Tanja Thomas (Hrsg.) Medienkultur und soziales Handeln
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Tanja Thomas (Hrsg.) Medienkultur und soziales Handeln
Medien – Kultur – Kommunikation Herausgegeben von Andreas Hepp Friedrich Krotz Waldemar Vogelgesang
Kulturen sind heute nicht mehr jenseits von Medien vorstellbar: Ob wir an unsere eigene Kultur oder ,fremde’ Kulturen denken, diese sind umfassend mit Prozessen der Medienkommunikation durchdrungen. Doch welchem Wandel sind Kulturen damit ausgesetzt? In welcher Beziehung stehen verschiedene Medien wie Film, Fernsehen, das Internet oder die Mobilkommunikation zu unterschiedlichen kulturellen Formen? Wie verändert sich Alltag unter dem Einfluss einer zunehmend globalisierten Medienkommunikation? Welche Medienkompetenzen sind notwendig, um sich in Gesellschaften zurecht zu finden, die von Medien durchdrungen sind? Es sind solche auf medialen und kulturellen Wandel und damit verbundene Herausforderungen und Konflikte bezogene Fragen, mit denen sich die Bände der Reihe „Medien – Kultur – Kommunikation“ auseinander setzen wollen. Dieses Themenfeld überschreitet dabei die Grenzen verschiedener sozial- und kulturwissenschaftlicher Disziplinen wie der Kommunikations- und Medienwissenschaft, der Soziologie, der Politikwissenschaft, der Anthropologie und der Sprach- und Literaturwissenschaften. Die verschiedenen Bände der Reihe zielen darauf, ausgehend von unterschiedlichen theoretischen und empirischen Zugängen das komplexe Interdependenzverhältnis von Medien, Kultur und Kommunikation in einer breiten sozialwissenschaftlichen Perspektive zu fassen. Dabei soll die Reihe sowohl aktuelle Forschungen als auch Überblicksdarstellungen in diesem Bereich zugänglich machen.
Tanja Thomas (Hrsg.)
Medienkultur und soziales Handeln unter Mitarbeit von Marco Höhn
Bibliografische Information Der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
. 1. Auflage 2008 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2008 Lektorat: Barbara Emig-Roller Der VS Verlag für Sozialwissenschaften ist ein Unternehmen von Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung: Krips b.v., Meppel Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in the Netherlands ISBN 978-3-531-15128-1
Inhalt Tanja Thomas Vorwort ........................................................................................................ 7 Tanja Thomas & Friedrich Krotz Medienkultur und Soziales Handeln: Begriffsarbeiten zur Theorieentwicklung ................................................... 17 Friedrich Krotz Kultureller und gesellschaftlicher Wandel im Kontext des Wandels von Medien und Kommunikation ....................... 43 Andreas Hepp Netzwerke der Medien – Netzwerke des Alltags: Medienalltag in der Netzwerkgesellschaft .................................................. 63 Jutta Röser & Nina Großmann Alltag mit Internet und Fernsehen: Fallstudien zum Medienhandeln junger Paare ............................................ 91 Christine Dietmar „Wir telefonieren jeden Abend … das ist uns ganz wichtig.“ Rituale bei der mediatisierten Kommunikation in Paarbeziehungen ........ 105 Katja Scherl „Det is doch wie Kino.“ Marlon Brandos „Der Wilde“ als Vor- und Abbild jugendlicher Subkultur ............................................. 119 Udo Göttlich Aspekte der Alltagsdramatisierung in der Medienkultur: Produzierte Wirklichkeiten in mediensoziologischer Perspektive ............ 143 Elisabeth Klaus Fernsehreifer Alltag: Reality TV als neue, gesellschaftsgebundene Angebotsform des Fernsehens ........................... 157 Waldemar Vogelgesang Symbiotische Religiosität: Die jugend- und medienkulturelle Rahmung religiöser Erfahrung auf dem XX. Weltjugendtag 2005 in Köln ............................................... 175
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Inhalt
Marco Höhn Visual kei: Vom Wandel einer ‚japanischen Jugendkultur‘ zu einer translokalen Medienkultur ........................................................... 193 Gabriele Klein BilderWelten – KörperFormen: Körperpraktiken in Mediengesellschaften ................................................ 209 Tanja Thomas Körperpraktiken und Selbsttechnologien in einer Medienkultur: Zur gesellschaftstheoretischen Fundierung aktueller Fernsehanalyse ...... 219 Michael Jäckel „… daß dieses Alles nicht alles sei.“ Über den Zusammenhang von Werbung, Konsum und Zufriedenheit ..... 239 Gerd Hallenberger „Das ganze Leben ist ein Quiz.“ Spiele im Fernsehen im alltagskulturellen Kontext .................................. 259 Jörg-Uwe Nieland & Ingrid Lovric „Ein Kreuz für Deutschland.“ Chancen und Grenzen unterhaltender Politikvermittlung ......................... 277 Rainer Winter Widerständige Sozialität im postmodernen Alltagsleben: Das Projekt der Cultural Studies und die poststrukturalistische Diskussion ........................................................ 299 Verzeichnis der Autorinnen und Autoren ....................................................... 317
Vorwort Tanja Thomas
Der Begriff ‚Medienkultur‘ weist darauf hin, dass Medien in Alltagskulturen eine zentrale Rolle spielen: Generell unterstützen sie die soziale Organisation und Strukturierung des Alltags, stimmen ein auf verschiedene Phasen des Alltags, helfen einerseits, Belastungen und Konflikte zu bewältigen und die Beziehungen zwischen den Familienmitgliedern, Geschlechtern, gesellschaftlichen Gruppen zu regeln und werden zudem andererseits auch als Mittel der symbolischen Abgrenzung von ‚den anderen‘ eingesetzt, als Kampffeld um Rechte und Selbstständigkeit. Zudem liefern Beiträge u.a. von VertreterInnen der Cultural Studies wichtige Hinweise für eine weiterführende theoretische Auseinandersetzung mit dem Begriff, indem sie auffordern, Medien nicht nur als Vermittlungsund Beobachtungsinstanzen, sondern auch als selbst gestaltender Teil gegenwärtiger Kultur, als tragende Elemente des Kulturellen zu verstehen. Eine detaillierte Betrachtung des Forschungsstands führt hingegen zu der Feststellung, dass ‚Medienkultur‘ derzeit eher der Wert einer Zeitdiagnose zukommt als einem ausreichend theoretisch fundierten Konzept, auf das wissenschaftliche Diskurse aufbauen können. Insofern wurden hinsichtlich der Vorbereitung des vorliegenden Bandes zwei Ziele verfolgt: Ausgehend von der Bedeutung von Mediengebrauch durch die handelnden Subjekte, die Medien aktiv im Alltag nutzen und sich mediale Deutungsangebote aneignen, sollten Dimensionen der These ‚Wir leben in einer Medienkultur‘ theoretisch und empirisch erschlossen werden. In diesem Sinne haben wir den wissenschaftlichen Dialog mit der Ringvorlesung „Medienkultur und soziales Handeln“, die im Wintersemester 2005/2006 an der Universität Lüneburg stattgefunden hat, angeregt. Es wurden Kolleginnen und Kollegen eingeladen, deren Arbeiten einerseits ihr Interesse an der Reflexion der gesellschaftlichen Bedeutung von Medien und medialen Deutungsangeboten im Gebrauch belegen und die andererseits Medienhandeln unter Berücksichtigung spezifischer sozialer Positionierungen der Akteure in ihrer Einbettung in lokalen bzw. globalen gesellschaftlichen Kontexten betrachten. In ihren Vorträgen beleuchteten sie Bereiche des Alltagslebens, in denen Medienerfahrungen und Medienhandeln mit Alltagserfahrungen und Alltagshandeln verschränkt sind. Mediatisiertes soziales Handeln hinsichtlich seines Potenzials zur Reproduktion sozialer Strukturen und Beziehungen zu diskutieren, war ein weiterer zentraler Aspekt der Beiträge und Diskussionen im Rahmen der Vorlesungsreihe. Parallel dazu wurden die Überlegungen zu einer theoretischen Konturierung des Begriffs ‚Medienkultur‘ weiterentwickelt. Dabei konnte an die instruktiven
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Tanja Thomas
Vorträge und Diskussionen im Rahmen der Ringvorlesung produktiv angeknüpft werden. Auch dafür gebührt allen ReferentInnen bzw. AutorInnen des Bandes nachdrücklich ein herzliches Dankeschön. Ihre Impulse sind eingeflossen in den einführenden Beitrag Medienkultur und Soziales Handeln: Begriffsarbeiten zur Theorieentwicklung. In diesem Text rekonstruieren Tanja Thomas und Friedrich Krotz zunächst Begriffsverwendungen von ‚Medienkultur‘ und ‚Mediengesellschaft‘ und begründen, weshalb das bisher in der Kommunikationswissenschaft kaum ausreichend reflektierte Konzept der ‚Medienkultur‘ in den Vordergrund gestellt wird. Gleichwohl wird gefordert, die beiden Begriffe ‚Medienkultur‘ und ‚Mediengesellschaft‘ in ihrer analytischen Brauchbarkeit zusammen zu denken. Da das Verhältnis von Kultur und Gesellschaft auf allen Teilfeldern auch in einem globalen Rahmen immer wieder neu bestimmt werden muss, entwickeln die Autoren Vorschläge zu einer Perspektivenverschränkung. Um insbesondere den immer wieder auch statisch verstandenen Begriff der Medienkultur nachdrücklich prozessual zu fassen, wird anschließend der Begriff der ‚Mediatisierung‘ eingeführt, der auf den Wandel gesamtgesellschaftlicher, zugleich aber auch individueller medialer Potenziale und darauf bezogener Kommunikationspraktiken auf unterschiedlichen Ebenen fokussiert. Damit zusammenhängende Folgen für Alltag und Lebensbereiche, Wissensbestände, Identität und Beziehungen der Menschen sowie für Kultur und Gesellschaft kommen somit in den Blick – und damit Bereiche des Alltagslebens, die in den Beiträgen des vorliegenden Bandes thematisiert werden. Sie beleuchten, wie Medien- und Alltagserfahrungen zu Weisen verknüpft werden, in denen Konsum, Körper und Schönheit, Paar- und Geschlechterbeziehungen, Freundschaften, Spiel, politische Partizipation oder Religion/Glaube erlebt und gestaltet werden. Mit der Betonung eines prozessualen Verständnisses von Medienkultur, die eine Symbol- als auch Handlungsdimension umfasst, stellt sich zudem die Herausforderung der Auseinandersetzung mit kulturellen Formen und den Prozessen des Machens, Aushandelns, Fabrizierens, Inszenierens, in denen Kultur in der Gegenwart geschaffen wird. Hier wird ein Handlungsbegriff vorgeschlagen, der sich nicht auf individualistische Theorien des Handelns aus Eigenschaften, Zielen oder Absichten einzelner Individuen stützt, sondern die einzelne Handlung als Teil von kollektiven Handlungsgefügen und sozialen Praktiken betrachtet, die nur gesellschaftlich situiert zu verstehen sind. Insofern Mediengebrauch kulturelles Handeln im Alltag und für den Alltag ist, werden ein Verständnis von Alltag ausgearbeitet und Fragestellungen anhand von beobachtbarem Alltagshandeln in Medienkulturen entwickelt – inwiefern diese weitere theoretische, empirische und gesellschaftliche Herausforderungen bereithalten, wird anhand vorliegender Studien gezeigt und hinsichtlich des weiteren Forschungsbedarfs perspektivisch formuliert. Friedrich Krotz entwickelt seine Überlegungen zum Thema Kultureller und gesellschaftlicher Wandel im Kontext des Wandels von Medien und Kommunikation zunächst ausgehend von face-to-face Kommunikation als dem Muster
Vorwort
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von Kommunikation und führt ein Verständnis von Medien als Instrumenten einer Modifikation von Kommunikation ein. Anschließend systematisiert er die uns heute zur Verfügung stehenden Typen mediatisierter Kommunikation und entfaltet die Dimensionen der Bedeutung der Medien für das Zusammenleben der Menschen, für Kultur und Gesellschaft. Mit dem Ziel einer theoretischen wie empirischen Durchdringung des gesellschaftlichen Wandels in einer Medienkultur schlägt er den Begriff des ‚Metaprozesses‘ vor: Globalisierung, Individualisierung, Mediatisierung und Ökonomisierung/Kommerzialisierung werden im Anschluss als Metaprozesse charakterisiert und miteinander in Beziehung gesetzt. Die Auseinandersetzung insbesondere mit Besonderheiten aktueller Mediatisierungsprozesse führt schließlich zu Fragen nach Veränderungen von Wissensbeständen und Wissensdifferenzen, Sozialisationsbedingungen, Veränderungen der Beziehungen der Menschen zueinander, Veränderungen des Alltags und seiner Struktur – Prozessen also, die hinsichtlich Kultur und Gesellschaft Formen von Integration und politischen Verhältnissen als auch die Ökonomie und deren Bedeutung für die Menschen verändern. Auch Andreas Hepp beschäftigt sich in seinem Beitrag Netzwerke der Medien – Netzwerke des Alltags: Medienalltag in der Netzwerkgesellschaft mit der Frage, wie der Alltag in Medienkulturen, in dem sich letztlich die Aneignung von Medien vollzieht, angemessen beschrieben werden kann. In diesem Sinne entfaltet er den Begriff der Netzwerkgesellschaft als Gesellschaftsdiagnose; um diese kommunikations- und medienwissenschaftlich weiter auszuformulieren, greift er auf die Begriffe ‚Konnektivität‘, ‚Netzwerk‘ und ‚Fluss‘ als Beschreibungsmetaphern für soziokulturelle Phänomene zurück. Damit diese für empirische Analysen des Medienalltags fruchtbar gemacht werden können, verknüpft er seine Überlegungen mit einem soziologisch fundierten Alltagskonzept. Auf diese Weise, so argumentiert Hepp, bieten sich die Konzepte ‚Konnektivität‘, ‚Netzwerk‘ und ‚Fluss‘ insbesondere auch für eine medienübergreifende Betrachtung von Medienalltag und dessen Wandel an und lassen sich auf verschiedene Kontextbereiche produktiv übertragen. Soziales Handeln in Medienkulturen wird in den folgenden Beiträgen auch auf der Basis empirischer Untersuchungen thematisiert. Mit Blick auf verschiedene Aspekte zeigen die Texte mit unterschiedlicher Schwerpunktsetzung, wie Mediengebrauch kommunikative Praktiken – allgemeiner: soziales Handeln – verändert und damit die räumliche und zeitliche Konstitution des sozialen und kulturellen Lebens transformiert. Dies betrifft individuelle, alltägliche Lebensführung, Subjekt-, Identitäts- und damit auch Körperverständnisse, die Gestaltung und Form persönlicher Beziehungen in Paarbeziehungen, Freundschaften und Gemeinschaften. Zugleich sind damit Normen- und Wertvorstellungen verknüpft, was wiederum die Handlungsmächtigkeit unterschiedlicher Gruppen, Machtbeziehungen und Demokratie prägt. Die ersten beiden Beiträge konzentrieren sich auf mediatisierte kommunikative Praktiken im Alltag junger Paare und zeigen, wie Mediengebrauch Zusammenleben und Kommunikation in Liebesbeziehungen gestaltet. In ihrem Beitrag
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Tanja Thomas
Alltag mit Internet und Fernsehen beschäftigen sich Jutta Röser und Nina Großmann mit dem Zusammenhang von Medien- und Alltagshandeln und argumentieren, dass sich Mediennutzung nur im Kontext des gesamten Medienmenüs und des nicht-medialen Alltagshandelns erschließt. Anhand der Ergebnisse ethnographisch orientierter Fallstudien wird deutlich, wie sich vor dem Hintergrund von Prozessen der Digitalisierung und Mediatisierung und des Trends zu personalisierten Technologien der häusliche Alltag und das Zusammenleben verändern: Onlinemedien, so zeigen die Autorinnen vor dem Hintergrund ihrer Analysen des Mediengebrauchs junger Paare, werden in erster Linie als Informations- und Kommunikationsmedien, das Fernsehen dagegen überwiegend als Gemeinschaftsmedium genutzt. Da Computer und Internet vornehmlich als personalisierte Technologien gebraucht werden, um Alltagspflichten und -interessen umzusetzen, führt dies somit keinesfalls zu einem Bedeutungsverlust des Fernsehens als Medium zur Unterhaltung und Entspannung. Mediennutzung, so demonstriert damit dieser Beitrag überzeugend, kann nur in seiner Einbettung in soziale Prozesse und personale Kommunikation angemessen verstanden werden. Auch Christine Dietmar untersucht in ihrem Beitrag „Wir telefonieren jeden Abend … das ist uns ganz wichtig“ das Medienhandeln junger Paare. Sie analysiert in einer innovativen empirischen Arbeit nicht die direkte face-to-face Kommunikation, sondern die heutzutage alltägliche mediatisierte Kommunikation zwischen Liebespaaren per Mobiltelefon und Internet. Dietmar widmet sich dabei insbesondere Ritualen in der Kommunikation in Paarbeziehungen und zeigt, dass ritualtheoretische Annahmen die Analyse von mediatisierten Kommunikationsprozessen sinnvoll erweitern können, indem sie der Dynamik der kommunikativen Handlungen besser gerecht werden. Dietmars Analyse der Kommunikation in Liebesbeziehungen legt zeremonielle Dimensionen der Kommunikation offen, deren Rituale eine erfolgreiche Stabilisierung der Paarbeziehung ermöglichen, aber auch nicht frei von bislang kaum beachteten medieninduzierten kommunikativen Problemen sind. Wie populärkulturelle Angebote in Kino, Fernsehserien und Reality-TV, ihre diskursive Verarbeitung und Aneignung Selbst-, Gemeinschafts- und Gesellschaftsbilder in Medienkulturen vermitteln, wird in den folgenden drei Beiträgen aufgezeigt. Dass mediale (Re-)Produktionen dominanter Norm- und Wertevorstellungen ohne Einbindung in gesellschaftliche Metaprozesse wie Individualisierung, Kommerzialisierung und Globalisierung nicht angemessen zu verstehen sind, wird damit überzeugend verdeutlicht: In ihrem Beitrag „Det is doch wie Kino.“ Marlon Brandos „Der Wilde“ als Vor- und Abbild jugendlicher Subkultur geht Katja Scherl von dem Diskurs über die ‚Halbstarken‘ in der Bundesrepublik der 50er Jahre aus, der durch den Film „Der Wilde“ maßgeblich geprägt wurde. Vor diesem Hintergrund kann sie exemplarisch zeigen, wie sich Jugendkulturen über spezifischen Mediengebrauch konstituieren, indem sich Jugendliche mediale Deutungsangebote aneignen und sich damit in ‚symbolischer Arbeit‘ in neue Selbstdarstellungsformen einüben
Vorwort
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und diese aufführen. Die Rekonstruktion der eigensinnigen Aneignung populärkultureller Medienangebote durch Jugendliche einerseits und des medialen Diskurses über diese Praktiken andererseits vermittelt dabei Einsichten in den komplizierten Prozess der Aushandlung des ‚Normalfeldes deutscher Identität‘. Die Analyse eines medialen Deutungsangebots, seiner Aneignung durch eine spezifische Gruppe und seine Verarbeitung im medialen Diskurs erhellt somit das Verständnis von Modifikations- und Erweiterungsprozessen im Zusammenleben einer sich wandelnden Gesellschaft. Aspekte der Alltagsdramatisierung in der Medienkultur lautet der Titel des Beitrags von Udo Göttlich, in dem er sich mit der Inszenierung bzw. Dramatisierung des Alltags bzw. von Privatheit und Öffentlichkeit in der Medienkultur beschäftigt. Aus mediensoziologischer Perspektive beschreibt er Funktionen und Bedeutungen der Darstellung von Alltag insbesondere im Fernsehen und betont, dass Alltagsdramatisierung in produzierten Wirklichkeiten als Prozess verstanden werden kann, der die Mediennutzung und die sozialen Funktionen von Medien insbesondere für Jugendliche nachhaltig verändert. Hierbei spielt vor allem die Strategie der Diversifizierung von Medienangeboten z.B. hinsichtlich Casting-Shows eine wichtige Rolle, um eine Ansprache an sich ständig wandelnde und instabile Vergemeinschaftungen wie Szenen zu ermöglichen und so verschiedene Stilformen zu berücksichtigen. Göttlich weist somit darauf hin, dass die Beachtung von Alltagsdramatisierungen neben weiter zu erforschenden Trends wie Eventisierung und Kommerzialisierung einen gewichtigen Beitrag zur Erklärung gegenwärtigen kulturellen Wandels liefern kann. In ihrem Beitrag Fernsehreifer Alltag: Reality TV als neue, gesellschaftsgebundene Angebotsform des Fernsehens thematisiert Elisabeth Klaus Reality TV als Ausdruck gegenwärtiger gesellschaftlicher Entwicklungen sowie als Lieferant von Vorlagen für Identitätsräume. In Prozessen, die häufig mit den Begriffen ‚Individualisierung‘ und ‚Differenzierung‘ beschrieben werden, müssen Normen und Werte neu verhandelt werden. Das Fernsehen und insbesondere Formate des sich stetig wandelnden Hybridgenres Reality TV mit ihrem Versprechen einer Einsicht in die Lebensentwürfe anderer stellen dafür, so Klaus, Material bereit. ‚Grenzübertretungen‘ sind dabei ein konstituierendes Merkmal des Reality TV: Die Dichotomien von Information und Unterhaltung, Öffentlichkeit und Privatheit, Authentizität und Inszenierung werden infrage gestellt und die Formate sind gekennzeichnet durch ein Changieren zwischen Alltag und Exotik, Gewöhnlichem und Ungewöhnlichem. Hinsichtlich der Konstruktionen von Geschlecht, nationaler Identität und Klasse jedoch, so zeigt Klaus vor dem Hintergrund ihres profunden Überblicks zum Forschungsstand, bieten aktuelle Formate vor allem Vorlagen für traditionelle Identitätsentwürfe an und transportieren eine vorwiegend neoliberale Ideologie – auch wenn diese in der Neuaushandlung kultureller und gesellschaftspolitischer Fragen gebrochen werden kann. Ein besonderes Augenmerk auf mediatisierte jugendkulturelle Praktiken und Vergemeinschaftungsprozesse richten die beiden folgenden Beiträge. Während
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Tanja Thomas
der erste Beitrag ein Medienevent als Ausgangspunkt kommunikativer Praktiken Jugendlicher untersucht, betrachtet der zweite deterritorialisiertes mediatisiertes Handeln junger Menschen. Waldemar Vogelgesang untersucht in seinem Beitrag mit dem Titel Symbiotische Religiösität religiöses Handeln Jugendlicher in Zeiten individualisierter, eventisierter und vor allem mediatisierter Religionen am Beispiel des Medienevents des 20. Weltjugendtages 2005. Er weist nach, dass für junge Christinnen und Christen Sakrales und Profanes, Fun und Evangelium nicht mehr zwei verschiedene Welten sind, sondern vielmehr miteinander verschmelzen. Zugleich werden dabei (neue) Religions- und Spiritualitätserfahrungen ermöglicht, die im Mittelpunkt religiöser Interessen Jugendlicher stehen. Diese empirische Analyse neuartiger Formen des Religiösen, die in einem größeren Forschungszusammenhang multiperspektivisch untersucht werden, zeigt darüber hinaus, dass die katholische Kirche hybridisierte Events strategisch einsetzt, um sich den Wandel in den religiösen Bedürfnissen Jugendlicher nach ‚Papst‘ und ‚Party‘ zielgerichtet nutzbar zu machen. Marco Höhn zeichnet anhand des Wandels der japanischen Jugendszene Visual kei zu einer deterritorialisierten Medienkultur die Kreislaufstruktur von Produktion, Repräsentation und Aneignung vor allem am Beispiel der szenespezifischen Aneignungsform des Cosplay nach. Bei dieser bislang empirisch nicht beachteten Jugendszene, die als ästhetisch radikaler Teil des massiven Auftretens originär japanischer Populärkultur und deren Versatzstücke angesehen werden kann, zeigt sich laut Höhn eine möglicherweise prototypische Entwicklung neuartiger Jugendkulturen, die sich über vollständige Mediatisierung und damit bisher kaum in dieser Art und Weise beobachteten Transformationen kommunikativen Handelns konstituiert. Medienrepräsentationen, Mediengebrauch und -handeln auch hinsichtlich ihrer Bedeutung für die Wahrnehmung, Erfahrung und Hervorbringung des eigenen Körpers und diesen damit auch als Agens der Wirklichkeitserzeugung zu verstehen, ist das Anliegen der Beiträge von Gabriele Klein und Tanja Thomas. In ihrem Beitrag mit dem Titel BilderWelten – KörperFormen: Körperpraktiken in Mediengesellschaften beschäftigt sich Gabriele Klein mit Diskursen um den Körper in Bildkulturen bzw. Mediengesellschaften, in denen aus ihrer Sicht reale Körper vorrangig als Körper-Bilder wahrgenommen werden. Im Übergang von der Industriegesellschaft zur Mediengesellschaft sei der Körper der industriellen Arbeit unwichtig geworden. Die Ökonomien der Mediengesellschaft, so Klein, produzieren und benötigen einen anderen Körper als noch die Industriegesellschaften – einen Körper, der vor allem der öffentlichen Inszenierung und sozialen Positionierung des Subjektes dient und der die individuelle Pflicht zur Ästhetisierung des Körpers zur sozialen Notwendigkeit macht. Vor diesem Hintergrund plädiert Klein für eine Erweiterung der soziologischen Handlungstheorien um körperliche Dimensionen des Handelns, die bisher eher unbedacht geblieben sind: Das Subjekt müsse nicht nur als mit dem Körper handelnd, sondern als Körper agierend, d.h. Wirklichkeit herstellend und sich zugleich als
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Körper erfahrend betrachtet werden. Im Bewegungsakt, im gelungenen Handlungsvollzug wird der Bild-Körper zum Körper-Bild, d.h. zum inneren Bild des Körpers. Und erst in der Performanz entscheidet sich, ob und wie der Bild-Körper zur Erfahrung und der Körper zum Wirklichkeitsproduzenten werden. In ihrem Beitrag Körperpraktiken und Selbsttechnologien in einer Medienkultur: Zur gesellschaftstheoretischen Fundierung aktueller Fernsehanalyse geht Tanja Thomas von der These aus, dass die Verbreitung und Akzeptanz medialer Angebote ohne Berücksichtigung der jeweiligen dominanten politischen Rationalitäten nicht zu verstehen sind. Empirische Untersuchungen – beispielsweise aktueller Unterhaltungsformate – an die Analyse zeitgenössischer, gesellschaftlich dominanter Diskurse anzubinden, in denen derzeit die Anrufung des unternehmerischen Selbst eine zentrale Rolle spielt, ist eine Aufgabe, der sie sich anhand medial repräsentierter Körperpraktiken in Lifestyle-TV-Formaten exemplarisch annimmt. Ihre Analysen aktueller OP-, Model- und Castingshows sind geprägt durch den Einbezug von Modellen zur Performativität des sozialen Handelns und inspiriert durch eine Auseinandersetzung mit den Studien zur Gouvernementalität, die an Michel Foucaults späte Arbeiten anknüpfen. Entsprechend einer Auffassung von Kultur als Praxis argumentiert sie, medial inszenierte Körperpraktiken als Teil eines „doing culture“ zu begreifen, das die (Re-) Produktion sozialer Verhältnisse und Beziehungen verwirklicht. Die Einbindung in Konsumorientierung und Ökonomisierungsprozesse über Medienangebote und Medienhandeln thematisieren die Beiträge von Michael Jäckel und Gerd Hallenberger: Michael Jäckel setzt sich mit dem Zusammenhang von Werbung, Konsum und Zufriedenheit auseinander. Insbesondere aus einer historisch entwickelten Perspektive zeigt sich, dass gerade der unstete Wechsel im Zyklus zwischen Zufriedenheit und Unzufriedenheit das konsumorientierte Handeln des Individuums antreibt, während Werbung vorrangig den Handlungsrahmen darstellt. Zur Entwicklung seiner Argumentation rekurriert Michael Jäckel auf Klassiker der Konsumsoziologie. Damit wird beispielsweise der Wandel der Werbung vor dem Hintergrund der Veränderung von Produktionsstrukturen, Besitz- und Herrschaftsverhältnissen und Sozialstrukturen verständlich und Subjektkonstitution – wie die Konstruktion der Konsumentin durch Werbung im Zuge der Entstehung der modernen Konsumgesellschaft – nachvollziehbar. Heute, so Jäckel, leiste Werbung einen signifikanten Beitrag zu der Wahrnehmung des modernen Lebens, dem in einem zu kurzen Zeitraum zu viele Angebote gemacht werden. Dennoch gründe der Zyklus von Zufriedenheit und Unzufriedenheit nicht allein auf der Werbung; das Fortschrittsparadoxon, dass der Mensch in der modernen Kultur trotz Steigerung der Möglichkeiten nie zufrieden ist, bleibe stets bestehen. In seinem Beitrag „Das ganze Leben ist ein Quiz.“ Spiele im Fernsehen im alltagskulturellen Kontext betrachtet Gerd Hallenberger Medienspiele als dominante Wirklichkeitsmodelle im Fernsehen und das Fernsehen als Spielmedium. So lautet eine seiner Ausgangsfragen: „Welche Sicht auf je zeitgenössisches
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Leben bietet die Geschichte der Spielshows im deutschen Fernsehen?“ Vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen und kulturellen Veränderungen rekonstruiert Hallenberger die Entwicklung von Quizsendungen bzw. Gameshows im gesamtdeutschen Fernsehen anhand von Inhalten, Konzepten und Abläufen. Somit verdeutlicht er den Wandel von der Idee des Quiz als „Abendschule“ in den 50er Jahren bis hin zur Loslösung der Spielkonzepte von verbindlich festgesetzten Normen und Rahmenbedingungen zu beliebig variablen und individualisierten Gewinnkriterien im Prozess der Privatisierung und Durchsetzung des Fernsehens als primäres Unterhaltungsmedium. Werden die Zusammenhänge zwischen Spiel, Medium und Gesellschaft vor dem Hintergrund eines gesellschaftlichen ‚economic turn‘ betrachtet, so veranschaulichen auch sie eine gesellschaftliche Tendenz, durch die eine Vorhersagbarkeit gesellschaftlichen Erfolgs durch Zufall und marktbedingte Willkür abgelöst wird. Die gesellschaftliche Ökonomisierung wird somit in diesem Beitrag in ihrer medial artikulierten Repräsentation diskutiert, deren Alternativlosigkeit zu hinterfragen ist. Die letzten beiden Beiträge konzentrieren sich – empirisch und theoretisch – explizit auf Perspektiven der Handlungsermächtigung durch Mediengebrauch und Medienhandeln. Jörg-Uwe Nieland und Ingrid Lovric untersuchen Chancen und Grenzen unterhaltender Politikvermittlung und gehen der Frage nach, ob unterhaltungsorientierte Medienangebote das politische Interesse Jugendlicher und ihre Bereitschaft zur Wahlbeteiligung wecken können. Vor dem Hintergrund des Forschungsstands zu politischen Einstellungen und dem (Wahl-)Verhalten Jugendlicher betrachten sie die Mediendaten, die zeigen, dass Jugendliche klassische Informationsangebote nur sporadisch nutzen. Da laut Nieland und Lovric Dimensionen sozialen und politischen Handelns aber auch über Formate des Infotainment vermittelt und „gelernt“ werden können, beschäftigen sie sich u.a. exemplarisch mit einem Unterhaltungsangebot, das während des Bundestagswahlkampfs 2005 ausgestrahlt wurde, sich an jugendliche ZuschauerInnen richtete und Wahlumfragen in den Mittelpunkt rückte – TV total, moderiert von Stefan Raab. Nieland und Lovric kommen dabei zu dem Ergebnis, dass spaßorientierte ‚Wahlsondersendungen‘ wie TV Total durchaus ansatzweise erkennbares Potenzial zur Politisierung Jugendlicher aufweisen. Zugleich formulieren sie deutliche Kritik an pseudo-informativen Angeboten, die ihres Erachtens vorrangig quotenträchtiges Polit-Entertainment ansteuern. Online-Angebote schneiden aus Sicht der Autoren bezüglich der Frage nach Perspektiven der Politisierung mit bzw. mittels Medien dagegen aufgrund des eher Problem lösenden Ansatzes deutlich besser ab. Widerständige Sozialität im postmodernen Alltagsleben: Das Projekt der Cultural Studies und die poststrukturalistische Diskussion lautet die Überschrift des Beitrages von Rainer Winter, der den Band mit einer Diskussion der Bedingungen und Möglichkeiten widerständigen sozialen Handelns in einer durch Medien geprägten Kultur abschließt. Winter verweist auf bis heute instruktive Arbeiten in der Tradition kritischen Denkens, die die zentrale Bedeutung und
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Relevanz des Alltagslebens hervorgehoben haben, die Kritik an der Einbindung des Alltags in den Kapitalismus teilen und auf unterschiedlichen Ebenen nach Perspektiven des ‚Widerstandes‘ fragen. Ausgehend vom Begriff des ‚Widerstandes‘ im Kontext des Poststrukturalismus und in den Analysen der Cultural Studies diskutiert er, inwiefern Widerstand mit Kritik und der Entfaltung von (emanzipatorischen) Möglichkeiten der gesellschaftlichen Transformation verbunden ist. Die Bedeutung des Begriffs ‚Widerstand‘ für die Gegenwart reflektiert er unter Bezug auf Arbeiten von Nietzsche und Foucault und diskutiert anschließend, wie Kritik und Widerstand im heutigen Alltagsleben zu lokalisieren sind – vor allem in den Analysen der Medienkultur, wie sie von den Cultural Studies, insbesondere von Stuart Hall und John Fiske praktiziert werden. Eine Diskussion von Michel de Certeaus Poetik des Alltagslebens erweitert das Verständnis von Widerstand als eine den sozialen Praktiken immanente Potenzialität. So beschließen wir den Band mit Winters Aufforderung, die ausgehend von den modernen Macht- und Herrschaftsverhältnissen eine Transformation des Alltäglichen in den Blick nimmt: Er plädiert für eine Erforschung des Zusammenhangs von Medienkultur und sozialem Handeln, „indem der Eigensinn von Praktiken analysiert, der sinnliche Erfahrungsmodus betrachtet, die Pluralität von Kultur hervorgehoben und deutlich gemacht wird, wie wichtig diese Aspekte unseres postmodernen Lebens sind, wenn wir dessen Konflikte und Spannungen begreifen, die Möglichkeiten zu kleinen Fluchten erkennen und ausschöpfen oder Bedingungen zur Transformation erfassen möchten“. Dieser Band wäre ohne die Unterstützung einer Vielzahl von Personen nicht möglich gewesen, denen an dieser Stelle herzlich gedankt werden soll: Marco Höhn hat an der Konzeption und Durchführung der Ringvorlesung mitgewirkt; mit Unterstützung von Sandra Weber und Matthias Berg hat er den Satz, mit Daniel Tepe die Bildbearbeitung vorbereitet. Friedrich Krotz danke ich für die produktive Coautorenschaft, Jan Pinseler für regen Austausch über ‚Medienkultur‘, Fabian Virchow für inhaltliches Feedback und vielfältige Unterstützung. Maik Philipp (die texthelfer) gebührt nachdrücklich mein Dank für sein sorgsames Lektorat und den Satz, Miriam Stehling, Merle Kruse und Ira Hennig für ihr Engagement nicht nur beim Aufspüren von Uneinheitlichkeiten. Gedankt sei schließlich auch den Herausgebern der Reihe für ihr Interesse und ihre Unterstützung bei der Publikation des Bandes und Barbara Emig-Roller für freundliche wie geduldige Betreuung von Seiten des Verlags für Sozialwissenschaften.
Medienkultur und Soziales Handeln: Begriffsarbeiten zur Theorieentwicklung Tanja Thomas & Friedrich Krotz
„Wen sollte das eigentlich mehr fordern als die Kommunikationswissenschaft selbst?“, fragen Imhof et al. (2004: 11) angesichts eines „Imperialismus“ der Medien- und Informationsbegrifflichkeiten in allen Makrotheorien. Ist der Begriff „Medienkultur“ dann lediglich ein paradigmatischer Ausdruck jener hier diagnostizierten Vorherrschaft, deren Legitimität oder Illegitimität zu prüfen wäre? Ist die häufig konstatierte „Mediengesellschaft“ als konkurrierende oder vielleicht doch auch einander wechselseitig konturierende Begriffsalternative ein produktiver Referenzpunkt einer Auseinandersetzung mit „Medienkultur“? Welche Dimensionen erfassen vorliegende Konzepte des Begriffs „Medienkultur“? Und schließlich: Welche wissenschaftstheoretischen und gesellschaftsdiagnostischen Erwartungen können wir formulieren, welche Potenziale birgt „Medienkultur“ als Reflexionsbegriff? Der vorliegende Text kann keine abschließenden Antworten auf all diese vielschichtigen Fragen liefern; zur begrifflichen Schärfung jedoch wird er einen Beitrag leisten. Derzeit lässt sich den Begriffen „Medienkultur“ und „Mediengesellschaft“ eher der Wert von Zeitdiagnosen zuschreiben als der grundlegender theoretisch fundierter Konzepte, auf die wissenschaftliche Diskurse aufbauen können. Unseren Ausgangspunkt bildet deshalb die Reflexion der beiden Begriffe, die aus ganz unterschiedlichen wissenschaftlichen Traditionen stammen. Erhellend ist in diesem Zusammenhang auch die prinzipielle Betrachtung der Konjunkturen gesellschaftlicher Makroperspektiven. Vor diesem Hintergrund rekonstruieren wir Verwendungsweisen dieser beiden Begriffe, die damit übrigens auch selbst als (Kampf-)Feld wissenschaftlicher Auseinandersetzung und Positionierung erkennbar werden. Dies erlaubt es, den Begriff der „Medienkultur“ neben „Mediengesellschaft“ zu konturieren und zu begründen, weshalb wir dieses bisher in der Kommunikationswissenschaft kaum ausreichend reflektierte Konzept in den Vordergrund unserer weiterführenden Überlegungen stellen. In diesem Zusammenhang entstehen dann zwei weiterführende Fragen: Erstens ist zu diskutieren, wie man den statischen Begriff der Medienkultur prozessual fassen kann, um den im Kontext des Wandels der Medien gerade heute nicht ignorierbaren Prozesscharakter kenntlich, fruchtbar und zugänglich zu machen. In diesem Sinne führen wir den Begriff der Mediatisierung ein. Mediatisierung thematisiert insbesondere den Wandel gesamtgesellschaftlicher, zugleich aber auch individueller medialer Potenziale und darauf bezogener
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Tanja Thomas & Friedrich Krotz
Kommunikationspraktiken auf unterschiedlichen Ebenen.1 Die damit zusammenhängenden Folgen für Alltag und Lebensbereiche, Wissensbestände, Identität und Beziehungen der Menschen sowie für Kultur und Gesellschaft werden auch in dem vorliegenden Band sichtbar gemacht: Einige Texte beleuchten exemplarisch Bereiche des Alltagslebens, in denen Medien- und Alltagserfahrungen zu jenen Weisen verknüpft sind, in denen Konsum, Körper und Schönheit, Paar- und Geschlechterbeziehungen, Freundschaften, Spiel, politische Partizipation oder Religion/Glaube erlebt und gestaltet werden. Zweitens wirft der Versuch eines Zusammendenkens von Mediengesellschaft und Medienkultur die Frage nach ihren gemeinsamen Grundlagen auf – dies verlangt eine Auseinandersetzung mit dem Begriff des sozialen bzw. kommunikativen Handelns, weil alle soziale und kulturelle Wirklichkeit letztlich durch die Menschen produziert wird. Das Verhältnis von Medienkultur und sozialem Handeln ist schon deshalb komplex, weil auch diese beiden Begriffe vor unterschiedlichen Hintergründen entstanden sind und auch unterschiedlich genau kodifiziert sind: Während „Medienkultur“ als vergleichsweise neuer Begriff kulturwissenschaftlich fundiert ist, ist „soziales Handeln“ in der Soziologie beheimatet. Da Mediengebrauch u.E. zutreffend als „kulturelles Handeln im Alltag und für den Alltag“ (Weiß 2003: 25) beschrieben werden kann, präzisieren wir schließlich unser Verständnis von „Alltag“ im Zusammenhang mit dem entwickelten Verständnis von Medienkultur. Als Modus sozialen Handelns kann „Alltag“ als Bezugsrahmen beschrieben werden, in dem die Menschen unter ihren Lebensbedingungen Wandlungsprozesse bewältigen. Da diese Wandlungsprozesse aktuell maßgeblich zugleich durch Mediatisierung, Globalisierung und Ökonomisierung geprägt werden, ist insbesondere eine weiterführende Entwicklung von Perspektiven gesellschaftstheoretisch fundierter Medienanalysen zur Untersuchung des Alltagshandelns in Medienkulturen gefordert. Einige Anregungen dazu werden wir abschließend liefern.
1 „Mediengesellschaft“ und „Medienkultur“: Konturen und Potenziale (kommunikations-)wissenschaftlicher Begrifflichkeiten Wir wollen hier zunächst den gerade in öffentlichen Darstellungen gerne verwendeten Begriff der „Mediengesellschaft“ diskutieren (1.1) und entfalten anschließend eine orientierende Reflexion der Verwendungsweisen von „Medienkultur“ (1.2), die im Rahmen des vorliegenden Textes jedoch nur skizzenhaft und ohne Anspruch auf Vollständigkeit erfolgen kann. Angesichts dieser Gegenüberstellung ziehen wir die Schlussfolgerung, dass der Begriff der Medien1 Wenn wir hier „Mediatisierung“ dem anderweitig gelegentlich zu findenden Begriff „Medialisierung“ vorziehen, so vor allem weil zum Beispiel im Englischen „Mediatization“ verständlich ist, „Medialization“ aber nicht (vgl. Krotz 2007).
Medienkultur und Soziales Handeln
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kultur für die uns interessierenden Frage- und Problemstellungen von größerer theoretischer Tiefe und Brauchbarkeit ist. Gleichwohl diskutieren wir im produktiven Sinne Potenziale der Verknüpfung der unterschiedlichen theoretischen Ausgangspunkte für eine gesellschaftstheoretisch fundierte Analyse von sozialem Handeln in einer Medienkultur (1.3).
1.1 „Mediengesellschaft“: Modisches ‚Label‘ oder neuer Orientierungsbegriff? „In welcher Gesellschaft leben wir eigentlich?“ fragt Armin Pongs (2000) und man mag die Frage als ungeduldig, forschend oder auf eine entschiedene Antwort pochend interpretieren. Freilich liefert sein Buch, das Zeitdiagnosen wie die von der „postindustriellen Gesellschaft“, der „Arbeits-“, „Medien-“, „Risiko-“, „Bürger-“, „Erlebnis-“, und „Multioptions-“, „Wissensgesellschaft“ oder „postmodernen Gesellschaft“ über ExpertInneninterviews beleuchtet, keine letztgültigen Antworten. Eher erinnert es uns an die vielfältig geführten Debatten über die Angemessenheit soziologischer Gegenwartsdiagnosen2 (einen Überblick liefern gewinnbringend Schimank/Volkmann 2000; Kneer/Nassehi/ Schroer 2000, 2001) sowie an die Tatsache, dass solche durchaus auch konkurrierenden Makroperspektiven wissenschaftliche Erkenntnissuche leiten, Forschungsgegenstände und -fragen generieren, aber auch ausblenden.3 Reichweite und Erklärungskraft der Ansätze werden dabei geprägt auch durch Positionierung und Handeln der Akteure im Feld der institutionalisierten Wissensproduktion, in dem selbstredend nie allein Angehörige der Akademien zu finden waren.4 Das Konzept der „Mediengesellschaft“ ist seit Mitte der 1980er Jahre als Terminus in der deutschsprachigen Literatur eingeführt (vgl. Meier/Bonfa-
2 In den letzten Jahren werden zudem mit der These von der Vergesellschaftung von Wissen bzw. der Verwissenschaftlichung der Gesellschaft Prozesse der Politisierung, Ökonomisierung und Medialisierung der Wissenschaft beschrieben (vgl. Weingart 2001), die nicht ohne Einfluss auf Gesellschaftskonzeptionen bleiben. Dass dabei auch „Klassengesellschaft“ und Debatten um die Brauchbarkeit eines zu aktualisierenden Klassenbegriffs wieder aufscheinen, mag als Ergebnis von Koinzidenz, Konsequenz strukturhomologer Entwicklungen oder Anachronismus betrachtet werden. Eine Diskussion allerdings über die Frage, wer an der Konstruktion symbolischer Sinnwelten beteiligt ist und von welchen spezifischen Konstruktionen der Sozialwelt und ihrer medialen Repräsentation profitiert (vgl. Bittlingmayer/Kraemer 2001: 281), ist hier wie bzgl. konkurrierender Begriffe sicherlich erhellend. 3 Meier und Bonfadelli vergleichen u.a. Perspektiven, Basiskonzepte, Fragestellungen und Erklärungslogiken idealtypischer Gesellschaftskonzeptionen (Markt-, Informations-, Netzwerk-, Wissens- und Medien/Kommunikationsgesellschaft) und diskutieren Konsequenzen der Konzepte für die Medienanalyse (vgl. Meier/Bonfadelli 2004: 57-78). 4 Anregend beschreibt Bachmann-Medick den Wechsel von „turns“ und „wissenschaftlichen Moden“ im intellektuellen Feld der Kulturwissenschaften unter Bezug auf Bourdieus Überlegungen zum intellektuellen Feld. Seine Rede von der „Haute Culture“ verweist auf intellektuelle Moden, die sich als Innovationsschübe, die sich aber auch im Sinne eines Konsenszwanges diskutieren lassen (vgl. Bachmann-Medick 2006: 14f.).
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delli 2004: 70; Ziemann 2006a: 185); dabei lassen sich drei Wurzeln bzw. Zielrichtungen unterscheiden: Die erste ist – in Anlehnung an das Herangehen von Pongs gesehen – eher pragmatisch begründet, insofern die Wissenschaft nach einer Bezeichnung dafür sucht, dass die Bedeutung medial vermittelter Kommunikation in den letzten Jahrzehnten in vielen Feldern wie der Politik, der Unternehmen und der Ökonomie oder für Reproduktion und Freizeit der Menschen gewachsen ist. Daraus resultieren Begriffe wie „Informationsgesellschaft“ (Webster 1995), „Netzwerkgesellschaft“ (Castells 2001), „Wissensgesellschaft“ (Kübler 2005) und eben „Mediengesellschaft“ (Imhof 2006), die nicht nur in der Wissenschaft, sondern auch in werblichen oder politischen Aneignungsabsichten oder in ganz unterschiedlichen Weisen in den Medien selbst genutzt werden. Derartige Begriffe behaupten ja implizit oder explizit, dass sie die zentrale Funktionsweise einer so attribuierten Gesellschaft ansprechen. Etwas pauschalisierend kann man jedoch sagen, dass keiner dieser Ansätze wirklich in der Lage ist, diesen Anspruch einzulösen, weil keines der damit benannten Konzepte diese herausragende und prägende Wirkmächtigkeit wirklich belegen kann. Häufig wird dies nicht einmal versucht, genauso wenig wird entfaltet, wie das Besondere der heutigen Gesellschaft anzugeben sei. Die auffindbaren verschiedenen Annäherungen an den Begriff der Mediengesellschaft – und dies verstehen wir hier als zweite Wurzel dieses Begriffs – lassen sich als vorwiegend systemtheoretisch, durch eine Betonung der Zentralität des politischen Systems oder aber als Auffassung von Medienkommunikation als ‚soziales Totalphänomen‘ charakterisieren (vgl. dazu kritisch Klaus/Lünenborg 2004: 100). Während Klaus Merten beispielsweise betont, dass das Kommunikationssystem als Subsystem der Gesellschaft prinzipiell schneller wächst als alle anderen gesellschaftlichen Teilsysteme (vgl. Merten 1999: 188), spricht Otfried Jarren (1998: 74) von ‚Mediengesellschaft‘, weil „die publizistischen Medien sich quantitativ und qualitativ immer mehr ausbreiten, […], die Vermittlungsleistung von Informationen durch die Medien sich enorm beschleunigt hat, […], sich neue Medientypen herausgebildet haben, […], Medien immer engmaschiger die gesamte Gesellschaft durchdringen, […], Medien aufgrund ihrer hohen Beachtungs- und Nutzwerte gesamtgesellschaftliche Aufmerksamkeit erlangt haben und Anerkennung beanspruchen […] und sich letztlich zu Institutionen entwickeln“.
Jarren/Donges (2002) bezeichnen u.a. den technischen Wandel und die Ökonomisierung der Massenmedien als auch die Medialisierung der Politik als zentrale Charakteristika. Kritisch wird demgegenüber gefordert, den Begriff ‚Mediengesellschaft‘ nicht allein auf die Beschreibung der Zunahme von Medien(technologien) im Alltag der Menschen (in den westlichen Industriestaaten) oder als Hinweis auf die Ausdifferenzierung des Medienangebots oder die Ausdehnung/Dynamisierung massenmedialer Kommunikationskreisläufe zu verkürzen. Saxer argumentiert dementsprechend, die Zunahme der Medienkommunikation wirke sich auf
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der institutionellen, organisationellen und individuellen Ebene aus und bezeichnet Mediengesellschaft als einen „Gesellschaftstyp, der von Medialisierung durch und durch geprägt wird. Deren Gestaltungsvermögen gründet in der Ausdifferenzierung des Elementes Medialität in Kommunikationsprozessen und der Emanzipation aus institutionellen Bindungen“ (Saxer 2004: 153). Jedoch wird die auch in Saxers Annäherung an die Mediengesellschaft zum Ausdruck kommende Zentralstellung der (Massen-)Medien kritisch kommentiert: Reichertz (2006: 231) stellt den viel zitierten Satz Luhmanns „was wir über unsere Gesellschaft wissen, wissen wir durch die Massenmedien“ infrage und behauptet, dass „wir viel mehr über die Gesellschaft, unsere Mitmenschen, unsere Gefühle, unsere Sprache, unsere Kultur, unseren Körper, kurz: über unsere Welt, wissen, als in Massenmedien gespeichert und verfügbar ist“. Couldry (2006: 12) warnt noch eindringlicher vor einem ‚Medienzentrismus‘, wenn er schreibt „at the very least, this means defining the object of media studies as the consequences of media for the social world. But if our aim is to understand as clearly as possible the consequences of media for the social world, than it cannot be valid to assume in advance what we want to find out: so it must be wrong (and this is why mediacentrism is a fallacy) to assume that media are more consequential than other institutions that structure the social world (economic, material, spatial, and so on)“ (Hervorheb. i.O.).
Auf den ersten Blick ähnlich (aber im Duktus systemtheoretisch) argumentiert Ziemann (2006a: 187), wenn er feststellt, wegen der Zentralstellung der (Massen-)Medien unterbleibe sogar eine Reflexion und Explikation des Gesellschaftsbegriffs. Er betont stattdessen, es gehe weniger um das Anwachsen und Optimieren von Medientechnologien als um die daraus resultierenden Konsequenzen, Einwirkungen und Umbrüche für die Form der Gesellschaft und für das soziale Leben (vgl. Ziemann 2006b: 103). Ziemann resümiert schließlich, an bisherigen Diagnosen und künftigen Forschungen ändere sich nichts, wenn man „unprätentiös auf das modische Label und die (Selbst-)Beschreibungsformel der Mediengesellschaft verzichtet“ (2006a: 203). Letztlich wird jedoch auch hier ein Gegenüber von Medien und Gesellschaft/Kultur konstruiert. Eine dritte Verwendung von Mediengesellschaft formuliert schließlich Imhof (2006: 191) unter Hinweis auf das Potenzial des Begriffs, die gegenstandsbezogene Orientierung der Kommunikationswissenschaften an den Massenmedien zu öffnen. Er fordert vor dem Hintergrund eines ‚neuen‘ Strukturwandels der Öffentlichkeit, Mediatisierungseffekte in funktionaler, stratifikatorischer und segmentärer Dimension auf Mikro-, Meso- und Makrobene zu erfassen (vgl. ebd.: 207) und damit eine Kommunikationswissenschaft zu stärken, der wichtige Aufgaben in der sozialwissenschaftlichen Analyse der Gesellschaft zukommen. Hier wäre übrigens auf die sogenannte Mediumstheorie als ein Hintergrund für eine derartige Weiterentwicklung und Vervollständigung der Kommunikationswissenschaft zu verweisen, insofern der Begriff der Mediengesellschaft an den von Joshua Meyrowitz prominent gemachten Begriff der „Fernsehgesellschaft“ anschließen kann. Mediumstheorie fragt nach dem durch Medien induzierten kulturellen und so-
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zialen Wandel, wobei nicht die Inhalte, sondern der kommunikative Wandel im Vordergrund stehen (Meyrowitz 1990). Sie ist zwar in vieler Hinsicht technizistisch verengt, lässt sich aber als eine Vielfalt von aufeinander bezogenen Bausteinen verstehen und verwenden, um – in Anlehnung an Harold Innis und Marshall McLuhan, Walter Ong und Joshua Meyrowitz, aber auch Jack Goody oder Jean Baudrillard – die Bedeutung von Medien für Kultur und Gesellschaft herauszuarbeiten. Die rekapitulierten Verwendungsweisen wären in ihren jeweiligen Kontexten separat genauer zu diskutieren. Und in allen Ansätzen werden in Bezug auf diesen Begriff Fragen verhandelt, was – in durchaus unterschiedlichem Ausmaß – zu einer breiten wissenschaftlichen Diskussion beitragen kann. Wie die Darstellung aber gezeigt hat, so sind alle diese Verwendungsweisen doch nicht sonderlich geeignet, um einen theoretisch stabilen und tragfähigen Grundbegriff zu konstituieren, sie begründen „Mediengesellschaft“ nur anschaulich und ohne tiefere empirische oder theoretische Rechtfertigung, indem sie zwei Begriffe zusammensetzen. Als generelles Desiderat bleibt überdies im Blick zu behalten, dass das Verhältnis von Technik und Medien im Hinblick auf Kultur und Gesellschaft klärungsbedürftig ist.
1.2 Medienkultur: Vom ‚Gegenbegriff‘ zum zentralen Bezugsbegriff Wenden wir uns also dem Begriff der „Medienkultur“ zu, in dem verschiedene Überlegungen angelegt sind, die über eine Fokussierung auf Konzepte wie Mediatisierungseffekt und Öffentlichkeit hinausreichen, wie sie mit dem Begriff der „Mediengesellschaft“ verbunden sind. Der Begriff „Medienkultur“, so bemerkt Viehoff (2002: 227), wurde in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zunächst gegen die Begriffe ‚Kulturindustrie‘ und ‚Bewusstseinsindustrie‘ und damit gegen ein Modell eines diametralen Gegenübers von Kultur und Medien im Verständnis eines kritischen gesellschaftstheoretischen Ansatzes gesetzt, der die Medien als die wesentlichen Instrumente einer kapitalistisch fundierten umfassenden Machtstruktur kritisierte.5 Man kann ausgehend von dieser Überlegung nun gut begründen, dass medialer Kommunikation auch eine zentrale Funktion für die jeweilige (klassenspezifische) Sinnorientierung und die Aushandlung kultureller Identität zukommt. In den Blick geraten dann auch die mit Medien, Kommunikation und
5 Dieser „Diskursstrang“ mag einerseits durchaus auch als Erklärung dafür dienen, dass die „Massen-Medien über Jahrzehnte weniger als Faktor der (Medien)Kultur denn als Verursacher von Un-Kultur galten“ (Neitzel 1999: 197). Hinsichtlich der Gründe für die Abwehr eines Begriffs „Medienkultur“ führt Neitzel die Infragestellung der Vorstellungen von Kultur als Hochkultur als auch die „persönliche Betroffenheit“ an, denn was hier zur Debatte stehe, sei nicht eine Philosophie der Medien oder eine kunsttheoretische Erörterung, sondern die Allgegenwart der Medien, oder anders: der Alltag. Auf den Bezug zu Alltag werden wir zurückkommen.
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kulturellen Werten verbundenen sozialen Vermittlungsprozesse.6 Die damit vollzogene „paradigmatische“ Wende, so Viehoff (2002: 228), „geht von der Beobachtung aus, dass mit den technischen Entwicklungen […] und der weltweiten Vernetzung der Medien (Globalisierung, Multimedialität) neue soziale Muster des Zusammenspiels von Kognition, Kommunikation, Medien und jeweiligem Wirklichkeitsverständnis ‚emergieren‘“.7
Medienkultur – hier schließen wir uns im Sinne einer aktuellen Begriffsbestimmung Hickethier an – „stellt eine Konzeption dar, einerseits an und in den Medien die Kultur bildenden Aspekte zu thematisieren, andererseits Kultur als eine durch die Medien erzeugte zu verstehen und an der Kultur vor allem ihre medialen Dimensionen zu beobachten“ (Hickethier 2003: 455, Hervorheb. i.O.) – oder anders ausgedrückt, „Medien sind nicht nur ‚Mittler‘ (Agenturen) und Beobachtungsinstanzen (Kritik), sondern auch selbst gestaltender Teil der Kultur“ (ebd.: 440). Mit Blick darauf möchten wir insbesondere hervorheben, dass damit keine Gegenüberstellung, sondern eine integrative Vorstellung des Verhältnisses von Medien und Kultur vorgeschlagen wird. Die sich unmittelbar anschließende Frage nach einem entsprechenden Kultur- und Medienbegriff wird von unterschiedlichen Autoren sehr unterschiedlich bearbeitet: Als Beispiel für eine häufig vorgeschlagene pragmatische Lösung sei auf Pias et al. und ihren instruktiv zusammengestellten Band „Kursbuch Medienkultur“ (1999) hingewiesen: Die Herausgeber stellen fest, es käme weniger darauf an, ob man Kultur als „Gesamtheit großer sinnstiftender Symbolisierungen in Religion, Wissenschaft und Kunst versteht, als System der Weitergabe und Verbreitung von Werten und Normen, als Figuration von Erkenntnis- und Verhaltensgewohnheiten, als alltäglich empirisch reproduzierten Horizont von Kommunikations- und Verkehrsverhältnissen oder als Produktionszusammenhang in höheren oder niedrigeren Sparten des Kultur- und Kunstbetriebs und der Unterhaltungsindustrie“ –
in allen Fällen, so wird schlicht konstatiert, ist „Kultur nicht denkbar ohne Medien“ (Pias et al. 1999: 8). Des Weiteren solle man sich darauf einigen, dass es
6 Die Frage ist, ob man tatsächlich ‚Medienkultur‘ als Gegenbegriff zur einer als totalisierend kategorisierten Kulturindustrie verstehen will. Produktiver scheint es uns, die Frage nach einer kulturindustriellen Produktion medialer Deutungsangebote in der Analyse von Medienkultur(en) durchaus zu stellen und diese nicht leichtfertig zu verabschieden (vgl. Thomas/Langemeyer 2007). 7 Viehoff weist im Folgenden auf Positionen französischer Poststrukturalisten (Baudrillard, Flusser, Virilio u.a.) hin, die als Konsequenz jener Prozesse wesentlich eine vollständige Durchdringung aller lebensweltlichen Zusammenhänge und individuellen Denkformen durch Medien sehen, „wodurch die Menschen den – (früher als ‚natürlich‘ gehaltenen, jetzt als ‚kultürlich‘ erfahrenen) authentischen Zugang zu der Wirklichkeit medial substituieren“ (Viehoff 2002: 228). Aus einer solchen Sicht seien die Menschen von den Mediatisierungen abhängig, die „Beschleunigung“ führe zu einem „Schwinden der Sinne“, sodass Menschen im Rhythmus der Medialisierungen leben. Neben diesen Überlegungen, die Viehoff als ‚assoziativ‘ bezeichnet, weist er auf Siegfried J. Schmidt hin, der Medienkultur systemtheoretisch und konstruktivistisch verstanden sehen will und dessen Forschungsprogramm Medienkultur zum Leitbegriff der Medienwissenschaften machen könne (vgl. Viehoff 2002: 229).
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keine Medien gäbe, jedenfalls nicht im substanziellen und historisch stabilen Sinn. Auf der Suche nach einem gemeinsamen Horizont verschiedener Medienbegriffe wird stattdessen der Fokus darauf gerichtet, dass Medien ihren Status als wissenschaftliches, d.h. systematisierbares Objekt dadurch erhalten, dass sie das, was sie speichern, verarbeiten und vermitteln jeweils unter Bedingungen stellen, die sie selbst schaffen oder sind (vgl. ebd.: 10). Ausgehend von dieser intuitiven Definition von Medien wollen wir hier ein kommunikationswissenschaftlich geprägtes Verständnis anbieten; darüber hinaus scheint uns dann aber auch der Begriff der Kultur präzisionsbedürftig.8 Medien wollen wir als etwas verstehen, „das Kommunikation modifiziert, verändert, sie sich ausdifferenzieren lässt und zum Entstehen neuer Interaktions- und Kommunikationsformen führt. Medien sind deshalb – etwas plakativ ausgedrückt – einerseits Inszenierungsmaschinen, insofern sie Kommunikate bereit stellen, andererseits Erlebnisräume, insofern sie genutzt, rezipiert, angeeignet werden“ (Krotz 2003: 23).
Vermittelt sind diese beiden Perspektiven auf Medien durch eine dritte, insofern nämlich Medien immer auch als geregelte soziale und kulturell aktive Institutionen in der Gesellschaft verstanden und analysiert werden müssen (vgl. Krotz 2007: 89f.). Unter einer solchen Perspektive kann man dann beispielsweise ohne Kausalitätsannahmen Veränderungen im Medienangebot als Entwicklungen verstehen, die mit der Veränderungen sozialer Lebensbedingungen, etwa Beziehungspotenzialen und Alltagserfahrungen, aber auch mit unterschiedlichen sozialen Kompetenzen zusammenfallen, die gewissermaßen durch Selbstsozialisation im Gebrauch der medienbezogenen Kommunikation entstehen und in Alltagspraxen aktualisiert und reproduziert werden können. Ausgangs- und Endpunkt jedweder Kulturanalyse bildet die Frage, wie wir das tun, was wir tun – und „diese Frage überhaupt stellen zu können, setzt aber voraus, dass Handlungsoptionen gegenüber dem für möglich erachtet werden, was man für gewöhnlich die ‚Verhältnisse‘ nennt, Umstände historischer, gesellschaftlicher und kultureller Art“ (Lindner 2004: 11). Die damit verbundene Auffassung von Kultur kann in Anlehnung an Raymond Williams‘ Vorstellung als „a whole way of life“ (Williams 1958) verstanden werden. Kultur wird hier gesellschaftlich bestimmt, indem auch Handlungsmöglichkeiten der Menschen 8 Eine kritische Auseinandersetzung mit einer Vielzahl an Verständnisweisen eines Kulturbegriffs würde hier den Rahmen überschreiten; bzgl. der zeitgenössischen wissenschaftlichen Debatte konstatieren Helduser und Schwierting (2002: 13): „praktisch allen Dimensionen von Kulturbegriffen ist […] gemeinsam, dass sie keine statischen Gegenstände beschreiben, sondern kulturelle Prozesse der Deutung und der symbolischen Kommunikation“. Helduser und Schwierting rekurrieren auch auf die häufig angeführte Feststellung, Kultur sei auf ständige Selbstreproduktionen angewiesen, deren Reflexivität ständige Veränderung mit sich bringt und insofern einer definitorischen Stillstellung des Begriffs entgegenstehe (ebd.: 16). Hörning scheint es vor diesem Hintergrund mit Blick auf politische Vereinnahmungen sogar angemessener, nicht von ganzen „Kulturen“, sondern von „kulturellen Formen“ und „Lebensweisen“ zu sprechen (vgl. Hörning 1999: 85). Vgl. zu zentralen kulturtheoretischen Texten und Ansätzen weiterführend u.a. Moebius/Quadflieg (2006); Hofmann et al. (2004; 2006).
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als Kultur produzierende Akteure hervorgehoben werden. Wie Williams wies auch Edward P. Thompson (1968/1987) auf die besondere Rolle der „Erfahrung“ hin und betonte, dass soziale Realität weder durch essentialistisch vorgestellte Kategorien wie Klasse oder Geschlecht bestimmt, noch unabhängig von gesellschaftlichen Kontexten zu denken ist. Weder kann also gesellschaftliches Leben jenseits kultureller Verarbeitung, noch kann Kultur abseits oder gegen „Gesellschaft“ verhandelt werden (vgl. Musner 2004: 24). So entwickelt Musner ein Verständnis von Kultur „als Textur des Sozialen“ und fordert auf, stets danach zu fragen, „in welcher Form und mit welchen Logiken Symbolisches und Materielles aufeinander verwiesen sind und wie die Hierarchien und Asymmetrien der gesellschaftlichen Verhältnisse in kulturellen Prozessen und Phänomenen zum Ausdruck kommen“ (Musner 2004: 24f.).9 In diesem Sinne betonen wir einerseits – wie übrigens die meisten Vertreterinnen und Vertreter einer kulturwissenschaftlichen Neuorientierung10 – die Produktivität der Kultur und zugleich ihre Prozesshaftigkeit der Aushandlung und des Konflikts. Wir nehmen dabei eine Perspektive ein, die nicht nur nach Bedeutungs- und Sinnstrukturen, sondern auch maßgeblich nach Praktiken fragt. Darauf werden wir später nochmals zurückkommen. Andererseits plädieren wir für die Weiterentwicklung einer Perspektive, die (Medien-)Kultur- und Gesellschaftsanalyse miteinander verbindet.
1.3 Medienkultur – Mediengesellschaft: Für eine Perspektivenverschränkung Medienkultur erweist sich also gegenüber Mediengesellschaft als das Konzept, das theoretisch und empirisch besser passt und aussagekräftiger ist: Medienkultur ist anschlussfähig an den hier entfalteten Medienbegriff, und das Konzept berücksichtigt explizit die Prozesshaftigkeit medial vermittelter Deutungsproduktion und damit symbolischer Kommunikation allgemein. Gleichwohl geht es auch darum, die beiden Begriffe in ihrer analytischen Brauchbarkeit zusammen zu denken, weil auch in einem globaleren Rahmen und auf allen Teilfeldern das Verhältnis von Kultur und Gesellschaft immer wieder neu bestimmt werden muss. Rainer Winter (2002) weist darauf hin, dass im Rahmen kultursoziologischer Überlegungen als auch durch Arbeiten von VertreterInnen der Cultural Studies Vorschläge entwickelt worden sind, Gesellschafts- und Kulturanalyse so miteinander zu verschränken, dass kulturelle Prozesse in ihrer produktiven und schöpferischen Kraft sichtbar werden. Sie erlau-
9 Offen bleibt hier allerdings, ob damit die zunehmende Bedeutung von Bildern angemessen ausgedrückt ist. 10 Vgl. dazu die Konzepte der „Theatralität“ (Müller-Doohm/Neumann-Braun 1995; Willems/Jurga 1998), des „Performativen“ (Fischer-Lichte/Wulf 2001; Wulf/Göhlich/Zirfas 2001), des „Doing culture“ (Hörning/Reuter 2004).
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ben es seiner Ansicht nach, „das komplexe Verhältnis von Kultur und Gesellschaft in der Gegenwart differenziert zu analysieren“ (Winter 2002: 122). Insbesondere lieferte Wolfgang Lipps Schrift „Drama Kultur“ (1994) einen wichtigen Baustein zur Neubegründung der Kultursoziologie, in der er – anknüpfend an Klassiker der soziologischen Tradition wie Max Weber, Georg Simmel und Ferdinand Tönnies – mit Friedrich Tenbruck schon früh forderte, dass sich die Kultursoziologie Struktur und Kultur „nicht auseinander dividieren lassen darf, will sie die Gesellschaften in ihrer historischen und kulturellen Eigenart und nicht nur in ihrer strukturellen Allgemeinheit begreifen“ (Lipp/ Tenbruck 1979: 397, zit. nach Winter 2002: 123). In diesem Zusammenhang erinnert auch Winter an die Arbeiten von Clifford Geertz, der 1973 mit der Publikation von „Interpretation of Cultures“ die Diskussion um den Cultural Turn in den Sozialwissenschaften beförderte. Geertz versteht unter Kultur das „geordnete[n] System[s] von Bedeutungen und Symbolen […], vermittels dessen gesellschaftliche Interaktion stattfindet“, unter sozialer Struktur „das soziale Interaktionssystem selbst“ (Geertz 1991: 99). Kultur umfasst damit eine aufeinander bezogene Menge von Zeichen, die Bedeutung tragen und vermitteln, und damit im Kern das Geflecht von Bedeutungen, auf das die Menschen (die ja Kultur herstellen, modifizieren und entwickeln) ihr soziales Handeln ausrichten. Eine so verstandene Kultur einerseits und ein Verständnis von Gesellschaft als soziale Struktur und Form, in der sich das Handeln manifestiert (das tatsächlich existierende Netz der sozialen Beziehungen also), – beides begreift Geertz als Abstraktionen der gleichen Phänomene, die in verschiedenen Perspektiven unternommen werden: „Die eine hat mit sozialem Handeln unter dem Aspekt seiner Bedeutung für den Handelnden zu tun, die andere mit eben diesem Handeln unter dem Gesichtspunkt seines Beitrags zum Funktionieren des sozialen Systems“ (ebd.: 99). Auch hier ist wiederum die berühmte Definition von Raymond Williams als einem der „Gründerväter“ der Cultural Studies anschlussfähig: Kultur ist „the whole way of life“, also das symbolisch Geprägte und Prägende des gesellschaftlichen Lebens, nicht nur das, was ist, sondern auch in welchem Sinn es geschieht, soweit es auf individuelles Handeln bezogen ist. Unter Kulturanalyse versteht Williams entsprechend „die Untersuchung der Beziehungen zwischen den Elementen einer ganzen Lebensweise“ (1983: 50), die damit natürlich an den Zeichen ansetzt, aber auf Zeichen nicht beschränkt ist.11 Insofern ergänzt bzw. tritt die Analyse und Interpretation von Symbolen, Ritualen, Diskursen – und kulturellen Praktiken – und damit der Bereich der Bedeutung an die Stelle
11 Neben dieser Erweiterung der Beschränkung auf Zeichen wurde auch Geertz’ Beschränkung auf Symbole als Fenster zu einer Kultur zu Recht problematisiert: Winter (2002: 124) weist auf Arbeiten von Victor Turner (1974) hin, der früh Symbole als Operatoren im sozialen Prozess mit dem Potenzial zur gesellschaftlichen Transformation beschrieben hat (vgl. zur Bedeutung der Ritualtheorie Turners für den ‚performative turn’ auch Bachmann-Mednik (2006)).
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der kausalen Erklärung durch „Struktur“ oder „Klasse“, die viele Forschungen der Soziologie und Geschichtswissenschaft in die Irre gelockt haben.12 Umstritten bleibt aber weiterhin die Metapher von den „zwei Seiten“ – die auch Lindner (2004) als unbefriedigend bezeichnet – zum Beispiel, weil mit diesem Bild eher die möglichen Perspektiven eines Betrachters, aber nicht das Zusammenspiel von Kultur und Gesellschaft aufgenommen ist. Lindner schlägt mit Lutz Musner (2004) vor, dieses Denkmodell durch die Vorstellung abzulösen, dass „Kultur dem Gewebe des Sozialen lebensweltliche Bedeutungen einschreibt“ und argumentiert, dass es nicht nur das Soziale losgelöst von seiner kulturellen Aneignung nicht gibt, sondern auch das Kulturale nur im Rahmen des Sozialen Sinn ergebe (vgl. Lindner 2004: 11f.). Im Anschluss an beide Konzeptionen – kultursoziologische Arbeiten in der Tradition von Lipp als auch der Cultural Studies – begreifen wir erstens Kultur als prozesshaftes Geschehen, das eine Symbol- als auch Handlungsdimension umfasst. Im Blick zu behalten ist dann zweitens nicht nur die Analyse der Prozesse der Einbindung in hegemoniale Kulturen, sondern auch die aktive Auseinandersetzung mit kulturellen Formen, die Prozesse des Machens, Aushandelns, Fabrizierens, Inszenierens, in denen Kultur in der Gegenwart geschaffen wird. Dies verlangt insbesondere auch ein prozesshaft ausgelegtes Begriffsverständnis von Medienkultur. Mediatisierung und die sozialen und kulturell verstandenen Praktiken der Menschen sind deswegen die beiden Konzepte, mit denen wir uns im Folgenden beschäftigen.
2 Soziale Praktiken in Mediatisierungsprozessen In diesem Abschnitt soll also der Begriff der Medienkultur prozessualisiert werden; wir beziehen uns hier auf das Konzept der Mediatisierung als medienbezogenem Wandel von Kommunikation, der durch das Handeln der Menschen zustande kommt. Insbesondere wird Medienhandeln danach nicht als Folge technischer Vorgaben verstanden, sondern, verkürzt ausgedrückt, als in soziale Zusammenhänge und Praktiken eingebettet, aus denen heraus es seine Wertigkeiten, seine Bedeutung gewinnt.13 Ferner soll auf die Notwendigkeit eines damit verbundenen Konzepts von sozialem Handeln und sozialen Praktiken verwiesen werden, über die – jenseits einer gemeinsamen Forschungsperspektive – Mediengesellschaft und Medienkultur zusammen gedacht werden können. Zur 12 Wie Winter überzeugend darlegt, veränderten die Cultural Studies gemeinsam mit Arbeiten von Barthes, Bourdieu, Derrida, Williams und vor allem Foucault die intellektuelle Landschaft entscheidend: Die Kulturanalyse sei in den Vordergrund gerückt und damit auch die Untersuchung der Kontexte, in denen Gruppen und Individuen handeln, als kulturelle Formen der Vergesellschaftung (vgl. Winter 2002: 122). 13 Zu diesem Argument vgl. auch Hörning (1999: 110). Dies berührt eine Argumentation, die der „Domestizierungsansatz“ ausgelöst hat, mit dem wir uns an anderer Stelle ausführlicher auseinandergesetzt haben (vgl. Krotz/Thomas 2007).
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Entwicklung eines Begriffs sozialen Handelns bedarf es eines Zugangs, der das (mediatisierte) „‚Kulturelle‘ in den wissensunterlegten sozialen Praktiken sieht“ (Hörning 1999: 88), die Wissen somit auch kompetent einsetzten. Diese Wissensbestände, so formuliert es Hörning (ebd.), können als „eingelebte Weisen“ erfahren werden, „sich auf etwas zu verstehen“, und werden in sozialen Praktiken sichtbar. Wissensbestände sollen dabei nicht als kognitivistisch verengt aufgefasst werden. Wissen gilt es auch zu sehen „in allgemeinen Formen der Symbolisierung und Materialisierung, das heißt im weitesten Sinne seiner ‚Aufzeichnung‘, ob in Texten, Artefakten, Techniken oder in elektronischen Medien, […], die ihren praktischen Einsatz in einer Vielfalt von Alltagshandlungen, seien sie materieller, sozialer, räumlicher oder zeitlicher Natur findet, um die herum Menschen ihre Lebensform und -stile hervorbringen“ (Hörning 1999: 88).
Das eigentlich „Kulturelle“ der Wissensbestände liegt darin, bestimmte soziale Praktiken und Handlungskompetenzen hervorzubringen und zu stabilisieren. Da insbesondere die Cultural Studies an der unterschiedlichen Art und Weise interessiert sind, wie Wissensformen und kulturelle Kompetenzen nicht nur durch formale Institutionen, sondern auch aufgrund populärkulturellen Wissens hervorgebracht und im Alltag wirksam werden,14 werden wir an Arbeiten der Cultural Studies-VertreterInnen anknüpfen.
2.1 Soziale Praktiken in Mediatisierungsprozessen Im Sinne des bereits angekündigten Desiderats von Kultur als Prozess wollen wir hier kurz einige Begriffe zum Konzept Mediatisierung darstellen. Begreift man Medienkulturen als Realisierung mediatisierter kultureller Praktiken zu spezifischen historischen Zeitpunkten in spezifischen gesellschaftlichen Konstellationen, so lässt sich Mediatisierung als fortschreitender Metaprozess einer kulturellen und sozialen Entwicklung im Kontext medialen Wandels begreifen. Er beruht dabei aber letztlich als sozialer und kultureller Prozess nicht auf einem Medienwandel, sondern auf einem Wandel sozialen und kommunikativen Handelns und einem damit zusammenhängenden Wandel von Sinnkonstruktion und Deutungsmustern, wobei dieser Wandel seinerseits wieder auf sozialen und kulturellen Bedingungen beruht. Medien sind von daher als soziale und kulturell gerichtete Institutionen, als Inszenierungsmaschinen und Erlebnisräume immer technisch entwickelte Angebote, die von den Menschen mit der Konsequenz einer zunehmenden Ausdifferenzierung ihrer Medienumgebungen genutzt und eben institutionalisiert werden, was dann umgekehrt auf Habitus, auf Kreativität und Deutung von Handlungen und Inhalten zurückwirkt.
14 Vgl. zu dieser Argumentation ausführlicher Hörning (1999: 98f.); er fordert, durch deren Weiterentwicklung auch die Cultural Studies theoretisch besser zu fundieren.
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Mediatisierung meint dann ganz allgemein den Wandel gesamtgesellschaftlicher wie individueller Kommunikationspraktiken auf unterschiedlichen Ebenen, die sich neuer oder veränderter medialer Potenziale bedienen, und die damit zusammenhängenden Folgen für Alltag und Lebensbereiche, Wissensbestände, Identität und Beziehungen der Menschen sowie für Kultur und Gesellschaft (vgl. Krotz 2005). Der Prozess der Mediatisierung in seiner heutigen Form ist dabei wesentlich durch die Allgegenwart von Medien und ihren Inhalten auch in den sonstigen symbolischen Praktiken der Menschen geprägt und lässt sich als wachsende Verwobenheit der Medien mit Alltag und Kommunikation, als ein Prozess der Veralltäglichung der Mediennutzung und der Medieninhalte und als Zuwachs von Orientierungsfunktionen auf der Basis einer zunehmenden Komplexität der persönlichen Medienumgebungen begreifen (vgl. Krotz 2001, 2007). Als theoretischer Ansatz zielt „Mediatisierung“ dabei nicht nur darauf ab, Einsichten in die Strukturierung von Entwicklungen zu ermöglichen, sondern Bedingungen und Konsequenzen in einer spezifischen Perspektive zusammenzuführen. Wie neue Medien in diesem Rahmen sozial entwickelt und kulturell bedeutsam werden, dazu hat beispielsweise die Domestizierungsthese einen ersten Vorschlag entwickelt (vgl. Röser 2007), der freilich einer Weiterentwicklung bedarf. Wichtig ist ferner, dass sich das Konzept Mediatisierung zwar im Handeln der Menschen ansiedelt und dort entspringt, aber in seiner Bedeutung keineswegs auf die Mikroebene reduziert werden darf. Es ändern sich im Verlaufe des derzeitigen Mediatisierungsschubs nicht nur Handlungs- und Beziehungsmuster der Menschen, ihr Bezug zu sich selbst und zu sozialen Gruppen im Zuge von übergreifenden Ökonomisierungsprozessen – hierzu liegen vielfältige Untersuchungen vor. Es ändern sich darüber hinaus auch die Funktionsweisen von Institutionen und Organisationen, von Parteien und Unternehmen, also die Mesoebene in Kulturen und Gesellschaften. Und es verändern sich die Formen sozialer Interaktionen und die Sinnangebote insgesamt, aus denen Kultur und Gesellschaft bestehen, wie oben in Bezug auf Geertz und in der Folge Musner und Lindner bereits referiert wurde. Und diese Entwicklungen bleiben dementsprechend auch nicht auf der Ebene nationaler oder politischer Begrenzungen bestehen – erst dadurch werden Prozesse wie Globalisierung in ihren verschiedenen Phasen möglich und wirken umgekehrt die sozialen Metaprozesse auf den Menschen als kulturelles und gesellschaftliches Wesen zurück, etwa sein Handeln, seine Ausdrucksformen und seine sozialen Beziehungen. Wir gehen dementsprechend insgesamt davon aus, dass sich „Medienhandeln“ nur angemessen in Verbindung mit den damit verbundenen alltagskulturellen (Deutungs-)Praktiken erfassen lässt. Da Medienwelten immer stärker zu Alltagsumwelten werden, d.h. dass sich soziales Handeln immer mehr in Reaktion auf Medien und im Rahmen von und durch Medien mitgestalteten Umwelten ergibt, ist soziales Handeln in der Medienkultur heute ohne Bezug auf den Metaprozess Mediatisierung nicht zu verstehen.
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2.2 Kultur als Praxis Wie Udo Göttlich (2006) mit seiner Arbeit zur Kreativität des Handelns in der Medienaneignung zeigt, hat sich Handlungstheorie in der (deutschsprachigen) Publizistik- und Kommunikationswissenschaft im Rahmen einer Modell- und Konzeptbildung in vieler Hinsicht auf die Vorstellung von einem rationalen Akteur und einem intentionalen Handlungsbegriff gestützt, der den von der Mediatisierung ausgehenden Veränderungen medienbezogener Alltagspraktiken nicht gerecht werden kann (vgl. Göttlich 2006: 30). Allerdings haben sich die Hauptbemühungen dieser Diskussion bisher eher darauf konzentriert, gegen einen verhaltenstheoretisch objektivierten Handlungsbegriff einen Handlungsbegriff aufzubauen, der Handeln an den subjektiven Sinn des Handelnden bindet (vgl. hierzu auch Krotz 2005). Einen – freilich rational verkürzten, wie Göttlich betont – Ausgangspunkt dafür setzt Max Weber (1978), an dessen Konzept dann aber symbolisch-interaktionistische und phänomenologische Handlungsbegriffe im Sinne von Alfred Schütz (1971) bis hin zu Berger und Luckmann (1980) anknüpfen können. Diese Diskussionen und Entwicklungen sind aber bisher nur ansatzweise geführt, was auch daran liegt, dass weder die Soziologie noch die Cultural Studies hier überzeugende Konzepte vorgelegt haben. Das vielleicht zentrale Thema der Cultural Studies ist das Verhältnis von Kultur, sozialer Praxis und Macht, gemeinsam ist ihnen ein Interesse an kulturellen Texten, an gelebter Erfahrung, an der artikulierten Beziehung zwischen Texten und Alltagsleben und damit auch Bedingungen kritischer Handlungsfähigkeit. Kultur als soziale Praxis betont im Rahmen der Cultural Studies die Handlungsmöglichkeiten der Akteure, ihre Kreativität und ihr Widerstandspotenzial. Die darin angelegte Verkürzung hat VertreterInnen der Cultural Studies wie John Fiske (z.B. 1987) einerseits den Vorwurf eingebracht, ein allzu rosiges Bild des aktiven Rezipienten zu malen und die sozialen und materiellen Wurzeln der Handlungspraxis aus dem Blick zu verlieren. Andererseits kann gegenüber Studien wie beispielsweise der von David Morley (1980) hinsichtlich des dahinterstehenden Handlungsbegriffs die Kritik formuliert werden, primär bezogen auf die gesellschaftliche Struktur zu argumentieren (vgl. Krotz 1998). Morley untersuchte bereits konstituierte Gruppen, die er wegen ihres Klassenhintergrundes ausgewählt hatte, in institutionellen Settings. Damit unterstellte er, dass die Handlungssituation im Grunde gleichgültig ist, weil sich die gesellschaftliche Lage des Individuums etwa in Aneignungsprozessen prinzipiell durchsetzt. Im Anschluss an Gramsci, Althusser, schließlich auch Foucault und Stuart Hall zeichnen sich Diskussionen unter den VertreterInnen der Cultural Studies aber durchaus auch durch eine Zurückweisung der Behandlung ausschließlich polit-ökonomischer Fragen aus. Kultur wird verstanden als Prozess, in dem aus der Interaktion zwischen historisch gegebenen Bedeutungen und individuell bzw. in Gruppen eigensinnig geschaffenen Bedeutungen neue Sinnrahmen entstehen (vgl. z.B. Grossberg/Wartella/Whitney 1998: 19). Dies bleibt dann aber
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hinsichtlich des Handlungsbegriffs theoretisch unbefriedigend, insofern das eigentliche Problem gar nicht darin besteht, abstrakt zu definieren, was als kreatives Handeln und Widerstandshandeln bezeichnet werden soll, um danach empirisch feststellbares Handeln zu klassifizieren. Widerstandshandeln kann nur in spezifischen historischen und kulturellen Zusammenhängen als Relation bestimmt werden. Es verlangt also letztlich eine Klärung des spezifischen, kulturell vermittelten und jedenfalls situationsübergreifenden Zusammenhangs zwischen Individuum und Gesellschaft und diese kann sich weder auf Intentionen und individuelle Relevanzsysteme beschränken, noch diese einfach ignorieren. Ebenso muss geklärt werden, auf welcher Ebene gegen was Widerstand ausgeübt wird: Ein und dieselbe Handlung kann Widerstand bedeuten oder auch nicht, in Abhängigkeit von der Genauigkeit und der Breite, mit der eine derartige Handlung analysiert wird – sofern man nicht einen situationsunabhängigen, rational begründeten Widerstandsbegriff annimmt, was die Cultural Studies gemessen an ihren eigenen Ansprüchen wohl kaum tun können.15 Und im Falle einer Suche nach Kreativität wäre mindestens das Verhältnis von Kreativität und Nicht-Kreativität zu verhandeln. Tatsächlich werden soziale Handlungsmuster und -stränge ja nicht täglich neu erfunden – „Praktiken stützen sich auf Repertoires, denn wir beginnen sie nie von Grund auf. Praktiken sind Anwendungen von bereits bestehenden Möglichkeiten, sind wiederholendes Entfalten, sind immer wieder Neuaneignungen von bereits Vorhandenem“ (Hörning 1999: 96). Noch weitergehend lässt sich argumentieren, dass jede Sozialisation vor allem und in erster Linie als die Entwicklung von Gewohnheiten, Gebräuchen, Sitten und Regeln verstanden werden kann, in denen der Mensch als Teil von Kultur und Gesellschaft zu sich selbst wird: Beispielsweise sind wir, wenn wir auf die Welt kommen, dazu ausgerüstet, Sprache zu erwerben und darauf angewiesen, Sprache zu erwerben, aber welche Sprache wir erlernen, hängt von unserer Umwelt ab, geschieht durch Beobachtung und Aneignung vorhandener Strukturen und damit verbundener sozialer Situationen, zu großen Teilen auch in einem sich wandelnden Alltagsprozess (vgl. Krotz/Thomas 2007). Erst vor diesem Hintergrund und Kontrast werden etwa innere Dialoge zur Entscheidungsfindung oder kreative Handlungen möglich; sie sind stets Modifikationen dessen, was ist. Der Mensch kann also als gewordenes, habitualisiertes Wesen verstanden werden, das aber im Prinzip immer die Möglichkeit behält, seine Handlungsweisen zu hinterfragen und zu überwinden, wenn auch immer auf der Basis habitualisierter Strukturen. Ein drittes und bisher nicht angesprochenes Problem ist, ob die damit berücksichtigten Fragestellungen hinreichend sind für eine Analyse, Beschreibung und Konzeption dessen, was soziales Handeln, was soziale Praktiken sein könnten. Hier wäre beispielsweise auf das praktische Bewusstsein von Anthony Giddens’ Strukturationstheorie hinzuweisen und auf die Überlegungen zum Handeln, die Pierre Bourdieu vorgelegt hat – hierauf kann aber an dieser Stelle nur 15 Ansätze einer Diskussion derartiger Fragen finden sich bei Krotz (1998).
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hingewiesen werden. Immerhin werden wir jedoch im nächsten Teilkapitel (3) einige Überlegungen zum Zusammenhang von Medien und Alltag rekapitulieren. Insgesamt plädieren wir aus dem kommunikationswissenschaftlichen Interesse an sozialem Handeln in der Medienkultur für einen Handlungsbegriff, der sich nicht auf individualistische Theorien des Handelns aus Eigenschaften, Zielen oder Absichten einzelner Individuen stützt, sondern die einzelne Handlung als Teil von kollektiven Handlungsgefügen und als soziale Praktiken betrachtet (vgl. Hörning 2001: 162), der zugleich auch nicht von einem Homo Clausus, wie es Norbert Elias beschreibt, einem Robinson in der Gesellschaft ausgeht, sondern an einem sozialisierten Mensch ansetzt, der in und durch Kultur und Gesellschaft existiert.
3 Alltagshandeln in der Medienkultur Wie wir gesehen haben, spielen Medien für die Alltagskultur eine zentrale Rolle, denn sie sind der im Alltagsleben ohne Weiteres verfügbare und umfassend genutzte Zugangsweg, über den kulturelle Praktiken als Ressource für individuelle Orientierung und Sinngebung vermittelt werden – „Mediengebrauch ist kulturelles Handeln im Alltag und für den Alltag“ (Weiß 2003: 25). Vor diesem Hintergrund schlagen wir zunächst eine Konkretisierung des Begriffs „Alltag“ vor (3.1) – auch hier machen wir deutlich, dass Alltag in einer Medienkultur ohne eine gesellschaftliche Kontextualisierung kaum zu verstehen ist. Anschließend veranschaulichen wir die Produktivität einer solchen Konzeptualisierung von Alltag anhand exemplarisch ausgewählter Forschungsperspektiven, die teilweise – ganz entgegen der Einführung des Begriffs Medienkultur als Gegenbegriff zur Kulturindustrie – durchaus produktiv Kritische Theorie(n) aufgreifen und weiterentwickeln (3.2).
3.1 Alltag als spezifischer Handlungsmodus Alltag, so haben wir andernorts ausführlicher begründet (Krotz/Thomas 2007), kann verstanden werden als spezifischer, durch Unmittelbarkeit gekennzeichneter Modus sozialen Handelns, der sich nicht auf einen einzelnen zusammenhängenden Lebensbereich bezieht, sondern im Hinblick auf ganz unterschiedliche praktische Probleme wirksam ist. Diese Auffassung basiert auf einer Auseinandersetzung mit Konzepten des Alltags, der in kommunikationswissenschaftlichen Debatten häufig als etwas verstanden und gebraucht wird, das quasi ahistorisch und außerhalb der von Machtstrukturen geprägten Gesellschaftssphären stattzufinden scheint.
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Zwei grundlegende Bestimmungsstücke von Alltag sind mit unserer hier vertretenen Auffassung formuliert, die wir kurz ansprechen: Zum einen kann Alltag nicht als von anderen getrennter Bereich sozialen Handelns verstanden werden; zum anderen wird dadurch die Notwendigkeit einer gesellschaftlichen Kontextualisierung dieses Konzepts deutlich. Alltagshandeln bildet eine Voraussetzung für Handeln in anderen Sinnsphären, u.a. weil man die Regeln dieses Alltags doch immer wieder in irgendeiner Form in andere Lebensbereiche mitnimmt, auch wenn sie da nicht ohne Weiteres gelten: Alltag ist in seiner Genese wie in seinen Konsequenzen nicht für sich zu verstehen. Bezogen auf den zweiten Punkt sei darauf verwiesen, dass Alltag einen Handlungsmodus darstellt, „der so selbstverständlich und unmittelbar ist, dass er (vielleicht genau deswegen) den Betreffenden meist nicht ohne Weiteres zugänglich ist“ (Voß 2000: 36) – entsprechend wird der Begriff Alltag gelegentlich auf die knappe Formel „Kultur im Modus des Subjektiven“ (Oldörp 2001: 75) gebracht. Allerdings kann subjektiv u.E. in diesem Zusammenhang keineswegs mit ‚der Erfahrung unmittelbar zugänglich‘ gleichgesetzt werden. Eine weitere konstitutive Besonderheit von Alltag besteht somit darin, von Herrschaftsprozessen durchzogen zu sein; insofern muss Selbstverständlichkeit/Unmittelbarkeit als Kriterium subjektiver Konstruktion von ‚Alltag‘ in der empirischen (Re-)Konstruktion von Alltag gesellschaftstheoretisch reflektiert werden. Alltag ist deshalb immer historisch-kulturell bestimmt und darf nicht als herrschaftsfreier Raum begriffen werden, in dem sich Individualität verwirklichen und Subjektivität ohne Weiteres bestätigen kann (vgl. Mörth/Ziegler 1990: 88). Als Modus sozialen Handelns dient „Alltag“ als Bezugsrahmen, in dem die Menschen unter ihren Lebensbedingungen Wandlungsprozesse bewältigen, wobei sich dieser Bezugsrahmen durch den bereits eingeführten allgemeinen Metaprozess Mediatisierung aber ebenfalls wandelt. Medien transformieren den Alltag der Menschen nicht nur im anfänglichen Prozess der Aneignung, sondern darüber hinaus kontinuierlich weiter über Inhalte und Kommunikationsformen. Über die medialen Potenziale treten Kultur, Gesellschaft, Kapitalismus16 auf neue Weise in den Alltag ein und bilden die Basis für neue Bedeutungsgenerierungen und neue Zwänge. Unter Berücksichtigung der Reziprozität dieser Prozesse lässt sich u.E. (vgl. Krotz/Thomas 2007) präziser erkennen und beschreiben, wie sich die Rezeption medialer Inhalte, Kommunikationsformen, damit zugleich menschliche Selbstverständnisse und Subjektivierungsprozesse in einem westlichen, postindustrialisierten Alltag, in dem Medienkultur, -gesellschaft und Kapitalismus vermittelt werden, verändern (können).
16 Die damit verbundene Unterstellung ist, dass mediatisierte Kommunikation heute immer technisch vermittelte Kommunikation ist, die spezifische Geräte braucht. Der Prozess der Mediatisierung von kommunikativem Handeln ist deshalb faktisch immer auch ein Prozess, der die kommunizierenden Individuen in die Marktwirtschaft hineinzwingt. Das gilt erst recht, wenn es sich um Geräte handelt, für die im weiteren Sinne Nutzungsentgelte anfallen, weil man ein Netz beansprucht, DVDs kaufen oder leihen muss etc.
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3.2 Alltagshandeln in Medienkulturen: Fragestellungen und Perspektiven gesellschaftstheoretisch fundierter Medienanalysen In der deutschsprachigen Kommunikations- und Medienforschung lässt sich beobachten, dass in Analysen der kommunikativen Prozesse wieder eine Verbindung zu Alltagserfahrungen und -handeln einerseits und allgemeinen gesellschaftlichen Umbrüchen andererseits gezogen wird. Exemplarisch lässt sich dies mit Blick auf Analysen aktueller medialer Unterhaltungsformate und Rezeptionsweisen zeigen (vgl. z.B. Seifried 1999; Sauer 2001; Bernhold 2002; Klaus 2006). Gerade Formaten des Hybridgenres Reality TV (vgl. dazu Klaus i.d.B.) wird hinsichtlich ihrer Anschlussfähigkeit an Alltag eine besondere Relevanz für den Alltag ihrer RezipientInnen zugesprochen. Udo Göttlich (2004) beschreibt sie explizit als Formen zunehmender Alltagsthematisierung und -dramatisierung. Reality TV „minimizes its representational function and maximizes its injection into the world“ betont Jack Bratich (2006: 66) und verweist auf eine Entwicklung, auf die Angela Keppler schon 1994 mit ihrer Unterscheidung von ‚narrativem‘ und ‚performativem‘ Reality-TV hingewiesen hat. Insbesondere Fernsehformate des Makeovers von häuslicher Umgebung, Lifestyle, Körper, Beruf oder gesamter Lebensumgebung bringen für ZuschauerInnen als auch TeilnehmerInnen an der Produktion ‚wirkliche‘ Veränderungen mit sich; entsprechend greift Eggo Müller (2005: 9) einen Begriffsvorschlag von Steve Spittle (2002: 58) auf und führt die Bezeichnung „transformatives LifestyleFernsehen“ ein. Foucaults Arbeiten zur Gouvernementalität sind zur Untersuchung der Formate des Reality-TV aufgegriffen, auf Medienangebote bezogen und auf Mediengebrauch als Selbstpraktiken, spezifischer als Elemente der Selbstführung übertragen worden. In diesen Medienanalysen rückt die wechselseitige Konstitution und Kopplung von Machttechniken, Wissensformen und Subjektivierungsprozessen in den Mittelpunkt, und es wird untersucht, wie politische und ökonomische Bedingungen medial vermittelt werden und Menschen im Alltag bestimmte Rationalitäten nahelegen, die sie verinnerlichen und selbsttätig realisieren sollen. Interpretieren wir Medienrezeption und ihre Wirkung aber nicht nur als Kultivierung, Normalisierung und Verinnerlichung von Subjektanrufungen, dann müssen wir präzisere Annahmen über handlungstheoretische Konzepte und die gegenwärtigen Vergesellschaftungsmodi entwickeln, um der Vielschichtigkeit und Widersprüchlichkeit sozialer Praktiken eher Rechnung tragen zu können (zur Diskussion einer an den Studien zur Gouvernementalität orientierten Medienforschung vgl. u.a. Thomas/ Langemeyer 2007). Dies kann als eine Herausforderung an eine Medienanalyse im Anschluss an Foucault formuliert werden. Medien transformieren den Alltag der Menschen aber nicht allein über Inhalte und Kommunikationsformen in Prozessen der Aneignung. Die Aneignung und Nutzung eines neuen Mediums geht an Menschen nicht spurlos vorbei, sie übernehmen neue Rollen und kommunizieren auf neue Weise – sie verändern
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sich also in ihrer sozialen und kulturellen Orientierung und Einbettung und in ihrem Selbstverständnis: Dies demonstrieren beispielsweise Arbeiten zur Bedeutung des Fernsehens für die Subjektkonstitution (vgl. Hickethier 2007) ebenso wie Untersuchungen zur Bedeutung des Mobiltelefons hinsichtlich der Veränderungen der sozialen Praktiken des Kommunizierens (Dietmar i.d.B), die u.a. bezogen auf die Aushandlung von Geschlechterrollen in anderen kulturellen Kontexten (vgl. Peil 2007) sicherlich instruktive neue Kenntnisse über soziales Handeln in Medienkulturen hervorbringen wird. Sich schließlich etwa dem alltäglichen Gebrauch digitaler Medien unter der Perspektive einer Hinwendung zu Alltagshandeln in Medienkulturen zuzuwenden und auch in Verbindung mit Subjektivierungsprozessen zu betrachten, kann als eine weitere Herausforderung beschrieben werden. Gerade mit den IuKTechnologien und der damit verbundenen Medienkompetenz, so argumentierte schon vor Jahren Kirchhöfer (2000: 25), erfahre die Selbstorganisation des Individuums eine enorme Aufwertung. Entsprechende Untersuchungen wären produktiv zu kontextualisieren durch Bezug auf die in aktuellen gesellschaftlichen Diskursen dominant proklamierten Vorstellungen von Selbsterfahrung, -steuerung, -organisation und -sozialisation (vgl. dazu z.B. Bröckling/Krasmann/ Lemke 2000; Thomas 2007).
4 Ausblick „Film, video, music, TV, the internet – these are now the global channels for experiencing cultural activities on-demand“, mit diesen Worten wirbt der Verlag Blackwell auf dem Einband der 2007 erschienenen Publikation von James Lull „Culture-on-demand“. Der Untertitel „Communication in a Crisis World“ verweist einerseits auf bestehende Macht- und Herrschaftsverhältnisse und damit auch auf das Spannungsfeld, durch das (Medien-)Kultur immer schon doppelt bestimmt wird: „einmal als Medium der Macht, da kulturelle Weisen des Selbstverständnisses und der Realitätskonstruktion von sozialen Machtpraktiken durchdrungen sind, und zugleich als Medium der Ermächtigung, weil allein Praktiken der Selbstreflexion und Selbstinterpretation der abstrakten Idee von Autonomie Gehalt geben können, und weil das Subjekt, um sich autonom realisieren zu können, einen kulturellen Kontext von Chancen der Selbstverwirklichung voraussetzen muss“ (Kögler 2007: 81).
Zudem wird angedeutet, dass Kultur, Kommunikation und Medien als die grundlegenden Konzepte angesehen werden können, die derzeit, so konstatiert auch Sandbothe (2003: 257), nicht nur „weite Teile der geistes- und sozialwissenschaftlichen Forschung prägen und zum Teil neu strukturieren“, sondern maßgeblich auch das Alltagsleben und -handeln in den westlichen Industriegesellschaften. Wie das Konzept „Medienkultur“ wissenschaftstheoretisch hinsichtlich seines Potenzials zur Generierung oder Verschiebung von Fragestellungen beitra-
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gen, zugleich aber auch gesellschaftsdiagnostisch hinsichtlich der Strukturierung sozialer Praktiken und damit der (Re-)Produktion gesellschaftlicher Verhältnisse und als Reflexionsbegriff mit Blick auf die Veränderung von Selbstund Weltverhältnissen verstanden werden kann, haben wir nur skizzieren können. Deutlich sollte aber geworden sein, dass diese Perspektiven nur analytisch zu trennen sind. Ihre Verwobenheit haben wir gezeigt mit Blick auf kommunikations- und medienwissenschaftliche Fragestellungen angesichts der Mediatisierung von Alltag, Identität, sozialen Beziehungen, Kultur und Gesellschaft. Diese Prozesse sind eingebunden in eine ‚Rückkehr der Unsicherheiten‘ in einer deregulierten Marktgesellschaft, die auch zu einer Wiederbelebung des Interesses an dem wechselseitigen Ineinandergreifen von Normierung einerseits und der Entwicklung von Freiheitsmomenten andererseits führt, welches Kultur immer schon auszeichnete (vgl. Prokop 2003: 16f.). Hinsichtlich des kultur- und kommunikationswissenschaftlichen Diskurses werden wir derzeit durchaus Zeugen eine Wiederbelebung der Kritischen Theorie (vgl. Becker/Wehner 2006; Winter/Zima 2007) als auch einer Diskussion um die Weiterentwicklung kritischer Theorien, die dabei auch die Traditionslinien der Cultural Studies aufgreifen und explizit auf Analysen und Kritik der „Medienkultur“ bzw. „Mediengesellschaft“ zielen (vgl. Adolf 2006; Kleiner 2006). Gerade also vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Metaprozesse, die mit den Begriffen Globalisierung, Individualisierung, Mediatisierung und zunehmend auch Ökonomisierung des Sozialen beschrieben werden, können von gesellschaftstheoretisch fundierten Analysen sozialer Praktiken in der Medienkultur neue Erkenntnisse erwartet werden. Dazu leistet auch der vorliegende Band einen Beitrag.
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Kultureller und gesellschaftlicher Wandel im Kontext des Wandels von Medien und Kommunikation Friedrich Krotz
Wir leben in einer Welt, die sich in den letzten Jahrzehnten mehr entwickelt hat, als wir uns retrospektiv erinnern. Viele der Veränderungen haben etwas mit dem Wandel der Medien, mit Digitalisierung, mit dem Zusammenwachsen von Computer, Telekommunikation und klassischen Medien, mit den immer neuen medialen Angeboten zu tun, die wir erleben. Mit diesem Wandel beschäftigt sich der vorliegende Text. Der Text1 betont insgesamt die Bedeutung von Kommunikation als kommunikatives Handeln der Menschen: Sein hoch differenziertes Kommunikationsvermögen und seine Sprache charakterisieren den Menschen als einzigartig – ohne sie gäbe es ihn als Gattung wie als Wesen mit einer Biographie und einer Vorstellung von der Welt nicht. Nicht, dass nicht auch Tiere kommunizieren können. Aber bei ihnen ist das, was sie wahrnehmen, meist sofort mit Verhaltensanweisungen gekoppelt. Sie können weder lügen noch spotten oder ironisch argumentieren. Und wenn auch bei Primaten oder anderen Tieren Symbolbildungsprozesse beobachtet werden können, so bleiben sie dennoch auf einem im Vergleich zu den Menschen niedrigen Niveau. Wie Kommunikation funktioniert, skizziert dementsprechend der erste Abschnitt. Dann geht es um die Rolle der Medien als Instrumente einer Modifikation von Kommunikation, um die uns heute zur Verfügung stehenden Typen mediatisierter Kommunikation und um die Bedeutung der Medien für das Zusammenleben der Menschen, für Kultur und Gesellschaft. Wenn diese Grundlagen geklärt sind, können wir den Wandel in den Blick nehmen: Wir definieren dazu den Begriff des Metaprozesses und zeigen, wie man Globalisierung, Individualisierung und Mediatisierung heute als Metaprozesse begreifen kann, die uns helfen, den sozialen und ökonomischen, den kulturellen und medialen Wandel einzuordnen. Schließlich beschäftigen wir uns detaillierter mit dem Metaprozess Mediatisierung, zeigen einige der damit verbundenen Entwicklungen auf und gehen der Frage nach, was denn nun zu geschehen hat.
1 Um diesen Text zu schreiben, habe ich eine Reihe früherer Texte zum Thema „Mediatisierung“ zusammengeführt und mit meinem heutigen Wissensstand überarbeitet bzw. mit neuen Überlegungen erweitert. Der Text enthält dementsprechend aber auch einige Passagen, die bereits anderswo publiziert wurden.
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1 Kommunikation als soziales Handeln Kommunizieren ist eine Form sozialen Handelns. Damit ist es ein sinngeleitetes Handeln, wie Max Weber (1978) diesen Begriff konzipiert hat. Als Grundform des Kommunizierens können wir uns ein mit Gesten begleitetes Gespräch zwischen zwei Menschen vorstellen, die sich face-to-face in der gleichen Situation miteinander unterhalten. Dann wissen wir: Kommunizieren geschieht mit einer spezifischen Absicht, und die Menschen sind aktiv daran beteiligt. Kommunikation funktioniert dabei über Symbole (und die Fähigkeit, Symbole zu produzieren und zu interpretieren, ist eine der wesentlichen Besonderheiten der Menschen): Der eine spricht bzw. produziert sinnvoll gemeinte Symbole, der andere registriert sie als sinnvoll gemeint und versucht, sie zu verstehen oder zu interpretieren, und dann eine Antwort zu entwickeln – in derartigen Verkettungen entwickelt sich ein Gespräch. Nehmen wir einen spezifischen, besonders komplizierten Fall von Kommunikation: Person A hat Rückenschmerzen und bittet Person B, ihr den Rücken zu massieren. Person A will dazu Person B zeigen, wie das am Besten zu tun ist. Person A fasst also Person B am Rücken so an, wie Person B dann Person A behandeln soll, A teilt B damit mit, wie B dann Person A massieren soll. Person B ist dann, wie wir wissen, in vielen Fällen tatsächlich in der Lage, Person A so zu massieren, wie A das erwartet bzw. braucht. Wenn Person A Person B anfasst und vorführt, wie A von B massiert werden will, so handelt es sich offensichtlich um eine Mitteilung, also eine Form der Kommunikation. Die darauf erfolgende eigentliche Massage, die B dann A erteilt, ist gewissermaßen die Antwort von B an A, anhand derer A feststellen kann, ob B die Anweisung richtig verstanden hat. Wie kann das aber eigentlich funktionieren? Person A weiß zunächst ja eigentlich nur, wie sie massiert werden will und wie sich das an ihrem Rücken anfühlen soll. Wenn sie das B zeigt, also mitteilt, teilt sie aber nicht das Gefühl mit, sondern behandelt B so, dass B das fühlt, was hinterher A fühlen will, und zwar, indem sie B den Rücken massiert. Insofern liegt in dieser anweisenden Kommunikation ein Rollentausch verborgen, weil A B vorführt, was zu tun ist. Dazu muss A natürlich eine erhebliche und komplexe Leistung vollbringen, nämlich sich vorstellen, wie er B massieren soll, damit B etwas fühlt, was B dazu bewegt, danach A so zu massieren, wie A das dann fühlen will. A muss B genauer gesagt sogar so massieren, wie A sich vorstellt, dass man den Rücken von B anfassen muss, damit B nicht nur genau die Gefühle hat, wie A sie sich für sich vorstellt, sondern so, dass die Erfahrung, die B macht, B bewegt, A so anzufassen, wie A es dann fühlen will. Dazu muss sich A in die Person B einfühlen, um seine Sicht der Dinge zu verstehen und um sich auf dessen Sicht der Dinge einzustellen. Auch umgekehrt ist ein erhebliches Maß an Einfühlung durch B notwendig, damit das alles klappt: Kommunikation ist kompliziert, sie funktioniert immer nur ansatzweise und das, was jemand versteht, muss in vielen Fällen korrigiert werden. Dazu ist ein Gespräch gut, an dem sich die Men-
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schen wechselseitig beteiligen, weil man oft erst an der Antwort merkt, ob man richtig verstanden worden ist. Erst wenn B den Rücken von A massiert, weiß A, dass und inwieweit seine Mitteilungen angekommen sind – er ist entweder zufrieden oder kann es erneut vorzuführen versuchen. Gelingende Kommunikation dieser Art ist offensichtlich also ohne Einfühlung unmöglich, weil der Transfer von Gefühlen und Bedeutungszuweisungen nicht so stattfinden kann, wie es in einem solchen Fall wie eben skizziert notwendig ist. Ein Gespräch, so lernen wir aus diesen Überlegungen, ist also ein wechselseitiger Prozess, der in seinen einzelnen Phasen auf Einfühlung beider Beteiligter beruht und einer Fortführung bedarf, um das gegenseitige Verstehen weiterzuentwickeln. Soweit Kommunikation also beobachtbar ist, besteht sie aus einer Kette wechselseitig hergestellter Kommunikate, die ihren Sinn dadurch bekommen, dass die Beteiligten sich miteinander verständigen wollen, indem sie sich aufeinander beziehen und sich dazu gegenseitig Symbole anzeigen. In dem Wort „anzeigen“ ist zunächst einmal die wichtige These angelegt, dass Kommunikation als Gespräch eigentlich nicht als Informationstransport verstanden werden kann. Auch wenn Schallwellen in der Luft oder beim Telefonieren elektrische Ströme von einer Person zur anderen laufen und hier tatsächlich eine Art gezielter Transport stattzufinden scheint: Kommunikation besteht darin, dass sich ein Individuum äußert bzw. präsentiert und ein (anderes) Individuum dies als sinnvolle Mitteilung deutet und die präsentierten Aussagen verstehen will. Wie gerade die nonverbale Kommunikation (z.B. Matsumoto 1996) zeigt, geht es dabei um Zeichen, die der Eine – intendiert und unter Berücksichtigung des aktuellen Kontextes – präsentiert und die der Andere als sinnvoll versteht, indem er sie seinerseits kontextualisiert. Transportiert wird dabei nichts, und nicht anders ist es auch, wenn jemand etwas sagt – erst die rahmende Situation, zu der auch die Erwartungen aller Beteiligten gehören, wie die Dinge weitergehen, veranlasst die anderen teilnehmenden Menschen, das Ausgedrückte als etwas an sie Adressiertes zu interpretieren, „das bei ihnen ankommt“. Dass sie es dann verstehen, liegt aber natürlich nicht am geglückten Transport, sondern daran, dass sie dem Gehörten bzw. allgemeiner, dem in der Situation Erlebten (ihren) Sinn und Bedeutung zuweisen und auf dieser Basis dann weiter handeln und kommunizieren. Kommunikation besteht also nicht nur aus beobachtbaren Teilen. Kommunikation als Gespräch setzt vielmehr eine gemeinsame Situationsdefinition aller Beteiligten sowie die (sich abwechselnden) Aktivitäten eines „Sprechers“ und eines „Zuhörers“ voraus. Deshalb gehören zu Kommunikation über das beobachtbare Geschehen von aufeinander folgenden kommunikativen Akten und präsentierten Symbolen hinaus komplexe innere Prozesse bei allen Beteiligten, für die wir beim Zuhörer Ausdrücke wie „Verstehen“, „Interpretieren“ oder „Kontextualisieren“, beim Sprecher Ausdrücke wie „Beabsichtigen“, „Zum Ausdruck bringen wollen“, „Darstellen“ oder „Zuschreiben“ verwenden.
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Diese inneren Prozesse, ohne die keine Kommunikation möglich ist, die aber auch nicht unmittelbar beobachtet werden können (und die jedenfalls von der Metapher des Informationstransports nicht erfasst sind), müssen wir uns als eine Art inneren Dialog der Beteiligten mit sich selbst vorstellen, wo wir zum einen unsere eigene Rolle als Zuhörer haben, zum anderen uns aber auch vorstellen müssen, was der andere uns sagen will: „Our thinking is an inner conversation in which we may be taking roles of specific acquaintances over against ourselves, but usually it is with what I have termed the ‚generalized other‘ that we converse, and so attain to the levels of abstract thinking, and that impersonality, that so-called objectivity we cherish“,
so George Herbert Mead (nach Burkitt 1991: 41). Mit anderen Worten: Wer verstehen will, muss sich im Rahmen der gegebenen Situation imaginativ in den anderen hineinversetzen und dessen Rolle in der eigenen Vorstellung übernehmen, um dann in inneren Dialogen rekonstruieren zu können, was der andere mit seinen Äußerungen verbaler oder nonverbaler Art gemeint hat (vgl. Krotz 2001a). Denn was wir hören, ist ein Satz, aber was der Sprecher mit diesem Satz meint, ist über den gesprochenen Satz alleine nicht feststellbar; der Sinn eines Satzes ergibt sich aus dem Kontext, in dem der Satz gesprochen wird. Auch das wird am Besten aus einem Beispiel klar: Wenn jemand hinter uns „Hände hoch“ sagt, so werden wir im Fasching von Köln damit anders umgehen als bei einer Terroristenkontrolle auf dem Flughafen, wir werden auf eine Kinderstimme anders reagieren als auf eine Männerstimme, die vielleicht mit ihrem ausländischen Akzent Ängste und Vorurteile bei uns aufgreift, und wenn wir den Sprecher sehen, werden wir auch die Art der Pistole, die uns umgebende Situation und dergleichen berücksichtigen – das alles aber nicht nur, um eine Reaktion planen zu können, sondern um zunächst einmal herauszufinden, wie die Aufforderung gemeint war. Die zentrale Frage ist in einer derartigen Situation – und damit in jeder Situation: Wenn der andere in der gegebenen Situation „Hände hoch“ sagt – was hat er damit genau gemeint? Diese Frage kann man – insbesondere wenn man den anderen nicht kennt, aber auch wenn man ihn kennt – am Besten beantworten, indem man sich in ihn hineindenkt, indem man seine Perspektive probeweise und imaginativ übernimmt, indem man sich von seinem Standpunkt und seiner Rolle aus überlegt, was es wohl heißt und welche Intentionen man hat, wenn man so etwas sagt. Wenn wir bis dahin das face-to-face-Gespräch und zugleich nonverbale Kommunikation als Muster von Kommunikation skizziert haben, so können wir nun die Behauptung aufstellen, dass jede andere, und insbesondere jede mediatisierte Kommunikation so ähnlich funktioniert und insbesondere eine Ableitung dessen ist, was wir als face-to-face-Kommunikation gelernt haben. Beim Telefonieren ist das Gespräch technisch vermittelt und gleichzeitig weitgehend auf Sprache verkürzt, mit dem Morsealphabet oder mit Buchstaben werden Worte aus ganz unterschiedlichen Gründen durch andere Symbole ausgedrückt, beim Buch schreibt der Kommunikator erst alles hin, was der Leser dann insgesamt
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liest usw.: Jede medienvermittelte Kommunikation ist die Modifikation eines Gesprächs und nur deshalb können wir mit und mittels Medien kommunizieren. Um das einzusehen, müssen wir uns nun damit beschäftigen, was Medien sind.
2 Medien Merkwürdigerweise verfügt die Kommunikationswissenschaft über keinen konsensuellen Medienbegriff, wie der Reader von Pias u.a. (1999) bzw. in die Kommunikationswissenschaft einführende Texte wie etwa der von McQuail (1994) zeigen. Manchmal wird scheinbar pragmatisch von publizistischen oder von Kommunikationsmedien gesprochen und damit das bezeichnet, was die Massenkommunikationsforschung untersucht, nämlich vor allem Zeitung, Radio und Fernsehen. Das ist begrifflich nicht zufriedenstellend; obendrein gehören nach dieser wie nach vielen anderen Definitionen das Telefon und überhaupt alles, was interpersonale Kommunikation mediatisiert, nicht zu den Medien. Manchmal werden unter Medien die sogenannten symbolisch generalisierten Medien in Anlehnung an Parsons, Habermas oder Luhmann verstanden – darunter fallen Geld, Macht und allerlei anderes, was aber gemeinhin nicht zum Themenbereich der Kommunikationswissenschaft zählt. Ein kommunikationswissenschaftlicher Medienbegriff sollte sich deshalb auf spezifisch für Kommunikation konstruierte Medien beschränken. Manchmal ist statt von Medien auch die Rede von Distributionsapparaten oder Verbreitungsmedien, dazu gehört dann beispielsweise der Telegraph – und hier äußert sich die irrtümliche Ansicht, Medien seien vor allem dazu da, etwas zu transportieren. Aber der Transport von Symbolen, sodass sie der Gesprächspartner überhaupt wahrnehmen kann, hat mit Kommunikation erst einmal nichts zu tun: Die Wahrnehmung von Symbolen, die Tatsache, dass man am Telefon Wörter hört, ist zunächst nichts als eine Vorbedingung und Voraussetzung dafür, dass dann Kommunikation zustande kommt. Denn transportiert werden können nur Zeichen, aber Kommunikation entsteht über die Konstitution von Bedeutungen, die sich zwar auf die Zeichen beziehen, aber sonst mit den Zeichen und deren Transport nichts zu tun haben. Medien sind insbesondere dann auch keine Kanäle. Eine andere immer wieder zu findende Definition von Medien behauptet, dies seien alle „technological extensions“ (Real 1989: 19) des Menschen. Dies geht unter anderem auf McLuhan (1992; vgl. auch Krotz 2001a) zurück: Danach ist aber auch ein Auto ein Medium, insofern es die menschlichen „Organe“, in diesem Fall die Füße, erweitert und die Fortbewegung perfektioniert: Es vermittelt zwischen Raum und Individuum. Wir nähern uns hier dieser Frage von der folgenden Position aus: Die Kommunikationswissenschaft beschäftigt sich mit der differenzierten menschlichen Kommunikation und dem davon ableitbaren kommunikativen Handeln der Menschen. Ein Medium (als Gegenstand von Kommunikationswissenschaft) ist dann
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ein technisch begründetes und sozial institutionalisiertes Verfahren einer Transformation kommunikativen Handelns, insofern darüber weitere Kommunikation erzeugt wird und insoweit dabei das komplexe Potenzial menschlichen Kommunizierens erhalten bleibt. Medien, wie sie die Kommunikationswissenschaft betrachtet, haben also etwas mit Technik zu tun, insofern sie Kommunikate transformieren: Sie müssen mediengerecht aufbereitet werden, damit sie den Rezipienten angeboten werden können. Medien sind gleichzeitig aber auch über das Handeln der Menschen in Kultur und Gesellschaft eingebettet, also institutionalisiert. Sie bedürfen der Kommunikation und sie ermöglichen und erzeugen damit Kommunikation, sonst wären sie keine Kommunikationsmedien. Nur die Medien schließlich sind Gegenstand der Kommunikationswissenschaft, die die Komplexität menschlicher Kommunikation auch angemessen transformieren und ausdrücken können – die Autohupe kann man als Kommunikationsmedium begreifen, sie kann aber schon aus technischen Gründen die Komplexität menschlicher Kommunikation nicht ausdrücken und ist deshalb auch zu Recht nicht Thema der Kommunikationswissenschaft. Wir sprechen dementsprechend also dann von Medien, wenn es sich um menschlich hergestellte technische, zugleich aber auch um sozial institutionalisierte Einrichtungen handelt, die die Komplexität menschlicher Kommunikation zum Ausdruck bringen können, die Kommunikate von Menschen und von Institutionen der Interpretation anderer Menschen zugänglich machen und die Teil des etablierten gesellschaftlichen Kommunikationssystems sind. Medien entstehen also einerseits erst durch die Zulieferung von Kommunikaten und sind damit Produkte von Kommunikation. Medien sind andererseits zugleich Ausgangspunkte von Kommunikation, nämlich in der Perspektive der Rezipienten, zu deren symbolischer Umwelt sie gehören. Und schließlich sind Medien Teil eines kulturell und gesellschaftlich zusammenhängenden, intertextuellen, bedeutungsgenerierenden und handlungsrelevanten Kommunikationssystems, das ein Teil von Kultur und zugleich für demokratische Öffentlichkeit wichtig ist. Medien werden dementsprechend hier verstanden als einerseits Inszenierungsmaschinen, über die sich ein Kommunikator ausdrückt, andererseits als Erlebnisräume, in denen die Rezipienten das szenisch erlebte Geschehen in die von ihnen definierten Kontexte einordnen, um es zu verstehen, und schließlich als gesellschaftliche Institutionen, die Inszenierung und Erleben organisieren und seiner Art nach zu garantieren versuchen – Telefongesellschaften, Rundfunkveranstalter und alles, was damit zusammenhängt. Auf der Basis einer derartigen Definition können medial vermittelte Kommunikate dann offensichtlich persönlich wie beim Telefon oder allgemein wie beim Radio adressiert sein. Sie können industriell arbeitsteilig oder aber spontan durch ein Individuum hergestellt werden, sie können standardisiert und nach Regeln aufgebaut wie ein Gedicht oder situativ und individuell kreiert wie eine Liebeserklärung sein. Dementsprechend sind also viele klärende Unterscheidungen möglich.
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Medien sind damit aber keineswegs Kanäle, wie es Lasswell (vgl. McQuail 1994) behauptet hat, oder jedenfalls nicht nur – und gerade, was ihr Besonderes angeht nicht. Natürlich sind sie auch Technik und werden als Technik erfunden – das Fernsehen oder das Pergament. Aber erst da, wo sie eine kulturelle und gesellschaftliche Gestalt erhalten und als Institutionen die Menschen zu Mediennutzern und -rezipienten machen, die vertraut und erwartungssicher damit umgehen, werden Techniken zu Medien. Nicht die Privatschrift, sondern die kulturell geteilte Schrift macht das Gekrakel zu einem Medium. Um von einem Medium sprechen zu können, muss über eine Technik hinaus dreierlei gegeben sein, wenn es sich um ein Medium in der Gesellschaft handeln soll: Das Medium muss als Institution in der Gesellschaft präsent sein und für bestimmte Leistungen garantieren (vgl. zum Begriff der Institution auch Berger/Luckmann 1980), es bedarf standardisierter Inszenierungsroutinen, um das Medium als Inszenierungsapparat zu reproduzieren, der seine eigene, mediale Wirklichkeit herstellt bzw. offeriert, und es muss als ein Erlebnisraum verwendet werden. In einer anderen Perspektive ausgedrückt: Medien erweitern, verändern, gestalten, ermöglichen also Kommunikation – zum Beispiel tut dies das Telefon für Menschen an unterschiedlichen Orten, oder das Fernsehen macht es möglich, dass Millionen Haushalte gleichzeitig etwas Bestimmtes erfahren und dabei wissen, dass auch alle anderen das jetzt wissen können. Sie schaffen erweiterte Kommunikationsgelegenheiten, weil sie neue ‚Gegenüber-Personen‘ individueller, aggregativer oder sonstiger Art in neuen Kommunikationszusammenhängen anbieten, allerdings in einer je medien- und gesellschaftsspezifischen Weise. Sie gestalten folglich Kommunikation, indem Kommunikation in Bezug auf technische und organisatorische Gegebenheiten re-inszeniert wird, und sie verändern Kommunikation, indem sie beispielsweise nur gegen Bezahlung zugänglich sind, je nach Medium nur bestimmte Wahrnehmungskanäle ansprechen – beim Radio eben nur das Ohr, nicht den Tastsinn.
3 Typen mediatisierter Kommunikation und ihre Rolle in der Gesellschaft Damit können wir uns nun wieder dem sozialen, kulturellen und medialen Wandel zuwenden und zumindest ein Resultat festhalten: Im Laufe dieser Entwicklungen differenziert sich Kommunikation immer weiter aus. Ausgangspunkt war das mit Gesten begleitete Gespräch in der face-to-face-Situation, darüber erlernen wir elaborierte Kommunikation, und alle weiteren existierenden Typen von Kommunikation entstehen daraus als Modifikationen. Wir haben beim Aufwachsen auch gelernt, Medien als etwas Selbstverständliches wahrzunehmen – wenn wir Musik hören, sehen wir uns nicht mehr automatisch nach Musikanten um, sondern geben uns mit einem Verweis auf den CD-Player und die Lautsprecher zufrieden. Kinder lernen, dass man Omas
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Stimme am Telefon hören und ihr antworten kann, dass man gleichzeitig aber eine Kassette immer wieder auflegen, ihr aber nicht recht antworten kann etc. Wenn man sich die heute übliche Medienvielfalt ansieht, so kann man sie systematisch eigentlich in drei Typen mediatisierter Kommunikation unterteilen, wenn man die unterschiedlichen alter Egos, die unterschiedlichen kommunikativen Gegenüber des kommunizierenden Menschen berücksichtigt: x Die mediatisierte interpersonale Kommunikation mittels Medien (z.B. per Telefon), in denen eine, wenn auch zeitlich oder räumlich auseinandergezogene, aber doch von den Beteiligten gemeinsam definierte Situation das Geschehen prägt, x Kommunikation mit Medien, die in Produktion, also die Herstellung und Distribution eines Kommunikats und in Rezeption zerfällt. Dafür ist es notwendig, dass die dabei erzeugten Kommunikate von einer Form sind, die wir als standardisiert und allgemein adressiert bezeichnen können, damit sie unabhängig von ihrem Entstehungszusammenhang distribuiert und rezipiert werden können – was immer dann die Rezipienten verstehen bzw. damit machen, und x Interaktive Kommunikation, die weder mit Personen stattfindet noch mit standardisierten Vorprodukten, sondern etwa mit „künstlichen Intelligenzen“ oder Softwareprogrammen z.B. in Computerspielen oder mit Tamagotchis: Die dadurch hergestellten Erlebnisräume haben Eigenschaften, die es vor der Erfindung des Computers nicht gab. Jeder dieser Typen ist erkennbar eine eigentümliche Modifikation interpersonaler face-to-face-Kommunikation. Medien als technische Gegebenheiten und soziale Institutionen verändern also Kommunikation und Erleben der Menschen, und deshalb haben sie für die Gesellschaft eine große Bedeutung. Um ganz exakt zu sein; nicht die Medien verändern Kommunikation und Gesellschaft, sie bieten aber ein Potenzial, das die Menschen benutzen, und infolge dessen konstruieren sie ihre Welt und damit sich selbst anders. Dafür sind Medien wichtig, und deshalb schafft Meyrowitz (1990) den Begriff der Mediumstheorie als „die historische und interkulturelle Untersuchung der unterschiedlichen kulturellen Umwelten, wie sie verschiedene Kommunikationsmedien schaffen“ (ebd.: 46) und deren Konsequenzen; sie versucht, „die Aufmerksamkeit auf die potentiellen Auswirkungen von Medien zu lenken, unabhängig vom jeweiligen MedienInhalt“ (ebd.: 47). Für die zentrale These einer gesellschaftlichen Medienwirkung (die nicht von Inhalten abhängt, sondern durch den Wandel von Kommunikation zustande kommt, der sich ergibt, weil Menschen neue Medien in ihren Alltag integrieren) gibt es empirisch gestützte und plausible begründete Befunde, die allerdings bisher kaum zum Kernbestand der Kommunikationswissenschaft gezählt und nicht hinreichend beachtet wurden: Ong (1995) und Goody/Watt/Gough (1986)
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beispielsweise haben sich mit der Bedeutung der Schrift für Gesellschaft und Denken beschäftigt, Innis hat belegt, wie etwa Papyros als leichtes, transportables Medium zu Gesellschaften passt, die aus militärischen Gründen auf schnellen Transport angewiesen sind, während sich Steintafeln eher für traditional und religiös geprägte Gesellschaften eignen, die ihre Legitimation aus immer länger zurückliegenden Offenbarungen oder Überlieferungen ziehen (vgl. Barck 1997; Giessen 2002). Ong (1995) und Giesecke (1998) haben die Folgen der Druckmaschine und des Lesens untersucht, McLuhan (1992) und Innis (vgl. Barck 1997) allgemeiner die Folgen ganz unterschiedlicher Medien für Kultur und Gesellschaft herausgearbeitet, Meyrowitz (1990) hat gezeigt, wie die Existenz und Nutzung des Fernsehens Determinanten der Beziehungen der Geschlechter zueinander, das Verhältnis der Menschen zu Autoritäten und das Zugehörigkeitsgefühl zu sozialen Gruppierungen beeinflusst. Gesellschaften und ebenso spezifische historische Phasen von Kulturen unterscheiden sich also durch die Art der Medien, die in ihnen benutzt werden oder für sie wichtig sind. Medien als Gesamtheit ändern sich, insofern neue hinzukommen oder insofern bereits vorhandene Medien weiter entwickelt werden und neue Funktionen übernehmen. Für diese historische Entwicklung wollen wir nun wie im Fall von Individualisierung und Globalisierung, Modernisierung und Aufklärung – ohne hier auf trotzdem vorhandene Unterschiede einzugehen – einen Begriff verwenden, nämlich den der Mediatisierung. Bevor wir den genauer einführen, müssen wir uns mit Metaprozessen als Beschreibungsmittel sozialen und kulturellen Wandels beschäftigen.
4 Sozialer und kultureller Wandel: Die Konstruktion gesellschaftlicher Metaprozesse Kultur und Gesellschaft befinden sich nicht zuletzt auch deswegen in einem ständigen Wandel, weil beides menschlich konstituierte und damit immer wieder neu von den Menschen hergestellte Handlungsbereiche sind. Um diesen Wandel begrifflich fassen und theoretisch einordnen zu können, verwenden wir Konzepte wie Individualisierung, Globalisierung oder Mediatisierung. Genauer besehen sind dies allgemeine Konstrukte, unter die wir bestimmte Entwicklungen, ihre Ursachen, Ausdrucksformen und Auswirkungen zusammenzufassen und uns damit die Welt handhabbar machen. Globalisierung beispielsweise besagt allgemein ausgedrückt, dass sich die Wirtschaft zunehmend überregional und überstaatlich ausrichtet (vgl. Hepp/ Krotz/Winter 2005 mit vielfältigen weiteren Literaturangaben). Gemeint ist damit zugleich aber auch eine Vielfalt von davon abhängigen und damit zusammenhängenden Einzelentwicklungen, zum Beispiel im Medienbereich: Medieninhalte und -formate werden heute überall hin verkauft, Kindheit wird in allen industrialisierten Ländern durch Pokemon, SimCity, die Teletubbies und Harry
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Potter geprägt, Medienereignisse wie die Fußballweltmeisterschaft oder die Beerdigung von Lady Diana versammeln hunderte Millionen von Menschen in aller Welt vor den Bildschirmen. All dies sind zugleich Ausdrucksformen und Auswirkungen des Globalisierungsprozesses. Natürlich sind sie nicht auf mediale Bereiche beschränkt, auch komplexere Lebensbereiche der Menschen, ihre sich wandelnde Identität, ihre sozialen Beziehungsstrukturen und die Zivilgesellschaft insgesamt sind davon betroffen, aber Globalisierung findet zweifelsohne auch im Bereich der Medien – als wirtschaftlicher Prozess etwa in der weltweiten Vermarktung von Bildern oder Unterhaltungsformaten – statt. Begriffe wie Globalisierung oder Individualisierung (vgl. Beck 1986) bezeichnen also keine einzelnen Phänomene, deren Existenz wir empirisch überprüfen können, sondern Metaprozesse, die wir behaupten und unterstellen, um die vielfältigen sozialen, kulturellen und ökonomischen Entwicklungen theoretisch zu ordnen und zu begreifen. Dabei können derartige Metaprozesse auf unterschiedlichen gesellschaftlichen Feldern angesiedelt sein: Globalisierung gilt in erster Linie als ökonomisch bedingte Entwicklung, Individualisierung bezeichnet eine sozial bedeutsame kontinuierliche Veränderung und Mediatisierung wird meist als Ursache für kulturellen Wandel begriffen; sie alle wirken sich natürlich aber auch auf die anderen Felder aus. Im Übrigen ist es nichts Neues, dass wir derartige Metaprozesse konstruieren: Christianisierung, Alphabetisierung oder Industrialisierung sind ebenfalls derartige Konstrukte (vgl. hierzu inhaltlich van der Loo/van Reijen (1992) sowie theoretisch Berger/ Luckmann (1980)). Und dass es sich dabei um Konstrukte handelt, besagt natürlich auch nicht, dass sie beliebig sind: Individualisierung, Globalisierung und Mediatisierung setzen an den Erfahrungen der Menschen an und verweisen auf objektiv überprüfbare einzelne Zusammenhänge. Wir denken also die Art sozialen, ökonomischen und kulturellen Wandels in solchen Metaprozessen und können nun genauer auf den medialen Wandel eingehen, den wir als Metaprozess Mediatisierung konzipieren.
5 Der Metaprozess „Mediatisierung“ Konzepte wie Informations- oder Wissensgesellschaft (zur Kritik vgl. Kleinsteuber 1999) postulieren dualistisch ein Vorher/Nachher und sind auch sonst problematisch, wenn es darum geht zu beschreiben, wohin sich Gesellschaft in Abhängigkeit vom medialen Wandel entwickelt. Demgegenüber macht es eher Sinn, einen in der Geschichte der Menschheit schon immer stattfindenden gesellschaftlichen Metaprozess Mediatisierung zu unterstellen und konzeptionell auszuarbeiten: In dessen historischem Verlauf werden immer neue Medien in Kultur und Gesellschaft, in Handeln und Kommunizieren der Menschen eingebettet, werden die Kommunikationsumgebungen der Menschen immer ausdifferenzierter und komplexer, und beziehen sich umgekehrt Handeln und Kom-
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munizieren sowie die gesellschaftlichen Institutionen, Kultur und Gesellschaft in einem immer weiter reichenden Ausmaß auf Medien. Wir postulieren deshalb einen gesellschaftlichen Metaprozess Mediatisierung, der diese Entwicklung, ihre Hintergründe und Konsequenzen in allgemeiner und zugleich konkreter Weise beschreibt, als einen Prozess mit Ursachen, Ausdrucksformen und Auswirkungen, die nur analytisch voneinander getrennt werden können, ebenso wie im Falle von Globalisierung und Individualisierung. Unter dem Prozesskonstrukt Mediatisierung verstehe ich genauer den Prozess sozialen und kulturellen Wandels, der dadurch zustande kommt, dass immer mehr Menschen immer häufiger und differenzierter ihr soziales und kommunikatives Handeln auf immer mehr ausdifferenzierte Medien beziehen. Dieser Begriff x konzipiert offensichtlich Medienentwicklung und ihre Konsequenzen nicht als technisches, sondern als soziales Konstrukt, insofern die sozialen und kulturellen Auswirkungen nicht aus der Technik, sondern aus dem Handeln der Menschen hergeleitet werden, x ist nicht substitutiv gemeint; neue Medien bringen die alten nicht zum Verschwinden, sondern führen zu einer Ausdifferenzierung: Immer mehr und immer spezieller auf spezifische Funktionen eingestellte Medien machen die Kommunikationsumgebungen der Menschen immer komplexer, x bietet sich dementsprechend für eine handlungstheoretische Betrachtungsweise an, die sich vor allem auch deshalb empfiehlt, weil jede Art der Mediennutzung etwas Situativ-Konkretes ist und sich daraus erst gesamtgesellschaftliche Entwicklungsprozesse ergeben, x behandelt die mediale Entwicklung als einen graduellen Prozess, der natürlich in bestimmten Momenten umschlägt, aber den Unfug einer dichotomen Gegenüberstellung zwischen einer Wissens- bzw. Informationsgesellschaft und ihrem logischen Gegenteil, was immer das genau sein soll, vermeidet, x ist breiter angelegt als nur ‚Globalisierung der Medieninhalte‘ und ‚Individualisierung der Mediennutzung‘, umfasst aber diese beiden Teilprozesse, x und erlaubt es also, die medial bedeutsamen Entwicklungen einerseits für sich zu betrachten, andererseits dann Bezüge zu anderen Metaprozessen wie Individualisierung, Globalisierung oder auch Ökonomisierung/Kommerzialisierung herauszuarbeiten. Mediatisierung meint also, dass durch das Aufkommen und durch die Etablierung von neuen Medien für bestimmte Zwecke und die gleichzeitige Veränderung der Verwendungszwecke alter Medien sich die gesellschaftliche Kommunikation und deshalb auch die kommunikativ konstruierten Wirklichkeiten, also Kultur und Gesellschaft, Identität und Alltag der Menschen verändern. Insbesondere beinhaltet Mediatisierung, dass nicht die Medien alleine für Veränderungen von Bedeutung sind, sondern dass es um die Medien in einer spezi-
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fischen Gesellschaft und dementsprechend um spezifisch organisierte Medien geht. Sie werden für Gesellschaft durch das Handeln der Menschen, das sich auf sie bezieht, von Bedeutung. Insofern ist der Prozess der Mediatisierung ein allgemeinerer, auf Kultur und Gesellschaft bezogener Prozess – hier unterscheidet sich der Mediatisierungsansatz von der Mediumstheorie. Seit der Erfindung der Schrift lassen sich historisch immer wieder Mediatisierungsschübe nachweisen, die die soziale Bedeutung von Zeit und Raum veränderten, die sozialen Beziehungen und Normen der Menschen, die Machtkonstellationen, Werte, Traditionen und sozialen Regeln einerseits erodieren ließen, andererseits dafür entsprechende andere Bedingungen von Alltag und Leben schufen (Cooley 1950, ursprünglich 1909). Das Buch im ausgehenden Mittelalter und die Tageszeitung am Beginn der modernen Demokratie, das Radio als Rundfunk an der Front, der Volksempfänger bei den Nazis oder die Fernbedienung in der Konsumgesellschaft, das Fernsehen als Emotionsmaschine, die digitale Vernetzung durch PC und Internet – sie alle haben mal mehr und mal weniger, mal schneller und mal langsamer Kommunikation und Gespräch der Menschen als Basis sozialer und kultureller Wirklichkeit verändert, weil Gesellschaft und Kultur, Denken, Identität und Alltag vor allem auf sozialer Kommunikation beruhen (vgl. Krotz 2001a). Die Frage ist deshalb, wie dieser Mediatisierungsprozess sich generell als Prozess auswirkt bzw. wie und in was für einer Wechselwirkung die verschiedenen Mediatisierungsformen zu Alltag und Identität, Kultur und Gesellschaft stehen. Und die Frage ist, welche Form denn dieser Mediatisierungsprozess heute hat und was das Besondere der Digitalisierung ist. Dies ist das Thema des nächsten Abschnitts, und im Gegensatz zu den Entstehungsgeschichten einzelner Medien in der Vergangenheit werden wir diese Besonderheit als die Entstehung eines zweiten, zusammenhängenden medialen Kommunikationsnetzes beschreiben, das sich nicht auf bestimmte Zwecke und Kommunikationsweisen, Alltagsprovinzen und Intentionen beschränkt wie beispielsweise das Fernsehen als ein Freizeitmedium, sondern das alle Bereiche menschlichen Lebens betrifft und überlagert. Die Bedeutung dieses zweiten Netzes, das natürlich von den Individuen her untrennbar mit dem ersten verbunden ist, liegt einmal darin, dass es Einzelmedien übergreift und so einen eigenständigen Einfluss auf den Alltag der Menschen ermöglicht, zum anderen darin, dass es in einer Perspektive von der Gesellschaft her der face-to-face stattfindenden Alltagskommunikation gegenübergestellt ist, weil es sich hier um mediatisierte und damit kontrollierbare und entfremdete Kommunikationsbeziehungen handelt.
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6 Die Entstehung eines medialen, insbesondere computervermittelten, allgegenwärtigen und jederzeit erreichbaren Kommunikationsnetzes Generell lässt sich sagen, dass von Medien beeinflusste Handlungsbereiche immer umfassender und bedeutsamer werden. Die einzelnen raum-zeitlich strukturierten Sinnprovinzen, die Medien früher bezeichneten, wachsen zu einer umfassenden Medienumgebung zusammen, auf die sich immer mehr funktionale Nutzungweisen der Menschen beziehen, und die immer differenziertere Nutzungsmöglichkeiten anbietet. Früher telefonierte man in der Wohnung meist in einem spezifischen Raum (etwa im Flur oder in den USA in der Küche), hatte woanders das Radio stehen und saß im Wohnzimmer im Sessel und sah fern. Die Zeitung las man morgens, abends entspannte man sich auf der Couch vor der Glotze usw.: Jedes Medium konstituierte bisher einen eigenen, besonderen Erlebnisraum, eröffnete einzelne Sinnprovinzen kommunikativen Handelns, und jedes Medium hatte so gesehen seine Zeit und seinen Platz im Alltag der Menschen. Heute dagegen beobachten wir auf der Basis der Digitalisierung einen Prozess des Zusammenwachsens aller Medien zu einem universellen Netz, an dem unterschiedliche Endgeräte hängen, über die der Mensch zu Inhalten in spezifischen Formen Zugang hat. In diesem Zusammenwachsen entsteht neben den alltäglichen interpersonalen Beziehungen, aus denen sich unser früheres, vor allem räumlich strukturiertes und wesentlich auf face-to-face-Kommunikation gründendes primäres Beziehungsnetz zusammensetzte, ein zweites kommunikatives Netz, das auch noch auf face-to-face-Begegnungen zielt, aber daneben auch andere Begegnungsarten zuließ und zulässt. Wir müssen diesen Prozess deswegen als Prozess einer zunehmenden Entgrenzung und Vermischung der vorher vorhandenen Einzelmedien begreifen, die von begrenzten und relativ erwartungsstabilen sozialen Zwecken und Nutzungsweisen entkoppelt werden. Ein schönes Beispiel dafür ist der unerwartete SMS-Boom – weil man meinte, dass ein Telefon primär zum Telefonieren da sei, hat niemand den gewaltigen Erfolg dieser nicht stimmlichen, sondern verschriftlichten Verwendungsweise von Mobiltelefonen erwartet; es gibt auch nur historische und heute technisch leicht überwindbare Gründe, warum Festnetztelefone das nicht auch können. Dieses zweite, technisch mediatisierte, sozial bestimmte und kulturell wirksame Kommunikationsnetz ermöglicht und erzeugt mehr Kommunikation, aber auch Kommunikation mit andersartigen Gegenüber, und es eröffnet neue Formen von Kommunikation. Bisher, so können wir daraus folgern, standen in jeder historischen Phase eines kulturellen Zusammenhangs einzelne Medien, die zu den Leitmedien wurden, im Vordergrund. Deshalb war es auch konsequent, dass die Konzeptualisierung der Kommunikationswissenschaft nach der bekannten Lasswell-Formel sich auf einzelne Kommunikationsvorgänge im Hinblick auf einzelne Medien konzentrierte und sich z.B. Kommunikationswissenschaft neben den Printmedien überwiegend auf Fernsehen als Leitmedium konzentriert. Jetzt entsteht aber ein digitales Datennetz, in dem Daten unabhängig von Endgeräten
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kursieren und das für den Nutzer in komplexen Medienumgebungen auf unterschiedliche Weise erlebbar wird. Das ist meiner Meinung nach das Zentrale, was uns die neuen Medien im Hinblick auf die alten Medien und im Hinblick auf die Nutzungsweisen bringen; wobei dazu gehört, dass dieses Netz von überall her und zu jeder Zeit erreichbar ist und alle „alten“ Medien integriert. Dahinter steht die durch Digitalisierung erreichte einheitliche, oder besser: medienübergreifende Form von Daten. Diese Vernetzung hat mit Sicherheit Konsequenzen für das Zusammenleben der Menschen, mit denen sich die Kommunikationswissenschaft beschäftigen muss. Langfristig entstehen dadurch neue Kommunikationspotenziale, neue Wirklichkeitsvorstellungen, neue Alltagsbedingungen, neue Erlebnisbereiche. Zurzeit finden wir als Kern dieser Entwicklung zunächst drei medial definierte neue Erlebnisräume der Menschen (soweit sie Zugang zu all diesen Kommunikationsmodi haben, was bekanntlich im Weltmaßstab gesehen nur für wenige gilt): x Zunächst Erlebnisräume, die als interaktive Kommunikation definiert sind, also Medienangebote, bezüglich derer Nutzerinnen und Nutzer inhaltliche Unikate herstellen können. Sie offerieren etwas, das gewissermaßen „zwischen“ interpersonaler mediatisierter Kommunikation (etwa per Telefon) und Rezeption (wie zum Beispiel beim Fernsehen) liegt: Computerspiele als „Gespräche“ mit einem entsprechend programmierten Hardware/SoftwareSystem, „Gespräche“ mit Avataren oder Software-Robotern, die scheinbar als autonome soziale Akteure auftreten, das lang erwartete interaktive Fernsehen sind Beispiele dafür. Der Bau von Hardware-Robotern, die an die Tamagotchies anknüpfen, wie zum Beispiel des AIBO macht Fortschritte, auch wenn sich derartige Entertainment-Roboter mit zusätzlichen Fähigkeiten noch nicht so recht wirtschaftlich tragen (vgl. Krotz 2007). x Die zweite wesentliche Neuigkeit ist die globale kommunikative Vernetzung, die heute als Internet bezeichnet wird und deren Endgeräte etwa die PCs sind, die als Universal- oder Hybridmedium dienen, insofern sie alle Arten von Kommunikation ermöglichen. Dieses Netz hat unterschiedliche Schnittstellen für die Menschen – manche seiner Inhalte werden auf Papier gedruckt und dann distribuiert, andere werden elektronisch analogisiert und auf Fernsehbildschirme gebracht usw. Zugleich hat jeder Mensch nur zu vergleichsweise kleinen Inhaltsmengen Zugang. Es ist aber auch zu erwarten, dass über diese Netze zunehmend Informationen verteilt werden, die nicht mehr an Menschen gerichtet sind, sondern der Steuerung und dem „Informationsaustausch“ von Maschinen dienen. x Die dritte heute zu beobachtende neue mediale Kommunikation ist die mobile Vernetzung, die bisher noch auf der Basis anderer Protokolle als das TCP/IP-Protokoll des Internet funktioniert, wobei aber auch schon über Internet telefoniert werden kann. Dabei handelt es sich heute nicht mehr um
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eine Vernetzung von Orten, sondern von Personen und anderen mobilen Objekten. Hier steht nicht der Computer als Maschine im Vordergrund, sondern eine darüber mögliche Form (interpersonaler) Kommunikation, weshalb die Endgeräte eigentlich ganz traditionell als Telefone vermarktet werden. Jedoch ist im Grunde genommen jedes Handy ein Computer, der einen mobilen Zugang zu den Inhalten der globalen kommunikativen Vernetzung eröffnet, auch wenn solche Möglichkeiten oft noch nicht nutzbar sind. Für Kinder und Jugendliche in den Industrienationen ist dieses Gerät ein modisches Kommunikationsmittel und zugleich ein Attribut geworden, mit allen damit verbundenen statusgenerierenden Elementen und der damit stattfindenden Distinktion von anderen, und sie verwenden es nicht nur, manchmal nicht einmal vorrangig zum Telefonieren, sondern für alles mögliche andere. Der mobile Kommunikations-Computer wird sich vermutlich zum universellen Anschluss an die Kommunikationsnetze weiterentwickeln und damit den Alltag unterwegs wie im Zusammenspiel mit fest stationierten Geräten gründlich verändern. Diese drei neuen, durch Digitalisierung und Computer generierten Potenziale sind in unserer Wahrnehmung und zum Teil technisch getrennt, aber sie konstituieren gemeinsam den neuen Kern des zweiten, digital vermittelten, kommunikativen Netzes, in dem wir uns bewegen und in dem sich unterschiedliche Funktionen ausdifferenzieren. Dieses Netz verschränkt sich immer mehr und auf unentwirrbare Weise mit dem Raum alltäglicher, nichtmedialer Kommunikation. Es entstehen so neue Typen von Beziehungen, neue alltagspraktische Umgangsweisen mit Raum und Zeit, und darüber verändern sich beispielsweise soziale Situationsdefinitionen, elementare Handlungsweisen (etwa beim Grüßen, beim Chatten im Internet), Weltwissen, Denkweisen und Erwartungen, in denen und in Bezug auf die wir handeln und kommunizieren. Gleichzeitig wirft dieses zweite Kommunikationsnetz natürlich Probleme auf: Es verbraucht Energie, seine Nutzung kostet Geld, es ist kommerziell organisiert und voll von Werbung, es ist im Hinblick auf individuelles kommunikatives Handeln kontrollierbar, vielleicht ohne dass der Datenschutz auf Dauer eine Chance hat. Trotzdem wird dieses mediatisierte Kommunikationsnetz von immer mehr Menschen für immer mehr Zwecke verwendet, und es bekommt immer mehr „Schnittstellen“ zum Netz der alltäglichen Kommunikation außerhalb der Medien. Und es besetzt immer mehr soziale Räume, wie zum Beispiel die Existenz von Fernsehen und Internetanschlüssen in Kneipen und U-Bahnen, am Bahnhof und in Schaufenstern, aber auch Business TV und School TV, und, vor allem, wie die Allgegenwart von Handys mit all ihren kommunikativen und anderen Möglichkeiten zeigen. Vermutlich wird diese Entwicklung weitergehen. Denn wie so oft wird die Technik immer kleiner, billiger und besser und verbraucht auch immer weniger Energie. Wir werden von Gegenständen umgeben sein, die alle ein Abbild im Internet haben, und die ohne Internet nicht mehr richtig funktionieren; andere
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Gegenstände werden sogar selbständig in einer Art face-to-face-Situation mit den Menschen kommunizieren. Das Internet in Verschmelzung zum Netz der Mobilkommunikation wird so zum Netz, über das und zunehmend in dem vor allem Maschinen miteinander kommunizieren. Aber das sind zum derzeitigen Zeitpunkt eher Spekulationen. Wir fragen stattdessen im Folgenden lieber nach empirisch beobachtbaren, plausiblen Thesen, um Konsequenzen dieses Prozesses als eine weitere Stufe des Mediatisierungsprozesses wenigstens in Ansätzen beschreiben zu können.
7 Wohin gehen wir? – Einige Folgerungen und Überlegungen Hier geht es abschließend um Überlegungen zum Metaprozess „Mediatisierung“, die sich auf empirisch feststellbare Entwicklungen beziehen oder die plausibel aus den Potenzialen der aufkommenden Medien und ihrer Integration mit dem Alltag der Menschen abgeleitet werden können. Aus Platzgründen werde ich mich hier darauf beschränken, nur drei dieser Thesen genauer auszuführen. x Zunächst müssen Veränderungen der Beziehungen der Menschen zueinander diagnostiziert werden: Das primäre Beziehungsnetz räumlich organisierter Beziehungen, die sich vor allem in face-to-face-Kontakten realisieren, verliert dadurch aber nicht notwendigerweise an Bedeutung, bekommt aber andere Funktionen und wird durch neuartige Beziehungen ergänzt, erweitert, modifiziert. Während man sich die soziale Welt bisher als eine Kugel vorstellen kann, die aus kleinen Flächen besteht – ebenso, wie ein Fußball aus Lederflecken zusammengenäht ist –, sind soziale und kommunikative Beziehungen in Zukunft weniger vom Raum als von aufeinander gerichteten Interessen strukturiert und nur noch in bestimmten Grenzen von face-toface-Kontakten abhängig – wir befinden uns quasi auf einem Wollknäuel, und die Menschen, mit denen wir verbunden sind, sind nicht mehr räumlich in der Nähe, sondern durch Inhalte verbunden, was durch den Wollfaden symbolisiert wird. Natürlich ist das Leben komplexer als ein Wollknäuel: Die Welt ist gleichzeitig viele solche Knäuel. x Zum Zweiten sind Veränderungen des Alltags und seiner Struktur zu beobachten bzw. zu erwarten: Alltage werden vielfältiger, weniger klar gegliedert, es gibt mehr Brüche, und die Medien sind stets und überall präsent. War – bildlich gesehen – der Alltag in der Industriegesellschaft zumindest idealtypisch ein Alltag, der aus klar voneinander abgegrenzten Lebensbereichen bestand, die in verschiedenen Phasen des Alltags relevant waren und zu denen etwa auch das Zeitunglesen oder das Fernsehen gehörte, so gehen die früher getrennten Lebensbereiche zunehmend ineinander über und überlap-
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pen sich zeitlich und räumlich, und sie alle werden in zunehmendem Maße mit Medien aller Art verbracht. x Drittens schließlich lassen sich gravierende Veränderungen von Sozialisationsbedingungen beobachten: Aufwachsen ist nicht mehr so gut kontrollierbar durch die Erwachsenen wie in den letzten Jahrhunderten und funktioniert nicht mehr in einem Stufenmodell. Kindheit verändert sich, weil kindliche Erfahrungen nicht mehr aufeinander aufbauen, sogar gar nicht mehr zusammenhängend sein müssen. Kindheit verändert sich aber auch, weil sie sich von einer eigenständigen Phase einer Biographie in ihren Ausdrucksformen zu einer überdauernden Lebensform entwickelt, zumindest aber deshalb, weil ihr Gegenbild, das Bild des für sein Leben kompetenten Erwachsenen, heute kaum noch der Realität entspricht, sondern allenfalls ein Gestus ist. In diesem Zusammenhang lässt sich weiter sagen, dass sich das Weltwissen verändert, über das die Menschen verfügen. Denn fast alles, was wir wissen, wissen wir aus oder in Bezug auf die Medien. Unter heutigen medialen Bedingungen werden nun Wissensbestände immer unzusammenhängender, vermutlich entkoppeln sich auch die früher engen Zusammenhänge zwischen soziodemografischen Variablen und spezifischen Wissensbeständen, weil Wissen zumindest formal leichter zugänglich wird. Das soll freilich nicht die Erwartung ausdrücken, dass wie auch immer begründete Herrschaftsverhältnisse von Wissensdifferenzen oder auf Status gründenden Ansprüchen, gehört zu werden, entkoppelt sein werden. Weiter lassen sich Veränderungen mikrosozialer Art erkennen, deren Bedeutung bisher weitgehend unbekannt ist: Grußformeln als eine Art der Kontaktaufnahme zu anderen verlieren etwa im Chat ebenso ihre Bedeutung wie die allmähliche räumliche Annäherung, die einem körperlichen Kontakt vorausgeht. Das Gleiche gilt für die institutionalisierten Formen der Abwendung, die es bisher ermöglicht haben, etwa Motive dieser Abwendung zu erkennen. Obendrein wird die Vorstellung, die man sich vom anderen macht, unsicherer, weil sie auf weniger unkontrollierten Informationen beruht. Ferner ist festzuhalten, dass sich die für Kultur und Gesellschaft notwendigen Formen von Integration verändern (vgl. Krotz 2002). Und schließlich lassen sich Indizien dafür finden, dass sich nicht nur die politischen Verhältnisse durch die digitalen Medien verändern, sondern natürlich auch die Ökonomie und deren Bedeutung für die Menschen. Medien sind heute in unserer Gesellschaft über Werbung und Sponsoring bedeutende Agenten der Märkte und ziehen die Menschen in Marktprozesse hinein: Wir werden abhängiger von Märkten und Institutionen. Dabei verändert sich auch die Konstitution von Sinn, insofern etwa Überzeugungen durch Inszenierungen ersetzt werden. Plakativ ausgedrückt: Marken statt Werte, Firmen-„philosophien“ statt Religionen. Für frühere Epochen hat Norbert Elias (1972, 1994) gezeigt, dass ein Zusammenhang zwischen Alltagsverhalten und sozialer Organisation besteht und dass auch legitimierte Machtkonstellationen und deren Mechanismen damit zusammenhängen. Und beispielsweise Erving Goffman (1974) hat nachgewiesen,
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dass nicht weiter beachtete mikrosoziale Bedingungen kommunikativen Handelns große Konsequenzen haben. Insofern liegen hier wichtige Felder zukünftiger Forschung, denn es ist offensichtlich, dass die bisher skizzierten Folgerungen keine Theorie ausmachen, noch nicht einmal ein einigermaßen geschlossenes Bild entwerfen, sondern nur Anhaltspunkte bieten können. Deshalb natürlich die erste Schlussfolgerung: Further research is necessary. All dies kann man so deuten, das im Prozess der Mediatisierung die Erlebnisräume der Menschen geöffnet, verbreitert und vertieft werden (und es ist eine Frage an die Soziologie, warum dies gerade heute gesellschaftlich notwendig ist und warum wir heute mittels dieses zweiten Netzes immer mehr und länger kommunizieren (müssen) und das offenbar auch wollen). Gleichzeitig verfügen aber auch die Medien als Inszenierungsmaschinen bzw. diejenigen, die sie bedienen, über immer mehr Möglichkeiten – und beides zusammen prägt die zukünftige Entwicklung. Wenn wir an die zweihundert Jahre nach Erfindung der Druckerpresse in Europa denken, so finden wir gewaltige und gewalttätige Umwälzungen, Kriege und Bürgerkriege, Aufstände und Unterdrückung. Auch der Übergang in die digitale Vernetzung könnte solche Konsequenzen haben, weil dabei auch alle Bereiche des menschlichen Lebens sich ändern müssen und zwar vermutlich schneller, als es nach der Erfindung des Buchdrucks der Fall war. Wenn es solche radikalen Veränderungen bisher nicht gegeben hat, so kann dies daran liegen, dass die Menschheit mit solchen Umwälzungen heute besser fertig wird als in vorindustriellen Zeiten, es kann auch daran liegen, dass es sich bei der Durchsetzung der computervermittelten Kommunikation nicht um eine vergleichbare Umwälzung handelt. Weil wir beides aber nicht wissen, wäre es gut, die Entwicklung im Auge zu behalten, nur so besteht Aussicht, dass das auch so bleibt. Das Problem liegt dabei darin, wie diese Entwicklung vor sich geht, nämlich weitgehend bewusstlos und hinter dem Rücken der Zivilgesellschaft, die doch eigentlich der Souverän ist, der über die Formen des menschlichen Zusammenlebens zu entscheiden hätte. Es ist einerseits die Technik, die Potenziale entwickelt, und es ist andererseits die Wirtschaft, die die Nutzung mancher dieser Potenziale für ihre Zwecke durchsetzt. Sie übernimmt die medialen Kommunikationsweisen, die im Alltag der Menschen Platz finden, und funktionalisiert sie für ihre Zwecke – seit 1984 das Fernsehen, seit einigen Jahren das Internet. Das ist zwar sicher sehr innovativ und schafft vielleicht auch den einen oder anderen Arbeitsplatz, wird aber auch teuer für den Rest der Menschheit und wirft obendrein politische und soziale Probleme auf. Die Wirtschaft hat ihrerseits keine Kategorien für die damit begründeten Konsequenzen, die entstehen, sie kennt nur Kostenrechnungen und daraus resultierende Forderungen an Staat, Politik und Gesellschaft (und ihre Kunden). Aber betroffen sind von diesen Entwicklungen offensichtlich die fundamentalen Formen des menschlichen Zusammenlebens. Es geht deshalb um die Frage, ob wir uns in eine Netzwerkgesellschaft hinein entwickeln, in der der und die Einzelne seine bzw. ihre Wirklichkeit in freiem Bezug auf andere und in Re-
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alisierung seiner selbst definierten Interessen gestalten kann, oder in eine Pixelgesellschaft, in der der und die Einzelne von der medial fokussierten Kraft sozialer Felder und ökonomischer Bedarfe wohin auch immer gezwungen wird und sich dort zurechtfinden muss. Eine damit zusammenhängende Sorge richtet sich auf die kulturelle Vielfalt menschlicher Lebens- und Ausdrucksformen, die eigentlich ebenso wie die Vielfalt der Natur zu den Schätzen der Menschheit gehört. Das heißt nicht, dass zu befürchten ist, dass interkulturelle Kontakte und Kommunikate Kulturen vernichten – Kulturen befruchten sich vielmehr gegenseitig, wenn sie miteinander in friedlichem Kontakt und Austausch stehen. Viel gravierender ist aber die beobachtbare Subsumption zwischenmenschlicher Kommunikation und kultureller Ausdrucksformen unter die Ziele privater Unternehmen – sie werden dort funktionalisiert, umgedeutet, reinszeniert, sinnentleert, was in der Menge und auf Dauer irreparable Verluste bewirken könnte (vgl. Krotz 2001b). Die medialen Entwicklungen sind also Potenziale, die so oder so genutzt werden können. Insofern leben wir heute in einem gewaltigen Experiment, in dessen Verlauf die kulturellen Ausdrucksformen der Menschen immer vollständiger kommerziell verwertet werden. Ob wir dessen Ergebnis am Ende noch verändern können, ist fraglich – wenn unsere Kreativität und unsere Ausdrucksformen verloren und diskreditiert sind, bleibt uns noch nicht einmal eine kritische Reflexion. Deswegen sollten wir die Dinge jetzt in die Hand nehmen.
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Netzwerke der Medien – Netzwerke des Alltags: Medienalltag in der Netzwerkgesellschaft Andreas Hepp
1 Einleitung Wie verschiedenste Studien der Kommunikations- und Medienwissenschaft gezeigt haben, kann der heutige Alltag in einer Vielzahl von Kulturen kaum mehr losgelöst von Medien betrachtet werden. Aus diesem Grund erscheint es auch zielführend, diese zunehmend als „Medienkulturen“ (Kellner 1995) zu charakterisieren.1 Hierbei sind diese Medienkulturen allerdings einem nachhaltigen Wandel unterzogen: Während sich moderne Druckkulturen – nach traditionellen oralen Kulturen und frühen Schriftkulturen – als erste ‚eigentliche‘ Medienkulturen etabliert haben, konstatieren nicht nur verschiedene Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, sondern auch die populäre Presse einen weiteren Wandel hin zu globalisierten elektronischen Kulturen. Heutige Gesellschaften seien Gesellschaften solcher globalisierter elektronischer Kulturen. Das, was man sich hierunter vorzustellen hat, bleibt allerdings mitunter sehr unklar. Vor diesem Hintergrund greift der vorliegende Beitrag den insbesondere von Manuel Castells geprägten Entwurf der Netzwerkgesellschaft als einen Theoretisierungsversuch auf, der einerseits diesen aktuellen Wandel von Gesellschaften bzw. Kulturen angemessen zu fassen sucht, den es aber andererseits für eine Betrachtung des heutigen Medienalltags weiter kommunikations- und medienwissenschaftlich auszuformulieren gilt. Durch eine solche Ausformulierung wird es – so zumindest meine Hoffnung – möglich, einen angemessenen übergreifenden Begriffsrahmen für eine Betrachtung von Medientechnologie-, Kommunikations- und Kulturwandel zu entwickeln, der integrativ genug ist, um auch den Wandel in verschiedenen anderen Kontextbereichen wie beispielsweise Politik, Arbeit oder auch Vergemeinschaftung einzubeziehen. Um dieses Unterfangen weiter zugänglich zu machen, soll im Weiteren zuerst einmal das Konzept der Netzwerkgesellschaft – zugegebenermaßen aus einer kommunikations- und medienwissenschaftlichen Perspektive – skizziert werden. Dies macht deutlich, dass dieses Konzept im Rahmen der Kommunikations- und Medienwissenschaft einer Kontextualisierung in dem generellen Metaphernfeld von Konnektivität, Netzwerk und Fluss bedarf. Eine solche Kon-
1 Mit dem Ausdruck der Medienkultur werden also all solche Kulturen bezeichnet, deren primäre Ressourcen der Bedeutungsproduktion vermittelt durch technische Kommunikationsmedien zugänglich sind (siehe zu diesem Konzept der Medienkultur insbesondere Hepp (2007)).
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textualisierung ermöglicht dann auch eine Ausformulierung von Alltagswelt im Rahmen der Netzwerkgesellschaft, die für eine Analyse des historischen und gegenwärtigen Medienwandels geeignet erscheint. Die Potenziale eines solchen Zugangs insbesondere für die empirische Forschung sollen abschließend dargelegt werden. Damit ist die Argumentationslinie dieses Beitrags sicherlich zuerst einmal theoretisierend. Jedoch ist es meine Hoffnung, durch diese Theoretisierungen einen Blickwinkel zu eröffnen, der es erleichtert, den gegenwärtigen Medienalltag zu fassen. Generell ist mir bei dieser Betrachtung folgende Vorbemerkung wichtig, um Missverständnisse zu vermeiden: Wenn im Weiteren von verschiedenen Konzepten wie Konnektivität, Netzwerk und Fluss bzw. Netzwerkgesellschaft gesprochen wird, so sind diese als Beschreibungsmetaphern für soziokulturelle Phänomene zu verstehen. D.h. es geht mir um eine Auseinandersetzung damit, inwieweit diese Konzepte geeignet sind, den historischen und gegenwärtigen Medientechnologie-, Kommunikations- und Kulturwandel analytisch angemessen und kontextsensibel zu fassen.
2 Netzwerkgesellschaft: Informationsgesellschaft und der Wandel von Medienkommunikation Worauf zielt das Konzept der Netzwerkgesellschaft nun genau? Wirft man diese Frage auf und bezieht sie auf die Überlegungen von Manuel Castells (2001) als dem wohl renommiertesten Vertreter in diesem Feld, so hebt das Konzept der Netzwerkgesellschaft darauf ab zu fassen, dass in so bezeichneten Gesellschaften Netzwerke das zunehmend dominierende Strukturprinzip sind: Ob privates Leben und Freundeskreis, Unternehmen oder Politik – alle Bereiche von Kultur und Gesellschaft sind in Netzwerken strukturiert: „The network society, in the simplest terms, is a social structure based on networks operated by information and communication technologies based in microelectronics and digital computer networks that generate, process, and distribute information on the basis of the knowledge accumulated in the nodes of the network“ (Castells 2006: 7).
Um dieses in seiner Grundformulierung zuerst einmal klare Verständnis von Netzwerkgesellschaft angemessen zu fassen, ist es hilfreich, es auf doppelte Weise zu kontextualisieren. Eine erste Kontextualisierung ist die der Beziehung von Netzwerkgesellschaft zu Konzepten der Informations- und Wissensgesellschaft, eine zweite die der Beziehung zu Konzepten des Wandels von Medienkommunikation. Beides weist meines Erachtens auf ein Grundproblem der Argumentation von Castells hin, nämlich dass er – zumindest in der Tendenz – Netzwerke ‚verdinglicht‘ oder ‚essenzialisiert‘, anstatt diese als eine geeignete Beschreibungsmetapher zu begreifen, um Fragen des aktuellen Wandels zu fassen.
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Die Beziehung des Konzepts der Netzwerkgesellschaft zu denen der Informations- und Wissensgesellschaft wird von Castells selbst nahegelegt, indem er sein dreibändiges Werk, das sein Verständnis der Netzwerkgesellschaft darlegt, mit dem Gesamttitel „Das Informationszeitalter“ versieht.2 Gemeinhin wird der Ausgangspunkt des Diskurses um Informations- und Wissensgesellschaft in dem Theorem der nachindustriellen Gesellschaft gesehen, für das der 1955 in Mailand stattgefundene Kongress „Die Zukunft der Freiheit“ ein wichtiger Bezugspunkt ist. Dort diskutierte Überlegungen zu einer ‚neuen‘, ‚ideologiefreien‘ Gesellschaft entwickelte Daniel Bell (1975) in dem Buch „Die nachindustrielle Gesellschaft“ weiter. In diesem formuliert er den Entwurf einer Gesellschaft, bei der mit einer zunehmenden Ausrichtung auf Humandienstleistungen und technisch-professionalisierte Dienstleistungen ‚Wissensarbeit‘ an die Stelle ‚materieller Arbeit‘ tritt. Von den von diesen Überlegungen ausgehenden Konzepten der Informations- und Wissensgesellschaft grenzt Castells sein Konzept der Netzwerkgesellschaft ab, auch wenn er sich durchaus in deren Tradition stellt (vgl. Castells 2001: 5-18). Die Differenz, die Castells sieht, ist die, dass es mit dem Konzept der Netzwerkgesellschaft gelänge, das wirklich ‚Neue‘ des gegenwärtigen Wandels zu fassen: Fragen der Information und des Wissens – so seine Argumentation – waren in allen Gesellschaften zentral, weswegen es ihm nicht hinreichend erscheint, mittels dieser Konzepte die Spezifik heutiger Gesellschaften zu beschreiben. Letztere liegt seines Erachtens vielmehr in der konstatierten Strukturspezifik, d.h. darin, dass durch die Etablierung der digitalen Medien das Netzwerk zum zentralen Organisationsprinzip von Gesellschaft werden konnte: „What is new is the microelectronics-based, networking technologies that provide new capabilities to an old form of social organisation: networks“ (Castells 2006: 4). Die Pointe der Argumentation von Castells ist also nicht in dem Gedanken zu sehen, (soziale) Netzwerke würden erst jetzt ‚erfunden‘. Im Gegenteil ist das Netzwerk für ihn im Sinne einer auf eine spezifische Weise strukturierten Beziehung zwischen zwei oder mehreren Personen eine historisch sehr alte Form der Organisation sozialer Beziehungen. Die gesellschaftliche Reichweite dieses Organisationsprinzips war aber durch die Notwendigkeit von physischer Kopräsenz für (kommunikative) Vernetzung bzw. eine eingeschränkte kommunikative Erreichbarkeit unterschiedlicher Personen eines Netzwerks mittels traditioneller Medien deutlich beschränkt. Deswegen waren historisch gesehen3 Netzwerke 2 Dem entspricht auch, dass sich Castells’ Konzept weitgehend bruchlos in die Diskussion um Informations- und Wissensgesellschaft einordnen lässt (siehe dazu Webster (2006: 98-123)). 3 Mit einer solchen Historisierung überwindet Castells – zumindest ansatzweise – die von Mattelart herausgestrichene historische Blindheit vieler Konzepte von Informationsgesellschaft. Wie dieser schreibt, hat der „Diskurs, der die Informationsgesellschaft begleitet, […] das Prinzip des tabula rasa zum Gesetz erhoben. Es gibt nichts, was nicht veraltet wäre“ (Mattelart 2003: 141) und weiter: „Die Diktatur der kurzen Zeit führt dazu, dass man dem, was tatsächlich eine strukturelle Evolution oder ein lang anhaltender Prozess ist, den Status des Neuen oder gar des revolu-
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die Domäne des privaten Lebens, während die Welt der Produktion, des Staats und auch der Kriege durch große, vertikal integrierte (d.h. hierarchische) Organisationen geprägt war: Unternehmen, staatliche Institutionen, Kirchen oder Armeen sind nur einige Beispiele hierfür. Mit den digitalen Medien konnten diese „historischen Beschränkungen“ (Castells 2006: 4) des Organisationsprinzips Netzwerk überwunden werden. Digitale Medien machen es möglich, über verschiedenste Orte hinaus Netzwerke kommunikativ zu artikulieren. Deswegen stellt Castells fest: „Digitale Kommunikationsnetzwerke sind das Rückgrat der Netzwerkgesellschaft“ (Castells 2006: 4). An solchen Formulierungen wird deutlich, in welcher Weise sich eine ‚Verdinglichung‘ oder ‚Essenzialisierung‘ von Netzwerk in die Argumentation von Castells einschleicht: Der Fluchtpunkt seiner Überlegungen ist nicht die Frage, wie soziale Beziehungen, Vergemeinschaftungen und Vergesellschaftungen allgemein strukturell als Netzwerke beschrieben werden können – eine Argumentation, die sich beispielsweise in der Soziologie von Norbert Elias mit seinem Konzept der „Verflechtungszusammenhänge“ (Elias 1993: 146) wiederfindet. Exemplarisch wird die Sinnhaftigkeit einer übergreifenden Anwendung des Konzepts Netzwerk auch an den Analysen von Friedrich Tenbruck deutlich, der beispielsweise die Charakteristik von frühen Hochkulturen darin sieht, dass deren Herrschaftsapparat als Netzwerk verschiedene lokale Gruppen kommunikativ bindet (vgl. Tenbruck 1972; Hepp 2008). Die Besonderheit der Netzwerkgesellschaft scheint also nicht, dass sich das Netzwerk auf breiter Ebene ‚durchsetzt‘. Vielmehr liegt sie in der Spezifik der in ihr dominierenden Netzwerke. Und letztlich ist es auch dies, was Castells bei näherem Hinsehen mit der Verbreitung ‚neuer‘ Medientechnologien verbindet. Entsprechend verweist eine Auseinandersetzung mit Castells’ Abgrenzung der Konzepte von Netzwerkgesellschaft bzw. Informations- und Wissensgesellschaft bereits auf die zweite herausgestrichene Beziehung, nämlich die Beziehung des Konzepts der Netzwerkgesellschaft zu dem des Wandels von Medienkommunikation. Pointiert formuliert ist an dieser Stelle einerseits eine breite Anschlussfähigkeit der Überlegungen Castells’ zu zumindest zwei Bereichen der wissenschaftlichen Diskussion um Medien- und Kommunikationswandel herauszustreichen, andererseits gleichzeitig deren mangelnde Integration. Erstens kommen Bezüge zur Mediumstheorie in den Blick, die insbesondere mit den Arbeiten von Harold Innis (1951), Marshall McLuhan (1995) und Joshua Meyrowitz (1987) verbunden wird. In dieser werden für die jeweils dominierenden Medien vier Typen menschlicher Kulturen unterschieden, nämlich erstens traditionelle orale Kulturen, zweitens Schriftkulturen, drittens moderne Druckkulturen und schließlich viertens globale elektronische Kulturen. Ohne an dieser Stelle in die Details gehen zu können (vgl. dazu überblickend Meyrowitz 1995), fallen an der Darstellung der Mediumstheoretiker deutliche Bezüge zu den Überlegungen Castells’ auf, indem auch hier für elektronische Kulturen eine tionären Wandels zubilligt“ (Mattelart 2003: 143).
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zunehmend globalisierte kommunikative Vernetzung als charakteristisch angesehen wird. Gleichzeitig erscheint die Perspektive der Mediumstheorie in Bezug auf Fragen von Medienkommunikation aber ungleich breiter als die Castells’, indem beispielsweise das Satellitenfernsehen durchaus als Teil der Entwicklung gesehen wird. Letzteres erlaube, wenn auch auf andere Weise als die computervermittelte Netzkommunikation, neue Formen geteilter sozialer Erfahrung der medienvermittelten Unmittelbarkeit bzw. Nähe, die durchaus Bezüge zu denen oraler Kulturen haben: „While print allows for new ways of sharing knowledge, and industrialisation enables the wide scale sharing of products, electronic media tend to foster new types of shared experience“ (Meyrowitz 1995: 57f.). Zweitens fallen Bezüge des Konzepts der Netzwerkgesellschaft zur so genannten Mediatisierungsforschung auf, in der es ungleich stärker als in der Mediumstheorie um (empirische) Fragen der alltäglichen Aneignung von je ‚neuen‘ Medien geht. Der Ausdruck der Mediatisierung fasst in Anlehnung an die Überlegungen von John B. Thompson (1995) und Friedrich Krotz (2007) die fortschreitende zeitliche, räumliche und soziale Ausdehnung von technisch vermittelter Kommunikation in Kulturen und Gesellschaften. Zentral dabei ist das Argument, dass hiermit zunehmend Logiken medialer Kommunikation verschiedene Lebensbereiche qualitativ prägen, wie auch Medien zunehmend verschiedene Lebensbereiche vernetzen. Entsprechend verweist die Mediatisierungsforschung auf den Begriff der Mediengesellschaft bzw. Medienkultur. Mit ersterem wird – wie es Otfried Jarren (1998: 74) formuliert hat – „generell angezeigt, dass Herstellung, Verbreitung und Rezeption von Informationen in der modernen Gesellschaft ökonomisch, kulturell und politisch an Bedeutung gewinnen. Und mehr noch: Das Mediensystem wird zur zentralen Infrastruktur in der modernen Gesellschaft.“4
Mit anderer Akzentsetzung versucht der Ausdruck Medienkultur zu fassen, dass in gegenwärtigen Kulturen zwar nicht alles ‚medial‘ vermittelt ist, aber in Fragen der kulturell dominierenden Bedeutungsproduktion Medien immer mehr als das „Zentrum“ (vgl. Couldry 2003: 41) gegenwärtiger Kulturen konstruiert werden. Auch wenn man diese Zentralität zu recht als „Mythos“ (vgl. Couldry 2003: 45) kritisieren kann, indem es weder ein solches Zentrum gibt noch die Medien dieses repräsentieren, scheinen heutige (zumindest westliche) Kulturen exakt durch dieses Konstruktionsprinzip geprägt: Sie können deswegen als Medienkulturen beschrieben werden, weil die in ihnen als „zentral“ oder im Sinne Max Webers Konzept der Kulturbedeutung als relevant geltenden kulturellen 4 Von Mediengesellschaft kann seiner Argumentation nach gesprochen werden, weil die publizistischen Medien sich quantitativ und qualitativ immer mehr ausbreiten, die Vermittlungsleistung von Information durch die Medien sich enorm beschleunigt hat, sich neue Medientypen herausgebildet haben, Medien immer engmaschiger die gesamte Gesellschaft durchdringen, Medien aufgrund ihrer hohen Beachtungs- und Nutzungswerte gesamtgesellschaftliche Aufmerksamkeit erlangt haben und Anerkennung beanspruchen und sich letztlich zu Institutionen entwickeln. Dies macht deutlich, in welchem Maße das Konzept der Mediengesellschaft auf die Mediatisierungsforschung verweist.
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Ressourcen medial bezogen sind, wie auch mit fortschreitender Mediatisierung Prozesse der technisch vermittelten Kommunikation mehr und mehr die Kommunikation überhaupt durchdringen. In der Tradition der Mediatisierungsforschung geht es dann ganz konkret darum, anhand von Einzelstudien diesen übergreifenden Metaprozess (Krotz 2007) der Mediatisierung zu fassen, indem – in einer exemplarischen Aufzählung – der Wandel der Alltagsorganisation mit der Etablierung von Mobilkommunikation,5 der Wandel von (städtischer) Öffentlichkeit mit dem Vordringen des „public viewing“,6 der Wandel von Politik mit der Verlegung politischer Arenen ins Mediale,7 oder aber der Wandel sozialer Beziehungen mit Etablierung der computervermittelten digitalen Kommunikation untersucht werden.8 Im Rahmen der Mediatisierungsforschung steht somit die Frage im Vordergrund, in welcher Beziehung die Eigenlogik der Medienkommunikation und die Strukturierungslogiken anderer Bereiche von Kultur und Gesellschaft stehen. Sieht man die Theorie der Netzwerkgesellschaft vor dem Hintergrund solcher Forschungen und Theorienentwicklungen, so hinterlässt der Entwurf von Castells einen ambivalenten Eindruck: Auf der einen Seite bietet er einen vielversprechenden Rahmen, Forschungen zu Medientechnologie-, Kommunikations- und Kulturwandel weiter zu kontextualisieren bzw. fortzuentwickeln. Auf der anderen Seite erscheint der Entwurf Castells’ gerade da blind, wo Mediumstheorie und Mediatisierungsforschung ihre Stärken haben, nämlich bei einer auf Theorieentwicklung ausgerichteten und gleichzeitig historisch kontextualisierenden Betrachtung des Verhältnisses von Medientechnologie-, Kommunikations- und Kulturwandel. Dies verweist darauf, dass in dem Entwurf Castells’ gerade kommunikations- und medienwissenschaftliche Forschungen bisher nicht hinreichend zur Kenntnis genommen wurden. Zwar greift Castells in seiner Darstellung immer wieder auf einzelne empirische Ergebnisse der Kommunikations- und Medienforschung zurück,9 eine Auseinandersetzung mit den damit verbundenen Theorieentwicklungen findet sich in seinem Entwurf zur Netzwerkgesellschaft jedoch kaum. Die Reflexionen der Mediumstheorie gehen in einem eher oberflächlichen Aufgreifen von McLuhan oder Innis auf (vgl. beispielsweise Castells 2001: 377; 485), und aus dem Bereich der Mediatisierungsforschung werden nur einzelne empirische Ergebnisse herausgegriffen. In die Theorieentwicklung weiter reflektiert werden solche Forschungstraditionen aber nicht. Dabei erscheint genau das nötig, wenn man konkret die Netzwerkgesellschaft mit ihrem „vernetzten Individualismus“ (Castells 2005: 142) fassen möchte, als dessen „materielle Stütze“ Castells das Internet, aber auch die Mo5 Vgl. exemplarisch die Beiträge in Katz/Aakhus (2002); Höflich/Gebhardt (2005); Nyiri (2005). 6 Vgl. exemplarisch Krotz (2001: 102-160). 7 Dies wird insbesondere in der Diskussion um Politainment reflektiert. Vgl. hierzu Dörner (2001); Dörner (2003). 8 Überblicke bieten hier Beck (2006); Gauntlett/Horsley (2004); Haddon (2004). 9 Exemplarisch sei hier für die Internetforschung auf den Band Castells (2005) bzw. für die Mobilkommunikationsforschung auf den Band Castells et al. (2006) verwiesen.
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bilkommunikation ansieht. Vor allem würde ein detaillierter Blick auf Prozesse der Medienkommunikation dazu führen, Netzwerke nicht zu verdinglichen, sondern stärker den Blick auf ihre Artikulation zu lenken, d.h. die unterschiedlichen Prozesse der kommunikativen Vernetzung und deren Spezifik. Pointiert formuliert kann man also festhalten: Das Konzept der Netzwerkgesellschaft bietet einen interessanten perspektivischen Rahmen für eine Auseinandersetzung mit Medientechnologie-, Kommunikations- und Kulturwandel. Will man diesen Gesamtrahmen allerdings für die Abschätzung konkreter aktueller Wandlungsprozesse und deren gesellschaftliche Herausforderungen nutzbar machen, so gilt es, diesen weiter (kommunikations)theoretisch auszufüllen.
3 Netzwerke der Medien: Konnektivität, Netzwerk und Fluss Ein erster Schritt für ein solches Unterfangen ist die weitere Kontextualisierung des Konzepts der Netzwerkgesellschaft in das Metaphernfeld von Konnektivität, Netzwerk und Fluss (vgl. Hepp 2006d; Hepp 2006f). Hat man die gegenwärtige kultur- und sozialwissenschaftliche Diskussion um Medientechnologie-, Kommunikations- und Kulturwandel insgesamt im Blick, so erscheint hierbei das Konzept der Konnektivität als der analytisch übergeordnete Begriff. Im Allgemeinen fasst der Ausdruck Konnektivität ‚Beziehungen‘ oder ‚Verbindungen‘, die einen sehr unterschiedlichen Charakter haben können. Im Gegensatz zum alltagssprachlichen Ausdruck ‚Beziehung‘ oder ‚Verbindung‘ aber, bei dem stets auch Aspekte der kulturellen Nähe mitschwingen (‚das Persönliche‘, ‚das Verbundensein‘), versucht der wissenschaftliche Ausdruck der Konnektivität zu fassen, dass die über das Lokale hinausgehende (kommunikative) Beziehung nicht mit einer weiterreichenden Verbundenheit einher gehen muss (vgl. dazu Tomlinson 1999: 3-10 sowie die im Weiteren folgende Argumentation). Konnektivität ist als Konzept noch abstrakter als das des Netzwerks, indem dieser Begriff ‚nur‘ zu fassen versucht, dass zwischen zwei ‚Dingen‘ eine ‚Relation‘ besteht, sich zu deren Spezifik aber ausschweigt. Entsprechend verweist der Begriff auf die gegenwärtige sozial- und kulturwissenschaftliche Diskussion um die Komplexität heutiger Gesellschaften und Kulturen, in der versucht wird, voreilige Schlussfolgerungen zu den Folgen des Bestehens einzelner ‚Relationen‘ zu vermeiden. Greift man die Argumente von James Lull auf, so muss jede gegenwärtige Auseinandersetzung mit Kultur „Konnektivität“ als die „weitreichendste Dimension von Kommunikation ernsthaft berücksichtigen“ (Lull 2000: 11).10 Möglicherweise ist eine sich daraus ergebende breite analytische Anschlussfähigkeit exakt der Grund, warum sich Konnektivität auf besondere Weise dazu 10 Verbreitung gefunden hat das Konzept der Konnektivität dabei insbesondere über die Globalisierungsdiskussion einerseits und die Diskussion um neue Medientechnologien andererseits. Siehe dazu Hepp (2006d: 158-163).
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anbietet, Medien(technologie)- und Kommunikationswandel zu fassen. Auf einer abstrakten Ebene lässt sich jedes Medium als ein Instrument zur Etablierung von kommunikativer Konnektivität begreifen. Sprache (um an dieser Stelle einmal ein nicht-technisches Medium aufzugreifen) beispielsweise ist ein Mittel, das Menschen dazu verwenden, kommunikativ zu ‚konnektieren‘. So kann man – wie es Werner Faulstich und Carsten Winter machen (Faulstich 1996; Winter 2006) – Wandermönche bzw. Prediger als „Menschmedien“ beschreiben, indem diese Reisenden kommunikative Konnektivitäten zwischen Menschen in unterschiedlichen Regionen herstellen. Aber auch elektronische Medien wie Film, Fernsehen, Radio und das Internet können als Mittel der Herstellung von kommunikativer Konnektivität verstanden werden: Ihre Repräsentationen stellen ‚symbolische Beziehungen‘ zwischen unterschiedlichen Menschen und Kulturen her. Diese Beispiele illustrieren zwei Aspekte. Erstens ist Konnektivität ein generelles Moment von Kommunikation. Es ist nichts Neues oder Spezifisches für elektronische Medien oder das Internet. Eher hilft es uns, die Überlegung zu fassen, dass Kommunikation auf das Herstellen einer bestimmten Art von Beziehung verweist, deren Folge Verstehen sein kann, aber ebenso auch Missverstehen und Konflikt. Zweitens hat sich die Spezifik von Konnektivität im Verlauf der Mediengeschichte verändert: Frühe Formen der Etablierung von kommunikativer Konnektivität basierten in hohem Maße auf physischen Aspekten, beispielsweise der Person, die reiste. Im Gegensatz dazu basieren die Formen von Konnektivität, die in den letzten Jahrzehnten an Relevanz gewonnen haben, in wesentlich geringerem Maße auf physischen Aspekten. Selbstverständlich haben beispielsweise Internetverbindungen nach wie vor ihre physische Basis in elektronischen Kabelnetzwerken. Aber deren Formen der Konnektivität sind mehr und mehr losgelöst von dieser Basis: Die Kommunikationsmuster, die in der Netzkommunikation über verschiedene Territorien hinweg zugänglich sind, scheinen kaum mehr auf deren physische Basis rückführbar. Exakt dies verweist auf das Aufgreifen des Konzepts der Konnektivität in der Globalisierungsdiskussion. Hier hat sich etabliert, Globalisierung als Prozess der multidimensionalen weltweiten Zunahme von Konnektivität zu begreifen.11 Wenn wir den mit der Zunahme von Konnektivität verbundenen kulturellen Wandel der Globalisierung in den Fokus rücken, ist es genau diese fortschreitende Loslösung kultureller Formen von einer physischen Basis, die herausgestrichen wird. Néstor García Canclini (1995: 229) beispielsweise argumentiert, dass der kulturelle Wandel der Globalisierung eine fortschreitende Deterritorialisierung ist: Was wir mit dem Prozess der Globalisierung ausmachen können, ist eine Aufweichung der scheinbar natürlichen Beziehung zwischen Kultur und geografischen bzw. sozialen Territorien.12 11 Vgl. zu dieser Argumentation Appadurai (1996); Giddens (1996); Hannerz (1996); Tomlinson (1999). 12 Analytisch notwendig erscheint hier jedoch wiederum die Unterscheidung zwischen physischer
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Fassen wir die bisherigen Argumente zusammen, so wird deutlich, dass Konnektivität einerseits eine generelle Beschreibungskategorie für das Herstellen kommunikativer Beziehungen ist, andererseits sich die Möglichkeiten von kommunikativer Konnektivität zunehmend verändert haben: Sie werden immaterieller, was deren Spezifik betrifft, und globaler, was deren Reichweite betrifft. Entsprechend erscheint es notwendig, das Konzept der Netzwerkgesellschaft in den Kontext eines solchen Wandels von Konnektivität einzuordnen. Dies wird möglich, wenn wir Konnektivität gewissermaßen als Oberbegriff in einem bestimmten Metaphernfeld der Beschreibung des Wandels von Gesellschaften und Kulturen verstehen. Hierbei kann Konnektivität im Hinblick auf zwei Aspekte weiter konkretisiert werden. Dies ist erstens der Strukturaspekt, der sich mit dem bereits mehrfach genannten Ausdruck des Netzwerks zur Beschreibung von Konnektivitätsstrukturen verbinden lässt. Zweitens ist dies der Prozessaspekt, der mit dem Ausdruck des Flusses („flow”) zur Beschreibung von Konnektivitätsprozessen in Verbindung gebracht werden kann (siehe unten stehende Abbildung). Abbildung:
Konnektivitätstheoretische Konzepte
Wie bereits in der Definition von Netzwerkgesellschaft anklingt, bietet der Ausdruck Netzwerk einen Ansatzpunkt, die Strukturaspekte von Konnektivität zu fassen.13 Um dies verständlich zu machen, können wir an Manuel Castells’ De-
und kommunikativer Deterritorialisierung. Vgl. für diese Argumentation im Detail Hepp (2006f: 136-145). 13 Im Gegensatz zu John Urry (2003: 59), gehe ich nicht davon aus, ein „‚struktureller‘ Zugang“ sei mit einer zunehmenden globalen Konnektivität obsolet. (Globale) Konnektivität scheint mir ebenso eine strukturierende Kraft zu sein, was es notwendig macht, diesen Aspekt auch theoretisch zu fassen. Auf der anderen Seite minimiert dies selbstverständlich nicht die Relevanz eines Zugangs, der sich auf „flow“ und „fluid“ fokussiert (siehe dazu meine weiter unten folgende Argumentation).
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finition von Netzwerk anknüpfen, die sich mit der Definition vieler anderer trifft. Für Castells sind Netzwerke „offene Strukturen und in der Lage, grenzenlos zu expandieren und dabei neue Knoten zu integrieren, solange diese innerhalb des Netzwerks zu kommunizieren vermögen, also solange sie die selben Kommunikationscodes besitzen – etwa Werte oder Leistungsziele“ (Castells 2001: 528f.).
Dieses Zitat verweist auf einige wichtige Aspekte, die man beim Theoretisieren von Netzwerk berücksichtigen sollte. In einem bestimmten Sinne ist tautologisch zu argumentieren, Netzwerke bestehen aus Konnektivitäten (Fäden, Kurven usw.), die miteinander in Knoten verbunden sind. Dies ist bloß eine Beschreibung von Netzwerk im Sinne einer alltagssprachlichen Metaphorik. In der gegenwärtigen Theoriediskussion bekommen diese Ausdrücke jedoch eine spezifische Bedeutung. Es ist zunehmend offensichtlich, dass sich die Konnektivität eines Netzwerks entlang bestimmter Kodes artikuliert. Strukturen sozialer Netzwerke sind nicht einfach da, sondern werden in einem fortlaufenden kontextualisierten Prozess (re)artikuliert. Dies macht es beispielsweise möglich, dass ein und dieselbe Person Teil unterschiedlicher Netzwerke sein kann: Er oder sie kann Teil eines Freundschaftsnetzwerks sein (wo eine bestimmte Art sozialer Beziehung der dominante Kode ist), oder auch Teil des Netzwerks einer sozialen Bewegung (wo bestimmte kulturelle Werte und politische Ziele der dominante Kode sind). Dies scheint der Grund dafür zu sein, warum Netzwerkstrukturen im Einzelfall so offen und die Grenzen von Netzwerken so unscharf sein können, während Netzwerke nichtsdestotrotz strukturierende Kräfte darstellen: Ein Freundschaftsnetzwerk stellt an uns bestimmte Anforderungen, ebenso wie das politische Engagement in einer sozialen Bewegung andere Möglichkeiten politischen Handelns ausschließt.14 In diesem Fall wird so bei einer differenzierten Diskussion von Castells’ eigenem Begriff des Netzwerks deutlich, dass das Entscheidende nicht einfach die Feststellung ist, etwas sei ein Netzwerk. Entscheidend ist vielmehr, inwiefern die Betrachtung von soziokulturellen Phänomenen als Netzwerk die Spezifik von deren Strukturiertheit greifbar macht – gewissermaßen: den Kode des Netzwerks. Entsprechend ist dann zu klären, ob die Besonderheit der Netzwerkgesellschaft die Dominanz bestimmter Formen von Netzwerken ist – und wenn ja, welche dies sind.15 Die bisherigen Anmerkungen helfen zu fassen, was man unter dem Ausdruck Knoten verstehen kann. Auf einer neutralen Ebene kann man sagen, ein
14 Selbiges lässt sich auch ausschließlich am Beispiel des Freundschaftsnetzwerks deutlich machen: Während alle diese Netzwerke entlang des ‚Kodes Freundschaft‘ operieren, wechselt der ‚Fokus von Freundschaft‘ (‚Freundschaft mit wem‘) über das Netzwerk. Dies ist exakt der Grund, warum es nicht möglich ist, eindeutige ‚Grenzen‘ von Personennetzwerken zu bestimmen. Auf diese Weise lässt sich auch das „small world theorem“ einordnen (selbst wenn zwei Personen keinen direkten Freund gemeinsam haben, stehen sie doch nur durch eine kurze Kette von Zwischenpersonen miteinander in Kontakt, siehe Watts (2004)). 15 Generell kann man argumentieren, dass diese Spezifik die zunehmende alltagsweltliche Verbreitung deterritorialer Netzwerke ist (vgl. Hepp 2006e).
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Knoten ist der Punkt, wo eine Konnektivität (Faden, Kurve usw.) eines Netzwerks sich selbst kreuzt.16 Auf einen ersten Blick mögen solche Formulierungen irritieren. Nichtsdestotrotz helfen Sie uns, den wichtigen Punkt zu verstehen, dass Knoten innerhalb von Netzwerkstrukturen vollkommen unterschiedliche Dinge sein können. Wir können personale Kommunikation als einen Prozess der Herstellung einer bestimmten Art von Konnektivität verstehen, in der die sprechenden Personen die zentralen Knoten sind. Knoten können aber ebenso andere soziale Formen haben. Zum Beispiel kann man lokale Gruppen als Knoten in dem Netzwerk einer weitergehenden sozialen Bewegung beschreiben oder man kann Organisationen wie lokale Unternehmungen als Knoten in einem weitergehenden Firmennetzwerk begreifen. Netzwerkstrukturen können auf vollkommen unterschiedlichen Ebenen ausgemacht werden – und das ist der Grund, warum dieses Konzept eine Chance eröffnet, strukturierende Kräfte über verschiedene Ebenen hinweg zu beschreiben und zu vergleichen. Ein Begriff, der wichtig erscheint, wenn wir die Strukturaspekte von Konnektivität diskutieren, ist der des Schalters. Wiederum war es Manuel Castells, der diesen Ausdruck in die wissenschaftliche Diskussion gebracht hat. Für Castells ist ein Schalter ein spezifischer Knoten, der verschiedene Netzwerke miteinander verbindet. Der Ausdruck Schalter bezieht sich auf die Idee, dass dieser Knoten dazu in der Lage sein muss, den Kode eines Netzwerks in den eines anderen zu ‚übersetzen‘. Um dies verständlicher zu machen ist es hilfreich, sich die Knoten näher zu betrachten, die Castells als ‚Schalter‘ beschreibt. Die Beispiele, auf die er sich fokussiert, sind die Netzwerke von Kapital, Information und Management (vgl. Castells 2001: 529). Deren unterschiedliche Strukturen sind über spezifische Schalter miteinander ‚verbunden‘, die er in so genannten globalen Städten ausmacht. Schalter sind in diesem Sinne die Knoten, wo zentrale Momente von Macht innerhalb von Netzwerkstrukturen konzentriert sind, wobei sich diese Machtkonzentration in der ‚Übersetzungsfähigkeit‘ der Kodes von einem Netzwerk zum anderen manifestiert. Genau durch solche ‚Übersetzungsleistungen‘ sind globale (Medien-)Städte gekennzeichnet (vgl. Krätke 2002). Diese Idee eröffnet neue Möglichkeiten, Machtbeziehungen innerhalb von (globalen) Netzwerken zu analysieren: Während Machtbeziehungen in der Gesamtheit sozialer Netzwerke fußen – wie Michel Foucault herausgestrichen hat (vgl. Foucault 1996: 43) –, hilft uns das Konzept des Schalters zu verstehen, wo Machtbeziehungen innerhalb von Netzwerken insbesondere konzentriert sind, nämlich an der Position, wo verschiedene Netzwerke miteinander interagieren. Dieses Netzwerk-Denken, wie ich es beschrieben habe, eröffnet meines Erachtens eine Art und Weise, die strukturellen Aspekte von Konnektivität zu beschreiben, in der man das Paradox der gleichzeitigen Offenheit und Geschlos16 Selbstverständlich erscheint es dabei wichtig, zwischen „starken“ und „schwachen“ Verbindungen zu unterschieden. Siehe dazu beispielsweise die klassischen Argumente von Granovetter (1983).
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senheit von Netzwerken fassen kann. Auf der einen Seite sind die Strukturen von Netzwerken in dem Sinne offen, dass sie (mehr oder weniger) einfach neue Knoten integrieren und wachsen können, ohne deren Stabilität zu verlieren. Hierauf Bezug nehmend sind Netzwerke offen. Auf der anderen Seite sind Netzwerke gleichzeitig geschlossen, indem diese Prozesse der Ausdehnung entlang bestimmter Kodes geschehen, die das Spezifische eine Netzwerks und dessen Macht bestimmen. In diesem Sinne sind einzelne Netzwerke (beispielsweise das der Organisationselite einer Partei oder eines Geheimbundes) geschlossen, auch wenn selbstverständlich stets neue Mitglieder zum Bestehen dieses Netzwerks aufgenommen werden müssen. Eine bestimmte Offenheit von Netzwerken besteht schließlich, indem Schalter die Möglichkeit bieten, über bestimmte Kodegrenzen hinweg zu kommunizieren. Dies ist der Punkt, an dem die Netzwerkmetapher produktiver zu sein scheint als die Systemmetapher der gegenwärtigen funktionalistischen Systemtheorie: Systeme werden – wie beispielsweise in den Arbeiten von Niklas Luhmann (Luhmann 1997) – als geschlossene Strukturen gedacht, die sich selbst auf autopoietische Weise reproduzieren. Wegen deren autopoietischer Struktur besteht für Systeme keine Möglichkeit, auf direkte Weise miteinander zu interagieren. Anstatt dessen sind sie miteinander durch strukturelle Kopplung verbunden. Mit solchen Konzepten eröffnet die funktionalistische Systemtheorie sicherlich einen kohärenten Begriffsrahmen, ihre Schwäche besteht aber in deren Fokus auf eindeutige Systemgrenzen und Systemintegration. Netzwerk als Konzept eröffnet eine wesentlich vielschichtigere Möglichkeit des Denkens, das angemessen erscheint für die Paradoxien gegenwärtiger Medienkommunikation,17 ohne aber Fragen von Struktur und Macht aus dem Blick zu verlieren. Wie ich argumentiert habe, ist der Fokus auf Netzwerke nur eine Möglichkeit, Konnektivität zu betrachten. Ebenso wichtig wie dieser Strukturaspekt ist der Prozessaspekt. Der verbreitetste Ausdruck, um diese Prozesse zu beschreiben, ist der des Flusses im Sinne von Englisch „flow“ oder „fluid“.18 Flüsse operieren entlang bestimmter Netzwerkstrukturen. Beispielsweise muss der Nachrichtenfluss auf der Basis unterschiedlicher Mediennetzwerke gefasst werden (vgl. Boyd-Barrett/Thussu 1992; Boyd-Barrett/Rantanen 1998; Boyd-Barrett 1997), während der Fluss von Migranten entlang bestimmter Personennetzwerke erfolgt (vgl. Pries 2001).
17 Siehe Karmasin (2004) zum Konzept des Paradox in der Medien- und Kommunikationswissenschaft. 18 Im Englischen bestehen durchaus begriffliche Differenzen zwischen beiden Ausdrücken, indem „fluid“ nicht nur Strom bzw. Flüssigkeit impliziert, sondern ebenso Gas und dessen Flüchtigkeit. Dies eröffnet sicherlich ein produktives Feld von Metaphern, wie das Buch „Liquid Modernity“ (dt. „Flüchtige Moderne“) von Zygmunt Bauman (2000) deutlich macht. Nichtsdestotrotz verbleibt hier das Risiko, strukturelle Aspekte von Konnektivität aus dem Blick zu verlieren, indem man sich ausschließlich auf die Auflösung traditioneller Institutionen der Moderne fokussiert, anstatt deren Transformation in neue Strukturen ebenso in das Blickfeld zu rücken.
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Insbesondere John Urry hat argumentiert, dass das Konzept des Flusses19 in hohem Maße geeignet erscheint, die sozialen und kulturellen Prozesse der Gegenwart zu fassen, indem diese Konzepte die Möglichkeit für eine neue Form von Soziologie eröffnen würden, der es gelingen kann, die zunehmend mobilen kulturellen Formen zu fokussieren. Urry argumentiert, „ [the] development of a ‚mobile sociology‘ demands metaphors that view social and material life as being ‚like the waves of a river‘“ (Urry 2003: 59). Ausgehend von dieser Vorstellung favorisiert Urry das Konzept des globalen Flusses („global fluid“), mit dem er betonen möchte, dass Flüsse unzweifelhaft Netzwerke nötig machen, nichtsdestotrotz die Spezifik dieser globalen Flüsse darin besteht, dass sie Netzwerke überschreiten und zum Teil selbstorganisierend sind im Hinblick auf deren Schaffen und Aufrechterhalten von Grenzen (vgl. Urry 2003: 60). Solche Argumente sind aus meiner Perspektive sehr interessant, da sie gleichzeitig hilfreich und problematisch erscheinen. Sie sind hilfreich, indem sie den überschreitenden Charakter von Flüssen betonen: Flüsse wie der Fluss der Kommunikation einer bestimmten Information überschreiten unterschiedliche Netzwerke, und dies ist der Grund, warum das Konzept des Flusses und das des Netzwerkes voneinander zu unterscheiden sind. Auf der anderen Seite erscheinen diese Argumente problematisch, indem Urry hieraus – trotz seiner Kritik an der funktionalistischen Tradition – einen selbstorganisierenden Aspekt globaler Flüsse folgert. Wenn wir jedoch solch abstrakte Argumentationen auf die Ebene der Alltagserfahrungen herunterbrechen, stellen wir fest, dass zumindest die globalen Kommunikationsflüsse nicht autonome Phänomene sind, sondern strukturiert werden durch die Kommunikationsnetzwerke, entlang derer sie ‚reisen‘ – und dass diese strukturierenden Aspekte etwas mit Macht zu tun haben. Was ich hier deutlich machen möchte ist, dass Urry sicherlich Recht hat mit seiner Betonung der Komplexität (globaler) Flüsse. Was problematisch erscheint, ist seine Tendenz aufzugeben, danach zu fragen, was die strukturierenden Aspekte (globaler) Komplexität sind und wie diese mit Machtbeziehungen verwoben sind.20 Trotz deren provisorischem Charakter erscheinen mir theoretische Konzepte wie das des Schalters als machtgeprägter Überschreitungspunkt unterschiedlicher Netzwerke eine geeignetere Art und Weise, über Macht in globaler Komplexität nachzudenken, als von selbstorganisierenden Aspekten von Flüssen zu sprechen. Es sind exakt diese Schalter, die in der Alltagswelt sehr manifest sind: Wenn wir Medienkommunikationsflüsse betrachten, müssen wir unseren Blick auf global handelnde Medienkonzerne lenken, während wir gleichzeitig anerkennen müssen, dass diese Teil eines zunehmend globalen Kapitalismus mit entsprechenden Finanznetzwerken und -flüssen sind – ein Kapitalismus, der sich an spezifischen globalen Medienstädten kon19 Urry gebraucht beide Ausdrücke „flow“ und „fluid“ synonym. Zu deren begrifflichen Nuancen siehe meine vorherige Anmerkung. 20 Dies bedeutet selbstverständlich nicht, dass Urry keine Fragen von Macht diskutieren würde. Siehe dazu Urry (2003: 104-119).
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kretisiert (vgl. Hepp 2004: 259-274) und eher Unsicherheit und Ambiguität produziert als ein kollektives Verstehen (vgl. Ang 2003). Ausgehend hiervon können wir folgern, dass Flüsse kein momentanes Ereignis sind, sondern langfristige Konglomerate von Prozessen. Es gibt unterschiedliche Begriffe, die sich etabliert haben, um diese Konglomerate zu bezeichnen, wie beispielsweise „space“ in Castells’ Konzept des Raums der Ströme (vgl. Castells 2001: 43 1) oder „scape“ in Arjun Appadurais (Appadurai 1996: 33) bekannter Unterscheidung von Ethnoscapes, Mediascapes, Technoscapes, Financescapes und Ideoscapes. Theoretische Konzepte wie diese versuchen in den Griff zu bekommen, dass unterschiedliche (globale) Flüsse komplexe Landschaften konstituieren, die in deren eigener Logik zu beschreiben sind. Die Flüsse bestehender Konnektivitäten existieren nicht als isolierte Einzigartigkeiten, sondern konstituieren den Teil eines komplexeren Ganzen. Während man im Allgemeinen zeigen kann, wie zielführend räumliche Konzepte sind, um Langzeitkonglomerate von Flüssen greifbar zu machen (vgl. für solche Argumente Morley 1996: 327-331), erscheint mir insbesondere ein bestimmtes theoretisches Konzept konkrete empirische Analysen zu ermöglichen, nämlich das der Verdichtung (vgl. Löfgren 2001). Wenn wir unsere Gegenwart begreifen als gekennzeichnet durch eine zunehmend globale Konnektivität von Netzwerken und Flüssen, die ineinander übergehen und unklare Grenzen haben, müssen wir die Frage beantworten, wie wir dennoch nach wie vor bestehende kulturelle, ökonomische und andere Konglomerate fassen. Wenn wir diese als bedeutungstragende Verdichtungen von Flüssen entlang von und über Netzwerke hinweg beschreiben, betonen wir einerseits die Spezifik solcher Konglomerate und gleichzeitig andererseits deren unscharfe Grenzen. Es ist damit offenkundig, dass das Konzept der Verdichtung den offenen und überschreitenden Charakter von Netzwerken und Flüssen greifbar macht und gleichzeitig das Charakteristische des Raums oder Scapes lang anhaltender Konglomerate: Verdichtungen sind gewissermaßen eine fokussierte und bedeutungsvolle Spezifik mit unscharfen Grenzen. Bei einer analytischen Auseinandersetzung mit Netzwerkgesellschaften ginge es letztlich darum, die Spezifik solcher Verdichtungen und deren Wandel empirisch zu fassen.
4 Netzwerke des Alltags: Alltag, Alltagsleben und Alltagswelt Wie ich versucht habe zu zeigen, lässt sich eine Auseinandersetzung mit Prozessen der Medienkommunikation – ob mittels ‚neuer‘ digitaler Medien oder ‚traditioneller‘ elektronischer Medien – sinnvoll im Metaphernrahmen von Konnektivität, Netzwerk und Fluss fassen, in den sich auch das Konzept der Netzwerkgesellschaft einfügt: Auch wenn ein von diesen Metaphern ausgehender Begriffsrahmen sicherlich einer weiteren Ausdifferenzierung und Konkretisierung bedarf, erscheint dieser einerseits anschlussfähig für die kommunikations- und
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medienwissenschaftliche Forschung, andererseits aber auch für kultur- und sozialwissenschaftliche Reflexionen zu übergreifenden Wandlungsprozessen. Wie sieht eine solche Ausdifferenzierung und Konkretisierung aber auf der Ebene des Alltags aus, also in Bezug auf den Kontextbereich, auf den Medienaneignung letztlich verweist? Um diese Frage zu beantworten, ist es zunächst einmal unabdingbar, zumindest ansatzweise die Hauptdiskussionslinien um Alltag, Alltagsleben und Alltagswelt in der Kommunikations- und Medienwissenschaft zu betrachten, um dann zu einem Theoretisierungsvorschlag im Rahmen des Metaphernfelds von Konnektivität, Netzwerk und Fluss gelangen zu können. Die Konzepte von Alltag, Alltagsleben oder Alltagswelt sind in der Kommunikations- und Medienwissenschaft – zumal in einem internationalen Kontext – keine sich selbst erklärenden Begriffe. Wie es Tony Bennett in einem Eintrag zu „Alltag“ in der neu erschienenen Auflage von „Keywords“ formuliert, impliziert der Ausdruck Alltag gemeinhin einen „Kontrast mit einem anderen Ausdruck, so dass abhängig vom Kontext dessen Bedeutung variiert“ (Bennett 2005: 115). Bennett selbst unterscheidet dann vier Verwendungsweisen von Alltag in den Kultur- und Sozialwissenschaften, nämlich erstens Alltag als das Vorherrschen von alltäglichen Ereignissen (in Abgrenzung zu Ereignissen des Festlichen oder Außeralltäglichen), zweitens Alltag als das Zwanglose und Informelle (in Abgrenzung zum Formellen), drittens Alltag als das Gewöhnliche (in Abgrenzung zum Fremden oder Ungewöhnlichen) und viertens Alltag als das Mundane, Unbeachtete und Routinierte (in Abgrenzung zu dessen Infragestellung). Letztlich schwingen die unterschiedlichen (wissenschaftlichen) Verwendungsweisen von Alltag – gerade in deren abgrenzendem Charakter – generell in der Verwendung des Konzepts in der Kommunikations- und Medienwissenschaft mit. Hier wurde Alltag aufgegriffen, um die Alltäglichkeit der Ereignisse der Mediennutzung im Kontext anderer alltäglicher Ereignisse zu betrachten (vgl. beispielsweise Bausinger 1983), es geht um die in der Gewöhnlichkeit zu findende Produktivität des Medienkonsums im Alltag (vgl. beispielsweise Mikos 1994) oder um dessen Einbettung in die Routinen des Alltags (vgl. Lull 1988). Solche verschiedenen Verwendungsweisen eröffnen in der Fachgeschichte der Kommunikations- und Medienwissenschaft insgesamt eine weitere Differenz, nämlich die eines In-Distanz-Tretens zur traditionellen Massenkommunikationsforschung, die mit ihrem Fokus auf politische Kommunikation bzw. so genannte Qualitäts-Nachrichtenmagazine und -Zeitungen gerade nicht den Mediengebrauch der Menschen ‚im Alltag‘ im Blick gehabt habe, d.h. den der ‚gewöhnlichen‘ Menschen (vgl. Morley 1992: 43-71). Diese allgemeinen Argumente konkretisierend, wird innerhalb der internationalen Kommunikations- und Medienforschung meist nicht vom Alltag, sondern dem Alltagsleben („everyday life“) gesprochen. Mit dem Begriff des Alltagslebens sind weitergehende, d.h. über eine bloße Entgegenstellung zu etwas hinausgehende Theoretisierungen verbunden. Greift man diesbezüglich die Überlegungen von Roger Silverstone (1994: 161-165) auf, so lassen sich drei
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Theoretisierungskontexte unterscheiden. Dies ist erstens der Kontext der Kritischen Theorie, zweitens der Kontext der Populärkulturforschung und schließlich drittens der uns hier vor allem interessierende Kontext des Versuchs differenzierterer Neutheoretisierungen.21 Innerhalb der Kritischen Theorie sind insbesondere die Arbeiten von Henri Lefebvre herauszustreichen, der sich in zwei größeren Publikationen mit dem Alltagsleben auseinandersetzt. Hierbei stellt Lefebvre das Alltagsleben als Leben in einer „bürokratische[n] Gesellschaft des gelenkten Konsums“ (Lefebvre 1985: 88) dem Alltag jenseits des Kapitalismus gegenüber, der für ihn vital, authentisch und das eigentlich Originale ist. Auch wenn es Lefebvre dann insbesondere um eine Kritik des Alltagslebens – der Arbeit, Freizeit und Familie – bzw. dessen Entfremdung im Kapitalismus geht, ist dieses für ihn nicht nur Gegenstand der Kritik, sondern es entfaltet selbst mit seinen Bezügen zum Alltag ein kritisches Potenzial: Die „Formen der Sozialität und der Kommunikation […] sind diese Kritik, insofern als sie etwas anderes sind als das Alltagsleben und sich als in ihm selbst Vorhandene, auf Entfremdung ausweisen“ (Lefebvre 1987: 51). Das Alltagsleben erscheint in dieser Perspektive also in seiner Entfremdung gebrochen, gleichwohl aber durch den Kapitalismus kolonialisiert. In der Populärkulturforschung sind vor allem die Arbeiten von Michel de Certeau (1988) prägend gewesen, für den das Alltagsleben der Raum der Aneignungspraktiken ist. Ihm geht es bei seiner Betrachtung um die „populäre Kultur“ (Certeau 1988: 12) des Alltags, die sich im Konsum artikuliert. Dieser ist für ihn die „Produktion“ eigener Bedeutung und dabei das „Gegenstück zur rationalisierten, expansiven, aber auch zentralisierten, lautstarken und spektakulären Produktion“ (Certeau 1988: 13) der Herstellung von Kulturprodukten. Gleichzeitig ist er aber auch eine „Umgangsweise mit den Produkten, die von einer herrschenden ökonomischen Ordnung aufgezwungen werden“ (ebd.). Entsprechend bezeichnet de Certeau die alltäglichen Praktiken (des Konsums) als „Aneignungspraktiken“ (Certeau 1988: 19), die „taktisch“ orientiert sind, d.h. situativ in den Orten, die ihnen durch „Strategien“ der Machthabenden zur Verfügung gestellt werden, „eigene“ Verständnisräume entfalten (vgl. Krönert 2008). Auch wenn hier eine ähnliche Ambivalenz bezüglich des Alltagslebens anklingt, wie wir sie bereits in den Argumenten Lefebvres finden, so ist der Grundtenor der Argumentation von de Certeau doch ungleich optimistischer: Es ist vor allem das Eigensinnige des Alltagslebens, das in seiner Betrachtung von Populärkulturen in den Vordergrund rückt – und insbesondere dies war der Grund dafür, dass dessen Arbeiten zu einem zentralen Bezugspunkt der Populärkulturforschung wurden. Innerhalb der Kommunikations- und Medienwissenschaft war es vor allem John Fiske, der die Argumentation von de Certeau breit 21 In Anlehnung an Voß (2000) unterscheiden Friedrich Krotz und Tanja Thomas (2007) in Abgrenzung zur folgenden Systematisierung phänomenologische, materialistische und tätigkeitsorientierte Ansätze zur Theoretisierung von Alltag.
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aufgriff. Zwar konzeptionalisierte Fiske das Alltagsleben dabei durchaus auch als widersprüchlich und durch konfliktäre Machtverhältnisse geprägt (vgl. Fiske 1989: 32-43). Dennoch bleibt für ihn die Produktivität der Menschen dasjenige, was das Alltagsleben ausmacht. Das Alltagsleben ist für ihn „charakterisiert durch die Kreativität der Schwachen bei deren Gebrauch der Ressourcen, die ihnen von einem entmachtenden System zur Verfügung gestellt werden, während sie sich letztlich weigern, sich dieser Macht unterzuordnen“ (Fiske 1989: 47). Entsprechend ist ein solches zweites Verständnis des Alltagslebens dadurch gekennzeichnet, dass dieses als Ort des Populären, seiner Vergnügen und Widerstände konzeptionalisiert wird. Die dritte Theoretisierung von Alltagsleben – in der Roger Silverstone auch seine eigenen Arbeiten einordnet – versucht mit Bezug zu empirischer Forschung der an den beiden skizzierten Verständnissen greifbar werdenden Paradoxie des Alltagslebens gerecht zu werden. Silverstone verweist auf die Argumente von de Certeau, dass sich das Alltagsleben durch (Aneignungs-)Praktiken artikuliert – gleichzeitig aber auf bestehenden kulturellen Differenzen der Bedeutungsproduktion beruht. Das Paradox des Alltagslebens besteht folglich darin, dass es sowohl der Ort als auch das Ergebnis einer nicht weiter problematisierten, machtgeprägten Bedeutungsproduktion ist. Wie es Silverstone selbst formuliert: „Everyday life becomes then the site for, and the product of, the working out of significance. The meaning that we produce, the representations that we reject or appropriate, the identities we attempt to secure, the rituals we accept, are all both found and created within a shared, often disputed and always highly differentiated social space. In the paradox of finding and creating – and in the constant tension that results – structures are simultaneously accepted, exploited and challenged. Herein lies the possibility, indeed the necessity and inevitability, of change“ (Silverstone 1994: 164f.).
Ein solches Verständnis von Alltagsleben erscheint für eine kommunikationsund medienwissenschaftliche Auseinandersetzung deswegen als ein wichtiger Schritt, weil es notwendigerweise den Blick multiperspektivisch wiederum auf das Wie von alltäglichen Medienaneignungsprozessen lenkt: Es geht also nicht einfach darum, alltäglichen Medienkonsum als Ausdruck von Kapitalismus zu begreifen (wie im Begriff des Alltagslebens in der Tradition Lefebvre) oder aber alltägliche Aneignungspraktiken als Widerstand oder Eigensinn gegenüber den Mächtigen zu verstehen (wie in einer unangemessenen Verengung der Analyseperspektive von de Certeau), sondern vielmehr darum, Alltagsleben als den „hochgradig differenzierten sozialen Raum“ (Silverstone 1994: 165) zu betrachten, in dem die Aneignung von Medien erfolgt bzw. der mit dessen fortschreitender Mediatisierung durch die Aneignung von Medien selbst mit artikuliert wird. Doch wie können wir diese Vorstellung des Alltagslebens weiter konkretisieren, um eine Auseinandersetzung mit diesem Wie von Medienaneignung im Gesamtrahmen des Metaphernrahmens von Konnektivität, Netzwerk und Fluss zu betreiben? Wirft man diese Frage auf, so hilft ein Blick auf einen anderen
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Klassiker der Beschäftigung mit Alltag weiter, nämlich Alfred Schütz. Dieser hat in seinem postum erschienenen und von Thomas Luckmann abgeschlossenen zweibändigen Werk „Strukturen der Lebenswelt“ nicht von Alltagsleben gesprochen, sondern von Alltagswelt.22 Die Alltagswelt oder – wie er sie auch nennt – alltägliche Lebenswelt ist für Schütz der Wirklichkeitsbereich der Lebenswelt23 eines Menschen, „den der wache und normale Erwachsene in der Einstellung des gesunden Menschenverstands als schlicht gegeben vorfindet“ (Schütz/Luckmann 1979: 25). Sie ist „bis auf weiteres unproblematisch“, „intersubjektiv“, wird als „fraglos gegeben“ hingenommen. Sie ist „unsere vornehmliche Realität“, die Natur, Sozial- und Kulturwelt umfasst. Fassen wir also zusammen: Die Alltagswelt oder auch alltägliche Lebenswelt bezeichnet den lokalen Lebenszusammenhang eines Menschen. Dieser zeichnet sich dadurch aus, dass er intersubjektiv ist, bis auf weiteres als unproblematisch angenommen wird sowie der Bereich der primären Wirklichkeitserfahrung als auch des Alltagshandelns ist. Solche Überlegungen pointieren einerseits die eingangs mit Bezug auf Bennett unterschiedenen Verwendungsweisen des Ausdrucks Alltag in einem wissenschaftlichen Konzept. Andererseits helfen sie uns weiter, einen für eine Auseinandersetzung mit dem Medienalltag in der Netzwerkgesellschaft angemessenen Begriff von Alltagswelt zu entwickeln. Als zentraler Aspekt erscheint für diesen das Ansetzen bei einer egozentrierten – also: auf das einzelne Individuum fokussierten – Perspektive, bei einer gleichzeitigen Berücksichtigung der Intersubjektivität und Unproblematik der Alltagserfahrung.24 Diese Vorstellung von Alltagswelt lässt sich auf den bisher skizzierten Begriffsrahmen einer konnektivitätstheoretischen Betrachtung von Medienkommunikation beziehen. So kann die Alltagswelt selbst in Bezug gesetzt werden zu spezifischen Konnektivitäten, nämlich (a) Netzwerken von Personen und Orten und (b) Flüssen von Kommunikation und physischer Bewegung. 1. Netzwerke der Alltagswelt: In welchem Maße die Alltagswelt historisch und gegenwärtig auf struktureller Ebene als Netzwerk gefasst werden kann, haben die eingangs in diesem Artikel zitierten Überlegungen von Manuel Castells deutlich gemacht. Dieser bezieht das Konzept des Netzwerks ja insbesondere auf die Strukturen der Alltagswelt,25 wenn er argumentiert, „in historischer Hinsicht waren Netzwerke die Domäne des privaten Lebens“ (Castells 2006: 4). Erst durch die digitalen Medien – so seine auf die Netzwerkgesellschaft bezogene Argumentation – konnte das Strukturierungsprinzip des Netzwerks der-
22 Teilweise gebraucht Schütz den Ausdruck des Alltagslebens aber synonym zu dem der Alltagswelt, beispielsweise wenn er davon spricht, „die gesamte Wirklichkeit des Alltagslebens als unsere vornehmliche Realität anzusetzen“ (Schütz/Luckmann 1979: 27). 23 Weitere Bereiche der Lebenswelt – neben der Alltagswelt oder alltäglichen Lebenswelt – sind nach Schütz beispielsweise Phantasie- oder Traumwelten (vgl. Schütz/ Luckmann 1979: 47). 24 Letztlich ist dies das Argument, warum auch Friedrich Krotz und Tanja Thomas (2007) ihre Überlegungen auf die Argumentation von Alfred Schütz stützen. 25 Hierbei ist wichtig im Blick zu haben, dass Schütz und Luckmann in einem anderen Sinne von „Strukturen der Lebenswelt“ sprechen, nämlich im Sinne deren innerer logischer Strukturiertheit.
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maßen ein gesamtgesellschaftlich dominierendes Strukturprinzip werden. Auch wenn der zweite Teil seiner Argumentation, wie wir gesehen haben, aufgrund von deren impliziter Essenzialisierung von Netzwerk(gesellschaft) problematisch ist, so kann man doch dem ersten Teil seines Arguments zustimmen, dass das „private Leben“ in der Alltagswelt sinnvoll in seiner Struktur entlang des Konzepts des Netzwerks gefasst werden kann. Inwieweit die Beschreibungsmetapher des Netzwerks hilfreich ist, die Alltagswelt weiter analytisch zu fassen, wird deutlich, wenn wir uns deren Personennetzwerke vergegenwärtigen: So können nicht nur Familie und Verwandtschaft sinnvoll als alltagsweltliche Personennetzwerke beschrieben werden. Ähnliches gilt auch für den Freundeskreis, die Clique, posttraditionale Vergemeinschaftungen wie „Szenen“ (Hitzler/Bucher/Niederbacher 2001) oder „deterritoriale Vergemeinschaftungen“ (Hepp 2006a), die sich letztlich als thematisch fokussierte Netzwerke von Personen bzw. von lokalen Gruppen von Personen begreifen lassen. Dabei sind – wie wir ebenfalls bereits gesehen haben – die digitalen Medien zunehmend ein Instrument der Artikulation solcher alltäglichen Beziehungsnetzwerke.26 Neben dieser Dimension der Personen- bzw. Beziehungsnetzwerke muss man aber auch im Blick haben, dass die Alltagswelt stets eine physische Komponente hat – letztlich auch ‚Natur‘ ist, wie in der Argumentation von Schütz anklingt. Der Aspekt, der hier aus kommunikations- und medienwissenschaftlicher Perspektive von Relevanz ist, ist der des Ortes/der Lokalität. So ist Teil der Alltagswelt auch ein charakteristisches Netzwerk ihrer Orte, für das wir den Begriff des Lokalen verwenden können. Unter dem Lokalen ist in diesem Sinne der Raum der Vernetzung derjenigen Lokalitäten zu verstehen, die im Handeln des Alltagsleben für eine in einem bestimmten kulturellen Kontext lebende Person erreichbar sind.27 Eine Lokalität ist entsprechend ein in Bezug auf materielle bzw. physische Aspekte gefasster, soziokulturell definierter Ort.28 Dass eine solche Betrachtung von Netzwerken des Lokalen aus kommunikations- und medienwissenschaflicher Perspektive zielführend ist, hängt damit zusammen, dass diese alltagsweltlichen Lokalitäten der Bezugsort von Medienaneignung sind: In den Lokalitäten der Alltagswelt werden die (digitalen) Medien genutzt – ob privat oder öffentlich, ob individuell oder kollektiv. Diese Lokalitäten dabei selbst in einem Netzwerk des Lokalen zu sehen, erscheint insofern als zielführend, als sie im Alltagsleben nicht einfach nebeneinander stehen,
26 Eine Vorreiterrolle hat hier sicherlich die deterritoriale Vergemeinschaftung der Open-SourceBewegung. Siehe dazu Tepe/Hepp (2008). 27 Dies verweist an dieser Stelle durchaus auf Überlegungen von Schütz und Luckmann zur räumlichen Aufschichtung der Lebenswelt, hier insbesondere die Welt in potenzieller Reichweite (vgl. Schütz/Luckmann 1979: 63-72). 28 Die Bedeutung und Grenzen von Lokalitäten werden in einem Prozess der Auseinandersetzung bzw. des Aushandelns definiert, wobei dieser Prozess idealtypisch im Spannungsverhältnis zwischen strategischen und taktischen Kräften zu fassen ist (vgl. Hepp 2004: 175-182).
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sondern durch unsere physischen Mobilitäten – durch unsere Bewegungsflüsse in der Alltagswelt – miteinander verbunden sind. 2. Flüsse der Alltagswelt: Das letzte Argument hat deutlich gemacht, dass eine kommunikations- und medienwissenschaftliche Betrachtung von Alltagswelt auch einer Theoretisierung ihrer Flüsse bedarf. Bevor wir aber den Blick auf Flüsse physischer Bewegung lenken, erscheint zunächst einmal der Blick auf Flüsse der Kommunikation notwendig. Letztlich artikulieren sich die bereits genannten Beziehungsnetzwerke des Alltags – die Familie, Clique, Vergemeinschaftung, etc. – über Flüsse der (Medien)Kommunikation, also indem wir mit unseren Freunden reden, indem wir in der Szene (medienvermittelt oder nicht) kommunizieren usw. Auf Beziehungsstrukturen verweisen diese zuerst einmal situativen Flüsse der Kommunikation, wenn sie durch eine Dauerhaftigkeit affektive Verbindlichkeiten schaffen. Aus kommunikations- und medienwissenschaftlicher Perspektive sind diese Kommunikationsflüsse des Alltags aber auch in weiterer Hinsicht von Relevanz: Letztlich sind es deren Alltagsdiskurse, durch die Medieninhalte wie auch Medientechnologie in die Alltagswelt integriert werden: Es ist insbesondere die personale Kommunikation mit Anderen, durch die wir uns bestimmte Medieninhalte und Medientechnologie – ob die ‚alter‘ oder die ‚neuer‘ Medien – zu Eigen machen (vgl. beispielsweise Keppler 1994; Gillespie 1995; Hepp 1998; Barker 1998). Mit der Etablierung der technischen Medien personaler Kommunikation können diese Alltagsdiskurse selbst medienvermittelt stattfinden, beispielsweise via Telefon, E-Mail oder in Chat-Rooms des Internet. Dies ändert jedoch nichts an dem Stellenwert, den diese für eine Medienaneignung im Sinne einer kulturellen Lokalisierung in der Alltagswelt haben. Trotz aller zunehmenden Mediatisierung der Alltagswelt bleiben deren Flüsse aber auch physischer Natur. Zu denken ist hier an physische Flüsse der Bewegung von Menschen, die zuerst einmal im Lokalen stattfinden, d.h. zwischen den verschiedenen Lokalitäten der Alltagswelt. Bereits dies verweist in erheblichem Maße auf spezifische Formen der Medienaneignung. So argumentiert beispielsweise Raymond Williams mit seinem Konzept der „mobilen Privatisierung“, dass das Aufkommen von sogenannten Massenmedien in Beziehung zu sehen ist zu der zunehmenden Mobilität zwischen Arbeitsort und (privatisiertem) Wohnort (vgl. Williams 1990). Massenmedien wie die Zeitung, vor allem aber das Radio oder Fernsehen gestatten es, solche verschiedenen Orte bzw. die Bewegung zwischen ihnen in einem Kommunikationsraum zu binden. Mit einem ähnlichen argumentativen Fluchtpunkt arbeitet Michael Bull (2000, 2006) heraus, dass die rasante Verbreitung mobiler (digitaler) Kommunikationsendgeräte wie Autoradio, Mobiltelefon, Walkman oder iPod in Beziehung zu sehen ist zur Notwendigkeit des kommunikativen Managements dieser Mobilität. Solche mobilen Terminals (Tomlinson 2006) gestatten es, dass auch Menschen in Bewegung ihre eigene „soundscape“ kontrollieren. Insofern steht die lokale Mobilität in enger Beziehung zur kommunikativen Mobilität (Hepp 2006c).
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Physische Mobilität als Mobilität zwischen verschiedenen Orten verweist schließlich auf eine biografische Dimension (Mobilität über die eigene Biografie hinweg) – und steht auch hier in Beziehung zu Prozessen der Medienkommunikation. So hat John Urry (2003) argumentiert, dass in der Form von Touristen, Geschäftsreisenden und vor allem Migranten biografische Bewegungsflüsse von Menschen in der Alltagswelt in erheblichem Maße zugenommen haben – sei es in der Form, dass man selbst zu den biografisch Mobilen zählt, sei es in der Form, dass biografisch Mobile die eigene Alltagswelt mit prägen. Während solche Formen der biografischen Mobilität ohne (digitale) Medien zu einem mitunter endgültigen kommunikativen Bruch führten, ist es nun zumindest prinzipiell selbst für Migranten möglich, vergleichsweise einfach mit der Verwandtschaft, Freunden oder anderen Alltagsnetzwerken ‚in Kontakt‘ zu bleiben. Hierauf hebt letztlich das Konzept der Diaspora in der Kommunikations- und Medienwissenschaft ab (vgl. Düvel 2006; Georgiou 2006; Hepp 2006b).
5 Fazit: Medienalltag in der Netzwerkgesellschaft Ausgangspunkt dieses Artikels war eine Annäherung an das Konzept der Netzwerkgesellschaft mit dem Argument, dass dieses ein geeigneter Rahmen ist, um aktuellen Medientechnologie-, Kommunikations- und Kulturwandel sowohl im Hinblick auf deren Verhältnis zueinander als auch im Hinblick auf den Wandel weitergehender gesellschaftlicher Kontextbereiche zu betrachten. Trotz dieses Potenzials des Konzepts der Netzwerkgesellschaft wurde deutlich, dass dieses gerade im Hinblick auf Fragen von Medien und Kommunikation einer weiteren Ausdifferenzierung bedarf. Ansätze hierfür wurden dann entlang einer kommunikations- und medienwissenschaftlichen Betrachtung des Metaphernfelds von Konnektivität, Netzwerk und Fluss entwickelt. Wie wir dabei gesehen haben, lässt sich in einem solchen Gesamtrahmen auch ein kommunikations- und medienwissenschaftliches Konzept von Alltagswelt integrieren. Diese Argumentation wirft abschließend die Frage auf, welche Perspektiven eine solche Theoretisierung für eine Betrachtung des Medienalltags in der Netzwerkgesellschaft eröffnet. Bezogen auf diese Frage sind es vor allem drei Punkte, die mir relevant erscheinen, nämlich erstens der Empiriebezug, zweitens der Transmedialitätsbezug und drittens der Kontextbezug dieser Theoretisierung. 1. Empiriebezug: Wie die verschiedenen in die Argumentation integrierten Beispiele deutlich gemacht haben, verweist das Metaphernfeld von Konnektivität, Netzwerk und Fluss auf keinen reinen Theoriediskurs, sondern ist auf eine empirische Forschung rückbeziehbar und bietet gleichzeitig einen theoretisch weitreichenden begrifflichen Rahmen. Netzwerke als auf unterschiedliche Weise spezifizierte Beziehungsstruktur von Personen lassen sich ebenso konkret in deren Alltagsweltbezug untersuchen wie Kommunikationsflüsse. Es wird eine hinreichende empirische Konkretheit manifest.
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2. Transmedialitätsbezug: Auch wenn mein Ausgangspunkt ein Aufgreifen des auf aktuellen Gesellschafts- bzw. Medienwandel fokussierten Konzepts der Netzwerkgesellschaft gewesen ist, hat meine weitergehende Betrachtung gezeigt, dass die Konzepte Konnektivität, Netzwerk und Fluss gerade in einer historischen, Einzelmedien übergreifenden Vergleichsdimension zielführend erscheinen. So können sie gleichzeitig auf ‚alte‘ und ‚neue‘ Medien bezogen werden: Auch Druckmedien und Fernsehen basieren auf bestimmten Kommunikationsnetzwerken bzw. verweisen auf kommunikative Flüsse – selbst wenn deren Spezifik eine andere sein mag als die verschiedener digitaler Medien. Aber gerade deshalb bietet sich die entwickelte Beschreibungsmetaphorik für eine medienübergreifende Betrachtung von Medienalltag und dessen Wandel an. 3. Kontextbezug: Durch seinen allgemeinen Charakter ist der skizzierte Begriffsrahmen geeignet, verschiedenste Kontextbereiche in die Betrachtung einzubeziehen. Nicht nur Globalisierung lässt sich konnektivitätstheoretisch beschreiben. Auch für eine Betrachtung konkreter Kontextbereiche wie beispielsweise Politik, Arbeit oder Freizeit erscheint ein Begriffsrahmen von Konnektivität, Netzwerk und Fluss anschlussfähig. Durch den Fokus auf „Schalter“ als Stelle der Machtkonzentration in Netzwerken ist hierbei auch die Möglichkeit eines kritischen Zugangs gegeben. Damit machen diese drei Punkte zusammenfassend greifbar, inwiefern das Konzept der Netzwerkgesellschaft, so man es kommunikations- und medienwissenschaftlich weiterentwickelt, einen geeigneten Ausgangspunkt darstellt für eine Analyse wie auch Theoretisierung des heutigen Medienalltags. Ein solches Unterfangen gilt es allerdings durch vielfältige Studien vor allem auch empirisch umzusetzen. Hierzu will der vorliegende Beitrag eine Anregung sein.
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Alltag mit Internet und Fernsehen: Fallstudien zum Medienhandeln junger Paare Jutta Röser & Nina Großmann
1 Mediennutzung und häuslicher Alltag 600 Minuten, also zehn Stunden am Tag betrug in Deutschland im Jahr 2005 die durchschnittliche Mediennutzung pro Person: für Fernsehen, Video, Radio, Internet und Musikhören, für das Lesen von Zeitungen, Zeitschriften und Büchern (vgl. Ridder/Engel 2005: 425)1. Schon bei kurzem Nachdenken muss diese Aussage irritieren – jedenfalls dann, wenn die Daten, wie oft üblich, als intentionale, aufmerksame Nutzung eines Mediums gedacht werden. Addiert man sechs bis acht Stunden medienfreie Berufsarbeit hinzu, würde die Zeit für ausreichenden Schlaf schon knapp, von anderen Tätigkeiten in Freizeit oder Haushalt ganz zu schweigen. Mediennutzung ist aber eben keine exklusive Angelegenheit, ist meist nicht auf einen intimen Moment konzentriert, in dem sich Mensch und Medium begegnen (vgl. Morley 1999). So entstehen solche Zeitangaben, weil Menschen viele Dinge gleichzeitig tun und dies insbesondere in Bezug auf Mediennutzung. Es werden mehrere Medien gleichzeitig genutzt: Man surft im Internet und hört dabei Musik, liest die Zeitung und das Radio spielt, sitzt vorm Fernseher und blättert in einer Zeitschrift. Oder der Medienkonsum wird von weiteren, nicht-medialen Tätigkeiten begleitet. Nicht nur das Hörmedium Radio, auch das Fernsehen wird intensiv mit Paralleltätigkeiten verbunden und es ist eher die Regel als die Ausnahme, dass beim Fernsehen auch noch Hausarbeiten, Kinderbetreuung oder Telefonate erledigt werden und Gespräche über das Programm oder über andere Dinge stattfinden, wie insbesondere qualitative Studien deutlich machen (vgl. im Überblick Cornelißen 1998: 94-102). Einschaltquoten geben über solche Prozesse keine Auskunft. Sie erheben, wie viele Personen sich im Raum aufhalten, während eine bestimmte Sendung läuft. Sie sagen aber nichts darüber aus, ob auch aufmerksam zugesehen wird oder nur mit halbem Auge. Und vielleicht sieht jemand die Sendung lediglich zerstreut ‚mit‘, weil ein Familienmitglied sie eingeschaltet hat (vgl. Röser/Kroll 1995). Solche Prozesse einbeziehend, hat der Kulturwissenschaftler und Ethnologe Herrmann Bausinger in den 1980er Jahren die Alltagseingebundenheit jedweder Mediennutzung her-
1 Nur für AV-Medien (Fernsehen, Radio, Video, Musik) und Computernutzung wurden von der Media-Analyse für 2006 durchschnittlich 458 Minuten tägliche Nutzungszeit ermittelt (vgl. Media Perspektiven Basisdaten 2006: 70). In Rechnung zu stellen ist v.a. bzgl. Radio und Internet, dass auch der Berufsalltag partiell von Medienkonsum begleitet werden kann.
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ausgestellt und dabei insbesondere das häusliche Zusammenleben als Kontext der Mediennutzung in den Blick gerückt. Seine Ausführungen zum Zusammenhang von Medien- und Alltagshandeln veranschaulicht Bausinger (1983; 1984), indem er das Wochenende einer fiktiven deutschen „Familie Meier“ schildert. Der auf konkrete Alltagssituationen ausgerichtete Report zeigt, wie speziell Herr Meier im Spannungsfeld zwischen seinen individuellen Medieninteressen, den häuslichen Alltagsroutinen und den familiären Interaktionen durch das Wochenende geht. Dabei durchkreuzen und modifizieren familiäre und eheliche Dynamiken immer wieder seine Medienund Programmwahl; auch sind Rezeptionssituationen verwoben mit Aushandlungen der Vater-Sohn- oder der Paar-Beziehung. Bausingers Schlussfolgerungen, die in der Folgezeit insbesondere die britische Cultural Studies-Forschung beeinflusst haben, behalten gerade unter den Bedingungen der Digitalisierung ihre Gültigkeit. Demnach erschließt sich Mediennutzung nur im Kontext des gesamten Medienmenüs und des nicht-medialem Alltagshandelns, Medienrezeption ist häufig in soziale Prozesse eingebettet und eng mit personaler Kommunikation verbunden, weshalb eine rein individuenzentrierte Analyse zu kurz greift. In der Konsequenz entsteht Mehrdeutigkeit in der Medienkommunikation nicht nur auf der Ebene der Textbedeutungen, sondern auch durch die situative und soziale Einbettung (vgl. Bausinger 1983: 31-34; Röser 2007b). Ang (1997: 90; vgl. auch Morley 1999: 302) fordert vor diesem Hintergrund zu einem methodologischen Situationalismus anstelle des üblichen methodologischen Individualismus auf. Dies bedeutet, nicht (nur) vom Individuum auszugehen, sondern von den Orten, Situationen und Konstellationen des Medienhandelns. Damit ist die ethnographische Ausrichtung dieser alltagsbezogenen Forschungsperspektive angesprochen: Ethnographische Analysen bezeichnen in der internationalen Medien- und Kommunikationsforschung einen Forschungsansatz, bei dem Fragen nach den sozialen und situationalen Kontexten kultureller Praktiken zentral sind (vgl. Ang 1997; Moores 1993; Morley 1999). Sie zielen darauf, Medienaneignung in ihrem ‚realen‘ Umfeld statt in künstlichen Situationen zu untersuchen. Vor allem bezogen auf das Fernsehen haben mehrere ethnographisch orientierte Studien in den 1980er und 1990er Jahren die Relevanz des häuslichen Lebens als Kontext des Medienhandelns herausgearbeitet. Dabei wurde insbesondere die Verknüpfung von geschlechtsgebundener Arbeitsteilung und Hierarchie mit spezifischen Rezeptionsmustern analysiert (vgl. im Überblick Cornelißen 1998; Moores 1993). Bezogen auf das Generationenverhältnis wurden familiäre Interaktionen ebenso wie allgemeinere gesellschaftliche Fragen nach dem Wandel von Kindheit und Jugend bearbeitet (vgl. z.B. Livingstone 2002). Ang bezeichnet diese Perspektive als „radikalen Kontextualismus“ in der Rezeptionsforschung: Aus dieser Sicht „kann die Bedeutung des Fernsehens für die Rezipienten – textuell, technisch, psychologisch und sozial – außerhalb der multidimensionalen, intersubjektiven Netzwerke, in die das Objekt integriert und in konkreten kontextuellen Settings mit Bedeutung versehen wird, nicht bestimmt werden“ (Ang 1997: 89).
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2 Zuhause im Zeichen der Digitalisierung und Mediatisierung Im Zuge der umfassenden Digitalisierung der Haushalte haben sich die Formen, in denen Alltagsroutinen, Beziehungsleben und Medienhandeln interagieren können, vielfältig ausdifferenziert. Morley (2001: 20) sprach schon bezogen auf die 1990er Jahre von einer „Invasion unterschiedlicher Informations- und Kommunikationseinrichtungen“ in die Wohnungen und bezog sich auf Videorekorder, Computer, Modem, Telefone mit diversen Zusatzgeräten, Spielgeräte, Musikanlagen. Inzwischen sind MP3-Player, Festplattenrekorder, Notebooks – um nur einige zu nennen – hinzugekommen und Handys sind für die familiäre Kommunikation unentbehrlich geworden (vgl. Feldhaus 2003). Wir erleben also zurzeit eine enorme Vermehrung von Medien- und Kommunikationstechnologien und dies – im historischen Vergleich etwa zu der Verbreitung des Radios, Fernsehens oder Telefons (vgl. die Beiträge in Röser 2007a) – in einem atemberaubenden Tempo. Krotz (2001) folgend ist die zunehmende mediale Durchdringung der häuslichen Sphäre Teil eines breiter angelegten Metaprozesses der „Mediatisierung“ von Alltag, Identität und sozialen Beziehungen, von Kultur und Gesellschaft. Eine frühe und Impuls gebende Studie über die häusliche Nutzung des gesamten Ensembles der Medien und Kommunikationstechnologien war das britische HICT-Projekt „The Household Uses of Information and Communication Technologies” (vgl. Silverstone/Hirsch 1992; Silverstone/Hirsch/Morley 1992). Anliegen des Projekts war es, einerseits an ethnographisch orientierten Studien zum häuslichen Fernsehgebrauch anzuknüpfen und dabei andererseits das Feld der Medienforschung insgesamt in einem breiteren soziotechnischen und kulturellen Rahmen neu zu definieren (vgl. Morley 1999). In Familienfallstudien (vgl. Hirsch 1998, Silverstone/Hirsch 1992) wurde beispielsweise herausgearbeitet, wie in den Familien rund um die Platzierung von Computer und Modem im Wohnzimmer Konflikte entstanden, die das Geschlechterverhältnis berührten. Aus Sicht der Frauen wurde der Einzug der Arbeitswelt des Mannes in die häusliche Sphäre teils als unerwünscht empfunden. Vor allem aber drohten die Frauen die Hoheit über häusliche Räume zu verlieren, weil „diese neuen Technologien innerhalb der Wohnung einen neuen Raum entstehen ließen, der effektiv nur von den Männern (und Jungs) des Hauses belegt wurde“ (Morley 2001: 23; vgl. auch Fog-Olwig 1998). Das Projekt wurde zu einer Pionierstudie über die Anfänge der Digitalisierung der Haushalte im Kontext der Familien-, Generationen- und Geschlechterbeziehungen. Zudem trug es wesentlich zur Theoretisierung der Domestizierungsprozesse von Medien und des häuslichen Medienhandelns bei (vgl. Röser 2005; 2007b). Das HICT-Projekt lenkte den Blick auf den häuslichen Kontext als vielschichtigen Schnittpunkt, geprägt durch x die Verbindung von technologischen Innovationen, sozialen Beziehungen und kulturellen Identitäten im Familienkontext;
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x die Einbindung „der Texte und Technologien von Kommunikation und Information“ in das „Management von Zeit und Arbeitsteilung sowie in die Schaffung und Erhaltung sozialer Beziehungen und individueller Identitäten“ (Morley 1999: 313); x die Organisation sozialer Räume, in denen Individuen in Familie und Haushalt miteinander verbunden und voneinander getrennt werden, mittels Medien wie Telefon, Computer, Video, Fernsehen; x die medienvermittelte Beziehung zwischen der Familie/dem Haushalt und der sie umgebenden Welt (vgl. ebd.). Die Digitalisierung der Haushalte ist verbunden mit dem Trend hin zu personalisierten Technologien, d.h. vom Subjekt individuell genutzten Medien. Was macht Medientechnologien zu personalisierten Technologien? Als ein Kriterium können die technischen Eigenschaften der Geräte benannt werden: Kopfhörer und handliche Tragbarkeit machen Geräte wie den Walkman oder heute MP3Player und Handy zu Individualgeräten (vgl. Morley 2001: 22). Im Prinzip jedoch kann jede Medientechnologie – ob tragbar oder nicht – zur personalisiert genutzten werden, wenn die Geräte in entsprechender Zahl vorhanden sind. So hat der Fernseher, obwohl klassisches Haushalts- und Gemeinschaftsmedium, mancherorts seinen Charakter hin zum personalisierten Medium verändert, indem sich die Zahl der Geräte pro Haushalt vermehrt und die Nutzung fragmentiert verläuft (vgl. Gauntlett/Hill 1999). Andersherum betrachtet wurde der PC (Personal Computer) unzweifelhaft zum individuellen Gebrauch konzipiert, wird aber insbesondere von Kindern und Jugendlichen durchaus auch gemeinschaftlich genutzt (vgl. Lange 2000: 50). Auch teilten sich in den Frühphasen des PC und auch des Handys vielfach mehrere Familienmitglieder ein Gerät. Personalisierung von Medien ist deshalb immer auch eine Frage der Art und Weise der Nutzung der Technologien. Durch PC, Internet, Handy und weitere Medientechnologien erweitern sich die Möglichkeiten, innerhalb von Partnerschaft und Familie getrennte Wege der Mediennutzung zu gehen. Auch steigt die zeitliche Flexibilität. Diese Potenziale haben immer auch Befürchtungen geweckt, neue Medien- und Kommunikationstechnologien könnten zur Fragmentierung im häuslichen Zusammenleben führen. Jedes Familienmitglied wäre demnach in einem separaten Zimmer mit eigenen ‚privaten‘ Medientechnologien beschäftigt. Silverstone entwarf hierzu in den frühen 1990er Jahren eine düstere Vision: Eltern und Kinder ziehen daheim ihre eigenen Kreise, zeitlich und räumlich „isoliert durch personalisierte Stereosysteme“ und „aneinander vorbeiziehend wie Schiffe in der Nacht im dichten Nebel elektronischen Kommunikations- und Informationsüberflusses“ (Silverstone 1991: 5, zit. nach Morley 2001: 22). Nüchterner formuliert Livingstone (2002: 166) ein Jahrzehnt später: „Living together separately“. Denn die britische Studie im Rahmen des Young People New Media Project (YPNM) findet durchaus Tendenzen der Separierung mit Hilfe der Medien. Auf der anderen
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Seite aber gibt Livingstone den wichtigen Hinweis, dass das Teilen von Medienerfahrungen ein Schlüsselritual ist, durch das Familienmitglieder als Familie zusammenkommen (vgl. ebd.: 166-172). Für viele Familien bedeutet demnach „Familienzeit“ Medienzeit. Deshalb würde die oft geforderte Reduzierung des Medienkonsums zu Ende gedacht auch die Zeit verringern, die Eltern mit ihren Kindern verbringen, und dazu beitragen, den Individualismus in Familien zu steigern (vgl. ebd.: 186). Die kommunikationsstiftenden Potenziale der Medien werden auch bei Barthelmes und Sander (2001: 238-244) deutlich, die herausarbeiten, wie das Fernsehen in mehrfacher Hinsicht Mediengespräche in der Familie evoziert. Auch unter den Bedingungen der Digitalisierung und Mediatisierung der häuslichen Sphäre gilt deshalb, dass nicht die Technologien an sich Interaktionen determinieren, sondern Personen sich die Geräte im Rahmen ihrer alltäglichen Routinen aneignen und in das Zusammenleben integrieren. So wie in jeder Beziehung Nähe und Rückzug, Gemeinschaft und Eigenständigkeit eine Rolle spielen, können auch Medientechnologien in beide Richtungen zum Einsatz kommen und Kommunikation ebenso ermöglichen wie verhindern. Deshalb muss konkret analysiert werden, wie neue Technologien angeeignet werden und zur Gestaltung der Familien-, Generationen- und Geschlechterbeziehungen genutzt werden.
3 Medienalltag junger Paare: Ethnographisch orientierte Fallstudien Wie sich vor dem Hintergrund der Mediatisierung und Digitalisierung der Haushalte und des Trends zu personalisierten Technologien der häusliche Alltag und das Zusammenleben gestalten, soll im Folgenden anhand ausgewählter Aspekte beleuchtet werden. Zwischen 2003 und 2006 haben wir diverse ethnographisch orientierte Fallstudien zum Medienhandeln im häuslichen Kontext durchgeführt, wobei Haushalte von Familien und vor allem von (Ehe-)Paaren unterschiedlicher Altersgruppen anhand weitgehend vergleichbarer Methodensettings und Interviewleitfäden untersucht wurden (vgl. Röser 2005; Ahrens 2004; Großmann 2005 sowie die Beiträge in Röser 2007a). Daraus sollen speziell auf die Gruppe der jungen Erwachsenen bezogene Befunde vorgestellt werden, die auf Fallstudien über zusammen lebende Paare im Alter von 20 bis 29 Jahren basieren (vgl. Großmann 2005). Die Altersgruppe der 20- bis 29-Jährigen gehört zu einer Generation, die unter digitalen Bedingungen aufgewachsen ist und für die ein routinierter Umgang mit neuen Medien allgemein und dem Internet speziell erwartet werden kann. So ist die Internetnutzung in dieser Altersgruppe sehr weit verbreitet: 87 Prozent der 20- bis 29-Jährigen nutzten 2006 zumindest gelegentlich das Internet (vgl. van Eimeren/Frees 2006: 404). Auch legen einige Daten nahe, dass die Alltagsintegration des Internets in dieser Altersgruppe besonders weit vorangeschritten
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ist, z.B. nutzen sie das Internet deutlich häufiger als andere OnlinerInnen für die Erledigung von Alltagsaufgaben wie Homebanking oder Onlineshopping (vgl. van Eimeren/Frees 2005: 371). Auf die Frage, ob dies auch Verschiebungen im Stellenwert einzelner Medien zueinander mit sich bringt, ob das Internet klassische Medien wie das Fernsehen tendenziell unwichtiger werden lässt, sollten sich anhand der Alltagspraktiken dieser Generation erste Antworten finden lassen. Interessant ist diese Altersgruppe schließlich deshalb, weil sie sich in einem Lebensabschnitt befindet, der viele Veränderungen mit sich bringen kann (z.B. Auszug aus dem Elternhaus, Beendigung der Ausbildung). Dass ein Zusammenhang zwischen spezifischen Lebenssituationen und Mustern des Medienhandelns besteht, haben mehrere Studien belegt. Wie Gauntlett und Hill (1999: 79ff.) feststellen, können der Verlust des Arbeitsplatzes, die Geburt eines Kindes, der Beginn des Studiums, ein Todesfall in der Familie oder Veränderungen in der Paarbeziehung dazu führen, dass Medien mehr oder weniger intensiv, zu anderen Zeiten oder aus anderen Gründen genutzt werden (vgl. auch Neverla 1992). Hier sollen junge Paare in den Blick genommen werden, die in der jüngeren Vergangenheit einen der zentralen Umbrüche dieser Altersgruppe vollzogen haben: das Zusammenziehen mit dem Partner bzw. der Partnerin. Im Zuge solcher Veränderungen der Lebenssituation kann es zu interessanten Aushandlungsprozessen über die Bedeutung von Medien(-technologien), über ihre Platzierung, Nutzungshoheiten oder Formen gemeinschaftlicher und personalisierter Nutzung kommen. Zu vermuten ist somit, dass nach dem Bezug einer gemeinsamen Wohnung einiges in Bewegung gerät und dies auch bewusster wahrgenommen wird. Während Medienhandeln ansonsten in die unauffälligen Routinen des Alltags eingebettet ist und in der Regel nicht reflektiert wird (vgl. Bausinger 1983), dürften solche alltäglichen Praktiken im Kontrast zwischen der früheren und der jetzigen Lebenskonstellation besser zugänglich sein. Wir möchten uns im Weiteren auf den Umgang der jungen Paare mit zwei Medien konzentrieren, dem Internet und dem Fernsehen, und dabei speziell der Frage nachgehen, welche Bedeutung diese Medien im Kontext der Alltagsroutinen und der Gestaltung der Paarbeziehung erhalten.2 Die fünf befragten Paare, die im Schneeballverfahren gewonnen wurden, waren zum Zeitpunkt der Interviews 2005 zwischen 24 und 29 Jahre alt, kinderlos und besaßen mindestens einen Computer bzw. ein Notebook sowie einen Internetanschluss. Alle Paare wohnten mindestens sechs und maximal 18 Monate zusammen; mit dieser Vorgabe sollte gewährleistet werden, dass die Paare schon lange genug zusammenlebten, um eine gemeinsame Alltagsroutine entwickelt zu haben, und gleichzeitig das Neue an der Situation noch präsent war. 2 Zum Sample und methodischen Vorgehen im Einzelnen, zu vertiefenden Einblicken in die Einzelfallanalysen sowie zu weiteren Befunden, etwa zu den Geschlechterkonstellationen und Doing Gender-Prozessen, zum Interagieren von häuslicher Mediennutzung und beruflichen Situationen vgl. Großmann (2005, 2007).
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Das formale Bildungsniveau des Samples ist überdurchschnittlich. Um eine Varietät von Lebensmodellen einzubeziehen, wurde eine Streuung hinsichtlich der beruflichen Konstellationen und Tätigkeiten der InterviewpartnerInnen gewährleistet.3 Das methodische Setting umfasst zehn problemzentrierte Leitfadeninterviews in den Wohnungen der Paare, die jeweils getrennt mit dem Mann und der Frau geführt wurden, für jeden Haushalt jeweils kombiniert mit einer Wohnungsbegehung, einer Wohnungsskizze einschließlich der Medienplatzierungen und einem standardisierten Fragebogen.
4 Das Internet im Alltag und in der Paarinteraktion Die Internetnutzung ist in vielfältige Bereiche des häuslichen Alltags junger Paare integriert. Es wird von den meisten fest in den Tagesablauf eingefügt und trägt so zur Strukturierung des Tages bei.4 Die jungen Paare nutzen das Internet für die Erledigung häuslicher und beruflicher Aufgaben. Darüber hinaus prägen aber auch Hobbys und die jeweilige Lebenssituation das Nutzungsprofil. Trotz einer oft ausgeprägten freizeitorientierten Nutzung (z.B. Suche nach Veranstaltungstipps oder Sportergebnissen) wird die Internetnutzung von der Mehrheit der Befragten als nutzenorientiert und auch anstrengend empfunden. Deshalb lassen sie sich nur selten im Internet treiben. Stattdessen haben sie ein festes Spektrum an Anwendungen und Seiten, welches sie routiniert abrufen (z.B. EMail-Account überprüfen, Kontostand nachsehen, bestimmte Sport- oder Nachrichtenseiten aufrufen). Hinzu kommen Internetsitzungen, die aus bestimmten Bedarfssituationen heraus entstehen (z.B. Nutzung von Stellen- oder Wohnungsbörse). Hier wird deutlich: Onlinemedien sind für die jungen Paare in erster Linie Informations- und Kommunikationsmedien. Das Bild einer Generation, die ihr Unterhaltungsbedürfnis in großem Ausmaß über das Internet befriedigt, hat sich in Bezug auf die hier untersuchte Lebenskonstellation nicht bestätigt. Ein Teil der jungen Erwachsenen bindet die Internetnutzung in einen Freizeitrahmen ein, indem parallel Fernsehen oder Audio-Medien laufen. Eine solche Einbindung kann auch über mobile Notebooks erfolgen, die manchmal mit ins Bett oder auf
3 Zwei Befragte haben die Mittlere Reife, der Rest Abitur oder Fachabitur; drei Befragte haben bereits einen (Fach-)Hochschulabschluss, drei weitere studierten zum Zeitpunkt der Studie noch. Über bildungsspezifische Differenzierungen kann die Studie somit keine Auskunft geben. Die Streuung beruflich bedingter Konstellationen bezog sich z.B. darauf, ob freiberuflich zuhause oder außerhäusig gearbeitet wurde, ob der Studienabschluss noch bevorstand oder vollzogen war. Allgemein zeigte sich im Laufe der Studie, dass berufliche Konstellationen und die Art der beruflichen Bezüge zu Informations- und Kommunikationstechnologien entscheidenden Einfluss auf die häusliche Mediennutzung nehmen (vgl. ebd.). 4 In Bezug auf ältere Paare über 50 Jahre kam Ahrens (2004, 2007) dagegen zu dem Schluss, dass dem Internet eher eine Randexistenz im Alltag zugewiesen wird.
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die Wohnzimmercouch genommen werden – dies aber ist (noch) eher die Ausnahme als die Regel. Es dominiert eine funktionale Nutzung von Computer und Internet. Diese Zuschreibung bestätigt sich, wenn die räumlichen Arrangements betrachtet werden: Gegenüber einer weitgehenden räumlichen Alltagsintegration der Computertechnologie bestehen starke Vorbehalte. Die Mehrheit der jungen Paare findet eine Platzierung des Computers im Wohnraum oder im Schlafzimmer ungünstig. Mehrere Paare äußern deshalb den Wunsch nach einem Arbeitszimmer in einer neuen, größeren Wohnung. Als Grund werden in erster Linie ästhetische Aspekte genannt: Die Unordnung des Arbeitsbereichs, die vielen Kabel und die großen Computer würden die Befragten lieber hinter der Tür eines Arbeitszimmers verstecken. Computer und Notebooks schaffen eine Arbeitsatmosphäre, die im Wohnraum als Beeinträchtigung empfunden wird. Die Paare wohnen in Zwei- bis Dreieinhalb-Zimmer-Wohnungen. Aufgrund des begrenzten Wohnraums gibt es kaum Räume, die eindeutig einer Person zugeordnet werden können. Es existieren jedoch „mehr oder weniger verdeckte Raumhoheiten“ (Röser 2007c: 167), die mit dem Standort der Computer in Zusammenhang stehen. So nennt zum Beispiel ein Mann das gemeinsame Esszimmer auch „Nadines Arbeitszimmer“, weil dort der Computer seiner Partnerin steht. Ein anderes Paar bezeichnet den Raum mit seinem Computer je nach Themenkontext und Tageszeit manchmal als „sein Arbeitszimmer“, manchmal als gemeinsames „Schlafzimmer“. Auf diesem Weg können über Medientechnologien auch auf kleinem Wohnraum Sphären zur physischen und mentalen Abgrenzung geschaffen werden (vgl. van Rompaey/Roe 2001: 364f.). Die vorgestellten Befunde deuten es schon an: Computer und Internet werden von den befragten Paaren vornehmlich als personalisierte Technologien verstanden und genutzt. Gleichwohl gibt es bei allen auch gemeinsame Nutzungssituationen, etwa wenn ein Thema im Internet recherchiert wird, das beide Partner betrifft (z.B. Wohnungssuche, Reiseplanung). Dabei entstehen Situationen der Kommunikation und Gespräche rund um die Internetnutzung. Die personalisierte Onlinenutzung steht aber klar im Vordergrund, und einige Befragte sehen Internetnutzung als einen Teil der Privatsphäre an. Für zwei Frauen unter den Befragten erwächst aus der personalisierten Nutzungsweise Konfliktpotenzial, wenn sie als Konkurrenz um die Aufmerksamkeit des Partners bzw. der Partnerin verstanden wird. Dies ist besonders dann der Fall, wenn mit dem Rückzug vor den Computer ein räumlicher Rückzug einhergeht. Beide stehen deshalb, anders als die Mehrheit, der Einrichtung eines Arbeitszimmers auch skeptisch gegenüber, weil sie den Rückzug des Partners auf Kosten gemeinsam verbrachter Zeit fürchten. In einem Fall wurden beim Zusammenziehen auch Vorkehrungen verabredet, um eine zu zeitintensive PC- und Internetnutzung des Mannes zu verhindern.
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5 Fernsehen im Alltag und in der Paarinteraktion Das Fernsehen steht bei den Befragten an erster Stelle in Bezug auf Unterhaltung und Entspannung. Es wird stark routiniert genutzt und häufig als Gewohnheitsmedium empfunden, das man, so eine der Befragten, „mal ein bisschen laufen lässt im Hintergrund und es vielleicht gewohnt ist, dass es an ist, und man es gar nicht mehr für irgendwelche spezifischen Sachen nutzt“. Vier der fünf Frauen lassen den Fernseher laufen, während sie mit anderem beschäftigt sind, und nutzen ihn so zur Hintergrund-Belebung. Das Fernsehen dient außerdem zur Strukturierung des Tages. So weist eine der Befragten den von ihr bevorzugten Soap Operas die Funktion zu, ihren studentischen Arbeitstag zu Hause zu strukturieren. Gewohnheitsmäßig verschafft sie sich durch die Fernsehnutzung einen festen Raum für Muße in einem sonst nicht von äußeren Faktoren strukturierten Tagesablauf (zu ähnlichen früheren Befunden vgl. im Überblick: Cornelißen 1998). Häufiger wird der Fernseher von den Befragten aber ungezielt eingeschaltet. Keines der Paare informiert sich regelmäßig über das Programm. Meist sind bestimmte Zeitpunkte des Tages (Mittagspause, Abend) mit der Fernsehgewohnheit verknüpft. Ferngesehen wird nur, wenn man sowieso zu Hause ist und Zeit hat, ansonsten aber wird sein Stellenwert anderen Freizeitaktivitäten untergeordnet. Anders als für die Untersuchungspersonen bei Gauntlett und Hill (1999: 23ff.) stellen auch die Nachrichten für die meisten Befragten keinen wirklichen Fixpunkt dar. Vor allem diejenigen NutzerInnen, deren Tage durch berufliche Pflichten oder terminlich festgelegte Freizeitbeschäftigungen bereits strukturiert sind, lassen sich vom Fernsehprogramm nur ungern eine weitere Struktur aufdrängen. Bezogen auf das Beziehungsleben der jungen Paare besitzt das Fernsehen eine große Bedeutung. Dazu trägt wesentlich seine Rolle als Gemeinschaftsmedium bei. Diese wird dadurch unterstrichen, dass der Fernseher bei allen Paaren seinen Platz im Wohnzimmer hat. Zusammen fernzusehen gehört für die Paare zur Freizeitgestaltung und gilt als gemeinschaftliches Erlebnis. Diese Funktion zeigte sich bei nur einem Paar abgeschwächter, das durch ein gemeinsames Sport-Hobby viel Freizeit auf andere Weise miteinander verbringt. Ansonsten führt das bei den jungen Paaren durchgängig hohe Bedürfnis nach Gemeinschaft in der Paarbeziehung eher dazu, dass sich im Zuge des Zusammenziehens bei einigen der Befragten der Fernsehkonsum sogar erhöht hat. Bei zwei Männern hat im Zuge der neuen Lebenskonstellation eine Verlagerung von der unterhaltungsorientierten Computer- und Internetnutzung zur (gemeinschaftlichen) Fernsehnutzung stattgefunden. Ein Mann hatte, bevor er bei seiner Freundin einzog, gar keinen Fernseher, heute sieht er „gern“ und „oft“ fern. Da die Männer der Freizeit, die sie mit ihren Freundinnen verbringen, einen hohen Wert zumessen, sind andere Medien und Freizeitaktivitäten als früher ins Zentrum gerückt. Das Fernsehen bietet sich zur gemeinschaftlichen Freizeitgestaltung an, weil es (physische) Nähe der Partner herstellt und Gespräche evozieren kann, gleichzeitig aber auch ermöglicht, sich mental vom anderen zurückzuziehen oder ein-
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fach abzuschalten: „Manchmal möchte man halt auch nicht kommunizieren, da möchte man einfach nur rumzappen.“ Obwohl die Mehrzahl der Paare mehrere Fernseher besitzt, wird bei ihnen nur selten getrennt auf zwei Fernsehern ferngesehen. Stattdessen sehen einige der Befragten Sendungen mit, die sie eigentlich nicht interessieren, um Zeit mit dem Partner bzw. der Partnerin zu verbringen (vgl. Röser/Kroll 1995: 33ff.). Da die Paare sehr auf Gemeinschaft bedacht sind, sind auch die Programmentscheidungen in der Regel von Kompromissbereitschaft geprägt. Anders als in früheren Studien (vgl. Cornelißen 1998), berichten die Frauen des Samples von einem gleichberechtigten Einfluss auf die Wahl des Fernsehprogramms5 – allerdings scheint die Zuwendung zum Fernsehen sowieso häufiger eine situationsbezogene als eine programmbezogene Entscheidung zu sein.
6 Fazit Das Internet hat sich einen festen Platz im Alltag junger Paare erobert. Gleichwohl – und dies muss hier als der überraschendere Befund eingeordnet werden – scheint dem Fernsehen auch im digitalen Medienalltag junger Paare eine unangefochten große Bedeutung zuzukommen. Zumindest deuten die fünf Fallstudien darauf hin. Das Fernsehen ist ein entspannendes und unterhaltendes Medium, das gern gemeinsam genutzt wird, aber auch als Nebenbeimedium fungiert. Komplementär dazu wird das Internet vorwiegend informations- und kommunikationsorientiert, allein und konzentriert und somit personalisiert genutzt. Möglicherweise hängt diese an Nutzwert und Effizienz orientierte Funktionszuweisung an das Internet mit den beruflich relativ hoch qualifizierten und vorwiegend internet-affinen Tätigkeiten der Befragten zusammen. Hier wäre auf breiterer Basis zu prüfen, inwieweit dieser Befund zur häuslichen Internetnutzung auch bei anderen Bildungs- und Berufsgruppen Bestand hat. Für die hier untersuchten Paare jedenfalls kommt das Internet einerseits routiniert zum Einsatz, um Alltagspflichten und -interessen umzusetzen. Andererseits bevorzugen sie mehrheitlich eine räumliche Separierung des Computers und wollen die funktionale Technologie nicht (dauerhaft) in die der Freizeit zugeordneten häuslichen Sphären integrieren. Auf jeden Fall führt die intensive und routinierte Internetnutzung keineswegs automatisch zum Bedeutungsverlust des Fernsehens, wobei „Bedeutung“ hier nicht im Sinne rein quantitativer Nutzungszeiten verstanden wird. Die befragten jungen Erwachsenen weisen den beiden Medien in ihrem Medienalltag jeweils einen spezifischen Platz zu und dazu gehört auch die Art und Weise, wie 5 Unverändert aktuell bleibt dafür ein anderer Befund früherer Studien (vgl. Röser/Kroll 1995; Morley 1986): Programmvorlieben der Frauen insbesondere für Alltagsserien werden von ihren Partnern abfällig kommentiert. Insgesamt werden über Genrepräferenzen Geschlechterrollen ausgestaltet und das Fernsehen als Doing Gender-Medium gebraucht (vgl. Großmann 2007).
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sie Fernsehen und Internet in ihre soziale Interaktion einbinden. Über Mediennutzung und Medieninhalte können Situationen der Kommunikation und Nähe ebenso hergestellt werden wie Rückzugsräume, in denen sich die Partner Privates und Persönliches bewahren können. Die Bedeutung des Fernsehens basierte in diesem Zusammenhang wesentlich auf seinem Charakter als Gemeinschaftsmedium: Die Paare setzen es regelmäßig ein, um gemeinsame Freizeit in einem entspannenden Rahmen zu verbringen. Bezogen auf die Funktion des Fernsehens als Rahmung für Entspannung und Zusammensein scheint dem speziellen Programmangebot eine oft untergeordnete Rolle zuzukommen. Die Hinwendung zum Fernsehen erfolgt häufig situationsbezogenen, erst danach wird eruiert, was inhaltlich in Frage kommt. Betrachtet man vor diesem Hintergrund – in aller Vorläufigkeit, denn breitere Untersuchungen sind geboten – die Zukunft des Fernsehens, können Zweifel an einem ungebrochenen Siegeszug von interaktiven und aktiv selektierenden Fernsehnutzungsmustern angemeldet werden (vgl. auch Hasebrink 2004: 69f.). Es sind gerade der jederzeit verfügbare Programmfluss und der Lean Back-Charakter, die Fernsehen zu einer hochgradig variablen Situation machen und den besonderen Nutzwert des Mediums im Kontext von Alltag und Beziehung der befragten jungen Paare ausmachen.
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„Wir telefonieren jeden Abend … das ist uns ganz wichtig.“ Rituale bei der mediatisierten Kommunikation in Paarbeziehungen Christine Dietmar
1 Einleitung Alltägliche Interaktion ist zentral für unsere persönlichen, sozialen und beruflichen Beziehungen und damit für unser Leben: „Ordinary communication is the stuff of everyday life.“ (Wood/Duck 2006: 6). Viele Menschen nutzen in ihrem Alltag Medien wie Telefon, Mobiltelefon oder E-Mail, um mit nahestehenden Personen zu kommunizieren. Dieser Beitrag widmet sich Ritualen bei der mediatisierten Kommunikation in Paarbeziehungen und wird aufzeigen, wie ritualtheoretische Annahmen gewinnbringend für die Analyse von Kommunikationsprozessen in engen Beziehungen angewendet werden können. Dabei wird die ritualisierte Kommunikation als Bestandteil des alltäglichen lebensweltlichen Kontexts betrachtet, was eine umfassende Sichtweise auf das soziale Handeln der Partner ermöglicht (vgl. Rothenbuhler 1998; Bruess/Pearson 2002; Willems 2003; Collins 2004). In diesem Sinne erfolgt zunächst ein Überblick über ritualtheoretische Begriffe, Annahmen und Perspektiven. Anschließend wird dargestellt, welche Bedeutung Rituale für Paarbeziehungen haben und wie Rituale der mediatisierten Kommunikation beschaffen sind. Es folgen Ausführungen zum Scheitern und zur Transformation von Ritualen. Zum Abschluss werden Anregungen für zukünftige Forschungen formuliert.
2 Ritualtheoretische Grundlagen Ursprünglich mit religiösen Themen verbunden, wird der Ritualbegriff heute in einigen Disziplinen angewandt, um gesellschaftliche Phänomene zu erklären (vgl. Willems 2003). Umgangssprachlich versteht man unter „Ritualen“ meist allgemein formale Zeremonien, unter anderem solche, die wichtige Veränderungen im Leben der Menschen markieren (z.B. eine Hochzeit). Rituale lassen sich hinsichtlich ihrer Intensität unterscheiden, die sich durch den Grad der für die Beteiligten freigesetzten Emotionen und Aktivierung ausdrückt (vgl. Collins 2004). Dabei können verschiedene Rituale unterschiedliche Grade an subjektiver Bedeutung und emotionaler Beteiligung bei den involvierten Menschen bewirken. Insbesondere Massenereignissen wird eine hohe Intensität zugesprochen. Dabei kommt es aber entscheidender auf die konkret vom Einzelnen er-
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lebte Situation an. So kann das Ablegen des Hochzeitsgelübdes einer Person sehr viel intensiver empfunden werden als ihre Teilnahme an einer Demonstration mit Tausenden von Teilnehmern. Für die weiterführende Betrachtung von Ritualen der Kommunikation in Beziehungen bietet sich die von Albert Bergesen vorgeschlagene Systematik an. Demnach werden Rituale auf drei Ebenen sozialen Handelns ausgeführt: Zum einen gibt es Mikroriten – hier geht es um die ritualisierte Ausführung restriktiver Sprachcodes, was im Weiteren hier weniger zentral ist. Die nächste Ebene ist die der Mesoriten – Interaktionsrituale – und die höchste und letzte Ebene stellen Makroriten – formelle Zeremonien – dar (vgl. Bergesen 2003). Mesoriten finden auf der Ebene interpersonaler Interaktionen statt – also bei alltäglichen Begegnungen zwischen Menschen. Erving Goffman, der mit seiner Arbeit zu Interaktionsritualen ein zentrales Werk zu diesem Thema verfasst hat, definiert den Begriff wie folgt: „Ich benutze den Begriff ‚Ritual‘, weil diese Handlungen, selbst wenn sie informell und profan sind, es dem Individuum ermöglichen, auf symbolische Implikationen seines Handelns zu achten und diese zu planen, wenn er unmittelbar einem Objekt gegenübersteht, das von besonderem Wert für ihn ist“ (Goffman 1971: 64f.).
Er beschreibt Interaktionsrituale in verschiedenen Kontexten. Konkret widmet er sich den Formen der Ehrerbietung als zentrale Elemente der sozialen Ordnung: „Mit Ehrerbietung soll die Handlungskomponente bezeichnet werden, durch die symbolisch die Wertschätzung des Handelnden dem Empfänger regelmäßig übermittelt wird oder die Wertschätzung dessen, wofür der Empfänger als Symbol oder Repräsentant gilt“ (Goffman 1971: 64).
Wichtige Formen der Ehrehrbietung sind zum Beispiel Vermeidungsrituale (avoidance rituals) und Zuvorkommenheitsrituale (presentational rituals). Vermeidungsrituale sind Rituale, bei denen der Handelnde aus Ehrerbietung Distanz oder Rücksicht wahrt und daher gewisse Handlungen unterlässt. Zuvorkommenheitsrituale beinhalten dagegen gebotene Handlungen, die die Ehrerbietung des Handelnden an den Empfänger aktiv ausdrücken, wie etwa eine Begrüßung (z.B. Händeschütteln), die spezifische Anrede (z.B. akademischer Titel) oder das Gebot zur Erkundigung über das Wohlergehen (z.B. Small Talk). Eine weitere Gruppe von Interaktionsritualen beschreibt Goffman als Formen des Benehmens (vgl. ebd.: 85ff.). Interaktionsrituale ermöglichen, dass die Mitglieder einer Gesellschaft selbstregulierend an sozialen Begegnungen teilhaben können. Diese rituellen Muster haben in zwischenmenschlicher Interaktion eine Begleiterrolle inne, ja besitzen eine Allgegenwart (Holly 1979). Die Bindung an Regeln und das Fortführen von Ritualen führt zu Konstanz und Formierung von Verhalten. Verhaltensregeln wirken zum einen als Verpflichtung und zum anderen als Erwartung an das Verhalten anderer. Damit ergibt sich für den Einzelnen Erwartungssicherheit bei sozialer Interaktion. Somit werden auch sein Selbst und seine Rolle in einer Gruppe oder in einer Beziehung gefestigt. Die Teil-
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nahme an sozialen Handlungen ist für den Einzelnen immer auch Ausdruck einer spezifischen Selbst-Rolle, die je nach sozialer Situation variiert (vgl. Goffman 1971; Rothenbuhler 1998). Im Gegensatz zu den Mesoriten, die kleine alltägliche Zeremonien darstellen, sind Makroriten ausdrücklich (teil-)öffentliche Zeremonien, zum Beispiel religiöse Feste, Feiertage oder aber auch Feiern zu Geburts- und Jahrestagen, die aus dem Alltag herausragen. Sie spielen eine wichtige Rolle für die Erneuerung und Bekräftigung der Gemeinschaft – wie bereits erwähnt, ist dabei weniger entscheidend, wie groß die Gemeinschaft ist, auch der begangene Hochzeitstag kann als Zeremonie in Sinne eines Makroritus betrachtet werden (vgl. Bergesen 2003). Makroriten beinhalten dabei aktive Handlungen und implizieren spezifische Bedeutung. Randall Collins versteht in diesem Kontext unter einem Ritual den „mechanism of mutually focused emotion and attention producing a momentarily shared reality, which thereby generates solidarity and symbols of group membership“ (Collins 2004: 7). Damit geht die Achtung und Verteidigung der Gruppe und ihrer Symbole einher. Es entwickeln sich dadurch auch Möglichkeiten zur negativen sozialen Sanktionierung im Falle einer Missachtung des Rituals und seiner Regeln. Ein Ritual ist damit, Bergesen folgend, „eine der ursprünglichsten Handlungen sozialer Reproduktion, denn in den elementaren Formen der Gesellschaft sind Ritual und Gruppe praktisch das Gleiche. Der Prozess ritueller Sammlung, bei dem Individuen zu einer Gruppe gemacht werden, bildet für die elementaren Formen sozialer Organisation die Art und Weise, wie die Gruppe überhaupt zustande kommt“ (Bergesen 2003: 51).
Innerhalb einer Zeremonie, die sich als Makroebene rituellen Handelns auffassen lässt, finden sich wiederum die rituellen Handlungen der niedrigeren Ebenen: Die Interaktionsrituale, die zwischen den Menschen ausgeführt werden, und die sprachlichen Codes, die bei jeglicher Kommunikation eine rituelle Bestätigung der Gruppe implizieren, werden im Rahmen von Makroriten in vielfältiger Art und Weise ausgeführt. Dadurch entsteht ein Ritualprozess, der vertikal verschiedene Handlungen auf verschiedenen Ebenen verbindet (vgl. Bergesen 2003). Weiterhin ist zu bedenken, dass sich die wiederkehrende Ausführung von Ritualen durch Menschen, die wiederum durch eine Umwelt verbunden sind, gegenseitig bestätigt und eine Weiterführung der Rituale bewirkt. Dieses Phänomen kann als Herausbildung von Ritualketten – von Ritual Interaction Chains (vgl. Collins 2004) – bezeichnet werden. Eine Verkettung sowohl zeitlich wiederkehrender als auch auf verschiedenen Ebenen sozialen Handelns stattfindender Ritualisierungen kann als Basis einer rituellen Ordnung (vgl. Bergesen 2003; Willems 2003) betrachtet werden, die die Grundlage für die hier angestellten Überlegungen darstellt.
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3 Rituale und deren Bedeutung in Paarbeziehungen Auch Rituale in engen sozialen Beziehungen sind dementsprechend auf verschiedenen Ebenen zu erkennen. Dies wird bei der Betrachtung des Weihnachtsfests einer Familie durch Carol Bruess und Anna Hoefs (2006) beispielhaft deutlich. Die Autorinnen haben eine eigene Darstellung des jährlichen Fests, an dem mehrere Familienteile und Generationen zusammentreffen, betrachtet und als Ritual Event analysiert. Dabei sind sie auf die Kennzeichen des Ereignisses als solches eingegangen, etwa auf Symbole (z.B. traditionelles Gebäck, der Weihnachtsbaum), den zeremoniellen Ablauf des Weihnachtsabends, jährlich wiederkehrende Elemente (z.B. Spiele, Running-Gags, Geschichten) sowie die individuelle Bedeutung des Festes für die Familienmitglieder. Zudem wurden auch die vielen „kleinen“ Bestandteile des Ereignisses, etwa die einzelnen Gespräche zwischen den Familienmitgliedern, in denen sich Interaktionsrituale äußern, erfasst. So ergibt sich etwa im Gespräch zwischen zwei Cousinen bei der Zubereitung eines Salats für das gemeinsame Essen die Frage, wie es bei der älteren Cousine Kris im neuen Job läuft. Kris erzählt einiges und fragt schließlich ihre Cousine Anna interessiert, wie es ihr in letzter Zeit an der Universität ergangen ist. Es ergibt sich, entsprechend der Formen der Ehrerbietung und des Benehmens, dass solch eine Frage nach dem Befinden im Sinne der Reziprozität erwidert wird. Die beiden Frauen, die sich eher selten sehen, tauschen sich aus und teilen so ein Stück weit auch ihre Erlebnisse. Damit bekräftigen sie ihre Beziehung zueinander und bestätigen auch das Ritual des Weihnachtfestes. Insgesamt summieren Bruess und Hoefs, dass die gewöhnlichen Interaktionen und Momente während des rituellen Ereignisses Weihnachten genauso wichtig sind, wie die einschneidenden Zeremonien, da sie für den Aufbau und die Bestätigung der Familie grundlegend sind (vgl. Bruess/Hoefs 2006). Rituale lassen sich also in engen Beziehungen in Form von besonderen Ereignissen und als Bestandteil von Konversationen finden. Interaktionsrituale implizieren in Paarbeziehungen auch solche Handlungen, die so sehr mit dem Alltag verwoben sind, dass sie selbstverständlich scheinen, dabei aber durchaus Bedeutung für die Partner haben (vgl. Wood/Duck 2006). Dies können so alltägliche Dinge sein, wie für den anderen das Lieblingsessen zu kochen oder ihm eine Zeitschrift vom Einkauf mitzubringen. Herbert Willems spricht etwa von der „Habitualität der Interaktionsrituale“, da rituelles Handeln häufig eine selbstverständliche Grundlage der alltäglichen Kommunikation darstellt (vgl. Willems 2003: 406). Ob rituelles Handeln im Sinne eines Makroritus oder als Form eines Interaktionsrituals – deutlich wird, dass Rituale mit ihren verschiedenen Gesichtern zur Entwicklung und zur Pflege von Paarbeziehung beitragen und wichtig für das Wohlbefinden der Partner sind (vgl. Braithwaite/Baxter 1995). Soziale Interaktion wird, wie bereits dargestellt, von Regeln und Ritualen beeinflusst und gerahmt, wobei in unterschiedlichen Beziehungen natürlich unterschiedliche Regeln und Rituale zum Tragen kommen: Es gibt persönliche,
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beziehungsbezogene sowie Gruppen- und Gesellschaftsregeln für Kommunikation (vgl. Knapp/Vangelisti 2005). Bei Ritualen in engen Beziehungen ist eine Differenzierung zwischen gesellschaftlich geprägten und beziehungsintern entwickelten Ritualen zu bedenken. Interaktionsrituale, die Regeln für den Umgang miteinander vorgeben und damit eine soziale Ordnung aufrechterhalten, sind in erster Linie in Situationen relevant, in denen Personen aufeinander treffen, die keine enge Beziehung miteinander verbindet. Sie haben insbesondere dann eine Funktion, wenn Personen in anonymen Situationen interagieren, zum Beispiel eine Entschuldigung für eine versehentliche Berührung unter Fremden äußern. Diese Formen ritualisierter Handlung haben dagegen eine geringere Funktion und Bedeutung in engen Beziehungen. Hier wird, das oben genannte Beispiel weiterführend, die Situation nicht durch das rituelle Verhalten der beiden anonymen Personen gelöst, sondern ist durch die gegenseitige Vertrautheit der Partner unproblematisch (vgl. Goffman 1974). Natürlich ist rituelle Sorgfalt auch in Paarbeziehungen von Bedeutung – nur die Inhalte sind hier stärker miteinander aushandelbar (vgl. Lenz 2003). Speziell für die Paarbeziehung sind Formen der Ehrerbietung Ausdruck von Achtung, Zuneigung und Liebe. Sie stellt einen komplexen Austausch von Handlungen zwischen zwei Menschen dar, und es besteht ein hoher Grad an Intimität und Wissen übereinander. Die Ausübung von Interaktionsritualen wird daher zwischen den Partnern auch spezifisch entwickelt. Die von einem Paar ausgeführten ritualisierten Handlungen sind somit auch Spiegel der Beziehung und können als Beziehungszeichen interpretiert werden (vgl. Goffman 1974: 269). Sie dienen weiterhin der Entwicklung und dem Ausdruck der individuellen Identitäten wie auch der gemeinsamen Identität als Paar (vgl. Bruess/Pearson 2002). Zwei Menschen werden in der Entwicklung einer Liebesbeziehung die Interaktionsregeln zunehmend konkreter für den Austausch miteinander definieren, gestalten und aushandeln. Einige der Regeln haben sie im Umgang mit anderen ihr Leben lang ausgeführt und bestätigt, andere werden erst völlig neu in dieser Beziehung entstehen. Die Breite und Varianz dessen ist lebhaft vorstellbar. Paarbeziehungen unterscheiden sich hinsichtlich vieler Dimensionen, wie etwa Konflikt, Liebe, Altruismus, Investment und Sicherheit (vgl. Bierhoff 2003). Dies spiegelt sich in einem gewissen Rahmen auch in der Gestaltung der Rituale wider. Die Ausführung neuer oder variierter Rituale hat damit eine ähnliche Bedeutung wie das Ausführen etablierter Rituale: Die Beziehung wird bekräftigt, und neue Symbole werden für sie geschaffen. Die aktive Gestaltung, Konstruktion und Weiterentwicklung von beziehungsspezifischen Ritualen ist ein die Beziehung stärkender Prozess. Rituale stehen in diesem Sinne auch für die Dynamik in der Paarbeziehung (vgl. Lenz 2003). Etwa definiert Goffman Handlungen und Ereignisse, die Veränderung in Beziehungen anzeigen und etablieren, als Änderungssignale, die er zu den Beziehungszeichen zählt (vgl. Goffman 1974: 274). Dazu gehören Geburts-, Heiratsund Todesrituale, aber auch Handlungen wie die erste Verwendung vertraulicher Anreden oder der erste sexuelle Kontakt. Die Bedeutung des Änderungssignals unterscheidet sich dabei je nach Handlung und Situation: Das un-
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beobachtete Sich-an-den-Händen-Halten hat eine andere Bedeutung als dies erstmalig in der Öffentlichkeit zu tun. Aushandlungsprozesse in Paarbeziehungen, die auch die Herausbildung von Ritualen umfassen, werden in unterschiedlichem Ausmaß auch von der Umwelt des Paares oder den individuellen Erfahrungen der Partner beeinflusst. Die Rituale, die nach außen sichtbar werden, offenbaren immer auch kulturell definierte Beziehungsnormen (vgl. Bruess/Pearson 2002: 316). Im öffentlichen Raum besteht bei Ausführung von privaten Ritualen zwischen Partnern durchaus auch ein Spannungsverhältnis (vgl. Braithwaite/Baxter 1995). Auf der einen Seite sind die Partner eingebunden in ein Netz aus sozialen Interaktionen, auf der anderen Seite ist ihre intime dyadische Beziehung präsent. Dabei ist es erforderlich, dass die Partner ein wechselseitiges rituelles Management entwickeln (vgl. Lenz 2003) und sich im öffentlichen Raum auf eine Art und Weise verhalten, mit der beide umgehen können.
4 Mediatisierte Rituale in Paarbeziehungen Rituale in engen Beziehungen wurden bislang meist als Formen der face-toface-Kommunikation betrachtet (z.B. Braithwaite/Baxter 1995; Bruess/Pearson 2002; Bruess/Hoefs 2006). Auch Goffmans grundlegende Arbeiten zu Interaktionsritualen beziehen sich auf Verhalten in direkter Kommunikation (vgl. Goffman 1971; 1974). Allerdings gibt er auch Hinweise auf Formen vermittelter Kommunikation (vgl. z.B. Goffman 1974: 294). Eine Adaption der Erkenntnisse zu Makroriten sowie zu Interaktionsritualen für die mediatisierte Kommunikation in Paarbeziehungen bietet sich an. Zu deren Betrachtung gilt es, sich dem lebensweltlichen Kontext, in dem Menschen Medien nutzen und sich diese aneignen, zuzuwenden. In Anbetracht der enormen technischen Entwicklungen, vor allem aber der sich etablierenden vielfältigen Nutzungsweisen, ist diese Erweiterung des Fokus absolut notwendig. Viele Paare kommunizieren heute in ihrem Alltag ganz selbstverständlich medienvermittelt und das sind nicht nur diejenigen, die in einer Fernbeziehung leben oder einen sehr mobilen Lebensstil haben. So lässt sich für Paarbeziehungen insbesondere auch die Kommunikation, die durch Medien wie Telefon, Handy, Computernetz und so weiter vermittelt wird, aus ritualtheoretischer Perspektive betrachten. Entscheidend bei der durch Medien vermittelten Kommunikation ist – wie auch bei face-to-faceKommunikation –, wie die Beteiligten die Situation erfassen und gestalten (vgl. Höflich 1996: 102). Die mediatisierte Kommunikation läuft dabei nach gewissen Regeln ab und hat manchmal einen bedeutungsvollen Anlass. Es finden sich häufig so offensichtlich zeremonielle Elemente, dass die Partner selbst von „ihrem gemeinsamen Ritual“ berichten. Ritualcharakter lässt sich etwa anhand des Anlasses bzw. des Zeitpunktes der Initiation mediatisierter Kontakte oder Botschaften nachvollziehen: Beispiele hierfür sind die bei vielen zeitweise oder
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dauerhaft entfernt lebenden Paaren stattfindenden allabendlichen Telefonate oder Guten-Morgen-Nachrichten per SMS, E-Mail oder Instant Messaging (z.B. ICQ, Skype). Entsprechend senden sich Paare auch Gute-Nacht-Nachrichten bzw. Nachrichten zu anderen Zeitpunkten, die sie in Abhängigkeit von ihrem Alltag definieren. Zu besonderen Anlässen, zum Beispiel zu Jahrestagen oder Geburtstagen, kommt medialen Botschaften ebenfalls Ritualcharakter zu. Einige Paare überreichen sich oder versenden dann Briefe, die häufig als besonders „wertvolles“ Medium betrachtet werden (vgl. Döring/Dietmar 2003). Solch einem Ritual kann dann eine vergleichsweise große Bedeutung zukommen und bei den Partnern mit einer hohen emotionalen Beteiligung intensiv erlebt werden. Rituale in Paarbeziehungen sind auch solche Handlungen, die sich nicht durch einen konkreten Anlass oder Zeitpunkt auszeichnen. Diese Formen entwickeln Paare eher spezifisch in ihrem Alltagsleben, wobei die Koordination der Abläufe der beiden Partner zentral ist. Zwei Beispiele1 sollen diese Formen ritualisierter Kommunikation verdeutlichen: Beispiel 1: Katharina und Olaf haben sich beim Studium kennen gelernt und sind ein Paar geworden. Sie haben in ihrer Beziehung verschiedene Formen des Zusammenlebens erprobt: Zunächst haben sie am Studienort jeweils in eigenen Wohnungen gelebt und sich täglich gesehen. Dann hat Olaf ein Auslandspraktikum gemacht, sodass über ein halbes Jahr lang nur Kontakt via Kommunikationsmedien möglich war. Im Anschluss sind beide in eine gemeinsame Wohnung gezogen. Über den gesamten Zeitraum haben sie etabliert, „Bin-gut-angekommen-SMS“ zu schreiben. Immer, wenn beide nicht zusammen wohnen und einer von beiden lang unterwegs ist oder ausgeht, schreibt er bzw. sie dem anderen, sobald er bzw. sie wieder zu Hause eingetroffen ist. Die Nachricht selbst kann ganz kurz sein, etwa „Bin jetzt daheim. Schlaf gut! Hab dich lieb!!“. Hintergrund ist, dass der/die PartnerIn wissen will und soll, dass es dem bzw. der anderen gut geht. Manchmal wird statt des Austauschs von Kurzmitteilungen auch telefoniert. Das hängt davon ab, wie spät es ist und wann man sich zuletzt gesprochen hat. In jedem Fall aber melden sich Olaf und Katharina beieinander, daran sind beide gewöhnt und würden sich ansonsten Sorgen machen. Beispiel 2: Richard und Anna sind Ende 20 und arbeiten beide beruflich viel am Computer. In Pausen nutzen sie das Internet, um private Mails zu lesen und zu schreiben und um zu Themen gemeinsamer Gespräche, Interessen oder Hobbys zu recherchieren. Das Paar schickt sich gegenseitig tagsüber häufig kurze E-Mails mit Links auf Webseiten oder Auszügen aus Texten, digitalen Bildern oder lustigen Begebenheiten aus dem Netz. Auf diese Art lassen sie den anderen bzw. die andere an den Neuigkeiten und Inhalten teilhaben. Sie können dann die Kommunikation zu Themen wie Kunst und Reiseziele gemeinsam vertiefen. Die Nachrichten enthalten teilweise auch Grüße und Verabredungen zu praktischen 1 Die Beispiele entstammen aus einem derzeit an der Universität Erfurt laufenden Forschungsprojekt bzw. aus einer abgeschlossenen Studie (Dietmar 2005; Döring/Dietmar 2003).
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Dingen, wie Einkäufe oder die Gestaltung des gemeinsamen Abends. Anna und Richard schätzen diese Mitteilungen voneinander, auch wenn sie nur kurz sind, weil sie sie als Aufmerksamkeit empfinden, die ihnen Freude bringt. Anhand der Beispiele wird deutlich, dass sich sowohl allgemeine Formen der Ehrerbietung in diesen ritualisierten Handlungen ausdrücken (z.B. Reziprozität der Aufmerksamkeiten) als auch die individuellen Formen des Benehmens, über die sich Individuen als Selbst und als Teil einer intimen Beziehung ausdrücken. Dies tun sie in oben genannten Beispielen etwa durch Fürsorge (Katharina & Olaf) oder durch Humor und Interesse an Themen (Richard & Anna). Nicht nur über die Anlässe und Themen, auch in der Struktur mediatisierter Kommunikation zwischen Partnern lassen sich Elemente von Ehrerbietung und Benehmen finden. Dabei kommt es in Paarbeziehungen zu einer Spezifizierung, zu einer nur zwischen den Partnern etablierten Ausgestaltung des Rituals. Dies lässt sich auch auf der Konversationsebene nachvollziehen: So gibt es in Briefen, Telefongesprächen und Kurzmitteilungen spezifische Anreden zwischen Partnern. Es bilden sich auch besondere Namen, zum Beispiel Kosenamen, heraus. Das Gleiche gilt für Abschiedsformeln, die häufig eine explizite Bestätigung der Beziehung beinhalten („Ich liebe dich, mach’s gut!“). Diese rituellen Formen sind dabei nicht an ein Medium gebunden. Sie werden vielmehr in der Beziehung etabliert und in gleicher oder variierter Form auf verschiedenen Kommunikationswegen ausgeführt. Diese Sichtweise betrachtet dabei eher ein Mediengefüge, das Menschen zur Verfügung steht, wobei auch die face-to-faceKommunikation ein Teil des Ensembles darstellt. Formen mobiler Kommunikation, insbesondere Handykommunikation, haben sich in den letzten Jahren im Alltag der Menschen etabliert und sind für viele Paare ein selbstverständliches Mittel, um miteinander in Kontakt zu treten. Mobile Medien kommen den Bedürfnissen von Paaren in Zeiten hoher beruflicher wie privater Mobilität entgegen. Sie ermöglichen zum Beispiel eine flexible Koordinierung alltäglicher Aufgaben und Erledigungen (Einkauf, Terminvereinbarung usw.). Das Handy kann immer mitgeführt werden, sodass theoretisch zu jeder Zeit und von jedem Ort aus ein Kontakt zum Partner oder zur Partnerin hergestellt werden kann. Wenn das Bedürfnis dazu da ist, kann unverzüglich emotionaler Rückhalt beim anderen gesucht werden. Diese Möglichkeit bedarf aber der Balancierung und Regulierung (vgl. Ling 2005). Für Mobilkommunikation im Allgemeinen, wie auch in Paarbeziehungen im Speziellen, entwickeln sich daher Regeln. Dies spiegelt sich auch in ritualisierten Handlungen wider. Durch die mobile Nutzung von Kommunikationsmedien werden private Gespräche und Verhaltensweisen auch in den öffentlichen Raum getragen, was ein Spannungsverhältnis darstellt (vgl. Höflich 2005: 32). Etwa für das Telefonat per Handy ergibt sich, Joachim Höflich folgend, eine Einbettung der Kommunikation entsprechend einer triadischen Relation von Angerufenem, Anrufer und anwesenden Dritten. Für ein solches Telefonat zwischen Partnern heißt das, dass die beiden in unterschiedlichen Arrangements agieren, sie aber an einem „virtuellem dritten Ort“ miteinander kommunizieren. Die Partner wis-
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sen also zunächst nicht (genau), in welcher Situation, mit welchen dritten Personen sich der andere bzw. die andere gerade befindet. Die Komplexität, die die verschiedenen Arrangements im Alltag mit sich bringen, beinhaltet auch eine Herausforderung für den Umgang mit Kommunikationsritualen in Form von Meso- und Makroriten in den jeweiligen Situationen. So lassen sich Personen, die einen mobilen Anruf erhalten oder initiieren, dabei beobachten, wie sie rituelle Abkopplungs-Handlungen beim Rückzug aus der Kommunikationssituation vornehmen (vgl. Ling 2004: disengagement rituals). Ähnlich verhält es sich, wenn jemand ein Gespräch beendet hat und sich wieder in die Hier-und-JetztSituation eingliedert (vgl. ebd.). Für Paare gilt es, sich abzustimmen und eine Balancierung zu finden, etwa auch was die Ausübung partnerschaftlicher Rituale über Handytelefonate angeht: Während der eine möglicherweise ungestört ist, ist der andere bzw. die andere unter Umständen von KollegInnen oder Bekannten umringt und möchte zur Verabschiedung nur ungern den intimen Kosenamen der Partnerin oder des Partners nennen. Ein rituelles Management und die Entwicklung einer antizipativen Sensibilität für die soziale Situation des anderen gilt es bei der Mobilkommunikation (nicht nur) in Paarbeziehungen zu entwickeln (vgl. Höflich 2006) – etwa wenn Partner intime Themen nur dann ansprechen, wenn sie vorab abgeklärt haben, dass der andere ungehört von Dritten reden kann. Ansonsten kann es an beiden Orten zu unangenehmen Situationen sowohl für das Paar als auch für anwesende Dritte kommen. Auf einen interessanten Aspekt sei an dieser Stelle noch verwiesen: Zu den ritualisierten Handlungen, die Beziehungen bekräftigen, gehören in erster Linie face-to-face-Kontakte und mediatisierte Formen der Kommunikation. Zu bedenken sind aber in diesem Kontext auch Formen symbolischen Kontakts, bei denen zunächst nur ein Partner kognitiv und emotional involviert ist. Tatsächlich reichen rituelle Handlungen bis über die Reichweite des Partners hinaus (vgl. Lenz 2003). Empirische Befunde zu Fernbeziehungen weisen darauf hin, dass diese Formen der Antizipation der Beziehung durch ihren rituellen Charakter bedeutungsvoll sind (vgl. Stafford 2005). In diesem Kontext lässt sich erklären – und hier gibt es wiederum eine Verbindung zur mediatisierten Kommunikation – wieso viele Menschen die Mitteilungen (Briefe, SMS, E-Mails) oder andere Symbole der Paarbeziehung (Fotos, Erinnerungstücke) aufbewahren oder bei sich tragen. Durch die Betrachtung etwa alter Briefe wird die Beziehung kognitiv aktiviert und durch das rituelle Verhalten bestärkt. Vielen Paaren, die lange getrennt voneinander sind, helfen solche Formen mit seltenem Kontakt umzugehen und sich dem Partner etwas näher zu fühlen. Ein ähnliches Phänomen ist etwa auch die Antizipation einer (erlebten) ritualisierten Handlung (vgl. Bruess/Hoefs 2006). Dabei geht es um die gedankliche Vorstellung oder Erinnerung von für die Beziehung bedeutsamen Zeremonien oder in der Paarbeziehung etablierten alltäglichen Ritualen durch einen der Partner. Auch durch solche rituellen Formen können Beziehungen bekräftigt werden.
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5 Scheitern und Transformation von Ritualen Es wurde dargestellt, wie Rituale enorme Bedeutung innerhalb gesellschaftlicher Strukturen auf verschiedenen Ebenen erlangen können. Sie können aber auch wirkungslos werden oder ganz und gar scheitern (vgl. Collins 2004). So ist es etwa durchaus denkbar, dass die von Goffman beschriebenen Ehrerbietungsrituale, die sich etwa in Höflichkeitsformeln unter Fremden zeigen, wenn sie sich aus Versehen im Gedränge der U-Bahn berühren, von den Beteiligten in einer solchen Situation nicht ausgeführt werden. Dies kann zum einen als Nichtbefolgen sozialer Normen interpretiert und eventuell als Unhöflichkeit sanktioniert werden. In gewissen Situationen allerdings, zum Beispiel während der Rush-Hour im öffentlichen Großstadt-Verkehr, wird bei einer kurzen Berührung von beiden Seiten gar nicht weiter erwartet, dass deshalb rituelle Höflichkeiten auszutauschen sind. Das Beispiel soll die Relevanz einfacher Interaktionsrituale aber nicht schmälern, sondern verdeutlichen, wie bedeutsam funktionierende Rituale sind, um soziale Interaktion und den Umgang mit anderen Menschen eben nicht wie im anonymen Massentransport zu erleben. Dies gilt auch für die Interaktion in Paarbeziehungen. Wenn hier bislang vor allem von funktionierenden Ritualen gesprochen wurde, so soll eine empirische Arbeit das Augenmerk darauf lenken, dass auch dort nicht alle Rituale erfolgreich verlaufen: In einer Studie zu Funktionen partnerschaftlicher Rituale konnten sieben verschiedene Kategorien ermittelt werden: Beziehungsfestigung (Relational Masonry), Beziehungspflege (Relational Maintenance), Alltagsmanagement (Life-Management), Freude/Spaß/Vergnügen (Fun/Enjoyment), Zweisamkeit (Togetherness), Redezeit (Talk-Time) und Anti-Rituale (Anti-Ritual) (vgl. Bruess/Pearson 2002). Es soll hier nicht weiter auf die ersten sechs eingegangen werden, sondern auf die letztgenannte der ermittelten Kategorien: Anti-Ritual meint, dass Menschen ein Ritual in ihrer Beziehung als langweilig empfinden oder als ungewollte Verpflichtung. Auch gaben einige Befragte an, dass sie ein Ritual mehr aus Trägheit und aus eigentlich unerwünschter Routine ausführen. Es ist unbedingt festzuhalten, dass diese dysfunktionalen Rituale in der Studie verglichen mit den funktionalen Aspekten von Ritualen selten auftraten. Doch geben die Befunde den Hinweis, sich zukünftig auch der Erforschung dieser Seite ritueller Handlungen zu widmen, die bislang eher im Dunklen lag (vgl. ebd.). Sie findet sich auch in den von Collins beschriebenen „leeren Ritualen“ wieder, die auftreten, wenn Beteiligte nicht die nötige Aufmerksamkeit und Motivation sowie emotionale Beteiligung für das Ritual empfinden (vgl. Collins 2004: 55ff.). Die Symbole leerer Rituale werden daher nicht beachtet und nicht geachtet. Ein Beispiel wäre – um etwa beim Weihnachtsfest zu bleiben –, dass eine Familie die Abläufe der Feiertage adäquat so ausführt wie in den Tagen, als die Kinder klein waren. Solch eine Starre des Rituals kann nun dazu führen, dass die mittlerweile erwachsenen Kinder dem Feiertag daher keinerlei Bedeutung beimessen, da sie dem Ritual entwachsen sind und sich darin nicht wiederfinden (vgl. Wolin/Bennett 1984). Häufig werden diese Rituale auch weiterhin
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mit mehr oder weniger großem Engagement ausgeführt, obwohl sie für die Teilnehmenden nicht bedeutungsvoll sind. Es gibt sogar Situationen, in denen die Ausführung des Rituals durch eine Konstellation von Machtstrukturen erzwungen wird. Dies kann sogar dem Anschein nach als Interaktion ablaufen, wird aber nie die Resultate eines tatsächlich funktionierenden Rituals hervorbringen (vgl. Collins 2004: 53). Wieso sind einige Rituale wirkungsvoll, werden als intensiv und bedeutungsvoll empfunden, und lassen andere die Menschen gleichgültig oder sind gar Belastung und Zwang? Auch wenn hier einige Antworten exemplarisch aufgeführt wurden, gilt es zukünftig tiefgründigere – auch vergleichende – Analysen anzustrengen, denn diese können wichtige Aufschlüsse über die Struktur von Ritualen geben und näher offenbaren, was funktionierende Rituale ausmacht. Zu bedenken ist weiterhin, dass das Leben der Menschen, deren Alltag wie dargestellt durch eine rituelle Ordnung geprägt ist, von dem Kontrast starker, erfolgreicher und anziehender Rituale auf der einen und leerer, gescheiterter Rituale beziehungsweise gering ritualisierter Situationen auf der anderen Seite strukturiert wird (vgl. ebd.: 51). Das Gegenüber dieser Pole ist die Voraussetzung dafür, dass ein Empfinden, ein Maß des Einzelnen für das Erleben von Ritualen und damit auch für sein rituelles Handeln entsteht. Für die mediatisierte Kommunikation in Paarbeziehungen sind einige Negativ-Phänomene bekannt, die sich durch den Fokus ritualtheoretischer Annahmen als leere Rituale verstehen lassen. Dazu gehören etwa mediale Kontakte und Nachrichten, die von einem oder auch von beiden Partnern als unangenehme Pflicht empfunden werden. Insbesondere bei mobilen Medien kommt es vor, dass Anrufe oder SMS eines Partners als Kontrollverhalten erlebt werden (vgl. Döring/Dietmar 2003; Höflich 2006). Diese Handlungen können als von einem Partner erzwungene Rituale betrachtet werden und sich negativ auf die Beziehung auswirken. Wenn Rituale in Paarbeziehungen ihre Bedeutung zunehmend verlieren, erzwungen sind oder gar nicht mehr ausgeführt werden, dann ist dies natürlich im Kontext der Entwicklung der Partnerschaft und der Partner als Individuen zu sehen. Probleme in Paarbeziehungen, zum Beispiel durch Veränderung der Einstellung zur Beziehung, können sich im Scheitern von Ritualen äußern. Auch Paare mit intakten Beziehungen vernachlässigen möglicherweise Rituale, weil diese ihre Wirksamkeit, etwa durch veränderte Lebensumstände der Partner, verloren haben. Da Beziehungen sich entwickeln, müssen Paare auch in der Lage sein, gewisse Rituale entsprechend anzupassen und zu verändern. Potenzial für die Weiterentwicklung und möglicherweise auch Festigung von Beziehungen liegt von hier ausgehend im Prozess der Transformation von Ritualen. Wenn sich Partner bezüglich eines gescheiterten oder ‚leer‘ gewordenen Rituals verständigen, haben sie die Gelegenheit dieses zu adaptieren, ihm wieder ‚Leben‘ zu verleihen und damit wiederum für sich und die Beziehung neue Bedeutung und Vitalität zu schaffen. Ein Beispiel für eine solche Transformation ritualisierter Kommunikation in Paarbeziehungen wäre eine Flexibilisierung der telefonischen Kontakte: Ein Paar hat ehemals ein ausgedehntes all-
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abendliches Telefonat gepflegt. Durch veränderte Arbeitszeiten und neue Hobbys wird das Gespräch im Laufe der Zeit immer kürzer, die Partner sind dabei weniger entspannt und redefreudig als früher. Eine erfolgreiche Transformation könnte das Paar durch aktive Abstimmung erreichen, indem sie sich etwa auf ein kürzeres tägliches Telefonat vor dem Schlafengehen sowie und ein zusätzliches längeres Telefonat mehrmals pro Woche, zu dem sie sich beide ausdrücklich Zeit und Ruhe nehmen, einigen. So können sie die Form des Rituals ihren Lebensbedingungen anpassen und sich dem Ritual und damit ihrer Beziehung wieder stärker widmen.
6 Schlussbemerkungen In einer Gesellschaft, die von hoher Mobilität ihrer Mitglieder und zunehmender Mediatisierung kommunikativen Handelns geprägt ist, nimmt die Bedeutung von Kommunikationsmedien auch für die Gestaltung enger Beziehungen zu (vgl. Krotz 2001; Höflich 2006). Es wurde hier dargestellt, wie eine Analyse der Kommunikation von Paaren im Kontext ihres alltäglichen Lebens mit Hilfe des Ritualbegriffs erfolgen kann, und aufgezeigt, dass dies eine sinnvolle Erweiterung der Perspektive auf diesen Forschungsgegenstand bringt. Da sich ritualtheoretische Analysen typischerweise mit Kommunikation als Prozess befassen, wird es möglich, der Dynamik der Paarbeziehung, die in den Forschungsarbeiten bislang teilweise vernachlässigt wurde, besser gerecht zu werden (vgl. Lenz 2003). Für die Betrachtung vornehmlich medien- und kommunikationswissenschaftlicher Fragestellungen ermöglicht eine ritualtheoretische Perspektive eine Aufdeckung von Mustern in der Kommunikation über die Nutzung verschiedener Medien hinweg. Rituale zeigen sich in der partnerschaftlichen Kommunikation unter anderem in Anlass, Themen und Struktur der Nachrichten und Botschaften. Hier gilt es empirische Daten zu sammeln, um dies detaillierter zu erfassen. Der Umgang mit medialen Arrangements, besonders bei mobiler Kommunikation, stellt ein interessantes Phänomen dar, welches auch in Hinblick auf enge Beziehungen näher untersucht werden sollte. Zukünftige Forschungen zur Kommunikation in Paarbeziehungen sollten sich weiterhin auch den dysfunktionalen und transformierenden Aspekten ritueller Handlungen widmen.
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„Det is doch wie Kino.“ Marlon Brandos „Der Wilde“ als Vor- und Abbild jugendlicher Subkultur Katja Scherl
1 Einleitung „Det is doch wie Kino“, antworteten Jugendliche auf die Frage, warum sie im Sommer 1956 an den ersten westdeutschen „Halbstarken“-Protesten in Berlin teilgenommen hatten, und entsprachen damit dem Bild, das sich die Presse von ihnen gemacht hatte („Kommunistische Hetzer in der Afrikanischen Straße“, in: Der Tagesspiegel, 21.7.1956). Die Jugendkrawalle der Jahre 1956 bis 1958 lösten in der Bundesrepublik Deutschland eine Debatte über Populärkultur und Praktiken jugendlicher Selbstinszenierung aus, die mit der Diskussion über die 68er Generation vergleichbar ist (vgl. Zinnecker 1987: 91; 126).1 Die so genannte „Halbstarken“-Rebellion wurde dabei nahezu ausschließlich mit dem Konsum von amerikanischer Populärkultur verknüpft, wobei sie für die Zeitgenossen alle bedrohlichen Folgen kultureller Amerikanisierung verkörperte: der „Rückschlag ins Un-Zivilisierte, in die Barbarei“ (Muchow 1956: 446) sowie die „ziellose Aggressivität“ und der „Mangel an ‚Sinnwert‘“, der jugendliches Protestverhalten „essenziell von Arbeit und Leistung“ unterschied (Kaiser 1959: 38f.). Bereits mit Beginn der Großkrawalle war für die professionellen Betrachter klar, dass selbst konkrete Handlungen direkt von den konsumierten Medien beeinflusst wurden. Vor allem bei den Krawallen im Wedding glaubte man „einmal das Vorbild ganz genau feststellen“ zu können. „Es lief vor einiger Zeit hier in Berlin ein amerikanischer Film ‚Der Wilde‘. Darin wird gezeigt, wie in einer amerikanischen Stadt eine Gruppe Jugendlicher, die Motorräder besitzen, sich zusammentun und sich ‚Totenkopfbande‘ nennen und nun in dieser Stadt Randalierungen anstellen, die genau das Vorbild für die entsprechenden Vorgänge in der Afrikanischen Straße gewesen sind“ (Stenographische Berichte des Abgeordnetenhauses von Berlin, 20.09.1956: 522).
Was hatte zu dieser allgemeinen Erregung geführt, die scheinbar nur noch schwer zwischen Fakten und Fiktionen, kultureller Praxis und symbolischer Repräsentation unterscheiden konnte? Es war die „Komplizenschaft“ (Zinnecker 1987: 138) zwischen Jugend und Medien, die neue imaginäre Selbstinszenierungen möglich machte und damit einer bereits verunsicherten Gesellschaft neue 1 Die Teilnehmerzahl an den Krawallen stand in keiner Relation zur Medienreaktion, die sie auslöste. Kaiser geht von einem Anteil von 1 bis 5 Prozent der männlichen Jugendlichen aus, die aktuell an Straßenkrawallen teilgenommen haben (Kaiser 1959: 54).
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Subjektpositionen vorlebte. Damals begann ein Prozess, der bis heute die Ausbildung von Jugendkulturen prägt. Einerseits konstituieren sich viele Jugendkulturen über spezifischen Mediengebrauch; die Medienaneignung wird zentraler Bestandteil der jeweiligen Jugendkultur. Andererseits bieten Medien „Identitätsmärkte“ für Jugendliche, in denen sie in „symbolischer Arbeit“ neue Selbstdarstellungsformen einüben und aufführen können (vgl. Hepp 1999: 202f.). Der Diskurs über diese „andere Produktion“ (de Certeau 1988: 13) – die Rezeption und aktive Aneignung von Medien im jugendlichen Alltag – soll im Mittelpunkt der folgenden Ausführungen stehen. Untersucht wird der mediale Diskurs über die „Halbstarken“: Medien werden dabei „als Durchgangspunkte […] sozialer und kultureller Praxen“ (Göttlich 1997: 112) begriffen, über die und in denen soziale (Re-)Produktion und kulturelle Bedeutungsprozesse vermittelt sind. Diskurse sind durch den Gebrauch gekennzeichnet. Sie bieten der Analyse Abdrücke von Handlungen, von Sprechakten. Sie bezeichnen die Operationen, deren Gegenstand sie gewesen sind, legen Zeugnis ab über den Kontext, indem sie entstanden sind, sich gewandelt und wieder verfestigt haben. Im weitesten Sinne verweisen sie also auf „eine gesellschaftliche Geschichtlichkeit, in der die Vorstellungssysteme oder die Fabrikationsprozesse nicht mehr nur als ein normativer Rahmen erscheinen, sondern als Werkzeuge, die von denen, die sie gebrauchen, gehandhabt, manipuliert werden“ (de Certeau 1988: 65). Zuerst soll anhand des amerikanischen Jugendfilms „Der Wilde“ gezeigt werden, wie sich ausbildende neue Formen jugendlicher Gemeinschaft fiktional abgebildet und bewertet wurden. Interessant ist dabei, dass die Geschichte von „Der Wilde“ auf ein tatsächliches Ereignis rekurriert, das in den USamerikanischen Zeitungen groß aufbereitet wurde. Doch der Film wollte nicht nur jugendliche Gewalt verurteilen. Er bildete auch Ergebnisse des Diskurses über Jugendkriminalität in den USA ab, der das „Jugendproblem“ in erster Linie als „Erwachsenenproblem“ definierte. Die Frage „Wogegen rebellierst Du, Johnny?“ steht dabei im Mittelpunkt des Films. Die Suche nach Antworten gestaltete sich weder im Film noch auf der Straße einfach. Auch bei der Bewertung der „Halbstarken“-Krawalle in Berlin ging es um einen Kommunikationsprozess, einen Kampf um Bedeutungen, um Sinn und Wert kultureller Traditionen, Praktiken und Erfahrungen. Die Vorfälle in der Afrikanischen Straße können als paradigmatisch gelten: Die Krawalle gingen von einer Jugendbande aus, die sich in ihrer Aufmachung an Marlon Brandos Bande in „Der Wilde“ orientierte. Von Presse, Politikern und Jugendschützern wurde deshalb sehr schnell ein Zusammenhang zwischen rezipierten Inhalten und Handlungen der Rezipienten beklagt, der amerikanische Film verantwortlich für die Jugendproteste befunden. Gleichzeitig gerieten aber auch soziologische Untersuchungen in den Blick, die Jugendgruppen wie die „Halbstarken“-Cliquen als eigenständige Subkultur bewerteten, die man verstehen wollte. Abschließend soll nach dem subversiven Potenzial des medial vermittelten Bildes der „Halbstarken“ gefragt werden. Mit Winfried Flucks Begriff des Ima-
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ginären (1997) soll gezeigt werden, wie Populärkultur das „Andere“ alternativ ins Blickfeld rückte. Jugendliche benutzten die durch die Medien vermittelten Stilmittel als „Requisit“, um öffentlich die Grenzen des hegemonialen Normalfeldes zu überschreiten. Man kann vom Fermentcharakter dieser Oppositionsbewegung sprechen, die den Transformationsprozess der Kultur dynamisierte. Eigenständige jugendliche Lebensstile und Identitätsentwürfe wurden dabei nicht einfach abgelehnt, sondern fungierten vielmehr als Motor von Modifikations- und Erweiterungsprozessen im Zusammenleben einer sich wandelnden Gesellschaft.
2 „Wogegen rebellierst Du, Johnny?“: Kino für die Wilden Produzent Stanley Kramer hatte sich durch realistische Filme2 bereits einen Namen gemacht, als er für sein neues Projekt „Der Wilde“ einen Zeitschriftenartikel über eine Motorradbande als Vorbild nahm: Bei einem Treffen von 2000 bis 4000 Motorradfahrern am 4. Juli 1947 in der kalifornischen Kleinstadt Hollister nahmen die „biker clubs“ in einer gewalttätigen Party die Stadt völlig auseinander. Das „liberale Aushängeschild“ Hollywoods (Arnold 2004: 130), wie Kramer genannt wurde, wollte einen eigenen Beitrag liefern zum Thema „Jugendkriminalität“, das in den USA plötzlich in aller Munde war (vgl. Behrens 1990). Es gab Senatsdebatten und Bestseller zu dem Thema, die Zeitungen waren voll von Geschichten über Banden, die sich gegenseitig bekämpften und normalen Leuten gefährlich wurden, die zwischen die rivalisierenden Gangs gerieten. Antworten wurden gesucht für das gewaltvolle Auftreten der eigenen Kinder: Zum einen machte man zerrüttete Familien verantwortlich; zum anderen sowohl materiellen Überfluss, der die jungen Leute zu unvernünftigem Konsum verführte, als auch materiellen Mangel, der Jugendliche zur Kriminalität verführte, um an der Konsumgesellschaft teilnehmen zu können. Gleichzeitig wurde die Jugend als Markt entdeckt, der durch eigene Produkte abgeschöpft werden konnte (vgl. Doherty 1988). In der Bundesrepublik beobachtete man den Diskurs in den USA sehr genau, galt Amerika doch als Modellfall (vgl. Riesman/Denney/Glazer 1958: 7; Maase 1996: 297) für künftige Entwicklungen. So berichtete das Berliner Hauptjugendamt von neuen Gemeinschaftsformen unter Jugendlichen: „Eine besondere Gefahr, die in den verschiedenen Großstädten [Amerikas] offenbar immer größer wird, bedeuten die sich unter Jugendlichen bildenden Banden, die ‚gangs‘. […] Vielfach legen sie
2 Kramer produzierte auch Brandos Filmdebüt „Die Männer“ (1950), der das Überleben kriegsversehrter Soldaten zeigt. Brando spielt einen querschnittsgelähmten Lieutenant, der sich nicht mehr als Mann fühlt, da er das verinnerlichte Männlichkeitsideal der Army körperlich nicht mehr erfüllen kann. Der Film ist noch heute für seinen „forcierten Realismus“ bekannt, auch wenn er aufgrund des ausbrechenden Koreakrieges ein kommerzieller Misserfolg war (vgl. Meder 2004; Brando 1994: 141f.).
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sich eine eigene Tracht zu, um das Zusammengehörigkeitsgefühl nach außen zu betonen, sie tragen einen besonderen Haarschnitt und sie entwickeln mitunter eine eigene Sprache, die nur den Mitgliedern verständlich ist“ („Bekämpfung der Jugendkriminalität in USA“, in: Rundbrief Nr. 6/7).
Das Originaldrehbuch sollte diese neue Jugend abbilden und gleichzeitig zeigen, dass ihr nicht mit konventionellen Erziehungsmethoden beizukommen war. Vielmehr schwebte Kramer eine Balance zwischen Bürgern und Bikern, ein Plädoyer für das Verständnis zwischen Ansässigen und Aufsässigen vor. Am Ende war „The Wild One“ ein Kompromiss, mit starker Einmischung der Zensurbehörde, die jugendliche Gewalt als staatsgefährdend sah, und dem autokratischen Boss von Columbia Pictures, Harry Cohn, der einen konventionelleren Plot wollte (vgl. Arnold 2004: 130). Das Resultat ist ein Wirrwarr von Motiven, dass dem kommerziellen Erfolg des Filmes nicht schadete. Im Gegenteil: Das unerwartet gute Einspielergebnis der „Wilden“ machte erst den Weg frei für andere Jugendfilm-Produktionen, wie 1955 für „Rebel without a cause“ („…denn sie wissen nicht, was sie tun“) (vgl. Behrens 1990: 256). Filmische Texte sind aus einer Vielzahl heterogener Zeichensysteme bestimmt, die bei der Bedeutungsproduktion mit- und gegeneinander agieren.3 Auch die Erzählung des „Wilden“ ist mit seiner unentschlossenen Auswahl an Motiven polysem strukturiert.4 Die Eröffnungsszene, in der Johnny (Brando) in Lederkluft mit Sonnenbrille seine Motorradgang auf dem Weg in die kleine Stadt anführt, wirkt ungeheuer bedrohlich (vgl. im Folgenden „The Wild One“). Ihr Auftritt in der geballten Gruppe, die sich deutlich in Kleidung und lässiger Haltung unterscheidet, provoziert. Geradezu harmlos erscheinen die Black Rebels mit ihren Totenkopf-Emblemen dagegen nach ihrer Ankunft in der Kleinstadt: Sie albern übermütig herum und stellen ihre Geschicklichkeit zur Schau. Die Filmkritik hat diese Szenen als authentische Bilder einer Subkultur gedeutet, die ein Stück weit wie ein Dokumentarfilm wirken (vgl. Arnold 2004: 131). Eigentlich ganz nette Jungs sind das, versuchen sogar, den alten Barmann Jimmy in ihren eigenen Slang, ihre Kommunikationsriten einzuführen. Die Jungs tanzen zu den Klängen der Jukebox, sind immer in Bewegung. Die Bürger des Städtchens dulden die Jugendlichen, haben sogar ihren Spaß an den „wilden“ Jungs. Ihre spektakulären Motorradtricks werden von einer staunenden Menge begleitet. Andere wiederum wittern das Geschäft ihres Lebens, so plötzlich von konsumfreudigen Jugendlichen umgeben. 3 Dazu gehören z.B. Beleuchtung, Kamera, Musik, Einstellungen, Gestik, Gesichtsausdruck. Diese filmischen und nicht-filmischen Codes „konfrontieren den Rezipienten mit einer potenziell unbegrenzten Menge an Bedeutungen (vgl. Winter 1992: 33). 4 Wie Winter zeigt, unterstreicht die Polysemie von Filmen „die Plausibilität der semiotischen Grundannahme, dass der Rezipient, wenn er die Filme verstehen will, sie [aktiv, K.S.] als einen Text lesen muss“ (Winter 1992: 35). Das Bedeutungspotenzial von Filmen übertrifft damit ihre Fähigkeit, dieses zu disziplinieren und zu kontrollieren. Filme erfüllen damit ein wichtiges Merkmal populärer Texte, denn: „A popular text, to be popular, must have points of relevance to a variety of readers in a variety of social contexts, and so must be polysemic in itself, and any one reading of it must be conditional, for it must be determined by the social conditions of its reading“ (Fiske 1989: 141).
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Nur Marlon Brando wirkt in diesem ganzen Treiben seltsam verloren. Er spielt den Rebell als Verweigerer. Auf die Frage, wogegen er rebelliere, antwortet er: „Was hast du denn anzubieten?“ Er ist der erste „Rebel without a cause“, nicht James Dean, der im gleichnamigen Film nur Epigone war. In dem zentralen Dialog mit der Sheriffstochter Kathie versucht Johnny das Credo einer neuen Jugendkultur zum Ausdruck zu bringen. Wenn man Brandos Biograph Bob Thomas glaubt, wurde der Dialog improvisiert, weil der ursprüngliche Text von der Zensurbehörde zu Gemeinplätzen verwässert wurde (Thomas 1973: 89). Selbstbestimmt will Johnny mit seiner Gang leben, zumindest an den Wochenenden soll ihnen keiner sagen, wohin sie fahren sollen. Freizeit soll tatsächlich freie Zeit sein, frei von ökonomischen und sozialen Zwängen. Es geht um Spontaneität, um Mobilität, um einen hedonistischen Lebensstil. „Wir haben kein bestimmtes Ziel, wir hauen nur so ab und dann brausen wir durch die Gegend. Das ist unsere Masche. Einfach weil wir die Schnauze voll haben“, versucht Johnny dem „Good Girl“ Kathie einen anderen Lebensstil näher zu bringen. Die Stimmung schlägt um, als eine andere Gang in das Städtchen donnert. Alles deutet auf unmittelbare Gewalt hin, die sich in einem Kampf zwischen Johnny und Chino entlädt. Während Chino ins Gefängnis wandert, macht seine Gang Randale. Johnny rettet Kathie vor deren Belästigung, wird aber selbst für einen potenziellen Vergewaltiger gehalten und von den Bürgern des Städtchens verprügelt. Dem Lynchmob entkommt Johnny nur durch die Ankunft eines starken Sheriffs, einer väterlichen Autoritätsperson. Allein, ohne seine Gang, schaut er auf einen letzten Kaffee in Bleeker’s Café vorbei, in dem Kathie bedient. Er stellt eine Renn-Trophäe auf die Theke. Sie lächelt ihm zu. Er geht hinaus, setzt sich auf seine Maschine und braust davon. „Der Wilde“ hat vielfältige Spuren hinterlassen – er wurde zum „Kultfilm“ (Brando 1994: 168): Mit ihm begann das Genre der Bikermovies, Brando in seiner Lederkluft wurde später zur Ikone schwuler Subkultur (vgl. Arnold 2004: 136). Doch vor allem begründete „Der Wilde“ das Image Marlon Brandos als „Rebel Hero“: Mit „Die Werbe-Parole dieses Films heißt Marlon Brando!“ rief der Verleiher Columbia Pictures die westdeutschen Kinobesitzer zur aggressiven Vermarktung des Rebellenimages des Hauptdarstellers auf. „Marlon Brando ist […] ein genialer Außenseiter, als Privatmann und als Menschendarsteller. Deshalb strahlt auch seine schillernde Persönlichkeit in jeder Rolle das Hintergründige seiner privaten Natur mit ganz besonderer Schlagkraft aus“ (Werbematerial für „The Wild One“).
Die enge Verbindung von Rollenfigur mit Schauspielerpersönlichkeit sollte das Identifikationspotenzial für die jugendliche Zielgruppe noch steigern. Damit wurde bewusst auf das intertextuelle Phänomen „Star“ als Kassenmagnet gesetzt.
124 Abbildung 1:
Katja Scherl Marlon Brando in Lederkluft auf seinem Motorrad war der Prototyp des „Rebel Hero“.
(Quelle: Feldvoß/Löhndorf 2004: 129) Sowohl Marlon Brando als auch James Dean verkörperten in ihren Filmen einen neuen Figurentypus: den „Rebel Hero“, dessen Aufbegehren und Außenseitertum nicht als individuelle Schuld erschien, sondern durch Gesellschaft und Familie verursacht. So gesteht Johnny Kathie, dass er keine Liebe kennt, als Kind sogar geschlagen wurde. Das soziale Konfliktpotenzial wurde allerdings psychologisiert und ins Innere der gebrochenen Helden verlegt. Damit sollte eine Entwicklungsgeschichte des „Rebel Hero“ gezeigt werden, die schließlich die alte Ordnung wiederherstellte. Der „Rebel Hero“ ist ein neurotischer Held. „Ein krankes Idol – ein Kranker als Idol“, wie der bekannte Filmkritiker Enno Patalas schrieb (Patalas 1963: 236). So leidet James Dean in „…denn sie wissen nicht, was sie tun“ an der Schwäche des Vaters, der sich nicht gegen die tyrannische Mutter behaupten kann und damit seine tradierte Autoritäts- und Vorbildsfunktion diskreditiert. Der Typus des schwachen Vaters ist auch in „Der Wilde“ von entscheidender Bedeutung, denn der Konflikt zwischen der Motorradgang und den Bürgern der Kleinstadt eskaliert, weil der auf Verständnis bedachte örtliche Sheriff die Jugendlichen nicht in ihre Schranken weisen und somit die Ordnung aufrechterhalten kann. Die normale heterosexuelle Beziehung als Ausweg aus den Jugendkrawallen ist die Lösung, die das Drehbuch mit der Beziehung Kathie/Johnny vorschlägt. Doch die Darstellung im Film vermeidet Eindeutigkeiten. Die Filmwerbung
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setzte genau auf diese Offenheit der Geschichte: „Die Trophäe, die er zurücklässt, ist sein Abschiedsgruss. Vielleicht sein Dank oder das Versprechen, daß er sein Leben ändern wird, daß er zurückkehrt. Vielleicht…“ (Werbematerial für „The Wild One“). Brandos Erscheinung und sein Spiel gaben dem Geschehen zusätzlich einen Sinn, der im Drehbuch nicht unbedingt enthalten war. Sein indifferentes Äußeres5, der Schmollmund, die lasziv langsamen Bewegungen provozierten. So hieß es in einer Filmkritik: „Brando schreitet (windet sich) wie ein Panther. Selbst seine Kehrseite ist voller Ausdruck“ (Hamburger Anzeiger, zit. nach: Der Wilde. Besprechung des Jugendfilmclubs Hannover-Münden). In der B.Z. war von Brandos „brutalem Gorilla Sex-Appeal“ die Rede: „Mit seinen sinnlichen Lippen, seinen Mandelaugen, seinem griechischen Profil und seiner athletischen Gestalt ist Marlon Brando zur Zeit der meistgeliebte Mann Amerikas. Er ist der Typ des brutalen Liebhabers, der sich nicht scheut, einer Frau ‚eine runterzuhauen, wenn sie nicht spurt‘. Seine Beliebtheit ist nicht weiter verwunderlich. Gerade die Amerikanerin, die verwöhnteste Frau der Welt – die so gern und so oft betont hat, daß sie es sei, die den Mann beherrsche –, macht neuerdings keinen Hehl mehr daraus, daß ihr Herz und ihre Sinne auf den brutalen ‚Gorilla-Sex-Appeal‘ am stärksten reagieren“ („Der ‚Gorilla-Typ‘ triumphiert“, in: B.Z., 8.01.1954).
Durch die Kombination von „Rassenmischung“ („sinnliche Lippen“ als stereotypes Image von Afroamerikanern, asiatisch-indianische „Mandelaugen“, griechisches Profil), animalischem Dschungel-Primitivismus („Gorilla-Typ“) mit sexueller Perversion (männliche Hyper-Aggressivität und weiblicher Sadomasochismus) grenzte die B.Z. das Normalfeld deutscher Identität ab. Marlon Brandos „Der Wilde“ lag mit diesen Zuschreibungen deutlich außerhalb der Normalität und bot gerade deshalb Identitätsangebote, mit denen Jugendliche den tradierten Klassen-, Alters- und Geschlechternormen widerstehen, sie unterlaufen konnten. Auch der Motorradclub ist anormal gezeichnet,6 von dem Brando sich im Laufe der Handlung emanzipieren muss. Die Black Rebels sind ein reiner Männerbund, der an seine Mitglieder „ausgesprochen totalitäre Ansprüche“ (Patalas 1963: 238) stellt. Trotz hyper-männlichen Verhaltens schwingt in dieser Gruppe ein Zug von Homosexualität latent mit, in vertraulichen Gesten, andeutenden Blicken und Worten. Männer tanzen miteinander, später sieht man Jungs in Frauenkleidung auf der Straße. Das Drehbuch verlangt Brandos Normalisierung, seine Rebellion gegen das Männerkollektiv und die Hinwendung zu einer „or5 So erinnerte sich Capote, Brando schlafend in den Kulissen bei einer Bühnenaufführung von „Endstation Sehnsucht“ gesehen zu haben: „Da er ein weißes Unterhemd anhatte und Drillichhosen und wegen seiner vierschrötigen Sportlerfigur […] hielt ich ihn für einen Bühnenarbeiter. Oder vielmehr so lange, bis ich sein Gesicht aus der Nähe sah. Es war, als ob das Gesicht eines Fremden an den muskulösen Körper gefügt sei, wie bei gewissen Fotomontagen. Denn dieses Gesicht war so wenig hart, dass es dem kantigen guten Aussehen […] einen fast engelhaften Zug von Verfeinerung und Adel verlieh“ (Capote 1992: 67). 6 Die Darstellung der Motorradgang als „nette Jungs“ bedeutet nicht ihre Eingliederung ins Normalfeld, vielmehr sind sie „unterhaltsames Schauspiel“ – sie spielen den „Narren“, durch dessen spektakuläre Andersartigkeit sich das Normale definiert (vgl. Hebdige 1983: 85; Barthes 1992: 143).
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dentlichen Blondine“ (ebd.: 238). Doch die Wendung scheint mehr karitativ als erotisch bestimmt zu sein; der Vollzug der neuen Beziehung wird nicht einmal angedeutet. Auch hier bleibt ein zweideutiger Überschuss, unauflösbar mit der Persönlichkeit Brandos verbunden, dem homosexuelle Beziehungen nachgesagt wurden.7 Körperlichkeit ist das herausragende Charakteristikum der Darstellung von Johnny und seiner Gang. Der Ausübung von Gewalt kommt dabei entscheidende dramaturgische Bedeutung zu. Als „durchschlagende“ Manifestation der Handlungsfähigkeit fungiert sie in Form „expressiver“ Gewalt als Identität stiftender Akt: Die Black Rebels müssen zeigen, wie „tough“ sie sind; nicht nur, um innerhalb der Gang ihre Identität zu sichern, sondern auch als Gruppe ihren Anspruch auf Selbstbestimmtheit nach außen zu tragen. Mit seiner extremen Betonung körperlicher Kraft und Geschicklichkeit kam der Film in den 1950er Jahren den Bedürfnissen von Zuschauern entgegen, die ihre eigene Jugendlichkeit und Stärke auf den/die Helden projizieren, ihr imaginäres Begehren nach Artikulation, also ohne komplizierte interpretatorische Zwischenschritte an „starke“ Ausdrucksformen heften konnten (vgl. Fluck 1998: 27). Die Verbindung von Mensch und Motorrad verstärkte die überlegene Körperlichkeit noch: Im Gegensatz zu den Alten, die im Film ihre Oldtimer nicht unter Kontrolle haben, beherrschen die Jungen die moderne Technik, die ihnen Mobilität und Freiheit schenkt. Die Aufwertung des Körpers und der äußeren Erscheinung in „Der Wilde“ markierte eine neue Art jugendlichen Selbstbewusstseins. Im Rückblick erschien der Erfolg, aber auch die Kritik, die der Film hervorrief,8 als „Produkt der Zeit und der Umstände“. Brando erklärte in seiner Biographie: Wir standen „[…] am Beginn einer neuen Ära. Junge Leute begannen, die ältere Generation und ihre Werte, ihre Moral und die etablierten Autoritäten in Frage zu stellen. Als wir den Film drehten, brodelte es unter der Oberfläche. Junge Leute suchten nach einem Grund – einem beliebigen Grund – zur Rebellion. Ich war einfach nur zufällig zur richtigen Zeit am richtigen Ort und in der richtigen Rolle“ (Brando 1994: 167f.).
Als Kontext für die Produktion und Rezeption des „Wilden“ könnte man also mit Fiske eine Art „diskursiver Unterströmung“ deuten, die gerade zu dieser bestimmten Zeit an die Oberfläche strömte und im ruhigen Fluss des hegemonialen Diskurses Turbulenzen erzeugte (vgl. Fiske 1994: 7). Dies soll im Folgenden für den bundesdeutschen Kontext näher beleuchtet werden.
7 So war James Dean angeblich in Brando „verschossen“ (Feldvoß 2004: 24, vgl. auch die zahlreichen Belege bei Manso 1998). 8 Auf der einen Seite verbuchte Brando den sprunghaften Anstieg des Absatzes von Lederjacken als sichtbarsten Ausdruck für den Erfolg der „Wilden“. Auf der anderen Seite warfen Kritiker dem Film vor, eine Motorradbande, „deren Mitglieder für restlos verdorben und der Gesellschaft unwiederbringlich verloren galten“, zu glorifizieren (Brando 1994: 166f.).
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3 „Wilde“ auf Deutschlands Straßen: die konsumierte Revolte „Der Wilde“ war bereits ein Versprechen, eine Bedrohung, als er endlich in Deutschland anlief. Ihn umgab der Mythos der Zensur. Immerhin war er in Großbritannien 14 Jahre lang bis 1968 verboten. Er versprach auf jeden Fall Aufregung, die von der Werbung noch geschürt wurde. Unter dem Motto: „Schlagen Sie also in unsere Kerbe!“ schlug Columbia den deutschen Kinobesitzern so Werbetexte vor wie „Marlon Brando, ‚Der Wilde‘, in der zwingenden Zange des Unterbewusstseins und seiner Impulse!“ (Werbematerial für „The Wild One“). Der katholische Film-Dienst warnte 1955: „Es wäre bedenklich, unsere Jugend mit dem Rowdytum bekannt zu machen, vor dem zwar gewarnt wird, das aber dennoch nachahmbar sein könnte“ (Film-Dienst, zit. nach: Schäfer/Baacke 1994: 82). Auch in den Jugendfilmclubs stimmte man ein: Gerade weil der Film so gut bei der Jugend ankäme, müsse man achtsam sein. „Publikumswirksam ist ‚Der Wilde‘ auf jeden Fall, in erster Linie durch den Namen Marlon Brandos, der auch hier wieder unwahrscheinlich ‚lässig‘ […] seine Rolle ‚lebt‘. Aber: „Dieser Film nimmt den jugendlichen Rowdy zu sehr in Schutz“ (Der Wilde. Besprechung des Jugendfilmclubs Hannover-Münden). Zu einem ähnlichen Ergebnis kam auch die Arbeitsgemeinschaft Film der Landesbildstelle Berlin: „Ein Teilnehmer erwähnt, daß Gespräche mit Jugendlichen ergeben hätten, dass sie in den Jugendlichen des Films fast so etwas wie Vorbilder sähen. Sie fänden ‚das schön, weil was los ist!‘ Vor zwei Jahren hätte man in Deutschland die geschilderten Vorgänge noch für übertrieben gehalten. Er frage sich, ob nicht erst derartige Filme wie der vorliegende latent Vorhandenes zum Ausbruch gebracht hätten“ (Protokoll Arbeitsgemeinschaft Film der Landesbildstelle Berlin).
Inzwischen waren die Sorgen groß, denn die „Halbstarken“ waren schon in aller Munde. Die ersten Motorradgangs, die sich von „Der Wilde“ inspirieren ließen, wurden aus Berlin gemeldet: „Es fing im Frühjahr 1955 in Berlin-Lichterfelde an. Eine Gruppe von etwa 20 Söhnen angesehener Eltern, 17-22 Jahre alt, traf sich jeden Freitag in einer bestimmten Gaststätte. […]. In dieser Gegend haben die Burschen dann im Juni 1955, anscheinend eng nach dem Vorbild einer Bande mit schweren Motorrädern in dem Film ‚Der Wilde‘, unter dem Namen ‚Die Wilden vom Großen Fenster‘ aus Übermut allerlei groben Unfug getrieben.“
Mit diesen Worten markierten Curt Bondy und seine Mitarbeiter vom Hamburger Institut für Psychologie in ihrer populären Studie „Jugendliche stören die Ordnung“ den Beginn der Krawalle (Bondy et al. 1957: 9; vgl. auch den Fall in „Die Berliner Jugendgerichtshilfe im Jahre 1955“, in: Rundbrief 6/7). Das weitaus stärkste Medienecho fanden die Krawalle in der Afrikanischen Straße, die von der „Totenkopfbande“ ausgingen, die sich mit ihrem Erkennungszeichen an die „Wilden“ im Film anlehnte: „Det is doch wie Kino. […]
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Und genau so genießen sie es auch“, kommentierte der Tagesspiegel süffisant das Verhalten der jungen Leute: „Zwei der festgestellten Mädchen sind am Donnerstag noch spät abends nach Plötzensee baden gefahren, um dann auf dem kürzesten Weg rechtzeitig in die Afrikanische Straße zu kommen. Andere kamen aus Moabit, um sich die Jungs bloß mal anzusehen. Denn daß man donnerstags am Wedding was erleben kann, darüber sind sich alle einig“ („Kommunistische Hetzer in der Afrikanischen Straße“, in: Der Tagesspiegel 21.7.1956).
Alles fing relativ harmlos an: „Die ‚Donnerstagsvorstellungen‘ in der Afrikanischen Straße hatten vor zwei Wochen begonnen, als die Polizei nach Beschwerden der Anwohner über den ruhestörenden Lärm der Motorradfahrer eine Razzia in dem Tanzlokal veranstaltete“ („Mit Totenkopfabzeichen in der Tasche“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 21.7.1956).
Nachdem die Zeitungen ausführlich über die brutale Razzia berichtet hatten, bei der vorübergehend 50 Jungen und elf Mädchen festgenommen worden waren, füllten am nächsten Donnerstag rund 3000 Berliner die Afrikanische Straße, „um dabei zu sein, wenn der Radau los ginge. Diesmal wurden sogar Wasserwerfer eingesetzt, doch nicht gegen die ‚Totenkopfbande‘, die kaum in Erscheinung trat, sondern gegen die Schaulustigen […]. Das gleiche Schauspiel wiederholte sich in der vorigen Woche“ („Rowdies zu besichtigen“, in: Die Zeit, 26.7.1956).
Die aufgeregte Berichterstattung über die Afrikanische Straße sorgte nicht nur dafür, dass sich von Woche zu Woche mehr Schaulustige und Pressevertreter im Wedding einfanden. In ganz Westdeutschland eröffnete sie eine Serie von Jugendkrawallen, die sich die Afrikanische Straße „mehr oder weniger deutlich zum Vorbild“ nahmen (Bondy et al. 1957: 47). Krawalle als Berliner „Exportartikel“– ein Vorwurf, gegen den sich besonders die Berliner Abgeordneten wehrten (vgl. Stenographische Berichte des Abgeordnetenhauses von Berlin 20.09.1956: 517). Nicht von Export, sondern von Import wollten sie sprechen: „In diesem speziellen Fall kann man einmal das Vorbild ganz genau feststellen, dass die Jugendlichen in Berlin beinahe Wort für Wort, Bild für Bild kopiert haben“ (Stenographische Berichte des Abgeordnetenhauses von Berlin 20.09.1956: 522). Der amerikanische Film „Der Wilde“ war der böse Verführer (vgl. Ausschuss für Jugend, 5.10.1956; „Wir leben nicht in Wildwest-Berlin“, in: Der Tag, 21.9.1956). Was sagten die Jugendlichen selbst zu solchen Vorwürfen? Bei einer Studie gaben sie an, dass sie als „halbstark“ eine Gruppe bezeichneten, die aus Filmen wie „Der Wilde“ übernommene Verhaltensweisen kultiviere. Nach Bondy et al. bildete gerade diese Gruppe die Avantgarde für die übrigen Jugendlichen, die sich an den Krawallen beteiligten (vgl. Bondy et al. 1957: 25, 81). Man kann die „Halbstarken“ als Subkultur bezeichnen, die mit Analysen von Bondy et al. und Kaisers zum ersten Mal umfassend und nach wissenschaftlichen Kriterien untersucht wurde. Auch wenn von beiden nicht der Begriff Subkultur verwendet
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wurde, kommen insbesondere Bondy et al. zu Ergebnissen, auf die der von den Cultural Studies geprägte Subkultur-Begriff 9 angewendet werden kann. Definieren wir Kultur als Art, wie die sozialen Beziehungen einer Gruppe strukturiert oder geformt sind, und wie diese Formen erfahren, verstanden und interpretiert werden, ergibt sich daraus, dass eine Gesellschaft aus einer Vielzahl von Kulturen besteht, die von einer dominanten Kultur geprägt werden.10 Aus einer dieser Kulturen stammen jugendliche Subkulturen, die ihre schichtenspezifischen Probleme auf symbolisch-expressive Weise zu lösen versuchen. Subkulturen sind deshalb nach Hebdige „Kulturen mit auffälliger Konsumhaltung (conspiciuous consumption)“ (Hebdige 1983: 94). Im Rückblick war das manchem „Halbstarken“ bewusst: „Also, ich glaube, für uns Halbstarke spielte bloß ´ne Rolle, wie wir am schnellsten an die recht teuren Artikel rankamen, die uns als Halbstarke profilierten: Maschine, James-Dean-Jacke […], LederCowboy-Stiefel.“ (Werner Krabbe zit. in: Sträter 1985: 165)
Stil wird in Subkulturen zum entscheidenden Kommunikationsmittel. Im Gegensatz zur dominanten Kultur, deren bezeichnendes Charakteristikum die Normalität ist bzw. die Maskerade als Natur (vgl. Barthes 1992: 123-133), bricht der subkulturelle Stil mit seinem „anderen“ Gebrauch bekannter Objekte die behauptete Einheit des Normalfeldes auf. Er kommuniziert einen signifikanten Unterschied auf spektakuläre Art und Weise: durch Image, Haltung und Slang. Doch Stil ist nicht einfach Übernahme. Jugendliche Subkulturen werden als Bricoleure tätig: Sie relokalisieren signifikante Objekte an einem anderen Ort im Diskurs und erzeugen so Lärm (vgl. Hall/Jefferson 1976: 177). Man kann von „semiotischen Guerilla-Taktiken“ (Fiske 1989) der Bricoleure sprechen, die dazu beitragen, dass sich neue Diskurse herausbilden und andere Botschaften vermittelt werden. Die „Halbstarken“ haben z.B. die Jeans, in Deutschland vorher vor allem als Arbeitshose bekannt, in den hedonistischen Freizeitbereich überführt, wo sie als Zeichen für ein selbstbestimmtes Leben, für Jugendprotest gedeutet wurde. Kleidung war das herausragende Merkmal, mit dem die „Halbstarken“ nicht nur ihren Anspruch auf ein „anderes“ Leben nach außen 9 Subkultur ist der zentrale Begriff für die Jugendstudien der Cultural Studies. Ausgehend von Raymond Williams Konzept von Kultur als „whole way of life“ entwickeln Hall, Clarke u.a. ein Verständnis von Subkultur, das sich weitgehend auf die Untersuchung von Arbeiter-Subkulturen beschränkt: „Working-class subcultures […] take shape on the level of the social and cultural class-relations of the subordinate classes. In themselves, they are not simply ‚ideological’ constructs. They, too, win space for the young: cultural space in the neighbourhood and institutions, real time for leisure and recreation, actual room on the street or street-corner. […] They explore ‚focal concerns’ central to the inner life of the group: […] a set of social rituals which underpin their collective identity and define them as a ‚group’ instead of a mere collection of individuals. They adopt and adapt material objects […] and reorganise them into distinctive ‚styles’ which express the collectivity of their being-as-a-group. These concerns, activities, relationships, materials become embodied in rituals of relationships and occasion and movement” (Hall 1976: 45ff). 10 Hegemonie ist nach Hall nie universal. Sie muss gewonnen, reproduziert und aufrechterhalten werden. Unterschiedliche Kräfte streiten um dieses bewegliche Gleichgewicht (vgl. Hall 1976: 12).
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trugen, sondern sich auch als Gruppe gegenüber anderen Jugendlichen abgrenzten. So berichtet die Hannoversche Allgemeine Zeitung von einem Rock’n’RollTurnier 1956: „Schon äußerlich schieden sich die Lager: hier die Fans, die in Lederjacke und Lumberjack, die Mädchen, die in Blue-Jeans erschienen, dort die anderen mit Sakko und Krawatte, die jungen Damen im Straßenkleid“ (zit. nach Grotum 1994: 193). Nicht alle „Halbstarken“ konnten sich das „MarlonBrando-Outfit“ mit echter Lederjacke leisten (vgl. Wildt 1997; Schildt 1995: 79108), doch die Hauptsache war aufzufallen. So sichtete Der Tag an einem Münchner „Halbstarken“ ein „weißes Matrosenkäppchen amerikanischer Bauart“ mit „gelbem Seidenhemd, verziert mit schwarzer Kordel“ („Stadtrat: ‚Die Blasenführer bitte melden‘“, in: Der Tag, 20.9.1956). Das expressive Styling der Jungen sorgte für eine androgyne Aufweichung der ansonsten zur Schau gestellten Hyper-Männlichkeit, deren Zentren Motorrad, Kraftproben und wilde Rock’n’Roll-Musik waren (vgl. Maase 1992: 120f.; ders. 1996: 203). Das stellte auch Der Tagesspiegel fest: „Individuum ist […] Trumph. Jeder trägt zwar nicht unbedingt, was zu ihm passt, aber der Anblick ist wenigstens bunt. Blue Jeans, Cordhosen und Phantasiehemden bilden einen farbigen Kontrast zu der normalen bürgerlichen Kleidung […]. Manche ‚Herren‘ bevorzugen Napoleon-Frisur, Bürste,
Abbildung 2:
Johnny und seine Gang waren das Stilvorbild für die Subkultur der Halbstarken.
(Quelle: Feldvoß/Löhndorf 2004: 133)
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Marlon-Brando-Schnitt – und finden sich ‚schrecklich schön‘“ („Teenagers, Rowdies und Motorradbanden“, in: Der Tagesspiegel, 1.7.1956).
Bei den Mädchen, die in dieser Subkultur deutlich unterrepräsentiert waren (vgl. Bondy et al. 1957: 53; Kaiser 1959: 130-134), bot sich bei Kleidung und Verhalten ein ähnlich ambivalentes Bild aus hyper-aggressiver weiblicher Sexualität mit männlichen Zügen. So schrieb der Tagesspiegel über „verlockende Evastöchter“: „Es ist gewiss schwierig, einem Backfisch zu vermitteln, der den öffentlichen Überhang an lollobrigiden und lorenen Formen schon zum Stadtbild rechnen muss, daß zu enge Pullover und allzu prall sitzende Hosen nicht überall die richtige Garderobe sind“ („Eva und die bösen Buben“, in: Der Tagesspiegel, 7.4.1957).
Auf der anderen Seite erinnern sich „halbstarke“ Mädchen, dass sie sich wie Jungen verhalten haben. Frau Wahl betont, dass sie manche Streiche organisiert, andere Kinder verprügelt habe – „und dann die Motorradleidenschaft“ (zit. in: Zinnecker 1987: 105; vgl. Dietz 1985). Das Motorrad war ein wichtiges Objekt halbstarker Subkultur: Eine Umfrage ergab 1953, dass 21 Prozent aller männlichen Jugendlichen als größten Wunsch ein eigenes Motorrad angaben. Damit rangierte das eigene Fortbewegungsmittel an zweiter Stelle nach einer „guten Stellung“ (vgl. Nordwestdeutscher Rundfunk 1955: 112). Im Gegensatz zum Auto war zumindest ein Moped für Lehrlinge erschwinglich, die es nicht nur zur Fortbewegung nutzten. Für die „Halbstarken“ war es Mittel zur Selbstdarstellung. Besonders in der Gruppe war das Motorradfahren ein besonderes Erlebnis, erinnert sich Werner Kullmann: „Das musst du dir mal vorstellen, was das für ein Rausch war, wenn die Meute zusammen war“ (zit. nach: Grotum 1994: 204). Das scheinbar sinn-, weil ziellose Herumfahren stieß den Erwachsenen besonders auf. Das Bayerische Innenministerium gab eine Anweisung an die Polizei heraus, dass bereits ein Verstoß gegen die Verkehrsvorschriften vorläge, „wenn das Fahren offensichtlich nicht der Erreichung eines Verkehrsziels, sondern lediglich der Unterhaltung dient“ (Bayerischer Regierungserlass vom 5.6.1956, zit. in: Allgemeine Deutsche Lehrerzeitung 8 (1956) H. 17: 329). In einer Studie über jugendliche Mopedfahrer wurde die jugendliche Motorradleidenschaft psychologisiert: „Der Lässig-Rasante braucht das Moped, um seinen Antrieben, Strebungen und Bedürfnissen Ausdruck zu geben. […] wir finden als Kennzeichnung dieses Typs ebenso die lässige, bequeme, halb in sich zusammengesunkene Haltung, die aber ebenso wie die Darstellung der Kraft und Geschicklichkeit, Darstellung der Überlegenheit sein soll“ (Schimetzschke 1958: 64f.).11
Eine eigene Sprache unterstrich den Anspruch auf ein Leben in Eigenregie der „Halbstarken“: Zum Teil handelte es sich um Amerikanismen, wie „Maker Inge“ (Freund von Inge), zum Teil um wieder belebte Dialektbegriffe oder Um11 In den 1950er Jahren wurde zivile Lässigkeit zum neuen Leitbegriff jugendlicher (Selbst-)Repräsentation (vgl. Maase 1992: 113-131; ders. 1999).
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deutungen (vgl. Bondy et al. 1957: 25f.). Auch die deutsche Synchronisation von „Der Wilde“ strotzt vor Slangausdrücken wie „Polente“, „Puppe“ oder „Masche“. Wichtig war den Jugendgruppen, dass sie durch ihren eigenen Slang ihre Gruppenidentität stärken und sich von den Erwachsenen abgrenzen konnten. Deshalb reagierten sie besonders ungehalten, wenn Erwachsene sich ihrer Ausdrücke bedienten. „Ohne Ausnahme erklärten die Jungen und Mädchen, sie fänden einen solchen Vertreter der älteren Generation albern, affig und in seinem inneren Wesen nicht echt“, schrieb ein Soziologe („Verstehen wir die Jugend von heute?“, in: Der Tagesspiegel, 11.7.1958). „Echt“ ist ein zentrales Stichwort: Die „Halbstarken“ hatten verschiedene Objekte und Verhaltensmuster zu einem eigenen subkulturellen Ensemble vereinigt, das dazu diente, Aspekte ihres gemeinschaftlichen Zusammenlebens auszudrücken und zu reflektieren. Denn Subkulturen sind keine formlosen Gebilde, sondern zeichnen sich trotz aller Spontaneität der Gruppenbildung durch eine extreme Ordnung aus.12 Ein Objekt ist nichts ohne das andere, bei den „Halbstarken“ verwiesen alle Objekte auf die Zurschaustellung einer expressiven Körperlichkeit und den Anspruch auf hedonistische Freizeitgestaltung. Ihr Recht auf eigene Lebensgestaltung wollten die Halbstarken provokativ gegen herrschende Normen ausdrücken. Besonders männliche Arbeiter und Lehrlinge im Alter von 16 bis 19 fühlten sich von diesem Lebensgefühl angezogen (vgl. Bondy et al. 1957: 55; Kaiser 1959: 148-153; Zinnecker 1987: 132). Ihre soziale Lage war besonders prekär: Sie verdienten bereits ihr eigenes Geld, wurden aber als Jugendliche nicht ernst genommen.13 Erst in der subkulturellen Gruppe konnten sie sich Respekt und Ansehen verschaffen, ihre Ansprüche nach außen tragen. Sie machten um die 65 Prozent aller „Halbstarken“ aus. Allerdings war auch ihr Anteil an der gesamten Jugend sehr groß. 75 Prozent aller Jugendlichen fing nach der Volksschule eine Ausbildung an oder suchte sich eine Stelle als unbezahlter Arbeiter (vgl. Statistisches Bundesamt 1959; Bondy et al. 1957: 55). Generell kann man sagen, dass Berufstätigkeit das typische Merkmal der Jugend in den 1950er Jahren war, wodurch sich auch die finanziellen Möglichkeiten Jugendlicher verbesserten, an einer Konsum geprägten Freizeit teilzunehmen. Eine Umfrage ergab, dass die 14- bis 25-Jährigen 1953 über monatlich durchschnittlich 61 Mark für „persönliche Zwecke“ verfügen konnten, wobei Angestellte, Handwerker und Arbeiter doppelt soviel Geld hatten wie Schüler und Studenten (Nordwestdeutscher Rundfunk 1955: 129; vgl. Blücher 1956: 46f.). Auch das ist ein Grund dafür, 12 Die Cultural Studies verwenden den Begriff der Homologie, um die „symbolische Stimmigkeit zwischen den Werten und dem Lebensstil einer Gruppe, den subjektiven Erfahrungen und den Musikformen zu beschreiben, mit denen sie ihre zentralen Anliegen ausdrückt oder verstärkt“ (Hebdige 1983: 105; vgl. Willis 1981: 238). 13 Unter der „Avantgarde“ der „Halbstarken“, die Kaiser von den „Mitläufern“ unterscheidet, waren auffallend viele Hilfsarbeiter und ungelernte Arbeiter. Ihnen drohte in einer von „Leistungsund Aufstiegswillen“ gekennzeichneten Jugend Statusverlust in Folge eines „Nicht-aufsteigenkönnens“ (Kaiser 1959: 149f.; vgl. auch Hall/Jefferson 1976: 25-30).
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dass an der Halbstarken-Bewegung hauptsächlich Arbeiter partizipieren konnten, die ihr eigenes Geld verdienten. Als in den 1960er Jahren das Taschengeld angestiegen war, konnten auch Schüler und Studenten vermehrt an der neuen Konsumkultur teilnehmen (vgl. Scharmann 1965: 74; Maase 1992: 75). Das Kino galt zeitgenössischen Beobachtern als zentral für die neuen Formen jugendlichen Konsums. So kam Hans Heinrich Muchow zu dem Ergebnis: „Einmal pro Woche ins Kino zu gehen, ist bei 60 Prozent der befragten 1200 Kinder die Regel, manche gehen noch häufiger, wenige seltener ins Kino. […] auch gilt es fast als Schande, den neuesten Film nicht gesehen zu haben“ („Der Unterhaltungsfilm als Erziehungsmacht“, in: Das Parlament Nr. 15/11.4.1956).
Außerdem war das Kino, neben den traditionellen Versammlungsstätten Jugendlicher, wie der Straße oder dem Rummel, der Treffpunkt für die Clique. Gemeinsam den neuesten Halbstarken- oder Rock’n’Roll-Film gesehen zu haben, war fester Bestandteil der Halbstarken-Subkultur. Nicht selten endeten diese Kinobesuche in einem „Halbstarken“-Krawall, wie sie besonders häufig nach dem Bill-Haley-Film „Außer Rand und Band“ stattfanden. Bondy et al. schildern den Krawall bei der Erstaufführung in Bremen 1956: „Beim Erscheinen einer ‚Rock’n’Roll-Szene‘ auf der Leinwand setzte ein tumultartiges Getöse ein. Einzelne junge Leute pfiffen auf den Fingern, andere bedienten Trillerpfeifen, Autohupen und andere Lärminstrumente.“ Nach Schluss der Vorstellung „setzten sich 150 Jugendliche […] in Richtung Innenstadt in Bewegung. Sie lärmten und schrien, pfiffen und grölten, dabei immer wieder Sprechchöre bildend. Das beliebteste Thema war ‚Rock’n’Roll‘, aber es wurde auch ‚Hau-ruck‘ und ‚Pfui Polizei‘ gerufen.“ Schließlich bildete eine Menge von etwa 100 Leuten einen Kreis auf dem Marktplatz, „in dem Jugendliche nach improvisierten ‚Rock’n’Roll‘-Melodien artistische Tanzdarbietungen vorführten.“ Erst „als eine Polizeikette zur Räumung des Marktplatzes gebildet wurde, nahmen die Jugendlichen Reißaus“ (Bondy 1957 et al.: 41f.).
In den Vernehmungsprotokollen wird deutlich, dass die meisten der Jugendlichen aus Erlebnisdrang und aus Neugierde an den Krawallen teilnahmen. Es ging aber auch darum, zu schockieren und Handlungsspielräume auszutesten. So erklärte ein Teilnehmer nach einem Krawall in Hannover: „Es wurden Prognosen darüber angestellt, was die Polizei heute wohl wieder machen würde. Viele waren der Ansicht, es müsse sich wohl ‚etwas ganz besonderes Ausgeklügeltes‘ tun, weil noch nicht ein uniformierter Polizist in Erscheinung getreten war“ (zit. nach Grotum 1994: 133).
Der teilweise maßlose Polizeieinsatz führte regelmäßig zur Eskalation der eigentlich relativ harmlosen Krawalle. Insgesamt wurden zwischen 1956 und 1958 93 Großkrawalle mit mehr als 50 Teilnehmern in der BRD gezählt, die in 25 Groß- und zwei Mittelstädten stattfanden (vgl. Kaiser 1959: 105-109). Die Medien trugen dazu bei, das Bedürfnis nach dem Erlebnis „Halbstarken-Krawall“ zu verbreiten, wie Bondy et al. feststellten: „Vor den Krawallen wird eine Zeitlang unter den Jugendlichen lebhaft von den Krawallen in anderen Städten gesprochen.“ Daraus entsteht „in
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einigen losen Gruppen Halbstarker Interesse daran, einen [eigenen, K.S.] Krawall zu veranstalten“ (Bondy et al. 1957: 35f.). Mediale Aufmerksamkeit war für viele Jugendliche der ausschlaggebende Grund, am Krawall teilzunehmen: „dann mal ‚toff ‘ in die Zeitung reinkommen“ (zit. nach: Grotum 1994: 88). Für Kaiser beutete die ausufernde Berichterstattung sogar ein „Korrelat“ zur „Halbstarken“-Bewegung: „Ohne Öffentlichkeit, dem Schauplatz der Exzesse, wäre einem Teil der Ausschreitungen als ‚reinen Vorführungen‘ der Reiz genommen, da die fraglichen Antriebserlebnisse wesentlich mit Hilfe der Publizität befriedigt werden“ (Kaiser 1959: 174f.).
Es wundert daher nicht, dass trotz des spontanen, situationsgebundenen Charakters der Krawalle einige Jugendliche erstaunlich gut vorbereitet waren. So übergab ein Bielefelder der Polizei zwei Fotos von sich in „Halbstarken“-Kluft mit der Bitte, sie doch den örtlichen Zeitungen zukommen zu lassen (vgl. ebd.: 173).
4 „Das konsumierte Imaginäre: harmlos oder subversiv? Hier spiegelt sich der komplizierte Kreislauf von Medienaneignung, Jugendprotest und dessen Wahrnehmung in und Verbreitung durch die Medien wider, der den Diskurs über die „Halbstarken“ in der BRD bestimmte. Abschließend soll zusammengefasst werden, wie sehr die eigensinnige Nutzung populärkultureller Medien durch Jugendliche und das aufgeregte Reden darüber in den Medien sowohl das Normalfeld deutscher Identität als auch die Subkultur der Halbstarken veränderte. Wirft man einen Blick auf den Entstehungskontext der modernen Populärkultur, werden die vielfältigen Handlungszusammenhänge zwischen Konsumpraktiken Jugendlicher und der Bereitstellung von neuen (Selbst-)Bildern durch Medien deutlich. Gerade „marginalen Typen“ (Turner 2000) wie Jugendlichen räumte die Stellung als Konsument neue Machtpositionen ein (vgl. Latham 2002: 42). Ihnen kamen die Rezeptionsanforderungen und -möglichkeiten von Massenkultur besonders entgegen. Nicht umsonst fällt der Zeitraum der Entstehung der Populärkultur in den USA mit immer neuen Einwanderungswellen um die Jahrhundertwende zusammen: Aufgrund der Multikulturalität der eigenen Gesellschaft war die amerikanische Kulturindustrie frühzeitig gezwungen, quasi-‚internationale‘, von Mitgliedern ganz verschiedener Kulturen und Bildungshintergründe gleichermaßen verständliche Kommunikationsformen zu entwickeln. Massenkultur erscheint vor diesem Hintergrund als Versuch, „ethnisch und kulturell distinkte Merkmale zugunsten einer möglichst ‚universalen‘ Sprache der Visualität, der Performanz, des ‚Spektakels‘ und der wiederkehrenden Gattungsformel zu überwinden“ (Fluck 1998: 15). Diese Rezeptionserleichterung bildete die Voraussetzung dafür, ästhetische Erfahrungen von neuartiger Intensität und Komplexität zu ermöglichen, durch
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die sich zugleich neue Möglichkeiten des imaginären Selbstentwurfs und der imaginären Selbstinszenierung eröffneten. Fiktion als Kommunikationsmodus von moderner Populärkultur gab der „insgeheimen“ Vorstellungs- und Gefühlswelt (dem Imaginären) des Individuums Gestalt. Damit wurde sie zum Motor kultureller Grenzüberschreitungen und Enthierarchisierung. Das Imaginäre erhielt eine intentionale Struktur und wurde Teil eines fortlaufenden Prozesses kultureller Selbstverständigung, durch den eine Aufwertung des Individuums erfolgte, da dessen geheime Träume und Wünsche damit ausdrucksfähig wurden (vgl. Fluck 1997: 19-21). Allerdings konnte das nur um den Preis einer „Sozialisierung“ des Imaginären geschehen: Aus dem individuellen Imaginären wurde ein kulturelles Imaginäres und Populärkultur bzw. der Konsum von Populärkultur wurde nicht nur zum Experimentierfeld immer neuer Versuche, das Imaginäre zur Geltung zu bringen, sondern zugleich auch zu einem exemplarischen Ort der soziokulturellen Zurichtung des Imaginären. Diese soziokulturelle Zurichtung des Imaginären soll als Normalisierung gedeutet werden (vgl. Link 1998). Sie ist jedoch von paradoxer Art: Normalisierung wird geleistet, indem das Imaginäre erfahrbar gemacht wird, „ohne von dessen Entfesselung überschwemmt zu werden“ (Fluck 1997: 19). Das Imaginäre wird ‚real‘, aber im Prozess des Realwerdens wird die Realität durch den Zuschuss des Imaginären redefiniert. Jede Gesellschaft trägt auf diese Weise ein Potenzial ständiger Veränderung in sich. Das gilt umso mehr, je weitreichender die Institutionalisierung des kulturellen Imaginären durch die Medien und die alltägliche Lebenswelt vorangeschritten ist. Betrachtet man unter diesem Gesichtspunkt den Film „Der Wilde“, so gibt er der insgeheimen Vorstellungs- und Gefühlswelt jugendlicher Rezipienten, ihrem Wunsch nach einem selbst bestimmten Leben, Gestalt in Form von Marlon Brandos Johnny und seiner Gang. Gleichzeitig versucht er, das soziale Konfliktpotenzial zu entschärfen, indem er eine Loslösung des anormal gezeichneten Johnny von seiner Bande zugunsten einer heterosexuellen Beziehung als Happy End vorschlägt – eine Lösung, die von den wissenschaftlichen Studien zu den „Halbstarken“ bereitwillig aufgenommen wurde (vgl. Bondy et al. 1957: 24f.). Bereits im Film wird also eine Normalisierung des Imaginären geleistet. Allerdings bringt er das Imaginäre erst zum Ausdruck, bietet jugendlichen Rezipienten erst die Möglichkeit, ihr Begehren an seine Ausdrucksformen zu heften und sie als Requisit zu nutzen, um das eng begrenzte Normalfeld auszuweiten. In den Tages- und Wochenzeitungen wurde diese eigensinnige Nutzung zunächst als anormal gekennzeichnet, wie Kaiser zusammenfasst: „Der ‚Halbstarke‘ tritt vornehmlich in der Gruppe auf und überschreitet primitiv die Grenze des Schicklichen in der sinnlosen Ausschreitung; er benimmt sich rabaukenhaft und bricht ‚aus‘. […] Er verhält sich in Kleidung, Umgangsformen und Interessen von den Erwachsenen bewußt abweichend“ (Kaiser 1959: 44).
Die Medien verbreiteten allerdings nicht nur diese Bewertung „halbstarken“ Verhaltens, sondern auch die Stilmittel der Subkultur, indem sie – wie gezeigt –
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ausführlich über Kleidung, Sprache und Verhalten berichteten. So konnten Medien wieder als Fundus von jugendlichen Lesern genutzt werden, um ihr Imaginäres an starke Ausdrucksformen zu heften. Dazu kam, dass sich unter dem Druck der sozialen Realitäten in Westdeutschland der Diskurs über amerikanische Populärkultur und halbstarkes Konsumverhalten in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre zu wandeln begann. Das rapide Wirtschaftswachstum und die Steigerung des Konsums machten eine Neubewertung des Staatsbürgers als Konsumenten notwendig (vgl. Poiger 2000: 106-136; Scherl 2006: 322-324). Besonders in der Untersuchung der „Halbstarken“ von Bondy et al., aber auch bei Viggo Graf Blücher und Helmut Schelsky erschien jugendliche Rebellion als normales Lebensstadium, das als individueller Ausdruckswille und nicht als politische Herausforderung zu deuten sei. Indem gerade konservative Soziologen wie Schelsky jugendlichen Konsum von Populärkultur zu einer Frage des persönlichen Stils erklärten, trugen sie dazu bei, „halbstarke“ Rebellion zu einem privaten Problem zu transformieren (vgl. Bondy et al. 1957; Blücher 1956; Schelsky 1958). Zeitungen und Zeitschriften boten den Wissenschaftlern eine Plattform für ihre Erkenntnisse und verbreiteten die neue Deutung: „Mit Kanonen gegen Spatzen“ (in: Der Tagesspiegel, 12.9.1956), so wollte man nicht mehr gegen die eigenen Kinder vorgehen. Waren gerade noch Schlagzeilen wie „Wir leben nicht in Wildwest-Berlin“ (in: Der Tag, 21.9.1956) und „Soll Afrikanische Straße ‚Pestbeule Berlins‘ werden?“ (in: Der Abend, 20.7.1956) beherrschend, dominierten bald Titel, die für Verständnis und eigene jugendkulturelle Treffpunkte warben. Kurt Seelmann, der Direktor des Stadtjugendamtes München, lag ganz auf der neuen Linie, als er vorschlug: „Wir sind nun keineswegs der Meinung, daß den jungen Leuten nur das geboten werden soll, was sie sich selbst wünschen, aber wir sind doch der Ansicht, dass man da anfangen muss, wo sie ihre echten Interessen zeigen. Und so sollte man also bei Jazz, bei Film und den Tänzen beginnen, die sie gern haben“ (Seelmann 1957: 32).
Auch in der Afrikanischen Straße setzte man schließlich auf „‚Heiße Musik‘ statt Wasserwerfer“ (in: Der Kurier, 27.7.1956): Plötzlich hieß es, die Afrikanische Straße „ist ein Schulbeispiel dafür, wie aus einer kleinen Portion jugendlichen Übermuts und einer großen Portion Unverstand der Erwachsenen ein ‚Jugendproblem‘ fast aus dem Nichts entsteht“ („‚Fröhliche Razzia‘ mit 5000 Jugendlichen“, in: Weser Kurier, 28.7.1956). Die Zeit schrieb über das „HappyEnd am Wedding“: Die „Totenkopfbande“ versprach sich einen „entlegeneren Treffpunkt zu suchen, für den das Jugendamt auf Behördenkosten eine Tanzkapelle mit ‚schräger Musik‘ stellen will. Außerdem erhielten die Jugendlichen eine Anzahl Karten für die Veranstaltung ‚Fröhliche Razzia am Wedding‘, die der Sender Freies Berlin auf Anregung einiger Tageszeitungen an der Afrikanischen Straße veranstaltete. Bei heißer Musik und einem zündenden, wenn auch nicht zu chaotischen Ausbrüchen aufreizenden Kabarettprogramm versammelten sich […] rund viertausend Jugendliche“ („Happy-End am Wedding“, in: Die Zeit, 2.8.1956).
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„Jazzmusik und Feuerwerk sind erzieherischer als Gummiknüppel und Wasserwerfer“, resümierte die Hannoversche Presse („Denn sie wissen nicht, was sie tun sollen“, in: Hannoversche Presse, 27.7.1956). Hier lässt sich eine Normalisierung der „Halbstarken“-Bewegung ablesen. Die Subkultur der „Halbstarken“ wurde vom hegemonialen Diskurs neu bewertet und so inkorporiert. Gleichzeitig flossen subkulturelle Zeichen, wie Kleidung und Musik, in den Mainstream ein. Die James-Dean-Jacke wurde zum Konsumartikel, die über die Jugendzeitschrift Bravo bestellt werden konnte („Die James Dean-Jacke jetzt auch in Deutschland erhältlich“, in: Bravo 31/1957). Die Subkultur wurde damit – will man der Terminologie von Uta Poiger (2000) folgen – ‚gezähmt‘. Abbildung 3:
Eine Strickjacke als inkorporiertes Zeichen der Rebellion: Die James-Dean-Jacke als Konsumartikel.
(Quelle: Bravo 31/1957) Auf der anderen Seite hatte sich das Normalfeld deutscher Identität durch subkulturelles Verhalten vergrößert. Als Vorreiter eines expressiven Individualismus übten die „Halbstarken“ auch auf Jugendliche anderer sozialer Schichten
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eine starke Anziehungskraft aus. Achim Schreiber, ein Jazz-Anhänger und Existentialist, sagte in einem Interview: „Ich habe mir den Film (Saat der Gewalt) angeguckt und die Musik gehört, die ich eigentlich im Vergleich zum Jazz primitiv fand, aber mich ulkigerweise trotzdem faszinierte. Was im Hintergrund der Musik mittransportiert wurde: einfach die ganze Scheiße, die vorgeschriebenen Gleise nicht richtig zu finden und dagegen zu revoltieren. Da hatte ich etliches Verständnis für. Auch bei den Jüngeren, die da einfach nur Krawall machten um des Krawalls willen. Also das war mehr so’n Protest gegen ’ne sterile Welt, wo alles vorgeplant ist“ (zit. in: Maase 1992: 273).
Öffentlichkeit, vor allem Medien-Öffentlichkeit, wurde bei den „Halbstarken“ zum entscheidenden Kriterium, ihren Anspruch auf ein Leben in Eigenregie darstellen und in der Gesellschaft verbreiten zu können. Damit gewannen kulturelle Zeichen und Leitbilder erhebliche Relevanz für die soziale Praxis, indem sie Optionen der Praxis vielfältiger ausleuchteten und auch das „Andere“ alternativ ins Blickfeld rückten. Der mediale Diskurs über Jugendkonsum und Massenkultur evozierte somit eine Normalisierung des imaginierten „Anderen“. In Folge dessen rückte das „Andere“, verstanden als expressiver Individualismus, von den Rändern in das Zentrum der Gesellschaft.
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Aspekte der Alltagsdramatisierung in der Medienkultur: Produzierte Wirklichkeiten in mediensoziologischer Perspektive Udo Göttlich
1 Einleitung Galt fernsehen vor nicht allzu langer Zeit noch als Rückzug aus dem Alltag, so gibt es im aktuellen Programmangebot immer seltener Gelegenheit, an inszenierten Alltagssituationen vorbeizuschauen. Alltag und Alltäglichkeiten werden vor allem in den jüngeren, als Reality-TV bezeichneten Genres bzw. Formaten, d.h. von Daily Talks über Doku Soaps bis hin zu Gerichtsshows und Formaten wie Deutschland sucht den Superstar mittlerweile in einer solchen Dichte angeboten, dass ein eigenes Universum entstanden ist, für das Landkarten erst noch zu erarbeiten sind. Eine mediensoziologische Aufgabe sehe ich an dieser Stelle darin, der Art und Weise der Alltagsinszenierung und -dramatisierung sowie der damit verbundenen Darstellung von Privatheit und Öffentlichkeit Hinweise über Funktion und Bedeutung solcher Alltagspräsentationen in der Gegenwart zu entnehmen. Ein Großteil der Funktion ist keineswegs getrennt von den strategischen Interessen der Medienanbieter zu sehen, die mit diesen Angeboten auf die veränderten Mediennutzungsweisen des Publikums zielen. Hier ist auch eine spezifische Wechselwirkung anzunehmen, durch die die neueren Nutzungsweisen vor allem bei jüngeren Zuschauern zum einen von diesen Angebotsformen mit hervorgerufen wurden. Zum anderen sind diese Angebotsformen aber auch Ausdruck gewandelter kultureller Ausdrucksweisen in der Jugendkultur selbst. Einen kulturtheoretischen Erklärungsrahmen für die gesteigerte Rolle von Wirklichkeitsdarstellungen stellt aus meiner Sicht das von Raymond Williams entwickelte Konzept zur Stellung des Dramas in der dramatisierten Gesellschaft dar (vgl. Williams 1998), von dem sich die These einer Alltagsdramatisierung ableiten lässt (vgl. Göttlich 1995). Mit diesem Konzept hat Williams sowohl auf den veränderten Stellenwert als auch auf die sich wandelnde Form von Alltagsschilderungen in den Medien mit dem möglichen Einfluss auf die Wahrnehmung des Alltags reagiert. Aus soziologischer Warte lässt sich daran mit der Frage anschließen, was es heißt, wenn sich soziales Handeln immer mehr in Reaktion auf Medien ergibt und im Rahmen von durch Medien mitgestalteten kommunikativen Umwelten vollzieht. Unter dieser Blickrichtung stellt sich ein interessanter mediensoziologischer Diskussionszusammenhang dar, in dessen Rahmen die Frage nach der Rolle und
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Stellung „produzierter Wirklichkeiten“ in der Medienkultur analytisch weiter verfolgt werden muss. Diese Perspektive erlaubt in einem spezifischen Sinne, die in diesem Sammelband im Vordergrund stehende Frage von Medienkultur und sozialem Handeln anhand eines aktuellen Ausschnitts medienkultureller Entwicklung analytisch in den Blick zu nehmen und beispielbezogen zu vertiefen.1 Neben einer einführenden Diskussion zu Fragen der Alltagsdramatisierungen werde ich im Anschluss auf die veränderten Rahmenbedingungen der Fernsehentwicklung seit Mitte der neunziger Jahre eingehen. Die sich in diesem Zeitraum abzeichnende kulturelle Veränderung werde ich schließlich mit Blick auf die besondere Ansprache des Publikums durch produzierte Wirklichkeiten abrunden und nach den Folgen für die kommunikative Struktur der Lebenswelt insbesondere von Jugendlichen fragen. Der hier aufgespannte Diskussionsrahmen dient der Beschreibung und Erfassung eines Metaprozesses des kulturellen Wandels, in dessen Rahmen Alltag und Alltäglichkeit in einen erweiterten Umfang sowohl zur Ressource von Medieninszenierungen als auch zum Gegenstand der Medienkultur selbst wurde.
2 Alltag- und Alltagsdramatisierung als Herausforderung der Mediensoziologie Die bislang lediglich in ihren Umrissen geschilderte Entwicklung wirft ein mediensoziologisches Problem auf, zu dessen Analyse die Rolle und Stellung „produzierter Wirklichkeiten“ in der Medienkultur im Folgenden beispielbezogen weiter verfolgt werden soll. Aus Sicht der jüngeren Forschung zu Formen der posttraditionalen Vergemeinschaftung haben wir es mit der allmählichen Entkopplung von kulturellen und soziostrukturellen Formationen zu tun, die zu einem Nebeneinander von Milieus und Lebensstilgruppen beigetragen hat, deren Orientierung, aber auch Identitätsbildung an der Vielfalt von Freizeit, Medienund Unterhaltungsangeboten ausgerichtet verstanden werden kann, wobei insbesondere der Eventisierung eine immer stärkere Bedeutung zukommt. Zwar ist für die Events (darunter auch Medien-Events) anzunehmen, dass diese kaum einen „dauerhaften Sinn“ und „identitätsstiftenden Halt“ zu vermitteln in der Lage sind (vgl. Gebhardt 2000: 27), wie es für traditionelle Institutionen anzunehmen ist. Gerade deshalb aber ist zu ergründen, was es heißt, wenn neuerdings in einem breiten Ausmaße Formen, Stile und Facetten des wenn auch inszenierten Alltagslebens von Alltagspersonen zum festen Repertoire kommunikativer Angebote werden, die in dieser Form bislang nicht im Zentrum der Medienunterhaltung standen. 1 Der vorliegende Beitrag geht in Teilen zurück auf Göttlich/Nieland (1998 und 2002) sowie auf Göttlich (1999 und 2005) und diskutiert die dort enthaltenen Ergebnisse mit Blick auf die handlungstheoretische Bedeutung der Alltagsdramatisierung.
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Die durch diese Entwicklung in den Vordergrund tretende Frage nach den Auswirkungen der Alltagsdramatisierung stellte sich für Raymond Williams zunächst noch genereller im Zusammenhang mit der Frage nach der Rolle und Funktion von Dramen und dramatisierten Stoffen und Erzählungen für die gesellschaftliche Kommunikation dar, wobei er davon ausging, dass „Dramen“ nicht zuletzt aufgrund ihrer mittlerweile täglichen Verfügbarkeit und quantitativen Verbreitung „inzwischen in einer ganz neuartigen Art und Weise in die Rhythmen des Alltagslebens eingefügt“ sind (Williams 1998: 240). Als Bezeichnung für diese Entwicklung schlug er den Begriff der „dramatisierten Gesellschaft“ vor, denn „das Fließen von Handlung und schauspielerischem Handeln, von Darstellung und künstlerischer Umsetzung ist in den Rang einer neuen Konvention, den eines grundlegenden Bedürfnisses aufgerückt.“ (ebd.: 241). Dadurch erscheint unsere Gesellschaft „in einem offensichtlichen Sinne“ als dramatisch, was auch bedeutet, dass uns „ständig unklar bleibt, ob wir Zuschauer oder Teilnehmer sind“ (ebd.: 246). Mit einer gewissen Übertreibung lässt sich behaupten, dass dies gerade eine entscheidende Voraussetzung für die anhand von Eventisierungen feststellbare Dramatisierung des Alltagslebens ist. Die „Vermischung“ der Teilnehmer mit der Zuschauerperspektive senkt zum einen die Eintrittsschwelle für den Mann oder die Frau von der Straße, sich diesen Formaten zuzuwenden, und erhöht zum anderen die Wahrscheinlichkeit, über das Mitmachen eines Tages selbst auch den Weg auf die Mattscheibe zu finden. Das nun scheint insbesondere für die Rolle und Stellung von Formaten wie DSDS zuzutreffen, die sozusagen die aktuellste Ausprägung dramatisierter Erfahrung darstellen und das Publikum auch als Teilnehmer und Darsteller auf eine neue Art in die Fernsehproduktion mit eingebunden haben. Und es ist diese Entwicklung, die wesentlich zum Wandel des Fernseh- und Unterhaltungsangebots im letzten Jahrzehnt (vgl. Friedrichsen/Göttlich 2004) gegenüber den langen Phasen des Einflusses amerikanischer Kaufprogramme beigetragen hat (vgl. Schneider 1992). Eine entscheidende Tendenz scheint mir gerade darin zu bestehen, dass der Alltag immer stärker als eine „produzierte Wirklichkeit“ im Zentrum der Angebotspalette steht, was offenbar die größte Chance dafür bietet, dass das Publikum von seinen unterschiedlichen Interessenlagen her auch angesprochen werden kann. Diese produzierten Wirklichkeiten erstrecken sich inhaltlich nicht von ungefähr auf die Dramatisierung alltäglicher Situationen und Lebenssituationen in solchen Formaten, die keine abgeschlossenen Erzählungen mehr bieten, wie noch traditionelle Serien oder Filme, und die sich dadurch im Zusammenhang mit Events auch als Medienumwelten anbieten. Als Umwelten, auf die man an verschiedenen Stellen und aus unterschiedlichen Anlässen treffen und zugreifen kann. Als Umwelten, die die traditionelle Frage nach der Konstruktion des Alltags in fiktionalen Genres durch eine Vermischung von Fiktionalität und Faktizität ersetzen und einen neuen kulturellen Bedeutungsraum bilden. Und das alles in einem Rahmen, in dem es doch beinahe unverdächtig allein darum geht, at-
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traktive und außergewöhnliche Ereignisse für die Maximierung von Einschaltquoten zu präsentieren und zu inszenieren. Von soziologischer Seite ergibt sich gerade durch diese Steigerung die Frage danach, wie diese Formen die Produktion von Wissen über den Alltag mitbestimmen, also, wie die Vorstellungen von Privatheit und Öffentlichkeit, aber auch von Faktizität und Fiktionalität gestärkt oder auch transformiert werden? Eine erste, von mir an anderer Stelle bereits verfolgte These zu dieser Entwicklung lautete: „Konnte bislang schon für traditionelle Serien festgehalten werden, dass dramatisierte Erzählweisen über den Alltag zu einer in den Einzelheiten bislang nicht näher erforschten Alltagsdramatisierung bzw. der Lebenswelt führen, so ergibt sich im Fernsehen der neunziger Jahre unter gewandelten medialen Bedingungen mit der Entwicklung und Produktion neuer Programmformen sowie mit dem Hineinwirken neuer Marketingstrategien eine Ausweitung und Restrukturierung dieses Verhältnisses, das auf eine andere Form der Reproduktion des Alltags verweist“ (Göttlich 1999: 51).
Wie lässt sich aus dieser qualitativen Veränderung aber eine These begründen, die von der Dramatisierung des Alltäglichen im Zusammenhang mit dem Fernsehen ausgeht und eine Alltagsdramatisierung unterstellt, die über das hinausreicht, was eine bloße Analogiebildung mit dem Drama oder der Dramatisierung an Erklärungen liefern kann, von der Williams zunächst ausgegangen ist? Methodisch kann man sich in einem solchen Fall mit der Feststellung weiterhelfen, dass Analogien zwar keine empirischen Schlüsse darstellen und keine Beweiskraft besitzen. Allerdings bedarf der Gebrauch der auf das Theater zurückgehenden Begrifflichkeit von daher nicht der Entschuldigung, da die Analogie zum einen selbst das Thema ist und zum anderen als Indikator eines soziologisch relevanten Sachverhalts genommen werden kann. Dieser besteht im Anschluss an Williams ja gerade darin, dass Dramen und dramatisierte Erzählungen durch ihre andauernde Präsenz in den unterschiedlichsten Medien zu einer habitualisierten Erfahrung geworden sind, wodurch zum einen die Alltagspraktiken und zum anderen die Wahrnehmung alltagsrelevanter Sachverhalte von Elementen der Inszenierung und Aufführung mitgeprägt sind. Und dieser Punkt stellt eine deutliche Veränderung gegenüber jenen Zeiten dar, in denen die Präsentation dramatischer Ereignisse wesentlich noch an bestimmte Festtage und Ereignisse gebunden war und gerade dadurch nicht alltäglich war. Die Frage- oder Problemstellung nach der Rolle dramatischer und inszenatorischer Elemente in der kulturellen Reproduktion ist dabei für die Soziologie nicht ungewöhnlich. So finden sich vor allem in praxistheoretischer Ausrichtung zahlreiche Ansätze, die alltägliche Handlungsweisen als dramatisierte Aufführungen begreifen. In den Vordergrund treten dabei besonders jene Aspekte, die das alltägliche Handeln als ein Rollenspiel auf der sozialen Bühne zu erklären suchen. In den Arbeiten Goffmans kann man dieser Perspektive bis in allen Einzelheiten nachgehen (vgl. Willems 1997). Die Ähnlichkeit von Gesellschaft und Theater besteht aber nicht allein im Rollenspiel und dem Netz der Rollen, das Einzelne und Gruppen miteinander
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verknüpft. Das ist nur eine Seite, die auf der anderen Seite – wie ebenfalls Goffman nachdrücklich betont – durch Handlungen und Verhaltensweisen ergänzt wird, die alltäglichen Ereignissen ein rituelles, mythisches oder spektakuläres Element verleihen. Gerade von dieser zweiten Seite zeichnet sich Gesellschaft neben den inszenatorischen Elementen bei der Handlungsführung immerzu durch eine „tonalité théâtrale“ aus, womit Williams Fragestellung abgerundet wird (vgl. Göttlich 1999: 51ff.). Ein Weg, die Vorstellung der Alltagsdramatisierung zu konkretisieren, besteht demnach darin, die in der Soziologie vorliegenden Konzepte gezielt auf dramatisierte Elemente anzuwenden und mit empirischen Ergebnissen über die Rolle und Funktion der Medien zu vermitteln. In den aktuellen Arbeiten von Herbert Willems im Rahmen der Theatralitätsfragestellung lässt sich nicht nur eine Aktualisierung sondern auch Reformulierung dieser Position für die Medienkulturanalyse verfolgen (vgl. Willems/Kautt 1999). Konkret geht es um die Verknüpfung des Bereichs sinnhaften sozialen Handelns mit den Medien der gesellschaftlichen Kommunikation. Das Konzept der Alltagsdramatisierung bietet an dieser Stelle einen kulturwissenschaftlichen Deutungsrahmen.
3 Kult-Marketing als Strategie der Unterhaltungsproduktion in den neunziger Jahren Für das Fernsehen basiert die mit produzierten Wirklichkeiten benannte Entwicklung – wie bislang festgestellt – auf einer Ausdifferenzierung von Formaten und Genres, deren Wurzeln auf das Reality-TV der frühen 1980er Jahre zurückgehen, seitdem aber in einer Differenzierung einmünden, die zumeist von supranational agierenden Produktionsfirmen wie Endemol (Big Brother), PearsonTV (Wer wird Millionär) und Freemantle Media (Deutschland sucht den Superstar) im Sinne eines know-how transfers bzw. einer technology of exchange mit dem Ziel der Marktbeherrschung weiter verfolgt wird.2 Ein entscheidender Hintergrund für die Entwicklung dieser Formate war, dass zu Beginn der 1990er Jahre im Fernsehbereich vor allem hinsichtlich der Ansprache der jugendlichen Zielgruppen Uneinigkeit bestand, zumal es zu der Zeit kaum massenattraktive Programme gab, welche die jugendlichen Zuschauergruppen dauerhaft an die Sender binden konnten. Das wurde mit der Einführung der täglichen Seifenopern Gute Zeiten, schlechte Zeiten, Unter uns, Marienhof, Verbotene Liebe erstmals anders. Denn hier traten bereits frühzeitig in fast jeder Daily Soap bekannte Gesichter aus den einschlägigen Musikclips bzw. Musiksendungen auf. Zugleich wurden in den Soaps eigene Karrieren junger Sänger und Sängerinnen angestoßen: Beispielhafte Fälle repräsentieren u.a. 2 Deutschland sucht den Superstar wird von Freemantle Media, einer zum Bertelsmann Konzern gehörenden TV-Produktionsfirma, produziert und geht zurück auf die Idee des Pop-Produzenten Simon Fuller, der das Konzept bereits erfolgreich in anderen Ländern mit umgesetzt hat.
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Christian Wunderlich aus Verbotene Liebe sowie Oli P. und Jeanette Biedermann aus der Grundy/UFA-Soap GZSZ. Die genannten Darsteller und Darstellerinnen standen für bestimmte jugendliche Musikstile und bildeten einen Kristallisationspunkt für bestimme jugendkulturelle Szenen – was durch Kleidung und Accessoires dieser Personen unterstrichen wurde. Diese Strategie hat sich schließlich gut zehn Jahre später mit Sendungen wie DSDS von den Soap Operas als Verbreitungsort abgelöst und auf ein breites Spektrum weiterer Formate und damit verbundenen Medien-Events ausgedehnt. Der dramatisierte Alltag umfasst dadurch einen konkreteren thematischen Fokus als noch bei den Seifenopern, nämlich den des musikalischen Talents und seiner Ausbeutung. Im Ergebnis aber hat auch das wieder kulturelle Konsequenzen, wie sich mitunter an der Gestaltung von Haus-Parties als Casting Shows ablesen lässt. Nicht zu reden von den Träumen junger Mädchen, aber auch von Jungen, ihr ganzes Sinnen und Hoffen auf eine Musik- oder Tanzkarriere auszurichten. Die Programme, die von dieser Entwicklung im wesentlichen betroffen sind, sind nicht von ungefähr die begrifflich auch als „Real-People-Formate“ – und erweitert auch als „factual entertainment“ oder auch „actuality based entertainment“3 – zu bezeichnenden Angebote, mit denen in den letzten Jahren europaweit die Möglichkeiten des Formathandels und der Formatadaption ausgeweitet wurden. Der Formathandel tritt damit als entscheidende Programmquelle neben Kaufprogrammen und Eigenproduktionen auf (vgl. Hallenberger 2002). In den 1990er Jahren hat der Formathandel gegenüber den beiden anderen Formen der Programmerstellung deutlich an Gewicht zugenommen und in der Fernsehunterhaltungsproduktion zu einer Diversifikation beigetragen, mit der die Strukturen des Fernsehgeschäfts und des Fernsehmarketings eine erhebliche supranationale Vernetzung erfuhren. Das Ziel der im Rahmen von Formatadaption erfolgenden Fernsehunterhaltungsproduktion besteht nicht allein in der Ausweitung der Angebotspalette auf unterschiedliche Verbreitungsmedien vom Fernsehen bis zum Internet – worauf sich der Begriff der Diversifikation üblicherweise bezieht. Das Ziel besteht vielmehr in der Aufbereitung des Produkts für verschiedene Teilmärkte und Szenen im nationalen aber auch darüber hinausreichenden europäischen bzw. supranationalen Rahmen. Genutzt wird dazu die Mitinszenierung des gesamten Produktionsumfeldes, das weit über den konkreten Sendeanlass hinaus wirksam ist. Gerade auch vor diesem Entwicklungshintergrund erscheint die Benennung als „produzierte Wirklichkeiten“ als gerechtfertigt. Zu einer der wesentlichen Strategien zur Erreichung dieser Ziele gehörten anfangs (seit Beginn der 1990er Jahre) die unter dem Begriff des „Kult-Marketing“ (vgl. Bolz/Bosshart 1995; Bolz 1996) gefassten Vorgehensweisen, mit denen die Entwicklung ihren Startpunkt 3 Brunsdon (Brunsdon/Johnson/Mosley/Wheatly 2001) spricht in Erweiterung von „factual entertainment Formaten“ und Corner sieht die Tendenz zu „actuality-based entertainment“ (Corner 2002: 149)
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fand. „Kult-Marketing“ im Fernsehbereich bezeichnete konkret jene Marketingund Merchandisingstrategien, die mit dem Aufstieg von neuen, vor allem eigenproduzierten Unterhaltungsangeboten bei den privat-kommerziellen, aber auch bei den öffentlich-rechtlichen Anbietern an Gewicht gewannen. Wie (ökonomisch) erfolgreich die spezifische Ausrichtung des Kult-Marketing war, zeigt sich vor allem daran, dass seitdem ganze Lifestyle-Settings von Inszenierungswellen erfasst werden. Das Aufgreifen, Präsentieren und Verstärken von Trends der Jugendkultur fand damit nicht nur im Bereich der Popmusik statt. Bis heute sind diese Sendungen gerade für Moden und Stile von der Kleidung bis zu Wohnungseinrichtungen, Accessoires, Frisuren und ähnlichem mehr Trendverstärker. Resultat ist eine Vermischung unterschiedlicher Zeichen und Symbolsysteme zu einer neuen, in Szenen und deren jugendspezifischen Symbolpraktiken (Kulte) einmündende Bedeutungseinheit, womit an dieser Stelle auch eine neue Facette von Formen der Alltagsdramatisierung beschrieben ist. Die Ziele der jeweiligen Formate bestehen dabei mit wechselnder Schwerpunktsetzung in (vgl. Göttlich/Nieland 1998: 419): x x x x x x
dem Marken- und Character-Branding, der Entwicklung eines Sender- und Programmimages, der Schaffung von Senderbindung, dem Aufbau und der Pflege des „Audience Flows“, der Schaffung und Verstärkung von Moden, Trends und Stilen, dem Auf- und Ausbau von Präsentations- und Absatzmärkten.
Eine für die handlungstheoretische Frage von Medien als Umwelten entscheidende These zu dieser Entwicklung lautet, dass das Fernsehen und seine Genres dadurch als eine Art Reader‘s Digest von Moden, Stilen, Trends und Symbolen der Populärkultur fungieren, wodurch das Marketing auch zukünftig Einfluss auf die Form der Alltagsdramatisierung nimmt (vgl. zu dieser These auch Göttlich/Nieland 1999: 62). Für die Rolle von Symbolen und Ikonen in der Fernsehkultur und dem Funktionieren von Marketingstrategien sind unter der Perspektive der Alltagsdramatisierung als mediales Handlungsfeld nun jene Punkte besonders interessant, an denen mit ihnen auf Dauer gestellte Bindungspunkte inszeniert bzw. produziert werden und zusätzlich zum Starkult Aspekte des Mode- und Konsumkults gestaltet werden können, die gleichfalls strukturierende Funktionen im Sinne einer Alltagsdramatisierung haben. Allerdings gibt es auf Publikumsseite nicht zuletzt wegen der gesättigten Nachfrage auch eine Reihe von nicht zu unterschätzenden Hindernissen für die unmittelbare Wirksamkeit dieser unterschiedlichen Marketingstrategien. Beobachtbar ist hierzu, dass mit dem Fernsehmarketing – auch als Ergebnis überwundener Absatzschwierigkeiten – eine Doppelstrategie verfolgt wurde, die zwischen Breitenwirkung (Trading Down) und Nischenwirkung (Trading Up)
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angesiedelt ist (vgl. Liebl 2000: 385ff.). Während das Trading Down eher das traditionelle und auch weitverbreitete Konzept verfolgt – nämlich die Kommerzialisierung durch Eingemeindung in den Massengeschmack (vgl. ebd.: 384) –, fällt dem Trading Up offensichtlich eine „qualitätssichernde“ Bedeutung zu. Dies gilt insbesondere dann, wenn die Produkte bzw. Marken – vor allem mediale Angebote – in Premiumbereiche der Programmstrukturen vordringen wollen. Das Entscheidende an diesem, von Trading Up- und Trading Down-Strategien durchzogenen Prozess ist nun, dass Marken – und dazu zählen schließlich die angesprochenen Formate – zu „sekundären Sinnstiftungsagenturen“ werden, indem sie Eigenständigkeit gegenüber den Sendeangeboten und den Institutionen gewinnen, ja indem überhaupt laufend neue Marken im Kontext produzierter Wirklichkeiten geschaffen werden (vgl. Siegert 2001: 239). Die von Williams beschriebene Alltagsdramatisierung erfährt unter dem Einfluss des Kult-Marketing also auch eine nicht unwesentliche Veränderung, da diese sich vorwiegend auf die Inszenierung und Darstellung von im Sinne der Werbeindustrie wünschenswerten Lebensstilen erstreckt, die als „idealer Alltag“ vorgestellt werden. Schon Williams hatte in seiner Diskussion auf die Rolle der Werbung als Brücke für das weitere Vordringen dramatisierter Handlungsweisen in den Alltag gesprochen, wenn es darum ging, die Begehrlichkeit von Waren durch das Image von Schauspielern zu steigern. Im Unterschied zu diesen bekannten Strategien ist heute der Lebensstil zu einer Form geworden, der sowohl mit bestimmten Konsumgütern verbunden ist als auch selbst als eine Ware auf dem Markt begehrter Güter gehandelt wird. Da sich Marken – wie insbesondere das Beispiel der Techno-Szene zeigte – offensichtlich in kollektive, gruppenspezifische und individuelle Rituale integrieren lassen und zum Teil der Alltagskultur wurden, war ein Ansatzpunkt gegeben, diese Entwicklung auch auf andere jugendkulturelle Bereiche auszuweiten. Das Ziel lässt sich darin zusammenfassen, den Lebensstil durch unterschiedliche Formen der Dramatisierung zu einer begehrten Ware im Rahmen alltäglicher Ereignisketten zu machen. Hierin liegt auch der Ausgangspunkt für weitere zu beobachtende Eventisierungsstrategien, die sich seit dem Jahr 2000 vor allem im Umfeld der ersten drei Big-Brother Staffeln erstmals entfaltet hatten. Im Anschluss daran fanden die mit der Eventisierung einhergehenden Programmstrategien in Sendungen wie DSDS ihre Fortsetzung und Steigerung. Mittlerweile finden die von diesen Angeboten mit geschaffenen semiprofessionellen Freizeitstars in unterschiedlichen Programmen als Moderatoren Verwendung, womit die Verweisungskette der mit diesem Typ der Alltagsdramatisierung verbundenen Stile, Symbole und Zeichen nicht unterbrochen wird. Bereits diese wenigen Beispiele zu der zurückliegenden Entwicklung zeigen, dass es auf Seiten der Fernsehproduktion in den letzten zehn Jahren zu einer deutlich veränderten Zielbestimmung gekommen ist, als deren Ergebnis nicht nur ein verändertes inhaltliches Unterhaltungsangebot steht, das sich auf vorgebliche dokumentarische und realistische Inhalte stützt, sondern oftmals eine über den konkreten Sendeanlass hinausreichende Publikumsansprache mit ver-
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schiedenen Marketingkonzeptionen verfolgt wird, deren neuere Varianten die Fortentwicklung einer kulturell auch anderweitig feststellbaren „Eventisierung“ als eine aktuelle Facette der Alltagsdramatisierung vorantreiben. Auch wenn nicht jede dieser Strategien in der „Eventisierung“ mündet, oder aus dieser strategischen Absicht zu erklären ist, so geht es doch um die Dramatisierung (vorgeblich) „alltäglicher Ereignisse“, die im Zusammenhang einer Multiplizierung der Angebotspalette erfolgt, die von einem Format ausgehend dann in weitere Produktionen ausstrahlt. In diesem Sinne ist die Frage nach der Produktion von Wirklichkeiten bzw. nach der Rolle „produzierter Wirklichkeiten“ gleichfalls zu verstehen. Ein Prinzip lautet: Es müssen Brücken zur Alltagskultur von Lebensstilgemeinschaften und Szenen gebaut werden, wozu die Eventisierung offensichtlich aktuell die am weitesten reichenden Möglichkeiten bietet, gerade unterschiedliche jugendkulturelle Szenen anzusprechen. Eine Differenzierung des Kultbegriffs scheint an dieser Stelle angebracht, da Kultaspekte gerade im Fernsehserienbereich nichts grundlegend Neues oder Ungewöhnliches darstellen (man denke nur an die vorwiegend anglo-amerikanischen Serien, die bis heute ‚Kultstatus‘ genießen) und der inflationäre Gebrauch des Kultbegriffs gerade von diesem Medium und der mit ihm verbreiteten Produkte herzurühren scheint. Im alltäglichen Sprachgebrauch bezeichnet Kult unterschiedliche Formen der Verehrung, Pflege und Hingabe, die für einen gewissen Zeitraum Kollektivität und Geregeltheit erzeugen bzw. aufrecht erhalten helfen, dabei jedoch nicht auf einem rationalen Plan, sondern auf Emotionalität gründen. In diesem Verständnis bedeutet Kult eine Freisetzung angestauter emotionaler, auch erotischer Impulse. Insofern kann beinahe jede Serie oder jeder Film für eine bestimmte Publikumsgruppe ein „Kult-Objekt“ sein, zumal dann, wenn sich in diesen Produkten Bindungsstellen etwa durch Helden oder Stars finden. In den Figuren von Marylin Monroe bis hin zu Madonna kommt das für unterschiedliche Zeiten mit gestiegenem Vermarktungskalkül zum Ausdruck. Entscheidend für unseren Diskussionszusammenhang ist jedoch eine andere Seite populärkultureller Kulte. Da es heute von „Kulten“ anscheinend nur so wimmelt, muss geklärt werden, was dennoch das orientierende Moment ist. Dabei fällt auf, dass Kultstatus besonders jenen Tendenzen, Moden oder Stilen zufällt, die auf eine leichte Wiedererkennbarkeit angelegt sind und Kommunikation sowie Verständigung auch zwischen verschiedenen Gruppen ohne argumentativen Aufwand, vor allem durch Symbole, Moden und Lifestyle ermöglichen. Gesteigert werden Kulte dann, wenn sich in dem Gegenstand, dem die Verehrung zu Teil wird, eine Zeitstimmung ausdrückt oder sich in ihrer Widersprüchlichkeit erweist. Dieser Punkt führt zurück auf die eingangs angesprochene Frage der kulturellen Optionsbildung und der Ausweitung von Stilen und Lebensstilmustern, die sich als Angebote an Publikumsgruppen, darunter vor allem Jugendliche richten. Entscheidend für die Wirksamkeit – oder wenn schon nicht Wirksam-
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keit so doch wenigstens der kulturprägenden Rolle der Alltagsdramatisierung und Eventisierung – sind die veränderten jugendkulturellen Ausdrucks- und Lebensformen selbst. Diese präsentieren sich weniger als subkulturelle Stile denn als kommunikative Lebensstilgemeinschaften mit wechselnden Zugehörigkeiten, d.h. als kommunikative Netzwerke, sprich Szenen. Den Medien und der populären Kultur kommt gerade in diesem Rahmen – auch und gerade gegenüber den Zeiten der massenkulturellen Vergesellschaftung – eine veränderte „öffentliche Rolle“ in der gesellschaftlichen Kommunikation zu.
4 Zur Veränderung der Mediennutzung: Leben in Szenen Die Szene ist vor allem in den Arbeiten von Hitzler auf der Suche nach aktuellen posttraditionalen Vergemeinschaftungsformen Jugendlicher als jener Ort bestimmt worden, der zunehmend als Sozialisationsagentur fungiert und somit auch für die Wirksamkeit des Marketing sowie die Ausbildung neuer Formen medialer Kommunikation spezifische Anschlussmöglichkeiten bietet (vgl. Hitzler/Bucher/Niederbacher 2001). Im Hintergrund dieser Entwicklung stehen die bereits mit der Individualisierungsthese betonten Veränderungen sozialer Interaktionsmodi, die mit der Herauslösung des individuellen Lebenslaufs aus formalen bzw. traditionellen Strukturen und Organisationen verbunden sind, die zur Entstehung neuer sozialer Zusammenhänge führen. Die Szenen bilden in diesem Prozess für Jugendliche, deren Sozialbeziehungen vielfach situativer und assoziativer sind, eine neue entscheidende Instanz für die Ausbildung und Erprobung sozialer Beziehungen. Mit dieser Vorstellung führen Individualisierungs- und Pluralisierungsprozesse also nicht zur Vereinsamung der Menschen, sondern zu Veränderungen der Formen und Modalitäten der Vergemeinschaftung und Vergesellschaftung (vgl. Gebhardt 2000: 28). Zum einen transformieren sich die bisherigen Vergesellschaftungsformen. Sie werden in ihren Widersprüchen diffuser und in ihren normativen Vorgaben unverbindlicher. Zum anderen werden sie zunehmend der Konkurrenz von neu entstehenden, offenen und partikularen Gesellungsformen, wie es typischerweise Szenen sind, ausgesetzt (vgl. Göttlich/Nieland 2002: 555). Grundsätzlich gilt, dass Gesellungsgebilde ihre vergemeinschaftende Kraft immer weniger im Rekurs auf die Lebenslagen ihrer Mitglieder gewinnen, sondern durch „verführerische“ Angebote und gemeinsame Interessen, Leidenschaften und Neigungen (vgl. Hitzler/Bucher/Niederbacher 2001: 211), wozu es die Rolle der Medien noch weitaus genauer zu klären gilt, als dies in wirkungstheoretischer Ausrichtung bislang geschehen ist. Eine Leitfrage unter der hier verfolgten Perspektive der Alltagsdramatisierung lautet deshalb, ob und wie die Symbole und Stilangebote des Marketings – wie weiter oben betont – als „sekundäre Sinnstiftungsagenturen“ wirksam werden (können).
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Man kann sich an solchen Stellen nun sicher trefflich darüber streiten, ob man für die Erklärung der Rolle von Big Brother und verwandter Formate überhaupt die hier verfolgten sozialtheoretischen Überlegungen anstellen muss. Aber es geht weniger um die Deutung der Rolle eines Formats, als um die Erfassung des kulturellen Wandels, in dem produzierte Wirklichkeiten eine spezifische Bedeutung im Rahmen der Alltagsdramatisierung, die insbesondere auch den Öffentlichkeitszusammenhang berührt, erlangen. Die von Hitzler und Mitarbeitern untersuchten und analysierten Szenen wurden dabei anhand folgender Kriterien und Suchfragen ermittelt. Von einer Szene kann danach gesprochen werden, wenn in einer spezifischen Gruppierung x langfristig erworbenes Wissen existiert, x mit den in der Szene gepflegten Einstellung und Haltungen eine Identifikation besteht, x der vorherrschende Handlungsmodus wertrational ist und entsprechende Stilisierungen stattfinden, x für den (augenblicklichen) Lebensstil ein Engagement dominant wirksam ist, x Treffpunkte existieren, x Events existieren, x interne Medien existieren. Das Interaktionsgeflecht und Akteurssystem der Szenen unterteilt sich dabei in das Publikum, in Szenegänger, eine Organisationselite, Freunde und professionell Interessierte (vgl. ebd.: 211ff.). Die für den hier diskutierten Zusammenhang zentrale Frage ist nun, inwiefern dieses Interaktionsgeflecht auch eine veränderte Voraussetzung für den Ort und die Rolle der Werbung, des Marketing und der Medienangebote in der Gesellschaft bildet. Die Verbindung der Jugendund der Kultursoziologie mit der Medien- und Kommunikationswissenschaft steht zur umfassenden Beantwortung dieser Fragen derzeit noch aus.
5 Einschätzung zur Alltagsdramatisierung als Metaprozess Mit den bis zu diesem Punkt diskutierten Aspekten scheint offensichtlich, dass heutzutage so gut wie keine Szene ohne Medien und medienvermittelte Symbole bestehen oder sich entwickeln kann. Mit Blick auf Formate wie DSDS lässt sich rückblickend festhalten, dass im Casting geradezu auf einen Mix von Musikstilen geachtet wurde, um in der Sendung für breite Publikumsschichten Interessenpunkte zu setzten. Die Sendung zog ihren Reiz vor allem daraus, miterleben zu können, wie die Kandidaten die gestellten Aufgaben mit Anleihen bei unterschiedlichen Musikstilen und -szenen bewältigten: Piercing meets Big Band.
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Die bisherigen, aus unterschiedlichen Perspektiven betriebenen Forschungen zum Kultur- und Medienwandel legen den Schluss nahe, dass sich ein spezifischer Einstellungswandel in der Orientierung massenmedialen Angeboten gegenüber vollzieht, der die Frage der Alltagsdramatisierung in einem neuen Sinne auf die Tagesordnung bringt. Die mediengestützten Szenen, zu denen unterschiedliche empirische Befunde vorliegen, verweisen auf das Zusammenspiel von Produktionsfirmen, Sendern, Special-Interest-Verlagen, Merchandisinganbietern und Stars. Denn hier verdichtet sich die Kommerzialisierung der Kommunikation: Marken und Figuren liefern das Material für kollektive Bedeutungskomponenten der Alltagsästhetik, indem sie den Aufbau von Stiltypen befördern. Auf diese Weise entstehen soziale Milieus mit erhöhter Binnenkommunikation. Gerade im Rahmen dieser Binnenkommunikation erlernen die Jugendlichen auch die Werbe- und Marketingmechanismen zu durchblicken und als ein „taktisches Spiel“ (Spar 1996: 58) zu begreifen. Letztlich aber beschleunigen und verstärken die mediengestützten Szenen die auch für Szenen beobachtbaren Trends der Differenzierung, Ästhetisierung, Eventisierung und Kommerzialisierung. Den kulturellen und gesellschaftlichen Folgen und Auswirkungen wird man dabei nur auf der Spur bleiben können, wenn man Prozesse der jugendkulturellen Stilbildung mit den Entwicklungen im populärkulturellen Angebot, darunter vor allem dem Fernsehen, gemeinsam erfasst oder zumindest zu erfassen sucht. Die zum Ausgangspunkt der Betrachtung gewählte Entwicklung scheint immer wieder von Unterbrechungen gekennzeichnet zu sein. Aber selbst wenn es für eine bestimmte Zeit keine aktuellen Produktionen in diesem Sektor gibt, bedeutet das nicht, dass sich diese Tendenz nicht doch ungebrochen fortsetzt. Der deutsche Fernsehmarkt hat nicht zuletzt auch durch die „Kirch-Krise“ einen entscheidenden Einschnitt erfahren, als dessen Folge vor allem die sich mit ständigen Neuheiten überbietenden Programmstrategien auf den Prüfstand kamen. Die gegenwärtigen Entscheidungsträger setzen anscheinend auf Konsolidierung des Erreichten, ehe mit neuen Konzepten das Spiel mit produzierten Wirklichkeiten weiter gehen wird.
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Fernsehreifer Alltag: Reality TV als neue, gesellschaftsgebundene Angebotsform des Fernsehens Elisabeth Klaus
„Kunst und Wirklichkeit, Theater und Leben: überall sonst sind’s zwei getrennte Sphären. Hier bilden beide ein unlösbares Ganzes. Sollte das Grund sein, daß hier […] das Glück wohnt?“ (Kästner o.J./1948: 109)
Erich Kästner hat diesen Tagebucheintrag seines Protagonisten Georg Rentmeister in „Der kleine Grenzverkehr“ zweifellos als Kompliment an Salzburg gemeint. Man muss heute jedoch nicht das Weltkulturerbe besichtigen oder den Mozartrummel erleben, um in den Genuss der von Kästner beschriebenen unlösbaren und manchmal auch sperrigen Verbindung getrennter Sphären zu gelangen. Das Fernsehangebot bringt täglich solch vermeintlich Unvereinbares zusammen. Besonders deutlich hat sich das mit dem Auftauchen des Reality TV gezeigt. Reality TV – das beinhaltet genau die von Kästner beschriebene Erfahrung einer widersprüchlichen Einheit von Künstlichkeit und Wirklichkeit, von Inszenierung und Leben, von Fiktivem und Faktischem, von Performation und Dokumentation, schließlich auch von Besonderem und Alltäglichem. Wie ist das Phänomen Reality TV zu erklären? Woher rührt die Lust am „großen Grenzverkehr“? Und welche Grenzen werden dabei verschoben oder übertreten, welche reproduziert und verfestigt? Bei seiner Einführung in den 1950er Jahren brachte das Fernsehen den Menschen die Welt ins Haus. Das audiovisuelle Medium ermöglichte die private Mobilisierung, Menschen konnten zugleich im Haus bleiben und an andere Orte und ferne Länder reisen. Mit der Weiterentwicklung der Medien- und Informationstechnologien konnten sie immer zeitnäher erfahren, was anderswo passierte. Dabei erfuhren sie jedoch immer weniger, was in ihrem eigenen Umfeld, im Nachbarhaus, in der Gemeinde, am Ort vonstatten ging. Die Auflösung traditioneller kirchlicher, generationaler und klassenspezifischer Milieus verstärkte diese Prozesse. Auch die Migrationsbewegungen trugen dazu bei, dass die verschiedenen Bevölkerungsgruppen und ihre Lebensweisen als einander fremd konstruiert und erlebt wurden. Genau deshalb ist der Alltag fernsehreif geworden: Weil die Art und Weise, wie die Mitmenschen leben, nicht mehr selbstverständlich ist, vermitteln Sendungen, wie sie das Reality TV produziert, alltägliche Erfahrungen und zeigen Muster des menschlichen Miteinanders, die früher direkter beobachtet werden konnten. Normen und Werte, die mit der sozialen
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Positionierung, dem Hineingeborenwerden in bestimmte Milieus eng verbunden waren, müssen heute verhandelt werden, und das Fernsehen stellt dazu Material bereit. Ulrich Beck (1986) hat in diesem Zusammenhang von Individualisierungs- und Differenzierungsprozessen gesprochen, die die heutigen postindustriellen westlichen Gesellschaften kennzeichneten. Solche Differenzierungsprozesse haben aber die alten Achsen der Differenz – Geschlecht, Alter, Klasse, Religion, Ethnie – nicht aufgelöst. Jedoch sind diese seltener direkt erfahrbar. Weil sie im Leben der Einzelnen nicht mehr ganz so wirkmächtig erscheinen, spielen sie in den Gesellschafts- und Selbstkonstruktionen der Menschen eine geringere Rolle. Insofern besteht in unserem Erfahrungsleben eine Lücke, die Reality TV füllt. Diese Programmangebote ermöglichen – oder versprechen das zumindest –, Neues über das Leben anderer Menschen zu erfahren, zumindest einen kurzen Blick auf deren Lebensentwürfe zu werfen. Deshalb regen die Sendungen des Reality TV in hohem Maße dazu an, über Normen und Werte des Zusammenlebens nachzudenken, wie etwa Hill (2005) in ihrer Rezeptionsstudie gezeigt hat.
1 „Here to stay“: Reality TV als neues, dauerhaftes Fernsehangebot Betrachtet man die rasante Entwicklungsdynamik der Genrefamilie wie auch den schieren Umfang der Reality-TV-Angebote, berücksichtigt man des Weiteren das Innovationspotenzial der verschiedenen Formate und ihr gesellschaftliches Kommunikations- und Konfliktpotenzial, so wird deutlich, dass es sich beim Reality TV um eine neue Grundform der Fernsehproduktion handelt. Reality TV ist kein flüchtiges Phänomen, auch wenn es viele seiner Formate sind, sondern scheint sich als dauerhafte und langlebige Angebotsform herauszukristallisieren. Hill schreibt in ihrer Zuschauerstudie zum Reality TV einleitend: „[…] reality TV has become the success story of television in the 1990s and 2000s. There are reality TV programmes about everything and anything, from healthcare to hairdressing, from people to pets. There are people who love reality TV and people who love to hate reality TV. Whatever your opinion of Cops, Neighbours from Hell, Big Brother, or Survivor, reality TV is here to stay“ (Hill 2005: 2). [Hervorhebung E.K.]
Ein Blick in die Fernsehzeitung an einem beliebig herausgegriffenen Werktag verdeutlicht, wie viel Sendezeit für die Genrefamilie im deutschsprachigen Fernsehprogramm inzwischen bereitgestellt wird. Bei den öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten hat das Reality TV einen regelmäßigen, aber eher bescheidenen Platz gefunden. Hier sind es vor allem die Docu Soaps, die das Programm beleben. Bei „ARTE“ überbrückt das Subgenre neben den klassischen Dokumentationen die Zeitdifferenz zwischen dem Beginn des Abendprogramms in Deutschland um 20:15 Uhr und in Frankreich, wo der Fernsehabend erst um 20:40 Uhr beginnt. „RTL“ und „SAT.1“ füllen dagegen sechs bis acht Stunden ihres Programms mit Angeboten aus der Genrefamilie. Alle privaten Sendeanstalten bie-
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ten täglich einige Stunden Reality TV im Tages- oder Abendprogramm an. Für „MTV“ sind Reality-TV-Formate neben der Musikschiene zum zweiten Standbein geworden. Dass Reality TV eine neue und dauerhafte Angebotsform darstellt, zeigen auch die durch das Reality TV bewirkten Veränderungen in den Produktionsabteilungen der Sendeanstalten. War die Programmplanung bis vor wenigen Jahren noch relativ klar in Abteilungen für Information und Bildung auf der einen Seite, für Unterhaltung auf der anderen Seite organisiert, so hat sich Reality TV als neue Mischform zwischen diese klassischen Angebotsformen und Produktionsbereiche gedrängt. Informationsangebote nehmen als Bezugspunkt die Wirklichkeit und enthalten das Verspechen an ihre RezipientInnen, dass das (Re-) Präsentierte auch tatsächlich geschehen ist, auf Fakten basiert. Unterhaltungsangebote beruhen demgegenüber auf Fiktionen und haben als Bezugspunkt die Fantasie. Sie versprechen keine Wirklichkeitstreue, sondern eine phantasievolle Bearbeitung und Verfremdung der Realität.
Abbildung 1: Angebotsform Repräsentiert
Beruht auf
Modi des Weltbezugs im Fernsehen Informations-/ Bildungsprogramme
Reality TV
Unterhaltungsprogramme
Realität
Realistische Fiktion bzw. fiktionaler Realismus
Fiktion
Nachrichten/ Fakten/ Tatsachen
Bezugsambivalenz bzw. Bezugswechsel
Fantasie/ Geschichten
Abbildung 1 zeigt, wie sich Reality TV zwischen diese beiden idealtypischen Angebote geschoben hat. Dabei sind auch die Produktionsroutinen durcheinander geraten, sodass manche Reality Formate in den Dokumentationsabteilungen, andere in jenen für Unterhaltung produziert werden. Reality TV basiert auf einem fiktionalen Realismus, wie er etwa durch das künstliche Setting des Big Brother-Hauses kreiert wird oder auch auf einer realistischen Fiktion, wie sie in den Erzählungen der Docu Soap zum Ausdruck kommt. Reality TV gibt vor, zugleich in der Realität verankert zu sein, aber diese doch auch fiktional zu bearbeiten und umzuformen, wie es etwa für die Gerichts-Shows gilt, oder andersherum; eine Fiktion zu schaffen wie bei Windstärke 8 – das Auswandererschiff, die aber dann von wirklichen Menschen in Echtzeit durchlebt wird. Die Programmangebote zeichnen sich also durch einen Bezugswechsel bzw. eine Bezugsambivalenz aus, da fiktional-inszenierte und faktisch-dokumentarische Darstellung sich mischen.
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Der Blick auf die Internetseiten1 der führenden Fernsehsender verdeutlicht, dass die Trennung in Unterhaltung und Information, das einstmals zentrale Organisationsprinzip der Fernsehproduktion, beim Internetauftritt der Sendeanstalten keine Rolle mehr spielt. Auf der Homepage des „ZDF“ wird nicht nach den Produktionsbereichen Information, Unterhaltung und Bildung unterschieden, sondern nach Themenbereichen: „heute-Nachrichten“, „Politik & Zeitgeschehen“, „Sport“, „Ratgeber“, „Wissen & Entdecken“, „Unterhaltung & Kultur“, „Spielen & Gewinnen“ sowie „Wetter“. Ähnliches gilt für „ARD“ und „RTL“. Die private Sendeanstalt ergänzt jedoch die Präsentation des TV-Programmes um zahlreiche Zusatzangebote wie etwa „GZSZ & Unter Uns“ oder „Chat“. Bei der Mehrzahl der privaten Anbieter, beispielsweise bei „SAT.1“, wird das Angebot entlang der Präsentationsformen geordnet, wobei einzelne ausgewählte Themen und Sendungen hinzukommen. „SAT.1“ unterscheidet etwa zwischen „Comedy & Show“, „Filme & Serien“, „Lifestyle & Magazine“. Anhand der Homepages zeigt sich, dass Information und Unterhaltung nicht länger als Basiskategorien dienen, mit deren Hilfe die Sendeanstalten ihr jeweiliges Programmangebot strukturieren und dafür werben. Das hängt auch damit zusammen, dass Information und Unterhaltung in der Medienproduktion etwas anderes bedeuten als für das Publikum, wie die Kommunikationswissenschaft gezeigt hat. Als Erste hat Dehm empirisch belegt, dass die in der Medienproduktion lange Zeit gültige strikte Trennung zwischen Information und Unterhaltung für die Aktivitäten der ZuschauerInnen kaum von Belang ist (Dehm 1984). Die Rezipierenden informieren sich auch aus fiktionalen Unterhaltungsangeboten, und sie nutzen Informationsangebote zur Unterhaltung. Aus Sicht des Publikums sind Information und Unterhaltung keine Gegensätze, sondern es gilt: der Gegensatz von Information ist Desinformation, der Gegensatz von Unterhaltung ist Langeweile (vgl. Klaus 1996; Bosshart/Macconi 1998). So gesehen stellt Reality TV kein neues Phänomen dar, sondern verschiebt die Perspektive weg von der Angebotsseite und den Produzierenden hin zur Rezeptionsseite und den KonsumentInnen bzw. Zielgruppen. Dem entspricht auch, dass Sendungen des Reality TV von den ZuschauerInnen in Hills Studie konsequent auf einer Achse bewertet werden, deren Pole einerseits vom traditionell „factual television“ auf der anderen Seite vom traditionell „fictional television“ gebildet werden (vgl. Hill 2005: 50-55).
1 Der Download aller Homepages erfolgte am 31.12.2005. Bezug genommen wird jeweils auf die zentrale Navigationsleiste.
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Abbildung 2: Reality TV zwischen faktenbasierten und fiktionsbasierten Angeboten
Während Angebote auf der faktischen/dokumentarischen Seite mit Lernen verbunden und entsprechend nach ihrem Lernerfolg beurteilt werden, werden jene auf der fiktionalen Seite unter dem Gesichtspunkt der Authentizität, der wirklichkeitsgetreuen Darstellung, der ProtagonistInnen diskutiert (vgl. Hill 2005: 79-107, 57-78). Abbildung 2 zeigt diese für die Bewertung des Reality TV zugrunde gelegte Skala, die nach Hill eine Art Messlatte für die Beurteilung der Qualität des Fernsehprogramms aus der Sicht des Publikums liefert und zugleich für die Systematisierung des bestehenden Fernsehangebotes hilfreich sein könnte. Zusammenfassend spricht vieles dafür, Reality TV als dauerhafte Angebotsform des Fernsehens zu sehen, die für Produktion und Rezeption bedeutend ist. Die Entwicklung und Etablierung des Reality TV ist von den technischen, politischen und ökonomischen Veränderungen der Medien stark beeinflusst worden und treibt die Medienveränderungen nun ihrerseits weiter voran. Dabei verdeutlicht das Reality TV ein Grundmerkmal der Fernsehproduktionen, nämlich das selbst-reflexive und selbst-bewusste Spiel zwischen und mit den verschiedenen Programmformen (Gillan 2004: 62). Das erklärt, warum die Genrefamilie so schwer zu greifen ist und scheinbar Widersprüchliches vereint. Reality TV ist eine Angebotsform, die in besonderem Maße von Grenzübertretungen lebt.
2 „Der große Grenzverkehr“: Zwischen Künstlichkeit und Wirklichkeit, Inszenierung und Leben „Any firm sense of boundary which such shows attempt to uphold between fact and fiction, narrative and exposition, storytelling and reporting inevitably blurs… Everything is up for grabs in a gigantic reshuffling of the stuff of everyday life. Everything, that is, is subject to interpretation by television as a story-telling machine“ (Nichols 1994: 43 zit. in Holmes/Jermyn 2004: 11).
Nichols hat bereits 1994 die Entwicklung des Fernsehens als Grenzübertretungen charakterisiert. Reality TV ist dabei, die Fernsehkultur nachhaltig zu verändern, weil es die Elemente dessen, was Fernsehen bedeutete, neu mischt. Das genau ist das zentrale Organisationsprinzip der neuen Angebotsform: Reality TV heißt Grenzen übertreten, bedeutet die immer neue Mischung aus scheinbar Unvereinbarem. Mikos (2000) nennt in einem Artikel zu Big Brother die folgenden Gegensatzpaare, die das Format zusammenbringe: Information und Un-
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terhaltung, Öffentlichkeit und Privatheit, Authentizität und Inszenierung, Fiktion und Realität. Dem ließen sich weitere hinzufügen, so vor allem das für das Genre zentrale Changieren zwischen Alltag und Exotik, Gewöhnlichem und Ungewöhnlichem (vgl. Klaus/Lücke 2003: 207f). Im „großen Grenzverkehr“ liegt das Erfolgsrezept der Genrefamilie, die zugleich ein Produkt der Kommerzialisierung und der Deregulierung der Mediensysteme ist. Die Angebote des Reality TV sollen nichts Bestimmtes erreichen, sie wollen nicht überzeugen. Die Formate wollen keine guten und in sich geschlossenen Geschichten erzählen wie das traditionelle Unterhaltungsprogramm, sollen keine Ansammlung von Fakten und wahren Informationen über die Welt liefern wie das traditionelle Informationsangebot. Stattdessen übertreten sie Grenzen, um Aufmerksamkeit zu erzeugen. Ein anderes Produktionsprinzip und Erfolgsgeheimnis gibt es nicht. Das erklärt auch, warum es so schwer ist, eine zumindest kurzzeitig bindende Definition für das Reality TV zu finden. Jede Definition bestimmt einen Rahmen, der vorgibt, was zu einem Genre gehört und was nicht. Ist dieser Rahmen aber erst einmal formuliert, wird er in der Logik des Reality TVs sofort gesprengt, wie es etwa die Einführung von Prominenten in die Formate zeigt, als deren Charakteristikum bis dato die Präsentation von Alltagsmenschen galt. Wenden wir uns diesen Grenzübertretungen nun systematischer zu, dann zeigt sich, dass diese auf allen Ebenen des Medienprozesses geschehen: Auf der Ebene der Produktion, ebenso wie auf der der Technik, der Ökonomie, des Medientextes und der Publikumsansprache. Auf der technischen Seite fließen einerseits Heimtechnik wie Handkameras und Fernsehtechnik zusammen. Mikos hat das als „Amateurisierung“ der Produktion bezeichnet (vgl. Mikos 2000: 77). Andererseits gibt es eine fortschreitende Konvergenz der Medien Fernsehen, Internet und Mobiltelefon. Reality TV lebt, auch im ganz profan materiellen Sinne, von den Anrufen der ZuschauerInnen, ihren Einträgen in die Internetforen oder ihrer Beteiligung an Internetgewinnspielen. Die neuen Formen der Interaktivität sind ökonomisch lukrativ. Etwas überspitzt formuliert: Ging es beim Fernsehen früher darum, die Publika der werbetreibenden Industrie zuzuführen, so geht es heute darum, Publika den Telefongesellschaften zuzuführen, zumindest bei all jenen Formaten, bei denen die ZuschauerInnen mitentscheiden dürfen. „If television was once about delivering audiences to advertisers, it may soon be about delivering callers to phone lines”, schreibt etwa Dovey (2001a: 136). Die Finanzierungsmodelle im Reality TV sind Mischformen aus Einnahmen von Kultmarketing, Sponsoring, Product Placement, Telefonanrufaktionen und traditioneller Werbung. Kosten entstehen vor allem durch den Ankauf globaler Formate und ihre lokale Adaption, eine Mischung, die besonders Erfolg versprechend ist. Allerdings keineswegs durchgängig: Das Reality TV ist auch ein Hybrid aus Tops und Flops, denn den weltweit erfolgreichen Formaten stehen zahlreiche andere gegenüber, die ihre anvisierten Zielgruppen nicht errei-
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chen konnten.2 Den ‚Geldmaschinen‘ wie Deutschland sucht den Superstar oder Big Brother 1 und 2 stehen teure Fehlplanungen gegenüber wie etwa Expedition Robinson oder Big Brother 4, Die Burg3 oder The Boss. Auch der Erfolg einer Serie in einem Land garantiert keineswegs den in einem anderen: Die erste Staffel von Big Brother war in den USA nicht erfolgreich, das in Deutschland abgebrochene Hire or Fire4 schon. Während das Publikum durch die Vielfalt an Finanzierungsformen zum besser berechenbaren Einnahmefaktor wird, scheinen die Einschaltquoten zugleich unberechenbarer geworden zu sein. Die Grenzübertretungen des Reality TV zeigen sich besonders deutlich auf der Ebene der Medientexte und sind hier auch besonders stark diskutiert worden. Vor allem unter dem Gesichtspunkt des „Tabubruchs als Programm“, der vermeintlichen Amoralität von Sendungen oder des Verlustes an Qualität wurde öffentlich über die Bedeutung der neuen Formate gestritten. Diese Diskussion will ich hier nicht weitergehend resümieren. Klar ist aber, dass Billigproduktionen neben hochpreisigen Sendungen stehen, sehr einfach gestrickte Sendungen neben niveauvollen Produktionen. So haben beispielsweise Abnehmen in Essen und Das Schwarzwaldhaus den renommierten Adolf Grimme Preis5 erhalten. Auch von den Inhalten her gilt, dass viele Sendungen die bestehenden gesellschaftlichen Stereotypen bestätigen und verstärken, manche sie aber hinterfragen und verändern (dazu ausführlich unter Kapitel 3). Die Veränderung der Fernsehkultur durch das Reality TV hängt in besonderem Maße mit seiner Publikumsansprache zusammen. Das Publikum kann nunmehr den Verlauf der Sendungen durch Telefonabstimmungen beeinflussen und sich selber für eine Teilnahme an den Soaps und Shows bewerben. Damit verwischen die einst starren Grenzen zwischen SchauspielerIn/ProduzentIn und ZuschauerIn/KonsumentIn. Die Möglichkeit des Rollenwechsels von KonsumentInnen zur ProduzentInnen und von ZuschauerInnen zu SchauspielerInnen macht vermutlich einen zentralen Reiz der Sendungen aus. Sie ermöglichen eine ganz andere Art der Partizipation und legen einen eher spielerischen Umgang mit den Fernsehangeboten nahe (vgl. Syvertsen 2004). Den Laien-SchauspielerInnen ermöglichen Formate wie Big Brother oder Taxi Orange stellvertretend für andere Alltagsmenschen einen Blick hinter die Kulissen der ‚Illusionsmaschine‘ Fernsehen. Als Alltagsmensch zugleich zum Star werden zu können und an einer entsprechenden Starkultur zu partizipieren, wenn auch nur kurzfristig und unvollständig, macht die Teilnahme an Formaten wie den Casting Shows attraktiv. Turner (2006) argumentiert, dass „The Mass Production of Celebrity“
2 Vgl. z.B. die zahlreichen Reality-TV-Sendungen in der Liste der TV-Flops des Jahres 2004, die Stefan Niggemeier (2004) zusammengestellt hat. 3 http://www.prosieben.de/show_comedy/die_burg [21.12.2005]. 4 http://www.prosieben.de/show_comedy/hireorfire [01.01.2006]. 5 Vgl. etwa 2003 Das Schwarzwaldhaus 1902 (http://www.swr.de/schwarzwaldhaus1902/) und 2000 Abnehmen in Essen (http://www.wdr.de/tv/abnehmen-in-essen/ index2.phtml; vgl. dazu auch Lücke 2002: 70-73).
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dazu führt, dass sich das Ziel mindestens kurzfristiger Berühmtheit in den Lebensplänen vieler Jugendlicher findet. „Ein geschlossener Illusionsraum, den es ja auch im Dokumentarfilm gibt, wird permanent gleichzeitig hergestellt und formal wieder unterlaufen“, räsoniert ein Fernsehkritiker über Windstärke 8 – das Auswandererschiff (Merschmann 2005: 21). Dabei fände keine Geschichtskonstruktion statt, sondern ein Rollenspiel vor interessanter Kulisse. Dass das Spiel, verstanden als anthropologische Komponente in der menschlichen Entwicklung, generell für die FernsehUnterhaltung konstitutiv ist, hat Bosshart (1979) begründet. „Staging the real“, die Wirklichkeit zu spielen und Aufführungen wirklichkeitsnah zu gestalten, hält Kilborn (2003) für das zentrale Merkmal des Reality TV. Auch in den Reaktionen des Publikums findet sich diese Mischung aus Authentizität und Performanz, beurteilen ZuschauerInnen die Sendungen doch danach, ob die AkteurInnen darin glaubwürdig, wirklichkeitsnah, authentisch agieren (vgl. Hill 2005, 57-78). Dem Publikum und den AkteurInnen wird so zugleich ein Panoptikum und in der Interpretation von Marchart (2000), ein Synoptikum geboten, zugleich ein Exotenkabinett und ein Heimatmuseum, in dem sie sich selber ausstellen lassen dürfen (vgl. Sauer 2001). Eine weitere Ambivalenz besteht zwischen der öffentlichen Ansprache des Publikums beispielsweise durch ExpertInnen wie den Super Nannies, TanztrainerInnen, Richtern oder RaumausstatterInnen und dem narrativen Stil der Sendungen (vgl. Dovey 2001b: 135). Die Stimme aus dem Off hilft den ZuschauerInnen dabei, die jeweiligen Situationen einzuordnen und zu interpretieren und gibt damit nicht nur den Ton der Sendung vor, sondern auch die Vorzugslesart (vgl. Kilborn 2003: 117f.). Das Publikum wird durch die sperrige Mischung aus öffentlicher Ansprache und Tatsachenbehauptungen auf der einen Seite sowie narrativem Stil und Fiktionen auf der anderen zugleich involviert und distanziert. Es wird gleichermaßen mal als BürgerIn und mal als KonsumentIn angesprochen (vgl. Holmes/Jermyn 2004: 11f). Schließlich bleibt auf der Ebene der Gesellschaft die große Grenzübertretung zwischen Banalem und Bedeutendem, indem scheinbar Triviales zum öffentlichen Skandal und zum großen gesellschaftlichen Gesprächsthema wird (vgl. Holmes/Jermyn 2004: 8; Goldbeck/Kassel 2000). Erklärt worden ist das mit der Übertretung von Tabu- und Schamgrenzen durch das Genre. Demgegenüber zeigt Hill (2005: 108-134), dass ZuschauerInnen die Sendungen, die angeblich jedwede ethische Dimension vermissen lassen, auf der Basis einer „Ethik der Fürsorge“ besonders intensiv zur Diskussion von moralischen Normen und ethischen Verhaltensweisen nutzen. Das öffentliche Aufsehen, dass Reality-TVFormate erzielt haben, umfasst aber weit mehr als die Diskussion über Normen und Werte und berührt weitergehend das Verhältnis von Reality TV und Gesellschaft. Reality TV scheint ein gelungener Ausdruck der gegenwärtigen Gesellschaftsentwicklung zu sein und spiegelt ein Ringen um gesellschaftliche Deutungsmacht wider zwischen globaler Offenheit und nationaler Nabelschau, zwischen neoliberalem und sozialem Gesellschaftsmodell, zwischen wertkonserva-
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tiven und progressiven Positionen, zwischen autoritären und emanzipatorischen Erziehungsidealen.
3 Das Alltagsleben als Inszenierung: Gesellschaftliche Grenzsetzungen Medien liefern Vorlagen für Identitätsräume. Das gilt auch für das Reality TV, für dessen Subgenres konkretes „Raum Vorgeben“ und „Raum Ausgestalten“ oft konstitutiv ist. Die Kommunikationswissenschaftlerin O’Connor (2004) hat in einer Fallstudie gezeigt, wie die irische Dance Hall in den Medien der 1930er Jahre zum Aushandlungsort für gender- und klassenspezifische wie auch national verkörperte Identitäten wurde. Entsprechend soll hier danach gefragt werden, welche Identitätsräume Reality TV für Identitätsbildungsprozesse in Bezug auf Geschlecht, Sexualität, Klasse und Schicht, Politik und Herrschaft, Nationalität und Geschichte bereitstellt. Dabei rekurriere ich auf vorliegende Studien, die sich zumeist auf einzelne Formate beziehen und überwiegend aus dem englischsprachigen Raum stammen. Auch wenn nicht wenige Textanalysen dabei in die einfache Repräsentationskritik zurückfallen, die etwa im Rahmen der Gender Studies kritisiert wurde, liefern die insgesamt zusammen getragenen Indizien ein starkes Argument dafür, dass Reality TV überwiegend traditionelle, neoliberale und wertkonservative Räume für Identitäten anbietet. Genderkonstruktionen und sexuelle Orientierung stehen im Zentrum vieler Reality-TV-Formate, besonders deutlich bei denjenigen, die sich um die Familie oder Familiengründung ranken, wie etwa Frauentausch6 oder Bauer sucht Frau7. Je zwei Doku Soaps dieses Typs haben Stephens (2004) und Maher (2004) untersucht. Sie kommen zu dem Schluss, dass es sich bei A Wedding Story, A Baby Story und Baby Day um ausgesprochen konservative Programmangebote handelt, in denen traditionelle Geschlechterklischees verbreitet, das Ideal der Zwei-Eltern-Kind-Familie propagiert, die weißen, heterosexuellen, aus der Mittelschicht stammenden Teilnehmerinnen als Norm dargestellt und andere Lebensentwürfe unsichtbar gemacht würden. Stephens stellt eine direkte Verbindung zur konservativen Familienpolitik der amerikanischen Regierung unter George W. Bush her. Auf erhebliche Kritik in der Fernsehkritik stieß die 2007 von der „ARD“ ausgestrahlte Die Bräuteschule 1958, weil sie das Rollenbild der 1950er Jahre nicht etwa kritisch lebendig werden ließ, sondern lediglich reproduzierte (vgl. Straub 2007). Die Herrichtung und Disziplinierung eines attraktiven weiblichen Körpers ist besonders deutlich Teil der Doku-Soaps, in denen Schönheits-OPs durchgeführt werden (vgl. Thomas i.d.B.).
6 http://www.rtl2.de/start.html?page=http://www.rtl2.de/209_6601.php&Color=cc0000 [02.01.2006]. 7 http://atvplus.at/main/programm/sendungen/magazin_dokusoap/bauer_sucht_frau_staffel2.php [2.1.2006].
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Eine Untersuchung der deutschen Talkshows kommt zu dem Ergebnis, dass Konflikte zwischen den Geschlechtern zwar ein konstituierendes Element der Sendungen sind, dass aber in den Diskussionen nur wenig Spielräume für alternative Lebensentwürfe bleiben (vgl. Hofmann/Karsten/Wiedemann 2001: 136). Das entspricht meiner Beobachtung der beziehungsorientierten Jugend-RealitySoaps Abschlussklasse 2005, die 2006 in der dritten Staffel ausgestrahlt wurde, und Freunde – das Leben geht weiter. Auch hier dreht sich Erwachsenwerden fast ausschließlich darum, die richtigen gegengeschlechtlichen PartnerInnen zu finden. Diese Partnersuche scheint der zentrale Sinn des Erwachsenenwerdens zu sein. Allerdings gilt diese ausgesprochene Heteronormativität nicht für alle Reality-TV-Sendungen, wie die teilweise vielfältige Darstellung homosexueller Männer in den erfolgreichen Reality Soaps Survivor8 und The Real World 9 zeigt (vgl. LeBesco 2004; Pullen 2004). Zu einer differenzierteren Aussage gelangt man auch, wenn man sich die beiden vom „ORF“ produzierten Reality Soaps Taxi Orange und Expedition Österreich hinsichtlich ihrer Geschlechterkonstruktionen ansieht. Flicker (2001, 2005) hat beide Sendungen untersucht. Während im Jahr 2001 bei Taxi Orange Rollenbilder flexibler gestaltet sind, sieht Flicker bei Expedition Österreich (2005) eine Verfestigung traditioneller Geschlechterrollen und insbesondere eine Orientierung an einem hegemonialen Männlichkeitsideal. Sie erklärt das mit dem Unterschied zwischen Indoor- und Outdoor-Formaten: „Im Gegensatz zu Indoor- oder Container-Shows können Outdoor-Reality Shows wie ‚Expedition Österreich‘ als Männlichkeits-Shows bezeichnet werden. Mit einem Schwerpunkt auf physischen Trainings- und Überlebenskompetenzen wird vorwiegend an Parametern wie Muskelkraft, körperlicher Ausdauer, physischer Geschicklichkeit und jungenhafter Naturerfahrung angesetzt, die zu Leitparametern für das Überleben der einzelnen und der Gruppe in der Natur konstruiert werden“ (Flicker 2005: 56).
Hier verknüpft sich die Genderbotschaft mit Fragen der nationalen Identitätsbildung, wenn ganz Österreich durchquert wird und die Idee einer durch die Natur, insbesondere natürlich die Alpen, geprägten und von Männern errichteten Nation reproduziert wird. In ihrem überzeugendem Beitrag über die in Finnland ausgestrahlte Outdoor-Reality-Show Extreme Escapades zeigen Aslama und Pantti (2007: 49, 53), wie hierbei eine nationale finnische Identität konstruiert wurde, die im Kontext des Konzeptes eines „banalen Nationalismus“ Bedeutung erlangt und zur Ausgrenzung anderer ethnischer Gruppen führen kann. Vor allem die Reality Soaps scheinen Vorlagen für die Bildung nationaler Identitäten zu liefern. In den US-Serien America’s Most Wanted10 und Survivor wird Cavender (2004) zufolge vordergründig eine Gemeinschaft zelebriert, die jedoch durch Konkurrenz, Allianzenbildung und Intrigen ständig unterlaufen wird. Cavender schluss8 http://www.cbs.com/primetime/survivor/ [21.12.2005]. 9 http://www.mtv.com/onair/realworld/ [02.01.2006]. 10 http://www.amw.com/index.cfm?home=1 [21.12.2005].
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folgert, dass die Sendungen die Vision einer Gemeinschaft fördern, die traditionelle Vorstellungen von Konkurrenz und Individualismus verstärken und eine Welt zeichnen, wo das ‚Wir gegen Die‘ dominant ist. Unbestritten ist, dass in den Reality Soaps weniger Persönlichkeiten auftreten, sondern vielmehr durch die Selektionsroutinen geschaffene Charaktertypen agieren. Selbst unter dem liberalen Vorzeichen des Antirassismus, wie er in „MTVs“ The Real World gegeben wird, finden dann grobe Stereotypisierungen statt, die das Bestehende beschönigen. Kraszewski (2004) zeigt, wie das gesellschaftsweite Problem des Rassismus in den USA in der Reality Soap als individuell lösbares Problem eines ländlichen Konservatismus erscheint. Besonders hart geht Rapping (2004) mit der Darstellung von Kriminalität und Gewalt in Polizeisendungen ins Gericht. Sie zeigt dabei einige generelle Probleme dieser Dokumentationsform auf, wie etwa ihre Kontextlosigkeit und ihre konsequente Darstellungsperspektive aus Sicht der Ordnungskräfte. Kriminelle würden dadurch als abweichende, wertlose und fremde Mitglieder der Gesellschaft gezeigt, und es werde nahegelegt, dass eine möglichst repressive Politik im Umgang mit Straftätern gerechtfertigt sei. Dass Reality TV auch einer Klassengesellschaft Ausdruck verleiht, hat in Deutschland die Diskussion um das sogenannte „Unterschichtenfernsehen“ deutlich gemacht.11 Probleme der Gesellschaft werden dabei auf einen spezifischen Fernsehkonsum zurückgeführt. Im Begriff Unterschichtenfernsehen, so Christoph Amend in Die Zeit, verdichten sich „Assoziationen wie Arbeitslosigkeit, Hoffnungslosigkeit, Bier am Nachmittag und leere Kassen“ (Amend 2005: 16). Die Angebote des Reality TV trügen daran zumindest eine Mitschuld, da sie die Welt der Unterschicht eins zu eins spiegelten und deshalb kein Entrinnen erlaubten. Hans-Ulrich Jörges schreibt entsprechend im „stern“: „Der Proleten-Guckkasten scheint zum Leitbild der Privaten geworden zu sein. Ganzkörpertätowierte Kretins und busenfixierte Siliconpuppen, beobachtet beim suppenkochenden Kampf um ihre Frau, beim erektionsfördernden Wannenbad zu zweit oder bei der egopolsternden Brustvergrößerung – das einstmals innovative Reality-TV treibt ab in die Gosse“ (Jörges 2004: 21).
Nicht nur enthalten solche Urteile eine grandiose Verallgemeinerung des Reality TV-Angebotes, vor allem verwechseln sie auch die Inszenierung und Darstellung von Unterschichten im Fernsehen mit deren tatsächlichen Lebensweisen. Die ‚Prolos‘ werden so wie die Kriminellen zur negativen Projektionsfläche einer sich davon positiv abhebenden nationalen Identität und erhalten ganz en 11 Es handelt sich dabei um eine vor allem im Feuilleton der überregionalen Zeitungen und in den Wochenzeitschriften geführte Debatte. Einen guten Überblick vermittelt die 42-seitige Dokumentation „‚Unterschichtenfernsehen‘. Pressespiegel zu einer aktuellen Debatte“ (Mai 2005), die als pdf-Datei kostenlos bei der „stern“-Anzeigenabteilung bestellt werden kann. Mit der 2006 erschienenen Studie der FriedrichEbert-Stiftung „Gesellschaft im Reformprozess“ hat sich die Diskussion versachlicht (Vgl. http://www.fes.de/aktuell/documents/061017_Gesellschaft_im_ Reformprozess_komplett.pdf [01.05.2007]). Prekarisierung wird nun stärker als Folge von fehlenden materiellen Ressourcen und Ausgrenzung gesehen und weniger eindeutig als Reflex eines problematischen Medienverhaltens.
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passant auch noch die Schuld für ihre schlechte Lebenssituation. Ein Hintergrund der Debatte ist, dass mit dem Reality TV erstmals die Mittelklassendominanz der Fernsehproduktion durchbrochen worden ist und verschiedene Bildungs- und Einkommensschichten in den verschiedenen Formaten eine Rolle spielen, teilweise sogar zentral sind. Die Ungleichverteilung gesellschaftlicher Chancen und Arbeitslosigkeit wurde auch zum Thema des Reality TV. So wurde in der argentinischen Casting-Show Recursos Humanos, die 2002 im Fernsehen lief, täglich um einen Arbeitsplatz mit halbjährigem Zeitvertrag gespielt (vgl. Krüger 2002; 2003). Für eine Putzstelle wurde da Tango getanzt, für die Arbeit auf der Baustelle die Qualitäten als Entertainer gezeigt. Das Publikum wählte den Sieger bzw. die Siegerin. Das ist selbst unter neoliberalen Vorzeichen eine erstaunliche Partizipation an der Selbstausbeutung. Ob der an sich schon schlechte Halbjahresvertrag auch eingehalten wurde, prüfte die Sendeanstalt nicht. So mussten zwei Frauen, die eine Putzstelle gewonnen hatten, stattdessen auf einer Baustelle arbeiten. Trotzdem erhielt die Sendung den prestigeträchtigen „Martin-FierroPreis“ als beste Servicesendung des Landes, wurde aber später mangels Zuschauerbeteiligung eingestellt. Das Sendekonzept wurde von Sony nach Spanien, Deutschland und China verkauft. Jedoch ging die von „Neun Live“ geplante Arbeitslosenshow nach scharfen Protesten nicht auf Sendung. Die Docu Soap Artern – Stadt der Träume, die vom 6.2. bis zum 25.12.2003 vom „MDR“ ausgestrahlt wurde und der ostdeutschen Stadt und ihren BewohnerInnen einen Aufschwung bescheren sollte, wurde mangels Zuschauerinteresse wieder eingestellt. Bei Big Boss12 wie auch Hire or Fire konnten Top-Jobs gewonnen werden. Erstere erlebte keine zweite Staffel, letztere wurde bereits nach der ersten Sendung wieder eingestellt. Die von Taxi Orange verbreitete Idee des „mobilen Unternehmens“ macht nach Bernold explizit, „worum es bei Reality TV strukturell ganz wesentlich auch geht, nämlich um die Einübung in die Anforderungen einer neoliberal geprägten Arbeitswelt“ (Bernold 2002: 231). Sie schreibt der für die Reality-TVSendungen zentralen Tele-Authentifizierung die Funktion zu, eine prekär erscheinende Wirklichkeit zu beglaubigen. Das entspricht Thomas’ Analyse, der zufolge Castingshows Identifikationsangebote für das „unternehmerische Selbst“ liefern. Die Disziplinierung des eigenen Körpers wird dabei zum universellen Währungsmittel (vgl. Thomas 2007; Thomas i.d.B.). Die Politikwissenschaftlerin Sauer (2001) hat ihre Analyse von Taxi Orange unter die Überschrift gestellt: „Die serielle Zivilgesellschaft. Vom Einbruch der Politik in das Echtmenschenfernsehen“. Exklusion und Inklusion, Kooperation und Konkurrenz förderten in Verbindung mit der Wahl des Publikums ein autoritäres, neoliberales Politikverständnis:
12 http://www.rtl.de/tv/bigboss/ [02.01.2006].
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„Pop-Politik entwirft einen neuen gesellschaftlichen Handlungsraum jenseits gewohnter staatlicher Sicherheiten, und sie erfordert bzw. konstruiert neue BürgerInnen, die sich selbst entwerfen und selbst ‚regieren‘ müssen. Pop-Politik ist ein Aspekt der ‚Formierung neo-liberaler Gouvernementalität‘“ (Sauer 2001: 157f).
Ganz ähnlich hat Ouellette die Gerichts-Show Judge Judy13 bewertet: „Judge Judy constitutes the normative citizen – the TV viewer at home – in opposition to both risky deviants and ‚self-made‘ victims” (Ouelette 2004: 247). Die Sendung repräsentiere ein autoritäres Spektakel, dass genau dem entspreche, was Foucault die Ideologie der bürgerlichen Justiz genannt habe. „We can see variations of neoliberal currents examined here in makeover programs, gamedocs, and other reality formats, that ‘govern at a distance’ by instilling the importance of self-discipline, the rewards of self-enterprise, and the personal consequences of making the ‘wrong’ choices. Judge Judy represents one of the clearest examples of this trend because it articulates neoliberal templates for citizenship“ (ebd.: 247f.).
Die von Sauer konstatierte Mischung aus Ermächtigung und Unterwerfung – auch eine der Grenzübertretungen des Reality TV – ist zugleich Ursache und Folge der häufig wertkonservativen Textangebote. Das gilt insbesondere für die neuen Angebote der Make Over Shows. Schreiber hält fest: „Die Qualen des Nicht-Dazu-Gehörens, des Dick-Seins und des Sich-Unattraktiv-Fühlens werden vor ein unbarmherziges Ultimatum gestellt: Wenn Du Dich ändern kannst, dann solltest Du es. Wenn Du dich weigerst, dich zu verändern, dann verdienst Du die Konsequenzen – das nicht eintretende Glück und das alte, erfolglose Selbst“ (Schreiber 2005: 21).
Diese Botschaft ist nicht neu und traditionell mit der Frauenrolle und den Arbeitsbereichen sowie dem Konsumentinnenstatus von Frauen verbunden. Sie wird in den neuen Reality-TV-Sendungen aber direkter, dichter und fordernder gestellt und führt zu der „widersprüchlichen Spannung zwischen Selbstermächtigung und Unterwerfung, zwischen Kontrolle und Opfertum“ (ebd.: 21). Diese Ambivalenz zeigt sich auch in jenen Sendungen, die wie die Super Nanny Eltern sinnvolle Erziehungsratschläge geben und für die RezipientInnen offensichtlich auch hilfreiche Hinweise enthalten. Problematisch ist daran nicht nur, dass die Rechte der dort vorgestellten Kinder eingeschränkt, moralischer Druck ausgeübt und scheinbar schnelle Lösungen für tiefgreifende Probleme angeboten werden (vgl. Gersterkamp 2005). Die Produktionsregeln dieser Formate – die Stimme aus dem Off, die Erklärungen gibt und die freiwillige Einwilligung der Familien in die Kameraüberwachung – liefern zudem einer vorbehaltlosen und unreflektierten Anerkennung von Autoritäten Vorschub.
13 http://www.judgejudy.com/home/home.asp [02.01.2006].
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4 Fazit Andrejevic (2004; 2005) hat in seinen Arbeiten darauf hingewiesen, dass das Versprechen der Interaktivität zugleich an zunehmende Überwachungstechniken und -praxen gekoppelt ist, die datenschutzrechtlich ausgesprochen problematisch sind, von den Beteiligten und Zuschauerinnen an den Sendungen aber unhinterfragt akzeptiert werden. So führt die an sich positiv zu bewertende Präsentation des Alltags in der Öffentlichkeit zugleich zu einer Kolonialisierung des Öffentlichen durch das Private wie auch zu einer tiefgreifenden Invasion der Öffentlichkeit in das Privatleben. Die vielfältigen Grenzübertretungen des Reality TV finden statt unter der Bedingung relativ starrer Grenzsetzungen. In überwältigendem Ausmaß stützen die Medientexte bestehende Hierarchien und bestätigen die gesellschaftlichen Vorurteile über das So-Sein der Geschlechter, über die Nation, über Klassen und Ethnien. Viele Sendungen singen das Hohelied des Neoliberalismus: „Du kannst alles erreichen, Du hast dein Schicksal selber in der Hand, es ist nicht einmal eine Frage der Kompetenz, sondern des authentischen Agierens, ob Du Deine Chance ergreifst.“ Jedoch gibt es davon auch Ausnahmen und manche Sendungen zeigen durchaus kritisch die Auswirkungen des Abbaus des sozialen Netzes und ergreifen Partei für die Betroffenen, wie es etwa in manchen Folgen der Docu Soap We are Family! So lebt Deutschland 14 zu sehen ist. Der Alltag ist fernsehreif geworden in dem Maße, in dem das Fernsehen sich ganz und gar in unser Alltagsleben eingeschrieben hat. Fernsehen ist Teil des Alltäglichen, gerade weil das Alltägliche immer fremder und exotischer geworden zu sein scheint. Im Reality TV haben diese gesellschaftlichen Entwicklungen eine passgenaue mediale Ausdrucksform gefunden. Deshalb ist das Reality TV ‚here to stay‘, ‚difficult to define‘ und mit dem ‚remaking of television culture‘ beschäftigt. Dabei erledigen die gegenwärtigen Reality-TVAngebote ihre Aufgabe der Alltagsdarstellung und Alltagsverständigung meist schlecht, weil sie mit den Grenzsetzungen, die sie vornehmen, vor allem traditionelle Identitätsräume bereitstellen, die eine neoliberale Ideologie transportieren. Dabei geht es aber nicht um kausale oder lineare Prozesse. Der spielerische und teilweise subversive Umgang mancher Publika mit den Reality-TVProgrammen und den darin verwendeten Techniken zeigt vielfältige Ambivalenzen und Widersprüche.15 Der Grenzverkehr der ZuschauerInnen wie auch die ständigen Grenzübertretungen als Basisprinzip der neuen Angebotsform verstärken auch einen ganz anderen Trend: In den 50 Jahren, in denen das Fernsehen Teil des Alltagslebens geworden ist, haben die Menschen gelernt, hinter seine Kulissen zu schauen und sich von seinen Botschaften ironisch oder kritisch zu distanzieren. Wo geht das radikaler als im Reality TV? Im englischen Celebrity Big Brother war die indische Teilnehmerin Shilpa Shetty rassistischen Angriffen 14 http://www.prosieben.de/lifestyle_magazine/waf/ [1.5.2007]. 15 Vgl. etwa die von Wilson (2004) aufgezeigten Möglichkeiten des „culture jammings“ während der Ausstrahlung von Big Brother in den USA.
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und Beleidigungen ausgesetzt, die zu Demonstrationen und sogar dem Austausch einer diplomatischen Notiz zwischen Indien und England führten.16 Die Zuschauerinnen wählten die Bollywood-Schauspielerin im Januar 2007 schließlich zur Siegerin der Show. In der Spannung zwischen Grenzsetzungen und Grenzübertretungen erlaubt Reality TV auch die Neuaushandlung kultureller und gesellschaftspolitischer Fragen – jedenfalls manchmal.
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Symbiotische Religiosität: Die jugend- und medienkulturelle Rahmung religiöser Erfahrung auf dem XX. Weltjugendtag 2005 in Köln Waldemar Vogelgesang
1 Signaturen der Jugendreligiosität in der Gegenwart Wie halten es die Jugendlichen mit der Religion? Die berühmte Gretchen-Frage in Goethes Faust hat auch – oder vielleicht gerade – im Blick auf die Ausprägung und Ausformung der Jugendreligiosität in der heutigen Zeit nichts von ihrer Aktualität verloren. Allerdings scheint sie immer schwerer beantwortbar, denn je nach verwendetem engerem oder weiterem Religionsbegriff – und je nach zitierter Studie – pendeln die Diagnosen zwischen „Deutsche Jugend ohne Gott“ (Frankfurter Allgemeine Zeitung 2006: 1) oder „Jugendliche glauben wieder an Gott“ (Trierischer Volksfreund 2006: 1). Auch wenn solche Pauschaldiagnosen in das Bild einer gewachsenen öffentlichen Aufmerksamkeit gegenüber religiösen Themen, Praktiken und Gemeinschaften passen, so verstellen sie doch eher den Blick für die tiefgreifenden Transformationen der religiösen Gegenwartskultur, die auch die Glaubensformen der Jugendlichen verändert haben. Danach lässt sich die Beziehung zu Religion und Kirche nicht mehr in einer einfachen Denkschablone verorten, sondern stellt sich als ungemein vielfältig und bunt dar. Der Tenor ist dabei gleich lautend: Religion ist zu etwas geworden, was man sich aussuchen kann (Hitzler 1999). Als zentrale Ursachen für die zunehmende religiöse Autonomisierung werden für die heutige Zeit charakteristische Individualisierungsprozesse und damit verbundene Freisetzungen angesehen. Mit der „entbetteten Welt“, wie Anthony Giddens (1995: 33) die Spätmoderne charakterisiert, korrespondiert eine entbettete Religiosität. Oder anders formuliert, die Pluralisierung der gesamtgesellschaftlichen Lebensverhältnisse findet sich spiegelbildlich auch in der religiösen Sphäre wieder und zwar als Vielfalt und Konkurrenz von unterschiedlichen sakralen Formen, Weltanschauungen und Glaubenssystemen. In der Religionssoziologie mehren sich angesichts dieser Entwicklungen die Stimmen für eine Neufassung des Religionsbegriffs, um den individualisierte religiösen Ausdrucksformen stärker Rechnung zu tragen (Wohlrab-Sahr 2000). Auch wenn dieser Perspektivenwechsel – von der organisierten zur privatisierten Religion – bisweilen zu einem definitorischen Verwirrspiel führt, so wird in der religionswissenschaftlichen Forschung neben einer verstärkten Betonung religiöser Subjektivität nach wie vor der Transzendenzbezug als ein konstitutives Definitionselement von Religion angesehen (Knoblauch 1999; Meulemann
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1998). Die Grundannahme ist dabei, dass im menschlichen Leben die religiöse Frage am stärksten herausgefordert wird, wenn es um den Umgang mit dem Tod geht, also um das beunruhigende Problem der biologischen Endlichkeit und die urreligiöse Frage, ob es einen Bereich jenseits der gelebten Wirklichkeit gibt. Akzeptiert man sowohl den Perspektivenwechsel als auch den Transzendenzbezug, dann geraten Veränderungen und Entwicklungen in den Blick, die sich pointiert in folgender These zusammenfassen lassen: Nicht die Religion als solche resp. ihre subjektive Ausdrucksform, die Religiosität, verlieren an Bedeutung, sondern nur die organisierte Kirchenreligion und deren überkommene Sozial-, Ritus- und Spiritualitätsformen. Im Blick auf die gegenwärtige Jugendreligiosität zeigt sich zunächst einmal, dass die Frage nach der Existenz einer wie auch immer gearteten transzendenten Wirklichkeit einen hohen Stellenwert hat: „Die Neigung, auf ein Jenseits zu blicken, […] messbar etwa an dem Glauben an ein Leben nach dem Tod, findet man unter Jugendlichen relativ weit verbreitet. Je nach Fragestellung und Erhebungsmethode kann man diesen Glauben etwa bei der Hälfte bis zwei Drittel der Jugendlichen nachweisen“ (Gensicke 2006: 205).
Allerdings entkoppeln Jugendliche den Jenseitsglauben zunehmend von ihrem Diesseitsalltag. Denn die Bedeutung des Glaubens machen sie immer weniger an ihrer unmittelbaren Lebenssituation fest, vielmehr weisen religiöse Themen und Fragestellungen gerade über sie hinaus. Hier deutet sich im Selbstverständnis vieler Jugendlicher eine Verlagerung und ein Eigenwert des Religiösen an, der jenseits der Alltagsgeschäftigkeit liegt und auf die ursprüngliche Funktion aller Glaubensvorstellungen zielt: die Bewältigung von Kontingenzerfahrungen. Diese Bewältigung muss aber keineswegs an der christlichen Lehre ausgerichtet sein, wonach sich der Einzelne nach dem Tode für seinen Lebenswandel vor Gott zu rechtfertigen habe, sondern variiert in Hinblick auf unterschiedliche Weltanschauungstypen und religiöse Identitätsformen (Wippermann 1998). Jugendliche schöpfen bei existentiellen Seins- und Sinnfragen ganz offensichtlich aus verschiedenen Quellen. Was sich bei den eigenwillig zusammengefügten Jenseitsvorstellungen der Jugendlichen andeutet, verweist auf eine sehr viel allgemeinere Entwicklung religiöser Autonomisierung: Nicht Gott oder eine andere außerweltliche Macht oder Kraft werden zu Prüfinstanzen für eine moralische oder unmoralische Lebensführung, sondern das innerweltlich agierende und sein Handeln selbst steuernde und verantwortende Individuum. Denn jenseits eines Kompetenzmonopols von Kirchen und anderen Glaubensinstitutionen macht sich heute der religiös interessierte Einzelne selbst zur letzten Instanz in Fragen religiöser Wahrheit, der richtigen Lebensführung und über seine Spiritualitätserfahrung. Vor diesem Hintergrund ist jugendliche Religiosität keine Sonderreligiosität, die sich irgendwann wieder normalisieren wird. Vielmehr verdichtet sich in ihr das, was die religiöse Gegenwartskultur insgesamt kennzeichnet: Das religiöse Erleben und die religiösen Ausdrucks- und Vergemeinschaftungsformen haben sich
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den pluralen Strategien und Mustern der Multioptions- und Erlebnisgesellschaft (Gross 1994; Schulze 1992) anverwandelt. Die sich allseits ausbreitende Pluralisierung und die damit einhergehende zunehmende Erlebnisorientierung markieren die beiden Ankerpunkte, vor deren Hintergrund sich weitere, grundlegende Veränderungen der religiösen Kultur und Praxis abzeichnen. Ihr Kumulationspunkt ist das autonome religiöse Subjekt. Wie weit diesbezüglich die religiöse Selbstermächtigung in der heutigen Zeit bereits fortgeschritten ist, soll an vier Entwicklungen noch näher verdeutlicht werden. Ihre empirische Evidenz lässt sich dabei gleichsam idealtypisch am religiösen Habitus der heutigen Jugend sichtbar machen, wobei neben Befunden aus der neueren religionssoziologischen Forschung ein Rückgriff auf Jugendsurveys unserer Forschungsgruppe Jugend- und Medienkultur (Vogelgesang 2005), umfangreiche Recherchen zum XX. Weltjugendtag 2005 in Köln (Forschungskonsortium WJT 2007) sowie Überlegungen von Winfried Gebhardt (2003) erfolgt. (1) Kirchenferne und Kirchenkritik: Die beiden großen christlichen Kirchen haben weiter an Boden verloren. Allerdings spüren sie die physische – und geistige – Abwesenheit der jungen Leute schon seit Längerem (Barz 1992; 1993). Jedoch handelt es sich bei vielen Jugendlichen keineswegs um eine Fundamentalopposition, sondern ihr institutionelles Desinteresse zeigt sich in unterschiedlichen Formen, die von Nichtbeachtung und Ignoranz über kritische Distanz und gläubige Kirchenkritik bis zu instrumentellen Haltungen – und zwar in dem Sinne, dass Kirchen als ‚Ritualdienstleister‘ für bestimmte bedeutsame Lebenssituationen angesehen werden – reichen können. Auffällig ist, dass Kirchenferne und -kritik nicht zwangsläufig zum Kirchenaustritt führen. Vielmehr bleiben die Überlegungen in der Schwebe, werden nicht vollzogen, aber auch nicht mit einem definitiven Beschluss beendet, in der Konfessionsgemeinschaft zu bleiben oder sie zu verlassen. Auch – oder gerade – unter den kirchenskeptischen Jugendlichen findet sich die Vorstellung, dass sich die Kirche ändern muss. Ist allerdings das Band zur Institution und Konfession einmal gerissen, dann ist es sehr schwer wieder herzustellen. (2) Pluralisierung und Collagierung: In spätmodernen Gesellschaften ist durch die Verschränkung von Individualisierungs-, Mobilitäts-, Migrations- und Mediatisierungsprozessen ein „Markt von Religionen“ (Zinser 1997) entstanden. Jeder hat, wenn er denn möchte, die Möglichkeit, sich hier über die unterschiedlichsten Sinnstiftungsofferten zu informieren und davon Gebrauch zu machen. Individuelle religiöse Optionalität und institutioneller religiöser Pluralismus gehören heute aufs Engste zusammen. Ob buddhistische Meditation, schamanistische Ekstasetechniken oder fernöstlicher Reinkarnationsglaube, immer mehr Menschen praktizieren einen überaus individuell geprägten, auswählenden Religionsvollzug, wobei gerade Jugendliche christliche und nichtchristliche Glaubensüberzeugungen und Ritualpraktiken in souveräner Manier miteinander kombinieren. Wenn „Patchwork-Religiosität als Zeichen religiöser Produktivität“ (Hempelmann 2003: 8) zu werten ist, die mit der Auflösung ho-
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mogener Frömmigkeitsstile und kirchlicher Kulturen zugunsten vielfältiger religiöser Praktiken und Spiritualitätsformen einhergeht, dann liefern vor allem religionsaffine Jugendkulturen wie etwa die Gothic-Szene (Schmidt/NeumannBraun 2005) reichlich Anschauungsmaterial für höchst eigenwillig zusammengebastelte Glaubenskreationen und religioide Expressionsformen. (3) Verszenung und Eventisierung: Der Formenwandel des Religiösen als Folge einer zunehmenden Individualisierung des Glaubens hat auch unmittelbare Auswirkungen auf die soziale Organisation von Religion. Denn in den traditionellen Kirchen- und Gemeindestrukturen, die zwar nach wie vor weiter fortbestehen, lassen sich privatistische und synkretistische Glaubensformen nur schwer beheimaten. Als geeigneter – und anschlussfähiger – erweisen sich szenenartig organisierte Sozialformen, die gleichzeitig offener und thematisch fokussierter sind, eine lockere Verbundenheit in einem Netzwerk ermöglichen und deren Mitgliedschaft jederzeit aufkündbar ist. Für religiöse Szenen wie etwa die von Frère Roger gegründete Taizé-Bewegung, aber auch die immer projektförmiger und erlebniszentrierter konzipierte Arbeit der katholischen Vereinsund Verbandsjugend gilt: In ihnen kann man seine individuellen und aktuellen religiösen und sozialen Bedürfnisse ausleben, ohne sich dauerhaft binden zu müssen. Da in religiösen Szenen – wie im Übrigen in allen anderen Szenen auch (Gebhardt 2000) – die Gemeinschaftsbildung und -bindung sehr fragil sind, hat sich in ihnen ein neuer Einheit stiftender Veranstaltungstypus etabliert: das Event. Wie sehr in den letzten Jahren der Trend zur Eventisierung der Religion zu neuen Veranstaltungsformen und einer wachsenden Resonanz insbesondere im Jugendbereich geführt hat, zeigen etwa die Diözesanjugendfestivals ‚Jugend + Kirche + X,‘ die europäischen Jugendtreffen von Taizé und nicht zuletzt die Katholischen Weltjugendtage. (4) Spiritualisierung und Ästhetisierung: Hand in Hand mit dem steigenden Zuspruch der Szenen- und Event-Religion und der zunehmenden Souveränität im Umgang mit der Institution Kirche und ihrer überkommenen Ritualpraxis geht die Sehnsucht und Suche nach einer authentischen Spiritualität. Eine in diesem Sinne lebendige religiöse Erfahrung ist eine ganzheitliche, multisensitive und erlebnishafte, ein spontanes religiöses Glücksempfinden, das vor allem bei Jugendlichen immer häufiger im Rahmen von spektakulären, medial aufgeladenen und körperbezogenen religiösen Veranstaltungen gemacht wird. Es ist das Zusammenspiel vieler unterschiedlicher Erlebnisreize, das sie aus anderen Zusammenhängen kennen und das sie auf religiöse Kontexte übertragen, um unter ihresgleichen eine Art von gefühlter Religion mit bisweilen ekstatischen Einschlägen zu erleben – Transferhoffnungen auf die alltägliche kirchliche Religionspraxis eingeschlossen. Denn das, was etwa die TeilnehmerInnen auf dem Weltjugendtag erlebt haben, wünschen sich viele auch für den Gemeindegottesdienst. Auch dieser soll zum spirituell berührenden ästhetischen Erlebnis werden und in seiner performativen Struktur Züge einer eigenen religiösen Jugendkultur, die sich in Gemeinschaft, eigener Sprache, körperlicher Expressivität und Musik ausdrückt, annehmen.
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Ob Kirchenferne oder Kirchenkritik, Pluralisierung oder Collagierung, Verszenung oder Eventisierung, Spiritualisierung oder Ästhetisierung – die genannten Trends und Entwicklungen in der heutigen religiösen Wirklichkeit tragen keinen jugendspezifischen Charakter. Sie kennzeichnen vielmehr das religiöse Handeln in allen Generationen, auch wenn sie in den Formen jugendlicher Religiosität – und hier besonders markant in bestimmten religiös eingefärbten Jugendkulturen – in Erscheinung treten. Es gibt jedoch ein Element im religiösen Habitus der Jugendlichen, über das sie exklusiv verfügen und das sie auch bewusst und gezielt als Distinktionsstrategie gegenüber der Religiosität etwa ihrer Eltern einsetzen: die jugendkulturelle Durchdringung ihrer religiösen Expressivitätsformen. Die jugendlichen „Coolhunters“ (Neumann-Braun/Richard 2005) sind in die Sphäre der Religion eingedrungen, prägen der konfessionellen Zugehörigkeit und spirituellen Erfahrung gleichsam ihr populärkulturelles Signum auf. Diese Symbiose zwischen religiösen und jugendkulturellen Elementen soll im Folgenden exemplarisch an der Performativität und Stilpolitik der WeltjugendtagsteilnehmerInnen verdeutlicht werden. Die empirischen Daten dazu stammen aus einem Forschungsprojekt zum XX. Weltjugendtag in Köln 2005, das ich gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen der Universitäten Trier, Koblenz, Dortmund und Bremen durchgeführt habe.1 Das Projekt war primär ethnographisch ausgerichtet, wobei nicht-reaktive dokumentarische Erhebungsmethoden (Tagebuch, Foto, Film) und reaktive Forschungsstrategien (Ad-hoc-Interview, Leitfadeninterview, Gruppendiskussion) miteinander kombiniert wurden. Alle qualitativen Interviews – sofern daraus Passagen zitiert werden, sind sie im Text durch Kursiv-Schreibweise gekennzeichnet – wurden mit dem Einverständnis der Interviewten aufgezeichnet und anschließend transkribiert und anonymisiert. Aus Gründen einer besseren Lesbarkeit und Zitierfähigkeit erfolgte dabei eine an den Regeln der Schriftsprache orientierte Übertragung ins Hochdeutsche. Am Ende der Feldphase standen der Forschungsgruppe nicht nur eine Fülle von visuellen und verbalen Daten zu den WeltjugendtagspilgerInnen zur Verfügung, sondern es bewahrheitete sich ein weiteres Mal ein schon fast ehernes empirisches Gesetz in der „Feldforschung in Jugendkulturen“ (Schulze-Krüdener/Vogelgesang 2002): Wenn man nämlich verstehen will, was hier passiert, dann muss man sich auf deren Praxisformen einlassen, muss sozusagen die Atmosphäre und das Geschehen vor Ort und aus erster Hand kennen lernen.
1 Im Rahmen eines von der Deutschen Forschungsgemeinschaft finanziell geförderten Forschungsverbundes untersuchten wir zwischen Januar 2005 und Dezember 2006 in einer Disziplinen übergreifend angelegten Studie den Weltjugendtag als religiöses Event sowohl in seiner lokalen Organisation und globalen Medienpräsenz als auch im konkreten Erleben der Teilnehmerinnen und Teilnehmer. Letzteres war die Aufgabe der Forschergruppe der Universitäten Trier und Koblenz, zu der neben mir auch Jun.-Prof. Dr. Julia Reuter und Prof. Dr. Winfried Gebhardt gehörten, denen ich an dieser Stelle für die gute und anregende Zusammenarbeit herzlich danken möchte. Wenn im Folgenden von ‚wir’ die Rede ist, beziehe ich mich v.a. auf letztgenannte Forschergruppe.
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2 Die Katholischen Weltjugendtage – Prototypen spätmoderner Eventreligion und ‚gefühlter Katholizität‘ Die Weltjugendtage wurden von Papst Johannes Paul II. im Anschluss an die Feier der Katholischen Kirche zum „Heiligen Jahr der Erlösung“ 1984 initiiert. Johannes Paul II. lud zum Abschluss des Heiligen Jahres die Jugend nach Rom ein. Bei dieser Veranstaltung übergab er der Jugend der Welt das „Heilig-JahrKreuz“ – mit dem Auftrag, dieses durch die Welt zu tragen, als symbolträchtiges Zeichen für die Liebe Christi zur Menschheit. Bestärkt durch den Erfolg dieses Treffens veranlasste Papst Johannes Paul II. die Einrichtung von zyklisch wiederholten Weltjugendtagen an international wechselnden Orten, um sich regelmäßig mit den Jugendlichen der Weltkirche zu treffen. Seither werden sie im zwei- bzw. dreijährigen Turnus in Metropolen rund um den Globus ausgerichtet. Die Weltjugendtage ziehen Jugendliche geradezu magnetisch an. Insgesamt haben seit ihrer Gründung vor über 20 Jahren mehr als 11 Millionen Jugendliche an ihnen teilgenommen: Nach Rom kamen im Millenniumsjahr zwei Millionen, und auch beim vorletzten Weltjugendtag 2002 in Toronto konnte fast eine Million Teilnehmer aus aller Welt verzeichnet werden. Dieses Erbe hat Johannes Paul II. der Kirche und seinem Nachfolger, Benedikt XVI., überlassen. Und dieses Erbe wurde angenommen, wie bereits ein kursorischer Blick auf das quantitative Ausmaß des Weltjugendtags 2005 in Köln verdeutlicht. So gesellten sich hier zu den 410.000 registrierten jugendlichen PilgerInnen im Laufe der Begegnungstage weitere Hunderttausende, die an den über 1.000 Veranstaltungen an rund 500 Orten teilnahmen. Allein die Eröffnungsgottesdienste in Köln, Bonn und Düsseldorf umfassten jeweils 80.000 Besucher und mehr, den Abschlussgottesdienst auf dem Marienfeld erlebten über eine Million TeilnehmerInnen. Auch die klerikale Elite war nahezu vollständig angereist: Neben den 10.000 Priestern, 3.000 Kommunionsspendern und 500 Beichtvätern waren auch 750 Bischöfe, davon 54 Kardinäle, zum Weltjugendtag nach Köln gekommen. Keine andere Veranstaltung der Katholischen Kirche erreicht diese Dimensionen. Aber nicht nur in quantitativer Hinsicht – durch die Teilnehmerzahl – sind die Weltjugendtage ein besonderes Ereignis. Auch qualitativ zeichnen sie sich durch Besonderheiten aus. Anders als zum Beispiel bei den in Deutschland seit 150 Jahren veranstalteten Katholikentagen steht hier nicht der innerkirchliche Diskurs über die soziale, politische und ökologische Verantwortung der katholischen Christen und auch nicht die regelmäßig aufbrechende Diskussion um die Rolle der Laien in der Kirche im Mittelpunkt, sondern – in den Worten des neu gewählten Papstes – das gemeinsame spirituelle Erlebnis der „Schönheit des katholischen Glaubens.“ Ganz gezielt setzte die Katholische Kirche beim Weltjugendtag in Köln auf die emotionalisierenden Elemente der populären Event- und Jugendkultur: Nicht kritische Diskussion und theologische Reflexion waren angesagt, sondern den jugendlichen PilgerInnen sollte das schöne Erlebnis von raum-zeitlich entgrenzter Zugehörigkeit zu einer universalen religiösen Gemein-
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schaft ermöglicht werden. Zum Ausdruck kam dies beim XX. Weltjugendtag 2005 vor allem in den das Programm beherrschenden Massenveranstaltungen, die Elemente von profanem Fest und religiöser Feier bewusst verbanden und eine Mischung aus ehrwürdiger katholischer Liturgie, traditioneller Volksmission, Wallfahrt, Happening und Spektakel darstellten. Überall in Köln wurden Bühnen aufgebaut und Räume geschaffen, auf bzw. an denen gefeiert und getanzt werden konnte. Videoleinwände und Musikboxen fehlten ebenso wenig wie Essens- und Devotionalienstände. Vieles – und keineswegs nur die dauerjubelnde Pilgerschar – erinnerte an die Love Parade, weshalb einige Medienschaffende auch schnell von einer ‚Pope Parade‘ sprachen. Konservative Kirchenvertreter griffen diesen Vergleich auf und werteten den Event-Charakter des Weltjugendtags als Niedergang und Trivialisierung des Glaubens – markant zum Ausdruck gebracht in der Feststellung eines katholischen Würdenträgers, mit dem wir während unseres Forschungsaufenthalts in Köln gesprochen haben: „Die Love Parade hat einen katholischen Zwilling bekommen.“ Dagegen wurden die Mitarbeiter des Weltjugendtags-Büros nicht müde, in Presse, Radio und Fernsehen fortlaufend zu wiederholen, dass der Weltjugendtag wesentlich mehr sei als ein Event. Im beabsichtigten wie im realisierten Zentrum der Veranstaltung stünden vielmehr die Religion, die Lehre der Katholischen Kirche und ihre rituell liturgischen Ausdrucksformen. Wie ist der Weltjugendtag nun aber tatsächlich bei den jugendlichen PilgerInnen angekommen – und vor allem angenommen worden? Versucht man auf der Basis unserer Forschungsdaten ihre Erfahrungen und Erlebnisse zusammenzufassen und zu verdichten, so lässt er sich – jedenfalls aus der Sicht der allermeisten TeilnehmerInnen – als ein einmaliges, oftmals überwältigendes, auf jeden Fall aber außeralltägliches Ereignis von großer Bedeutung nicht nur für die Sicherung, sondern auch für die Konturierung des eigenen Selbstverständnisses als katholischer Christ oder katholische Christin im Alltag charakterisieren. In den Worten einer 17-jährigen Polin klingt dies wie folgt: „Der Weltjugendtag ist für uns junge Katholiken gelebte Religion in der Gemeinschaft und für mich speziell ein Lebenshöhepunkt.“ Was aber lässt den Weltjugendtag zu einem solch einmaligen Ereignis werden, das nicht nur von dieser jungen Polin als „Lebenshöhepunkt“ gedeutet wurde? Aus unserer Sicht sind es mehrere Aspekte, die ihn zu einem religiösen Erlebnisraum der ganz besonderen Art werden lassen und der dem Weltjugendtag in den Augen seiner zumeist katholischen JungpilgerInnen eine Faszination und Attraktivität verleiht, die ihnen der kirchliche Alltag so nicht zu bieten vermag. Zunächst einmal ist der Weltjugendtag für die jugendlichen TeilnehmerInnen mit einem totalen Gemeinschaftserlebnis verbunden. Von den Massenunterkünften bis zu den Massenveranstaltungen, wie etwa der Papstankunft auf den Pollerwiesen, den Eröffnungsgottesdiensten oder der Vigilfeier und Abschlussmesse auf dem Marienfeld, spannt sich ein Bogen von physischen und psychischen Dichtesituationen, in denen Gemeinschaftserfahrungen besonders intensiv erlebt werden. Was bei den meisten Erwachsenen an solchen Orten, „an denen
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die Körper aneinander kleben“, wie der jugendliche Crowding-Habitus von einem deutschen Weltjugendtagsteilnehmer sehr plastisch umschrieben wurde, wohl eher Panik- und Fluchtreaktionen auslösen dürfte, ist der heutigen Jugendgeneration augenscheinlich eine vertraute – und erwünschte – Erfahrung. Sie kennt die gruppendynamischen Effekte solcher Massenveranstaltungen und setzt sich ihnen bewusst und gezielt aus. Sie sucht und findet hier den Thrill des Kollektivs, das belebende, weil die Langeweile eines durchrationalisierten Alltags sprengende Gefühl individueller Entgrenzung, körperlicher Flow-Erlebnisse und ekstatischer Ganzheitserfahrungen. Hierin unterscheidet sich der Weltjugendtag nicht von anderen jugendlichen Event-Sessions, wie etwa Sportveranstaltungen oder Rockkonzerten, sondern schließt an vorhandene Massenerfahrungen an. Die Differenz liegt jedoch darin, dass es neben den situationalen Gemeinschaftserlebnissen noch eine religiöse Vergemeinschaftungserfahrung gibt, nämlich Teil einer globalen katholischen ‚Communio’ zu sein. Ein hoch fragmentiertes und bunt gemischtes jugendliches Publikum – zu erwähnen sind hier die ethnisch-kulturellen Unterschiede zwischen den TeilnehmerInnen am Weltjugendtag genauso wie ihre Zugehörigkeit zu verschiedenen pfarrgemeindlichen, verbandlichen und charismatischen Gruppen und Bewegungen – erlebt mitunter zum ersten Mal und auf multisensitive Weise, was der Begriff ‚katholisch‘ meint. Ein weiteres Kennzeichen, das von den Jugendlichen einvernehmlich als ein Highlight des Weltjugendtags angesehen wurde, ist der interkulturelle Erfahrungsaustausch und die Sichtbarmachung eines globalen Glaubensbandes. Was der ‚Global Player‘ katholische Kirche mit dem Weltjugendtag eindrücklich demonstrieren wollte, ist an der Basis angekommen: „Das Katholische ist weltumspannend“, wie dies eine junge Kölnerin so treffend charakterisiert hat. Angesichts des internationalen Selbstverständnisses und der multinationalen wie -kulturellen Zusammensetzung der TeilnehmerInnen ist davon auszugehen, dass der Weltjugendtag wie kein anderes jugendkulturelles Event für den Kontakt mit anderen Kulturen stand und steht. Dies spiegelte sich auch in der Einschätzung der Besucher wieder: Nahezu alle jugendlichen TeilnehmerInnen haben während des Weltjugendtags interkulturelle Erfahrungen gemacht bzw. haben gerade diesen Erfahrungen eine besondere Bedeutung beigemessen. Betrachtet man aber die tatsächliche Ausgestaltung, dann fällt auf, dass sich ein Großteil des Kontaktes mit Jugendlichen aus anderen Ländern – zumindest auf dem Weltjugendtag, nicht unbedingt während der vorgelagerten ‚Tagen der Begegnung‘ – recht oberflächlich ausnahm: Außer gemeinsamen Gesangswettstreiten, Schlachtrufen (Viva Benedetto), Fahnenschwenken, Warten, Begrüßen durch lautstarkes Skandieren des Nationennamens oder Autogrammtausch auf Rucksäcken und T-Shirts oder kurzzeitiges Schunkeln blieben die jugendlichen (Sprach-)Gruppen unter sich. Dennoch wurden diese meist einmaligen, spontanen und kurzfristigen Aktionen nicht als enttäuschende Ausbeute oder gar mangelnde interkulturelle Erfahrung von den Jugendlichen bewertet. Ganz im Ge-
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genteil, sie wurden als Zeichen echter Begegnung mit anderen Kulturen interpretiert. Offensichtlich zählte für sie nicht die praktische Tiefe, sondern eher die symbolische Breitenwirkung der Begegnung. Damit verbunden bekundeten die Jugendlichen – ganz im Sinne einer interkulturellen Pädagogik und weltbürgerlichen Katholizität – gemeinsame ethische Zielsetzungen, die etwa in Vorstellungen von Nächstenliebe, wechselseitigem Voneinander-Lernen, friedlicher Koexistenz, Einheit in der Vielheit, Verbundenheit der Nationen oder Weltglaubensgemeinschaft zum Ausdruck kamen. Trotz oder gerade weil den Jugendlichen bewusst ist, dass die nationalen und kulturellen Herkunftskontexte der einzelnen Teilnehmergruppen höchst unterschiedlich sind und neben diesen alltagspraktische, auch sprachliche Barrieren existieren, sehen sie in ihrer Religion ein universales Verständigungsschema, das die katholische Weltgemeinschaft wie ein unsichtbares Glaubensband im Innersten zusammenhält.
3 Katholische Religion im Zeichen universaler Jugendkultur: „Religiöse Coolhunters“ auf dem Weltjugendtag in Köln Auch wenn sich der Weltjugendtag fraglos als eine Art temporäre Erlebnis- und Gemeinschaftsenklave und Generator einer gefühlten katholischen Weltgemeinschaft umschreiben lässt, es waren die jugendlichen TeilnehmerInnen selbst, die ihm Leben eingehaucht und ein jugendkulturelles Flair verliehen haben. Erst durch sie wurde er zu jenem euphorisierenden Massenereignis, das einen Grad an Intensität, Ausgelassenheit und Begeisterung angenommen hat, der üblicherweise nur auf großen Sport- und Musikevents beobachtbar ist. Bereits die Eröffnungsveranstaltung im vollbesetzten Rheinenergie-Stadion in Köln liefert Anschauungsmaterial dazu, wie Jugendliche einem geplanten Zeremoniell einen ungeplanten Happening-Charakter verleihen können, ihm sozusagen einen jugendeigenen Rahmen geben. Während die offizielle Eröffnung des Weltjugendtags durch Kardinal Meisner im vollbesetzten Stadion noch in geordneten Bahnen verlief, erfolgte die jugendkulturelle Eröffnung gut zwei Stunden später, als die 50.000 Jugendlichen in eben jenem Stadion so lange und so laut klatschten, skandierten, Fahnen schwenkten und die La-Ola-Welle machten, dass Bundespräsident Horst Köhler minutenlang keine Chance hatte, seine Begrüßungsrede zu halten. In diesen Minuten verdeutlichten die Jugendlichen: Dies ist unsere Veranstaltung und wir wollen (mit-)bestimmen, was passiert. Dass sie diese elektrisierende Atmosphäre nicht nur selbst erzeugt, sondern den Massen-Flow auch genossen haben, ist in den Interviews immer wieder angesprochen worden: „Ich hatte erst gedacht, lass den (Bundespräsidenten; W.V.) doch ausreden, der möchte was sagen. Aber nachher habe ich gedacht, lass sie doch jubeln.“ Oder wie ein anderer Teilnehmer meinte: „Das war also schon eine fußballähnliche
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Stimmung im Stadion, aber ohne Alkohol und ohne Schlägereien, einfach nur eine Mordsgaudi.“ Solche Schilderungen geben aber schnell den bereits erwähnten Befürchtungen Raum, der Weltjugendtag sei lediglich ein großes Spektakel gewesen, ein Spaßevent, dem tiefer gehende religiöse Bezüge gefehlt haben. Es sind wiederum die jugendlichen TeilnehmerInnen selbst, die solch einer verkürzten, spaßdominierten Fremdwahrnehmung entgegentreten und darauf verweisen, dass religiöse Erfahrungen und Partymachen für sie gerade nicht in einem Ersetzungs-, sondern in einem Ergänzungsverhältnis zueinander stehen. Ein Jugendlicher hat dafür eine prägnante Formulierung gefunden: „ Im Pilgertum heißt es ja ora et labora, bete und arbeite, und wir beten und feiern eben jetzt mal.“ Es ist die Kombination und Vermischung von spaßorientierten und religiösen Komponenten, die die Haltungen und Handlungen der jugendlichen WeltjugendtagsteilnehmerInnen bestimmen. Was für die meisten ihrer Großeltern und wohl auch noch für viele ihrer Eltern als Repräsentanten einer traditionalen religiösen Kultur des Katholizismus in der Regel recht unversöhnlich nebeneinander stehen dürfte, fügen sie in souveräner Manier zusammen: Weltliches und Heiliges, Spaß und Spiritualität. Der jugendkulturelle Habitus hinterlässt aber nicht nur in der stimmungsmäßigen Aufladung religiöser Handlungsfelder seine Spuren, sondern zeigt sich auch in einer Fülle von ästhetischen und symbolischen Ausdrucksformen, mit denen das Religiöse gleichsam stilistisch gerahmt wird. Bezugspunkte und Ressourcen stellen dabei die unterschiedlichen Jugendkulturen dar. Aus der Fülle und Vielfältigkeit jugendkultureller Accessoires mit religiösem Bezug findet sich ein ganzes Arsenal in dem Bildarchiv, das die Forschungsgruppe angelegt hat. Um nur einige Beispiele zu nennen: Holzkreuze mit Luftschlangen, Papststicker mit dem Bildzeitungsmotiv „Wir sind Papst“, überdimensionale Handschuhe mit aufgeklebten Marienbildchen, orangefarbene Sicherheitswesten mit Papstbild, Pieta-Tattoos, Jesus-Brandings und gleichsam als universelles Erkennungs- und Markenzeichen das Weltjugendtagslogo auf Kleidungsstücken, aber auch im Gesicht oder als stylische Frisur. Die Zugehörigkeit zur Weltjugendtagsgemeinschaft möglichst originell zum Ausdruck zu bringen, war gleichsam die Devise ästhetischer Selbststilisierung. Dass dabei das Equipment des Weltjugendtagsrucksacks genauso eigenwillig umgestaltet wurde wie bestimmte Sportinsignien und Werbeanzeigen, verdeutlicht bspw. die Transformation von „Playstation“ in „Praystation“ oder die bunte Vielfalt von T-Shirts mit dem Aufdruck „Benedikt 16“. Diese Umgestaltungen verweisen einerseits auf bestimmte Crossover- und Bricolage-Strategien, also ein stilistisches Signum von Jugendkulturen schlechthin, andererseits aber auch auf eine religiöse Rekontextualisierung der Zeichen und Zitationen. Populärkulturelle Symbole werden gleichsam religiös imprägniert. Dass gerade in diesem Zusammenhang die Motto-Sprüche der T-Shirts eine wahre Fundgrube für die Analyse einer autonomen Symbolpolitik der jugendlichen WeltjugendtagsteilnehmerInnen darstellen, sei an der Auswahl einer klei-
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nen Spruchsammlung verdeutlicht: „Bitte nicht stören, bin beim Papst“, „Viva il pappa“, „Ich bin katholisch“‚ „Together we’re strong“. Zum Kult-T-Shirt ist aber der „Ratzefummel“ geworden, das der Moderator von TV Total, Stefan Raab, mit dem Aufdruck „Mach et, Ratze!“ (Vorderseite) und „Benedikt XVI.“ (Rückseite) auf den Markt gebracht hatte. Neben dem blauen Pilgerrucksack und dem „Wir sind Papst-Button“ war es wohl das „Ratze-T-Shirt“, das für die WeltjugendtagsteilnehmerInnen gleichermaßen zum Aufmerksamkeitsgenerator und Zugehörigkeitsindikator wurde. Im typischen jugendsprachlichen Duktus verkörpert es für viele eine gelungene Synthese zwischen popkulturellen und religiösen Elementen. Auch die Medienverwendung – und hier insbesondere das Mobiltelefon – durch die Jugendlichen während des Weltjugendtags lässt solche Verschmelzungsprozesse zwischen sakralen und profanen Handlungsstrategien erkennen. Zunächst einmal war unübersehbar, dass Handys hier im Dauereinsatz waren. Ob in den Eröffnungsgottesdiensten, bei der Domwallfahrt oder der nächtlichen Vigilfeier auf dem Marienfeld, der konzentrierte Blick auf das Handy in Verbindung mit einer schon fast artistischen Daumengelenkigkeit verriet, dass die WeltjugendtagsbesucherInnen etwas mitzuteilen hatten. Auch manche etwas langatmige Katechese wurde mit einem Blick auf das Handy erträglicher, konnte man sich dadurch doch Themen und Personen zuwenden, die man für wichtiger oder interessanter erachtete. Welche Inhalte auch immer kommuniziert wurden, sie wurden an Orten und in Situationen mittels eines kommunikationstechnischen Hilfsmittels verschickt, das üblicherweise nicht in sakralen Räumen vorkommt. Die These von der „Mediatisierung kommunikativen Handelns“ (Krotz 2001) bewahrheitet sich offensichtlich auch in religiösen Kontexten. Oder individualisierungstheoretisch gewendet: In der verstärkten Nutzung des Mobiltelefons durch die WeltjugendtagsteilnehmerInnen manifestiert sich die parallele Teilhabe an verschiedenen sozialen Handlungsfeldern. Dies schließt die Kultivierung eigener Handy-Stile – auch im Kontext des Weltjugendtags – mit ein. Als Spiel- und Musikmedium, mit dem man Wartezeiten überbrücken konnte, hat das Mobiltelefon hier allerdings kaum eine Rolle gespielt. Dies bedeutet nicht, dass es auf dem Weltjugendtag keine Wartezeiten gegeben hat, aber die damit verbundenen unfreiwilligen Pausen wurden durch spontane Formen kollektiver Performativität aufgefangen und erlebnisbezogen aufgeladen. Dass solche Aktionen dann wieder per SMS-Kommunikation, als Fotodatei oder Filmssequenz mitgeteilt wurden, dürfte zum einen an der Besonderheit und dem Überraschungscharakter vieler Situationen gelegen haben. Zum anderen bieten gerade Bildbotschaften die Gelegenheit, den Kommunikationspartner noch stärker an der eigenen Umgebung und der aktuellen Befindlichkeit teilnehmen zu lassen. In der medial geprägten Welt, in der Jugendliche heute aufwachsen, kommt authentischen Bildbotschaften eine verstärkte Bedeutung zu. Das Bedürfnis, anderen mittels fotografischer Schnappschüsse einen Nachweis dafür zukommen zu lassen, wie viel Spaß man gerade auf dieser Party oder jenem Event hatte, ist Ausdruck dieser Entwicklung. Die Fotogalerien in vielen
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Tageszeitung resp. deren Archiven, die unter der Rubrik „ClickMe“ den Einzelnen oder eine kleine Gruppe von Erlebnissuchern aus der Masse einer bestimmten Eventveranstaltung herausheben, stehen ebenfalls im Kontext eines demonstrativen Zeigegestus, von dem gerade für junge Menschen in einer auf Juvenilität und Selbstdarstellung fokussierten Zeit eine starke Faszination ausgeht. Das allseits beobachtbare Fotografieren und Filmen von Ereignissen und Erlebnissen während des Weltjugendtags hatte aber nicht nur eine soziale Außenfunktion, dadurch wurden auch sehr persönliche Eindrücke einer religiösen Großveranstaltung festgehalten und in ihrer Besonderheit und Unwiederholbarkeit dokumentiert. Im Modus der Verbildlichung wird eine Augenblickserfahrung gleichsam eingefroren und zum zeitüberdauernden Beleg, Teil und TeilnehmerInnen eines außeralltäglichen religiösen Ereignisses gewesen zu sein. Was in den Gesprächen mit den Jugendlichen vor Ort immer wieder angesprochen wurde, wird in der privaten Bildersammlung verdichtet und auf Dauer gestellt: das persönliche Dabeigewesensein an einem unvergesslichen Religionsevent, das sich tief in die Erinnerung eingeprägt hat. „Dies ist eine besondere Veranstaltung in meinem Leben“, „hunderttausende von Leuten, das Meer von Kerzen, […] das ist halt schon ein Wahnsinnsgefühl“, „die Stimmung, ich fand es klasse, total schön“ – mit solchen Umschreibungen heben die TeilnehmerInnen den Weltjugendtag nicht nur in den Rang eines Mega-Events, sie machen, zutreffender: stilisieren ihn auch zu einer einmaligen biographischen Erfahrung. Wenn es stimmt, dass wir die Erinnerung gleichsam auch für uns selbst inszenieren, mithin „alle Erinnerung Konstruktion ist“ (Hahn 2000: 24), dürften die vielen selbstgemachten Fotos und narrativ verdichteten Einzelerlebnisse mit zunehmendem Abstand zu dem realen Geschehen dies noch triumphalischer und unverwechselbarer („ein Lebenshöhepunkt“) erscheinen lassen. Auch Negativerfahrungen („irgendwann war ich einfach nur noch platt“) können in gleicher Weise in der Erinnerung kultiviert und zu einer Einmaligkeitserfahrung umgedeutet und überhöht werden. Dass im Mediengebrauch der Jugendlichen auch ganz selbstverständlich spirituelle Erfahrungen und religiöse Gefühle an- und ausgesprochen werden, ist ein weiterer Indikator für die neue Coolheit, mit der sie in unaufgeregter Weise ihre individualisierten Frömmigkeitsstile zum Ausdruck bringen. Ein anschauliches Beispiel für die Normalität jugendlicher Medienreligiosität, dem die katholischen JungpilgerInnen, mit denen wir in Köln gesprochen haben, schon fast einen ikonographischen Charakter zuschreiben, stellen diejenigen TeilnehmerInnen am Weltjugendtag dar, die am Rande des Marienfeldes liturgische Inszenierungen auf den zahlreichen Videoleinwänden verfolgt haben. Was hier lediglich exemplarisch angesprochen wird, konnten wir aber an vielen Stellen des Weltjugendtags beobachten: Für die Jugendlichen war es nicht notwendig, sakrale Orte aufzusuchen, um ihren religiösen Gefühlen Ausdruck zu verleihen resp. Gott nahe zu sein. Ihre persönliche Religiosität fand auch an weltlichen Orten durch mediale Repräsentationen spirituelle Anziehungs- und Ankerpunk-
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te. Die Selbstverständlichkeit, mit der heutige Jugendliche in die Medienwelten eintauchen, findet sich spiegelbildlich in einer zunehmenden Mediatisierung ihrer Religion wieder. Noch prägnanter formuliert: Der Entdogmatisierung und Individualisierung ihrer Glaubensinhalte entspricht eine Entgrenzung und Translokalisierung ihrer Glaubensformen. Weitere Beispiele für die Individualität, Souveränität und Eigenwilligkeit, mit der Jugendliche religiöse Elemente in ihren jugend- und medienkulturellen Habitus eingebunden haben, sind die Verwendung von Handy-Klingeltönen und -Logos, die einen unmittelbaren Bezug zum Weltjugendtag haben. Ob es sich dabei um den offiziellen Weltjugendtags-Song „Venimus Adorare Eum“, das Lied „All My Life“ von Claas P. Jambor aus dem TV- und Kinospot zum Weltjugendtag oder den spirituellen Klassiker „Oh Happy Day“ handelte, die Musikbegeisterung der Jugendlichen zeigte sich während des Weltjugendtags gleichsam in einem religiös getönten Gewand. Auch die Mini-Radios, die viele Jugendliche dabeihatten, dienten nicht nur dazu, den offiziellen Weltjugendtagsfunk zu hören, sondern sich ein höchst individuell gemixtes Musikpotpourri zusammenzustellen, das vom Hard Rock bis zum Sakro-Pop reichte. Und nicht zuletzt entpuppten sich die Handy-Logos als eine Fundgrube medien- und religionskultureller Expressivität. Manche Jugendliche hatten die Displays ihrer Mobiltelefone eigens für den Weltjugendtag mit aufwändigen religiösen Eigenkreationen gestaltet, indem sie zum einen Anleihen aus der klassischen christlich-katholischen Ikonographie machten, etwa durch Rückgriff auf die „Betenden Hände“, das „Fisch-Motiv“ oder das „Herz Jesu“. Aber diese religiösen Urmotive und Ursymbole wurden nicht einfach zitiert, sondern höchst individuell verändert. Zum anderen wurden aktuelle Bezüge, Eindrücke und Erlebnisse während des Weltjugendtags, z.B. das offizielle Weltjugendtagssymbol, selbst gemachte Papstbilder und so genannte Highlight-Fotos, als ästhetischer Display-Background verwandt. Was für die Coolhunters der Gegenwart zu einer jugendkulturellen Basisaktivität geworden ist, findet sich auch im Logo-Design vieler WeltjugendtagsteilnehmerInnen wieder: Die ästhetische Umgestaltung und Collagierung fungiert als performatives Szenen- und Sinnzeichen. Oder wie ein Jugendlicher seine Eigenkreation kommentierte: „Jeder Blick auf das Handy sagt mir, warum ich hier in Köln bin und warum mir das so wichtig ist: Hier hat sich die katholische Jugend der Welt versammelt, und ich gehöre dazu.“ Die religiöse Dimension spielt aber auch bei weniger ambitionierten HandyKünstlern eine Rolle. Denn neben den kreativen Bastlern mit ihrer Vorliebe für Originaldesigns gab es jene – und nach unserer Beobachtung war dies die überwiegende Mehrheit der WeltjugendtagsbesucherInnen –, die auf Fertigprodukte zurückgegriffen haben, wobei auch hier in vielen Fällen die religiösen Motive individuell umgestaltet wurden. Aus einer riesigen Angebotspalette, die von der offiziellen Weltjugendtagsseite bis zu privaten Anbietern reichte, konnten sich die Jugendlichen „Logo-Kunst mit Weltjugendtagsbezug“, wie dies ein Teilnehmer so treffend umschrieben hat, entweder kostenlos oder für ein geringes Entgelt aus dem Internet herunterladen. Die Art und Weise, wie die jugendlichen
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TeilnehmerInnen vor oder während des Weltjugendtags ihr Handy-Display – und nicht selten auch ihre Handyschale –, modifiziert haben, ist ebenfalls ein aufschlussreicher Indikator dafür, wie jugendkulturelle und religiöse Ausdrucksformen und Artefakte miteinander verwoben wurden. Dass auch andere Weltjugendtags-Accessoires wie etwa die Klebetattoos, Pins, Telefonkarten, Schlüsselanhänger mit dem Weltjugendtagslogo, die Silikonarmbänder in den Weltjugendtagsfarben oder die Papst-T-Shirts sozusagen einen doppelten Verweisungscharakter hatten, kann hier nur angedeutet werden. Sie als Pilgerplunder und Tand einer zeitgenössischer Ereignisökonomie und „Diktatur des kulturellen Relativismus“ (Niemczyk 2005: 20) abzuqualifizieren, wie dies in manch einem weltjugendtagsfremden Feuilletonbeitrag zu lesen war, verkennt ihre Expressivität und Signalfunktion völlig. Was während des Weltjugendtags vielmehr beobachtbar war, ist ein gleichsam spielerisches Vergnügen, Medialität und Sakralität, jugendkulturelle Selbstbestimmung und religiöses Selbstbewusstsein miteinander in Einklang zu bringen. Durch eine expressive Form von religiösem Fantum haben die TeilnehmerInnen gezeigt, dass der Glaube auch etwas Fröhliches sein kann und dass er in das jugendliche Ausdrucksrepertoire passt.
4 Fazit: Doing religious cool culture Wie ein roter Faden, so lassen sich unsere Eindrücke und Recherchen auf dem XX. Weltjugendtag 2005 in Köln zusammenfassen, durchziehen Bricolage- und Crossover-Strategien die Aneignungspraktiken der jugendlichen PilgerInnen. Feiern und Beten, das waren dabei die beiden Pole resp. Sphären, die sich in immer neuen Konstellationen und Mischungsverhältnissen durchdrungen haben. Für diese Symbiose aus religiösen und jugendkulturellen Elementen haben wir – in Anlehnung an das „Doing Culture-Konzept“ (Hörning/Reuter 2004) – den Begriff der „doing religious cool culture“ gewählt. Zum Ausdruck gebracht wird damit zunächst einmal die stimmungsmäßige Aufladung eines religiösen Handlungsfeldes. Denn für die beteiligten Jugendlichen war der Weltjugendtag eine Religionsparty im Megaformat. In souveräner Manier demonstrierten sie, dass religiöse Erfahrungen und Partymachen durchaus zueinander passen können. Spaß und Spiritualität, laute Musik und stille Andacht, ekstatisches Tanzen und kontemplative Beichtgespräche bildeten keine Gegensätze im Sinne voneinander abgeschotteter Lebensbereiche, sondern wurden als integraler Bestandteil einer lebensweltlichen Religiosität wahrgenommen. Vor allem in den Gottesdiensten waren die Sowohl-als-auch-Strategien im Sinne einer doppelten Situationsrahmung in konzentrierter Form beobachtbar: Denn die Jugendlichen wollten den Gottesdienst als Party erleben und in der Party wollten sie ihren Glauben ausleben.
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Aber sakrale und profane Handlungs- und Sinnfelder wurden auf dem Weltjugendtag nicht nur als miteinander verkoppelt wahrgenommen, sondern sie verschmolzen auch regelrecht miteinander. Dies zeigt sich nirgendwo deutlicher als an der religiösen Imprägnierung des populärkulturellen Zeichen- und Symbolbestandes. Ob Sticker, T-Shirts, Frisuren oder Handy-Logos, für die religiösen Coolhunters auf dem Weltjugendtag bildeten sie eine Fundgrube anlassbezogener Umgestaltung und Expressivität. Dieses Anzapfen und Transformieren des schier unerschöpflichen stilistischen Zeichenreservoirs und damit verbundener Bastel- und Rekontextualisierungsstrategien gehört zu den Basisaktivitäten einer jeden Jugendkultur, die auf diese Weise eine eigene Theatralik und ein eigenes System symbolischer Handlungsformen erzeugt, dem eine starke distinktive Kraft zukommt. Die religiöse Umdeutung der populärkulturellen Elemente und Stilsprache verweist aber noch auf eine zweite Distinktionsebene. Denn die Jugendlichen signalisieren durch die religiös getönten Stilpraktiken ihre Zugehörigkeit zur Weltjugendtagsgemeinschaft gläubiger Christinnen und Christen, für die Glaubens- und Spiritualitätserfahrungen in neuen Kontexten und Formen möglich sind. In dieser zweiwertigen Distinktion jugendlicher Emblematik, in der gleichzeitig populärkulturelle und religiöse Verweisungen sichtbar werden, zeigt sich nachdrücklich, dass die Grenzen zwischen heiligen und weltlichen Sinnwelten und Ritualformen durchlässig geworden sind. Die von Michael Ebertz (2000) als „Transzendenz im Augenblick“ diagnostizierte weltjugendtagsspezifische Religions- und Spiritualitätserfahrung rekurriert genau auf diesen Sachverhalt. Die individualisierte und amalgamierte Religionspraxis Jugendlicher, die sich aufgrund der allgemeinen Subjektivierung und Privatisierung des Religiösen immer weniger an sichtbaren Vorbildern orientieren kann, findet zudem auf dem Weltjugendtag eine publizitätswirksame Bühne, um sich mit Gleichgesinnten öffentlich zum Glauben zu bekennen. Zu erleben, so bringt eine junge Irin ihre Gemeinschaftserfahrungen auf den Punkt, „that there are lots of young people like me“, war einer der wichtigsten und nachhaltigsten Eindrücke, die die Jugendlichen während des Weltjugendtags gemacht haben. Dieser Aspekt gewinnt vor allem deshalb an Bedeutung, weil ein Teil der Anwesenden als Gläubige bzw. als bekennende Katholiken im Alltag massiven Marginalisierungserfahrungen ausgesetzt ist. Denn offen und ungezwungen ihre Glaubenszugehörigkeit zu zeigen und zu bezeugen, ist in den plural verfassten Gesellschaften der Spätmoderne keineswegs eine Selbstverständlichkeit. Im Gegenteil, vor allem Jugendliche aus mittel- und nordeuropäischen Ländern sind in ihrem Alltag sehr viel eher mit einer Art von ‚katholischer Diasporasituation‘ konfrontiert, die ihre religiöse Haltung auf die Hinterbühne verbannt. Was hier zum Ausdruck gebracht wird, verweist auf einen wichtigen Aspekt der neueren religionsund jugendsoziologischen Forschung: Danach gibt es nicht nur einen Trend zur „unsichtbaren Religion“ im Sinne Luckmanns (1967), sondern auch – und vielleicht noch stärker – zur unausgesprochenen Religion. In einem sich selbst verstärkenden Prozess religiösen Schweigens als Reflex auf die Selbstwahrneh-
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mung als Minderheit, erscheint Religion kommunikativ vielfach als nicht existent. Aus Angst, in eine Minderheitenposition gedrängt zu werden oder als uncool zu erscheinen, werden Religions- und Glaubensfragen privatisiert und invisibilisiert. Wie sehr die religiöse Schweigespirale sich in die Jugendmentalität bereits eingespurt hat, verdeutlicht folgende Feststellung einer Weltjugendtagsteilnehmerin aus Thüringen: „Ich glaube, dass Jugendliche insgeheim viel stärker an Religion und Glaubensfragen interessiert sind, als es den Anschein hat“. Der Weltjugendtag ist vor diesem Hintergrund ein prototypisches Beispiel dafür, wie eventisierte und performative Formen des Religionsbekenntnisses gleichsam institutionell abgesichert werden. Inwieweit sie sich damit in den allgemeinen Trend einer „Ausweitung der Bekenntniskultur“ (Burkart 2006) einordnen lassen, bleibt abzuwarten.
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Visual kei: Vom Wandel einer ‚japanischen Jugendkultur‘ zu einer translokalen Medienkultur Marco Höhn
1 Visual kei, Cosplay, Otaku – ein verwirrend fremdartiger Wandel in der Welt der Jugendmedienkulturen wirft seine Schatten voraus „Die ganze Geschichte braucht natürlich einen wahnsinnigen Platzaufwand. Also jetzt hab’ ich 1,7 Terrabyte inzwischen schon, also nur Dramen und Animes. Ich hab’ mir noch ’ne neue Festplatte gekauft, davon hab’ ich jetzt fünf. Ja, das ist nicht wenig. Hier sind die DVDs, das sind dann 380 und 140 und 160.“ Also knapp 700. Auf eine DVD passen wieviele Folgen? „Kommt darauf an, Dramen sind es manchmal nur fünf, manchmal zwölf. Kommt immer darauf an, wie gut die sind, qualitativ. Und ’ne Anime-Serie, da gehen rund 20 bis 26 Folgen drauf. Ich hab’ auf dem Rechner ’ne große Excel-Datei, wo alles drin steht, geht ja nicht anders.“ Hast Du Dir denn das alles angeschaut? „In letzter Zeit hab’ ich wenig Zeit. Arbeit und Freunde halt. Nachdem ich damals mit meiner Freundin auseinander war, hab’ ich mir ein halbes Jahr jeden Tag eine DVD reingezogen, also eine Staffel. Mittlerweile sind es aber nur noch so 70 Prozent, die ich gesehen hab’.“ Und Musik? „Naja, ich hab’ mir ja gerade aus Versehen 250 Gigabyte Musik geschrottet, als ich Windows neu auf einer Wechselfestplatte installieren wollte. Also, da hab ich jetzt nicht mehr so viel, vielleicht noch mal 250 Gigabyte“ (Karl, 23 J.).
Dieser kurze Ausschnitt aus einem Interview mit einem Fan japanischer Populärkultur, der sich auch selbst wohl ziemlich treffend und nicht ohne Stolz mit dem japanischen Begriff ‚Otaku‘1 bezeichnet, zeigt schon, wie sehr gerade Entwicklungen in den neuen Medien zu einem quantitativen, aber auch qualitativen Wandel jugendlicher Medienrezeption und -aneignung geführt haben. So ist dann Kellner (1997: 311) auch zuzustimmen, der schon vor 10 Jahren sehr treffend festgestellt hat, was heute deutlich sichtbar wird: „Die heutige Jugend ist die erste Generation, die erste Gruppe, die von Beginn an Kultur als Medien- und Computerkultur kennengelernt hat. Jugendliche spielen Computer- und Videospiele, ihnen steht ein Überangebot an Fernsehkanälen zur Verfügung, sie surfen durch das Internet, schaffen Gemeinschaften, soziale Beziehungen, Gegenstände und Identitäten in einem ganz und gar neuen und originären kulturellen Raum.“
1 Grassmuck (2002: 74) definiert den ‚Otaku‘ als „ein zurückgezogenes, scheues Wesen, das monomanisch einem Interessensgebiet nachgeht, in dem Bestreben, dieses vollkommen zu beherrschen, darin Meisterschaft zu erlangen und dafür nur zu bereitwillig den Preis zu zahlen, alles andere völlig auszublenden.“
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Einen dieser ganz und gar neuen kulturellen Räume besetzt die originär japanische Jugendszene Visual kei, als Teil eines relativ jungen Neuaufkommens japanischer Populärkultur in Europa und Nordamerika. Im Folgenden soll gezeigt werden, wie die Mediatisierung von Kultur den Wandel sozialer Beziehungen in Gemeinschaften hin zu translokalen Jugendmedienszenen wie Visual kei beschleunigt, welche den Zyklus von Produktion, Repräsentation und Aneignung zur ständigen kommunikativen Neukonstituierung virtuos einsetzen. Hierzu werden nach einer theoretischen Beschäftigung mit der Deterritorialisierung von Kultur durch Mediatisierung und dem Wandel von Jugendkulturen zu posttraditionalen Medienszenen die Visual kei-Szene an sich, die Bildung von SzeneNetzwerken zur Produktion, die Bedeutung von szeneeigenen Web 2.0Angeboten im Internet für die Reproduktion und Cosplay als szenespezifische Aneignungspraktik genauer betrachtet.
2 Translokale Medienkulturen Versteht man Kultur als „die Summe der verschiedenen Klassifikationssysteme und diskursiven Formationen […], auf die Kommunikation Bezug nimmt, um Dingen Bedeutung zu verleihen“ (Hepp 2007: 4, in Anlehnung an Hall 2002) vor dem Hintergrund der Mediatisierung des Alltags, also einer wachsenden Zahl von Medien aller Typen verbunden mit einer gesteigerten Aufmerksamkeit und Bedeutung dieser Medienangebote für sämtliche Lebensbereiche (vgl. Krotz 2001), so kommt man nicht umhin, Kultur auch als nahezu vollständig mediatisiert, also als Medienkultur zu begreifen, da Kultur außerhalb von medialen Bezügen vermittelt kaum noch vorstellbar ist (vgl. Hepp 2007). Hepp (2004: 187) sieht in seinem Kreislauf von Medienkultur drei Ebenen: „Medienkultur wird hier im Kern als durch drei Artikulationsebenen vermittelt gedacht, nämlich erstens die Produktion von verschiedenen materiellen und immateriellen Kulturprodukten, zweitens die diskursiven Repräsentationen, die diese ausmachen und drittens die Aneignung dieser Kulturprodukte. Wichtige Momente, die quer zu diesem Kernkreislauf zu fassen sind, sind die kulturelle Regulation beispielsweise durch die Politik und die Identifikation, d.h. die Artikulation bestimmter kultureller Identitäten.“
Diese Entwicklung im Verständnis von Kultur zu Medienkultur kann dabei nicht losgelöst gesehen werden von einem weiteren Wandel von (Medien-)Kultur im Rahmen der Globalisierung, nämlich dem Hinzukommen von deterritorialer (also translokaler) (Medien-)Kultur zu territorialer (lokaler, z.B. nationaler) (Medien-)Kultur. Deterritoriale Medienkultur hat den direkten Bezug von Kultur zu bestimmten geografischen oder sozialen Territorien verloren (vgl. Tomlinson 1999 und García Canclini 1995). Mediatisierung erfolgt dann also nicht mehr nur auf (lebens-)naher lokaler Ebene, sondern ermöglicht auch kommunikative Verbindungen, also Konnektivität, über das Lokale hinaus hin zu unterschiedlichen und fernen kulturellen Kontexten, sodass insgesamt nunmehr von
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einem Netzwerk auszugehen ist, in dem die Lokalitäten bestehen bleiben, ohne dass es zwangsläufig zu kultureller Nähe oder gar zu einer Homogenisierung kommen muss, in dem sich Konnektivität also mal mehr und mal weniger verdichtet. Hier kann es zudem zu einer reterritorialen Reaktion kommen, indem innerhalb der verstärkten kommunikativen Konnektivität zwischen den Lokalitäten dennoch, oder gerade auch verstärkt, lokale Bezüge besonders betont werden (vgl. Hepp 2004). Translokale Medienkultur ist also sicherlich keine Nationalkultur – vielmehr lassen sich darunter eine Vielfalt von Vergemeinschaftungsformen verstehen, deren Sinn und Bedeutung weit über lokale Bezüge hinausweisen und in deterritorialer kommunikativer Konnektivität ausgehandelt werden, deren Relevanz für den Einzelnen aber weiterhin auf lokaler Ebene zu suchen ist. „Die Konzepte der Konnektivität und Deterritorialisierung helfen also zu fassen, dass einerseits die Vorstellung territorial rückbezüglicher Abgeschlossenheit kommunikativer Räume nicht mehr haltbar ist, gleichzeitig Lokalität als Referenzkategorie nicht sinnvoll aufgegeben werden kann. Menschen leben als physische Wesen zwingend an bestimmten Orten, die ihren Lebensmittelpunkt darstellen. Es ist das Lokale, d.h. solche Netzwerke von erreichbaren Lokalitäten, das in dem kommunikativen Netzwerk der Konnektivität für den Einzelnen bzw. die Einzelne der primäre Fokus des Alltags ist“ (Hepp 2002: 874).
Solche kommunikativ-konnektiv konstruierten, also vorgestellten Gemeinschaften sind z.B. Jugendkulturen, bzw. -szenen.
3 Jugendkulturen und -szenen In der jugendsoziologischen Literatur wird immer wieder über frühe Erscheinungsformen von Jugendkulturen berichtet, beginnend etwa bei den ‚Wandervögeln‘ an der Wende zum 20. Jahrhundert (vgl. Ferchhoff 1999), dennoch sind Jugendkulturen eher ein Phänomen, welches sich nach dem 2. Weltkrieg als attraktives Bewältigungsangebot für die Umbrüche in der Adoleszenz und darüber hinaus entwickelt haben, allerdings immer zeit- und gesellschaftsabhängig, da „Jugend und ihr Erscheinungsbild keine anthropologische Konstante“ (Vogelgesang 1994: 3) darstellt. Den nach ‚Entdeckung‘ von Jugendkulturen als eigenständige Vergemeinschaftungsformen häufig verwendeten Begriff der ‚Jugendsubkultur‘ haben Vertreter der Cultural Studies in Großbritannien näher beleuchtet. So wurden vor allem Jugendkulturen der Arbeiterklasse und die Beziehungen zwischen Arbeits- und Lebensbedingungen und den kulturellen Hervorbringungen untersucht. Kultur wird hier als die einer bestimmten sozialen Großgruppe oder Klasse gesehen und so entsprechend Jugendkulturen als Untereinheiten von Klassenkulturen. Diese stehen einerseits in einer Beziehung zu ihrer ‚Stammkultur‘, d.h. vor allem, dass sie von der gleichen Grundproblematik der jeweiligen Klasse geprägt sind, andererseits weisen sie eine deutlich eigene Gestalt und Struktur
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auf – sie bleiben allerdings immer der hegemonialen Kultur untergeordnet. Trotz Kritik an der Elternkultur (Stammkultur) herrscht somit immer noch ein Klassenbewusstsein im Protest gegen die dominante Kultur. Der Begriff der ‚Subkultur‘ betont also die explizite Absetzung jugendkultureller Strömungen von der Normalität der ‚Stammkultur‘ und den Versuch des Widerstandes und der Veränderungen aus der eigenen Klasse, also ‚von unten‘ gegenüber der hegemonialen Kultur. So stellten jugendliche Subkulturen eine Konsequenz aus der unzureichend gewordenen Gesellschafts- und Erziehungsstruktur der 50er Jahre dar. Diese Orientierung in altershomogenen Gruppen, den ‚peer-groups‘, ersetzte Sozialisierungsdefizite von Familie, Schule und Ausbildung (vgl. Baacke 1993; Hepp 1999).
3.1 Jugendkulturen als individualisierte Vergemeinschaftungsformen Die heutige Entwicklung im jugendkulturellen Bereich ist jedoch deutlich von gesellschaftlichen Entwicklungstendenzen geprägt, die üblicherweise unter dem Stichwort der ‚Individualisierung‘ zusammengefasst werden. Dies bedeutet, dass Menschen aus ursprünglichen Norm vorgebenden und sozial bindenden Instanzen wie Familie, Religion, Geschlecht und eben auch sozialer Klasse herausgelöst werden und diese an Prägekraft verlieren, was zu einem Verlust an Sicherheit hinsichtlich Normen, Glauben und Handlungswissen führt. Individualisierung bedeutet jedoch „nicht Atomisierung, nicht Vereinzelung, nicht Vereinsamung, nicht das Ende jeder Art von Gesellschaft“ (Beck/Beck-Gernsheim 1993: 179), sondern immer auch eine neue Art der sozialen Einbindung in der Form, dass Biographien selbstreflexiv werden, bzw. dass Identität nicht mehr vorgegeben, sondern selbst herzustellen ist (vgl. Beck 1986). Mit der Individualisierung geht eine Verlängerung der Jugendphase einher, d.h. vor allem eine ausgedehnte Phase der Schul- und Ausbildung und einer gesteigerten Mobilität bei gleichzeitigem Verfügen über finanzielle Mittel trotz fehlender Erwerbstätigkeit, sodass sich der Übergang in den Erwachsenenstatus allenfalls nur noch über Teilschritte (eigene Wohnung, Berufsbeginn, Heirat, eigene Kinder) ergibt. Zudem erfährt die Sphäre der Freizeit eine enorme Aufwertung, die zum Markt der Möglichkeiten wird, auf dem der Entscheidungszwang der Individualisierung zu einer Ausdifferenzierung und Pluralisierung von Jugendkulturen führt. An die Stelle von milieubezogenen Subkulturen treten also wähl- und abwählbare marktorientierte Freizeitszenen (vgl. Vollbrecht 1997). Jugendkultur wird dabei zum Lebensstil, der nicht mit dem Übergang in den Erwachsenenstatus aufgegeben werden muss. Auffällig ist dabei eine ästhetisierende Überhöhung des Alltäglichen. Dies führt zur Abkehr vom ‚Appellverhalten‘ der kritischen Jugendbewegungen und hin zum ‚Ausdrucksverhalten‘. Anstelle von Protest, Kampf und Veränderung geht es um Selbstdarstellung mit Hilfe exzentrischer Ausdrucksmittel (vgl. Baacke 1993). Der Anschluss an Ju-
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gendkulturen erfolgt heute somit eher situativ als „kurzfristig wirkender Stimulus eines reizvoll erscheinenden Arrangements, aufgrund der Orientierung an Freunden, die das Experiment des Andersseins schon eingegangen sind“ (Baacke 1994: 23). Jugendliche Identitätsentwicklung wird somit zur „Bastelexistenz“ innerhalb dessen, was als „posttraditionale Vergemeinschaftung“ bezeichnet werden kann (vgl. Hitzler/Honer 1994; Hitzler 1998).
3.2 Jugendszenen als posttraditionale Vergemeinschaftungsformen Diese „posttraditionale Vergemeinschaftung“ kennzeichnet die „freiwillige Einbindung des Individuums aus seiner kontingenten Entscheidung für eine temporäre Mitgliedschaft in einer – typischerweise von einer Organisationselite im Zusammenhang mit Profitinteressen stabilisierten und perpetuierten – (vorzugsweise freizeit- und konsumorientierten) sozialen Agglomeration“ (Hitzler 1998: 82).
Die Mitgliedschaft in dieser Gemeinschaft beruht also auf einem freiwilligen Entschluss, ist nicht unbedingt von längerer Dauer und jederzeit kündbar. Das Handeln der Mitglieder folgt nicht geteilten Interessen, sondern erzeugt sie: „Genauer gesagt: sich dem Handeln anzuschließen, ist alles, was es zu teilen gibt. […] Was üblicherweise zu Zeiten des Karnevals als kurzer Bruch der Kontinuität, als fröhliche Aufhebung des Zweifels zum Vorschein kommt, wird nun zum Lebensmodus“ (Baumann 1995: 354).
Maffesoli (1988) betont dabei die emotionale Hingabe als Merkmal der Zusammengehörigkeit. Wichtig für den inneren Zusammenhalt ist Distinktion, wobei die Gemeinschaft nach außen vorgeführt und dabei nach innen als Realität konstruiert wird. Es entsteht eine Dialektik von In- und Ausgrenzung, es wird sowohl ständig das ‚Anderssein‘, als auch die Zusammengehörigkeit betont. Dabei werden die Grenzen nach innen und außen instabil und fließend, sodass sich bei den Mitgliedern oftmals die Idee einer deterritorialisierten, lebenslagen-, milieu- und grenzüberschreitenden Gemeinschaft entwickelt (vgl. Hitzler 1998). Diese Vorstellung von Gemeinschaft bildet die Basis von Jugendszenen. Szenen sind „thematisch fokussierte kulturelle Netzwerke von Personen, die bestimmte materiale und/oder mentale Formen der kollektiven Selbststilisierung teilen und Gemeinsamkeiten an typischen Orten und zu typischen Zeiten interaktiv stabilisieren und weiterentwickeln“ (Hitzler/Bucher/Niederbacher 2001: 20). Szenegänger orientieren sich bei der kommunikativen Konstituierung bzw. Konstruktion gemeinsamer Interessen über den Gebrauch von szenespezifischen Symbolen, Zeichen und Ritualen an einem jeweiligen thematischen Rahmen (ein Musikstil, Konsumgegenstände, politische Weltanschauungen, eine spirituelle Idee, etc.), was jedoch zu einer unterschiedlichen raumzeitlichen Reichweite bzw. Verbindlichkeit der (Selbst-)Inszenierung in verschiedene Lebensbereiche führt, obwohl Szenen nur dadurch existieren und sich etablieren, dass ihre Präsenz auch von Außenstehenden wahrgenommen wird. Hierbei liegen aller-
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dings kaum Sanktionsmechanismen vor, sodass Szenen per se instabile Gebilde sind (vgl. Hitzler/Bucher/Niederbacher 2001). Da sich Szenen also nur in ihren kommunikativen Handlungen manifestieren, kommt dem Erwerb von szenetypischen Wissensbeständen, Attitüden, Signalen etc. eine zentrale Rolle zu – bei dieser Aneignung stellen Medien eine nicht zu unterschätzende Ressource dar.
3.3 Jugend und Medien Nach wie vor gilt: „Jugendzeit ist Medienzeit und Jugendszenen sind vermehrt Medienszenen“ (Vogelgesang 1997: 13). Der Umgang Jugendlicher mit Medien aller Arten war und ist seit jeher nicht etwa nur von passiver Rezeption, sondern vor allem von aktiver Aneignung geprägt. Dies zeigen Studien seitdem, wie erwähnt, Jugendkulturen an Bedeutung erfahren haben, wobei vor allem Musik und Film, später auch Fernsehangebote als Ressource und Kristallisationspunkt von Jugendkulturen und -szenen untersucht wurden (vgl. z.B. Vogelgesang 1991; Baacke 1997). Zusammengefasst lässt sich sagen, dass Medien folgende Aneignungsmöglichkeiten bieten (vgl. z.B. Vogelgesang 1997; 1999 sowie Grassmuck 2000): x Medien sind ‚Identitätsmärkte‘, auf denen Jugendliche Selbstinszenierungsstrategien auswählen und ausprobieren können, um darüber eine personale wie soziale Identität auszubilden; x Medien sind ‚Kompetenzmärkte‘, auf denen Jugendliche szeneeigenes Wissen und Bedeutungen erwerben und vertiefen können und so eine spezifische Medienkompetenz und einen hohen Spezialisierungsgrad entwickeln, der weit über mediales Alltagswissen hinausreicht; x Medien sind ‚Emotionsgeneratoren‘, mit deren Hilfe sich Jugendliche rational ‚Affektnischen‘ suchen um szenetypische Erlebnisformen als partiellen Ausbruch aus dem alltäglich wirkenden Zivilisationsprozess auszuleben; x Medien stellen selbst Angebote dar, um deren Inhalte (im Medienfantum wie z.B. bei den ‚Trekkies‘), aber auch um deren Erscheinungsform (man denke nur an die Apple-Freaks) sich Szenen bilden oder auch Einzelne sich z.B. zu ‚Freaks‘, ‚Geeks‘ oder ‚Otaku‘ entwickeln können. Gerade neuen Medien, aktuell vor allem den Angeboten des Web 2.0, muss dabei mehr Beachtung geschenkt werden, da hier neue, vernetzte, on-/offlinegemischte Lebens- und Erlebnisräume geschaffen werden, die alles bisher Dagewesene in den Schatten stellen, aber mittlerweile für Jugendliche längst Teil ihres Alltages geworden sind, ohne dass die Jugendsoziologie oder die Kommunikationswissenschaft ausreichend Kenntnis davon hat. Im Folgenden soll nun die Bedeutung gerade von neuen Medien in der Entwicklung der als ‚japanisch‘ wahrgenommenen Jugendszene Visual kei in Richtung einer translokalen Me-
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dienkultur näher beleuchtet werden. Dabei sollen in Orientierung an den eingangs vorgestellten ‚Kreislauf der Medienkultur‘ vor allem zwei Ebenen betrachtet werden: die Ebene der Produktion und Repräsentation, wobei hier die Frage interessiert, welche translokalen Inhalte im Szenediskurs angeboten werden und die Ebene der Aneignung, wobei hier die Frage ist, wie im Verlauf der Aneignung die Inhalte kulturell transformiert und lokalisiert werden – dies alles vor dem Hintergrund des fraglichen Ablaufs der Konstituierung von individueller, aber vor allem kollektiver (Szene-)Identität. 4 Die Jugendszene Visual kei „Die Musik ist ein Hammer. Aber man sieht sie auch gerne. Man hört sie nicht nur gerne, man sieht sie auch gerne. Also wie z.B. der Stil, wie die so auftreten, das ist einfach so anders. Die meisten Bands jetzt so in Amerika, die sehen halt auch meistens so normal aus oder einfach nur schwarz gekleidet, und die Japaner haben halt auch wirklich ihren eigenen Stil und Visual kei gibt es wirklich nur in Japan so genau in diesem Stil. Es ist einfach nur krass, weil sie einfach anders sind, und das ist schon interessant“ (Lea, 20 J.).
Visual kei (japanisch: vijuaru kei) lässt sich in etwa als ‚optisches System‘ oder ‚visuelle Herkunft‘ übersetzen. Es ist eine Art Sammelbegriff, der sämtliche Szeneaspekte (Musik, Outfit, Medien, Symbole, Rituale etc.) umfasst. Im Kern des Ganzen steht dabei J-Rock, bzw. J-Pop, wiederum ein Sammelbegriff für populäre japanische Musik, welcher viele unterschiedliche Musikstile (Pop, Glam, Rock, Punk, Gothic, Metal, etc.) und sogar Anleihen aus traditioneller japanischer Musik umfasst.2 J-Rock/-Pop entstand schon in den 1980er Jahren in Japan und wurde in den 1990er Jahren mit der Etablierung einiger Stars und ihrer Bands dort sehr erfolgreich. Musikalisch geprägt wurden J-Rock/-PopBands vom westlichen Glam-Rock (z.B. Twisted Sister oder David Bowie), von Batcave und Deathrock (z.B. Alien Sex Fiend oder Siouxsie & The Banshees), von New Wave (z.B. Visage) und auch Post-Punk (z.B. Sigue Sigue Sputnik). Dieser so entstehende musikalische Genre-Mix führt seitdem sogar dazu, dass JRock/-Pop-Bands auf einem einzigen Album sehr verschiedene, teilweise von Lied zu Lied unterschiedliche Musikstile präsentieren. Der Haupteinfluss in der Entwicklung von J-Rock/-Pop-Bands (wie z.B. XJapan, 1997 aufgelöst; Malice Mizer, 2001 aufgelöst; Dir en grey; Moi dix Mois oder D’espairs Ray) lag dabei aber nicht einmal so sehr im musikalischen, sondern vielmehr im visuellen Bereich hinsichtlich der schrillen Outfits, Frisuren und Make-ups. Die ästhetische Erscheinung der Bands, vor allem der einzelnen Musiker, die teilweise zu Superstars und Models wurden (wie z.B. Mana, Gackt, Hyde oder Miyavi), ist der entscheidende Stil prägende Faktor der Visual
2 Im Folgenden wird der Einfachheit halber nur von J-Rock/-Pop die Rede sein, auch wenn sich mittlerweile weitere Musikstile wie z.B. Ero guro oder Angura kei aus dem allgemeinen JRock/-Pop herausdifferenzieren.
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kei-Szene. Die Besonderheit des Visual kei ist also, „dass er von Männern gesungen wird, die sich wie Frauen kleiden; während das Publikum vor allem aus Frauen besteht, die sich wie Männer kleiden, die sich wie Frauen kleiden“, wie es Balzer (2006: 1) treffend formuliert hat. Somit lässt sich zusammenfassen, dass Visual kei, im Unterschied zu bisherigen westlich orientierten Jugendszenen, nicht so sehr eine Kristallisation um Musik(stile), sondern vielmehr um die optische Erscheinung der Musiker darstellt.3 Schon diese Herkunft macht es eigentlich schwierig, von einer ‚japanischen‘ Jugendkultur zu sprechen, da dieses Zusammenbasteln verschiedener ‚westlicher‘ Stile zum J-Rock/-Pop und zur Visual kei-Ästhetik auch schon als eine translokale Produktion und Repräsentation von Medienkultur verstanden werden kann. Da dies allerdings ausschließlich in Japan auf diese Art und Weise ablief, können wir die Bezeichnung der ‚japanischen‘ Jugendkultur dennoch aufrechterhalten. Das Aufkommen des J-Rock/-Pop und die Aneignung der extrovertierten optischen Erscheinung seit den 1990er Jahren korrelierte immer schon mit den Bedürfnissen japanischer Jugendlicher nach Möglichkeiten des Ausbruchs aus einem Alltag, der nach wie vor, geprägt durch eine (gerade für westliche Verhältnisse) sehr strenge Erziehung in Schulen und Elternhäusern sowie weiteren gesellschaftlichen Schranken und Tabus (z.B. was das Thema traditionelles vs. modernes Geschlechterrollenverständnis sowie auch Sexualität angeht), als sehr einengend und unfrei erlebt wird (vgl. Fukuzawa/LeTendre 2001 und KreitzSandberg 1994). So entwickelte sich ein stiller, aber schriller Protest durch die ästhetische Selbstinszenierung dieser Jugendlichen mittels ihrer auffälligen und aufwändigen Kostümierungen an Wochenenden und Feiertagen sowie zu Konzerten auf öffentlichen Plätzen, vor allem auf dem Harajuku-Platz in Tokio. Hier sind sie mittlerweile sogar zu Touristen-Attraktionen und beliebten FotoMotiven geworden. Nicht zuletzt darüber sind auch westliche Medien auf dieses Phänomen aufmerksam geworden, doch erst der Manga- und Anime-Boom und vor allem die Verbreitung von J-Rock/-Pop über das Internet mittels des mp3Formates brachten Visual kei um die Jahrtausendwende allmählich nach Europa, wie aus den qualitativen Leitfadeninterviews mit Szenemitgliedern zu erfahren ist.4
3 Darüber hinaus und in Abgrenzung zur Visual kei-Szene gibt es aber auch in Deutschland Fans des J Rock/-Pop, die ausschließlich an der Musik interessiert sind. 4 Mehr zu Visual kei in Deutschland bei Höhn (2007) oder unter www.jugendszenen.com.
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5 Formen szenespezifischer Produktion, Repräsentation und Netzwerkbildung im Internet „Ich kenne einige Japaner, auch durch Internet und ja, ich hab’ mit vielen Leuten Kontakt in Japan. So in Japan sprechen jetzt nicht viele Englisch, sag’ ich mal so, aber einige und die, die ich kenne sprechen halt auch sehr gut Englisch, deswegen kann ich gut mit denen kommunizieren“ (Lea, 20 J.). „Ja, ich investiere da sehr sehr viel Zeit drin. Ähm, ich komme um 16 Uhr 30 nach Hause, klick’ die neuesten Dinger an, die ich runterladen kann und knall’ mir eigentlich bis 1 Uhr morgens den Kopf damit voll, also es gibt massig da, das mache ich jetzt seit fast 2 Jahren und, äh, es ist irgendwie kein Ende in Sicht. (lacht) Na gut, ich mache natürlich auch am Wochenende noch was anderes, aber ich investiere da sehr viel Zeit drin“ (Lena, 21 J.).
Um die Jahrtausendwende herum verbreiteten sich erste mp3-Dateien mit harter gitarren-orientierter Musik, unterlegt mit fremdartig klingendem Gesang in japanischer Sprache über noch relativ unbekannte Foren im Internet – dies war der zaghafte Beginn des Siegeszuges von J-Rock/-Pop in Europa und Nordamerika. Heute stellen sich Produktions- und Aneignungswege der Visus, so die Eigenbezeichnung der Visual kei-Szene, dank des technischen Fortschrittes ganz anders dar. Zudem spielen neben dem Austausch von Musik vor allem Musikvideos, aber auch Animes und japanische Fernsehserien eine große Rolle im Szeneleben. Als Beispiel seien hier nur die sich auf das peer-to-peer-Verfahren stützenden Austauschplattformen tokiotosho.com, hentaikey.com und jpopsuki.com genannt. Hier finden sich nahezu sämtliche auf dem japanischen Markt verfügbaren Musikstücke, Musikvideos, Animes und Fernsehserien (auch Dramen genannt). Der Produktionsablauf erfolgt dabei hauptsächlich in konnektiven, translokalen Netzwerken: Japanische Mitglieder der Netzwerke machen digitale Aufnahmen von Animes, Dramen und Musikvideos aus dem japanischen Fernsehen bzw. wandeln analoge Musikstücke in digitale Dateien um, und stellen diese auf Plattformen wie den oben genannten zu Verfügung. Die Anime- und Serienfolgen laden europäische oder nordamerikanische Gruppen der Netzwerke herunter, übersetzen die Dialoge und versehen die Bilder mit englischen, deutschen, französischen oder spanischen Untertiteln. Das Ergebnis wird dann allen Nutzern zur Verfügung gestellt, wobei erwartet wird, dass Mitglieder, die des Japanischen mächtig sind, sich an Übersetzungsgruppen beteiligen, sowie dass nicht nur Dateien heruntergeladen, sondern auch im gleichen Maße eigene Dateien zur Verfügung gestellt werden – andernfalls werden Mitglieder als Leacher (Blutegel) gebrandmarkt und ausgeschlossen. Auf diesem Weg lassen sich mit einem schnellen Internetzugang ganze Bibliotheken mit ursprünglich japanischen Medieninhalten erstellen. So lassen sich dann etliche ‚Otaku‘ auch in deutschen Szenezusammenhängen finden, die aufgrund ihrer speziellen Kompetenz diesen nicht immer ganz legalen ‚Markt‘ beherrschen. Weitere translokale konnektive Netzwerke lassen sich im Internet vor allem im Web 2.0-Bereich finden. Angebote wie MySpace.com schaffen erstmals
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überlokale Möglichkeiten des Austauschs von Szenewissen und -informationen, der Selbstdarstellung von Einzelpersonen und auch des Austestens von Identitäten, wie sie sicherlich auch bei anderen Jugendszenen ablaufen, aber gerade für Visual kei konstitutiv notwendig sind, wie im folgenden Kapitel noch erläutert wird. Deutsche Szenemitglieder haben hier die Gelegenheit, mit Jugendlichen in Japan, mit der japanischen Szeneelite und mit Bands in Kontakt zu kommen, um heiß begehrte Informationen darüber zu erhalten, was gerade in Japan ‚en vogue‘ ist, wo angesagte Kleidung zu bekommen ist oder zumindest wo Fotos zur Vorlage für das eigene Schneidern zu sehen sind, welche Bands neue Musikstücke herausgebracht haben und vor allem wie die Bandmitglieder nun aussehen. Auch das Alltagsleben in Japan wie in Deutschland sind Themen, über die man sich austauscht, hier vor allem über die ‚üblichen‘ Probleme Jugendlicher mit Eltern, Schule, Freundeskreis und Liebesbeziehungen – allerdings doch eher in kurzer, oberflächlicher Art und Weise. Die visuelle Selbstdarstellung, beidseitig gepaart mit Lob und Kritik darüber, scheint hier einfach zu verführerisch zu sein und nimmt den größten Stellenwert ein. Auch auf lokaler Ebene ist es ein Web 2.0-Angebot, welches als wichtigstes Medium der deutschen Visual kei-Szene zu bezeichnen ist: Animexx.de war ursprünglich ein Online-Portal für Anime- und Manga-Liebhaber, hat sich aber mit ca. 100.000 registrierten Mitgliedern längst zum größten und bedeutsamsten deutschsprachigen Internet-Angebot für Fans japanischer Populärkultur (also außer Visus auch Cosplayer, Gothic Lolitas, Computer- und Rollenspieler usw.) entwickelt. Da hauptsächlich nur in Großstädten größere Ansammlungen von Visual kei-Szenemitgliedern zu finden sind, wird animexx.de als virtueller Treffpunkt genutzt, um sich dort auszutauschen. Hier sind nicht nur Selbstdarstellungen und Szeneinformationen über Events ein wichtiger Teil der Kommunikation. Einen bedeutenden Stellenwert nehmen ‚Eigenproduktionen‘ der Szene ein, also Fan-Art wie die dojinshi und selbst aufgenommene Fotos von Cosplayern. Dojinshis sind selbstgezeichnete Mangas, deren Geschichten entweder frei entwickelt sind, sich an bestehenden Mangas orientieren oder diese weitererzählen. Diese teilweise auf höchstem Niveau produzierten Zeichnungen verknüpfen häufig sehr kreativ japanische und deutsche Themen miteinander, von harmlosen Kindergeschichten bis hin zu eher drastischen Darstellungen von Gewalt und Sexualität. Dojinshis sind unter den animexx.de-Usern äußerst beliebte Kulturformen und auch wieder Gegenstand der gegenseitigen Bewertung, über die ein schneller Aufstieg zur Szeneelite möglich ist. Gerade für Visual kei sind aber Aneignungsformen wie Cosplay von besonderer Bedeutung, wie sie im Folgen den ausführlicher dargestellt werden.
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6 Cosplay – ein szenespezifisches Aneignungsphänomen „Also klar, das macht schon Spaß, ab und zu mal sich zu verkleiden wie Mana oder so. Und dann musst Du so, na ja, irgendwie exhibitionistisch drauf sein, ist klar. Sich so zu zeigen ist schon geil irgendwie. Dazu schneidert man sich dann auch das Zeug zusammen. Also ich kenne nur ein paar, die das nicht machen. Ja also die Kostüme nachzumachen und sich so zu stylen und so“ (Jana, 19 J.).
Cosplay (japanisch: kosu-purei) setzt sich aus den Begriffen ‚costume‘ und ‚play‘ zusammen, findet sich nicht nur in der Visual kei-Szene wieder und ist zudem auch kein neues Phänomen. Die Herkunft von Cosplay ist auch unter der Szeneelite umstritten. Diese berichtet davon, dass Cosplay in den USA bei Science Fiction-Fans entstand, aber erst in Japan zum Begriff und dort zur Perfektion getrieben wurde. Andererseits sind auch hier Parallelen zum traditionellen japanischen Kabuki-Theater zu finden, bei dem Männer durch Verkleidung, Make-up und besonders stilisierte Posen in Frauen-Charaktere schlüpfen mussten, da Frauen das öffentliche Theaterspielen verboten war. Bei Cosplay geht es darum, sich einen Charakter aus einem Manga, einer Anime-Serie, einem Computer-Spiel oder eben im Falle der Visual kei-Szene einen Solokünstler oder ein Bandmitglied aus dem J-Rock/-Pop-Bereich auszusuchen und sich dementsprechend möglichst originalgetreu zu kostümieren. Zudem werden typische Posen, bei Visual kei auch Tanzschritte und kurze Gesangsstücke einstudiert, um dem Original täuschend echt zu entsprechen. Diese totale Identifizierung mit dem Charakter macht somit den großen Unterschied zum Verkleiden an Karneval oder Halloween aus. Cosplay findet nicht alltäglich, sondern fast ausschließlich auf großen Szeneevents statt und dann auch nicht nur zum Spaß, sondern vielmehr um sich mit anderen Cosplayern in einem Wettbewerb zu messen und sich fotografieren zu lassen: „In dem merkwürdigen Königreich Otaku, oder Fanatics, ist es möglich, ein Kostüm zusammenzustellen und vom Möchtegern zum Star zu werden, auch wenn es nur für eine kurze Zeit ist. Es ist sogar möglich, Ruhm kennen zu lernen, wenn man für die Paparazzi auf einer Convention oder einer anderen Cosplay-Veranstaltung posiert“ (Cahill 2003: 4f.).
Etablierte Szeneevents in Deutschland sind neben kleineren Visual Treffen (ViT) in verschiedenen Städten die mit ca. 10.000 Besuchern größten jährlich stattfindenden Conventions Animagic in Bonn und Connichi in Kassel. Hier finden sich alle schon erwähnten Spezialszenen der Fans japanischer Populärkultur wieder, deren Showacts und Cosplay-Wettbewerbe aber voneinander getrennt ablaufen. Trotzdem bilden sie den zentralen Höhepunkt einer jeden Convention. Bei Cosplay-Wettbewerben der Visus werden in einer begrenzten Zeitspanne Gesangs- und Tanzvorführungen dargestellt, die von einer Jury bewertet und mit Werbegeschenken (bis hin zu Flugtickets nach Japan) honoriert werden. Von besonderer Bedeutung sind dabei die Kriterien ‚Ähnlichkeit mit dem Original‘, ‚Kreative Fertigung des Kostüms‘ (hier sind gekaufte Kostüme nicht gern gesehen), ‚Interpretation des Charakters und Performance‘ sowie ‚Zuschauerreaktionen‘. Allgemein lässt sich sagen, dass ein Szenemitglied um so mehr Prestige in
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seiner Szene erwirbt, je mehr Cosplay-Wettbewerbe er mitmacht und dabei erfolgreich ist. Dies spiegelt sich dann auch in der Anzahl der FotografierWünsche anderer Szenemitglieder und Anfragen von professionellen Fotografen wider, denn die Fotos und die Kommunikation darüber stellen häufig eine noch bedeutsamere Form der Bestätigung und Anerkennung dar. Dabei wird nicht unbedingt nur einfach so, eher zufällig, ein Schnappschuss gemacht. Vielmehr werden auf den Conventions Podeste mit geeigneten Hintergründen zu Verfügung gestellt, auf denen sich Cosplayer in besondere, möglichst charaktertypische Posen werfen und sich teilweise sogar Schlangen von Fotografen bilden, die nacheinander kleine Fotosessions abhalten. Hier wird der Kreislauf-Charakter des eingangs erläuterten Drei-EbenenModells von Medienkulturen (vgl. Hepp 2004) deutlich: Cosplay als Aneignung eines Medieninhalts in Form eines Charakters endet nicht mit dem FotografiertWerden. Fotograf und Cosplayer bzw. verschiedene Cosplayer treffen sich im Anschluss an die Convention online wieder, um die Fotos auszutauschen und nachzubearbeiten (Produktion), darüber eine Anschlusskommunikation zu starten, bzw. in einen größeren, translokal geführten Diskurs, beispielsweise über aktuelle Inszenierungsstrategien und angesagte Outfits, einzutreten (Repräsentation) und sich neue Anregungen für die nächste Convention mit anderem Kostüm zu holen (Aneignung). 7 Fazit und Ausblick: Visual kei als Prototyp eines Wandels? In der Medienkultur der Visual kei-Szene erfolgt Kommunikation häufig über Selbstinszenierung mittels Fotografiepraktiken und Zurschaustellung im Internet, an denen sich das Anknüpfen von Beziehungen und das Szeneleben, also soziales Handeln anschließt bzw. wiederum Auslöser von neuer Kommunikation wird. Hier liegt also eine „technisch umgesetzte, sozial institutionalisierte Transformation kommunikativen Handelns, insoweit dabei das komplexe Potenzial menschlichen Kommunizierens erhalten bleibt und insofern darüber weitere Kommunikation erzeugt wird“ (Krotz 2003: 172) vor, über die sich die Visual kei-Szene konstituiert bzw. immer wieder neu konstituiert. Die Mediatisierung ermöglicht dabei eine ständige kommunikative Rückkopplung an japanische Szenediskurse, die zu einer translokalen Konnektivität, aber eben nicht unbedingt zu einer Homogenisierung der Jugendszene führt. Der lokale Bezug, d.h. z.B. die erreichbaren lokalen Conventions bleiben wichtiger Referenzrahmen und Orientierungspunkt im Szeneleben. Vielleicht kann gerade Visual kei als eine Art Prototyp für neuartige Jugendkulturen betrachtet werden. Es fällt auf, wie sehr die Entwicklungen, die Hitzler, Bucher und Niederbacher (2001) als ‚Verszenung‘ beschrieben haben, hier noch einmal radikalisiert werden: Visual kei ist eine Form der kollektiven ästhetischen Selbststilisierung und -inszenierung, wie man sie in dieser extremen Form
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bei früheren, westlich-orientierten Szenen wie z.B. Punk so nicht beobachten konnte. Ästhetische Selbstinszenierung scheint hier alles zu sein, was zählt. Gemeinsam geteilte politische oder sozialkritische Wertvorstellungen oder gar Ideologien, die aus ähnlichen sozialen Lagen resultieren fehlen fast völlig. Sicherlich müssen Jugendszenen dies heute aber auch gar nicht mehr thematisieren, wie es sich z.B. schon bei der Techno-Szene gezeigt hat. Dennoch geht die Visual kei-Szene hier noch einen Schritt weiter: Während z.B. die Techno-Szene in weiten Teilen parallel in den Großstädten Nordamerikas und Europas auch durch gemeinsam geteilte Entwicklungen und Bedürfnisse entstand, ist Visual kei ein nahezu rein internetbasiertes, globalisiertes Exportprodukt, also eine deterritorialisierte Medienkultur, welche in Deutschland auf ganz andere jugendliche Lebenslagen trifft als in Japan und vielleicht gerade deshalb eher bzw. ausschließlich als visuell-ästhetisches Phänomen funktioniert.
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BilderWelten – KörperFormen: Körperpraktiken in Mediengesellschaften Gabriele Klein
1 Einleitung Seit den 1970er Jahren befinden sich moderne Gesellschaften in einem radikalen Umwälzungsprozess. Dieser zeichnet sich im Feld der Kultur durch ineinander verflochtene und zum Teil gegenläufige Entwicklungen aus. Ob Globalisierung, Informatisierung, Virtualisierung und Mediatisierung oder Eventisierung, Theatralisierung und Musealisierung, all diese Tendenzen haben zu inflationären Neuerfindungen von Gesellschaftskonzepten geführt, die immer jeweils eine Perspektive dieser Transformationen zu fassen versuchen, wie beispielsweise globalisierte Gesellschaft, Performative Society, Informationsgesellschaft, Wissensgesellschaft, Kulturgesellschaft, Inszenierungsgesellschaft oder Mediengesellschaft. Mediatisierung und Informatisierung einerseits und Theatralisierung und Eventisierung andererseits markieren zugleich Pole eines komplexen Spannungsgefüges, in dem der Körperdiskurs sich derzeit bewegt. Denn wenn vom Körper aus medientheoretischer Sicht die Rede ist, wird zumeist die These vom Verschwinden des Körpers zur Diskussion gestellt: Der Körper, so die These im Kontext des sog. ‚iconic turn‘, ist zum Bild geworden. In der kulturwissenschaftlichen Diskussion hingegen erlebt er im Zusammenhang mit dem Konzept der so genannten Performative Society oder Inszenierungsgesellschaft eine Aufwertung: Vor dem Hintergrund des ‚performative turn‘ rückt der Körper wieder in den Mittelpunkt. Er erscheint nicht nur als Produkt, sondern auch als Agens der Wirklichkeitskonstruktion. Dieser Text beschäftigt sich mit den scheinbar widersprüchlichen Prozessen der Mediatisierung und Informatisierung auf der einen Seite, die wir unter ‚kultureller Globalisierung‘ zu fassen versuchen sowie der Theatralisierung und Eventisierung des Sozialen auf der anderen Seite, die sich vor allem im Feld des Lokalen zeigen. Unter der erkenntnisleitenden Frage, wie in Medienkulturen, d.h. in Kulturen der Moderne, in denen technologisch erzeugte Bilder dominieren, diese Bilder soziale Wirklichkeit werden, sollen die beiden bislang zumeist unabhängig voneinander diskutierten kontroversen Perspektiven und körpertheoretischen Positionen zusammengeführt werden. Das diesen Sammelband leitende Thema des sozialen Handelns in Medienkulturen soll dabei unter dem Aspekt des körperlichen Handelns in Bildkulturen thematisiert werden. Wenn also reale Körper nur noch in Bezugnahme auf Körper-Bilder wahrnehmbar
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sind, anders gesprochen: wenn Körperlichkeit, Liveness oder Authentizität nur in Bezugnahme auf Bild-Körper erfahren werden (vgl. Auslander 1999), dann stellt sich die Frage, wie diese Körper-Bilder angeeignet und handlungsrelevant werden. Um dieser Frage nachzugehen, werde ich zunächst die beiden Diskursfelder einer Medialität des Körpers sowie der Theatralität des Körpers skizzieren und ihre Zusammenführung am Beispiel des Fitnesskörpers anschaulich machen. Anschließend sollen performative Aspekte des sozialen Handelns diskutiert werden, indem dieses als körperliches Handeln vorgestellt wird.
2 Die Medialität des Körpers Der Körper hat schon einige Konjunkturzyklen durchlebt. Seit nunmehr fast 30 Jahren befindet sich der Diskurs um den Körper in einer Phase des Aufschwungs. Bereits 1982 verkündeten Dietmar Kamper und Christoph Wulf programmatisch eine „Wiederkehr des Körpers“ (Kamper/Wulf 1982), Ende der 1980er behauptete der Sportwissenschaftler Karl-Heinz Bette eine Aufwertung des Körpers (Bette 1989), und schließlich konstatierte die Literaturwissenschaftlerin Silvia Bovenschen 1997: „So viel Körper war noch nie“ (Bovenschen 1997: 63ff.). Gleichwohl gab es auch immer Gegenstimmen, die „Das Schwinden der Sinne“ (Kamper/Wulf: 1984) oder „Die Zerstörung der Sinnlichkeit“ (Nitzschke 1981), so zwei Buchtitel, anmahnten oder, ganz dem Diktum Horkheimers und Adornos folgten, das ja bekanntlich lautet: „Der Körper ist nicht mehr zurückzuverwandeln in den Leib. Er bleibt die Leiche, auch wenn er noch so sehr ertüchtigt wird“ (Horkheimer/Adorno 1971: 209). Der Leib erscheint hier als Erinnerung, als Gedächtnisspur, der Körper als das Unterlegene, Ausgebeutete. Aus dieser Perspektive wirkt auch der in allen Wissenschaftsdisziplinen anschwellende Diskurs um den Körper wie ein letzter Aufschrei vor dessen endgültigen Verschwinden in die abstrakten Welten virtueller und digitaler Räume. Der Körper also: einerseits Zufluchtsort und Utopie, andererseits Mythos und Erinnerung. Man könnte hier fragen: Hat der Körper, der ja als Garant für die Materialität des Subjektes gilt, keine Gegenwart? Die These, dass der Körper nicht als Identität oder Materialität, sondern als Alterität oder Vorstellung gedacht werden muss, hat Dietmar Kamper (1999) in einem seiner jüngeren Aufsätze stark gemacht. Hier hat er die Wiederkehr des Körpers, die er noch einige Jahre zuvor verkündet hatte, als einen nicht-körperlichen Vorgang beschrieben. Die Wiederkehr des Körpers fände, so sein Resümee, im Bilde statt. Die Körper verschwänden, die Bilder dominierten. Es gäbe selbst eine Dominanz der Bildlichkeit der Körper über die Körperlichkeit der Bilder. Deshalb sei nicht der Körper, sondern das Verhältnis von Körper und Bild in einer Theorie des Körpers ein zentrales Thema.
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Am Beispiel des Fitnesskörpers lässt sich das für die nachmoderne Gesellschaft charakteristische Verhältnis zum Körper, einerseits seine Aufwertung und andererseits seine Bildähnlichkeit, anschaulich machen. Der Fitnesskörper ist ein Bild-Körper. Er ist ein mediales Konstrukt, nicht ein Körper, den Menschen haben oder der sie auch sind. Der Fitnesskörper als Bildkörper entsteht im Kontext der o.g. gesellschaftlichen Umbrüche in den 1970er Jahren oder, wie Michel Serres (1998) es formuliert, im Übergang von den ‚harten‘ zu den ‚sanften‘ Technologien. ‚Harte‘ Technologien sind jene Werkzeuge, von denen die Menschheit seit jeher Gebrauch macht, also alles vom Steinwerkzeug bis zur Atombombe. ‚Sanfte‘ Technologien hingegen sind informationeller Natur. Sie sind keineswegs historisch neu, sodass wir eine lineare Entwicklung von ‚harten‘ zu ‚sanften‘ Technologien unterstellen könnten. Sie sind älter, als wir heute im Kontext der Debatten um die Mediengesellschaft gern glauben wollen und – wie beispielsweise die Schrift – an zivilisatorischen Prozessen entscheidend beteiligt. ‚Harte‘ Technologien besitzen Macht über das ‚Harte‘, beuten es aus, ‚sanfte‘ Technologien entsprechend über das ‚Sanfte‘. Der Körper als materielle Gestalt gilt in unserer Kultur als das ‚Harte‘, als ‚Materie‘, das Gedächtnis beispielsweise als das ‚Sanfte‘, das Ideelle. Der Übergang von den ‚harten‘ zu den ‚sanften‘ Technologien wird aus soziologischer Perspektive als der Transfer von der Industriegesellschaft zur Mediengesellschaft bezeichnet. Mit der Transformation der sozialen Strukturkategorie von Arbeit (in der Industriegesellschaft) zu Kommunikation und Information (in der Mediengesellschaft) verändert sich auch der Diskurs um den Körper und mit diesem die alltäglichen Techniken, den Körper zu gebrauchen. Denn: Die Ökonomien der Mediengesellschaft produzieren und benötigen einen anderen Körper als noch die Industriegesellschaften. Mit der Bedeutungszunahme symbolischer Ökonomien in der Mediengesellschaft entsteht der Fitnesskörper als Bild-Körper – und mit ihm der Markt der Bildproduktionen in den Print- und Bildmedien, den Hochglanzjournalen und den ProminentenShows. In der Industriegesellschaft war der Körper an Körpermaschinen gekoppelt; die Leistungsstärke und physische Kraft des Körpers, die in bestimmten vorgegebenen Zeiteinheiten vollbracht werden mussten, waren notwendig für die ökonomische Produktivität des Systems. Um an die linearen Zeitstrukturen der übergroßen und rauchenden Körpermaschinen der Industriesysteme ankoppelbar zu sein, wurde, so beschrieben es Norbert Elias und Michel Foucault, der humane Körper zivilisiert und diszipliniert, die Struktur des Begehrens, so lehrt uns die Psychoanalyse, entsprechend modifiziert und der Mensch durch religiöse Systeme weltanschaulich vorbereitet. Max Weber hat dies für den Calvinismus nachgewiesen. Der Körper in der industriellen Arbeit – das meint die ökonomische Produktivität kollektiv mechanisierter (proletarischer) Körper in Relation zu den industriellen Körpermaschinen. Mit der Medialisierung der Kommunikation und der Globalisierung der Wirtschaft, der Verlagerung der Produktionsstandorte in andere Kontinente,
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wird in den nachmodernen Gesellschaften der Körper der industriellen Arbeit zunehmend unwichtig. Die Arbeit in der Mediengesellschaft erfordert nicht primär physische Kraft, sondern eher die Fähigkeit, Bewegungsarmut aushalten zu können bei einem gleichzeitig hohen Einsatz von mentaler Arbeitsleistung. Die allerorts präsenten Ratgeber sind die führenden Kräfte in dem Körperdiskurs, der mittlerweile zum Alltagswissen gehört. Er lautet: Körperruhigstellung provoziert Unausgeglichenheit und Stress; Kompensation ist erforderlich, die dem Körper auch etwas ‚physische Arbeit‘ zuführt. Dieser Zwang zum Ausgleich fördert eine immer noch expandierende Körperindustrie, deren Angebotspalette von Fitness-, Atem- und Entspannungstrainings über Ayurveda-Kuren bis hin zu Wellnessurlauben reicht. Der Fitnesskörper ist der Warenkörper der Kultur- und Konsumgüterindustrien. Die Fitnesswelle, die in Deutschland mit der Trimm-Trab-Bewegung in den 1970er Jahren einsetzte, transformiert den Arbeitskörper in die Mediengesellschaft. Man könnte im Sinne Foucaults sagen: Die Fitnesswelle bereitete die Körper auf die neuen Anforderungen der Mediengesellschaft vor, indem sie den aus der industriellen Arbeit freigesetzten Körper zum Fitnesskörper disziplinierte und die Begehrensstruktur der Subjekte auf die Bild-Körper der Mediengesellschaft ausrichtete. Die Mediengesellschaft produziert einen Körper, dessen Physis vor allem zur öffentlichen Inszenierung und sozialen Positionierung des Subjektes dient und dessen Äußeres entsprechend gepflegt und gestylt werden muss. Der Fitnesskörper ist ein makelloser Körper: Als Bild-Körper ist er ein musealisierter Körper, geeignet zur Mumifizierung von Jugendlichkeit. Das diese Gesellschaft prägende Postulat ‚Du kannst dich ausziehen, aber sei schlank, fit, braun und wohlgeformt‘, das sinngemäß von Michel Foucault stammt, kennzeichnet sehr anschaulich den Zwang zur Körperarbeit, zu Disziplin und permanenter Kontrolle. ‚Fit for Fun‘ war nicht zufällig eines der erfolgreichsten Marketing-Konzepte der sog. Spaßgesellschaft der 1990er Jahre. Die Ästhetisierung des Körpers, die keineswegs erst, wie manche beklagen, mit der Postmoderne eingesetzt hat, sondern schon immer die Kunstgeschichte des Körpers und die Geschichte der, um es mit Bourdieu zu sagen, sozial ‚legitimierten‘ Körper, also der Körpermodelle der ‚höheren‘ Gesellschaftsklassen geprägt hat, ist beim Fitnesskörper ein alltägliches Geschäft für alle geworden. Und dies bedeutet Arbeit und zwar Arbeit mit und an ‚harten‘ Technologien in der Freizeit: Die Körpermaschinen sind in die Fitnessstudios verlegt worden, die kollektiv mechanisierten Körper werden hier produziert. Aber: Bei der alltäglichen Herstellung des Fitnesskörpers wird nicht mehr – wie beim Arbeitskörper – mit dem Körper, sondern an dem Körper gearbeitet. Der Fitness-Körper ist nicht das Mittel, sondern erst das artifizielle Produkt von Arbeit. Er ist eine Anähnelung des Realen an das medial zirkulierende Bild.
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3 Die Theatralität des Körpers In der spätmodernen Gesellschaft ist die Ästhetisierung des Körpers zu einer individuellen Pflicht geworden. Der Körper ist machbar. Dieser gesellschaftliche Zwang zur Gestaltung und Formung des eigenen Körpers und dessen Anähnelung an normierte Bild-Körper lässt sich mit der Soziologie Bourdieus theoretisch fassen. Demnach geht es bei Körper- und Selbstinszenierungen niemals nur um das einzelne Individuum, sondern vor allem um die Präsentation eines sozialen Habitus – und dieser manifestiert sich am Körper. Nirgends vollzieht sich soziale Abgrenzung effektiver als über den Körper, und nirgends äußert sich der Geschmack unmittelbarer als am eigenen Körper. Die Art und Weise, wie er gestaltet ist, wie er sich bewegt, was er zeigt und wie er ‚spricht‘, bewirkt soziale Ein- und Ausgrenzung, schafft Distinktion und Nähe, produziert Anziehung und Abstoßung. Es gibt heute viele Möglichkeiten, den Körper als ästhetisiertes Objekt in Szene zu setzen: Piercing, Branding, Tattoos, Body Modification, Fitness- und Muskeltrainings, Diäten, Schönheitsoperationen oder diverse Sportarten. Auch der Fitnesskörper zielt nicht nur auf die Formung der Körperhülle, sondern nahezu auf alle Körperteile und -funktionen. Dass offensichtlich auch immer mehr junge Männer unter Magersucht leiden, dass Schönheitsoperationen mittlerweile auch für Männer immer selbstverständlicher werden, dass Männer neben dem regulären Fitnesstraining kosmetische Arbeit an der ‚Hülle‘ betreiben und ihre ergrauten Haare färben, Wimpernkorrekturen vornehmen, zur Maniküre und Pediküre gehen, belegt beispielsweise den gesellschaftlichen Zwang zur Modellierung des Körpers. Körperästhetisierung ist längst nicht mehr nur ‚Frauensache‘. Vielmehr ist der ästhetisierte und gestaltbare Körper zum Prototyp des Körpers der Nachmoderne geworden. Die soziale Notwendigkeit, den Körper zu gestalten, und die scheinbar grenzenlosen Möglichkeiten, ein Bild des Körpers zu zeichnen, markieren den Abschied von dem Körperdiskurs der Moderne. Der Körper ist nicht Natur, Biologie oder Schicksal. Er ist ein soziales Konstrukt, eine Erkenntnis, die bereits Nietzsche hatte, wenn er den Körper als den primären Konstrukteur von Realität privilegierte. Der Nicht-Eingriff in den Körper ist nun keineswegs mehr eine Huldigung an die gottgewollte Natur, sondern eine bewusste Entscheidung des Einzelnen. Aus dem schicksalhaften Körper wurde der Körper als Option – und der kann vielfältig gestaltet werden: von der Zahnkorrektur bis zur Brustimplantation. Mit dem Fitnesskörper wurde die Sorge um sich selbst zur Sorge um den eigenen Körper. Denn es ist der Körper, an dem sich wie an keinem anderen ‚Gegenstand‘, keinem anderen Statusobjekt, die Intensität der Aufmerksamkeit und Sorgfalt für das eigene Leben zeigt. Die Körperdisziplinierung wirkt hier nicht mehr von außen, über äußere Zwänge, sondern, wie es Gilles Deleuze (1993) in seiner Skizze einer Kontrollgesellschaft in Abgrenzung zu Foucaults Disziplinargesellschaft (1981) angedeutet hat, über die freiwillige und lustvolle Selbst-
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kontrolle des eigenen Körpers. Und diese Selbstkontrolle lässt sich als ein performativer Akt beschreiben, der sich nicht über ein einmaliges Initiationsritual vollzieht, sondern ein permanent sich vollziehender Vorgang ist. Genau in dieser alltäglichen Arbeit am eigenen Körper, die als ein individuelles Muss verstanden wird, aber eine soziale Pflicht ist, liegt das theatrale und performative Moment. Erst in der Arbeit am und mit dem Körper, in dem Tun, dem Körperhandeln, verstanden als eine alltägliche Selbsttechnologie wird der Diskurs um den Körper zur Wirklichkeit, indem ‚Körper‘ als Bild ‚real‘ erfahren und dies als authentische Erfahrung geglaubt wird. Die Performanz des Körperlichen thematisiert nicht einen Vorgang der Überformung oder Verformung, der Manipulation eines qua Natur gegebenen Körpers. Vielmehr wird in diesem performativen Akt selbst der Körper als ‚Gegenstand‘, als Objekt der Gestaltung und Ästhetisierung erst hervorgebracht. Dem Gelingen oder Scheitern der Performanz kommt deshalb eine besondere Bedeutung zu. Dieser performative Prozess setzt auf der Ebene des Körpers dort ein, wo das Bild des Körpers zur Praxis der Verkörperung wird. Für die Frage, wie der Körper in der Praxis wirksam wird, also wie er Agent von Praxis wird, erweist sich das Konzept der Performativität als hilfreich. Denn: Mit dem Konzept der Performativität rückt ein Begriff des Körpers in den Hintergrund, der ‚Körper‘ als materielle Vergegenwärtigung eines authentischen Sinns versteht. Mit ihm wird zudem die Eindimensionalität eines konstruktivistischen Körper-Konzeptes, das den Körper als (diskursives) Konstrukt versteht, augenfällig. Mit dem Performativitätskonzept wird vielmehr ein Begriff des Körpers relevant, der ihn als Agens einer Wirklichkeitsgenerierung vorstellt – ohne allerdings ein phänomenologisches Körperkonzept zu Grunde zu legen. Vielmehr lautet die These, dass der Körper erst in der Performanz hergestellt wird, d.h. erst in und über Praxis zum ‚Ort‘ der Erfahrung wird. Erst im ‚praktischen‘ Handeln wird der Glaube an die Wirklichkeit ‚Körper‘ und dessen Einzigartigkeit hervorgebracht. Und erst die ‚Illusio‘ (Bourdieu) des eigenen Körpers als Identität, erst die Imagination des Körpers als Ganzheit (Lacan), erst das Verstehen des Körpers als Garant des Echten, Authentischen lässt den Körper zum Ort der Wirklichkeitsüberprüfung werden. Dieser Glaube an den Körper entsteht über die Essentialisierung des Sozialen, die, folgt man Bourdieu, verschiedene Einsetzungsriten (vgl. Bourdieu 1990) und entsprechende theatralisierte Orte, wie beispielsweise Fitnessstudios oder Wellnessoasen benötigt. Erst diese ritualisierten Akte und ihre inszenierten Umgebungen bringen die Illusio des Körpers als Natur hervor und aktualisieren den Glauben an den Körper als Ding, als Objekt, als Bedeutungsträger. Das In-Erscheinung-Treten des Körpers bedeutet demnach immer ein Wirksam-Werden von Macht. Und genau hier liegt der machttheoretische Aspekt der Performativität des Körpers. ‚Körper‘ werden, wie die Theorien von Elias, Foucault und Bourdieu zeigen, als zivilisierte Gestalt, als diskursives Konstrukt oder als habitualisiertes Muster des Sozialen hergestellt. Die Theatralität des
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Körpers korrespondiert damit unmittelbar mit einer Theatralität der Macht: Denn in dem In-Szene-Setzen des Körpers zeigt sich ein theatraler Aspekt von Bio-Macht.
4 Körperhandeln als Praxis der Verkörperung Der Körper ist aber nicht nur Produkt, Instrument oder Repräsentant des Sozialen. Er ist auch Agens der Wirklichkeitsherstellung. Mit der Frage, ob der Körper handeln kann, beschäftigen sich vor allem die Soziologie und die Anthropologie – und finden sehr unterschiedliche Antworten. Der Mainstream der soziologischen Handlungstheorie würde die Frage, ob der Körper handeln kann, eher verneinen. Dies liegt in der Tradition des Handlungsbegriffs begründet, der von Max Weber stammt. Weber bezeichnet als Handeln jenes Verhalten, dem ein subjektiver Sinn beigemessen wird. Soziales Handeln wiederum ist am sinnhaften Handeln anderer orientiert, hat aber erst dann eine soziale Beziehung, wenn es eine wechselseitige Bezugnahme von Akteuren gibt (vgl. Weber 1956: 1ff.). Demnach ist die Tatsache, dass der Bodybuilder die Arme an der Kraftmaschine bewegt, kein Handeln, weil er diesem Bewegungsvorgang keine Bedeutung beimisst. Eine Handlung hingegen ist intentional: beispielsweise wenn ihm die Armmuskeln wehtun, er einen Muskelkrampf hat und er deshalb sein Training beendet. Die Körperbewegung selbst wäre, um es mit Habermas zu sagen, eine „nicht-selbstständige Handlung“ (Habermas: 1981). Webers Handlungstheorie – und auch Habermas‘ Kommunikationstheorie – folgen dem cartesianischen ‚cogito, ergo sum‘ und aktualisieren mit diesem Rationalitätsmuster den Dualismus von Körper und Geist, demzufolge körperliche Bewegung erst dann stattfindet, wenn „zuvor in der erkannten Welt sinnvolle Zwecke festgelegt wurden und dann – in einem entsprechenden Willensakt – der Entschluss der Verfolgung eines solchen Ziels gefasst wurde“ (Joas 1992: 231). Wenn in soziologischen Handlungstheorien die körperliche Aktion überhaupt zum Thema wird, dann wird sie, wie in den Arbeiten von Talcott Parsons (1976) oder Alfred Schütz (1971), als Basis oder Bedingung des Handelns vorgestellt, aber nicht selbst zum Thema gemacht. Gemeinhin unterstellen soziologische Handlungstheorien, dass der Körper ein beherrschbares Instrument sei und der rational agierende Akteur ihn nach seinem Willen beliebig einsetzen könne. Allein aus unserer Alltagserfahrung wissen wir, dass diese Annahme eines die körperliche Bewegung steuernden Ichs unhaltbar ist: Sie ignoriert zum einen die Widerständigkeit und Eigenständigkeit des Körpers, der oft gerade nicht genau das ausführt, was der Akteur beabsichtigt hat. Zum anderen unterstellt diese Annahme einer willensgesteuerten körperlichen Handlung, dass körperliche Bewegungen immer gedanklich vorbereitet sind und von einem intentionalen Bewusstsein geleitet ausgeführt werden. Aber: Es sind die Vielzahl routinierter
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körperlicher Handlungen, die diese Annahme ebenfalls ad absurdum führen. Der Körper weiß, wenn er es einmal erlernt hat, welche Bewegungen er auszuführen hat, und er ist auch in der Lage, erlernte Körpertechniken situativ abzurufen, selbst dann, wenn sie – wie das Skifahren – eine Zeit lang nicht ausgeführt wurden. Die soziologischen Handlungstheorien wären also zu erweitern um die körperlichen Dimensionen des Handelns. Und diese sind verstehbar als Bewegungsaktionen des Körpers in Raum und Zeit. Es geht darum, dass das Subjekt nicht nur mit dem Körper handelt, sondern als Körper agiert, d.h. Wirklichkeit herstellt und in diesem Vorgang das Subjekt sich zugleich als Körper erfährt. Bei körperlichen, performativen Handlungen liegt der Fokus sozialen Handelns auf der Handlungssituation. Damit verschiebt sich die Perspektive von der Intentionalität der Handlung als einen gedanklichen Vorgang zu der Materialität des Handelns als einen Bewegungsakt, als einen gelungenen Handlungsvollzug. Mit dieser Perspektive rückt der Körper als Agens der Herstellung von Wirklichkeit in den Mittelpunkt. Dieser Handlungsvollzug beschreibt auch den Vorgang, bei dem der BildKörper zum Körper-Bild, d.h. zum inneren Bild des Körpers wird. Erst hier, in dem Machen, in der Performanz entscheidet sich, ob und wie Bild-Körper zur Erfahrung und Körper zum Wirklichkeitsproduzenten werden. Die Performanz der Handlung ist dabei ambivalent: Ebenso wie die mimetische Bezugnahme auf Bilder und damit die Verleiblichung einer hegemonialen und warenförmig organisierten Bilderwelt möglich ist, liegt hier das Potenzial zur Dissidenz, zu einer subtilen, weil körperlich hervorgebrachten Verweigerung gegen die Macht der Bilder. Genau hier, in dem Gelingen oder dem Scheitern des Performativen entscheidet sich, ob und wie sich das Spiel von Bilden und Abbilden, Bilder-Welten des Körpers und Körper-Formungen aus Bilder-Welten permanent fortsetzt.
Literatur Bette, Karl-Heinrich (1989): Körperspuren. Zur Semantik und Paradoxie moderner Körperlichkeit. Berlin: de Gruyter. Bovenschen, Silvia (1997): Der Traum ist aus, denn wir sind alle Cyborgs: Die Marginalisierung des Leibes und seine Wiederkehr als Konstrukt der Medien. In: Die Zeit, Nr. 47, 14.11.1997, 63ff. Bourdieu, Pierre (1990): Was heißt sprechen? Die Ökonomie des sprachlichen Tausches. Wien: Braumüller. Deleuze, Gilles (1993): Postskriptum über die Kontrollgesellschaften. In: Ders.: Unterhandlungen 1972-1990. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 254-262. Foucault, Michel (1981): Überwachen und Strafen: Die Geburt des Gefängnisses. 4. Aufl., Frankfurt am Main: Suhrkamp.
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Habermas, Jürgen (1981): Theorie kommunikativen Handelns. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Horkheimer, Max/Adorno, Theodor W. (1971): Dialektik der Aufklärung. Frankfurt am Main: Fischer. Joas, Hans (1992): Die Kreativität des Handelns. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Kamper, Dietmar/Wulf, Christoph (Hrsg.) (1982): Die Wiederkehr des Körpers. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Kamper, Dietmar/Wulf, Christoph (Hrsg.) (1984): Das Schwinden der Sinne. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Kamper, Dietmar (1999): Bilderkörper X Körperbilder. In: Funk, Julika/Brück, Cornelia (Hrsg.): Körper-Konzepte. Tübingen: Narr, 19-24. Nitzschke, Bernd (1981): Die Zerstörung der Sinnlichkeit. München: Matthes und Seitz. Parsons, Talcott (1976): Zur Theorie sozialer Systeme. Opladen: Westdeutscher Verlag. Schütz, Alfred (1971): Das Problem der sozialen Wirklichkeit. In: Gesammelte Aufsätze, Band 1, Den Haag: Nijhoff. Serres, Michel (1998): Die fünf Sinne. Eine Philosophie der Gemenge und Gemische. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Weber, Max (1956): Wirtschaft und Gesellschaft: Grundriss der verstehenden Soziologie. Tübingen: Mohr.
Körperpraktiken und Selbsttechnologien in einer Medienkultur: Zur gesellschaftstheoretischen Fundierung aktueller Fernsehanalyse Tanja Thomas
Die grundlegende Feststellung, dass Medien im 21. Jahrhundert eine bedeutende Rolle bei der Organisation und Gestaltung gesellschaftlicher Prozesse zukommt, wird wohl kaum jemand bestreiten. Mediengebrauch verändert kommunikative Praktiken, transformiert die räumliche und zeitliche Konstitution des sozialen und kulturellen Lebens, und dies betrifft individuelle, alltägliche Lebensführung, die Gestaltung und Form persönlicher Beziehungen, aber auch Machtverhältnisse, Öffentlichkeiten und Demokratie (vgl. u.a. Winter 2005: 149). Fernsehen beispielsweise, so Weiß (2003), kann als Hilfe zur Konfliktvermeidung, aber auch als Mittel der Abgrenzung von „den anderen“, als Status- und Rollenmerkmal, als Kampffeld um individuelle Rechte und Selbstständigkeit dienen – und ist so beteiligt an der (Re-)Produktion sozialer Beziehungen und Verhältnisse. Angesichts der zunehmenden Mediatisierung von Alltag, Identität, sozialen Beziehungen, Kultur und Gesellschaft (Krotz 2007) sowie unter den gegebenen Bedingungen einer „Rückkehr der Unsicherheiten“ in einem „entfesselten Kapitalismus“ erleben wir derzeit eine Wiederbelebung gesellschaftskritisch ambitionierter Medienanalyse, die Medien wieder verstärkt als Modi der Vergesellschaftung diskutieren (vgl. u.a. Thomas 2007). Dabei wird eingedenk der Tradition kritischer Medienanalyse im deutschsprachigen Raum auf die inzwischen ausführlich diskutierten Probleme in der Kritischen Theorie hingewiesen und erkannt, dass in der Denkfigur eines totalisierend und manipulativ wirksamen „falschen Ganzen“ etwa die Gefahr liegt, dass die jeweils ans Licht zu bringenden Widersprüche und Krisen gerade durch die These einer „ständigen Reproduktion des Immergleichen“ in der Massen- und Konsumgesellschaft aus dem Blick geraten (vgl. Kellner 1982: 507). Dementsprechend mehren sich Arbeiten, die die Tragfähigkeit einer Weiterentwicklung kritischer Theorie oder alternativer theoretischer Konzepte diskutieren: Im Anschluss an Foucault wird die Kommerzialisierung des Internet in seiner Bedeutung für die Ausbildung eines Kommunikationsdispositivs im Sinne einer Kontroll- und Wissensmacht thematisiert (Dorer 2006) oder die „Ausweitung der Bekenntniskultur“ (Burkhart 2006) betrachtet, die sich u.a. in der Zunahme privater Homepages (Schroer 2006) zeigt. Eva Illouz (2006) revitalisiert instruktiv Adornos Überlegungen zur Verdinglichung in ihrer Untersuchung der auch visuellen Selbstpräsentation in Online-Partnersuchdiensten. Unter Bezug auf Studien zur Gouvernementalität
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bezeichnet Stauff (2005) „das ‚neue‘ Fernsehen“ als „Kulturtechnologie des Neoliberalismus“; TV-Genres wie Talkshows werden als Teil einer umfassenden (neoliberalen) Machttechnologie analysiert (vgl. schon früh Seifried 1999) und die im Reality-TV vorübergehend herstellbare „Prominenz“ als neuer Modus der Subjektivierung und „neoliberale Form der Selbsttechnik“ (Sauer 2001: 165) bezeichnet. Zusammenfassend und damit freilich vereinfachend kann man konstatieren, dass diese Arbeiten zeigen, wie Modelle akzeptabler ‚normaler‘ Subjektivität inszeniert und ein erwünschter Umgang mit sich ‚selbst‘ vorgeführt wird. Somit wird betont, dass Medien an der (Re-)Produktion eines Subjektivierungsregimes beteiligt sind, das mit neoliberalen Paradigmen wie „Selbstverantwortung“ und „Selbstzurechnung“ in Zeiten hoher Arbeitslosigkeit und prekärer Beschäftigung korrespondiert. In diesen Arbeiten wird zudem nachdrücklich darauf insistiert, dass die Verbreitung und Akzeptanz medialer Angebote ohne Berücksichtigung der jeweiligen dominanten politischen Rationalitäten nicht zu verstehen sind. So müssen empirische Untersuchungen – beispielsweise aktueller Unterhaltungsformate – rückgebunden werden an die Analyse zeitgenössischer, gesellschaftlich dominanter Diskurse, in denen aktuell die Anrufung des unternehmerischen Selbst (Bröckling 2007) eine zentrale Rolle spielt. Vor diesem Hintergrund werde ich exemplarisch (transnational verbreitete, hier an den deutschen Markt spezifisch angepasste) Unterhaltungsformate – konkret die Modelshow Germany’s next Topmodel, die OP- bzw. Makeover-Show The Swan und die Castingshow Deutschland sucht den Superstar – als Modi der Vergesellschaftung im Zeitalter des Neoliberalismus analysieren. Hinsichtlich der Untersuchung der ausgewählten Lifestyle-Formate richte ich die Aufmerksamkeit besonders auf medial repräsentierte Körper/praktiken: Eine Betrachtung dieser Shows mit ihrer Fokussierung auf Körper verwehrt sich sehr offenkundig gegenüber einem Vorgehen, das sich allein auf Konzeptionen von (Selbst-)Führungen beschränkt, die den Subjekten nur äußerlich bleiben. Die Analyse muss daher nicht nur die Sphäre der Programmatiken, sondern auch die der sozialen Praxen ins Blickfeld nehmen. Ich plädiere deshalb für den Einbezug von Modellen zur Performativität des sozialen Handelns und argumentiere, dass Selbsttechnologien nicht nur von außen an Subjekte herangetragen werden, sondern internalisiert sind und „performt“ werden. Hier lässt sich produktiv anschließen an eine Vielzahl körpersoziologisch angelegter Arbeiten, die von einem Entsprechungsverhältnis zwischen den sozialen Strukturen einer Gesellschaft und den Wahrnehmungs-, Umgangs- und Verhaltensweisen des bzw. mit dem Körper ausgehen (vgl. exemplarisch Gugutzer 1998, 2004; Rittner 1999; Schuster 2004). In Prozessen, die üblicherweise mit den Begriffen „Globalisierung“, „Individualisierung“, „Mediatisierung“ und „Kommerzialisierung“ beschrieben werden, wird Körper einerseits als letzter „Rückzugsort für das Selbst“, als Hort von Authentizität und Identität, andererseits als reflexives Identitätsprojekt (Gugutzer 2004) analysiert; empirisch wird er in jüngeren Arbeiten u.a. als Medium jugendkultureller Darstellung und Abgrenzung unter-
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sucht (vgl. Gaugele/Reiss 2003: 9). Wesentlich scheint mir allerdings dabei, Körper „nicht aprioristisch vorauszusetzen, er ist aber auch nicht bloß als Resultat von Diskursen und Praktiken zu verorten, er steckt vielmehr in den Praktiken“ (Hirschauer 2004: 75, Hervorheb. i. O.). Entsprechend einer Auffassung von Kultur als Praxis argumentiere ich deshalb, medial inszenierte Körperpraktiken als Teil eines „doing culture“ zu begreifen, das die Reproduktion sozialer Verhältnisse und Beziehungen verwirklicht und „immer schon mit Bewertungen, mit Interpretationen, Selbst- und Fremddeutungen verknüpft [ist], auch wenn diese eher unbemerkt und unreflektiert mitlaufen“ (Hörning/Reuter 2004: 11). Dies ist ein Ausgangspunkt, der m.E. für Untersuchungen zur Bedeutung von Unterhaltungsformaten hinsichtlich der (Re-)Produktion gesellschaftlicher Verhältnisse wesentliche Impulse liefern kann.
1 ‚Selbstverantwortung‘ und ‚ Selbstzurechnung‘: Leitparadigmen in Zeiten der Arbeitslosigkeit Die Vermarktlichung aller Lebensbereiche ist mittlerweile ein weithin erkanntes und mehr oder minder akzeptiertes Phänomen. Vor Jahren schon hat Pierre Bourdieu mit seiner These von der ‚Machtergreifung der großen neoliberalen Utopie‘ darauf hingewiesen, dass es kaum mehr einen Bereich in der Gesellschaft gibt, der nicht mit der Forderung nach marktwirtschaftlicher Steuerung konfrontiert ist. Das Programm des Neoliberalismus beinhaltet eine umfassende Privatisierung der öffentlichen Daseinsfürsorge, Deregulierung der Arbeitsmärkte und steuerliche Entlastung von Unternehmen und Vermögenden sowie eine an den Interessen der G7/G8-Staaten und transnationalen Konzernen ausgerichteten Weltmarktintegration der Entwicklungsländer (vgl. Ptak 2005). In Deutschland werden die Auseinandersetzungen um die Deregulierung des Arbeitsmarktes und des Tarifrechts sowie die Privatisierung der sozialen Sicherungssysteme und der Bildung inzwischen für immer mehr Menschen alltäglich erfahrbar. Mit dem Wandel vom Fordismus hin zu einem vielfach so bezeichneten „entfesselten Kapitalismus“ verändern sich somit auch Regelmäßigkeiten, Routinen in den kollektiven Lebensgewohnheiten und langfristige Erwartungshorizonte. Rückblickend auf die Phase eines staatlich regulierten Kapitalismus zwanzig Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs konstatieren Hartmann und Honneth (2004: 4), es seien „nicht nur die Bedingungen für effektive Formen der Chancengleichheit in den Bereichen der Bildung, der Sozialpolitik und der Arbeitspolitik wesentlich verbessert worden; vielmehr zeichneten sich in allen Kernzonen der normativen Integration kapitalistischer Gesellschaften moralische Fortschritte ab“.
Tatsächlich konnte das fordistisch-wohlfahrtsstaatliche Modell gesellschaftliche Antagonismen in vielen Bereichen in ein gemeinsames Interesse an Wachstum
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und Produktivitätssteigerung transformieren. Eng verbunden mit dieser Etablierung des kapitalistischen Wirtschaftssystems waren die Institutionalisierung von „Individualismus“ als persönlicher Leitvorstellung, einer egalitären Gerechtigkeitsidee als rechtlicher Regulierungsform und des Prinzips der Statuszuweisung als Leistungsgedanke. Für einen relativ großen Teil der bundesdeutschen Bevölkerung verstetigte sich dieser Kompromiss in Reallohnsteigerungen, dem Kauf langlebiger Konsumgüter, aufwändigen Freizeitaktivitäten, internationalem Massentourismus, Immobilienbesitz und sicheren Erwartungen im Krankheitsfall sowie im Alter (zur Funktionslogik des Fordismus und seinen sozialen, kulturellen und politischen Rahmenbedingungen vgl. auch Fraser 2003: 239258). Diese Erwartungsstabilität wurde allerdings in einer Welle des Jugendprotests als kleinbürgerlich und wegen der hohen negativen Folgen für Gesellschaft, Umwelt und das eigene Leben als verlogen empfunden und bekämpft. Inzwischen hat sich der Neoliberalismus diese Kritik teilweise angeeignet und nutzt sie, wie u.a. Alex Demirovic zeigt, für die Restrukturierung der kapitalistischen Verwertungsprozesse ebenso wie für die „Reformatierung der kollektiven Identität und der Subjektivierungstechnologien“ (Demirovic 2001: 208). Diese Restrukturierungs- und Reformatierungsprozesse können wir auf verschiedenen Ebenen beobachten: Die Institutionalisierung der Lebensläufe durch Sozialstaat, Beruflichkeit und Bildungssystem tritt zunehmend zurück; im Zuge eines als Individualisierung bezeichneten sozialen Wandels ist das Individuum mit der Aufgabe konfrontiert, die eigene Wiedervergemeinschaftung zu organisieren. Der neoliberale Abbau kollektiver Sicherungssysteme treibt Prozesse der Individualisierung voran, in denen Konkurrenz, Wettbewerb und Unsicherheit eine zunehmend wichtige Rolle spielen: „Individualisierung steht somit für einen Vergesellschaftungsmodus, der unmittelbar am einzelnen Individuum ansetzt und einen Zurechnungsmodus etabliert, der die Subjekte auf Selbstverantwortung und Selbstzurechnung verpflichtet und dabei gleichzeitig die gesellschaftlichen Grenzen des fremdbestimmten Imperativs der Selbstbestimmung ausblendet“ (Wagner 2004: 37).
Hartmann und Honneth (2004: 10) formulieren es schärfer: Nun lernen Menschen, sich selbst, ihre Fähigkeiten, Verhaltensmuster und Körper als inkorporierte Standortmerkmale zu sehen, die sie eigenverantwortlich entwickeln, pflegen und anbieten müssen – das, „was zuvor unzweideutig als eine Steigerung des individuellen Autonomiespielraums angesehen werden konnte, nimmt im Rahmen der neuen Organisationsform des Kapitalismus die Gestalt von Zumutungen, Disziplinierungen oder Verunsicherungen an“. Diese Entwicklungen und ihre symbolischen Reproduktionen gilt es anhand empirisch gesättigter Analysen zu hinterfragen; hierfür liefern die im vorliegenden Text ausgewählten Model-, Makeover- und Castingshows in verschiedener Hinsicht ideales Untersuchungsmaterial: In diesen Sendungen wird die Selbstvermarktungsidee in Szene gesetzt und der ‚Leistungsgedanke‘1 mittels Selekti1 ‚Leistung‘ gilt noch immer als legitimes Mittel der Statusverteilung, obwohl Erving Goffman
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onsriten perpetuiert. Unter den KandidatInnen dieser Reality-TV-Formate finden sich SchülerInnen, Auszubildende, AbiturientInnen, Tischler, Reiseverkehrsfrauen. So fordern die Sendungen auf, den Blick nicht zu richten auf die sozialen Randlagen und Exklusionen, deren Produktion viele kritische Studien zum Neoliberalismus in den Blick nehmen, sondern auf soziale Lagen in der gesellschaftlichen Mehrheit.
2 „Du musst es wollen, Baby“: Zur Verkörperung des schönen Selbst „Sind WIR zu dünn?“ fragen die zwölf KandiatInnen im Verlaufe der ersten Staffel der Show Germany’s next Topmodel in einer als offener Brief formulierten ganzseitigen Anzeige in den Tageszeitungen Süddeutsche Zeitung, Frankfurter Rundschau und Die Welt, nachdem die Moderatorin Heidi Klum sich Anfang 2006 heftiger Kritik aus Presse und Politik ausgesetzt sah. Eine der Bewerberinnen um einen Modelvertrag und ein Fotoshooting für die Frauenzeitschrift Cosmopolitan war bei einer Größe von 1,76 m und einem Gewicht von 52 kg von der Jury der Sendung als zu dick befunden worden – die Bild veröffentlichte am 1. Februar unter der Überschrift „Immer mehr Empörung über die Rippenshow von Heidi Klum auf Pro7“ einen Appell an Heidi Klum; die Mutter einer magersüchtigen Tochter forderte sie auf, zum Thema Magersucht Stellung zu beziehen. Am folgenden Tag lieferte Bild die Schlagzeile „TV-Model packt aus! Ich hatte immer Hunger. Es war so schlimm. Wir fühlten uns hilflos ausgeliefert“ und kommentierte am 3. Februar 2006: „der Schlankwahn in der Rippenshow wird immer schlimmer“. Spiegel online titelte schon am 26. Januar 2006: „Das magere Dutzend“, nachdem die Zahl der Kandidatinnen zunächst von 32 auf 12 reduziert worden war, und Der Tagesspiegel zitierte kurz darauf die heftige Kritik von PolitikerInnen wie der CDU Bundestagsabgeordneten Gitta Connemann, die die Sendung als „entwürdigend“ bezeichnete, oder der FDPFamilienexpertin Cornelia Pieper, die aufforderte, die Sendung aus dem Programm zu nehmen, weil sie „junge Mädchen verbiegt“. Um solche und ähnliche Vorwürfe einordnen zu können, wird mancherorts verwiesen auf eine Vielzahl insbesondere im angloamerikanischen Raum entstandener Studien, die medial präsentierte Körperideale sowie Zusammenhänge (1971), Pierre Bourdieu und Jean Claude Passeron (1971) oder auch Claus Offe (1976) gezeigt haben, dass ‚Leistung‘ weder Arbeitsplatz noch ausreichendes Einkommen garantiert und weniger denn je vor der Undurchschaubarkeit von Erfolg und Misserfolg beschützt (vgl. Sennett 1998, 2003). ‚Leistung‘ wird zunehmend retrospektiv – vom Marktergebnis her gesehen – bestimmt und wird somit immer weniger vorhersehbar. Vor dem Hintergrund der Destandardisierung und Dynamisierung von Leistungskriterien im Neoliberalismus haftet auch den damit verbundenen Prozessen sozialer Anerkennung (vgl. dazu u.a. Negt 2002) etwas Unsicheres, ja Willkürliches an; Neckel (2002: 115) spricht daher in diesem Zusammenhang sogar von einer „lottery of success“. In dieser ‚Erfolgslotterie‘ schätzen die Spieler ihre Chancen schicht-, milieu-, geschlechter-, ethnizitäts- und generationenspezifisch ein. Sie setzen sich in Vergleich, und hierin bilden mediale Angebote einen wichtigen Bezugspunkt.
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zwischen Mediengebrauch, Körperzufriedenheit, teilweise auch Essstörungen untersuchen. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit seien einige knapp vorgestellt: Inhaltsanalytisch wurden früh schon Zeitschriften auf das in ihnen repräsentierte Körperideal untersucht. Die Analyse der Centerfold Models im Playboy von Garner et al. (1980) zeigte, dass die Models in der Zeit von 1959-1978 immer schlanker wurden; im Jahr 1999 zeigten Spitzer, Henderson und Zivian ebenfalls mit Blick auf den Playboy, dass fast alle Centerfold Models als untergewichtig, ein Drittel der Frauen gemäß der Kriterien der Weltgesundheitsorganisation als magersüchtig eingestuft werden konnten. Medieninhaltsanalysen im Zeitverlauf belegen somit, dass das weibliche Schönheitsideal zunehmend schlanker wurde und Mädchen, die ihre Idealfiguren in Fashion- bzw. Teeniemagazinen und Fernsehinhalten sehen, eher unter Körperbildstörungen leiden (vgl. Thompson et al. 1998). Harrison und Cantor (1997) untersuchten Fernsehangebote und Zeitschriften; sie sehen eine Verbindung zwischen der Rezeption von Serien mit vorwiegend schlanken Darstellerinnen (Melrose Place; Beverly Hills), bzgl. ihres Gewichts als durchschnittlich zu bezeichnenden Figuren (Seinfeld, Northern Exposure) und als dick bezeichneten Darstellerinnen (Roseanne, Designing Women) und dem Ausmaß eigener Körperzufriedenheit bei den Probandinnen; die Bevorzugung von Sendungen, die vorwiegend schlanke Akteure zeigen, korrellieren laut Harrison und Cantor positiv mit der Disposition für Essstörungen. Kristen Harrison (2003) konstatiert allerdings, dass ‚Schlanksein‘ die aktuell im US-amerikanischen Raum als ideal betrachteten Körpermaße nur ungenau beschreibt; Probandinnen in ihrer Studie stellten u.a. unter Hinzuziehung eines eigens angefertigten BodyBooks (das eine variable Zusammenstellung einer jeweils unterschiedlich proportionierten und als attraktiv empfundenen Hüfte, Taille und des Brustumfangs erlaubt) eine sehr schmale Taille, extrem schmale Hüften und große Brüste als erstrebenswert zusammen. Rezipientinnen der Serie Baywatch idealisierten dabei wesentlich öfters große Brüste als diejenigen, die Ally Mc Beal oder Beverly Hills bevorzugen (vgl. Harrison 2003: 261). In einer experimentellen Studie zeigte Irving (1990), dass die Körperzufriedenheit von Patientinnen mit Essstörungen nach der Präsentation sehr schlanker Models sank, sich nach Präsentationen fülligerer Models positiv veränderte. Die Daten von Myers und Biocca (1992) zeigen, dass die Präsentation von ‚Idealkörpern‘ (in Fernsehsendungen und Werbespots) das eigene Körperbild und die Körperzufriedenheit von jungen Frauen verschlechtert (vgl. dazu auch die in Australien entstandene Studie von Hargreaves und Tiggemann (2003) zu den Effekten von „thin ideal“-Werbespots im Fernsehen auf Jugendliche). Insbesondere junge Menschen, die schon zu Beginn der Versuchssituation mit ihrem Körper unzufrieden sind, zeigen laut einer Langzeitstudie von Stice, Spangler und Agras (2001) nach der Präsentation von Modelkörpern z.B. in Modemagazinen deutliche Effekte (vgl. ähnlich Petersen 2005).2 2 Eine Metaanalyse dieser experimentellen Studien liefert Groesz/Levine/Murnen (2001); zusam-
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Im vorliegenden Rahmen wird auf eine Diskussion der Einzelstudien zugunsten einer kritischen Reflexion der dominierenden Forschungsperspektive verzichtet. Kaum wird beispielsweise die Berücksichtigung von Zivilisations-, Rationalisierungs- und Individualisierungsprozessen, die u.a. Gugutzer (2005: 327) als ebenso wichtige soziokulturelle Gründe für die Entstehung von Essstörungen ansieht, in die Studien einbezogen: Essstörungen, so betont er nachdrücklich, „versinnbildlichen die psychischen Kosten, die eine krankhaft auf Leistung, Disziplin, Willensstärke, Selbstkontrolle und Selbstverantwortung ausgerichtete Gesellschaft verursacht“ (Gugutzer 2005: 351). Entsprechend sind wir m.E. im Rahmen einer gesellschaftstheoretisch fundierten Medienanalyse eines Formates wie Germany’s next Topmodel dazu aufgefordert, die Aufmerksamkeit nicht allein der Inszenierung schlanker Körper zu widmen: „Wir lachen, lernen und laufen und kommen unserem Ziel Tag für Tag einen Schritt näher“, so verteidigen die Kandidatinnen die Moderatorin Heidi Klum, die Jury und den Sender in ihrem offenen Brief. Tatsächlich ist „Lächeln, Lächeln, Lächeln“ das Motto der Moderatorin, auch wenn die Kandidatinnen bei acht Grad Celsius Außentemperatur auf dem Dach eines Hochhauses fotografiert werden; als eine der Kandidatinnen immer wieder vor Kälte zittert, wird ihre ‚mangelnde Körperkontrolle‘ kritisiert. In Bikinis gesteckt, gewogen und abgemessen zu werden, haben die KandidatInnen schon in der ersten Sendung erlebt. Die Vermessung und Verdatung der Körpermaße als Ausgangspunkt für (Selbst-)Kontrolle bleibt jedoch längst nicht allein Models vorbehalten; die Praxis des Abgleichens eigener Körperdaten mit dem wohl nahezu in jeder Frauen-/Fitnesszeitschrift irgendwann einmal erläuterten Body Mass Index beschreibt Duttweiler (2003: 39) zu Recht mit Foucault als Teil „einer Politik der Zwänge, die am Körper arbeiten, seine Elemente, seine Gesten, seine Verhaltensweisen kalkulieren und manipulieren“ (Foucault 1976/1994: 176). Als in der Modelshow der Vergleich der vor der Jury am Leib genommenen Maße mit den Angaben in dem Bewerbungsbogen einige Zentimeter mehr hier, einige Pfunde weniger da ergibt, ist die Moderatorin genervt – jedoch nicht über die Mogelei, sondern über die Inkompetenz der Bewerberinnen, eben diese mit einem Lächeln zu „verkaufen“. Auch die Aufforderungen des Laufstegstrainers „Ich brauche keine Oma! Beweg deinen Arsch“ sollen gleichsam quittiert werden – mit einem Lächeln. Es gilt auch hier, wie Koppetsch (2000) in ihren Arbeiten zu Status und Attraktivität gezeigt hat, eine Rolle nicht nur zu spielen, sondern sie zu verkörpern und immer mehr Aspekte eines ehemals rein äußerlichen Verhaltenscodes in den Körper hinein zu nehmen. Spontan Gefühle wie Wut, Zorn oder Freude für ein Fotoshooting zu verkörpern, ist im Verlaufe der Show ebenso Aufgabe in einem „Test“ wie den körperlichen Ausdruck von Gefühlen zu kontrollieren, während Spinnen oder Schlangen auf die nackte Haut gesetzt werden. Bevor die Jury entsprechende Fotos im Anschluss kritisiert – menfassend und zum weiteren Forschungsbedarf vgl. u.a. Eggermont/Beullens/van den Bulck (2005).
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die jeweilige Kandidatin wird jeweils zum Bewertungsakt dazu gebeten – muss die Abgelichtete zunächst eine Eigenbewertung vornehmen: Der Körper ist eingelassen in die Arbeit am Selbst, Emotionsarbeit (vgl. Hochschild 1990) ist immer auch Körperarbeit, zu deren Bewältigung eine Identifizierung mit der Rolle eine (wenn auch keineswegs die einzige) zentrale Strategie darstellt; diese lässt rollenkonformes Verhalten authentisch erleben (vgl. zur Diskussion u.a. Rastetter 1999: 379ff.). „Du musst es wollen, Baby” lautet ganz in diesem Sinne die erste Erfolgsregel in ihrem Buch „Heidi Klum’s Body of Knowledge – 8 Rules of Model Behavior", zu deutsch „Heidi Klum – natürlich [sic!] erfolgreich“. „Und jetzt soll es auf einmal schlimm sein, dass wir an unserem Traum arbeiten? Das verstehen wir nicht“, so schreiben die Modelkandidatinnen in der großformatig geschalteten Anzeige, mit der sie zudem feststellen: „Wir haben mit Heidi Klum und den Coaches Bruce Darnell, Armin Morbach und Peyman Amin die besten Lehrer, die man sich vorstellen kann. Natürlich sprechen sie offen unsere Schwächen an, kritisieren uns. Die harten Regeln für die Modewelt haben sie nicht aufgestellt“.
Vielleicht nicht – beteiligt sind sie allerdings an einer Sendung, in der junge Frauen in hautfarbenem Unterwäscheersatz in einer Zeche einer Gruppe Bergarbeitern oder im „Fußballbikini“ im Stadion auf Großleinwand als Objekte des männlichen Blicks vorgeführt werden. „Wer hält es aus?“, „Wer beißt sich durch?“ lauten die zentralen Fragen der Moderatorin. Die Szene in der Zeche erklärt den ZuschauerInnen entsprechend eine Stimme aus dem Off: „Sie werfen die Mädchen ins Wasser, um zu sehen, wer am schnellsten schwimmen lernt.“ Den Laufsteg vor den Bergarbeitern sollen die Kandidatinnen zweifach abschreiten; als eines der Mädchen vor dieser Auslieferung an den männlichen Blick plötzlich flieht und weinend hinter die Kulisse flüchtet, empfängt Trainer Bruce sie mit autoritärem Befehlston: „Was soll das? Was hab ich dir gesagt?“ Kurz darauf können die ZuschauerInnen beobachten, wie eben jenes Mädchen fleht: „Ich werde es besser machen“ und „Gebt mir noch eine zweite Chance“. Eine Analyse solcher Sendungen, in denen sich Kandidatinnen wie beschrieben Prozessen der Disziplinierung des Selbst aussetzen, kann m.E. in der Anlage profitieren von einer Orientierung an den Governmentality-Studies, die entstanden sind in Auseinandersetzung mit Foucaults gedanklichen Skizzen, die er kurz vor seinem Tod geäußert hat (für einen Einstieg vgl. insbesondere Lemke 2002; Bröckling/Krasmann/Lemke 2000). Inzwischen bezeichnet der Begriff der Governmentality Studies (GS) eine heterogene Forschungsrichtung, die in den letzen Jahren auch einige deutschsprachige Bände und Schwerpunkthefte hervorgebracht hat (vgl. Pieper/Gutiérrez-Rodríquez 2003; Opitz 2004; Reichert 2004; Peripherie Heft 92, 2003). Die Spannbreite des ‚Gouvernement‘, der Regierung, erstreckte sich in Foucaults letzten Vorlesungen weit hinaus über die Formen der politischen Regierung oder der Lenkung der Verwaltung auf Formen der Selbstregierung, der Selbsttechnologien. Mit ‚Regierung‘ konzipierte Foucault einen Begriff, der die wechselseitige Konstitution und Kopplung von Machttechniken, Wissensformen und Subjektivierungsprozessen in den Mittel-
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punkt rückt. Um die Produktivität dieses Ansatzes für die Medienanalyse aktueller Unterhaltungsformate zu veranschaulichen und zu zeigen, dass Arbeiten von Michel Foucault durchaus zum Referenzpunkt einer Theorie des Performativen gemacht werden können, sollen zunächst unter Bezug auf die Makeover-Show The Swan, dann mit Blick auf die Castingshow Deutschland sucht den Superstar gezeigt werden, dass sich die Modelshow Germany’s next Topmodel in eine Reihe von Formaten einreiht, die sich durch eine spezifische Anrufung des Subjekts auszeichnen, das „sich selbst-bewusst, durchsetzungsstark und dennoch flexibel in Freiheit und Selbstverantwortung selbst vermarkten kann: ein Unternehmer seiner Selbst“ (Duttweiler 2003: 31).
3 Die Arbeit am Körper-Ich: „Vom hässlichen Entlein zum schönen Schwan“ „Wer schön sein will, muss leiden! Von dieser alten Weisheit lassen sich unsere 16 Kandidatinnen aber nicht abschrecken. Unterstützt von einem der weltweit besten Teams plastisch-ästhetischer Chirurgen, von Fitnesstrainern, Ernährungsberatern und Psychologen arbeiten sie hart an sich, um vom ‚hässlichen Entlein‘ zum ‚wunderschönen Schwan‘ zu werden.“3
Im Jahr 2004 wurde im deutschen Fernsehen die OP-Show The Swan – endlich schön (Pro7) ausgestrahlt, in der 16 Kandidatinnen diverse Schönheitsoperationen über sich ergehen ließen, um letztlich miteinander um den Titel The Swan zu konkurrieren. Schon 2002 startete die Reality Soap Beauty Klinik (RTL 2); seit 2004 konnten FernsehzuschauerInnen verfolgen, wie sich junge Männer etwa zu Brad Pitt oder eine Transsexuelle zu Jennifer Lopez umoperieren ließen (I want a famous face, MTV). Auf RTL moderierte Birgit Schrowange den Vierteiler Beauty Queen, und die Langzeitdokumentation Alles ist möglich zeigte zwölf Menschen, die (Zitat Homepage) „durch eine Schönheits-OP wieder neuen Lebensmut erhalten haben“4, RTL 2 konterte mit Schönheit um jeden Preis – letzte Hoffnung Skalpell, Pro7 nahm die US-Serie Nip/Tuck ins Programm. Die Zunahme dieser Formate, die zunehmende Fernsehberichterstattung, auch die faktisch zunehmende Zahl an durchgeführten Schönheitsoperationen5 in Deutschland6 haben durchaus bereits einige Untersuchungen angeregt, die der 3 Mit diesen Worten präsentierte der Sender das Format The Swan auf seiner Homepage: http://www.prosieben.de/lifestyle_magazine/swan/showinfo/ [22.02.2006]. 4 Vgl. http://www.rtl.de/ratgeber/gesundheit_alles_ist_moeglich.php [25.02.2007]. 5 Für einen knappen Überblick zur Geschichte und Entwicklung der Schönheitschirurgie vgl. Rohr (2004). 6 Über die Zahl jährlich in Deutschland durchgeführter Schönheitsoperationen liegen nur unzureichende Daten vor, da die kosmetische Chirurgie überwiegend privat praktiziert wird; die Dunkelziffer ist vermutlich hoch. Die Mitglieder der Vereinigung der Deutschen ÄsthetischPlastischen Chirurgen (VDÄPC) führen im Jahr ca. 700.000 Eingriffe durch, rein ästhetische Eingriffe machen dabei etwa 25 Prozent aus; gemäß der Zahl der durchgeführten Eingriffe führen Gewebeunterfütterung mit Fremdmaterial oder Eigenfett die Liste an, gefolgt von Injektio-
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Frage nachgehen, „ob die Art der Darstellung in der Fernsehberichterstattung die Wahrnehmung und Beurteilung von Schönheitsoperationen in den Augen der Rezipienten verändert“ (Rossmann/Brosius 2005: 507). Über die Frage nach der Realitätsnähe der Darstellung von Schönheitsoperationen in den Sendungen, nach dem Einfluss der Darstellungsweisen einer Operationsart auf die Einschätzung der Häufigkeit tatsächlich durchgeführter Schönheitsoperationen oder dem Einfluss der Medienangebote auf die Einstellung gegenüber Schönheitsoperationen und Handlungsbereitschaft hinaus bleibt dabei jedoch eine gesellschaftstheoretische Einbettung und gesellschaftskritische Reflexion des Phänomens „Makeover-Show“ prinzipiell, der einzelnen Formate im Besonderen und der repräsentierten Körperpraktiken im Detail seltsam unterbelichtet; dabei „dokumentiert sich doch am Körper die soziale Ordnung, an deren Herstellung er beteiligt ist“ (Hahn/Meuser 2002: 8). Wie Meuser (2001) herausarbeitet, kommt Körper, dessen Zurichtung und Kontrolle nicht nur Erfolg im Beruf, sondern auch Spaß in der Freizeit und beim Sex bringen soll, genauso wie der körperlichen Selbstdarstellung und einem adäquaten Körperimage eine identitätsrelevante Bedeutung zu; eine vorteilhafte Performance bringt Distinktionsgewinne, und damit wird wiederum ein Markt befördert, auf dem reflexives Körperwissen feilgeboten und nachgefragt wird. Da Attraktivität also dazu beitragen kann, „Macht zu festigen, Bindung zu erzeugen oder Aufmerksamkeit und Beachtung auf sich zu ziehen“ (Koppetsch 2000: 101), wird eine gesellschaftstheoretisch fundierte Analyse eines Medienangebotes wie The Swan nur schwerlich ohne die Berücksichtigung der Statusrelevanz von Attraktivität7 auskommen können. Wie Koppetsch zeigt, erweisen sich „Schönheit“, „Authentizität“ und „Charisma“ als die zentralen Dimensionen der Thematisierung von Attraktivität. Die Studie fördert für das hier im Fokus stehende Medienangebot u.a. folgende wichtige Ergebnisse zutage: So wird erstens etwa die Sichtbarkeit des Hergestelltseins und die demonstrative Verwendung von Verschönerungsmaßnahmen milieu- und geschlechtsspezifisch recht unterschiedlich bewertet. Zweitens wird deutlich, dass Attraktivität eben nicht nur die konkrete Beschaffenheit des (schlanken) Körpers sowie Körperund Gesichtsformen einschließt, sondern ebenso Kleidung und den „Grad an Ungezwungenheit und Natürlichkeit und andere Aspekte einer habituellen Realisierung klassenspezifischer Zugehörigkeiten“ (Koppetsch 2000: 106). Bzgl. der OP-Shows lassen sich daraus folgende Schlüsse ziehen: Auch wenn körper-
nen mit Botolinumtoxin, Fettabsaugung, Lidstraffung, Brustvergrößerung, Brustverkleinerung, Nasenkorrektur, Bauchdeckenstraffung, Ohrkorrektur, Bruststraffung, Facelift, Korrektur der Gynäkomastie, Stirnlift, Oberarmstraffung, Oberschenkelstraffung, Bodylift und Kinnvergrößerung. Pressemitteilung vom 14. Mai 2005; http://www.vdaepc.de/artikel35 4 132.html [22.02.2006]; zu weitere Daten vgl. die Homepage der Gesellschaft_f& Ästhetische Chirurgie Deutschland e.V. (GÄCD): http://www.dgac.de/ index2.html [22.02.2006]. 7 Vgl. dazu aber den Text von Kochhahn/Schemer (2001), die sich in ihrem kurzen Text um diese Perspektive bemühen; einen Überblick über Studien, die die Status-und Ungleichheitsrelevanz körperlicher Attraktivität zeigen, findet sich bei Koppetsch (2000: 99ff.).
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liche Attraktivität im Bourdieu’schen Sinne als Kapital von den Teilnehmerinnen als solches erkannt und eingesetzt werden will, wird die operative „Umarbeitung“ des Körpers den erwünschten Erfolg – mehr Selbstbewusstsein, mehr Akzeptanz, beruflichen Aufstieg und Glück bei der Partnersuche – vermutlich bestenfalls milieuspezifisch liefern. Tatsächlich wäre allerdings vor dem Hintergrund der Zunahme medial präsentierter öffentlicher Bekenntnisse prominenter Personen zur Schönheitsoperationen Koppetschs These (2000: 111) empirisch zu prüfen, dass im „individualisierten Milieu“ Verschönerungsmaßnahmen für die Glaubwürdigkeit der Attraktivität ein Risiko darstellen (das des Bekenntnisses zu „defizitärer Innerlichkeit“). Auch in The Swan werden Körper vermessen, abgelichtet, bildlich in die zu bearbeitenden Zonen zerlegt (Ganzkörperdarstellungen werden mit Vergrößerungen derjenigen Körperteile – Zähne, Brüste, Schenkel etc. – überblendet). Die Frauen übergeben sich der Kontrolle der Produktionsfirma; sie leben für die Zeit der Behandlungen und der Produktion der Sendung alle gemeinsam abgeschirmt von Familie, Freunden und Außenwelt in einem Haus, in dem es keinen einzigen Spiegel gibt; ihr Tagesablauf unterliegt der Regie, den Ärzten und Trainern, die für Fitness und psychologische Therapie zuständig sind. Die Kamera begleitet sie zu Operationen und ist zu jeder Zeit dabei, in der beispielsweise die Narkose eingeleitet oder die Patientin nach der Operation vom Operationstisch gehoben wird. Der Vorhang, der jeweils am Ende jeder Sendung einen Spiegel preisgibt und den Frauen erlaubt, sich selbst nach den Wochen der Operationen, des Fitness- und mentalen Trainings erstmals wieder in Abendgarderobe zu betrachten, kann als Schlüsselszene betrachtet werden. Die Körper, die von den Frauen als entfremdet angesehen wurden – etliche äußern zu Beginn der Sendung Ekel und Hass auf den eigenen Körper bzw. einzelne Körperteile – sind nun bearbeitet; Kathy Davis (1999) und Ada Borkenhagen (2001) betrachten Schönheitsoperationen als eine Strategie, „um die Auswirkungen der Objektivierung des Körpers zu überwinden, indem dieser Objektivierungsprozess kontrolliert wird“ (Borkenhagen 2001: 64) und unterstreichen damit die Ambivalenz des Handelns zwischen Er- und Entmächtigung, die nur eine Rahmung durch gesellschaftliche Kontexte zu erkennen erlaubt. In der Spiegelszene wird der Körper den Frauen symbolisch wieder zugeführt; erinnert sei an Lacans Konzept des Spiegelstadiums, in dem die Entstehung des Ichs explizit an die Gewahrwerdung des Bildes vom eigenen Körper und die Identifizierung mit diesem Bild gebunden ist; „das Kind erkennt im Spiegelstadium nicht nur seinen eigenen Körper, sondern es erkennt sich in der Gestalt seines Körpers“ (Borkenhagen 2001: 65). Der Doppelaspekt von Leib-Sein und Körper-Haben (Plessner), von Empfinden und Beobachtet-Werden, Ermächtigung und Entmächtigung wird in The Swan sinnbildlich in Szene gesetzt. Die Tatsache, dass die Spiegelszene nahezu alle Frauen in Tränen ausbrechen lässt, sagt kaum etwas darüber aus, ob es ihnen gelingen wird, diese beiden Aspekte zu einem Ausgleich zu bringen.
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4 „Burnen musst Du!“ – Castingshows als Werkstatt des neoliberalen Subjekts Talentshows begleiten die deutsche Fernsehgeschichte seit ihren Anfängen8; „neu“ an den seit 2003 im deutschen Fernsehen vermehrt ausgestrahlten Castingshows9 im Vergleich zu den Talentshows ist m.E., wie ein Selektionsprozess an sich nicht nur veröffentlicht, sondern auch über Wochen verlängert und mit diversen Formen der Herabwürdigung und Erniedrigung medial in Szene gesetzt wird. In diesen Sendungen wird die Selbstvermarktungsidee – häufig unverhohlen mit Zumutungen und Disziplinierungen verbunden – in Szene gesetzt und der ‚Leistungsgedanke‘ mittels Selektionsriten perpetuiert. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer stellen sich dem Wettbewerb, der harten Arbeit an sich selbst – und zwar mental und körperlich. „Burnen musst du!“ lautete die pathetisch ausgerufene Parole, mit der Coach Detlef „D!“ Soost die Kandidatinnen und Kandidaten in der Sendung Popstars – Das Duell im Jugendslang anfeuerte; sie veranschaulicht sinnfällig die Anforderung der Inanspruchnahme aller Poren des Subjekts in den Prozessen der Selbstrepräsentation, -aufführung und -inszenierung. Der Appell lautet – kurz gesagt: Jede/r ist Experte in eigener Sache, verantwortlich dafür, sein eigenes Humankapital – und dies bedeutet in den Shows zugleich geschlechtsspezifisch, in den meisten Fällen heterosexuell und gemäß der (zugeschriebenen) ethnischen Zugehörigkeit – mit maximalem Gewinn und auf eigenes Risiko zu verwalten und zu vermarkten.Während der Sendungen kommt dem Bewertungsprozess eine zentrale Rolle zu, auch und nicht selten wird dabei allerdings weniger der Gesang als die Attraktivität der Körperlichkeit – die keine Gerechtigkeit kennt – zum Kriterium des Auserwählt-Seins. Die Zuschreibungsmodi in den Shows richten sich auf die Körper, die in den Shows als konstitutiver Referenzpunkt stets relevant gesetzt werden. Häufig dient Körper explizit als Auslesekriterium, erträgt und erwidert als Leib die Gefühle der Erniedrigung und wird zum zentralen Gegenstand bewusster Selbstdisziplinierung wie Selbstformierung. 8 Man denke etwa an Peter Frankenfeld und Wer will, der kann – die Talentprobe für jedermann, Toi Toi Toi – Der erste Schritt ins Rampenlicht sowie Und Ihr Steckenpferd, an Hans Pröttels Talentschuppen, Michael Schanzes Hätten Sie heut Zeit für uns? oder Heinz Quermanns Die waren noch nie da (später bekannter als Herzklopfen kostenlos, seit 1971 umbenannt in Heitere Premiere). In der jüngst wiederbelebten Gong-Show (1992/93 unter Moderation von Götz Alsmann auf RTL, 2005 samstags auf SAT.1 und im Jahr 2007 als Wiederholungen zu sehen) durften auch früher schon Untalentierte „weggegongt“ werden. Insofern ist die Einübung in solcherart medial vermittelte Selbstaufführungen als auch die Einübung in Abstimmungsprozeduren unter Beteiligung des Publikums Fernsehzuschauerinnen und -zuschauern seit Jahrzehnten bekannt (vgl. Thomas 2005). 9 In der Presse wurden Castingshows im Jahr 2003 als das Fernsehformat des Jahres bezeichnet: Deutschland sucht den Superstar, Star Search, Popstars – Das Duell, Die Deutsche Stimme oder Fame Academy – Dein Weg zum Ruhm waren deutsche Entsprechungen der ursprünglich britischen Sendungen Pop Idol, des neuseeländischen Formats Popstars, Star Search des Senders CBS bzw. Fame Academy von Endemol International; sie liefen und laufen in Ländern rund um den Globus.
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Diese Formen der Körperthematisierung als Formen der Disziplinierung zu betrachten, wird wohl kaum mehr bestritten werden. Eine Bearbeitung der Fragen nach dem Zusammenhang zwischen neoliberal formulierten Rationalitäten, medialen Angeboten und Handlungspraxen verlangt jedoch eine Analyse der Prozesse aus einer Perspektive, die die Körperlichkeit des Handelns selbst in seiner Sozialität zu fokussieren vermag. Eine Untersuchung somatischer Kultur(en) im Neoliberalismus muss demnach der Tatsache gerecht werden, dass sich eine gesellschaftliche Formation nicht nur in kognitiven, sondern wesentlich in performativen Prozessen in Köpfe und Leiber einzuschreiben vermag. Dabei „den französischen Philosophen Michel Foucault als ‚Denker des Performativen‘ zu präsentieren“, ist, so Birgit Althans, „ein heikles Unternehmen“ (Althans 2001: 129). Dennoch gelingt es ihr, plausibel zu machen, warum Foucault auch für Judith Butler zum Referenzpunkt einer Theorie des Performativen werden konnte: In seinen letzten Arbeiten (‚Der Gebrauch der Lüste‘; ‚Die Sorge um sich‘) entwickelte Foucault die „Idee einer (performativen) Subjektkonstitutierung durch ‚Umbildung‘ oder ‚Selbsterzeugung‘“ (Althans 2001: 150), an die auch Judith Butler anknüpft, um die Bedeutung der gesellschaftlichen Normen als auch der Eigenaktivität im Prozess des Geschlechts-Werdens zusammen zu denken (vgl. Tervooren 2001). Dass Butler dabei das Verhältnis der Kategorie Geschlecht etwa zur Kategorie „Ethnizität“ vernachlässigt, hat bereits Encarnaciòn Guitiérrez Rodríquez (1999) kritisiert; dass man deshalb mit Butlers Modell der Performativität schnell an Grenzen stößt, erkennt auch, wer beispielsweise Popstars – Das Duell aus dieser Perspektive mitverfolgt hat: In dieser Sendung wurden die KandidatInnen nach Phänotypen zu einer Girl- und einer Boy-Band zusammengestellt. Unter dem ökonomischen Primat verschränken sich hier Geschlechterinszenierung und Ethnizitätszuschreibung zu Kennziffern des Markterfolgs, und die Materie des Körpers wird zum Ort des Vollzugs der Macht: So kritisierten Jurymitglieder das Körpergewicht der Kandidatinnen, wünschten sich ihr Benehmen mehr „ladylike“. Die Popstar-Band besteht schließlich aus einer hellhäutigen Blonden, einer brünetten gebürtigen Albanerin, einer Italienerin, einer Schwarzhaarigen mit asiatischem Aussehen und einer dunkelhäutigen Südafrikanerin. Diese Schilderung der Szenen aus der Sendung Popstars – Das Duell zeigen m.E. zweierlei: Erstens wird deutlich, dass mit Hilfe eines (sicherlich noch weiter auszuarbeitenden und empirisch zu prüfenden) Performativitätskonzepts ein produktiver Weg beschritten werden kann, der den Blick auf den Zusammenhang von Selbst-/Fremdführung und Subjektivität/Subjektivierung erweitert. Zweitens wird allerdings ebenso offenkundig, dass das Verständnis von der Performativität mit Anforderungen an ein Verständnis von Subjektivität/Subjektivierung zusammengeführt werden muss, das Subjektkonstituierung im performativen Vollzug nicht unabhängig von der sozialen Verortung, Lebenssituation und den diskursiv und institutionell vermachteten Orten der Hervorbringung versteht.
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5 Lifestyle-TV und Lebensführung Ausgangspunkt meiner Überlegungen war es, medial inszenierte Körperpraktiken als Teil eines „doing culture“ zu begreifen, das die Reproduktion sozialer Verhältnisse und Beziehungen verwirklicht. Insbesondere dem Reality-TV bescheinigt Elisabeth Klaus in ihrem konzisen Forschungsüberblick, dass es „besonders deutlich [zeigt], wie stark Unterhaltung und Gesellschaft verknüpft sind“ (Klaus 2006: 25). Vor diesem Hintergrund wurden Formate des LifestyleTV als Subgenre des Reality-TV ausgewählt, die sich dadurch auszeichnen, dass hier Formen des Makeovers von häuslicher Umgebung, Lifestyle, Körper, Beruf oder gesamter Lebensumgebung vorgenommen werden und diese für einstige ZuschauerInnen als TeilnehmerInnen an der Produktion „wirkliche“ Veränderungen mit sich bringen. Insofern begreift Eggo Müller (2005: 9) diese Sendungen als „transformatives Lifestyle-Fernsehen“. Lifestyle-TV bietet dabei mehr als „Stilisierungen“ oder die Inszenierung von Kleidungsstilen, Film- oder Musikgeschmack. Es zeigt sich, dass es Modelle der Lebensführung anbietet, die als einerseits handlungsleitende Wertorientierungen im Sinne einer als wünschenswert erachteten Lebensgestaltung als auch andererseits als mit Symbolgehalt versehene Handlungsmuster verstanden werden können, die die Verständigung von Akteuren in sozialen Interaktionen ermöglichen (vgl. Otte 2005: 452). Tatsächlich ließ sich unter Bezug auf die Governmentality Studies erkennen, wie eine medial inszenierte „Einladung“ in die Einübung spezifischer Selbstverhältnisse und Praktiken mit der Anrufung eines „unternehmerischen Selbst“ (Bröckling 2007) korrespondiert: Aufforderungen zur Arbeit am eigenen (Körper-)Ich, zur Unterwerfung unter Normalisierungserwartungen und Konformitätsdruck werden in den Formaten Germany’s next Topmodel, The Swan und Popstars rekonstruierbar. Nimmt man die Performativität des Körpers und seine Fähigkeit, soziale Arrangements, soziale Beziehungen und soziale Hierarchien zugleich darzustellen und herzustellen ernst und interpretiert medial inszenierte Körperrepräsentationen und -performances nicht nur als Vermittler von Unterwerfung und Kontrolle, so stellt sich auch die Frage nach den Brüchen, Widersprüchen, kurz, nach dem Misslingen der Anrufung des unternehmerischen Selbst. Mit Blick auf die RezipientInnen habe ich gemeinsam mit Ines Langemeyer bereits an anderer Stelle argumentiert (Thomas/Langemeyer 2007), dass solche Formate keineswegs ein eindeutiges Erfolgsrezept vermitteln. In dem künstlichen Wettbewerb wird ebenso die Willkür von Entscheidungen sichtbar. Zudem dürfte die Aufforderung zur Arbeit am Selbst sehr unterschiedlich wahrgenommen werden: Jede Arbeit, einschließlich derjenigen an sich selbst, verlangt einen Willen, eine Anstrengung und ein Verfügen über Ressourcen, um zum Selbstmanagement und zur Eigenverantwortung in der Lage zu sein. Zu diesen Ressourcen gehört sicherlich auch körperliches Kapital, und es müsste beispielsweise mit Blick auf die Ausführungen zu den milieuspezifischen Unterschieden hinsichtlich der Glaubwürdigkeit von Attraktivität und entsprechender
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Wertorientierungen geprüft werden, wie anschlussfähig die medialen Angebote für RezipientInnen verschiedener sozialer Positionierung erlebt werden. Ob und wie eine Verständigung von Akteuren über symbolische Praktiken in sozialen Interaktionen möglicherweise auch quer zu den üblicherweise relevant gesetzten Strukturkategorien wie Klassenlage, Geschlecht, Ethnizität, Alter etc. zustande kommt, wäre eine andere empirisch zu klärende Frage. Diese vor dem Hintergrund sich wandelnder gesellschaftlicher Verhältnisse mit einem durch kritische Theorien geschärften Auge zu erhellen, ist Aufgabe gesellschaftstheoretisch fundierter, empirisch angelegter qualitativer Studien.
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„… daß dieses Alles nicht alles sei.“ Über den Zusammenhang von Werbung, Konsum und Zufriedenheit Michael Jäckel
1 „… ein Lob der Torheit.“ Warum Werbung? Obwohl heutige Gesellschaften so reich an Konsummöglichkeiten sind, wird dieser ökonomische Fortschritt auf sozialer und kultureller Ebene selten in einmütiger und ausschließlich positiver Form gewürdigt. Dort, wo ein Maximum an Optionen geboten wird, entstehen häufig auch Minimalismus-Strategien, die gelegentlich in offene Formen der Befeindung des Konsums münden. Sandall beispielsweise vertritt die Auffassung, dass die Bewunderung des einfachen Lebens zu den auffälligsten Gefühlsäußerungen der Moderne zähle und ein Fortschrittsparadox darstelle (vgl. Sandall 2005: 1042). Im Folgenden sollen Werbung und Konsum in diesem Argumentationskontext diskutiert werden. Über den Zusammenhang von Werbung, Konsum und Zufriedenheit liefert die historische Konsumforschung für die Zeit vor dem Aufkommen der Industriegesellschaft nur sehr wenige Hinweise. Damit ist keineswegs ausgeschlossen, dass eine Gesellschaft, der Reklame im Übermaß noch eher fremd war (zumindest nicht im Sinne einer Informationsüberlastung wahrgenommen wurde), nur dringliche Bedürfnisse kannte. Als Vance Packard den modernen Konsumenten hinter die Kulissen der Werbewelt blicken ließ, zitierte er einen Werbeleiter aus Milwaukee mit der Bemerkung, dass „Amerika durch die systematische Schaffung von Unzufriedenheit groß geworden sei“ (Packard 1983 [zuerst 1958]: 185). Für eine traditionale Ständegesellschaft kann diese Behauptung kaum Geltung beanspruchen, da diese nur wenige Innovationsimpulse erhielt. Jedenfalls gilt für diesen Zeitraum nicht, dass Werbung als ein rätselhaftes Phänomen erschien (vgl. hierzu auch Luhmann 1996: 85). Wer heute an Werbung denkt, assoziiert damit meist auch einen Manipulationsverdacht oder vermutet zumindest, dass unaufrichtige Strategien zum Einsatz kommen. Da diese Erwartungen existieren, rätselt man, warum in einer solchen Gesellschaft Menschen überhaupt bereit sind, viel Geld für Werbung aufzuwenden, obwohl die Unterstellungen auf beiden Seiten (Sender und Empfänger) vorhanden sind. Dies ist der Grund, warum Luhmann in seinem kleinen Kapitel über Werbung die Feststellung trifft: „Es fällt schwer, hier nicht das Lob der Torheit zu singen, aber offenbar funktioniert es, und sei es in der Form der Selbstorganisation von Torheit“ (ebd.: 85). Werbung aus diesen Gründen als eine eigenständige Kommunikationsform zu bezeichnen, dürfte sehr rasch zu Abgrenzungs-
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problemen führen, beispielsweise zur politischen Kommunikation. Schmidt vertritt die Auffassung, dass Werbung das Ergebnis eines systematischen Differenzmanagements gewesen ist. Zur Entstehung dieser Abgrenzung gibt er folgende Erläuterung: „Im Optionendreieck zwischen Literatur, Journalismus und PR wurde […] eine vierte Kommunikationsmöglichkeit eröffnet, die das neu entstehende Werbesystem besetzte. Werbung war und ist bedingungslos parteiisch – und jeder weiß das. Werbung teilt nicht mit, was ist, sondern was man sich wünschen soll; sie löst alle in der Praxis ungelösten Probleme durch die Verklärung von Konsum: Kauf mich und Du wirst schön und glücklich!“ (Schmidt 2002: 102).
Für die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts einsetzende Professionalisierung und Verwissenschaftlichung von Werbung mag eine solche Beobachtung zutreffen, es bleibt aber die Tatsache einer langen Vorgeschichte, die, folgt man dem dreibändigen Werk von Buchli, auf mindestens 6000 Jahre zurückblicken kann (vgl. Buchli 1962; 1966). Scheele wies in seinem Beitrag „Historische Aspekte der Werbung“ auf die Vorliebe der Werbepraxis hin, den Blick nach vorne und nicht in die Vergangenheit zu richten (vgl. Scheele 1982: 3110). Ohnehin galt Werbung bzw. Reklame der allgemeinen Wirtschaftsgeschichte nicht als eine signifikante Quelle, eher als eine Begleiterscheinung des sozialhistorischen Wandels. Die wort- und ortsdominante Form der Werbung, wie sie durch den Ausrufer oder eine Steinplatte verdeutlicht werden, waren in ihrem Wirkungsradius sehr begrenzt und erreichten im Wesentlichen nur jene Personen, die zur Werbung hinkamen. Erst die Verbesserung der drucktechnischen Möglichkeiten beflügelte das Annoncen- und Anzeigenwesen, das über lange Zeit aber noch den Ankündigungscharakter beibehielt und sehr textdominant gestaltet war. Eine grobe Klassifikation der Entwicklungsstufen von Werbung könnte daher wie folgt aussehen: x frühe Formen der Werbung bis zur Erfindung des Buchdrucks (der Wirkungskreis der Werbung ist in der Regel sowohl personen- als auch ortsgebunden), x das Aufkommen von Anzeigen, Inseraten und Plakaten bis zum Beginn der industriellen Revolution, x die moderne Wirtschaftswerbung und ihre Verwissenschaftlichung im 20. Jahrhundert. Die Veränderung des Stellenwerts von Werbung wird insbesondere durch eine Aussage des Nationalökonomen Karl Knies aus dem Jahr 1857 verdeutlicht. Bezüglich der Annoncenwerbung bemerkte er damals: „Daß […] die Annonce erst in der neuesten Zeit bedeutsam hervortritt, hat seine guten Gründe. Für einen Zustand, wo Bannrechte, Zunftprivilegien, Personal- und Realgerechtsame u. dgl. in Geltung sind, Käufer und Verkäufer sich wohl bekannt in demselben Quartier, in derselben Gasse wohnen, hat die Annonce kaum einen Sinn“ (Knies 1996 [zuerst 1857]: 52f.).
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So, wie der Dorfbewohner sich in seinem Kramladen orientieren konnte und nur gelegentlich von interessanten Neuheiten jenseits seines Erfahrungshorizonts erfuhr, waren eben auch die frühen Formen der Werbung zunächst einmal an jenen Märkten orientiert, die sich ihnen boten. Die Trennung von Produzenten und Konsumenten, so stellte Karl Bücher fest, machte „die Reklame notwendig, damit beide einander finden konnten“ (Bücher 1981a [zuerst 1917]: 192f.). Als Knies diese Beobachtung machte, war das staatliche Anzeigenmonopol im damaligen Preußen gerade erst seit elf Jahren außer Kraft. Wesentlich bedeutsamer für die Veränderung von Werbezielsetzungen dürfte sich aber der Wandel der Sozialstruktur der damaligen Gesellschaft ausgewirkt haben. Der Wandel der Besitz- und Herrschaftsverhältnisse in der Agrarwirtschaft (Stichwort: Bauernbefreiung) und die parallel sich vollziehende Industrialisierung führten in Verbindung mit einer enormen Landflucht und erzwungenen Mobilität zur Entstehung großer Städte. Selbst lokale Märkte nahmen nun eine Größenordnung an, die das gezielte Bewerben von Produkten notwendig machte. Haushalte, die bislang einen wesentlichen Teil ihrer lebensnotwendigen Bedürfnisse über den Weg der Selbstversorgung befriedigten, waren nun in zunehmendem Maße auf Fremdversorgung angewiesen. Werbung musste nunmehr also auch dem Ziel dienen, diese neu entstandene Anonymität wieder zu durchbrechen. Zeitungen wurden zu einem wichtigen Verbreitungsmedium, sodass Karl Bücher die Zeitung als ein Erwerbsunternehmen charakterisierte, „das Annoncenraum herstellt und verkauft, der nur durch einen redaktionellen Teil absetzbar gemacht werden kann“ (Bücher 1981b [zuerst 1921]: 212). Werbung musste also ein neu entstandenes Vakuum füllen. Sie tat dies, indem sie an sich anonyme Formen der Kommunikation über den Weg einer scheinbar individuellen Ansprache zu einem neuen Feld öffentlicher Kommunikation entwickelte. Gleichzeitig führte die Ausdifferenzierung der Warenwelt dazu, dass sowohl das Erscheinungsbild von Geschäftsflächen und Schaufenstern als auch das der Produkte eine ästhetische Neugestaltung erfuhr. Rudolf Cronaus „Buch der Reklame“ aus dem Jahr 1887 enthält zahlreiche Beispiele aufmerksamkeitssteigernder Maßnahmen, die sich auf die Verpackung bzw. die Vollendung eines Produktionsprozesses beziehen (vgl. auch Clausen 1964). Was unansehlich ist, bleibt reizlos. So genial eine neue Technik auch sein mag, man muss sie „bekleiden“ und mit Etiketten versehen. In diesen Maßnahmen spiegelt sich vielleicht auch das Differenzmanagement wider, von dem Schmidt spricht, jedenfalls entwickeln sich spezialisierte Geschäftsbereiche, deren Funktion primär darin besteht, die Begehrlichkeit von Waren zu erhöhen. Der Markengedanke, der bereits aus der Vormoderne bekannt war, wird dadurch in seiner Bedeutung noch erhöht, was beispielsweise an den rasch notwendig werdenden Markenschutzgesetzgebungen ebenfalls abgelesen werden kann. Folgt man Dichtl, dann ist die Zeit zwischen 1850 und der Jahrhundertwende als die Reifezeit des modernen Markenwesens zu bezeichnen (vgl. Dichtl 1992: 3f.). Insbesondere das letzte Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts brachte Markengründungen hervor, die bis heute bekannt und existent sind:
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Leibniz-Cakes 1892, Odol 1893, Dr. Oetker 1899 usw. (vgl. umfassend hierzu Hellmann 2003: 52f.). Die Marke sollte für sich sprechen und einen Mehrwert vermitteln. Zusammenfassend kann daher mit Falk festgestellt werden: „Mass production expanded markets beyond local boundaries into the national and international sphere, and as a consequence replaced the identity of products as the personal extensions of smallscale producers and local shopkeepers with anonymous mass-produced goods which, for this very reason, had to be given a name and a voice of their own“ (Falk 1997: 65).
Die „toten Waren“, ein Begriff, der Adam Smith zwar zugeschrieben wird, von diesem aber explizit nicht verwandt wurde (vgl. hierzu Richards 1990: 2; Jäckel 2006: 112), erhalten also dadurch einen zusätzlichen Reiz. Die Gesamtheit dieser Werbemaßnahmen, insbesondere aber das allmählich ausufernde Inseratenwesen, rief die Werbekritik sehr rasch auf den Plan. Lassalle sprach diesbezüglich von der „Zeitungspest“, Sombart wiederum hielt der Reklame in der modernen Großstadt als auch der Werbung in den Zeitungen vor, dass beides rundweg als ekelhaft zu bezeichnen sei, prangerte sie als Dreck an und warnte vor ästhetischen Schädigungen (vgl. hierzu Borscheid 1995: 42). Ebenso aber werden auch Überlegungen angestellt, wer in besonderer Weise der Faszination der Werbung erliegen könnte. Bezüglich der Attraktivität von Auslagekästen im damaligen Wien stellte Adalbert Stifter bereits um die Mitte des 19. Jahrhunderts folgende Überlegung an: „So natürlich, so unschuldig die Auslagen sind: So sehr glaube ich, reizen und verführen sie gerade die untern Klassen vorzüglich des weiblichen Geschlechts zur Begierde nach Luxus und Hoffart, und natürlich auch zu den Wegen dahin“ (zit. nach Borscheid 1995: 31).
Diese Willensschwäche, die Stifter hier konstatiert, wird symptomatisch für die zugeschriebene Rolle der Konsumentin im Zuge der Entstehung der modernen Konsumgesellschaft. Schössler sieht die konsumierende Frau den öffentlichen Raum betreten und beschreibt diesen Prozess flankierende Vorwürfe wie Kleptomanie und Kaufrausch (vgl. Schössler 2005: 245f.). Die Pathologisierung des weiblichen Konsums erscheint vor diesem Hintergrund als ein weiterer Abwehrkampf gegen unausweichliche Veränderungen, die mit der Moderne einhergehen (vgl. hierzu auch Lenz 2006). Parallel dazu erweisen sich die entstehenden Mittelschichten als ein weiterer Fixpunkt der Kritik. Obwohl Geiger in seiner Auseinandersetzung mit dem Begriff der Reklame zunächst noch davon ausgeht, dass es sich dabei um eine „mit geschäftlichem Eigeninteresse vor Augen ausgeübte suggestive Beeinflussung von Personen in Massen [handelt], um sie als Käufer für Waren oder Dienstleistungen auf dem öffentlichen Markt zu gewinnen“ (Geiger 1987 [zuerst 1932]: 471), sieht er besondere Wirkungschancen in neu entstehenden und aufstrebenden Klassen, zu denen die Mittelschichten zählen. „Es ist kaum ein Zufall, daß die europäische Laufbahn der Reklame in dem klassischen Mittelschichtland Frankreich begann. Die Stellung der Mittelschicht in der modernen Gesellschaft hat lange Zeit hindurch etwas Provisorisches, ja Negatives gehabt. Der Wohlhabende genoß seine wirt-
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schaftliche Macht, der Arbeiter seine politische Macht als organisierte Masse, der Akademiker hatte seine feste, standesbestimmte Stellung. Die besitzende Mittelschicht dagegen fühlte sich in ökonomischer Hinsicht bedrängt und ausgeschaltet, und die neugebildete Mittelschicht, die aus Gehaltsempfängern bestand, suchte aus ideologischen Gründen Distanzierung zur Arbeiterklasse, deren wirtschaftliches Schicksal sie im wesentlichen teilte. Das Entscheidende daran ist, daß es sich nicht, wie bei der Arbeiterbewegung, um einen kollektiven Auftrieb handelt, der höheres Ansehen für die ganze Klasse als solche erstrebt, sondern um einen Drang, sich als einzelner unter Verleugnung seines sozialen Standes Geltung zu verschaffen“ (ebd.: 488).
Während Packard in Anlehnung an einen Werbeleiter Unzufriedenheit als einen wichtigen Motor des Fortschritts definiert, wird hier das Aufstiegsverlangen als ein bedeutender Motor für Werbeerfolge identifiziert. In unmissverständlicher Form hat einer der bedeutenden Pioniere der Werbepraxis, David Ogilvy, die Frage, ob man Werbung abschaffen solle, auch in diesem Sinne beantwortet: „Die allgemeine Zunahme des Lebensstandards in allen Bevölkerungsschichten innerhalb der letzten fünfzig Jahre wäre ohne Werbung unmöglich gewesen; hat diese doch dazu beigetragen, das Wissen um einen höheren Lebensstandard zu verbreiten“ (Ogilvy 1991 [zuerst 1963]: 204).
Sir Winston Churchill stimmt mit Mr. Roosevelt überein: „Die Werbung ist der Nährboden für den Konsum der Menschheit. Sie zeigt dem Menschen eine bessere Wohnung als sein Ziel, bessere Bekleidung, bessere Ernährung für sich und seine Familie. Das spornt jeden einzelnen zu größeren Leistungen an“ (ebd.).
Diese entschiedene Einschätzung der Funktion von Werbung soll im Folgenden etwas näher betrachtet werden.
2 „… Träumen vom Überflüssigen.“ Warum Konsum? Die von Theodor Geiger formulierte Position und die positive Einschätzung von David Ogilvy repräsentieren gegensätzliche Positionen im Streit um die Frage, welche Funktion Werbung für die Konsumenten übernimmt. Das Spektrum möglicher Werbewirkungen ist durch diese beiden Positionen noch keineswegs erschöpft. Eine einigermaßen realistische Einschätzung der Funktion von Werbung muss den jeweiligen Kontext, in dem eine Funktion erbracht werden soll, berücksichtigen. Generalisierende Aussagen fallen schwer, weil die Werbung selbst gerne eine Situation erzeugt, die durch den Begriff der Kontingenz gut beschrieben werden kann. Dieses Erzeugen von Unentschiedenheit korrespondiert mit dem Bezweifeln der Effizienz. Das Bonmot „I know half the money I spend on advertising is wasted, but I can never find out which half“, das dem Warenhausbesitzer Wanamaker zugeschrieben wurde, hat nach Recherchen von Disch mindestens vier weitere mögliche Urheber (vgl. Disch 2000). Die Kontroverse um starke oder schwache Werbewirkungen leidet aber vor allem unter einer nicht vorhandenen Festlegung von Schwellenwerten. Niemand wird, auch unter Zugrundelegung eines naiven Stimulus-Response-Modells, annehmen,
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dass das Vorliegen eines starken Effekts die gleichgerichteten Aktivitäten aller Mitglieder einer Gesellschaft oder Zielgruppe zur Folge haben muss. Selbst wenn nur weniger als zehn Prozent der Bevölkerung einer bestimmten Werbekampagne ‚folgen‘, wird ein solcher Effekt von der öffentlichen Meinung wahrscheinlich bereits als stark eingestuft. Raymond Bauer hat in seinem berühmten Aufsatz „The Obstinate Audience“ an verschiedenen Beispielen gezeigt, dass selbst nur ein geringer prozentualer Anteil an Personen, die ihr Verhalten tatsächlich ändern, schon als Werbeerfolg interpretiert werden kann. Ein bekanntes Beispiel betrifft die Zigarettenindustrie: „Yet, consistently successful commercial promotions convert only a very small percentage of people to action. No one cigarette now commands more than 14% of the cigarette market, but an increase of 1% is worth $60,000,000 in sales. This means influencing possibly 5% of all adults, and 1% of cigarette smokers. This also means that a successful commercial campaign can alienate many more than it wins, and still be highly profitable“ (Bauer 1964: 322).
Hinzu kommt, dass solche Effekte das Resultat von unterschiedlich komplexen Wirkungsketten sein können. Werbung gehört ohne Zweifel nicht in den Bereich der verständigungsorientierten Kommunikation, zumindest ist das nicht ihr primäres Ziel. Werbung möchte informieren, sie wählt dazu unterschiedliche Strategien und hofft, dass mehr als Kaufabsichten das Resultat sind. Zumindest zeigt die Geschichte der Werbewirkungsforschung, dass angesichts einer Zunahme des Kommunikationswettbewerbs um Produkte und Dienstleistungen unmittelbare Nachweise von Werbeerfolgen sehr schwierig geworden sind. Werbung versucht also zumindest Zusatznutzen zu generieren. Inwiefern dieser Zusatznutzen ausschließlich über die Kommunikation oder unter maßgeblicher Beteiligung des Konsumenten zustande kommt, spannt den Bogen vom Vorwurf der Manipulation bis hin zur Idee der Konsumentensouveränität. Der Siegeszug des Konsums, den Riesman zu Beginn der 1950er Jahre des vergangenen Jahrhunderts für die Vereinigten Staaten beschrieben hat, ist für viele Kritiker dieser aufkommenden Konsumgesellschaft ein Sieg der „falschen“ bzw. nicht dringlichen Bedürfnisse gewesen. Besonders die Kritische Theorie sah in dieser Entwicklung der modernen Gesellschaft nicht den Weg zu einem humaneren Leben. Ein Kennzeichen dieser Kritischen Theorie ist eine permanente Infragestellung des historisch Gegebenen. Es sei das Recht eines jeden Beobachters, über die Gegebenheiten seiner Lebenswelt hinaus zu denken und sie nicht bloß zu reproduzieren. Die Kritik an der allmählich entstehenden Konsumgesellschaft rührte daher insbesondere aus der Beobachtung, dass sich die industrielle Arbeitsweise in allen Lebensbereichen fortsetze. Der Mensch werde zunehmend durch seine Lebensverhältnisse vereinnahmt und sowohl dem Diktat der industriellen Produktion als auch einem Diktat der Vergnügungsindustrie unterworfen, die hier als Komplize erscheint. Zu einer zentralen Kategorie wird der Entfremdungs-Begriff. Die Menschen entfremden sich nicht nur von sich selbst, sondern sie durchlaufen eine Vielzahl von Trennungsprozessen: die Teilung des Eigentums an Produktionsmitteln und der Arbeit, die wachsende Ent-
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fremdung vom erzeugten Produkt infolge einer zunehmenden Arbeitsteilung und schließlich die Unterordnung der eigenen Interessen unter die Notwendigkeiten einer auf Produktion und Konsumtion ausgerichteten Industriegesellschaft. In dem Versuch, diese Gesellschaft möglichst exakt zu vermessen, sahen Horkheimer und Adorno ein signifikantes Indiz für diese Entwicklung: „Die Konsumenten werden als statistisches Material auf der Landkarte der Forschungsstellen, die von denen der Propaganda nicht mehr zu unterscheiden sind, in Einkommensgruppen, in rote, grüne und blaue Felder aufgeteilt“ (Horkheimer/Adorno 1969: 111).
Wenn sich der moderne Mensch also im Einklang mit Reklame verhält und entspannt, werden diese Bedürfnisse nicht als vitale und notwendige identifiziert (vgl. hierzu Marcuse 1989 [zuerst 1967]: 25). Dieses Einlassen auf nicht-selbstbestimmte Lebensentwürfe wird zu einer neuen Form sozialer Kontrolle. Diese Form der Gesellschaftskritik musste in zunehmendem Maße erkennen, dass das Kritisierte gleichsam in zunehmendem Maße Zuspruch erfuhr. Die Enttäuschung über eine Gesellschaft, die diesen kritischen Stimmen nicht folgt, ist wohl besonders deutlich in folgender Auffassung zusammengefasst worden: „Fernsehen, Kühlschrank und Auto hätten die revolutionären Ideologen und Agitatoren brotlos gemacht […] alles […] sehnt sich nach den Fleischtöpfen der Konsumgesellschaft“ (Schiwy 1969: 25). Aber es sind nicht nur die Fleischtöpfe der Konsumgesellschaft, sondern die sich an der permanenten Veränderung von Lebensstandards orientierenden Maßstäbe der Menschen. Je attraktiver diese Lebensumstände werden, desto schwieriger wird die Organisation eines kollektiven Protests. Der britische Sozialhistoriker Thompson erklärt den in England langwierigen und konfliktbeladenen Übergang zur vollentwickelten Industriegesellschaft mit dem vielzitierten Hinweis, „daß England die industrielle Revolution zuerst durchmachte und dabei auf Cadillacs, Stahlwerke und Fernsehapparate verzichten mußte, die das Ziel dieses Prozesses hätten demonstrieren können“ (Thompson 1973 [zuerst 1967]: 92). Umso deutlicher wird, dass man neben so genannten Grundbedürfnissen auch eine weitere, wesentlich wichtigere Bedürfnisorientierung berücksichtigen muss: Ansprüche. Diese Unterscheidung hat Hondrich vorgeschlagen und damit auf unverzichtbare und ersetzbare Bedürfnisse hingewiesen (vgl. Hondrich 1983: 62f.). Auch Keynes hat in seinen „Essays in Persuasion“ vorgeschlagen, absolute und relative Bedürfnisse zu unterscheiden. Die absoluten Bedürfnisse seien jene, die wir ohne Rücksicht auf die Lage unserer Mitmenschen empfinden; relativ dagegen seien jene Formen von Befriedigungen, die uns ein Gefühl der Überlegenheit vermitteln. Von der ersten Kategorie glaubte Keynes, dass sie gesättigt werden kann, die zweite Kategorie von Wünschen erschien ihm als eine unersättliche (vgl. Keynes 1972 [zuerst 1931]: 326). Unterscheidungen dieser Art findet man in ähnlicher Form in zahlreichen Bedürfnistheorien. Auch die Maslow‘sche Bedürfnispyramide lässt sich in zeitlicher Perspektive als ein Kontinuum wechselnder Bedürfnisrelevanzen interpretieren: Mal haben Defizitbedürfnisse den Vorrang, mal Selbstverwirklichungs- oder Wachstumsbedürfnisse.
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Der Hinweis auf die zeitliche Dimension verdeutlicht des Weiteren, dass unsere Vorstellungen von Knappheit kein universelles oder gar anthropologisches Phänomen widerspiegeln. Knappheit resultiert aus den jeweils verfügbaren Ressourcen und stellt daher eine Systemeigenschaft dar: „Die Bedingungen der Produktivitätssteigerungen gehen offenbar Hand in Hand mit sozial erzeugten Erhöhungen von Ansprüchen, so daß die aufklärerische Hoffnung von der Vermehrbarkeit des Glücks durch die Verbesserung der Güterversorgung sich als illusionär erweist“ (Hahn 1987: 121).
Die Vorstellung von dringlichen und nicht-dringlichen Bedürfnissen kann daher nicht ohne Berücksichtigung des vorhandenen Alternativenreichtums interpretiert werden. Im Gegenteil: Knappheit entsteht stets neu und entwickelt sich parallel zu dieser Erfahrung. Damit bleibt Knappheit letztlich also ein Phänomen, das aus Kostenbewusstsein in unterschiedlichen sozialen Kontexten entsteht. Aber letztlich bleibt evident, was McKendrick für den Anfang der Konsumgesellschaft festgestellt hat: „the consumer revolution was the necessary analogue to the industrial revolution, the necessary convulsion on the demand side of the equation to match the convulsion on the supply side“ (McKendrick/Brewer/Plumb 1982: 9).
Die häufige Betonung der dringlichen Bedürfnisse erklärt sich auch aus der Tatsache, dass trotz der unzweifelhaft bestehenden Korrelation zwischen historisch gegebenen Bedürfnissen und Ansprüchen mit dem Beginn des 20. Jahrhunderts die „Welt der Knappheit“ (Nipperdey 1990: 171) sich gleichsam nicht von heute auf morgen in eine „Gesellschaft im Überfluss“ (Galbraith 1959) verwandelte. Max Weber hatte in seinen Analysen über die Anfänge des Kapitalismus auf die Bedeutung von bestimmten Tugenden hingewiesen, die ökonomischen Entwicklungen zuträglich waren. Seine Studien zur protestantischen Ethik sollten zeigen, dass asketische Tugenden, wie Sparsamkeit, Fleiß und eine rationale Berufsauffassung, d. h. die religiöse, aber auch außerreligiöse Sittlichkeit, eine Parallele zur methodischen Lebensführung des modernen Kapitalismus darstellten. Webers innerweltliche Askese wird in einer säkularisierten Variante in Riesmans innengeleitetem Charakter fortgeführt. Riesman charakterisiert diesen wie folgt: „Der innengeleitete Mensch kommt innerlich und äußerlich nie zur Ruhe. Auf der einen Seite fesselt ihn die Produktion mit ständig neuen Aufgaben, auf der anderen Seite verbringt er sein Leben mit der dauernden inneren Erschaffung und Erarbeitung seines Charakters“ (Riesman et al. 1958: 137).
Man könnte mit gutem Recht auch die Auffassung vertreten, dass die Phase der Innenlenkung eine Phase der Entbehrungen und des Aufbaus der modernen Welt beschreibt, während der außengeleitete Verhaltenstypus die Früchte erntet und infolge der prosperierenden Massenproduktion sich mehr und mehr dem Verbrauch zuwendet. Und diese Außenlenkung bedeutet wiederum: eine hohe Relevanz der Zeitgenossen, der Massenmedien, eine hohe Empfangs- und Folgebereitschaft für die Handlungen und Wünsche anderer, eine Verbrauchsorien-
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tierung, die sich mit der Tendenz, selten lange Gefallen an einem bestimmten Produkt zu finden, kombiniert. Diese markante Differenz erklärt auch zu einem guten Teil eine Neubestimmung des Verhältnisses von Arbeit und Freizeit, von Askese und Vergnügen. Dieser geringe Stellenwert des Vergnügens wird in Max Webers Analysen der Wahlverwandtschaft von Religion und Kapitalismus ebenfalls (vgl. Weber 1978 [zuerst 1904/05]) betont, fand aber in den Arbeiten von Colin Campbell (1987) eine konkurrierende Erklärung. Weber habe, so Campbell, seine Protestantismusthese vorwiegend mit Quellenmaterial aus dem 17. Jahrhundert untermauert und den Einfluss von Skeptizismus und Aufklärung auf die Lösung des Theodizee-Problems (hier insbesondere die Hoffnung auf Erlösung) nicht berücksichtigt. Während Max Weber beispielsweise eine Verbindung von Puritanismus und Kapitalismus beschrieb, fokussierte Campbell daher eine Verbindung von Puritanismus und Romantik. Er sah in der westlichen Kultur eine Zwillingskultur, in der sich romantische und puritanische Züge ergänzen. Campbell geht davon aus, dass bereits im 18. Jahrhundert moderne Konsumstrukturen in England zu beobachten gewesen seien (vgl. hierzu insbesondere McKendrick/Brewer/Plumb 1982). Für Campbell liegt die Bedeutung der Romantik darin, dass die Menschen der damaligen Zeit Gefühle als eine Quelle des Vergnügens entdeckten, was sich u. a. in Autobiografien und Tagebüchern niedergeschlagen hat, die zunächst Ausdruck eines Mitleids des Menschen mit den Menschen gewesen seien. Die darin geäußerten Vorstellungen und Träume seien aber auch eine Art Flucht gegen den Rationalismus und eine asketische bürgerliche Lebensform gewesen. Dieser Sentimentalismus schuf die Grundlage für einen Gegenpol, der sich dem funktionierenden Arbeitsablauf einer von puritanischen Werten geprägten Gesellschaft entgegenstellte und eine Kultur begründete, die Vergnügen gestattete. Die Suche nach Genuss und Vergnügen wird hier von der reinen Bedürfnisbefriedigung abgegrenzt. Der Titel seines Buches, „The Romantic Ethic and the Spirit of modern Consumerism“ weist bewusst strukturelle Analogien zum Titel des Werks von Max Weber auf. Weber suchte nach den ethischen Orientierungen, „die dem Kapitalismus ungewollt zum Durchbruch verholfen haben“ (Knobloch 1994: 28). Campbell dagegen will zeigen, dass „die bürgerlichen Mittelschichten verschiedener europäischer Länder im 18. Jahrhundert nicht trotz, sondern wegen ihres puritanischen Erbes zunehmend das Bedürfnis entwickelten, am Modegeschmack der Zeit teilzunehmen. Ihr Hauptmotiv war das von ihnen vom pietistischsentimentalistischen Zweig des Protestantismus vermittelte Gefühl, daß das Bezeugen mitmenschlicher Sensibilität im allgemeinen und des guten Geschmacks im besonderen Tugendhaftigkeit und Charakterstärke beweise“ (ebd.: 30).
So bewahrheitet sich insbesondere in der Umbruchphase des 19. Jahrhunderts eine Beobachtung von Veblen, wonach „unser Aufwandsniveau genau wie auch andere Wettbewerbsziele von jener Klasse bestimmt [werden], die im Hinblick auf das Prestige eine Stufe höher steht als wir selbst“ (Veblen 1958 [zuerst 1899]: 85). Zugleich bestätigt auch Veblen die bereits eingangs getroffene Beo-
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bachtung, dass die Mittelschichten in diesem Prozess eine tragende Rolle zu spielen beginnen: „wenn wir die gesellschaftliche Stufenleiter hinabsteigen, erreichen wir einen Punkt, an dem die Pflichten der stellvertretenden Muße und des stellvertretenden Konsums allein auf der Frau lasten. In den westlichen Ländern befindet sich dieser Punkt gegenwärtig in der unteren Mittelklasse“ (ebd.: 71).
Die Verbreitung ehemals luxuriöser Produkte führt in diesem Zusammenhang zu Statusverlusten, da der Mangelzustand, der diese einmal zu Luxusgütern werden ließ, aufgehoben wird. Damit wurde zugleich ein bekannter Vorgang beschleunigt: Reichere Bevölkerungsschichten sahen sich gezwungen, ihren Lebensstil zu ändern und erneut ihren einmaligen Status zu demonstrieren (vgl. z.B. Braudel 1985: 191). Auch hier wird somit das relative Element evident. Die Auseinandersetzung um Notwendigkeit und Luxus verändert sich je nach ökonomischen Bedingungen und Lebensverhältnissen. Während in der vorindustriellen Zeit Luxus für die Oberklasse ein wichtiges Mittel der Selbstbehauptung darstellte, erweiterte sich dieser Prestigefaktor mit dem Aufkommen von Massenproduktion und Massenkonsum auch auf statusniedrigere Bevölkerungsgruppen. Das vermeintlich Überflüssige wurde für viele Verbraucher erreichbarer. Diese verhältnismäßige Nivellierung hat langfristig nicht zu einer Uniformierung der Gesellschaft geführt. Die Erwartung, dass sich schichttypische Verhaltensstrukturen im Bereich des Verbrauchs und der Unterhaltung soweit anpassten, dass auch der Konsumgesellschaft ihre prägnanten Strukturen verloren gingen, hat sich nicht bestätigt (vgl. hierzu insbesondere Jäckel 2006: 179ff.). Die von René König beschriebene „Demokratisierung gewisser Ernährungsgüter“ (König 1965: 502), die dann auch im Sinn einer Demokratisierung des Luxus interpretiert wurde, spiegelt vielmehr einen Wandel in der Erreichbarkeit von Gütern des alltäglichen und außeralltäglichen Bedarfs wider. Nun, da die wachsenden Dispositionsspielräume des Verbrauchers Optionenvielfalt Wirklichkeit werden lassen, wird auch deutlich, was Konsumentensouveränität bedeuten kann. Katona hat seine Analysen über das Verbraucherverhalten auch vor dem Hintergrund dieser flexiblen Reaktionsmöglichkeiten der Konsumenten durchgeführt. Für ihn galt darüber hinaus auch zur damaligen Zeit: „Die ursprüngliche Aufgabe der Werbung und die, für die sie die besten Erfolge erzielt, ist die Verbreitung von Information“ (Katona 1965: 82). Für Katona übernimmt diese Werbung nicht in erster Linie die Funktion, den Konsumenten über Dinge zu informieren, die er eigentlich gar nicht benötigt. Seine Kontroverse mit Galbraith verdeutlicht er an der Faszination des Automobils, dessen Entstehung wahrscheinlich nicht auf unmittelbare Bedürfnisäußerungen von Konsumenten zurückzuführen ist. Aber Innovationen leiten Lernprozesse ein: „Zwischen den frühen Tagen des Automobils und heute liegen Jahrzehnte sozialen Lernens. Dieser Lernprozess war natürlich nicht spontan […] aber sind nicht in diesem Sinne unsere Bedürfnisse in der Regel erfunden?“ (ebd.: 82). Was also könnte
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gemeint sein, wenn man Werbung für (vorübergehende) Unzufriedenheit verantwortlich macht?
3 „… daß dieses Alles nicht alles sei.“ Wann sind wir zufrieden? Als Hermann Heinrich Gossen seine Abhandlung „Entwicklung der Gesetze des menschlichen Verkehrs, und der daraus fließenden Regeln für menschliches Handeln“ im Jahr 1854 vorlegte, war er alles andere als bescheiden. In der Vorrede zu seiner Analyse vergleicht er sich mit Kopernikus und stellt u. a. fest: „So glaube ich mich durch meine Entdeckungen in den Stand gesetzt, den Menschen mit untrüglicher Sicherheit die Bahn zu bezeichnen, die er zu wandeln hat, um seinen Lebenszweck in vollkommenster Weise zu erreichen“ (Gossen 1854: V).
Die Gossen‘schen Gesetze, die in der volkswirtschaftlichen Literatur als das Gesetz vom abnehmenden Grenznutzen (= abnehmender Nutzenzuwachs) und als Gesetz vom Ausgleich der Grenznutzen bezeichnet werden, sind nur ein Teil der Gesetze, die Gossen in seiner Abhandlung aufstellt. Im Original dürfte das Gesetz vom abnehmenden Grenznutzen der folgenden Aussage entsprechen: „Die Größe eines und desselben Genusses nimmt, wenn wir mit Bereitung des Genusses ununterbrochen fortfahren, fortwährend ab, bis zuletzt Sättigung eintritt“ (ebd.: 4f.). Dieses Gesetz erfährt noch eine Erweiterung, indem auf das frühere Erreichen des Sättigungsgrades hingewiesen wird, wenn sich die wiederholte Inanspruchnahme desselben Gutes in immer kürzeren Abständen wiederholt. Das Gesetz vom Ausgleich der Grenznutzen bezieht sich nun auf eine Situation, in der dem Wirtschaftssubjekt mehrere Güter zur Verfügung stehen und er über die Reihenfolge des Genusses entscheiden muss. Im Original heißt es hierzu bei Gossen: „Der Mensch, dem die Wahl zwischen mehren Genüssen frei steht, dessen Zeit aber nicht ausreicht, alle vollaus sich zu bereiten, muß, wie verschieden auch die absolute Größe der einzelnen Genüsse sein mag, um die Summe seines Genusses zum Größten zu bringen, bevor er auch nur den größten sich vollaus bereitet, sie alle theilweise bereiten, und zwar in einem solchem Verhältniß, daß die Größe eines jeden Genusses in dem Augenblick, in welchem seine Bereitung abgebrochen wird, bei allen noch die gleiche bleibt“ (ebd.: 12).
Beide Gesetze zusammen genommen ermöglichen also zum einen eine Antwort auf die Frage, was ein Wirtschaftssubjekt tut, wenn es seinen Nutzen unter Berücksichtigung der vorhandenen Präferenzen maximieren möchte, zum anderen aber auch eine Antwort auf die Frage, wie es idealtypischerweise vorgehen sollte, wenn es diese Präferenzen hinsichtlich des Werts verschiedener Güter in eine Reihenfolge bringen kann. Implizit ist diesen Gesetzen auch, dass sich das menschliche Verhalten in diesen Bereichen verändern kann. Auch darauf nimmt Gossen in seiner „Handlungstheorie“ Bezug. Schließlich sollte das Resultat sei-
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ner 20-jährigen Beobachtungen den Menschen in die Lage versetzen, seinen Lebenszweck in vollkommenster Weise zu erreichen. Daher stellte er fest: „Die Möglichkeit, die Summe des Lebensgenusses zu vergrößern, wird unter den noch vorhandenen Umständen den Menschen jedesmal dann gegeben, wenn es gelingt, einen neuen Genuß, sei dieser auch an und für sich noch so klein, zu entdecken, oder irgend einen bereits bekannten durch die Ausbildung seiner selbst, oder durch Einwirkung auf die Außenwelt zu steigern“ (ebd.: 21).
Die Parallelen zu den Wahlhandlungstheorien von Homans und zu verschiedenen Varianten der Rational Choice-Theorie sind evident. Homans hatte durch eine Verknüpfung des von ihm vorgeschlagenen Hypothesengerüsts ebenfalls versucht, Regelmäßigkeiten von Verhaltensweisen zu erklären. Bei ihm waren es die Erfolgshypothese, („Je häufiger die Aktivität einer Person belohnt wird, mit um so größerer Wahrscheinlichkeit wird diese Person die Aktivität ausführen“), die Reizhypothese („Wenn in der Vergangenheit eine Aktivität, die von einem bestimmten Reiz oder einer Menge von Reizen begleitet wurde, belohnt worden ist, wird eine Person um so eher diese oder eine ähnliche Aktivität ausführen, je ähnlicher die gegenwärtigen Reize den vergangenen sind“), die Werthypothese („Je wertvoller die Belohnung einer Aktivität für eine Person ist, desto eher wird sie die Aktivität ausführen“), die Entbehrungs-Sättigungshypothese („Je öfter eine Person in der nahen Vergangenheit eine bestimmte Belohnung erhalten hat, desto weniger wertvoll wird für sie jede zusätzliche Belohnungseinheit“) und die Frustrations-Agressionshypothese („Wenn die Aktivität einer Person nicht wie erwartet belohnt oder unerwartet bestraft wird, wird die Person ärgerlich, und im Ärger sind die Ergebnisse aggressiven Verhaltens belohnend“) (Homans 1972: 62ff.). Erfahrungen lenken also die Entscheidungen der Menschen. Ihre Präferenzen entwickeln sich in Interaktion mit ihrer Umwelt, und sie versuchen diese Präferenzen unter Berücksichtigung der Handlungsbeschränkungen bzw. der gegebenen Möglichkeiten zu befriedigen. Der Hinweis auf die Umwelt impliziert viele Faktoren: die Veränderungen im näheren sozialen Umfeld (man denke an die relativen Bedürfnisse im Sinne von Keynes), die Vorstellungen, die man von der Entwicklung der eigenen Gesellschaft hat (diese sind häufig auch medienvermittelt), im Besonderen natürlich auch Informationen über neue Produkte, die wiederum über verschiedene Formen der Werbung, aber natürlich auch über zahlreiche unmittelbare oder durch dritte Personen vermittelte Erfahrungen gewonnen werden können. In Gesellschaften, die immer reicher an Optionen bzw. Angeboten werden, wird das Erreichen des vollkommensten Lebenszwecks also zu einer neuen Herausforderung. Habermas meinte, dass dem Einzelnen durch die Vielfalt der Wahlmöglichkeiten die Augen geöffnet werden. Zugleich erhöhe sich „das Risiko, Fehler zu machen. Aber es sind dann wenigstens die eigenen Fehler, aus denen sie etwas lernen können“ (Habermas 1998: 126f.). Werbung übernimmt auch in diesem Prozess eine Vielzahl von Funktionen. Jeder Versuch, ihre Aufgabe auf die Funktion der Beeinflussung zu reduzieren, übersieht, dass unterschiedliche Werbematerialien in unterschiedlichen Phasen des Entscheidungsprozesses ihre Re-
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levanz haben. Kaum jemand wird, weil er einen interessanten Werbespot gesehen hat, anschließend sofort einen Laden aufsuchen. Werbung kann Impulse geben, sie ist aber auf Grund ihrer Omnipräsenz eher eine permanent wahrgenommene Begleitmusik, die in der Konsumgesellschaft einfach dazu gehört. Sie leistet damit einen signifikanten Beitrag zu der Wahrnehmung des modernen Lebens, dem in einem zu kurzen Zeitraum zu viele Angebote gemacht werden. Der russische Historiker und Dichter Nikolai Karamzin (1765–1826) erzählt in seinen Reiseberichten von einem Zusammentreffen mit Immanuel Kant, in dem dieser ihm über die moralische Natur des Menschen folgendes berichtet habe: „Unsere Bestimmung ist Tätigkeit. Der Mensch ist niemals ganz mit dem zufrieden, was er besitzt, und strebt immer nach etwas anderem. Der Tod trifft uns noch auf dem Weg nach dem Ziel unserer Wünsche. Man gebe dem Menschen alles, wonach er sich sehnt, und in demselben Augenblicke, da er es verlangt, wird er empfinden, daß dieses Alles nicht alles sei“ (Karamzin 1922: 35).
Auch der französische Philosoph Blaise Pascal (1623-1662) schrieb in seinen „Gedanken“: „[…] daß das ganze Unglück der Menschen aus einem einzigen Umstand herrühre, nämlich, daß sie nicht ruhig in einem Zimmer bleiben können. […] [M]an sucht Unterhaltungen und Zerstreuung bei Spielen nur, weil man nicht vergnügt zu Hause bleibt“ (Pascal 1992 [zuerst 1670]: 69).
Die Dynamik der Bedürfnisse, von der im vorangegangenen Abschnitt die Rede war, wird hier in einem Zyklus von Zufriedenheit und Unzufriedenheit eingebettet, der offensichtlich nie zur Ruhe kommt. Albert O. Hirschman hat diesen Sachverhalt in seiner Analyse „Engagement und Enttäuschung“ sehr anschaulich beschrieben. Von ihm stammt der wichtige Hinweis, dass jede Form des Konsums den Keim der eigenen Zerstörung in sich trägt. Das Glück der Menschen, so Hirschman, sei daher immer enttäuschungsbedroht, weil die Erfüllung eines Wunsches gelegentlich auch zur Qual werden kann. Dies gelte in besonderer Weise für langlebige Konsumgüter. Sobald man ein Produkt gekauft habe und es sich eine gewisse Zeit im Besitz des Konsumenten befinde, gehe das Vergnügen an diesem neuen Gut verloren und es werde zunächst durch ein Wohlbefinden ersetzt. Insgesamt aber werden langlebige Güter mit der Zeit einfach langweilig. Besonders eindringlich verdeutlicht Hirschman diesen Zeitfaktor des Konsums mit einer sehr interessanten Aussage von George Bernhard Shaw: „Es gibt im Leben zwei tragische Erfahrungen: Die eine ist, daß man nicht bekommt, was man sich sehnlichst wünscht, die andere ist, daß man es bekommt“ (zit. nach Hirschman 1984: 67f.). Hirschmans Beobachtungen werden nicht durch empirische Daten untermauert. Dennoch wird man angesichts der Beschleunigung der Innovationszyklen heute alleine deshalb gelegentlich enttäuscht, weil man sich irgendwann entscheiden muss. Der Bereich der modernen Unterhaltungselektronik ist dafür ein gutes Beispiel. (Man denke nur an die rasante Entwicklung im Bereich der Informations- und Kommunikationstechnologien bzw. Unterhaltungselektronik.) In solchen Situationen fällt es auch
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dem modernen Konsumenten leicht, Gegnern des Materialismus zuzustimmen, beispielsweise dem amerikanischen Schriftsteller Henry David Thoreau (18171862). Der folgende Satz jedenfalls würde sich gut in die modernen Minimalismus-Strategien einreihen lassen: „Ein Mensch ist reich in Proportion zu den Dingen, die sein zu lassen er sich leisten kann“ (zit. nach Liffers 1995: 3). Aber dieses Enttäuschungspotenzial ist nicht die einzige Quelle, die den Zyklus von Zufriedenheit und Unzufriedenheit in Gang halten kann. Paul Wachtel hat in seiner Analyse „The Poverty of Affluence“ gezeigt, dass die amerikanische Mittelklasse von einem Anspruchsniveau zum nächsten getrieben wird. Im Jahr 1958 war es beispielsweise Luxus, als Familie im Besitz von zwei Autos zu sein. Im Jahr 1983 waren zwei Autos fast schon eine Notwendigkeit und wurden nicht mehr als eine Erhöhung des Lebensstandards wahrgenommen. Die provokante These von Wachtel lautete damals: „the way the growth economy has been constructed, it creates more needs than it satisfies and leaves us feeling more deprived than when we had ‚less‘” (Wachtel 1983: 16). Die Paradoxie, die sich aus dieser Beobachtung ableiten lässt, lautet daher: Je mehr wir haben, desto unzufriedener werden wir. In einer Fortschreibung dieser Entwicklung hat schließlich Barry Schwartz in seinem Buch „The Paradox of Choice“ den Weg von einem Zeitalter der Entbehrung in ein Zeitalter des Überflusses als Übergang von einer notgedrungenen Übersichtlichkeit zu einer nicht-intendierten Verwirrtheit beschrieben: „When people have no choice, life is almost unbearable. As the number of available choices increases, as it has in our consumer culture, the autonomy, control, and liberation this variety brings are powerful and positive. But as the number of choices keeps growing, negative aspects of having a multitude of options begin to appear. As the number of choices grows further, the negatives escalate until we become overloaded“ (Schwartz 2004: 2).
Diese Überlast-Diagnose entspricht nach Luhmann den Konsequenzen einer funktionalen Ausdifferenzierung der modernen Gesellschaft. Die Reflexionsund Selektionslast moderner Individuen werde nicht mehr durch stabile Institutionen, die vorgeformte und sozial eingewöhnte Entscheidungen bereitstellen, gewährleistet, sondern sei nun dem Einzelnen überlassen. Moralische Präformierungen solcher Entscheidungen schwinden, der Individualismus wird institutionalisiert. Aber offensichtlich wird dieser Individualismus in zunehmendem Maße als eine unstrukturierte Reflexionslast wahrgenommen im Sinne von „Jetzt mach etwas aus deinem Leben!“ (vgl. hierzu Luhmann 1989: 149f.). Die Werbung und das Marketing verschaffen durch ihr inflationäres Auftreten in diesem Bereich nicht wirklich Hilfestellung. Sie versuchen auf ihre Weise Sinn zu stiften und testen im Kampf um Aufmerksamkeit unterschiedlichste Strategien, auch solche, die das Werbesystem selbst gelegentlich erschüttern. So stellte der Deutsche Werberat angesichts einer Zunahme von provokanten Werbemaßnahmen in einer Pressemitteilung des Jahres 2001 unter anderem fest: „Aufsehen ist noch kein Ansehen, um das sich Unternehmen für ihre Angebote im Markt bewerben müssen“ (zit. nach Jäckel/Reinhardt 2002: 527). Ebenso
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sind Strategien einer ästhetischen Wiederverzauberung des Konsums eher fragwürdige als überzeugende Botschaften. Wenn Marken der Status von neuen Göttern auf Märkten und das Marketing selbst als ein „Gottesdienst am Kunden“ (Bolz/Bosshart 1995: 197) beschrieben wird, mag aus diesem Gemisch aus Markt und Medien eine populäre Religion werden (vgl. hierzu Knoblauch 1999: 202). Damit wird der beschriebene Zyklus von Zufriedenheit und Unzufriedenheit aber allenfalls in einer anderen Form gerahmt. Auch Opaschowski hat in seiner Analyse zu den Kathedralen des 21. Jahrhunderts, mit denen er insbesondere die modernen Einkaufs-Malls und Freizeitcenter meinte, festgestellt: „In den Kathedralen des 21. Jahrhunderts agiert eine professionelle Priesterschaft, die vom Dogma des käuflichen Glücks beseelt ist und mit geradezu messianischem Drang einen schwunghaften Handel mit Lebensfreude betreibt. […] Die weitere Aufrüstung der Erlebnisindustrie wird die Frage „Was kommt danach?“ unbeantwortet lassen“ (Opaschowski 1998: 45).
Zu Beginn des 21. Jahrhunderts scheint sich die Asymmetrie zwischen Anbietern und Nachfragern weiter in eine Richtung zu entwickeln, die die Macht des Verbrauchers noch erhöhen könnte. Während die Anbieter also in ein „Hamsterrad“ geschickt werden und nach immer neuen überzeugenden Strategien, die letztlich auch über den Preis gesteuert werden, suchen müssen, bleibt der Konsument für seine Zufriedenheit selbst zuständig. Diese Konstellation charakterisiert zudem auch den Erlebnismarkt, von dem Schulze spricht. Dessen Erlebnisangebote werden „in kurzer Folge und kontinuierlich“ (Schulze 1992: 435), aber eben in einem sehr dynamischen Umfeld, angeboten und in Anspruch genommen. Der unzufriedene Kunde kann wechseln, der unzufriedene Anbieter muss neu überlegen. In beiden Fällen bleibt Knappheit eine Systemeigenschaft. Die Notwendigkeit, sich selbst bei Laune zu halten, behält ebenfalls Gültigkeit. Damit wird ein typisches Merkmal der modernen Kultur markiert, das bereits Simmel in seiner Unterscheidung von subjektiver und objektiver Kultur festgehalten hat: „die Steigerung des Verhältnisses zwischen den Errungenschaften einer Gesellschaft und den fragmentarischen Daseinsinhalten der Individuen“ (Simmel 1900: 478). Dieses Fortschrittsparadox mag auch dazu führen, dass man – wie einleitend angedeutet – dem einfachen Leben nachtrauert. Aber letztlich beschreibt es ein Spannungsverhältnis zwischen dem, was Menschen tun und dem, was sie theoretisch alles tun könnten.
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„Das ganze Leben ist ein Quiz.“ Spiele im Fernsehen im alltagskulturellen Kontext Gerd Hallenberger
1 Einleitung Vor einigen Jahren präsentierte Hape Kerkeling in seiner Reihe Total normal eine fiktive Spielshow, in der ein Lied eine zentrale Rolle spielte: „Das ganze Leben ist ein Quiz, und wir sind nur die Kandidaten“. Obwohl das Lied in der Sendung so oft wiederholt wurde, dass man es zum Schluss nicht mehr hören konnte, blieb man unfreiwillig an seiner Kernbehauptung hängen: Ist das ganze Leben tatsächlich ein Quiz, also ein Spiel, und was heißt es, in diesem Spiel Kandidat zu sein? Wie lässt sich überhaupt die Beziehung von Spiel und Leben beschreiben? Selbst wenn es ‚nur‘ um ein Spiel geht, können seine Konsequenzen über es selbst hinausweisen – das Spiel konstituiert zwar, um an Kulturtheoretiker wie Johan Huizinga (1938: 12ff.) und Roger Caillois (1960: 16ff., 36ff.) anzuknüpfen, einen eigenen Bereich des Außeralltäglichen, gleichwohl ist dieser Bereich vom Nicht-Spiel, dem Alltag, nicht völlig separiert. Wer sich beispielsweise im Spiel ‚falsch‘ verhält, muss auch jenseits des Spiels mit Konsequenzen rechnen – so können etwa reale Sozialbeziehungen durchaus darunter leiden, wenn ein Mitspieler beim Doppelkopf seinen Partner nicht rechtzeitig erkennt. Diese Beispiele deuten an, dass eine wichtige Verbindung zwischen Spiel und Nicht-Spiel schon durch die Spielteilnehmer begründet wird. Eine weitere zentrale Verbindung ergibt sich daraus, dass die nicht-alltägliche, die außergewöhnliche Spielsituation unvermeidlich auf ihr Gegenteil verweist. Das NichtAlltägliche und das Außergewöhnliche sind Komplement des Alltäglichen und Gewöhnlichen, sie konstituieren eine bestimmte Negation. Mit anderen Worten, sie lassen sich auch als das Andere eines Eigentlichen beschreiben. Dazu ein Beispiel: Trotz zahlreicher Versuche ist es bis heute nicht gelungen, die europäische Variante des Fußballs in den USA als ebenbürtige Konkurrenz zum American Football zu etablieren.1 Bei einem Vergleich der Regeln von Fußball und American Football wird ersichtlich, dass letzteres tatsächlich das Andere eines für die USA zentralen Eigentlichen darstellt: American Football setzt vor allem zwei zentrale Topoi amerikanischer Mythologie in ein Spielkonzept für das Industriezeitalter um – Landnahme und Grenze. Es geht um
1 Vgl. zu diesem Thema auch Markovits (1990).
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Raumgewinn, der auf einem durch Linien unterteilten, „taylorisierten“2 Spielfeld präzise gemessen wird und die Grenze des je ‚eigenen‘ Landes einer Mannschaft nach vorne verschiebt. Erfolgreicher Abschluss einer Spielsequenz ist der Touchdown, das Ablegen des Balles in der Endzone des Spielfeldes. Damit ist symbolisch die Eroberung des amerikanischen Westens nachvollzogen, das gesamte Land von Spielfeldrand zu Spielfeldrand – von Küste zu Küste – im Besitz der angreifenden Mannschaft. Europäischer Fußball repräsentiert im Vergleich ein defizitäres Spielmodell. Erstens ist Raumbesitz für die Punktvergabe irrelevant, es geht nur darum, ob der Ball in das gegnerische Tor gelangt oder nicht. Zweitens ist den Feldspielern das Berühren des Balles mit den Händen verboten – Landnahme hingegen bedeutet vor allem Arbeit mit den eigenen Händen, was im American Football durch Ballwerfen und Balltragen geschieht. Auch jenseits sportlicher Aktivitäten eignen sich Spiele zur Konzeptualisierung als Anderes eines Eigentlichen, und um eine besonders wichtige Variante von Spielen geht es im Folgenden. Seit den Anfängen von Radio und Fernsehen in den USA haben spezifische mediale Spielinszenierungen, die zunächst als Quiz, später als Game Shows bezeichnet wurden, eine zentrale Rolle gespielt. Gleiches gilt für den deutschen Rundfunk nach dem Zweiten Weltkrieg. Selbst heute erreichen Spielshows wie Wetten, dass…? mit die höchsten Nutzungszahlen aller Programmangebote, sieht man von Live-Übertragungen von Sportereignissen ab. Die Leitfrage, um die es dabei gehen soll, ist die nach dem Eigentlichen im Anderen. Um auf Hape Kerkelings Lied zurückzukommen: Wenn das ganze Leben ein Quiz ist, kann uns das Quiz auch etwas über das ganze Leben sagen. Als Frage formuliert: Welche Sicht auf je zeitgenössisches Leben bietet die Geschichte der Spielshows im deutschen Fernsehen? Zum Abschluss geht es dann schließlich um die zweite Zeile: Sind wir wirklich alle nur Quizkandidaten in einem Lebensspiel? Ist die Unterscheidbarkeit von Spiel und Nicht-Spiel heute aufgehoben?
2 Quizgeschichte und Alltagskulturgeschichte: Ein Überblick 2.1 Die 1950er Jahre: ‚Es herrscht weitgehend Spielverbot‘ oder ‚Das Spiel ist ernst‘ Als Ende 1952 in der Bundesrepublik der kontinuierliche Sendebetrieb des Fernsehens aufgenommen wurde, war es im Vergleich mit heutigen Verhältnissen nicht so sehr aus technischen Gründen ein völlig anderes Fernsehen, es war
2 Vgl. Markovits 1990: 91f. Markovits weist auch darauf hin, dass die Parallelen zwischen der neuzeitlichen Organisation der Fabrikarbeit, wie sie Frederick Winslow Taylor einführte, und der Spielorganisation im American Football schon früher aufgefallen sind, so etwa David Riesman.
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vor allem ein Fernsehen für eine völlig andere Gesellschaft, das dort auch eine völlig andere Rolle spielen sollte. Wohlstand und Freizeit in nennenswertem Umfang waren allenfalls Zukunftshoffnungen, da im realen Alltag der 1950er Jahre zunächst der Wiederaufbau der deutschen Städte und Industrien geleistet werden musste, außerdem bestand das Problem der Integration der Heimatvertriebenen und Kriegsgefangenen, und es musste mit der Gründung eines zweiten deutschen Staates umgegangen werden. Trotzdem erwarteten die zunächst noch sehr wenigen ZuschauerInnen vom Fernsehen bereits vor allem Unterhaltung,3 die Programmverantwortlichen hatten jedoch andere Vorstellungen. In den Worten des damaligen NWDRGeneraldirektors Adolf Grimme formuliert: „Wir senden, was die Leute sehen wollen sollen“ (zit. nach Röckenhaus 1993: 14). Im Unterschied zum Radio, in den 1950er Jahren schon ein massenhaft genutztes Unterhaltungsmedium, sollte das Fernsehen vor allem der Bildung und Information dienen. Die wenige Jahre zuvor aus den USA zunächst als Radio-Genre importierte Programmform „Quiz“ war ein Ausweg aus dem Dilemma. Auf der einen Seite bot sie die von den ZuschauerInnen gewünschte Unterhaltung, auf der anderen Seite ließ sie sich aber auch in Übereinstimmung mit den Vorstellungen der Programmverantwortlichen so gestalten, dass sie primär als Bildungsangebot erschien. Immer wieder wurde in Programmankündigungen darauf hingewiesen, dass es hier Nützliches zu lernen gab; selbst die Sendungstitel zeugten oft von dem Bestreben, höhere Werte verbreiten zu wollen. Manchmal wurde dabei der Vergleich von Quiz und Schule nahegelegt (Wo blieb deine Schulweisheit; Mit Einschränkungen kaum genügend), andere Titel waren subtiler: Hätten Sie’s gewusst? – die Frage lässt keinen Zweifel über die Wichtigkeit der Materie aufkommen. Wer mit der Frage einen drohend erhobenen Zeigefinger assoziierte, der wurde in der Sendung selbst bestätigt – eine Fragenkategorie hieß „Was man weiß – was man wissen sollte“. Aber auch Sendereihen, in denen Wissen keine Rolle spielte, wurden mit der Aura des Bedeutungsvollen umgeben. Während Was bin ich?, die deutsche Version des amerikanischen What’s My Line?, heute nur noch als ‚heiteres Beruferaten‘ mit einem ‚Rateteam‘ in Erinnerung ist, war es damals ein ‚psychologisches Extemporale mit sieben unbekannten Größen‘ und das Rateteam ein ‚Kollegium‘. Der indirekt ausgehandelte Kompromiss zwischen Sendern und ZuschauerInnen war ein durchschlagender Erfolg. Das Quiz wurde zum dominanten Un3 „Dem allgemeinen Interesse nach lässt sich folgende Reihenfolge für die wichtigsten Programmsparten aufstellen: Tagesschau, Tierfilme, Bunte Abende, Rätsel und Quiz, Varieté und Artistik, Fernsehspiele, Spielfilme, Kriminalstoffe, aktuelle Sendungen, Sportübertragungen, Kultur- und Dokumentarsendungen, Gespräche und Interviews, Politik, Opern. Dabei stoßen die letzten Posten dieser Liste nur auf etwa ein Drittel der Bereitschaft im Vergleich mit der ersten Hälfte der Aufstellung. Zwischen Sportübertragungen und Kultursendungen entsteht ein deutlicher Abfall des Interesses“ (Eckert 1961: 356).
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terhaltungsgenre der 1950er Jahre, und schon 1959 klagte die Fernsehkritik über Monotonie: „In puncto Unterhaltung fällt dem Fernsehen nichts mehr ein. Es wird weiter gequizt. Mal mit, mal ohne Show. […] Der Feierabend des Bundesbürgers wird genormt. Das Einheitsvergnügen des Jahres 1959 heißt: Quiz“ (‚Televisor‘ 1959: 44).
Tatsächlich bot das Genre Quiz den Programmmachern die Chance, Unterhaltung als Anderes ihres Eigentlichen zu offerieren, Vergnügen im Gewand der Abendschule. Auch in der knappen Freizeit forderten Quizsendungen auf, Nützliches zu tun, nämlich den eigenen Wissensstand zu verbessern. Gleichzeitig war für die ZuschauerInnen ein anderes Eigentliches im Abendschulgewand der Quizsendungen unverkennbar. Es repräsentierte immerhin ein kleines Vergnügen in einem wenig vergnüglichen Alltag, das aber Hoffnung auf mehr machte – genauso wie die erste Busreise nach Italien, das Motorrad (auf das vielleicht schon bald ein Automobil folgen würde) und der sehnsuchtsreiche deutsche Schlager dieser Zeit. Ende 1952 begann auch in der DDR der Fernsehbetrieb, zunächst mit einem mehrjährigen Versuchsprogramm, ab Januar 1956 im Regelbetrieb. So unterschiedlich die politischen und ökonomischen Systeme in beiden deutschen Staaten waren, bezüglich des Fernsehens gab es wesentliche Gemeinsamkeiten: Wie in der BRD sollte das Fernsehen in der DDR kein ‚Unterhaltungsmedium‘ werden, sondern anspruchsvolle Ziele verfolgen, während das allmählich wachsende Publikum vor allem Unterhaltung sehen wollte. Nicht anders als in der BRD war eines dieser Ziele die Verbreitung von Bildung, weitere hingegen waren systemspezifisch – insbesondere das Ziel gesellschaftlicher Integration. Was das konkrete Fernsehprogramm betraf, erwies sich in der DDR einmal mehr das Genre der Quiz- und Spielsendungen als Königsweg, um die Interessen von Programmverantwortlichen und ZuschauerInnen zu versöhnen. Tatsächlich gab es eine ganze Reihe von Ansatzpunkten, die das Genre mehr als andere Unterhaltungsformen für Fernsehleitung und Staatsführung attraktiv machten. Erstens gab es natürlich das Bildungsargument, da – so ein Redaktionspapier zur Reihe Sehen – raten – lachen (1955-1957) – solche Sendungen der „Hebung des Bildungsniveaus unserer Werktätigen“ (Redaktion Unterhaltung 1955: 4) dienen sollten. Zweitens konnte der Wettbewerb in solchen Sendungen an den gesamtgesellschaftlichen, den ‚sozialistischen Wettbewerb‘, angeschlossen werden und diesen propagieren (vgl. N.N. 1959: 12). Drittens ließen sich durch die Spieleinbindung auch politisch eher heikle Themen in einigermaßen populärer Form ins Programm bringen wie etwa Sympathiewerbung für die Sowjetunion (Die gute Sieben, 1958-1959) oder die Volkspolizei (Rot – Gelb – Grün, 1958); Wer knackt die Nuss? (1960-1963) sollte im Quiz die Vorzüge der LPGs herausstellen und gleichzeitig landwirtschaftliches Grundwissen vermitteln. Viertens konnten auch ganz konkret aktuelle Kampagnen unterstützt werden, so etwa das Nationale Aufbauwerk durch Arbeitseinsätze und Geld-
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spenden, die im Rahmen der Reihe Ganz aus dem Häuschen (1957-1958) als Spieleinsätze geboten wurden.4
2.2 Die 1960er Jahre: ‚Die Freizeitgesellschaft kommt‘ oder ‚Das Spiel differenziert sich‘ Die gesellschaftlichen und kulturellen Veränderungen der Bundesrepublik machten sich im folgenden Jahrzehnt auch in den Quiz- und Spielsendungen des Fernsehens bemerkbar. Mit der Einführung des offiziellen zweiten Programms im Jahr 1963, des ZDF, hatten die ZuschauerInnen eine Wahlmöglichkeit, und von der Senderkonkurrenz profitierte natürlich vor allem die Programmsparte ‚Unterhaltung‘, die zwar von den Programmverantwortlichen weiterhin wenig geliebt, aber trotzdem vermehrt und mit neuen Konzepten offeriert wurde. Es gab in den 1960er Jahren deutlich mehr und andere Quiz- und Spielsendungen als vorher. Der wachsende Wohlstand der Bundesbürger und eine verstärkte Freizeitorientierung bei gleichzeitiger Programmkonkurrenz sorgten dafür, dass die Programmsparte allmählich den Anschein der Abendschule verlor. Zwar blieben bildungsorientierte Quizsendungen weiterhin wichtig, neue Sendereihen veränderten das Erscheinungsbild des Genres aber in zwei Richtungen. Erstens ging es bei wissensorientierten Sendungen immer häufiger um Themen aus den Bereichen Freizeit und Hobby, vor allem um Reisen und das Auto. Von Fernweh und der Freude über das jetzt erschwingliche eigene Auto zeugten zum Beispiel: Das große Rennen mit Robert Lembke (1959-1960), Freie Fahrt (1962), anfangs vom Autorennfahrer Huschke von Hanstein geleitet, oder Rate mit – reise mit (1965-1967), moderiert von Wim Thoelke. Zweitens nahm die Zahl der Produktionen zu, in denen es überhaupt nicht mehr um Wissen ging. So konnte das ZDF zwischen 1965 und 1972 in über 100 Sendungen im Vorabendprogramm zeigen, wie der Moderator, ein prominenter und ein nichtprominenter Gast einfach Skat spielten (…18 - 20 – nur nicht passen), womit erstmals das Spieleangebot des Fernsehens mit der realen Spielpraxis vieler ZuschauerInnen kurzgeschlossen wurde. In einer anderen populären Spielshow mussten die Kandidaten lediglich Augenmaß beweisen, nämlich beim Armbrustschießen Der goldene Schuss (ZDF, 1964-1970). Den Wandel der Programmsparte brachte vor allem eine Sendereihe auf den Punkt, in ihrem Titel wie in ihrem Inhalt: das Spiel ohne Grenzen (ARD). Schon Jahre vorher erst in Italien (Campanile sera) und dann in Frankreich (Intervilles) als nationales Städteturnier bekannt, tauchte es 1965 als internationales Spiel mit deutscher Beteiligung im ARD-Programm auf. In den ersten beiden Jahren gab es neben vielen sportlichen Spielen auch eine Quizrunde, die 1967 bezeichnenderweise wegfiel. Stattdessen gewannen die beiden ohnehin schon wichtigsten Requisiten noch mehr an Bedeutung – Wasser und Schmierseife. Ganz nebenbei 4 Vgl. zu diesem Themenkomplex ausführlich Fanta (2006).
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zeigte die Reihe auch, dass Deutschland wieder anerkannter Teil der Staatengemeinschaft war und in Europa mitspielte. Was auf dem Bildschirm vorgeführt wurde, entsprach zugleich Veränderungen des politischen Klimas der BRD. Auch dort hatte zunächst ein ‚Spielverbot‘ gegolten, das die größte Regierungspartei seinerzeit in dem Wahlslogan „Keine Experimente“ zum Ausdruck brachte. Ende der 1960er Jahre gab es eine andere Regierung, deren Amtsantritt unter dem implizit spielerischen Motto „mehr Demokratie wagen“ stand. Selbst für die radikale Kritik der bestehenden Verhältnisse, die die Studentenbewegung vorbrachte, gab es ein Korrelat in der Programmsparte Spielshow. Das ‚1968 der Fernsehunterhaltung‘ begann zwar erst 1969 (und dauerte bis 1972), aber es war nicht minder radikal. Wünsch dir was (ZDF), moderiert von Dietmar Schönherr und Vivi Bach, demonstrierte nicht nur, dass ‚Unterhaltung‘ keineswegs unpolitisch ist, die Reihe führte zudem vor, dass Spielinszenierungen ein Mittel zum Reflektieren und Aufbrechen von Tradition, Muff und Routine sein können. Die progressiven Absichten der Sendung brachten einzelne Kandidaten zwar gelegentlich an den Rand ihrer physischen und psychischen Belastbarkeit, provozierender hatte sich Fernsehunterhaltung aber nie zuvor (oder danach) gegeben. Einige Beispiele aus der Skandalchronik von Wünsch dir was: Die Tochter einer Kandidatenfamilie trat in einer durchsichtigen Bluse auf, von einer Schlange bewachte Münzen sollten zusammengerafft werden, eine Kandidatin kam kaum noch aus einem im Wasser versenkten Auto heraus, in einem anderen Spiel diskutierten die Familien mit einer ‚echten‘ Münchner Kommune über Formen des Zusammenlebens. Eine Differenzierung des Angebots fand auch in der DDR statt, in der sich das Fernsehen ebenfalls – mit leichter zeitlicher Verzögerung – zu einem tatsächlichen Massenmedium mit stärker werdender Unterhaltungsorientierung entwickelte. Die Zahl der offensichtlich gesellschaftlichen bzw. politischen Zielen verpflichteten Produktionen nahm relativ ab, auch wenn sie natürlich weiterhin im Programm zu finden waren wie etwa Kreuz und quer (durch unsere Republik) (1964), einem Zuschauerquiz zum 15-jährigen Bestehen der DDR, in dem nicht zuletzt Errungenschaften des Sozialismus abgefragt wurden. Daneben gab es aber auch schon Versuche mit spielerischeren Konzepten. Gab es in der BRD Der goldene Schuss, hatte die DDR den Tele-Hopp in der Reihe Mittwoch 20 Uhr (1967-1968). Hier dirigierten ZuschauerInnen nicht Armbrustschützen, sondern Prominente, die auf eine Wippe sprangen, mit der ein Ball in einem bestimmten Winkel auf ein Lochfeld geschossen wurde (vgl. Breitenborn 2003: 164ff.).
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2.3 Die 1970er und 1980er Jahre: ‚Die Freizeitgesellschaft ist da‘ oder ‚Das ernste Spiel ist vorbei‘ Ebenso wie in der Politik kehrte in den Spielsendungen der BRD bald wieder Normalität ein, es war allerdings eine neue Normalität. Zwar bedrohten immer neue Krisen die Gesellschaft, von der Energiekrise über politischen Terrorismus bis hin zur erneuten Eskalation des Ost-West-Konflikts, es war aber eine Gesellschaft, die sich ihren Spaß nicht mehr verderben lassen wollte – und man hatte mehr Zeit und mehr Geld als zuvor, um sich den Spaß auch leisten zu können. Das Fernsehen wurde nun auch offiziell primär als ‚Unterhaltungsmedium‘ wahrgenommen.5 Unterhaltung, auch die in Quiz und Spielshow, bedurfte endgültig keines Alibis mehr, weder eines bildungspolitischen noch eines aufklärerischen. Den Abschied vom Quiz älteren Typs als wichtigste Erscheinungsform des Genres verdeutlichte vor allem ein Modetrend: das Begrifferaten. Während im Quiz etwas gewusst werden muss, muss bei dieser Variante nur ein Begriff genannt werden. Den Anfang machte 1969 in einem Dritten Programm der ARD die Reihe Punkt, Punkt, Komma, Strich, aus der 1974 Die Montagsmaler wurden. Hier mussten Begriffe nach gezeichneten Hinweisen erraten werden. Später überwog das Begrifferaten nach sprachlichen Hinweisen (z.B. Die Pyramide, ZDF; Dingsda, ARD; Grips, ARD), aber auch pantomimische Hinweise wurden verwendet (Nur keine Hemmungen, ARD). Das Eigentliche im Anderen solcher Produktionen war vor allem das Spiel selbst, aber das Spiel jenseits des Mediums. Das Begrifferaten betonte den Aspekt des Vergnügens am Spiel: Sofern sich die Kandidaten erkennbar bemühten, musste hier niemand ein schlechtes Gewissen haben, falls eine Aufgabe nicht gelöst wurde, auch nicht die mitratenden ZuschauerInnen. Mit anderen Worten, die Modewelle des Begrifferatens lässt sich als Indiz für die Durchsetzung einer neuen Kontextualität lesen: Es waren Spiele, die im Unterschied zu früher nicht mehr vorwiegend über gesellschaftliche, sondern über individuelle Referenzen operierten; sie bedurften nicht mehr eines Hintergrundes von allgemein als verbindlich angesehenen Normen und Werten, sondern adressierten die einzelne Zuschauerin/den einzelnen Zuschauer situativ und erlebnisorientiert. Mehr als andere Produktionen veranschaulicht die 1971 im ZDF gestartete Spielshow Dalli-Dalli, die bis zu seinem Tod im Jahr 1986 mit großem Erfolg von Hans Rosenthal moderiert wurde, den generellen Wandel. Dalli-Dalli kombinierte ‚neuere‘ und ‚ältere‘ Elemente, wobei letztere aber schon erkennbar nur mehr Echos aus einer vergangenen Zeit waren. Schon der imperative Tonfall des Sendungstitels wirkte etwas antiquiert, seine Richtungslosigkeit dagegen eher modern – die Aufforderung, etwas „dalli-dalli“ zu machen, bezog sich nur auf das Spiel als Spiel. Eine eigenwillige Reminiszenz an frühere Zeiten war auch die auftretende Band, eine personell stark geschrumpfte Residualform der 5 So der Titel eines 1979 erschienen und viel beachteten Tagungsbandes (vgl. Rüden 1979).
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großen Showorchester, die vor allem daran erinnerte, dass die Zeit der großen Shows endgültig vorbei war. KandidatInnen waren hauptsächlich Prominente, die Begriffs- und Geschicklichkeitsspiele absolvierten. Prominente KandidatInnen waren ein relativ neues Phänomen, sieht man von den Rateteams in Panelshows ab. Im Unterschied zu Zuschauerkandidaten erbringen Prominente hier immer zwei Arten von Leistung: Ihre Spielleistung ist Teil einer Selbstinszenierung, wobei der zweite Aspekt der wichtigere ist. Hier können Sympathien der ZuschauerInnen geweckt oder gestärkt werden, die politischen wie unterhaltungsindustriellen Karrieren förderlich sind. Ein weiterer Punkt: Die Bezug nahme auf und gleichzeitige Distanzierung von älteren Formen des Genres geschah auch durch ein zusätzliches Spielelement. Als Intermezzo zwischen den Spielrunden gab es ein kleines Quiz mit nicht-prominenten KandidatInnen, dessen marginale Position im Sendungsablauf gerade den Bedeutungsverlust traditioneller Quizsendungen demonstrierte. Mit Dalli-Dalli, konkret Moderator Hans Rosenthal, kommt noch ein weiteres Thema in den Blick. Bis hierher wurde die Geschichte der Quizsendungen und Game Shows nur hinsichtlich ihrer Spielkonzepte verfolgt. Gerade Veränderungen in den 1970er Jahren machen deutlich, dass auch die Moderatoren solcher Sendungen immer schon ein spezifisches Eigentliches im Anderen repräsentiert haben: Was sie in den Sendungen tun, ist zwar teils sendungs-, teils fernsehunterhaltungsspezifisch; nicht aber, wie sie es tun. Bis Mitte der 1960er Jahre waren vor allem zwei Moderatoren stilprägend, die in immer wieder neuen Spielshows vor allem sich selbst performierten. Wie Nikolaus von Festenberg beschreibt, hatten dabei sowohl Hans-Joachim Kulenkampff als auch Peter Frankenfeld „ihre genau beschreibbaren sozialen Koordinaten im deutschen Gemütshaushalt“. Sie repräsentierten unterschiedliche Umgangsweisen mit den gesellschaftlichen Veränderungen der Nachkriegszeit: „Kuli war das, was der deutsche Aufsteiger gern geworden wäre, wenn er all die Plackerei jemals hinter sich gebracht hätte – locker, voll großbürgerlicher Bonhommie, ordentlich und zugleich charmant.“
Frankenfeld, übrigens fast der einzige Moderator, der schon in den 1950er Jahren Spiele ohne erkennbaren Sinn und Hintersinn vorstellte, blieb dagegen „der Mann mit dem Kleine-Leute-Witz aus den eher billigen Gefilden des Nachkriegs-Varietés, der Sachwalter des unter Humor getarnten Sozialneids, der Entertainer mit der karierten Jacke, der alle Emporkömmlinge im unifarbenen Einreiher daran erinnerte, dass sie einmal als kleine Karos angefangen hatten“ (Alle Zitate: Festenberg 1994: 176).
Frankenfeld wie Kulenkampff waren nicht lediglich ‚Spielleiter‘, sie beherrschten ihre Sendungen in jeder Weise. Obwohl im patriarchalischen Fernsehen dieser Zeit, das senden wollte, was die Leute sehen wollten sollten, ‚Unterhaltung‘ eigentlich gar nicht vorgesehen war, veranschaulichte auf dem Bildschirm kaum jemand das Prinzip des Paternalismus so eindrücklich und erfolgreich wie gerade diese beiden. Ab Ende der 1960er Jahre gewann ein anderer Moderatoren-
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Typ die Oberhand. Mit dem Aufstieg von Wim Thoelke zum Leiter von Drei mal neun und der Nachfolgesendung Der große Preis sieht Festenberg den „Einzug der Ungenialen und Unbegabten“ eingeleitet, von „Männer(n) ohne Witz, aber mit redlichem Bemühen“ (beide Zitate ebd.: 178). Festenberg sieht hier den „Sturz des Paternalismus in der Gesellschaft“ (ebd.: 178) widergespiegelt, zusätzlich macht sich hier jedoch noch ein anderer Wandel bemerkbar. Wenn das Fernsehen immer mehr Unterhaltungsmedium in einer freizeitorientierten Gesellschaft wird, ändert sich auch die Rolle der SpielshowModeratoren. Wim Thoelke und Dieter Thomas Heck waren die ersten, die sich vor allem als ‚Dienstleister‘ verstanden. Sie nutzten ihre Sendungen nicht mehr primär als Bühne zur Selbstdarstellung, sondern managten Spielabläufe; sie begnügten sich damit, Kandidaten vorzustellen und Spiele zu erklären. Auch in dieser Hinsicht war Hans Rosenthal ein bemerkenswertes Bindeglied zwischen älterer und neuerer Spielshow-Geschichte. Einerseits war er erkennbar ‚Patriarch‘, da er an seiner dominierenden Rolle in der Sendung keinen Zweifel ließ. Wenn der Fall eintrat, rüffelte er nicht nur Zuschauerkandidaten wegen ihres geringen Wissens, er konnte auch Prominenten eindeutig zu verstehen geben, dass ihm deren laxe Spielauffassung missfiel. Andererseits sah er sich nur als Dienstleister am Zuschauer – besonders stolz war er darauf, dass Dalli-Dalli nie die Sendezeit nennenswert überzogen hat. Selbst Nichtseher seiner Sendung, die nur am folgenden Programmangebot interessiert waren, konnten sich also auf Hans Rosenthal verlassen. Wie anders agierte dagegen HansJoachim Kulenkampff, dessen Umgangsweise mit Sendungslängen gerade seine Patriarchalität unterstrich – wann Einer wird gewinnen endete, bestimmte nicht der Programmablauf, sondern Kulenkampff persönlich und spontan, sodass sich der Beginn der folgenden Sendungen allein wegen seiner Monologe regelmäßig um eine halbe Stunde verspäten konnte. Allen Systemunterschieden zum Trotz verlief die inhaltliche Entwicklung von Quiz- und Spielsendungen in der DDR ähnlich. Zwar verwiesen Spielthemen und Kommentierungen noch relativ oft auf sozialistische Ambitionen, konkrete politisch-ideologische Zielstellungen machten sich aber weniger nachdrücklich als früher bemerkbar. Aktionsspiele und Begrifferaten wurden auch in der DDR üblich, beides kombinierte sogar die lang laufende Reihe Spielspaß (1977-1991).
2.4 Die 1990er Jahre: ‚Spiele um Geld‘ oder ‚Der „economic turn“ des Fernsehens‘ Obwohl das duale Fernsehsystem in der BRD schon 1984 eingeführt wurde, dauerte es bis zu Beginn des folgenden Jahrzehnts, bis neue kommerzielle Fernsehsender wie RTL und SAT.1 hinsichtlich technischer Reichweite und Nutzungszahlen mit den vormaligen Monopolisten ARD und ZDF konkurrieren
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konnten. Was das Spielshowangebot des Fernsehens betrifft, fanden entscheidende Veränderungen ebenfalls erst in den 1990ern statt. Nachdem Spiele ohne Alibi bereits eingeführt waren, gab es zwar als Novum der 1980er Jahre auch Sendungen, die traditionelle Tabus verletzten, sie blieben jedoch nur eine Episode. Die ARD-Reihen Donnerlippchen und vor allem 4 gegen Willi verletzten ungeschriebene Regeln des Genres, da Zuschauerkandidaten in für sie nicht überschaubare und potenziell peinliche Spielsituationen gesetzt wurden, einige Jahre später bot RTL mit Tutti Frutti eine Spielshow, deren Kern die Entkleidung von Assistentinnen und Kandidaten war. Da sich das Fernsehen in den USA von Anfang an unter den Bedingungen kommerzieller Konkurrenz entwickelt hat, lässt sich die Durchsetzung des dualen Systems in Deutschland auch als ‚strukturelle Amerikanisierung‘ interpretieren, also eine Annäherung an amerikanische Rahmenbedingungen, auf die mit logischer Konsequenz zahlreiche ‚Amerikanisierungen‘ der Programmoberfläche folgten – wie etwa die Rasterung des Tagesprogramms in „Timeslots“ mit an jedem Werktag gleichem Angebot je Sendeplatz. Auch – aber keineswegs nur – in der Programmsparte Spielshow kam es zu einer deutlichen Amerikanisierung oder besser: Re-Amerikanisierung. Nach dem Zweiten Weltkrieg waren zwar das Genre insgesamt und auch einzelne Spielkonzepte aus den USA importiert worden, unter den Bedingungen des rein öffentlich-rechtlichen Fernsehens der Bundesrepublik hatte es sich jedoch weitgehend eigenständig entwickelt. 90-minütige Spielshows zur Hauptsendezeit, Moderatoren, die wie Kulenkampff lange Monologe hielten, oder Spielshows, die wie Wetten, dass…? (ZDF) mit nur wenigen Folgen pro Jahr ausgestrahlt werden – all das hätte es in den USA nie geben können. Aus den gleichen Gründen, weshalb in den USA täglich ausgestrahlte Game Shows seit langem ein zentrales Angebot im Tagesund Vorabendprogramm waren, boten nun auch Privatsender wie RTL Vergleichbares: Kurze, einfache Game Shows sind eine kostengünstige Programmoption in zuschauerschwachen Tagesabschnitten; selbst hohe ausgesetzte Gewinne lassen sich durch deren wiederholte Präsentation gut refinanzieren. Die „Game-Show-Welle“ ebbte nach wenigen Jahren wieder ab, was teilweise an einem zeitweiligen Überangebot, vor allem aber an veränderten Wünschen der Werbewirtschaft lag – die Zuschauerschaft der Game Shows erschien der Werbung nun als zu alt und damit unattraktiv (vgl. N.N. 1992). Ebenso wie das Fernsehen (und die Gesellschaft) insgesamt hatte nun auch die Programmsparte Spielshow einen „economic turn“ vollzogen, wodurch wieder ein neues Eigentliches im Anderen sichtbar wurde. In Deutschland wie in vielen anderen europäischen Ländern eroberten nicht nur kommerzielle Sender relevante Marktanteile, ihr modus operandi dominierte zugleich das Medium insgesamt – aus Fernsehen wurde zusehends ein Fernsehmarkt und das Programm zur Ware. Was Spielshows betrifft, avancierten dabei Waren zum Kern des Programms: In Produktionen wie Glücksrad (SAT.1) und Der Preis ist heiß (RTL) wurde auf die Vorstellung der ausgesetzten Preise weitaus mehr Zeit und Mühe verwendet als etwa auf die Vorstellung der KandidatInnen.
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3 Medien – Spiel – Gesellschaft Damit sind wir beim heutigen Fernsehen angelangt und wechseln von einer primär historischen zu einer primär systematischen Perspektive. Ein Thema, das bisher nur gelegentlich gestreift wurde, ist das prinzipielle Verhältnis der Programmsparte zum Medium Fernsehen und beider Beziehung zur bundesdeutschen Gesellschaft. Darum soll es hier gehen – und um drei Thesen.
3.1 Medienspiele – Spielmedium Die erste These bezieht sich auf Veränderungen des Verhältnisses von Spielshows zum Medium Fernsehen: Quiz und Spielshow, also Medienspiele, repräsentieren ein Wirklichkeitsmodell, das für das Medium Fernsehen insgesamt in hohem Maße verbindlich geworden ist. Obwohl diese Programmform zunächst nur ein Teilbereich der von Programmverantwortlichen wenig geachteten Sparte ‚Unterhaltung‘ gewesen war, ist sie dank Publikumsresonanz und des allmählichen Abschieds vom Konzept des paternalistischen Fernsehens zu einem zentralen Programmbestandteil geworden. Mit dem Übergang von einem Fernsehen, das den ZuschauerInnen zeigte, was sie sehen sollten, zum Dienstleistungs- und später dann dem Marktfernsehen, waren zwei entscheidende Veränderungen verbunden. Erstens änderte sich natürlich das Angebot im Programm, zweitens änderte sich auch das Verhältnis des Zuschauers/der Zuschauerin zum Medium überhaupt. Wissenschaftlich nachvollzogen durch die allmähliche Ablösung älterer Medienwirkungsmodelle wie „Stimulus-Response“ durch Konzepte, die den MediennutzerInnen eine aktivere Rolle zugestehen, ist aktuell – also bezogen auf heutige Medienwissenschaft und heutige Mediennutzungsformen – davon auszugehen, dass ‚Fernsehen‘ insgesamt in hohem Maße als ‚Spielmedium‘ angesehen werden kann, also als Medium, mit dem Zuschauer im Huizingaschen Sinne ‚spielen‘. In langjähriger Mediennutzungspraxis erworbene Kompetenzen erlauben den ZuschauerInnen eine erhebliche Souveränität im Umgang mit dem Gebotenen, das sich daher einer Vielzahl intra- und intermedialer Referenzen bedienen kann. Fernsehen ist nicht mehr ‚Fenster zur Welt‘, um ein älteres Schlagwort aufzugreifen, sondern lediglich ein Angebot, mit dem individuell und situativ sehr Unterschiedliches angefangen werden kann. Selbst eine Nachrichtensendung, traditionell Symbol für die Vorstellung des Mediums als ‚Fenster‘, kann beispielsweise auch lediglich als Bestätigung der eigenen Lebenswirklichkeit gesehen werden – oder weil man den Sprecher sympathisch findet. ‚Fernsehen‘ ist ein Angebot, das eine spezifische, vom Zuschaueralltag abgegrenzte Realität voraussetzt, die Realität der Mediennutzungssituation – und damit eine Spielsituation konstituiert. Wie ZuschauerInnen mit welchem Angebot umge-
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hen, ist ihre Entscheidung, die Art des Umgangs unterliegt von ihnen gesetzten Regeln, das Ergebnis ist offen. Gleichzeitig ist ihr Einfluss doppelt begrenzt: Sie können erstens zwar relativ frei entscheiden, wie sie mit dem Gebotenen umgehen, nicht aber, womit sie umgehen – sie müssen „forced choices“ (Meehan 1990: 127) treffen. Zweitens hängt ihre Spielfähigkeit von ihrer Medienkompetenz ab, also ihrem hier einbringbaren „kulturellen Kapital“ (Bourdieu), das wiederum nicht unabhängig von ihrer sozialen Positionierung ist.
3.2 Gesellschaftsspiele – Spielgesellschaft Die zweite These bezieht sich auf die gesellschaftliche Einbettung der Medienspiele im Spielmedium Fernsehen: Quiz und Spielshow, Medienspiele im Spielmedium Fernsehen, repräsentieren ein Konzept, das gesamtgesellschaftlich prägend geworden ist. Zahlreiche Indizien sprechen dafür, dass eine Implosion von Spiel, Medium und Gesellschaft stattgefunden hat. In den 1950er Jahren repräsentierte Spielleistung Arbeit, die Spielgewinne bewegten sich im Rahmen dessen, was einer Arbeitsgesellschaft für derartige Leistungen akzeptabel schien. Keine einzige Sendereihe bot Gewinne, die das Leben der Kandidaten entscheidend hätte verändern können, und die Frage der Angemessenheit der Preise wurde regelmäßig in den Leserbriefspalten der Programmpresse aufgeworfen. Heute werden aus traditionellen Arbeitsgesellschaften zusehends ‚Marktgesellschaften‘, in denen das Prinzip ökonomischer Rentabilität als universelles akzeptiert wird (vgl. Neckel 2001: 252f.). Die Transformation des bundesdeutschen Fernsehsystems von einem öffentlich-rechtlichen in ein Marktfernsehen ist dabei nur ein beliebiger Beleg für die massive Privatisierung ehemals marktfern organisierter Dienstleistungen, die selbst nur einen Aspekt dieses Wandels darstellt. Mit der Etablierung von Rentabilität als zentralem gesellschaftlichem Wert kommt es gleichzeitig zu einer forcierten Entkopplung von ‚Leistung‘6 und ‚Erfolg‘ (vgl. ebd.: 249f., 259f.). ‚Marktgesellschaften‘ bieten zahlreiche Möglichkeiten, an Geld zu gelangen, wobei in der öffentlichen Wahrnehmung nicht nach Erwerbsquellen unterschieden wird. Ob Reichtum aus einer Geschäftsidee, aus Aktienspekulationen oder einer Erbschaft stammt, ist letztlich unbedeutend. Was zählt, ist nur der Erfolg, nicht die eigene dafür erbrachte Leistung. Ein weiteres wichtiges Merkmal von ‚Marktgesellschaften‘ ist die Singularität und Zufälligkeit vieler dieser Erfolgsfälle, womit noch in anderer Hinsicht ein Abschied vom Leistungsprinzip verbunden ist – ‚Leistung‘ impli-
6 An dieser Stelle kann nicht näher darauf eingegangen werden, dass ‚Leistung‘ immer schon nicht nur Konzept, sondern auch Ideologie war. Auch in der Zeit des Wirtschaftswunders beispielsweise beruhte aktuelles großes Vermögen in der Regel zumindest auch auf älterem Vermögen (z.B. in Form von Immobilien, Unternehmen oder Aktienbesitz) und nicht primär auf eigener Arbeit.
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ziert traditionell nicht nur eigene Tätigkeit, sondern auch Stetigkeit und Verpflichtungen (vgl. ebd.: 261). Es sind nicht nur die Regeln der Ökonomie, die zu einem dominanten gesellschaftlichen Faktor geworden sind, es handelt sich zudem um eine neue Ökonomie, die in hohem Maße in Kategorien des Spiels beschreibbar ist. Wirtschaftlicher Erfolg ereignet sich oft in Situationen, die vom bisherigen Leben der Akteure abgetrennt sind, sie unterliegen eigenwilligen (und häufig unbekannten) Regeln, und der Erfolg ist kaum vorhersehbar. Das Spiel, um das es dabei geht, ist oft ein Glücksspiel; nicht ohne Grund war in den letzten Jahren oft vom ‚Kasino-Kapitalismus‘ die Rede. Die heutige Renaissance der klassischen Quizsendungen der 1950er Jahre, eingeleitet durch den internationalen Erfolg des britischen Formats Who Wants to Be a Millionaire, ist sicherlich zum Teil darauf zurückzuführen, dass diese im Prinzip immer populäre Programmform aus Marktgründen – der geringen Attraktivität der Zuschauerschaft für die Werbewirtschaft – viele Jahre lang kaum angeboten wurde. Zum Teil setzen sie ferner den schon länger bestehenden Quizboom bei Brettspielen fort, den „Trivial Pursuit“ eingeleitet hat. Daneben repräsentieren diese Sendungen aber auch ein ganz normales Stück neuen Kapitalismus, und aktueller kapitalistischer Ideologie. Wo materieller Wohlstand nicht (mehr) nach seiner Quelle hinterfragt wird, da unterscheidet sich in öffentlicher Wahrnehmung Reichtum als Folge einer Quizteilnahme qualitativ nicht von einem großen Erbe, Börsen- oder Unternehmensgewinn. Für QuizteilnehmerInnen selbst, denen andere Wege zum Wohlstand in der Regel verschlossen sind, stellen derartige Sendungen dank der hohen Gewinnmöglichkeiten einfach eine Karrierechance dar. Eine Chance, die andere konventionelle Erwerbsquellen wie Lohnarbeit oder Arbeitslosengeld nicht bieten. In einem bezeichnenden Detail unterscheiden sich aktuelle Quizshows allerdings von ihren Vorläufern, das auch die Art des dort möglichen Gelderwerbs verändert. Im Quiz der 1950er Jahre spielte der Faktor Glück nur insofern eine Rolle, dass man natürlich nicht wusste, welche Fragen kommen würden. Im Spielverlauf kam es dann, unter Berücksichtigung eines strikten Leistungsprinzips, zum Austausch von ‚Wissen‘ gegen ‚Gewinn‘. Heutige Quizshows operieren dagegen in der Regel mit Antwortvorgaben, das heißt, im Unterschied zu Kandidaten der 1950er Jahre können ihre Nachfahren auf drei Wegen zum Erfolg gelangen. Ihre erste Chance besteht darin, dass sie die Antwort kennen; eine zweite ergibt sich aus dem Abwägen der vorgegebenen Alternativen nach Vermutung oder Gefühl; eine dritte ist das blinde Raten. Auch hier ist die Ablösung der Leistungs- durch die Erfolgsgesellschaft unverkennbar. Im neuen Quiz wie im neuen Kapitalismus ist ‚Leistung‘, hier also Wissen, nur ein Weg von mehreren zum Erfolg. Obwohl es im Quiz vordergründig nur um ‚Wissen‘ geht, werden Wissen, Vermuten und Glück durch die Spielregeln tatsächlich als austauschbar vorgeführt.
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3.3 Die Kandidatenfrage Damit sind wir wieder bei Hape Kerkeling angelangt und bei der dritten These: Ja, das ganze Leben ist heute tatsächlich ein Spiel, und wir sind wirklich nur die Kandidaten. In dieser These ist mit dem Begriff ‚Spiel‘ natürlich das gemeint, was in den Kulturwissenschaften damit verbunden wird, nicht aber umgangssprachliche Semantik. Im alltäglichen Sprachgebrauch wird mit ‚Spiel‘ vor allem Leichtigkeit und Unverbindlichkeit assoziiert, was beides vor allem im Spielen von Kindern gesehen wird – und als Konsequenz pointiert im Begriff ‚Kinderspiel‘ auftaucht. Wie oben angedeutet, betont der kulturwissenschaftliche Spielbegriff dagegen den Modellcharakter des Spiels, seine spezifische Realitätsqualität als einerseits von anderen (Alltags-)Realitätskonzepten losgelöst, andererseits aber darauf verweisend. Das heißt, ein ‚Spiel‘ kann, muss aber nicht unernst sein. Und das Spiel, von dem in dieser These die Rede ist, ist ein sehr ernstes, es ist das Spiel des Lebens. Im Unterschied zu früheren Zeiten sind Lebensläufe heute wenig planbar oder vorherbestimmt, sie unterliegen vielen Zufällen und verlangen weitaus mehr individuelle Entscheidungen als in jeder Vergangenheit. Auch soziale Karrieren „verlaufen nicht mehr fatal, sondern fraktal“ (Nutt 2000: 8). Die Grenzen zwischen Spiel und Nicht-Spiel sind allein dadurch weitgehend aufgehoben, dass sich jedes einzelne Leben immer mehr aus einer Abfolge von Handlungsresultaten in abgegrenzten Situationen mit je eigenen Regeln zusammensetzt. Dies gilt ebenso für das private wie das berufliche Leben. Wer sich beispielsweise heute nach einem erfolgreich absolvierten Abitur dafür entscheidet, ein Studium aufzunehmen, begibt sich lediglich in eine neue kontingente Situation mit offenem Ausgang, die berufliche Karriere ist damit im Normalfall noch lange nicht festgelegt. Das ‚ganze Leben‘ ist tatsächlich zu einem Spiel, oder richtiger: zu einer Abfolge von sehr unterschiedlichen Spielen geworden, in denen wir uns immer wieder neu als Kandidaten zu bewähren haben. Als Kandidaten in einer Beziehung, als Kandidaten in einem Beruf oder nur als Kandidaten in einem Spiel um wirtschaftlichen Erfolg, das ebenso im Spielkasino wie an der Börse wie im Fernsehen als Quiz stattfinden kann. Sowohl dieses Phänomen als auch ein weiteres hat ausgerechnet eine Fernsehsendung auf den Punkt gebracht, nämlich Big Brother. Als TV-Format kombiniert Big Brother Elemente von Talk Show, Reality TV, Soap Opera und Game Show und führt damit vor, dass tatsächlich auch formal das ganze menschliche Leben nach Spiel-Regeln organisiert werden kann – zumindest unter Laborbedingungen. Darüber hinaus hat die erste Staffel von Big Brother aber auch gezeigt, dass das Spiel im Fernsehen nur ein Teil – und nicht unbedingt der wichtigste – eines gesamtgesellschaftlichen Spiels ist. Nach dem Kriterium des wirtschaftlichen Erfolgs gab es bei Big Brother zwei Sieger. Erstens John, der letztlich die Siegprämie von 250.000 DM kassierte, zweitens Zlatko, ein relativ
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früh ausgeschiedener Kandidat, dem es aber gelang, vom sendungsinternen Spiel in ein anderes zu wechseln. Zlatko besang CDs, trat in diversen Talk Shows auf, Bücher wurden unter seinem Namen veröffentlicht, und damit wurde er zum zeitweiligen Medien-Star – womit er weitaus mehr Geld verdiente als der eigentliche Big Brother-Sieger.
4 Statt eines Fazits: Nachfragen zur Spielleitung Die im letzten Abschnitt skizzierte These hat noch eine verdeckte Pointe: In dem mehrfach zitierten Lied ist die Rede davon, dass wir ‚nur‘ die Kandidaten sind. Das heißt, wir dürfen zwar mitspielen, haben aber keinen Einfluss auf die Spielregeln. Unmittelbar erleben konnten dieses Phänomen die Big BrotherKandidaten: Sie erhielten ihre Anweisungen von einer gesichtslosen Stimme. So orwellianisch geht es in Quiz- und Spielshows nicht zu – hier sind die Spiele und ihre Regeln (fast)7 immer bekannt. Es gilt nur das Grundprinzip jedes Spiels, nämlich dass die Befolgung der Regeln unabdingbare Voraussetzung für das Zustandekommen des Spiels ist. Wer das Schachbrett bei einer ungünstigen Stellung umwirft, beendet das Spiel – und hat verloren. Vor dem Hintergrund der oben formulierten These über die Implosion von Spiel, Medium und Gesellschaft, dem bemerkenswerten Zusammentreffen von Medienspielen, Spielmedium und einer ökonomisierten Gesellschaft, deren Ökonomie wesentliche Züge eines Glücksspiels aufweist, verdient die Frage nach der allgemeinen Spielleitung doch besondere Aufmerksamkeit: Es geht schließlich um ‚das ganze Leben‘ und ein Entkommen ist offenbar unmöglich. Dies gilt allein schon für das Fernsehen. Nimmt man als wesentliches Kennzeichen der Quizwelle die mediale Inszenierung eines ‚Erfolgs‘-Imperativs, dann war sie lediglich der Startpunkt einer ganzen Reihe nachfolgender Programmwellen: Um Erfolg ging und geht es auch in zahllosen Casting-, Makeover-, Coaching- und Ranking-Shows. In allen Fällen ist dieser Erfolg mit dem Erstellen von oder der Einpassung in Wertungshierarchien verbunden, die den Teilnehmern und Teilnehmerinnen derartiger Sendungen als Bewertungshierarchien begegnen. In Casting-Shows wie Deutschland sucht den Superstar wird durch die Ermittlung von prospektiven Stars über reale Karrierechancen entschieden, in Makeover-Shows wie Einsatz in 4 Wänden werden von ihren Bewohnern als defizitär empfundene Wohnumgebungen an Geschmacksstandards angepasst, in Coaching-Shows wie der Super-Nanny an ihren Fähigkeiten verzweifelnde Eltern Nachhilfeunterricht gegeben, in Ranking-Shows wie Unsere
7 Eine bemerkenswerte Ausnahme stellt hier das Format I’m a Celebrity, get me out of here dar, in Deutschland als „Dschungelcamp“ bekannt, in dem Noch- oder Nicht-mehr-Prominente unter weitgehender Preisgabe ihrer persönlichen Würde um ihr Überleben als Medienprominenz kämpfen.
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Besten oder Die 100 nervigsten Popsongs Orientierungshilfe im kulturellen Chaos geboten. Interessant ist dabei die Frage nach den Instanzen, die die Bewertung vornehmen. Je nach Genre gibt es dabei zwei Modelle: In Makeover- und Coaching-Shows sind dies von den Sendern angebotene ‚Experten‘, die von den ZuschauerInnen schlicht akzeptiert werden müssen, wenn sie sich auf die betreffenden Sendungen einlassen. In Casting- und Ranking-Shows werden in der Regel zwei Instanzen kombiniert. Es gibt erstens eine Bewertung bzw. Vorauswahl durch Experten, zweitens – und entscheidend – ist eine Publikumsabstimmung. Kommt man auf den Topos ‚Leistung‘ versus ‚Erfolg‘ zurück, wird dadurch zwar einerseits scheinbar ein Leistungsaspekt ins Spiel gebracht, andererseits aber durch das ‚Voting‘ – in vordergründig sympathischer demokratischer Geste – die Leistungskonkurrenz tatsächlich zu einer Geschmackskonkurrenz. Diese hat ihren Preis, vor allem wenn es wie in Casting-Shows nicht um frühere Meriten der Protagonisten geht, sondern um zukünftig zu erwartende. Hier ist der volle Körpereinsatz und die ganze Persönlichkeit verlangt (vgl. Thomas 2005: 40f.), was nicht nur die Bewertung von KandidatInnen in Form eines Castings durch die für eine produktionsorientierte Leistungsgesellschaft typischen Prüfungen unterscheidet (vgl. Neckel 2001: 257f.), sondern zugleich an aktuelle Politikkonzepte anschließt: Casting-Shows zeigen „die Kulturindustrie als Börse (sic) an der die Ich-AGs um ihre Aktienkurse wetteifern“ (Behrens 2003: 59). Ohne es zu intendieren, setzt das Fernsehen hier und in vielen anderen neueren Programmformen Topoi um, die in den letzten Jahren die politische und wirtschaftliche Entwicklung in Deutschland insgesamt maßgeblich bestimmt haben. Was Kandidaten in Casting-, Makeover-, Coaching- und Quizsendungen erleben, ähnelt in vielfacher Hinsicht weit verbreiteten Alltagserfahrungen. Erstens: Persönlicher Erfolg ist in hohem Maße von eigenem Handeln unabhängig – für den Erfolg in einer Casting-Show ist Aussehen und Ausstrahlung wesentlich, für die Auswahl für eine Coaching- oder Makeover-Show die Problemlage plus die eigene Telegenität, erfolgreiche QuizkandidatInnen brauchen in jedem Fall Glück. Ein vergleichbares Szenario haben auch viele ArbeitnehmerInnen erlebt: Ob sie ihren Arbeitsplatz behielten oder nicht, entschied sich nicht primär nach ihrer Leistung, sondern – wie immer schon – nach der Ertragslage ihres Unternehmens oder – ein neues Phänomen – nach der Unternehmensstrategie, die auch bei guten Ergebnissen Entlassungen vorsehen konnte, oder schlicht ihrem Alter. Zweitens: Grundvoraussetzung des Erfolgs ist die Bereitschaft zum Verzicht. Die Beteiligung an allen genannten Sendungstypen setzt zumindest den Verzicht auf Teile der Privatsphäre voraus – in MakeoverShows lässt man erkennen, dass man mit sich selbst oder seinem Umfeld nicht zufrieden ist, in Coaching-Shows wird eigenes Scheitern veröffentlicht, CastingShows beziehen einen erheblichen Reiz aus der Sichtbarmachung von Konflikten zwischen den Akteuren. Aber Verzicht ist auch in der Wirtschaft angesagt, nicht zuletzt bei Arbeitsbedingungen und Lohnhöhe, wenn nicht der Arbeits-
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platz gefährdet werden soll. Drittens: In beiden Bereichen gibt es eine teils gleiche, teils vergleichbare Art von ‚Spielleitung‘. Dass sie nicht sichtbar ist und mit ihr nicht diskutiert werden kann, war beim Fernsehen immer schon selbstverständlich; neu ist hingegen, dass auch politische Grundsatzentscheidungen in ähnlicher Weise der Diskutierbarkeit entzogen werden, indem ihre Alternativlosigkeit behauptet wird. Als Begründung dafür dient der (globalisierte) ‚Markt‘, von dem auch der Fernsehmarkt ein Teil ist. Es bleibt allerdings die Frage, wer entschieden hat, dass ‚der Markt‘ alles entscheidet.
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„Ein Kreuz für Deutschland.“ Chancen und Grenzen unterhaltender Politikvermittlung Jörg-Uwe Nieland & Ingrid Lovric
„Ich habe überhaupt keine Hoffnung mehr in die Zukunft unseres Landes, wenn einmal unsere Jugend die Männer von morgen stellt. Unsere Jugend ist unerträglich, unverantwortlich und entsetzlich anzusehen.“ (Aristoteles zit. nach Arzheimer 2006: 318)
1 Jugend, Politik, Medien – eine schwierige Konstellation? Das Eingangszitat verdeutlicht: Größeres Misstrauen gegenüber den politischen Fähigkeiten „der Jugend“ ist nicht nur weitverbreitet, sondern hat auch bereits in früheren Epochen zu Besorgnis bei den politischen Eliten geführt. Das Verhältnis der Jugend zur Politik ist nicht nur von allgemeinem öffentlichem Interesse, sondern beschäftigt auch die Politikwissenschaften intensiv. Aus der Sicht des Konzepts der politischen Kultur2 ist die subjektive Orientierung der Bürger gegenüber der Politik eine wesentliche Determinante für die Stabilität und Funktionsfähigkeit einer Demokratie. Weil sich an den politischen Orientierungen und Verhaltensweisen der Jugendlichen auch der Erfolg der politischen Sozialisation ablesen lässt, dienen sie „als Gradmesser für die zukünftige Entwicklung der Demokratie“ (Roller/Brettschneider/van Deth 2006a: 7). Nach den gängigen Klischees wissen Jugendliche wenig über Politik und auch ihr politisches Engagement – etwa in Gewerkschaften, Verbänden, Neuen sozialen Bewegungen 1 Der Titel des Beitrags greift den Songtitel von Stefan Raab auf. Der Song „Ein Kreuz für Deutschland“ wurde während der „TV total“-Sondersendung am Vorabend der Bundestagswahl 2005 präsentiert. 2 Diese Anbindung erfolgt unter Rückgriff auf den Ansatz von Karl Rohe zur Politischen Kultur (1987). Rohe schlägt die Abkehr von der überwiegend an Einstellungen orientierten Forschung zur Politischen Kultur vor. Damit ebnet er den Weg für einen inhaltsanalytischen Zugriff und kann die gesellschaftlichen Entwicklungen in den Blick nehmen. Der Ansatz von Rohe arbeitet mit der Unterscheidung zwischen Soziokultur und Deutungskultur. Die Soziokultur wird als der selbstverständliche und gegebene, nicht immer neu hinterfragte Bereich der politischen Kultur beschrieben. Die politische Deutungskultur markiert quasi die Metaebene der Politischen Kultur. Auf dieser Metaebene werden die Angebote der Soziokultur reflektiert und ggf. neue Sinn- und Deutungsangebote hervorgebracht. Die Reflexion, Umdeutung und Neugenerierung macht nach dem Konzept von Rohe den sozialen Wandel aus. Zentraler Punkt in Rohes Argumentation ist, dass zwischen der Soziokultur und der Deutungskultur ein „spannungsreiches Austauschverhältnis“ besteht (ebd.: 42).
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oder Parteien – ist nur gering ausgeprägt. Als eine Erklärung wird angeführt, dass Jugendliche in ihrem Alltag wenig mit Politik in Berührung kommen. Auch ihre Rezeptionsweise von Medienangeboten in ihrem Medienalltag ist scheinbar weit von der Politik entfernt, denn Mediendaten (vgl. aktuell die Beiträge in Reitze/Ridder 2006) belegen, dass sie die klassischen Informationsangebote nur sporadisch nutzen. Grundsätzlich verhindern Medien und Medienkonsum aber nicht den Zugang zu politischen Informationen und damit die Teilnahme am Meinungs- und Willensbildungsprozess. Zahlreiche Studien können zeigen, dass Unterhaltungsangebote die Politikvermittlung für Jugendliche sehr wohl „übernehmen“ können (vgl. bspw. Göttlich/Nieland 1997; Dörner 2000; Holtz-Bacha 2001 sowie die Beiträge in Schorb/Theunert 2000).3 Weil gerade unterhaltende Angebote als Reservoir für die individuelle Orientierung und Sinngebung genutzt werden, befinden sich in den letzten Jahren Infotainment-Sendungen auf dem Vormarsch; sie versorgen die Zuschauer mit Orientierungswissen, Serviceinformationen und vergnüglichen Geschichten (vgl. Holtz-Bacha 2000; Dörner 2001; Kamps/Nieland 2004; Eggert/Lauber 2004). Dies geschieht, indem sie eine dramatisierte, sensationalisierte und fiktionalisierte Weltsicht vermitteln. Die so präsentierten Geschichten werden entweder für wahr gehalten oder – was durchaus legitim und gewünscht ist – als Entspannung und/oder Unterhaltung konsumiert.4 Dimensionen sozialen und politischen Handelns werden nicht nur über die klassischen Informationsangebote vermittelt und „gelernt“.5 Vor diesem Hintergrund verwundert es, dass dem Zusammenhang zwischen Medienangeboten, Mediennutzung und politischen Einstellungen sowie politischem Verhalten von Jugendlichen bislang nur wenig Aufmerksamkeit gewidmet wurde. Es scheint so, dass selbst die Medienproduzenten bislang den politisch interessierten Jugendlichen noch nicht für sich entdeckt haben. Der folgende Beitrag setzt an diesem Punkt an und konfrontiert diesen Befund exemplarisch mit einem Unterhaltungsangebot, das sich an jugendliche ZuschauerInnen richtet, während des Bundestagswahlkampfs 2005 ausgestrahlt wurde und Wahlumfragen in den Mittelpunkt rückt. Bevor näher auf das Format TV total (Pro7) eingegangen wird, gilt es einerseits, einen Einblick zur Tradition von Wahlumfragen in Unterhaltungssendungen zu liefern und andererseits Ergebnisse der Bundestagswahl 2005 zu diskutieren, bevor ein gerichteter Forschungsüberblick zum Verhältnis von Jugend und Politik6 erfolgt. In diesem Zu3 Dies trifft übrigens auch auf Angebote wie Politbongo (Nieland 2003) oder Benjamin Blümchen (Strohmeier 2005) zu, die für Kinder konzipiert wurden. 4 Zur Dramaturgie informativer Unterhaltung und unterhaltender Information gehören Abwechslung, Personalisierung, Emotionalisierung, die dosierte Mischung von Spannung und Entspannung, Stimulation, Vermeidung von Langeweile (vgl. Bosshart 1991: 3; vgl. auch Meyer 2005; Nieland 2004; Dörner 2001). 5 Dennoch können politische Inhalte im Sog des Infotainment verloren gehen; „es ist dann irgendwie von Politik die Rede, aber das, was sie selbst in der Sache ausmacht, wird nicht mehr sichtbar“ (Meyer 2000: 9). 6 Umfangreiches empirisches Material enthalten die 14. Shell-Jugendstudie aus dem Jahr 2002 (Deutsche Shell 2003) – hier liegt der Schwerpunkt auf der Untersuchung der politischen Ein-
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sammenhang wird es u. E. möglich, Fragen nach dem Potenzial der Politisierung Jugendlicher durch Unterhaltungsformate kritisch zu diskutieren.
2 Umfragen können – müssen aber nicht stimmen Amerikanische Wahlkampfforscher sprechen seit längerem von der so genannten Horse-Race-Berichterstattung: Wer liegt vorne, wer liegt zurück, wer holt auf, wer macht das Rennen? Der Begriff Horse-Race-Berichterstattung soll verdeutlichen, dass Politik auf Zahlen verkürzt wird und der politische Journalismus in der Wahlkampfkommunikation eher dem Sportjournalismus ähnelt. Komplexe gesellschaftliche Themen, Meinungen und Stimmungen werden auf das Niveau von Sporttabellen und Ergebnistafeln abgesenkt (vgl. bspw. Hohlfeld 2003: 119). Die Berichterstattung über das Stimmungsbild und die Wahlaussichten der einzelnen Parteien ist in der Bundesrepublik außerhalb der Wahlkampfphasen recht spärlich; lediglich das ZDF (Politbarometer) und die ARD (Deutschlandtrend) sowie n-tv (n-tv forsa) erheben und kommentieren kontinuierlich die Meinungslage. Während des Wahlkampfes allerdings ändert sich das Bild dramatisch. Langzeituntersuchungen belegen, dass die Zahl der in den Massenmedien veröffentlichten Wahlumfragen seit den achtziger Jahren stark zugenommen hat (bspw. Gallus 2002: 29f; Kaase 2003: 5; für den 2005er Wahlkampf Brettschneider 2005: 22). Zwar nehmen Umfragen seit jeher für die Planung und Positionierung der Politiker und Parteien einen wichtigen Platz ein, neu an der Entwicklung im Wahlkampfjahr 2002 sind das Interesse der Medienmacher und ihre massive Vermarktung. Einen weiteren Schritt in Richtung „Stimmungsdemokratie“ (Korte 2005)7 stellt dabei der Versuch dar, mit Wahlumfragen in Unterhaltungssendungen das vermeintlich unpolitische Publikum anzusprechen. Harald Schmidt erhob im Wahljahr 2002 in seiner Sendung neun Monate lang die Wahlabsicht bei seinem Studiopublikum und seinem Team (vgl. Nieland/Lovric 2004). Angesichts des Kult-Status der Show entwickelten sich die Umfragen in Verbindung mit Schmidts Kommentaren zur jeweils aktuellen Nachrichtenlage zu einem wichtigen Stimmungsbarometer der Republik. Der Wahlkampf 2002 fand deshalb auch in der Late Night Show statt.8 Die stellungen und des politischen Engagements – sowie der Jugend-Survey „Jugend und Politik“ des Deutschen Jugendinstituts (DJI) in München, der inzwischen drei Wellen umfasst (Gille/Krüger/de Rijke 2000; Gille et al. 2006; vgl. auch die Beiträge in Breit/Massing 2003; in Burdewick 2003 sowie in Roller/Brettschneider/van Deth 2006b). Ende September 2006 wurde die 15. Shell Jugendstudie vorgelegt. Kernaussagen sind: Es kommt zu einem Rückgang des Optimismus bei den Jugendlichen (die Hauptsorge gilt der Arbeitslosigkeit, teilweise der Armut) und es droht ein Kampf der Geschlechter, weil die Jungen gegenüber den Mädchen in punkto Bildung und Bildungschancen ins Hintertreffen geraten (vgl. Deutsche Shell 2006). Die Befunde der 15. Shell-Jugendstudie konnten in dem vorliegenden Beitrag nicht berücksichtigt werden. 7 Problematisch ist, dass Umfragen meist gar nicht auf ihre Gültigkeit und Verwertbarkeit hin überprüft werden (können), sondern lediglich dazu dienen, ‚Stimmung zu machen‘. 8 In den USA ist diese Entwicklung bereits seit längerem bekannt: (Spitzen-)Politiker sind regel-
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Meinungsmache in der Harald Schmidt Show diente allerdings vor allem Unterhaltungszwecken: Als Bewertung dieses Showelements lässt sich festhalten, dass es Harald Schmidt gelungen war, Politik und Unterhaltung auf eine bislang noch unbekannte Art und Weise zu kombinieren. Die Show diente im September 2002 nicht nur den Spitzenpolitikern der kleineren Parteien als Plattform, mit den Wahlumfragen beim Studiopublikum und seinen Mitarbeitern trug der Entertainer dazu bei, den Mythos der Demoskopie zu relativieren. Der ironisierende Umgang mit der Nachrichtenlage, den Politikern und auch den „(Vor-) Wahlentscheidungen“ lässt eine Entwarnung bezüglich der Gefahren der „Stimmungsdemokratie“ angebracht erscheinen. Harald Schmidt bewies mit seinem Konzept des Infotainments, was Umfrageergebnisse leisten können, wenn gleichzeitig ein ‚Vorverständnis‘ der Themen vorhanden ist und dass die ZuschauerInnen (und somit auch die WählerInnen) produktiv mit den Politikangeboten umzugehen in der Lage sind. Während die Harald Schmidt Show zum größten Teil von einem älteren Publikum rezipiert wird, werden wir im Folgenden ein ähnliches Angebot diskutieren, das sich vorwiegend auch an ein jüngeres Publikum richtet.
3 Die Berichterstattung zur Bundestagswahl 2005 Politische Parteien und ihre Kandidaten werden hauptsächlich nach ihren Kompetenzen wie Problemlösungsfähigkeit und Leadership-Qualität beurteilt (vgl. grundlegend Brettschneider 2002; Wagner 2006). Durch die Kombination von Beschreibung und Bewertung bestimmter Merkmale eines Politikers kann die Berichterstattung den Politikern nutzen. Aus diesem Grund drängen die (Spitzen-)Politiker verstärkt in die Medien. Es handelt sich keineswegs um ein neues Phänomen: „Auch im Mittelalter hatte der Kaiser das Bedürfnis, sich dem Volke zu zeigen und das Volk vielleicht hat das Bedürfnis, den Kaiser zu sehen und wenn er durch die Rheinebene ritt, dann saß er auf einem Schimmel mit einem Purpurmantel angetan mit einer goldenen Krone auf dem Haupt, sodass das Volk ihn von Weitem sehen konnte. Was der Purpur für den Kaiser, ist heute Alfred Biolek für Joschka Fischer und Sabine Christiansen für Wolfgang Clement“ (Geißler 2003: 275).
Und gerade 2005 wurde ein Medienwahlkampf geführt, das heißt, wahlrelevante Eindrücke erreichten den Großteil der Wähler durch die Berichterstattung der
mäßig zu Gast bei Jay Leno oder David Letterman – beispielsweise kündigte Arnold Schwarzenegger seine Kandidatur für den Gouverneursposten in Kalifornien in der Late Night Show von Jay Leno an (vgl. Kamps/Nieland 2004). Im Bundestagswahlkampf 2002 forcierten vor allem die Spitzenkandidaten der kleineren Parteien den Gang in die Unterhaltungsshows, denn ihnen war der Zugang zu den beiden Fernsehduellen versperrt und so waren sie darauf angewiesen, sich und ihre Positionen an anderer Stelle zu präsentieren (vgl. Nieland/Lovric 2004). So hielt Stefan Raab im Bundestagswahlkampf 2002 in seiner Sendung TV total eine Mückenrunde mit den Vertretern der kleinen Parteien ab (Bieber 2006: 139, FN 28).
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Zeitungen und Zeitschriften, über zahlreiche Sondersendungen im Fernsehen und vor allem über die Fernsehnachrichten (vgl. bspw. Brettschneider 2005). Neben der Rolle bei der Imagebildung besitzen die Massenmedien eine Thematisierungsfunktion. Von den Wählerinnen und Wählern werden die Themen als wichtig und lösungsbedürftig erachtet, über welche die Massenmedien häufig und gut platziert berichten (vgl. ebd.: 20). Konkret befanden sich in der Berichterstattung 2005 die Verfahrensfragen zur Neuwahl, die hohe Arbeitslosigkeit, die dramatische Staatsverschuldung, die Probleme der Rentenkassen und der Pflegeversicherung auf der Agenda (vgl. ebd.; außerdem Krüger/Müller-Sachse/Zapf-Schramm 2005). Angesichts dieser Themenlage und der (zunächst) guten Umfrageergebnisse entschied sich die Wahlkampfführung der Union, die rotgrüne Bilanz nicht zu attackieren, sondern für einen „gouvernementalen Wahlkampf“ (Brettschneider 2005: 22).9 Dies brachte die Union in eine Position, in der sie sich zu verteidigen hatte, außerdem bekam Merkels Image Kratzer, als sich Edmund Stoiber über „frustrierte Ostdeutsche“ und Jörg Schönbohm über die „Verwahrlosung“ in den ostdeutschen Bundesländern äußerten. Gerhard Schröder gelang die „Re-Sozialdemokratisierung“ der SPD, die Bundestagswahl wurde zu einer Richtungsentscheidung zwischen „Sozialer Gerechtigkeit“ und „Abbau des Sozialstaates“ (vgl. Brettschneider 2005; Korte 2005). In der Folge verlor das Thema „Arbeitsmarkt“ kontinuierlich an Bedeutung, nahmen Meinungsumfragen immer breiteren Raum ein – hier war seit dem TV-Duell vom Aufholen der SPD die Rede – und das Thema „Steuern“ wurde in Verbindung mit „Sozialer Gerechtigkeit“ gebracht (in diesem Zusammenhang war der Steuerexperte Paul Kirchhof für die Union längst zur Belastung geworden). Nahezu zwangsläufig sank die Kompetenzzuschreibung für die CDU, und die Kompetenzzuweisung der SPD (gerade im Bereich „Soziale Gerechtigkeit“ und in Steuerfragen) stieg (vgl. Brettschneider 2005: 22; Jung/Wolf 2005: 5f; Korte 2005; Korte et al. 2006). Bevor jedoch konkret auf die unterhaltende Berichterstattung im Wahlkampf 2005 eingegangen wird, sollen vorher sowohl der Forschungsstand zu den politischen Einstellungen und Wahlverhalten von Jugendlichen als auch die Ergebnisse der Bundestagswahl 2005 erläutert werden, um eine Rahmung für die Umfrage unter dem jugendlichen Publikum in der Unterhaltungssendung „TV total“ zu geben.
4 Politische Einstellungen und (Wahl-)Verhalten von Jugendlichen Die politikwissenschaftliche Jugendforschung in Deutschland hat zur politischen Einstellung von Jugendlichen folgende Befunde vorgelegt:
9 Im ‚Gegenzug‘ führte die SPD einen Oppositionswahlkampf. Die Berichterstattung folgte dieser Strategie und verhalf den Sozialdemokraten damit zu ihrer Aufholjagd (vgl. Korte et al. 2006).
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x Die Shell-Jugendstudie belegt ein weiter rückläufiges Interesse an der Politik (vgl. Deutsche Shell 2003: 21), den Rückgang postmaterialistischer Werte bei gleichzeitiger Zunahme pragmatischer Haltungen (vgl. ebd.: 18f.). Außerdem wird eine deutliche Parteiverdrossenheit bei hoher Akzeptanz der Demokratie (ebd.: 24) und einem geringen Niveau an konventioneller und unkonventioneller Partizipation nachgewiesen (ebd.: 27). x Die DJI-Jugend-Surveys sehen im Unterschied dazu zwischen 1992 und 2003 keine massiven Rückgänge beim politischen Interesse und bei der subjektiven politischen Kompetenz sowie die leicht abnehmende Zustimmung zur Idee der Demokratie (vgl. Gille et al. 2006).10 In der Auseinandersetzung – und Aktualisierung – mit der 14. Shell-Studie und den DJI-Jugendsurveys kommt die politikwissenschaftliche Forschung – unter dem ‚beruhigenden‘ Label: „das Verhältnis von Jugend und Politik ist voll normal“ – zu sechs zentralen Ergebnissen. Erstens lassen sich bei fast allen politischen Einstellungen und Verhaltensweisen Unterschiede zwischen Jugendlichen und Erwachsenen feststellen (wenngleich diese Unterschiede jeweils verschieden stark ausgeprägt sind). Zweitens entwickeln sich bei den Jugendlichen und den Erwachsenen die politischen Einstellungen und Verhaltensweisen parallel. D.h. beide Gruppen reagieren ähnlich auf politische Ereignisse und Entwicklungen und sind von sozialen Prozessen wie der Individualisierung betroffen. Es existieren drittens ‚jugendspezifische Entwicklungsmuster‘, was bedeutet, dass einige negative Trends bei den Jugendlichen stärker ausgeprägt sind, die politische Unterstützung der Demokratie und des Parteiensystems seit den 1990er Jahren bei den Jugendlichen größer ist (während sie zuvor deutlich niedriger war) und bei der subjektiven politischen Kompetenz sich „der komparative Vorteil der Jugendlichen gegenüber den Erwachsenen im Zeitverlauf“ (Roller/Brettschneider/van Deth 2006a: 9) reduziert. Viertens besitzt ‚die Jugend von heute‘ gegenüber der Jugend der 1970er und 1980er Jahre eine höhere politische Kompetenz, ist in größerem Ausmaß materialistisch orientiert, fällt durch eine geringere Wahlbeteiligung auf und wählt seltener die Grünen. Die sinkende Wahlbeteiligung erklärt sich fünftens über Kohorteneffekte. Und schließlich hat sechstens die Ost-West-Differenz auch bei der jüngeren Generation Bestand (vgl. Roller/Brettschneider/van Deth 2006a: 9ff.). Die hier wiedergegebene Forschungslage verdeutlicht einmal mehr, dass der Medienalltag von Jugendlichen kaum in die politikwissenschaftlichen Untersuchungsanlagen und Erklärungsansätze aufgenommen ist. Offensichtlich trifft das Bild des Jugendlichen als langhaariger Demonstrant nicht mehr zu. Vielmehr scheint – Umfrageergebnissen zufolge – der angepasste Golffahrer den ‚typischen‘ Jugendlichen zu repräsentieren. Die heutige Jugend lässt sich laut der 14. Shell-Jugendstudie in vier Typen teilen. Die Hälfte der Jugendlichen, die 10 Vgl. mit einer vertiefenden Gegenüberstellung der beiden Studien Roller/Brettschneider/van Deth 2006a: 7ff.
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Typen „Selbstbewusste/r Macher/in“ und „Pragmatische/r Idealist/in“, kommen mit den Anforderungen der Leistungsgesellschaft gut zurecht, haben gute Zukunftsperspektiven und sind bereit, sich politisch und sozial zu engagieren. Die andere Hälfte, die Typen „Zögerliche/r Unauffällige/r“ und „Pragmatische/r Materialist/in“, fühlen sich schwach aufgrund ihrer geringen Bildungsqualifikationen, sind den hohen Anforderungen der Leistungsgesellschaft nicht gewachsen, und aufgrund ihrer Perspektivlosigkeit erscheint ihnen soziales Engagement zumeist sinnlos. Sie sind enttäuscht, fühlen sich von der Politik allein gelassen und suchen, vereinzelt, Nischen in gewalttätigen Milieus (vgl. Deutsche Shell 2003: 3).11 Während die „partizipatorische Revolution“ (Kaase) der späten 1970er Jahre nicht auf die Jugend begrenzt blieb und viele der systemkritischen 68er-Protestgeneration in den etablierten Institutionen und Parteien engagiert sind, tritt die heutige Jugend nicht als politische Avantgarde in Erscheinung – vielmehr gleicht sie sich in ihren zentralen politischen Einstellungsbereichen an die Erwachsenen an. Dabei ist die in den 1960er und 1970er Jahren entstandene Kluft zwischen Jung und Alt nahezu verschwunden (vgl. Abold/Juhasz 2006: 78). Die „Rückkehr der Jugend in den Mainstream“ und die mittlerweile sogar überdurchschnittlich positive Einschätzung der Demokratie und der Parteien unter den heute 18- bis 24-Jährigen aber lässt sich weniger auf Einstellungsänderungen bei der Jugend als vielmehr auf die kritischere Haltung der Älteren zurückführen: „Somit hat sich nicht die Jugend auf den Mainstream bewegt, sondern der Mainstream hat sich verlagert“ (ebd.: 95f.). Erwähnenswert ist außerdem, dass das hohe Potenzial latenter rechtsextremer Einstellungen in der Bundesrepublik – es liegt nach Erhebungen aus dem Jahr 2003 bei 16 Prozent – kein jugendspezifisches Problem ist.12 Ähnlich wie bei den politischen Einstellungen, räumt die aktuelle Forschung auch mit einigen Mythen zum Wahlverhalten von Jugendlichen auf. Inzwischen liegen belastbare Daten dazu vor, dass das Lebensalter das Wahlverhalten allenfalls moderat beeinflusst. Zwar erweist sich innerhalb des Lebenszyklus der Übergang zum Erwachsenenleben als für die Wahlentscheidung vergleichsweise wichtiger Schritt, aber seine Wirkung auf das Wahlergebnis ist von eher bescheidenem Umfang. Die parteipolitische Richtung des Jugendeffekts schwankt wahlspezifisch – dabei schwächt der Jugendbonus zugunsten von Bündnis’90/Die Grünen zunehmend ab (vgl. Schoen 2006: 400). Auch die Einschätzung zur Wahlbeteiligung von Jugendlichen erscheint in einem neuen Licht: „Mit einer Kohortenanalyse der kulminierten ALLBUS-Daten für Westdeutschland konnte gezeigt werden, dass ein geringes Lebensalter, anders als häufig vermutet, per se keinen signifikant negativen Einfluss auf die Wahlbeteiligung hat“ (Arzheimer 2006: 333). Schließlich gilt es zu erwähnen, dass bei den Landtagswahl in Sachsen die NPD bei den 18- bis 2911 Auch die mittlerweile aggressiver gewordenen Subkulturen wie die HipHop-Szene bieten Platz für Enttäuschte (vgl. Interview mit Bushido in der „Süddeutschen Zeitung“ vom 27.06.2005). 12 Die Rechtsextremismusforschung hat in der Politikwissenschaft eine lange Tradition und erlebt in den letzten Jahren eine Renaissance; stellvertretend sei auf den Band von Richard Stöss (2005) verwiesen, der aktuelle Befunde und Interpretationen zusammenträgt.
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Jährigen 18 Prozent der Stimmen erzielen konnten (vgl. bspw. Stöss 2005: 91) – d.h. anders als bei den politischen Einstellungen sind beim Wahlverhalten die Jugendlichen dem neuen Rechtsextremismus stärker als die Erwachsenen zugeneigt. Insbesondere anhand der jüngst ausgebrochenen Debatte um die Armut in Deutschland13 ist eine direkte Ansprache von Jugendlichen und ihren Problemen eine wichtige gesamtgesellschaftliche Aufgabe, die nicht – wie jüngst in Sachsen und Mecklenburg-Vorpommern – der NPD überlassen werden darf. Sonst droht ein Teil der Jugendlichen in eine Art paralleler Gesellschaft fernab von den Normen der Demokratie abzudriften. Jugendarbeitslosigkeit, wegfallende Bildungschancen und die Frage der sozialen Gerechtigkeit scheinen die Jugendlichen, insbesondere auf der Seite der Verlierer der Leistungsgesellschaft, mehr zu interessieren als Darstellungs- und Imageprobleme der Politiker.
5 Das Ergebnis der Bundestagswahl 2005 Vergleichbar mit dem Ergebnis der Bundestagswahlen 2002, als die beiden großen Parteien mit jeweils 38,5 Prozent nur wenige tausend Stimmen trennten, lagen Union und SPD auch bei der Bundestagswahl 2005 nahe beieinander – die Differenz betrug einen Prozentpunkt. Von allen Wahlberechtigten entschied sich mit 53,1 Prozent nur noch gut die Hälfe für Union oder SPD; eine solch niedrige Zustimmung für die beiden Volksparteien gab es mit Ausnahme von 1949 in Deutschland noch nie (2002 erzielten Union und SPD zusammen 60,2 Prozent der Stimmen aller Wahlberechtigten). Umgekehrt gingen die kleineren Parteien gestärkt aus der Wahl hervor. Sowohl die FDP, die mit 9,8 Prozent (gegenüber 7,4 Prozent 2002) mehr als zwei Prozentpunkte zulegen konnte, als auch die Grünen, die bei leichten Verlusten auf 8,1 Prozent (2002 erreichten sie 8,6 Prozent) kamen, schnitten im Vergleich zu früheren Ergebnissen gut ab. Die größten Zugewinne verzeichnete die Linkspartei/PDS mit 8,7 Prozent14 (vgl. im Detail Jung/Wolf 2005; Rattinger/Juhasz 2006).15 SPD, Bündnis’90/Die Grünen und Linkspartei/PDS bleiben mit gemeinsam 51,1 Prozent der Zweitstimmen exakt auf dem gleichen Niveau wie bei der Wahl 2002 im letzten Urnengang, aber die Wählerbewegungen innerhalb der Blöcke hatten entscheidende politi-
13 Die Diskussion geht zurück auf die Studie „Gesellschaft im Reformprozeß“ für die das Meinungsforschungsinstitut TNS Infratest von Februar bis April 2006 3021 Personen befragte. 14 Als besonders markantes Ergebnis ist das gute Abschneiden der Linkpartei/PDS im Saarland festzuhalten – die Linke/PDS erreichte 18,7 Prozent und damit mit Abstand ihr bestes Westergebnis. Vgl. grundlegend zu Linkspartei/PDS und ihre Wähler Schoen/Falter (2005). 15 Auch wenn die NPD mit 1,6 Prozent deutlich unter der 5-Prozent-Hürde blieb, ist der Stimmenzuwachs von 1,2 Prozentpunkten unter anderem auf das Wahlbündnis von NPD und DVU sowie die sich aufgrund des Wahlerfolgs bei den Landeswahlen entwickelten Strukturen in Ostdeutschland zurückzuführen. Zukünftig werden Analysen zum Wahlverhalten gerade junger Männer in Ostdeutschland der NPD besondere Aufmerksamkeit widmen.
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sche Konsequenzen und führten zu heftigen Debatten über Koalitionen jenseits bekannter Denkmodelle (Rattinger/Juhasz 2006: 8; vgl. auch Korte 2005).
Tabelle 1:
Amtliches Wahlergebnis der Bundestagswahl 2005 Anteil in % 2005
Anteil in % 2002
Differenz
Wahlbeteiligung
77,7
79,1
-1,4
CDU/CSU
35,2
38,5
-3,3
SPD
34,2
38,5
-4,3
FDP
9,8
7,4
+2,4
B90/Grüne
8,1
8,6
-0,5
Linkspartei/PDS
8,7
4,0
+4,7
Republikaner
0,6
0,6
0,0
NPD
1,6
0,4
+1,2
Andere
1,6
2,0
-0,2
Wahlergebnis
(Quelle: Rattinger/Juhasz 2006: 8) Die Wahlbeteiligung bei den Unter-30-Jährigen ist im Vergleich zur Bundestagswahl 2002 um 1,5 Prozentpunkte auf 68,8 Prozent gesunken. Die niedrigste Wahlbeteiligung zeigte die Altersgruppe der 21- bis 25-Jährigen, die mit 66,5 Prozent um 11,8 Prozent unter der Wahlbeteiligung aller Altersgruppen lag. Es tritt deutlich hervor, dass in der Altersgruppe der Jungwähler die Wahlbeteiligung mit dem Alter steigt. Die SPD erreicht bei der Bundestagswahl 2005 ihren besten Stimmenanteil mit 38,5 Prozent bei den 18- bis 24-Jährigen. Zuspruch fanden bei den jungen WählerInnen insbesondere kleinere Parteien. Die FDP erreichte bei den 18- bis 25-Jährigen mit einem Anteil von 11,1 Prozent ein überdurchschnittlich gutes Ergebnis. Die überwiegende Mehrheit der WählerInnen gab ihre Erst- und Zweitstimme einheitlich ab, wobei bei den kleineren Parteien ein deutlicher Zweitstimmenüberhang auftrat. Wenn gesplittet wurde, bestand bei den CDU-Wählern die Tendenz zu Gunsten der FDP zu splitten, bei der SPD die Tendenz, die Zweitstimme den Grünen oder auch der Linkspartei/PDS zu geben, wobei keine signifikanten Differenzen bei den Geschlechtern auftraten (vgl. Statistisches Bundesamt 2006). Für die Argumentation des vorliegenden Beitrags interessiert vor allem das beinahe zweistellige Ergebnis der FDP – denn ihr Vorsitzender Guido Westerwelle drängte in den letzten Jahren massiv in Unterhaltungssendungen (vgl. Nieland 2006). Der Erfolg der Liberalen basierte weniger auf der Erschließung neuer Wählerschichten, vielmehr ging die FDP-Zweitstimmenkampagne in den
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letzten Wochen des Wahlkampfes voll zu Lasten der Union. Als Gründe für das taktische Wahlverhalten vermuten Rattinger und Juhasz (2006: 19), dass die Anhänger der CDU/CSU mit ihrem Votum für die FDP erstens der Union einen starken Koalitionspartner zur Mehrheitsbildung an die Seite stellen und zweitens einen noch entschiedeneren Reformkurs der erhofften schwarz-gelben Bundesregierung forcieren wollten. Letztendlich können Zahlen aber nicht die Motive preisgeben, die zur Wahlentscheidung beigetragen haben. Sowohl der Bildungsstand, also auch das soziale Umfeld, sowie das eigene Interesse an politischen Themen und der Umgang mit politischen Angeboten in der Schule/Ausbildung spielen für die Parteipräferenz eine erhebliche Rolle, aber gerade in Wahlkampfzeiten prägen Medien das Bild von Jugendlichen. Das Fernsehen dient als das (Leit-)Medium und als zugängliche Informationsquelle. Anhand von ausgewählten Beispielen soll im nächsten Schritt aufgezeigt werden, wie über ein unterhaltendes Medienformat auch politische Inhalte transportiert werden (können). Wie bereits erwähnt, tendieren gerade Spitzenpolitiker kleinerer Parteien dazu, einen medialen Wahlkampf zu führen. Dies wird gut sichtbar an zahlreichen Auftritten von Guido Westerwelle in Unterhaltungssendungen.
6 Westerwelles Auftritte in Unterhaltungssendungen 2002 Zwei Tage nach dem vieldiskutierten Big Brother-Auftritt (am 14. Oktober 2000) besuchte Guido Westerwelle das enfant terrible des Deutschen Fernsehens, Stefan Raab, in dessen Sendung TV total auf Pro7. Die Sendung vereint Elemente von Oliver Kalkofes Mattscheibe (Anfang der 1990 unverschlüsselt auf Premiere, in den letzten Jahren wurden neue Staffeln auf Pro7 ausgestrahlt) und einer Late Night Show. Von Montag bis Donnerstag beschäftigt sich die Sendung mit aktuellen popkulturellen Elementen. Es werden skurrile und peinliche Momente von Medienauftritten kommentierend präsentiert. Als Gäste werden dann die Protagonisten dieser Ausschnitte sowie Musiker oder Comedians eingeladen. Als Grund für den Besuch der Sendung gab Westerwelle an: „Veräppelt werde ich in Ihrer Sendung sowieso – da kann ich auch kommen.“ Pluspunkte erntete er, da er zu verstehen gab, die Sendung zu kennen; das heißt, er weiß wie wichtig die Sendung für Jugendliche ist. Die Gags, die ihm in Form von Einspielern gezeigt werden, kommentierte er schlagfertig. Zum Gelingen seines Auftritts trug bei, dass er nicht versuchte, Politik unterzubringen, sondern den Spaß mitmachte. Es ist allerdings auch zu erwähnen, dass Raab ihn nicht aus der Reserve lockte. Von seinem Mut, als Erster offensiv in die Unterhaltungsformate zu gehen, zehrte Westerwelle gleichwohl nur kurze Zeit (2000 und Anfang 2001). Danach traten die Inszenierungsschwierigkeiten offen zu Tage. Trotz des Gangs in die Unterhaltungssendungen, der „Guidomobil-Fahrten“ über die Campingplätze
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(während des Wahlkampfes 2002) und der gewährten Homestories, verfügt Guido Westerwelle über eine „perfekt verborgene Persönlichkeit“ (Lütjen/Walter 2002: 402). Westerwelle lässt den Totalausverkauf seiner Persönlichkeit nicht zu, vielmehr ist „ein gewaltiger Stilisierungsdruck“ spürbar, eine „ungeheuere Wachsamkeit, die ihn davor bewahrt, ein wirklich intimes Verhältnis zu ihm und seinen Zuschauern, jedenfalls an den Bildschirmen, auszubauen“ (Lütjen/Walter 2002: 402). Westerwelle erzielt Aufmerksamkeit, weil er etwas wagt, weckt aber kein Interesse an seiner Person. Dies ist in der „Popgesellschaft“ ein Widerspruch, denn hier lebt jede Inszenierung vom Image der Person. Der Vergleich der Auftritte der beiden FDP-Politiker bei Big Brother führt die Unterschiede zwischen Möllemann und Westerwelle vor Augen: Während Westerwelle ‚gebetsmühlenartig‘ Erstaunen und Freude über das Interesse der Bewohner an Politik äußert sowie seinen Auftritt mit der Ansprache derjenigen, die sonst nicht von Politik berührt werden, begründet, steht für Möllemann ausschließlich das Spektakel im Vordergrund. Möllemann schlägt konsequenterweise eine Verlängerung von Big Brother in die Politik vor – die Spitzenpolitiker der Parteien sollten sich im Wahlkampf in einen Container begeben, so würde Geld gespart und die Zuschauer bekämen ein realistisches Bild (von was auch immer) (vgl. Doebelin/Wilander 2001; Nieland 2006). Während Westerwelle bemüht ist, sein Privatleben zu schützen, versucht Möllemann die Maßstäbe des als privat Inszenierten in die Politik zu überführen (vgl. Holtz-Bacha 2001; Lütjen/Walter 2002: 414). Das Zwischenresümee lautet: Westerwelle hat die Grenzen der Boulevardisierung selbst gezogen. Damit hat er sich aber gleichzeitig in die Spaßfalle katapultiert. Trotzdem: Westerwelle besuchte auch während des Bundestagswahlkampfs 2005 Unterhaltungssendungen. Seinen Auftritt in der Wahlsondersendung von TV total beleuchtet der nächste Abschnitt.
7 Politik und Medien in der Wahlsondersendung von „ TV total“ Nach 2002 waren auch 2005 die Umfrageinstitute die Wahlverlierer. Es gelang ihnen (wiederum) nicht, brauchbare Prognosen zu liefern. Tabelle 2 dokumentiert die jeweils letzten Prognosen der wichtigsten Institute vor dem Urnengang.
288 Tabelle 2:
Jörg-Uwe Nieland & Ingrid Lovric Umfragen und Wahlergebnis (Angaben in Prozent) Allensbach 16.9.2005
Emnid 13.9.2005
Forsa 12.9.2005
FG Wahlen 9.9.2005
Infratest/ Dimap 8.9.2005
SPD
32,5
33,5
35,0
34,0
34,0
CDU
41,5
42,0
42,0
41,0
41,0
FDP
8,6
6,5
6,0
7,0
6,5
B’90/ Die Grünen
7,0
7,0
7,0
7,0
7,0
Linkspartei/ PDS
8,5
8,0
7,0
8,0
8,5
Partei
Die fünf großen Meinungsforschungsinstitute sahen die CDU/CSU mit über 40 Prozent ganz klar als Wahlsieger. Außer bei Allensbach war die Position des kleinen Koalitionspartners noch offen. Allensbach prognostizierte eine Kombination aus CDU/CSU im Bündnis mit der FDP, die klar die SPD und Bündnis ’90/Die Grünen ablösen sollten. Wie schon 2002 Harald Schmidt, so führte auch Stefan Raab in seiner Sendung ein Publikumsvotum zur Wahlabsicht durch. Bei den Raab-Umfragen lagen sowohl die CDU/CSU als auch die SPD im Mittelfeld und ließen ohne klaren Vorsprung eine große Koalition als gar nicht so unwahrscheinlich erscheinen (vgl. Tabelle 3). Damit lag die Raab-Umfrage im Trend gar nicht so schlecht und stellte manch seriöse Umfrageergebnisse in den Schatten. Am Vorabend der vorgezogenen Wahlen 2005 lud der Entertainer die Spitzenpolitiker der fünf großen Parteien ein, bis auf die Linkspartei/PDS, die von der Raab-Redaktion samt ihrem „Fanblock“ wieder ausgeladen wurde. Begründet wurde diese Entscheidung der Redaktion damit, dass Katja Kippling in den Augen der Verantwortlichen nicht über genügend Prominenz verfügte. Günther Beckstein (CSU), Christian Wulff (CDU), Franz Müntefering (SPD), Jürgen Trittin (Grüne/B´90) und Guido Westerwelle (FPD) betraten über die Showtreppe den Saal. Diese Diskussionsrunde war arrangiert wie bei Sabine Christiansen.16 Die Zuschauer wurden zu „Fanblöcken“ der vier Parteien zusammengefasst. Die Szenerie erinnerte stark an die Deutschland sucht den Superstar Sendung, und dazu passend kommentierte Raab nach der Vorstellungsrunde den
16 Neben den Spitzenpolitikern und Diskutanten waren als „Anführer“ der Fanblöcke auch noch weitere Parteipolitiker in der Sendung vertreten – es handelte sich um jüngere Politiker wie Anna Lührmann von den Grünen oder Kajo Wasserhövel von der SPD.
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Beifall vor allem aus dem Block der Grünen: „Ist hier ein bisschen wie im Tigerentenclub – die Frösche liegen vorne“.
Tabelle 3:
Ausgewählte Umfrageergebnisse beim Studiopublikum von TV total (Angaben in Prozent) TV total 22.8.2005
TV total 23.8.2005
TV total 24.8.2005
TV total 31.8.2005
TV total 1.9.2005
SPD
32,2
43,0
34,8
36,7
38,0
CDU
36,0
31,4
40,6
31,9
28,0
FDP
9,6
7,4
15,2
10,5
14,7
B’90/ Die Grünen
8,2
11,6
5,4
9,9
8,0
Linkspartei/ PDS
11,0
6,6
4,00
11,0
11,3
Partei
(Quelle: http://www.tvtotal.prosieben.de/show/specials/bundestagswahl2005 (22.07.2006)) Um der Sendung Seriosität zu verleihen, wurde Stefan Raab von N24-Moderator Peter Limbourg unterstützt. Merklich angespannt kommentierte dieser seine Tätigkeit in der Sendung als ‚betreutes Moderieren‘. Unterhaltung sollte mit der Botschaft „Leute geht wählen“ verbunden werden. Limbourg erwähnte dennoch mehrmals, dass es sich bei der Sendung um eine Spaßveranstaltung handeln würde – damit geriet der ursprüngliche Zweck der Sendung, auf den sich die Politiker auch bewusst eingelassen hatten, ins Hintertreffen. Die Politiker versuchten den Anschein von „Lockerheit“ und damit von „Jugendlichkeit“ zu erwecken. Sie ließen sich von ihrem „Fanblock“ umjubeln und ihre Statements mit Applaus und Jubelrufen untermauern. Sichtlich unvorbereitet traf die Politiker ein Einspieler „Erstwähler-Check“, den Stefan Raab seinen Gästen präsentierte. Jugendlichen wurden diverse Fragen zu den Parteien gestellt, die wenigsten konnten richtig beantwortet werden, wodurch ihre geringe Allgemeinbildung bloßgestellt wurde. Westerwelle und Müntefering kommentierten die Statements der Jugendlichen so, dass sie die komplette Verantwortung seitens der Politik ablehnten. Westerwelle meinte: „Nach heute Abend wird alles besser; aber die jungen Menschen sind auch aufgerufen, sich selbst zu informieren…“. Alle Politiker gingen auf das Thema Bildung ein, aber durch die Zuspitzung auf die Situation an den Hochschulen (Stichwort: Studiengebühren) bekam die Debatte eine Schieflage, denn die Zuschauer der Sendung gehören überwiegend nicht zu diesem Klientel (wie auch der Wahlcheck zeigte).
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Raab gewährte zum Ende der Runde jedem Politiker ein 60-sekündiges Statement, das je nach parteispezifischen Themen gehalten wurde. Dennoch gelang es ihnen nicht, über ihre parteispezifischen Themen hinaus Jugendliche direkt anzusprechen. Auch Westerwelle wirkte – trotz seiner Erfahrung in zahlreichen Talkshows und vor allem seiner zahlreichen Auftritte bei TV total – ungewohnt verspannt und spulte lediglich seine Wahlkampffloskeln ab. Zum Schluss ihres Auftritts durften die Politiker noch ein kurzes Bad in der Menge – in ihrem „Fanblock“ – nehmen und mussten anschließend den Saal wieder verlassen. Nachdem die Politiker den Saal verlassen hatten, wurde ein zweiter Einspieler eingespielt, dieser zeigte das so genannte „Kompetenzteam“ von Raab. Hier stachen die Aussagen von „Frau Rieger“, einer der älteren Team-Teilnehmerinnen hervor, sie meinte z.B.: „Ich werd die SPD wählen, weil ich kenn´ das nicht anders von meiner Oma.“ Abgerundet wurde der Showteil vor der eigentlichen Umfrage durch ein eigens von Raab für die Sendung komponiertes Lied „Ein Kreuz für Deutschland“. Im Refrain heißt es: „Ein Kreuz für Deutschland – jede Stimme zählt“. Themen oder Lösungsvorschläge der Parteien aber fehlten indes ebenso wie die Konsequenzen des Fernbleibens von der Wahl. In die Show integriert wurde ein Telefonvoting, an dem sich jeder Zuschauer der Sendung beteiligen konnte. Per Telefon konnte jede Person wählen, ob minderjährig oder ohne deutsche Staatsbürgerschaft (die sonst nach dem deutschen Wahlgesetz nicht wahlberechtigt ist). Gewählt wurde nach Bundesland. Die Ergebnisse wurden von Matthias Opdenhövel präsentiert, der seine Karriere ebenso wie Raab beim Musiksender VIVA begann, und unterstützt von der „Forschungsgruppe Zahlen“ – diese (Phantasie-)Bezeichnung kann als Ironisierung der Forschungsgruppe Wahlen, die für das ZDF Umfragen durchführt und kommentiert, verstanden werden. Nachdem das Telefonvoting beendet wurde, hieß es ebenfalls wie im Wahljargon: „Die Wahllokale sind geschlossen“. Die Sitzverteilung im Bundestag würde folgendermaßen aussehen:17
17 Sitzverteilung bei 598 Sitzen ohne Überhangsmandate.
Chancen und Grenzen unterhaltender Politikvermittlung Tabelle 4:
291
Vergleich der Wahlumfrage bei TV total mit dem Wahlergebnis TV-Total
Wahlergebnis 2005
SPD
Partei
218
222
CDU
180
219
FDP
82
61
B’90/Die Grünen
53
51
Linkspartei/PDS
64
54
(Quelle: http://www.tvtotal.prosieben.de/show/specials/bundestagswahl2005 (22.07.2006)) Und auch dieses Ergebnis zeigt, dass die Raab-Umfrage, mag sie noch so einfach durchgeführt worden sein, in ironisierender Weise die Horse-Race-Berichterstattung persifliert. Zahlen alleine sagen an sich nichts aus, sie müssen immer interpretiert werden. Bei TV total geschah genau das Gegenteil. Es fand keine Kontextualisierung statt, vielmehr wurden lediglich die Zahlen verlesen und dabei immer wieder auf die hohen Werte bei der FDP und der Linkspartei hingewiesen. Es gab keine Rückkopplung zu den Statements der Politiker in der Sendung oder im Wahlkampf, auch die Perspektiven auf mögliche Koalitionen wurden kaum thematisiert. Festzuhalten ist, dass eine Chance vergeben wurde, die Dimensionen politischen Handelns (also der Wahlbeteiligung) unterhaltend zu vermitteln. Peter Limbourg und Stefan Raab erhielten für die Show den Goldenen Prometheus in der Kategorie „Coup des Jahres“.18 Wenn jedoch Kriterien der Medienaufklärung zu Grunde gelegt werden, dann erscheint die Auszeichnung für die Wahlsondersendung von TV total kaum begründbar.
8 Fazit Mit dem Song „Ein Kreuz für Deutschland“ konnte Stefan Raab nicht punkten – im Gegensatz zu vielen anderen seiner Produktionen war das Lied nicht hitverdächtig, es funktionierte lediglich in der Wahlsondersendung. Auch die Sendung am Vorabend der Bundestagswahl selbst erregte kaum Aufmerksamkeit. Die Politiker waren angesichts des heftigen Medienwahlkampfs „ausgebrannt“ und fanden keinen Zugang zu den Zuschauern – die „Jubelblöcke“ im Studio brauchten nicht mehr überzeugt zu werden. Die politikwissenschaftliche Forschung zum Wahlverhalten kann nachweisen, dass die Tendenz zur rückläufigen Wahlbeteiligung bereits in den ersten Generationen, die nach dem Zweiten Weltkrieg geboren wurden, auftaucht. 18 Der Goldene Prometheus ist ein Journalistenpreis, der im Auftrag der Zeitschrift V.i.S.d.P. erstmals im Januar 2006 in Berlin verliehen wurde.
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Wahlenthaltung findet sich sowohl in der Gruppe der von 1954 bis 1964 Geborenen wie auch bei den Vertretern der späteren „Null Bock“-, „No Future“,‚1980er‘- und „Wende“-Generationen (vgl. Arzheimer 2006: 333). Dieser Befund relativiert nicht nur die Klagen über den angeblich rasant verlaufenden Einbruch der Wahlbeteiligung bei der ‚heutigen Jugend‘ – er lässt auch fragen, ob nicht die oft krampfhaft wirkenden Bemühungen der Parteien, für Jung- und Erstwähler attraktiver zu erscheinen, ihr Ziel verfehlen. Kai Arzheimer drückt dies so aus: „Wenn der Rückgang der Wahlbereitschaft nicht nur die Generation der derzeit jüngsten Bundesabgeordneten Anna Lührmann, sondern in gleichem Umfang auch die Altersgenossen von Katrin Göring-Eckardt, Renate Künast, Fritz Kuhn, Monika Griefahn, Ute Vogt, Guido Westerwelle, Christian Wulf oder Angela Merkel betrifft, sind die Parteien vermutlich schlecht beraten, mit vermeintlicher Jugendsprache, Streetball-Turnieren oder Bildern von Discofox tanzenden Spitzenpolitikern um Wähler zu werben“ (ebd.: 334).
Parteien und Medienmacher haben also nicht nur auf die Wahlbeteiligung, sondern in erster Linie auf die Bedeutung des politischen Interesses zu achten. Hier liegt der Grundstein für politisches Engagement, welches das Lebenselixier für die Demokratie darstellt. Vor diesem Hintergrund ist zu fragen, ob die hier analysierten Formate jugendliches Interesse für politische Inhalte wecken bzw. verstärken können oder ob die Entertainisierung die Politik ins Lächerliche zieht.19 Bieten sich hier verstärkt andere mediale Angebote an und verliert das Fernsehen somit ein brachliegendes Potenzial zur gleichzeitigen Information und Unterhaltung von Jugendlichen? Inzwischen ist die Kommunikation im Internet zu einem obligatorischen Bestandteil der politischen Öffentlichkeit geworden (vgl. Marschall 2005: 41). Die Parteien beobachten die Entwicklung in der Online-Kommunikation und versuchen, diese gegebenenfalls in ihr Angebot zu integrieren. Vor der Bundestagswahl wurden von den Parteien erstmals Weblogs (Online-Journale) oder Podcasts (im Internet verbreitete Audio- und Videodateien) eingesetzt (vgl. ebd.). Die Bundeszentrale für politische Bildung hatte sich mit einem eigenen Internetangebot zur Bundestagswahl20 sowie besonders mit dem so genannten Wahl-O-Mat eingebracht. Im Vergleich zu TV total entwickelt das Online-Angebot Wahl-O-Mat beachtliches Potenzial. Anders als die diskutierte Fernsehsendung bietet der Wahl-O-Mat Orientierung und Vorschläge zur Problemlösung. Durch Zustimmung oder Ablehnung zur einen oder anderen Meinung findet eine mehr oder weniger eindeutige Zuordnung zu einer Partei statt. Die Bestätigung zur „richtigen Wahlentscheidung für die richtige Partei“ findet über Knopfdruck statt. Die Auseinandersetzungen mit politisch relevanten Themen werden auf kurze und prägnante Statements verkürzt, was aus demokratiewissenschaftlicher Sicht zu einem verkürzten Verständnis politischer Ab19 So kommentierte Raab die Programmstrategie der ARD, nämlich am Samstagsabend vor der Bundestagswahl (und zeitgleich mit seiner Sondersendung) den Musikantenstadel auszustrahlen, mit den Worten: „Auch eine Form des Urnengangs!“ 20 Vgl. www.bpb.de/wahlthemen
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läufe und Inhalte führen kann. An diese Beobachtung schließt sich (grundsätzlich) die Frage an, ob das Internet die Qualität der politischen Kultur und Kommunikation verändert sowie die Frage, ob ein Angebot wie der Wahl-O-Mat zur Mobilisierung beitragen kann. Schwieriger ist eine Informationsaufnahme und -zuordnung über die unterhaltenden Fernsehangebote zu erreichen. In den Wahlkämpfen 2002 und 2005 waren die hier beschriebenen Shows Plattform für die kleineren Parteien. Insbesondere Westerwelle konnte mit seinem offensiven Auftreten die Zuschauer für seine Partei interessieren, was an den Umfragedaten bei der Harald Schmidt Show als auch bei TV total zu sehen ist. Dennoch thematisieren die beiden Formate diese Auftritte in verschiedener Weise. Harald Schmidt griff die Nachrichtenlage auf und das Verhalten der Politiker, um aus den gebotenen Vorlagen das Humoreske aus der Politik zu ziehen. Jenseits des satirischen Umgangs mit der Wahlkampfberichterstattung bildete die Befragung in der Harald Schmidt Show den Umstand, dass unvorhersehbare Ereignisse unmittelbar Auswirkungen auf das Abstimmungsverhalten haben können, besser ab als Umfragen der Institute. Die Zuschauer müssen die Seitenhiebe und den Zynismus Schmidts interpretieren können. Raabs Sendungskonzept ist da einfacher gestrickt; er machte sich über die Jung- und Erstwähler lustig. Er führt jene vor, die wenig (oder gar nichts) von Politik wissen und sich eigentlich auch nicht für Politik interessieren. Dies ist – eingedenk der oben referierten Zusammenhänge zwischen politischem Interesse und Wahlbeteiligung – eine mehr als bedenkliche Entwicklung. Die Fragen an die Spitzenpolitiker sollen direkte Lacher erzeugen, ohne auf Vorwissen zu setzen; dass Humoreske verbirgt sich eher im Wortspiel als im Inhalt. Raab kämpft um jeden Satz und erreicht dadurch nur, dass politische Inhalte nicht diskutiert werden und auf Images von Politikern verkürzt zur Schau gestellt werden. Die Politiker wirken dadurch eher verunsichert. Selbst Limbourg konnte wenig mit seinen Fragen ausrichten, das Moderatorenpaar wollte einfach nicht zusammenpassen und so entwickelte sich über weite Strecken hinweg Langeweile. Politainment hat sich hier – im Gegensatz zu der Harald Schmidt Show und dem Wahl-O-Mat – von seiner schwachen Seite gezeigt.
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Widerständige Sozialität im postmodernen Alltagsleben: Das Projekt der Cultural Studies und die poststrukturalistische Diskussion Rainer Winter
1 Einleitung Die Fragestellung dieses Buches „Medienkultur und soziales Handeln“ verweist zum einen auf die Einbettung von Medien in kulturelle und soziale Zusammenhänge, zum anderen wird nach den Bedingungen und Möglichkeiten sozialen Handelns in einer durch Medien geprägten Kultur gefragt. Sympathischerweise wird nicht von „Massenkultur“ gesprochen, ein lange Zeit sehr populärer Begriff, der aber seine Herkunft aus der Massenpsychologie des frühen 20. Jahrhunderts nicht verleugnen kann und mittels dessen in reduktionistischer Weise „Menschen als Massen“ (vgl. Joußen 1990; Winter 1995) betrachtet wurden. In den kritischen Theorien der Massenkultur war diese Konzeption freilich als Kritik am Bestehenden gemeint und hatte eine denunzierende und entlarvende Funktion. In den positivistischen Theorien der Massenkommunikation wurde der Begriff Massenkultur dann affirmativ gewendet. Jedoch wurde der Bereich der sozialen Alltagspraktiken, der darin eingebetteten symbolischen Expressionen und gelebten Erfahrungen weitgehend vernachlässigt. Unabhängig davon hat sich eine Tradition kritischen Denkens entwickelt, das die zentrale Bedeutung und Relevanz des Alltagslebens hervorhebt. Beginnend mit Georg Simmels phänomenologischer Analyse alltäglicher Erscheinungsformen (vgl. Simmel 1983) wie der Geselligkeit oder der Mode über die surrealistische Suche nach einer Verschmelzung von Traum und Wirklichkeit im Pariser Großstadtleben bis zu den Versuchen der Situationisten (vgl. Debord 1996), ausgehend vom Beispiel der Pariser Kommune (1871) in der Gegenwart, die Möglichkeiten ihrer radikalen Transformation aufzuspüren, führt eine, wenn auch oft nicht beachtete Linie ernsthafter Beschäftigung mit dem Alltagsleben, das den Neuerungen der kapitalistischen Modernisierung zum Teil entgegensteht, deren Homogenisierungstendenzen geschmeidig abfedert und sie mit der Vergangenheit eigensinnig vermittelt. Auch die Arbeiten von Walter Benjamin (1982), die die vom Kapitalismus geprägte Erfahrungsbildung in der Großstadt untersuchen, versuchen, andere Zeiten und andere Räume zu evozieren, um die scheinbare Kohärenz der Gegenwart, die durch schockhafte Wahrnehmungsformen und Beschleunigung gekennzeichnet ist, zu erschüttern. Nach dem Zweiten Weltkrieg hat Henri Lefebvre (1977) diese Spuren aufgenommen und eine Dialektik des Alltagslebens herausgearbeitet. Obwohl Bü-
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rokratisierung, Konsumismus und Verdinglichung die Nachkriegskultur kennzeichnen, verbergen sich im Alltäglichen auch transzendierende und transgressive Momente. Die Formen der Geselligkeit und der Kommunikation, die soziologisch erforscht werden können, enthalten Momente der (spontanen) Kritik des Alltags und auch des politischen Lebens. Das Alltagsleben wird für ihn zu einem Fundament, um die gesellschaftlichen Tendenzen der Differenzierung, der sozialen Atomisierung und der (akademischen) Spezialisierung zu kritisieren, in Frage zu stellen und herausfordern zu können. Auch die Kritische Theorie geht davon aus, dass sich die Maßstäbe der Kritik in der kritisierten Wirklichkeit finden lassen. Ein eindrucksvolles Beispiel ist die „Minima Moralia“ (1973) von Adorno, in der er in einer geschichtsphilosophischen Weise Phänomene des westlichen Alltagslebens nach der Katastrophe von Auschwitz in einer Mischung aus Verzweiflung und Hoffnung subtil und differenziert beleuchtet. Er zeigt u.a. am Beispiel der Veränderung sozialer Umgangsformen und der Veralltäglichung technischer Geräte, wie sich im Besonderen das Allgemeine der kapitalistischen Lebensform, die unser Selbst- und Weltverhältnis prägt oder besser gesagt deformiert, ausdrückt. Obgleich die gesellschaftlichen Verhältnisse fast vollständig instrumentalisiert sind, sucht Adorno „nach der Möglichkeit zweckfreier Beziehungen“ (Adorno 1973: 44), die der Vorschein eines anderen gesellschaftlichen Zustandes sind. In seinen „Reflexionen aus dem beschädigten Leben“ wird deutlich, dass die Herrschafts- und Machtverhältnisse der verwalteten Welt für den Einzelnen fast undurchschaubar geworden sind. Seine Reaktionsmöglichkeiten sind verkümmert, weil er in sie eingebunden ist und sie mit trägt. Nichtsdestotrotz hält Adorno an einem Wahrheitsbegriff fest, der mit der Kritik gesellschaftlicher Zustände und der Idee einer richtigen Gesellschaft verbunden ist. „Das ‚gute Leben‘ existiert also, sofern es existiert, immer schon als Möglichkeit, die – wenn auch als entstellte – der Wirklichkeit inhärent ist“ (Jaeggi 2005: 127). Adorno unterstellt also ähnlich wie Lefebvre, dass die Wirklichkeit selbst Tendenzen enthält, die über sie hinausweisen. Er wehrt sich gegen den Relativismus in der Tradition von Wilhelm Dilthey und vertritt die Auffassung, dass die konkrete Bedeutung der Wahrheit sich nur in der Gegenwart bestimmen lässt, wie Susan Buck-Morss herausarbeitet (vgl. Buck-Morss 1977: 51). Auch die Geschichte empfängt ihre Bedeutung von der Gegenwart, und nicht umgekehrt wie im Historismus. Hierzu ist aber die Analyse der Gegenwart die Voraussetzung: „Das einzige, was man vielleicht heute sagen kann, ist, dass das richtige Leben heute in der Gestalt des Widerstands gegen die von dem fortgeschrittenen Bewusstsein durchschauten, kritisch aufgelösten Formen eines falschen Lebens bestünde. Eine andere als diese negative Anweisung ist wohl wirklich nicht zu geben“ (Adorno 1963/1996: 248).
Widerstand wird von Adorno auf der Ebene der theoretischen Analyse und Durchdringung angesiedelt. Der nonkonformistische Intellektuelle stellt sich der Kulturindustrie des Spätkapitalismus entgegen, bewahrt die Hoffnung auf
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Emanzipation und die Perspektive auf eine andere Gesellschaft (Demirovic 1999: 530ff.). Später sucht Adorno den Widerstand vor allem in der Kunst. Die Kritische Theorie zielt also auf sozialen Wandel in der Gegenwart, die auf die Zukunft hin als offen betrachtet wird. Mir ist klar, dass Adornos Kritische Theorie durchaus pessimistischer, resignativer und kritischer betrachtet werden kann. Zudem scheint mir seine für den westlichen Marxismus typische Konzeption einer Totalität des Kapitalismus (vgl. Jay 1984) nur Teilaspekte der heutigen Gesellschaft und ihrer Medienkultur zu erhellen. Die sozialen und kulturellen Prozesse der Differenzierung, Pluralisierung und Globalisierung sowie die Vervielfältigung gesellschaftlicher Konflikte und Problemlagen in der Gegenwart bedürfen angemessenerer Theorien und Werkzeuge. Kritische Analysen scheinen heute aber genauso notwendig zu sein wie zur Zeit Adornos und Lefebvres (vgl. Dant 2003; Winter/Zima 2007), wenn sich auch an deren von Hegel geprägten Wahrheitsbegriff, der der Immanenz und der bestimmten Negation verpflichtet ist, nicht einfach anschließen lässt. Im Folgenden möchte ich nun ausgehend vom Begriff des Widerstandes, der im Kontext des Poststrukturalismus und in den Analysen der Cultural Studies eine dominante Rolle einnimmt, fragen, inwiefern Widerstand mit Kritik und der Entfaltung von (emanzipatorischen) Möglichkeiten der gesellschaftlichen Transformation verbunden ist. Hierzu werde ich, ausgehend von der Relevanz des Begriffs für die Gegenwart darlegen, wie Nietzsche und Foucault ihn verwenden (2). Dann werde ich zeigen, wie Kritik und Widerstand im heutigen Alltagsleben zu lokalisieren sind, vor allem in den Analysen der Medienkultur, wie sie von den Cultural Studies, insbesondere von Stuart Hall und John Fiske, praktiziert werden (3). Eine Diskussion von Michel de Certeaus Poetik des Alltagslebens wird die Diskussion um wichtige Aspekte vertiefen (4).
2 Widerstand in der Tradition des Poststrukturalismus Zunächst lässt sich festhalten, dass aus der Perspektive des Poststrukturalismus Widerstand kontextuell an die besonderen sozialen Strukturen gebunden ist, gegen die er opponiert. So ist Foucault (2005: 917) der Auffassung: „Der Widerstand stützt sich stets, in Wirklichkeit, auf die Situation, die er bekämpft“. Er begegnet uns im heutigen Alltagsleben, oft durch Medien vermittelt, in verschiedenen Gestalten, so beispielsweise der Widerstand der Zapatista-Bewegung, die Mitte der 90er Jahre in Chiapas (Mexiko) entstand und der es gelang, mittels Fax und Internet weltweite Unterstützung für ihren Kampf gegen die mexikanische Regierung und das nordamerikanische Freihandelsabkommen zu bekommen (vgl. Castells 2005), oder der globale Widerstand gegen die neoliberale Globalisierung (vgl. Starr 2005). Beide Beispiele stellen Formen politischen bzw. kritischen Widerstandes dar, weil sie gegen neoliberale Herrschaftsverhältnisse rebellieren, auf Formen sozialer Ungerechtigkeit hinweisen, kollek-
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tives Unbehagen artikulieren und zu widerständigen Praktiken führen. Kritik und Widerstand sind so eng miteinander verknüpft. Weitere Beispiele hierfür lassen sich im Kontext sozialer Bewegungen finden, die in den Bereichen von Gender, Sexualität oder Ethnizität gegen gesellschaftliche Stigmatisierung kämpfen oder sich für die Rechte von Gefangenen (vgl. Hames-Garcia 2004) einsetzen. In seiner Analytik der Macht hat Michel Foucault gezeigt, dass wir in der Moderne zwischen verschiedenen Formen des Widerstandes unterscheiden können, die aber eng miteinander verknüpft sind: dem Widerstand gegen die Disziplinarmacht (vgl. Foucault 1976), die sich in der Macht von Institutionen ausdrückt, dem Widerstand gegen die in Bekenntnispraktiken zugewiesenen Identitäten (vgl. Foucault 1977) und dem Widerstand gegen die Biomacht, die Bevölkerungen durch sozialpolitische Maßnahmen kontrollieren möchte. Ergänzend wurden im Kontext von Cultural Studies sehr früh oppositionelle Lesarten von medialen Texten identifiziert, die dominante Ideologien ablehnen. Es wurde gezeigt, wie Stereotypen in der Darstellung von Gender oder Ethnizität zurückgewiesen, Normalitätsvorstellungen subvertiert und abweichende Interpretationen, die eigene Interessen artikulierten, entfaltet werden (vgl. Kellner 1995; Winter 2001). Seit ihren Anfängen in Birmingham in den 1960er Jahren ist bei den Cultural Studies die Verknüpfung von widerständigen Lesarten mit sozialem Handeln und sozialen Bewegungen mitgedacht (vgl. Leistyna 2005). Die wissenschaftliche Theoriebildung und Forschung sind von der Grundintention des Ansatzes her performativ, strategisch und interventionistisch angelegt (vgl. Kellner 2005a und b; McLaren 2006; Winter 2006). Sie möchten zur Lösung wichtiger wirtschaftlicher, sozialer und politischer Probleme beitragen. Die theoretischen Grundlagen dieser transdisziplinären Forschungsrichtung finden sich seit den 1980er Jahren verstärkt im poststrukturalistischen Denken, ohne das die Cultural Studies in ihrer heutigen Form nicht denkbar wären. Der Poststrukturalismus zeichnet sich durch eine Kritik an universalen Prinzipien, abstrakten Theorien und Normen aus. Nicht Hegel und seine Idee der Verkörperung eines Geistes in der Geschichte, sondern Nietzsche, vor allem seine Methode der Genealogie, haben Deleuze, Foucault und auch Derrida geprägt. Wie David Hoy (2004: 4ff.) in seiner hermeneutischen Rekonstruktion des Poststrukturalismus herausstellt, wird er durch eine Fokussierung auf konkrete Situationen, auf die Phronesis oder das praktische Wissen im Sinne von Aristoteles oder Vico geprägt. Die Genealogie untersucht den konkreten Kontext, die Hintergrundpraktiken, vor denen der Widerstand sich entfaltet. „Poststructuralism prefers a genealogical critique that wrestles with the emancipatory potential of the concrete social situation“ (Hoy 2004: 5). Damit wird die Vorstellung eines auf der Basis abstrakter moralischer Prinzipien handelnden Subjekts grundsätzlich infrage gestellt. Auch die Konzeption der traditionellen Ideologiekritik, die auf die Herstellung eines wahren Bewusstseins aus ist, wird abgelehnt. So werden – anders als in der Tradition von Kant und Hegel, in der Freiheit und Autonomie mit Prozessen der Bewusstwerdung und der rationalen
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Selbsttransparenz verbunden sind – in einer von Nietzsche geprägten genealogischen Perspektive unsere Praktiken und auch unser Selbstverständnis von verkörperten, sozial bestimmten Hintergrundpraktiken bestimmt, die uns nicht vollständig bewusst werden können (vgl. Foucault 1974). In der französischen Auslegung hat Nietzsche eine Philosophie der Interpretation (oder genauer des interpretierenden Leibes) entwickelt, die kulturelle und soziale Praktiken entschlüsselt, gleichzeitig aber einräumt, dass es plurale Weisen des Verstehens und der Wahrheit gibt. Für Nietzsche ist der Interpretationsprozess nie abgeschlossen. Der Leib wird zum Reservoir konkurrierender und alternativer Interpretationen (vgl. Blondel 1986, Kap. 9), die uns in ihrer jeweiligen Form zu dem machen, was wir sind. Hier knüpft der Poststrukturalismus an. Bei Foucault zielt die Kritik nicht nur auf eine Problematisierung unseres Selbstverständnisses, sondern auch auf einen Prozess der „Entsubjektivierung“. Er sagt uns gerade nicht, wer wir wirklich sind und was wir zu tun haben. Dagegen sollen seine genealogischen Analysen uns helfen, den Identitäten zu widerstehen, die uns durch die Praktiken vermittelt werden, in die wir eingebunden sind und die uns konstituieren. So äußert er sich in einem Interview: „Ich bin vielmehr bestrebt, Mechanismen der effektiven Machtausübung zu erfassen; und ich tue es, weil diejenigen, die in diese Machtbeziehungen eingebunden sind, die in sie verwickelt sind, in ihrem Handeln, in ihrem Widerstand und in ihrer Rebellion diesen Machtbeziehungen entkommen können, sie transformieren können, kurz, ihnen nicht mehr unterworfen sein müssen“ (Foucault 2005: 115).
Nach Foucault produzieren nicht die Subjekte Herrschaft, sondern die Herrschaft produziert Subjekte (vgl. Hoy 2004: 88). In „Überwachen und Strafen“ (1976) zeigt er nicht nur, wie der Körper diszipliniert, sondern auch, dass er deformiert, in seinen Möglichkeiten eingeschränkt wird, wenn er Normalisierungsprozeduren unterworfen wird. Die Individuen sind in diese Prozesse mit einbezogen, indem sie lernen, sich selbst zu normalisieren. Foucault kritisiert, dass das Normale zur sozialen Norm wird, nach der Verhalten beurteilt wird bzw. sich die Vorstellung entwickelt, es gebe nur eine Art des normalen Verhaltens. Wie Hoy (2004: 66) resümiert, stellt Foucault vor allen Dingen den gesellschaftlichen Gebrauch dieser Unterscheidung in Frage. Wenn er die Produktivität der Macht hervorhebt, will er auch darauf hinweisen, dass Disziplin und Selbstdisziplin (z.B. Techniken der Askese) sowohl Nachteile als auch Vorteile haben können. Erst wenn die Normalisierungsprozeduren unseren Alltag so weit gestalten, dass ihre Normen als notwendig, natürlich und universal erscheinen, ist kritischer Widerstand gegen diese Form von Herrschaft erforderlich, wenn also vergessen wird, dass die Wirklichkeit nur eine Besonderheit des Möglichen (Gabriel Tarde) ist. „Critical resistance thus flows from the realization that the present’s self-interpretation is only one among several others that have been viable, and that it should keep itself open to alternative interpretations“ (Hoy 2004: 72).
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In der Lesart von Hoy und auch von Deleuze (1992) entwickelt Foucault eine soziale Ontologie des Widerstands, der nicht bloß ein sekundärer Effekt der Macht ist. Foucault (1977) hält im ersten Band von „Sexualität und Wahrheit“ fest, dass es da, wo es Macht gibt, auch Widerstand gibt, der nicht von außerhalb der Machtkonfiguration kommt. Dabei gibt es eine Pluralität von Widerstandspunkten, die Einheiten fragmentieren und soziale Trennungen hervorbringen, aber dann auch zu Neugruppierungen und neuen Formen des Widerstands führen können. „Resistance is found in the social ontology from the start. Without a power network it would not even make sense to speak of either resistance or domination, and patterns of resistance and domination are the signs that a power network exists“ (Hoy 2004: 82).
Die Macht benötigt Widerstandspunkte, um überhaupt operieren zu können.
Bisweilen wird sie durch Widerstand sogar verstärkt. Foucault kann sich eine Gesellschaft ohne Machtverhältnisse und Formen von Herrschaft nicht vorstellen. Den Wert seiner genealogischen Analysen sieht er darin, dass sie dazu beitragen sollen, die asymmetrischen Beziehungen der Herrschaft zu reduzieren. In der Kritik an Foucaults Ansatz wird immer wieder behauptet, dass Widerstand folgenlos bleibe, weil er von der Macht vereinnahmt werde. Dagegen setzt Foucault darauf, dass ein effektiver Widerstand die Mechanismen der Macht nutzt, um Herrschaft zu destabilisieren oder zu subvertieren (vgl. Hoy 2004: 83f.). So kann z.B. die Disziplinierung des Körpers auch dazu führen, dass Gesundheit, Lust und Vergnügen wichtigere Werte als die Arbeitstüchtigkeit werden. Freilich kann auch dieser Widerstand gegen Repression wieder vereinnahmt werden, z.B. durch subtilere Kontrollen im Bereich des Konsums oder durch den Illusionsapparat der Schönheitschirurgie. In seinen späteren Arbeiten hat Foucault (2005) die Rolle der Kritik präzisiert. Sie soll die Grenzen unseres Selbstverständnisses problematisieren, deutlich machen, dass es andere Formen der Welt- und Selbsterfahrung geben kann. Damit soll der Raum für Selbstkreation, dass wir uns selbst als Kunstwerk erschaffen, erweitert werden: „Therefore, domination must be resisted if only because it restricts the range of possibilities open to agents. That is why Foucault saw his own philosophical ethos as constantly exposing and challenging oppression. The point of his own critical resistance was to do whatever was possible to make sure that the games of power were played with a minimum of domination“ (Hoy 2004: 92f.).
Vor allem in der Tradition der Cultural Studies wurde an seine Studien, wenn auch nicht in systematischer Form, angeknüpft, um die heutige Medienkultur unter Macht- und Herrschaftsapekten zu betrachten und die Handlungsmöglichkeiten der Individuen und Gruppen zu bestimmen (vgl. Fiske 1993; Hörning/ Winter 1999; Winter 2001). Bevor ich auf diese Arbeiten näher eingehe, möchte ich die Perspektive einer kritischen Alltagsforschung, die gerade für das Verständnis von Cultural Studies wichtig ist, hervorheben. Dabei geht es mir nicht darum, an die Ansätze anzuknüpfen, die die alltäglichen Erfahrungen einfach beschreiben, sondern der Schwerpunkt liegt auf Perspektiven, die ausgehend
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von den modernen Macht- und Herrschaftsverhältnissen eine Transformation des Alltäglichen im Blick haben.
3 Widerständige Sozialität und die Tradition der Cultural Studies 3.1 Der Kampf um die Gegenwart Diese Richtung, die sich als eine Gegenbewegung zu den traditionell soziologischen Ansätzen begreifen lässt und die nicht auf die Cultural Studies beschränkt ist, untersucht das Alltägliche in seinen Widersprüchen, Konfliktlinien und Potenzialitäten, die im Kontext sozialer und historischer Transformationen bestimmt werden. Auch hier gilt, dass die sozial Handelnden keine kulturellen Deppen sind, wie bereits Harold Garfinkel (1967) gezeigt hat, gleichzeitig sind ihnen aber ihre Gedanken und Handlungen nicht vollständig transparent. Das (politische) Ethos dieser kritischen Tradition besteht darin, Handlungsmöglichkeiten zu erweitern, um die gesellschaftlichen Verhältnisse zu verändern (vgl. Gardiner 2000: 9). Während für Adorno die Techniken der sozialen Kontrolle und der kulturindustriellen Durchdringung so verfeinert worden sind, dass die nicht-entfremdete Erfahrung im Alltagsleben zunehmend verschwindet, nur noch in der Avantgardekunst oder der theoretischen Analyse in expliziter Form möglich erscheinen, werden in dieser Tradition die Räume und Zeiten des Alltagslebens selbst mögliche Bereiche ermächtigender Erfahrungen und Transformationen. Zumindest zum Teil widersteht es dem von Adorno so heftig attackierten Identitätsdenken, das sich in der Kulturindustrie sowie in den instrumentalistischen Idealen von Technokraten, Städteplanern und Managern ausdrückt. Die Orwell‘sche Vision einer total verwalteten Welt ist noch nicht eingetreten, weil im Alltagsleben, folgt man z.B. Lefebvre, Bachtin oder de Certeau, die Logiken von Verdinglichung, Bürokratie und Homogenisierung der Erfahrung durch vielfältige Expressionen von Kreativität, Leidenschaft und Imagination unterlaufen werden. Hier verbirgt sich eine Textur sozialer Dynamik und sozialen Wandels, die erkannt, beschrieben und realisiert werden soll. Es geht gerade darum, Routinen aufzubrechen und die erwarteten und gewöhnlichen Verbindungen zwischen Dingen zu verfremden, um zu neuen Verknüpfungen zu gelangen, die das Alltagsleben transzendieren und bereichern. Für die surrealistische Bewegung war dies die Entdeckung des Wunderbaren, die Poetisierung des Alltagslebens, Bataille, Leiris und das Collège de Sociologie (vgl. Hollier 1988; Moebius 2006) suchten das Heilige im Alltäglichen, Lefebvre (1977) begriff das Fest, Bachtin (1969) den Karneval als Beispiele für kollektive Erregungszustände und eine „spontane, ekstatische und kollektive Affirmation transfigurierter sozialer Beziehungen“ (Gardiner 2000: 20).
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Es ist nun gerade eine der Aufgaben interpretativer Soziologie, das Alltagsleben, sein Wissen und seine Werte zu verteidigen, was seit den 1980er Jahren vor allem Michel Maffesoli auf eindrucksvolle Weise in seinen Studien getan hat. Er beschreibt die nicht formalisierten Aspekte sozialer Interaktion, die er als „Sozialität“ bestimmt (vgl. Maffesoli 1988). In seiner Lesart ist das Alltägliche heterogen, polydimensional, flüssig, ambivalent und labil. Einer einfühlenden und tastenden Vernunft (vgl. Maffesoli 2005) methodisch verpflichtet, untersucht er die gelebte Erfahrung in der Gegenwart, die postmodernen Vergemeinschaftungsformen, in denen geteilte Gefühle und Erfahrungen im Vordergrund stehen, sowie die Formen widerständiger Sozialität, die Freiräume im Alltagsleben eröffnen, die Herrschaftsstrukturen der durch eine institutionelle Gewaltstruktur gekennzeichneten Moderne aber nicht überwinden können. Er konstatiert eine Vitalität sozialer Phänomene, eine gestiegene Bedeutung des Nicht-Rationalen und eine Betonung der Oberfläche, die für ihn Merkmale einer postmodernen Sozialität sind: „L’instinct vital nietzschéen, l’élan vital bergsonien peuvent, à nouveau, retrouver une indéniable actualité. C’est le thème du ‚vouloir-vivre social’ que j’ai pour ma part, lié à la `conquête du présent’. C’est-à-dire à la prévalence de l’expérience, précaire en ses manifestations, mais dont la fonction initiatrice est durable. C’est bien cela qui est en jeu dans l’accent mis sur l’immédiateté, dans les aspects à la fois sauvages et innocents de nombre des phénomènes sociaux“ (Maffesoli 2004: 57f.).
Der alltägliche Widerstand hat in der lebensphilosophischen Perspektive von Maffesoli eher apolitischen Charakter, da er einer Überwindung der kapitalistischen Moderne sehr skeptisch gegenüber steht. Selbst nach einer erfolgreichen Revolution wird es Herrschaftsverhältnisse geben (vgl. Keller 2006: 82ff.). Hier trifft er sich mit Foucault, allerdings ist dieser – wie die Cultural Studies – kämpferischer eingestellt und hebt die Bedeutung von Kritik und Intervention hervor. Im Folgenden werden wir uns zunächst den kritischen Analysen der Cultural Studies am Beispiel der Arbeiten von Stuart Hall und John Fiske zuwenden, abschließend werden wir das Verhältnis von Widerstand, Alltag und Utopie bei Michel de Certeau analysieren.
3.2 Der Widerstand, das Populäre und „the people“. Die Analysen von Stuart Hall und John Fiske Das Projekt der Cultural Studies ist eng verbunden mit der Etablierung des Populären als legitimen Forschungsgegenstand (vgl. Winter 2001). Damit verknüpft ist eine Aufwertung der Alltagskultur, der gewöhnlichen Kultur im Sinne von Raymond Williams (1977), und ein Infragestellen der gesellschaftlichen Grenzziehung zwischen „hoher“ und „niederer“ Kultur. In Stuart Halls programmatischem Artikel „Notes on the Deconstructing of the Popular“ (1981), der die theoretische Arbeit vieler Jahre synthetisiert, finden wir eine gesell-
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schaftskritische, historisch und sozial kontextualisierende Betrachtung des Populären, die vor allem geschult an Antonio Gramscis (1991ff.) Kritik an den ökonomistischen Tendenzen des Marxismus die vermittelnde und aktive Rolle der Zivilgesellschaft im Blick hat. Das Populäre wird nicht durch gleichbleibende intrinsische Bedeutungen, Qualitäten und Werte wichtiger Werke bestimmt. Stattdessen gewinnt es seine spezifische Bedeutung durch die jeweils besonderen historischen Umstände hegemonialer Kämpfe in der Zivilgesellschaft. Es konstituiert einen alltäglichen Raum voller Widersprüche, Ambivalenzen und Spannungen, in dem die Bemühungen des „ruling bloc“, die ideologische Herrschaft aufrecht zu halten, unterlaufen und subvertiert werden können. Auf die Akte des Widerstandes reagiert die gesellschaftlich dominante Klasse mit Strategien der ideologischen und kommerziellen Inkorporation. Hall weist hier die weit verbreitete Auffassung zurück, die Populärkultur sei homogen, standardisiert und nicht authentisch. Da er ihre historische Entwicklung im Kontext der Entfaltung des Kapitalismus betrachtet, kann er ein vielschichtigeres Bild zeichnen, das zum einen die Prozesse der Regulation und der Transformation im Dienste kapitalistischer Interessen aufzeigt und damit Prozesse der Aneignung durch die dominante Kultur. Zum anderen weist er auf die Akte der Rebellion, der Opposition und der Utopie hin. Das Populäre steht in einem spannungsreichen und konfliktbeladenen Verhältnis zum Dominanten. Halls historisierende Betrachtungsweise betont, dass es in diesem Prozess errungen, aber auch wieder verloren gehen kann. Deshalb verändern sich sowohl seine Inhalte und Bedeutungen als auch die gesellschaftlich verfügbaren Bewertungskriterien, die zwischen „popular culture“ und „high culture“ unterscheiden. Entschieden lehnt Hall die essentialistische Auffassung ab, die Populärkultur sei die authentische Alltagskultur der Arbeiterklasse. Populäre kulturelle Formen lassen sich nicht einer bestimmten Klasse zuweisen. Vielmehr findet im Populären der Kampf um Hegemonie in der Gesellschaft statt: „In our times, it goes on continuously, in the complex lines of resistance and acceptance, refusal and capitulation, which make the field of culture a sort of constant battlefield. A battlefield where no once-for-all victories are obtained but where there are always strategic positions to be won or lost“ (Hall 1981: 233).
Deshalb ist die Analyse des Populären für Hall so wichtig. Volosinovs Theorie der Multiakzentualität von Zeichen folgend (vgl. Volosinov 1975), geht es ihm darum, herauszuarbeiten, ob kulturelle Formen die Interessen der „people“ gegen den „power bloc“ repräsentieren können. Vor allem John Fiske hat im Anschluss an Hall und de Certeau seit den 1980er Jahren eine kraftvolle, aber auch umstrittene Analyse der Populärkultur vorgelegt, in der die kreativen widerständigen Praktiken und lustvollen Vergnügen, die mit dem Konsum (medialer) Texte verbunden sind, hervorgehoben, vor dem Hintergrund von Machtverhältnissen analysiert und positiv bewertet werden (vgl. Fiske 1989a; Winter/Mikos 2001). Ähnlich wie Maffesoli betont er die Sinnlichkeit der Erfahrung, das lustvolle Spiel mit Oberflächen und Signifikan-
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ten, die Lust am Text und lokalisiert den populären Widerstand in körperlichen Vergnügen. Allerdings hat das Populäre für ihn einen explizit politischen Charakter. Populäre Texte entfalten in der Aneignung durch „the people“ ein befreiendes Potenzial, das, so seine Auffassung, durch Werke der Hochkultur nicht realisiert werden kann. In diesem Zusammenhang präzisiert er diese soziale Kategorie, die für ihn nicht dauerhaft ist, sondern eine temporäre Form der Vergemeinschaftung oder Interessenskoalition: „The people, the popular, the popular forces, are a shifting set of allegiances that cross all social categories; various individuals belong to different popular formations at different times, often moving between them quite fluidly. By ‚the people‘, then, I mean this shifting set of social allegiances, which are described better in terms of people’s felt collectivity than in terms of external sociological factors such as class, gender, age, race, region, or what you have“ (Fiske 1989b: 24).
Dies schließt nicht aus, dass es Überschneidungen zwischen „the people“ und einer sozialen Kategorie wie der Klasse gibt, es existiert jedoch kein determinierter Zusammenhang zwischen der gesellschaftlichen Struktur und diesen kulturellen Verknüpfungen (vgl. Laclau/Mouffe 1991). Ergänzend konzipiert Fiske Subjektivität in einem poststrukturalistischen Sinn als nomadische Gestalt (vgl. Grossberg 1987; Maffesoli 1997), die sich geschmeidig und flexibel in den Alltagswelten der komplexen, sozial differenzierten Gesellschaften der Gegenwart bewegt, Allianzen je nach Problemlage und Situation eingeht, wechselt und neu knüpft. Im Anschluss an Foucaults Machtanalysen und de Certeaus Bestimmung alltäglicher Praktiken (vgl. de Certeau 1988) ist Fiske von der Gegenmacht der Subordinierten überzeugt. So beschreibt er (1989a: 13-42), wie die „shopping mall“ zeitweilig in unzählige Räume transformiert werden kann, die zumindest temporär von den ‚Schwachen‘ kontrolliert werden. Konstruiert zu Zwecken des Kommerzes, wird sie nun von den Konsumenten nach ihren eigenen Bedürfnissen genutzt. Ältere und mittellose Menschen besuchen sie wegen deren Klimaanlagen, jüngere nutzen gratis die Computerspiele oder kaufen Jeans, die sie anschließend an einigen Stellen zerreißen, um sie in Symbole einer neuen Gemeinschaft zu verwandeln. Fiske (vgl. 1989a und 1989b; Winter/Mikos 2001) führt noch weitere Beispiele dafür an, dass es seiner Ansicht nach in der postmodernen Gesellschaft keine Ordnung der Dinge gibt, die das Subjekt fest positioniert und soziale Auseinandersetzungen determiniert. Die Strategien des Systems sind nicht immer wirksamer und erfolgreicher als die Taktiken von „the people“. Gleichzeitig weist Fiske daraufhin, dass die ‚Starken‘ verletzbar sind. Denn die ‚Schwachen‘ entscheiden durch ihre taktischen Selektionen und Manöver darüber, welche Produkte kommerziell erfolgreich werden. Zentral für seine Analysen ist die Konzeption des populären Vergnügens, das er vom hegemonialen Vergnügen abgrenzt. Es entsteht nämlich in Opposition zur Macht, sei diese nun gesellschaftlich, moralisch, ästhetisch oder textuell bestimmt. Die Macht versucht, das Vergnügen zu kontrollieren und zu disziplinieren. Nach der Vorstellung von Fiske – er knüpft dabei an den historischen
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Umgang mit karnevalesken Vergnügen an – befinden sich populäre Vergnügen außerhalb der sozialen Kontrolle, unterminieren und bedrohen sie. In der Geschichte wurden populäre Vergnügen oft abgewertet, für illegitim erklärt und sozialer Disziplinierung unterworfen (vgl. Stallybrass/White 1986). Einerseits fasst Fiske mit diesem Begriff die affektive Energie, eigene Bedeutungen der sozialen Erfahrung zu produzieren, andererseits das Vergnügen, der sozialen Disziplin und den Normalitätszuweisungen des „power-bloc“ zu entgehen. Populäre Vergnügen beruhen in der Regel auf den gemeinsamen sozialen Verbindungen, die „the people“ eingehen. Sie existieren nur in spezifischen, räumlich-zeitlich bestimmten sozialen Kontexten, Momenten und Praktiken. Die Populärkultur formiert sich nach Fiske an der Schnittstelle zwischen den kulturellen Ressourcen, welche die Kulturindustrie bereitstellt, und dem Alltagsleben der Konsumenten. Die kulturellen Ressourcen müssen Anknüpfungspunkte enthalten, Resonanz in den kulturellen und sozialen Bedingungen erzeugen. Wie diese Relevanz sich artikuliert, lässt sich nicht als qualitatives Merkmal von Texten bestimmen, in diesen ist sie nur als Potenzial vorhanden, denn sie hängt von der zeit- und ortsgebundenen Interaktion mit Texten ab. Populäres Vergnügen entsteht gerade dann, wenn die eigene soziale Erfahrung mit den Bedeutungen, die in der Auseinandersetzung mit populären Texten gewonnen werden, verknüpft werden kann. Die politische Bedeutung der Populärkultur sieht Fiske darin, dass sie auf der Ebene der Mikropolitik des Alltagslebens dazu beitragen kann, die Kontrolle über die eigenen unmittelbaren Lebensbedingungen zu erweitern und somit den Raum der Selbstbestimmung gegenüber einschränkenden Machtverhältnissen. Einer Theorie der ideologischen Inkorporation oder der Kulturindustrie entgeht gerade die kulturelle Vielfalt im Umgang mit dem gemeinsamen gesellschaftlichen System, die Finten, Schachzüge und Tricks, die nicht strategisch geplant, jedoch fester Bestandteil des Repertoires der „people“ in ihrer Opposition zum „power bloc“ sind. Wie Foucault fasst Fiske Widerstand nicht als eine Essenz, sondern als Teil einer Beziehung, zu der auch die Macht gehört. Er kommt zu dem Schluss, dass Populärkultur nicht in den Texten zu finden, sondern in den Praktiken des Alltagslebens verankert ist. Wie wir gesehen haben, ist eine Grundlage für Fiskes Analyse Michel de Certeaus „Kunst des Handelns“. Er integriert ihn in seine Analyse von Macht/ Machtblock versus Widerstand/the people, die stark durch Gramsci, Foucault und Hall geprägt ist (vgl. Fiske 1993). De Certeaus Analysen sind aber vielschichtiger und eröffnen noch andere Perspektiven für unsere Thematik einer widerständigen Sozialität im postmodernen Alltagsleben.
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4 Widerstand und das Reale bei Michel de Certeau De Certeau (1988) wollte keine systematische Theorie oder ein abgeschlossenes theoretisches System entwickeln, um das Alltagsleben schematisch und begrifflich zu besetzen, es zu einem überblickbaren Territorium für die Wissenschaft zu machen. Vielmehr richtet sich die Perspektive seiner Arbeit auf die Praktiken, die das Alltagsleben hervorbringen. Dieses ist vornehmlich, in den Worten von Lacan, die Szene des Anderen. Der Alltag in der Moderne ist bürokratisch organisiert und strukturiert. Charakteristisch für de Certeaus Ansatz ist, dass darauf eine Kreativität reagiert, die sich das Vorhandene produktiv aneignet, es listig umgestaltet, neu organisiert, anders verwendet und erfinderisch kombiniert. Diese Praktiken zeugen von der Pluralität und Heterogenität der Kultur. De Certeau führt aber nicht nur die Praktiken an, sondern auch den Eigensinn des Körpers, Kindheitserinnerungen und unterschiedliche kulturelle Geschichten, die zur Transformation des Vorgegebenen beitragen. Widerstand entsteht aus der Differenz heraus, aus dem Anderssein, aus dem Imaginären, das sich der bürokratischen Verwaltung und kulturindustriellen Kolonialisierung des Alltags widersetzt. Sein Ausgangspunkt ist also, dass das Alltägliche ein Hindernis für die modernen Formen der Herrschaft, für die Maschinerien von Produktion und Konsumtion, darstellt. In Abgrenzung zu Bourdieus Analysen (1982), die das Eingebundensein in soziale Strukturen und die Reproduktion bestehender sozialer Ungleichheiten ins Zentrum rücken, und zu Foucaults Mikrophysik der Macht (1976 und 1980) möchte de Certeau die „Kombinationsmöglichkeiten von Handlungsweisen“ aufzeigen, die durch kreative Gebrauchsweisen, durch „kombinierende und verwertende Konsumformen“, durch Prozesse des „Wilderns“ in den Konsumwelten und technologischen Umwelten der Gegenwart eine populäre Kultur hervorbringen (de Certeau 1988: 12f.), welche in der Regel unsichtbar bleibt. Zentral für seine Analyse ist der taktische Charakter vieler Alltagspraktiken. „Die Taktik hat nur den Ort des Anderen […] Gerade weil sie keinen Ort hat, bleibt die Taktik von der Zeit abhängig […] Sie muss andauernd mit den Ereignissen spielen, um ‚günstige Gelegenheiten‘ daraus zu machen“ (ebd.: 23). Im Lesen, im Unterhalten, im Kochen, im Spazierengehen, im Fernsehkonsum entdeckt de Certeau listvolle Praktiken der Wiederaneignung eines durch Machtstrategien und funktionalistische Rationalität organisierten Systems. Der „gemeine Mann“ ist der „Held des Alltags“ (ebd.: 9), der durch seine Operationen bzw. Umgangsweisen Widerstand leistet. Dieser wird nicht durch den subversiven Inhalt oder die formalen Qualitäten von (medialen) Texten hervorgebracht, sondern durch eine Kunst der Aneignung, die Texte in etwas Eigenes verwandelt. In taktischen Streifzügen durch das Dickicht der Lebenswelt werden differente Vergnügen und Interessen verwirklicht. Dabei betont de Certeau, dass diese Subversivität primär gelebt und erfahren wird, sie ist nicht verknüpft mit den „großen Erzählungen“ der Freiheit oder des Klassenkampfes.
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Was er damit meint, wird deutlich, wenn wir uns die Bedeutung der Instanz des Realen bei Lacan (1987) vergegenwärtigen. Damit ist ein unumgrenzter Bereich von Raum und Zeit gemeint, der weder durch Bilder noch durch Sprache vermittelt oder markiert werden kann. Er existiert an den Rändern textueller bzw. medialer Anordnungen, in Praktiken, die nicht symbolisch erfasst oder repräsentiert werden, in sinnlichen Erfahrungen. De Certeau wertet die vorsprachliche, unbewusste Erfahrung gegenüber Denken, Sprache und Wissen auf. Widerstand entfaltet sich nicht auf der Ebene des Bewusstseins, er opponiert nicht ideologischen Strukturen wie bei Hall und auch bei Fiske, sondern artikuliert sich unbewusst, auf der Ebene des Realen, in alltäglichen Praktiken. „Sie metaphorisieren die herrschende Ordnung: sie ließen sie nach einem anderen Register funktionieren“ (de Certeau 1988: 81). De Certeau weist darauf hin, dass das Subjekt alltäglicher Praktiken nicht als eine Gegenkultur oder gar individualistisch verstanden werden darf, sondern es ist ein relationales Konstrukt. Die ‚Künste des Handelns‘ sind nicht die spontanen Kräfte der Subordinierten, der Kritiker der neoliberalen Globalisierung oder einer unterdrückten ‚Volkskultur‘, wie manche Lateinamerika-Studien nahe legen, sondern in den westlichen Industriegesellschaften Ausdruck der ‚Marginalität einer Mehrheit‘ von Nicht-Kulturproduzenten, die sich auf listige Weise Spielräume erschließen, in denen sie sich die Produkte einer verschwenderischen Ökonomie lustvoll aneignen. De Certeau beruft sich auf Witold Gombrowicz, der in Kosmos einen kleinen Beamten beschreibt, der ständig die Redensart wiederholt: „Wenn man nicht das hat, was man liebt, muss man lieben, was man hat“ (nach de Certeau 1988: 31). Ian Buchanan (2000) vertritt die Auffassung, die grundlegende Hypothese von „Kunst des Handelns“ sei, dass das Alltägliche eine erkennbare Form und Logik habe. Er arbeitet heraus, dass das eigentliche Thema dieses suchenden und das Feld absteckenden Buchs die Modalitäten von Praktiken seien, die nur im Rahmen einer operationalen Logik der Kultur angemessen begriffen werden könnten. De Certeau begründet eine neue Form der Kulturanalyse, die der Pluralität und Heterogenität des Alltagslebens gerecht werden möchte. Eine weiterführende Lesart lässt sich meiner Ansicht nach durch seinen Bezug auf Lacan erschließen. Dann wird deutlich, dass sich die flüchtigen, widerspenstigen und schnell vorübergehenden Mikro-Praktiken einer begrifflichen Inkorporation entziehen und so für das Nicht-Identische im Sinne Adornos stehen. Eine weitere Parallele ergibt sich zu dem Denken von Maurice Blanchot (1987), der den Alltag als eine unbegrenzte Totalität menschlicher Möglichkeiten bestimmt. De Certeau folgt ihm, wenn er die Dynamik und den Wandel hervorhebt, die dem dialektischen Identitätsdenken entfliehen. Im Rahmen einer gegebenen gesellschaftlichen Ordnung verbindet er mit dem Alltag die Prinzipien der sozialen Nicht-Bestimmtheit, der Ambivalenz und der Offenheit. Auch die Analysen von Homi Bhabha (2000) zum Begriff der hybriden Identität zeigen, dass nicht die Opposition zum kolonialen Diskurs, sondern seine mimetische Aneignung, NeuVerortung und Neu-Einschreibung zur Handlungsfähigkeit der Subalternen bei-
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tragen, indem die Identifikation mit ihm allmählich untergraben wird und sich so neue Möglichkeiten eröffnen. Der utopische Charakter von de Certeaus Alltagskonzept zeigt sich darin, dass sozialer und kultureller Wandel nicht als radikaler Bruch konzipiert wird, sondern eine den sozialen Praktiken immanente Potenzialität darstellt. Deren Entfaltung hängt von der jeweiligen Konfiguration der Machtverhältnisse ab. De Certeaus Analyse der ‚Geographie des Möglichen‘ möchte gerade auf die Spannung zwischen dem Tatsächlichen und dem Möglichen in den alltäglichen sozialen Praktiken hinweisen. Im Gegensatz zu pessimistischen Analysen geht er also davon aus, dass das Alltagsleben nie vollständig kolonisiert werden kann. Der Widerstand gegen das System lebt – zumindest auf der Ebene des Realen – fort, die Kräfte des Heterogenen brechen unaufhörlich hervor. Das Alltagsleben ist Ort des Widerstandes, der aber nicht immer oppositionell politisch strukturiert ist, wie es John Fiske oft nahelegt. Vielmehr knüpft de Certeau auch an das Verständnis von Widerstand in der Psychoanalyse an. Es geht ihm um die Prozesse und Praktiken, die der Herrschaft und der Repräsentation widerstehen. Dabei hat er nicht nur die erfinderischen Formen der Aneignung im Blick, sondern auch die Widerspenstigkeit und Undurchdringlichkeit des Alltagslebens, so die kulturelle Dichte von Bedeutungen, Phantasien und Gefühlen die Objekte und Praktiken im Alltag umgeben. Sein Werk selbst lässt sich als eine Poetik des Alltagslebens begreifen, das dessen Poiesis zum Gegenstand hat (vgl. Highmore 2002: 156).
5 Schlussbetrachtung In meinem Beitrag habe ich versucht, einen Einblick in die Konzeption des (kritischen) Widerstands im Alltagsleben zu geben. Diese Perspektive erschließt uns den Zusammenhang von Medienkultur und sozialem Handeln, indem der Eigensinn von Praktiken analysiert, der sinnliche Erfahrungsmodus betrachtet, die Pluralität von Kultur hervorgehoben und deutlich gemacht wird, wie wichtig diese Aspekte unseres postmodernen Lebens sind, wenn wir dessen Konflikte und Spannungen begreifen, die Möglichkeiten zu kleinen Fluchten erkennen und ausschöpfen oder Bedingungen zur Transformation erfassen möchten. Eine kritische Theorie der Medienkultur kommt ohne einen Begriff des Widerstandes, der in der Sozialität des Alltagslebens verankert ist, nicht aus.
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Verzeichnis der Autorinnen und Autoren Dietmar, Christine, Dipl.-Medienwissenschaftlerin; wissenschaftliche Mitarbeiterin im Projekt „Mobile Kommunikation, Telematisierung des Alltags und der Wandel medialer Praktiken“ im Fachbereich Kommunikationswissenschaft/ Medienintegration an der Universität Erfurt. Arbeitsschwerpunkte: Mediatisierte interpersonale Kommunikation, Kommunikation in persönlichen Beziehungen, Kommunikation und Medien im Alltag, Mobile Kommunikation. Wichtige Publikationen (Auswahl): Mobile Communication in Couple Relationships. In: Nyiri, Kristof (Hrsg.): A Sense of Place. The Global and the Local in Mobile Communication (Vienna: Passagen Verlag, 2005); Mediatisierte Paarkommunikation: Ansätze zur theoretischen Modellierung und erste qualitative Befunde. In: Forum Qualitative Sozialforschung/Forum: Qualitative Social Research [Online Journal], 4(3), Art. 2. http://www.qualitative-research.net/fqs-texte/3-03/303doeringdietmard.htm [01.02.2007] (zusammen mit Nicola Döring, 2003). Göttlich, Udo, PD Dr. phil.; Privatdozent für Soziologie an der Universität Duisburg-Essen und Leiter der Forschungsgruppe „Politik und Kommunikation“ am dortigen Rhein-Ruhr-Institut für Sozialforschung und Politikberatung. Arbeitsschwerpunkte: Allgemeine Soziologie, Medien-, Kommunikations- und Kultursoziologie, Cultural Studies Approach, Theorie und Analytik der Medien- und Populärkultur. Wichtige Publikation (Auswahl): Die Kreativität des Handelns in der Medienaneignung (Konstanz: UVK, 2006). Großmann, Nina, M.A.; nach dem Studium der Angewandten Kulturwissenschaften an der Universität Lüneburg dort wissenschaftliche Mitarbeit im Bereich Kommunikationswissenschaft und Medienkultur. Arbeitsschwerpunkte: Ethnografische Forschung zum Thema Medien und Kommunikationstechnologien im Alltag. Hallenberger, Gerd, PD Dr. phil.; teils freiberuflicher, teils angestellter Medienwissenschaftler. Arbeitsschwerpunkte: Fernsehunterhaltung, allgemeine Medienentwicklung und Populärkultur. Wichtige Publikationen (Auswahl): Neue Kritik der Medienkritik. Werkanalyse, Nutzerservice, Sales Promotion oder Kulturkritik? (hrsg. mit Jörg-Uwe Nieland, Köln: von Halem, 2005); Live is Life. Mediale Inszenierungen des Authentischen (hrsg. mit Helmut Schanze, Baden-Baden: Nomos, 2000); Hätten Sie’s gewußt? Die Quizsendungen und Game Shows des deutschen Fernsehens (hrsg. mit Joachim Kaps, Marburg: Jonas, 1991). Hepp, Andreas, Prof. Dr. phil.; Professor für Kommunikationswissenschaft am Institut für Medien, Kommunikation und Information (IMKI) der Universität Bremen. Arbeitsschwerpunkte: Medien- und Kommunikationstheorie, Medien-
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soziologie, transkulturelle Kommunikation, Cultural Studies, Medienwandel, digitale Medien, Methoden der Medienkulturforschung. Wichtige Publikationen (Auswahl): Transkulturelle Kommunikation (Wiesbaden: VS, 2006); Konnektivität, Netzwerk und Fluss. Konzepte gegenwärtiger Medien-, Kommunikationsund Kulturtheorie (hrsg. zusammen mit Friedrich Krotz, Shaun Moores und Carsten Winter, Wiesbaden: VS, 2006). Höhn, Marco, Dipl.-Soziologe; Lektor im Fachgebiet Kommunikationswissenschaft am Institut für Medien, Kommunikation und Information (IMKI) der Universität Bremen. Arbeitsschwerpunkte: Kommunikations- und Medienwissenschaft, Medien- und Jugendsoziologie, Medienökonomie. Wichtige Publikationen (Auswahl): Populäre Events. Medienevents, Spielevents, Spaßevents (2. Aufl., hrsg. mit Andreas Hepp und Waldemar Vogelgesang, Opladen: Leske und Budrich, i.Vb.); Zur Funktion von populären Medienevents für das strategische Marketing von Rundfunksendern. In: Hülsmann, Michael/Grapp, Jörn: Strategisches Management für Filmproduktionen (München: Oldenbourg; i. Vb.); Die Zukunft der empirischen Sozialforschung (hrsg. mit Matthias Karmasin, Graz: Nausner und Nausner, 2002). Jäckel, Michael, Prof. Dr. phil.; Professor für Soziologie an der Universität Trier. Arbeitsschwerpunkte: Konsum- und Kommunikationsforschung, Mediensoziologie, Konsumsoziologie, neue IuK-Technologien und Arbeitsorganisation. Wichtige Publikationen (Auswahl): Medienwirkungen (4. Aufl., Wiesbaden: VS, 2008); Einführung in die Konsumsoziologie (2. Aufl., Wiesbaden: VS, 2006). Klaus, Elisabeth, Prof. Dr. phil.; Professorin und Fachbereichsleiterin am Fachbereich Kommunikationswissenschaft der Paris-Lodron-Universiät Salzburg. Arbeitsschwerpunkte: Populärkultur und Cultural Studies, Gender Studies, Öffentlichkeitstheorien, Journalismus und Gesellschaft. Wichtige Publikationen (Auswahl): Medien und Krieg Revisited. MedienJournal, 29. Jg., Nr. 3 (hrsg. mit Susanne Kassel und Michael Roither, 2005); Männlichkeiten. Das andere Geschlecht erforschen. MedienJournal, 29. Jg., Nr. 1 (hrsg. mit Edgar Forster und Julia Neissl, 2005); Kommunikationswissenschaftliche Geschlechterforschung. Zur Bedeutung der Frauen in den Massenmedien und im Journalismus, (2. korrigierte und aktualisierte Aufl., Münster/Hamburg: Lit-Verlag, 2005); Identitätsräume. Nation, Körper und Geschlecht in den Medien (hrsg. mit Brigitte Hipfl und Uta Scheer, Bielefeld: transcript, 2004); Kommunikationswissenschaft und Gender Studies (hrsg. mit Jutta Röser und Ulla Wischermann, Opladen/Wiesbaden: Westdeutscher Verlag, 2. unver. Aufl. 2002). Klein, Gabriele, Prof. Dr. rer. soc.; Professorin an der Universität Hamburg (Lehrstuhl für Soziologie von Bewegung, Sport und Tanz), Direktorin des Zentrums für Performance Studies. Arbeitsschwerpunkte: Kultur- und Sozialtheorie
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von Körper und Bewegung, Tanz- und Performance-Theorie, Kultur- und Sozialgeschichte des Tanzes, städtische Bewegungskulturen und populäre Tanzkulturen, Jugend- und Poptheorie, gender studies. Wichtige Publikationen (Auswahl): Methoden der Tanzwissenschaft. Modellanalysen am Beispiel „Le Sacre du Printemps“ von Pina Bausch (hrsg. zusammen mit Gabriele Brandstetter, Bielefeld: transcript, 2007); Performance. Positionen zur zeitgenössischen szenischen Kunst (hrsg. mit Wolfgang Sting, Bielefeld: transcript, 2005); Stadt. Szenen. Künstlerische Produktionen und theoretische Positionen (Wien: Passagen, 2004); Electronic Vibration. Pop Kultur Theorie (Wiesbaden: VS, 2004; erstmals 1999 bei Rogner und Bernhard, Hamburg). Krotz, Friedrich, Prof. Dr. phil.; Inhaber des Lehrstuhls Kommunikationswissenschaft/Soziale Kommunikation an der Universität Erfurt. Arbeitsschwerpunkte: Wandel von Kultur und Gesellschaft: Mediatisierung, Globalisierung, Digitale Medien, Kultursoziologie, interkulturelle Kommunikation. Wichtige Publikationen (Auswahl): Mediatisierung: Fallstudien zum Wandel von Kommunikation (Wiesbaden: VS, 2007); Theorien der Kommunikationswissenschaft (hrsg. zusammen mit Carsten Winter und Andreas Hepp, Wiesbaden: VS, 2007); Konnektivität, Netzwerk und Fluss. Konzepte gegenwärtiger Medien-, Kommunikations- und Kulturtheorie (hrsg. mit Andreas Hepp, Shaun Moores und Carsten Winter, Wiesbaden: VS, 2006); Neue Theorien Entwickeln. Eine Einführung in die Grounded Theory, die Heuristische Sozialforschung und die Ethnographie anhand der Kommunikationswissenschaft (Köln: von Halem, 2005). Lovric, Ingrid, Studium der Politikwissenschaft, Psychologie und Empirischen Sozialforschung an der Universität Duisburg-Essen. Wichtige Publikation (Auswahl): Auf dem Weg in die Stimmungsdemokratie? Wahlumfragen und Politikerauftritte in der Harald Schmidt Show. In: Kamps, Klaus/Nieland, Jörg-Uwe (Hrsg.): Politikdarstellung und Unterhaltungskultur. Zum Wandel der politischen Kommunikation (zusammen mit Jörg-Uwe Nieland, Köln: von Halem, 2004, 193-213). Nieland, Jörg-Uwe, Dr. phil., Diplomsozialwissenschaftler; wiss. Mitarbeiter an der Ruhr-Universität Bochum und der „Forschungsgruppe Regieren“ an der Universität Duisburg-Essen. Arbeitsschwerpunkte: Politischer Kommunikation und Regierungstätigkeit, Extremismusforschung sowie Populärkultur. Wichtige Publikationen (Auswahl): Das Spiel mit dem Fußball (hrsg. mit Jürgen Mittag, Essen: Klartext, 2007); Regieren und Kommunikation (hrsg. mit Klaus Kamps, Köln: von Halem, 2006); Neue Kritik der Medienkritik. Werkanalyse, Nutzerservice, Sales Promotion oder Kulturkritik? (hrsg. mit Gerd Hallenberger, Köln: von Halem, 2005); Politik, Medien, Technik (hrsg. mit Heidrun Abromeit und Thomas Schierl, Wiesbaden: Westdeutscher Verlag, 2001); Interaktives Fernsehen (zusammen mit Georg Ruhrmann, Opladen: Westdeutscher Verlag, 1997).
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Röser, Jutta, Prof. Dr. phil.; Professorin für Kommunikationswissenschaft an der Universität Lüneburg im Bereich Kulturwissenschaften; Institut für Kommunikationswissenschaft und Medienkultur. Arbeitsschwerpunkte: Publikumsund Rezeptionsforschung, Medien und Kommunikationstechnologien in Alltagskontexten, Cultural Media Studies und Gender Studies, Mediengewalt, Populäre Medien und Journalismus. Wichtige Publikationen (Auswahl): MedienAlltag. Domestizierungsprozesse alter und neuer Medien (Wiesbaden: VS, 2007). Scherl, Katja, M.A.; arbeitet an geschichtswissenschaftlicher Dissertation „Das konsumierte Imaginäre“, freie Mitarbeit für sueddeutsche.de, redaktionelle Mitarbeit bei N24, Inhouse Produktionen. Arbeitsschwerpunkte: Jugend- und Populärkultur, Geschlechtergeschichte, Medien- und Konsumgeschichte. Wichtige Publikationen (Auswahl): „Zeig Deine Orden, Elvis!“ Banal Militarism als Normalisierungsstrategie. In: Thomas, Tanja/Virchow, Fabian (Hrsg.): Banal Militarism. Zur Veralltäglichung des Militärischen im Zivilen (Bielefeld: transcript, 2006, 307-332); Wie Elvis weiß und männlich wurde. In: Die Farbe „Weiß“. Werkstatt Geschichte, Heft 39, Mai 2005, 54-72; „Flieger sind Sieger!“ Konstruierte Erlebniswelten in der Populärkultur des Nationalsozialismus. In: Gries, Rainer/Schmale, Wolfgang (Hrsg.): Kultur der Propaganda (zusammen mit Rolf Felbinger. Bochum: Winkler, 2005, 119-165). Thomas, Tanja, Prof. Dr. phil.; Juniorprofessorin für Kommunikationswissenschaft und Medienkultur an der Universität Lüneburg im Bereich Kulturwissenschaften, Institut für Kommunikationswissenschaft und Medienkultur. Arbeitsschwerpunkte: Mediensoziologie, Kritische Medientheorien, Cultural Studies und Gender Studies. Wichtige Publikationen (Auswahl): Schlüsseltexte der Cultural Studies (hrsg. mit Andreas Hepp und Friedrich Krotz, Wiesbaden: VS, i.Vb.); Medien – Diversität – Ungleichheit. Zur medialen Konstruktion sozialer Differenz (hrsg. mit Ulla Wischermann; Wiesbaden: VS, 2008); Banal Militarism. Zur Veralltäglichung des Militärischen im Zivilen (hrsg. mit Fabian Virchow, Bielefeld: transcript, 2006). Vogelgesang, Waldemar, Dr. phil. habil; wiss. Angestellter im Fach Soziologie an der Universität Trier. Arbeitsschwerpunkte: Jugend-, Medien- und Bildungssoziologie sowie Kultur- und Migrationsforschung. Mitbegründer der interdisziplinären Forschungsgruppe „Jugend- und Medienkultur“, die seit 1995 empirisch im Bereich Jugend, Medien- und Kulturforschung arbeitet und Mitglied des Forschungsverbunds „Lebensqualität im Wohlfahrtsstaat“. Wichtige Publikationen (Auswahl): Jugend, Alltag und Kultur. Eine Forschungsbilanz (Wiesbaden: VS, 2008); Populäre Events. Medienevents, Spielevents, Spaßevents (1. Aufl.; hrsg. mit Andreas Hepp, Opladen: Leske und Budrich, 2003); „Meine
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Zukunft bin ich!“ Alltag und Lebensplanung Jugendlicher (Frankfurt am Main/New York: Campus, 2001). Winter, Rainer, Prof. Dr. phil; Professor für Medien- und Kulturtheorie an der Alpen-Adria Universität Klagenfurt. Wichtige Publikationen (Auswahl): Widerstand im Netz? Zur Herausbildung einer transnationalen Öffentlichkeit durch netzbasierte Kommunikation. (zusammen mit Sonja Kutschera-Groinig, Bielefeld: transcript, 2008); Die Perspektiven der Cultural Studies. Der Lawrence Grossberg Reader (Köln: von Halem, 2007); Kritische Theorie heute (hrsg. mit Peter V. Zima, Bielefeld: transcript, 2007); Mediennutzung – Identität – Identifikationen. Die Sozialisationsrelevanz der Medien im Selbstfindungsprozess von Jugendlichen (hrsg. mit Lothar Mikos und Dagmar Hoffmann, Weinheim/München: Juventa, 2007).