsamen Reiters, der ebenfalls als „Neuer“ in eine Stadt kommt, die von einer gesetzlosen Bande beherrscht wird und deren Ordnungsmacht (der Sheriff) versagt oder schon längst beseitigt ist. Der einsame Reiter kann aufgrund seiner eigenen Gewaltfähigkeit die Ordnung wieder herstellen, indem er die Bande im Alleingang besiegt. Hat er seine Arbeit getan, reitet er wieder einsam dem Sonnenuntergang entgegen, weil er in die restaurierte patriarchale Ordnung nicht hineinpasst, weil er selbst ein Gesetzloser ist, der zerstören würde, was er geschaffen hat. 3 Der einsame Reiter ist mutiger, stärker und in der Regel auch smarter als seine Widersacher. In der Regel verliebt sich mindestens eine schöne Frau in ihn. Alles Eigenschaften, die wir auch bei Matthias zumindest angedeutet finden. Er lässt sich nicht einschüchtern, sondern provoziert Nero mit einer abfälli-
3
Zum Motiv des einsamen Reiters und seiner Funktion zur Wiederherstellung einer patriarchalen Ordnung vgl. Steinert 1997.
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gen Bemerkung über dessen Namen. Einerseits spricht er damit dieselbe Sprache, die auf Machtausübung und Einschüchterung abzielt, andererseits demonstriert er seine intellektuelle Überlegenheit, indem er den Namen mit einer historischen Figur verbindet. Wir können uns an dieser Stelle zwei Fortsetzungen der Geschichte vorstellen: Entweder erweist sich das Gesetz der Gewalt als überlegen, Nero wird Matthias verhauen und Matthias fügt sich fürderhin in die angepasste Herde der übrigen Schafe, oder Matthias erweist sich tatsächlich als der einsame Rächer, der Nero und seiner Bande das Handwerk legt. In der geschilderten Szene erntet Matthias schon einmal Beifall von den beiden Mitschülerinnen, die eben noch in der Angststarre verharrten: „Ha, ha, ha! Irre! Das passt wie die Faust auf’s Auge ...“, worauf Nero nur ein „SEHR lustig“ herausbringt. Doch er hat sich schnell wieder im Griff: „Ich werd’ Euch gleich zeigen, welche Faust auf welches Auge passt! Habt Ihr nichts besseres zu tun, als hier herumzufaseln, ihr dämlichen Kühe?!!“ – „Wir wollten sowieso gerade gehen... ciao...“ – „Ciao“ sagt Matthias. Nun ist er mit der Bande alleine und der Kommentar aus dem Off erläutert: „Die Mafiöse Vorstellung geht nunmehr ohne unliebsame Zeugen weiter...“ Der Dialog richtet sich jedoch zuerst auf Matthias’ Lektüre: „Was liest Du denn da? Ne Horrorstory?“ – „Schuld und Sühne... von einem gewissen Dostojewski...“ Matthias provoziert weiter „Horrorschinken find’ ich übrigens doof! Ist immer der gleiche Unsinn...“ bis Nero irgendwann die Geduld verliert: „Du fühlst Dich wohl ziemlich stark, was? Bist ’ne Stunde hier und kommst mir schon dumm! Ich werde...“ In diesem Moment betritt Sportlehrer Quetsch die Szene, der die Pausenaufsicht hat und als „ehemaliger Schafs-Bezirksligameister im Ringen der Gewichtsklasse über 140kg“ das Gesetz des Stärkeren auf seiner Seite hat. Er weiß die Situation sofort richtig einzuschätzen, „Ei, ei, ei! Mein Freund Nero mal wieder... bei seiner Lieblingsbeschäftigung... Einschüchtern von Mitschülern“ und schickt die Bande fort. In der anschließenden Unterrichtsstunde weiß die Lehrerin Frau Knorz-Rigatoni von „prima“ Leistungen zu berichten, die Matthias an seiner vorigen Schule erbracht habe, während der frustrierte Nero sich an seinem „Killtendo“ mit dem Spiel „Bloody Mission“ abreagiert: „Kommt nur, ihr Feiglinge! Euch mach ich alle! Ha! Da sind sie! Die MP! Ratatata! Erledigt! Level 2... Ich nehm’ die Handgranate! Wumm!“ usw., wobei er natürlich den Dreisatz verpasst, den Frau Knorz-Rigatoni gerade erklärt. Die ertappt ihn, entreist ihm sein Spielzeug, zertritt es am Boden und erteilt ihm einen Verweis: „Du bist beurlaubt! Subjekte wie Dich kann ich in meinem Kurs nicht gebrauchen! Gewalttätig und faul! Gleich nachher spreche ich mit dem Schulleiter! Verschwinde, sonst...“. In der anschließenden Unterredung mit dem Schulleiter charakterisiert sie Nero folgendermaßen: „Dieser Junge ist ein hoffnungsloser Fall! Wenn’s ja nur Unaufmerksamkeit wäre! Aber was der treibt, ist schon kriminell! Ich habe Angst vor ihm! Ständig prügelt er die anderen! Erpresst sie! Die Polizei muss her! Mindestens ein Schulverweis wäre hier...“ Der Direktor findet einen Verweis jedoch wegen der erwähnten Kreidestatistik zu aufwändig und rät: „Sprechen Sie noch mal mit den Eltern... ich
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kenne die persönlich... eigentlich ganz nette Leute... haben halt beide wenig Zeit ...“ Neros Eltern lernen wir sogleich in der nächsten Szene kennen. Die Mutter weiß schon bescheid: „Hör mal, Nero... Deine Lehrerin hat angerufen... schöne Sachen hört man da von Dir, Junge...“ – „Verleumdungen...“ – „Deine Mitschüler terrorisierst Du! Nimmst ihnen ihre Sachen ab! Verprügelst sie! Lernst nichts! Bist frech zu Deinen Lehrern! Von der Schule werfen sie Dich, falls noch irgendwas vorfällt! Wenn das Dein Vater erfährt! Da hinten kommt er gerade...“ Der Vater kündigt sich durch ein Knurren an. Das Wohnzimmer, in dem sich der folgende Dialog entspannt weist als Accessoires lediglich einen Fernseher und ein Schild auf, auf dem steht „Flegel 3x blöken“. Vater: „Scheiß-Tag im Betrieb heute! Ist das Essen fertig? Mach schon mal den Fernseher an... gibt’s kaltes Bier?“ Mutter: „Sofort Schatz! Ich wollte Dir was wichtiges sagen... betrifft den Jungen... seine Lehrerin hat angerufen...“ Vater: „Da kommt man total gestresst von der Arbeit nach Hause und soll sich Probleme anhören! Kindererziehung ist Deine Sache! Na, warte! Wenn ich den Strolch kriege...!“ Mutter: „Meinst Du, es wird besser, wenn man ihn verdrischt? Dir ist alles schnurzegal! Hauptsache Du hast kaltes Bier! Immer bin ich schuld...“ Nero hat sich währenddessen aus dem Staub gemacht. Er ist mit seinen Kumpels bei McDonald’s verabredet: „Ein Glück, dass es McDonald’s gibt... man wüsste sonst gar nicht, wo man hin soll...“ Für die ganze Entwicklung machen sie natürlich „den Neuen“ verantwortlich und beschließen, ihm eine „Abreibung“ zu verpassen, „gleich morgen früh! Vor der Schule! Damit er merkt, wo’s langgeht.“ – „Sieben Uhr zwanzig am Gebüsch beim Wegweiser! Baseballschläger brauchen wir für den Softi wohl nicht, oder? Ich schieb’ mich nach Hause... mein Vater ist jetzt in der Kneipe...“. Wir sind zurück im Western-Motiv und bereit für den Showdown. „Ein neuer Morgen... die Sonne geht auf und bescheint den (noch) friedvollen Ort der geplanten Abrechnung... die Spannung steigt...“ Als Matthias sich mit einem fröhlichen „Hallo, Nero“ nähert, versucht der es ein weiteres Mal mit verbaler Einschüchterung „Ich möchte mich nochmal mit Dir unterhalten... es müssen ein paar Dinge klargestellt werden!“ um dann zur direkten Gewaltandrohung überzugehen „Ich werde Dir die Schafsnase plattbügeln! Jetzt!“ Aber Matthias lässt sich diesmal nicht zu Sticheleien seinerseits provozieren, sondern entschuldigt sich sogleich, falls er Nero beleidigt haben sollte, „ohne es zu wollen“ täte ihm das leid. Warum, fragt er, sollten sie sich also prügeln? Das bringt Nero aus dem Takt: „Ein Feigling bist Du! Jetzt, wo’s ernst wird, da geht Dir wohl der Stift, was? Außerdem weißt Du genau warum! Es ist... ähem... also... weil... weil...“ In diesem Moment nähert sich Frau Knorz-Rigatoni, „in schwere pädagogische Gedanken vertieft“. Statt eines Showdown, in der Matthias der Bande alleine die Stirn bietet, ruft dieser nun um Hilfe. Frau Knorz-Rigatoni erfasst die Situation ohnehin korrekt. Selbstzufrieden erklärt sie Nero, dass er seine „allerletzte Chance“ hiermit verpasst habe, „denn was hier vorgeht, sieht ja wohl ein Blinder! Pech für Dich... Also Matthias... nun erzähl mal... bedroht haben sie Dich und wollten Dich gerade verprügeln...“. Doch die Geschichte nimmt eine unerwartete Wendung. Matthias lügt Frau Knorz-Rigatoni etwas vor: „Die Sache verhält sich
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ganz anders...“ – „Ganz anders?“ – „Es stimmt schon... wir hatten da eine kleine Meinungsverschiedenheit... aber dann haben wir uns drüber unterhalten... Nero und ich sind jetzt Freunde... wir treffen uns morgens auf dem Schulweg... das ist alles...“ Nach anfänglicher Skepsis („Nero und Freunde... das wäre mal was Neues“) lässt sich die Lehrerin schließlich von Matthias überzeugen, dass er die Wahrheit sagt. Sie zieht fröhlich von dannen, woraufhin Nero und Matthias tatsächlich Freundschaft schließen und Nero sich von Matthias sogar den Dreisatz erklären lassen will.
Nero und Matthias sind die Protagonisten eines Comics, der im Rahmen der Kampagne „Gewalt Sehen Helfen“ des Frankfurter Präventionsrats an Schüler verteilt wurde. 4 Die Botschaft ist nicht interpretationsbedürftig: „Lasst Euch durch Gewalt weder einschüchtern noch zu Gegengewalt provozieren“. Die Machtposition der Gewalttäter basiert auf der permanent von ihnen ausgehenden Gewaltdrohung, die zur Realisierung jedoch eines Gegenparts bedarf, der sich an der Eskalation beteiligt. Matthias durchbricht die Dynamik in mehrfacher Weise: Zuerst lässt er sich nicht einschüchtern, dann lässt er sich nicht provozieren und schließlich schützt er Nero vor der drohenden Sanktion des Schulverweises und resozialisiert ihn. Bezogen auf die Moral der Geschichte ist allenfalls der Gewaltbegriff bemerkenswert, der stark auf die situativen Bedingungen einer wechselseitigen Eskalation rekurriert und damit durchaus Anschlussfähig wäre an die Perspektive einer interaktionistischen (Kriminal-)Soziologie. Allerdings wird diese Deutung im Comic nicht durchgehalten. Wie sich die Auseinandersetzungen vor Matthias’ Auftreten genau abspielten, wird nicht gezeigt. Die zahlreichen Verweise auf Neros Vorgeschichte einer langen Gewaltkarriere legen jedoch eher nahe, dass er Mitschüler auch ohne Aufschaukelung der Situation verprügelt, erpresst und bestohlen hat. Erst Matthias, der sich von Anfang an nicht in die Opferposition fügt, stellt eine Situation her, in der Gewalt nicht mehr (scheinbar) einseitig von einem Aggressor ausgeht, der keinen aktiven Gegenpart hat. Den Übergang von einer Problemwahrnehmung „blinder“, „sinnloser“ Gewalt zu Erklärungsansätzen einer (wie auch immer asymmetrischen) Reziprozität der Täter-Opfer-Beziehung finden wir auch in aktuellen Beispielen der öf-
4
Der Comic wurde in einer Auflage von 5.000 Stück gezielt in 5. Klassen an Frankfurter Schulen verteilt und sollte nach Auskunft der Kampagne „gewaltlose Konfliktlösungsmöglichkeiten“ aufzeigen. Er ist Teil der Initiative „cool sein – cool bleiben“, die als „Training für Handlungskompetenz in Gewaltsituationen als Beitrag zur Gewaltprävention für die Sekundarstufe in Schulen“ konzipiert ist. Der vom Zeichner H.P. Murrmann in Zusammenarbeit mit den Jugendkoordinatoren des Polizeipräsidiums entworfene Comic kann im Internet auf den Seiten der Kampagne betrachtet werden: http://www.gewalt-sehen-helfen.de/
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fentlichen, medialen Dramatisierung von Gewalt, wie den „Münchner U-BahnSchlägern“, die durch die Thematisierung im hessischen Wahlkampf 2008 zu besonderer „Berühmtheit“ gelangten. 5 In der medialen Berichterstattung dominierte die Angstlust, der zufolge jeder zufälliges Opfer völlig unberechenbarer Gewaltausbrüche werden könnte – das macht die Nachricht erst zur emotional aufgeladenen Story. Im Zuge des Gerichtsprozesse tauchten dann zumindest Hinweise, dass das Opfer der „Schläger“ diese möglicherweise durch rassistische Äußerungen seinerseits provoziert hat, dass es vor den Schlägen jedenfalls einen Wortwechsel gab, der sich nicht auf den „Hinweis“ des ehemaligen Schulleiters beschränkte, die beiden sollten doch bitte das Rauchverbot beachten. Die Öffentlichkeit hat sich dafür kaum interessiert und auch die Richter – die unbestreitbar unter enormem öffentlichen Druck standen – haben das lediglich als perfide Verteidigungsstrategie abgetan. Aber wie soll man das Bewusstsein der Jugendlichen für die wechselseitige Aufschaukelung von Konflikten schärfen und sie zur Deeskalation anleiten, wenn gleichzeitig eine amorphe und unberechenbare Aggression heraufbeschworen wird, die gleich einer Naturkatastrophe über uns hereinbricht? Der Comic löst das Problem auf beispielhafte Weise. Es gibt eine Gesellschaft ohne Matthias, die durch reine Gewaltverhältnisse gekennzeichnet ist. Alle anderen Schafe sind passive, hilflose, zufällige Opfer von Nero und seiner Bande. Und es gibt eine andere Gesellschaft, die entsteht, weil ein einziges Schaf den Mut aufbringt, sich nicht einschüchtern zu lassen. In einer Gesellschaft mit Matthias wird die Gewalt für alle zu einem beherrschbaren Faktor ihrer sozialen Beziehungen, nicht nur für den mutigen Neuling. 6 Die Geschichte handelt also vom Übergang von einer gewaltförmigen zu einer befriedeten, zivilisierten Gesellschaft. Ob dieser Übergang gelingt, hängt vom Mut Einzelner ab, nicht etwa von gesellschaftlichen Arrangements. Darauf wird zurückzukommen sein.
5 6
Vgl. z. B. den Bericht im Tagesspiegel vom 23.6.2008 [http://www.tagesspiegel.de/weltspie gel/U-Bahn-Schlaeger-Jugendgewalt;art1117,2556792]. Möglicherweise kann man den Namen Matthias auch im Hinblick auf die biblische Vorlage interpretieren: Matthias wird nach dem Verrat des Judas und nach der Widerauferstehung Jesus in den Kreis der Apostel aufgenommen, um ihn zu ersetzen. Auch eine Zeitenwende. Aber das würde vom Thema weg führen.
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3. Aspekte und Elemente des kriminalpolitischen Diskurses 3.1 Ursachen von Gewalt Die ausführliche Interpretation dieser kleinen Comic-Geschichte ist für das Thema dieses Beitrags aber vor allem deshalb interessant, weil sie in kompakter Form zahlreiche Elemente der aktuellen Präventionsdiskurses hinsichtlich der vermuteten Ursachen von Gewalt und Delinquenz enthält. Man kann den Comic auch als exemplarische Erzählung darüber lesen, wie im Rahmen von Präventionsarbeit über soziale Probleme nachgedacht wird. Deviante Jugend und Schule Da wäre zunächst einmal die als selbstverständlich vorausgesetzte Verortung der Geschichte in einer Schule. Damit wird nicht nur der Zusammenhang „Jugend und Gewalt“ bekräftigt, sondern konkret Schule als Problemfeld identifiziert. Auf der Internetseite der Kampagne wird das selbstverständliche Wissen um den Zusammenhang von Jugend und Delinquenz folgendermaßen referiert: „Um Gewalt in der Gesellschaft erfolgreich entgegenzuwirken müssen Präventionsmaßnahmen schon früh ansetzen und Kinder und Jugendliche einbeziehen. Dies zeigt auch die aktuelle Kriminalitätsstatistik, die zwar einen erfreulichen und deutlichen Rückgang der Fallzahlen verzeichnet, jedoch eine relativ hohe Jugendkriminalität ausweist.“ Der erste Teil dieses selbstverständlichen Wissens ergibt sich schon allein aus der Logik der Präventionsarbeit: Je früher in der Biographie man ansetzt, desto besser die Chance, „kriminelle Karrieren“ vorzeitig zu unterbrechen. Je früher die Kinder und Jugendlichen gestärkt werden, desto geringer auch ihr Risiko, zum Opfer zu werden. Entsprechend beginnt die Präventionsarbeit heute in den Kindergärten und KiTas, während parallel die „Kinderkriminalität“ zum Problem erhoben wird. 7 Der zweite Teil des selbstverständlichen Wissens bezieht sich auf Kriminalstatistiken als brauchbares Messinstrument für „Kriminalität“ und den unter Berufung auf diese Statistiken seit einigen Jahren immer wieder bekräftigten Befund, dass trotz eines allgemeinen Rückgangs der gemessenen „Kriminalität“ es ein wachsendes Problem der Jugend- und Gewaltkriminalität gebe: Die Täter werden „immer jünger und immer brutaler“. An anderer Stelle habe ich herausgearbeitet, dass, wenn man die Kriminalstatistik korrekt
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Vgl. Müller/Schäfer 1998, die sowohl kritische Beiträge zur Konstruktion von „Kinderkriminalität“ als auch praktische Vorschläge zum pädagogisch-sozialarbeiterischen Umgang mit dem Problem versammelt haben.
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als Statistik von der Polizei bearbeiteter Anzeigen liest, sich der Zusammenhang umgekehrt darstellt: Die in der Statistik dokumentierte erhöhte Anzeigebereitschaft gegenüber Jugend- und Kinderkriminalität artikuliert eine verstärkte Sorge der Erwachsenengeneration um die Jugend die Teil eines neuen Generationenkonfliktes „von oben“ ist. 8 Noch spezifischer hat sich der Fokus der Problemwahrnehmung in den letzten Jahren auf die Institution Schule verlagert. Das ist wiederum nur im Kontext einer allgemein erhöhten Aufmerksamkeit für Schule im politischen, öffentlichen Diskurs zu verstehen. Auf der einen Seite wird die Institution Schule gemeinsam mit anderen Bildungseinrichtungen unter einen erhöhten Erwartungsdruck gestellt, die neuen Herausforderungen der „Wissensgesellschaft“ zu meistern und die Absolventen fit zu machen für die verschärften Konkurrenzbedingungen in flexibilisierten Beschäftigungsverhältnissen und den internationalen Wettbewerb. Auf der anderen Seite wird dem deutschen Schulsystem Versagen auf fast allen Ebenen diagnostiziert: zu lange Ausbildungszeiten, zu hohe Selektivität, zu schlechtes Abschneiden bei PISA, Lehrermangel, fehlende Betreuungs- und Ganztagsangebote, veraltete Lehrpläne, marode Gebäude, usw. usf. Doch die Problemwahrnehmung der kriminalpräventiven Kampagnen lenkt das Interesse von der Institution Schule auf die Schüler, die mal als Symptom, mal als Ursache des Schulversagens präsentiert werden. In den Debatten um „Schulschwänzer“ und den viel diskutierten „Hilferuf“ der Lehrer der Berliner RütliSchule 9 werden Schulprobleme unmittelbar mit dem Gewaltthema in Verbindung gebracht und auf Integrationsprobleme von Schülern „nicht deutscher Herkunft“ bezogen. All diese Kontexte sind als implizites Wissen angesprochen, indem der Ort der Handlung eine Schule ist. 10 Dass die Geschichte als Tierfabel präsentiert
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Einmal stärker bezogen auf die Interpretation der PKS-Daten und ihren Beitrag zur Konstruktion einer „Jugendkriminalität“ in Brüchert (1999), einmal hinsichtlich des darin ausgedrückten „Generationenkonflikts“ im Rahmen meiner Untersuchung zur medialen Dramatisierung in Brüchert (2005: 149 ff.). Den Wortlaut des Hilferufs findet man beim Berliner Tagesspiegel in Auszügen dokumentiert: [http://www.tagesspiegel.de/berlin/Berlin;art114,1863361]. Als Hinweis auf die daran anschließende mediale Dramatisierung sei hier auf ein Interview mit einer ehemaligen Schulleiterin in der taz vom 5.4.2006 verwiesen, die den Vorgang der Dramatisierung unter dem Stichwort „Medienterror“ selbst zum Gegenstand hat: [http://www.taz.de/index.php?id=archiv seite&dig=2006/04/05/a0225]. Diese Interpretation setzt freilich voraus, dass die Adressaten der Kampagne nicht allein die Schüler der 5. Klassen sind, an die die Comics verteilt wurden, sondern dass als Rezipienten solcher Materialien mindestens die Lehrer und Eltern mitgedacht werden, wahrscheinlich auch eine allgemeine Öffentlichkeit, in der die Präventionskampagnen ihre Arbeit präsentieren und
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wird, signalisiert neben einem pädagogischen Anspruch vor allem die Universalität: es könnte jede Schule sein, bzw. die Probleme betreffen alle Schulen. Die Geschichte enthält neben diesem impliziten Wissen auch zahlreiche explizite Hinweise auf vermutete Problemkontexte. Einige davon greifen das Thema Schule auf: Frau Knorz-Rigatoni steht der gewalttätigen Bande hilflos gegenüber und verfügt über keine pädagogischen Mittel, auf das Problem zu reagieren. Auf dem Weg zur Schule trägt sie ein Fläschchen „Anti-DepressionsTabletten, mit Sulfanol, stark“ bei sich. Der Burn-out ist schon eingetreten. Ihr Gespräch mit den Eltern beschränkt sich offenbar auf die Androhung des Schulverweises. Beim Direktor äußert sie, selbst Angst vor Nero zu haben. Als sie Nero abermals ertappt, scheint sie freudig erleichtert, ihm nun endlich den Schulverweis erteilen zu können. Der Direktor selbst ist auch keine Hilfe. Eine „letzte Chance“ will er Nero nur gewähren, weil ein Schulverweis zusätzliche Arbeit bedeuten würde. Sein Ansatz, mit den Eltern zu reden, weil diese „eigentlich ganz nette Leute“ seien, läuft, wie beschrieben ins Leere. Sportlehrer Quetsch als dritter Repräsentant der Institution Schule steht für eine Autorität, die exakt so lange wirksam bleibt, wie er am Ort des Geschehens präsent ist. Schule wird charakterisiert als ein Ort hilfloser, abgewirtschafteter Autoritäten, deren Erziehungsversuche in wirkungslosen Sanktionsdrohungen bestehen. Neue Medien Der Zusammenhang Jugend und Gewalt wird durch die manifesten Hinweise in der Geschichte vor allem auf subkulturelle Ausdrucksformen (Baseballkappen verkehrt herum) und „Killerspiele“ bezogen. Während jugendliche Subkulturen ein Klassiker der Moralisierung sozialer Probleme sind, 11 wurden Computerspiele und Handys in den letzten Jahren unter aktiver Beteiligung der Präventionsarbeit in das Zentrum gesellschaftlicher Problemwahrnehmung in Sachen Jugendgewalt gerückt. Die „Polizeiliche Kriminalprävention“ richtet sich mit der umfangreichen Handreichung „Im Netz der neuen Medien“ explizit an Pädagogen und Eltern, die immer wieder mit „Tipps und Empfehlungen“ angesprochen werden. 12 Ge-
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für sich werben. Würde sich die Kampagne ausschließlich und unmittelbar an die Schüler richten, wäre der Kontext Schule naheliegend und insofern weniger stark zu deuten. Die genannten Problemdiskurse dürften an den heutigen Primanern hingegen nicht ganz spurlos vorbeigehen. Vgl. Cremer-Schäfer/Stehr 1990. Auf dem Titelblatt heißt es „Handreichung für Lehrkräfte, Fachkräfte in der außerschulischen Jugendarbeit und Polizei“, womit offensichtlich die Multiplikatoren gemeint sind, die damit an die Eltern herantreten sollen, die im Heft immer wieder direkt angesprochen sind.
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warnt wird einerseits vor Gefahren eines ungezügelten Medienkonsums, Suchtverhalten, jugendgefährdenden Inhalten, Rassismus, Gewaltverherrlichung, „Kostenfallen“, Betrügereien und verschiedenen Varianten des Mobbing und Bullying. Andererseits soll auch um Verständnis geworben werden, da die neuen Medien vor allem Chancen, nicht nur Risiken mit sich brächten. Neben der Aufforderung, Kinder den Umgang mit den Medien durch gemeinsame und beaufsichtigte Nutzung erlernen zu lassen, geht es hier vor allem auch um die Aufklärung der Eltern, die sich – so die Annahme – in der virtuellen Welt ihrer Kinder nicht auskennen. Zugleich werden die Kinder aber auch als potentielle Täter präsentiert. Sehr deutlich ist das im Abschnitt über „Urheber- und Persönlichkeitsschutz im schulischen Bereich“ der Fall. In den „Tipps und Empfehlungen zur Weitergabe an Eltern“ ist das so formuliert: x „Eltern sollten Interesse zeigen, mit dem Kind über konkrete Funktionen von Handys und digitalen Aufzeichnungs- und Abspielgeräten und deren Nutzung zu sprechen. Dabei sollten aktuelle Problembereiche aufgegriffen werden. x Die Eltern sollten über Gefahren und rechtliche Bestimmungen aufklären; häufig haben Kinder im Umgang mit eigenen und fremden Bildern oder Tonaufnahmen kein Unrechtsbewusstsein. x Die Eltern sollten auch Grenzen aufzeigen. Wer Handlungen toleriert, die im strafbaren Bereich liegen, verhält sich seinen Kindern gegenüber extrem unverantwortlich.“ (S. 38). Im selben Abschnitt befindet sich ein Kasten mit der Überschrift „Urheberrechtsverletzungen durch illegales Einstellen und Herunterladen von Musikstücken, Filmen, Bildern und Softwareprogrammen“, in dem u. a. auf den drohenden Strafrahmen bei Verstößen gegen § 106 Urhebergesetz hingewiesen wird. Das führt den Doppelcharakter allgemeiner Präventionskampagnen vor Augen, die sich gleichermaßen an potentielle Opfer wie an potentielle Täter richten. Genauer: an die Eltern der potentiellen Opfer und potentiellen Täter, die sich mit beiden Gefahren zugleich auseinander setzen müssen. Das lässt sich plakativ an einer kleinen Informationsbroschüre verdeutlichen, die ebenfalls von der Polizeilichen Kriminalprävention erstellt wurde und sich mit dem Titel „Wege aus der Gewalt. So schützen Sie Ihr Kind vor Gewalt“ direkt an Eltern wendet. Auch zum Medienkonsum gibt die Broschüre konkrete Tipps: „Prüfen Sie kritisch Ihr eigenes Konsumverhalten und das Ihrer Kinder“, „Scheuen Sie sich nicht, Hilfsangebote wie Erziehungsberatung oder schulpsychologische Dienste in Anspruch zu nehmen“, „Nutzen Sie auch die speziellen Angebote der Jugendhilfe und der Polizei ...“.
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Bezogen auf die Mediennutzung der Kinder wird von den Eltern immer wieder mehr „Aufmerksamkeit“ und eine aktivere Kontrolle gefordert. Medien und Medieninhalte werden dabei trotz des wiederkehrenden Terminus der „Chancen und Risiken“ letztendlich doch fast ausschließlich als Gefahr thematisiert. Diese Haltung prägt auch den öffentlichen Diskurs über Computer- und Videospiele, die gleichermaßen als Ursache von Schulversagen und „Gewaltbereitschaft“ herhalten müssen und mit denen sich die Amokläufer an Schulen von Littleton über Erfurt bis Winnenden regelrecht vorbereitet haben sollen. Kriminologische Studien beanspruchen, den Zusammenhang von Computerspielen und Devianz, empirisch belegt zu haben. 13 Statt der geforderten Medienkompetenz mündet diese öffentliche Dramatisierung in Forderungen nach Verboten und schärferen Sanktionsdrohungen bei Verstößen, die wiederum die Eltern als Überwacher und Kontrolleure in die Pflicht nehmen. In der Comic-Geschichte finden wir diese öffentliche Wahrnehmung auf den Punkt gebracht. Nero spielt, um Frust abzureagieren, dabei steht das Töten möglichst aller Gegner im Vordergrund. Das „Killtendo“ schult seine „Gewaltbereitschaft“ und lenkt ihn so sehr vom Unterricht ab, dass er nicht einmal mitbekommt, wenn die Lehrerin ihn aufruft. Es zieht ihn komplett in den Bann. Als die Lehrerin ihn ertappt, entreißt sie ihm das Spielgerät und zertrampelt es mit den Füßen. Das Computerspiel als Hassobjekt der Lehrerin schürt blinde Wut. Sie schreit Nero noch hinterher „Verschwinde, sonst...“. In der Geschichte entschuldigt sich Matthias später bei Nero unter anderem für den Verlust seines „Killtendo“. Er bringt – anders als die versagenden Autoritäten – dieser Freizeitbeschäftigung also zumindest Verständnis entgegen. Obwohl er sich zuvor über „Horrorschinken“ lustig macht („immer der gleiche Unsinn“), erweist er sich letztendlich als tolerant gegenüber weniger hochgeistigen Freizeitbeschäftigungen, was mit dazu beiträgt, dass er den Teufelskreis der Gewalt durchbrechen kann. Das Präventionsdenken erzeugt einen Widerspruch, der sich nicht mehr auflösen lässt: Die neuen Medien werden zuerst verteufelt, das Misstrauen der Lehrer und Eltern geschürt, um dann für einen verständnisvollen Umgang zu werben. 13
Vgl. dazu insbesondere die KFN-Studie von Mößle, Kleinmann und Rehbein 2004. Eine weitere Untersuchung aus den Jahren 2007 und 2008, die nach Angaben des KFN auf einer Repräsentativbefragung von 45.000 Schülerinnen und Schülern in 61 Städten und Landkreisen basiert, ist zwar noch nicht als Buch veröffentlicht, erregte aber insbesondere durch die öffentlichen Äußerungen von Christian Pfeiffer öffentliches Aufsehen, der u. a. unter Berufung auf diese Studie (und auf eine weitere, im Auftrag der Fritz Thyssen Stiftung durchgeführte Untersuchung von USK-Freigaben) eine anhaltende politische Debatte zum Verbot von „Killerspielen“ auslöste.
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Familie Die Rolle der Familie – in Gestalt der Eltern – war in den bisherigen Ausführungen schon mehrfach Thema. Den Eltern wird eine entscheidende Funktion bei der Prävention und Bearbeitung von Jugenddelinquenz zugesprochen, familiäre Probleme und Erziehungsversagen der Eltern werden aber auch als entscheidende Ursachen präsentiert. Im Comic finden sich dazu eine ganze Reihe von Hinweisen. Der erste stammt vom Schuldirektor: „Ich kenne die persönlich ... eigentlich ganz nette Leute ... haben halt beide wenig Zeit ...“. Dass beide Eltern wenig Zeit haben, steht in aller Regel im Zusammenhang doppelter Berufstätigkeit. Die Aufhebung der traditionellen geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung als Trennung von Haus- und Erwerbsarbeit, ob sie nun als Erfolg der Frauenbewegung oder Herausforderung der post-fordistischen Produktionsweise verstanden, gefordert und begrüßt wird, kann im gleichen Zuge als Erosion der Familie wahrgenommen werden, die ihre Funktion als primäre Erziehungsinstanz nicht (mehr) erfüllt und zu steigender Jugenddelinquenz beiträgt. Im Abschnitt „Ursachen und Erklärungsansätze für Gewalt“ der bereits zitierten Broschüre „Wege aus der Gewalt“ geht es vor allem um Einflüsse, die Kinder zu potentiellen Tätern werden lassen: „Unsere Gesellschaft tendiert zu mehr Anonymität. Dadurch gehen wichtige soziale Bindungen verloren. Traditionelle Werte wie Solidarität, Hilfsbereitschaft und Mitempfinden werden in den Hintergrund gedrängt, während Konsumorientierung, Gewinnstreben und Ellenbogenmentalität an Bedeutung gewinnen“. 14 Von dieser Gesellschaftsdiagnose springt die Broschüre direkt zur Familie als Problemfeld: „Die Familienstrukturen verändern sich. ... Die Erziehung zu sozialem Verhalten – früher vorrangig Aufgabe der Familie – wird mehr und mehr auf andere Institutionen, wie Kindergarten oder Schule, verlagert.“ Problematisiert wird jedoch nicht, wie man nun erwarten könnte, die öffentliche Erziehung, sondern das fehlende Engagement der Eltern. Im Abschnitt „Verhaltenstipps für die Eltern“ werden diese aufgefordert: „Arbeiten Sie in der Erziehung eng mit Kindertagesstätten oder Schulen zusammen und nutzen Sie gemeinsame Veranstaltungen, um sich mit Pädagogen auszutauschen.“ In der Ansprache an die Eltern werden die Grenzen zwischen tolerierbarem jugendlichen Fehlverhalten und strafbaren Handlungen abermals verdeutlicht. Im Abschnitt „Die Täter“ werden „Erwachsene“ ermutigt, „jungen Menschen Grenzen zu setzen und sie dazu anzuhalten, Verantwortung für ihr 14
Als begünstigende Faktoren werden darüber hinaus neben dem „Medieneinfluss“ „Gewalt im sozialen Nahraum“, „Wohn- und Lebensbedingungen“ und „Gruppeneinfluss“ angeführt.
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Fehlverhalten zu übernehmen. Nur so lernen sie auch, sich mit den Konsequenzen ihrer Tat auseinander zu setzen. In vielen Fällen reichen eindeutige Reaktionen der Eltern und des sozialen Umfeldes bereits aus, um weitere Straftaten zu verhindern. Wenn ein Jugendlicher zum ersten Mal als Tatverdächtiger entdeckt und angezeigt wird, wirkt häufig schon der Kontakt mit der Polizei abschreckend und damit rückfallverhütend.“ 15 Mit anderen Worten: Zeigen Sie Ihr Kind an. Von einer Erwerbsarbeit der Mutter ist im weiteren Verlauf der ComicGeschichte keine Rede mehr. Stattdessen finden wir Indizien für eine Fortschreibung geschlechtsspezifischer Arbeitsteilung. Der Vater kommt von einem „Scheiß-Tag im Betrieb“ nach Hause, verlangt nach Essen, Fernseher und kaltem Bier, Haushalt und Erziehung sieht er als Aufgabe der Mutter an, die sich über diese Rollenverteilung zwar beklagt, die sie aber trotzdem weitgehend zu befolgen scheint. Die Mutter scheint jedenfalls mit der Erziehung überfordert, ihre Ansprache an den Sohn endet mit der Drohung „Wenn das Dein Vater erfährt!“. Der möchte zwar mit den Problemen nicht behelligt werden, droht aber gleichwohl mit Schlägen, wogegen die Mutter wiederum einwendet, dass es dadurch auch nicht besser werde. In ihrer Hilflosigkeit mobilisiert sie zuerst selbst die Gewaltdrohung durch den Vater, die sie eigentlich als unsinniges Mittel der Erziehung ablehnt. Nero betrachtet seine Eltern verächtlich: „Grufties, dämliche ...!“ Die Motive, die mit dieser kleinen Szene angesprochen werden, sind zahlreich. Neben der Aushandlung von Geschlechterrollen und den veränderten Bedingungen von Erwerbsarbeit deutet sich eine Klassendimension an. „Betrieb“ steht für handwerkliche Arbeit, mithin für ein Arbeiterklasse-Milieu. Weitere Elemente einer proletarischen Subkultur sind der vom Vater praktizierte gewaltsame Erziehungsstil, der Fernseher als dominantes Medium und sein anschließender Rückzug in die Kneipe. Auch Neros Refugium, das Fast-Food-Restaurant ist ein typischer Treffpunkt von Unterschicht-Jugendlichen. Problematisiert werden speziell Familienprobleme und Erziehungsversagen der unteren Klassen. In einer weiteren Kampagne der „Polizeilichen Kriminalprävention“ wird eine andere Verknüpfung hergestellt, die der Comic auslässt: Familienprobleme
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Auf die zahlreichen kriminologischen Untersuchungen glatt widersprechende Behauptung, der Kontakt mit Polizei und Strafjustiz wirke „kriminellen Karrieren“ entgegen, statt sie zu fördern, muss hier nicht weiter eingegangen werden. Wichtig ist für unseren Zusammenhang die damit begründete Aufforderung, Straftaten in fürsorglicher Absicht bei der Polizei anzuzeigen.
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und Gewalt in der Erziehung als spezifisches Problem von „Ausländern“. 16 Unter dem Motto „Hand in Hand – Gegen Gewalt! Für die Zukunft unserer Kinder“ wurden mehrere Fernsehspots und Broschüren (ausschließlich) in türkischer Sprache produziert und gezielt in türkischsprachigen Medien verbreitet. In den Spots werben (in Deutschland) erfolgreiche Türken für „gewaltfreie Erziehung“, neben mehreren Fußballstars auch die Fernsehmoderatorin Nazan Eckes, der Unternehmer Vural Öger und eine junge Polizistin. In den Spots werden intakte Familien gezeigt, in denen sich die Eltern, Kinder und Geschwister mit Liebe, Vertrauen und Respekt begegnen und Stolz sind auf den Erfolg ihrer Angehörigen – in mehreren Spots spricht nicht die prominente Person, sondern sein Vater (über Nuri Sahin), die Tochter (über Vural Öger), der Bruder (über Nazan Eckes). Gewalt kommt nicht vor, es wird nicht angeprangert, nicht dramatisiert und stigmatisiert. Dennoch muss man fragen, warum diese Spots ausschließlich in türkischer Sprache produziert wurden, unterstützt, wie es heißt, „von renommierten türkischen Organisationen, Unternehmen und Prominenten“. Die implizite Aussage ist deutlich: Gewalt in der Erziehung ist vor allem ein Problem von Zuwanderern. Vorgeführt werden uns erfolgreiche Menschen, die sich gut integriert haben, ohne ihre Herkunft zu verleugnen, die es als Türken in Deutschland zu etwas gebracht haben. Das Gegenbild dazu ist die Vorstellung von „Parallelgesellschaften“, in denen westliche Werte nicht gelten, in denen fremde, rückständige Traditionen gepflegt, Frauen unterdrückt und Kinder geschlagen werden. Symbole der Parallelgesellschaften sind Kopftücher und Minarette, Hinterhofschulen und Männercafés. Sie schotten sich ab, entziehen sich dem öffentlichen Blick und dem Zugriff der staatlichen Einrichtungen. Forderungen zur zwangsweisen Integration erstrecken sich neben den Einbürgerungstests u. a. auf die „Kindergartenpflicht“ und die verbindliche Teilnahme der Kinder am Religionsunterricht in der Regelschule. Obwohl die Spots selbst all diese stigmatisierenden Zuschreibungen gerade nicht reproduzieren, setzen sie diese als selbstverständlichen Hintergrund
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Nero ist zwar anders als Matthias kein in Deutschland gebräuchlicher Vorname, aber ich konnte ihn auch in keinem Nachschlagewerk italienischer Vornamen finden. Insofern ist er wohl eher als Anspielung auf die historische Figur zu interpretieren, die Matthias Gelegenheit gibt, sich über ihn lustig zu machen. Die naheliegende Stigmatisierung von Nero als schwarzem Schaf, wurde jedenfalls vermieden und die Baseball-Kappen-Mode erstreckt sich über sehr unterschiedliche jugendliche Subkulturen, die keinem bestimmten Einwanderer-Milieu eindeutig zuortenbar sind. Insofern würde ich eher sagen, dass der Comic bemüht ist, rassistische Kategorisierungen zu vermeiden. Wie wir noch sehen werden, könnte Nero auch ein verkappter Neo-Nazi sein.
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der öffentlichen Wahrnehmung voraus, indem sie den Gegenentwurf betonen. Gewalt geht aus von Fremden, die sich nicht integrieren (lassen) wollen. Alkohol- und Drogenkonsum Auch Alkohol als Ursache von Gewalt spielt im Comic eine Rolle als Teil der Erklärung für die Gewalttätigkeit des Vaters, die wiederum ursächlich für die Delinquenz des Sohnes erscheint. Der Zusammenhang von Alkohol, Drogen und Gewalt ist schon deshalb ein altehrwürdiges Motiv zahlloser Präventionskampagnen, weil er eine besonders große Bandbreite von Handlungsoptionen offeriert: Prohibition und Kontrolle, Aufklärung und Abschreckung, erschwerter Zugang und Jugendschutz, alles vielfach in die Tat umgesetzt. Neuerdings rückt wieder der Alkohol als Jugendproblem in den Fokus der Aufmerksamkeit. Berichtet wird über einen wachsenden Konsum immer jüngerer Menschen in Folge der Verbreitung von „Alkopops“ und von „Komasaufen“ als neuer lebensbedrohlicher Mode. Skandalisiert werden einerseits wiederum die Eltern, die den Kindern Zugang verschaffen, oder sie zumindest nicht hinreichend beaufsichtigen, andererseits jene, die mit am jugendlichen Rausch verdienen, vom Getränkeproduzenten über den Supermarkt, der Alkohol an Jugendliche verkauft, bis zum Discobetreiber. Dass es einen Zusammenhang zwischen Alkoholkonsum und Gewalthandlungen gibt, wird selbst von den Kritikern der Statistiken, aus denen derlei Korrelationen errechnet werden, kaum bestritten. Problematisch ist es hingegen immer, aus einer Korrelation einen einseitigen Ursache-Wirkungs-Zusammenhang abzuleiten („Alkoholkonsum erhöht die Gewaltbereitschaft“). Im konkreten Fall des Zusammenhangs von Alkohol und Gewalt lässt sich anführen, dass handgreiflich ausgetragene Konflikte aus mannigfachen Gründen häufig an Orten auftreten, an denen auch Alkohol ausgeschenkt und konsumiert wird: In Kneipen und Discotheken, auf öffentlichen Festen, in Fußballstadien. Gelegentlich mag der Handlungsentschluss auch dem Alkoholrausch vorausgehen: Man trinkt sich Mut an. 17 Gesellschaftlich dominiert der Glaube, allein der Alkohol könne aus sonst friedfertigen Menschen unberechenbare Bestien machen.
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In die Rechtsprechung ist dieses Verständnis von Alkohol als Hilfsmittel (nicht als Ursache) bei der Begehung von Straftaten in Form der zweifelhaften Rechtsfigur der „actio libera in causa“ (unter Juristen kurz „a.l.i.c.“) eingegangen: Eigentlich ist ein Straftäter, der im Vollrausch handelt, nach § 20 StGB schuldunfähig und ginge somit straffrei aus. Die „a.l.i.c.“ erlaubt den Gerichten, diesen Vorbehalt auszuhebeln, wenn sie der Überzeugung sind, dass der Täter sich vor der Tat vorsätzlich in einen Rausch versetzt hat, um zum Zeitpunkt der Ausführung der Straftat schuldunfähig zu sein und einer Bestrafung zu entgehen.
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Illustriert finden wir das in einer Serie von Anzeigen, die zu einer weiteren Kampagne der Polizeilichen Kriminalprävention unter dem Titel Don’t drink too much – STAY GOLD gehören. 18 Dort werden jeweils zwei Bierdeckel gegenübergestellt, auf denen einmal zwei Striche, einmal 12 Striche die Zahl der konsumierten Alkoholika dokumentieren und in deren Mitte jeweils ein Foto gedruckt ist, das die Folgen versinnbildlichen soll. Motiv 1 stellt einen muskulösen männlichen Körper in Unterhose (von den Oberschenkeln bis zur Brust) einem kraftlos, reglos in der Ecke liegenden (bekleideten) Menschen gegenüber, der sich offenbar in die Hose gepinkelt hat. Motiv 2 stellt drei lachende junge Männer, die sich Deutschlandfahnen ins Gesicht gemalt haben, einem brutal zerschlagenen Gesicht gegenüber. Motiv 3 zeigt links drei junge Frauen, die offenbar ausgelassen feiern und Spaß haben, rechts eine weitgehend entkleidete und offenbar bewusstlose junge Frau zwischen vielen leeren Flaschen auf einem Tisch in einem Park oder Garten liegend. Motiv 4 schließlich zeigt eine Tribüne im Fußballstadion mit Fans, die sich an der üblichen Choreographie („La Ola“) beteiligen und wiederum einen reglos in der Ecke kauernden Fan mit T-Shirt und Schal in den deutschen Farben im eigenen Erbrochenen. Zwischen den gezeigten Situationen, so die Suggestion, liegen lediglich 10 Striche auf einem Bierdeckel. Keine Vorgeschichte, keine Konflikte, kein Frust, keine Demütigung durch andere, nur einsame Menschen mit einer Überdosis Alkohol. In einer Erläuterung zur Plakatserie wird das noch einmal expliziert: „Der Trend zum exzessiven Trinken bei Jugendlichen ist weiterhin ungebrochen. Jeder fünfte Jugendliche betrinkt sich mindestens einmal im Monat mit mindestens fünf oder mehr Gläsern Alkohol. Häufig folgen diesem Rauschtrinken Gewalttaten.“ Die Bilder sind – abgesehen von der Stadiontribüne – sehr offensichtlich gestellt und darauf angelegt zu schockieren. Einen Beitrag, den behaupteten Zusammenhang plausibel zu machen, leisten sie so gerade nicht. Da sich die Kampagne an Jugendliche wendet, irritiert das durchgängige Motiv, dass der exzessive Alkoholkonsum jeweils isolierten Individuen zugeschrieben wird, während in Gesellschaft trinken scheinbar zur Mäßigung anhält. Die Botschaft wird in den Videoclips verständlich, die jeweils zwei Varianten entsprechend der gegenübergestellten Bilder ausmalen. Die erste Alternative besteht in einem Notarztkoffer, der neben der derangierten, bewusstlosen Person abgestellt wird, die dem Teufel Alkohol verfallen ist isoliert von der Gruppe Umstehender, die bloß schockiert und angeekelt auf die Schreckensszene starren
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Die Motive gibt es auch auf „echten“ Bierdeckeln, als Plakate (Motiv 2 und 4) und als Videoclips, in denen die Motive (1, 2 und 4) in kleine Geschichte verpackt werden.
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(die Tonfolge „piep, piep, pieeeeeeep“ signalisiert derweil einen Herzstillstand). Dann die Alternative, das angebotene Getränk abzulehnen, was unmittelbar zur (Re-)Integration in die Gemeinschaft der Feiernden führt. Wer zu viel trinkt, ist uncool und wird ausgeschlossen. Alkohol als asoziale Droge und als Stigma. Über die Gründe und Anlässe muss man sich dann keine weiteren Gedanken machen. Solche Kampagnen ignorieren alle Bemühungen der Drogenarbeit und Drogenpolitik, von einer auf die Verteufelung bestimmter Substanzen reduzierten Sichtweise weg zu kommen und die sozialen Umstände des Konsums mit in den Blick zu nehmen. Erosion der guten Ordnung Das in der Beschreibung des Comics erwähnte Western-Motiv des einsamen Reiters ist bemerkenswert, weil es eine bestimmte Erzählung zur Entstehung und Aufrechterhaltung patriarchaler Ordnung aufgreift und auf spezifische Weise variiert. Die Ausgangssituation des Western ist die gestörte Ordnung, meist in Form eines schlechten Patriarchats, in dem die jungen Krieger konkurrierender Oligarchen in einen Bandenkrieg verwickelt sind und die gesamte Gemeinschaft in Mitleidenschaft ziehen oder in der ein einziger Großgrundbesitzer mithilfe seiner schießwütigen Gesellen einen ganzen Landstrich tyrannisiert. Macht und Autorität wirken in dieser gestörten Ordnung ausschließlich destruktiv. Der einsame Reiter kommt wie gesagt von außen, um aufgrund seiner eigenen Gewaltfähigkeit die Probleme zu lösen, die die Gemeinschaft selbst nicht lösen kann. Er stiftet eine neue Ordnung, ein intaktes Patriarchat, in dem Macht und Autorität nunmehr zum Zwecke der Aufrechterhaltung der Ordnung eingesetzt werden – das staatliche Gewaltmonopol wird (wieder) etabliert. Der einsame Reiter muss unter anderem auch deshalb am Ende die Gemeinschaft verlassen, weil er als Mann und Nebenbuhler, in den sich nicht selten die Frau des Patriarchen verliebt, die Familie als Keimzelle des „guten“ Patriarchats bedroht, weil er selber – meist aufgrund einer tragischen Vorgeschichte – nicht als Familiengründer in Betracht kommt. Die Familie als Keimzelle einer guten Ordnung wird auch in den Präventionskampagnen unaufhörlich beschworen und problematisiert, weil sie diese Aufgabe nicht (mehr) erfüllt. Autorität schlägt um in blinde Gewalt, die selbst zur Bedrohung der Gemeinschaft wird. Im Comic versagen neben den Eltern auch die schulischen Autoritäten, die Gemeinschaft ist nicht in der Lage, ihre Probleme selbst zu lösen, bis Matthias von außen kommt. Soweit stimmt die Analogie. Anders als im Western findet Matthias aber eine gewaltfreie Lösung, er wird nicht zur Bedrohung der guten Ordnung, die er herstellt, sondern kann
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bleiben und mit Nero Freundschaft schließen. Die Dramaturgie der Geschichte spielt mit der Erwartung eines Show-Down, um die friedliche Lösung als Überraschungseffekt darbieten zu können. Das Motiv des einsamen Reiters wird als bekannt vorausgesetzt und auch als Rollenmodell – zumindest in der Zielgruppe –, mit dem gezielt gebrochen werden soll: Gewalt ist keine Lösung. Gute Autoritäten und eine gute staatliche Ordnung inklusive Gewaltmonopol sind damit nicht gemeint. 3.2 Ist Nero ein Neo-Nazi? Die Individualisierung sozialer Probleme und ihrer Lösung Am Ende des Comics wird die Moral der Geschichte noch einmal zusammengefasst: „Na, ja... ich geb’s zu... die Geschichte ist ein bisschen vereinfacht! So locker und easy bekehrt man selten ein Schaf, das auf dem Macho-Trip ist... aber so ähnlich geht’s! Gebt jedem eine Chance! Immer schön cool bleiben! Und Gewalt gegen Gewalt bringt schon gar nichts! ‚Deine Gewalt ist nur ein stummer Schrei nach Liebe’... kommt in so ’nem coolen Song vor... aber genug geschwallt! Denkt mal in Ruhe drüber nach...“ Setzt man voraus, dass die Jugendlichen den nicht mehr ganz frischen „coolen Song“ kennen, oder zumindest wissen, wie man bei youtube danach sucht, relativiert sich der liberal-tolerante Tenor der Geschichte. Es handelt sich um einen (nach wie vor beliebten) Schmähsong der Pop-Punk-Band Die Ärzte gegen Neo-Nazis aus dem Jahr 1993. Dort heißt es unter anderem: „Weil du Probleme hast/die keinen interessieren/Weil du Schiss vorm Schmusen hast/bist du ein Faschist/Du musst deinen Selbsthass nicht auf andere projizieren/damit keiner merkt was für ne arme Sau du bist“ und der im Comic zitierte Refrain lautet vollständig: „Deine Gewalt ist nur ein stummer Schrei nach Liebe/Deine Springerstiefel sehnen sich nach Zärtlichkeit/Du hast nie gelernt dich zu artikulieren/und deine Eltern hatten niemals für dich Zeit/ohohoh ARSCHLOCH“. Man braucht nicht viel Phantasie, um sich vorzustellen, welche Zeile bei Konzerten der Band am lautesten vom Publikum mitgesungen wurde. Vorsichtig interpretiert wird hier eine tolerante Haltung gegenüber den (rechtsradikalen) Gewalttätern ebenso karikiert wie die Mehrzahl der geschilderten sozialen Probleme, die als Ursachen von Gewalt identifiziert werden. In der öffentlichen Reaktionen auf die neonazistischen Gewalttaten Anfang der 1990er Jahre war ein weiteres Motiv sehr präsent, das auch diesen Song dominiert: Die Gewalttäter als dumme Kerle, die nichts im Hirn haben, sich nicht artikulieren können. Matthias ist die Gegenfigur dazu, der Gebildete, smarte Intellektuelle (er liest Dostojewski), der genau deshalb dem stumpfsinni-
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gen Nero überlegen ist. Das weist auch darauf hin, dass soziale Ausschließung zunehmend entlang der Grenze gebildet/ungebildet verläuft, dass „Bildungsdefizite“ als soziales Problem jener thematisiert werden, die ihre Chancen auf gesellschaftliche Teilhabe nicht realisieren. Diese Vorstellung von Bildung geht (oben wie unten) einher mit einer Individualisierung sozialer Probleme. In der „Wissensgesellschaft“ ist jeder für seine Bildung selbst verantwortlich, das vormals öffentliche Gut wird zunehmend marktförmig organisiert. Individualisiert ist auch die Lösung der Probleme durch die Figur des einsamen Reiters. Die Schule delegiert die auftretenden Probleme lediglich an die Eltern, die zugleich unter eine stärkere Kontrolle seitens der Schule gestellt werden. Besonders problematisch erscheinen Familien, die sich diesem öffentlichen Zugriff entziehen. Das Prinzip der Eigenverantwortung darf wie im „aktivierenden Sozialstaat“ nicht als Zugewinn an Autonomie missverstanden werden, sondern definiert eine Bringschuld der „Klienten“. Der etablierte Zusammenhang von Armut und Kriminalisierung wird durch die auf Sichtbarmachung zielende Bewusstseinspolitik auf eine neue Weise ausgearbeitet. Verdächtig ist nun, wer sich zurückzieht, wer die Kinder nicht in eine öffentliche Einrichtung bringt, keine Arzttermine wahrnimmt, keinen Kontakt zu den Nachbarn pflegt. So werden die Betroffenen zwar für ihre Lage verantwortlich gemacht, aber gerade nicht sich selbst überlassen. Sie stehen vom Unterhaltungsfernsehen bis zu den untersuchten Präventionskampagnen geradezu im Zentrum der allgemeinen Aufmerksamkeit.
4. Die Relevanz von kriminalpräventiven Kampagnen für das „Doing Social Problems“ Wie verhalten sich die beschriebenen öffentlichen Kampagnen zu anderen Akteuren und Institutionen der Problembearbeitung, welche Rolle übernehmen sie bei der Definition sozialer Probleme? Die vorgeschlagenen Interpretationen deuten sie hauptsächlich als Ausdruck eines (sich wandelnden) gesellschaftlichen Bewusstseins, eher als Indikator, weniger als Problemgenerator. Dabei ist jedoch stets mitzudenken, dass solche öffentlichen, medial inszenierten Kampagnen Teil eines wissenschaftlich-politisch-medialen Verstärkerkreislaufes sind und die darin aufgegriffenen Perspektiven gegenüber anderen möglichen Sichtweisen gestärkt werden. Wir haben es mit Problemdefinitionen einer erwachsenen deutschen Öffentlichkeit zu tun, die Probleme naturgemäß anders wahrnimmt, als jene, die als Problempopulation identifiziert werden. Die Einbe-
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ziehung von „Testimonials“ und Organisationen der problematisierten Minderheiten ändert daran nichts, solange die Botschaft dieselbe bleibt, solange dieselben Verhaltensweisen stigmatisiert werden. Auch der Zusammenhang zwischen sozialen Problemen und Gewalt wird in dieser Perspektive als selbstverständlicher ätiologischer Erklärungsansatz vorausgesetzt. Einige der beschriebenen Kampagnen, insbesondere wenn es um strafbare Handlungen im Bereich der neuen Medien geht, rufen explizit dazu auf, im Zuge eines geschärften Unrechtbewusstseins Freunde, Mitschüler oder die eigenen Kinder zu kriminalisieren. Indem soziale Probleme als Vorboten oder Indizien für Gewalttätigkeit thematisiert werden, wird darüber hinaus auch eine polizeilich strafrechtliche Bearbeitung von Auffälligkeiten und Abweichungen fernab konkreter strafbarer Handlungen nahegelegt, wie das in der Debatte um das „Schuleschwänzen“ wiederum explizit gefordert wurde, 19 oder sich regelmäßig in Verbotsforderungen gegenüber Videospielen, LAN-Partys, Horrorfilmen usw. äußert. Über diese Bestätigung und Verstärkung einer stigmatisierenden und ausschließenden Perspektive auf soziale Probleme hinausweisend, geben derartige Kampagnen aber auch einen Rahmen vor, in dem sich Präventionsarbeit legitimieren und rechtfertigen muss. Hier werden die Problemfelder identifiziert, an denen sich die konkreten Projekte vor Ort orientieren müssen, wenn sie unter Bedingungen einer umfassenden Verbetriebswirtschaftlichung der sozialen Arbeit langfristig sicherstellen wollen, dass ihre Arbeit finanziert wird. Eine systematische Untersuchung dieses Zusammenhangs liegt bislang nicht vor. Leider stammt die letzte „Länder-Bund-Projektsammlung“ des BKA, die ein gutes Material für einen solchen Vergleich wäre, aus dem Jahr 2003. Doch bereits in dieser Ausgabe zeichnet sich im Vergleich zu früheren Projektsammlungen eine deutliche Gewichtsverlagerung zu den Themenbereichen „Gewalt“ und „Jugendkriminalität/Jugendschutz“ ab, die z. B. auch mehrere Projekte zum Themenkomplex „Schuleschwänzen“ umfassen. 20 Wir können auch in Bezug auf andere Akteure und Institutionen sozialer Kontrolle annehmen, dass sie diese Kampagnen wahrnehmen und in ihrer Aufmerksamkeit für bestimmte Pro19
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Vorreiter der Debatte war der Brandenburger Innenminister Jörg Schönbohm, den die Zeit (44/2003) mit folgendem Satz zitiert: „Die elektronische Fußfessel könnte eine vorbeugende wie abschreckende Möglichkeit sein, um die Gesellschaft vor extrem kriminellen Schulschwänzern zu schützen.“ Das Thema bleibt aber nicht der CDU überlassen. Die Süddeutsche Zeitung berichtete am 10.6.2008 über eine Forderung der SPD in Berlin-Neukölln, die Eltern von Schulschwänzern mit der Streichung des Kindergeldes oder Führerscheinentzug zu bestrafen [http://www.sueddeutsche.de/jobkarriere/63/444800/text/]. Vgl. Bundeskriminalamt (2000, 2003).
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Oliver Brüchert
bleme davon beeinflusst werden. Auch hierzu wären weitere Untersuchungen wünschenswert (z. B. wie die Polizei mit „Schulschwänzern“ umgeht, oder wie Anzeigen zu Persönlichkeitsverletzungen im Zusammenhang mit Handys zustande kommen). Inwiefern diese Kampagnen auch zur Ausarbeitung eines „Problembewusstseins“ in dem Sinne beitragen, dass das zu einem veränderten Umgang in der alltäglichen Praxis und einer erhöhten Anzeigebereitschaft führt, wenn z. B. die Nachbarn ihre Kinder offensichtlich nicht in die Schule (bzw. zum Arzt oder in die KiTa) schicken, lässt sich hingegen kaum direkt untersuchen. Dazu bräuchte man zuverlässige Daten zur zeitlichen Abfolge von erhöhtem (bzw. neu auftretendem) Anzeigeaufkommen für bestimmte Delikte, die in den Anzeigestatistiken so differenziert überhaupt nicht ausgewiesen werden, und den entsprechenden Kampagnen, die ja nicht nur bundesweit, sondern vielerorts lokal organisiert und daher schwer zu überblicken sind. Was sich aus soziologischer Sicht sagen lässt, ist aber, dass diese Kampagnen – mal offener, mal zwischen den Zeilen – einen entsprechenden Aufforderungscharakter haben, die Abweichungen, die zu erkennen sie uns schulen, auch zur Bearbeitung an die geeignete Instanz der sozialen Kontrolle weiterzureichen, sei es der Klassenlehrer, sei es das Sozialamt, oder die Justiz. Kriminalprävention in ihrer aktuellen Gestalt lenkt unser Augenmerk von gefährlichen Situationen auf gefährliche (Gruppen von) Personen, von gemeinsamen Sauftouren auf asoziale Alkoholexzesse, von Gewalt in der Erziehung auf „Parallelgesellschaften“, von Konflikten in und mit Schule auf „defekte“ Familien, etc. Und sie fordert dazu auf, die so kategorisierten Personen und Personengruppen einem Kontrollregime zu unterwerfen, das negative „Eigenverantwortung“ (= „selbst schuld“) mit repressiven Sanktionsdrohungen verknüpft.
Literatur Brüchert, Oliver, 2005: Autoritäres Programm in aufklärerischer Absicht. Wie Journalisten Kriminalität sehen. Münster: Westfälisches Dampfboot. Brüchert, Oliver, 1999: „Die Drohung mit der Jugend“. Bürgerrechte & Polizei/CILIP 63/2: 15–23. Bundeskriminalamt (Hrsg.), 2000 und 2003: Kriminalprävention in Deutschland. Länder-BundProjektesammlung. München: Luchterhand. Caplan, Gerald, 1964: Principles of Preventive Psychiatry. New York: Basic Books. Cremer-Schäfer, Helga/Stehr, Johannes, 1990: Der Normen- & Werte-Verbund. Strafrecht, Medien und herrschende Moral. Kriminologisches Journal 22: 82–104. Freund, Thomas/Lindner, Werner (Hrsg.), 2001: Prävention. Zur kritischen Bewertung von Präventionsansätzen in der Jugendarbeit. Opladen: Leske + Budrich.
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Mößle, Thomas/Kleinmann, Matthias/Rehbein, Florian, 2004: Bildschirmmedien im Alltag von Kindern und Jugendlichen: Problematische Mediennutzungsmuster und ihr Zusammenhang mit Schulleistungen und Aggressivität. Baden-Baden: Nomos. Müller, Siegfried/Peter, Hilmar (Hrsg.), 1998: Kinderkriminalität. Empirische Befunde, öffentliche Wahrnehmung, Lösungsvorschläge. Opladen: Leske + Budrich. Steinert, Heinz, 1997: Schwache Patriarchen – gewalttätige Krieger. Über Männlichkeit und ihre Probleme zwischen Warenförmigkeit, Disziplin, Patriarchat und Brüderhorde. Zugleich eine Analyse von „Dirty Harry“ und anderen Clint Eastwood Filmen. S. 121–157 in: Kersten, J./ Steinert, H. (Hrsg.), Starke Typen: Iron Mike, Dirty Harry, Crocodile Dundee und der Alltag von Männlichkeit (Jahrbuch für Rechts- und Kriminalsoziologie 1996). Baden-Baden: Nomos.
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Ethnische Diskriminierung in Dienstleistungsorganisationen Ein berufsübergreifender Vergleich
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1. Einleitung In allen Berufen mit Publikumsverkehr ist der Nutzer bzw. die Nutzerin oder der Empfänger bzw. die Empfängerin einer Dienstleistung zugleich Koproduzent der Dienstleistung (Strauss 1992). Ein Koproduzent allerdings, dem die berufsständigen Leistungserbringer ihr eigenes Verständnis der Dienstleistung vorzuschreiben versuchen (Hughes 1996). Die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen der Einrichtungen unterscheiden dafür implizit zwischen den ‚guten’ Leistungsempfängern (solchen, die das Selbstverständnis des Berufszweiges, seines Auftrages und der guten Aufgabenerfüllung stärken) und den ‚schlechten’ Leistungsempfängern (solchen, die durch ihre Äußerungen oder ihr Verhalten der Verwirklichung des Berufsideals im Wege stehen). Diese Einordnung nach Kategorien ist fundamentaler Bestandteil routinierter Arbeitsabläufe, die die Entscheidungsfindung durch die Reduktion der Komplexität von Situationen auf einfache Fälle erleichtert und den Gebrauch reproduzier- und vermittelbarer Handlungen und Kenntnisse erlaubt. In welcher Weise ist die Unterscheidung zwischen ‚guten’ und ‚schlechten’ Leistungsempfängern und -empfängerinnen, die den Arbeitsroutinen zugrunde liegt, mit Vorstellungen über verschiedene ethnische Kategorien verbunden, mit denen man (im Rahmen der Dienstleistung) in Berührung kommt? Ethnische Zuordnung stellt eine Form der Kategorisierung der Klientel dar (neben der Zuordnung nach sozialen, Alters- und geschlechtlichen Kriterien), ein Einstufungs-
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Übersetzung aus dem Französischen von Jan Krimphove, Berlin.
Ethnische Diskriminierung in Dienstleistungsorganisationen
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prozess, der stets präsent ist bei der Arbeit der Polizei aber auch bei der medizinischen und sozialen Diagnostik, die Krankenpfleger und -pflegerinnen im Krankenhaus vornehmen, und bei anderen sozialen Diensten. Ethnische Diskriminierung umfasst jegliche Sonderbehandlung, die im Zusammenhang mit der reellen oder vermuteten ethnische Zugehörigkeit einer Person steht (aufgrund von Aussehen, Name, Herkunftsort etc.). Problematisch sind dabei vor allem negative Diskriminierungsformen, die zu einer Benachteiligung führen, doch auch die Formen positiver Diskriminierung sind interessant festzuhalten. Welche Punkte umfassen die diskriminierenden Praktiken von Polizei und Krankenschwestern? Für die Polizei lassen sich vor allem anführen: x Die Tatsache, häufiger Ziel von Überwachungs- und Kontrollmaßnahmen zu sein und häufiger mit der Polizei zu tun zu haben als andere ethnische Gruppen. Dabei kommt es zu Effekten selbsterfüllender Prophezeiung: Wenn eine Gruppe in dem Ruf steht, häufiger bestimmte Deliktarten zu begehen, wird sie stärker überwacht und ihre Mitglieder unterliegen einem größeren Risiko, von der Polizei überprüft zu werden und damit in den Kriminalitätsstatistiken überrepräsentiert zu sein, wodurch wiederum der Anfangsverdacht erhärtet wird. x Die umgekehrte Tatsache, aufgrund der eigenen (ethnischen) Zugehörigkeit vernachlässigt, vergessen, mit seinen Anliegen nicht beachtet und beim Erstatten einer Anzeige (die lediglich zu Protokoll gebracht wird) nicht ernst genommen zu werden. x Die Tatsache, bei Interaktionen (Polizeikontrolle, Hilfeersuchen bei einer staatlichen Stelle) mit weniger Achtung oder Respekt behandelt zu werden. Dieser Unterschied in der Rücksichtnahme kann zu weiterem Fehlverhalten und zum Anstieg von Spannungen und wechselseitiger Aggressivität führen. x Die Tatsache, bei gleichwertigem Gesetzesverstoß oder Delikt ein größeres Risiko zu tragen, (vorläufig) festgenommen zu werden. Dieses Risiko hängt selbstverständlich mit anderen Mechanismen zusammen. Seitens der professionellen Krankenpflegerinnen und -pfleger kann man gemäß derselben Logik in einer ganzen Reihe von Konstellationen von Diskriminierung sprechen: x Im Gegensatz zu den Polizeibeamten besteht die Benachteiligung im Mangel an Kontakt, Beaufsichtigung und Kontrolle. Bestimmte Patienten und Patientinnen bekommen aus unterschiedlichen Gründen weniger Fürsorge oder Aufmerksamkeit: Missbilligung von Beschwerden oder Hilferufen, Bestrafung unliebsamen Verhaltens durch das Pflegepersonal, Angst vor Anste-
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ckungen usw. Oder wie es einigen angelsächsischen Autoren ausdrücken: die sichtbaren Minderheiten im Krankenhaus bekommen das Gefühl, unsichtbar zu werden (Kavanagh 1991; Spitzer 2004). x Das mit anderen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern geteilte Gefühl, dass bestimmte „Klienten“ sich desto weniger kooperativ verhalten, je mehr man ihnen bietet (z. B. ältere, anspruchsvollere Patienten). Dabei verstärkt Aufmerksamkeitsentzug als Vermeidungsstrategie nur das Missverhältnis zu ihren tatsächlichen Bedürfnissen (Bewegung, Toilettengang, Aufstehen usw.). Diese Formen der Vereinsamung und der Vernachlässigung eines Teils der Krankenhausbevölkerung werden durch den Zeitmangel des Pflegepersonals und durch den allgemeinen Pflegenotstand in den Krankenhäusern noch verschärft und führen zu Ausgrenzungsphänomenen und neuen Formen von sozialer und emotionaler Verarmung (Peneff 2000). x Der Umstand, im Rahmen der Behandlung oder bei Interaktionen mit dem Krankenhauspersonal (als Kranker oder Kranke, aber oft auch als Besucher und Besucherin) mit weniger Achtung oder unsanfter behandelt zu werden. x Die Tatsache, einem größeren Risiko für Fehldiagnose oder falscher medizinischer Behandlung zu unterliegen, das natürlich in Zusammenhang mit den ersten beiden Formen der Diskriminierung steht und mit dem Umstand, dass Beschwerden weniger ernst genommen werden. Es gibt deutlich weniger Forschungsarbeiten über Rassismus und rassisch bedingte Diskriminierungen im Krankenhaus (als Einführung siehe Porter/Barbee 2004) als solche, die die Polizei zum Gegenstand haben. Während bestimmte, im Forschungsmilieu verbreitete Stereotypen Polizei und Rassismus leicht in Zusammenhang bringen, werden die von Pflegepersonal ausgeübten Diskriminierungen geradezu tabuisiert (Barbee 1994). Ziel dieses Artikels ist es nicht zu benennen, welche Berufsgruppe mehr oder weniger rassistisch eingestellt ist, sondern – im Vergleich – bestimmte, gemeinsamer Mechanismen aufzuzeigen, die diskriminierende Handlungen, Äußerungen oder Einstellungen bezeugen. Ausgehend von Arbeitssituationen, anhand derer der Prozess der Kategorisierung der Leistungsempfänger, der geläufigen Berufsroutinen und der Interaktionen innerhalb der Kollektive (Polizeibrigaden, Pflegeteams) deutlich werden, werden wir komplexe Praktiken der Diskriminierung offen legen, für die rassistische Vorurteile gegenüber der Polizeiklientel oder den Patienten als einfache Erklärungsmuster nicht ausreichen.
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2. Die „gute“ Klientel aus Sicht von Polizei und Pflegepersonal im Krankenhaus Menschen mit Migrationshintergrund laufen oft deshalb Gefahr, als „schlechte Leistungsnehmer“ wahrgenommen und behandelt und Opfer rassistischer Diskriminierungen zu werden, weil sie bestimmte Aspekte des Berufsideals in Frage stellen. Schlechte Kunden und Kundinnen sind für die Polizisten wie für die Krankenschwestern nicht pauschal Ausländer oder Menschen mit Migrationshintergrund, doch führen eine gewisse Zahl von Eigenheiten dazu, dass letztere ein größeres Risiko tragen, als solche wahrgenommen zu werden. 2.1 Gute und schlechte Patienten und Patientinnen Zusammengefasst gliedert sich das Berufsideal der professioneller Krankenpflegerinnen und -pfleger nach einigen Prinzipien, die sich sowohl aus der Geschichte des Berufszweiges heraus erklären lassen als auch durch seine Stellung innerhalb der Gesamtheit der Gesundheits- und Sozialberufe, die im Krankenhaus tätig sind (Loriol 2000). Das Pflegepersonal kümmert sich in medizinischer, psychologischer und kultureller Hinsicht um den Patienten oder die Patientin. Es unterscheidet sich somit vom Arzt oder von der Ärztin, die vor allem den kranken Körper behandeln. Es gibt dem Kranken Hilfe und Zuspruch, der ihm dafür in doppelter Hinsicht Anerkennung schuldet: er soll die Liebenswürdigkeit und die Opferbereitschaft der Pflegepersonal anerkennen aber auch ihre fachliche Kompetenz. Denn durch ihre Kompetenz unterscheidet sich das professionelle Pflegepersonal von den Hilfspflegern und -pflegerinnen oder anderen Krankenhausangestellten. Auf fachlicher Ebene versucht das Pflegepersonal, sich von der Laiensicht der Patientinnen und Patienten, der Familien und sogar der untergeordneten Berufsgruppen abzugrenzen. Die Patienten und ihre Familien sollen auf dem ihnen zugewiesenen Platz bleiben und die Anweisungen des Fachpersonals respektieren. In diesem Rahmen sind die ‚schlechten Patienten’ für die Krankenschwester diejenigen, die es ihr nicht erlauben, ihre fachliche Kompetenz in Wert zu setzen. Es gibt mehrere Gründe als ‚schlechter Patient’ oder ‚schlechte Patientin’ wahrgenommen zu werden: Zuallererst, wenn man nicht als echter Kranker oder als echtes Opfer wahrgenommen wird. Beschwerden können dann ganz besonders als eingebildet oder missbräuchlich verurteilt werden. Einige Pfleger und
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Ärzte erwähnen oft ein sogenanntes „Mittelmeersyndrom“ 2: Patientinnen und Patienten aus dem Mittelmeerkulturraum und vor allem aus Nordafrika werden als ängstlicher, jämmerlicher, zimperlicher und anspruchsvoller eingestuft. Infolgedessen sollte man ihren Klagen weniger nachkommen. Diese Praxis, die schon zu schwerwiegenden medizinischen Fehlern geführt hat, lässt sich durch eine kulturell verschiedene Ausdrucksweise von Schmerzen und ein unterschiedliches Verhältnis zur Medizin erklären, was vom Pflegepersonal missverstanden wird. Vor allem nordamerikanische Forschungsarbeiten haben diese Gefahr gut dokumentiert. Im Bereich der Krebsforschung zum Beispiel kann die frühzeitige Erkennung der Krankheit durch Verständigungsprobleme und Vorurteile des Pflegepersonals verzögert werden (Curtis 2003). Auf einer kanadischen Entbindungsstation erklärt der Umstand, dass Migrantinnen und indianische Frauen als überempfindlich und wehleidig eingestuft werden, dass sie öfter als „Weiße“ mit einer Infektion nach Hause geschickt werden (Spitzer 2004). Schließlich hat eine Studie über Patienten und Patientinnen, die sich einer komplikationslosen Blinddarmoperation unterzogen hatten, gezeigt, dass farbige, asiatische oder Latino-Patienten und -patientinnen trotz Bitten im Durchschnitt wesentlich weniger Schmerzmittel verordnet bekamen als „Weiße“ (McDonald 1994). 3 Außerdem kann – im Rahmen der Pflegeausbildung – die Vermittlung von kulturalistischen Grundbegriffen der Anthropologie Vorurteile verstärken, weil die Krankenschwestern sich vor allem merken, dass wissenschaftliche Arbeiten zeigen, dass sich Patientinnen und Patienten aus dem Mittelmeerraum bei gleichem Krankheitsbild mehr beklagen. Ein ‚echter Kranker’ ist auch nur derjenige, der nicht für seinen Zustand verantwortlich gemacht werden kann. Die Drogenabhängige, der Alkoholiker, die starke Raucherin, der Fettleibige oder der infolge einer Streiterei Verletzte wird oft schief angesehen: der oder die Betroffene hätte es „vermeiden“ können, 2
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Manchmal auch „nordafrikanisches Syndrom“ genannt (Véga 2001). Weiterhin erwähnen einige Pfleger und Pflegerinnen auch das „Buschsyndrom“, um die Praktiken von Patienten und Patientinnen aus Schwarzafrika einzuordnen, die auf traditionelle Heilmethoden und Tranceriten zurückgreifen (Kassembé 2001). Während Justiz und Polizei die Tendenz aufweisen, bestimmte Verhaltensweisen von Migranten zu kriminalisieren, neigen Medizin und Pflegepersonal dazu, diese zu „medikalisieren“. In Frankreich gibt es kaum systematische Studien zu diesem Thema, aber es können Anekdoten berichtet werden. Anne Véga (2001) beispielsweise erwähnt den Fall einer tunesischen Frau, die durch eine Fehlgeburt sehr verängstigt ist und in Folge dessen feindselig von den Pflegerinnen und Pflegern behandelt wird, die ihr vorwerfen, sich in übertriebener Weise zu beklagen. Nach einer weiteren Fehlgeburt eskaliert die Situation und die Frau verlässt vorzeitig das Krankenhaus. Erst Jahre später entdeckt man die Ursache für die Fehlgeburten (eine latente Diabetes).
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in diese Lage zu geraten. Er oder sie kann von den Pflegern und Pflegerinnen als weniger „verdient“ eingestuft werden. Diese fühlen sich weniger motiviert zu vollem persönlichen Einsatz. Aufgrund ihres niedrigeren sozialen Standes weisen Bevölkerungsgruppen mit Migrationshintergrund eine größere Wahrscheinlichkeit für solche risikobehafteten Verhaltensweisen auf. Ein ‚schlechter Patient’ ist weiterhin derjenige, der sich nicht willfährig, gehorsam und respektvoll verhält. So werden maghrebinische und afrikanische Familien oft als aufdringlich und anspruchsvoll eingestuft, was zu Spannungen mit dem Pflegepersonal und einer Isolierung des Patienten oder der Patientin führen kann. Studien über Krankenhäuser in Algerien oder in Schwarzafrika zeigen, dass die Familien dort eine wichtige Rolle an der Seite des medizinischen und Pflegepersonals erfüllen müssen (Zubereitung von Mahlzeiten, medizinische Überwachung, Aufräumen des Krankenzimmers, moralischer Zuspruch), da ansonsten ihr kranker Angehöriger vernachlässigt und schlecht behandelt werden würde (Jaffré/Olivier de Sardan 2003; Mebtoul 2005). Die Einmischung der Familien entspricht der Erwartungshaltung des Pflegepersonals, und Familien, die nicht genügend Präsenz zeigen, werden abgeurteilt. In Frankreich wird eine geringere und diszipliniertere Form der Einwirkung erwartet. Die Familie muss ihren kranken Angehörigen moralisch unterstützen, dabei aber in jedem Fall das Fachpersonal walten lassen und die immer engeren internen Vorschriften beachten. Diejenigen, die nicht genügend Abstand halten, werden schlecht beurteilt: „Wir gehen nicht aus dem Haus um hier auf die Kranken einzuschlagen, auf gar keinen Fall, im Gegenteil, wir sind da, damit sie gesund werden, und diese Leute da verstehen es einfach nicht, wenn man sie bittet, so nett zu sein, keinen Lärm zu machen und nicht 10 Besucher pro Tag auf dem Zimmer zu empfangen, solche Dinge halt“ (Krankenschwester, Abteilung orthopädische Chirurgie). Ein schlechter Patient ist schließlich, wer die Anstrengungen der Krankenschwester nicht anerkennt. Ein „griesgrämiger“ alter Mensch, der nicht kooperationswillig ist und mehr Pflegezeit in Anspruch nimmt als andere, erfüllt nicht die Bedingungen, die die Krankenschwester für die tagtägliche Anerkennung ihrer beruflichen Legitimität braucht. Dem gegenüber Vorrang hat die Pflege der Patienten mit „wirklichen Bedürfnissen“ (Pflege wund gelegener Patienten). Wenngleich die befragten Krankenschwestern im Allgemeinen der Ansicht sind, dass sozial schwache Patienten mit Migrationshintergrund – im Gegensatz zu wohlhabenderen –, Dankbarkeit zeigen, ist aus ihrer Sicht die Anerkennung ihrer fachlichen Kompetenz nicht immer zur Stelle, da diese Patienten die Ten-
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denz haben, das Wort des Arztes als heilig zu erachten und die Stimme der Pflegerin zu relativieren. Einige Beschwerden werden vor allem mit Blick auf wohlhabende Patienten aus Nordafrika oder südlich der Sahara geäußert, die als verwöhnt wahrgenommen werden und es gewohnt seien, Dienstpersonal herumzukommandieren. So ruft eine reiche algerische Mutter auf einer Pariser Entbindungsstation mehrfach die Säuglingsschwestern aus Motiven, die von den Schwestern als missbräuchlich erachtet werden. In der zweiten Nacht nach der Geburt fordert sie, dass ihr Kind in die Krippe gelegt werden soll (was nur für die erste Nacht vorgesehen ist), weil sie sich müde fühlt. Diese Haltung wird von den Schwestern sehr negativ bewertet, die ihr vorwerfen, ihr Kind nicht genügend zu lieben und zu sehr an die eigene Bequemlichkeit zu denken. Der Ruf dieser Mutter verschlimmert sich noch weiter, als sie darum bittet, einige Stunden eher entlassen zu werden, um an einer Versammlung eines Vereins algerischer Feministinnen teilnehmen zu können, um den sie sich kümmert. Von nun an ächten die Schwestern die Patientin geradezu: sie kommen so wenig wie möglich in ihr Zimmer und beschränken die Interaktionen mit ihr auf ein Minimum. Die Missachtung der Krankenhausvorschriften und der medizinischen Regeln durch ausländische Patienten wird von den Krankenschwestern oft in Verbindung mit deren „Kultur“ gebracht. So betonen die Schwestern häufig die Abwehrhaltung von Patienten ausländischer Herkunft gegenüber dem biomedizinischen System (in Frankreich): „Sie machen alles nur nach ihrem Kopf, sie sind ungehorsam“; „sie setzen die Medikamente ab, sobald die Symptome verschwinden“; „sie essen die von den Familien mitgebrachten Speisen, trotz der verordneten Schonkost“; „die Familien möchten alles an unserer Stelle machen“ (Véga 2000). Die Gefahr, die Kultur von Familien mit Migrationshintergrund als abnorm einzustufen, ist somit umso größer, je mehr ihre Praktiken den Regeln und Routinen der westlichen Medizin entgegenlaufen (Enjolras 2006). Gute und schlechte Polizei-Klienten Neigung und Bekenntnis zu einer klar und unzweideutig moralischen Dimension ihrer Arbeit bringt die Polizisten dazu, ihre Aufgabe sich selbst und anderen gegenüber primär als Verbrechensbekämpfung darzustellen, als Schutz der Guten vor den Machenschaften der Bösen. Der „Superfall“ für den Wert der eigenen Arbeit und das eigene Selbstbewusstsein, für den man auch körperliche Risiken nicht scheut, ist der, der zur Festnahme eines wirklichen Verbrechers führt. Denn der „wahre Böse“ macht umgekehrt den „wahren Polizisten“. Aller-
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dings ist die tägliche Arbeit der Streifenpolizeieinheiten oft sehr weit entfernt von diesen Vorstellungen. Zahlreiche Einsätze haben in der Tat mit zweitrangigen Störungen zu tun, Familien- oder Nachbarschaftsstreitigkeiten, Verstößen gegen die öffentliche Ordnung und mit sozialen Problemen, die durch Prekarisierung und Ausgrenzung entstehen. Die jungen Leute aus den Grossiedlungen (Cités) und vor allem die Minderjährigen sind in den Augen der Polizisten eine wenig interessante „Klientel“. Zunächst, weil die begangenen Taten und der Verdienst der damit verbundenen Festnahmen ziemlich bedeutungslos sind, wobei zudem die Art der Verstöße und das Alter der Festgenommenen die Chancen auf eine gerichtliche Verfolgung schmälern. Weiterhin, weil die Polizisten das Gefühl haben, eine Rolle übernehmen zu müssen, die eigentlich nicht die ihre ist: der mangelnden Erziehung durch die Eltern abhelfen und Sozialarbeiter spielen... Schließlich, weil ihre Arbeit weniger in der Anwendung des Gesetzes als in der Pflicht besteht, eine gewisse Autorität durchzusetzen. Diese Rückzugshaltung erklärt sowohl die Ablehnung der police de proximité (gemeindenahe Polizei) – Politik wie auch das Unbehagen und das Gefühl der Abwertung (der eigenen Arbeit) durch die Beziehungen mit den Jugendlichen aus den Vorstädten. Letztere sind für die Polizisten weder „wirkliche Böse“ noch Unschuldsengel. Doch anstelle der Vorstellung vom „großen Gangster“ tritt das Bild des Jugendlichen aus der Vorstadt, der je nachdem als „Kröte“, „Herumtreiber“ oder „kleiner Dreckskerl“ bezeichnet wird. Diese jungen Leute sind die „falschen“ Bösen, denn sie missachten die von der Polizei aufgestellten Spielregeln. Sie zeigen keinen Respekt, akzeptieren keine Sanktionsmaßnahmen, bestreiten die gegen sie vorgebrachten Verdachtsmomente usw.. Die Interaktionen der Polizei mit diesem Publikum sind anders und können wiederum Prozesse in Gang setzen, die die gegenseitigen Vorurteile verstärken. Die Polizisten begegnen den Jugendlichen mit weniger Achtung als denjenigen, die sie als „wirkliche“ Böse einstufen, und erhöhen dadurch die Wahrscheinlichkeit von Auflehnung und Beschimpfungen. 4
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Eine quantitative Untersuchung der Gerichtsakten von Tatverdächtigen, die wegen Auflehnung gegen öffentliche Ordnungskräfte zwischen 1965 und 2005 von einem Pariser TGI [Tribunal de Grand Instance, Gericht erstere Instanz, A.d.Ü.] verurteilt worden sind, zeigt, dass Personen aus der „maghrebinischen“ und „farbigen“ Gruppe (eingeordnet nach Familiennamen und Geburtsort) einem zweimal höheren Risiko unterlagen zu geschlossenem Vollzug verurteilt zu werden. Ein Grund für diese Ungleichbehandlung ist, dass in ihren Akten häufiger Gewalttaten erwähnt werden.
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Bei unseren teilnehmenden Beobachtungen sind wir mit mehreren derartigen Interaktionen konfrontiert worden. Ein Beispiel erlaubt es, zugleich ihre Banalität und ihre Bedeutung zu verstehen. Nach 10 Minuten Diskussion, als die Streifenbeamten gerade das Verfahren wegen der Fahrzeuglichter aufnehmen und das Schreiben aufsetzen wollten, sehen wir die Kollegen von der BAC 5 in aller Eile losfahren. „Es gibt einen Anruf wegen einer Schlägerei im Einkaufszentrum am Bahnhof!“ Sofort springt die Besatzung, die ich beobachte, ihrerseits auf: „Schnell, wenn wir uns beeilen, können wir vor der BAC ankommen“. Wir nehmen die kleinen Strassen und kürzen durch das Stadtzentrum ab „Die BAC kennen diese Strassen nicht so gut, vielleicht haben wir eine Chance, als erste anzukommen“. Ziel ist es auf dem Schleichweg die roten Ampeln zu vermeiden, an denen die BAC anhalten muss. In der Tat kommen wir genau zur gleichen Zeit wie die BAC an. Allerdings gibt es an angegebenem Ort gar keine Schlägerei, nur vier junge Leute (drei Marokkaner und ein Senegalese) die auf der Erde sitzen und Bier trinken. Die Polizisten stellen sie mit erhobenen Armen an die Wand, nehmen die Personalien auf, durchsuchen sie (keine Waffen) und leeren die Bierflaschen auf dem Boden aus. Mindestens 12 Polizisten (BAC, Streifenpolizei, CRS 6 sind zur Stelle für vier Jugendliche. Diese schwanken zwischen Leugnung, Entschuldigung und Provokation: „Wir haben nichts gemacht, Monsieur, wir haben nichts getan... Wir freuen uns nur, weil Marokko gewonnen hat [im Fußball gegen Mali im Halbfinale des Afrikacups], wir haben nichts getan...“ Einer von ihnen, der betrunkener ist als die anderen, sucht die Provokation und lässt sich wiederholt zu ungefälligen und ironischen Bemerkungen hinreißen. Schließlich überschreitet er die „Geduldsgrenze“ der Polizisten – die ihrerseits auch nicht besonders freundlich sind, sich aber korrekt verhalten – und wird von ihnen mitgenommen, „um zwei-drei Stunden auszunüchtern“. Während ihn die Beamten von der BAC abtransportieren, rufen ihm seine Kumpel hinterher: „Mensch Omar, das hast Du Dir selbst eingebrockt ... aber mach Dir keine Sorgen: in vier Stunden 7 lassen sie Dich wieder frei ...“.
Diese Geschichte ist in mehrerer Hinsicht exemplarisch: Zunächst ist da die Enttäuschung aufgrund der Fehlinformation über die genaue Art des Ereignisses: nicht selten geschieht es, dass die Personen, die die Polizei rufen, bei der Beschreibung des Vorfalls absichtlich übertreiben, weil sie sich davon ein schnelleres Eingreifen versprechen. Amerikanische Studien haben gezeigt, dass Kläger und Gesuchsteller bei der Entstehung von Minderheitendiskriminierung eine 5 6 7
Brigade Anti Criminalité; Abteilung der französischen Kriminalpolizei, deren Ziel die Bekämpfung kleinerer und mittlerer Delikte ist (A.d.Ü.). Compagnies Républicaines de Sécurité, französische Bereitschaftspolizei (A.d.Ü.). Die Jugendlichen kennen die maximale Dauer des Gewahrsams für „vertiefte Personalienüberprüfung“ ganz genau; von daher kann man wohl von Vorerfahrungen mit dieser Art von Kontakt mit der Polizei ausgehen.
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wichtige Rolle spielen (Black, 1968). Anstatt auf einen „interessanten“ Vorfall (eine Schlägerei) zu treffen, kommen sich die Polizisten ein bisschen lächerlich vor angesichts der vier angetrunkenen Jugendlichen. So wenig die Jugendlichen erfreut darüber sind, von den Polizisten gestört zu werden, so sehr ärgern sich letztere, für eine „Scheißangelegenheit“ ein solches Risiko (Gefahr eines Autounfall) eingegangen zu sein. Daraus resultieren Spannung und wechselseitige Erregung. Der beobachtete Fall zeigt also ein subtiles Spiel von Provokationen seitens beider Gruppen (Jugendliche und Polizisten), das aus ihrer Sicht eigentlich nur dazu dient, das Gesicht zu wahren, aber letztlich zur Verhaftung eines Jugendlichen führt. Die Begegnungen zwischen Jugendlichen und Polizisten sind für letztere umso frustrierender, als dass sie für sie eine Arbeit mit sich bringen, die ihnen entwürdigend, wenig produktiv und als außerhalb ihrer „wahren Mission“ liegend vorkommt: Erziehungs-, Sozial- und Vermittlungsarbeit ... In diesem Sinne ist der Ausdruck „mit dem Kärcher säubern“ des [ehemaligen] Innenministers [Nicolas Sarkozy, A.d.Ü.] ebenso beleidigend für die jungen Leute aus den Cités wie für die Polizeibeamten; für die nämlich, die sich so oft beschweren, für die „Scheuerlappen der Gesellschaft“ 8 gehalten zu werden! Außerdem sind es meist junge Polizeibeamten ohne Erfahrung, die für die schwierigen Stadtviertel zuständig sind. In Serbourg ist in einer der drei Dienstgruppen der älteste Polizist 25 Jahre alt und hat zwei Dienstjahre hinter sich. Er ist der „Dienstälteste“ wie seine Kollegen im Scherz sagen. Für die Streifenfahrten hat er allerdings nicht genügend Erfahrung, um diese Rolle wirklich auszufüllen. Während der Beobachtungen sehen wir mehrfach, wie seine Mannschaft auf Eingriffe verzichtet oder vor Provokationen durch die „Jugendlichen“ zurückweicht – aus Angst, sich in Situationen zu begeben, mit denen sie nicht klarkommen würde (auf menschlicher Ebene, aber auch unter Sicherheits- und juristischen Aspekten). Daraus entsteht jedes Mal ein Gefühl von Frustration und Ohnmacht. Bei einigen Polizisten mag diese aufgestaute Frustration bei einem „harten“ Einsatz auf unkontrollierte Weise ausbrechen. Die Kategorie „Jugendliche“, vor allem diejenigen, die mit einer bestimmten Wohnsituation (Vororte – banlieues, Grossiedlungen – cités, Problemkieze – quartiers) in Zusammenhang gebracht werden, stellen aus Sicht der Polizisten eine wenig geschätzte und wenig wertbringende Klientel da. Angesichts der gemeinhin bekannten demographischen Verteilung der Wohnorte handelt es sich 8
Dieser Ausdruck wurde sowohl von einem Polizeibeamten während einer teilnehmenden Beobachtung als auch von einem Gewerkschaftsvertreter in einem Interview uns gegenüber geäußert.
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dabei gerade um die Jugendliche, die einen Migrationshintergrund aufweisen. Somit fallen aus Sicht der Polizisten letztendlich ethnische Kategorie und die Einstufung als „schlechte Klienten“ tendenziell zusammen.
3. Vorurteile, Routinehandlungen und Situationseffekte: Zur Funktionsweise von Diskriminierungsmechanismen. Eine klassische Fragestellung der Forschungsliteratur zum Thema Diskriminierung beschäftigt sich mit dem Zusammenhang zwischen rassistischen Vorurteilen und Diskriminierung. Haben diskriminierende Praktiken mit offenen rassistischen Standpunkten zu tun oder mit anderen Ursachen? In unseren Interviews, in denen der berufliche Stress und die Beziehung zu den Leistungsempfängern der eigenen Arbeit das Hauptthema waren, haben wir den „verbalen Rassismus“, von dem Wieviorka (1992) spricht, weder bei den Polizisten noch bei den Krankenschwestern wiedergefunden: Rassistische Positionen werden weder beansprucht noch verteidigt, noch gibt es Bemerkungen über den Zusammenhang von Einwanderung und Kriminalität oder über „Vorzugsbehandlungen“, die Ausländer gegenüber Franzosen genießen würden. Zum Vergleich: Interviews über das gleiche Thema Stress, die mit Fahrern und Gewerkschaftlern der RATP (Pariser U-Bahn) geführt worden sind, haben einen solchen „verbalen Rassismus“ häufiger zur Sprache gebracht. Dieser wird mit der eigenen Erfahrung gerechtfertigt („selbst wenn anfangs nicht rassistisch eingestellt ist, wird man es, wenn man sieht, dass es immer dieselben sind, die Mist bauen“) oder durch das Gefühl „ungerechter“ Behandlung („Bei der „Régie“ [= RATP, Betreibergesellschaft der U-Bahn, A.d.Ü.] stellen sie jetzt Jugendliche aus den Problemvierteln ein, am liebsten möglichst dunkelhäutige, damit sie keinen Unsinn mehr machen, und für unsere Kinder gibt es keine Arbeit mehr!“ usw.). Während der teilnehmenden Beobachtungen – in Gesprächen unter Kollegen in den Polizeiautos oder im Behandlungszimmer – können Bemerkungen, denen rassistische Stereotypen zugrunde liegen, allerdings häufiger vernommen werden. Der Gebrauch von ethnischen Kategorien – unter anderen – zur Charakterisierung der Polizeiklientel oder der Patienten geht dabei auf verschiedene Ursachen zurück.
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3.1 Berufsroutinen und Kategorisierungen Die erste ist praktischer Art: Die Polizeiklientel oder die Patienten nach ihren vorgeblichen Eigenheiten zu unterscheiden ist ein einfaches Mittel, handlungsfähig zu sein, zu wissen, was zu tun ist, ohne sich zu viele Fragen zu stellen. Eine auf Kategorisierung beruhende Diagnose der Klientel erlaubt es, Arbeitsabläufe durchzuführen und eine bestimmte Verhaltensweise einzunehmen: die Diagnose ist handlungsorientiert und oftmals verbindend für das gesamte Team, damit dieses überhaupt intervenieren kann (Villatte et al. 1993). Die befragten Krankenschwestern nehmen im Interview von sich aus keine rassistische Positionen ein, und ihr Berufsideal verpflichtet sie dazu, alle Patienten mit der gleichen Fürsorge zu behandeln. Dennoch werden rassische Stereotypen im Behandlungsraum oft benutzt, in erster Linie gegenüber Farbigen oder Menschen aus den Maghreb-Staaten: die Vorwürfe richten sich gegen die aufdringlichen Familien, gegen die Aggressivität von Jugendlichen ausländischer Herkunft, verweisen auf sprachliche Verständigungsprobleme und beinhalten manchmal auch die Unterstellung des Sozialmissbrauchs durch ausländische Personen. Andere Untersuchungen in Form von teilnehmenden Beobachtungen haben bestätigt, dass diese Art von Verurteilungen regelmäßig im Krankenhaus auftreten: Véronique kommt wütend aus dem ‚Moslem-Zimmer’ zurückgelaufen: „Die glauben, die können sich alles erlauben! Der da ist Nordafrikaner, ist noch nicht mal krankenversichert benimmt sich zudem unmöglich!“ (Véga 2000). Der Gebrauch ethnischer Kategorien (der „ Moslem“, der „Chinese“, der „Schwarze“) neben altersbezogenen (die Oma, der Opi ...) oder medizinischen (der MS-, HIV-, Suizid-Patient) zur Charakterisierung der Patienten bestätigt auf indirekte Weise rassische Stereotypen (Porter/Barbee 2004). Die „Rasse“ wird somit in gleicher Weise wie das Alter oder das Krankheitsbild zu einem relevanten Merkmal, um über Probleme oder Verhaltensweisen bestimmter Patienten und Patientinnen zu berichten. Hier stößt man wiederum auf die Neigung, „fremd“ oder „fremdländisch“ empfundene Verhaltensweisen auch als anormal zu erachten. Die Unkenntnis der französischen Sprache ist manchmal Grund zum Ärgernis, oft aber auch eine Ausrede, die mangelnde Fürsorge für einen als schwierig empfundenen Patienten zu rechtfertigen, und somit also eine Ablehnung oder fehlendes Engagement zu rechtfertigen, die noch andere, schwerer einzugestehende Ursachen haben (Spitzer 2004). So wurde auf der Intensivstation im Krankenhaus Nanterre ein südamerikanischer Patient, der von der Polizei wegen Drogenschmuggel verhaftet und eingeliefert worden war (zur Überwachung, da
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der Verdacht bestand, die Person habe Kokain-Kügelchen geschluckt) von der Belegschaft mit großer menschlicher Kälte behandelt. Diese war der Ansicht, dass der Patient keine besonderen Ansprüche stellen sollte, da er „eigentlich ins Gefängnis gehörte“. Er ist kein guter Patient, weil er nicht als „wirklicher Kranker“ gilt (denn er hat sich selber in Gefahr gebracht). Die Krankenschwester, die sich um ihn kümmert, erklärt: „Mit dem da habe ich beschlossen, nicht zu reden. Ich kann sowieso nicht besonders gut Englisch sprechen, das macht es einfacher, die Verbindung zu kappen.“ Der Patient wird also sowohl in seiner Eigenschaft als Ausländer als auch als Delinquent in die Ecke geschoben; etwas später macht dieselbe Krankenschwester eine abfällige Bemerkung über „diesen Ausländer, der Drogen nach Frankreich schmuggelt“. An anderen Stellen jedoch, insbesondere während des Interviews, kritisiert sie das generelle Auftreten der Polizisten auf der Station, die Personen, die sie ins Krankenhaus einliefern, immer wie Straftäter behandeln würden, selbst wenn diese verletzt seien. Im Umgang mit den Patienten haben die Pfleger und Pflegerinnen nicht immer Zeit und Lust, auf Menschen mit geringen kulturellen oder sprachlichen Kompetenzen einzugehen. Das kann zu Missverständnissen und Nachlässigkeiten in der Behandlung führen und allgemein für ein schlechtes Verhältnis sorgen. Die Krankenschwestern reagieren negativ auf alles, was ihre sowieso schon schwierigen und zerstückelten Arbeitsabläufe zusätzlich stört, auf übertrieben scheinende Erwartungen, auf Übergriffe auf ihr Territorium (Behandlungszimmer) oder andere Beeinträchtigungen ihrer Arbeit. Patienten und Patientinnen ausländischer Herkunft sind nicht als einzige betroffen, aber scheinbar ist die Toleranzschwelle ihnen gegenüber noch niedriger als gegenüber anderen Patienten und Patientinnen. Es wirkt so, als ob sie mehr noch als andere ihren guten Willen beweisen müssten. Die Krankenschwester, die ihre ganze Zeit und Kraft für die Pflege des Patienten oder der Patientin – dem Wahrzeichen ihrer beruflichen Bestimmung – opfern soll, steckt in einem Dilemma, das die Raumaufteilung zwischen Schwester und Patienten und die Schaffung einer möglichen Interaktionszone zwischen ihnen erschwert. Auch unter den Polizisten hört man in den Interviews kaum direkt rassistische Äußerungen. In der alltäglichen Arbeit treten Unterscheidungen nach ethnischen Merkmalen aber häufig auf: Dies ist der Fall bei den häufigeren Kontrollen bestimmter Bevölkerungsgruppen: Jugendliche aus den Vorstädten, die in einer Gruppe unterwegs sind. „Zigeuner“, die sich in schicken Wohngegenden aufhalten ... Diskriminierung äußert sich allgemein, wenn bestimmte Kontrollweisen zur Routine werden (Norris et al. 1992). Diese Routinen richten sich nicht unbedingt nur nach ethnischen Kriterien, sondern bestehen aus jeweils
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spezifischen Kombinationen von rassischen Stereotypen, Alterskriterien und der Einschätzung des Gebiets, in dem die Bevölkerungsgruppen observiert werden, sowie der dort bereits gemachten Erfahrung. So der Fall in folgendem Beispiel: „In Höhe des RER [S-Bahn, A.d.Ü.] bittet die Dienstgruppenleiterin plötzlich, langsamer zu fahren. Sie hat eine verdächtige Zigeunerin bemerkt. „Sie hat uns gesehen, bieg rechts ab“ . Wir drehen um, um uns ihr vorsichtig wieder anzunähern, die Vorgesetzte steigt aus dem Wagen und weist uns an, drinnen zu bleiben. „Hattest Du das gesehen?“, fragt der Polizeianwärter. „Nein! Aber sie kommt von der BAC [Brigade Anti Criminalité] und hat den geübten Blick der BAC!“. 9 Die Vorgesetzte verfolgt die Zigeunerin, aber diese hat uns schon wieder bemerkt: „Ok, das lohnt nicht, übergeben wir das der BAC“, die sie per Funk anruft. Ich frage sie, warum ihr die Frau verdächtig vorgekommen ist: „Erstens, weil es eine Zigeunerin ist, die in Villedieu in einer leeren Strasse rumläuft, wo nur geparkte Autos stehen, das ist kein Zufall, außerdem hat sie die Autos angeschaut und dazu hat sie ein langes Kleid an, unter dem sie bestimmt einen Schraubenzieher versteckt“. Bei den Routinetätigkeiten der Polizei wird die Grundeinstellung oft von einer Einordnung der „Klientel“ nach ihrer Herkunft beeinflusst: „Maghrebiner sind kleine Dreckskerle, Zigeuner sind echt harte Kerle, 10 Juden beschweren sich gerne, da muss man echt aufpassen, Schwarze sind gewalttätig und in den Drogenhandel verwickelt usw.“. Das wirkt sich auf die (jeweilige) Behandlungsweise aus: mehr Festnahmen, genaue Kontrolle der Papiere, die Art Durchsuchungen vorzunehmen usw.
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So ist sie fähig, in städtischer Umgebung das kleinste Anzeichen „verdächtigen“ Verhaltens auszumachen (ein Pakistani, der aus einem bürgerlichen Wohnhaus herauskommt, ein Jugendlicher, der über eine Absperrung springt, junge Leute, die in einem Auto warten…), das weder ihre Kollegen noch der Soziologe gesehen hatten. Die negativen Diskurse über die „Zigeuner“ sind am hartnäckigsten und weitesten verbreitet : dabei werden die „Zigeuner“ regelmäßig mit größeren Gewaltverbrechen in Verbindung gebracht, doch ist die Einstellung der befragten Polizisten gegenüber den „Zigeunern“ dennoch ambivalent in dem Sinne, dass letztere beinahe respektvoll als „wahre“ Böse dargestellt werden, als Profis (im Gegensatz zu den kleinen „Dreckskerlen“), dessen Gefährlichkeit letztlich auch das Prestige derjenigen steigert, die sie festnehmen. Auf die Frage einer jungen „Zigeunerin“, warum ihr Auto regelmäßig kontrolliert würde, antwortete ein Polizist mit einem Lachen „weil ihr unsere besten Kunden seid!“. Die von Renée Zaubermann (1998) untersuchten Polizisten erinnerten sich allerdings im Gegenteil nur die negativen Eigenschaften, die mit „Zigeunern“ in Verbindung gebracht werden (Gefährlichkeit, asoziales Verhalten, Ungeständigkeit usw.).
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3.2 Situationslogik Die Beobachtung zeigt nichtsdestoweniger, dass diskriminierendes Verhalten zwar in rassischen Vorurteilen seinen Ausgangspunkt nimmt, zugleich aber stark abhängig ist von den Interaktionen mit den betroffenen Leistungsempfängern, die die Vorurteile gewissermaßen auslösen aber auch einer kritischen Prüfung unterziehen. Deswegen sprechen wir an dieser Stelle von einer „Situationslogik“, in der diskriminierende Handlungen sowohl durch die Interaktionsprinzipien der Berufkollegen untereinander und gegenüber ihren „Klienten“ erklärt werden können als auch durch die „Stimmung“, die sie in eine bestimmte Situation hineintragen. Und gerade die Atmosphäre wird in starkem Maße innerhalb der Interaktionsprozesse überarbeitet und (neu) ausgehandelt. Stereotypen werden mit spezifischen, real erlebten Situationen konfrontiert. Genauso wie sie Handeln (oder Nichthandeln) auslösen können, kann die Interaktion mit dem (von der Handlung betroffenen) Gegenüber das Stereotyp verstärken oder – im Gegenteil – abschwächen. In diesem Sinne scheinen sich uns die beobachteten Diskriminierungen eher aus konkreten Situationen heraus erklären zu lassen als durch die Annahme einer vom Rassismus geprägten Arbeitskultur. Es bedarf jeweils einer Situation, konkreter Umstände, eines bestimmten organisatorischen Rahmens, damit rassistische Stereotypen Wirkungen entfalten oder nicht. Die diskriminierende Handlung entsteht aus einer Situation heraus, die wiederum verschiedene Bestandteile hat: Zunächst der Ort der (Polizei)kontrolle. In einem als Problembezirk eingestuften Stadtviertel finden Festnahmen oder Kontrollen oft unter Gewaltanwendung statt, um das Risiko feindlicher Gruppenbildung zu vermeiden, also in einem angespannteren Klima. An neutralerem Ort, beispielsweise einem Einkaufszentrum, ist die Spannung weniger groß. In vornehmen Wohngegenden kann die Anwesenheit auffälliger Minderheiten suspekt erscheinen usw. Die Interaktion wird weiterhin bedingt durch den Zeitpunkt im Rahmen des Streifenfahrt, durch vorherige Geschehnisse (die Polizeistreife kann bei Ankunft gelassen sein oder bereits erregt durch Bemerkungen oder Provokationen anderer Klienten, einen fehlgeschlagenen Eingriff usw.), durch das (Nicht)Vorhandensein von Vorerfahrungen mit den überprüften Individuen (beispielsweise größere Vertrautheit oder aber ein höheres Maß an Provokationen gegenüber Personen, die „den Polizeikräften wohlbekannt sind“). 11 Schließlich ist auch der Umstand, ob der Einsatz auf den Anruf oder die Beschwerde eines Mitbürgers zurückgeht, ein wichtiger Bestandteil der Situation, denn er zwingt 11
Zu den verschiedenen Aspekten vgl. die zusätzlichen Beobachtungen von Jobard (2006).
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die Polizeibeamten zu einem Mindestmaß an Überprüfungen, selbst wenn aus ihrer Sicht nichts Einschlägiges vorliegt. Bestimmte Umstände können den Verdacht oder die Verfolgungen abschwächen: Beispielsweise, wenn die beschuldigten Jugendlichen Mädchen 12 sind oder wenn der ausländische Fahrer ohne Fahrzeugpapiere mit seiner schwangeren Frau als Beifahrerin unterwegs ist. In dem Moment jedoch, wo es zur Polizeikontrolle kommt, ist die Haltung der betroffenen Person von entscheidender Bedeutung für das weitere Geschehen – vor allem wenn sie den Polizisten nicht bereits bekannt (und damit eingestuft) ist. Ob und in welcher Weise die Stereotypen, die der Entscheidung jemanden zu kontrollieren oder festzuhalten zugrunde lagen, sich in diskriminierende Praktiken äußern werden, hängt ganz von der Art der Interaktion ab, die sich mit dem Beschuldigten entwickelt. Falls dieser die erwarteten Stereotypen unterläuft, kann sich die Situation durchaus umkehren, wie folgendes Beispiel veranschaulicht. 15 Minuten nach Beginn der Kontrollfahrt gerät ein Auto ins Visier der Polizisten. Sie stellen das Blaulicht an, um es anzuhalten. Der Fahrer, ein Schwarzer, hat außer einem Führerschein keinerlei Papiere, weder von sich, noch von der Versicherung. Versicherungs- und TÜV-Plakette sind abgelaufen. Er behauptet, dass das Auto nicht ihm, sondern dem Vater eines Freundes gehört. Die Polizisten lassen ihn das Auto abstellen und durchsuchen ihn: keine Waffen, keine Drogen. Der Mann verhält sich ruhig und kooperativ. Das Auto wird durchsucht und Jérôme findet etwa zehn Strafzettel, die ältesten sind ca. einen Monat alt. Sylvain geht nachschauen, ob der Wagen gestohlen ist und wer der Halter ist. Der Mann fragt Jérôme, warum sie gerade ihn angehalten haben. Dieser antwortet betreten, dass sie jeden anhalten können. „Weil ich ein altes Auto habe? Ich habe nicht das Geld, mir ein schickes Auto zu leisten, ... naja, ich meine ... das hier gehört mir ja auch gar nicht, man hat es mir geliehen, aber ich kenne keine reichen Leute ...“, sagt er schmunzelnd (er scheint die Situation gewohnt zu sein). Sylvain kommt aus dem Polizeiauto zurück; die Überprüfung hat nicht geklappt, weil der Bordcomputer keine Verbindung bekommen hat. Die Polizisten behalten den Führerschein des Mannes und fordern ihn auf, ihnen mit seinem Auto auf die Wache zu folgen, um dort die Überprüfung vorzunehmen. Auf dem Weg stelle ich die Frage, warum gerade dieses Auto ihre Aufmerksamkeit angezogen hat. Etwas verlegen erklären mir Jérôme und Sylvain, dass es der Gesamteindruck ist: „Der Zustand des Autos, das Kennzeichen aus dem Departement 77, das Erscheinungsbild des Fahrers [er trägt eine Baseballmütze und einen Ohrring] ... Das Problem mit diesen Leuten ist, dass sie sofort sagen: ‚Sie 12
Die wegen „Ruhestörung“ durch „junge Rowdys nordafrikanischen Typs“ gerufene Polizeibrigade fährt mehrere Male direkt an der Gruppe maghrebinischer Mädchen vorbei (die im Eingangsbereich eines Wohnblocks sitzen und Pizza essen), die den Anruf ausgelöst hatten, ohne diese zu bemerken, weil sie so sehr darauf fixiert waren, auf Jungen zu treffen.
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halten mich an, weil ich schwarz bin’. Aber hier hat er das nicht gesagt. ... In jedem Fall ist er cool, er hat sich sicherlich nichts Schlimmes vorzuwerfen. Meiner Meinung nach ist da was mit der Versicherung: der fährt bestimmt noch mit der Versicherung des früheren Besitzers, der hat das Auto vor kurzem gekauft und die Ummeldung noch nicht gemacht oder so was ...“ Der Mann fährt vor uns her und kennt den Weg zur Polizeiwache ganz genau, was Sylvain in seiner Annahme bestätigt: „Der Typ wohnt bestimmt nicht im Departement 77“. Beide Autos parken vor der Wache. Bevor sie reingehen bittet Jérome, die Motorhaube aufzumachen, um die Seriennummer des Wagens zu notieren. Auf der Polizeiwache werden die Personalien des Mannes und die Daten des Autos überprüft. Der Halter des Fahrzeugs hat einen sehr französisch klingenden Namen, was wiederum Sylvain in seiner Annahme bestätigt („ihr glaubt doch wohl nicht, dass eine echter ‚Gallier’ so einem Typen sein Auto leiht, der noch nicht einmal seinen Namen kennt“). Bei der Vernehmung vertut sich die Person bei ihrem Geburtsdatum (unterschiedliche Angabe zu der auf dem Führerschein). Doch die Überprüfungen ergeben nichts und die Polizisten lassen ihn laufen, weil sie der Ansicht sind, dass er sich sehr korrekt verhalten hat.
Im Übrigen hängt die Beurteilung der betroffenen Personen oft mehr von der Anerkennung der polizeilichen Arbeit und ihrer Wertmaßstäbe ab als von der ethnischen Herkunft der Betroffenen. Die Haltung der Polizisten erklärt sich weniger aus der ethnischen Zugehörigkeit der Personen, sondern aus dem Gefühl, dass die Individuen, die ihnen gegenüber stehen, ihre beruflichen Leitlinien und ihre Wertehierarchie in Frage stellen. Dies zeigt das nachfolgende Beispiel, bei dem allerdings der „Beschwerdeführer“ sein Anliegen delegitimiert sieht und es dem „Täter“ maghrebinischer Herkunft gelingt, die Situation zu seinen Gunsten zu wenden. 14:10 Uhr: Wir fahren los, nachdem der Geschäftsführer eines Restaurants die Polizei gerufen hat, weil er sich „bedroht“ fühlt (es handelt sich um eine recht luxuriöse Restaurantkette, die die älteren Bewohner dieses wohlhabenden Vorortes gerne besuchen). Als wir am (sehr nahe gelegenen) Ort des Geschehens ankommen, werden wir vom „Verursacher“ der Bedrohungen in Empfang genommen, dem daran gelegen ist, uns seine Version der Geschichte darzulegen. Es handelt sich um den ehemaligen Sommelier des Restaurants, der nach einer Auseinandersetzung mit der Geschäftsführung wegen „schwerwiegenden Fehlverhaltens“ entlassen worden ist: der Mann heißt Mouloud, aber als er eingestellt wurde, hat man ihn gebeten, sich in Gegenwart von Gästen Tony nennen zu lassen (er sieht nicht aus wie ein Nordafrikaner), was er während der Probezeit akzeptiert habe. Nach der Probezeit aber habe er darum geben, Mouloud genannt zu werden, zumindest, wenn keine Gäste in der Nähe waren, was die Leitung und seine Kollegen jedoch niemals akzeptiert hätten. Er hat gerade den Prozess vor dem Arbeitsgericht wegen ungerechtfertigter Kündigung und rassischer Diskriminierung gewonnen. Er gesteht, dass er nach dem Urteilsspruch vorbeigekommen ist, um den Geschäfts-
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führer zu „ärgern“ und dass das wohl nicht sehr clever war. Die Polizisten empfehlen ihm freundschaftlich zu verschwinden, da ihm jeglicher Vorfall auf die Füße fallen könne, was angesichts der Tatsache, dass das Gesetz im Moment auf seiner Seite sei, dämlich wäre. Das sieht er ein. Während der Diskussion ist der Geschäftsführer herausgekommen, erregt darüber, dass wir nicht direkt zu ihm gekommen sind. Ein Polizeibeamter nimmt ihn zur Seite, um mit ihm zu reden. Als Mouloud weggeht, wirft ihm der Geschäftsführer hinterher: „Wenn Du wiederkommst, rufe ich sofort die Polizei“, was den Polizisten gar nicht gefällt. Sie weisen ihn darauf hin, dass er sie nicht grundlos anrufen darf. Wir fahren zurück, nachdem wir beiden Seiten empfohlen haben, den Gerichtsentscheid zu respektieren und ruhig zu bleiben (wobei sich vor allem der Restaurantmanager aufgeregt hat). Die Polizisten stecken ein bisschen in der Klemme: Sie geben Mouloud Recht (und werfen dem Geschäftsführer vor, sie überflüssigerweise wegen „Bedrohungen“ gerufen zu haben – was dieser selbst als übertrieben eingesehen hat – und sich über die Polizei aufgeregt zu haben), aber sie wollen auch nicht, dass sich der Geschäftsführer bei der Kommissarin beschwert.
Wie verschiedene polizeisoziologische Werke in den USA gezeigt haben, entsteht rassische Diskriminierung oftmals bei der Begegnung von zwei Gruppen mit unterschiedlichen Erwartungen: Die Polizisten erwarten seitens der Bürger Respekt vor und Mithilfe bei ihrer Aufgabe als Ordnungshüter, wohingegen von der Polizei kontrollierte Personen die Achtung ihrer Persönlichkeit und ihrer Rechte erwarten (Black 1968; Sykes/Clark 1975). Wenn Polizeibeamte auf jungen „Beurs“ (Maghrebiner) oder Farbige zugehen, so tun sie das aufgrund der routinemäßigen (stärkeren) Überwachung bestimmter Gruppen und zugleich in der Befürchtung, ihre Autorität dabei in Frage gestellt zu sehen. Die Jugendlichen ihrerseits sehen im Eingreifen der Polizei das Zeichen für eine diskriminierende Behandlung ihnen gegenüber und können die Rechtmäßigkeit des Eingriffs in Frage stellen oder sogar eine herausfordernde Gegenhaltung einnehmen. Das kann zu steigenden Spannungen und zu einer Eskalation des Konfliktes und letztlich zu Gewaltanwendung durch die Polizei, Beschimpfungen und Auflehnungen führen. Die besondere Überwachung bestimmter Bevölkerungsteile und das Ansteigen der Spannungen während der Interaktion mit den Polizisten scheinen also die beiden Hauptmechanismen der Diskriminierung zu sein, die bei Polizei beobachtet werden können. Auch bei den Krankenschwestern wird der Patient nach seiner Fähigkeit beurteilt, sich an die Krankenhausabläufe anzupassen, die ärztlichen Verordnungen zu akzeptieren und den Anweisungen der Schwestern Folge zu leisten sowie die geltenden Umgangsformen und Höflichkeitsregeln der französischen Mittelschichten zu beherrschen. Wie wir gesehen haben, können Stereotypen über maghrebinische oder afrikanische Patienten zusammen mit ihren Besuchs- (vie-
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le Besucher) und Essgewohnheiten und ihren Umgangsformen (Duzen, Anfassen...) feindselige oder ausweichende Reaktionen beim Pflegepersonal auslösen. Umgekehrt können diese Reaktionen wiederum aggressive Verhaltensweisen oder Beschwerden seitens der Patienten hervorrufen, die aus Sicht der Pfleger und Pflegerinnen die anfänglichen Vorurteile nur bestätigen. Doch kann Rassismus, sofern er sich gegen den Berufsethos und die gewohnten Arbeitsabläufe richtet, vom Pflegepersonal durchaus verurteilt werden. So wird ein „weißer“ Patient, der sich weigert, sein Zimmer mit einem „Farbigen“ oder einem „Araber“ zu teilen, im Namen des Prinzips verurteilt, dass man nicht wählerisch zu sein hat und sich den Entscheidungen des Pflegeteams unterordnen muss. Zugleich können aber informelle Praktiken der Zusammenlegung von Kranken nach Herkunft (oder manchmal auch die Reservierung von Einzelzimmern für „Franzosen“) beobachtet werden (Fassin et al. 2002). Genauso stehen Patienten und Patientinnen, die die Betreuung durch schwarz- oder nordafrikanische Pfleger bzw. Pflegerinnen ablehnen, in schlechtem Ansehen, obwohl sich zugleich in manchen Abteilungen die Schwestern, die erkennbaren Minderheiten angehören, von Ihren Kolleginnen nicht genügend unterstützt fühlen (Kassembe 2001).
4. Gruppendynamische Prozesse, Selbstkontrolle unter Kollegen, politische Rahmenbedingungen und Ideologien Sowohl bei den Polizisten als auch bei den Krankenschwestern gehen rassistische Einstellungen oder diskriminierende Handlungen selten nur auf individuelle Verhaltensweisen zurück, sondern schreiben sich vielmehr in kollektive Abläufe ein. Zum einen treten rassistische Äußerungen oder Handlungen häufiger in Arbeitskollektiven auf, die in sich zerstritten oder anomisch im Sinne Durkheims sind, zum anderen können Entscheidungen in der Verwaltungsleitung und auf politischer Ebene Spannungen mit Klienten bzw. Patienten – und vor allem mit solchen mit Migrationshintergrund – eindämmen oder verschärfen. 4.1 Internes Arbeitsklima und Diskriminierung Im Krankenhaus genauso wie auf dem Polizeirevier hängt die Art des Umgangs mit dem Publikum und vor allem mit dem Publikum mit Migrationshintergrund ganz wesentlich vom guten Einvernehmen innerhalb des Arbeitskollektivs ab. Von den verschiedenen untersuchten Krankenhausabteilungen ist die, in der man sich am meisten über die Kranken und vor allem über die Patienten auslän-
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discher Herkunft beschwert, eine Abteilung für orthopädische Chirurgie, in der zudem sehr schlechte interne Arbeitsbeziehungen bestanden. In der Abteilung arbeiten zwei Gruppen von Schwestern nebeneinander her (ohne sich zu vermischen): ehemalige Schwesternhelferinnen aus den französischen Überseedepartements und -territorien (DOM-TOM), die zu Krankenschwestern weitergebildet worden sind, und ausgebildete Krankenschwestern aus dem französischen Mutterland. Nicht selten brechen Konflikte zwischen den Gruppen aus, bei denen die Schwestern aus Übersee denen aus Frankreich vorwerfen, ohne Herz zu sein, sich hinter technischen Pflegevorschriften zu verstecken und die Kranken wie Objekte zu behandeln, und letztere den ersteren vorwerfen, geschwätzig, faul und fachlich schlecht zu sein. Sowohl gegenüber Kollegen und Kolleginnen als auch gegenüber Patienten und deren Familien sind rassistische Äußerungen in dieser Abteilung häufiger als anderswo. Evelyn Barbee, amerikanische Spezialistin für Rassismus im Krankenhaus, hatte in ihren Forschungen festgestellt, dass eine wichtige Ursache für das Misstrauen weißer Krankenschwestern gegenüber schwarzen Patienten das schlechte Bild ist, dass erstere von ihren farbigen Kolleginnen haben (Barbee 1994). Die farbigen Schwestern werden sehr oft mit dem Stereotyp der inkompetenten und trägen „Mama“ in Verbindung gebracht und von einer Gruppe (weißer Schwestern), die ihre fachliche Kompetenz unter Beweis stellen will, ausgestoßen und diskriminiert. Die geringe Anzahl schwarzer Krankenschwestern – was das Verständnis der Lebensweise farbiger Patienten nicht befördert – sowie ihr schlechter Ruf, der auf alle Schwarzen zurückfällt, wären somit Auslöser für Rassismus in bestimmten Abteilungen. So als ob die weißen Pflegerinnen Angst hätten, vom geringen Prestige der schwarzen Kolleginnen und deren Nähe zu den farbigen Patienten „infiziert“ zu werden. Auch auf einem der verschiedenen untersuchten Polizeireviere konnten mehr Spannungen und Konflikte beobachtet werde als in den anderen. Die Anspannung 13 äußert sich durch eine größere Gereiztheit in den Beziehungen nach außen (Anherrschen von Autofahrern, niedrigere Toleranzschwelle gegenüber Provokationen aus der Öffentlichkeit oder durch Personen im Polizeigewahrsam) und interne Auseinandersetzungen zwischen den Dienstgraden (vor allem Herabwürdigung jüngerer Kollegen durch Älteren, geringe Toleranz gegenüber kleinen Fehlern von Kollegen). Diese Situation kann man teilweise durch die Persönlichkeit des Dienstgruppenleiters erklären. Dieser ist ein Anhänger von
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Immer im Vergleich zu anderen Abteilungen, die einvernehmlichen Momente waren trotz allem häufiger als Streitsituationen.
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Hierarchie, Ordnung und der Verhältnismäßigkeit von Mitteln und Zweck und fühlt sich für alle tatsächlichen oder potentiellen Fehler seiner Brigade persönlich verantwortlich. Er fühlt sich gefangen zwischen der hierarchischen Struktur, seinen „Männern“ und den äußeren Zwängen, mit denen er klarkommen muss, insbesondere der großen Zahl von Frauen innerhalb der Dienstgruppe (es handelt sich bei um die Brigade mit dem höchsten Frauenanteil – die Hälfte des Personals). Doch ist die Persönlichkeit des Chefs nicht die einzige Erklärung. Berücksichtigt werden muss auch die (relativ) schwierige Integration verschiedener Personengruppen (jung/alt, Frauen/Männer) in die Brigade. Gegenseitige Hilfestellung und die Aufgabenverteilung nach Kompetenzen und persönlichen Eigenschaften, die es anderen Dienstgruppen erlauben, Konflikte zu entschärfen, sind nicht so verbreitet. Ein Busfahrer deutet der Polizeistreife an, dass er in Schwierigkeiten ist. Wir halten an. Der Busfahrer ist mitten in einer Auseinandersetzung mit einem kräftigen, großen (ungefähr 1,90 Meter) afrikanischen Mann. Der Fahrer erklärt, dass der Mann ihn beleidigt habe, weil er beim Einstieg seinen Fahrschein habe sehen wollen. Der Mann bestreitet die Beleidigung nicht, verteidigt sie aber durch die Behauptung, dass der Fahrer ihm nicht genügend Respekt entgegengebracht habe, weil er unmittelbar beim Einsteigen den Fahrschein verlangt habe. Er spricht laut und mit drohender Gestik. Die Polizistin versucht ihn zu beruhigen und ihm zu predigen, dass man einen Fahrschein braucht, wird aber immer wieder von dem Mann unterbrochen. Entnervt wirft sie ihm „Halt die Klappe!“ entgegen. Nach einem Moment der Verblüffung erwidert der Mann: „Halt Du auch die Klappe! Meine Frau hätte so was niemals zu mir gesagt!“. „Ich bin nicht Ihre Frau!“, entfährt es der Polizistin. „Wir sind hier nicht in Afrika“, wirft ihr Kollege hinterher. Der Mann kommt auf die Polizistin zu und sagt, dass er nicht mehr mit ihr diskutiere und beleidigt sie. Sofort legen ihm beide Polizisten zusammen Handschellen an, mit einigen Schwierigkeiten. Sie setzten den Mann ins Auto und sagen mir, dass es sicherer ist, dass ich zu Fuß zur Polizeiwache zurückgehe (der 300 Meter entfernt ist). Die Polizistin bittet den Busfahrer, am Busbahnhof auf sie zu warten (der ganz in der Nähe ist). Auf der Polizeiwache wird der Mann beruhigt und mit den Handschellen an eine Bank festgemacht. Er versucht sich gegenüber dem anwesenden stellvertretenden Dienstgruppenleiter zu erklären (aufgrund der großen Zahl von Personen im Gewahrsam sind zu dem Zeitpunkt drei Beamten auf der Wache, der Dienstgruppenleiter selber ist als dritter Mann zusammen mit dem anderen Streifwagen unterwegs) und ignoriert demonstrativ die Polizistin. Diese erklärt mir: „Das Problem mit dieser Sorte von Afrikanern – der kommt aus der Elfenbeinküste –, ist, dass sie groß und stark sind und es gewohnt sind zu schreien, um sich Gehör zu verschaffen, damit die Leute aus Angst klein beigegeben. Aber mit uns läuft so was nicht!“ Die Polizistin bedauert aber auch, dass sie sich hat gehen lassen, womit sie ihrer Meinung nach die Möglichkeit zu einem Verfahren wegen Beleidigung einer Dienstperson vereitelt hat.
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Außer der latenten Spannung in dieser Dienstgruppe, lässt sich das „Versagen“ an Selbstbeherrschung seitens der Polizistin auch durch den Umstand erklären, dass ihre Kollegen ihr nicht von Anfang an geholfen haben und sie nicht darin unterstützt haben, sich auf friedlichere Weise im Kräftemessen mit dem Fahrgast durchzusetzen. Auch auf dem Revier wird sie von ihrem Vorgesetzten nicht unterstützt, mit dem sie im Übrigen im Clinch liegt (was den Mangel an Unterstützung erklärt). Bei der Polizei wie im Krankenhaus können Einzelpersonen rassistisch sein. Selbstregulierungsmechanismen können – sofern es sie gibt – verhindern, dass der Rassismus während der Arbeit und im Publikumsverkehr offen zu Tage tritt und dadurch negative Handlungsspiralen auslöst. Außer den gruppeninternen Beziehungen, ist auch die Zusammensetzung der Teams (Geschlecht, Alter, Dienstalter, soziale Herkunft) ausschlaggebend, um funktionierende kollektive Selbstregulierungen zu erklären. So geht zum Beispiel ein mit zwei jungen Polizisten besetztes Polizeiauto, das in einem Problembezirk auf Streife geschickt wird, ein ziemlich hohes Risiko ein. Mäßigenden Einfluss auf rassistische Äußerungen in Gesprächen unter Polizisten scheint zumindest in Dienstgruppen mit guter und solidarischer Arbeitsatmosphäre die Anwesenheit von Kollegen von den Antillen zu haben, die im Allgemeinen gut integriert sind. Scherze gegenüber Frauen oder über regionale Eigenheiten (Korsen, Bretonen...) sind ein Mittel, Verschiedenheiten auszuleben und gleichzeitig den Gruppenzusammenhalt zu stärken. Nimmt man diese ganzen Faktoren zusammen, so scheint es uns, dass sich die Polizeidevianzen meist auf bestimmte Reviere und bestimmte Dienstgruppen beschränken. 4.2 Rassistische Äußerungen und politischer Handlungsrahmen Während der Beobachtungen haben wir einige negative Äußerungen über ethnische Gemeinschaften gehört, denen gegenüber sich die Polizisten in ihren Handlungsmöglichkeiten eingeschränkt fühlten. So konnte beispielsweise eine „ungewollte positive Diskriminierung“ gegenüber Ausländern, die Ordnungswidrigkeiten begangen hatten, festgestellt werden. Aufgrund der bürokratischen Hindernisse und – in Villedieu – aufgrund des schlechten Verhältnisses zwischen der Unfallabteilung (die für Verkehrsdelikte zuständig ist) und der Ausländerabteilung, haben wir mehrfach beobachten können, dass ausländische Fahrer – oft als „Rumänen“ bezeichnet –, die sich verkehrswidrig verhalten hatten, kein Strafmandat bekommen haben. Diese Situationen kann Frustrationen und Ressentiments der Verkehrspolizisten gegenüber den betroffenen Bevölkerungsgruppen erzeugen. Die Ressentiments verleiten manche Polizeibeamten zu bis-
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sigen Kommentaren über Gesetze, die Ausländer in Schutz nehmen würden, und andere dazu, Vergeltungsmaßnahmen (häufige Kontrollen, kleine Beleidigungen usw.) zu finden als Ersatz für die als zu aufwendig empfundene Verwarnungsprozedur. Eine andere Form positiver Diskriminierung wurde in einem der Polizeireviere gegenüber Mitgliedern der wohlhabenden Gemeinde sephardischer Juden festgestellt, von denen die Polizisten Beschwerden und juristische Schritte befürchteten. Diese Furcht erklärt gewisse Vorsichtsmaßnahmen, wie mir ein Polizist auf einer Streifenfahrt erläutert. An einem anderen Tag wird ein Streifenwagen in das Viertel gerufen, in dem diese Gemeinde ansässig ist, weil ein Jugendlicher auf seinem Motorroller mitten auf der Straße akrobatische Einlagen gibt. Da die Streife ganz in der Nähe ist, sind wir bald am Ort des Geschehens angekommen und die Polizisten meinen, den Roller ausgemacht zu haben. Schnell bricht allerdings eine Diskussion zwischen den Polizeibeamten aus über die Frage, ob es sich um einen jüdischen oder einen maghrebinischen Jugendlichen handelt (der Helm auf dem Kopf erschwert die Zuordnung): im ersteren Fall wird es für besser erachtet, nicht einzugreifen, um keinen Ärger mit den Eltern zu riskieren (diese intervenieren – nach Darstellung der Polizisten – in systematischer Weise bei der Revierleiterin oder bei den politisch Verantwortlichen, um sich zu beschweren, wenn ihre Kinder beschuldigt werden). Der schlechte Zustand des Rollers bringt die Polizisten zu der Annahme, dass es sich nicht um ein Mitglied der jüdischen Gemeinde handelt. Sie entscheiden, ihn zu kontrollieren, ihm die Leviten zu lesen und seinen Roller zu durchsuchen. In besagtem Revier fallen mehrfach negative Äußerungen darüber, dass die jüdische Gemeinde zu viel Aufmerksamkeit genießt: Personal zum Schutz der Synagoge, ein offenes Ohr der Kommissarin, Anweisungen (an die Polizisten), Anzeigen niemals auf die leichte Schulter zu nehmen usw. „Wenn hier jemand Anzeige erstattet, weil man ihn als „dreckigen Juden“ beschimpft hat, müssen wir die Anzeige aufnehmen, sonst bekommen wir Ärger, wohingegen Sie es lange versuchen können, Anzeige zu erstatten, wenn man Sie „Drecksfranzosen“ oder „Drecksneger“ nennt!“, behauptet zum Beispiel ein Polizeibeamter gegenüber dem Soziologen während der Beobachtungen.
Dieses Gefühl, in seinen Handlungsmöglichkeiten eingeschränkt zu sein, findet man auch bei Eingriffen in einigen problematischen Vorstädten. Wenngleich die von uns begleiteten Brigaden nicht zögern, in die als gefährlich angesehenen Großsiedlungen hineinzugehen, so erachten sie es doch als heikel – wenn nicht gar unmöglich –, ohne die Anwesenheit eines großen Polizeiaufgebots Festnahmen vorzunehmen oder Verwarnungen auszusprechen. Ansonsten bestünde die Gefahr feindlicher Zusammenrottungen zur Verteidigung des Beschuldigten, wodurch die Situation außer Kontrolle geraten könnte. So bemerken die Polizisten zum Beispiel auf einer Streifenfahrt mitten in der Hochhaussiedlung eine
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Gruppe rauchender Jugendlicher, wobei die Polizisten annehmen, dass sie Drogen rauchen. Nach langem Überlegen entschließen sie sich, die Gruppe nicht zu kontrollieren, da ihnen das Terrain nicht vorteilhaft (für einen Einsatz) erscheint. Ein anderes Beispiel: ein der Polizei bekannter Jugendlicher fährt in ihrer Nähe ohne Helm auf einem Motorroller vorbei. Der Fahrer des Polizeiwagens erklärt mir, dass sie ihn im Wohngebiet nicht verfolgen können, denn die Verfolgung könnte zu einem Unfall führen und dann Ausschreitungen nach sich ziehen. Diese Form der Handlungsunfähigkeit könnte eine paradox erscheinende Beschwerde einiger Polizisten erklären (insbesondere derer, die Wieviorka 1992 befragt hat). Diese hatten sich über die Straffreiheit bzw. Vorzugsbehandlung beschwert, von denen Ausländer profitieren würden, obwohl Ausländer oder Personen ausländischer Herkunft nachweislich häufiger kontrolliert werden. Auch im Krankenhaus kann diese Art paradoxer Beschwerden manchmal vernommen werden, wenn es um ausländische Patienten geht, denen manchmal vorgeworfen wird, stärker vom Sozialsystem zu profitieren als die Franzosen. Ihre starke Präsenz in der Notaufnahme der Krankenhäuser (Peneff 2000), wo man die Behandlungskosten nicht selbst vorstrecken muss, hat ebenso eine stigmatisierende Wirkung wie die Besonderheiten der französischen staatlichen Krankenversicherung – die ausländischen Patienten, auch ohne Aufenthaltserlaubnis, per Gesetz freien Zugang zu medizinischer Behandlung garantiert (Fassin et al. 2002). Genauso wie die Polizisten können einige Pfleger und Pflegerinnen den Eindruck bekommen, dass Ausländer bzw. Ausländerinnen eine Vorzugsbehandlung genießen, wohingegen die Untersuchung der sozialen Gegebenheiten wie auch die Beobachtung der Krankenhausabteilungen wohl das genaue Gegenteil zeigen würden. Im Fall der Polizei wie im Fall des Krankenhauses schreiben sich die negativen Äußerungen über die Leistungsempfänger in einem Gesamtzusammenhang politischer Maßnahmen ein, die aus Sicht der betroffenen Berufstätigen an den Grundfesten ihrer Berufe rütteln 14. Anscheinend sind sie zwei widersprüchlichen Entwicklungen ausgesetzt. Die erste betrifft die juristische und symbolische Anerkennung neuer Rechte: rechtliche Besserstellung des Angeklagten, neue Kontrollverfahren zur Überprüfung des Polizeigewahrsams (seit 1993 ärztliche Visite; seit 2001 Anwesenheit eines Anwalts ab der ersten Stunde des Gewahrsams ...) und der Polizeieinsätze (Gründung einer unabhängigen Kommission zur Überwachung der beruflichen Sorgfaltspflicht auf nationaler Ebene im Jahr 2000); Informationspflicht gegenüber den Patienten und Qualitätsmanage-
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Zur Polizei siehe Boussard/Loriol/Caroly (2006); zu den Krankenschwestern Loriol (2004).
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mentverfahren im Krankenhaus. Die zweite Entwicklung hingegen zielt auf die Durchsetzung von Prinzipien der ökonomischen Effizienz und von Rationalisierungsmaßnahmen: Zahlenpolitik und Spezialeinheiten bei der Polizei, Verkleinerung der Bettenzahl, Verkürzung der Aufenthaltsdauer und Personalabbau im Krankenhaus. Letzterer zwingt die Krankenschwestern – um Zeit zu gewinnen – Interaktionen mit den Patienten zu meiden, die ihnen am schwierigsten und „zeitraubendsten“ scheinen, also oft mit den Patienten mit Migrationshintergrund (Spitzer 2004). Die Polizeibeamten werden ihrerseits dazu verleitet, die Zahl der Festnahmen zu erhöhen und den schnellen Zugriff bei Delikten zu steigern, wobei ein gewisser Wettstreit zwischen verschiedenen Einheiten beobachtet werden kann (insbesondere zwischen den Funkstreifen und den BAC). Die einfachste Lösung, um die Zahlen zu steigern, ist oft der Rekurs auf Routinepraktiken, die sich vielfach mit rassischen Stereotypen decken bzw. darauf zurückgreifen. Verkehrskontrollen sind ein gutes Beispiel. Die Polizisten haben nicht die Absicht, in erster Linie Personen ausländischer Herkunft anzuhalten. Hingegen neigen sie dazu, vorzugsweise alte oder kaputte Autos anzuhalten, denn die Chancen, auf Ordnungswidrigkeiten treffen, scheinen dabei höher (fehlender TÜV, schlechter Zustand des Fahrzeugs...). Somit steigt aber auch die Wahrscheinlichkeit, Personen mit Migrationshintergrund anzuhalten. Hinzu kommt vor allem in wohlhabenden Wohngegenden, dass allein die Tatsache ein schwarzer oder maghrebinischer Autofahrer zu sein – die in diesen Gegenden wenig zahlreich sind – für einige Polizisten ein Verdachtsmoment sein kann, der die Kontrolle dieses Wagens für sie interessanter macht. Das paradoxe Gefühl der Vorzugsbehandlung ausländischer Leistungsempfänger, wobei gleichzeitig die Diskriminierungen ihnen gegenüber zunehmen können, erklärt sich also durch die empfundene Verwirrung und Widersprüchlichkeit, die von den verschiedenen politischen Maßnahmen ausgehen. Diese verleiten letztlich dazu, dass sich Routinepraktiken etablieren, die sich rassischer Vorurteile bedienen beziehungsweise diese erzeugen.
5. Fazit In beiden Berufen muss die Frage ethnischer Diskriminierungen in den größeren Zusammenhang ihres Verhältnisses zur Öffentlichkeit gestellt werden. Bei der Ausübung ihrer Arbeit, d. h. sowohl bei dem Versuch, die Idealvorstellung von ihrem Beruf umzusetzen als auch bei der Etablierung von Routineabläufen, die
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die Arbeit erleichtern und zu bestmöglichen Resultaten führen sollen (vorgefertigte Erklärungen bei der Hand zu haben, ohne sich um ein wirkliches Verständnis des Kranken zu kümmern; prioritäre Überwachung der als „riskant“ eingestuften Bevölkerungsgruppen usw.), kommen Krankenschwestern und Polizisten nicht umhin, ihre Klientel in Kategorien einzuordnen, die zum Teil auf ethnischen Merkmalen und den ortsüblichen Vorstellungen von bzw. Vorurteilen gegenüber den Bevölkerungsgruppen beruhen. Andere Forschungsarbeiten über öffentliche Dienstleistungsbeziehungen haben gezeigt, inwiefern die Kategorisierung des Publikums ein Mittel für das Team der Leistungserbringer ist, sich der eigenen Aufgabe zu vergewissern. Das in Diskussionen unter Kollegen zur Schau getragene Misstrauen gegenüber bestimmter Gruppen stellt somit eine Möglichkeit dar, eine empfundene Ungerechtigkeit auf symbolischer Ebene abzugelten oder erlebte Spannungen zu verarbeiten. Mit Verweis auf die Analyse von Blau (1963), erklärt Siblot (2006), dass abfällige Bemerkungen oder zweifelhafte Witze, die hinter den Kulissen über ein bestimmtes Publikum gemacht werden, eine Ventilfunktion haben können, um den schwierigen Arbeitsbedingungen zu begegnen, und dass sie den Gruppenzusammenhalt stärken können. Dadurch werde es (erst) ermöglicht, öffentliche Dienstleistungen anzubieten und aufrechtzuerhalten: Allerdings sind derlei soziale Spielereien mehr als nur ein Mittel sich untereinander abzureagieren, sobald sie Stereotypen nähren, die zu diskriminierenden Verhaltensweisen führen. In anomischen Arbeitskollektiven kommt es leichter zur Umsetzung der Worte in Taten, in dem Maße wie die gemeinsamen beruflichen Wertvorstellungen – die die angemessene Behandlung einer jeden Einzelperson verlangen – nicht stark genug sind, um individuelles Fehlverhalten einzugrenzen oder gemeinsame Handlungen zu steuern. Ebenso wird ein andersartiger Nutzer oder Klient leichter von einem Arbeitskollektiv abgewiesen, das in verschiedene Untergruppen mit widersprüchlichen Ansichten über die Funktion des Berufs zerfallen ist. Um ein Verständnis dafür zu bekommen, was die Diskriminierungen eingrenzen kann, sollte man mehr über die organisatorische Rahmenbedingungen der Arbeit nachdenken als nur zu versuchen gegen die individuellen Vorstellungen vorzugehen; vor allem über solche Rahmenbedingungen, die – bei der Festnahme von Verdächtigen im Falle der Polizei und bei der Krankenpflege im Falle der Krankenschwestern – den Austausch von Lagebeurteilungen und Diagnosen und die Verteilung der Arbeitsbelastungen begünstigen. In diesem Zusammenhang läuft die im Rahmen der Schwestern- bzw. Polizeiausbildung gegebene Antwort auf die Diskriminierungsproblematik – in Form einer kultu-
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rellen Sensibilisierung für andere ethnische Gruppen auf Grundlage eines rudimentären anthropologischen und ethnologischen Wissens – Gefahr, nur wenig Wirkung zu zeigen. Im schlimmsten Fall verstärkt sie sogar bestehende Vorurteile, indem sie die Unterschiede zwischen den verschiedenen Kategorien von Leistungsempfängern wissenschaftlich legitimiert und somit bestehende Arbeitsroutinen rechtfertigt. Im Krankenhaus können die gängigen Umgangsformen mit dem „Mittelmeersyndrom“ durch Vermittlung rudimentärer anthropologischer Grundbegriffe an die Schwesternschülerinnen bekräftigt und legitimiert werden. Bei der Polizei wird herausgestellt, dass „Zigeuner“, Jugendliche aus den Großsiedlungen, großgewachsene Farbige usw. nicht aufgrund ihrer Herkunft stärker überwacht werden, sondern, weil es als „statistisch“ erwiesen gilt, dass es sich dabei um Risikogruppen handele. Der empirische Nachweis, begünstigt durch Effekte selbsterfüllender Prophezeiung (wenn man eine Personenkategorie stärker überwacht, werden ihre Delikte statistisch sichtbarer), die Effekte psychologisch gesteuerter Wahrnehmung (man bemerkt und man erwähnt gegenüber Kollegen genau das, was die Einordnung in Kategorien bestätigt) und schließlich die Weigerung, soziale Bestimmungsfaktoren mit zu berücksichtigen, all dies stärkt die Routinen und Kategorisierungen, die durch die beruflichen Spielregeln bereits jetzt weit verbreitet sind.
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Verzeichnis der Autoren und Autorinnen
Valérie Boussard, Dr. habil. in Soziologie, Maître de conférences an der Université de VersaillesSaint-Quentin-en-Yvelines, Forscherin am Laboratoire Printemps (CNRS). Arbeitsschwerpunkte: Arbeits- und Professionssoziologie, Interaktionen zwischen professionellen und manageriellen Logiken. Kontakt:
[email protected] Oliver Brüchert, Dr. phil., Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Schwerpunkt Devianz und soziale Ausschließung, Fachbereich Gesellschaftswissenschaften der Goethe Universität Frankfurt. Arbeitsschwerpunkte: Rechts- und Kriminalsoziologie, Sozialstruktur und soziale Ungleichheit, Kritische Theorie, Wissenschaftstheorie und Hochschulforschung. Kontakt:
[email protected] Sandrine Caroly, Dr. in Ergonomie am Laboratoire Politique Actions Publiques Territoires et organisation (PACTE), Université de Grenoble. Arbeitsschwerpunkte: Zusammenhänge zwischen Gesundheit und Arbeit, Kompetenzentwicklung, Risikoprävention und kollektive Aktivitäten. Kontakt:
[email protected] Bernd Dollinger, Dr. phil, Professor für Sozialpädagogik an der PH Freiburg; Direktor des Instituts für Erziehungswissenschaft. Arbeitsschwerpunkte: Theorie und Geschichte der Sozialpädagogik, Jugendkriminalität und Drogenkonsum, Professionalität, Sozialpolitik und Sozialpädagogik. Kontakt:
[email protected] Stefan Dreßke, Dr. rer. pol., Wissenschaftlicher Assistent am Institut für Sozialpolitik und Organisation sozialer Dienste der Universität Kassel. Arbeitsschwerpunkte: Organisationssoziologische Studien zur Krankenversorgung, Soziologie des Sterbens, Soziologie der Behinderung. Kontakt:
[email protected] Uwe Flick, Dr. phil., Professor für Qualitative Forschung an der Alice Salomon Hochschule Berlin. Arbeitsschwerpunkte: Qualitative und Quantitative Methoden der Empirischen Sozialforschung, Triangulation, Jugendobdachlosigkeit, Gesundheitsvorstellungen, Schlafstörungen alter Menschen, Qualitätsmanagement im Kinder- und Jugendschutz, soziale Repräsentationen, Alltagswissen. Kontakt:
[email protected]. Roland Gombots, Mag. phil, Dipl. Sozialarbeiter und Soziologe. Seit 2008 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Rechts- und Kriminalsoziologie, Wien. Arbeitsschwerpunkte: Institutionen der sozialen Kontrolle und Strafjustiz, Jugenddelinquenz, Wohlfahrtspluralismus, Inklusion/Exklusion. Kontakt:
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Autoren und Autorinnen
Axel Groenemeyer, Dr. rer. soc., Professor für Theorie und Empirie der Sozialpädagogik am Fachbereich Erziehungswissenschaft und Soziologie der Universität Dortmund. Sprecher der Sektion ‚Soziale Probleme und soziale Kontrolle’ in der DGS. Mitherausgeber und Redakteur der Zeitschriften Soziale Probleme und Déviance & Société. Arbeitsschwerpunkte: Soziologie sozialer Probleme, abweichenden Verhaltens und sozialer Kontrolle, Theorie und Empirie sozialer Dienste, Armut, Exklusion und soziale Ungleichheit, Kriminalität und Kriminalprävention, Alkohol- und Drogenpolitik, ethnische Konflikte, Ethnisierung und Gewalt. Kontakt:
[email protected] Raimund Hasse , Dr. rer. soc., Professor für Soziologie: Organisation und Wissen, Universität Luzern. Arbeitsschwerpunkte: Neo-Institutionalismus; Organisation, Innovation und Wissen; Organisation und soziale Ungleichheit. Kontakt:
[email protected] Brita Krucsay, Mag.a rer. soc. oec., Studium der Soziologie und Erziehungswissenschaften. Seit 2005 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Rechts- und Kriminalsoziologie, Wien. Arbeitsschwerpunkte: Macht, Herrschaft und soziale Ungleichheit, Diskursanalyse, Ethnographie, partizipative Methoden der Sozialforschung. Kontakt:
[email protected] Marc Loriol, Soziologe, Direktor des Laboratoire Georges Friedmann, CNRS / Université de Paris I – Panthéon-Sorbonne). Arbeitsschwerpunkte: Soziale Konstruktionen von Arbeitsbelastungen und Stress, Arbeits- und Professionssoziologie, Dienstleistungsarbeit im öffentlichen Dienst. Kontakt:
[email protected] Kurt Möller, Dr. phil. Professor für Soziale Arbeit an der Hochschule Esslingen, Fakultät Soziale Arbeit, Gesundheit und Pflege und Privatdozent an der Universität Bielefeld, Fakultät für Pädagogik. Mitherausgeber der Reihe ‚Konflikt- und Gewaltforschung‘ im Juventa-Verlag. Arbeitsschwerpunkte: Jugendforschung und Jugendarbeit, Soziale Arbeit und Polizei, (Rechts-) Extremismus, Gewalt, Menschenfeindlichkeit. Kontakt:
[email protected] Gundula Röhnsch, Dr. phil., wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Alice Salomon Hochschule Berlin im Projekt „INSOMNIA – Schlafstörungen und Multimorbidität in der stationären Langzeitpflege“. Arbeitsschwerpunkte: Jugendobdachlosigkeit, Gesundheits- und Risikoverhalten, Gesundheitsvorstellungen, Schlafstörungen alter Menschen. Kontakt:
[email protected] Lucia Schmidt, Dr. rer. soc., Forschungsmitarbeiterin am Soziologischen Seminar der Universität Luzern. Arbeitsschwerpunkte: Theorie sozialer Probleme; Medikalisierung/Sucht; Institutionelle Diskriminierung. Kontakt:
[email protected] Ursula Unterkofler, Dipl.-Sozialpädagogin (FH), Dipl.-Soziologin, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Soziologie der LMU München. Arbeitsschwerpunkte: Methodologie und Methoden qualitativer Sozialforschung, Interpretative Soziologie, Professionssoziologie, Soziologie Sozialer Arbeit, Soziologie sozialer Probleme. Kontakt:
[email protected] Autoren und Autorinnen
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Ralf Wetzel, Elektromaschinenbauer und Dr. rer. pol., Professor für Organisation und Unternehmensführung sowie Leiter des Kompetenzzentrums Unternehmensführung an der Berner Fachhochschule. Arbeitsschwerpunkte: gesellschaftlicher und organisationaler Wandel, Intervention, Ungleichheit und Moral. Kontakt:
[email protected] Steffen Zdun, Dr. sc. pol., wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für interdisziplinäre Konfliktund Gewaltforschung (IKG) an der Universität Bielefeld. Arbeitsschwerpunkte: Jugendgewalt, Straßenkultur, Gangs, Migration, Neutralisation und Legitimation abweichenden Verhaltens, soziale Kontrolle. Kontakt.
[email protected]