Cäcilie Schildberg Politische Identität und Soziales Europa
Cäcilie Schildberg
Politische Identität und Soziales Eur...
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Cäcilie Schildberg Politische Identität und Soziales Europa
Cäcilie Schildberg
Politische Identität und Soziales Europa Parteikonzeptionen und Bürgereinstellungen in Deutschland, Großbritannien und Polen
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
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1. Auflage 2010 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2010 Lektorat: Frank Schindler VS Verlag für Sozialwissenschaften ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung: Rosch-Buch, Scheßlitz Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-531-17223-1
Inhalt
1
Einleitung ....................................................................................................................12 1.1 Forschungsproblematik im Kontext......................................................................12 1.2 Forschungsgegenstand und Schlüsselkonzepte ....................................................16 1.3 Forschungsdesign und Fallauswahl .....................................................................20 1.4 Aufbau der Arbeit .................................................................................................21
2
Die Legitimität der EU: Demos, Identität und Öffentlichkeit ................................24 2.1 Sozialer Wandel und Globalisierung ....................................................................25 2.2 Die Legitimität der Europäischen Union .............................................................26 2.2.1 Demokratische Legitimationsprozesse.............................................................28 2.2.2 Das Öffentlichkeitsdefizit der EU ....................................................................31 2.3 Die Demos-Frage im Rahmen der EU-Debatte....................................................33 2.3.1 Demos als Kulturgemeinschaft ........................................................................34 2.3.2 Demos als Institutionen....................................................................................38 2.3.3 Demos als politische Identität ..........................................................................39 2.4 Alternativkonzeptionen europäischer Identität auf Forschungspraxis .................40 2.5 Fazit zur Europäischen Identitätsdebatte .............................................................44
3
Theorien der Identität: Personale, soziale und kollektive Identitäten ...................47 3.1 Sozialwissenschaftliche Identitätstheorien und ihre Forschungsansätze .............47 3.1.1 Theorien personaler Identität ...........................................................................49 3.1.2 Theorien sozialer beziehungsweise kollektiver Identität .................................51 3.2 Die Nation als „Prototyp“ kollektiver Identität ...................................................53 3.2.1 Nationale Identität in essentialistischer Perspektive ........................................54 3.2.2 Nationale Identität in konstruktivistischer Perspektive ....................................55 3.2.3 Nationale Identität zwischen Essentialismus und Konstruktivismus ...............57
4
Politische Projektidentität der EU: Konzept und ‚Operationalisierung’ ..............60 4.1 Wesen und Begründung einer europäischen Projektidentität ..............................61
6
Inhalt 4.2 Aufbau einer europäischen Projektidentität .........................................................65 4.3 Untersuchungsdesign ...........................................................................................67 4.3.1 Methodenvorstellung .......................................................................................74 4.3.2 Länder- und Parteienauswahl ...........................................................................75
5
Europäisches Skript: Das verfasste normative Selbstverständnis der EU ............78 5.1 Die soziale Dimension politischer Identität .........................................................78 5.1.1 Soziales Europa................................................................................................80 5.1.2 Ein Europäisches Sozialmodell ........................................................................84 5.2 Die soziale Dimension in den Verträgen von Rom (1957) bis Lissabon (2007).............................................................................................................92 5.2.1 EWG-Vertrag 1957 ..........................................................................................93 5.2.2 Die Einheitliche Europäische Akte und ihre Folgewirkung .............................94 5.2.3 Der Vertrag von Maastricht 1992 ....................................................................99 5.2.4 Verträge von Amsterdam (1997) bis Nizza (2000) ........................................102 5.2.5 Die soziale Dimension im gescheiterten Verfassungsvertrag ........................109 5.2.6 Veränderungen im Rahmen des neuen Grundlagenvertrages ........................114 5.3 Fazit zur Entwicklung der sozialen Dimension im Europäischen Integrationsprozess ......................................................................................118 5.4 Einordnung des EU-Skripts in Wohlfahrtsstaatstypologien ...............................121 5.4.1 Kategorien der Vergleichenden Wohlfahrtsstaatsforschung ..........................122 5.4.2 Einordnung des EU-Skripts ...........................................................................129
6
Sozio-Kultur: Wohlfahrtsstaatliche Vorstellungen in den Bevölkerungen einzelner europäischer Gesellschaften....................................................................136 6.1 Wohlfahrtstaatliche Kultur der Länder ..............................................................136 6.2 Wohlfahrtsstaatliche Ideen in EU-Staaten (Einstellungsanalyse) ......................137 6.3 Vergleichsanalyse mit dem EU-Skript ................................................................150 6.4 Ein europäischer Sozialstaat als Desiderat der Bürger? ...................................151 6.5 Fazit zur Sozio-Kultur ........................................................................................162
7
Deutungskultur: Parteien als Träger und ‚Interpreten’ politischer Kultur .......164 7.1 Politische Parteien in Demokratien ...................................................................165 7.1.1 Parteien und politisches System .....................................................................166 7.1.2 Parteien und Gesellschaft ...............................................................................170 7.1.3 Parteien und Medien ......................................................................................177 7.2 Methodisches Vorgehen......................................................................................185
Inhalt
7
7.3 Deutschland ........................................................................................................195 7.3.1 Politische Institutionen und sozialstaatliche Strukturen .................................195 7.3.2 Zeithistorischer Kontext 1990 bis 2005 .........................................................197 7.3.3 Analyse der parteipolitischen Frames zwischen 1990 und 2005....................199 7.3.4 Bilanz Deutschland ........................................................................................236 7.4 Großbritannien ...................................................................................................237 7.4.1 Politische Institutionen und sozialstaatliche Strukturen .................................237 7.4.2 Zeithistorischer Kontext 1990 bis 2005 .........................................................239 7.4.3 Analyse der parteipolitischen frames zwischen 1990 und 2005 ....................242 7.4.4 Bilanz Großbritannien ....................................................................................272 7.5 Polen ..................................................................................................................274 7.5.1 Zeithistorischer Kontext von 1945 bis zur Transformation ...........................275 7.5.2 Politische Institutionen und sozialstaatliche Strukturen im Transformationsprozess......................................................................280 7.5.3 Begründung der Parteienauswahl für Polen ...................................................291 7.5.4 Analyse der parteipolitischen Frames zwischen 1990 und 2005....................294 7.5.5 Bilanz Polen ...................................................................................................321 7.6 Fazit zur Deutungskultur ....................................................................................323 7.7 Vergleichsanalyse mit dem EU-Skript ................................................................326 8
Zusammenfassung der Ergebnisse und Schlussfolgerungen ................................330 8.1 Skript, Sozio-Kultur und Deutungskultur im Vergleich ......................................330 8.2 Grenzen und Ausblick .........................................................................................335
Tabellenverzeichnis
Tabelle 1:
Parteipolitische Rechts-Links-Dimension
Tabelle 2:
Wesentliche Merkmale der drei Wohlfahrtsstaatsmodelle
124
Tabelle 3:
Welfare-regime-typen und Konzeptionen der Aktivierung
127
Tabelle 4:
Wohlfahrtsstaatstypologie nach Roller
128
Tabelle 5:
Einordnung des EU-Skripts anhand der Wohlfahrtsstaatstypologien
130
Tabelle 6:
Der Staat sollte verantwortliche sein für
138
Tabelle 7:
Wohlfahrtsstaatliche Einstellungen 1996
142
Tabelle 8:
Zustimmungsraten zu den Wohlfahrtsstaatsmodellen
143
Tabelle 9:
Einstellungsdifferenzen von 2006 zu 1996
144
Tabelle 10:
Mittelwerte nach neuen und alten EU-Mitgliedsstaaten untergliedert
145
Tabelle 11:
Regressionsanalyse zu Erklärung der Wohlfahrtsstaatsmodelle
148
Tabelle 12:
EU-Entscheidungskompetenz im Kampf gegen Arbeitslosigkeit
153
Tabelle 13:
EU-Entscheidungskompetenz zum Schutz sozialer Rechte
154
Tabelle 14:
EU-Entscheidungskompetenz zur Sicherung des Wirtschaftswachstums
155
Tabelle 15:
EU-Entscheidungskompetenz zur Gleichbehandlung
156
Tabelle 16:
Befürworter und Gegner einer Vereinheitlichung der Sozialsysteme
157
Tabelle 17:
Antwort „Ein europäisches Sozialsystem“ auf die Frage, was das Gefühl verstärken würde, ein europäischer Bürger zu sein
158
Platzierung der Antworten auf die Frage, was das Gefühl verstärken würde, ein europäischer Bürger zu sein
159
Tabelle 19:
Signifikanten Einflüsse auf die EU-Einstellungen der Bürger
161
Tabelle 20:
Sozialpolitische Mikroframes zur sozialen Sicherung
189
Tabelle 21:
Sozialpolitische Mikroframes in der Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik
190
Tabelle 22:
Nationaler Gesellschaftsframe
192
Tabelle 23:
Europäischer Frame
194
Tabelle 24:
Wohlfahrtsstaatliche Parteiorientierungen in Deutschland 1994-2005
236
Tabelle 25:
Wohlfahrtsstaatliche Parteiorientierungen in Großbritannien 19922005
273
Tabelle 26:
Präsidenten und Regierungen in Polen 1989-2007
283
Tabelle 27:
Wohlfahrtsstaatliche Parteiorientierungen in Polen 1993 bis 2005
322
Tabelle 18:
77
Abbildungsverzeichnis
Abbildung 1: Four Analytical Perspectives on Supranational Identity-Formation
57
Abbildung 2: Politischen Projektidentität nach Meyer
66
Abbildung 3: Ziele und Instrumente der europäischen Beschäftigungsstrategie
105
Abbildung 4: Reichweiten europäischer sozialer Grundrechte im VVE
111
Abbildung 5: Vertragliche Verankerung der sozialen Dimension im Vergleich
112
Abbildung 6: Regulative Leitideen sozialer Gerechtigkeit im Wohlfahrtsstaat
126
Abbildung 7: Bewertung der EU-Mitgliedsstaaten anhand der Lissabon-Indikatoren
133
Abbildung 8: Operationalisierung der Wohlfahrtsstaatsmodelle
140
Abbildung 9: Paradigmen der Parteienforschung
168
Abbildung 10: Veränderungen der Konfliktlinien am Beispiel Deutschlands
171
Abbildung 11: Sinus-Milieumodell für Deutschland
173
Abbildung 12: Parteipolitische Frames
188
Abbildung 13: Parteipositionen zum Europäischen Integrationsprozess
193
Abbildung 14: Parteipolitische Cleavages in Polen
289
Abbildung 15: Relative Parteianordnung entlang der Links-Rechts-Dimension
324
Danksagung
Entstanden ist die vorliegende Arbeit zwischen 2005 und 2008 während meiner Tätigkeit als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Politikwissenschaft der Technischen Universität Dortmund. Ermöglicht und unterstützt wurde sie vor allem von Prof. Dr. Thomas Meyer, der mir ein hohes Maß an Vertrauen entgegenbrachte, mir mit hilfreichen Anregungen und klaren Worten manchen Umweg ersparte und mir durch die Teilnahme am europäischen Exzellenznetzwerk GARNET ein anregendes internationales Forschungsumfeld bot. Dafür und für die Entlastung von Aufgaben in der Endphase der Dissertation bin ich ihm sehr dankbar. Für das Gelingen meiner Arbeit möchte ich insbesondere Prof. Dr. Udo Vorholt danken, der als Zweitgutachter im wahrsten Sinne des Wortes alles stehen und liegen ließ, um das Gutachten rechtzeitig fertig zu stellen, so dass meine Dissertation noch vor der Geburt meiner Tochter abgeschlossen werden konnte. Finanziell unterstützt wurde die Publikation durch den Dissertationspreis 2008 der Fakultät Humanwissenschaft und Theologie der TU Dortmund. Darüber hinaus gilt mein Dank in besonderer Weise meinem guten Freund und geschätzten Kollegen Dr. Volker Balli, der mir stets Mut machte, wenn Zweifel aufkamen und mir mit seinen vielen inhaltlichen und strukturellen Anregungen zu mehr Klarheit und neuen Einsichten verhalf. Bei Dr. Stefan Meyer und Tim Buchen möchte ich mich für die wunderbaren Übersetzungen der polnischen Parteiprogramme bedanken. Als ausgewiesener Polonistikexperte erfuhr ich Stefans Bereitschaft, mit mir meine Fragen umfassend zu erörtern als große Hilfe für die Überarbeitung und Fertigstellung meiner Länderanalyse Polens. Mein Dank gilt ebenfalls Dr. Kai Mühleck, der mir mit seinen guten Tipps und Hinweisen eine wertvolle Hilfe bei der Bearbeitung der Daten war. Für die konstruktiven Gespräche während meines GARNET-Forschungsaufenthaltes in Brüssel und darüber hinaus möchte ich mich sehr herzlich bei Prof. Dr. Mario Telo, Prof. Dr. Furio Cerutti, Prof. Dr. Janine Goetschy, Prof. Dr. Jean-Marc Ferry bedanken. Für seine aufmunternden Worte zur rechten Zeit danke ich Prof. Dr. Michael Bruter. Des Weiteren möchte ich mich bei folgenden KollegInnen aus Doktoranden- und Forschungskolloquien bedanken, deren Ideen und Nachfragen meiner Arbeit zugute kamen: Jan Turowski, Johanna Eisenberg, Hanja Eurich, Thomas Toelch, Karsten Schmitz, Stefan Seifen, Kathrin Vogel, Ina Drescher, und Tiezheng Li. Für die Korrekturlesungen und hilfreichen Rückmeldungen möchte ich mich insbesondere bei Inge und Dr. Helmut Meyer-Dietrich bedanken, die viele Stunden damit zubrachten meine angesammelten sprachlichen und grammatikalischen Irrwege zu korrigieren. Ebenfalls für ihre Textkorrekturen danke ich Nathalie Ceasar, Nico Naeve und Lars Schall. Eine unschätzbare Hilfe bei der Erstellung des Literaturverzeichnisses war Regina Hack, dafür und für die vielen Entlastungen danke ich ihr sehr. Ferner geht mein Dank an Birgit Leschner und Petra Kremer, die nicht nur stets ein offenes Ohr für mich hatten son-
Danksagung
11
dern mir auch bei allen formal-administrativen Fragen meiner Dissertation fachkundig zur Seite standen. Meinen Eltern und Geschwistern möchte ich meinen Dank dafür aussprechen, dass Sie mir stets den Rücken stärkten und an mich glaubten. Meinem Mann, Alexander Petring, danke ich von ganzem Herzen für seine Geduld und fortwährende Bereitschaft, mit mir meine wissenschaftlichen Fragen und Probleme an unzähligen Wochenenden zu erörtern und mit wertvollen Fragen und Kommentaren voranzubringen. Seine tatkräftige, wohlwollende und motivierende Unterstützung haben das Projekt wesentlich mitgetragen. Berlin, im September 2009 Cäcilie Schildberg
1 Einleitung
1.1 Forschungsproblematik im Kontext Seit Mitte der 1990er Jahre wurde die wissenschaftliche und zu einem späteren Zeitpunkt auch die politische und öffentliche Auseinandersetzung um Europa, von „großen Themen“ geprägt, die nach dem „Wesen“, der Legitimität und Finalität der EU fragten. Vor diesem Hintergrund kam die Frage nach einer europäischen (politischen) Identität auf, die für die Legitimität eines politischen Europas als zunehmend notwendig erachtet wurde. Fast zeitgleich rückten die sozio-ökonomischen Auswirkungen des fortschreitenden Integrationsprozesses ins Blickfeld der Debatten. Ausgehend von der Feststellung, dass durch den Europäischen Integrationsprozess die sozialpolitischen Handlungsfähigkeiten der Nationalstaaten eingeschränkt würden, entfachte die Diskussion um ein „soziales Europa“. Das Scharnier dieser beiden Debattenstränge bildet die Hypothese, dass ein „soziales Europa“ die Herausbildung einer europäischen politischen Identität befördere und damit die Legitimität und Stabilität der EU stärken würde. Hierbei stellt sich jedoch die Frage, was unter einer „politischen europäischen Identität“ verstanden werden kann, was mit einem „sozialen Europa“ gemeint ist und nicht zuletzt auch wie diese beiden Konzeptionen miteinander in Beziehung stehen. Die folgende Untersuchung strebt sowohl eine theoretischkonzeptionelle Klärung als auch eine empirische Prüfung dieser Fragen an. Im einleitenden Überblick wird zunächst der grobe Forschungskontext umrissen, daran anschließend werden sowohl Forschungsgegenstand als auch relevante Schlüsselkonzepte kurz vorgestellt, um abschließend das methodische Vorgehen und den Aufbau der Arbeit darzulegen. Die EU als Problemlösung und Problemgenerierung Unter den Bedingungen verschärfter globaler Konkurrenz hat sich die Einsicht der politischen Akteure in die Notwendigkeit einer vertieften europäischen Integration verstärkt. Dabei wird die EU mit ihren politischen, im Prinzip handlungsfähigen Institutionen als möglicher Handlungsrahmen für die transnationale Rekonstruktion national verloren gegangener oder eingeschränkter politischer Steuerungsfähigkeit und Regelungskompetenzen angesehen.1 Folglich wird ihr eine prinzipielle Problemlösungskompetenz zugeschrieben. Jedoch wirft der Integrationsprozess selbst wiederum neue Probleme auf. Diese resultieren maßgeblich aus der Spannung zwischen einer schwachen institutionellen Struktur der EU bei gleichzeitig weit reichender Handlungsmacht. Wesentlich ist hierbei, dass die Systemstruktur der EU eine unzureichende und untypische Gewaltenteilung aufweist und ihr ein (regierungsähnliches) Machtzentrum fehlt. Die Schwäche der Institutionen resultiert 1
Meyer (2005:365f)
1 Einleitung
13
hierbei einmal aus der Tatsache, dass die EU-Institutionen nur insoweit über Kompetenzen verfügen, wie diese ihnen von den Regierungen der Mitgliedsstaaten übertragen wurden, und zum anderen aus einer zunehmenden Ausdifferenzierung des Systems, was einer gewissen Dezentralisierung und Enthierarchisierung im Politikformulierungsprozess entspricht.2 Jedoch schaffen die europäischen Institutionen ihre institutionelle Schwäche mitunter dadurch auszugleichen, dass sie im Politikformulierungsprozess zahlreiche Akteure (u. a. Expertengruppen) und Interessen einbinden und folglich über ein hohes Maß an fachlicher Expertise verfügen und gleichzeitig zu erwartende Widerstände frühzeitig zu minimieren versuchen. Zudem können auf europäischer Ebene gefällte Entscheidungen supranationale Wirkung entfalten und damit die Souveränität der Nationalstaaten einschränken. Dies beruht maßgeblich sowohl auf der Überordnung der EU-Rechtssetzung gegenüber nationalem Recht, der Einführung von Mehrheitsentscheidungen im Ministerrat als auch auf dem exklusiven Initiativrecht der Kommission.3 Durch diesen „sui generis“ Charakter der EU, die weder eine rein intergouvernementale Organisation darstellt noch einen (supra-) nationalstaatlichen Charakter aufweist, ergeben sich Legitimationsprobleme.4 In diesem Kontext werden grundlegende Fragen bezüglich der Organisation des Zusammenlebens innerhalb der EU, der weiteren und letztendlichen Ausgestaltung des Prozesses (Finalitätsdebatte), der geographischen Grenzziehung (Türkeidebatte) und der demokratischen Begründung des Einigungsprojektes diskutiert. (Legitimations- und Identitätsdebatte.5 Insofern wird der Integrationsprozess selbst zum „Problem“, indem durch ihn neue zu bewältigende Herausforderungen entstehen. Darunter fallen insbesondere:6 1. 2. 3.
die Handlungsfähigkeit der Union zu erhalten, vor allem durch institutionelle Reformen, einen Verfassungsgebungsprozess und/oder flexible Integrationsmodi, eine sozialpolitische Flankierung auf europäischer Ebene als Schutz gegen negative Folgelasten der europäischen Integration als auch der wirtschaftlichen Globalisierung zu etablieren, sowie die Legitimität des politischen Systems zu stärken, indem der demokratische Charakter der EU und ihre Transparenz erhöht wird.
Im Kontext dieser Arbeit werden der zweite und dritte Aspekt näher beleuchtet und zueinander in Beziehung gesetzt. Ausgangspunkt der Legitimitätsdebatte bildete die Feststel2
Vgl. Tömmel (2005) Ausführlich dazu s. Tömmel (2005) 4 Diese resultieren auf institutioneller Ebene gerade aus der unzureichenden und ungewohnten Gewaltenteilung, da die beiden Organe, welche legislative und exekutive Funktionen übernehmen (Kommission und Ministerrat) nicht durch die europäischen Bürger gewählt bzw. nicht aus dem direkt gewählten Parlament hervorgehen. Der Ministerrat ist zwar über die nationalen Wahlen indirekt legitimiert, repräsentiert aber immer nur die jeweiligen Mehrheitsfraktionen des jeweiligen Mitgliedsstaates, so dass Minderheiten in großem Maße auf europäischer Ebene gar nicht repräsentiert werden. Trotz weit reichender intergouvernementaler Entscheidungsprozesse besitzt die EU supranationalen Charakter, da die europäische Gesetzgebung der nationalen übergeordnet ist sowie im Rahmen von Mehrheitsentscheidungen nationalstaatliche Souveränitätsverluste einhergehen. Damit einher geht eine mangelnde Kontrollierbarkeit von Entscheidungen und eine nicht adäquate Vertretung gesellschaftlicher Interessen (Dominanz wirtschaftlicher Interessensverbände) auf europäischer Ebene. Vgl. Tömmel (2005:220-240), Holzinger/Knill/Peters et al. (2005:89-105) 5 Gründe hierfür sind insbesondere die tief greifende Verflechtung im Rahmen der ersten Säule der EU (WWU) sowie die Überordnung europäischen Rechts über nationales Recht. Vgl. z. B. Tömmel (2005) Vgl. auch Kapitel 4 6 Nach Tömmel (2005), vgl. ferner: Leibfried/Pierson (1998), Meyer (2004), Wendler (2005), Fuchs (2002a) 3
14
1 Einleitung
lung, dass sich die EU zu einem politischen Gemeinwesen entwickelt habe, was schließlich die Frage aufkommen ließ, worauf sich dieses stützen könne, „um tragfähig zu sein“.7 Die Suche nach Rechtfertigungsgründen für ein politisches europäisches Gemeinwesen, welches den anstehenden Herausforderungen gewachsen ist, mündete (unter anderem) in der Suche nach einer europäischen Identität.8 Dabei wird davon ausgegangen, dass die EU nur als ein stabiles und legitimiertes politisches System letztlich auch ihr Potential als neuer politischer Handlungsrahmen zur Bewältigung der veränderten ökonomischen, sozialen und politischen Rahmenbedingungen im Zuge der Globalisierung entfalten könne. Infolgedessen konnte der Begriff der Europäischen Identität zu einem Schlüsselbegriff in der Debatte avancieren. Europäische Identität Ausgangspunkt der Europäischen Identitätsdebatte ist eine normativ-demokratietheoretische Prämisse9, wonach Demokratien für ihre Legitimation und Stabilität der Herausbildung einer kollektiven Identität bedürfen. In der politischen Theorie kommt kollektiver Identität der Stellenwert einer Vor- bzw. Metabedingung für die Legitimation von politischen Ordnungen zu.10 Es besteht in der politikwissenschaftlichen Debatte großteils Einigkeit darüber, dass sich eine solche noch nicht oder allenfalls erst in Ansätzen herausgebildet habe, so dass der EU auch in dieser Hinsicht ein Legitimationsdefizit attestiert wird. Was jedoch genau unter einer kollektiven europäischen Identität zu verstehen sei und welche Bedingungen für ihre Herausbildung erfüllt sein müssen, wird höchst kontrovers diskutiert. Dabei geht es hauptsächlich um die Bestimmung dessen, was als das „Europäische“ einer solchen Identität angesehen werden kann/sollte, also ob diese politisch bzw. rational oder kulturell-affektiv zu begründen sei.11 Folglich wird zwischen politischer und kultureller Identität unterschieden. Das Konzept einer kulturellen Identität postuliert eine Erinnerungsgemeinschaft, wobei die Kollektividentität der Bürger auf der Grundlage einer gemeinsamen historisch verankerten Kultur, also durch eine gemeinsame Geschichte, Kultur und Sprache ‚imaginiert’ wird. Hierbei spielt die Vorstellung, dass sich eine politische Gemeinschaft auf eine Art „vorpolitischen Raum“ gründe, eine wesentliche Rolle. Für die Schaffung einer kollektiven Identität bedürfe es demnach einer gemeinsamen historischen Narration, geteilter kultureller und religiöser Werte. Eine politische Identität hingegen stützt sich maßgeblich auf die in der Verfassung niedergelegten universalistischen liberal-demokratischen Werte. Wesentlicher Bezugspunkt für die Herausbildung einer kollektiven Identität sind damit die politischen Institutionen, wobei 7
Balli (2006a:167) Ebd. 9 Einzelne Autoren weisen den normativen demokratietheoretischen Zugang für das europäische Identitätsthema zurück, indem sie argumentieren, dass die EU als ein im Entstehen begriffenes System nicht mit nationalstaatlichen Demokratiekonzeptionen vergleichbar sei. Zudem wird auch darauf verwiesen, dass der Ausgangspunkt der Legitimations- und Identitätsdebatte letztlich nur auf der Annahme bzw. Behauptung beruhe, die EU sei ein „politisches (Gemein-)Wesen“. Vgl. z. B. Barker (2003), Balli (2006a). Andere Autoren wie Moravscik (2002) sehen in der EU nach wie vor eine komplexe internationale (zwischenstaatliche) Organisation. 10 Zudem bedarf es materieller Leistungen in den Bereichen Sicherheit/Schutz, Wohlbefinden und ein Mindestmaß an Legalität. Cerutti (2005:141) 11 Balli (2006a:167) 8
1 Einleitung
15
die Identifikation der Bürger im und durch den demokratischen Prozess stattfindet. Die politische Gesellschaft realisiert sich und bildet ihre politische Identität in der Interaktion der Staatsbürger im Rahmen einer (politischen) Öffentlichkeit heraus. Für eine europäische Identität – im Unterschied zu einer nationalen – spielen jedoch drei Besonderheiten eine wichtige Rolle. Neben ihrem normativen Gehalt beruht sie auf einer doppelten Relation, dem Verhältnis der Mitgliedsstaaten (bzw. der Bürger) untereinander im Sinne einer sozialen bzw. solidarischen Verbundenheit (horizontale Dimension) und deren Verhältnis zur EU im Sinne einer Identifikation mit dem politischen Projekt (vertikale Dimension). Zudem muss davon ausgegangen werden, dass eine europäische Identität die nationalen Identitäten niemals völlig ersetzen kann, sondern vielmehr als eine zusätzliche und in den meisten Fällen auch schwächer ausgeprägte Identität konstruiert wird. Insoweit erscheint es plausibel, dass die Herausbildung einer europäischen politischen Identität nur dann Aussicht auf Erfolg hat, wenn wesentliche Sinnzusammenhänge der nationalen politischen Identitäten auf europäischer Ebene reflektiert werden. In der Forschung können zwei Perspektiven auf das Problem einer europäischen Identität unterschieden werden: Top-Down- und Bottom-up-Ansätze. Während Top-DownAnsätze danach fragen, was Europa ist und vereint (kulturell-historisches Erbe, politische Werte), wie es charakterisiert werden kann, welches institutionelle Selbstverständnis die EU aufweist, wer Europäer ist und was eine europäische Bürgerschaft ausmacht, fragen Bottom-up-Ansätze nach den individuellen Einstellungen/Gefühlen der Bürger gegenüber „Europa“ und der EU und den zugrunde liegenden Bedeutungen. Bottom-up-Ansätze gehen also von der subjektiven Perspektive europäischer Identität aus und fragen, wer sich europäisch fühlt, warum sich einige mit Europa oder der EU identifizieren, andere hingegen nicht, und was Europa für den Einzelnen bedeutet.12 Innerhalb dieser Zweiteilung können nochmals vier Analyseebenen auf das Problem einer europäischen Identität differenziert werden. Die erste, ideengeschichtliche Ebene befasst sich mit der „Idee Europa“. Dabei geht es um Vorstellungen, was Europa ist und sein soll und um den europäischen Diskurs, was europäisch ist. Insbesondere Historiker, aber auch Soziologen und Politologen haben sich der Frage nach der Entstehung, den Interpretationen und Ausgestaltungen der „Idee“ Europa gewidmet13. Als zweiter Forschungsbereich, ähnlich der ersten Betrachtungsebene, ist die Ebene kultureller Deutungs- und Wertesysteme von Belang. Hierunter fallen Studien, die nach dem Verhältnis von nationaler und kollektiver Identität fragen14 oder danach, ob es eine wertebezogene Basis europäischer Identität gibt15 und welche kulturellen Differenzen zwischen den Mitgliedsstaaten vorherrschen. Hinzu kommen zunehmend Arbeiten über die Bedeutung von Symbolen und „Erinnerungsorten“ wie z. B. Denkmälern, Mythen, Feiertagen etc. für kollektive Identitätsbildungsprozesse.16 Eine dritte ist die staats- und verfassungsrechtliche Ebene von Identität. Dabei wird europäische Identität vorrangig als die politische Identität der EU konzeptualisiert, wie sie in den Verträgen und der europäischen Rechtsprechung zum Ausdruck kommt. Demnach 12
Bruter (2005:1-11) Stellvertretend für viele können hier die historischen Arbeiten von Nies (2001), Kaeble (2000, 2002) und Kaelble et al. (2002) genannt werden, stellvertretend für soziologische Arbeiten z. B. Münch (1993), Münkler (1991). 14 Vgl. z. B. Westle (2003), Delhey (2004) 15 Vgl. z. B. Fuchs (2000), Gerhards (2005) 16 Vgl. z. B. Wintle et al. (2000), Wintle (1996) 13
16
1 Einleitung
weist die EU qua Institutionenbildung und Rechtssetzung ein eigenes Selbstverständnis auf.17 Zudem wird gefragt, welche identitätsstiftende Funktion Institutionen und Verfassungen im Sinne eines Top-Down-Prozesses aufweisen und was eine europäische Staatsbürgeridentität beinhalten kann und soll.18 Die vierte und letzte Bedeutungsebene europäischer Identität befasst sich mit der individuellen Identifikation der Bürger mit Europa oder der EU und wird in Form von Umfragen (z. B. Eurobarometer) und Interviews ermittelt. Die Gründe zur Herausbildung eines solchen Massenbewusstseins werden hingegen unterschiedlich interpretiert, sei es „als Folge der Institutionenbildung, der politischen Identität Europas, seiner Idee oder Erinnerungspraktiken oder als Ergebnis voluntaristischer Konstruktion“19. 1.2 Forschungsgegenstand und Schlüsselkonzepte Diese Arbeit wird somit im Kontext der Debatte um eine europäische Identität angesiedelt. Sie will den in der Forschung postulierten Zusammenhang zwischen der Herausbildung einer europäischen Identität und der Entstehung einer sozialen Dimension im europäischen Integrationsprozess näher untersuchen. Durch die Verbindung der europäischen Identitätsdebatte mit der Debatte um ein „Soziales Europa“ werden klassische Themen der politischen Theorie in einen europäischen Kontext übertragen, so dass sich diese Arbeit in das weite Feld der Demokratieforschung und der Vergleichenden Wohlfahrtsstaatforschung einordnen lässt. Dabei kann diese Arbeit auf einige wenige europäische Forschungsarbeiten zu diesem spezifischen Thema sinnvoll aufbauen, zugleich aber einen darüber hinaus weisenden Forschungsbeitrag leisten. Ein relevanter Anknüpfungspunkt stellt hierbei die empirische Studie von Jürgen Gerhards (2004) dar, in der die Kompatibilität zwischen dem „kulturellen Selbstverständnis“ der EU als normativer Bezugspunkt des Vergleichs mit den kulturellen Vorstellungen und Überzeugungen in den Mitglieds- und Beitrittsstaaten der EU untersucht wird.20 Im Unterschied zum eher statischen makrosoziologischen Forschungsdesign von Gerhards (2004) soll im Rahmen dieser Arbeit ein stärker ausdifferenzierter und mit einer dynamischen Perspektive ausgestatteter politikwissenschaftlicher Ansatz entwickelt werden, um das Verhältnis zwischen dem Europäischen „sozialen“ Selbstverständnis und nationalen „sozial- und europapolitischen“ Wert- und Einstellungsmustern zu untersuchen. Vor diesem Hintergrund soll nicht nur eine Klärung und Weiterentwicklung wichtiger Schlüsselkonzeptionen angestrebt werden, sondern vor allem die vorrangig theoretisch diskutierte Frage des Zusammenhangs von „Europäischer Identität“ und „Sozialem Europa“ mit neuen empirischen Befunden angereichert und neue Erkenntnisse hinsichtlich der Chancen und Grenzen für eine Europäische Identität erschlossen werden.
17
Die Unterscheidung zwischen Selbstverständnis und Identität erscheint an dieser Stelle wichtig, da der Begriff der politischen Identität, der dieser Arbeit zugrunde liegt, ein Übereinstimmungsmoment zwischen der Ebene der Institutionen und der Ebene der politischen Kultur beinhaltet, während Selbstverständnis für sich selbst stehen kann, also keiner Übereinstimmung (oder im ursprünglichen Sinne des Begriffs der Identität als Gleichheit) bedarf. Dabei wird noch keine Aussage darüber gemacht, ob dieses Selbstverständnis auf der Ebene der Bürger auch geteilt wird. 18 Vgl. stellvertretend für viele Hurrelmann (2002), Magnette (2001) 19 Kohli (2002:120) 20 Vgl. Gerhards (2005)
1 Einleitung
17
Ziel der folgenden Untersuchung ist es herauszufinden, inwieweit die im Skript der EU verankerten politischen Werte und Ziele prinzipiell in den politischen Kulturen ausgewählter Mitgliedsstaaten geteilt werden. Zwei erkenntnisleitende Fragen können zu diesem Zweck formuliert werden: 1. 2.
Können in den politischen Kulturen ausgewählter Mitgliedsstaaten gleiche oder ähnliche sozialpolitische Ziele, Normen und Werte ausgemacht werden wie im sozialen Skript der EU? Welche Rückschlüsse können aus möglichen Übereinstimmungen bzw. Divergenzen zwischen dem EU-Skript und den nationalen politischen Kulturen für die Herausbildung einer europäischen Identität gezogen werden?
Das Erkenntnisinteresse der Arbeit ist demnach ein Doppeltes: Zum einen die so genannte „soziale Dimension“ des normativen Selbstverständnisses der EU – wie es in den Verträgen formuliert wird – zu bestimmen und zweitens zu untersuchen, inwieweit dieses europäische Selbstverständnis in den politischen Kulturen einzelner Mitgliedsstaaten eine Entsprechung findet bzw. prinzipiell geteilt wird.21 Schlüsselkonzepte: Politische Identität und Soziale Dimension Insofern „Politiken“ und hierbei insbesondere Sozialpolitik als ein wichtiges Element für die Herausbildung einer europäischen Identität vorausgesetzt wird, gründet sie auf dem Konzept einer europäischen politischen Projektidentität in Anlehnung an Castells (2003) und Meyer (2004). Damit einher geht die Abgrenzung vom Konzept einer europäischen Kultur- bzw. Wertegemeinschaft auf der Basis einer umfassenden kulturellen Identität. Der Versuch, eine allen in Europa gemeinsame kulturelle Identität zu bestimmen und/oder zu schaffen, erscheint bereits vor dem Hintergrund der liberal-demokratischen Verfasstheit der EU problematisch, denn eine ihrer normativen Vorgaben ist es ja gerade, die sozialen und politischen Grundwerte der Gemeinschaft so zu gestalten, dass ein Maximum an Freiheit hinsichtlich der alltäglichen und religiösen Überzeugungen und Praktiken vorherrscht.22 Politische Projektidentität Dementsprechend soll hier europäische Identität nur als eine politische gedacht werden, die sich durch ein Bewusstsein über die Zugehörigkeit und damit die Gleichbetroffenheit von verbindlichen Entscheidungen sowie durch eine bewusste Verantwortung für das politische Projekt auszeichnet. Europäische Identität wird folglich als zu gestaltendes Projekt begriffen. Sie ist nicht einfach gegeben, sondern konstituiert sich im Rahmen eines offenen politischen Prozesses, wobei ihre spezifischen Konturen in diesem immer auch wieder bestä21
Inwieweit das EU-Selbstverständnis in den politischen Kulturen der Mitgliedsstaaten geteilt wird, kann im Rahmen der Analyse lediglich auf der Ebene der „Parteien“ geschehen, jedoch nicht anhand der Umfragedaten. Hier kann lediglich konstatiert werden, ob es analoge Vorstellungen in den einzelnen politischen Kulturen gibt, es können aber keine Aussagen darüber gemacht werden, inwiefern diese bereits mit der EU in Verbindung gebracht werden. 22 Vgl. Meyer (2004)
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tigt, verworfen und erneuert werden. Einen zumeist über längere Zeit gleich bleibenden Orientierungsrahmen bilden die institutionalisierten politischen Werte, Ziele und Verfahrensregeln, während im politischen Alltag um die spezifische politische Ausgestaltung stets gerungen werden muss. Man kann politische Identität ebenso als ein alle drei Ebenen des Politischen umfassendes Projekt beschreiben, wobei auf der Ebene der Polity eine Identifikation mit den Institutionen sowie den darin festgelegten Zielen und Werten grundlegend ist. Diese stellt damit einen relativ dauerhaften Verständigungsrahmen und Bedeutungszusammenhang für die auf der Policy- und Politics-Ebene ablaufenden Aushandlungs- und Entscheidungsprozesse im Rahmen einer geteilten politischen Kultur dar.23 In dieser Perspektive ist für den öffentlichen demokratischen Diskurs ein Mindestmaß an geteilten politischen Grundwerten in der jeweiligen politischen Kultur Voraussetzung, damit eine vernünftige Verständigung von Konfliktparteien bezüglich der gerechten politischen Ausgestaltung sichergestellt ist.24 Eine solche politische Identität wird als notwendig für das demokratische Leben und die Weiterentwicklung der politischen Integration angesehen und erscheint dadurch für die Legitimation und Stabilität der EU auf lange Sicht unersetzlich. Denn letztlich werden die politischen Entscheidungen, die das Leben der Bürger in einem Gemeinwesen betreffen, von diesen nur dann langfristig als legitim anerkannt, wenn sie sich mit diesen zu einem gewissen Maße auch identifizieren können und prinzipiell die Möglichkeit besitzen, ihre eigenen Interessen zu organisieren und damit politischen Einfluss auszuüben. Ohne eine positive Identifizierung mit den Grundregeln des demokratischen Gemeinwesens ist politische Partizipation kaum vorstellbar, es sei denn, sie richtet sich gegen das System. Allerdings darf hieraus nicht geschlossen werden, dass eine solche Identifizierung statischer Natur sei, sie ist vielmehr ein dauerhafter Prozess im Rahmen der politischen Praxis um Mehrheitsbildungen, der eine Kanalisierung unterschiedlicher Interessen darstellt. Als ein politisches Projekt im Kontext demokratischer europäischer Gesellschaften bedarf die EU für ihre Legitimation der Herausbildung einer europäischen Identität, wie sie im Konzept der politischen Projektidentität noch näher vorgestellt wird. Die Krise, in der sich die EU spätestens seit den gescheiterten Verfassungsreferenden befindet, machte deutlich, dass für die Weiterentwicklung des Integrationsprozesses sowie zur Bewältigung europäischer (Osterweiterung) und globaler Herausforderungen eine bürgernahe Legitimation des Prozesses auf lange Sicht notwendig ist.25 Diese Argumentation knüpft an eine liberal-demokratische Konzeption politischer Legitimität an, wobei hier maßgeblich die ‚Theorie der Sozialen Demokratie’ den Begründungszusammenhang liefert.26 Die soziale Dimension stellt in dieser Hinsicht einen wesentlichen Bestandteil einer solchen politischen Identität dar. Was darunter verstanden wird, soll im Folgenden schon mal kurz skizziert werden.
23
Zu den Ebenen politischer Kultur siehe Meyer (2006b:195) Meyer (2005a:39) 25 Vgl. stellvertretend: Castells (2003), Cerutti/Rudolph (2001), Meyer (2004) 26 Meyer (2005a) 24
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Soziale Dimension Der Begriff der sozialen Dimension wurde Mitte der 1980er Jahre insbesondere von Jacques Delors geprägt, mit dem Ziel der Begründung eines europäischen sozialpolitischen Handlungsauftrages. Dieser sollte dann als eine normative Grundlage für ein auf den Prinzipien der Solidarität und sozialer Gerechtigkeit basierendes Europa dienen. Insofern wird der „sozialen Dimension“ in Form einer institutionalisierten sozialpolitischen Komponente im europäischen Integrationsprozess eine weitreichende identitätsstiftende Wirkung zugesprochen: Nicht nur, da sie nicht nur ein zentrales Element für die Identifikation der Bürgerinnen und Bürger mit dem politischen Projekt durch die Wahrnehmung geteilter sozialer Werte der europäischen Gesellschaften ist, sondern auch der politische Integrationsprozess enorm politisiert würde.27 Jacques Delors hob die Bedeutung der sozialen Dimension für eine besser integrierte Gesellschaft hervor, indem er ausführte: „The social dimension permeates all our discussions and everything we do (…). Think what a boost it would be for democracy and social justice if we could demonstrate that we are capable of working together to create a better integrated society for all.“28
Die Bedeutung einer sozialen Dimension muss dabei vor den im Rahmen der Nationalstaaten gemachten Erfahrungen gesehen werden. Das in den Mitgliedsstaaten historisch gewachsene Verständnis der Verantwortung des Staates zur Sicherung sozialer Grundrechte und gesellschaftlicher Solidarität, welches in Form des Sozialstaates institutionalisiert wurde, verhalf dem Nationalstaat wesentlich zu seiner politischen Legitimität29. Die soziale Dimension nationaler politischer Identitäten stellt – neben weiteren Dimensionen – damit einen wichtigen Bestandteil derselben dar, so dass angenommen werden kann, dass die EU die Unterstützung und Anerkennung ihrer Bürger dauerhaft nur zu sichern vermag, sofern der Integrationsprozess nicht als Bedrohung nationalstaatlicher Errungenschaften wahrgenommen wird. Nicht zuletzt vor dem Hintergrund nationaler Sparmaßnahmen und „Einschnitten ins soziale Netz“ zur Erreichung der Konvergenzkriterien im Rahmen der Währungsunion konnte ein wachsendes Misstrauen der Bürger gegenüber der EU verzeichnet werden.30 Gerade unter den Bedingungen der Globalisierung sowie der Dominanz negativer Integrationsprozesse auf europäischer Ebene (Wirtschafts- und Währungsunion, Wachstumsund Stabilitätspakt) werden die nationalen Sozialstaaten in ihrer Handlungskompetenz eingeschränkt („halbsouveräne Wohlfahrtsstaaten“31), ohne dass dieser Autonomieverlust auf europäischer Ebene bisher ausreichend aufgefangen würde. Aufgrund der legitimatorischen Funktion von Sozialstaatlichkeit im Rahmen der Nationalstaaten kann angenommen werden, dass eine zusätzliche Ebene „gesellschaftlicher Solidarität“ auf europäischer Ebene die Wahrnehmung der EU als verbesserten Schutzraum vor den Risiken der Globalisierung erhöhen würde und damit eine positive Bedeutungszuschreibung seitens der Unionsbürger
27
Vgl. u. a. Wendler (2005:11f), Scharpf (2002a), Aust et al. (2002) Jacques Delors zitiert nach Wendler (2005:11) 29 Zur Begründung von Sozialpolitik als einer wichtigen politischen Strategie zur Legitimation politischer Herrschaft moderner liberaler Demokratien, siehe Meyers Theorie der Sozialen Demokratie (2005). 30 Tömmel (2005:37) 31 Leibfried (1998:58) 28
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stattfinden kann.32 Ein weiterer Effekt wäre ein Politisierungsprozess, da um die inhaltliche Ausgestaltung des Projektes konkret gerungen werden müsste, was für Identitätsbildungsprozesse im Sinne einer politischen Projektidentität förderlich wäre. Die Verbindung der Identitätsdebatte mit der Debatte um die politische Ausgestaltung der EU als eine ‚Soziale Union’ formuliert damit einen Zusammenhang zwischen den innereuropäischen und globalen Herausforderungen einerseits und der demokratietheoretischen Legitimation von politischer Herrschaft andererseits. 1.3 Forschungsdesign und Fallauswahl Die Analyse wird mit folgender Konzeptualisierung von politischer Identität arbeiten: Sie ist ein Konstrukt mit zwei Ebenen und zwei Säulen. Die obere Ebene inkorporiert das normative Selbstverständnis der EU, wie es sich in der Formulierung von verbindlichen Werten, Policy-Zielen und Leitbildern in den europäischen Verträgen manifestiert. Dieses Selbstverständnis, was letztlich eine angestrebte Ausrichtung des Integrationsprozesses 33 zum Ausdruck bringt, wird im Folgenden auch als das Skript der EU bezeichnet. Auf der unteren Ebene ist/sind die politische Kultur bzw. die politischen Kulturen der europäischen Mitgliedsstaaten angesiedelt. Zusammengehalten werden die beiden Ebenen durch die subjektive und objektive Zugehörigkeit des Einzelnen zum politischen Projekt (als erste Säule) und einer bewussten Identifikation mit den politischen Zielen und Grundwerten des Projektes (als zweite Säule). Vor diesem begrifflichen Rahmen kann das Identitätsproblem der EU derart gefasst werden, dass man fragt, inwiefern die Unionsbürger mit den im Skript niedergelegten Zielen und Werten des politischen europäischen Projektes übereinstimmen und sich mit diesen identifizieren können. In diesem Konzept europäischer Identität stellen die beiden Ebenen, Skript und politische Kultur, die unabhängigen Variabeln dar. Da jedoch das spezifische Verhältnis dieser beiden Ebenen ausschlaggebend dafür ist, ob sich eine europäische politische Identität herausbilden kann, müssen Skript und politische Kultur selbst zum Untersuchungsgegenstand (zu abhängigen Variabeln) werden. Der Untersuchungsansatz stützt sich dabei sowohl auf qualitative als auch quantitative Methoden: 1. 2. 3.
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in Form einer hermeneutischen Analyse der europäischen Verträge (Skript) einer statistischen Untersuchung von Bevölkerungseinstellungen (Sozio-Kultur) sowie einer systematischen Textanalyse von parteipolitischen Programmen (Deutungskultur)
Allerdings stellt sich die Frage, warum in fast allen Ländern Europas in den letzten Jahren von den nationalen Regierungen Sozialabbau betrieben werden konnte, ohne dass dies zu außergewöhnlichen Protesten in den nationalen Bevölkerungen geführt hat. In Deutschland wurde Bundeskanzler Schröder auch vor dem Hintergrund seiner Agenda 2010 zwar abgewählt, jedoch konnte sich die SPD im Rahmen einer großen Koalition weiter in der Regierung halten. Die Frage bleibt somit offen, welche spezifischen Bedingungen (Akteure, Diskurse und Maßnahmen) zur Akzeptanz bzw. Ablehnung von Sozialabbau führen. Dies kann sicherlich nicht pauschal beantwortet werden, sondern immer nur unter Berücksichtigung der vielfältigen Einflussfaktoren im Einzelfall. 33 Ins Deutsche ließe sich der englische Begriff Skript am ehesten mit Drehbuch übersetzen, wonach die in den Verträgen verankerten Werte, Prinzipien und Ziele die gemeinsam angestrebte Entwicklung der Europäischen Union entwerfen und den Weg dorthin – zumindest in groben Zügen – festschreiben.
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Die hermeneutische Analyse der europäischen Verträge fokussiert dabei die soziale Dimension, d.h. die darin zum Ausdruck kommenden sozialen Grundwerte und Prinzipien sowie die sozialpolitischen Ziele und Leitbilder. Da, wo es für das Verständnis des aus den Verträgen abgeleiteten sozialen Selbstverständnisses der EU sinnvoll erscheint, wird die Analyse mit Erkenntnissen aus der Sekundärliteratur angereichert. Die Analyse der politischen Kultur – untergliedert in Sozio- und Deutungskultur –wird auf Länderebene zum einen anhand von Umfragedaten des International Social Survey Programmes (ISSP) aus 1996 und 2006 und des Special-Eurobarometers (Nr. 251) vom März 2006 und zum anderen anhand einer in drei Ländern vertiefenden systematischen Textanalyse von politischen Parteiprogrammen zwischen 1990 und 2005 erfolgen. Die Analyse der Parteiprogramme und Umfragedaten soll somit Aufschluss über die vorherrschenden sozialpolitischen Einstellungs- und Wertemuster in den politischen Kulturen ausgewählter Mitgliedsstaaten liefern. Die Ergebnisse werden dann jeweils in Bezug zum normativen Selbstverständnis der EU gesetzt und mit diesem verglichen. Eine detaillierte Beschreibung und Begründung der Methodik wird - wo es notwendig erscheint – der empirischen Analyse im jeweiligen Kapitel vorweg gestellt. Fallauswahl: Länder und Parteien Vor dem Hintergrund eines „most different case design“ (Berg-Schlosser 2003) wurden für die vertiefende Analyse der Deutungskulturen die Länder Deutschland, Großbritannien und Polen ausgewählt. Im deutschen Kontext werden die Wahlprogramme zwischen 1990 und 2005 der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD) sowie der Christdemokratischen Partei Deutschlands (CDU) und für Großbritannien die der Labour-Party und der Conservative-Party. Die Auswahl der polnischen Parteien unterlag aufgrund der hohen Instabilität des Parteiensystems und unterschiedlichen parteipolitischen CleavageStrukturen als in westeuropäischen Parteiensystemen besonderen Kriterien. Als Konsequenz mussten pro Wahl jeweils drei Parteien Eingang in die Analyse finden. Diese sind:
die Sozialdemokratische Partei Polens (SLD) über den gesamten Zeitraum hinweg die Demokratische Union (UD) 1993, die Freiheitsunion (UW) 1997 und die Bürgerplattform (PO) 2001 und 2005 die Konföderation eines unabhängigen Polens (KPN) 1993, die Wahlaktion Solidarnosc (AWS) 1997 sowie die Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) 2001 und 2005.
Eine genauere Begründung der Länder- und Parteienauswahl wird im Rahmen der Darstellung des Untersuchungsdesigns im vierten Kapitel (unter 4.3.2) vorgenommen. 1.4 Aufbau der Arbeit Die Arbeit gliedert sich in zwei grundlegende Teile, einen theoretisch-konzeptionellen Teil (Kapitel 2 bis 4) sowie einen empirisch-analytischen Teil (Kapitel 5 bis 7). Das achte und letzte Kapitel wird der Zusammenführung der Ergebnisse und deren Einordnung in den breiteren Forschungskontext dienen.
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Im zweiten Kapitel wird der theoretische Kontext, indem diese Arbeit anzusiedeln ist, dargelegt. Ausgehend von den globalen und internen Herausforderungen europäischer Gesellschaften wird die Frage einer europäischen Identität entlang der Legitimitätsdebatte nachvollzogen. Hierbei sollen nicht nur unterschiedliche Perspektiven und Zugänge hinsichtlich der Frage nach der Legitimität der EU erörtert werden, sondern auch eine kritische Auseinandersetzung mit den im Rahmen dieser Diskussion vorherrschenden Identitätskonzeptionen stattfinden. Anschließend wird der Stand der (empirischen) europäischen Identitätsforschung skizziert und grundlegende Schlussfolgerungen zusammengefasst. Das dritte Kapitel wird den für diese Arbeit zentralen Begriff der Identität näher beleuchten. Dazu werden die Grundaussagen und Forschungsansätze der vorrangig sozialwissenschaftlichen Theorien personaler, sozialer und kollektiver Identität vorgestellt. Da der Identitätsbegriff in der Forschung höchst vieldeutig verwendet wird, bedarf es einer Bewusstmachung der bisherigen Ansätze und Identitätskonzeptionen, nicht nur um die Abgrenzung zu anderen Identitätskonzeptionen zu verdeutlichen, sondern auch um auf dieser Grundlage ein eigenes tragfähiges Konzept für diese Arbeit entfalten und begründen zu können. Im vierten Kapitel wird das dieser Arbeit zu Grunde gelegte komplexe europäische Identitätskonzept entfaltet und begründet. Dabei sollen dessen konstitutiven Komponenten (Skript, politische Kultur) im Einzelnen expliziert werden und die methodische Vorgehensweise samt Fall- und Parteienauswahl vorgestellt werden. Die detaillierte Darlegung des Untersuchungsdesign soll einem besseren Verständnis und der Nachvollziehbarkeit der einzelnen Analyseschritte dienen. Das anschließende fünfte Kapitel widmet sich zunächst der Frage nach einem „Sozialen Europa“ und dessen Verknüpfung mit der europäischen Identitätsfrage. Die theoretische Einbettung des Zusammenhangs dieser beider Fragen scheint schon deshalb geboten, da höchst unterschiedliche und umstrittene Vorstellungen dessen, was unter einem „Sozialen Europa“, der sozialen Dimension oder einem „Europäischen Sozialmodell“ verstanden wird, anzutreffen sind. Die daran anschließende Skript-Analyse soll das tatsächliche, in den Verträgen der EU verankerte sozialpolitische Selbstverständnis der EU herausarbeiten. Dieses wird dann für den späteren Vergleich mit den Sozio- und Deutungskulturen im Rahmen wohlfahrtsstaatlicher Typologien verortet. Das sechste Kapitel untersucht die wohlfahrtsstaatlichen Vorstellungen der Bürger in den europäischen Mitgliedsstaaten (ISSP Datenanalyse) und vergleicht diese mit dem Europäischen Skript. Daran anschließend wird gefragt, inwieweit diese Ergebnisse als ein Votum für oder gegen ein „Soziales Europa“ gewertet werden können. Zu diesem Zweck werden weitere statistische Daten des Eurobarometers herangezogen und in Beziehung zu den Ergebnissen der nationalen ISSP-Daten gesetzt. Im siebten Kapitel folgt die vertiefende Analyse der parteipolitischen Deutungskulturen in Deutschland, Großbritannien und Polen. Hierbei wird zunächst theoretisch begründet, warum Parteien als Träger bzw. Interpreten politischer Kultur gelten können. Daran anknüpfend wird eine Rechtfertigung und Darstellung der anschließenden methodischen Vorgehensweise zur Analyse der parteipolitischen Programme vorgenommen. Die Analyse selbst erfolgt länderweise und dabei in chronologischer Reihenfolge. Jede Länderanalyse beginnt mit einer Darstellung der politischen Institutionen, der sozialstaatlichen Strukturen sowie des zeithistorischen Kontextes und endet mit einer kurzen Bilanzierung der wesentlichen Ergebnisse. Diese Einrahmung dient nicht nur der Strukturierung und besseren Ver-
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ständlichkeit der Analyse, sondern soll vor allem die letztendliche Verankerung der Deutungskultur im institutionellen Rahmen des politischen Systems und im jeweiligen Zeitkontext verdeutlichen. Zum Schluss des Kapitels wird die Vergleichsanalyse mit dem EUSkript unternommen. Das achte und letzte Kapitel dient der Zusammenführung der Ergebnisse aus den Teilanalysen und setzt diese zueinander in Beziehung. Anschließend findet ein Rückbezug auf die Ausgangsfragen der Untersuchung und die Einbettung der Erkenntnisse in den größeren theoretischen Zusammenhang statt. Dabei soll nicht nur der Forschungsbeitrag der Untersuchung herausgestellt, sondern auch die Grenzen des Ansatzes diskutiert werden.
2 Die Legitimität der EU: Demos, Identität und Öffentlichkeit
Während bis zum Ende der 1980er Jahre die Beschreibung und ein prinzipielles Verständnis des Integrationsprozesses, seiner Entwicklungsdynamik und Funktionsweisen im Vordergrund der europawissenschaftlichen Diskussion standen, ging man im Zuge der Vertragsreformen der achtziger und neunziger Jahre mehr und mehr dazu über, das sich herauskristallisierende europäische politische Phänomen zu evaluieren und normativen Maßstäben der Beurteilung zu unterziehen.34 Im Rahmen dieser „normativen Wende“35 wurde um ein besseres Verständnis dessen, was die Europäische Union ist und was ihre zukünftige Rolle in einer sich rapide wandelnden und von Unsicherheiten geprägten (politischen) Welt(-ordnung) sein kann und sollte, gerungen.36 Denn der europäische Integrationsprozess kann nicht nur als Produkt, sondern auch als fortwährender Produzent von gesellschaftlichem und politischem Wandel betrachtet werden37. Dabei scheinen tief greifende politische und ökonomische Umbrüche sowie veränderte gesellschaftliche Wahrnehmungen Europa38 derzeit besonders herauszufordern. Die gesellschaftlichen und politischen Um- und Neuordnungsprozesse seit dem Ende des OstWest-Konflikts 1989 sowie die veränderten technologischen, wirtschaftlichen, kulturellen und politischen Bedingungen im Rahmen der fortschreitenden „Globalisierung“ rücken die Europäische Union als zunehmend wichtig gewordenen Handlungsrahmen ins Blickfeld der politischen und wissenschaftlichen Debatten. Diese „neue Rolle“39 leitet sich zudem aus der Entwicklung des europäischen Integrationsprozesses selbst ab, der spätestens seit den Vertragsrevisionen von Maastricht und Amsterdam weit über rein wirtschaftliche und administrative Aufgaben hinausgeht und in den Institutionen der Europäischen Union mit ihren Politiken die Entstehung eines politischen Gemeinwesens zum Ausdruck bringt. Die im Zuge des Integrationsprozesses etappenartige Politisierung und Demokratisierung der Europäischen Gemeinschaften hin zu 34
Der normativen Wende in der Europaforschung ging die Feststellung voraus, dass sich die Europäische Union in ein – wie auch immer näher zu charakterisierendes – politisches Gemeinwesen, eine polity, entwickelt habe. Vgl. weiter unten als auch Schildberg (2008a:3) 35 Bellamy/Castiglione (2003:7) 36 Das Aufwerfen zentraler Fragen der normativen Politischen Theorie sollte letztlich neben einer Selbstvergewisserung der Europäer auch mögliche europäische Antworten auf die anstehenden Herausforderungen im Kontext von Globalisierung und sozialem Wandel liefern. 37 Vgl. Tömmel (2005). Balli konkretisiert konsequenterweise, dass „[…] die Vorstellung der prinzipiellen Zeitlichkeit menschlichen Zusammenlebens heute weit verbreitet [ist], und […] zudem Geschichtlichkeit oft als ein Kennzeichen Europas angeführt [wird]. Nichtsdestotrotz scheint sich die Ordnung des Zusammenlebens – und somit die politische Ordnung – in Europa in einem Prozess der Veränderung zu finden, der nach besonderer Aufmerksamkeit verlangt.“ Balli (2006b:191) 38 Im Rahmen dieser Arbeit werden die Begriffe ‚Europa’ und ‚europäisch’ zumeist in Bezug zum Integrationsprozess gesetzt. An Stellen, wo eine Unterscheidung zwischen Europa als geographischem Raum und der EU als wirtschaftlichem und politischem Integrationsprojekt notwendig erscheint, wird explizit darauf verwiesen. 39 Balli (2006b:191)
2 Die Legitimität der EU
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einer Europäischen Union (1992) als einen wirtschaftlichen und politischen Zusammenschluss mit einem breiten Spektrum an Politiken, die über intergouvernementale, aber auch supranationale Institutionen und Entscheidungsverfahren verfügt, ließ schließlich die Frage nach der demokratischen Legitimation eines – vorgeblich – politisch gewordenen Europa virulent werden40. Die sozialen, politischen und ökonomischen Herausforderungen, denen die europäischen Gesellschaften gegenüber stehen, werden aus zwei bisweilen reziproken Entwicklungsdynamiken abgeleitet: Zum einen aus „externen“ globalen und damit einhergehenden „internen“, alle westlichen Industriegesellschaften betreffenden, veränderten gesellschaftlichen Problemlagen. Schlagworte sind hier Sozialer Wandel und Globalisierung. 2.1 Sozialer Wandel und Globalisierung Die „internen“ veränderten Problemlagen europäischer Gesellschaften41 zeigen sich im demographischen Wandel und in einer Pluralisierung von Lebensweisen und Wertvorstellungen42. Die Lebensbedingungen in westeuropäischen Industriestaaten haben sich zunächst im Rahmen der Industrialisierung und Modernisierung verändert. Die darin geschaffenen Verhältnisse wurden dann seit Ende der 1950er Jahre nochmals – nicht zuletzt aufgrund von (zunehmenden) Individualisierungsprozessen – grundlegend verändert. Mit der fortschreitenden Herauslösung aus vorherigen sozialen Bindungen (tradierten Sozialmilieus, religiösen Anbindungen, vordefinierten Geschlechterrollen) werden Individuen letztlich über das politisch-ökonomische System – über Märkte und sozialstaatliche Regulation – neu zueinander in Beziehung gestellt.43 Die externen Rahmenbedingungen leiten sich maßgeblich aus der Globalisierung44 in Form der internationalen Liberalisierung und Deregulierung von Kapitalströmen sowie der 40
Ebd. Die internen veränderten Problemlagen werden letztlich für alle westlichen Industriegesellschaften konstatiert, für das Thema der Arbeit sollen hier jedoch die europäischen Gesellschaften in den Blick genommen werden. 42 Unter demographischen Wandel wird die wachsende Lebenserwartung bei gleichzeitiger Abnahme der Geburtenrate gefasst, was wiederum Auswirkungen auf das gesamtgesellschaftliche System (Arbeitsbeziehungen, soziale Sicherung, Renten- und Gesundheitssystem etc.) mit sich bringe. Vgl. Beck (1994), Inglehardt (1997). 43 Normativ betrachtet bezeichnet der Individualisierungsprozess einen mit der Industrialisierung und Modernisierung einhergehenden Prozess des Übergangs von der Fremd- zur Selbstbestimmung. Dabei werden grundsätzlich zwei Phasen unterteilt: die erste ist geprägt von einer Erweiterung der Arbeitsteilung bei gleichzeitiger Schwächung traditioneller sozialer Bande (Zerfall von Dorfgemeinschaften und Rückzug der Großfamilie) und der Ausweitung ökonomisch geprägter Beziehungen (z. B. beschrieben von Georg Simmel 1890 und Emil Durkheim 1893). Der Beginn einer zweiten Phase des Individualisierungsprozesses wird auf das Ende der 1950er Jahre datiert, womit eine Radikalisierung und Universalisierung des Prozesses eingesetzt habe, so dass gesellschaftliche Zuordnungen nach Stand und Klasse obsolet geworden seien, eine Pluralisierung der Lebensstile, eine Steigerung der Bildung - und letztlich ein erhöhter Zwang zu reflexiver Lebensführung einhergehe. Insbesondere Beck und Giddens haben die so wahrgenommenen veränderten sozialen Lebensbedingungen in ihrer Theorie der reflexiven Modernisierung konzeptualisiert. Vgl. Beck (1986), Beck et al. (1996), darüber hinaus: Dörre (2002:58ff) 44 Unter Globalisierung wird hier in Anlehnung an Grabas (2007) ein komplexer Prozess verstanden, der sich durch drei wesentliche Strukturmerkmale auszeichnet. Globalisierung ist demnach: 1. eine zunehmende weltwirtschaftliche Verflechtung mit weit reichenden politischen, sozialen, kulturellen, ökonomischen und ökologischen Folgewirkungen; 2. ein Dynamisierungs- und Expansionsprozess augrund der prinzipiellen Mobilität von Produkten und Produktionsfaktoren und einer bisher nicht abgeschlossenen institutionellen Öffnung von Wirtschafts- und Lebensräumen; 3. ein widerspruchsvoller und konfliktträchtiger Prozess, der keinem teleologischen Prinzip folgt und durchaus durch individuelle und kollektive Akteure als gestaltbar angesehen wird. Grabas (2007:60) 41
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2 Die Legitimität der EU
transnationalen Verflechtung von Güter- und Dienstleistungsmärkten ab. Damit einher geht eine Verschärfung der Standortkonkurrenz, die eine Schwächung nationalstaatlicher Souveränität und tief greifende Veränderungen der Arbeitswelt mit sich bringt. Neben den ökonomischen Auswirkungen der Globalisierung wird zudem eine kulturelle Dimension konstatiert: Durch die Ausbreitung von globalen Kommunikations- und Informationssystemen wird die traditionelle Verbindung von geographischem Raum und seinen kulturellen Merkmalen aufgeweicht und eine Verschmelzung der unterschiedlichen Kulturen bewirkt.45 Vor diesem Tableau externer und interner Herausforderungen, denen sich die europäischen Gesellschaften gegenüber sehen, wird die Europäische Union als eine (mögliche) Antwort zur Bewältigung derselben betrachtet. Unter diesen Bedingungen wird der europäischen Ebene als neuer und gewichtiger Handlungsrahmen ein positives Potential zur Kompensation national verloren gegangener oder zumindest eingeschränkter politischer Steuerungsfähigkeit und Regelungskompetenz zugeschrieben. Jedoch wirft die Übertragung von politischer Entscheidungsmacht und Regelungskompetenzen die Frage der Legitimität solcher Prozesse auf. Der fortschreitende Integrationsprozess hat folglich nicht nur Problemlösungspotential, sondern wirft durch seine politische Entscheidungen und institutionellen Strukturen selbst wieder neue Probleme auf. Hieran knüpfen die Fragen nach der Legitimität der europäischen Institutionen und Prozesse an. 2.2 Die Legitimität der Europäischen Union Ging es zu Beginn des europäischen Integrationsprozesses primär um die Fragen des wirtschaftlichen Wachstums und der rechtlichen Grundlagen der neu geschaffenen Institutionen der Europäischen Gemeinschaften, verlagerte sich mit der voranschreitenden Integration die Aufmerksamkeit auf die Frage der demokratischen Legitimität dieses Prozesses. Im Großen und Ganzen können drei Perspektiven auf das Problem der europäischen Legitimität unterschieden werden:46 In der ersten Output-Perspektive, wird die Legitimität der EU am Grad ihrer effektiven Problemlösungsfähigkeit gemessen. Insofern geht es weniger um eine demokratische Legitimation von politischen Entscheidungen und Verfahren, sondern vorrangig um die Frage, inwieweit die Entscheidungsverfahren effizient sind und mit den politisch erzielten Ergebnisse eine erhöhte Glaubwürdigkeit erreicht wird. Als Hauptvertreter dieser Perspektive gelten in der EU-Debatte Majone (2006)47 und Moravscik (2002)48. Beide – wenn auch mit 45
Die Auswirkungen des Globalisierungsprozesses werden in der wissenschaftlichen Debatte hoch kontrovers diskutiert. Als positive Auswirkungen der Globalisierung werden u. a. größerer wirtschaftlicher Wachstum, steigender Wohlstand sowie Warenvielfalt und Beschleunigung technologischen Fortschritts genannt. Auf kultureller Ebene wird betont, dass durch den zunehmenden Kulturaustausch Menschen mehr voneinander lernen und kooperatives Verhalten gefördert werde. Globalisierungsgegner verweisen hingegen insbesondere auf die Dominanz der ökonomischen Globalisierung und eine Zunahme sozialer Ungleichheit, wobei eine Globalisierung von Menschenrechten, Arbeitnehmerrechten, ökologischen Standards oder Demokratie nicht berücksichtigt werde. Hinsichtlich der kulturellen Dimension werden kulturelle und religiöse Gegenbewegungen sowie eine verschärfte ethnische Fragmentierung konstatiert. Vgl. allgemein hierzu: Plate (2003), zur Handlungsfähigkeit der Nationalstaaten im Rahmen der Globalisierung Bernauer (2000), aus soziologischer Perspektive s. Castells (2002, 2003) Triologie zum Informationszeitalter sowie Beck (1986) zur Risikogesellschaft und Beck et al. (1996). 46 Für die Darstellung der drei Perspektiven vgl. Schildberg (2008a:62-64) 47 Majone (2006) 48 Moravcsik (2002)
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unterschiedlichen Argumenten – sind gegen eine weitere Demokratisierung der EU und verteidigen den Status-quo der EU. Sie bestreiten letztlich, dass die EU an einem Demokratie- und Legitimationsdefizit leide und befürchten mit einer Politisierung und Demokratisierung Einbußen an Effektivität und Glaubwürdigkeit, also der europäischen Problemlösungsfähigkeit. Den Kern dieser Argumentation bildet die Annahme, dass die EU ParetoVerbesserungen49 möglich mache, die der einzelne Mitgliedsstaat allein nicht erzielen könnte. Daraus folgt, dass die Delegation von Aufgaben in vornehmlich unpolitischen Bereichen an nicht gewählte Akteure und Experten in dem Maße gerechtfertigt ist, indem die Output-Legitimation der EU erhöht wird. Aus einer Steigerung der Output-Legitimation ginge zwangsläufig auch eine Akzeptanz der europäischen Politik durch die Bürger einher, da niemand von den Entscheidungen benachteiligt würde, was somit einem öffentlichen Interesse entspräche. In dieser Perspektive wird die EU in hohem Maße als eine Art ‚Bürokratie’ konzeptualisiert, die primär das reibungslose Funktionieren des gemeinsamen Marktes sicherstellen soll und sich hauptsächlich mit der Angleichung technischerr Regulierungen beschäftigt. Die Delegation an Experten und nicht gewählte Vertretern rechtfertigt sich über den Wohlfahrtsgewinn, der durch effektive Problemlösungen gesichert wird. Eine zweite Perspektive in der Legitimationsdebatte fokussiert den institutionellen Aufbau der EU und fragt danach, inwieweit das institutionelle System demokratisch bzw. wie die politische Herrschaft institutionalisiert ist. Um legitimiert zu sein müssen die Institutionen demokratischen Qualitätsstandards entsprechen. Legitimationsprobleme ergeben sich in dieser Perspektive vor allem mit der Einführung von Mehrheitsentscheidungen im Ministerrat seit der Einheitlichen Europäischen Akte 1986, sowie im weiteren Verlauf mit der zunehmenden Kompetenzausweitung der EU auf immer weitere Politikfelder50. Mit der Einführung von Mehrheitsentscheidungen im Ministerrat wurde zunächst eine mangelhafte Legitimation über die nationalen Regierungen und Parlamente diagnostiziert, da dadurch mehrheitlich rechtsverbindliche Entscheidungen gegen den Willen einzelner Regierungen getroffen werden konnten, die diese gegen ihren Willen zu implementieren hatten. Darüber hinaus wurde aber auch die intergouvernementale Abstimmungsmethode auf der Basis von Einstimmigkeit in Frage gestellt, da die Regierungen der Mitgliedsstaaten in nationalen Wahlen auf der Grundlage nationaler Themen gewählt würden und insofern über kein europapolitisches Plebiszit verfügen würden. Zudem würden die Verhandlungen hinter verschlossenen Türen, so die Kritik, jeglicher demokratischen Transparenz entbehren51 Auch die Praxis des „blame-shiftings“, wonach nationale Regierungen Verantwortung für bestimmte Entscheidungen auf „Brüssel“ schieben und die eigene Verhandlungsposition aber nicht offen gelegt werden müsse, begünstige letztlich demokratisch fragwürdige Methoden der Verantwortungsverschiebung und Intransparenz. Weitere Legitimationsprobleme werden in der geringen Beteiligung des europäischen Parlaments am Gesetzgebungsproess gesehen. Ferner wird kritisiert, dass die Kommission als Exekutive weder aus dem direkt gewählten europäischen Parlament hervorgehe, noch direkt von den Bürgern gewählt wird. Sie weist nämlich nur eine indirekte Legitimation auf, und zwar über die Ernennung durch
49 Pareto-Verbesserung bedeutet, dass mindestens ein Individuum besser gestellt werden kann, ohne dass zugleich ein anderes Individuum dadurch schlechter gestellt wird. 50 Vgl. hierzu auch Kapitel 6. 51 Holzinger et al. (2005:90-103), vgl. auch Kielmannsegg (2003:53ff)
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2 Die Legitimität der EU
die nationalen Regierungen.52 Als ein weiterer wesentlicher demokratischer Mangel wird das Fehlen eines europäischen Parteiensystems betrachtet.53 Demzufolge wird den europäischen Institutionen ein andauerndes Legitimations- und Demokratiedefizit attestiert, wobei die Behebung dieser Defizite primär über institutionelle Reformen diskutiert wird. Die Forderung nach institutionellen Reformen impliziert zumeist auch eine Forderung nach mehr Partizipationsmöglichkeiten der Bürger, so dass das demokratische Legitimationsdefizit der EU nicht allein auf der Ebene der formal-institutionellen Strukturen angesiedelt wird, sondern genauso in einer mangelnden Anbindung an die europäischen Bürger. In dieser dritten Perspektive werden ebenfalls normative Demokratiemaßstäbe der Beurteilung zugrunde gelegt, allerdings diesmal mit Blick auf eine notwendige Anbindung des politischen Prozesses an die Bürger. Denn in dieser Hinsicht ist eine politische Gemeinschaft nur dann legitimiert, wenn diese aus den Bürgern hervorgehe oder von diesen zumindest unterstützt wird. Demokratie – verstanden im republikanischen Sinne – bedarf demnach nicht nur demokratischer Institutionen und Verfahren, sondern auch eines Volkes (demos), welches sich letztlich durch eine gemeinsame Identität auszeichnet. Politische Macht oder Herrschaft erscheint nur dann gerechtfertigt, wenn das Volk oder besser die Bürger diese als legitim anerkennen. Die politische Gemeinschaft (von Bürgern) mit ihren Institutionen begründet sich in Form einer Übereinstimmung über die Regeln und Normen des gesellschaftlichen Zusammenlebens. Der Grad an politischer Übereinstimmung verdichtet sich in einer kollektiven Identität, die als Grundlage für die Existenzsicherung und Stabilität des politischen Gemeinwesens angesehen wird. In der zweiten und dritten Perspektive wird der enge Zusammenhang von politischer Legitimität und Demokratie herausgestellt, wobei das demokratische Defizits auf institutioneller Ebene und das Identitätsdefizits auf Bürgerebene (d.h. im Sinne einer mangelnden Anbindung der politischen Institutionen und Prozesse an die europäischen Bürger) letztlich zwei Seiten ein und derselben Medaille darstellen. Diese Arbeit folgt der Annahme, dass der Legitimationsgedanke an die Idee der Demokratie gekoppelt ist und ohne Demokratie/demokratische Prozesse keine ausreichende politische Legitimation erreicht werden kann. Die Frage, in welcher Form und auf welche Weise eine solche jedoch im Rahmen der EU notwendig und möglich ist, soll in den nächsten Abschnitten entlang der Diskussion um eine europäische Identität aufgezeigt werden. 2.2.1
Demokratische Legitimationsprozesse
Im Kontext der europäischen Identitätsdebatte herrschen wiederum zwei unterschiedliche Sichtweisen bezüglich der Beschaffenheit von Legitimationsprozessen vor. Die erste Sichtweise betont, dass Mehrheitsentscheidungen von der überstimmten Minderheit nur dann als legitim angesehen werden, wenn das Individuum davon ausgehen kann, dass jeder Einzelne seine Präferenzen zum Wohle des Gemeinwesens abwägt. Damit wird die Mehrheitsentscheidung als ein Ausdruck des guten Willens der Mitbürger verstanden, so dass der Einzelne oder eben die Minderheit die getroffene Entscheidung als legitim ansehen wird. Scharpf (1999) führt dazu aus: 52 53
Holzinger et al. (2005:91) Mittag (2006)
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„Um die Gehorsamspflicht rein input-orientiert zu begründen, bedarf es also zusätzlicher, und nicht rein formaler Argumente, die das Vertrauen der Minderheit in die Mehrheit – „the people can do wrong“ – begründen könnten. Letztlich erfordert dies die begründete Unterstellung, dass die Präferenzfunktion jedes einzelnen Mitglieds des Gemeinwesens die Wohlfahrt aller Mitglieder als ein Argument enthält. Meine Pflicht, so Claus Offe (1998), zur Akzeptanz der Opfer, die mir im Namen der Allgemeinheit auferlegt werden, setzt mein Vertrauen auf den guten Willen meiner Mitbürger voraus. Soziopsychische Grundlage dieses Vertrauens ist ein „Gemeinsamkeitsglauben“ (Max Weber), der sich auf präexistente geschichtliche, sprachliche, kulturelle oder ethnische Gemeinsamkeiten gründet. Kann diese starke kollektive Identität vorausgesetzt werden, so verliert die Mehrheitsherrschaft in der Tat ihren bedrohlichen Charakter.“54
Scharpf unterscheidet im Bezug auf die EU zwischen zwei unterschiedlichen Legitimationstypen: Output- und Input-Legitimation. Output-Legitimation bezieht sich auf die Ergebnisse und fragt, inwieweit die betriebene Politik effektiv und wohlfahrtssteigernd ist, während Input-Legitimation auf der Frage beruht, inwieweit die getroffenen Entscheidungen dem „Willen des Volkes“ entsprechen. Input-Legitimation ist somit die „Herrschaft durch das Volk“, während Output-Legitimation die „Herrschaft für das Volk“ betont.55 Um den „Willen des Volkes“ ermitteln zu können, bedürfe es des Konsenses, was auf europäischer Ebene nicht gewährleistet werden könne, da die Distanz zwischen den politischen Vertretern und den Bürgern zu groß sei, um tatsächliche Partizipation an den Lösungsfindungen gewährleisten zu können. Demnach könne die EU derzeit nur eine Output-Legitimation erreichen, die lediglich auf gemeinsamen Interessen basiere, aber nicht auf einer gemeinsamen Identität (identitätsgestützte Input-Legitimation). Vor diesem Hintergrund argumentiert er, dass sich die EU, die sich auf kein europäisches Volk stützen könne, auf „unkontroverse“ Politikbereiche beschränken müsse, damit die Entscheidungen von den EUBürgern als legitim angesehen werden können. Die Problematik einer input-orientierten Legitimation der EU deckt sich damit weitgehend mit der Diagnose des demokratischen Defizits der EU, was eine mangelnde Partizipation der Bürger am Prozess der gemeinsamen Lösungsfindung postuliert. Auch wenn Scharpfs Argumentation letztlich die strukturelle Asymmetrie zwischen positiver und negativer Integration der EU im Blick hat56, muss die Vorstellung, dass eine „identitätsgestützte Input-Legitimation“ auf einer Art „Gemeinsamkeitsglauben“ basiert, als durchaus problematisch angesehen werden. Diese erinnert an ein vorpolitisches Verständnis, dass die Notwendigkeit einer grundsätzlichen Begründung von politischer Legitimation weitgehend ausblendet. Die zweite Sichtweise betont hingegen die Notwendigkeit eines rationalen Legitimationsdiskurses und zieht die Vorstellung einer auf „Gemeinsamkeitsglauben“ basierende „Fügsamkeitsmotivation“ in Zweifel. Cheneval (2005b) verweist darauf, dass InputLegitimation nicht losgelöst vom politischen Prozess betrachtet werden kann, indem er ausführt: „Dass die Fügsamkeitsmotivation aber nicht aus einem Grundkonsens sondern aus einem unvorgreiflichen „Glauben“ an die Gemeinsamkeit hervorgehen soll, ist zu bezweifeln. Es ist dem modernen Legitimationsdiskurs eigen, politische Macht von Menschen über Menschen als grundsätzlich begründungbedürftig zu betrachten. Der vorpolitische Traditionszug der Herr54
Scharpf (1999:18) Scharpf (1999:16) 56 Siehe hierzu Kapitel 5 55
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2 Die Legitimität der EU schaft ist dabei gerade das in Frage Gestellte. Diese Infragestellung ist nicht gegen die Geschichte gerichtet, sondern vollzieht sich auch innerhalb einer kritischen Geschichtswissenschaft (vgl. Kreis). Inputlegitimation einseitig auf einen kulturell bedingten und historisch gewachsenen Gemeinsamkeitsglauben zurückzuführen ist deshalb entweder zirkulär oder stellt an sich eine Verweigerung eines rationalen Legitimationsdiskurses dar. Falls die Wissenschaft auf eine solche Position ausweichen muss, um die demokratische Legitimation der EU in Frage zu stellen und diejenige des Nationalstaates zu behaupten, ist Vorsicht angebracht. Insbesondere die gegen die legitimatorische Infragestellung immunisierte Annahme einer vorpolitischen „Präexistenz“ des Gemeinsamkeitsglaubens unabhängig von funktionalen Prozessen und politischen Strukturen ist inadäquat.“57
Michael Zürn (1998) fügt entsprechend der Input- und Output- Dimension eine dritte prozedurale Dimension (through-put-orientierte Legitimation) hinzu. Diese basiert auf prozeduralen demokratischen Prozessen der kommunikativen Rationalität.58 Zürn argumentiert in diesem Kontext, dass die Anbindung der Bürger als Kollektiv (Demos) an den politischen Prozess und die politischen Institutionen eine unverzichtbare Bedingung für die Herausbildung einer kollektiven politischen Identität darstellt. Dass sich Volkssouveränität und Legitimität eines Staatsvolkes nicht in Form eines „realexistierenden Kollektivsubjekts“ äußert, sondern eben nur auf einer „phänomenalen Struktur der demokratischen, auf allgemeine Beteiligung aller Staatsbürger zurückführbaren Prozeduren“59 basiert, widerspricht der Vorstellung einer präexistenten kollektiven Identität als Vorbedingung einer Input-Legitimation.60 Vielmehr kommt den demokratischen Verfahren und öffentlichen pluralistischen Kommunikationsprozessen entscheidende Bedeutung zu: „Die höchste politische Autorität des Staatsvolks beruht normativ auf einer juridischen Setzung und deskriptiv auf der kommunikativen Feststellung einer kollektiven imaginären Gemeinschaft. Beide konkretisieren sich in demokratischen Verfahren und freien Öffentlichkeiten und haben ohne diese keine legitime Autorität.“61
Mit der These von der EU als einer „Demoi-kratie“62 wird von der Vorstellung Abstand genommen, dass sich ein unitarisches und exklusives europäisches Staatsvolk als Legitimationsgrundlage herausbilden muss. Vielmehr wird darauf verwiesen, dass in einem multilateralen Mehrebenensystem wie der EU eine vertikal und horizontal gekoppelte und differenzierte Volkssouveränität plausibler erscheint.63 57
Cheneval (2005a:6f) Cheneval (2005a:6), vgl. Zürn (1998:236). Die umfassende und kontrovers geführte europäische Legitimationsdebatte kann im Rahmen dieser Arbeit nicht in Gänze wiedergegeben werden und muss folglich mit weiterführenden Literaturverweisen auskommen. In der umfangreichen wissenschaftlichen Literatur wird nicht nur zwischen verschiedenen Legitimationsarten (input, output, substantielle etc.) sondern ebenso abgestufte Legitimationsformen differenziert. Vgl. dazu mit Bezug zum europäischen Integrationsprozess, insbesondere: Cerutti (2003, 2005), Scharpf (1999, 2004), Thalmaier (2005), Wendler (2005), allgemein zum Konzept politischer Legitimität siehe z. B. Westle (1989) 59 Cheneval (2005a:16) 60 Vgl. Scharpf (1999:17f) 61 Cheneval (2005a:17) 62 Nach Nicolaidis (2003, 2004), zit. aus Ceneval (2005a:14). In diesem Zusammenhang wird in der Debatte zumeist auf das Staats- und Demokratiemodell der Schweiz verwiesen (ebd.:17f). 63 Vgl. Cheneval (2005b) 58
2 Die Legitimität der EU
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„Die Frage ist also nicht, ob ein europäischer Demos die nationalen Demoi ersetzen soll und kann, sondern durch welche Prozeduren und Kompetenzen die nationalen Demoi gekoppelt und welche Teilkompetenz eventuell einem überwölbenden, europäischen Demos zugestanden werden soll.“64
Eine vertikale und horizontale Differenzierung von Legitimationsquellen im Rahmen der EU entspricht somit eher der empirischen Wirklichkeit des europäischen Mehrebenensystems. Dennoch verweist Jean-Marc Ferry (2005) ebenso darauf, dass auch wenn eine demokratische EU in dieser Hinsicht kein Einheitsstaat sein muss, um Legitimität zu besitzen, seien dennoch die Verständigungsbereitschaft der politischen Eliten und Bürger, eine gemeinsame politische Kultur sowie das Bewusstsein Teil eines gemeinsamen politischen Projekts zu sein, unerlässlich.65 2.2.2
Das Öffentlichkeitsdefizit der EU
Die aus dem modernen liberaldemokratischen Legitimationsdiskurs abgeleiteten Prämissen für die Herausbildung einer europäischen Identität sind jedoch im Rahmen des europäischen Integrationsprozesses (bisher) nur teilweise erfüllt, was mitunter auf den europäischen Entstehungsprozess zurückgeführt werden kann, aber auch eine den sui-generis Charakter der EU betreffende Dimension aufweist. Ein wesentliches Moment stellt dabei die Notwendigkeit einer europäischen Öffentlichkeit dar, in deren Rahmen die Bürger ihren Präferenzen Ausdruck verleihen können und EU-Verantwortliche Rechenschaft ablegen müssten. Politische Öffentlichkeiten stellen in modernen Demokratien die Grundlage für die Teilnahme der Bürger am politischen Entscheidungsprozess dar, indem der politische Prozess transparent und eine Auseinandersetzung um unterschiedliche Vorstellungen über die Ausgestaltung des politischen Gemeinwesens vollzogen wird. Tresch und Jochum (2005) definieren Öffentlichkeit in Anlehnung an Neidhardt als ein Kommunikationsforum, „in dem politische Akteure (Sprecher) vor einem Publikum – den Bürgern – politische Auseinandersetzungen zu bestimmten öffentlichen Themen austragen.“66 In modernen Gesellschaften kann ein solcher interaktiver Prozess nicht unmittelbar zwischen Bürgern und Entscheidungsträgern ablaufen, sondern muss weitgehend über die Massenmedien vermittelt werden. Dieser durch die Massenmedien vermittelte Kommunikationsfluss zwischen den politischen Entscheidungsträgern und den Bürgern erfüllt eine doppelte Funktion: Zum einen fördert er die allgemeine Meinungsbildung und Interessenvermittlung, und zum anderen eine Rückbindung der Entscheidungsträger an die öffentliche Meinung bzw. den Willen der Bürger. Öffentlichkeit stellt somit Transparenz durch die Möglichkeit der reziproken Beobachtung zwischen Bürgern und politischen Akteuren dar und sichert die Legitimität des politischen Systems dadurch, dass die Entscheidungsträger über die Präferenzen der Bürger im Bilde sind und dementsprechend ihr Handeln ausrichten können.67 Die These vom Öffentlichkeitsdefizit der EU wird vor dem Hintergrund dieser demokratietheoretischen Annahmen erhoben, so dass der Mangel an Öffentlichkeit die demokra64
Biaggini (2005: 349-375) Ferry (2005: 47-61) 66 Tresch/Jochum (2005:276) 67 Tresch/Jochum (2005:376) 65
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tische Legitimation des politischen Systems und die Herausbildung einer europäischen Identität in Frage stelle. Obgleich weitgehend Einigkeit darüber besteht, dass die EU als demokratisches politisches System einer europäischen Öffentlichkeit bedürfe, finden sich bei der Frage, wie eine solche europäische Öffentlichkeit aussehen kann/sollte, drei unterschiedliche Positionen. Während erstens, die mangelnde institutionelle Demokratisierung der EU als Ursache für das Öffentlichkeitsdefizit veranschlagt wird und damit einhergehend institutionelle Reformen als notwendig angesehen werden, wird dem zweitens entgegengesetzt, dass für die Demokratisierung der EU zunächst eine Öffentlichkeit gegeben sein müsste, damit solche Reformen überhaupt wirken könnten. Drittens wird das Fehlen einer europäischen Öffentlichkeit auf die Sprachenvielfalt innerhalb der EU zurückgeführt oder mit dem Fehlen europäischer Massenmedien erklärt.68 Nach Gerhards (1993) kann eine europäische Öffentlichkeit hingegen auf zweifache Art gedacht werden, zum einen als eine transnationale, genuin europäische Öffentlichkeit z. B. in Form von länderübergreifenden europäischen Massenmedien oder eben in Form einer Europäisierung nationaler Öffentlichkeiten auf der Grundlage der bestehenden Mediensysteme. Die zweite Variante sieht in einer Europäisierung der nationalen Öffentlichkeiten das für die EU realistischere Modell, das zugleich aber auch als normativ ausreichend bewertet wird.69 Eine solche Europäisierung nationaler Medien konnte in Ansätzen auch schon empirisch nachgewiesen werden. Christoph O. Meyer (2002) konnte anhand von drei Fallsbeispielen aufzeigen, dass auf der Ebene der Brüsseler Korrespondenten eine direkte Zusammenarbeit der nationalen Journalisten zunimmt und damit einhergehend eine Synchronisation der Brüsseler Berichterstattung stattfindet. Dabei fand er heraus, dass ein erhöhtes öffentliches Interesse an der Kontrolle europäischer Akteure transnationale Debatten über politische Werte befördern kann. Demnach sieht Meyer die öffentliche Kontrolle von supranationalen Institutionen durch die Analyse seiner Fallbeispiele als möglich an, wodurch die oben erwähnten normativen Legitimationsargumente zumindest teilweise gestützt werden.70 Eine weitere Studie von Tresch/Jochum (2005) belegt, dass die Europäisierung nationaler Öffentlichkeiten im EU-Durchschnitt zwischen 1990 und 2002 tendenziell zugenommen hat, wobei der Europäisierungsgrad insbesondere in den Politikfeldern am höchsten war, die in die supranationale Kompetenz der EU fallen. Allerdings sei ebenso aufgefallen, dass der überwiegende Teil der europäisierten Debatten nach wie vor von nationalen Akteuren geführt würden, während europäische Akteure weitaus geringer in den nationalen Öffentlichkeiten auftreten.71 Diese Studien können belegen, dass die EU-Berichterstattung sowohl in der vertikalen als auch horizontalen Dimension zugenommen hat, dies darf aber letztlich über das weiterhin bestehende Problem eines europäischen Öffentlichkeitsdefizits nicht hinweg täuschen. Fünf defizitäre Aspekte müssen in diesem Kontext Erwähnung finden: Erstens fehlt es der EU an einer ausreichenden Personalisierung, was verhindert, dass sie ein „Gesicht“ in der 68 Tresch/Jochum (2005:376ff). Bezug genommen wird hier auf die Arbeiten von Risse (2002) und Fuchs (2000), die die mangelnde institutionelle Demokratisierung der EU hervorheben und daran anschließend z. B. eine vollständige Parlamentarisierung der EU fordern. Für die zweite Argumentation können Cedermann (2001) als auch Kielmannsegg (2003) genannt werden. Für die dritte Position steht z. B. die Arbeit von Gerhards (1993). 69 Tresch/Jochum (2005:378) beziehen sich hierbei auf mehrere Arbeiten, u. a. von Neidhardt et al. (2000). 70 Ch. Meyer (2002) 71 Tresch/Jochum (2005)
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Öffentlichkeit bekommt. Zweitens kann eine Tendenz der „Entpolitisierung der Politik“ (T. Meyer) beobachtet werden, drittens erweist sich die zum Teil noch vorhandene Intransparenz von Verhandlungen des Ministerrats als hinderlich für eine europäische Berichterstattung. Viertens berichten Korrespondenten aus Brüssel, dass zwar die Nachrichtenfülle über die EU zum Teil erheblich zugenommen habe, eine tiefer gehende Berichterstattung, die die direkten Implikationen von EU-Politiken und nationalen Politiken aufzeigen sowie andere Mitgliedsstaaten der nationalen Öffentlichkeit näher bringen könnten, in den nationalen Stammredaktionen zum Teil aus Platzmangel, zum Teil, da es für nicht medienwirksam gehalten wird, abgelehnt werden. Und fünftens muss zwischen Qualitätsmedien und Boulevardmedien nochmals unterschieden werden, da sich Quantität und Qualität der europäischen Berichterstattung zum Teil erheblich unterscheiden.72 Das Bild einer europäischen Öffentlichkeit bleibt damit ambivalent. Einerseits kann konstatiert werden, dass empirische Studien eine Europäisierungstendenz nationaler Öffentlichkeiten vorfinden und zum Teil eine transnationale Synchronisation Brüsseler Berichterststattung erfolgt. Auf der anderen Seite kann von einer europäischen demokratischen Öffentlichkeit bzw. europäisierten nationalen Öffentlichkeit noch nicht gesprochen werden, so dass die These vom Öffentlichkeitsdefizit nach wie vor Gültigkeit besitzt. Letztlich kann lediglich von einer gewissen europäischen Elitenöffentlichkeit ausgegangen werden, die jedoch am ehesten unter den europäischen und Teilen der nationalen politischen Akteuren, Europawissenschaftlern, einigen Journalisten, Intellektuellen und manchen Erasmus-Studentengruppen existiert. Solche Formen von Elitenöffentlichkeit entsprechen jedoch nicht dem legitimatorischen und identitätsstiftenden Anspruch, der politischer Öffentlichkeit in Demokratien zugeschrieben wird. Insofern stellt das Öffentlichkeitsdefizit der EU ein nach wie vor gewichtiges Hindernis für die Herausbildung einer europäischen Bürgeridentität dar. Dennoch wäre es kurzsichtig, daraus zu schließen, dass es eine solche Öffentlichkeit nicht geben kann, da die empirischen Ergebnisse dafür sprechen, dass - wenn auch kleine - Fortschritte zu verzeichnen sind, die im Rahmen einer weiteren Politisierung und Vertiefung des Integrationsprozesses größer werden können. 2.3 Die Demos-Frage im Rahmen der EU-Debatte Vor dem Hintergrund des konstatierten Demokratie- und Öffentlichkeitsdefizit wurde für die EU zudem als eine „Demokratie ohne Demos“73 bezeichnet. Demnach bedürfe eine funktionsfähige und legitimierte Demokratie eines Demos, eines (Wahl-)Volkes, welches sich selbst als eine politische Einheit interpretiert und kollektiv getroffene Entscheidungen als bindend anerkennt. Während in der Legitimitäts- und Öffentlichkeitsdebatte die Herausbildung einer Identität entweder als Vorbedingung oder als Folge betrachtet wurde, wird in der Debatte um einen europäischen Demos die Beschaffenheit einer Identität selbst problematisiert. Ausgangsfrage ist hierbei, ob es eine Gemeinschaft von Europäern, also ein europäisches Volk gibt, und was diese(s) letztlich ausmacht. Anhand dreier Lesarten wird die Frage nach den konstitutiven Merkmalen eines europäischen Demos jeweils unterschiedlich beantwortet. Zwar gehen alle Ansätze von der Notwendigkeit einer Identifizierung der 72
Vgl. Schildberg (2007b). Hinzu kommen eigene Medienbeobachtungen aus 2002 im Rahmen eines Seminarprojektes an der Ruhr-Universität Bochum. 73 Münch (2001:177)
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Bürger mit der EU aus und betonen, dass eben hierin eine – wie auch immer zu definierende -Gemeinsamkeit der EU-Bürger bestehen sollte. Die Kontroverse dreht sich somit darum, worin eine solche Gemeinsamkeit (Identität) bestehen bzw. wie sie geschaffen werden könnte. 1. 2.
3.
In der ersten (essentialistischen) Lesart konstituiert sich der europäische Demos in Form einer Kultur- bzw. Wertegemeinschaft74. In der zweiten Lesart wird ein Demos analytisch als „unverzichtbares Subjekt von Demokratie“75 verstanden, welches allein durch die Schaffung von Institutionen und der Ausübung legitimer Souveränitätsrechte entstehe. In diesem Verständnis kann bereits der reine Wahlakt zum europäischen Parlament als Ausdruck eines europäischen Demos interpretiert werden. Folglich handelt es sich hierbei um eine sehr „dünne“ oder auch minimalistische Identität. Die dritte (konstruktivistische) Lesart vertritt eine politische Identität, wonach ein Demos erst im Rahmen einer politischen Praxis formal und „real“ geschaffen wird.
2.3.1
Demos als Kulturgemeinschaft
In der essentialistischen Argumentation wird eine Gleichsetzung von Nation und Demos vorgenommen, so dass sich politische und kulturelle Identität im Prinzip überlappen. Die Vorstellung einer europäischen Wertegemeinschaft beruft sich somit auf die Vorstellung, dass kollektive Identitäten auf präexistente geschichtliche, sprachliche, kulturelle oder ethnische Gemeinsamkeiten gegründet sind und unabhängig vom Prozess der Institutionalisierung existieren. Eine kulturelle Identität wird somit zur Vorbedingung für die Herausbildung einer politischen Identität gemacht. Folglich wird für Europa unter dem Begriff der „Wertegemeinschaft“ die Notwendigkeit einer affektiv-kulturellen oder auch „dichten“ Identität gefordert. Während aus einer rein ethno-nationalistischen Perspektive die Herausbildung einer europäischen Identität letztlich unmöglich wird,76 versuchen Verfechter einer Kultur- bzw. Wertegemeinschaft die europäische politische Gegenwart mit einer europäischen Vergangenheit zu verbinden. In Anlehnung an die Konstruktion der Nation als „historische Gemeinschaft“ wird unter Rückgriff auf eine europäische Geschichte die Konstitution der europäischen politischen Gemeinschaft zu untermauern versucht, um dadurch zur Identitätskonstruktion beizutragen. Die Bestimmung dessen, was ‚Europa’ als eine Einheit ausmacht, kann dabei auf recht unterschiedliche Weise geschehen. Eine Möglichkeit besteht in der ideengeschichtlichen Auseinandersetzung mit Europa. Dabei geht es um die „Idee Europa“, also die Vorstellungen davon, was Europa sei und sein soll. Insbesondere Historiker aber auch Soziologen und Politologen haben sich der Frage nach der Entstehung, den Inter-
74
Der Begriff der Wertegemeinschaft wird in der Europäischen Debatte als Gegenmodell zum Begriff des Verfassungspatriotismus verwendet und ist damit häufiger anzutreffen als der Begriff der Kulturgemeinschaft. Diese Gegenüberstellung ist jedoch irreführend, da es sich ebenso beim Verfassungspatriotismus um Werte handelt, diese aber nicht „kulturell“, sondern politisch bestimmt werden. Ich bevorzuge hier den Begriff der Kulturgemeinschaft, da er hervorhebt, dass die Werte kulturell bestimmt werden. 75 Meyer (2004:39) 76 Siehe dazu Kapitel 3.2
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pretationen und Ausgestaltungen der „Idee“ Europa gewidmet77. Hierbei werden auch die kulturellen Deutungs- und Wertesysteme erforscht und nach dem Verhältnis von nationaler und kollektiver Identität gefragt.78 Darunter fallen zunehmend auch Arbeiten über die Bedeutung von Symbolen und „Erinnerungsorten“ wie z. B. Denkmälern, Mythen und Feiertagen etc. als wichtige Elemente für kollektive Identitätsbildungsprozesse.79 Die Bestimmung „Europas“ als Kulturraum propagiert damit die Vorstellung einer gewissen Einheit, die in der europäischen Geschichte vorfindbar sei und damit letztlich nur bewusst gemacht werden müsste. Probleme einer essentialistischen Bestimmung europäischer Identität Bevor auf die zweite und dritte Position, im gewissen Sinne als Gegenpole und Alternativen zur Vorstellung einer kulturell begründeten Identität eingegangen wird, soll anhand verschiedener Kritiken und unter Verweis auf die Diskussion um den Türkeibeitritt die Problematik der essentialistischen Position umrissen werden. An der Türkeidebatte kann mitunter abgelesen werden, inwieweit das Identitätsthema in der wissenschaftlichen aber auch öffentlichen Diskussion in dem Spannungsverhältnis zwischen universellen Werten und liberaldemokratischen Legitimationsbegründungen auf der einen Seite und dem Bedürfnis, das Adjektiv „europäisch“ für die Identitätskonstruktion spezifisch zu definieren, pendelt. Wo es letztlich um die Frage einer Grenzziehung und dessen, was eigentlich „europäisch“ sei, geht, stehen sich die Positionen einer Werte- bzw. Kulturgemeinschaft auf der einen Seite, und des Verfassungspatriotismus als auch einer minimalen Identitätsdefinition diametral gegenüber. In der neueren Forschungsdebatte ist jedoch auch eine Annäherung der beiden Deutungsstränge feststellbar. Die Vertreter einer europäischen Wertegemeinschaft argumentieren schließlich, dass eine europäische Identität nur auf der Grundlage eines historischen Erbes und gemeinsamer kultureller und religiöser Werte entstehen könne. Aus diesem Blickwinkel erscheint der Beitritt eines muslimisch geprägten Landes unverträglich mit einer – angeblichen – europäischen Identität. Dabei blendet jedoch die Vorstellung einer europäischen Identität auf der Grundlage einer „homogenen“ europäischen Kultur und Geschichte die historische Realität Europas weitgehend aus. Drei gewichtige Argumente können hierfür angeführt werden. Einerseits ist die Geschichte Europas selbst bereits durch kulturell-religiöse Spaltungen geprägt: Bei der Suche nach der historischen Bestimmung des kulturellen Europas wird mitunter auf den griechischen Mythos über den „Raub der Europa“ zurückgegriffen oder die „Geburt Europas“ im Mittelalter verankert. Dabei wird auf die römisch-lateinischen Wurzeln des Christentums verwiesen. Diese hatten sich wiederum aus einer „angeeigneten Synthese“ aus dem jüdischen und dem klassisch griechischen Erbe gespeist.80 Eine solche historische Rekonstruktion aus der Mythologie und dem Mittelalter heraus erscheint jedoch für eine moderne Sinnstiftung des heutigen Europas allzu weit entfernt, als dass es für die 77 Stellvertretend für viele können hier die historischen Arbeiten von Niess (2001) und Kaelble (2000, 2002) genannt werden, stellvertretend für soziologische Arbeiten vgl. z. B. Münch (1993), Münkler (1991). 78 Vgl. z. B. Westle (2003), Delhey (2004) 79 Vgl. z. B. Wintle (1996, 2000) 80 Brague (2002:25-33), Balli (2006b)
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Europäer in ihrem Alltag praktische Relevanz erlangen könnte. Das neuzeitliche Europa hingegen ist von zwei tiefen Spaltungen gekennzeichnet: Die erste war die Reformation, die die Einheit des westlichen Christentums aufbrach. Damit einher ging letztlich die Vorstellung von „Toleranz“ und „kultureller Vielfalt“. Zugleich entwickelte sich daraus auch eine gewisse Unfähigkeit, mit der neu gewonnen Pluralität umzugehen. Die zweite Spaltung, Ergebnis eines höchst konfliktreichen Prozesses, mündete schließlich in das europäische „Staatensystem“ und hier insbesondere in die Konstruktion der Nationalstaaten81. Die religiös-kulturelle Vielfalt ging somit einher mit einer Vielfalt der Nationen, die nicht eine homogene europäische Kultur repräsentieren. Im Rahmen moderner europäischer Demokratien sind vor diesem Erfahrungshintergrund keine kulturell-religiösen Werte mehr bestimmend, sondern nur noch politische. Dafür ist die im Zuge der Aufklärung aufgekommene Trennung der religiösen, soziokulturellen und politischen Sphären entscheidend.82 Eine liberale Demokratie als Produkt der Moderne ist folglich nicht mit religiösen und soziokulturellen Identitätsansprüchen vereinbar, da die Moderne im Wesentlichen auf der Vorstellung der Notwendigkeit einer Begründung von unsicherer Einheit aus realer Vielfalt beruht.83 Daran anknüpfend muss die prinzipielle Vorstellung einer politisch-kulturellen Homogenität auch im Rahmen der Nationalstaaten angezweifelt werden. Zwar konnte sich in diesen eine vermeintlich „einheitliche“ nationale Identität herausbilden, dennoch gibt es ebenso empirische Beispiele dafür, dass trotz kultureller Unterschiede und unterschiedlicher sozialer Praktiken eine gemeinsame politische Identität ausgebildet werden kann.84 Darüber hinaus herrschen auch innerhalb des Nationalstaates unterschiedliche Vorstellungen über die spezifischen Formen des Zusammenlebens und die weitere Ausgestaltung des politischen Gemeinwesens vor. Andererseits ist die Vorstellung einer europäischen Identität auf der Grundlage einer „homogenen“ jüdisch-christlichen europäischen Kultur und Geschichte historisch schon deshalb nicht haltbar, weil islamische kulturelle Einflüsse über Jahrhunderte hinweg in Europa nachzuweisen sind, insbesondere in Spanien, aber auch in anderen europäischen Ländern.85 Der Rückgriff auf die jüdisch-christlichen Wurzeln Europas im Rahmen der Türkei-Debatte wird als Argument gegen den Beitritt instrumentalisiert, wobei es weniger um historische Tatsachen geht als vielmehr um eine bewusste politische Abwehrstrategie. Dabei widerspricht dies letztlich auch den realgesellschaftlichen Fakten in europäischen Ländern, wonach 12 Millionen Muslime in Ländern der europäischen Union leben und in diesen Bürgerrechte besitzen.86
81
Vgl. detaillierter zur europäischen Kulturgeschichte Brague (2002), Balli (2006b), Joas (2005). Vgl. u. a. Meyer (2004, 2005a) 83 Meyer (2004:47ff) Meyer unterscheidet demnach drei Ebenen kultureller Identität – die Ebene der Glaubenskulturen, die Ebene soziokultureller Lebensformen und die Ebene der politischen Kultur. Eine politische Identität sei auf der letzten Ebene angesiedelt und mit unterschiedlichen Ausprägungen auf der ersten und zweiten Ebene ohne weiteres vereinbar. Demnach sei nicht eine bestimmte Kultur für die Herausbildung einer europäischen Identität ausschlaggebend, sondern nur die politische. Diese sei die Grundlage für eine politische Identitätsbildung. 84 Meyer nennt Indien als Beispiel für die Herausbildung einer politischen Kultur trotz grundlegender kultureller Heterogenität in religiösen und alltäglichen Praktiken. Meyer (2002a) 85 In diesem Zusammenhang wird zum einen auf die islamischen Einflüsse aus der Zeit der arabischen Herrschaft in Spanien verwiesen, zugleich aber auch auf die jahrhundertealte Überlappung europäischer und islamischer Traditionen in der Türkei verwiesen und nicht zuletzt auf die säkulare Revolution unter Kemal Mustafa Atatürk und die andauernde Orientierung des Landes an Europa. Vgl. Meyer (2004:151) 86 Meyer (2004:145-160) 82
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Kritisch kann sicherlich angemerkt werden, dass die Vorstellung eines Türkeibeitritts bei den Bürgern mitunter auf Ablehnung stößt und damit auch zu einer ablehnenden Haltung gegenüber der EU führen kann, was für einen Identitätsbildungsprozess nicht förderlich scheint. Nach Eurobarometer-Umfragen sind immerhin 55 % der EU-Bürger gegen einen Türkei-Beitritt87. Zudem antworten immer noch 55 % der Befragten, dass die kulturellen Unterschiede zu groß seien, als dass die Türkei in der EU aufgenommen werden solle.88 An erster und zweiter Stelle wurden jedoch politische und ökonomische Argumente betont, die erfüllt sein müssten, damit die Türkei der EU beitreten könne. Dabei wurde die Achtung der Menschenrechte (84 %) an erster Stelle genannt, sowie eine bessere ökonomische Situation der Türkei (76 %) an zweiter. Diese Ansichten decken sich aber weitgehend mit den Bedingungen der Kopenhagener Kriterien. Aus diesem ambivalenten Stimmungsbild seitens der Unionsbürger jedoch stichhaltige Argumente für oder gegen einen Türkeibeitritt ableiten zu wollen, wie es häufig im öffentlichen Diskurs der Fall ist, erscheint wenig fundiert. Insbesondere wenn man von der Notwendigkeit der Begründung politischer Entscheidungen und eines öffentlichen Diskurses auf der Grundlage von gemeinsamen demokratischen Normen ausgeht. Die Problematik einer historischen Bestimmung Europas als Kulturraum und damit als eine einheitliche, kulturell begründete identitätsstiftende Narration über das, was Europa ausmache, erscheint äußerst problematisch, da es wohl die eine europäische Narration nicht geben kann, aber auch die aktuellen politischen Realitäten ausgeblendet werden. Zudem stellt jede Auswahl kultureller Elemente bereits eine politische Entscheidung dar. „Treffender wäre da schon die Fragestellung, dass für die politische Identität Europas die Möglichkeit ungeregelter kultureller Vielfalt wesentlich ist. Die Identität Europas ist eine politische schon darum, da jede Verwendung kultureller Identität oder Differenz zu politischen Zwecken niemals etwas anderes sein kann als eine politische Entscheidung.“89
Ein weiterer Aspekt ist der, dass europäische Identität nicht im Gegensatz zu nationalen und regionalen Identitäten gedacht werden kann. Die These einer starken kulturellen Identität erinnert gerade an funktionalistische Integrationstheorien, die annahmen, dass die von der ökonomischen Integration ausgehenden Spill-Over-Effekte den Integrationsprozess vorantreiben und dabei zu einer Abnahme ethnischer, regionaler und nationaler Besonderheiten führen würden. Damit ginge dann ein Konvergenzprozess zwischen den Kulturen der Mitgliedsstaaten einher, der die vorherrschenden kollektiven Identitäten schwächen und automatisch die Herausbildung eines europäischen „Wir-Gefühls“ befördern würde.90 Eine starke kulturelle europäische Identität stünde somit in Konkurrenz zu den nationalen Identitäten. Diese Annahme wurde jedoch aufgrund der Zählebigkeit nationaler, regionaler und ethnischer Identitäten widerlegt, so dass kollektive Identitäten als „äußerst langlebig und kon87
Eurobarometer 64, S. 159 Eurobarometer 64, S. 161 89 Meyer (2004:233) 90 Westle verweist in diesem Zusammenhang auf die nach wie vor starken regionalen Identitäten in Westeuropa (Nordirland, Schottland und Wales, Baskenland und Katalonien, Flandern und Wallonien sowie Korsika) sowie auf die Re-Ethnisierungen in Osteuropa im Zuge der Transformationsprozesses nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion. Dabei merkt sie an, dass letztere zwar als Erscheinungen einer nachholenden Modernisierung und Nationenbildung interpretiert werden können, aber vieles dafür spricht, dass sie wie in den westeuropäischen Staaten ein Ausdruck stark verwurzelter und langlebiger Identitäten sind, die nicht einfach „wegdefinierbar“ seien. Westle (2003:116) 88
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textabhängig (re-)aktualisierbar, jedoch nicht als generell wegdefinierbar“91 angesehen werden. Damit ging letztlich die Einsicht einher, dass europäische Identität nicht im Gegensatz zu nationalen und regionalen Identitäten konzeptualisiert werden kann, sondern als komplementär zu betrachten ist.92 Fuchs (1999), wie auch viele andere, kritisierten eine vorschnelle Gleichsetzung von Demos und Nation in der europäischen Identitätsdebatte und gingen von einem Modell multipler Identitäten aus, in dem regionale, nationale und europäische Identität sich nicht ausschließen, sondern vielmehr koexistieren können. Die im Rahmen des Modells multipler Identitäten aufgekommene These der „Vielfalt in Einheit“ als wesentliches europäisches Identitätsmerkmal ist aber ebenfalls umstritten. Denn die Deklaration der „Vielfalt in Einheit“ als Charakteristikum einer europäischen Identität, also auf der Basis von Differenz, wird als unzureichend kritisiert, da dies letztlich ein Merkmal aller hochmodernen Gesellschaften ist. Meyer bringt dies auf dem Punkt, indem er ausführt: „Auch die Allerweltsformel, Europas Kultur finde seine Identität gerade in der Differenz, die Identität als Nichtidentität, als Einheit des Verschiedenen sei ihr Merkmal, führt aus dem Dilemma nicht heraus, denn dergleichen gilt heute in wachsendem Maße überall auf der Welt. Zumeist ist es, beim näheren Hinsehen, denn auch eher ein Beieinander des Verschiedenen als eine Einheit.“93
Nicht zuletzt in der kritischen Auseinandersetzung mit der essentialistischen Bestimmung europäischer Identität wurden alternative Identitätskonzeptionen für Europa formuliert. Als weitgehend konträre Positionen zum Konzept der Wertegemeinschaft sollen die Konzeptionen einer eher „dünnen“ europäischen Identität nun näher betrachtet werden. 2.3.2 Demos als Institutionen Nach der zweiten Lesart wird Demos analytisch als „unverzichtbares Subjekt von Demokratie“94 verstanden, welches allein durch die Schaffung von Institutionen und die Ausübung legitimer Souveränitätsrechte entstehe. So könne bereits der reine Wahlakt zum europäischen Parlament als Ausdruck eines europäischen Demos interpretiert werden. Obgleich dieses Verständnis „formal-logische Aussagekraft“ besitzt, da es die Bedeutung der politischen Institutionen als Bezugsrahmen für Identitätsbildungsprozesse betont, verkennt es dennoch die Tatsache, dass es in der Europäischen Union ein Demokratie- und Öffentlichkeitsdefizit gibt. Die komplexe Struktur der EU als ein dynamisches Mehrebenensystem, die nicht als souveräner Staat für die Bürger in Erscheinung tritt, erfüllt somit nur bedingt die notwendigen Voraussetzungen. Darüber hinaus kann eine derart minimalistische (dünne) europäische Identität, die sich im Wahlakt erschöpft, auch aus sozialpsychologischer 91
Westle (2003:116) Dabei betont Westle, dass diese Re-Ethnisierungsbestrebungen immer gegen den Zentralstaat gerichtet seien und als eine Gegenreaktion auf die Bedingungen der Moderne, der Globalisierung und der Supranationalisierung in Form der EU, manche aber auch in Übereinstimmung mit dem Subsidiaritätsprinzip der EU und den damit verbunden Möglichkeiten regionaler Subventionen entstehen. Daraus folgert Westle, dass das gesamteuropäische Ziel einer Überwindung partikularer regionaler oder nationaler Einheiten, wie es in den Gründungsverträgen der EG verankert war, letztlich auch die Gefahr einer Zersplitterung Europas in viele Regionen führen könne. 92 Vgl. u. a. Westle (2003), Bruter (2005), Meyer (2004), Fuchs (2000) 93 Meyer (2004:233) 94 Meyer (2004:39)
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Sicht angezweifelt werden. Demnach bilden Individuen erst in der Interaktion und im Diskurs eine Gruppen- bzw. kollektive Identität heraus. Der reine Wahlakt zum Europäischen Parlament alle fünf Jahre nach nationalen Wahlverfahren, mit Europa-Wahlkämpfen, die von nationalen Themen dominiert werden, sowie eine äußerst geringe Wahlbeteiligung stehen aus der Sicht der realpolitischen Verhältnisse und institutionellen Bedingungen der EU einer solchen minimalistischen (letztlich libertären) Lesart entgegen. Daraus folgt die dritte Lesart, wonach ein Demos erst im Rahmen einer politischen Praxis formal und „real“ geschaffen wird. 2.3.3 Demos als politische Identität In der dritten Lesart konstituiert sich der Demos formal gesehen im Sinne der zweiten Lesart durch die Schaffung von verbindlichen Institutionen der Entscheidungsfindung. Diese Formalgeltung bedarf jedoch auch einer Realwirkung, um dem normativen Anspruch gerecht zu werden, wonach es sich um „ein seiner Souveränität bewusstes und danach handelndes kollektives Subjekt“95 handelt. Dies kann letztlich nur im Rahmen einer politischen Verständigungsgemeinschaft geschehen. Eine europäische Identität im Rahmen eines Verfassungspatriotismus beruht damit auf einer liberal-demokratischen Konzeption politischer Legitimation, die auf der Verbindung zwischen den Annahmen einer rechtlich-politischen Freiheit und Gleichheit in ihrer Bedeutung sowohl aller im politischen Gemeinwesen als auch der Volkssouveränität beruht. Die Legitimation eines politischen Gemeinwesens ist somit in den Mitgliedern desselben begründet. Die Legitimation und Stabilität hängt somit von der „Verbindung“ zwischen den autoritativen Institutionen und den Bürgern ab. Eine solche Verbindung wird letztlich in Form einer Identifikation der Bürger mit den in der „Verfassung“ niedergelegten Werten und Zielen erreicht, denn erst dadurch erlangt diese ihre Legitimations- und Kohäsionskraft. Damit sich ein solches Bewusstsein der Zugehörigkeit der europäischen Bürger herausbilden kann, bedarf es eines demokratischen Prozesses. Erst in der Interaktion der Staatsbürger und einer europäischen Öffentlichkeit realisiert sich somit die politische Gesellschaft, der europäische Demos. Ergo kann sich eine Bürgeridentität letztlich nur im Rahmen einer gut funktionierenden politischen Öffentlichkeit und aktiven Zivilgesellschaft herausbilden. Jedoch wird weder eine Uniformität der politischen Meinungen und Verständnisse vorausgesetzt, noch besteht die Notwendigkeit, dass letztlich alle Teile der Gesellschaft zu jeder Zeit politisch aktiv werden. Die Akzeptanz der prinzipiellen Möglichkeit, die eigenen politischen Vorstellungen durch Mehrheitsbildung durchsetzen zu können, reicht dabei bereits aus.96 In den bisherigen Ausführungen wurde europäische Identität ausschließlich als Gegenstand der Demokratietheorie betrachtet, in neueren, vorrangig empirischen Studien finden sich aber auch soziologische Zugänge.
95 96
Ebd. Vgl. Meyer (2004:38-47)
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2.4 Alternativkonzeptionen europäischer Identität auf Forschungspraxis Die dichotomische Darstellung einer europäischen Wertegemeinschaft und eines Verfassungspatriotismus muss insoweit relativiert werden, dass zwischen den beiden Positionen auch eine Annäherung zu verzeichnen ist, so z. B. wenn Verfechter einer verfassungspatriotischen Identität eine „Einbeziehung von Geschichte“ als Untermauerung der Verfassungsprinzipien als identitätsförderlich postulieren. „Im Gegensatz zum „Nationalismus“ gilt es weniger, dem Eigenen selbsterbaulich oder selbstgerecht zu gedenken, denn aus bitteren Erfahrungen zu lernen. Geschichte wird also in Gestalt einer (selbst-)kritischen, reflexiven Aneignung der europäischen Vergangenheit relevant, und dieser Auseinandersetzung wird identitätsstiftender Charakter zugesprochen.“97
Neben einer solchen kritischen Vergangenheitsauseinandersetzung wird zudem eine den liberaldemokratischen Prinzipien moderner Verfassungsstaaten verpflichtete europäische Geschichtsschreibung propagiert. Mit dieser „historischen Wende“, so Balli (2006a), habe der Verfassungspatriotismus eine wesentliche Grundprämisse der Position der Wertegemeinschaft übernommen: Und zwar die Notwendigkeit einer „eigenen“ Vergangenheit für das „Selbstbewusstsein und Selbstverständnis der politischen Gemeinschaft“.98 Verfechter kulturorientierter Identitätstheorien in Form einer Wertegemeinschaft haben umgekehrt ebenso eine Annäherung an die Position des Verfassungspatriotismus vollzogen, indem sie zugestehen, dass eine „gemeinsame Vergangenheit“ letztlich nicht determiniert, sondern immer auch umstritten ist. Damit wird eine prinzipielle Offenheit der kulturellen Bestimmung Europas zugestanden, die als eine politische Aufgabe zu verstehen ist und keinem kulturellen Wesen Europas entspringe.99 Insbesondere Cedermann (2001) hat mit seinem Konzept einer „bounded integration“100 eine Alternativkonzeption zwischen Wertegemeinschaft und Verfassungspatriotismus vorgeschlagen, indem er drei aus der Nationalismusforschung bekannte identitätsstiftende Mechanismen wie Bildung, Sprache und Massenmedien aufgreift. Demnach müssten erstens europaweite Massenmedien geschaffen, zweitens das Erlernen von Fremdsprachen gefördert sowie auf die Vielfalt der Amtssprachen verzichtet und drittens, die Bildungspolitik in Europa stärker vergemeinschaftet werden. Die Realisierungschancen eines derart anspruchsvollen Programms sind jedoch in absehbarer Zeit gering, da insbesondere der 97
Balli (2006a:173) Balli (2006a:172ff.). Als die wohl „erstaunlichste Öffnung einer der beiden Positionen“ führt Balli die Stellungnahme Jürgen Habermas’ (2004:51-53) an, indem er ausführt: „Drei Aspekte sollen hier hervorgehoben werden: erstens expliziert Habermas die seiner Ansicht nach für Europa identitätsstiftenden Merkmale/Besonderheiten: „Säkularisierung, Staat vor Markt, Solidarität vor Leistung, Bewusstsein für die Paradoxien des Fortschritts, Abkehr vom Recht des Stärkeren, Friedenorientierung aufgrund geschichtlicher Erfahrung“ (Habermas 2004:51). Die bewusste Aneignung dieser Wertorientierung geschieht zweitens, in der Deutung historischer Erfahrungen, wodurch der Identität die notwendige Tiefe und Stabilität verliehen werde. Drittens geschieht diese Identitätsbildung angesichts von Herausforderungen: die Aufgabe der Herausbildung eines europäischen „Selbstbewusstseins und ein(es) eigenen Profils“ (Habermas 2004:53) stelle sich im Zusammenhang mit der als solcher von Habermas identifizierten Notwendigkeit gemeinsamen politischen Handelns – einer Notwendigkeit angesichts der gegenwärtigen globalen Situation.“ Balli (2006a:173f.), Habermas (2004) 99 Ausführlicher dazu Balli (2006a:172-178). Balli verweist jedoch ebenso darauf, dass diese Annäherung nicht durchgängig ist, sondern auch weiterhin dichotome Positionierungen anzutreffen sind, insbesondere wenn z. B. eine „wertfreie“ Verfassung für die EU propagiert würde. 100 Siehe auch Kapitel 2 98
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Vorschlag einer offiziellen Amtssprache auf enorme nationale Widerstände stoßen würde, was Cedermann auch selber sieht.101 Ebenso waren bisherige europaweite Medienprojekte wie z. B. Euronews von wenig Erfolg gekrönt, so wie eine Einigung auf eine europäische Bildungspolitik in absehbarer Zukunft wenig Aussicht auf Erfolg besitzt.102 Andere Arbeiten betonen die notwendige Unterscheidung zwischen einer europäischen Identität als Ausdruck eines kulturell-geographischen Zugehörigkeitsgefühls einerseits und einer legitimierenden politischen Identität der EU andererseits.103 „The principle burden of this chapter has been that it is wrong to confuse the two separate issues of a European cultural identity in a general sense with a European identity as a political legitimator for a new modern state. Another way of saying the same thing is that one should not confuse Europe with the EU.“104
Obgleich Wintle (2000) die Existenz einer europäischen Identität postuliert, beurteilt er die Chancen einer politisch legitimierenden europäischen Identität wesentlich vorsichtiger. In den Ansätzen einer sich langsam herausbildenden europäischen Bürgergesellschaft sieht er jedoch eine mögliche Grundlage für die Herausbildung einer politischen Identität. So kommt er zu dem Schluss: „In the first place, there is a great deal of European identity in existence, in various forms and various places and in the minds of various groups. It is partial and patchy; much of it is poorly coordinated and some of it is manipulated, but it is certainly there. On the whole, however, it is the sort of cultural identity which can command a benign association or membership of a loose club. The kind of collective identity which provides political legitimacy for a modern state at the European level also exits, but it is much scarcer and even more incomplete. The EU and its predecessors have made some progress with top-down measures to achieve this, and there are signs of a nascent European civil society which might eventually provide essential and complementary bottom-up initiatives. But yet it does not amount to very much.”105.
Empirische Bottom-up-Ansätze Bruter hat in seinem Konzept einer politischen (personalen) Identität die beiden Dimensionen einer „kulturellen“ und einer „staatsbürgerlichen“ (‚civic’) miteinander verbunden. Die kulturelle Komponente definiert er als Zugehörigkeitsgefühl gegenüber einer spezifischen politischen Gruppe auf der Grundlage kultureller, religiöser, ethnischer oder sozialer Ähnlichkeiten und expliziert dabei für eine europäische Identität: „In the European context, cultural identity is simply the sense of closeness some citizens feel to fellow Europeans 101
Vgl. Cedermann (2001:152-174) Cedermann (2001) Eine ähnliche Argumentation findet sich auch bei Kielmansegg (2003), der die Herausbildung einer kollektiven Identität nur im Rahmen einer Kommunikations-, Erfahrungs- und Erinnerungsgemeinschaft für möglich hält. Da diese Bedingungen jedoch innerhalb der EU nicht gegeben seien, kommt Kielmansegg zu dem Schluss, dass es eine kollektive europäische Identität nicht geben könne und verweist auf eine Strategie der Renationalisierung, die auf eine intergouvernementale Legitimation über den Ministerrat und die Parlamente abhebt. Kielmannsegg (2003:58ff.) 103 Vgl. Wintle (2000), Bruter (2005) 104 Vgl. Wintle (2000:27f.), so auch Bruter (2005:11) 105 Wintle (2000:27) 102
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than to non-Europeans.”106. Die staatsbürgerliche Komponente bezeichnet die Identifikation mit den politischen Strukturen, also den politischen Institutionen, Regeln und Rechten für das politische Zusammenleben.107 Damit löst er die verbreitete dichotome Betrachtung kultureller und politischer Identität auf, indem er diese als zwei gespiegelte Komponenten des Verhältnisses zwischen institutionellen und „menschlichen“ Grundlagen einer politischen Gemeinschaft ansieht. Er vertritt also die Auffassung, dass beide Komponenten in den Köpfen von Menschen gleichzeitig existieren können.108 In seiner umfangreichen Studie über europäische Identität auf individueller Ebene konnte er die progressive Herausbildung einer europäischen Massenidentität109 – wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß in den einzelnen Mitgliedsstaaten – in den letzten 30 Jahren nachzeichnen, wobei er die Rolle der Institutionen hervorhebt, die dazu einen erheblichen Beitrag geleistet haben. Darüber hinaus konnte er in Interviews feststellen, dass die Befragten sehr genaue Vorstellungen vom dem hatten, was für sie „europäisch“ und „Europäische Identität“ bedeutet, wobei ihre Antworten stärker die „staatsbürgerliche“ (civic) Dimension betonten, die sich auf die EU als politisches System bezogen. „(…) citizens actually have specific conceptions in mind, particularly a „civic“ conception of their Europeanness, based on relevance of the European Union as a relevant political system that generates some of their rights, duties and symbolic civic attributes. To a lesser extent, they also hold a “cultural” conception of this identity, based on a perceived shared baggage, which may, according to the individual, thought to consist of a variety of historical, cultural, social, or moral attributes.”110
Zudem konnte Bruter, wie auch Westle, empirisch belegen, dass Europäische Identität letztlich nicht als Widerspruch zur nationalen Identität aufgefasst wird und in den Gründerstaaten stärker verankert ist als in den später hinzugekommenen.111 Bruter ging es in seiner Studie jedoch nicht um die Frage einer „kollektiven Identität“ im Sinne einer Bestimmung prinzipiell geteilter europäischer Gemeinsamkeiten, sondern um ein individuelles Gefühl der Zugehörigkeit von Menschen zu Europa und der EU. Im Rahmen von politischen Wertestudien, die nach geteilten politischen Wertevorstellungen unter EU-Bürgern fragen, werden die Chancen einer europäischen Identität vorsichtiger bewertet. Fuchs (2002a) kommt in seiner Studie zu dem Ergebnis, dass die Unterstüt106
Bruter (2005:169) Bruter (2005:169). Die staatsbürgerliche Komponente definiert er als „the perception of belonging to the European Union as an instutional construction and of the status of the European Union as a relevant political system“. 108 Bruter erachtet die Vorstellung, dass Staatsbürgerschaft und Identität zusammenfallen könnten bzw. völlig übereinstimmend sein könnten, als idealistisch. Zudem grenzt Bruter sich von Studien ab, die Identität als eine Art Status (z. B. Staatsbürgerschaft) bestimmen. Demgegenüber macht er geltend, dass politische Identität eine tiefere persönliche und affektive Konstitution aufweise. In diesem Sinne spricht er politischer Identität einen Eigenwert zu und sieht sie nicht als eine Art Unterordnung sozialer Identität an. Bruter verwendet den Identitätsbegriff im Sinne der unter 2. dargestellten Bedeutungsveränderung des Begriffs hin zu einer subjektiven Selbstbeschreibung, die demnach am ehesten auf der subjektiven und persönlichen Ebene erforscht werden muss, auch wenn es sich um eine kollektive Identität handeln soll. Vgl. Bruter (2005:1-19) 109 Massenidentität bezeichnet hierbei lediglich eine affektive persönliche Identifikation vieler mit Europa bzw. der EU. Das Gemeinsame besteht somit dann lediglich darin, dass sich viele mit Europa bzw. der EU identifizieren. Ob diese Identifikationen jedoch auf der Basis geteilter Vorstellungen oder Werte etc. bestehen, wird dabei nicht untersucht. 110 Bruter (2005:166) 111 Vgl. Bruter (2005: 171f.), Westle (2003) 107
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zung des Europäischen Integrationsprozesses weniger von der demokratischen Performanz112 des Systems, als vielmehr von der systemischen, insbesondere der ökonomischen Leistung abhängt. Da jedoch Unterstützung auf der Grundlage systemischer Performanz grundsätzlich fragil ist und in Krisenzeiten wegbrechen kann und damit nicht dem stabilisierenden und legitimierenden Anspruch von „Identität“ entspricht, plädiert er für die Institutionalisierung demokratischer Werte im Rahmen einer Verfassung, die letztlich identitätsstiftend wirken könnten. In Anlehnung an Eastons Modell politischer Unterstützung bedürfe die EU für den weiteren Integrationsprozess und ihre Stabilität einer Unterstützung „um ihrer selbst willen“, also weitgehend abgekoppelt von der systemischen Performanz auf der Grundlage einer Bindung an institutionalisierte demokratische Werte. Daraus leitet Fuchs ab: „Nach unserer Analyse ist es unwahrscheinlich, dass ein Druck zur Verwirklichung einer europäischen Demokratie von den Bürgern selbst ausgeht. Die ganz überwiegende Mehrheit der Bürger der EU weist zwar eine Bindung an demokratische Werte auf, aber diese werden nicht oder nur kaum als ein Bewertungskriterium für die EU herangezogen. Die Option der Einrichtung einer europäischen Demokratie müsste deshalb von den Eliten politisiert werden und für diese Politisierung bilden die Wertprioritäten der Bürger eine mobilisierende Ressource. Inwieweit eine solche Politisierung aber realistisch ist, ist eine andere Frage.“113
Fuchs bleibt insofern skeptisch gegenüber der Realisierbarkeit der notwendigen Voraussetzungen zur Herausbildung einer europäischen Identität. Hierbei verweist er auf die hinzukommenden Schwierigkeiten im Rahmen der Osterweiterung, wobei er davon ausgeht, dass die Verteilungskämpfe zwischen den Mitgliedsstaaten erheblich zunehmen werden, was mit einer Abwendung der Bürger einhergehend könnte, da die EU dann nicht mehr eine Wohlfahrtssteigerung für alle sicherstellen könne. Die Hürden für die Herausbildung einer europäischen Identität, die Fuchs sieht, sind sicherlich nicht von der Hand zu weisen, jedoch könnte die mehrheitliche Bindung von EU-Bürgern an demokratische Werte als Anknüpfungsmaterial dienen. Westle (2003) kommt zu einem ähnlichen Urteil. Obgleich sie von ihren empirischen Ergebnissen ableitet, dass liberale und demokratische Rechte in der Wahrnehmung der Bevölkerungen eher als Merkmale der nationalen Staatsangehörigkeit angesehen als dass sie in Verbindung mit der EU gebracht werden, schlussfolgert sie, dass die vorfindbaren Ähnlichkeiten und Gemeinsamkeiten der Befürwortung der demokratischen Staatsform und politischen Grundorientierungen ein „wesentliches Grundlagenmaterial für die politische Vergemeinschaftung bilden.“114 Dafür müsse die EU jedoch stärker als bisher in der politischen Alltagserfahrungen der Bürger als demokratisches Gebilde in Erscheinung treten.115 112
Fuchs legt seiner Studie das Modell der Unterstützung eines politischen Systems nach Easton (1965, 1975) zugrunde. Die demokratische Performanz stellt einen normativen Bewertungsstandard dar, indem er abfragt, inwieweit die Wirklichkeit des politischen Regimes den eigenen normativen Erwartungen entspricht. Welche Erwartungen das sind, hängt letztlich von der Wertebindung der Bürger ab. Nach dem Modell politischer Unterstützung nach Easton ist die höchste Ebene die Systemkultur, die aus den Bindungen der Bürger an demokratische Werte konstituiert wird. Easton nennt diese Unterstützungsform Legitimität auf der Grundlage der diffusen Unterstützung (im Unterschied zur spezifischen, die an den Output gekoppelt ist). Vgl. Fuchs (2002a:31f.), ausführlich zum Modell von Easton s. Westle (1989) 113 Fuchs (2002a:29-56, hier: 52) 114 Westle (2003:146) 115 Ebd.
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2.5 Fazit zur Europäischen Identitätsdebatte Die Diskussion hat zunächst einmal aufzeigen können, dass europäische Identität in einem doppelten Spannungsverhältnis angesiedelt ist: erstens zwischen den Polen Nation und EU und zweitens zwischen den Polen Partikularismus und Universalismus. Für die weitere Auseinandersetzung und Konzeptualisierung von politischer europäischer Identität können hier bereits einige wichtige Erkenntnisse festgehalten werden. Das Konzept einer politischen Projektidentität als eine spezielle Vorstellung von politischer Identität greift diese Punkte im Wesentlichen wieder auf, worauf im dritten Kapitel näher eingegangen wird. Die Forschungsdiskussion über europäische Identität weist eine theoretisch-normative und eine empirische Dimension auf. In der theoretischen Debatte wird die Notwendigkeit zur Herausbildung einer kollektiven europäischen Identität als Legitimationsgrundlage der EU mehrheitlich anerkannt und demokratietheoretisch abgeleitet. Die Chancen, notwendigen Voraussetzungen und Quellen für die Schaffung derselben werden hingegen sehr unterschiedlich bewertet. Insbesondere die dichotome Konzeptualisierung von kollektiver Identität in „essentialistischer“ und „konstruktivistischer“ Perspektive ist die Hintergrundfolie, auf der die theoretisch-normative Debatte geführt wird. Je nach Ansatz werden die Chancen für die Herausbildung einer europäischen Identität, ihr „Umfang“ (dicht vs. dünn) und damit einhergehend die Einschätzungen ihrer Wirkung bzw. Funktionalität unterschiedlich bewertet. Ausgehend vom Konzept nationaler Identitäten, in dem eine weitgehende, wie auch immer zu verstehende Überlappung kultureller und politischer Identität postuliert wird, wird die Entstehung einer analogen europäischen Identität vor dem Hintergrund der kulturellen Vielfalt der EU entweder als unmöglich angesehen oder als kulturell zu bestimmende Identitätspolitik aufgefasst, die klare Grenzen zu setzen habe. Demgegenüber sehen Verfechter einer rein politischen Identität (Staatsbürgeridentität) diese als eine logische Konsequenz und demokratietheoretisch adäquate Form kollektiver Identität im Rahmen hochmoderner Gesellschaften, die zudem weniger Gefahr läuft „aggressive“ Züge anzunehmen, wie es im Namen nationaler Identitäten vor allem im 20. Jahrhundert der Fall war. Dieses Argument wird auch von neueren Forschungsergebnissen gestützt, die im Rahmen der Nationalismusforschung für ethnische im Gegensatz zu demoitischen Identitäten ein höheres Abgrenzungs- und Aggressionspotential aufgezeigt haben.116 Während kulturelle Bestimmungsversuche insbesondere sozialpsychologische Mechanismen der „Abgrenzung“ für Identitätsbildung aufgreifen, argumentieren Verfechter einer Staatsbürgeridentität aus einem normativen Demokratieverständnis heraus. Die dichotome Betrachtung hat die Schwierigkeit, dass sie verkürzt und polarisiert und wichtige empirische Fragen dabei ausblendet. Vertreter diskurstheoretisch-universalistischer Identitätskonzeptionen können letztlich nicht beantworten, ob eine Übereinstimmung in bestimmten demokratischen Werten auch zu einer kollektiven Identität, zum angestrebten Wir-Gefühl führt, und ob eine solche Werteübereinstimmung im Rahmen von Konflikten tragfähig sein wird. Es geht letztlich um die Frage, wie das bestehende Spannungsverhältnis zwischen exklusiv europäischem Partikularismus und universalen normativen Geltungsansprüchen nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch gelöst werden kann, so dass am Ende die sozialpsychologischen Bedingungen für eine kollektive Identitätsbildung und zugleich aber auch demokratietheoretische Ansprüche erfüllt werden. Beide Ansätze müssen sich letztlich der Frage 116
Westle (2003:124)
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der empirischen Realität stellen, da man bisher weder von einer europäischen Erinnerungsgemeinschaft noch von einer europäischen Kommunikationsgemeinschaft, die beiden Ansätzen als Bedingung zur Identitätsbildung zugrunde liegen, ausgehen kann. Hierbei kann die empirische Perspektive, die zwar ebenfalls gewisse Schwierigkeiten birgt und unterschiedliche Bewertungen erfährt, dennoch weiterhelfen. Neuere empirische Studien können zwar belegen, dass es unter europäischen Bürgern positive Einstellungen zum europäischen Integrationsprozess gibt, jedoch scheinen diese positiven Einstellungen auf Dauer nicht ausreichend für die Stabilität und Legitimation des politischen Projektes, da sie vorwiegend auf den output bezogen bleiben117. Zugleich werden aber auch gemeinsame demokratische Wertorientierungen der Bürger der unterschiedlichen Mitgliedsstaaten konstatiert, die zwar noch nicht unbedingt mit der EU in Verbindung gebracht würden, aber durchaus als eine Grundlage für die Herausbildung einer europäischen Identität dienen könnten.118 Gerhards (2005) hat in seiner Studie zu den kulturellen Unterschieden in der EU die neuen mittel- und osteuropäischen Staaten sowie die Türkei miteinbezogen. Die darin zum Vorschein kommenden Unterschiede im Bereich der politischen Wertorientierungen sah er als mögliche Folge des Modernisierungsrückstandes dieser Länder an, so dass mit dem Aufholen dieses Rückstandes eine grundlegende Konvergenz als möglich erachtet wurde. Dies wird auch von weiteren Forschungsergebnissen gestützt, die eine Angleichungstendenz europäischer Identifikation der Bürger in den alten Mitgliedsstaaten über die Dauer und je nach Zeitpunkt des Beitritts ausmachen konnten.119 Hierbei spielt allerdings eine Reihe von Faktoren eine Rolle, so dass eine monokausale Erklärung zwischen der Dauer der Mitgliedschaft und der Identifikation mit der EU allein nicht ausschlaggebend ist. Dennoch kann nach Bruter festgehalten werden, dass eine – worauf auch immer basierende – europäische Identität mittlerweile von recht vielen Menschen subjektiv empfunden wird und nicht im Widerspruch zur nationalen Identität steht bzw. stehen muss. Die empirischen Ergebnisse zeigen somit auf, dass die theoretische Diskussion um eine europäische Identität eine gewisse empirische Entsprechung findet, jedoch bisher keine Aussagen darüber getroffen werden können, inwieweit es sich um eine transnationale kollektive Identität der Bürger handelt und ob auf der Grundlage geteilter Werte auch ein europäisches transnationales Wir-Bewusstsein erwachsen wird, welches Verteilungskämpfe und andere Konflikte auszuhalten vermag. Die empirischen Ergebnisse konnten aufzeigen, dass die Institutionenbildung und die persönliche Erfahrung zentrale Bedingungen für eine Identifikation des Einzelnen mit der EU darstellen.120 Zudem erscheint es vor dem Hintergrund der spezifischen Konstruktion der EU als ein dynamisches Mehrebenensystem wenig sinnvoll, europäische Identität in Konkurrenz zu nationaler Identität konzeptualisieren zu wollen. Dass eine europäische Identität an die Stelle der nationalen Identität tritt, ist aus heutiger Perspektive und anhand der bisherigen empirischen Ergebnisse sehr unwahrscheinlich, vielmehr sollte sie als komplementär zu dieser betrachtet werden. Dies wiederum lässt die Frage aufkommen, worauf sich eine europäische Identität stützen kann und muss, um eine legitimierende Funktion für das europäische Mehrebenensystem bereitzustellen. Aus der dargestellten Identitätsdebatte lassen sich für die Entwicklung des Konzeptes einer 117
Vgl. Fuchs (2002) Vgl. Westle (2003) 119 So z. B. Bruter (2005: 134-149), Nissen (2004) 120 Vgl. Bruter (2005) 118
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europäischen Projektidentität in Anlehnung an Meyer (2004) im vierten Kapitel vier Erkenntnisse ziehen: Erstens, dass europäische Identität als eine Legitimationsquelle der EU nur als eine politische anzusehen ist. Zweitens, dass diese eine relativ dünne und als komplementär zur nationalen gedacht werden muss. Drittens, dass (politische, institutionalisierte) Werte den inhaltlichen Bezugs- und Verständigungsrahmen liefern und viertens, dass eine europäische Identität bisher erst in Ansätzen vorzufinden ist. Da der Begriff der Identität zentral für diese Untersuchung ist, aber höchst vieldeutig verwendet wird, gilt es sich zunächst bisherige sozialwissenschaftliche Identitätsdefinitionen bewusst zu machen, um auf dieser Grundlage dann ein eigenes, tragfähiges Konzept – unter Berücksichtigung der bisherigen Erkenntnisse aus der EU-Debatte – zu entwickeln. Dieser Aufgabe widmet sich das nun folgende Kapitel.
3 Theorien der Identität: Personale, soziale und kollektive Identitäten
Eine Arbeit, die sich mit Identität auseinandersetzt, unterliegt immer der Schwierigkeit, dass es sich dabei um ein vieldeutiges Konzept handelt, zu dem es eine Fülle von Abhandlungen aus historischer, sozial- oder kulturwissenschaftlicher und zunehmend auch politikwissenschaftlicher Perspektive gibt, wobei die den einzelnen Studien zugrunde gelegten Identitätsbegriffe oftmals ganz unterschiedliche Interpretationen erfahren. So schrieb der Historiker Lutz Niethammer im Jahr 2000 von der „unheimlichen Konjunktur“ eines „Plastikwortes“121 und Hans-Ulrich Wehler charakterisierte „Identität“ ganz ähnlich als ein „amorphe[s], allzeit verwendungsfähige[s] Passepartout-Wort.“122 Was die beiden Historiker hier zum Ausdruck bringen, ist ihr Unbehagen gegenüber einer allzu beliebigen Verwendung von Identitätskonzepten in den Humanwissenschaften. Zunächst werden personale Identitätstheorien vorgestellt und deutlich gemacht, wie der Begriff der Identität im sozialwissenschaftlichen Diskurs einen Bedeutungswandel erfahren hat (3.1.). Daran anschließend werden die unterschiedlichen Betrachtungsweisen des Problems der Identität im Rahmen von Theorien sozialer und kollektiver Identität verdeutlicht. Unter 3.2. wird anhand der Nationalismusforschung aufgezeigt, wie politische Identitäten als eine Art kollektiver Identität zumeist die Hintergrundfolie für die unterschiedlichen Positionen in der europäischen Identitätsdebatte abbilden. Abschließend wird das relativ neue Modell „soziale Identitätskonstruktion“ nach Catsells umrissen und ein Bezug zur europäischen Identitätsdebatte hergestellt. Ausgangsfrage ist dabei, inwieweit diese aus der Nationalismusforschung stammenden Ansätze die Möglichkeit supranationaler Identitätsbildung bewerten. 3.1 Sozialwissenschaftliche Identitätstheorien und ihre Forschungsansätze Andreas Reckwitz (2001) zeigt auf, dass das sozialwissenschaftliche Identitätskonzept seit Mitte der 1970er Jahre einen Bedeutungswandel erfahren hat, was er auf eine veränderte gesellschaftliche Problemlage und Wahrnehmung derselben zurückführt. Demnach sei der „Boom“ des Identitätskonzepts, der sich in einer Vielzahl von Analysen aus soziologischer, aber auch ethnologischer, psychologischer, historischer und interdisziplinärkulturwissenschaftlicher Perspektive123 niederschlage, Ausdruck der Auseinandersetzung mit veränderten politischen und sozio-kulturellen Problemlagen. Dies habe nicht zuletzt zu einer neuen Fragestellung bezüglich des Identitätskonzepts und somit zu einer grundlegen-
121
Niethammer (2000) Wehler (2003) 123 Reckwitz (2001:22ff.) 122
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den neuen Semantik geführt.124 Während in der klassischen philosophischen Tradition „Identität“ als ein Problem der Ontologie und Logik behandelt wurde und somit in Anlehnung an den lateinischen Ursprung des Begriffes (idem = der-, dasselbe) die Frage nach der „Gleichheit zweier Objekte“ oder der „Selbigkeit eines Objektes über die Zeit hinweg“ nach sich zog, befasst sich der aktuelle humanwissenschaftliche und philosophische Identitätsdiskurs mit der Frage des „Selbstverstehens“ von Individuen und Kollektiven. „Identität wird nicht mehr als ein logisches, sondern als ein kulturelles Problem betrachtet, als ein Problem des Sinns, den Individuen und Kollektive ihrem Handeln und sich selbst zuschreiben“125
Dieser Wandel in der sozialwissenschaftlichen Identitätssemantik vollzog sich im Rahmen des so genannten cultural turn sowie vor dem Hintergrund einer aufkommenden Kritik an linearen Modernisierungsmodellen, die die Moderne letztlich als das Produkt eines im späten 18. Jahrhundert beginnenden kontinuierlichen Rationalisierungs- und funktionalen Differenzierungsprozesses begriffen. Im Zuge dieser skeptischen Auseinandersetzung mit den klassischen Modernisierungsvorstellungen wurde die vorherrschende Vorstellung eines Dualismus von Tradition vs. Moderne in Frage gestellt. Dabei ging es darum, gesellschaftliche und strukturelle Veränderungen angemessener erklären zu können, die nun als Phänomene einer Hochmodernen (Wagner 1994), Post- oder reflexiven Moderne (Lyotard 1979 und Beck 1986) beschrieben werden126. Mit der kulturellen Wende (cultural turn) in der Sozialwissenschaft seit den 1980er Jahren wurden soziale Akteure wieder stärker als Subjekte wahrgenommen. Infolgedessen wurde vermehrt nach den subjektiven Sinn- und Weltdeutungsmodellen sowie den Handlungsmodalitäten sozialer Akteure gefragt. Diese Fokussierung auf die sozialen Praktiken beförderte die Annahme, dass in ihnen symbolische Ordnungen zur kognitiven Organisation der sozialen Wirklichkeit zum Tragen kommen127. Damit einher gingen sowohl eine Hermeneutisierung als auch eine Historisierung sozialer Phänomene. Denn „wenn symbolische Codes Handeln und Sozialität organisieren, dann erscheinen jene Codes, auf deren Grundlage sich Handelnde selbst interpretieren – als Individuum oder als Teil eines Kollektivs – für ihre soziale Praktiken von besonderer Bedeutung“.128 Vor dem Hintergrund dieser beiden Entwicklungen, einem realhistorischen Strukturwandel in Form einer immer komplexer werdenden Gesellschaft und einem damit zusammenhängenden Paradigmawechsel im
124
Reckwitz (2001:21ff.) Reckwitz (2001:21) 126 Reckwitz beruft sich hierbei auf Wagners Einteilung in eine klassisch organisierte Moderne und eine Hochmoderne, die den Versuch darstellt, den „scheinbar monolithischen ‚Block’ der ‚Moderne’ historisch-soziologisch ‚aufzubrechen’“ Reckwitz (2001:27). Wagner stelle die „ungleichzeitige Gleichzeitigkeit klassisch-moderner und hochmoderner Sozialitäts- und Kulturformen“ (ebd.) heraus, was insbesondere mit Bezug auf das Identitätsthema folgerichtig erscheint, da es erlaubt, Eigenschaften, die gemeinhin „hochmodernen“ Identitäten zugeschrieben werden, auch in vermeintlich ‚traditionalen’ außereuropäischen Kulturkreisen erklären zu können. Rechwitz (2001:25). Vgl. dazu ferner: Wagner (1995) und Castells (1997, 2002) Im Folgenden rekurriere ich im Anschluss an Reckwitz auf Wagners Begriff der „Hochmoderne“ (seit den 1970er Jahren) als analytische Abgrenzung zur klassisch organisierten Moderne der 1930er bis 1970er Jahre. 127 Wegweisend war hier das Werk von Berger/Luckmann (1972) über die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. 128 Reckwitz (2001:24f.) 125
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Zuge des cultural turn, avancierte Identität zu einem Schlüsselkonzept in den Humanwissenschaften. Identität wird jedoch in den jeweiligen humanwissenschaftlichen Forschungsdisziplinen unterschiedlich konzeptionalisiert, wobei die Frage, wessen Identität beleuchtet wird, als ein grundlegendes Unterscheidungsmerkmal dienen kann. Während personale Identitätstheorien vom Individuum ausgehen, fragen kollektive Identitätstheorien nach der Identität eines Kollektivs oder einer Gruppe in seiner Gesamtheit. 3.1.1 Theorien personaler Identität Ausgangs- und Bezugspunkt von Theorien „personaler Identität“ ist immer das Individuum. In der Sozialwissenschaft erlangte das Konzept personaler Identität im Rahmen interaktionistischer und phänomenologischer soziologischer Theorien breite Resonanz. Grundlegende Theorien stellten dabei die Identitätskonzepte von Erik H. Erikson (1973) und George H. Mead (1934) dar. Erikson entwickelte als erster aus psychoanalytischer Perspektive eine Entwicklungstheorie personaler Identität, wonach (personale) Identität als eine über Kontinuität und Kohärenz beschreibbare Subjektstruktur verstanden wird. „Ich-Identität“ ist somit ein (insbesondere in der Adoleszenzphase erworbenes) „Sich-Selbst-Gleichsein“, welches sich im Rahmen von psycho-sozialen Krisen in der Auseinandersetzung mit den sozialen Erwartungen seiner Umwelt zu bewähren hat. Die primäre Aufgabe des „Ichs“ ist danach eine gelungene Internalisierung sozialer Identitäten, indem es diese in eine persönliche konsistente Form zu bringen und aufrechtzuerhalten vermag.129 Nach Mead, Begründer des symbolischen Interaktionismus, bildet das Individuum seine Identität (Self) durch Interaktions- und Kommunikationsprozesse heraus, wodurch Divergenzen und Konflikte in differenzierten modernen Gesellschaften direkte Auswirkungen auf die Identitätsbildung einer Person haben.130 Die Herausbildung des Self findet in Form eines komplexen Zusammenspiels von Me und I statt, wobei das Me die erlernten, verinnerlichten sozialen Rollenerwartungen gegenüber anderen und sich selbst und das I die spontane und kreative Komponente der Persönlichkeit repräsentiert. Das I als Kern oder „wirkliches Ich“ des Subjekts entwickelt sich im Dialog und in der Auseinandersetzung mit seiner Außenwelt weiter.131 Demnach ist eine wesentliche Entwicklungsaufgabe einer Person im Rahmen ihrer Sozialisation darin zu sehen, ihr ‚Gegenüber’ nicht mehr bloß als Einzelperson zu sehen, sondern in ihm die allgemeinen gesellschaftlichen Normen und Werte zu reflektieren (Prozess der Einbeziehung als „generalisierten Anderen“). Das Self muss permanent versuchen, eine Balance zwischen den sozialen Erwartungen (Me) und dem I herzustellen. Beiden Ansätzen gemein ist die Vorstellung von Identität als einer beständigen Dispositionsstruktur, die es gegenüber den sozialen Erwartungen der Umwelt aufrechtzuerhalten bzw. auszubalancieren gilt. Mead hat jedoch in Abgrenzung zum auf Kohärenz basierenden Identitätsverständnis Erikons Identitätsbildung als ein relativ flexibles Konstrukt aufgefasst. Mit der zunehmenden Ausdifferenzierung der Gesellschaft in der Hochmoderne wurde die Vorstellung von Identität als etwas ‚Konstantem’ und ‚mit sich Identischem’ angezweifelt 129
Erikson (1973), Hill/Schnell (1990) Hill/Schnell (1990:3f.), Mead (1973:184ff. und 355ff.), Joas (1980: 132f.) 131 Mikler (2005:219) 130
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und ein Perspektivenwechsel eingeleitet. Die Frage, wie personale Identität aufrechtzuerhalten sei, rückte in den Hintergrund zugunsten der Frage, wie sich Handelnde selbst verstehen. Der Fokus wurde stärker auf die Frage des Sinns gelenkt, welchen sich Individuen (und auch Kollektive) selbst zuschreiben. Hier können zwei Deutungsstränge bezüglich des Identitätskonzepts unterschieden werden, die jeweils unterschiedliche Akzentuierungen vornehmen: das ‚reflexive Selbst’ und das ‚postmoderne Selbst’.132 Die individuelle Selbstbehauptung des Einzelnen und die sozialen Reaktionen darauf verlangen in hochmodernen Gesellschaften eine Identität, die vermehrte soziale Spannungen und Widersprüche auszuhalten vermag.133 Sowohl Krappmann (1973) als auch Keupp (1988) stellen ihre Theorien explizit in einen soziologischen Rahmen, indem sie die gesellschaftlichen Bedingungen für die Identitätsbildung betonen. Krappmann schließt an die Theorie Meads an und betont den kommunikativen Charakter von Identitätsbildung. Identität ist somit „ein ständiges Aushandeln und Interpretieren innerhalb konkreter Interaktionssituationen“134 und sei erst mit dem Aufkommen ausdifferenzierter Gesellschaften entstanden. Identität wird „mit der Ausbildung des (relativ) autonomen bürgerlichen Individuums“ möglich, weil erst mit der historischen Entstehung widersprüchlicher gesellschaftlicher Verhaltenserwartungen das notwendige Ausmaß an Verhaltensspielraum zur personalen Identitätsbildung vorhanden sei.135 Keupp beruft sich in seiner Identitätstheorie maßgeblich auf die Analysen der Soziologen Beck und Giddens über die Bedingungen des Individuums in der „reflexiven Moderne“ und entwirft davon ausgehend das Konzept einer PatchworkIdentität, wonach sich das Individuum in der sich zunehmend enttraditionalisierenden, flexiblen und fragmentierten Gesellschaft „aus vorhandenen Lebensstilen und Sinnelementen [seine] eigenen kleinen lebbaren Konstruktionen“136 bastelt. Trotz des kreativen Bastelcharakters bleibt der Patchwork-Identität aber eine innere Kohärenz erhalten. Meyer (2002) betont in diesem Zusammenhang, dass das Gelingen einer solchen Identitätsbildung prinzipiell möglich ist, in einer offenen Gesellschaft aber von mehreren Faktoren abhängt: „Es mag in mehr als einer Hinsicht eine offene Frage bleiben, ob die Fülle dieser Rollen und Mosaiksteine vom Einzelnen selbst oder von Anderen noch zu einem großen und einheitlichen Bild zusammengefügt werden und ob sie dies überhaupt zulassen. (…) Unter den Bedingungen einer offenen Gesellschaft und damit immer auch widerspruchsvoller sozialer Erwartungen ist für eine stabile Identität nicht der Akt der Identifikation das Entscheidende, sondern bei niemals restloser Übernahme sozialer Erwartungen die Fähigkeit zu Empathie mit anderen Identitäten, Distanz zu den jeweils übernommenen eigenen Rollen und Toleranz gegenüber den Uneindeutigkeiten. Diese Fähigkeiten müssen durch die gesellschaftlichen Verhältnisse ermöglicht sowie vom Einzelnen ausgehalten werden können. Beide Seiten dieses Verhältnisses bedingen und erhalten sich im Falle des Gelingens wechselseitig.“137
Das reflexive Selbst in Anlehnung an die Theorien von Beck, Giddens und Keupp betreibt kontinuierlich Identitätsarbeit, indem es flexibel mit den ihm zur Verfügung stehenden Sinnangeboten umgeht. Es „verfolgt die Veränderungen seines Selbstverstehens und seiner 132
Reckwitz (2001:22ff.) Meyer (2002:41f.), vgl. auch Mikler (2005:219) 134 Hill/Schnell (1990:4) 135 Hill/Schnell (1990:4) 136 Keupp (1988:432) 137 Meyer (2002:42f) 133
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Lebensführung als ein individuelles, durchaus zielgerichtetes, wenn auch fragiles Projekt, indem es diverse kulturelle Codes zu seiner Selbstkonstitution heranzieht“138 Postmoderne Identitätstheorien hingegen sprechen der Persönlichkeitsentwicklung eine kohärente Ausrichtung ab und gehen davon aus, dass im Individuum widersprüchliche Identitäten wirken, die in jeweils unterschiedliche Richtungen drängen. Demnach konstruiert der Einzelne Konzepte von sich selbst auf der Grundlage kulturell geprägter und selektiver Wahrnehmungen, so dass je komplexer und heterogener die Umwelt wird, desto uneinheitlicher die konstruierten Selbstkonzepte des Einzelnen werden. Die Identitäten (multiple selves) des Individuums wechseln je nach Kontext und weisen keine feststehende Struktur mehr auf.139 Mitunter erscheint das Selbst im Rahmen postmoderner Theorien „als ein in unterschiedliche, im Extrem inkommensurable Hintergrundsprachen fragmentiertes Dividuum“140. 3.1.2 Theorien sozialer beziehungsweise kollektiver Identität Im Rahmen der Theorien personaler Identität ist deutlich geworden, dass der Einzelne stets in Auseinandersetzung mit seiner sozialen Umwelt seine eigene Identität entwickelt und aufrechtzuerhalten (Erikson) bzw. auszubalancieren (Mead) hat oder diese in beständiger Identitätsarbeit neu konstituiert (Beck; Keupp). Der Fokus der Betrachtung liegt hierbei primär auf dem Selbst bzw. dem Ich im Identitätsbildungsprozess. Im Rahmen sozialer und kollektiver Identitätstheorien liegt der Fokus der Betrachtung stärker auf der sozialen Umwelt in Form von sozialen Rollen, Gruppen oder kollektiven Vorstellungswelten. Demgemäß lassen sich drei Perspektiven auf das Problem sozialer/kollektiver Identität differenzieren: 1. 2. 3.
Kollektive (oder soziale) Identität als der Teil personaler Identität, der sich auf soziale Rollen und spezifische Positionen in der Gesellschaft bezieht. Kollektive (oder soziale) Identität als ein individuelles Zugehörigkeitsbewusstsein/gefühl zu einer bestimmten Gruppe. Kollektive Identität als die Identität eines Kollektivs, wobei sich das Kollektiv in seiner Gesamtheit durch gewisse Gemeinsamkeiten, Vorstellungen etc. auszeichnet.
Während die erste und zweite Perspektive maßgeblich im Rahmen sozialpsychologischer aber auch soziologischer Theorien verankert sind, entstammt die dritte Betrachtungsweise von Identität vor allem kulturanthropologischer Ansätze und der historischen Nationalismusforschung. Wie oben bereits angesprochen finden sich in der Europäischen Forschungsdiskussion sowohl soziale als auch kollektive Identitätskonzeptionen. Die Unterscheidung zwischen sozialer Identität (im Sinne der ersten beiden Perspektiven) und kollektiver Identität (im Sinne der dritten Perspektive) wird hier zur besseren Verständlichkeit verwendet. In der europäischen Identitätsdebatte wird eine solche Unterscheidung weitgehend vernachlässigt, was zu Verwirrungen führen kann.
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Reckwitz (2001:33) Mikler (2005:219f.) 140 Reckwitz (2001:33) 139
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Die erste Perspektive, maßgeblich beruhend auf sozialpsychologischen und zum Teil soziologischen Fragestellungen, definiert „soziale Identität“ als das Bewusstsein des Individuums über seine soziale Rolle bzw. Position in der Gesellschaft. Stellvertretend können hierfür die Rollentheorien der 1950er und 1960er Jahre genannt werden, die kollektive Identität auf der Basis einer Theorie sozialer Differenzierung als soziale Identität konzeptualisiert haben. Kennzeichnend für diesen Deutungsstrang ist die Annahme, dass Individuen verschiedene Rollen übernehmen und somit je nach Kontext unterschiedliche Verhaltensweisen aufweisen. Talcott Parson (1951), Begründer der strukturfunktionalistischen Richtung, als auch Erving Goffmann (1959), der dem interaktionistischen Zweig zuzurechnen ist (wie Mead), gehen davon aus, dass „soziale Identitäten in der modernen Gesellschaft an die funktional differenzierten Teilsysteme und die dortigen sozialen Rollen gekoppelt sind“141. In der Selbst- und Fremdzuschreibung des Individuums zu einer sozialen Rolle oder einer spezifischen Funktion innerhalb einer ausdifferenzierten Institution kommt die soziale Identität zum Ausdruck. Das Individuum besitzt demnach mehrere soziale Identitäten, die es zu koordinieren hat, d.h. mit den Rollenerwartungen, sozialen Normen und Werten und unterschiedlichen Positionen umgehen zu können. Dies bedeutet jedoch auch, dass kollektive Identität als soziale Identität letztlich nur in Anbindung an die unterschiedlichen Rollen und Funktionen „kollektiv“ erscheint, nicht aber im Sinne einer affektiven oder symbolischen Selbstzuschreibung zu einer Gemeinschaft gedacht wird.142 Die zweite Perspektive lässt sich anhand der Theorie sozialer Identität nach Tajfel und Turner (1986) verdeutlichen. Auf der Grundlage empirischer minimal-group Experimente in seiner Untersuchung mit dem Titel The social identity theory of intergroup behavior wird soziale Identität als der Teil des Selbstkonzepts eines Individuums definiert, das „sich aus seinem Wissen um seine Mitgliedschaft in sozialen Gruppen und aus dem Wert und der emotionalen Bedeutung ableitet, mit der diese Mitgliedschaft besetzt ist“.143 Im Rahmen sozialer Interaktion kategorisiert ein Individuum seine soziale Umwelt nach gemeinsamen Merkmalen. Da jede Person eine Vielzahl – zum Teil widersprüchliche – Merkmale aufweist, hängt es vom jeweiligen Kontext ab, welche Mitgliederkategorie in welcher Situation und unter welchen Bedingungen zum Tragen kommt. Insofern kann eine soziale Identität unter Umständen so lange unbedeutend für eine Person sein, bis sie im Rahmen einer spezifischen Interaktion Relevanz erlangt.144 Tajfel und Turner postulieren in ihrer Theorie vier verschiedene Kontinua, wobei sie zwischen interpersonellem und intergruppalem Verhalten unterscheiden. Das eine Extrem des Kontinuums beinhaltet eine Interaktion zwischen zwei oder mehr Individuen, die durch ihre interpersonelle Beziehung und die individuellen Charakteristika derselben geprägt sind, während das andere Extrem eine Interaktion zwischen zwei oder mehr Individuen oder Gruppen umfasst, die sich ausschließlich aus der jeweiligen Gruppenmitgliedschaft der Beteiligten ergibt und keine persönlichen Beziehungen aufweist. Kollektive Identitäten entstehen damit erst am so genannten ‚intergruppalen Ende’ des Kontinuums und beziehen sich auf bedeutende kategoriale Unterschiede zwischen Gruppen (z. B. Ethnie, Nation, Alter, Klasse, Geschlecht etc.).145 Soziale Identität, als ein individuelles Wissen um eine Zugehörigkeit und die affektive und evaluative Bedeu141
Reckwitz (2001:28), vgl. auch Parson (1951), Goffmann (1977) Reckwitz (2001:28f.) Tajfel (1982:102) 144 Tajfel/Turner (1986:7-24), vgl. auch Mikler (2005:221f) 145 Kohli (2005:114) 142 143
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tung dieser Zugehörigkeit, wird nach Tajfel und Turner über eine Binnendefinition (der Eigengruppe) und eine Außenabgrenzung (zu Fremdgruppen) konstruiert. Die dritte Perspektive kam im Rahmen kulturanthropologischer Ansätze auf, in deren Kontext das Problem kollektiver Identität nicht mehr primär als die Identität eines Individuums in sozialer Interaktion mit einem Kollektiv verstanden wird, sondern vielmehr wortwörtlich als die Identität des Kollektivs in seiner Ganzheit.146 Im kulturtheoretischen Ansatz nach Taylor hängt Identität (bzw. das Selbstverstehen) von historischen kulturellen Codes ab, deren Kollektivität und Kontingenz in der Moderne jedoch weitestgehend unsichtbar sind. Indem diese Codes offen gelegt werden, können historisch und kulturell dichte Kollektividentitäten stabilisiert werden. Postkoloniale und feministische Ansätze verweisen auf „Naturalisierungs-“ bzw. „Essentialisierungsprozesse“ der kulturell-historischen Codes, wodurch der Konstruktionscharakter von kollektiven Identitäten unkenntlich gemacht wird/werden soll. In den Lebensstiltheorien treten an die Stelle klassischer Bezugspunkte kollektiver Identität (z. B. Klasse, Nation) neue Referenzpunkte für Identitäten. Kollektividentitäten entstehen demnach um geteilte Codes der Lebensführung, aus denen heraus dann eine narrative individuelle Identität geschaffen wird. Lebensstile sind im Gegensatz zu Rollen nicht gesellschaftlich determiniert, sondern wählbar. Poststrukturalisten betonen wiederum die Hybridisierung von kollektiven Identitäten.147 Als prinzipielle Gemeinsamkeit kulturanthropologischer Ansätze kann die Frage nach den spezifischen historischen und kulturellen Codes (Lebensstil, Nation, Ethnie, Geschlecht, gutem Leben etc.) gelten, die zur Identitätskonstruktion eines Kollektivs herangezogen werden. Kollektive Identität in dieser Hinsicht findet ihren Niederschlag vor allem in der Nationalismusforschung, in dessen Rahmen sich zwei Deutungsstränge herausgebildet haben. 3.2 Die Nation als „Prototyp“ kollektiver Identität Dem Konzept nationaler Identität als Kategorie kollektiver Identität wurde in der Forschung lange Zeit die größte Aufmerksamkeit zuteil, und es kann in gewisser Hinsicht als „Prototyp“ kollektiver Identität bezeichnet werden.148 In der Nationalismusforschung wird 146
Stachel merkt dazu an: „Ein wenig vereinfacht ließe sich dabei behaupten, dass in der Begriffskoppelung der kollektiven Identität die Identität der Sozialpsychologie und Soziologie, das Kollektive dagegen der Kulturanthropologie entnommen wurde (Stachel 2005:407). Außerdem betont er, dass in der weiteren politisch-ethnischen Auseinandersetzung innerhalb der USA beide Ansätze miteinander verbunden wurden, jedoch eine Reflektion oder Trennung der Bedeutungsebenen nicht vollzogen wurde, was letztlich zu einem „Verlust an begrifflicher und konzeptueller Klarheit“ (ebd.:415) geführt hätte. Ausführlich zur historischen Genese der Identitätsterminologie in den Sozial- und Kulturwissenschaften, s. ebd. 147 Reckwitz (2001), vgl auch Stachel (2005). Obgleich Reckwitz diesen im Rahmen des cultural turn aufgekommenen Identitätskonzeptionen eine methodische Brauchbarkeit für die empirische Analyse kollektiver und personaler Identitäten zuerkennt, sieht er dennoch die Gefahr „einer Dramatisierung der Stabilität von Differenzen sowie im Gegensatz dazu eine Dramatisierung der permanenten Veränderbarkeit von Identitäten.“ Während erstere darin besteht, dass eine „Reifizierung der Differenzen“ kollektiver Identitäten aufgrund essentialistischer Merkmale vorgenommen wird, besteht letztere in einer Überbetonung der Veränderbarkeit von Identitäten und somit letztlich auch in der Inkommensurabilität von Sinnsystemen. Reckwitz (2001:34ff.) 148 Im Zuge des Booms des Identitätskonzepts in den Humanwissenschaften ging auch eine stärkere Auseinandersetzung mit regionalen, ethnischen und kulturellen kollektiven Identitäten einher, was Andreas Reckwitz als Ausdruck des veränderten politisch-kulturellen Problemhaushalts hochmoderner Gesellschaften ansieht. Kollektive Identitätsdebatten kamen insbesondere im Zuge der Immigrationsbewegungen des 20. Jahrhunderts sowie im post-kolonialen und feministischen Umfeld auf. „Kontroversen um kollektive Identitäten werden offenbar überall
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gemeinhin zwischen primordialen und modernen Ansätzen unterschieden, während die ethnische Identitätsforschung begrifflich zwischen primordialists und optionalists trennt.149 In anderen Zusammenhängen findet sich ebenso die Unterscheidung zwischen so genannten ‚harten’ bzw. ‚dichten' und ‚weichen’ bzw. ‚offenen’ Identitäten. Allen diesen Begriffspaaren liegt die Frage nach der Logik von Identitätsbildung150 zugrunde. Die Nation wird dann entweder als ein modernes (modern) oder als ein im gewissen Sinne ursprüngliches bzw. naturwüchsiges (primordiales) Phänomen interpretiert. Während primordiale bzw. harte/dichte nationale Identitäten als etwas Ererbtes bzw. Vorgegebenes und damit als weitgehend stabil angesehen werden, erscheinen offene (optionalist) bzw. weiche Identitäten als form- und veränderbar, konstruiert und kontextabhängig.151 Diese primär theoretischen Sichtweisen davon, wie Identitäten beschaffen sind, was ihre ‚Natur’ ist, kann anhand der divergierenden Vorstellungen von Nationen verdeutlicht werden. Zwei divergierende Vorstellungen der Nation, eine essentialistische und eine konstruktivistische gibt es, wobei als Differenzierungskriterium das Verhältnis von Kultur und Politik fungiert.152 3.2.1
Nationale Identität in essentialistischer Perspektive
Grundsätzlich gehen essentialistische Ansätze von geteilten, objektivierbaren Merkmalen der Mitglieder eines Kollektivs aus, aufgrund derer sich eine kollektive Identität „quasinatürlich“ herausbildet. Darunter werden biologische genauso wie kulturelle Merkmale wie Sprache und Geschichte gefasst.153 In einer solch kulturalistischen Perspektive wird die Nation vom Staat abgetrennt und existiert als eigenständige vorpolitische kulturelle Gemeinschaft, bevor es zur Ausbildung einer politischen Institution, und damit staatlicher politischer Identitäten kommt.154 Aus essentialistischer Perspektive entstehen nationale politische Identitäten relativ automatisch aus dem kulturellen „Rohmaterial“ ethnischer Gruppen. „The essentialist approach is primarily driven by cultural background variables. According to this logic, each ethnic core produces a political identity more or less straightforwardly. In its most elaborated form, essentialist theory allows cultural and political actors to play a mediating role, though they are restricted to articulating a given cultural heritage. Here cultural “primitive units” such as ethnic cores are presumed to exist, and the task of the nationalist entrepreneur is to ‘rediscover’ and transform it into a politically operational identity.”155
Während Essentialisten von der Kontinuität und Objektivierbarkeit kollektiver Identitäten ausgehen, verstehen Konstruktivisten nationale kollektive Identitäten als kontingent. dort relevant, so sich im Nationalstaat potentiell unterschiedliche Herkunftskulturen gegenüberstehen“, was letztlich in fast allen Nationalstaaten der Fall sei. Reckwitz (2001: 23f) Andere kollektive Identitäten, die ebenfalls einen territorialen Bezugspunkt aufweisen, sind lokale, regionale, supranationale oder globale bzw. kosmopolitische Identitäten. 149 So z. B. Gleason (1983), vgl. Stachel (2005:405) 150 Vgl. Cedermann (2001:141) 151 Vgl. Stachel (2005:405), Cedermann (2001:141) 152 Cedermann (2001:141) 153 Vgl. Mikler (2005:223f) 154 Cedermann (2001:146). Als ein wesentlicher Vertreter dieser Position gilt Anthony D. Smith (1981, 1995). 155 Cedermann (2001:142)
3 Theorien der Identität 3.2.2
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Nationale Identität in konstruktivistischer Perspektive
Kollektive Identitäten sind aus konstruktivistischer Sicht veränderbar und Gegenstand eines fortwährenden Aushandlungsprozesses. Ethnische oder nationale Identitäten sind demnach nicht „quasi-natürlich“, sondern eine Erfindung in Form einer spezifischen Interpretation der Geschichte. Die These von der ‚Erfindung der Nation’ (Imagined Communities, Anderson) in Anlehnung an Eric Hobsbawm (Erfindung von Traditionen) und Ernest Gellner (Nationen als modernes Produkt) besagt, dass sich nationale Identitäten auf der Grundlage erfundener Traditionen und Erinnerungen konstitutieren. Dabei wird Nationalismus in Anschluss an Gellner und Hobsbawm als das politische Prinzip verstanden, welches die Deckungsgleichheit von politischen und kulturellen Grenzen postuliert.156 Sie verwerfen die Vorstellung, dass Nationen als natürliche Gebilde anzusehen seien. Vielmehr würde der Nationalismus, der einer Nation vorausgeht, bisweilen Kulturen erfinden und real existierende auch wieder vernichten.157 Gellner dazu: „Die Kulturen, die er [der Nationalismus] zu verteidigen und wiederzubeleben beansprucht, sind häufig seine eigenen Erfindungen oder werden bis zur Unkenntlichkeit modifiziert.“158
Dabei handele es sich aber nicht um reine Willkür, da die nationalen Narrativen einen Sinn ergeben und sowohl mit der Vergangenheit als auch der angestrebten Zukunft vereinbar sein müssen. Benhabib (1999) folgert in diesem Sinne, dass die „kulturellen Fetzen und Flicken […] eine Geschichte erzählen, die einen Sinn ergibt, die einleuchtend und in sich stimmig ist und die Menschen so motiviert, dass sie bereit sind, für sie ihr Leben zu opfern.“159 Im Gegensatz zu den Essentialisten betonen Konstruktivisten die ausschlaggebende Rolle von Politik für die Herausbildung einer nationalen politischen Identität. Sie negieren die essentialistische Sicht, wonach es eine direkte und quasi-natürliche Entwicklung von kulturellen hin zu politischen Einheiten gäbe. Vielmehr betonen sie einen (pro)aktiven Identitätsbildungsprozess, der durch die Auswahl und Manipulation kultureller Symbole herbeigeführt wird. Die Auswahl dessen, was der nationalen Identitätskonstruktion dienlich sein soll, findet demnach nicht auf der Grundlage „tatsächlicher“ bzw. „objektiver“ Gemeinsamkeiten und Unterschiede statt, sondern stellt einen Akt der Entscheidung dar, was letztlich als bedeutsam erachtet wird. Eine maßgebliche Rolle spielen hierbei die politischen Akteure, aber auch andere gesellschaftliche Eliten: „Since cultural systems are inherently multi-dimensional, history does not deliver ready-made packages such as ethnic cores. Instead, intellectuals and political activists select the ethnic cleavages to be mobilized or suppressed, a process that may produce new cultural combinations.”160
So betont auch Cedermann, dass die Konstruktion der Nation nicht völlig beliebig ist, sondern gewissen Einschränkungen unterworfen ist. Demnach unterscheidet er zwei Logiken: 156
Hobsbawm (1991:20) Hobsbawm (1991:21), Gellner (1991:77) Gellner (1991:87) 159 Benhabib (1999:25), zit. nach Mikler (2005:224) 160 Cedermann (2001:142) 157 158
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eine instrumentelle/rationale Logik der Konsequenz („logic of consequence“) und eine soziologische Logik der Angemessenheit („logic of appropriateness“). „Instead of assuming culture to be the starting point, instrumental constructivists begin with political-identity-formation emphasizing the autonomy of political factors (typically driven by external material forces), while treating culture as a mere side-effect of the process. Maximizing their influence, political leaders mobilize the population in question by carefully selecting out the cultural cleavages to be activated. Yet other constructivist approaches complement the instrumental logic with an institutional feedback effect stabilizing the connection between culture and identity formation. (…) This interpretation allows for an ‘ecological’ perspective on identity-formation, which limits the freedom of choice of political entrepreneurs by blocking or deflecting their initiatives. Without ruling out rational agency, such an explanation postulates an institutional ‘lock-in’ effect that traces how identity-formation is affected by the availability of cultural raw material and ethnic boundaries that acquire an autonomous role feeding back into the political process.”161
Während die Verfechter einer rein instrumentellen Logik die Konstruktion nationaler Identität fast ausschließlich durch aktive Identitätspolitik anerkennen, argumentieren Konstruktivisten wie Calhoun (1997), dass nationale Identitätsdiskurse sich nicht auf politische Manipulation oder Staatsbildung reduzieren lassen, sondern immer auch eine unabhängige kulturelle Dimension aufweisen würden. Calhoun präzisiert dies, indem er ausführt: „the development and spread of nationalist discourse (…) appears in cultural arenas not directly defined by state-making projects, and has often informed popular action to reform or resists patterns of state making.“162
Cedermanns Position kann somit als eine Modifizierung der radikal-konstruktivistischen Lesart von Nationen angesehen werden. Demnach sind Nationen immer Konstruktionen, da sie keine ursprünglichen Phänomene darstellen163; zugleich aber auch nicht völlig aus der Luft gegriffene Gebilde, sondern solche, die sich auf gewisse aus der Kultur selektierte Merkmale stützen. Die Debatte innerhalb des Konstruktivismus dreht sich somit darum, inwiefern kulturelle Merkmale ebenso konstitutiv für nationale Identitätsbildungsprozesse sind und den Rahmen für Identitätspolitik einschränken, indem kulturelle und ethnische Merkmale unabhängig in den politischen Prozess zurückwirken und diesen dadurch beeinflussen. Dabei wird angenommen, dass die kulturelle Unterfütterung kollektiver politischer Identitäten diese stabiler bzw. ‚dichter’ machen, da sie dann nicht allein auf rationalen Beweggründen basieren, sondern eine gewisse Überlappung von kultureller und politischer Identität darstellten.
161
Cedermann (2001:142f) Calhoun (1997:11), zit. nach Cedermann (2001:143) 163 Etwas lapidar könnte man sagen, dass Nationen nicht vom Himmel gefallen sind. 162
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3.2.3 Nationale Identität zwischen Essentialismus und Konstruktivismus Nach Cedermann lassen sich vor dem Hintergrund der Frage nach der Möglichkeit supranationaler Identitätsbildungsprozesse vier Positionen entlang zweier Dimensionen unterscheiden. Die eine Dimension verläuft entlang der Logik von Identitätsbildungsprozessen (Essentialismus vs. Konstruktivismus). Die zweite Dimension beruht auf der Frage, inwieweit nationale Identitäten beibehalten bzw. ersetzt werden. Daraus ergeben sich folgende vier Positionen: Ethno-Nationalismus, Pan-Nationalismus, Post-Nationalismus sowie die einer „bounded“ Integration. Abbildung 1:
Four Analytical Perspectives on Supranational Identity-Formation Viability of identity-formation beyond the nation-state:
The logic of identityFormation: Essentialism Constructivism
Retention
Supersession
Ethno-nationalism
Pan-nationalism
Bounded integration
Post-nationalism
Quelle: Cedermann (2001:145)
164
Aus ethno-nationalistischer Perspektive wird die Möglichkeit der Herausbildung einer supranationalen Identität als weitgehend unmöglich angesehen, da sie eine direkte Relation zwischen kulturellen Gruppen und politischen Identitäten voraussetzen. Transnationalen „multikulturellen“ Gebilden wie der EU fehle es demnach an historischer Verwurzelung, so dass eine emotionale, affektive Identifizierung der Massen ausbleiben wird. Nach Smith erfüllt nur der Nationalstaat die notwendigen politischen, funktionalen Bedingungen der Moderne und sei zudem historisch verankert.164 Die von einer Minderheit vertretene pan-nationalistische Perspektive hingegen bejaht die Möglichkeit einer kollektiven Identität jenseits des Nationalstaates. Dabei geht sie davon aus, dass es größere kulturelle Einheiten als den Nationalstaat gibt, die „lediglich“ wiederentdeckt werden müssten. Für die Herausbildung einer europäischen Union wird aus dieser Perspektive die Existenz einer europäischen kulturellen Zivilisation vertreten, die erst durch die Nationalstaatsbildung zerstört wurde und demnach wieder hergestellt, ja wiederbelebt werden kann.165 Der Ansatz einer bounded integration geht ähnlich wie ethno-essentialistische Ansätze von der Resistenz der Nationalstaaten aus, jedoch auf der Basis einer anderen Argumentation. Im Kern besagt diese, dass nationale Identitäten durch explizite Politiken und Mechanismen konstruiert und aufrechterhalten werden und eben nicht eine Verlängerung kultureller Muster darstellen. Im Sinne Andersons (1991) werden moderne Nationen als imagined communities angesehen, die trotz der Tatsache, dass sie erfunden sind, real existierende Formen annehmen, die im höchsten Maße identitätsstiftend wirken, da sie die wesentlichen Bedingungen zur Aufrechterhaltung und Stabilisierung
Führender Vertreter dieser Position ist Anthony D. Smith. Vgl. Cedermann 2001 Vgl. Smith (1995:128f.). Cedermann nennt als maßgeblichen Vertreter dieser Minderheiten-Position Denis de Rougemont (1965). Eine ähnlich kulturalistische Argumentation sieht er bei Samuel Huntington vorliegen, den er wie folgt zitiert: „The European Community rests on the shared foundations of European Culture and Western Christianity (Huntington, 1993:27)“. Cedermann (2001:150).
165
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3 Theorien der Identität von Identität in der modernen Gesellschaft erfüllen. Auch wenn dieser Ansatz die Möglichkeit supranationaler Identität theoretisch anerkennt, werden die Chancen für einen solchen Identitätsbildungsprozess im Hinblick auf die EU sehr skeptisch bewertet.166 Gründe dafür werden u. a. im reziproken Verhältnis von Kultur und Politik angesiedelt und in der Notwendigkeit klarer Grenzen und identitätsaufrechterhaltender Mechanismen und Institutionen, wie sie im Nationalstaat verwirklicht wurden.167 Der post-nationalistische Ansatz ist derjenige, der wie der vorherige die grundsätzliche Möglichkeit einer europäischen Identität anerkennt, im Unterschied dazu jedoch die starke Anziehungskraft (bzw. optimale Beschaffenheit) des Nationalstaates als kollektiven Identifikationsrahmen nicht als Hindernis für die Konstruktion einer politischen europäischen Identität ansieht. Grundlage der Argumentation bildet die Annahme einer (möglichen) Trennung von Politik und Kultur: „(…) this modernist program insists on the primacy of politics as a functional response to expanding material conditions of production. Modern communications created the nation-state, but since technology continues to develop, political organization will keep up by increasing its own scale. Eventually this trend will break the politico-cultural bond of nationalism.”168
Nach Habermas, führender Vertreter dieses Ansatzes (im Rahmen der EU Debatte), kann dieser Prozess der Politisierung bzw. Rationalisierung anhand des Bedeutungswandels des Begriffs der Nation aufgezeigt werden. Dabei zeichnet er nach, wie der Begriff der Nation die Bedeutung einer ethnisch-kulturellen Abstammungsgemeinschaft beinhaltete, sich dann aber ab Mitte des 18. Jahrhunderts zu einem politischen Begriff, im Sinne der Staatsbürgerschaft, entwickelte. Diese wiederum sei ein konstitutives Merkmal demokratischer Gemeinwesen. Habermas sieht im „Nationalbewusstsein […] eine spezifisch moderne Erscheinung der kulturellen Integration. Das politische Bewusstsein nationaler Zugehörigkeit entsteht aus einer Dynamik, die die Bevölkerung erst ergreifen konnte, als diese durch Prozesse der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Modernisierung schon aus ihren ständischen Sozialverbänden herausgerissen, also zugleich mobilisiert und vereinzelt wurde. Der Nationalismus ist eine Bewusstseinsformation, die eine durch Geschichtsschreibung und Reflexion hindurch gefilterte Aneignung kultureller Überlieferungen voraussetzt. Zugleich verbreitet er sich über die Kanäle der Massenkommunikation. Beides verleiht dem Nationalismus künstliche Züge; das gewissermaßen Konstruierte macht ihn von Haus aus für den manipulativen Missbrauch durch politische Eliten anfällig.“169
Demnach sei Nationalismus als politisches Prinzip eine künstliche Bewusstseinsformation, die von seinen ethnisch-kulturellen Anbindungen abgelöst und durch die Bewusstmachung dieser Logik entpolitisiert werden könne. Kultur und Politik seien demnach nicht nur kon166
Siehe ausführlicher dazu Cedermann (2001:150-174) „The continued presence of most of these mechanisms [identity-supporting mechanisms, Anm.d.V.] together with the inertia of the cultural representations residing in interaction habits and people’s minds make supranational identity formation difficult”. Cedermann (2001:152). Gellner hebt hervor: „men are dependent on culture, and that culture requires standardization over quite wide areas, and needs to be maintained and served by centralized agencies (…) it remains difficult to imagine two large, politically viable, interdependence-worthy cultures cohabiting under a single political roof, and trusting a single political center to maintain and service both cultures with perfect or even adequate impartiality. Gellner (1983:121), vgl. Cedermann (2001:152). Siehe auch Kapitel 2 168 Cedermann (2001:147) 169 Habermas (1991:8) 167
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zeptionell zu unterscheiden, sondern zugleich in historischer Perspektive kontingent, so dass auf der Grundlage der rationalen Logik das Politische dem Kulturellen letztlich überlegen wäre.170 Habermas vertritt für die EU das Konzept der Staatsbürgerschaft im Rahmen eines Verfassungspatriotismus. Dabei verteidigt er multikulturelle Gemeinschaftsformen auf der Basis einer geteilten liberalen politischen Kultur. Dazu führt er weiter aus: „Die demokratische Staatsbürgerschaft braucht nicht in der nationalen Identität eines Volkes verwurzelt zu sein, unangesehen der Vielfalt verschiedener kultureller Lebensformen verlangt sie aber die Sozialisation aller Staatsbürger in einer gemeinsamen politischen Kultur.“171
Der post-nationalistische Ansatz trennt damit eine politische von einer kulturellen Identität ab, wobei erstere die legitimatorische Funktion im Rahmen moderner Demokratien unabhängig vom kulturellen Kontext ausreichend zu erfüllen vermag. Die vorliegende Arbeit verortet sich im Kontext konstruktivistischer Lesarten kollektiver Identitäten. Das dieser Untersuchung zu Grunde liegende Konzept einer politischen Projektidentität teilt die Grundprämissen des post-nationalistischen Ansatzes und wird im Folgenden vor dem Hintergrund des spezifischen europäischen Kontextes entwickelt.
170 171
Cedermann (2001:148) Habermas (1991:16)
4 Politische Projektidentität der EU: Konzept und ‚Operationalisierung’
Ein relativ neues Modell der sozialen Konstruktion von (politischer) Identität stellt das Konzept einer Projektidentität dar, dass Manuel Castells (2003) in seiner Triologie des Informationszeitalters entworfen hat. Dabei unterscheidet er drei Formen der sozialen Konstruktion von Identität, wobei im Wesentlichen Machtbeziehungen die Art bzw. Form der Identität prägen. Diese kann nach Castells die Form einer legitimierenden, einer Widerstands- oder einer Projektidentität annehmen. Eine legitimierende Identität „wird durch die herrschenden Institutionen einer Gesellschaft eingeführt, um ihre Herrschaft gegenüber den sozial Handelnden auszuweiten und zu rationalisieren.“172 Widerstandsidentitäten entstehen in Abgrenzung zur legitimierenden Identität der Gesellschaft. Auf der Grundlage eigener Prinzipien, die von der herrschenden Logik nicht berücksichtigt werden oder dieser entgegenstehen, bilden sich diese Widerstandsidentitäten. Projektidentität beschreibt Castells als den Prozess der Schaffung einer neuen Identität im Rahmen eines Projektes, eines Transformationsprozesses, der neue „Subjekte“ hervorbringe. Jedoch sind diese: „Subjekte […] keine Individuen. Selbst dann nicht, wenn sie von und in Individuen geschaffen werden. Sie sind die kollektiven sozialen Akteure, durch die die Individuen in ihrer Erfahrung zu einem ganzheitlichen Sinn gelangen. In diesem Fall besteht der Aufbau von Identität in dem Projekt eines andersartigen Lebens, vielleicht auf der Grundlage einer unterdrückten Identität. Dabei kommt es aber zu einer Ausweitung in die Richtung der Transformation der Gesellschaft als Fortsetzung dieses Identitätsprojektes (…).“173
Nach Castells unterliegen diese drei Identitätstypen einer rotierenden Dynamik. Aus einer Widerstandsidentität kann ein Projekt entstehen, das mit der Zeit in die herrschenden Institutionen übergeht und damit zur legitimierenden Identität der Gesellschaft wird. Im Rahmen seiner Analysen der Netzwerkgesellschaft geht Castells davon aus, dass der Aufbau neuer Identitäten letztlich in Reaktion auf die Bedingungen der reflexiven Moderne (Giddens), als Motor sozialen Wandels fungiert.174 Ein Identitätsprojekt kann als ein praktischer Erfahrungsraum beschrieben werden, in dem sich eine neue, alternative Praxis konstituiert. „Aber das ist genau das, was ein Identitätsprojekt ausmacht: nicht eine utopische Proklamation von Träumen, sondern ein Kampf um Durchsetzung alternativer Formen von wirtschaftlicher Entwicklung, von Stabilität und von Regierungspraxis.“175 172
Castells (2003:10) Castells (2003:12) 174 „(…) behaupte ich aber, dass die Entstehung der Netzwerkgesellschaft die Prozesse des Identitätsaufbaus während jener Periode [der Spätmoderne nach Giddens, A.d.V.] in Frage stellt und so neue Formen sozialen Wandels hervorruft.“ Castells (2003:13) 175 Castells (2003:284) 173
4 Politische Projektidentität der EU
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Unter Berufung auf Castells Typus der Projektidentität hebt Meyer (2004) zwei bedeutende Aspekte für den europäischen Kontext hervor: Zum einen die inhaltliche Bestimmung des Projektes und zum anderen die notwendige Anbindung des Projekts an die Bürger im Rahmen politischen Kultur.176 Während Castells Projektidentität im Rahmen einer höchst vorraussetzungsvollen zivilgesellschaftlichen Mobilisierung gedacht wird, akzentuiert Meyers Version stärker eine prinzipielle politisch-kulturelle Verankerung und geht primär nicht davon aus, dass eine solche Projektidentität die gleiche Bindungskraft und Emotionalität wie zum Beispiel nationale Identitäten entfaltet, sondern zumeist nur punktuell, auf ein bestimmtes politisches Problem ausgerichtet bleibt. Nachfolgend wird die in dieser Arbeit verwendete Konzeption einer europäischen politischen Projektidentität in Anlehnung an Meyer (2004) erläutert und begründet, warum es für den europäischen Kontext geeignet erscheint (4.1.). Anschließend wird auf den konzeptionellen Analyserahmen (4.2) und die einzelnen Komponenten einer politischen Projektidentität (politische Kultur und Skript) eingegangen (4.3.). Abschließend werden das methodische Vorgehen und die Fallauswahl erörtert. (4.3.1 und 4.3.2). 4.1 Wesen und Begründung einer europäischen Projektidentität Das Konzept einer europäischen Projektidentität stützt sich im Prinzip auf eine Kombination aus den von Castells entworfenen Typen der legitimierenden und der Projektidentität. Sie ist durch die Existenz der europäischen Institutionen und den von diesen ausgeübten europäischen Souveränitätsrechten kein reines Projekt (im Castellschen Sinne) mehr, wird aber zugleich im Sinne Meyers als ein dynamischer und offener Prozess begriffen, der immer nur punktuell auf bestimmte politische Inhalte und Probleme ausgerichtet bleibt. Diese Verbindung von einem institutionell vorhandenem Rahmen und einem hochdynamischen und mit weiteren spezifischen Inhalten zu füllendem Projekt bestimmt eine europäische politische Projektidentität. Sie grenzt sich folglich gegenüber der Position der Wertegemeinschaft ab und baut auf den Grundprämissen der liberal-demokratischen Konzeption des Verfassungspatriotismus auf. Darüber hinaus bedeutet eine Projekt-Identität, dass sich Identität bezogen auf ein gemeinsames Projekt und in dessen Praxis entwickelt. Nicht nur durch die Institutionen, sondern vor allem im Prozess konstituiert sich die Europäische Union als ein neuer, zusätzlicher politischer Akteur, dem in vielen Fragen eine entscheidende Rolle bei der Bewältigung gegenwärtiger globaler, politischer und sozialer Herausforderungen zugesprochen wird. Der europäische Integrationsprozess als wirtschaftliches und politisches Projekt stellt damit den Identifikationsrahmen für die Herausbildung einer neuen (komplementären) politischen Identität dar. Der Identitätsbildungsprozess findet in der praktischen Erfahrung der Verwirklichung des (europäischen) Projektes statt. Projektidentität ist somit kein erworbener Status, sondern immer ein kollektives Vorhaben zur Konstruktion geteilter sozialer und politischer Werte. Kurzum bedeutet dies, dass der politische Wille für ein gemeinsames Europa ausschlaggebend ist. Dieser Konstruktionsprozess findet im Rahmen einer gemeinsamen Praxis statt, die den Werten Bedeutung und Geltung verleihen und zum Auf-
176
Vgl. Meyer (2004:186ff.)
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4 Politische Projektidentität der EU
bau gemeinsamer Institutionen führen kann. Dabei hängen diese Identitätskonstruktionen immer davon ab, von wem und zu welchem Zweck sie konstruiert werden.177 Europäische Identität, verstanden als ein Projekt sowohl der europäischen Bürger als auch der politischen Eliten basiert auf einer politischen Praxis, was den Aufbau und die Nutzung gemeinsamer Institutionen mit einschließt. Dabei ist die Praxis ein Ausdruck geteilter politischer Grundwerte, denen durch die Akteure Bedeutung gegeben wird, was damit eine gewisse Übereinstimmung im Handeln produziert. Meyer betont hierzu: „Politische Projektidentität in diesem Sinne besteht also nicht in gelingender Selbstzuschreibung oder in der Erfahrung von Emotionen der Zugehörigkeit, sondern in einer praktisch vollzogenen kollektiven Handlungswirklichkeit.“178
Für eine politische Projektidentität bedarf es, nach Castells, eines hohen Maßes an zivilgesellschaftlicher Kooperation und dichter Kommunikation (z. B. im Rahmen einer Öffentlichkeit), damit der Praxisbezug gegeben ist. Meyer betont hierbei, dass dies generell als die Bedingungen moderner demokratischer Identität angesehen werden, auch wenn diese letztlich „aus dünnerem politischen Stoff gewebt ist als die empathische Form der zivilgesellschaftlichen realisierten Projektidentität nach Castells.“179 Insofern kann eine europäische Identität nicht die ‚Dichte’ und ‚affektive Leidenschaft’ nationaler Identitäten erreichen, jedoch scheint je nach inhaltlicher Bestimmung der Projektziele eine leidenschaftliche Identifikation möglich. Diese stellt jedoch keinen konstanten Zustand dar, sondern wird vielmehr punktuell und von Fall zu Fall mobilisiert. 180 Das Konzept einer politischen Projektidentität hebt sich damit klar von den Ansätzen ab, die kollektive Identität als ein kulturelles, religiöses oder historisches Erbe konstruieren und festschreiben wollen. Indem das Konzept der Projektidentität den fortwährenden Praxisbezug und die Offenheit des Prozesses betont, ist es nicht rückwärtsgewandt, sondern berücksichtigt die realen Lebensbedingungen hochmoderner Gesellschaften, die durch zunehmende Individualisierung, Enttraditionalisierung und Globalisierungsprozesse geprägt sind. Eine allgemeinverbindlich feststehende Identitätsdefinition, die von der konkreten Erfahrung abgelöst ist, erscheint auch aus sozialpsychologischer Perspektive wenig einleuchtend, denn erst in der Interaktion und Kommunikation bildet sich sowohl personale als auch kollektive Identität heraus. Überträgt man dies auf ein politisches Kollektiv, so bedarf es einer Verknüpfung der politischen Praxis mit politischen Grundwerten und Symbolen, die dadurch zu einer kognitiv erfahrbaren Realität werden. Diese Verknüpfung stellt das politische Projekt dar, welches einen geteilten Sinnzusammenhang konstruiert. 181 Entscheidend bleibt jedoch die Frage nach den Inhalten des Projektes, den Quellen, auf die sich der Prozess einer sozialen Konstruktion stützen kann. In diesem Sinne ist eine europäische politische Identität in hohem Maße von den geteilten politisch-kulturellen Werten der Gemeinschaft abhängig, insoweit diese für die politische Praxis ausschlaggebend sind. Als ein dynamisches Mehrebenensystem werden die Nationalstaaten auch weiterhin eine entscheidende Rolle im politischen Prozess innehaben und die Wahrnehmung der Union durch die 177
Vgl. Castells (2003:8ff.) Meyer (2004:186) 179 Meyer (2004:187) 180 Ebd. 181 Castells (2003:9). Sinn wird hierbei in Anschluss an Castells als eine symbolische Identifikation des Zwecks oder Ziels von Handlungen durch sozial Handelnde definiert. 178
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Bürger prägen. Die Werte, auf die sich die meisten europäischen Bürger einigen könnten, sind nach Castells: „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, Verteidigung von Wohlfahrtsstaat und gesellschaftlicher Solidarität, stabilen Beschäftigungsverhältnissen und Rechten der Arbeiterinnen und Arbeiter, Sorge um die universellen Menschenrechte und die Not der Vierten Welt, neuer Nachdruck auf Demokratie und ihre Ausweitung auf Bürgerbeteiligung auf lokaler und regionaler Ebene, die Lebenskraft historisch/territorial verwurzelter Kulturen, die häufig in der Sprache zum Ausdruck kommen und die nicht vor der Kultur der realen Virtualität kapitulieren.“182
Auf diesen sozialen und politischen Werten, die in den Kulturen der Mitgliedsstaaten historisch gewachsen und tief verankert sind, könnte sich die europäische Projektidentität stützen. Somit betont Castells einerseits die Bewahrung der kulturellen, ethnischen und religiösen Vielfalt Europas und andererseits die geteilten politischen demokratischen Werte auf der Basis universeller Menschenrechte und eines universellen sozialen Schutzes der Lebensbedingungen. Ausgehend von diesen sozialen und politischen Werten, die in den Kulturen der Mitgliedsstaaten schon verankert sind, erscheint ein europäischer Identitätsformationsprozess durchaus plausibel. Sie liefern das in den Mitgliedsstaaten bereits verankerte politisch-kulturelle Grundlagenmaterial für eine moderne europäische demokratische Identität. 183 Die politische Aufgabenbestimmung und Zielorientierung, die sich aus diesen sozialen und politischen Werten ergeben, lassen sich nach Meyer184 in drei übergreifende Handlungsstränge bündeln. Vorgeschlagen werden drei politische Projektinhalte, die die Identität der EU ausmachen sollten: „Europa als partizipative regionale Demokratie, in der sich informierte Bürger in der Zivilgesellschaft und in den Parteien aktiv an Entscheidungsprozessen beteiligen. Europa als Sozialregion, in der überall die sozialen Grundrechte gesichert sind und die Märkte in einen umfassenden Sozialstaat eingebettet sind. Europa als zivile Weltmacht, für die Krisenprävention und zivile Formen der Konfliktlösung Vorrang vor dem Einsatz militärischer Gewalt haben“185.
In dieser Hinsicht basiert eine europäische politische Identität auf dem Projekt ‚Europa’ mit dem Ziel einer partizipativen Demokratie, gesicherten sozialen Bürgerrechten und einer zivilen Weltmacht. Für den Erfolg des Identitätsprojektes müsste dreierlei geschehen: erstens müssten die Bürger ein Bewusstsein der politischen Verbundenheit im Rahmen dieses Projektes gewinnen, zweitens, eine Klärung der Projektkonturen vorgenommen werden (so z. B. bei der Rolle der EU in der Welt) und damit einhergehend, drittens, eine Ausformulierung der politischen Aufgaben und Handlungsaufträge, die auf die europäische Agenda kommen und zum Teil in den Vertragsdokumenten bereits enthalten sind, stattfinden.186
182
Castells (2003:383) Castells (2003:232-241), vgl. Meyer (2004:187) Meyer (2004:188) 185 Ebd. 186 Ebd. 183 184
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4 Politische Projektidentität der EU
Diese von Meyer vorgeschlagenen Projektinhalte können als Antworten auf die derzeitigen Defizitbeschreibungen der EU gelesen werden. Denn eine partizipative europäische Demokratie würde das Demokratiedefizit weitgehend beheben, ein soziales Europa die strukturelle Asymmetrie aufheben und Europa als zivile Weltmacht eine gemeinsame außenpolitische Linie repräsentieren. Die inhaltliche Projektkonzeption ist zwar sicherlich ehrgeizig, aber als ein längerfristiges Ziel insofern realistisch, da sich die Inhalte im Wesentlichen auf die in den einzelnen politischen Kulturen der Mitgliedsstaaten verankerten politischen Werte und Überzeugungen stützen. Schwieriger erscheint die Frage, wer die ‚Träger’ dieser inhaltlichen Projektkonzeptionen im Rahmen der EU sein könnten. Um diese Inhalte sowohl auf die europäische Ebene aber auch in die nationalen Öffentlichkeiten transportieren zu können, böten sich als ‚Träger’ zu allererst die politischen Akteure der nationalen Ebene, also Regierungen und Parteien, an. Das Konzept einer politischen Projektidentität erscheint im Kontext der europäischen politischen Realität schlüssig, da es auf den Prozesscharakter der EU eingeht und eine europäische Identität vor dem Hintergrund des europäischen institutionellen Rahmens als eine weitgehend noch zu entwerfende konzeptualisiert. Dies entspricht am ehesten dem offenen, multikulturellen und dynamischen Mehrebenencharakter der Europäischen Union, die sich im fortlaufenden Prozess konstituiert und schließlich vom politischen Willen der nationalen Regierungen als auch der Bereitschaft der europäischen Bürger abhängig ist, das europäische Projekt mit zu tragen und sich bestenfalls mit ihm zu identifizieren. Denn nur so kann sich die EU demokratisch legitimiert weiterentwickeln. Ebenso erscheint dieser Entwurf vor dem Hintergrund der Bedingungen „hochmoderner“ offener Gesellschaften, wie sie in unterschiedlichen Akzentuierungen von Beck, Giddens oder Castells beschrieben wurden, weitaus realistischer als die Konstruktion einer vermeintlich kulturell ausgrenzenden Identitätsbestimmung, die letztlich dem realen Charakter europäischer Gesellschaften im 21. Jahrhundert nicht mehr entspricht. Zugleich verliert sich das Konzept nicht in der Inkommensurabilität postmoderner Identitätskonstruktionen, da es die notwendige institutionelle Verankerung des Projektes betont und eine grundlegende Zielgerichtetheit von Identität, insbesondere kollektiver Identitäten, hervorhebt, was letztlich auch aus sozialpsychologischer Sicht plausibler ist (vgl. Kapitel 3). Dennoch bleibt bei aller Plausibilität des Konzepts einer politischen Projektidentität für die EU die Frage nach den realen Rahmenbedingungen, die derzeit vorzufinden sind, offen. Das Vor- bzw. Durchbringen von Projektinhalten, die öffentliche Wahrnehmung der EU sowie die Möglichkeit praxisbezogener Erfahrungen hängen von vielen Faktoren ab: von den Akteurskonstellationen und dem Akteursverhalten (insofern auch vom politischen Willen der Akteure), der institutionellen Architektur der EU und der damit zusammenhängenden Umsetzbarkeit von Politiken sowie von der Entstehung einer europäischen Öffentlichkeit. Das Verhalten der nationalen Regierungen und politischen Akteure auf europäischer Ebene und in der Öffentlichkeit muss als ausschlaggebend dafür angesehen werden, ob das politische Projekt, erstens, (in allen drei inhaltlichen Dimensionen) voran getragen werden kann; und zweitens, welches Bild der Öffentlichkeit vermittelt wird. Beispielhaft hierfür ist die Verfassungskrise der EU, die einmal durch die negativen Referenden ausgelöst, aufgrund von erneut aufgeworfenen Forderungen nationaler Regierungen weiter schwillt und eine Einigung schwieriger erscheinen lässt als je zuvor. Dies nicht zuletzt auch, da Polen erneut auf einen Gottesbezug in der Verfassung beharrt, obgleich dieser in den letzten Verhandlungen nicht durchgesetzt werden konnte und auch diesmal – insbeson-
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dere gegenüber der französischen Position – keine Aussicht auf Erfolg haben wird.187 Das Spannungsverhältnis zwischen europäischen und nationalen Interessen bestimmt den Integrationsprozess wesentlich, was die Vermittlung des europäischen Projekts erheblich erschwert, denn es wird meist nicht als ein gemeinsames Projekt wahrgenommen, sondern oftmals als ein Wettkampf um die Durchsetzung nationaler Interessen. Selbstverständlich wird der politische demokratische Prozess von der Auseinandersetzung um unterschiedliche Positionen und Zielorientierungen getragen, problematisch für das europäische politische Projekt erscheint dabei allerdings, dass eine Auseinandersetzung fast ausschließlich auf der Ebene der politischen und gesellschaftlichen Eliten und dann vertikal (zwischen nationalen und europäischen Interessen) ausgetragen wird. 4.2 Aufbau einer europäischen Projektidentität Europäische politische Projektidentität betont stärker als andere Konzeptionen, die Identität lediglich als ein Zugehörigkeitsgefühl auffassen, die notwendige Identifizierung mit den Zielen und Werten des politischen Projekts. Somit handelt es sich um einen differenzierten theoretischen Identitätsentwurf, der einen analytischen Rahmen für eine Untersuchung europäischer Identität anbietet. Dabei werden sowohl die Top-Down- als auch die Bottomup-Perspektive integriert. Politische Projektidentität stützt sich auf zwei Säulen, wobei die erste Säule die objektive und subjektive Zugehörigkeit zu einer polity (hier die EU) umfasst, während die zweite Säule die notwendige Identifikation mit den Werten und Zielen, also den Inhalten, des politischen Projektes einschließt. Diese analytische Zweiteilung ist notwendig, da die erste Säule, die zunächst einmal nur die objektive Zugehörigkeit als ‚Bürger’ zu einem politischen System, sowie das subjektive Bewusstsein darüber erfasst, noch nichts darüber aussagt, ob sich die Bürger auch mit den Werten und Zielen des politischen Projekts identifizieren bzw. wie diese bewertet werden. Es ist durchaus möglich, einem politischen Gemeinwesen anzugehören und sich darüber auch bewusst zu sein, jedoch die politischen Werte und Ziele desselben nicht zu teilen. Zwar weisen die Werte und Ziele eines solchen politischen Projektes in einem gewissen Maße immer auch Interpretationsspielräume auf und bleiben dadurch zu einem gewissen Grad umstritten, was aber letztlich im Rahmen des politischen demokratischen Prozesses und seiner Fortentwicklung in Form einer Auseinandersetzung über unterschiedliche gesellschaftliche Gestaltungsoptionen notwendig erscheint. Für den demokratischen Prozess bedarf es aber eines gesellschaftlichen Grundkonsenses, auf dem dieser vollzogen wird. Die grundlegende Identifikation der Bürger mit den Werten und Normen als auch mit den groben Entwicklungslinien ist hingegen für die dauerhafte Funktionsfähigkeit und Legitimation eines demokratischen politischen Systems unersetzlich. Ferner konstituiert sich eine politische Projektidentität auf zwei Ebenen, auf der Ebene des Skripts und der Ebene der politischen Kultur. Folglich verbindet der Ansatz die im Rahmen der europäischen Identitätsforschung vorhandenen Ansätze einer Top-Down- und Bottom-up-Perspektive. Hierbei wird die The187
Die Geschichte des europäischen Integrationsprozesses ist voll von solchen Beispielen. Sei es in Form einer ‚Politik des leeren Stuhls’ oder in Form von vertraglichen opt-outs oder populistischer Stimmungsmache gegen Europa. Ein aktuelles Beispiel ist die Weigerung des polnischen Staatspräsidenten den von ihm selber mit ausgehandeltem Lissaboner Reformvertrag nun auch zu unterzeichnen.
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se aufgestellt, dass erst eine politische Identität, die auf beiden Ebenen, der Ebene der Institutionen und der Ebene der politischen Kultur188, verankert ist und weitgehend konvergiert, ihrer legitimatorischen und stabilisierenden Funktion gerecht wird. Interessant ist hierbei vor allem der Übereinstimmungsgedanke, der in gewissem Sinne die ursprüngliche philosophische Bedeutung von Identität als Gleichheit aufgreift (vgl. 3.1). Dabei kann es sich in dieser Hinsicht nie um eine absolute, sondern lediglich um eine relative Identität handeln. Zugleich lehnt das Modell an das konstruktivistische Identitätsverständnis der modernen bzw. hochmodernen Theorien an, da Identität auf den jeweiligen Ebenen als eine Konstruktion eines kollektiven Sinn- und Bedeutungszusammenhanges konzipiert wird.189 Abbildung 2:
Politischen Projektidentität nach Meyer
Quelle: Eigene Darstellung
188 Hierbei muss betont werden, dass nur die politische Kultur als Grundlage der politischen Identitätskonstruktion dient. Zwar kann eine so verstandene politische Identität eine Stütze in der kulturellen Erinnerung finden oder Energien aus Hoffnungen gewinnen, die kulturell begründet, aber politisch noch nicht eingelöst wurden. In letzter Instanz ist sie jedoch immer nur als ein Projekt möglich, das einer geteilten Praxis des Suchens und Beschließens für alle verbindlichen Entscheidungen, also gemeinschaftlichem politischen Handeln entspringt. Erst in der Praxis verbindlichen kollektiven Handelns in der Gegenwart, der man sich in seiner Lebenswirklichkeit nicht entziehen könne, werde eine Identifikation möglich. Von einer kulturellen Identität hingegen kann man sich reflexiv distanzieren. Demnach konstruiert sich nach Meyer über alle kulturellen und sozialen Differenzen hinweg in der täglichen Praxis ein Verständnis der Zusammengehörigkeit und der Zugehörigkeit in politischen Dingen. Politische Projektidentität ist somit das Produkt politischer Konstruktionsleistungen und politischer Öffentlichkeit. Vgl. Meyer (2004:47-63), Cerutti/Rudolph (2001) 189 Die in der europäischen Debatte häufig hervorgebrachte Kritik am Identitätsbegriff und damit einhergehend dessen Ersetzung durch Begriffe wie „Europäisches Selbstverständnis“ (vgl. z. B. Wagner 2006) oder „Zugehörigkeitsgefühl“ wird in dem hier verwendeten Identitätskonzept nach Meyer insoweit entkräftet, als dass beide Begriffe für sich allein nicht die Problematik voll erfassen, sondern lediglich einen Aspekt herausgreifen. Der Identitätsbegriff erscheint vor dem Hintergrund des Übereinstimmungsgedanken als vertretbar und postuliert eine relative Identität zweier Ebenen.
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Europäische Identität als ein (politisches) Projekt muss sich im Wesentlichen auf die in den nationalen politischen Kulturen verankerten Sinnzusammenhänge stützen, nicht nur als inhaltliche Quelle des Projektes selbst, sondern auch, um von den Bürgern als sinnvoll angesehen werden zu können. Zugleich muss sie den nationalen Kontext transzendieren, damit ein solcher europäischer Identifikationsakt von den Bürgern als notwendig bzw. attraktiv erachtet wird. Der Versuch einer bloßen Duplizierung nationaler Identität erscheint vor dem Hintergrund des Fortbestandes der Nationen nur wenig tragfähig. Ersteres kann dadurch erreicht werden, dass bestimmte positive nationale Errungenschaften in das politische europäische Projekt integriert werden, letzteres kann vor dem Hintergrund der neuen globalen und innereuropäischen Herausforderungen vermittelt werden. Deshalb wird hier die These vertreten, dass eine europäische Identität nicht nur einen politischen Erfahrungsprozess, sondern zugleich eine dynamische Weiterentwicklung nationaler (politischer) Identitäten darstellt, indem diese nicht nur integriert, sondern in gewisser Hinsicht auch transzendiert werden müssen.190. 4.3 Untersuchungsdesign Bei der Vorstellung des Modells einer europäischen politischen Projektidentität wurde deutlich, dass sich diese aus zwei Komponenten/Ebenen zusammensetzt: dem Skript und der politischen Kultur. Diese beiden Schlüsselkonzepte werden im Folgenden näher beleuchtet und diskutiert. Die Ebene des Skripts Der Begriff des Skripts191 wird hier als das normative Selbstverständnis der EU konzeptualisiert, welches in den Verträgen verankert ist und zu einem gewissen Grad durch offizielle Deklarationen und Politiken konkretisiert wird. Indem sich die EU auf bestimmte Ziele und Werte verpflichtet, konstruiert sie ihr eigenes Selbstverständnis und spricht sich damit für ein bestimmtes „Projektdesign“ aus.192 Die Skript-Identität der EU umfasst damit den expliziten, aber auch impliziten Inhalt des angestrebten Projektes (Werte, Prinzipien, Ziele und Leitbilder), zugleich aber auch den Rahmen für dessen praktische Umsetzung und Implementierung. Die Institutionalisierung von Werten und Normen in Form von Verfas190
Vor diesem Hintergrund bietet sich das Bild einer Identitäts-Spirale an, in dem die jeweils höhere Ebene die vorherige einschließt und zugleich transzendiert, also neue Aspekte hervorbringt. Auf das Problem einer europäischen Identität übertragen, bedeutet dies, dass wichtige Aspekte der nationalen politischen Kulturen die inhaltliche Ausgangsbasis darstellen und in den Prozess einer neuen Identitätsbildung integriert und zugleich transformiert werden. Dies könnte dann möglicherweise irgendwann in eine transnationale europäische politische Kultur münden, als (sichtbarer) Ausdruck einer genuinen (transnationalen) europäischen Identität 191 Der Begriff des Skripts stammt ursprünglich aus dem World-Polity-Ansatz von John W. Meyer. Dieser betont darin die Bedeutung und Rolle von Institutionen als „kulturelle Regeln“, die bestimmten Handlungen kollektiven Sinn und Wert verleihen und sie in einen größeren Rahmen integrieren. Die sich entwickelnde Weltgesellschaft basiert auf allgemeinen Handlungsmodellen, wie sich Staaten, Organisationen und Individuen als zentrale Akteure der Moderne zu verhalten haben. Die Modelle selbst sind ebenso wie die Weltgesellschaft in der Kultur der Moderne begründet. In diesem Sinne ist das Skript eine Art Drehbuch, welches alle Bereiche politischen und gesellschaftlichen Handelns durchdringt. Vgl. ausführlicher dazu John W. Meyer (2005) 192 Erinnert sei hier an die zweite Analyseebene im Rahmen der Top-Down-Perspektive (Kapitel 2).
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sungen oder Verträgen stellt damit nur einen Aspekt des Skripts dar, ist jedoch die grundlegende Basis für die Ausgestaltung des politischen Projekts. Verfassungen und Institutionen sind demnach nicht allein Systeme von Aggregationsregeln und Steuerungsfunktionen als Ausdruck von Machtinteressen, sondern zugleich Träger von Weltbildern bzw. Ideen.193 Der Begriff des Weltbildes von Max Weber wird nach Hurrelmann (2002) als Oberbegriff für die „kognitiven, ästhetischen und normativen Grundannahmen über die gesellschaftliche Realität, die sich als kollektive Konstruktion auf die Bildung individueller Interessen auswirken“194, definiert. So gesehen wird die RationalChoice-Verfassungstheorie um eine sozialkonstruktivistische Institutionentheorie ergänzt und modifiziert, indem Menschen nicht als ‚atomistische Nutzenmaximierer’ gelten, sondern als in eine institutionelle Ordnung eingebettet, deren soziale Realität eine gesellschaftliche Konstruktion darstellt. Interessen und Vorstellungen sind folglich durch diese soziale Konstruktion geprägt.195. Jachtenfuchs (1999) beschreibt die Veränderung von gesellschaftlichen Vorstellungen über das Zusammenleben als einen komplexen kollektiven Lernprozess, der sowohl als Bottom-up-Prozess als auch als Top-Down-Prozess ablaufen kann. Für das hiesige Thema kann aus diesen Ansätzen gefolgert werden, dass Institutionen und Verfassungen neben ihrer Steuerungs- und Aggregationsfunktion auch eine Integrationsund Symbolfunktion besitzen, indem sie Weltbilder bzw. besser: bestimmte Vorstellungen über das gesellschaftliche Zusammenleben transportieren, die in Form von Werten und Prinzipien allgemein verbindlich institutionalisiert werden. Die in den Verträgen der EU institutionalisierten Ziele, Werte und Leitbilder können demnach als Referenzpunkt für das normative Selbstverständnis der EU dienen. Dieses Selbstverständnis muss jedoch auf der Ebene der politischen Kultur bzw. den politischen Kulturen der Mitgliedsstaaten geteilt werden, damit es dann im politischen Prozess zu einer erfahrbaren kognitiven Realität der Bürger wird. Ein so geteiltes Verständnis der Ziele und Werte des politischen Projektes auf beiden Ebenen muss als Grundvorrausetzung für die Herausbildung einer europäischen politischen Identität angesehen werden. Die Ebene der politischen Kultur Politische Kultur als wertfreier, analytischer Begriff dient ganz allgemein der Verknüpfung von gesellschaftlichen Werte- und Normensystemen mit den institutionellen Bedingungen eines politischen Systems. Diese Verknüpfung ist vor einem demokratietheoretischen Hintergrund von Bedeutung, wonach die Legitimation und Stabilität eines politischen Systems erheblich von seiner Akzeptanz in der Bevölkerung abhängt. Die Anfänge der politischen Kulturforschung gehen auf Gabriel Almond und Sydney Verba in den 1950er Jahren zurück, die politische Kultur als „the particular distribution of patterns of orientation towards political objects among the members of a nation“196 definierten. Politische Kultur bezieht sich demnach auf die subjektive Dimension von Politik und beschreibt ganz allgemein das Verteilungsmuster der Orientierungen der Bürger bezüg-
193
Vgl. Jachtenfuchs (1999) Hurrelmann (2002:10) 195 Ausführlicher dazu Hurrelmann (2002:10f), Berger/Luckmann (1972), vgl. auch Jachtenfuchs (1999:25-54) 196 Almond/Verba (1963:14f), vgl.auch Mikler (2005:177) 194
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lich des politischen Systems als der Summe aller Institutionen.197 In ihrer vergleichenden Fünf-Länder-Studie zur politischen Kultur gingen Almond und Verba vor dem Hintergrund zweier Weltkriege der Frage nach, warum einige junge Demokratien dem Totalitarismus verfielen, während sich andere Systeme mit gleichem institutionellen Design und sozioökonomischen Entwicklungsstand langfristig als Demokratien etablieren konnten. Ausgangshypothese ihrer vergleichenden Länderstudie war, dass für den Bestand bzw. die Stabilität eines demokratischen politischen Systems eine gewisse Kongruenz zwischen den politischen Institutionen und der politischen Kultur vorherrschen müsste. Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass wenn die politische Kultur und die politische Ordnung eines Staates längerfristig starke Differenzen aufweisen, dies zu Legitimationskrisen und zur Destabilisierung des Systems führe. 198 Nach Almond und Verba können vier Dimensionen politischer Kultur, auf die sich die Orientierungen der Bürger beziehen, differenziert werden: 1. 2. 3. 4.
System-Dimension (das politische System als Ganzes) Input-Dimension (Erwartungen der Bürger an die eigene Regierung) Output-Dimension (konkrete Umsetzung der Politik als „autoritative Wertallokation“ nach Easton durch Akteure und Strukturen) Identitäts-Dimension (das „Selbst als politischer Akteur“)199
Bei den Orientierungen wird wiederum zwischen Meinungen, Einstellungen und Werten unterschieden, wobei Meinungen als relativ instabil gelten, Einstellungen (z. B. Parteipräferenzen) und Werteüberzeugungen hingegen als dauerhafter angesehen werden.200 Letztlich hängen alle drei Kategorien zusammen, wobei die Werteüberzeugungen als grundlegend erachtet werden und am dauerhaftesten sind.201 Kritik am Ansatz von Almond und Verba richtete sich unter anderem gegen eine Bestimmung politischer Kultur auf der Grundlage von Umfragedaten, die nur einen begrenzten Aussagewert hätten, da sie lediglich punktuell erhobene Einstellungen berücksichtigen könnten. Zudem wurde ihr entwickeltes Idealmodell der „civic culture“ mitunter deshalb 197
Vgl. Andersen/Woyke (2003), Lemma Politische Kultur Auf der Basis einer groß angelegten Umfrage ermittelten Almond/Verba die Einstellungen der Bürger zu ihrem jeweiligen politischen System, so in den USA und Großbritannien (als Modelle stabiler liberal-demokratischer Systeme), der Bundesrepublik (als Vergleichsmodell, in dem demokratische Bewegungen über lange Zeit unterdrückt waren), in Italien (als Modell einer jungen Demokratie in einer vorindustriellen Gesellschaft) und in Mexiko (als ein Staat, in dem demokratische Verfahren und Strukturen zum damaligen Zeitpunkt nur in Städten vorzufinden waren). Im Rahmen ihrer Studie definieren Almond und Verba drei Typen politischer Kultur (pK): die parochiale pK, politische Untertanenkultur und die partizipative pK. Nach einer Zuordnung dieser politischen Kulturtypen steht die parochiale pK gemeinhin für Stammesgesellschaften ohne besondere politische Differenzierung von Strukturen und Positionen. Die Untertanen pK finde sich meist im Rahmen von Monarchien und Diktaturen, während die partizipative liberalen Demokratien zugeordnet wird. Anschließend an ihre Ergebnisse kommen Almond und Verba zu dem Schluss, dass für liberale Demokratien ein Mischtypus aus allen drei Typen am besten sei, den sie „civic culture“ nennen. Diese „Staatsbürgerkultur“ zeichne sich dadurch aus, dass durch die Mischung der drei Typen das politische Engagement aktiver Bürger aber auch eine gewisse Folgebereitschaft gewährleistet sei. Dem Typ der „civic culture“ entsprachen in der Studie am ehesten GB und USA. Vgl. Almond/Verba (1963), s. auch Mikler (2005:177-181) 199 Almond/Verba (1963:13-16) Die Bezeichnungen der Dimensionen sind hier selbst gewählt und somit nicht identisch mit denen von Almond/Verba. 200 Andersen/Woyke (2003), Lemma Politische Kultur 201 Ebd., Almond und Verba unterschieden bei den Orientierungen der Befragten zwischen affektiv (Meinungen), kognitiv (Einstellungen) und evaluativ (Werte). 198
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kritisiert, da es den Bürgern eine allzu passive Rolle zuschriebe und damit letztlich eine Weiterentwicklung der Demokratie eher unwahrscheinlich würde. Trotz der sowohl theoretischen als auch methodischen Kritiken am Modell202, etablierte es neue Maßstäbe in der empirischen politikwissenschaftlichen Forschung und diente als Ausgangspunkt für die Weiterentwicklung des Ansatzes hin zu einem wichtigen Forschungszweig der Politikwissenschaft. Auf der Grundlage seiner Kritik an der Studie der beiden Amerikaner, entwickelte Karl Rohe (1994) das Konzept der politischen Kultur weiter. Er kritisierte, dass mit der konkreten Abfragung von Einstellungen zum aktuellen politischen System in Form von Umfragen die tiefer liegenden Hintergründe und Weltbilder der politischen Kultur nicht ermittelt werden könnten. Demnach sei politische Kultur mehr als die Summe punktueller Umfrageergebnisse, sondern vielmehr ein kollektives Phänomen, dass als „Sinn- und Bedeutungszusammenhang (…) der in sprachlichen und nichtsprachlichen Zeichen auch einen objektiven Ausdruck gefunden hat.“203 Politische Kultur muss nach Rohe immer wieder aufs Neue von individuellen Trägern vermittelt werden und unterliege somit einem Wandlungsprozess, wobei sie jedoch nicht immer wieder neu erfunden, sondern als ‚politisches Sinnangebot’ für den Einzelnen und als ‚Legitimationsmuster’ für das politische System gesellschaftlich vorgefunden werde.204 Grundlegende Ordnungsvorstellungen, nach denen das politische System beurteilt wird, können sich wandeln, sind aber zugleich nicht so instabil und flüchtig wie Meinungen oder Einstellungen. Ein Einstellungswandel im Rahmen von Umfragedaten kann Ausdruck eines grundsätzlichen politisch-kulturellen Wandels sein, kann aber ebenso ganz unabhängig von politischen Wahrnehmungs- und Beurteilungsmaßstäben, die in der politischen Kultur verankert sind, stattfinden.205 Die Unterscheidung zwischen Einstellungen und Meinungen einerseits und Prinzipien, politischen Weltbildern und Maßstäben andererseits ist konsequent, da man nicht automatisch von ersteren auf letztere und umgekehrt schließen kann. Dennoch muss ebenso davon ausgegangen werden, dass Erfahrungen mit einem politischen System auf die Dauer nicht nur Einstellungen generieren, z. B. im Sinne einer faktischen Befürwortung oder Ablehnung desselben, sondern langfristig prinzipieller Natur werden und damit auch die Ebene der politischen Kultur beeinflussen206. In Weiterentwicklung zu Almond/Verba und anlehnend an Rohe, definiert Meyer (2006b) politische Kultur als denjenigen „Teil der allgemeinen Kultur, der sich direkt auf das Politische richtet, auf die Strukturen und Sachverhalte des Gemeinwesens, auf die Ziele politischen Handelns und auf den politischen 202
. Mikler (2005:180), ausführlicher zur Kritik vgl. Westle (2002:319-337), Rohe (1994:160ff.), Lijphardt (1980) Rohe (1994:164) 204 Rohe (1994:164) 205 Rohe (1994:165). Rohe expliziert dazu: „Einem Einstellungswandel gegenüber einem politischen Regime, wie er von der gängigen Meinungsforschung untersucht wird, kann zweifellos auch ein politisch-kultureller Wandel zugrunde liegen, dann nämlich, wenn sich die grundlegenden Wahrnehmungsmuster und Beurteilungsmaßstäbe verändert haben. Das muß jedoch nicht der Fall sein. Einstellungen gegenüber einem konkreten politischen Regime können sich auch fundamental wandeln, beispielsweise durch eine katastrophale Verschlechterung der vom Regime erbrachten Leistungen, ohne dass sich die in der politischen Kultur gespeicherten politischen Maximen und Beurteilungsmaßstäbe auch nur um ein Jota verändert haben.“ 206 Als Beispiel können hier die Anfangsjahre der Bundesrepublik genannt werden. Die Entwicklung zu einer demokratischen politischen Kultur verlief allmählich vor dem Hintergrund der Erfahrungen und der Erfolge des neuen politischen Systems. 203
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Prozess. Da auch die politische Kultur […] aus der Gesamtheit der kollektiven Werte, Orientierungen, Einstellungen, Kommunikationsgewohnheiten und Sinngebungen einer Gesellschaft besteht, wirkt sie in ausschlaggebender Weise als Motivationskraft und Steuerungszentrum auf das […] politische Handeln ein.“207
Meyer gibt damit eine umfassende Definition von politischer Kultur, die die Verbindung zwischen politischem Bewusstsein und politischem Handeln explizit macht und den Eigenwert politischer Kulturforschung hervorhebt.208 Dabei betont er, dass politische Kultur immer nur indirekt und letztlich nur auf der Grundlage einer systematischen Interpretation von regelmäßigen Handlungsweisen, Symbolen und Ereignissen, Kommunikationsformen und Konflikten erschließbar sei.209 Mit Rohe (1994) hat sich in der politischen Kulturforschung die Unterscheidung zwischen ‚Sozio-Kultur’ und ‚Deutungskultur’ durchgesetzt. Die Sozio-Kultur umfasst die Wertorientierungen, Einstellungen und Meinungen in der Bevölkerung, während die Deutungskultur auf der Ebene der politischen und professionellen Eliten angesiedelt ist, die kulturelle Deutungsmuster im politischen Aushandlungsprozess definieren. Diese können dann für eine gewisse Zeit in die Sozio-Kultur übergehen und dort als eine unbestrittene kulturelle Selbstverständlichkeit akzeptiert werden. Beispielhaft für weitgehend unbestrittene Deutungsmuster im Rahmen der Sozio-Kultur können nach Rohe zum Beispiel der Nationalstaat oder der Wohlfahrtsstaat als Quellen staatlicher Legitimation angeführt werden.210 Grundsätzlich gilt für die Legitimation eines politischen Systems, die sich nicht lediglich zweckrational, sondern prinzipiell wertrational ableitet, dass Deutungskultur und Sozio-Kultur langfristig zueinander passen müssen und nicht dauerhaft im offenen Widerspruch zu einander stehen dürfen. Vom Verhältnis zwischen Sozio- und Deutungskultur hängt es maßgeblich ab, ob sich eine stabile kollektive Identität ausbildet, welche dann die Legitimität und Stabilität des Systems sichert. Idealerweise stützt sich eine kollektive politische Identität auf bestimmte, als positiv bewertete Ausdrucksformen der jeweiligen (aktuellen) politischen Kultur. Allerdings darf dies nicht als ein Automatismus verstanden werden, denn kollektive Identitäten können sich ebenso auf in der Realität nicht vorhandene Gemeinsamkeiten stützen. Dies hängt nicht zuletzt davon ab, inwieweit es der Deutungskultur gelingt, „die […] vorhandene politische Soziokultur zum Bewusstsein ihrer selbst zu bringen“211 207
Meyer (2006b:191) Diese Verbindung zwischen politischem Bewusstsein und politischem Handeln ist durchaus umstritten, manche Forscher kritisieren sie als eine bloße Vermutung, während andere darin lediglich eine Bereitschaft zum Handeln konstatieren. Vgl. Andersen/Woyke (2003), Lemma Politische Kultur 209 Meyer (2006b:192). Eine empirische Analyse politischer Kultur auf der Grundlage dieses anspruchsvollen Konzeptes politischer Kultur wäre höchst vorraussetzungsvoll und bedürfte letztlich ein auf lange Dauer angelegtes umfassendes Forschungsdesign. Dies kann aus arbeitsökonomischen Gründen in dieser Arbeit somit keine Anwendung finden, so dass nur ein kleiner Ausschnitt politischer Kultur tatsächlich beleuchtet werden wird. 210 Rohe (1994:170f), vgl. Mikler (2005:181). Mikler verweist in diesem Zusammenhang darauf, dass die Soziokultur nicht als eine homogene Einheit von kulturellen Deutungsmustern verstanden werden darf, sondern eher als das Ergebnis eines Zusammenspiels von sozialen Milieus aufgefasst werden muss. Mikler (2005:181), vgl. auch Meyer (2006b:203-207) 211 Rohe verweist aber auch auf ein stetes Spannungsverhältnis zwischen Deutungs- und Soziokultur, denn „Politische Deutungskulturen besitzen, so sehr man ihre Bezogenheit auf politische Soziokulturen betonen muss, stets eine gewisse Eigenlogik (…) Anders als Wissenschaft kann eine (politische) Kultur niemals für alles offen sein. Konstitutiv für sie ist gerade ihre spezifische Selektivität. Politische Kulturen können nicht nur ein Zuviel an 208
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Insofern wird deutlich, dass politische Kultur immer auch ein politisches Produkt darstellt, sich im politischen Prozess herausbildet, und sich im Rahmen desselben auch wieder verändert. Denn politische Kultur muss immer als ein hochdynamischer, mitunter widerspruchsvoller und vor allem „in hohem Maße offener kollektiver Lernprozess“212 verstanden werden. Dieser Lernprozess entfaltet sich erst im reziproken spannungsreichen Verhältnis von Sozio- und Deutungskultur: dies basiert auf einer Wechselwirkung zwischen überlieferten Traditionen und Orientierungen, realen sozialen und politischen Erfahrungen einer Gesellschaft und den öffentlich hervortretenden Interpretationen im Rahmen der Deutungskultur. Als wesentliche Aufgabe der Deutungskultur fordert Rohe (1987), die überlieferte und gelebte politische Sozio-Kultur immer wieder zu thematisieren und dadurch etablierte Selbstverständlichkeiten in Frage zu stellen. Denn nur durch einen solchen Diskurs können letztlich neue Selbstverständlichkeiten entstehen, die dann als Teile einer “erneuerten“ Sozio-Kultur wirksam werden. Im Zuge dieses zentralen Prozesses zwischen Soziound Deutungskultur, im Grunde ein kollektiver Lernprozess, können sich erst neue Denkund Handlungsoptionen eröffnen. Die politische Kultur einer Gesellschaft entscheidet folglich nicht nur mit darüber, was in einer Gesellschaft als legitim und gerecht akzeptiert wird, sondern sie steckt auch den Handlungsrahmen ab, in dem die politischen Akteure agieren. Die politische Kultur ist bestenfalls nicht nur die Grundlage sondern auch das Ziel politischen Handelns.213 Politische Kultur im europäischen Kontext Im Kontext der hiesigen Arbeit stellt sich zunächst die Frage, ob ein nationales Konzept politischer Kultur für die Erklärung europäischer Sachverhalte ohne weiteres Erklärungswert besitzt. Mit Verweis auf den etablierten Befund, dass die EU als ein System-suigeneris zu begreifen und dadurch auch nicht unbedingt mit nationalstaatlichen Konzepten erfassbar sei, muss auch die Untersuchung des Zusammenhangs von politischer Kultur und europäischer Identität den spezifischen EU-Strukturen und damit den Besonderheiten des europäischen politischen Prozesses Rechnung tragen. Folglich kann es sich kaum um eine Untersuchung einer transnationalen europäischen politischen Kultur handeln, sondern muss nach wie vor die Nationalstaaten als Ort politischer Kulturen veranschlagen. Denn in der rechtlich-institutionellen Konstruktion der EU als ein Mehrebenensystem kommt den Mitgliedsstaaten neben der supranationalen und sub-nationalen Ebene konstitutiver Charakter zu. Die Mitgliedsstaaten, vertreten durch die jeweiligen nationalen Regierungen bzw. Minister, wirken maßgeblich bei der Entscheidungsfindung auf europäischer Ebene mit, da der politische Aushandlungsprozess vorrangig zwischen dem Rat der EU und der Europäischen Kommission unter Einbeziehung bzw. Mitbestimmung des Europäischen Parlamentes (EP) stattfindet.214 Dabei ist der Grad der Vergemeinschaftung je nach Politikfeld unterschiedIdentität besitzen, das ihre Innovationsbereitschaft und Anpassungsfähigkeit beeinträchtigt, sondern auch ein Zuwenig an Identität haben und damit nicht mehr in der Lage sein, die für alle Kultur konstitutiven Selektions-, Vergessens- und Ausklammerungsleistungen zu erbringen.“ Rohe (1994:169) 212 Meyer (2005:143) 213 Vgl. Meyer (2006b:46) 214 Dabei fungiert das EP als Vertretung der europäischen Bürger, während im Rat die Regierungen der Mitgliedsstaaten nationale Interessen geltend machen. Die Interessen der Europäischen Union (i.w.S. eine Ausweitung ihrer Kompetenzen) vertritt am ehesten die Europäische Kommission.
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lich ausgestaltet, so dass die Europäische Union sowohl supranationale als auch intergouvernementale Elemente aufweist. Die drei Tätigkeitsbereiche, die so genannten „drei Säulen“ der Europäischen Union unterscheiden sich sowohl nach dem Grad der Zusammenarbeit als auch den jeweiligen Kompetenzen der Organe. In der ersten Säule, die die Europäischen Gemeinschaften215 umfasst, ist das höchste Maß an Vergemeinschaftung bzw. Supranationalisierung erreicht, wodurch die europäischen Institutionen befugt sind, geltendes Recht für die Mitgliedsstaaten, deren Bürgern sowie juristische Personen (Unternehmen) zu setzen. Die anderen beiden Säulen, die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) und die Polizeiliche und Justizielle Zusammenarbeit (PJZ) sind fast ausschließlich intergouvernemental organisiert, d.h. die Mitgliedsstaaten haben keine Kompetenzen an die europäische Ebene übertragen. Exekutivorgan ist hierbei der Rat der Europäischen Union, zusammengesetzt aus den Regierungsvertretern der Mitgliedsstaaten, der in der Regel Entscheidungen einstimmig fällt.216 Für die Rolle der Mitgliedsstaaten in der rechtlichinstitutionellen Konstruktion der EU ergibt sich daraus, dass diese vertikal betrachtet eine der drei konstitutiven Ebenen im europäischen Mehrebenensystem darstellen. Horizontal sind sie in den verschiedenen (in den vergangenen Jahrzehnten immer zahlreicher gewordenen) Politikbereichen je nach Grad der Vergemeinschaftung die zentralen Akteure bzw. für die Implementierung europäischer Politikentscheidungen auf nationaler Ebene verantwortlich. Folglich bleiben sie auch die primären Adressaten europäischer Entscheidungen. Damit einher geht die Verantwortung der Nationalstaaten (und/oder Regionen und Kommunen) für die Implementierung von auf europäischer Ebene getroffenen Politikentscheidungen. Zwar verfügt die Europäische Union mit ihren drei supranationalen Organen (EuGH; Kommission und Parlament) über Kontrollmechanismen, die die Umsetzung europäischer (Rahmen-)Richtlinien und Verordnungen rechtlich durchsetzen können, jedoch verbleibt die Art und Weise der Umsetzung nach wie vor bei den Nationalstaaten. Auch dies räumt letzteren einen gewissen Gestaltungsspielraum ein, der je nach nationalen Gepflogenheiten anders genutzt wird.217 Damit kommt einerseits den nationalen Regierungen nach wie vor eine zentrale Rolle im europäischen Entscheidungsprozess zu. Andererseits wird vielfach kritisiert, dass es sich bei der Europäischen Integration um ein Elitenprojekt handeln würde (s.o.), die Positionen der Vertreter der Mitgliedsstaaten also nicht die Interessen der nationalen Bevölkerungen widerspiegeln würden. Von anderer Seite wird hingegen angeführt, dass die Europäische Union nationalen Politikern teilweise als Sündenbock dient und auf diesem Weg die öffentliche Meinung beeinflusst wird. Alles in allem kann vor dem Hintergrund der spezifischen Konstruktion der Europäischen Union und den konstatierten Mängeln festgestellt werden, dass der nationalen Ebene nicht nur eine zentrale Bedeutung im europäischen Entscheidungsprozess zu kommt sondern auch in der Vermittlung europäischer Inhalte und Politiken in der nationalen öffentlichen Arena. Somit bilden die Nationalstaaten nach wie vor den primären Bezugsrahmen auch für die Herausbildung einer europäischen (Bürger-
215
Diese Säule basiert auf dem EG-Vertrag und dem Euratom-Vertrag. Der EG- und Euratom-Vertrag umfassen maßgeblich den europäischen Binnenmarkt und die so genannten internen Politikfelder, wie zum Beispiel die Wirtschafts- und Währungspolitik, Agrarpolitik, aber auch einzelne Sozial- und Beschäftigungspolitiken, Bildung und Kultur. 216 Die Entscheidungen, die in der zweiten und dritten Säule gefällt werden, sind somit auch nur zum Teil der Rechtsprechung durch den EuGH unterworfen. 217 Vgl. u. a. Falkner et al. (2005)
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)Identität. Aus diesen Gründen erscheint es sinnvoll, einen nationalen und keinen europäischen politischen Kulturbegriff218 für die Untersuchung anzusetzen. 4.3.1
Methodenvorstellung
Wie im dritten Kapitel deutlich wurde, legt die jeweilige Konzeption von Identität eine eigene Methode nahe.219 Angesichts des vielschichtigen hier entwickelten Identitätsverständnisses, dass auf einer Verknüpfung von Bottom-up- und Top-Down-Perspektive beruht, bedarf es einer Kombination unterschiedlicher Methoden. Je nach Analysegegenstand wird auf quantitative oder qualitative Methoden rekurriert. Nachfolgend wird das Verständnis und der prinzipielle methodische Ansatz für jede der drei zu untersuchenden Variabeln (Skript, Sozio- und Deutungskultur) vorgestellt und kurz begründet. Eine detaillierte Erläuterung und Rechtfertigung der einzelnen Methoden werden dem jeweiligen empirischen Kapitel vorweg gestellt. Das europäische Skript wird textanalytisch unter Verwendung der europäischen Verträge rekonstruiert. Dabei werden die in den Verträgen verankerten sozialen Werte und Ziele ebenso wie sämtliche sozial- und beschäftigungspolitischen Aussagen herausgefiltert und vor dem Hintergrund des aktuellen Forschungsstandes zur Bestimmung des sozialpolitischen Selbstverständnisses der EU herangezogen. Die Analyse der politischen Kultur wird auf zwei Ebenen vorgenommen: zum einen auf der Ebene der nationalen Deutungskultur politischer Eliten und zum anderen auf der Ebene der nationalen Sozio-Kultur der Bevölkerungen. Sozio-Kultur und Bevölkerungseinstellungen In Anlehnung an den Kern des traditionellen politischen Kulturansatzes nach Almond und Verba findet mit dem Konzept der Sozio-Kultur die subjektive Dimension politischer Prozesse Eingang in die Analyse. Als Sozio-Kultur werden zunächst einmal alle aggregierten Einstellungen, Wertorientierungen und Meinungen in der Bevölkerung in Bezug auf das politische System in seinen drei Dimensionen (polity, politics, policy) verstanden. Den Überzeugungen der Bürger wird neben den objektiven Gegebenheiten eine große Relevanz zugesprochen. Dies basiert auf der Annahme, dass die Legitimität und Überlebensfähigkeit eines politischen Systems hochgradig abhängig ist von positiven Haltungen seiner Bürger ihm gegenüber. Legitim ist ein politisches System dann, wenn sich die in den Institutionen und Prozessen verwirklichten Werte, Prinzipien und Ziele auch in den Einstellungen und Wertorientierungen der Bürger wiederfinden lassen.220 Die Erfassung der Sozio-Kultur wird dabei über repräsentative Umfragedaten vorgenommen, wobei die Urteile der Bürger über bestimmte Objekte (z. B. politische Institutionen und policies) als Repräsentanten des politischen Systems erfasst werden. Weil hier die soziale Dimension politischer Identität im 218
Zudem muss bezweifelt werden, dass es überhaupt eine transnationale europäische politische Kultur gibt. Vgl. Kapitel 3. Personale Identitätstheorien arbeiten zum Beispiel mit (narrativen) Tiefeninterviews, soziale Gruppenidentitäten werden zumeist in Experimenten erforscht, während kollektive Identitäten häufig durch Dokumenten-, Zeitungsanalysen oder im Rahmen der politischen Kulturforschung mit Hilfe von Umfragedaten untersucht werden. 220 Almond/Verba (1963), Pickel/Pickel (2006) 219
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Zentrum steht, werden nur die Umfragen berücksichtigt, in denen die Orientierungen der Bürger zu sozialpolitischen Institutionen erfasst worden sind. Dies sind die ISSP-Umfragen zur Rolle der Regierung („Role of Government“) von 1996 und 2006 sowie Daten aus dem Special Eurobarometer Nr. 251 von 2006. Nationale Deutungskultur und politische Eliten Die politische Sozio-Kultur wird durch politische Eliten beeinflusst, indem diese die in der Bevölkerung vorherrschende Einstellungen, Wertorientierungen und Handlungsgewohnheiten aufgreifen, thematisieren und interpretieren. Die Deutungskultur steht also in einem engen Verhältnis zur Sozio-Kultur und wird als kollektives Ergebnis von Prozessen verstanden, an denen viele mitgewirkt haben. Allgemein gesprochen sind die politischen Eliten die wichtigsten Träger der Deutungskultur, indem sie die Elemente aus der Sozio-Kultur aufgreifen und interpretieren. Der Begriff der politischen Elite beschreibt eine Vielzahl von gesellschaftlichen Akteuren: Journalisten, Intellektuelle, zivilgesellschaftliche Akteure, Wissenschaftler und Politiker. Das primäre Bezugsobjekt des Elitendiskurses sind im Normalfall von Parteien bzw. Politikern angestoßene Debatten und Themen. Aus diesem Grund wird hier ein eng gefasster Begriff politischer Eliten zur Grundlage der Untersuchung gemacht, der sich hauptsächlich auf die Deutungsleistung von Parteien bezieht. Zwar besteht ein prinzipieller Unterschied zwischen politischen Eliten im Sinne individueller Akteure (wie z. B. Politiker etc.) und Parteien als kollektive Akteure. Für die Operationalisierung der politischen Deutungskultur soll hier jedoch angenommen werden, dass die Deutungsangebote der Parteien in Form von Programmen auch von den Einzelpolitikern prinzipiell vertreten werden und damit eine weitgehende Übereinstimmung zwischen den PolitikerPositionen und denen der Parteien angenommen werden kann.221 Parteiprogramme werden demnach als ein aggregierter Ausdruck der Deutungskultur politischer Eliten verstanden. Dies insbesondere deshalb, weil Parteien gesellschaftliche Interessen und Vorstellungen aufnehmen und in Form von Programmen/Konzepten verdichten und interpretieren. Durch ihre intermediäre Stellung zwischen Staat und Gesellschaft kommt ihnen bei der Vermittlung zwischen sozialen Interessen und staatlichen Institutionen eine gewisse Deutungshoheit zu, nicht zuletzt auch durch ihre Medienpräsenz. Dadurch nehmen die Parteien eine zentrale Rolle im Prozess der politischen Deutung ein, da sie mit ihrer Auswahl und Strukturierung der in der Sozio-Kultur vorfindbaren Orientierungen und Interessen den politischen Handlungs-, Denk- und Diskursrahmen der politischen Kultur maßgeblich prägen. Als ein exemplarischer Ausdruck der politischen Deutungskulturen in einem Land sollen somit die (Wahl-) Programme der jeweils dominierenden Parteien des linken und rechten Parteienspektrums untersucht werden. 4.3.2 Länder- und Parteienauswahl Für die vertiefende Länderanalyse wurden Deutschland, Großbritannien und Polen ausgewählt. Diese Auswahl gründet sich im Wesentlichen darauf, dass die zu untersuchenden Länder möglichst unterschiedlichen wohlfahrtsstaatlichen Traditionen angehören und ein 221
Parteien werden somit als komplexe Akteure im Sinne Scharpfs (2000) definiert, siehe dazu Kapitel 7.
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hohes Maß an Diversität in ihrem ‚wohlfahrtskulturellen’ und sozialpolitischen Profil aufzuweisen haben. Somit folgt diese Auswahl einem „most different case design“ (BergSchlosser 2003), um vor dem Hintergrund stark divergierender Rahmenbedingungen möglichst verallgemeinerbare Zusammenhänge zwischen den Fällen hinsichtlich europäischer sozialpolitischer Vorstellungen ableiten zu können. Dabei geht es auch darum, kein verzerrtes Bild hinsichtlich der Chancen für die Herausbildung einer europäischen Identität auf der Grundlage besonders ähnlicher Fälle zu zeichnen.222 Unter diesen Rahmenbedingungen wird maßgeblich das jeweilige politische System (parlamentarisch vs. semi-präsidentiell, Zwei-Parteiensystem vs. Mehrparteiensysteme, Föderalismus vs. Unitarismus/Zentralismus) und die sozialstaatlichen Strukturen (liberaler vs. christdemokratischer/osteuropäischer Wohlfahrtsstaat), sowie politisch-kulturelle Aspekte (starker Katholizismus vs. Protestantismus, Fokussierung des Individuums vs. Kollektiv etc.) gefasst. Die spezifischen Rahmenbedingungen eines Untersuchungslandes werden vor der Analyse der Wahlprogramme ausführlich dargestellt. Die Auswahl der Parteien gründet auf zwei Kriterien: Zum einen müssen die ausgewählten Parteien Potential besitzen, (führende) Regierungsparteien zu werden und damit sowohl auf nationaler als auch auf europäischer Ebene politischen Einfluss ausüben können. Zum anderen sollten die Parteien zugleich die Links-Rechts-Dimension des jeweiligen nationalen Parteiensystems abbilden, nicht zuletzt, weil im Rahmen sozialpolitischer Themen das Rechts-Links-Cleavage ausschlaggebend ist. Für Deutschland wurden demnach die Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD) als „linke Regierungspartei“ und die Christdemokratische Partei Deutschlands (CDU) als „rechte Regierungspartei“ ausgewählt. In Großbritannien, dass faktisch ein Zwei-Parteiensystem hat, fiel die Auswahl zwangsläufig auf die Labour Party und die Conservative Party. Für Polen hingegen mussten aufgrund des spezifischen Transformationskontextes und der hohen Instabilität des Parteiensystems (zumindest bis 2001) jeweils drei Parteien ausgewählt werden. Die Auswahl der polnischen Parteien wird zu Beginn der Länderanalyse ausführlich dargelegt und begründet. Bei der in der Parteienforschung etablierten Zuordnung von Parteien entlang eines Links-Rechts-Kontinuums werden links beginnend kommunistische Parteien angesiedelt, dann sozialistisch-nationalistische, ferner sozial-liberale, daneben liberale, dann konservative und dann rechte bis ultrarechte Parteien. Diese Einteilung wird entlang wesentlicher politischer Ziele und den dahinter liegenden Wertüberzeugungen der Parteien vorgenommen. Tabelle 1 verdeutlicht die Einteilung der Parteikonzeptionen hinsichtlich gesamtgesellschaftlicher, ökonomischer und kultureller Überzeugungen. Durch die Analyse von parteipolitischen Positionen werden Parteien als nach wie vor zentrale Akteure im politischen Prozess verstanden. Zwei Gründe sprechen dafür: Erstens vermögen bisher nur Parteien einen programmatischen gesamtgesellschaftlichen Kompromiss vor dem Hintergrund einer Vielfalt an sozialen Interessen, Werten, zivilgesellschaftlichen Organisationen und Gruppen zu entwerfen. Zweitens, spielen Parteien eine zentrale Rolle im Vermittlungsprozess zwischen sozialen Interessen und staatlichen Institutionen. Insofern kann ein reziprokes Verhältnis zwischen den in der Gesellschaft vorherrschenden
222
Polen ist hierbei nochmals von besonderem Interesse, da es als neues, osteuropäisches Mitgliedsland in der EU im Vergleich mit den alten westeuropäischen Mitgliedsstaaten möglicherweise Erkenntnisse hinsichtlich europäischer Konvergenzprozesse liefern kann.
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Vorstellungen und Präferenzen und den von den politischen Parteien vertreten Programmen konstatiert werden.223 Tabelle 1: Parteipolitische Rechts-Links-Dimension Linke Parteien
Rechte Parteien
Gesamtgesellschaftlich: Herstellung bzw. AufrechterhalVerhältnis und Einflussnahme der tung einer klar geordneten, hiepolitischen Akteure in Bezug auf Ziel einer umfassenden gesellrarchischen Gesellschaftsorddie gesellschaftlichen Sozialstrukschaftlichen Gleichheit nung, in der jeder eine klar defituren. nierte Rolle/Position besitzt Ökonomisch: Verhältnis der politischen Akteure zur Wirtschaftsordnung und zur Handlungsleitende Wertpriorität: Handlungsleitende WertprioritäEinflussnahme auf die ökonomiSoziale Gerechtigkeit ten: Freiheit und Eigentum schen Bedingungen Symbole und soziale Gruppen Kulturell: sind die Grundlage jeder gesellVerhältnis der politischen Akteure schaftlichen Differenzierung und zu bestimmten traditionellen der Bestimmung von Zugehörigsozialen Gruppen und Symbolen Orientierung stärker an allgekeiten (Eigenbestimmung vs. wie Familie, Volk/ Minderheiten, meinmenschlichen Qualitäten Fremdbestimmung). Nationale, Kirche/ Religion und deren Prakund Bindungen ethnische, religiöse und familiäre tiken Zugehörigkeiten bilden den Rahmen der gesellschaftlichen Verantwortung des Einzelnen. Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an Niewiadomska-Frieling (2005)
223
Zur näheren Begründung siehe 7.1.
5 Europäisches Skript: Das verfasste normative Selbstverständnis der EU
Als normativer Referenzpunkt der empirischen Analyse werden die sozialpolitischen Policy-Ziele, Leitbilder und Konzeptionen, wie sie sich in den europäischen Verträgen darstellen, herangezogen. Den europäischen Verträgen als rechtsverbindliche Vereinbarungen zwischen den Mitgliedsstaaten und der EU wird hierbei – ähnlich einer Verfassung – eine Art Drehbuch-Funktion zuerkannt, indem sie nämlich die prinzipiellen Leitlinien, Ideen und Vorstellungen zur Ausgestaltung des europäischen Integrationsprojektes enthalten. In ihnen manifestiert sich der erzielte Konsens der relevanten europäischen Akteure (insbesondere der Mitgliedsstaaten unter Beteiligung der europäischen Kommission) über die Organisation und zukünftige Ausgestaltung der Europäischen Union, was als sichtbar werdendes europäisches Selbstverständnis begriffen werden kann. Zur Verdeutlichung des Zusammenhanges zwischen der Identitätsthematik und der Debatte um ein Soziales Europa wird im Folgenden eine Kontextualisierung des sozialen Skripts anhand der wesentlichen Positionen bezüglich eines ‚Europäischen Sozialmodells’ bzw. einer ‚europäischen sozialen Dimension’ dargelegt (5.1.). Daran anschließend wird anhand der Verträge das normative Selbstverständnis der EU in Bezug auf die soziale Dimension herausgearbeitet. Dabei geht es darum, aufzuzeigen, was die ‚soziale Dimension’ in ihrer normativen Ausprägung tatsächlich vorzuweisen hat und welches Leitbild, im Sinne einer identitätsstiftenden Charakterisierung des politischen Projektes, sich daraus ableitet lässt (5.2.). Zuletzt erfolgt eine Diskussion und Einordnung (5.4.)des analysierten Leitbildes anhand analytischer Kategorien der vergleichenden Wohlfahrtsstaatsforschung (Vorstellung Wohlfahrtsstaatsforschung 5.4.1.). Diese Einordnung dient dem späteren Vergleich zwischen Skript und politischer Kultur. 5.1 Die soziale Dimension politischer Identität In der oben dargestellten Debatte um eine europäische politische Identität wurde deutlich, dass kollektiver politischer Identität eine Legitimationsfunktion zukommt und den sozialen Zusammenhalt einer politischen Gemeinschaft, also letztlich ihre Stabilität, sichert. In der Forschungsdiskussion wird gerade mit Blick auf den zunehmenden polity-Charakter der EU die Notwendigkeit der Herausbildung einer politischen Identität als Legitimationsgrundlage betont. Allerdings ergeben sich zum einen aus dem so genannten ‚sui-generis-Charakter’ der EU als auch aus den externen und internen Rahmenbedingungen der Hochmoderne224, dass sich eine europäische politische Identität grundlegend von nationalen Identitäten unterscheidet: Einerseits dadurch, dass eine weitgehende Abkoppelung des Kulturellen vom Politischen notwendig ist und andererseits, weil die europäische Integration einen hochdy224
Vgl. hierzu Kapitel 3
5 Europäisches Skript
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namischen und geographisch nicht determinierten Prozess darstellt. Vor diesem Hintergrund kann europäische Identität, wie oben dargelegt wurde, adäquater als politische Projektidentität konzeptionalisiert werden, wodurch den Kontextbedingungen von Identitätsbildungsprozessen in hochmodernen Gesellschaften225 als auch dem offenen Prozess- und sui-generis-Charakter der EU Rechnung getragen wird. Wenn europäische politische Identität als Projektidentität verstanden wird, stellt sich notwendigerweise die Frage nach der inhaltlichen Bestimmung des Projektes und insofern nach den Quellen der politischen Projektidentität. Als eine inhaltliche Bestimmung des Europäischen Projektes wird in der politischen und wissenschaftlichen Diskussion die Notwendigkeit eines „Sozialen Europas“ als eine wichtige identitätsstiftende Komponente postuliert. Demnach sei ohne eine angemessene sozialpolitische Flankierung (‚soziale Dimension’) der wirtschaftlichen Integrationsprozesse und/oder ohne die Bewahrung der historisch gewachsenen nationalen Sozialmodelle die Gewinnung der Unterstützung bzw. eine Identifizierung der europäischen Bürger mit dem europäischen Integrationsprojekt kaum zu erwarten.226 So verweisen zum Beispiel Kodré und Leibfried (1999) darauf, dass: „[…] auch für integrationspolitische Überlegungen die soziale Dimension des europäischen Einigungsprozesses wesentlich [ist]. Die schwierige Ratifizierung des Maastrichter Vertrags hat die massiven Akzeptanzprobleme der Europäischen Union (EU) bei der Bevölkerung einiger Mitgliedsstaaten deutlich gemacht: Die EU wird vielfach als bürokratisches und bürgerfernes Gebilde erlebt. Sie wird für viele soziale Probleme in den Mitgliedsstaaten mitverantwortlich gemacht. Ein „europäischer Sozialstaat“ könnte demgegenüber soziale Bürgerrechte schaffen, die sich als ein wesentliches identifikationsstiftendes Element für den europäischen Zusammenschluss auswirken könnten.“227
Auf politischer Bühne war es insbesondere Jacques Delors, der den Begriff des ‚Europäischen Sozialmodells’ Mitte der 1990er Jahre in die Debatte einbrachte und damit herausheben wollte, „was die EU-Europäer über alle Unterschiede hinweg einer europäischen Identität längerfristig zugrunde legen könnten.“228 Die Meinungen darüber, was unter einem solchen „Europäischen Sozialmodell“ zu verstehen sei, gehen allerdings auseinander. Gerade im Rahmen der Debatte um den Vertrag für eine Verfassung von Europa (VVE) wurde das Projekt eines „Sozialen Europas“ von links, aber auch von rechts angegriffen. So argumentierten die Gegner des damaligen Verfassungsvertrages, dass das gegenwärtige Europa aber auch die Neuerungen im Verfassungsvertrag nicht dem Anspruch eines „Sozialen Europas“ entsprechen würden. Einige Vertreter betonten zudem, dass ein soziales Europa weder wünschenswert noch möglich wäre. Die Diskussion ist hochkontrovers, wobei die Frage, inwieweit das Europa der Zukunft „sozial“ sein kann, im Mittelpunkt steht? Zu fragen ist dann jedoch auch, was unter dem Adjektiv „sozial“ zu verstehen ist und was letztlich mit Europa gemeint ist. Denn dabei könnte es sich einmal um ein Europa handeln, welches sich durch gemeinsame Politiken auf europäischer Ebene auszeichnet, oder aber um ein Europa als die Summe national-
225
Vgl. hierzu Kapitel 4 z. B. Kowalsky (1999:32), Mény et al. (1996:10f.), Kodré/Leibfried (1999:290) 227 Kodré/Leibfried (1999:290) 228 Ostner (2000:23) 226
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5 Europäisches Skript
staatlicher Gesellschaften, die sich durch ein gewisses Maß an „sozialen Gemeinsamkeiten“ auszeichnen. Letzteres Verständnis geht meist aus einem Vergleich mit den USA hervor. 5.1.1 Soziales Europa Die Debatte um ein ;Soziales Europa’ und eine ‚soziale Dimension’ der europäischen Integration und europäischer Politiken dreht sich einerseits um die Frage, was die Europäer bereits an Gemeinsamkeiten vorzuweisen haben und andererseits um die Frage, inwieweit auf europäischer Ebene die soziale Dimension (noch) geschaffen bzw. gestärkt werden kann, so dass sich die Europäer damit identifizieren könnten. Dabei durchzieht die Debatte ein Spannungsverhältnis zwischen dem, was bereits vorhanden ist, also nationalstaatliche Institutionen, einem – wie auch immer zu definierenden – europäischen Sozialmodell und den sozialen Werten der Europäer und ‚etwas’, was noch geschaffen werden soll, ein Soziales Europa als zu verwirklichendes Projekt. Die Diskussion um eine soziale Dimension rückte ab Mitte der 1980er Jahre im Rahmen der Debatte über die möglichen Folgen und Auswirkungen, die die schrittweise Implementierung eines europäischen Binnenmarktes mit sich bringen würden, ins Blickfeld der integrationstheoretischen Debatten. Die dabei konstatierte Disparität zwischen den beiden Integrationsdynamiken von positiver und negativer Integration verweist auf den Umstand, dass sich der europäische Integrationsprozess im Rahmen einer strukturellen Dominanz marktschaffender bzw. ökonomischer Integrationsziele (negative Integration) vollzog, während marktkorrigierende Elemente (positive Integration) nicht in gleichem Maße auf die Gemeinschaftsebene verlagert wurden.229 Durch die (freiwillige) Abschaffung von Beschränkungen im freien Marktwettbewerb zwischen den Mitgliedsstaaten der EU ergeben sich Einschränkungen für die Handlungs- und Steuerungsfähigkeiten der Nationalstaaten insbesondere im Bereich der Sozialpolitik, da die nationalen Systeme der Arbeitsbeziehungen unter Druck (Standortwettbewerb) geraten und eine sozialpolitische Abwärtsspirale (social dumpings) als mögliche Folge befürchtet wird. Ein daraus resultierender „halbsouveräner Wohlfahrtsstaat“230 büßt, so die Diagnosen, durch die Vorgaben des Wachstums- und Stabilitätspaktes im Rahmen der Wirtschafts- und Währungsunion an Autonomie ein, ohne dass auf europäischer Ebene ein wirksames Korrektiv in Form einer europäischen Sozialpolitik etabliert wurde.231 Vor diesem Hintergrund, dass die Europäische Einigung primär ein markt-liberales Projekt sei, wurde in der Debatte ein Mangel an marktkorrigierenden Mechanismen festgestellt. Dieser Mangel führe letztlich dazu – so die Kritik maßgeblich von Seiten der Linken – dass sich die Bürger mit dem Markt-Europa, wie es bisher wirke, nicht ausreichend identifizieren könnten, sondern gerade Ängste auf Seiten der Bürger geschürt würden. Während Vertreter neoliberaler Positionen bereits ein „Zuviel“ an politischer Integration feststellen und eine Rückkehr zu einer „europäischen Minimalgesellschaft“232 fordern, wird aus dem Spektrum linksideologischer Positionen die prinzipielle Gefahr gesehen, dass ein ungezügelter Markt soziale Integration verhindere. Genschel (1998) macht in diesem Kontext auf 229
Scharpf (1999:47ff.), Wendler (2005:12ff.), Leibfried (1998:60ff.) Leibrfried (1998:10) 231 U. a. Scharpf (1999: 27), Wendler (2005:12ff.), Meyer (2006a) 232 Möschel (1993:23), zitiert nach Genschel (1998:11) 230
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die unterschiedlichen Bewertungsmaßstäbe aufmerksam, die der jeweiligen Betrachtung des bisherigen europäischen Integrationsprozesses zugrunde gelegt werden. „Beurteilen die Rechten die europäische Integration unter dem Gesichtspunkt, was sie zur Zivilisierung des Staates, zur Einhegung hoheitlicher Diskretionsspielräume und zur Durchsetzung wirtschaftlicher Freiheitsrechte beiträgt, so fragen die Linken, was durch die Integration für die Domestizierung des Kapitalismus, die Gewährleistung sozialer Anspruchsrechte und die demokratische Gestaltbarkeit der Gesellschaft gewonnen (oder verloren) wird. Den einen geht es um einen europäischen Markt ohne Binnengrenzen und Wettbewerbsverzerrungen, den anderen darum, diesen Markt unter politische Kontrolle zu bekommen (…)Nach ihrer Vorstellung sollte sich deshalb der Staat nicht darauf beschränken, die institutionellen Voraussetzungen von Märkten zu garantieren, sondern innerhalb gewisser Margen auch Verantwortung für deren Ergebnisse übernehmen und diese gegebenenfalls durch steuernde Eingriffe und umverteilende Maßnahmen korrigieren (Polanyi 1978).“233
Eine demokratietheoretische Betrachtung des bisherigen Europäischen Integrationsprozesses unter der Fragestellung, inwieweit dieser den sozialen Zusammenhalt der nationalen Gesellschaften sichert und ebenso einen Zusammenhalt des Europäischen Gemeinwesen als Ganzes zu fördern vermag, wirft zwangsläufig die Frage nach der sozialpolitischen Gestaltung des Prozesses auf. Unter diesem Blickwinkel übernimmt nämlich gerade Sozialpolitik im weiteren Sinne234, bestimmte Funktionen, die den gesellschaftlichen Zusammenhalt stärken sollen. Argumentativ untermauert wird dies in der wissenschaftlichen Literatur235 mit Verweis auf drei Hauptfunktionen, die sozialpolitischer Gestaltung zugeschrieben werden: Erstens, übernimmt Sozialpolitik die Funktion eines Schutzes vor Marktkräften, indem sie „der menschlichen Arbeit zumindest bis zu einem gewissen Grad den Charakter als „Ware“ zu nehmen [vermag], auf deren Verkauf Menschen zur Sicherung ihrer physischen und sozialen Existenz bedingungslos angewiesen sind. Normativ gedeutet dient Sozialpolitik in diesem Sinne der Verwirklichung eines Mindestmaßes an Verteilungsgerechtigkeit insofern, als durch Umverteilung das physische oder soziokulturelle Existenzminimum eines jeden Menschen gesichert werden soll, unabhängig von dem Güterbündel, dass dieser durch die Aktivität auf (ungeregelten) Märkten erwirtschaften könnte.“236
Eine solche Entkoppelung sozialer Sicherheit vom Arbeitsmarkt, was als Dekommodifizierung bezeichnet wird, kann auf verschiedene Weise erreicht werden. So zum Beispiel durch Eingriffe in den Arbeitsmarkt in Form von Kündigungsschutz, arbeitsrechtlichen Schutzstandards etc. oder durch eine weitgehende Lösung von Sozialleistungsansprüchen an einer
233
Genschel (1998:11) „Sozialpolitik im engeren Sinne (…) bezeichnet die institutionellen, prozessualen und entscheidungsinhaltlichen Dimensionen der gesamtgesellschaftlich verbindlichen Regelung der sozialen Sicherheit (vor allem des Schutzes vor materieller Not, der Sicherung gegen Wechselfälle des Lebens und der Bekämpfung krasser Ungleichheit) durch Staat, Verbände, Betriebe, Familien und Eigenvorsorge. Zur Sozialpolitik im weiteren Sinne zählen zusätzlich die Gestaltung der Arbeitsordnung, mitunter auch die Beschäftigungspolitik und das Bildungswesen ("Wohlfahrtsstaat").“ zit aus: Andersen/Woyke (2003) Lemma Sozialpolitik 235 Hier beziehe ich mich auf die Darstellung von Thalacker (2006:12-18). 236 Thalacker (2006:13) 234
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vorherigen Erwerbstätigkeit, zum Beispiel in Form einer steuerfinanzierten Grundrente für alle Bürger, einer allgemeinen Grundsicherung etc . Zweitens wird Sozialpolitik eine positive Rolle im Rahmen von Modernisierungsprozessen zugeschrieben, indem diese hilft, negative Folgen der Modernisierung abzufedern. So zum Beispiel wenn Menschen im Zuge von Modernisierungsprozessen aus ihren vorherigen sozialen Bindungen herausgelöst werden und durch neue staatlich organisierte oder vermittelte Solidaritätsformen aufgefangen und sozial abgesichert werden. Zudem kann Sozialpolitik eine „Verbesserung der individuellen Anpassungsfähigkeit der von den Veränderungen betroffenen Menschen“ ermöglichen, indem in die Bildung von Humankapital investiert (Bildung, Weiterbildung etc.) wird. Darüber hinaus können sozialpolitische Maßnahmen dahingehend wirken, dass politische und gesellschaftliche Widerstände gegenüber Veränderungsprozessen abgebaut werden, da durch die Gewährleistung eines Auffangnetzes zum Beispiel die (Risiko-)Bereitschaft neue berufliche Wege zu gehen, erhöht werden kann. Drittens werden sozialpolitische Maßnahmen dadurch legitimiert, dass sie die Gewährleistung gesellschaftlicher Teilhaberechte sicherstellen (sollen). Im Rahmen der Theorie der Sozialen Demokratie (Meyer 2005) stellt Sozialpolitik ein entscheidendes politisches Instrumentarium dar, mit dem die Realwirkung von Grundrechten, insbesondere der sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen sicher gestellt werden kann. Prinzipielles Ziel von Sozialpolitik ist demnach die Verbesserung der sozialen Verhältnisse, so z. B. indem Marktteilnahme ermöglicht wird. Angesichts dieser der Sozialpolitik zugeschrieben sozialintegrativen Wirkung, wird der europäische Integrationsprozess in seiner bisherigen Ausgestaltung kritisch hinterfragt werden. Nach Genschel (1998) ist die relativ spät einsetzende „linke Europa-Kritik“237 darauf zurückzuführen, dass „das Projekt der europäischen Einigung Konnotationen [besaß], die es für Linke unwiderstehlich machten – Frieden und europäische Selbstbehauptung, Nichtdiskriminierung und internationale Solidarität. Zum anderen wurden die Inkompatibilitäten zwischen europäischer Marktintegration und nationaler Sozialpolitik nicht sofort erkennbar. Der nationale Wohlfahrtsstaat stand während der 60er und 70er Jahre noch in voller Blüte und täuschte damit darüber hinweg, daß sein Fundament bereits unterspült wurde. Schließlich erschien es lange Zeit auch möglich, die durch die Integration auf nationaler Ebene geopferte politische Kontrolle auf höherer europäischer Ebene wiederzugewinnen (Geyer 1993:91). Funktionalistische Theorien erklärten geradezu zur Zwangsläufigkeit, daß dem gemeinsamen europäischen Markt irgendwann die Schaffung eines - wahrscheinlich föderal organisierten - europäischen Sozial- und Interventionsstaates folgen müßte, der dann für Europa als Ganzes leistet, was die Mitgliedstaaten nicht mehr getrennt für ihre jeweiligen Länder zu leisten in der Lage sind. Alles, was sich in dieser Richtung tat oder nicht tat, wurde als Vorspiel der kommenden europäischen Staatlichkeit interpretiert (Streeck 1995a:407409).“
Je länger jedoch die strukturelle Asymmetrie zwischen negativer und positiver Integration sich fortsetzte, umso mehr rückten die Auswirkungen ins Blickfeld. Infolgedessen wurde u. a. konstatiert, dass ein reines ‚Markt-Europa’ die sozialen Arrangements der Nationalstaaten untergrabe. Leibfried (2005) trägt sieben durch den Europäischen Integrationsprozess hervorgerufene Restriktionen staatlicher Autonomie zusammen. Die im Folgenden 237
Genschel (1998:12)
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stark verkürzt wiedergegebenen Einschränkungen entstehen einerseits im Rahmen der von der EU gewährleisteten freien Mobilität von Arbeitnehmern (1-4) und zum anderen angesichts der Dienstleistungsfreiheit und des Europäischen Wettbewerbssystems (5-7): 1. 2. 3. 4. 5.
Die einzelnen Mitgliedsstaaten können ihre Sozialleistungen nicht mehr allein auf die eigenen Bürger begrenzen; und auch nicht mehr darauf insistieren, Rechte und Leistungen nur noch innerhalb ihres eigenen Staatsgebiets zu gewährleisten; sowie nicht mehr vollständig den Wettbewerb mit anderen Anbietern soziale Leistungen auf ihrem Staatsgebiet verhindern. Auch wird ihr ausschließliches Recht die Regelung der Sozialleistungsansprüche von Migranten zu bestimmen, beschnitten und durch die Vertragskonstellation werden die nationalen Wohlfahrtsstaaten in zweifacher Hinsicht „gelenkt“ bzw. gerahmt: „it sets contours for protecting core welfare state components (redistribution, pay-as-you-go etc.); but, when redistribution recedes, it moves the welfare state (in whole or in part) over the borderline into the sphere of “economic action”, thus slowly submerging its activity in a single European “social security” market.”238
6. 7.
Nationale Regierungen können nicht mehr allein entscheiden, wer Sozialleistungen anbietet. Bereits im Gesundheitswesen könne das erste europaweite „turf battle between national welfare states and the EU plus market, as represented by private insurance, producers etc.“239 beobachtet werden, so dass die nationale Autonomie bereits stark eingeschränkt ist.
Mit dem Argument, dass die Nationalstaaten durch die Schaffung eines gemeinsamen Binnenmarktes an Handlungskompetenz einbüßen, wurde folglich gefragt, inwieweit auf europäischer Ebene die soziale Dimension gestärkt werden müsse, um die verloren gegangene Handlungsfähigkeit zumindest teilweise auf europäischer Ebene wiedererlangen zu können. Dabei übernähme eine solche gestärkte soziale Dimension auf europäischer Ebene zum einen die Funktion, die nationalen Wohlfahrtsstaaten zu schützen, indem ein Unterbietungswettbewerb und Sozialabbau durch gemeinsame Regulierung verhindert werden könnte, und zum anderen bekäme die Europäische Union ein „sozialeres Gesicht“, was die Akzeptanz der Bürger hinsichtlich des Integrationsprozesses steigern würde. Bei diesem zweiten Argument wurde demnach primär aus nationalstaatlicher Perspektive die Gefahr negativer Folgewirkungen des Binnenmarktprojektes diskutiert. Weitere wichtige Aspekte in der Debatte um ein „Soziales Europa“ begründen die externen und internen Herausforderungen der nationalen Wohlfahrtsstaaten, wobei verstärkt nach der Rolle Europas zur Lösung dieser Herausforderungen gefragt wird. Zum einen werden unter den Bedingungen der Globalisierung240 Elemente der nationalen Wohlfahrtsstaaten untergraben, zum anderen sehen sich alle europäischen Wohlfahrtsstaaten Reform238
Leibfried (2005:268) Ebd. 240 Globalisierung hier insbesondere in ihrer amerikanischen-markt-liberalen Lesart. Vgl. dazu die Definition von Globalisierung S. 2 239
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erfordernissen gegenübergestellt, die aus internen gesellschaftspolitischen Veränderungen wie demographischem Wandel, veränderten Erwerbsbiographien und Risiken sozialer Exklusion herrühren. Diese veränderte Problemlage, die sich in der Debatte um die „Krise des Wohlfahrtsstaates“ widerspiegelt241, ließ die Debatte um ein „Soziales Europa“ zur Bewältigung oder zumindest Abfederung dieser Herausforderungen virulent werden. In dem Maße wie es im europäischen Zusammenschluss gelänge diesen internen und externen Herausforderungen gemeinsam zu begegnen, würde Europa nicht mehr maßgeblich als ein liberales und die nationalstaatlichen sozialen Arrangements gefährdendes Projekt wahrgenommen, sondern könnte als ein sozialeres Projekt die Zustimmung der Bürger gewinnen und damit seine Legitimation und Stabilität sichern. Man könnte auch sagen, dass Europa einen zusätzlichen, neuen sichtbaren Mehrwert für die Menschen erlangen sollte, nachdem das primäre Ziel ‚Frieden durch Marktintegration’ zunehmend an Bindungskraft verlöre, da es gerade unter den jüngeren Generationen als eine Selbstverständlichkeit wahrgenommen würde. Damit hängt auch zusammen, dass unter den gewandelten sozio-politischen Bedingungen der Hochmoderne neue Unsicherheiten aufkommen, Identitäten flexibler sind und vom Individuum größere Spannungen auszuhalten verlangt wird (siehe Kapitel 3). Vor dem Hintergrund solcher Anpassungsleistungen und Unsicherheiten erscheint die Vorstellung, dass Europa, welches als eine Art ‚sozialer Schutzraum’ fungiert und soziale Sicherheit und Arbeitsplätze sichert, als ein positives Projekt, welches Identität zu stiften vermag. Zumal wenn der europäische Integrationsprozess selbst als ein Modernisierungsprozess begriffen wird242, stellt sich nicht nur die Frage inwieweit dadurch neue soziale Probleme entstehen, sondern auch wie diese gelöst werden können. Dabei wird davon ausgegangen, dass eine Verankerung bzw. Stärkung von Sozialpolitik auf Europäischer Ebene die – zum Teil durch die wirtschaftspolitische Integration selbst hervorgerufenen – nationalstaatlichen Interventions- und Steuerungsverluste kompensieren kann. Durch eine gemeinsame europäische Sozialpolitik würde neoliberalen Wirkungsmechanismen und einer Aushöhlung nationalstaatlicher Arrangements entgegengewirkt und Sorge dafür getragen, dass im Rahmen der EU ein soziales Gesellschaftsmodell erhalten bleibt. In diesem Zusammenhang wird im Rahmen der Debatte auf ein in Abgrenzung zum amerikanischen Gesellschaftsmodell zu erhaltenes europäisches Gesellschaftsmodell verwiesen. 5.1.2 Ein Europäisches Sozialmodell Wie erwähnt, kam im Rahmen der Diskussion um eine sozialpolitische Flankierung des europäischen Integrationsprozesses das Konzept eines ‚Europäischen Sozialmodells’ (ESM) auf, welches nicht zuletzt eine begriffliche Abstraktion dessen darstellen sollte, was als eine wesentliche Gemeinsamkeit der europäischen Mitgliedsstaaten gelten könne und was es zu bewahren gelte. Eine genaue Bestimmung der konstitutiven Merkmale des europäischen Sozialmodells stößt hingegen auf gewisse Schwierigkeiten. „Jede nähere Bestimmung der konstitutiven Elemente jenes europäischen Sozialmodells hatte bald mit der Schwierigkeit der vielen Abweichungen zu kämpfen: Nicht alle Mitgliedsstaaten der EU setzen gleichermaßen auf Kooperation und Konsens, Solidarität und Subsidiarität; nicht 241 242
Vgl. dazu z. B. Kaufmann (2003a: 160-181) Thalacker (2006)
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alle sorgten ebenso für Nichterwerbstätige wie für Erwerbstätige […] Empirisch ließen sich allein innerhalb EU-Europas wenigstens vier Sozialmodelle unterscheiden. Und jedes dieser Sozialmodelle war spätestens seit Beginn der 1990er Jahre einem wachsenden Veränderungsdruck ausgesetzt. Die Rede vom europäischen Sozialmodell – falls davon überhaupt die Rede war – zielte auf einen beweglichen Punkt, der im Dunkeln lag und nur durch Vergleich mit den USA oder der übrigen Welt an Konturen gewann.“243
Um als ein identitätsstiftendes Leitbild fungieren zu können, ist es demnach entscheidend, inwieweit sich das Europäische Sozialmodell als ein genuines Modell beschreiben lässt, sei es hinsichtlich der realen Gemeinsamkeiten der unterschiedlichen europäischen Wohlfahrtsstaaten oder eben im Sinne eines normativen Grundmodells, welches dann je spezifische nationale Ausprägungen aufweise.244 Thalacker (2006) identifiziert vier grundlegende Schwierigkeiten bei der eindeutigen Bestimmung eines europäischen Sozialmodellcharakters:
die Vielfalt der Sozialsysteme in Europa der gewählte geographische Bezug, wobei je nachdem welche Staaten in die inhaltliche Definition miteinbezogen werden, die konstitutiven Merkmale variieren können. der Wandel, dem die nationalen Wohlfahrtsstaaten in Europa unterliegen das Problem einer Abgrenzung zu anderen Modellen, die außerhalb Europas vorzufinden sind, da es vielfach empirische Überschneidungen gibt.245
Vor dem Hintergrund dieser definitorischen Schwierigkeiten bestreiten einige Autoren die Existenz eines „Europäischen Sozialmodells“, da die Unterschiede zu groß seien und eine sozialpolitische Harmonisierung weder möglich noch wünschenswert sei. So zum Beispiel Scharpf (2002), der eine Harmonisierung der nationalstaatlichen Sozialpolitiken durch die europäische Ebene ausschließt.246 Vobruba (2001) hält die Diskussion um ein Europäisches Sozialmodell maßgeblich für einen von empirischen und normativen Grundlagen abgehobenen Elitendiskurs, der nicht auf einer Selbstbeschreibung der europäischen Bürger fuße.247 Für die europäischen Bürger wäre nach wie vor der Nationalstaat primärer Bezugspunkt sozialpolitischer Forderungen und politischer Identifikation. Ähnlich argumentiert Streeck (1996) wenn er den Nationalstaat als primären Bezugspunkt sozialpolitischer Erwartungen auf der Grundlage einer nationalen Identität und Solidarität nennt.248 Autoren wie Streeck (1996); Scharpf (1995; 1996a+b) und Schmidt (1997) zum Beispiel befassten sich maßgeblich mit der Frage, warum es nicht gelang, marktkorrigierende (positive Integration) Politiken in gleichem Maße wie marktsschaffende (negative Integration) auf europäischer Ebene zu verankern. Vier Hauptgründe werden in diesem Kontext genannt: Erstens, weil die in den Römischen Verträgen verankerte europäische Konstruktion letztlich einen liberalen Bias aufweise und nur die marktschaffende Integration explizit verankert wurde, so dass sich diese „quasi-automatisch“ unter der Aufsicht der Kommission und des EuGH über Vertragsverletzungsverfahren und Wettbewerbsaufsicht entfalten 243
Ostner (2000:23), ebenfalls bei Thalacker (2006:60) Thalacker (2006:60) 245 Ebd. 246 Siehe hierzu die zusammenfassende Diskussion bei Thalacker (2006:62ff.), vgl. auch Scharpf (2002:50ff.) 247 Ebd., vgl. auch Voruba (2001:88) 248 Ebd., vgl. auch Streeck (1996:303) 244
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konnte. Positive Integrationsvorhaben, die zwar grundsätzlich nicht ausgeschlossen waren, blieben jedoch von Ratsentscheidungen abhängig.249 Zweitens, weil mit der Einheitlichen Europäischen Akte die Rechtsangleichungsmaßnahmen bezüglich des Binnenmarktes auf der Grundlage von Mehrheitsentscheidungen vollzogen werden konnten, während marktkorrigierende Maßnahmen nach wie vor nach dem Prinzip der Einstimmigkeit zustande kommen mussten, was letztlich aufgrund der hohen Konsensanforderungen weit aus schwerer zu erreichen ist.250 Drittens, weil ein Konsens im Rat hinsichtlich positiver Integrationsschritte dadurch erschwert ist, dass die Mitgliedsstaaten sehr unterschiedliche ökonomische Entwicklungsniveaus und institutionelle Strukturen aufweisen. Aufgrund dieser institutionellen und strukturell-ökonomischen Unterschiede würde eine sozialpolitische Harmonisierung für einige Länder – insbesondere ökonomisch schwächere Länder – erhebliche Kosten verursachen, so dass eine Einigung auf soziale Mindeststandards als wenig wahrscheinlich angenommen wird. „Mit Entschädigungen in Form großzügiger Transferzahlungen aus den reichen Ländern können sie dabei kaum rechnen. Dass diese willens und in der Lage wären, für die europäische Sozialunion zu zahlen, was Westdeutschland für die Vereinigung mit Ostdeutschland zahlt, mutet jedenfalls eher unwahrscheinlich an. Daraus folgt: Eine Einigung auf ein einheitlich hohes Regelungs- und Anspruchsniveau ist wegen der damit verbundenen distributiven Effekte schwierig und in vielen Fällen unerreichbar.“251
Hierbei wird ganz deutlich, dass eine sozialpolitische Harmonisierung oder auch nur einzelne regulative Maßnahmen eben immer auch vom politischen Willen der Akteure abhängt, ob diese bereit sind, gewisse Anpassungsleistungen zu zahlen und Macht an die Europäische Ebene abzutreten. Viertens werden die nationalen Pfadabhängigkeiten als ein weiterer Grund für die Schwierigkeit der Implementierung positiver Integrationsschritte auf europäischer Ebene genannt. Aufgrund der je spezifischen und historisch gewachsenen Strukturen der nationalen Systeme der sozialen Sicherheit, des Gesundheits- und Rentenwesens, der industriellen Beziehungen, im Bildungs- und Erziehungswesen, in der Forschung, in den Massenmedien oder dem Umweltschutz wird gemeinhin angenommen, dass eine Änderung dieser tief verankerten Strukturen und Institutionen letztlich nur im Rahmen so genannter critical junctures erfolgt, ansonsten jedoch eher unwahrscheinlich ist. Demnach stünden die institutionelle und strukturelle Vielfalt der Systeme einem sozialpolitischen Harmonisierungsprozess entgegen. Zudem würden Interessengruppen auf nationaler Ebene sich gegen Harmonisierungstendenzen stellen, da sie ihre Machtposition auf nationaler Ebene nicht gefährden wollen. Als ein in diesem Sinne paradoxes Beispiel können die Gewerkschaften genannt werden, die – obgleich ihnen naturgemäß an einer schnellen sozialpolitischen Harmonisierung hätte gelegen sein müssen, um social dumping zu verhindern –aus Sorge einer Einbuße ihrer nationalen Machtposition „institutionellen Nationalismus“ (Streeck) betrieben haben.252 Jüngste Forschungsergebnisse stützen und erweitern die These des „institutionellen Nationalismus“ dahingehend, dass lediglich die Gewerkschaften, die auf nationaler 249
Scharpf (1996b:113), Schmidt (1997:9ff.), Genschel (1998:16) Streeck (1995:358f), Genschel (1998:16) 251 Genschel (1998:17) nach Scharpf (1996b:120f.) 252 Genschel (1998:17), s. auch Streeck (1995:418) 250
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Ebene an Macht einbüßten, die europäische Ebene als eine neue, nützliche Ebene gewerkschaftlicher Organisation betrachteten (so z. B. der Fall bei französischen und britischen Gewerkschaften), während auf nationaler Ebene nach wie vor starke Gewerkschaften weniger europäische Ambitionen zeigten, wie zum Beispiel die schwedischen, deutschen und österreichischen Gewerkschaften.253 In das Argument der nationalen Pfadabhängigkeiten als Hindernis eines sozialeren Europas spielt letztlich auch die Annahme mit hinein, dass in den Mitgliedsstaaten spezifische nationale politische Kulturen und damit auch unterschiedliche Vorstellungen, Interessen und Perspektiven auf ein „Soziales Europa“ vorherrschen. Diese Vielfalt bzw. Unterschiedlichkeit wird dann als ein weiteres Hindernis hinsichtlich einer Konsensfindungen auf europäischer Ebene bewertet. Dies scheint insofern plausibel, als politische Kulturen den Handlungsspielraum nationaler Akteure mitbestimmen, die schließlich wiedergewählt werden wollen. Allerdings sind politische Kulturen auch keine fortwährend feststehende Größen, sondern durchaus Wandlungsprozessen – wenn auch relativ langsam – unterworfen (siehe Kapitel 4). Unter diesen von den Autoren genannten strukturellen, institutionellen und akteursbezogenen (Rahmen-)Bedingungen wird die Existenz eines bereits vorhandenen (national-historischen) Europäischen Sozialmodells bestritten bzw. die Schaffung eines solchen, im Sinne einer umfassenden sozialpolitischen Harmonisierung auf europäischer Ebene als im Grunde unmöglich angesehen. In der Zusammenschau ist die Kritik am Konzept eines Europäischen Sozialmodells vielfältig. So wird zum einen die Existenz eines Europäischen Sozialmodells bestritten, da nicht eines, sondern vielmehr mehrere Sozialmodelle in Europa empirisch vorfindbar seien. In diesem Kontext wird meist auf die Wohlfahrtsstaatstypologie von Esping-Andersons (1990) Bezug genommen und diese mitunter um weitere Typen erweitert. Diese Vielzahl an Modellen, je nach Betrachtung drei, vier oder fünf werden als Grund dafür angeführt, dass durch die Unterschiedlichkeit bzw. Pfadabhängigkeiten der Modelle diese sich nicht einfach auf die Europäische Ebene transformieren lassen. Des Weiteren wird angezweifelt, ob es so etwas wie einen sozialen Konsens auf europäischer politischer Ebene gibt bzw. geben kann. Damit einher geht auch das Argument, dass die Bevölkerungen der Mitgliedsstaaten die Schaffung eines Europäischen Sozialmodells, also eine Übertragung sozialpolitischer Kompetenzen auf die EU-Ebene nicht befürworten würden, da alle sozialpolitischen Erwartungen der Bürger nach wie vor auf den Nationalstaat fixiert blieben. Befürworter des Konzeptes eines Europäischen Sozialmodells hingegen sehen trotz dieser genannten Schwierigkeiten ein ausreichendes Maß an Gemeinsamkeiten der europäischen Staaten gegeben, die die Rede von einem Europäischen Sozialmodell rechtfertigen würden. Einige Definitionen der Gemeinsamkeiten sind recht allgemeiner Natur oder weisen einen hohen Grad an Abstraktion auf. Andere Beschreibungen beziehen sich nur auf einen Teilbereich von Sozialpolitik als Ausdruck eines Europäischen Sozialmodells bzw. betrachten nur einen Teil der Mitgliedsstaaten. Nichtsdestotrotz wird dem Konzept eines Europäischen Sozialmodells legitimations- und identitätsstiftender Charakter zugesprochen, entweder indem es ein normatives Leitbild für das europäische Integrationsprojekt liefert oder auf der Basis empirisch beobachtbarer Gemeinsamkeiten als Quelle eines bereits vorhandenen Konsenses hinsichtlich eines sozialen Gesellschaftsmodells betrachtet wird. In diesem Kontext wird europäische Identität zumeist in Abgrenzung zu den USA definiert. Hiernach gründe europäische Identität in der Vorstellung eines sozialen Gesellschaftsmo253
Bieler (2003)
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dells, was sich vom liberalen bzw. libertären254 Gesellschaftsmodell, wie es in den USA vorzufinden ist, prinzipiell unterscheide. Aigner und Guger (2005) definieren das Europäische Gesellschaftsmodell über drei charakteristische Merkmale, die allen europäischen Ländern gemein wären und diese von den Gesellschaftsmodellen Asiens und der USA deutlich unterscheiden lässt. Demnach basiere das Europäische Gesellschaftsmodell:
„auf einer breiten Verantwortung der öffentlichen Hand für soziale Wohlfahrt, die sich neben der Absicherung gegen Armut und Risiken des Lebens wie Krankheit, Arbeitslosigkeit, Alter und Behinderung auch auf Gesundheitsvorsorge, die Förderung von Familien und das Bildungsangebot bezieht; auf sozialem Dialog, institutionalisierten Arbeitsbeziehungen, Mitbestimmung am Arbeitsplatz und Arbeitsschutz; und auf Leistungen, die in der Regel universellen und inklusiven Charakter haben und über den gesamten Lebenszyklus verteilt allen Gesellschaftsmitgliedern zugute kommen und den sozialen Zusammenhalt stärken.“255
Darüber hinaus verweisen sie darauf, dass die EU im Entwurf über eine Verfassung für Europa256 soziale Grundrechte garantiere, die in den USA und anderen nicht-europäischen Ländern noch umstritten sind.257 Ähnlich sieht Meyer (2005) eine weitgehende Übereinstimmung der europäischer Staaten in der Unterzeichnung (und damit faktischen Anerkennung) des ersten Paktes der UN-Menschenrechtskonvention, in dem die sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Grundrechte verankert sind.258 Giddens (2006) verweist explizit darauf, dass das Europäische Sozialmodell nicht als ein einheitliches Konzept verstanden werden darf, sondern eher als eine Mischung aus Werten, Errungenschaften und Bestrebungen, die in der Form und dem Ausmaß der Ausgestaltung variieren. Demnach spricht er von vier Definitionsmerkmalen: 1. 2. 3. 4.
254
„a developed and interventionist state, as measured in terms of level of GDP taken up by taxation; free and compulsory education up to final secondary school level; a robust welfare system that provides effective social protection to some considerable degree for all citizens, but especially for those most in need; the limitation, or containment, of economic and other forms of inequality.”259
Die Unterscheidung zwischen ‚liberal’ und ‚libertär’ bezieht sich hier auf die in der Theorie der Sozialen Demokratie vorgenommenen Ausdifferenzierung liberaler Demokratien in einen „libertären“ Typus, welcher dem amerikanischen Gesellschaftsmodell am nächsten ist, und einen „sozialen“ Typus, wie er am weitesten in den skandinavischen Ländern, allen voran Schweden vorzufinden sei. Meyer (2005, 2006a) 255 Aiginger/Guger (2005:2) 256 Dieser ist zwar in der Zwischenzeit gescheitert, jedoch werden auch im neuen Vertragsentwurf soziale Grundrechte verankert. Siehe dazu ausführlicher unter 4.3. 257 Aiginger/Guger (2005:3) 258 Meyer (2005) Meyer geht es hierbei allerdings nicht um die Definition eines Europäischen Sozialmodells. Er sieht in der Anerkennung dieser Grundrechte ein Merkmal und eine Voraussetzung sozialer Demokratie im Unterschied zum libertären Demokratietypus, wo eben diese Grundrechte im Gegensatz zu den Freiheits- und Bürgerrechten nach wie vor umstritten sind. 259 Giddens et al. (2006:15)
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Falkner (1998) sieht ein Europäisches Sozialmodell dahingehend vorliegen, dass alle Wohlfahrtsstaaten ein hohes Entwicklungsniveau und stärkere Konsensorientierung in kollektiven Arbeitsbeziehungen (im Rahmen der jeweiligen länderspezifischen sozialen Dialoge) als in anderen Regionen der Welt aufweisen würden.260 Ostheim und Zohlnhöfer (2002) ermitteln als Charakteristikum des ESM den Anspruch, Menschen in die Marktbeziehungen wieder einzugliedern, jedoch weniger über harte Aktivierungsmaßnahmen als vielmehr über die Förderung von Fähigkeiten und durch Chancenverbesserung zur Marktteilnahme.261 Auch Eichenhofer (2003) betont die marktintegrative Funktion des ESM indem er das Europäische Sozialmodell als „eine auf Marktfreiheit gründende Wettbewerbsordnung mit ausgebauter öffentlicher Vor- und Fürsorge, auf das auch diejenigen am Markt teilhaben können, die dazu aus eigener Leistung nicht imstande wären“262 beschreibt. Andere Autoren wie Kaeble (2000) und Kohl/Platzer (2003) heben vorrangig auf die supranationale, als eine die nationalstaatlichen Politiken ergänzende, Dimension ab263, während Vaughan-Whitehead (2003) in der gemeinsamen Zielverpflichtung der europäischen Mitgliedsstaaten gegenüber anderen multinationalen Wirtschaftszusammenschlüsse der Welt das entscheidende Abgrenzungskriterium des ESM erkennt.264 Während all diese unterschiedlichen Definition eines Europäischen Soziamodells einerseits recht allgemein geteilte Grundprinzipien in den europäischen Mitgliedsstaaten herausstellen oder eben die europäische Ebene zum Fokus der Betrachtung machen, betont Aust (2000) den normativen Gehalt des Europäisches Sozialmodells, welches als ein normatives Leitbild in Abgrenzung zu den USA verstanden werden sollte. Aust sieht im ESM primär ein begriffliches Gebilde, welches sich über einen Komplex von geteilten Normen definiere.265 In ähnlicher Weise verweist Ferrera (2000) auf ein normatives Grundprinzip, wonach sich die europäischen Staaten selbst verpflichten, ihre Bürger dem Markt gegenüber nicht schutzlos auszusetzen und Maßnahmen gegen ein race to the bottom zu ergreifen.266 Demzufolge wird dem Europäischen Sozialmodell eine Legitimationsfunktion zugeschrieben, die sich „nicht in einer Realitätsbeschreibung erschöpft, sondern ähnlich dem Begriff der ‚Demokratie’ eine permanente normative Verpflichtung darstellt (…).“267 Kowalsky betont ferner, dass die Europäische Gemeinschaft mit der „Herausforderung konfrontiert [sei], eine umfassende, über punktuelle Bemühungen hinausgehende Konzeption sozialer Gerechtigkeit, der gesellschaftlichen Umverteilung, der Verbesserung gesellschaftlicher Lebenslagen, der Teilhabechancen von Individuen und sozialen Gruppen erkennbar werden zu lassen und den politischen Willen zur sozialen Gestaltung.“268 260
Falkner (1998:77), siehe auch Thalacker (2006) Ostheim/Zohlnhöfer (2002:17f.) Eichenhofer (2003:19), zit auch bei Thalacker (2006) 263 Kaelble (2000:46) betont die Arbeitsteilung zwischen der EU-Ebene und der nationalen Ebene, wobei die EU den fairen Wettbewerb und einen regulativen Rahmen setzt, während die nationale Ebene die Vor-und Fürsorge der Menschen bereitstellt. EU-Sozialpolitik springt demnach über all da ein, wo Sozialstaatslücken bestehen würden. Kohl und Platzer (2003:300ff.) heben insbesondere auf das europäische Arbeitsrecht, den sozialen Dialog auf EU-Ebene und die transnationale Interessensvertretung als definierende Merkmale des ESM ab. Vgl. Thalacker (2006) 264 Vaughan-Whitehead (2003:46) bezieht in seine Definition des ESM allerdings nur die westeuropäischen Staaten ohne Großbritannien ein. 265 Aust et al. (2000:12ff.) 266 Ferrera (2000:17), siehe auch Thalacker (2006) 267 Kowalsky (1999:342) 268 Ebd., ebenso zitiert bei Thalacker (2006) 261 262
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Auch die Europäische Kommission selbst verweist auf gemeinsame Werte, die dem Europäischen Sozialmodell zugrunde liegen, so dass die EU-Sozialpolitik als ein wichtiges Politikfeld dargestellt wird, welches zur Verwirklichung dieser Werte beiträgt. Im Weißbuch zur Sozialpolitik von 1994 expliziert die Kommission: „there are a number of shared values which form the basis of the European social model. These include democracy and individual rights, free collective bargaining, the market economy, equality of opportunity for all and social welfare and solidarity. These values -which were encapsulated by the Community Charter of the Fundamental Social Rights of Workers - are held together by the conviction that economic and social progress must go hand in hand, competitiveness and solidarity have both to be taken into account in building a successful Europe for the future. (…) All Member States have reaffirmed their commitment to the social dimension as an indispensable element of building an ever closer Union just as a well developed social system is both necessary and desirable in each individual Member State. European social policy must serve the interests of the Union as a whole and of its entire people, both those in employment and those who are not. There is a widespread agreement that these shared values has to be preserved, even if quite radical changes are required in the way in which they are applied in practice.”269
Die Kommission macht damit das Europäische Sozialmodell, welches auf gemeinsamen Grundwerten basiere, zur Legitimationsgrundlage ihrer Politik. Damit soll das ESM letztlich ein positiv besetztes normatives Leitbild für eine Identifikation mit dem europäischen Projekt und seinen Politiken liefern270. „Der Nutzung des Europäischen Sozialmodells als Legitimationsgrundlage für politisches Handeln liegt die allgemeine, über den Bereich der Sozialpolitik hinausgehende Annahme zugrunde, die EU bedürfe für ihre Politik – mehr als durch die verbreitete Erwartungshaltung der Bürger gleichsam automatisch legitimierten Nationalstaaten – eines positiv besetzten Leitbilds, mit dem sich die Menschen identifizieren können.“271
Es wurde deutlich, dass zwischen dem Europäischen Sozialmodell als normativem Leitbild und der europäischen Sozialpolitik, die als soziale Dimension bezeichnet wird, ein enger Link besteht, jedoch das ESM umfassender gedacht wird. Für eine positive Identifikationsmöglichkeit der Menschen mit dem europäischen Projekt bedürfe es, so Kowalsky (1999) einer stärken Hervorhebung des Zusammenhangs zwischen der sozialen Dimension europäischer Politik und dem normativen Leitbild eines Europäischen Sozialmodells.272 Infolgedessen könnte „die soziale bzw. sozialpolitische Komponente des Integrationsprozesses […] in der europäischen Identitätsbildung einen entscheidenden Stellenwert ein[nehmen].“273 Hier wird der Unterschied – trotz gleichzeitiger enger Verknüpfung – zwischen ESM und ‚sozialer Dimension’ deutlich. Während ersteres primär ein normatives Leitbild dar269
European Commission Com (1994) 333, S. 4 So auch Kaelble (2000:39), Thalacker (2006:68f.), Wendler (2005) Kritiker dieser Sichtweise werfen hingegen die Frage auf, ob eine Legitimation durch das Europäische Sozialmodell nicht vielmehr rhetorischer Natur sei, da die Politiken der EU einen starken neoliberalen Bias habe und im Zuge des Integrationsprozesses in einzelnen Nationalstaaten unter Verweis auf die Erfüllung des Stabilitätspaktes gerade Sozialabbau betrieben wurde. 271 Thalacker (2006:68f.) 272 Kowalsky (1999:32) 273 Ebd. 270
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stellt, welches auf bestimmten geteilten Werten basiert und ein Abgrenzungskriterium zu anderen außereuropäischen Staaten und Regionen darstellt, hebt die soziale Dimension zunächst einmal auf die auf europäischer Ebene vorzufindende Sozialpolitik ab, die einer sozialen Flankierung des Binnenmarktes dienen soll. Die Verbindung zwischen beiden Konzepten liegt darin, dass insbesondere eine Stärkung der europäischen Sozialpolitik dazu verhelfen soll, dem Europäischen Sozialmodell eine wahrnehmbare Substanz zu verleihen. In dieser Lesart stellt die soziale Dimension ein politisches Instrument bzw. eine politische Strategie zur Verwirklichung des normativen sozialen Gesellschaftsmodells dar. Dies impliziert dann aber auch, dass die europäische Sozialpolitik im Sinne des normativen Leitbildes des ESM wirkt (bzw. wirken sollte) oder umgekehrt ausgedrückt, die Werte des Europäischen Sozialmodells die europäische Sozialpolitik leiten (müssten).274 Einige Autoren hingegen betonen, dass eine Identifikation der Bürger mit der EU maßgeblich vom wirtschaftlichen Erfolg abhängt und weniger an bestimmte Werte gebunden sei. Nissen (2004), aber auch Risse (2002) betonen, dass eine Identifikation mit der EU maßgeblich utlitaristischer Natur sei. Dies steht jedoch nicht unbedingt im Widerspruch zu der Behauptung, dass sich auf lange Sicht eine politische europäische Identität nur vor dem Hintergrund eines positiven wertebasierten Leitbildes etabliert. Letztlich erfüllt eine rein utilitaristische Identität nämlich nicht die Kriterien einer demokratischen Legitimation, da sie keine Belastbarkeit in Krisenzeiten aufweist. Vielmehr wird hier erneut deutlich, dass eine europäische Identität als ein Projekt zu begreifen ist, welches bisher noch nicht ausreichend realisiert werden konnte. Abschließend kann festgehalten werden, dass in der Debatte um ein ‚Soziales Europa’ die oben umrissenen ‚Problemidentifikationen’ als etwas gemeinsam Europäisches betrachtet werden, zum einen, da ein ‚Europäisches Sozialmodell’ existiere, welches sich – trotz aller Vielfalt – durch gewisse Gemeinsamkeiten in den historisch gewachsenen institutionellen Arrangements der Nationalstaaten auszeichne und schützens- bzw. erhaltenswert sei. Zum anderen, da die Menschen auch weiterhin in sozialen Gesellschaften leben wollen, soziale Werte und Einstellungen in den nationalen politischen Kulturen tief verwurzelt sind und folglich die Wahrnehmung des europäischen Projektes durch die Bürger prägt. Daraus wird geschlussfolgert, dass nur ein ‚soziales Europa’ in der Lage ist/sein wird, die Identifikation der Menschen mit dem europäischen Projekt zu gewinnen. Vor dem Hintergrund dieser hoch kontrovers geführten Debatte soll an dieser Stelle eine Betrachtung des Skripts klären, welche Art von Sozialpolitik auf europäischer Ebene überhaupt angedacht ist und welche Werte und Prinzipien dieser zugrunde gelegt werden? Kann ein soziales Selbstverständnis bzw. normatives Leitbild auf europäischer Ebene aus den Verträgen abgeleitet werden und wenn ja, was für ein Gesellschaftsmodell kommt darin zum Ausdruck? Zu diesem Zweck wird eine Textanalyse der Verträge von Rom (1957) bis Lissabon (2007) vorgenommen und in deren Rahmen die in den Verträgen zum Ausdruck kommenden sozialen Werte, Ziele, Leitbilder und Politiken herausgearbeitet werden. Dort wo es für ein besseres Verständnis bzw. einer angemessenen Einordnung der Vertragsbestimmungen notwendig erscheint, wird aktuelle Sekundärliteratur in die Analyse miteinbezogen. Die hermeneutische Vorgehensweise bietet sich an, da auf diese Weise eine höhere Flexibilität und Sensibilität bei der Analyse gewährleistet werden kann. Dies erscheint für eine nachvollziehbare Rekonstruktion des normativen Selbstverständnisses aus rechtlichen Verträgen mit zum Teil sehr allgemeinen und dann wieder sehr detaillierten Bestimmungen 274
Thalacker (2006:67)
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unerlässlich. Da mit rein quantitativen Methoden nicht ein gleiches Maß an Informationstiefe und inhaltlicher Transferleistung gewährleistet werden kann. Die Berücksichtigung aller Verträge von 1957 bis 2007 erscheint vor dem Hintergrund der kontinuierlichen, auf einander aufbauenden Vertragsentwicklung sinnvoll und vermag letztlich die zunehmende Bedeutung und Ausdifferenzierung der sozialen Dimension im europäischen Integrationsprozess adäquat zu veranschaulichen.275 5.2 Die soziale Dimension in den Verträgen von Rom (1957) bis Lissabon (2007) Die Rekonstruktion der sozialen Dimension europäischer Identität aus den Verträgen heraus beruht auf der Vorstellung, dass Institutionen „Sinngebilde mit regulierender und orientierender Funktion“276 sind und damit Leitideen vermitteln, die als „Gesamtheit der normativen Ideen eines kollektiven Akteurs in Bezug auf die Ziele und Mittel der Integration“ verstanden werden können (vgl. Kapitel 4).277 Der Terminus des ‚Europäischen Sozialmodells’ wird vor diesem Hintergrund für diese Arbeit als ein politisch definiertes Leitbild des „europäischen Integrationsprojektes“ auf supranationaler Ebene definiert. Eine ganz ähnliche Definition gibt Stephan Aust, wenn er den Terminus des Europäischen Sozialmodells als ein „politisch-ideologisches Konstrukt [beschreibt], das europäische Gemeinsamkeiten definiert und propagiert, die erst noch zu realisieren sind“.278 Zwar findet in den primärrechtlichen Verträgen der Begriff des Europäischen Sozialmodells keine Erwähnung, dennoch kann anhand der grundlegenden Integrationsziele und sozialpolitischen Bestimmungen eine prinzipielle inhaltliche Bestimmung dessen, was von den Mitgliedsstaaten bisher an rechtlich-verbindlichen Zielorientierungen zur Verwirklichung des „Europäischen Sozialmodells“ vereinbart wurde, abgelesen werden. Diese in den Verträgen verankerten Ziele und Werte können folglich als die normative Grundlage für die weitere Ausgestaltung des europäischen Integrationsprojektes betrachtet werden und beschreiben somit das konstitutionalisierte europäische Selbstverständnis, welches als normativer Referenzpunkt für die Herausbildung einer europäischen politischen Bürgeridentität zu betrachten ist. Anhand von vier Entwicklungsphasen sollen die Entwicklungslinien der vertragsinhaltlichen Ausgestaltung der sozialen Dimension auf europäischer Ebene nachgezeichnet werden. Die erste Phase umfasst die Römischen Verträge von 1957 und deren inhaltliche Ausgestaltung, die zweite Phase die Einheitliche Europäische Akte von 1986 bis Maastricht 1992, die dritte Phase den Vertrag von Maastricht 1992 und die vierte Phase die Verträge von Amsterdam (1997) und Nizza (2000). Im Anschluss daran wird ein Vergleich mit dem gescheiterten Entwurf über eine Verfassung für Europa (VVE) erfolgen, der eine qualitative Weiterentwicklung der sozialen Dimension europäischer Identität beinhaltet hätte. Abschließend soll noch ein Blick auf die Einigungen bezüglich eines neuen EU-Vertrages geworfen werden, um zu sehen, welche Tendenz der neue EU-Vertrag hinsichtlich der sozialen Dimension aufzuweisen hat.
275
Über die Vor- und Nachteile qualitativer Methoden vgl. Brüsemeister (2008) Göhler (1994:22) 277 Aust et. al (2002:285), ebenso Wendler (2005) 278 Aust et al. (2002:273) 276
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5.2.1 EWG-Vertrag 1957 Das europäische Integrationsprojekt beinhaltete primär die Deregulierung und Liberalisierung der Wirtschaft mit dem Ziel der Schaffung eines gemeinsamen europäischen Marktes, so dass in den ersten Verträgen (Pariser Vertrag 1952; Römische Verträge 1957 und Fusionsvertrag 1967) kein nennenswerter sozialpolitischer Auftrag an die Gemeinschaften vorgesehen war. Dennoch wurde in der Präambel des EWG-Vertrages unter den Gemeinschaftszielen bereits neben dem wirtschaftlichen Fortschritt ebenso der soziale Forschritt zum Ziel erklärt, sowie eine „stetige Besserung der Lebens- und Beschäftigungsbedingungen ihrer Völker“ anvisiert.279 Neben der angestrebten Errichtung eines gemeinsamen Marktes und einer Zollunion legte der EWG-Vertrag auch die Grundlage für die weitere Entwicklung gemeinsamer Politiken. Gemäß Artikel 235 konnten neben den ausdrücklich genannten Politiken (Agrarpolitik Art. 38-47; Handelspolitik Art. 110-116; Verkehrspolitik Art. 74-84) weitere entwickelt werden, soweit diese für das Ziel der Schaffung eines gemeinsamen Marktes dienlich sein würden.280 Unter Rückgriff auf diesen Artikel haben sich ab dem Gipfel von Paris 1972 die Politiken in den Bereichen Sozial-, Regional-, Umweltund Industriepolitik entwickelt. Flankierend zur weiteren Ausgestaltung dieser Gemeinschaftspolitiken wurde die Schaffung eines europäischen Sozialfonds eingerichtet, mit dem Ziel der Verbesserung und Hebung der Lebens- und Beschäftigungsbedingungen.281 Zudem umfasst der Artikel 118 des EWG-Vertrags die Förderung einer engen Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedsstaaten in sozialen Fragen, „insbesondere auf dem Gebiet
der Beschäftigung des Arbeitsrechts und der Arbeitsbedingungen der beruflichen Ausbildung und Fortbildung der sozialen Sicherheit der Verhütung von Berufsunfällen und Berufskrankheiten des Gesundheitsschutzes bei der Arbeit des Koalitionsrechts und der Kollektivverhandlungen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern“.
Darüber hinaus wird bereits die gleiche Bezahlung von Männern und Frauen für gleiche Arbeit festgeschrieben (Art. 119 EWG). Der EWG-Vertrag leitete die sozialen und beschäftigungspolitischen Ziele aus den Zielen der Marktöffnung ab, so dass der Sozialpolitik kein eigener Stellenwert im Sinne eines europäischen Politikfeldes zuerkannt wurde. Mit den Römischen Verträgen wurde letztlich ein Scheitern föderaler Europapläne beschlossen und die Methode der sektoralen Integration fortgesetzt mit dem primären Ziel der Schaffung eines Gemeinsamen Marktes. Im Zuge der EWG-Verhandlungen schälte sich ein Integrationsmodell heraus (sektorale 279
Präambel des EWG-Vertrages Rom 1957 Art. 235 EWG-Vertrag: „Erscheint ein Tätigwerden der Gemeinschaft erforderlich, um im Rahmen des gemeinsamen Marktes eines ihrer Ziele zu verwirklichen, und sind in diesem Vertrag die hierfür erforderlichen Befugnisse nicht vorgesehen, so erlässt der Rat einstimmig auf Vorschlag der Kommission und nach Anhörung des Europäischen Parlaments die geeigneten Vorschriften.“ 281 Der Europäische Sozialfonds ist in der EU-Sozialpolitik bis heute das einzig distributive Instrument, der aber kein umfassendes Sozialprogramm darstellt, sondern u. a. als Instrument zur Qualifizierung von Arbeitslosen und von durch Arbeitslosigkeit bedrohte Menschen darstellt. Siehe auch weiter unten. 280
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ökonomische Integration; kein Interventionismus und verteilungspolitische Neutralität)282, in dem die Sozialpolitik einen lediglich von der Marktschaffung abgeleiteten Stellenwert besaß283. Diese Weichenstellung korrespondierte maßgeblich mit den Kräfteverhältnissen der Regierungskonferenz und insbesondere die deutsche Regierung konnte sich mit ihrer Vorstellung einer „sozialpolitischen Enthaltsamkeit“ (Knelangen) der EWG durchsetzen, was angesichts geringer Arbeitslosigkeit und ökonomischer Prosperität plausibel vertreten werden konnte.284 Erst in den 1970er Jahren bekam die soziale Dimension einen Auftrieb, als die Kommission aufgefordert wurde (Pariser Gipfeltreffen 1972) ein sozialpolitisches Aktionsprogramm auszuarbeiten. Ein erster Schwerpunkt dieses Aktionsprogramms lag in der Gleichberechtigung der Geschlechter im Arbeitsleben, was letztendlich zur Verabschiedung mehrerer Gleichberechtigungsrichtlinien in den folgenden Jahren führte. Darüber hinaus gelang eine Einigung auf Richtlinien zu Massenentlassungen, zur Wahrung von Arbeitnehmeransprüchen bei der Veräußerung von Unternehmen sowie zum Schutz der Arbeitnehmer bei Insolvenz des Arbeitgebers. Das von der Kommission vorgelegte Aktionsprogramm stieß jedoch relativ schnell an seine Grenzen, denn das auf Einstimmigkeit basierende und die nationalstaatliche Autonomie wahrende Abstimmungsverfahren im Rat machte die Verhandlungen höchst schwierig – oft nahm die Einigung auf eine dieser Richtlinien mehrere Jahre in Anspruch. Eine Wendemarke für die europäische Sozialpolitik stellte die Einheitliche Europäische Akte (EEA) von 1986 mit dem darin beschlossenen Binnenmarktprogramm dar. Obgleich vertraglich lediglich nur zwei sozialpolitische Artikel betroffen waren, schuf die Akte mit ihrem neuen Art. 118a zum EWGV eine Gemeinschaftskompetenz mit qualifizierter Mehrheitsentscheidung für die Verbesserung der Arbeitsumwelt zum Schutz der Gesundheit und Sicherheit am Arbeitsplatz. Begründet wurde diese Kompetenzübertragung mit dem Binnenmarktziel der Beseitigung von Handelshemmnissen (wodurch dann auch die britische Regierung überzeugt werden konnte, der Akte zuzustimmen). Darüber hinaus erhielt die Kommission den Auftrag, den Dialog der Sozialpartner auf europäischer Ebene zu entwickeln, der auf Wunsch auch zu vertraglichen Beziehungen führen könne (Artikel 118b des Vertrags zur Gründung einer Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG)). Die soziale Dimension hatte sich also bis Mitte der 1980er Jahre ausschließlich über eine Marktlogik bzw. Marktrechtfertigung integriert, so dass die Adressaten sozialpolitischer Regelungen ausschließlich Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen waren. Ein ‚Soziales Europa’ als ein gemeinsames politisches Projekt gab es bis dato nicht. 5.2.2 Die Einheitliche Europäische Akte und ihre Folgewirkung Die Einheitliche Europäische Akte285 ergänzte den EWG-Vertrag lediglich durch zwei neue Artikel286, die zunächst inhaltlich keine wesentliche Neuerung darstellten, jedoch durch die 282
Platzer (1999:179ff.) Knelangen (2005:23) 284 Ebd. 285 Die EEA unterzeichneten Belgien, Dänemark, Deutschland, Griechenland, Frankreich, Irland, Italien, Luxemburg, Niederlande, Spanien, Portugal, Großbritannien und trat am 1. Juli 1987 in Kraft. 286 Dabei handelt es sich um die Artikel 118a und 118b, die wie folgt lauten: „Der EWG-Vertrag wird durch folgende Bestimmungen ergänzt: Artikel 118a: Die Mitgliedsstaaten bemühen sich, die Verbesserungen insbeson283
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Einführung des Abstimmungsverfahrens nach qualifizierter Mehrheit (Art. 100a)287 eine Intensivierung der europäischen Gesetzgebungstätigkeit in den Bereichen Verbesserung der Arbeitsumwelt und Sicherheits- und Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz auslöste. Dies wurde insbesondere durch die rechtlich ungenaue Formulierung des Begriffs der „Arbeitsumwelt“ im Artikel 118a möglich. Diese stammt ursprünglich aus dem Dänischen und ist in den meisten arbeitsrechtlichen Gesetzgebungen der Mitgliedsstaaten unbekannt, so dass neben einer engen auch eine weitere Auslegung im Sinne aller auf den Arbeitsplatz einwirkenden Einflüsse wie Arbeitsorganisation und Arbeitszeit möglich war.288 Damit wurde erstmals eine eigenständige Kompetenzgrundlage für die Verabschiedung von Rechtsakten im sozialpolitischen Bereich gelegt und somit auch ein begrenzter Souveränitätstransfer vollzogen. Sozialpolitik bekam damit den Status eines europäischen Politikfeldes mit einer eigenständigen institutionellen Grundlage.289 Der Artikel 118b legte erstmals den sozialen Dialog auf eine primärrechtliche Grundlage und wies der Kommission eine fördernde Funktion dabei zu. Insofern verrechtlichte der Artikel 118b die vorherige Initiative der Kommission im Rahmen der „Val-Duchesse-Gespräche“ zur Einbindung der Sozialpartner auf europäischer Ebene.290 Als wichtiges Moment in der Vorbereitung als auch in der Folge der Einheitlichen Europäischen Akte war das Aufkommen des Konzeptes eines l’espace social européen, welches von der französischen Regierung 1981 in einem Memorandum entwickelt wurde. In diesem wurde die Notwendigkeit einer Weiterentwicklung der europäischen Beschäftigungs- und Sozialpolitik betont, indem sowohl auf Gemeinschaftsebene als auch zwischen den Mitgliedsstaaten verstärkte Maßnahmen gefordert wurden. Auf europäischer Ebene sollte vor allem die Beschäftigungspolitik gefördert und eine Intensivierung des sozialen Dialogs angestrebt und auf nationaler Ebene eine vermehrte Kooperation im Bereich des sozialen Schutzes anvisiert werden.291 Jacques Delors wollte vor dem Hintergrund dieses Vorschlages das Ziel der Schaffung eines ‚Europäischen Sozialraums’ in die EEA aufnehmen und warb für die Festsetzung von sozialen Mindeststandards. Diese sollten zum einen die Arbeitnehmerinteressen stärken und zum anderen Wettbewerbsnachteile von Mitgliedsdere der Arbeitsumwelt zu fördern, um die Sicherheit und die Gesundheit der Arbeitnehmer zu schützen, und setzen sich die Harmonisierung der in diesem Bereich bestehenden Bedingungen bei gleichzeitigem Fortschritt zum Ziel. Als Beitrag zur Verwirklichung des Ziels gemäß Absatz 1 erlässt der Rat auf Vorschlag der Kommission in Zusammenarbeit mit dem Europäischen Parlament und nach Anhörung des Wirtschafts- und Sozialausschusses unter Berücksichtigung der in den einzelnen Mitgliedsstaaten bestehenden Bedingungen und technischen Regelungen mit qualifizierter Mehrheit durch Richtlinien Mindestvorschriften, die schrittweise anzuwenden sind. Diese Richtlinien sollen keine verwaltungsmäßigen, finanziellen oder rechtlichen Auflagen vorschreiben, die der Gründung und Entwicklung von Klein- und Mittelbetrieben entgegenstehen. Die aufgrund dieses Artikels erlassenen Bestimmungen hindern die einzelnen Mitgliedsstaaten nicht daran, Maßnahmen zum verstärkten Schutz der Arbeitsbedingungen beizubehalten oder zu treffen, die mit diesem Vertrag vereinbar sind. Artikel 118b: Die Kommission bemüht sich darum, den Dialog zwischen den Sozialpartnern auf europäischer Ebene zu entwickeln, der, wenn diese es für wünschenswert halten, zu vertraglichen Bestimmungen führen kann.“ EEA Artikel 21 287 In der EEA wurde ein neuer Artikel (Art. 100a) eingefügt, der die Annahme von Gesetzen zur Umsetzung des Binnenmarktes (mit einigen Ausnahmen wie z. B. Steuern, Freizügigkeit, Renten und Interessen der Arbeitnehmer) durch qualifizierte Mehrheitsentscheidungen ermöglicht. Für die Sozialpolitik ist dieser insofern relevant, da so auch arbeitsrechtliche Gesetze, die sich auf den Binnenmarkt beziehen, nach diesem Verfahren erlassen werden können. Die Bereiche der Sozialversicherung und des individuellen als auch kollektiven Arbeitsrechts bleiben von der Mehrheitsregelung ausgeschlossen. Vgl. Wendler (2005:66), so auch Schulte (1990:53) 288 Wendler (2005:63ff.) 289 Wendler (2005), Hantrais (2000) 290 Ebd., vgl. auch Balze (1994:188) 291 Wendler (2005:69ff), Vandamme (1985:10)
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staaten mit einem hohen sozialen Schutzniveau abfedern. Die Begründung für die Ausgestaltung der sozialen Dimension auf europäischer Ebene verband er nach wie vor mit den in den Verträgen bereits verankerten Zielen der Gemeinschaft.292 Jedoch fand der Vorschlag Delors’ bei den Verhandlungen zur EEA keine Mehrheit im Rat. Im Zuge der Diskussion um eine soziale Dimension als sozialpolitische Flankierung des Binnenmarktprojektes wurde auf dem Gipfeltreffen in Rhodos 1988 von den Staats- und Regierungschef betont, dass „[d]ie Verwirklichung des Binnenmarktes […] nicht als Selbstzweck verstanden werden [darf].“ 293 Im Anschluss daran arbeitete der Wirtschafts- und Sozialausschuss (WSA) die „Europäische Charta der sozialen Grundrechte“ aus, die sich ursprünglich auf die sozialen Grundrechte aller Unionsbürger beziehen sollte. Bei der Verabschiedung der Sozialcharta durch die Staats- und Regierungschefs (mit Ausnahme von Großbritannien)294 in Straßburg 1989 wurde diese jedoch derart abgeschwächt, dass der Bezugspunkt des Rechts nicht mehr die Unionsbürger waren, sondern nur noch die Arbeitnehmer. So wurde sie dann auch in Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer (kurz: Sozialcharta) umbenannt und „somit die Wirksamkeit der Charta […] auf Fragen des Arbeitsmarktes und der Arbeitsbeziehungen“295 begrenzt. Die Sozialcharta stellt keine rechtlich verbindliche Erklärung dar, kann jedoch als „politisches Instrument zur Gewährleistung der Einhaltung bestimmter sozialer Rechte in den Unterzeichnerstaaten“296 betrachtet werden. Ziel war es demnach, den programmatischen Wert der sozialen Grundrechte für die Europäische Gemeinschaft herauszustellen. So wird in der Präambel der Sozialcharta erklärt, „dass den sozialen Fragen im Zuge der Schaffung des europäischen Binnenmarktes die gleiche Bedeutung wie den wirtschaftlichen Fragen beizumessen ist und dass sie daher in ausgewogener Weise weiterzuentwickeln sind.“297 Hiermit wurde der sozialen Dimension erstmals ein eigener, gleichrangiger Stellenwert gegenüber den wirtschaftlichen Fragen eingeräumt, jedoch war dies vorwiegend symbolischer oder programmatischer Art, da die Sozialcharta keine Rechtsverbindlichkeit erlangte und die politische Brisanz, die eine Festlegung auf die sozialen Grundrechte hätte entfalten können, dadurch abgeschwächt wurde, dass die Rolle der Mitgliedsstaaten bei der Gewährleistung dieser sozialen Grundrechte von Arbeitnehmern betont wird. Zudem wurde jedwede weitere Kompetenzausweitung auf Gemeinschaftsebene über die Grundrechte ausgeschlossen. Eher muss die Sozialcharta dahingehend interpretiert werden, dass sie als symbolischer Ausdruck einer Berücksichtigung der sozialen Dimension im Rahmen der Einheitlichen Europäischen Akte fungierte, die Zuständigkeit zur Gewährleistung aber nach wie vor bei den Nationalstaaten verbleibt. Artikel 27 der Sozialcharta lautet demnach: „Für die Gewährleistung der sozialen Grundrechte dieser Charta und die Durchführung der für den reibungslosen Ablauf des Binnenmarktgeschehens notwendigen Sozialmaßnahmen im Rahmen einer Strategie für den wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalt sind die Mitglieds-
292
Vgl. Europäische Commission (1985) http://europa.eu./scadplus/leg/de/cha/c10107.htm (29.05.2007) 294 Großbritannien unterzeichnete die Sozialcharta 1998 nachdem Tony Blair 1997 an die Regierungsspitze gewählt wurde. 295 Wendler (2005:70) 296 http://www2.fh-fulda.de/CuRs/normenarchiv/internationalrecht/arbeitnehmersozialegrundrechte.htm (09.04.2007), vgl. auch Wendler (2005), Hantrais (1995) 297 Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer, Einleitung, zweiter Absatz 293
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staaten entsprechend den einzelstaatlichen Gepflogenheiten, insbesondere von Rechtsvorschriften und Tarifverträgen zuständig.“298
Für die Gewährleistung der sozialen Grundrechte sind somit die Mitgliedsstaaten zuständig, wobei zugleich die Kommission aufgefordert wird (Art. 28) dem Rat Rechtsakte die in den europäischen Kompetenzbereich fallen, auszuarbeiten und einen jährlichen Bericht über die Umsetzung der Sozialcharta zu verfassen. Zudem wird in der Einleitung als oberste Priorität die Schaffung von Arbeitsplätzen genannt, wobei „die Verwirklichung des Binnenmarktes […] das wirksamste Mittel zur Schaffung von Arbeitsplätzen und zur Gewährleistung eines Höchstmaßes an Wohlstand in der Gemeinschaft [ist]. Bei der Verwirklichung des Binnenmarktes ist der Förderung und Errichtung neuer Arbeitsplätze erste Priorität einzuräumen. Die Gemeinschaft hat sich den Herausforderungen der Zukunft hinsichtlich der wirtschaftlichen Wettbewerbsfähigkeit insbesondere unter Berücksichtigung der regionalen Ungleichgewichte zu stellen.“299
Insgesamt umfasst die Sozialcharta zwölf Grundsätze, die das europäische Arbeitsrechtsmodell und die Stellung der Arbeit in den europäischen Gesellschaften präzisieren. Diese umfassen im Wesentlichen: 1. 2.
das Recht auf Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft; das Recht auf freie Wahl und Ausübung eines Berufes nach den jeweils geltenden Vorschriften für den Beruf; 3. das Recht auf ein gerechtes Arbeitsentgeld, welches mindestens einen angemessenen Lebensstandard erlaubt; 4. einen Anspruch auf einen angemessenen sozialen Schutz gemäß den Gepflogenheiten der einzelnen Länder. Arbeitslose, die nicht wieder in den Arbeitsmarkt eingegliedert werden konnten und nicht über eigene Unterhaltsmittel verfügen, müssen ausreichende Leistungen empfangen und beziehen können, die der persönlichen Lage angemessen sind; 5. das Recht auf Koalitionsfreiheit und Tarifverhandlungen (Streitkräfte, Polizei und öffentlicher Dienst je nach einzelstaatlichen Bestimmungen davon ausgeschlossen); 6. den dauerhaften Zugang zur Berufsbildung solange ein Arbeitnehmer erwerbstätig ist; 7. die Gewährleistung der Gleichbehandlung von Männern und Frauen und die Verbesserung der Chancengleichheit. Zudem wird betont, dass „auch […] die Maßnahmen auszubauen [sind], die es Männern und Frauen ermöglichen, ihre beruflichen und familiären Pflichten besser miteinander zu verbinden“ (Art. 16); 8. die Weiterentwicklung der Unterrichtung, Anhörung und Mitwirkung der Arbeitnehmer „in geeigneter Weise“ und „unter Berücksichtigung der in den verschiedenen Mitgliedsstaaten herrschenden Gepflogenheiten“ (Art. 17); 9. „zufrieden stellender“ Gesundheitsschutz und Sicherheit in der Arbeitsumwelt (Art. 19); 10. Kinder und Jugendschutz (kein Eintritt ins Arbeitsleben vor dem Ende der Schulpflicht, kein normales Arbeitsverhältnis unter 15 Jahren; Möglichkeit einer beruflichen Grundausbildung gewährleisten etc.); 298 299
Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer, Titel II, Art. 27 Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer, Einleitung, vierter Absatz.
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11. entsprechend den Gegebenheiten der einzelnen Ländern müssen Arbeitnehmern im Ruhestand ausreichende Mittel für einen angemessenen Lebensstandard zur Verfügung gestellt werden und jeder „der das Rentenalter erreicht hat, aber keinen Rentenanspruch besitzt oder über keine sonstigen ausreichenden Unterhaltsmittel verfügt, ausreichende Zuwendungen, Sozialhilfeleistungen und Sachleistungen bei Krankheit erhalten können, die seinen spezifischen Bedürfnissen angemessen sind“ (Art. 25); 12. Anspruch von Behinderten über ergänzende Maßnahmen, die ihre berufliche und soziale Eingliederung befördern (berufliche Bildung, Ergonomie, Zugänglichkeit, Mobilität, Verkehrsmittel und Wohnung je nach Bedarf umfassend). Nach der Verabschiedung der Sozialcharta durch die Mitgliedsstaaten (ohne Großbritannien) ist die Kommission ihrer Aufforderung der Erstellung eines Aktionsprogramms zur Anwendung der Gemeinschaftscharta nachgekommen und legte daraufhin ein umfassendes Programm vor (mit 47 Maßnahmen, wovon 23 verbindliche Rechtsakte angestrebt wurden).300 Jedoch konnten aufgrund der blockierenden Haltung der britischen Regierung nur einige Rechtsakte im Bereich des Arbeitsschutzes umgesetzt werden, da für diese nur eine qualifizierte Mehrheit nötig war.301 Die Sozialcharta und das daran angeschlossene sozialpolitische Aktionsprogramm waren somit die programmatische und inhaltliche Grundlage der (Weiter-) Entwicklung der sozialen Dimension im europäischen Integrationsprozess. Die Bewertung der Sozialcharta fällt jedoch ambivalent aus: Einerseits stellt die Verabschiedung der Sozialcharta eine inhaltliche Wendemarke dar, da die soziale Dimension im Integrationsprozess erstmals als gleichrangig – zumindest symbolisch – zu den wirtschaftlichen Zielen gesetzt wurde. Zudem weist die Betonung sozialer Grundrechte eine klare Aussage über die Werteorientierung der Gemeinschaft auf. Andererseits kann an der Sozialcharta auch abgelesen werden, wie weit die Interessen der Mitgliedsstaaten auseinander gehen und dass eine rechtsverbindliche Verankerung sozialer Grundrechte nicht erreicht wurde, sondern lediglich eine unverbindliche Grundsatzerklärung, beschränkt auf den Kreis der Arbeitnehmer, erzielt werden konnte. Diese Abschwächung spiegelt die politische Brisanz des Inhalts wieder und ist somit ein Ausdruck der unterschiedlichen nationalen Interessen und verankerten Wertevorstellungen in den Unterzeichnerstaaten. Die Verabschiedung der Sozialcharta kann somit einerseits als ein wichtiges programmatisches Dokument zur Betonung des Wertes sozialer Grundrechte gesehen werden, andererseits ist ihr nicht verbindlicher Charakter Ausdruck der divergierenden Haltungen in diesem Bereich und nicht geeignet, eine Rechtsgrundlage für das Einklagen der sozialen Grundrechte von Seiten der Arbeitnehmer herzustellen. Der symbolisch-programmatische Charakter ist insofern wesentlich höher einzustufen als die reale Wirkungsmacht. Der geringe Erfolg bei der anschließenden Umsetzung der Sozialcharta im Rahmen des Aktionsprogramms zeigt erneut die Schwierigkeit einer Einigung in sozialen Fragen auf. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass sich im Zuge der EEA eine Aufwertung der „sozialen Dimension“ vollzog und der Beginn der sozialen GrundrechteEntwicklung auf europäischer Ebene zu beobachten ist. Europäische Sozialpolitik beginnt mit der EEA zweigleisig zu werden: Neben regulative Sozialpolitik tritt nun noch der Versuch, über soziale Grundrechte (von Arbeitnehmern) die ‚soziale Dimension’ im Integrati300 301
Vgl. Hantrais (1995:11), Geyer (2000:46ff.), Wendler (2005) Siehe die Übersicht bei Wendler (2005:72)
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onsprozess auszuweiten. Im Bereich regulativer Sozialpolitik stellen die zwei neu geschaffenen Artikel (100a und 118a) sowie die Einführung des sozialen Dialogs eine entscheidende Aufwertung dar, da hiermit erstmals eine eigene sozialpolitische Kompetenzgrundlage geschaffen wurde und europäische Sozialpolitik den Status eines eigenen Politikfeldes zuerkannt bekam. Die Sozialcharta steht am Anfang der Entwicklung der Grundrechte Entwicklung auf europäischer Ebene, die zuletzt in der rechstverbindlichen Verabschiedung der Europäischen Grundrechtscharta mündete. Zu Beginn der Entwicklung stellte die Sozialcharta primär einen symbolischen Akt für die Gleichrangigkeit von sozialen und wirtschaftlichen Zielen dar, da sie faktisch keine Rechtsverbindlichkeit besaß und zudem auf ArbeitnehmerInnen beschränkt blieb. Eine inhaltliche Einordnung des sozialpolitischen Selbstverständnisses der EU im Zuge der EEA unterliegt der Schwierigkeit, dass es sich um kein zusammenhängendes kohärentes sozialpolitisches Konzept handelt, sondern lediglich um hochgradig segmentierte sozialpolitische Maßnahmen. Dennoch kann vorsichtig behauptet werden, dass sich bereits eine gewisse programmatische Grundorientierung am Konzept des „aktivierenden Wohlfahrtsstaates“ erkennen lässt, da der Ausbau und die Schaffung von Jobs als primäres Ziel der Sozialpolitik verstanden wird, Berufs- und Weiterbildung einen hohen Stellenwert zugewiesen bekommen und soziale Sicherung gewährleistet werden muss.302. Mit der Entwicklung des sozialen Dialogs orientiert sich die EU zudem an einem korporatistischen Sozialstaatsmodell. 5.2.3 Der Vertrag von Maastricht 1992 Mit dem Vertrag von Maastricht (1992) und dem angehängten Sozialprotokoll findet eine Konkretisierung und Ausweitung der sozialen Dimension statt. Das an den Vertrag angehängte Abkommen über Sozialpolitik präzisiert die sozialpolitische Zielsetzung der Union (ohne Großbritannien) und ermöglicht erstmals, das Europäische Sozialmodell – im Sinne eines normativen Leitbildes – im Selbstverständnis der Union zu definieren. Dieser Forschritt hinsichtlich der inhaltlichen sozialpolitischen Positionierung der EU darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass die konkrete Umsetzung der angestrebten Ziele und Maßnahmen des Sozialabkommens aufgrund von immer wieder neu auftretenden Interessendivergenzen zwischen den Mitgliedsstaaten hinterherhinkt, so dass eine sich bereits damals abzeichnende Asymmetrie zwischen normativen Politikzielen und der tatsächlichen Politikimplementation im sozialpolitischen Bereich bei allen gemachten Fortschritten bis heute andauert. In der Präambel des Maastrichter Vertrages werden zunächst die demokratischen Werte und Prinzipien, auf die sich die Europäische Union beruft, genannt: Freiheit, Demokratie, Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten und der Rechtsstaatlichkeit. Zudem wird die Solidarität zwischen den Völkern, die Achtung der unterschiedlichen Kulturen, Tradi302
Art. 10 der Sozialcharta lautet: „Entsprechend den Gegebenheiten der einzelnen Länder hat jeder Arbeitnehmer der Europäischen Gemeinschaft Anspruch auf einen angemessenen sozialen Schutz und muß unabhängig von seiner Stellung und von der Größe des Unternehmens, in dem er arbeitet, Leistungen der sozialen Sicherheit in ausreichender Höhe erhalten, müssen alle, die vom Arbeitsmarkt ausgeschlossen sind, weil sie keinen Zugang dazu fanden oder sich nicht wieder eingliedern konnten, und die nicht über Mittel für ihren Unterhalt verfügen, ausreichende Leistungen empfangen und Zuwendungen beziehen können, die ihrer persönlichen Lage angemessen sind.“
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tionen, und Geschichte der Mitgliedsstaaten hervorgehoben. Als entscheidende sozialpolitische Neuerung im Rahmen des Vertrages von Maastricht (1992) ist das dem Vertrag angehängte Abkommen über die Sozialpolitik zu nennen, welches einen „Präzedenzfall politikspezifischer flexibler Integration“303 durch das britische opt-out darstellt. Doch auch im Gemeinschaftsvertrag wird unter den Grundsätzen der Gemeinschaft eine Reihe sozialpolitischer Ziele genannt (Artikel 2 EU-Vertrag) so wie unter den Tätigkeitsbereichen der Gemeinschaft ebenso die Sozialpolitik Erwähnung findet. Die entscheidenden Stellen im Artikel 2 und 3 des EU-Vertrages lauten: „Aufgabe der Gemeinschaft ist es, durch die Errichtung eines Gemeinsamen Marktes und einer Wirtschafts- und Währungsunion sowie durch die Durchführung der in den Artikeln 3 und 3 a genannten gemeinsamen Politiken oder Maßnahmen eine harmonische und ausgewogene Entwicklung des Wirtschaftslebens innerhalb der Gemeinschaft, ein beständiges, nichtinflationäres und umweltverträgliches Wachstum, einen hohen Grad an Konvergenz der Wirtschaftsleistungen, ein hohes Beschäftigungsniveau, ein hohes Maß an sozialem Schutz, die Hebung der Lebenshaltung und der Lebensqualität, den wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalt und die Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten zu fördern.“ (Artikel 2) „Die Tätigkeit der Gemeinschaft im Sinne des Artikels 2 umfasst nach Maßgabe dieses Vertrags und der darin vorgesehenen Zeitfolge (…) i) eine Sozialpolitik mit einem Europäischen Sozialfonds; j) die Stärkung des wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalts (…) o) einen Beitrag zur Erreichung eines hohen Gesundheitsschutzniveaus; p) einen Beitrag zu einer qualitativ hochstehenden allgemeinen und beruflichen Bildung sowie zur Entfaltung des Kulturlebens in den Mitgliedstaaten; (…)“304 (Artikel 3)
Im Artikel 2 verpflichtet sich die Union somit auf eine Politik, die den sozialen Zusammenhalt und die Solidarität der Mitgliedstaaten fördert und die Ziele eines hohen Beschäftigungsniveaus und eines hohen Maßes an sozialem Schutz verfolgt. Eine Klärung dessen, was unter einem hohen Maß zu verstehen ist, wird jedoch nicht präzisiert. Zudem werden mit Artikel 8 des EU-Vertrages die Unionsbürgerschaft als komplementär zur nationalen Staatsbürgerschaft aufgenommen und das Ziel einer qualitativ hohen Bildungspolitik formuliert.305 Das an den Vertrag angehängte Sozialabkommen stellt eine qualitative Weiterentwicklung der sozialen Dimension auf europäischer Ebene dar, obgleich die volle rechtsverbindliche Gültigkeit erst mit dessen Einfügung in den Amsterdamer Vertrag 1997 vollzogen wurde. Als gemeinsame Ziele der Unterzeichnerstaaten (ohne Großbritannien) nennt Artikel 1 des Abkommens: „Die Gemeinschaft und die Mitgliedstaaten haben folgende Ziele: die Förderung der Beschäftigung, die Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen, einen angemessenen sozialen Schutz, den sozialen Dialog, die Entwicklung des Arbeitskräftepotentials im Hinblick auf ein 303
Wendler (2005: 76) EU-Vertrag: http://europa.eu.int/eur-lex/de/treaties/dat/EU_treaty.html#0001000001 (30.05.2007) 305 „Artikel 126 (1) Die Gemeinschaft trägt zur Entwicklung einer qualitativ hoch stehenden Bildung dadurch bei, daß sie die Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten fördert und die Tätigkeit der Mitgliedstaaten unter strikter Beachtung der Verantwortung der Mitgliedstaaten für die Lehrinhalte und die Gestaltung des Bildungssystems sowie der Vielfalt ihrer Kulturen und Sprachen erforderlichenfalls unterstützt und ergänzt.“ 304
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dauerhaft hohes Beschäftigungsniveau und die Bekämpfung von Ausgrenzungen. Zu diesem Zweck führen die Gemeinschaft und die Mitgliedstaaten Maßnahmen durch, die der Vielfalt der einzelstaatlichen Gepflogenheiten, insbesondere in den vertraglichen Beziehungen, sowie der Notwendigkeit, die Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft der Gemeinschaft zu erhalten, Rechnung tragen.“ 306
Auf der Grundlage der Ziele ein dauerhaft hohes Beschäftigungsniveau, einen angemessenen sozialen Schutzes und die Bekämpfung sozialer Ausgrenzung innerhalb der EU gewährleisten zu wollen, weist die soziale Dimension der Union eine Orientierung am Leitbild eines ‚aktivierenden Wohlfahrtsstaates’ aus. Insbesondere da Maßnahmen zur Arbeitsmarktaktivierung und Beschäftigung eine zentrale Rolle spielen, die Bildung von Humankapital und die Förderung lebenslangen Lernens einen zentralen Stellenwert einnehmen und das Verständnis von Chancengleichheit als soziale Teilhabemöglichkeit am Arbeitsmarkt vorherrschen307. Nach Artikel 2, Absatz 1 und 2 des Abkommens können in den unten aufgeführten Bereichen Maßnahmen mit qualifizierter Mehrheit und unter Einschluss des Europäischen Parlaments (Verfahren der Zusammenarbeit nach Art. 189c EGV) verabschiedet werden. Hierbei handelt es sich um:
Verbesserung der Arbeitsumwelt zum Schutz der Gesundheit und der Sicherheit der Arbeitnehmer, Arbeitsbedingungen, Unterrichtung und Anhörung der Arbeitnehmer, berufliche Eingliederung der aus dem Arbeitsmarkt ausgegrenzten Personen, Chancengleichheit von Frauen und Männern auf dem Arbeitsmarkt und Gleichstellung am Arbeitsplatz.
Mit Einstimmigkeit und nach Anhörung des Parlaments verbleiben folgende Politikbereiche (Art.2, Abs. 3):
306
Soziale Sicherheit und sozialer Schutz, Schutz der Arbeitnehmer bei Beendigung des Arbeitsvertrages, Vertretung und kollektive Wahrnehmung der Arbeitnehmer- und Arbeitgeberinteressen, einschließlich der Mitbestimmung, Beschäftigungsbedingungen der Staatsangehörigen dritter Länder, die sich rechtmäßig im Gebiet der Gemeinschaft aufhalten, finanzielle Beiträge zur Förderung der Beschäftigung und zur Schaffung von Arbeitsplätzen.308
Artikel 1 Sozialabkommen 1992, http://europa.eu.int/eurlex/de/treaties/dat/EU_treaty.html#0091000016 (30.05.2007) 307 „Insgesamt gehen damit die "neuen" sozialpolitischen Ziele der Aktivierung und Befähigung nicht nur mit einem partiellen Rückzug des Staates etwa bei der Leistungserbringung einher, sondern auch mit einer Ausweitung staatlicher Steuerungsanforderungen im Sinne der Entwicklung von Formen reflexiver Steuerung und politischen Lernens.“ Dingeldey (2006:6) 308 Sozialabkommen im Rahmen des Vertrages von Maastricht, Vgl. auch Wendler (2005:79), Falkner (1998)
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Eine zusätzliche Errungenschaft im Zuge des Maastrichter Vertrages liegt in der Verwirklichung des sozialen Dialogs auf europäischer Ebene, wobei erstmalig Entscheidungsfindungen durch die EU-Institutionen mit Kollektivverhandlungen zwischen den Interessenverbänden miteinander verbunden wurden. Damit wurden die Sozialpartner an der Mitentscheidung über europäische Gesetzgebungsakte direkt beteiligt309. Zwar weist Wendler (2005) darauf hin, dass die Bilanz aufgrund der enormen Meinungsverschiedenheiten zwischen Arbeitgeber- und Gewerkschaftsseite eher gemischt ausfällt310, dennoch kann festgehalten werden, dass die EU mit der Einbindung des Sozialen Dialogs und der Erprobung seiner Funktionsfähigkeit kooporatistische Sozialstaatselemente verankert und anwendet. In der Zusammenschau wird erneut deutlich, dass sich zwar eine prinzipielle Präzisierung und qualitative Weiterentwicklung der sozialen Dimension konstatieren lässt, sich das sozialpolitische Selbstverständnis der EU jedoch nicht an einem einzelnen Sozialstaatsmodell orientiert, sondern sowohl liberale Elemente (Aktivierungsstrategien, Arbeitsplätze über Wachstum) als auch sozialdemokratische Elemente (Bildung von Humankapital, Chancengleichheit) miteinander verbunden werden. Zudem ist primärer Adressat europäischer Sozialpolitik nach wie vor der europäische Arbeitnehmer. 5.2.4 Verträge von Amsterdam (1997) bis Nizza (2000) Der Amsterdamer Vertrag von 1997 (Änderungsvertrag zum EU-Vertrag 1992) kann als Ausdruck der seit Anfang der 1990er Jahre andauernden Reformdebatte und der institutionell schnell fortschreitenden Gesamtentwicklung der EU gelesen werden. Schließlich wurden innerhalb von 10 Jahren drei Vertragsreformen durchgeführt, wobei auch der Amsterdamer Vertrag lediglich einen Übergangsstatus innehatte. Bezüglich der sozialen Dimension lassen sich mit dem Amsterdamer Vertrag wesentliche Veränderungen konstatieren, die weniger im Sinne der Ausweitung und Vertiefung bestehender Verfahren zu sehen sind, als vielmehr in der vertraglichen inhaltlichen Konkretisierung des europäischen „sozialen“ Selbstverständnisses und in der Einführung eines neuen Ansatzes einer gesetzlich nicht verbindlichen Koordinierung zwischen europäischer Ebene und den Mitgliedsstaaten im Rahmen der Europäischen Beschäftigungsstrategie (EBS). Damit kann der Amsterdamer Vertrag als eine programmatische Konkretisierung sozialpolitischer Ziele gelesen werden und enthält erstmals einen Bezug auf soziale Grundrechte. Zunächst sollen an dieser Stelle die Änderungen zum Vertrag von Maastricht detailliert nachverfolgt werden, wobei recht deutlich wird, wie eine Spezifizierung des Europäischen Selbstverständnisses und damit des inhaltlichen Projektentwurfes vollzogen wurde. 309
Richtlinien, die auf der Grundlage erfolgreicher Sozialpartnerverhandlungen verabschiedet werden konnten waren z. B. eine Richtlinie zum Elternurlaub (RL 96/34/EG), Rahmenabkommen zur Regelung der Teilzeitarbeit (RL 97/81/EG); gescheitert sind hingegen eine Einigung zum Thema Vereinbarkeit flexibler Beschäftigung und sozialer Sicherheit und eine Richtlinie zur Einführung europäischer Betriebsräte. Vgl. Falkner (1998: 129-141), Tabellarische Übersicht bei Wendler (2005:94) 310 Ausschlaggebend sind hierbei die klaren „politischen Meinungsunterschiede zwischen Arbeitgeber- und Gewerkschaftsseite über die Funktion des sozialen Dialogs und den Inhalt der Verhandlungen: während ETUC sich für ein hohes Regulierungsniveau durch rechtlich verbindliche Maßnahmen, eine aktive Beschäftigungsstrategie auf europäischer Ebene und die weitergehende Europäisierung der industriellen Beziehungen einsetzt und damit eine entscheidende Ausweitung des sozialen Dialogs befürwortet, spricht sich die UNICE für eine klare Beschränkung, eine anti-interventionistische und wettbewerbsbezogene Politik und die Begrenzung des sozialen Dialoges auf den Austausch von Meinungen und Positionen aus“ Wendler (2005:94)
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Zum Artikel 1 des EU-Vertrages wird folglich der Bezug zur Europäischen Sozialcharta von 1961 und der Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer eingefügt, indem es heißt: „In Bestätigung der Bedeutung, die sie [Vertragsunterzeichner] den sozialen Grundrechten beimessen, wie sie in der am 18. Oktober 1961 in Turin unterzeichneten Europäischen Sozialcharta und in der Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer von 1989 festgelegt sind.“311
Die Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer wurde oben bereits vorgestellt, der neue Bezug zur Europäischen Sozialcharta von 1961 verdeutlicht nochmals den Stellenwert sozialer Grundwerte für die Union, wobei nicht die Europäische Union als Gesamteinheit der Europäischen Sozialcharta beigetreten ist, jedoch fast alle Mitgliedsstaaten diese unterzeichnet und ratifiziert haben312. Die Europäische Sozialcharta von 1961 garantiert die in der Europäischen Menschrechtskonvention (EMRK) aus dem Jahre 1950 nicht gewährleisteten wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Grundrechte und kann damit als das europäische Pendant zum zweiten internationalen UN-Pakt über wirtschaftliche, kulturelle und soziale Rechte angesehen werden. Die Europäische Sozialcharta schützt neunzehn grundlegende soziale und wirtschaftliche Grundrechte (z. B. Recht auf Arbeit; Streikrecht; Recht auf Sozialversicherung; Schutz von Müttern und Kindern; Recht auf Schutz der Gesundheit; Recht auf Fürsorge; Recht körperlich, geistig oder seelisch Behinderter auf berufliche Ausbildung sowie auf berufliche und soziale Eingliederung oder Wiedereingliederung). Staaten die die Sozialcharta ratifizieren, verpflichten sich mindestens zehn der neunzehn Artikel der Charta anzuerkennen, wobei mindestens fünf der sieben als fundamental angesehenen Rechte enthalten sein müssen.313 Die Kontrolle über die Einhaltung bzw. Gewährleistung dieser Rechte kann nicht von Einzelpersonen auf internationaler Ebene eingeklagt werden, aber es gibt ein Berichtprüfungsverfahren als Durchsetzungsinstrument, nachdem die Mitgliedsstaaten vom Ministerkomitee des Europarates aufgefordert werden, ihr nationales Recht und ihre Praxis in Übereinstimmung mit der Sozialcharta zu bringen.314 Resümierend kann festgestellt werden, dass die Europäische Union mit ihrem Bezug auf die Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer und auf die Europäische Sozialcharta des Europarates 1961/1996 ausdrücklich die Bedeutung der sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen Grundrechte für die Union hervorhebt und sich somit ihrem normativen Selbstverständnis nach als eine „Soziale Union“ definiert. Allerdings bleibt 311
Vertrag von Amsterdam 1997, Artikel 1 Es gibt einmal die Fassung von 1961 und eine revidierte Fassung von 1961, die den neueren Entwicklungen in den europäischen Gesellschaften Rechnung trägt, so zum Beispiel indem ein Recht auf Schutz vor sexueller Belästigung am Arbeitsplatz, ein Recht auf unentgeltlichen Primar- und Sekundarunterricht, ein Recht auf Wohnung sowie ein Recht auf Schutz vor Armut und sozialen Ausschluss etc. hinzugefügt wurden. Lediglich Lettland hat die Europäische Sozialcharta nicht unterzeichnet, Tschechien und die Slowakei habe sie unterzeichnet, aber noch nicht ratifiziert. Wenn im Folgenden von der europäischen Sozialcharta gesprochen wird, sind beide Fassungen gemeint. 313 Dies sind 1. Recht auf Arbeit, 2. Koalitionsfreiheit, 3. Recht auf Kollektiverhandlungen, 4. Recht auf soziale Sicherheit, 5. Recht der Familien auf sozialen, gesetzlichen und wirtschaftlichen Schutz und das Recht der Wanderarbeitnehmer und ihrer Familien auf Schutz und Beistand 314 Über die Wirkung dieses Durchsetzungsverfahren und mögliche Sanktionsmittel können hier keine Aussagen getroffen werden, dies ist aber für das normative Selbstverständnis der EU in diesem Rahmen auch nicht weiter entscheidend. 312
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sie die institutionelle Implementierung in Form eines individuellen Rechtsanspruches der Unionsbürger schuldig, so dass ein solcher nur nach Maßgabe der nationalstaatlichen Gepflogenheiten erbracht werden kann bzw. wird. Auf das Spannungsverhältnis von normativen Anspruch und institutioneller Implementierung bzw. Rechtsgewährleistung wird weiter unten noch einzugehen sein. Des Weiteren ergänzt der Vertrag von Amsterdam den EUVertrag im Rahmen der Ziele der Union um die Ziele eines hohen Beschäftigungsniveaus (vgl. oben: angehängtes Sozialabkommen zum EU-Vertrag) und die Herbeiführung einer ausgewogenen nachhaltigen Entwicklung sowie die Stärkung und den Schutz der Rechte und Interessen der Unionsbürger.315 Zudem wird angefügt, dass die Grundwerte der Freiheit, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit sowie die Grundfreiheiten und Menschenrechte von allen Mitgliedsstaaten geteilt würden. Im Artikel 2 des Amsterdamer Vertrages wird die Gleichstellung von Frauen und Männern hinzugefügt und ein hohes Maß an Umweltschutz und die Verbesserung der Umweltqualität hinzugefügt. Der Artikel 2 lautet wie folgt: „Aufgabe der Gemeinschaft ist es , durch die Errichtung eines gemeinsamen Marktes und einer Wirtschafts- und Währungsunion sowie durch die Durchführung der in den Artikeln 3 und 3a genannten gemeinsamen Politiken und Maßnahmen in der ganzen Gemeinschaft eine harmonische, ausgewogene und nachhaltige Entwicklung des Wirtschaftslebens, ein hohes Beschäftigungsniveau und ein hohes Maß an sozialem Schutz, die Gleichstellung von Männern und Frauen, ein beständiges, nichtinflationäres Wachstum, einen hohen Grad von Wettbewerbsfähigkeit und Konvergenz der Wirtschaftsleitungen, ein hohes Maß an Umweltschutz und Verbesserung der Umweltqualität, die Hebung der Lebenshaltung und der Lebensqualität, den wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalt und die Solidarität zwischen den Mitgliedsstaaten zu fördern.“
In der Präambel wird zudem unter den Grundsätzen der Gemeinschaft ausgeführt, dass durch einen „umfassenden Zugang zur Bildung und durch ständige Weiterbildung auf einen möglichst hohen Wissensstand“ der Völker hingewirkt werden soll, als auch bereits hier auf die „Förderung der Koordinierung der Beschäftigungspolitik der Mitgliedsstaaten (…) durch die Entwicklung einer koordinierten Beschäftigungsstrategie“ hingewiesen wird.316 Unter dem neuen Titel VI a wird die Methode der europäischen Beschäftigungsstrategie (Koordinierungsverfahren auf Gemeinschaftsebene) mit dem Ziel, ein hohes Beschäftigungsniveau zu erreichen und die Förderung und Qualifizierung, Ausbildung und Anpassungsfähigkeit der Arbeitnehmer als auch die Fähigkeit der Arbeitsmärkte auf die Erfordernisse des wirtschaftlichen Wandels reagieren zu können, formuliert. Dabei wird deutlich, dass nicht Arbeitslosigkeit und soziale Probleme, sondern die arbeitsmarktpolitische Bewältigung des wirtschaftlichen Strukturwandels und die Erreichung einer hohen Beschäftigung als gemeinsames Interesse der Mitgliedsstaaten im Vordergrund stehen. Die Gemeinschaftsebene übernimmt dabei eine förderliche oder ergänzende Funktion zur Erreichung dieses Ziels. Obgleich die Union damit nur eine koordinierende Aufgabe übernimmt, wird 315
Artikel B erhält demnach folgende Fassung: „Artikel B: Die Union setzt sich folgende Ziele: Die Förderung des wirtschaftlichen und sozialen Fortschritts und eines hohen Beschäftigungsniveaus sowie die Herbeiführung einer ausgewogenen und nachhaltigen Entwicklung, insbesondere durch Schaffung eines Raumes ohne Binnengrenzen, durch Stärkung des wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalts und durch Errichtung einer Wirtschafts- und Währungsunion, die auf längere Sicht auch eine einheitliche Währung nach Maßgabe dieses Vertrages umfasst (…). Die Stärkung des Schutzes der Rechte und Interessen der Angehörigen ihrer Mitgliedsstaaten durch Einführung der Unionsbürgerschaft“ 316 Vgl. Artikel 1 des Amsterdamer Vertrages (nicht konsolidierte Fassung)
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dennoch durch die primärrechtliche Verankerung deutlich, dass die beschäftigungspolitischen Ziele damit nicht mehr alleinige Aufgabe der Mitgliedsstaaten sind.317 Abbildung 3:
Ziele und Instrumente der europäischen Beschäftigungsstrategie
Ziel/Grundsatz
Instrumente
Instrumente aktivierender Arbeitsmarktpolitik:318 Employability (Beschäftigungsfähigkeit) Fortbildungs- und Vermittlungsmaßnahmen durch die Arbeitsverwal-
tungen und Sozialpartner Anreize für Arbeitslose schaffen eine Arbeit aufzunehmen („ReKommodifizierung“ der EBS) durch Maßnahmen der Qualifizierung und Weiterbildung, z. B. Jugendlichen innerhalb von 6 Monaten und den übrigen innerhalb eines Jahres die Gelegenheit zur Teilnahme an einer Qualifizierungs- oder Arbeitsbeschaffungsmaßnahme anzubieten Nationale Aktionspläne
Entrepreneurship (Unternehmergeist)
Maßnahmen zur Förderung der Selbstständigkeit Abbau bürokratischer Hürden Steuerliche Anreize Staatliche Programme für die Förderung von Unternehmen Lokale Beschäftigungspakte in Zusammenarbeit mit der Solidarwirtschaft des Dritten Sektors (Nachbarschafts- und Freiwilligenorganisationen).
Adaptability (Anpassungsfähigkeit)
Maßnahmen zur Flexibilisierung von Arbeitsverhältnissen Einführung von „anpassungsfähigeren Formen von Arbeitsverträgen Verstärkte innerbetriebliche Aus- und Fortbildung Investitionen in Humanressourcen
Equal opportunities (Chancengleichheit)
Gleichbehandlung am Arbeitsplatz, „gender mainstreaming“ als Querschnittsaufgabe in allen Tätigkeitsfeldern Bereitstellung von Kindererziehungseinrichtungen Regelungen zum Elternurlaub Maßnahmen zur Förderung der Rückkehr in den Arbeitsmarkt nach einer Berufsunterbrechung Eingliederung behinderter Menschen in das Erwerbsleben
Quelle: Eigene Darstellung auf der Grundlage von Wendler (2005:113f.)
Für die inhaltliche Bestimmung der sozialen Dimension kommt der Beschäftigungspolitik mit dem Vertrag von Amsterdam eine Schlüsselbedeutung zu, wobei „im Mittelpunkt der Beschäftigungsstrategie (…) nicht der Versuch, die Grundausrichtung der europäischen Wirtschafts- und Währungspolitik zu verändern, sondern die von ihr erhofften Wachstumsimpulse beschäftigungsintensiver zu gestalten, in dem vor allem die Qualifizierung, Anpassungsfähigkeit und Chancengleichheit der Einzelnen im Arbeitsmarkt erhöht wird“ 319 steht. 317
Wendler (2005:101ff.) Vgl. neben Wendler auch Aust et al. (2000:24f.), Aust et al. (2002:292), Goetschy (1999:127) 319 Wendler (2005:113), vgl. auch Scharpf (2002a), Schäfer (2002:13), Aust et al. (2000:22ff.) 318
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Nicht eine makro-ökonomische Koordinierung der Wirtschafts- und Haushaltspolitik zur Förderung von Beschäftigung wurde demnach angestrebt, sondern die Einführung einer aktiv koordinierten Arbeitmarktpolitik. Diese sollte folglich als ein Korrektiv der Arbeitsmärkte dienen.320 Die vier Pfeiler der Beschäftigungsstrategie sind nach Wendler (2005) in Abbildung 3 zusammengefasst. Die beiden wesentlichen Neuerungen des Amsterdamer Vertrages sind somit zusammenfassend erstens der neu eingefügte Titel VI a Beschäftigung und zweitens die Einfügung des Maastrichter Sozialabkommens von 1992, welches damit volle Gültigkeit für alle Mitgliedsstaaten erlangt. Die EBS ist zwar eine weiche Koordinierungsmethode, so dass sie kein rechtlich verbindliches Politikinstrument darstellt und folglich keine Sanktionsmöglichkeiten bietet, jedoch kann angenommen werden, dass die vergleichende Bewertung der Mitgliedsstaaten (Ranking) für diese nicht ganz irrelevant ist und davon möglicherweise ein gewisser Druck ausgeht.321 Die Koordinierungsmethode stellt neben der regulativen Sozialpolitik im Bereich des Arbeitsrechts und der Entwicklung sozialer Grundrechte den dritten Ansatz europäischer Sozialpolitik dar. Auf der Tagung des Europäischen Rates in Lissabon (2000) wurde die LuxemburgStrategie in einen umfassenderen Koordinierungsansatz eingebunden. In den Schlussfolgerungen des Rates wurden unter der zentralen Zielsetzung der Wettbewerbsfähigkeit (als dem neuen strategischen Ziel der Gemeinschaft) die bestehenden beschäftigungspolitische Ansätze mit den proklamierten Zielen der Struktur- und Wirtschaftspolitik, zu denen der Übergang in die wissensbasierte Wirtschaft gezählt wird, mit entsprechenden Initiativen im Forschungs-, Ausbildungs- und Unternehmensbereich aufgenommen. Hinzu kommt der sozialpolitische Anspruch, Elemente aktivierender Sozialpolitik mit einer erhöhten Quote qualitativ guter Ausbildung und Beschäftigung einerseits und der Beibehaltung eines hohen Niveaus des sozialen Schutzes andererseits zu verbinden. Die offene Koordinierungsmethode wird daraufhin auf die Bereiche Armut und soziale Exklusion ausgeweitet. In der Schlussfolgerung heißt es dazu u. a.: „Modernisierung des sozialen Schutzes 31. Das europäische Gesellschaftsmodell mit seinen entwickelten Sozialschutzsystemen muß die Umstellung auf die wissensbasierte Wirtschaft unterstützen. Diese Systeme müssen jedoch als Teile eines aktiven Wohlfahrtsstaates angepaßt werden, um sicherzustellen, daß Arbeit sich lohnt und daß die Systeme angesichts einer alternden Bevölkerung auch langfristig aufrechterhalten werden können, um die soziale Integration und die Gleichstellung der Geschlechter zu fördern und eine gute Gesundheitsfürsorge zu gewährleisten. In dem Bewußtsein, daß diese Aufgabe im Rahmen einer kooperativen Anstrengung besser angegangen werden kann, fordert der Europäische Rat den Rat auf, die Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten durch den Austausch von Erfahrungen und bewährten Verfahren mittels verbesserter Informationsnetze, der grundlegenden Instrumente auf diesem Gebiet, zu intensivieren; der hochrangigen Gruppe "Sozialschutz" den Auftrag zu erteilen, diese Zusammenarbeit unter Berücksichtigung der Arbeit des Ausschusses für Wirtschaftspolitik zu unterstützen und, als ihre 320
Ebd. Die Wirksamkeit der weichen Koordinierungsmethoden wird in der wissenschaftlichen Literatur sehr unterschiedlich bewertet. Während einige Autoren dieser durch das Rakning und Peer-Review-Verfahren durchaus Relevanz im Rahmen eines Policy-Learning-Porzesses zuerkennen, zweifeln andere Autoren die Wirksamkeit grundsätzlich an. Vgl. z. B. Wendler (2005), Ostner (2000), Baum-Ceisig/Faber (2005), Heidenreich/Bischoff (2008)
321
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erste Priorität, auf der Grundlage einer Mitteilung der Kommission eine Studie über die Entwicklung des Sozialschutzes in Langzeitperspektive unter besonderer Berücksichtigung der Tragfähigkeit der Altersversorgungssysteme in verschiedenen zeitlichen Abschnitten bis 2020 und, sofern erforderlich, darüber hinaus zu erstellen. Bis Dezember 2000 sollte ein Zwischenbericht vorliegen. Förderung der sozialen Integration 32. Die Zahl der Menschen, die in der Union unterhalb der Armutsgrenze und in sozialer Ausgrenzung leben, kann nicht hingenommen werden. Es muß etwas unternommen werden, um die Beseitigung der Armut entscheidend voranzubringen, indem vom Rat bis Ende des Jahres zu vereinbarende geeignete Ziele gesetzt werden. Die hochrangige Gruppe "Sozialschutz" wird in diese Arbeit einbezogen. Die neue Wissensgesellschaft bietet ein enormes Potential für die Reduzierung der sozialen Ausgrenzung, indem sie die wirtschaftlichen Voraussetzungen für größeren Wohlstand durch mehr Wachstum und Beschäftigung schafft und neue Möglichkeiten der Teilhabe an der Gesellschaft eröffnet. Zugleich birgt sie aber auch die Gefahr, daß der Graben zwischen denen, die Zugang zum neuen Wissen haben, und denen, die davon ausgeschlossen sind, immer breiter wird. Um dies zu vermeiden und das neue Potential zu maximieren, müssen Anstrengungen unternommen werden, um Fertigkeiten zu verbessern, einen breiteren Zugang zum Wissen und zu Lebenschancen zu fördern und die Arbeitslosigkeit zu bekämpfen: Der beste Schutz gegen soziale Ausgrenzung ist ein Arbeitsplatz. Die Maßnahmen zur Bekämpfung der sozialen Ausgrenzung sollten auf einer Methode der offenen Koordinierung beruhen, bei der nationale Aktionspläne und eine bis Juni 2000 vorzulegende Initiative der Kommission für die Zusammenarbeit auf diesem Gebiet kombiniert werden.“322
In dieser Stellungnahme wird deutlich, dass der wirtschaftspolitische Ansatz der Wettbewerbsfähigkeit mit der EBS und einer Strategie zur Verbesserung der Systeme des sozialen Schutzes zusammengeführt werden soll.323 Die daran anschließende sozialpolitische Agenda von 2000 bis 2006 definierte weit reichende Forderungen in den Bereichen der Beschäftigungs- und Sozialpolitik, jedoch „immer im Zusammenhang mit den Grundprinzipen der Wettbewerbsfähigkeit und des Ziels einer Anpassung der Sozialsysteme in Ablehnung an ein Gesamtkonzept aktivierender, erwerbsbezogener Sozialpolitik.“324 Diese Ausweitung und Weiterentwicklung der nicht-verbindlichen Koordinierungsmethode stellt nach Amsterdam die bis heute wesentliche sozialpolitische Neuerung dar. Durch die Ausweitung der Offenen Methode der Koordinierung (OMK) auf die Bereiche „soziale Exklusion und Armut“ wird der europäischen Ebene ein gewisser Koordinationsspielraum bei der Modernisierung der nationalen Wohlfahrtsstaaten zugewiesen, wobei die europäische Ebene bei der gemeinsamen Festlegung der Leitlinien und der anschließenden Bewertung der Mitgliedsstaaten nicht nur einen Modernisierungsanspruch erhebt, sondern auch eine gewisse inhaltliche Orientierung prägt (aktivierender Wohlfahrtsstaat)325. Eine Bewertung des sozialpolitischen Skripts von Amsterdam muss zwei entscheidende Entwicklungen berücksichtigen. Einerseits ist der Vertrag von Amsterdam als ein wichtiger sozialpolitischer Fortschritt auf europäischer Ebene zu werten, da mit der Aufnahme des Sozialkapitels ins Primärrecht der EU eine rechtliche Verbindlichkeit der bisherigen sozialpolitischen Vereinbarungen für alle bisherigen und zukünftigen Mitgliedsstaaten erreicht, mit der Einführung der EBS zudem eine inhaltliche Konkretisierung des europä322
Schlussfolgerungen des Europäischen Rates, Lissabon 2000 http://www.europarl.europa.eu/summits/ lis1_de.htm (31.05.2007) Vgl. Wendler (2005:116) 324 Wendler (2005:116), Scharpf (2002a:655), Schäfer (2002:15) 325 Siehe dazu auch weiter unten: Unterkapitel 5.5.2. 323
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ischen sozialpolitischen Selbstverständnisses vorgenommen und erstmals ein primärrechtlicher Bezug auf soziale Gtundrechte verankert wurde. Andererseits stellen die sozialpolitischen Neuerungen keine Ausweitung und Vertiefung bestehender sozialpolitischer Verfahren dar, die eine klare Kompetenzübertragung auf die europäische Ebene nach sich ziehen würden. Vielmehr wurde mit der EBS eine weiche Koordinierungsmethode eingeführt, was letztlich eine Absage einer makro-ökonomischen Koordinierung der Wirtschafts- und Haushaltspolitik zur Förderung von Beschäftigungseffekten gleichkommt und folglich der Weg einer aktiv koordinierten Arbeitsmarktpolitik als Korrektiv der Märkte nicht gewählt wurde. Mit der EBS sollen letztlich die Wachstumsimpulse des Marktes durch Qualifizierung, Anpassungsfähigkeit und Chancengleichheit des Einzelnen am Arbeitsmarkt erhöht werden, Eingriffe in den Markt hingegen werden abgelehnt. Mit der Lissabon-Strategie (2000) wird der wirtschaftspolitische Ansatz der „Wettbewerbsfähigkeit“ zum zentralen Leitkonzept im Selbstverständnis der EU –was sich auch im Bereich der OMK zeigt – so dass ein sozialliberales Konzept aktivierender, erwerbsbezogener Sozialpolitik verfolgt wird. Während der Vertrag von Nizza keine nennenswerten Neuerungen für die soziale Dimension der EU aufweist – es wurden lediglich in einzelnen Bereichen das Prinzip der Mehrheitsentscheidung ausgedehnt (z. B. auf dem Gebiet der Nichtdiskriminierung sowie in einzelnen arbeitsrechtlichen Bereichen)326, so stellt jedoch die feierliche Proklamation der Grundrechtscharta einen wichtigen Forschritt im Bereich der Entwicklung sozialer Grundrechte dar. Ausgangspunkt der Entwicklung sozialer Grundrechte war zunächst einmal der Artikel 6a des Amsterdamer Vertrages, der dem Rat (nach Anhörung des EP) Maßnahmen zur Bekämpfung der grundlegenden Formen von Diskriminierung (aufgrund von Ethnie, Rasse, Religion, Geschlecht, Weltanschauung, Alter, Behinderung, sexueller Orientierung) möglich machte. Daneben gab es die oben bereits dargestellten Verweise auf weitere Grundrechtsbestimmungen, jedoch bis dato kein einheitliches Grundrechtsdokument der EU. Mit der feierlichen Proklamation der Grundrechtscharta auf dem Gipfeltreffen in Nizza 2000 wurden die in den Verträgen bereits festgelegten Bindungen an die Achtung der Menschenrechte, der Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und den Grundfreiheiten mit den für die EU relevanten Grundrechtsdokumenten (Europäische Sozialcharta und Gemeinschaftscharta) zusammengefasst und konkretisiert, jedoch nicht in den primärrechtlichen Vertrag von Nizza aufgenommen. Dies wurde erst im Rahmen des Entwurfs über eine Europäische Verfassung (VVE) vollzogen. Somit hat die Proklamation der Grundrechtscharta in Nizza keine rechtliche Verbindlichkeit erlangt. Allgemein untergliedert sich die Grundrechtscharta in sechs Teile: 1. Menschenwürde, 2. Allgemeine Grundfreiheiten, 3. Gleichheitsrechte, 4. soziale Schutzrechte und Schutzbestimmungen, 5. politische Rechte und 6. justizielle Schutzrechte.327 Mit Nizza (2000) gewinnt demnach die „zweite Säule“ europäischer sozi326
Vgl. Treib (2004:10) Vgl. Wendler (2005:128) Unter 1. fallen das Recht auf Leben, Verbot von Folter und Todesstrafe und des reproduktiven Klonens (Artikel II-3 VVE), unter 2. Allgemeine Grundfreiheiten wie Schutz der Privatsphäre sowie Gedanken-, Gewissens-, Religions-, Meinungs- und Versammlungsfreiheit, das Asylrecht nach dem Genfer Abkommen und Schutz vor Abschiebung (Art. II-18 und 19 VVE), Berufsfreiheit mit einem „Recht zu arbeiten“ (Art. II-15) und Ansprüche auf Freizügigkeit und faire Arbeitsbedingungen für Angehörige von Drittstaaten, unter 3. fällt das Diskriminierungsverbot (Art. II-20-26 VVE), und das Recht auf Interessenvertretung durch Arbeitnehmer (Unterrichtung u. Anhörung, Kollektivverhandlungen, Recht auf Zugang zu einem Arbeitsvermittlungsdienst Art. II-27-29 VVE), 4. nennt Schutz bei Entlassungen sowie gerechte und angemessene Arbeitsbedingungen,
327
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alpolitischer Bemühungen, die Sicherung sozialer Grundrechte, einen erneuten Bedeutungszuwachs. In der Zusammenschau stellt vor allem der Vertrag von Amsterdam (1997) mit der Eingliederung des Sozialkapitels und der Verankerung der Koordinierungsmethode im Rahmen der Beschäftigungspolitik einen Höhe- und Wendepunkt in der Entwicklung der sozialen Dimension dar. Einen sozialpolitischen Höhepunkt stellt der Amsterdamer Vertrag nicht nur durch die primärrechtliche Verankerung des Sozialkapitels dar, sondern vor allem auch durch die inhaltliche Konkretisierung des Europäischen „sozialen“ Selbstverständnisses, insbesondere im Rahmen der EBS. Diese repräsentiert zudem einen Wendepunkt in der Entwicklung der sozialen Dimension, da sie eine Ergänzung bzw. letztlich eine Abkehr von der bisherigen Setzung verbindlicher Mindeststandards (hard law) zu einer gesetzlich nicht verbindlichen Koordinierung zwischen Europäischer Ebene und den Mitgliedsstaaten (soft law) bedeutet. Erstmals findet sich auch ein Bezug auf soziale Grundrechte. In Nizza (2000) wurde die Grundrechts-Entwicklung auf europäischer Ebene mit der feierlichen Proklamation der Grundrechtscharta weiter konkretisiert, auch wenn sie noch keine rechtliche Verbindlichkeit erlangte und primär ein symbolischer Akt blieb. 5.2.5 Die soziale Dimension im gescheiterten Verfassungsvertrag Beim Vergleich des Verfassungsvertrages (VVE) mit den vorherigen Verträgen sind zwei wesentliche Neuerungen zu nennen. Erstens wird deutlich, dass durch die Einfügung der Grundrechtscharta der Europäischen Union ein rechtlich-verbindlicher Grundrechtskatalog etabliert werden sollte, was das Selbstverständnis der Union bekräftigt hätte. Zwar wird bei der Beschreibung des Anwendungsbereichs der Grundrechtscharta (Art. II-51 VVE) ausdrücklich festgelegt, dass diese „ausschließlich bei der Durchführung des Rechts der Union“ Geltung hat und damit nicht auf Bereiche außerhalb des Zuständigkeitsbereichs der Union ausgedehnt werden darf, also „weder neue Zuständigkeiten noch neue Aufgaben für die Union“ begründet (Abs. 2), dennoch käme ihr eine politische Signalwirkung zu. Es: „wird also die politisch intendierte Funktion der Charta ausdrücklich bekräftigt, die existierenden Grundrechtsbestimmungen sichtbarer zu machen und in eine einheitliche, konkrete Form zu bringen, diese aber nicht zu erweitern oder zu modifizieren. Mit der Formulierung und Verabschiedung der Charta verbindet sich damit primär die Erwartung einer politischen Signalwirkung.“328 Auch wenn im Verfassungsvertrag versucht wurde, mit der Beschränkung des Anwendungsbereichs der Grundrechtscharta einer Zuständigkeitsausweitung der europäischen Ebene entgegenzuwirken, so muss dennoch konstatiert werden, dass nichtsdestotrotz die primärrechtliche Verankerung eine positive Wirkung auf die weitere Entwicklung der sozialen Dimension hätte entfalten können und damit die vorhandene konstitutionelle Asymmetrie zwischen wirtschaftlichen und sozialen Grundprinzipien zugunsten des Sozialen allgemeine soziale Rechte: Zugang zu Leistungen der sozialen Sicherheit, Gewährleistung von Ansprüchen bei Wohnortwechsel innerhalb der EU, Unterstützungsleistungen zur Bekämpfung von sozialer Ausgrenzung und Armut anzuerkennen und zu achten, Umwelt- und Verbraucherschutz (Art. II-34-38), unter 5. fallen das Wahlund Petitionsrecht, Freizügigkeit und das Recht auf eine gute Verwaltung (Art. II-41 VVE) und 6. ein Recht auf Rechtsbehelf, die Unschuldsvermutung, Verteidigungsrechte, Verbot von Doppelbestrafung sowie Gesetz- und Verhältnismäßigkeit. 328 Wendler (2005:129), vgl. auch Bossi (2001:238-242), de Burca (2003:16)
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auszugleichen bzw. abzumildern vermocht hätte. Treib (2004) sieht in der klaren Aufwertung und primärrechtlichen Verankerung der sozialen Rechte und insbesondere in der horizontalen Sozialklausel329 die Möglichkeit, das Vordringen des Wettbewerbsrechts in den Bereich wohlfahrtsstaatlicher Leistungserbringung aufzuhalten oder abzubremsen. In diesem Sinne sieht Treib „auch bei sonstigen Liberalisierungsschritten […] die Kommission und den EuGH in Zukunft [wenn VVE in Kraft getreten wäre, A.d.V.] sehr viel stärker als bisher dazu gezwungen […], mögliche negative soziale Konsequenzen in ihre Überlegungen einzubeziehen.“330 Während die in der Grundrechtscharta aufgenommenen klassischen Menschenrechte in den nationalen Verfassungstraditionen der Mitgliedsstaaten sowie in der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK)331 verankert sind, stellt die Verankerung sozialer Grundrechte die wesentliche Neuerung dar. Diese sind nicht als „Freiheitsrechte klassifiziert“332, also nicht im Sinne eines Schutzes vor staatlichen Einschränkungen, sondern als Leistungsrechte, aus denen sich prinzipiell individuelle Ansprüche ableiten lassen können, wenn auch mit gewissen Einschränkungen. Das Besondere daran ist, dass diese mitunter in einigen nationalen Verfassungen gar nicht garantiert werden (so z. B. in Österreich oder Großbritannien) oder eben nur einige der genannten sozialen Grundrechte institutionalisiert sind (z. B. in Deutschland, Frankreich, den Niederlanden, Luxemburg, Irland, Dänemark und Schweden). Recht umfassende soziale Rechte lassen sich hingegen in den Verfassungen der südeuropäischen Länder, Belgiens, Finnlands und den Mitgliedsstaaten Mittel- und Osteuropas finden.333 Die sozialen Grundrechte des VVE lassen sich in drei Kategorien einordnen: 1. subjektive Rechte, die von den Unionsbürgern individuell eingefordert werden können; 2. subjektive Rechte, die keine Handlungsaufforderung an die EU beinhalten und 3. subjektive Rechte, die eher „symbolisch-deklarativen“ Charakter haben, da sie nur gemäß dem nationalen bzw. europäischen Recht ausgelegt werden dürfen (Abbildung 4). Die Aufnahme der sozialen Rechte stellt somit eine erhebliche Aufwertung dar, auch wenn sie bereits in der Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer (1989) und dem Abkommen des Europarats (1961/1996) formuliert wurden. Insbesondere die Sozialcharta von 1989 hat lediglich den Status einer feierlichen Erklärung ohne rechtlich-verbindlichen Charakter. Auch lassen sich aus den beiden internationalen Abkommen keine subjektiven Ansprüche ableiten. Durch die Aufnahme in den VVE erlangen diese demnach nicht nur eine bessere Sichtbarkeit, sondern auch einen stärkere Bindung, da eine Änderung des VVE nicht nur die Zustimmung aller Regierungen bedurft hätte sondern ebenso einer Ratifikation in allen Mitgliedsstaaten (nationale Parlamente; Referenden)334. Damit wäre eine nachträgliche Änderung des Vertrages äußerst unwahrscheinlich geworden. Auch wäre aus der bisherigen Erfahrung anzunehmen, dass sich der EuGH in seiner Rechtssprechung auf die sozialen Grundrechte berufen hätte und damit über Gerichtsurteile die soziale Dimension hätte gestärkt werden können.
329
Vgl. weiter unten. Dies bezieht sich auf die Artikel III-118 und 119 im VVE. Treib (2004:30) 331 Die EU konnte der EMRK nicht als Gesamtheit beitreten, jedoch haben alle Mitgliedsstaaten die EMRK ratifiziert und auch der EuGH beruft sich in seinen Urteilen darauf. 332 Treib (2004:12) 333 Vgl. Treib (2004:13) 334 Treib (2004:16) 330
5 Europäisches Skript Abbildung 4:
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Reichweiten europäischer sozialer Grundrechte im VVE
I. Subjektive Rechte, in denen eine Handlungsaufforderung an die EU zum Ausdruck kommt – Sicherstellung der Gleichheit von Männern und Frauen in allen Bereichen, einschließlich der Beschäftigung, der Arbeit und des Arbeitsentgelts, wobei spezifische Vergünstigungen für das unterrepräsentierte Geschlecht beibehalten oder neu eingeführt werden können (Art. II-83) – Gewährleistung des rechtlichen, wirtschaftlichen und sozialen Schutzes der Familie (Art. II-93, Abs.1) II. Subjektive Rechte ohne Handlungsaufforderung an die EU – Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit, insbesondere Recht, Gewerkschaften zu gründen und diesen beizutreten (Art. II-72) – Recht auf Bildung und auf Zugang zur beruflichen Aus- und Weiterbildung (Art. II-74) – Recht zu arbeiten und einen frei gewählten oder angenommenen Beruf auszuüben (Art. II-75, Abs.1) – Freiheit, in jedem Mitgliedstaat Arbeit zu suchen, zu arbeiten, sich niederzulassen oder Dienstleistungen zu erbringen (Art. II-75, Abs.2) – Anspruch von Nicht-Unionsbürgern auf Arbeitsbedingungen, die denen von Unionsbürgern entsprechen (Art. II-75, Abs.3) – Verbot der Diskriminierung insbesondere wegen des Geschlechts, der Rasse, der Hautfarbe, der ethnischen oder sozialen Herkunft, der genetischen Merkmale, der Sprache, der Religion oder der Weltanschauung, der politischen oder sonstigen Anschauung, der Zugehörigkeit zu einer nationalen Minderheit, des Vermögens, der Geburt, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung (Art. II-81) – Recht älterer Menschen auf ein würdiges und unabhängiges Leben und auf Teilnahme am sozialen und kulturellen Leben (Art. II-85) – Anspruch von Menschen mit Behinderung auf Maßnahmen zur Gewährleistung ihrer Eigenständigkeit, ihrer sozialen und beruflichen Eingliederung und ihrer Teilnahme am Leben der Gemeinschaft (Art. II-86) – Recht auf Zugang zu einem kostenlosen Arbeitsvermittlungsdienst (Art. II-89) – Anspruch auf gesunde, sichere und würdige Arbeitsbedingungen (Art. II-91, Abs.1) – Recht auf eine Begrenzung der Höchstarbeitszeit, auf tägliche und wöchentliche Ruhezeiten sowie auf bezahlten Jahresurlaub (Art. II-91, Abs.2) – Verbot der Kinderarbeit und Schutz Jugendlicher am Arbeitsplatz (Art. II-92) – Recht auf Schutz vor Kündigung aus Gründen der Mutterschaft, Anspruch auf bezahlten Mutterschaftsurlaub sowie auf Erziehungsurlaub bei Geburt oder Adoption eines Kindes (Art. II-93, Abs.2) – Recht auf eine soziale Unterstützung und eine Unterstützung für die Wohnung, die allen, die nicht über ausreichende Mittel verfügen, ein menschenwürdiges Dasein sicherstellen sollen (Art. II-94, Abs. 3) – Recht auf Zugang zu Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse (Art. II-96) Fortsetzung auf der nächsten Seite
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III. Rechte, die nur gemäß den im europäischen und nationalen Recht definierten Bedingungen gelten – Recht auf rechtzeitige Unterrichtung und Anhörung der Arbeitnehmer im Unternehmen (Art. II-87) – Recht auf Kollektivverhandlungen und Kollektivmaßnahmen, einschließlich Streiks (Art. II-88) – Recht auf Schutz vor ungerechtfertigter Entlassung (Art. II-90) – Recht auf Zugang zu den Leistungen der sozialen Sicherheit und zu den sozialen Diensten, die in Fällen wie Mutterschaft, Krankheit, Arbeitsunfall, Pflegebedürftigkeit oder im Alter sowie bei Verlust des Arbeitsplatzes Schutz gewährleisten (Art. II-94, Abs.1) – Anspruch auf Leistungen der sozialen Sicherheit und auf soziale Vergünstigungen (Art. II-94, Abs.2) – Recht auf Zugang zur Gesundheitsvorsorge und auf ärztliche Versorgung (Art. II-95) Quelle: Treib (2004:17)
Die zweite wichtige sozialpolitische Neuerung des VVE kann in den Zielen und Werten der Union abgelesen werden. Bei den Werten der Union (Art. I-2) werden neben den auch in den anderen Verträgen genannten Grundsätzen der Freiheit, Menschenwürde, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie zudem die Werte der Gleichheit, der Toleranz, Gerechtigkeit, Solidarität und Nichtdiskriminierung genannt. Diese Selbstverpflichtung führt aber dazu, dass Bewerberstaaten alle diese Werte erfüllen müssen und Mitgliedsstaaten, die diese Werte missachten, Sanktionen befürchten müssen (Geldstrafen oder sogar Aussetzung des Stimmrechts im Rat, Vgl. Art. I-58 und I-59 VVE). Die Aufwertung des Sozialen im VVE durchzieht den gesamten Vertrag. Die Steigerung wird im Vergleich mit den anderen Verträgen deutlich, so z. B.: Abbildung 5:
Vertragliche Verankerung der sozialen Dimension im Vergleich
EU-Vertrag (1992)
EU-Vertrag (1997)
„Förderung des wirtEbenfalls Ziel eines schaftlichen und sozialen hohen BeschäftigungsFortschritts und eines niveaus plus „ein hohes hohen BeschäftigungsniMaß an sozialem veaus“ (Artikel 2) Schutz“ und „Gleichstellung von Frauen und Männern“ (Artikel 2)
VVE (2004) n. r. „Die Union strebt die nachhaltige Entwicklung Europas auf der Grundlage eines ausgewogenen Wirtschaftswachstums an, eine in hohem Maße wettbewerbsfähige soziale Marktwirtschaft, die auf Vollbeschäftigung und sozialen Fortschritt abzielt, sowie ein hohes Maß an Umweltschutz und Verbesserung der Umweltqualität. Sie fördert den wissenschaftlichen und technischen Fortschritt. Sie bekämpft soziale Ausgrenzung und Diskriminierungen und fördert soziale Gerechtigkeit und sozialen Schutz, die Gleichstellung von Frauen und Männern, die Solidarität zwischen den Generationen und den Schutz der Rechte des Kindes. Sie fördert den wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Zusammenhalt und die Solidarität zwischen den Mitgliedsstaaten. Die Union wahrt den Reichtum ihrer kulturellen und sprachlichen Vielfalt und sorgt für den Schutz und die Entwicklung des kulturellen Erbes.“ (Artikel I-3)
Quelle: Eigene Darstellung (Hervorhebungen durch die Verfasserin)
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Hervorzuheben ist demnach die Stärkung des beschäftigungspolitischen Ziels (nicht mehr hohes Beschäftigungsniveau sondern Vollbeschäftigung), die Erwähnung einer „sozialen Marktwirtschaft“ (im Gegensatz zu einer „offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb“ in den Verträgen von Maastricht, Amsterdam und Nizza). Mit der Betonung der Bekämpfung sozialer Ausgrenzung, der Förderung von Solidarität zwischen den Generationen und sozialer Gerechtigkeit zeigt sich eine deutliche soziale Zielbestimmung der Union als soziale Union, die in den anderen Verträgen in derart klarer Form nicht vorzufinden ist. Ebenso können die Aufnahme des Umweltschutzes und der Umweltqualität, des wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Zusammenhalts zwischen den Mitgliedsstaaten und die kulturelle und sprachliche Vielfalt als Aufwertung der sozialen Dimension angeführt werden. Hingegen verweisen nur zwei Artikel auf einen Binnenmarkt „mit freiem und unverfälschtem Wettbewerb“ und eine nachhaltige wirtschaftpolitische Entwicklung Europas. Darüber hinaus stärkt der VVE im Gegensatz zu den vorherigen Verträgen die soziale Dimension, indem er die Nichtdiskriminierungsklausel sowie bestimmte Sozialklauseln als Querschnittsaufgaben definiert, so dass die Union darauf festgelegt wird, bei allen ihren Tätigkeiten diese Klauseln zu berücksichtigen: 1. „Diskriminierungen aus Gründen des Geschlechts, der Rasse, der ethnischen Herkunft, der Religion oder Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung zu bekämpfen“ (Art. III-118) und 2. „Bei der Festlegung und Durchführung der Politik und der Maßnahmen in den in diesem Teil genannten Bereichen trägt die Union den Erfordernissen im Zusammenhang mit der Förderung eines hohen Beschäftigungsniveaus, der Gewährleistung eines angemessenen sozialen Schutzes, der Bekämpfung der sozialen Ausgrenzung sowie mit einem hohen Niveau der allgemeinen und beruflichen Bildung und des Gesundheitsschutzes Rechnung.“ (Art. III-117, unter Teil III Die Politikbereiche und die Arbeitsweise der Union, Titel 1 Allgemein anwendbare Bestimmungen). Damit verpflichtet sich die Union, bei allen ihren Maßnahmen stärker soziale Erwägungen zu berücksichtigen.335 Kleinere Neuerungen des Verfassungsvertrages stellen die nochmalige Hervorhebung der Einbindung der Sozialpartner dar (Art. I-48), diese haben aber im Grunde bereits seit Maastricht eine besondere Stellung zuerkannt bekommen. Treib merkt in diesem Zusammenhang an, dass die Nennung der Sozialpartner unter dem Titel „Das demokratische Leben der Union“ aufgeführt wird, in einem gewissen Spannungsverhältnis zum Grundsatz der parlamentarischen Demokratie stehe und dies auch vom Europäischen Parlament mehrfach kritisiert wurde, weil dadurch seine Rolle geschmälert würde.336 Es könnte aber vielleicht auch einfach ein Ausdruck der politischen Realität der EU sein, deren Funktionsweise die Einbeziehung von Verbänden, Sozialpartnern, externen Organisationen stark befördert und ein breites Netzwerk an nicht-staatlichen Akteuren integriert hat.337 Die letzte kleine Änderung des VVE im Gegensatz zu den vorherigen Verträgen mit Blick auf die soziale Dimension ist die Ausweitung des Mehrheitsentscheidungsverfahrens auf den Be335
Vgl. auch Treib (2004:18) Irreführend ist in diesem Zusammenhang jedoch, dass im gleichen Vertrag einmal vom Ziel der Vollbeschäftigung die Rede ist, im dritten Teil dann nur noch von der Förderung eines hohen Beschäftigungsniveaus. Ebenso findet sich im dritten Teil der Verfassung auch wieder die Formulierung einer offenen Marktwirtschaft. Dies kann darauf zurückgeführt werden, dass der dritte Teil größtenteils aus den alten Verträgen übernommen wurde. Für eine eindeutige rechtliche Auslegung des Vertrages hätte dies möglicherweise problematisch werden können. 336 Vgl. Treib (2004:18f) 337 Dies ist aber nur eine Vermutung vor dem Hintergrund der detaillierten Analyse über die Funktionsweise des EU-Systems von Tömmel (2005).
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reich der sozialen Sicherheit von Wanderarbeitnehmern (Art. III-136), jedoch nur wenn kein Staat durch das Verfahren „wesentliche Aspekte wie den Geltungsbereich, die Kosten oder die Finanzstruktur eines Systems der sozialen Sicherheit“ als verletzt „oder dessen finanzielles Gleichgewicht [als] beeinträchtig[t ansehen] würde.“338 Dieser Überblick macht deutlich, dass der Verfassungsvertrag eine klare Aufwertung und rechtliche Bindung der sozialen Dimension beinhaltet hätte. Der Grundrechtscharta allgemein muss allerdings primär eine symbolisch-deklarative Wirkung zugesprochen werden, da alle die Grundrechte im Wesentlichen in den nicht-verbindlichen internationalen Abkommen (EMRK; Sozialcharta, Gemeinschaftscharta) bereits Erwähnung finden und die EU sich auf diese in den Verträgen bereits vorher Bezug genommen hatte (ab Amsterdam 1997). Aber auch, da die meisten der erwähnten Grundrechte in den nationalen Verfassungstraditionen bereits verankert sind. Lediglich die sozialen Grundwerte, wie gezeigt wurde, stellen im Rahmen des VVE eine Veränderung der prinzipiellen Zielsetzung in Richtung soziale Union dar, da hiermit subjektive Rechte verbunden sind. Zudem hatte sich die Union durch die Sozialschutzklausel darauf verpflichtet, ihre Politiken stärker sozialen Erwägungen zu unterziehen, und erstmals Vollbeschäftigung wie auch soziale Marktwirtschaft als Ziele der Union genannt. 5.2.6 Veränderungen im Rahmen des neuen Grundlagenvertrages Mit dem Scheitern des Verfassungsvertrages in den Referenden in Frankreich und den Niederlanden im Frühjahr 2005 wurde nach einer fast zweijährigen Reflexionsphase die weitere Ratifizierung des Verfassungsvertrages aufgegeben und beschlossen, den zukünftigen Reformprozess über den herkömmlichen Weg einer Vertragsänderung der bisherigen Verträge fortzuführen und auf eine „Neugründung der Union mit konstitutionellem Anspruch“339 zu verzichten. Der neu ausgearbeitete Vertrag von Lissabon, unterzeichnet von den 27 Regierungschefs im Dezember 2007, enthält eine Fülle von Änderungen zum Vertrag über die Europäische Union (EUV) und ändert den Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft in den Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) um. Damit gründet sich die EU erneut auf eine doppelte Vertragsgrundlage. Der Ratifizierungsprozess des Vertrages von Lissabon ist jedoch bis dato noch nicht abgeschlossen, so dass er noch nicht in Kraft ist. Ob dies bis zu den Europawahlen in 2009 noch rechtzeitig gelingt, ist unklar, da die Iren als einziges Volk, das in einem Referendum über den Vertrag abzustimmen hat, den Vertrag bereits mit 53,4 % der abgegebenen Stimmen abgelehnt haben. Der parlamentarische Ratifizierungsprozess in den anderen Mitgliedsstaaten geht jedoch weiter.340 338
VVE Art. III-136, s. auch Treib (2004:19) Schiffauer (2008:1-10). In der vor allem rechtswissenschaftlichen Fachliteratur besteht weitgehende Einigkeit darüber, dass es sich bei den bisherigen europäischen Verträgen als auch bei dem gesamten Vertragsgebungsprozess um einen Verfassungsprozess handelt, der spätestens seit 1979 mit den ersten freien Wahlen zum Europäischen Parlament begonnen wurde und bis heute anhält. Mit dem Scheitern des Verfassungsvertrages wurde folglich das „’Verfassungs’-projekt“ aufgegeben, jedoch nicht der europäische Verfassungsprozess. Vgl. ebd. S.6 340 So haben zuletzt Italien und Spanien den Reformvertrag ratifiziert, in Schweden ist die Ratifizierung für November angesetzt. Neben den Iren stellen auch Polen, Tschechien und Deutschland noch einen Unsicherheitsfaktor im Ratifizierungsprozess dar, da hier die Vertragsurkunde noch nicht vom Staatspräsidenten unterzeichnet wurde und zum Teil zur Überprüfung bei den nationalen Verfassungsgerichten liegt (so in Deutschland und Tschechien). 339
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Trotz der noch nicht abgeschlossenen Ratifizierung des Lissabon-Vertrages und der Möglichkeit seines Scheiterns soll im Folgenden auf die wesentlichen Neuerungen des Lissabon-Vertrages im Vergleich zum Vertrag von Nizza hinsichtlich der prinzipiellen Wertorientierung als auch der sozialpolitischen Bestimmungen der EU eingegangen werden. Dies lässt sich damit rechtfertigen, dass die wichtigsten „sozialpolitischen“ Bestimmungen und Wertbezüge des Verfassungsvertrages erneut im Vertrag von Lissabon auftauchen und folglich nicht zu den umstrittenen Fragen im europäischen Reformprozess gehören, sondern prinzipiell auf einem Konsens unter den Mitgliedstaaten fußen.341 Dennoch muss diese Darstellung unter Vorbehalt gesehen werden, da erst mit einer Inkraftsetzung des Lissabonner Grundlagenvertrages die prinzipielle Möglichkeit besteht, dass das darin zum Ausdruck kommende europäische Selbstverständnis überhaupt Wirkung im Sinne eines Skriptes (Drehbuches) für die weitere Entwicklung der EU entfalten kann.342 Die für den Kontext der Arbeit wichtigsten Neuerungen des Vertrages von Lissabon im Vergleich zum bis heute gültigen Vertrag von Nizza sind: 1.
Die Neuformulierung der Werte und Ziele der Union in Artikel 2 und 3 (EUV): Die Neuformulierung der Werte und Ziele der Union stimmen größtenteils mit den Formulierungen des gescheiterten Verfassungsvertrages überein. So beruft sich die Union in Artikel 2: „auf die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören. Diese Werte sind allen Mitgliedsstaaten in einer Gemeinschaft gemein, die sich durch Pluralismus, Nichtdiskriminierung, Toleranz und Gerechtigkeit, Solidarität und die Gleichheit von Frauen und Männern auszeichnet.“
Bei den Zielsetzungen sind die Nennung einer „im hohen Maße wettbewerbsfähigen sozialen Marktwirtschaft“ und das Ziel der „Vollbeschäftigung“ im Vergleich zu Nizza hervorzuheben. Zudem wird der Kampf gegen soziale Ausgrenzung und Diskriminierungen, die Förderung von sozialer Gerechtigkeit und sozialen Schutz, die GleichDer polnische Staatspräsident weigert sich den Vertrag zu unterschreiben, in Finnland muss noch in einer zweiten Abstimmung über die Änderungen für Åland abgestimmt werden, was aber gelingen sollte. Stand August 2008 341 Ausnahmen sind hierbei Großbritannien und Polen, was aber bei den Länderanalysen noch genauer betrachtet wird. 342 Im Rahmen der EU-Debatten wird dem neuen Vertrag bereits durch seine Form (zwei enorm umfangreiche Verträge in juristischer Terminologie) als auch durch den erneuten Rückgriff auf einen rein parlamentarischen Ratifizierungsprozess (außer in Irland) ein Mangel an Öffentlichkeitswirkung zugeschrieben und als Konsequenz daraus, die z. B. nationalen Verfassungen innewohnende Funktion, eine Art identitätsstiftender „Sinnspeicher“ für die Menschen darzustellen, nicht in gleichem Maße erfüllen könnte wie der VVE. Allerdings ist es sowieso fraglich gewesen, ob der VVE diese Funktion auch tatsächlich erfüllt hätte – letztlich wurde er ja noch nicht einmal angenommen. Hier wird vielmehr die Ansicht vertreten, dass dem politischen Prozess, also der praktischen Erfahrung und öffentlichen Auseinandersetzung über politische Entscheidungen und Verfahren, eine ausschlaggebende Rolle zukommt, damit sich Bürger eines politischen Gemeinwesens mit den Werten und Inhalten desselben identifizieren. In diesem Sinne wird die Hypothese aufgestellt, dass grundsätzlich auch vom neuen Grundlagenvertrag über den politischen Prozess auf lange Sicht eine identitätsstiftende Wirkung ausgehen kann. Allerdings müssen zwei Bedingungen erfüllt werden: Erstens muss eine prinzipielle Wertekompatibilität mit den in den nationalen politischen Kulturen verankerten politischen Werten vorherrschen, damit überhaupt die prinzipielle Offenheit zur politischen Auseinandersetzung über europäische Themen besteht. Und zweitens muss die Wahrnehmung europäischer Entscheidungen und deren Auswirkungen verbessert, die Verantwortlichkeiten der unterschiedlichen Ebenen geklärt und die Beteiligungsmöglichkeiten der Bürger verdeutlicht werden.
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2.
3.
4.
5 Europäisches Skript stellung von Frauen und Männern, die Solidarität zwischen den Generationen und der Schutz von Kinderrechten als Ziele der Union formuliert. Neu ist demnach der Kampf gegen soziale Ausgrenzung, die Förderung von sozialer Gerechtigkeit, Solidarität zwischen den Generationen und der Schutz von Kinderrechten gleich zu Beginn des Vertrages als übergeordnete Unionsziele. Obgleich diese Ziele im Großen und Ganzen nicht neu sind, erlangen sie jedoch eine neue Sichtbarkeit und erhalten eine besondere Stellung als allen Politikfeldern übergeordnete Ziele. Im Gegensatz zum Stand von Nizza wird jedoch nicht mehr von einem „hohen Maß an sozialem Schutz“ gesprochen sondern von der „Förderung sozialer Gerechtigkeit und sozialem Schutz.“ Da eine Definition dessen, was als ein hohes Maß anzusehen ist, nie vollzogen wurde, kann davon ausgegangen werden, dass dieser Abschwächung keine besondere Bedeutung zukommt, zumal die hinzugefügte „Förderung sozialer Gerechtigkeit“ impliziert, dass eine gewisse gesellschaftliche Verhältnismäßigkeit angestrebt werden soll. Die Einführung einer Sozialklausel (Art. 9 AEUV): Eine weitere, ebenfalls aus dem Verfassungsvertrag übernommene sozialpolitische Neuerung ist die Einführung einer horizontal wirkenden Sozialklausel, die die EU-Organe verpflichtet, bei der Festlegung und Durchführung ihrer Politik und Maßnahmen die Förderung eines hohen Beschäftigungsniveaus, eines angemessenen sozialen Schutzes, eines hohen Niveaus der allgemeinen und beruflichen Bildung und des Gesundheitsschutzes sowie die Bekämpfung sozialer Ausgrenzung zu berücksichtigen. Diese Sozialklausel stellt damit eine wichtige Aufwertung der europäischen sozialen Dimension dar, da sie letztlich alles Handeln der Union nicht nur auf die wirtschaftspolitischen Ziele, sondern auch auf soziale Ziele verpflichtet, die damit eine klare Aufwertung erfahren. Die Rechtsverbindlichkeit der Grundrechtscharta (Art. 6 EUV): Obgleich die Grundrechtscharta nicht Teil des Vertragstextes ist, sondern diesem nur angehängt wurde, erhält sie ihre volle rechtliche Verbindlichkeit. Wie oben bereits ausführlich dargestellt, ist dies ein entscheidender Schritt zur Verdeutlichung der Werteorientierung der Union und stellt überdies in Einzelfällen sogar eine rechtliche Verbesserung für die Sicherung sozialer Grundrechte von Unionsbürgern dar. Ebenfalls übernommen aus dem Verfassungsvertrag wurden die horizontalen Antidiskriminierungsklausel, Gleichstellungsklausel und Umweltklausel. (s.o. 4.4.5.) Instrument der verstärkten Zusammenarbeit: Eine mögliche Stärkung und Vertiefung der sozialen Dimension der europäischen Integration könnte über die Erleichterung des Instrumentes der verstärkten Zusammenarbeit in Art. 20 (EUV) sowie Art. 326 bis 334 (AEUV) erreicht werden, wenn sich zum Beispiel ein Teil der Mitgliedsstaaten auf eine vertiefte Zusammenarbeit im sozialpolitischen Bereich einigen würde.
Über diese sozialpolitischen Neuerungen hinaus enthält der Grundlagenvertrag einige Neuerungen, die sich positiv auf eine europäische Identitätsbildung der Bürger auswirken könnten. Unter anderem gehören dazu die Einführung eines Präsidenten der Kommission sowie das Amt eines Hohen Vertreters, die der EU ein „Gesicht“ verleihen. Durch das neu eingeführte Recht auf Bürgerbegehren wird den Bürgern und Bürgerinnen der EU erstmals die Möglichkeit gegeben, direkten Einfluss auf die Politikgestaltung in Brüssel zu nehmen (Art. 11). Mit Art. 10 wird ihnen zudem ein Recht auf die Teilnahme am demokratischen Leben der EU eingeräumt und neben dem „sozialen Dialog“ der Tarifparteien nun auch ein „ziviler Dialog“ mit den repräsentativen Verbänden der Zivilgesellschaft vertraglich veran-
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kert. Diese im Vergleich zu Nizza neuen Elemente direkter bzw. partizipativer Demokratie innerhalb der Union zielen auf mehr Transparenz und ein stärkeres europäisches Bürgerbewusstsein, indem Partizipationsmöglichkeiten angeboten werden. Folglich verdeutlicht die Union ihr Selbstverständnis als eine partizipative Demokratie. Durch die stärkere Einbeziehung der nationalen Parlamente (in einem angehängten Protokoll), indem diese alle neuen Gesetzesinitiativen der Kommission direkt weitergeleitet bekommen und im Rahmen eines Frühwarnsystems gegen Verstöße des Subsidiaritätsprinzips „Einspruch“ erheben können, bekommen sie hinsichtlich der Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips eine Art Kontrollfunktion zugeschrieben. Ein zu erwartender Nebeneffekt wird dabei sein, dass die nationalen Parlamente sich durch diese neue Rolle stärker als früher mit europäischen Gesetzesinitiativen auseinandersetzen müssen, was zu mehr parlamentarischen Debatten europäischer Themen sowie mehr Beachtung in den nationalen Öffentlichkeiten führen kann. Obgleich der Grundlagenvertrag von Lissabon keine neuen Hoheitsrechte auf die europäische Ebene überträgt und auch auf die wesentlichen identitätsstiftenden Elemente des Verfassungsvertrages verzichtet343, wird dem Vertrag überwiegend eine positive und wichtige Rolle insbesondere für die Sicherstellung der zukünftigen Handlungsfähigkeit der EU zugeschrieben. Wie Schiffauer (2008) aufzeigt, verfügt der Vertrag von Lissabon ebenfalls über eine Reihe verfassungsqualitativer Elemente. 344 Dazu gehören u. a. die Neudefinition der Werte und Ziele der Union, die Rechtsverbindlichkeit der Grundrechtscharta, das Recht auf Bürgerinitiative, die einheitliche Rechtspersönlichkeit der Union, die Austrittsklausel, die Ämter des Hohen Vertreters und des Präsidenten der Kommission, die Regel der doppelten Mehrheit im Rat usw . Ebenso konnte aufgezeigt werden, dass eine Aufwertung der sozialen Dimension im neuen Grundlagenvertrag verankert ist und eine europäische Bürgeridentität fördernde Elemente im Zuge einer Umsetzung des Vertrages Öffentlichkeitswirkung entfalten könnten. Für das Selbstverständnis der Union lassen sich aus dem neuen Vertrag folgende Schlussfolgerungen ziehen: Bereits die schnelle Ausarbeitung und Ratifizierung des Lissaboner Vertrages durch die Regierungschefs der Mitgliedsstaaten machen deutlich, dass der politische Wille zur Fortsetzung des Reformprozesses nach dem Scheitern des Verfassungsvertrages prinzipiell vorhanden ist und dieser möglichst vor den Wahlen 2009 abgeschlossen sein soll. Im Großen und Ganzen stellt der Vertrag von Lissabon einen Fortschritt für die zukünftige Handlungsfähigkeit der Union dar, aber auch – und dies hätte nach dem Scheitern des Verfassungsvertrages durchaus anders sein können – ein Fortschritt vor allem in der Sichtbarmachung des Selbstverständnisses der EU als einer sozialen Union, die sich auf soziale Grundrechte stützt, einem Gleichheitsprinzip verpflichtet ist und eine partizipative Demokratie sein will. In der Sozialpolitik zeugt dieser Vertrag aber auch davon, dass eine Ausweitung sozialpolitischer Kompetenzen auf die europäische Ebene von den Mitgliedsstaaten nicht gewünscht wird und, dass mit dem opt-out Großbritanniens und Polens von der Gültigkeit der Grundrechtscharta über die vorhandenen sozialen Bestimmungen nach wie vor Differenzen bestehen. Die Gleichstellung der sozialen mit den wirtschaftlichen Zielen (Sozialklausel) ist für die weitere integrationspolitische Entwicklung in Richtung einer „sozialen Union“ von wesentlicher Bedeutung, problematisch 343
Als wesentliche identitätsstiftende Merkmale des VVE wurde bereits die Tatsache definiert, dass es sich um einen einzelnen kodifizierten Text handelt, der zumindest in den ersten beiden Teilen an die Tradition nationaler Verfassungen anknüpfte. In diesem Sinne wurde auch die staatliche Terminologie (Verfassung, Außenminister, die Bezeichnungen der Legislativorgane) als identitätsstiftende Elemente angesehen sowie vor allem die Festschreibung der Symbole der Europäischen Union und die im Text ausformulierte Charta der Grundrechte. 344 Vgl. Schiffauer (2008:8ff.)
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bleibt jedoch auch im Vertrag von Lissabon, dass die oftmals vagen Formulierungen (angemessener sozialer Schutz etc.) keine klare Politikausrichtung festlegen und damit ihre reale Wirksamkeit häufig nicht entfalten können. Als ein anderes Beispiel kann angeführt werden, dass sich die EU in ihren Zielen auf eine „soziale Marktwirtschaft“ beruft, bei einer späteren Konkretisierung im AEUV (Artikel 119 und 120) nur noch die Verpflichtung auf eine „offene Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb“ verankert ist. Hieran werden erneut bestehende Divergenzen sichtbar und, obgleich sich die Union sozialstaatlichen Grundsätzen verpflichtet, legt sie sich letztlich nicht eindeutig auf ein bestimmtes Sozialstaatsmodell fest. 5.3 Fazit zur Entwicklung der sozialen Dimension im Europäischen Integrationsprozess Die soziale Dimension erfährt im europäischen Integrationsprozess von Rom (1957) bis Lissabon (2008) eine konstante Aufwertung sowie Ausdehnung auf immer mehr Politikbereiche. Von der Nichtthematisierung zu Beginn des europäischen Projektes erlangt sie mit den Vertragsreformen ab Mitte der 1980er Jahre (EEA, Maastricht, Amsterdam, Nizza) innerhalb von zwanzig Jahren einen enormen Bedeutungszuwachs, der so weit geht, dass sich mittlerweile kaum eine Stellungsnahme der Kommission oder des Rates finden lässt, wo nicht auf die Bedeutung der sozialen Dimension für den Erfolg des Integrationsprojektes hingewiesen wird. Dies zeigt deutlich, dass die soziale Dimension, im Sinne eines normativen Leitbildes, einen immer bedeutsameren Stellenwert für die Legitimation des Integrationsprozesses von Seiten der politischen Akteure zuerkannt bekam.345 Dem Bedeutungszuwachs der sozialen Dimension im europäischen Diskurs entspricht auch ein faktischer Bedeutungszuwachs auf der Ebene europäischer Realpolitik. Hierbei muss jedoch konstatiert werden, dass in den ersten Jahrzehnten (1960 bis Anfang 1980er Jahre) auf dem Gebiet der Sozialpolitik die Vorstellung vorherrschte, man könne langfristig eine Harmonisierung der Strukturen in den Nationalstaaten erreichen, was letztlich zu einer Art Europäischen Sozialmodells – der Begriff kam in veränderter Bedeutung erst später auf – geführt hätte. Im Zuge der Erweiterung der Union und der damit verbundenen größeren Diversität an Sozialsystemen innerhalb der Gemeinschaft346 wich die Vorstellung einer Harmonierung der Strukturen, dem Anspruch, eine sozialpolitische Konvergenz in den Policy-Zielen herzustellen und den „Weg“ zur Erreichung dieser Ziele den unterschiedlichen Systemen zu überlassen. 345
Im Vergleich zur faktisch erreichten Verankerung von Sozialpolitik auf europäischer Ebene wird die häufige Bezugnahme der politischen Akteure auf die Bedeutung der sozialen Dimension von einigen Wissenschaftlern als reine Rhetorik ohne substanziellen Gehalt abgetan. Demnach handle es sich lediglich um eine legitimationsheischende Strategie der politischen Akteure. Anders ausgedrückt: Der umfangreiche Bezug der politischen Akteure auf die Bedeutung der sozialen Dimension im Integrationsprozess sei demnach eine rhetorische Legitimationsstrategie, um die Zustimmung der Menschen zum im Grunde rein wirtschaftlich ausgerichtetem Integrationsprojekt sicher zu stellen. 346 Die Diversität an verschiedenen Wohlfahrtsstaatsmodellen innerhalb der EU nahm vor allem mit dem Beitritt Großbritannien (1973 liberaler Wohlfahrtsstaat) und Dänemark (sozialdemokratischer Wohlfahrtsstaat)zu. In den 1980er Jahren kamen dann noch die südeuropäischen Länder hinzu. Dies führte dazu, dass eine Einigung auf (harte) sozialpolitische Richtlinien zunehmend schwierig wurde, da es im Interesse jedes einzelnen Mitgliedsstaates lag, entweder das eigene Modell auf europäischer Ebene zu verankern, um die eigenen Anpassungskosten gering zu halten oder eben die europäische Ebene soweit wie möglich herauszuhalten.
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Im Zeitverlauf bildeten sich vier verschiedene sozialpolitische Strategien auf europäischer Ebene heraus: Erstens, eine (harte) regulative Sozialpolitik in Form einer Setzung von allgemein verbindlichen Mindeststandards. Zweitens, eine (weiche) Koordinierungsmethode, die eine Konvergenz der Policy-Ziele anstrebt (EBS, OMK). Drittens, eine sozialpolitische Mindestsicherung über die Gewährleistung von sozialen Grundrechten. Viertens, europäische Sozialpolitik in Form von umverteilenden Ausgabenprogrammen wie zum Beispiel dem europäischen Sozialfonds, der jedoch aufgrund seines geringen Volumens und seiner Ausrichtung (Programme zur Reintegration von Arbeitslosen) nur eine geringe Rolle spielt. Obgleich die Fülle an sozialpolitischen Handlungskompetenzen der EU durchaus umfangreich ist – sie verfügt über Zuständigkeiten im Arbeitsrecht (regulative Sozialpolitik), in der Beschäftigungspolitik sowie bei der Modernisierung des sozialen Schutzes – so variiert das Ausmaß an Kompetenz je nach Bereich erheblich. Vor allem die sensiblen sozialpolitischen Bereiche der sozialen Sicherung (außer für Wanderarbeitnehmer) bleiben von Gemeinschaftsregelungen explizit ausgeschlossen, in anderen sozialpolitischen Bereichen kann im Rat nur einstimmig beschlossen werden, oder die EU-Organe verfügen lediglich über eine unverbindliche Koordinierungskompetenz (Beschäftigung; soziale Exklusion; Armut, Modernisierung der Systeme des sozialen Schutzes). Verbindliche europäische Rechtsvorschriften konnten bisher im Bereich der Arbeitnehmerfreizügigkeit, des Arbeitsschutzes, der Geschlechtergleichbehandlung und im allgemeinen Arbeitsrecht erlassen werden. Somit stellt sich die europäische Sozialpolitik zunächst einmal als hochgradig segmentiert dar, so dass auch weiterhin die nationale Ebene die „entscheidende Arena der sozialpolitischen Entscheidungsfindung“ bleiben wird.347 Die Entstehung eines europäischen Wohlfahrtstaates wird nach heutigem Stand der Forschung weder als realistisch noch in den meisten Fällen als wünschenswert betrachtet.348 Dennoch zeigt die europäische sozialpolitische Entwicklung deutlich, dass die EU eine zum Nationalstaat relevante ergänzende sozialpolitische Entscheidungsebene darstellt und damit sozialpolitischen Einfluss ausübt:349 Auf der formal-institutionellen Ebene (‚polity’) verfügt die Gemeinschaftsebene nicht nur über Gesetzgebungskompetenzen zur „Marktgestaltung“350 sondern übt sowohl im Rahmen der OMK ergänzende Definitionsmacht bei der Festsetzung von sozialpolitischen Zielen als auch durch die Analysen und Vorschläge in den Länderberichten aus. Zudem werden im Rahmen der OMK ebenfalls Entscheidungsfindungsprozesse (‚politics’) auf die europäische Ebene verlagert. So führen zum Beispiel die Diskussionen zu den Zielsetzungen im Bereich der Beschäftigungs-, Renten- und Armutspolitik im Rahmen der OMK unter Maßgabe des Europäischen Rates zu einem regelmäßigem Austausch zwischen der Kommission, Fachausschüssen und nationalen Verwaltungen.
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Wendler (2005:229), ebenso Kaufmann (2003b), Schmid (2002) Die Gründe dafür sind sicherlich vielfältig, nicht zuletzt hat sich jedoch bisher kein politisch relevanter Ansatz einer umfassenden Supranationalisierung sozialpolitischer Kompetenzen durchsetzen können, was einen europäischen Wohlfahrtsstaat zur Folge hätte. Nicht nur die Diversität der unterschiedlichen nationalstaatlichen Sozialsysteme und die damit verbundenen Kosten einer Umstellung erschwert dies, auch der politische Wille der Staats- und Regierungschefs, dieses für ihre Legitimation wichtige Politikfeld aus der Hand zu geben, muss als gering eingestuft werden. 348 Vgl. Scharpf (2008) 349 Im Folgenden beziehe ich mich auf die Ausführungen von Wendler (2005:229) 350 Falkner (2003:482ff)
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Auf der inhaltlichen Ebene (‚policy’) zeigt sich der europäische Einfluss nicht nur in den sozialpolitischen Gesetzgebungsakten351, sondern auch, indem sie eigene Leitbilder entwickelt und nachweisbare sozialpolitische Veränderungsprozesse von den Nationalstaaten einfordert. Als integrationspolitische Leitidee wurde ab Mitte der 1980er Jahre das Leitbild des Europäischen Sozialmodells (ESM) entwickelt, welches trotz aller Diversität der nationalen Sozialsysteme die gemeinsamen sozialen Werte und Ziele herausstellen sollte. Dabei wurde versucht, mit dem Terminus des Europäischen Sozialmodells einerseits die historisch gewachsenen einzelstaatlichen Sozialmodelle in ihrer Vielgestaltigkeit zu würdigen und als schützenswert herauszustellen, zum anderen wurde mit dem Begriff aber auch ein normativer Anspruch verbunden, der zunächst in der Bedeutung des sozialen Dialogs und der Setzung von Mindeststandards gesehen wurde, mittlerweile aber in der Forderung bzw. Notwendigkeit der „Modernisierung“ (i.S. einer Anpassung) der nationalen sozialstaatlichen Arrangements mündet. Dieses Spannungsverhältnis zwischen etwas, was bereits vorhanden ist und das es zu bewahren gilt, und etwas, was erst noch zu schaffen ist, zeichnet den Begriff des ESM aus und spiegelt insofern auch die Entwicklung der sozialen Dimension wieder. Im Zuge der Binnenmarktintegration und unter Verweis auf sozio-ökonomische Wandlungsprozesse (Globalisierung, Binnenmarkt, demographischer und sozialer Wandel etc.), die sozialpolitische Anpassungsprozesse („Modernisierung“) in den einzelnen Systemen notwendig machten, wurde mit dem Paradigma des „aktivierenden Wohlfahrtsstaates“ versucht, eine auf europäischer Ebene in sich stimmige Sozialpolitik zu konzipieren, die darüber hinaus durch die stetige Aufwertung sozialer Grundrechte untermauert werden soll(te). Jedoch zeigt sich bei genauem Hinsehen, dass dieses Leitbild einerseits dadurch relativiert wird, dass die Europäische Sozialpolitik insbesondere mit der Lissabon-Strategie keine eigene Begründung/Legitimation zuerkannt bekommt, sondern stets unter die Ziele der Marktintegration mit den Schlüsselbegriffen „Wettbewerbsfähigkeit“, „produktiver Faktor“ subsumiert wird. Zum anderen ist die primär an wirtschaftspolitischen Aspekten orientierte Programmatik des „aktivierenden Wohlfahrtsstaates“ im Bereich der EBS und OMK derart flexibel gehalten, dass sie sich als an unterschiedliche sozial- und arbeitsmarktpolitische Kontexte anpassungsfähig erweist, so dass man nicht von einem sich herauskristallisierenden einheitlichen Modell sprechen kann. So werden unter der Leitidee des Europäischen Sozialmodells konkurrierende Elemente gefasst – einerseits stark „rekommodifizierende“ Elemente und andererseits das Festhalten an und der Ausbau sozialer Grundrechte – , was zwar die Annahme der Leitidee aus verschiedenen nationalen Kontexten erleichtert, eine Einordnung bzw. Wirkungsrichtung im Sinne eines Sozialmodells verhindert.352 Insofern macht es wenig Sinn, nach einem verankerten Sozialstaatsmodell auf europäischer Ebene zu suchen. Dennoch kann anhand der Policy-Ziele eine Einordnung anhand analytischer Kategorien der Wohlfahrtsstaatsforschung vorgenommen werden. Durch den Rückgriff auf analytische Kategorien der vergleichenden Politikforschung kann eine Einordnung des EU-Skripts im Sinne einer tendenziellen Ausrichtung an einem oder mehreren Wohlfahrtsstaatsmodellen vorgenommen werden und dieses mit den in den politischen Kulturen der Länder vorhandenen sozial- und gesellschaftspolitischen Wert- und Einstellungsmuster verglichen werden. 351 352
Ende 2002 verfügte die EU über 56 Sozial-Richtlinien. Falkner/Treib (2005:220) Wendler (2005:229ff.)
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5.4 Einordnung des EU-Skripts in Wohlfahrtsstaatstypologien In der Europäischen Forschungsdebatte besteht weitgehender Konsens darüber, dass sich ein Europäischer Wohlfahrtsstaat im Sinne einer „Duplizierung“ nationaler Wohlfahrtsstaatsmodelle nicht entwickeln wird. Vielmehr wird angenommen, dass die nationale Ebene auch weiterhin primärer Bezugsrahmen und Bereitsteller sozialpolitischer Leistungen bleibt und die europäische Ebene zwar eine relevante, jedoch nur eine zum Nationalstaat ergänzende Ebene sozialpolitischer Entscheidungsfindung darstellen wird. Europäische Sozialpolitik ist demnach nicht mit den umfassenden, historisch gewachsenen sozialpolitischen Arrangements der Nationalstaaten vergleichbar. Dennoch soll im Folgenden anhand der Policy-Ziele und Wertorientierungen die normative sozialpolitische Ausrichtung der EU herausgearbeitet werden, indem mit Hilfe von analytischen Kategorien der vergleichenden Wohlfahrtsstaatsforschung eine Einordnung des EU-Skripts in eine Wohlfahrtsstaatstypologie vorgenommen werden kann. Die Analyse der europäischen Verträge als Ausdruck des europäischen Selbstverständnisses geht, wie oben bereits dargelegt wurde, davon aus, dass nicht nur Institutionen und Akteure, sondern eben auch Ideen und Leitbilder einen wichtigen Einfluss auf politische Prozesse haben. Die Einordnung des EU-Skripts in Kategorien der nationalen Wohlfahrtsstaatsforschung ermöglicht erst eine systematische Erfassung und spätere Vergleichbarkeit des Skripts mit den in den Ländern vorfindbaren Wohlfahrtsstaatsvorstellungen und -konzepten. Anhand der Analyse der EU-Ebene können dann Aussagen darüber abgeleitet werden, welchem Wohlfahrtsstaatsmodell das EU-Skript am nächsten kommt und damit vermutlich auch, welcher Einfluss der europäischen Ebene auf die Sozialpolitik der Mitgliedsstaaten am ehesten zu erwarten ist. Für eine realistische Einordnung der Wirkungsrichtung des EU-Skripts werden bei der Analyse und Zuordnung neben den jeweiligen sozialpolitischen Policy-Zielen auch die dazugehörigen Outputs als Bewertungskriterien miteinbezogen. Dies garantiert nicht nur Aussagen über die normative Ausrichtung der EU treffen zu können, sondern auch über die reale Wirkungsweise und Wahrnehmbarkeit der europäischen Sozialpolitik, was letztlich für die Herausbildung einer europäischen Identität von enormer Wichtigkeit ist. Obgleich im Kontext der Europaforschung stets der sui-generis-Charakter der EU herausgestellt und damit einhergehend konstatiert wird, dass nationalstaatliche Analysekategorien für die Erklärung europäischer Institutionen und Prozesse unzureichend seien, lässt sich der Rückgriff auf analytische Kategorien der vergleichenden (nationalen) Wohlfahrtsstaatsforschung damit rechtfertigen, dass nur dadurch die Anschlussfähigkeit der Ergebnisse an die übrige vergleichende Politikwissenschaft möglich wird. Die in der Europaforschung vorherrschende Tendenz, primär auf Konzepte und Neologismen zu setzen, die explizit für den Europa-Kontext entworfen wurden, führt letztlich dazu, dass sich die (empirische) Europaforschung vom Rest der politikwissenschaftlichen Forschung ablöst. Vor allem Scharpf (2002b) tritt als Kritiker dieser Entwicklung auf und plädiert für die Anwendung und Anpassung analytischer Kategorien der Vergleichenden Politikforschung innerhalb der EU-Forschung: „Zwar passen die Konzepte auf die je untersuchten Fälle, aber angesichts der Heterogenität der untersuchten Sachverhalte ist ein Konsens unter den Europaforschern noch nicht in Sicht […] – ganz zu schweigen von der Akzeptanz unter Politikwissenschaftlern, die an theoretischen Aussagen mit höherem Generalisierungsgrad interessiert sind. Dies ist bedauerlich, weil so die empirische Europaforschung gegen theoretische Kritik immunisiert wird, während die politikwis-
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5 Europäisches Skript senschaftliche Theorie kaum von dem wachsenden Bestand der empirischen Forschung profitiert. (…) Obwohl die europäische politische Ordnung keine genaue Entsprechung anderswo hat, sollte es doch möglich sein, europäische Institutionen und politische Prozesse mit Hilfe von Konzepten und Hypothesen zu analysieren, die auch in der Vergleichenden Politikforschung und in den Internationalen Beziehungen angewandt werden können.“353
Vor diesem Hintergrund ist die Verwendung von analytischen Kategorien der vergleichenden Wohlfahrtsstaatsforschung nicht nur sinnvoll, sondern für die spätere Zusammenführung der Ergebnisse und deren Rückbindung an das Thema einer europäischen Identität unerlässlich. 5.4.1 Kategorien der Vergleichenden Wohlfahrtsstaatsforschung Mit dem Ausbau und der Expansion staatlicher Wohlfahrtssicherung in westlichen Industrieländern nach dem zweiten Weltkrieg bildete sich die komparative Wohlfahrtsstaatsforschung als neuer und zunehmend wichtiger Zweig der Vergleichenden Politikwissenschaft heraus. Unter Verwendung verschiedener Methoden354 wird in diesem Rahmen nach den Entstehungs- und Gestaltungsbedingungen nationaler sozialpolitischer Arrangements (Sozialsysteme) gefragt. Dabei geht es der Wohlfahrtsstaatsforschung355 nicht nur um sozialpolitische Institutionen und Politiken (social policies), sondern ebenso um die jeweiligen sozialpolitischen Auseinandersetzungen (social politics) und Ideen (social ideas) von Wohlfahrtsstaaten.356 Zu den zwei grundlegenden Merkmalen von Wohlfahrtsstaaten zählt Kohl (2000) einerseits die Idee der staatlichen Verantwortung hinsichtlich einer Sicherung der „Wohlfahrt der Bürger, beziehungsweise ihrer sozialen Rechte gegenüber dem Staat“ sowie die „faktische Existenz entsprechender Institutionen und Programme“ andererseits.357 Im Wörterbuch wird der Terminus „Wohlfahrtsstaat“ wie folgt definiert: „Der Begriff <Wohlfahrtsstaat> (welfare state) charakterisiert als deskriptives Konzept einen bestimmten Typus der Staatstätigkeit. Er kennzeichnet Länder, in denen der Staat eine aktive Rolle in der Steuerung wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Abläufe übernimmt und einen beträchtlichen Teil seiner Ressourcen sozialpolitischen Zwecken widmet, die der Förderung nach einer größeren Gleichheit der Lebenschancen in den Dimensionen Einkommenssicherung, Gesundheit, Wohnen und Bildung dienen. In der Verwendung des Konzepts (…) schwingt eine Verpflichtung des Staates auf eine umfassende Politik des Ausbaus sozialer Staatsbürgerrechte mit, die sich nicht mit der Sicherung von Konsumchancen begnügt, sondern auch die Förderung von Wirtschaftswachstum und Vollbeschäftigung anstrebt und den Abbau ungleicher Teilnahmechancen am gesellschaftlichen und politischen Leben zum Ziel erhebt.“358 353
Scharpf (2002a:38-39). Ähnlich zitiert auch bei Thalacker (2006:115) Vgl. Kaufmann (2003b:17ff.) 355 Während sich im internationalen Forschungskontext der Begriff „Wohlfahrtsstaat“ (welfare state) durchgesetzt hat, findet in der deutschen Diskussion meist der Begriff „Sozialstaat“ Verwendung. Josef Schmid (2000) hingegen unterscheidet zwischen dem Wohlfahrtsstaat als einer „empirischen Kategorie zur Analyse der Aktivitäten moderner Staaten“, während der Begriff „Sozialstaat“ die rechtlich-normative Dimension fokussiere. In dieser Arbeit werden die Begriffe Wohlfahrtsstaat und Sozialstaat in ihren theoretischen und politischen Implikationen synonym verwendet. 356 Vgl. Kaufmann (2003b:16f.) 357 Kohl (2000:115-116) 358 Jens Alber zitiert nach Schmid (2000:3) 354
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Einer der prominentesten Ansätze im Rahmen der institutionell-vergleichenden Wohlfahrtsstaatsforschung ist die 1990 erschienene Typologie von Gøsta Esping-Anderson. In seinem Werk „The Three Worlds of Welfare Capitalism“359 entwickelt er drei verschiedene wohlfahrtsstaatliche Modelltypen: den liberalen Wohlfahrtsstaat, den konservativen Wohlfahrtsstaat und den sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaat. Als Differenzkriterien werden dabei der Grad an Dekommodifizierung360, das Ausmaß an gesellschaftlicher Stratifizierung bzw. Destratifizierung361 sowie das jeweilige Mischungsverhältnis von öffentlicher und privater Vorsorge (public-private-mix) herangezogen. Nach Esping-Anderson ergeben sich daraus die spezifischen Charakteristika des konservativen, liberalen und sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaatstypus (Tabelle 2). Ohne nun eine ausführliche Beschreibung der drei Typen anhand der Tabelle vorzunehmen, sollen kurz zentrale Unterscheidungsmerkmale der Modelle im Bereich der sozialen Sicherheit und im Bereich arbeitsmarktpolitischer Anpassungsstrategien veranschaulicht werden.362 Im Bereich der sozialen Sicherheit ist die jeweilige Bemessungsgrundlage von Leistungen das entscheidende Differenzkriterium. Während im sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaat die sozialen Leistungen unabhängig von vorher geleisteten Beträgen bzw. von vorherigem Erwerbseinkommen bemessen werden, hängen in den liberalen und konservativen Wohlfahrtsstaaten die Leistungen der sozialen Sicherheit von geleisteten Beiträgen bzw. dem vorherigen Erwerbseinkommen ab. So wird im liberalen Wohlfahrtsstaat eine individuelle Daseinsvorsorge über den Markt ermöglicht, wobei der Staat vor allem in Form sozial-regulativer Politik aktiv wird und am Markt dadurch Rechtssicherheit herstellt. Soziale Anspruchsrechte sind hingegen nur gering entwickelt und zumeist an Bedürftigkeitsprüfungen gebunden. Damit verbunden ist eine häufige Stigmatisierung von Betroffenen. Im konservativen Wohlfahrtsstaat hingegen wird soziale Sicherheit über nicht marktkonforme Pflichtversicherungen bereitgestellt, wodurch eine starke Anbindung von sozialen Rechten an Klasse und Status besteht. Das sozialdemokratische Modell hingegen ist universalistisch ausgerichtet, indem soziale Anspruchsrechte als soziale Bürgerrechte gewährleistet werden. Dadurch wird eine Stigmatisierung von Betroffenen verhindert. Zudem wird ein hohes Maß an Gleichheit angestrebt und ein umfangreiches Netz an sozialen Dienstleitungen zur Verfügung gestellt. Finanziert wird die soziale Sicherheit aus dem Staatshaushalt (Steuern).
359
Esping-Anderson (1990) Als Dekommodifizierung bezeichnet man die durch Sozialpolitik ermöglichte „Lockerung des Zwangs zur Existenzsicherung durch Erwerbsarbeit und den Schutz vor Marktkräften und Einkommensausfällen.“ Schmid (2000:4f.) 361 Stratifizierung beschreibt die gesellschaftliche Differenzierung nach sozialen Schichten. Destratifizierung im Konzept von Esping-Anderson lässt sich folglich als die durch Sozialpolitik erreichte Überwindung von gesellschaftlicher Schichtung beschreiben, z. B. in Form einer Universalität von sozialen Rechten und Leistungen. 362 Eine ausführliche Beschreibung der Modelle findet sich im Originalwerk sowie bei Schmid (2000). Das Herausgreifen der beiden Bereiche soziale Sicherheit und arbeitsmarktpolitische Anpassungsstrategien orientiert sich an Thalacker (2006:116-120). 360
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Tabelle 2: Wesentliche Merkmale der drei Wohlfahrtsstaatsmodelle nach EspingAnderson konservativer Wohlfahrtsstaat
liberaler Wohlfahrts- sozialdemokratischer staat Wohlfahrtsstaat
Märkte (für Arbeit, für Institutionen zur BereitFamilie, subsidiäre Soliprivate Versicherungen stellung sozialer Sicherdargemeinschaften etc.) heit
Funktion des Staates
Grundlagen für den Erhalt von Leistungen
Staat
Gewährleistung von Regulierung zur HerstelRechtsansprüchen (z. B. lung von Rechtssicher- Erbringung von TransUnterhaltsrecht, Ausferleistungen heit für privatrechtliche gleich von Defiziten der Verträge Sozialversicherung) Erfüllung privat(frühere) Erwerbstätigrechtlicher Verträge keit, einkommensabhän(z. B. private Renten-/ universeller Rechtsansgige Beiträge, ggf. Status Krankenversicherung), pruch („soziale Grund(Beamte) rechte“) Versicherungsprämien Fürsorge/Sozialhilfe: Bedürftigkeitsprüfung
Arbeitsmarktpolitische Anpassungsstrategie Dominante Ebene der kollektiven Arbeitsbeziehungen Grad der „Dekommodifizierung“ Gesellschaftliche Entwicklungsdynamik
Reduktion des Arbeits- Senkung der Arbeitskos- Ausweitung öffentlicher angebots ten Beschäftigung Branchenebene (MesoKorporatismus in der Tarifpolitik) + betriebliche Ebene (Informations, Anhörungs-, ggf. Mitbestimmungerechte)
Betriebliche Ebene
Makro-Korporatismus, Tripartismus
mittel bis gering
gering
Hoch
Gruppenbildung, Segmentierung
Individualisierung
Homogenisierung
Quelle: Thalacker (2006:116)
Im Bereich der arbeitsmarktpolitischen Anpassungsstrategien unterscheiden sich die drei Modelle von Esping-Anderson in ihren Lösungsstrategien zur Förderung von Beschäftigung. Während liberale Wohlfahrtsstaaten primär auf Flexibilisierung und Deregulierung der Arbeitsmärkte, sozialpolitische Leistungskürzungen oder eine Verschärfung von Anspruchsbedingungen setzen, wird in konservativen Wohlfahrtsstaaten vor allem über eine Verringerung von Erwerbstätigen (z. B. in Form von Frühverrentungen, geringe Frauenerwerbsquoten etc.) agiert. Sozialdemokratische Wohlfahrtsstaaten bevorzugen Umschulungen und den Ausbau des öffentlichen Dienstes (so genannte „welfare state jobs“ z. B. im Bereich Erziehung und Betreuung). Schmid verweist (2000:5) im Zusammenhang der Esping-Anderson Typologie darauf, dass „in die institutionellen Besonderheiten der jeweiligen Modelle […] auch kulturelle Faktoren wie Leitbilder sowie gemeinschaftliche Vorstellungen von Gleichheit und Gerechtigkeit verwoben“ sind. Allerdings werden sie nicht eigens systematisiert, sondern schwingen nur implizit mit.
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An die Typologie von Esping-Anderson hat sich eine breite Diskussion angeschlossen, die in einer Vielzahl von Weiterentwicklungen der ursprünglichen drei Modelle mündete. Dabei handelt sich im Wesentlichen um politisch-ökonomische und institutionelle Problembeschreibungen anhand unterschiedlicher Indikatoren und Dimensionen. Einen guten Überblick dazu bietet der Artikel von Arts und Gelissen (2002)363. Für den Kontext dieser Arbeit sind jedoch die Ergänzungen von Opielka (2004) sowie das Modell von Edeltraud Roller (2002) von besonderem Interesse, da es bei der empirischen Analyse der Wohlfahrtsstaatskonzeptionen und -vorstellungen auf den Ebenen der politischen Sozio- und Deutungskultur nicht um eine Beschreibung der realen politisch-ökonomischen und institutionellen Strukturen und Bedingungen der jeweiligen Wohlfahrtsstaaten geht – diese bilden vielmehr die Hintergrundsfolie der Analyse – als vielmehr um die Identifikation der jeweiligen sozialpolitischen Ideen, Konzepte und Wertorientierungen, die den normativen Rahmen für sozialpolitische Gestaltungsprozesse auf nationaler aber auch auf europäischer Ebene364 liefern. Es geht also nicht darum, sozialpolitische Strukturen und die Implementation bestimmter Politiken zu erklären, sondern die Ideen, Werte und Vorstellungen, die solchen Strukturen und Prozessen vorangehen bzw. diese einrahmen, zu identifizieren und in einem europäischen Zusammenhang zu setzen. So verweist zum Beispiel Opielka (2004) darauf, dass sich Wohlfahrtsregime auch nach ihren unterschiedlichen Konzeptionen sozialer Gerechtigkeit rekonstruieren lassen. Dabei können anhand der Trias Staat, Markt, Gemeinschaft die unterschiedlichen politischen Ideologien samt dazugehörigen Gerechtigkeitskonzeptionen gruppiert werden, je nachdem welchem Steuerungssystem sie den Vorrang einräumen. Während Liberale den Markt bevorzugen und damit primär Leistungsgerechtigkeit zur legitimatorischen Grundlage ihrer Politik erheben, setzen Sozialisten, aber auch Sozialdemokraten zuallererst auf den Staat und damit auf ein Konzept von Verteilungsgerechtigkeit. Konservative hingegen sehen als wichtigstes Steuerungssystem die Gemeinschaft (Familie, Volk, Nation) an und sprechen sich für Bedarfsgerechtigkeit aus. Ein viertes Konzept sozialer Gerechtigkeit ist die Teilhabegerechtigkeit, deren „Referenz […] das Legitimationssystem der Gesellschaft [ist], darin vor allem Menschenrechte und (universalistische) Religionen; ihr politisches Projekt wäre – um einen Begriff von Claus Offe aufzugreifen – der „Garantismus“.“365 Die Leitidee des Garantismus knüpft an Bürger- und Grundrechte an, die jedem Bürger und jeder Bürgerin soziale Teilhabe „garantieren“ sollen. Politische Konzepte wie z. B. die Bürgerversicherung oder die Idee eines Grundeinkommens orientieren sich an dieser Leitidee. Mit Hilfe von zwei Differenzierungskriterien (nach Merkel 2001) entwirft Opielka (2004:49) eine Vier-Felder-Matrix, die die Regimetypen nach ihren Gerechtigkeitskonzeptionen gliedert. Das erste Kriterium bezieht sich auf ein Ausgangaxiom, welches sich in einem Kontinuum von absolut gesetztem Individuum auf der einen Seite und absolut ge-
363
Arts/Gelissen (2002) Wie in der Skript-Analyse aufgezeigt wurde, besitzt die europäische Ebene nur in bestimmten sozialpolitischen Bereichen eine Kompetenz-Kompetenz, in den meisten sozialpolitischen Bereichen hingegen sind es nach wie vor die Nationalstaaten, die nach dem Prinzip der Einstimmigkeit auf europäischer Ebene verhandeln bzw. im Rahmen der OMK die entscheidenden Akteure sind. Da für die nationalen Regierungen, der die nationale politische Kultur den Rahmen liefert, indem über ihre Wiederwahl entschieden wird, muss davon ausgegangen werden, dass auch bei Verhandlungen auf europäischer Ebene die nationale politische Kultur nach wie vor den Handlungsspielraum ihrer Akteure rahmt. 365 Opielka (2004:48) 364
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setzter Gemeinschaft auf der anderen Seite bewegt. Das zweite Kriterium verläuft zwischen „umverteilungsavers“ bis zu „umverteilungssensitiv“.366 Abbildung 6:
Regulative Leitideen sozialer Gerechtigkeit im Wohlfahrtsstaat Ausgangsaxiom avers
Umverteilungsposition
sensitiv
Individuum
Gemeinschaft
Liberalismus (Leistungsgerechtigkeit)
Konservatismus (Bedarfsgerechtigkeit)
Sozialdemokratie (Verteilungsgerechtigkeit)
Garantismus (Teilhabegerechtigkeit)
Quelle: Opielka (2004:49)
Mit gewissen Problemen ist sicherlich die Einteilung der sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaatskonzeption verbunden, da seit New Labour unter Tony Blair oder auch Gerhard Schröders Agenda 2010 eine stärkere sozialliberale Orientierung innerhalb des Mainstreams der europäischen Sozialdemokratie vorfindbar ist und viele klassische sozialdemokratische Positionen häufig nur noch bei sozialistischen bzw. Parteien links der Sozialdemokratie anzutreffen sind.367 Diese sozialliberale Wende im sozialdemokratischen Lager kann als ein Ergebnis der Debatte um die ‚Krise des Wohlfahrtsstaates’ betrachtet werden und steht folglich im Zusammenhang mit dem seit den 1990er Jahren aufkommenden Diskurs über den „Aktivierenden Staat“. Während Liberale und auch Konservative überwiegend über den Weg von (monetären) Leistungskürzungen und verschärften Anspruchsbedingungen (Pflichten) eine Aktivierung von Arbeitslosen zu erreichen suchen, setzen linke Parteien primär auf eine Aktivierung über Weiterbildungsangebote, Umschulungen, intensivere Betreuungsangebote etc . Darüber hinaus nehmen sie aber auch Anleihen bei liberalen Konzepten, indem sie ebenfalls Pflichten und Bedarfsprüfungen in ihr Aktivierungskonzept integrieren. Dieser Aktivierungsdiskurs ist für die Analyse der Parteiprogramme, aber auch des EU-Skripts von entscheidender Bedeutung, da er im Analysezeitraum (1990-2005) nicht nur in Deutschland sondern auch in Großbritannien und auf europäischer Ebene geführt wird und den wohlfahrtsstaatlichen Diskurs nachhaltig prägt. Opielka hat auf der Grundlage dieses Aktivierungsdiskurses eine Systematisierung der unterschiedlichen Konzeptionen und Ideen in die oben angesprochenen vier welfareregimes vorgenommen (Tabelle 3). Er verweist explizit auf die politisch-kulturellen Faktoren der Wohlfahrtsregime, in dem er die jeweilige Wertematrix, die den komplexen gesellschaftlichen Ordnungsvorstellungen zugrunde liegt, zum Bezugsrahmen der Systematisierung macht.368 Insofern wird der zugrunde liegenden sozialpolitischen Kultur ein erheblicher Stellenwert für die institutionellen Muster und Interessenkonfigurationen eingeräumt – aus ihr beziehen sie sozusagen ihren Sinngehalt. Auch Esping-Anderson hatte bereits auf die komplexen gesellschaftlichen Ordnungsvorstellungen hingewiesen, die den Wohlfahrts-
366
Ebd. S. 49 Opielka (2004:49), Meyer (2005) Vgl. ferner zu dieser Problematik weiter unten, Abschnitt 6.2.4. 368 Opielka (2004:287) 367
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typen zugrunde liegen.369 Diese haben jedoch erst in den letzten zehn Jahren zunehmend wissenschaftliche Beachtung erlangt.370 Tabelle 3: Welfare-regime-typen und Konzeptionen der Aktivierung liberal
sozialdemokratisch
Aktivierungssystem
Markt
Staat
Armutskonzept
welfare regime
konservativ
garantistisch
Gemeinschaft (FaSinn/Legitimation milie, Berufsstand)
Armut
Ungleichheit
Soziale Exklusion
Teilhabedefizienz
Sozialpolitischer Adressat, Subjektbegriff
Produzent / Kunde
Arbeitnehmer / Sozialbürger
Familienperson / Gruppenselbst
Individuum / autonomer Bürger
Aktivierungskonzept
‚Normalisierung’/ ‚workfare’ / Inklu‚aktivierender Staat’ Inklusion durch sion durch Produk/Inklusion durch Familienpolitik, tivismus (ohne erweiterte ‚ArbeiGruppenpolitik soziale Dienstleisterpolitik’ (Minoritäten) tung)
‚Empowerment’ / Inklusion als Grundrecht
Interventionsfokus
monetäre I.
rechtliche I.
pädagogische I.
ökologische I.
Ressourcenfokus
Ökonomische R.
Rechtliche R.
Verhaltens-R., Moral
Handlungskompetenzen, Ethik
Konzeption sozialer Gerechtigkeit
Leistungsgerechtigkeit
Verteilungsgerechtigkeit
Bedarfsgerechtigkeit
Teilhabegerechtigkeit
Quelle: Opielka (2004:90)
Zur Untersuchung der sozialpolitischen Kultur auf der Ebene der Bürger hat vor allem Edeltraud Roller (2000) mit ihrer empirisch angewendeten Typologie zur Analyse von wohlfahrtsstaatlichen Bevölkerungseinstellungen einen wichtigen Beitrag geleistet.371 Sie unterscheidet vier Modelle: ein liberales, ein christdemokratisches, ein sozialdemokratisches und ein sozialistisches. Das liberale Modell zeichnet sich durch eine minimale staatliche Verantwortung für Einkommenssicherheit in Risikofällen (Krankheit, Alter etc.) aus und entspricht damit einem wohlfahrtsstaatlichem Grund- oder Minimalmodell, indem ausschließlich die großen Lebensrisiken staatlich abgesichert werden. Das christdemokratische Modell zeichnet sich durch eine umfassende Staatsverantwortung für die Einkommenssicherheit in Risikofällen, sowie für sozio-ökonomische Chancengleichheit (insbesondere durch Maßnahmen im Bildungsbereich) aus. Im sozialdemokratischen Modell übernimmt der Staat darüber hinaus Verantwortung für die Nivellierung sozio-ökonomischer Ungleichheit (Ergebnisgleichheit) und Vollbeschäftigung.
369
Esping-Anderson (1990:21ff.) Siehe dazu u. a. Rieger/Leibfried (2004), Mau (2003), Merkel (2001), Rothstein (2001) 371 Roller (2000) 370
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Im sozialistischen Modell übernimmt der Staat zusätzlich die Kontrolle von Löhnen und Gehältern und betreibt ökonomische Interventionen.372 Tabelle 4: Wohlfahrtsstaatstypologie nach Roller (2000) Modell
Ausprägung
Für diejenigen, die sich über den Markt nicht selbst versorgen können insbesondere Alte Kranke, Behinderte, Arbeits- und Wohnungslose
Liberales Modell Grundmodell ChristdemokratiGrundmodell+ sches Modell
Staatliche Verantwortung
plus Chancengleichheit
Absicherung von Lebensrisiken und Bildungspolitik
Sozialdemokratisches Modell
Absicherung von Lebensrisiken, plus Vollbeschäftigung Bildungspolitik, Politiken zum Abbau Grundmodell ++ plus Ergebnisgleichheit von Ungleichheiten und Beschäftigungspolitik
Sozialistisches Modell
plus Kontrolle von Absicherung von Lebensrisiken, Löhnen und Gehältern Bildungspolitik, Politiken zum Abbau Grundmodell +++ plus ökonomische Inter- von Ungleichheiten, Beschäftigungsventionen und Lohnpolitik sowie staatliche Marktinterventionen.
Quelle: Eigene Darstellung
Edeltraud Roller bestimmt ihre vier Modelle anhand einer einzigen analytischen Dimension, indem sie das Ausmaß an Dekommodifizierung als Differenzkriterium heranzieht. Diese Fokussierung auf nur eine analytische Dimension hat den Vorteil, dass sich diese Typologie gut für den empirischen Vergleich von Bevölkerungseinstellungen operationalisieren lässt.373 Da Typologien stets vereinfachen und die in der Realität vorfindbare Fülle an Merkmalen nicht eins zu eins abbilden können, stehen den oben beschriebenen Idealtypen in der Realität immer Mischformen gegenüber, in denen Elemente der unterschiedlichen Typen miteinander verbunden werden.374 Für die Betrachtung der europäischen Ebene kommt noch hinzu, dass europäische Sozialpolitik nicht nur keinem eindeutig abgrenzbaren Typus zuzurechnen ist, sondern zudem hochgradig segmentiert ist und nur sozialpolitische Teilbereiche abdeckt. Folglich wird das sozialpolitische EU-Skript anhand seiner einzelnen Elemente untersucht und die tendenzielle Orientierung der enthaltenen Konzepte und Leitideen an einem Idealtypus herausgearbeitet. Eine Untersuchung der einzelnen Elemente hat den Vorteil, dass im Rahmen der Analyse „auch punktuelle Veränderungen einzelner Teilsys-
372
Roller (2000) Die vier Modelle bauen aufeinander auf, indem der Umfang staatlicher Verantwortung ausgedehnt wird. 373 Esping-Anderson zum Beispiel bestimmte seine Modelle anhand von drei analytische Dimensionen (Dekommodifizierung, Stratifizierung, Verhältnis Staat vs. Markt), was sich für den statistischen Vergleich mit Hilfe vorhandener Datensätze als zu komplex erweist. 374 So ist in Großbritannien zum Beispiel ein Gesundheitssystem sozialdemokratischer (universeller) Prägung einerseits und eine liberale, weitgehend deregulierte und flexible Arbeitsmarktordnung andererseits anzutreffen. Vgl. auch Thalacker (2006:120)
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teme […], die sich in der Tendenz auf die Charakterisierung des wohlfahrtsstaatlichen Gesamtsystems eines Landes auswirken“ dargestellt werden können.375 5.4.2 Einordnung des EU-Skripts Eine Einordnung des EU-Skripts hinsichtlich der angestrebten sozialpolitischen Ausgestaltung der Union muss zwei wesentliche europäische „Besonderheiten“ berücksichtigen: einerseits, dass die europäische Ebene nur eine ergänzende sozialpolitische Gestaltungsarena darstellt, so dass für die Verortung des sozialen EU-Skripts mitunter auch darauf geachtet werden muss, welche Haltung die EU zur Ausgestaltung der nationalen Wohlfahrtsstaaten vorsieht. Zum anderen muss zwischen dem normativem Selbstverständnis bzw. den angestrebten Zielen (EU-Skript) und der tatsächlichen sozialpolitischen Politikimplementation auf europäischer Ebene differenziert werden. Somit muss das normative Selbstverständnis zu einem gewissen Grad auch an die realen Bedingungen auf europäischer Ebene für seine Umsetzung rückgekoppelt werden (EU-Kompetenzen, Verhältnis zur Wirtschaftsund Wettbewerbspolitik etc.), um eine angemessene Einschätzung vornehmen zu können, in welche Richtung das EU-Skript eine sozialpolitische Wirkung entfaltet. Eine erste grobe Betrachtung der oben dargestellten Etappen in der Entwicklung der sozialen Dimension lässt deutlich werden, dass bis zur Einheitlichen Europäischen Akte eine im Prinzip liberale Orientierung des EU-Skripts vorgelegen hat, da es sich fast ausschließlich mit der Schaffung des Gemeinsamen Marktes auseinandersetzte und in diesem Kontext vor allem den Abbau von Handelshemmnissen zum primären Ziel der Integration erhob. Sozialpolitik, verstanden als regulative Sozialpolitik, wurde im Großen und Ganzen nur in wenigen, für das reibungslose Funktionieren des Binnenmarktes notwendigen Punkten (Sicherheit und Schutz am Arbeitsplatz) behandelt und spielte eine eher unbedeutende Rolle. Dies entspricht – wenn man so will – am ehesten einem liberalen sozialpolitischen Zugang, da vor allem „liberale Wohlfahrtsstaaten“ auf regulative Sozialpolitik zurückgreifen müssen, um Rechtssicherheit für die Marktteilnehmer herzustellen, die für ihre soziale Absicherung primär auf den privatwirtschaftlichen Markt verwiesen werden.376 Mit der Einführung des sozialen Dialogs auf europäischer Ebene sowie dem Beginn der Grundrechtsentwicklung (Sozialcharta, Chancengleichheit und Bildung von Humankapital) im Zuge der Vertragsreformen 1986 und 1992 finden erstmals auch christdemokratische und vor allem sozialdemokratische Elemente Eingang in das EU-Skript. Auch lässt sich erstmals ein sozialpolitisches Leitbild erkennen, welches sich an einem „aktivierenden Wohlfahrtsstaat“ orientiert. Mit der Aufwertung der sozialen Dimension vor allem im Vertrag von Amsterdam (1997) und vor dem Hintergrund der weiteren Entwicklungen (Nizza, VVE, Lissabon) lässt sich das EU-Skript im Sinne der drei oben genannten wohlfahrtsstaatlichen Typologien als eine Mischung aus dem liberalen und dem sozialdemokratischen Modell beschreiben. 375
Thalacker (2006:120) Siehe auch seine Ausführungen zur Kritik der Pfadabhängigkeit und der Möglichkeit von Pfadwechseln (S. 120-126) 376 Diese Konzentration auf die negative Integration (vor allem in den Römischen Verträgen) lässt sich dadurch erklären, dass zum damaligen Zeitpunkt angesichts geringer Arbeitslosigkeit und gut funktionierender Systeme der sozialen Sicherheit (insbesondere in Deutschland) (noch) keine Notwendigkeit für gemeinsame sozialpolitische Maßnahmen gesehen wurde.
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5 Europäisches Skript
Tabelle 5: Tendenzielle Einordnung des EU-Skripts anhand der Wohlfahrtsstaatstypologien Esping-Anderson (1990)
Roller (2000)
Opielka (2004)
Anhand der Ziele: Armutskonzept SozialAktivierungssysGrundlage für Liberal & z. T. demokratisch tem den Erhalt von SozialAktivierungsLeistungen demokratisch konzept
Liberal / Garantistisch
Sozialpolitischer Adressat
Sozialdemokratisch
Gerechtigskeitskonzept
Garantistisch
Staatsfunktion
Tendenzielle Ausrichtung des EU-Skripts Arbeitsmarktpolitische nach: Anpassungsstrategie Arbeitsbeziehungen
Liberal
Liberal Sozialdemokratisch
Konservativ Liberal
Quelle: Eigene Darstellung
Mit Opielka lassen sich auch Elemente des garantistischen Modells erkennen (Grundrechte, Gerechtigkeitskonzeption). Diese als sozialliberal zu charakterisierende Ausrichtung des EU-Skripts kann nun anhand entscheidender Policy-Ziele und den damit verbundenen Konzepten und Instrumenten näher begründet werden. Als sozialdemokratische Elemente des EU-Skripts lässt sich erstens die Einbindung der Sozialpartner auf europäischer Ebene im Rahmen des Sozialen Dialogs kennzeichnen, zweitens die Formulierung von Grundrechten, die neben den klassischen Freiheits- und Bürgerrechten auch soziale Grundrechte umfassen377, drittens wird im Rahmen der EBS die Inklusion in den Arbeitsmarkt maßgeblich durch Qualifizierung und verbesserte Bildung angestrebt. Nach der Typologie von Roller ist das erklärte Ziel der Vollbeschäftigung (mit Betonung der Förderung von Frauenerwerbstätigkeit) ebenfalls charakteristisch für sozialdemokratische Wohlfahrtsstaaten, zudem entspricht das Bekenntnis zu einer „sozialen Marktwirtschaft“ im Lissabon-Vertrag einer sozialdemokratischen Orientierung des EUSkripts.378 Liberale Elemente des sozialpolitischen Skripts sind vor allem im wirtschaftspolitischen Ansatz der Wettbewerbsfähigkeit als primäres Leitkonzept im Rahmen der Lissabon Strategie erkennbar. In diesem Zusammenhang wird vor allem die Flexibilisierung der Arbeitsmärkte anvisiert, was letztlich zu einer Aufweichung des geschützten Arbeitsmarktes führt und atypische Beschäftigungsverhältnisse befördert, die dem Arbeitnehmer/der Arbeitnehmerin weniger soziale Sicherheit bieten. In diesem Kontext formuliert die EU folglich ein vorrangig aktivierendes, erwerbsbezogenes Konzept von Sozialpolitik, wie es ebenfalls im Rahmen der nach wie vor dominierenden Markt- und Wettbewerbspolitik der EU deutlich wird. Als ein ganz wesentliches sozialpolitisches Ziel der EU ist folglich die 377
Zwar haben diese Grundrechte noch keine rechtliche Verbindlichkeit erlangt, und auch im Falle der Annahme des Lissabon-Vertrages dürfen sie nicht dazu benutzt werden, EU Kompetenzen auszuweiten, nichtsdestotrotz stellen sie aber ein klares Bekenntnis des europäischen Selbstverständnisses dar. Vgl. dazu die Ausführungen unter 5.4.6. 378 Dieses Bekenntnis wird allerdings wieder dadurch relativiert, dass im AEUV dann wieder nur von einer „freien“ bzw. „offenen“ Marktwirtschaft gesprochen wird.
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Schaffung eines integrierten Arbeitsmarktes zu nennen (Desegmentierung des Arbeitsmarktes, Abbau von Diskriminierungen, freier Marktzugang etc.), zu dessen Funktionsfähigkeit flankierende Mindeststandards im Bereich des Arbeitsrechts verabschiedet wurden. Daraus folgt, dass eine soziale Absicherung primär über Beschäftigung und Beschäftigung über Wachstum gewährleistet werden soll. Die Begründungen für sozial- und beschäftigungspolitische Maßnahmen im EU-Skript sind demnach zumeist wirtschaftlicher Art, indem sie zum Erfolg des Binnenmarktes beitragen sollen und in den größeren Kontext der Anpassungsnotwendigkeiten im Rahmen der fortschreitenden Globalisierung verankert werden. Flexibilität als eine arbeitsmarkt- und beschäftigungspolitische Leitidee des europäischen Aktivierungskonzeptes entspringt ursprünglich einem liberalen Ansatz, da hierbei die Absicherung von Individuen primär über den Markt im Vordergrund steht. Allerdings gibt es wie oben dargestellt wurde unterschiedliche Aktivierungsstrategien, wo sich die EU für eine sozialdemokratische (weiche) Variante ausspricht (über Bildung und Qualifizierung). Das vor diesem Hintergrund verfolgte Flexicurity-Konzept ist somit exemplarisch für die spezifische Verbindung von sozialdemokratischen und liberalen Elemente im sozialpolitischen Skript der EU.379 Im Großen und Ganzen steht der „liberale Teil“ des sozialpolitischen Skripts ganz im Dienste des Binnenmarktprojektes und ist Ausdruck des wirtschaftspolitischen Selbstverständnisses der EU, wonach sie als primäres Ziel die Wettbewerbsfähigkeit unter den Bedingungen der Globalisierung ausgibt. Beschäftigungspolitik erscheint hierbei als die beste Sozialpolitik (ähnlich dem liberalen workfare-Ansatz). Inwieweit eine solche Verkürzung von Sozialpolitik nicht nur als Beleg für die Befürwortung eines eindeutig liberalen Wirtschafts- und Sozialmodells gewertet werden sollte, sondern möglicherweise auch als ein Ausdruck der begrenzten Kompetenzen der europäischen Ebene betrachtet werden muss, da sie nur eine ergänzende Ebene sozialpolitischer Entscheidungsfindung darstellt, bleibt schlussendlich immer auch eine Frage der Betrachtung. Fakt ist, dass auf europäischer Ebene eine Duplizierung des nationalen Wohlfahrtsstaates bis heute ausblieb und auch auf absehbare Zeit keine Realisierungschancen besitzt. Insofern ist für eine Einordnung des europäischen Skripts nicht ganz unerheblich, welche Bedeutung den nationalen Wohlfahrtsstaaten zukommt. Diese sollen im Sinne des Sub379
Problematisch im Rahmen der unternommenen Zuordnung der einzelnen Elemente des EU-Skripts ist sicherlich die Tatsache, dass sich vor allem sozialdemokratische, aber in schwächerer Form auch liberale und christdemokratische sozialpolitische Ziele, Strategien und Instrumente in den letzten zehn Jahren nachhaltig verändert haben, was in der hiesigen Zuordnung keine ausreichende Berücksichtigung finden konnte. In der von Merkel et al. (2006) vorgelegten Darstellung der Entwicklung sozialdemokratischer Ziele und Strategien (Mitte der 1970er Jahre bis Mitte der 1990er Jahre) wird dieser Wandel nachgezeichnet und anhand der empirischen Befunde eine Differenzierung sozialdemokratischer Politiken vorgenommen. Dabei wird zwischen traditionellen, modernisierten und liberalisierten Merkmalen sozialdemokratischer Ziele und Strategien unterschieden (Vgl. Merkel et al. 2006:383f). Dieser Ausdifferenzierung folgend würde das EU-Skript am ehesten einem modernisierten sozialdemokratischen Typus entsprechen. Der oben vorgeschlagenen Einordnung des EU-Skripts in sozialdemokratische und liberale Elemente liegt hingegen ein eher statisches Analyseraster wohlfahrtsstaatlicher Kategorien zu Grunde, dass die Entwicklungstendenzen insbesondere sozialdemokratischer Wohlfahrtsstaats-konzeptionen nicht im Einzelnen abzubilden vermag. Diese vereinfachende Vorgehensweise musste gewählt werden, da eine weitere Ausdifferenzierung der unterschiedlichen Modelle – z. B. in Analogie zu Merkel et al. (2006) – letztlich zu einer zu starken Ausdifferenzierung innerhalb der vier Modelle geführt hätte, so dass beim späteren Vergleich mit den politischen Deutungs- und Soziokulturen keine angemessene Vergleichsgrundlage vorliegen würde. Denn eine Ausdifferenzierung des sozialdemokratischen Modells hätte auch eine weitere Ausdifferenzierung des liberalen und christdemokratischen Modells nach sich gezogen, was der Klarheit und der Darstellung der positionellen Verschiebungen über einen längeren Zeitraum hinweg abträglich gewesen wäre.
132
5 Europäisches Skript
sidaritätsprinzips, dessen Einhaltung seit Maastricht eingeklagt werden kann, die soziale Absicherung – wenn auch auf unterschiedlichen Wegen – gewährleisten. Diese Gewährleistungsverpflichtung von Seiten der Nationalstaaten sagt jedoch noch nichts über die Höhe und das Ausmaß an sozialen Leistungen aus, so dass es sich dabei sowohl um ein Grundmodell handeln kann als auch um ein umfassendes (universelles) Modell. Inhaltliche Anhaltspunkte dazu, welche Entwicklungen im Zuge der Modernisierung der nationalen Wohlfahrtsstaaten von der europäischen Ebene begrüßt werden, können anhand der Kommissions-Bewertungen im Rahmen der OMK abgeleitet werden. Diese Bewertungen können zu einem gewissen Grad als ein Ausdruck dafür herangezogen werden, welches Modell bzw. welche Elemente – wenn auch auf nationaler Ebene – im Selbstverständnis der EU zukunftsweisend sind. So ist es zum Beispiel verwunderlich, dass obwohl in der wissenschaftlichen Literatur überwiegend eine liberale Orientierung der EU im Sinne der welfare regimes konstatiert wird, in den Länderbewertungen aber sozialdemokratische Wohlfahrtsstaaten am besten abschneiden.380 Darüber hinaus müssten dann die Wohlfahrtsstaaten, die am ehesten das liberale Modell repräsentieren und damit dem von der EU befürworteten Modell am nächsten kommen, letztlich den bisherigen Integrationsprozess voll unterstützen. So ist aber kaum erklärbar, warum ein primär liberaler Wohlfahrtsstaat wie Großbritannien bisher die größten Schwierigkeiten mit der sozialen Dimension europäischer Integration hatte, wenn diese doch letztlich einem liberalen Modell folgt. Bei der Kommissions-Bewertung der Länderfortschritte im Rahmen des LissabonProzesses werden zwar einerseits liberale Elemente, wie Arbeitsmarktflexibilisierung und Aktivierungsstrategien, die zu einer Reintegration in den Arbeitsmarkt führen, befürwortet und positiv bewertet, zugleich wird aber auch gefragt, inwieweit Armutsgefährdung verhindert und was an qualifikations- und bildungspolitischen Maßnahmen zur Verfügung gestellt wird. Hierbei wird deutlich, dass eben nicht einfach ein liberales Modell favorisiert wird, welches Gefahr läuft, eine so genannte working poor hervorzubringen, sondern bei aller Flexibilisierung und Liberalisierung zugle381ich ein hohes Maß an sozialer Sicherheit sowie gesellschaftlicher Chancengleichheit durch Bildungs- und Qualifizierungsmöglichkeiten verwirklicht werden soll.382 Zur Verdeutlichung sei auf eine Studie des World Economic Forums (2006) verwiesen, in der anhand der Bewertungsindikatoren der LissabonStrategie ein Ranking der Länder vorgenommen wurde. Dieses zeigt auf, dass Länder wie Dänemark, Finnland und Schweden auf den ersten Plätzen rangieren.
380
Stellvertretend für viele Thalacker (2006), Streeck (1998), Scharpf (2008), Gerhards (2004) World Economic Forum (2006:5) Die Kommission selbst nimmt ein solches Länderranking nicht vor, sondern veröffentlicht lediglich die Indikatoren und die nationalen Bewertung zu den Länderreformfortschritten. Sie will somit nicht in Verbindung mit „Naming-and-Shaming“ Methoden gebracht werden. 382 Vgl. die Leitlinien der Kommission im Rahmen der Lissabon Strategie unter http://ec.europa.eu/ growthandjobs/national-dimension/index_de.htm (10.10.2008), sowie die Analysen der Kommission zu den nationalen Reformprogrammen http://ec.europa.eu/growthandjobs/european-dimension/200712-annual-progressreport/index_de.htm (10.10.2008) 381
5 Europäisches Skript Abbildung 7:
133
Bewertung der EU-Mitgliedsstaaten anhand der Lissabon-Indikatoren 2006 Gesamt
Social Inclusion
Dänemark
1
1
Finnland
2
2
Schweden
3
3
Niederlande
4
4
Deutschland
5
10
Großbritannien
6
9
Österreich
7
8
Luxemburg
8
5
Frankreich
9
15
Belgien
10
6
Irland
11
7
Estland
12
12
Portugal
13
17
Tschechische Republik
14
11
Spanien
15
23
Slowenien
16
19
Ungarn
17
16
Slowakische Republik
18
18
Malta
19
13
Litauen
20
20
Zypern
21
14
Lettland
22
21
Griechenland
23
22
Italien
24
24
Polen
25
25
Quelle: World Economic Forum (2006:6)
Der Teilindikator Social Inclusion misst erstens die Leistungsfähigkeit der nationalen Systeme, Menschen wieder in Arbeit zu bringen, zweitens die Bildungs- und Qualifikationsförderung und drittens die Modernisierung der sozialen Sicherheit (Armutsgefährdung, Einkommensunterschiede etc.) misst. Dabei fällt auf, dass erneut die skandinavischen Länder sowie die Niederlande höchste Platzierungen erreichen, da sie einen flexiblen Arbeitsmarkt mit guten Reintegrationsquoten, Qualifizierungsangeboten und sozialer Absicherung verbinden, während Großbritannien zwar auch ein hohes Maß an Beschäftigung aufzuwei-
134
5 Europäisches Skript
sen hat, aber gleichzeitig bei sozialer Exklusion schlecht abschneidet, so dass es nur auf Platz 9 des Rankings kommt.383 Vor diesem Hintergrund scheint eine Einordnung des europäischen sozialpolitischen Skripts als sozialliberal zutreffender, als von einem rein liberalen Modell zu sprechen. Die liberale Lesart berücksichtig zwar stärker die nach wie vor vorhandene Asymmetrie zwischen negativer und positiver Integration, wonach die EU im Rahmen der negativen Integration nach wie vor mehr Gestaltungsmacht (hard law Kompetenzen) besitzt als auf dem Gebiet positiver Integration, verkennt aber die mögliche normative Wirkung, die von Seiten der europäischen Ebene im Rahmen der OMK ausgehen kann. Demnach beruft sich die EU ihrem Selbstverständnis nach auf ein modernisiertes Sozialmodell, welches neben liberalen Elementen ebenfalls sozialdemokratische Elemente verteidigt. Unter dem Begriff des „Europäischen Sozialmodells“ wird eine sozialliberale Modernisierung der nationalen Wohlfahrtsstaaten verstanden. Allerdings muss das EU-Skript vor dem Hintergrund der konstatierten Asymmetrie und Einschränkungen derzeit [noch] als liberal-sozial bezeichnet werden. Die normative Orientierung kann zwar als sozial-liberal gelten, die reale Wirkungsrichtung der bisherigen politischen Entscheidungen hat aufgrund der anhaltenden Asymmetrie zwischen positiver und negativer Integration eine stärker liberale Ausprägung. Für den bisherigen Stand der Integration (Vertrag von Nizza) erscheint somit die Einordnung als liberal-sozial angemessen, wobei die soziale Ausrichtung mit dem Vertrag von Lissabon eine Aufwertung erfahren würde, was letztlich einer sozialliberalen Gewichtung des Skripts entspräche.384 Die Einordnung des EU-Skripts als „liberal-sozial“ hat den Vorteil, nicht nur den normativen Anspruch der EU in der Formulierung ihrer Zielsetzungen, sondern auch die bisher vorhandene Sozialpolitik und ihre Wirkungsrichtung zu berücksichtigen – umso mehr, da die europäische Ebene sozialpolitisch nur in den Bereichen Arbeitschutz, Arbeitnehmerrechte und Gleichstellung Möglichkeiten zur Umsetzung allgemein verbindlicher Richtlinien besitzt (hard law), im Bereich Beschäftigungspolitik, Modernisierung der nationalen Sozialsysteme und Bekämpfung sozialer Exklusion hingegen nur in Form von Empfehlungen, Vorschlägen und Ideen wirken kann. Aus dieser strukturellen Konstellation ergibt sich zwangsläufig eine Asymmetrie in der europäischen Politikwirkung, da europäische Politik wie auch ihre Rechtssprechung letztlich immer nur auf der Grundlage dieser asymmetrischen Kompetenzzuweisungen stattfinden kann.385 Trotz einer dominanten Marktorientierung, die sich auch im Rahmen der Beschäftigungspolitik wieder finden lässt und als liberal zu apostrophieren ist, zeigt sich in der Formulierung der Unions-Ziele und sozialpolitischen Leitkonzepte der EU eine Orientierung 383
Diese Bewertung des World Economic Forums – illustriert am Beispiel Großbritanniens – ist plausibel, da in der Bewertung der nationalen Reformfortschritte der Kommission vom Dezember 2006 Großbritannien große Defizite im Bereich der sozialen Inklusion attestiert werden. Vgl. dazu European Commisson (APR) (2006:33) 384 Die vorgenommenen Differenzierungen zwischen liberal-sozial als Status quo und sozialliberal unter Berücksichtigung des Lissabon-Vertrages ist der Tatsache geschuldet, dass sich die EU in einem permanenten Wandlungsprozess befindet und derzeit in einem Zwischenstadium zwischen zwei Skript-Versionen verweilt. 385 Beispielhaft sind hier die Gerichtsurteile des Europäischen Gerichthofes zur Aushebelung des Streikrechtes im Laval-Urteil und zur Außerkraftsetzung von Tarifvereinbarungen in den Fällen Viking und Rosdorf, die deutlich machen, dass nationale soziale Rechte von Seiten des übergeordneten EU-Rechts ausgehebelt werden. Solche Urteile werden auf der Grundlage des europäischen Rechts im Rahmen der Verträge gefällt, so dass den vier Freiheiten Vorrang vor sozialen nationalen Bestimmungen eingeräumt wurde, siehe dazu Höpner (2008). Eine Ratifizierung des Lissabonner Vertrages könnte in solchen Fällen ein Fortschritt dahingehend darstellen, dass Urteile des EuGH in Zukunft die sozialen Belange stärker berücksichtigen können und müssen.
5 Europäisches Skript
135
an (modernen) sozialdemokratischen Konzepten und Strategien. Inwieweit diese normative Ausrichtung ebenfalls reale Wirkungskraft entwickelt, hängt von der Bereitschaft der Mitgliedsstaaten ab, diese Konzepte und Ideen auch umzusetzen. Dabei ist der nationale Handlungsrahmen, der durch die jeweilige politische Kultur geprägt wird, von entscheidender Bedeutung, da die nationalen Regierungen nur dann ein Interesse an deren Umsetzung haben, wenn diese von den Bevölkerungen auch akzeptiert und unterstützt werden. Um von einer „sozialen Dimension europäischer Identität“ sprechen zu können, müsste also in den politischen Kulturen der Mitgliedsstaaten ähnliche Wertvorstellungen und Konzeptionen befürwortet werden und der europäische Bezug zum Erhalt bzw. Ausbau erkennbar werden. Dann (erst) bestünde die Chance, dass das „Europäische Sozialmodell“ eine identitätsstiftende Wirkung entfaltet.
6 Sozio-Kultur: Wohlfahrtsstaatliche Vorstellungen in den Bevölkerungen einzelner europäischer Gesellschaften
Um eine realistische Einschätzung des europäischen Skripts nicht nur seinem normativen Selbstverständnis nach, sondern auch hinsichtlich seiner Wirkungsweise abgeben zu können, die einen entscheidenden Einfluss auf die Wahrnehmung der EU durch die Bevölkerungen der Mitgliedsstaaten hat, musste bei der Analyse des EU-Skripts und dessen Einordnung anhand von analytischen Kategorien der vergleichenden Wohlfahrtsstaatsforschung zwischen der normativen Ausrichtung einerseits und den bisher vorhandenen (sozial-)politischen Gestaltungskompetenzen und der Realwirkung europäischer Politik andererseits differenziert werden. 6.1 Wohlfahrtstaatliche Kultur der Länder Wie unter 4.3. erörtert, beschreibt politische Sozio-Kultur das aggregierte Spektrum an Wertorientierungen, Einstellungen und Meinungen, das in einer Bevölkerung hinsichtlich des politischen Systems in seinen drei Dimensionen zum Ausdruck kommt. Die Frage, inwieweit das EU-Skript in seiner sozialen Dimension durch die vorhandenen wohlfahrtsstaatlichen Einstellungen im Rahmen nationaler Sozio-Kulturen getragen wird, soll im Folgenden auf der Grundlage von repräsentativen Bevölkerungsumfragen des International Social Survey Programmes (ISSP) und des Special Eurobarometers 251/2006 beantwortet werden. Dabei knüpft die Untersuchung methodisch als auch theoretisch an die Arbeit von Jürgen Gerhards über die „Kulturellen Unterschiede in der Europäischen Union“ aus dem Jahre 2005 an, stützt sich dabei aber nicht nur auf die Daten von 1996, sondern kann mit den ISSP-Daten von 2006 einen Vergleich zwischen diesen beiden Zeitpunkten vornehmen.386 Dieser Vergleich ist insofern interessant, als zwischen den beiden Erhebungszeiträumen der Diskurs um die Krise des Sozialstaates aus den Elitekreisen herausgetreten war, die allgemeine politische Öffentlichkeit erreichte und zudem wichtige wohlfahrtsstaatliche Reformen in den meisten europäischen Ländern vollzogen wurden. Zugleich ist dies der Zeitraum, in dem eine Neuorientierung vor allem vieler sozialdemokratischer Parteien in Europa zu beobachten ist, also genau der Parteien, die sich traditionell am stärksten über ihre wohlfahrtsstaatlichen Politiken und Konzeptionen profilieren konnten.387 Hinzu kommt, dass den Einstellungen der Bevölkerungen hinsichtlich des Wohlfahrtsstaates im Allgemeinen ein hoher Grad an Persistenz zugeschrieben wird, so dass mögliche Differenzen in den Umfrageergebnissen zwischen 1996 und 2006 durchaus auf grundlegende Ein386
Gerhards (2005), vgl. dazu auch die Anmerkungen unter 2.2. Nicht zuletzt wird auch aufgrund dieser ideologischen Positionsverschiebungen (sozialdemokratischer aber auch christdemokratischer bzw. konservativer Parteien) in den Parteiensystemen Europas das Aufkommen/ bzw. der Erfolg mehr oder weniger extremistischer Parteien am linken und am rechten Rand seit Mitte der 1990er Jahren erklärt. Ein prominentes Beispiel ist dabei die Entwicklung der Partei ‚Die Linke’ in Deutschland.
387
6 Sozio-Kultur
137
stellungsänderungen verweisen könnten.388 Natürlich ist eine Erhebung lediglich an zwei Zeitpunkten über einen Zeitraum von zehn Jahren nicht als optimal anzusehen – eine z. B. jährliche Erhebung könnte die Wahrscheinlichkeit von zufälligen Ergebnisschwankungen wesentlich vermindern –; dennoch scheint die Gefahr kurzfristig beeinflusster Umfrageergebnisse in Anbetracht tief verwurzelter Grundüberzeugungen weniger gegeben, wie es bei Wohlfahrtsstaatsvorstellungen angenommen werden kann389. Deshalb können die Daten durchaus Aussagekraft für sich beanspruchen. Darüber hinaus liefern die Daten aber vor allem ein relativ aktuelles Bild der Orientierungen im Rahmen der politischen Wohlfahrtsstaatskulturen, was insbesondere für den Vergleich mit dem EU-Skript von hoher Relevanz ist. Die folgende Untersuchung baut sowohl auf Gerhards (2005) wie auch auf der Typologie von Edeltraud Roller (siehe 5.4.1) auf. Eingang in die Analyse finden zunächst alle EUMitgliedsstaaten, die in den ISSP Datensätzen von 1996 und 2006 berücksichtigt wurden, wobei ein besonderer Fokus auf die drei Untersuchungsländer Deutschland, Polen und Großbritannien gelegt wird. 6.2 Wohlfahrtsstaatliche Ideen in EU-Staaten (Einstellungsanalyse) Um einen ersten Zugang zu den Wohlfahrtsstaatseinstellungen der Bürger zu ebnen, wird zunächst untersucht, inwieweit eine staatliche Risikoabsicherung, als wesentliches Charakteristikum von Wohlfahrtsstaaten, von den Bürgern befürwortet wird. Im Sinne Rollers Grundmodell geht es also um die Frage, inwieweit eine staatliche Unterstützung für diejenigen Gruppen (Arbeitslose, Kranke, Behinderte, Alte und Wohnungslose), die sich nicht selbst über den Markt versorgen können, gewährleistet sein soll. Ob ein solches Grundmodell unterstützt wird, lässt sich im ISSP Datensatz mit den folgenden vier Fragen operationalisieren: „Der Staat sollte (auf jeden Fall) verantwortlich sein für a) die gesundheitliche Versorgung von Kranken, b) einen angemessenen Lebensstandard von Alten, c) eine angemessene Wohnung für solche Menschen, die sich selber keine leisten können und d) einen angemessenen Lebensstandard von Arbeitslosen.“390
Die Ergebnisse (Tabelle 6) machen zunächst einmal deutlich, dass ein solches Grundmodell in allen Ländern auf hohe Zustimmungswerte stößt. Bei der gesundheitlichen Versorgung liegt die Zustimmung der Befragten 1996 mit Ausnahme Frankreichs (88 %) zwischen 96 % und 99 %, 2006 liegen alle Werte im 90 %-Bereich. Für beide Zeitpunkte ergibt sich im Länderdurchschnitt eine Zustimmung von rund 97 %. Ähnlich verhält es sich bei der Rentenfrage, wo 1996 und 2006 der durchschnittliche Zustimmungswert ebenfalls bei rund 97 % liegt. Die staatliche Unterstützung für Wohnungen erzielt dafür bereits etwas geringere Zustimmungswerte, ist aber mit durchschnittlich 86 % (1996) und 84 % (2006) ebenfalls 388
So verweist zum Beispiel Rohe darauf, dass der Wohlfahrtsstaat als Quelle staatlicher Legitimation im Rahmen der Sozio-Kulturen als weitgehend unbestrittenes Deutungsmuster verankert sei. Rohe (1994:170f.). 389 Vgl. u. a. Rohe (1994), Kaufmann (2003a) 390 Als Antworten standen zur Auswahl, der Staat sollte „auf jeden Fall verantwortlich“, „verantwortlich“, „nicht verantwortlich“ und „auf keinen Fall verantwortlich“ sein. Dargestellt werden nur die beiden affirmativen Antworten, die zu einer Kategorie zusammengeführt wurden. Vgl. ISSP Codebooks Role of Government III (1996) und Role of Government IV (2006) unter: http://www.issp.org/
138
6 Sozio-Kultur
als relativ hoch zu bewerten. Interessant wird es hingegen bei der Frage einer staatlichen Unterstützung für Arbeitslose. Während 1996 der Länderdurchschnitt noch 80 % beträgt, sinkt er 2006 auf rund 75 % ab. Auch ist die Varianz zwischen den Ländern wesentlich höher als bei den drei vorherigen Fragen, wobei bereits bei der Wohnungsunterstützung stärkere Länderunterschiede zu verzeichnen sind. Tabelle 6: Der Staat sollte verantwortliche sein für … Gesundheitliche Angemessenen LeWohnungen für Angemessenen LeVersorgung der bensstandard für Alte Einkommensschwa- bensstandard für Kranken che Arbeitslose 1996 2006 2006- 1996 1996 Dänemark
99.11
2006 2006- 1996 1996
2006 2006- 1996 2006 20061996 1996
97.45
82.3
80.76
DeutschlandOst
99.08 97.33 -1.75 98.35 96.15 -2.2 91.13 85.94 -5.19 91.6 79.72 -11.88
DeutschlandWest
96.6 95.56 -1.04 96.04 93.45 -2.59 77.89 73.48 -4.41 80.4 66.67 -13.73
Finnland
98.87
96.88
87.35
88.72 92.38 3.66 92.41 93.51 1.1
Großbritannien
98.56 98.99 0.43 98.14 97.44 -0.7 88.64 85.91 -2.73 78.68 57.35 -21.33
Irland
99.09 99.5 0.41 99.09
Italien
98.64
Niederlande Portugal
86.84 87.04
85.74
Frankreich
0.2 80.88 70.24 -10.64
99.7 0.61 93.87 96.34 2.47 91.5 81.78 -9.72
97.99
88.09
75.1
99.06
96.55
82.89
98.57
98.68
94.99
69.36 91.7
Schweden
96.22 93.64 -2.58 97.67 96.97 -0.7 81.78 79.38 -2.4
Spanien
99.23 97.75 -1.48 98.94 99.48 0.54 98.03 95.78 -2.25 93.86 92.75 -1.11 97.79
79.94
90.3 83.44 -6.86
Bulgarien
97.19
Lettland
98.72 95.79 -2.93 99.53
87.61
Polen
97.91 98.83 0.92 98.53 98.83 0.3
Slowenien
97.18 97.99 0.81 96.37 96.39 0.02 90.77 93.02 2.25 86.39 82.82 -3.57
Tschechische Republik
96.78 95.9 -0.88 96.6
Ungarn
99.26 99.5 0.24 98.25
Länderdurchschnitt
97,37 97,42 -0,71 97,55 97,05 0,70 86,35 84,97 -3,87 80,55 75,40 -9,61
97.7 -1.83 85.69 82.23 -3.46 82.62 64.94 -17.68 90.52 91.71 1.19 81.21 81.63 0.42
94.67 -1.93 79.71 64.92 -14.79 44.66 48.4 99
0.75 76.06 76.26
3.74
0.2 62.83 69.16 6.33
Quelle: Eigene Darstellung
So variieren die Zustimmungswerte hinsichtlich der Arbeitslosenunterstützung zwischen 44 % (1996) bzw. 48 % (2006) in Tschechien und rund 93 % (1996) bzw. 92 % (1996) in Spanien. Auffällig ist hierbei auch, dass außer in den drei osteuropäischen Ländern (Polen, Tschechien und Ungarn) im Vergleich zu 2006 die Zustimmungswerte in allen Ländern
6 Sozio-Kultur
139
abgenommen haben, und dies zum Teil mit erheblichen Verlusten zwischen 10 und 21 Prozentpunkten. In Großbritannien erreicht der Zustimmungsrückgang hinsichtlich einer staatlichen Verantwortung für Arbeitslose mit rund 21 Prozentpunkten seinen höchsten Wert, aber auch in Deutschland (Ost und West) liegt der Rückgang zwischen rund 12 und 14 Prozentpunkten. Etwas geringere Werte weisen Frankreich und Irland auf, so dass von den alten Mitgliedsstaaten lediglich Schweden und Spanien mit rund sechs und einem Prozentpunkt(e) die geringsten Zustimmungsverluste zu 1996 aufweisen. Bei den neuen EU-Mitgliedsländern ist das Bild gemischter. Während in Lettland ein Rückgang von rund 18 Prozentpunkten und in Slowenien von rund 4 Punkten zu konstatieren ist, sind in den anderen drei Ländern unwesentliche (z. B. Polen mit 0.42 Prozentpunkten) bis geringe Zuwächse (4 bis 6 Punkten in Ungarn und Tschechien) zu verzeichnen. Erstaunlich ist, dass sowohl in Großbritannien als auch in Deutschland die Zustimmung zu einer staatlichen Unterstützung von Arbeitslosen unter einer konservativen bzw. christdemokratisch-liberalen Regierung (1996) höher war, als unter einer sozialdemokratischen Regierung in Großbritannien und einer großen Koalition in Deutschland, allerdings nach vorherigen sieben Jahren sozialdemokratischer Regierungszeit (2006). Ob hier ein signifikanter Zusammenhang besteht, lässt sich mit Hilfe der Daten nicht sagen. Eine Vermutung wäre, dass hier eine Art PendelschlagLogik vorliegt, wonach unter einer langjährigen eher (mitte-)rechten Regierung die Einstellungen der Bürger stärker nach links rücken und nach langjährigen (mitte-)linken Regierungen wieder stärker nach rechts ausschlagen. Eine andere Vermutung legt nahe, dass sich der liberale Diskurs der 1990er Jahre in der geringeren Unterstützung für Arbeitslose in den Einstellungen der Menschen niederschlägt. Dafür spricht, dass die Zustimmungsraten auch im Länderdurchschnitt insgesamt rückläufig sind. Allerdings verbleiben diese Annahmen im spekulativen Bereich und bedürften einer weiteren, systematischen Untersuchung über einen längeren Zeitraum hinweg. Anhand dieser ersten Ergebnisse wurde deutlich, dass prinzipiell ein Grundkonsens in den untersuchten EU-Ländern hinsichtlich einer staatlichen Verantwortung für Gesundheit, Rente, Wohnung und Arbeitslosigkeit vorherrscht, wobei insbesondere im Bereich der Arbeitslosigkeit die Zustimmung im Vergleich zu 1996 abgenommen hat, mit einem Länderdurchschnittswert von rund 75 % jedoch nach wie vor als hoch einzuschätzen ist. Dieser Konsens muss letztlich als eine prinzipielle Werteübereinstimmung betrachtet werden (als Ausdruck gesellschaftlicher Solidarität, die staatlich organisiert sein soll), da über Umfang und Art der Ausgestaltung der staatlichen Verantwortung in den genannten Bereichen nichts ausgesagt wird. Im nächsten Schritt werden in Anlehnung an die Typologie von Edeltraud Roller vier Wohlfahrtsstaatsmodelle unterschieden und gefragt, wie hoch die Unterstützung für die einzelnen Modelle in den einzelnen Ländern ausfällt. Es wird zwischen einem liberalen, einem christdemokratischen, einem sozialdemokratischen und einem sozialistischen (besser etatistischen) Wohlfahrtsstaat unterschieden.391 Dabei wird eine eigene Operationalisierung, abweichend von Roller und Gerhards aus dem Jahre 1996 gewählt: einmal, um alle vier Modelle (und nicht nur drei wie bei Gerhards) mit Hilfe der ISSP-Daten abbilden zu kön391
Die Bezeichnung „sozialistisches Wohlfahrtsstaatsmodell“ ist insofern problematisch, als damit eine wesentlich umfassendere staatliche Kontrolle als auch eine Verstaatlichung von Produktionsmitteln verbunden ist, was mit der hier vorgenommenen Operationalisierung nicht erfasst werden kann und soll. Folglich wird im Unterschied zu Roller der Begriff „etatistisch“ verwendet.
140
6 Sozio-Kultur
nen und zum anderen, um die zeitliche Vergleichbarkeit der Daten über die analoge Operationalisierung 1996 und 2006 sicherzustellen. Daraus folgt für die vier Modelle: 1.
2.
3.
4.
Wenn Befragte einer staatlichen Verantwortung für mindestens zwei von drei Aufgaben zustimmen, die eine Einkommenssicherheit im Falle von Krankheit, Alter oder Arbeitslosigkeit zum Ziel haben, alle anderen staatlichen Aufgaben aber ablehnen, werden sie als Befürworter eines liberalen Modells klassifiziert. Als Befürworter eines christdemokratischen Wohlfahrtsstaates werden diejenigen Befragten klassifiziert, die zusätzlich zur Risikoabsicherung von den vier folgenden Fragen hinsichtlich einer staatlichen Verantwortung für einen ‚Abbau von Einkommensunterschieden’, für ‚Vollbeschäftigung’, für eine ‚Unterstützung niedergehender Industrien’ oder für eine ‚Verkürzung der Arbeitszeit’ höchstens eine mit ‚ja’ und eine mit ‚weder noch’ (die anderen beiden Fragen dann mit ‚nein’) oder mit drei mit ‚weder noch’ (und eine mit ‚nein’) beantworten. Anhänger eines sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaates sind alle diejenigen, die zusätzlich zur Risikoabsicherung von den restlichen vier Fragen mindestens zweimal mit ‚ja’ antworten, worunter jedoch mindestens einer der Fragen zu Umverteilung und zur Arbeit fallen muss. Die restlichen zwei Fragen müssen folglich mit ‚nein’ beantwortet sein. Wenn Befragte neben der Risikoabsicherung des liberalen Modells von den vier anderen Fragen mindestens drei mit ‚ja’ beantworten und darunter beide Wirtschaftsfragen fallen, werden sie als Befürworter eines etatistischen (sozialistischen) Wohlfahrtsstaatsmodells klassifiziert.
Abbildung 8: Bereich
Soziale Sicherheit
Operationalisierung der Wohlfahrtsstaatsmodelle ‚Staatliche Verantwortung für …’
Risikoabsicherung (Gesundheit, Alter, Wohnung, Arbeitslosigkeit)
Abbau von EinUmkommensverteilung unterschieden Arbeit
Vollbeschäftigung
Unterstützung niedergehender Industrie durch Wirtschaft den Staat Verkürzung der Arbeitszeit durch den Staat
Kein Ws Liberal
ChristSozialEtatistisch demokratisch demokratisch (sozialistisch)
Mindestens Mindestens 2 ‚nein’ 2 von 3 mit von 3 mit ‚ja’ ‚ja’ nicht relevant
‚nein’
nicht relevant
‚nein’
nicht relevant
‚nein’
nicht relevant
‚nein’
Mindestens 2 Mindestens 2 von 3 mit ‚ja’ von 3 mit ‚ja’
Höchstens 1,5* (einmal ‚ja’ und Insgesamt einmal ‚weder mindestens zweimal ‚ja’, noch’ oder aber nicht für dreimal ‚weder beide Wirtnoch’) schafts-fragen
Quelle: Eigene Darstellung * Kodierung der Antworten: Ja = 1; Weder noch = 0,5; Nein = 0
Insgesamt mindestens dreimal ‚ja’ und beide Wirtschaftsfragen ‚ja’
6 Sozio-Kultur
141
Als Gegner eines Wohlfahrtsstaates werden alle Befragten gewertet, die sämtliche Fragen zur Risikoabsicherung (Krankheit, Alter, Arbeitslosigkeit) mit ‚nein’ beantworten, alle weiteren möglichen Antwortkombinationen werden als nicht klassifizierbar eingestuft. Die Befunde für 1996 zeigen, dass in allen vier Aggregatkategorien das sozialdemokratische Modell die höchsten Zustimmungswerte erfährt. Im Länderdurchschnitt 1996 erreicht das sozialdemokratische Modell eine Zustimmungsrate von 46 %, gefolgt vom etatistischen Modell mit rund 36 % und dem christdemokratischen Modell mit rund 11 %. Die mit Abstand geringste Unterstützung erhält das liberale Modell mit nur 2,6 %. Generell spielt das liberale Modell somit auf der Ebene der unterschiedlichen Sozio-Kulturen kaum eine Rolle, das christdemokratische lediglich eine geringe, während das sozialdemokratische und das etatistische Modell zusammen eine Zustimmungsquote von rund 82 % auf sich vereinen können. Dabei fällt auch auf, dass die Varianz zwischen den Ländern beim sozialdemokratischen und etatistischen Modell erheblich zunimmt. Während beim liberalen Modell der Abstand zwischen dem niedrigsten Zustimmungswert und dem höchsten rund 7 Prozentpunkte beträgt, weist er beim christdemokratischen bereits rund 18 Prozentpunkte auf, beim Sozialdemokratischen rund 24 und beim etatistischen rund 41 Prozentpunkte. Folglich finden sich die stärksten Ländervarianzen in der Aggregatskategorie des etatistischen Modells, wie z. B. in Tschechien, wo lediglich 14,22 Prozent als Befürworter eines etatistischen Modells klassifiziert werden können, während in Ost-Deutschland der Zustimmungswert 55,49 Prozent beträgt. Beim sozialdemokratischen Modell liegt die Zustimmungsvarianz auf Länderebene zwischen rund 37 % am unteren Ende und rund 59 % am oberen. Hier könnte angenommen werden, dass die Varianzen innerhalb der Modelle ein Zeichen für den Einfluss nationaler Spezifika ist. Es fällt auf, dass im liberalen Modell die Varianz stets sehr gering ist, so dass diese Homogenität innerhalb des liberalen Modells darauf hinweist, dass liberale Orientierungen – maßgeblich vor dem Hintergrund der hier vorgenommen Operationalisierung – eine klare, in allen Ländern ähnliche Interpretation erfahren. Im Gegensatz dazu weisen die anspruchsvoller werdenden Modelle eines christdemokratischen, sozialdemokratischen und etatistischen Wohlfahrtsstaates höhere Schwankungen bei den Zustimmungswerten auf, da sie möglicherweise stärker von nationalen Kontextfaktoren (politisches System, politische Kultur und politische Geschichte) beeinflusst werden, was in der vorgenommenen Operationalisierung nicht berücksichtig werden konnte. Zudem kann angenommen werden, dass eine Differenzierung zwischen den drei Modellen im Gegensatz zu einem relativ klaren liberalen Minimalbekenntnis zu diesen Varianzen führt. Ein Vergleich der drei Untersuchungsländer Deutschland (Ost + West), Polen und Großbritannien zeigt die relativen Varianzen der mehrheitlichen Zustimmungsraten. So favorisieren in Großbritannien rund 75 % der Befragten eine umfangreiche staatliche Verantwortung, die nach den vier Aggregatskategorien dem sozialdemokratischen bzw. sozialistischen Modell entspräche. Ein ähnliches Ergebnis mit rund 76 % lässt sich für Deutschland West konstatieren, während in Polen und Deutschland-Ost die Zustimmungswerte für die beiden Modelle zusammen fast 90 % ergeben, was sich wahrscheinlich am ehesten historisch begründen ließe.392 Mit Ausnahme von Deutschland-Ost wird in allen drei Län392
Allerdings würde eine Begründung der hohen Zustimmung des sozialdemokratischen und sozialistischen Modells, die auf die sozialistische Vergangenheit der Länder abhebt, letztlich bei den Ergebnissen Tschechiens nicht mehr tragen. 1996 ist Tschechien das Land mit der höchsten Zustimmungsrate für das liberale Modell und der geringsten für das sozialistische Modell. Vgl. Tabelle 7.
142
6 Sozio-Kultur
dern das sozialdemokratische Modell dem sozialistischen vorgezogen. Generell lassen sich keine Ländercluster erkennen, die sich nach dem etablierten Wohlfahrtsstaatstyp richten. So kristallisieren sich zum Beispiel weder für die fünf osteuropäischen Länder, noch für die beiden südeuropäischen Länder besondere Übereinstimmungen heraus. Tabelle 7: Wohlfahrtsstaatliche Einstellungen 1996 (Angaben in Prozent) Land
Kein WS
Liberal
Christdem.
Sozialdem.
Etatistisch
n. k.
EU 15 Deutschland-West
1,05
3,09
14,66
44,42
31,66
5,00
Deutschland-Ost
0,00
0,40
4,65
36,8
55,49
3,00
Italien
0,00
2,32
8,37
35,69
49,09
4,54
Frankreich
2,55
3,51
10,36
34,5
41,35
8,00
Großbritannien
0,48
3,50
16,53
48,61
26,78
4,1
Irland
0,32
1,60
12,9
43,39
39,34
2,45
Schweden
0,57
4,53
16,53
40,89
33,43
4,00
Spanien
0,05
0,39
3,75
47,44
47,35
1,00
Mittelwert EU 15
0,63
2,42
10,97
41,47
40,56
4,01
EU-Beitritt 2004 Polen
0,87
0,99
7,06
54,15
35,19
1,73
Tschechische Republik
1,98
7,46
21,45
51,75
14,22
3,15
Slowenien
0,53
0,63
5,69
44,78
45,73
2,63
Ungarn
0,30
2,40
8,93
57,09
29,26
2,00
Lettland
0,18
3,09
15,9
59,45
20,05
1,00
Bulgarien
0,65
4,01
15,29
48,16
29,83
2,06
Mittelwert Beitritt
0,75
3,10
12,39
52,56
29,05
2,10
Länderdurchschnitt gesamt
0,66
2,56
11,15
46,00
36,21
3,00
Quelle: ISSP 1996, eigene Berechnung
Zehn Jahre später stellen sich die Daten ähnlich dar, was für die Kontinuität der wohlfahrtsstaatlichen Ideen in der Europäischen Union sprechen kann, allerdings lassen sich auf der Ebene der einzelnen Länder durchaus gewichtige Verschiebungen erkennen. Im Länderdurchschnitt ist auch 2006 die Zustimmung mit 47,44 % für das sozialdemokratische Modell am Höchsten, gefolgt vom etatistischen mit 31,38 %. Für ein christdemokratisches Modell sprechen sich im Schnitt 13,47 % der Befragten aus und für ein liberales Modell 3,19 %. Die Varianzen zwischen den Ländern je nach Modell sind vom liberalen zum sozialistischen Modell zwar im Prinzip erneut aufsteigend, jedoch mit dem Unterschied, dass die Varianzen innerhalb des sozialdemokratischen und des sozialistischen Modells erheblich abnehmen. So liegt der höchste Länderzustimmungswert im sozialdemokratischen Modell bei 54,8 % und der niedrigste bei 40,34 %; beim sozialistischen Modell variieren die Länderergebnisse zwischen 16,69 % und 50,21 %. Beim christdemokratischen steigt die
6 Sozio-Kultur
143
Varianz im Vergleich zu 1996 leicht an (von ca. 18 auf 22 Prozentpunkte), während sie beim liberalen Modell relativ stabil auf niedrigem Niveau (7 bzw. 8 Prozentpunkte) verbleibt. Tabelle 8: Zustimmungsraten in europäischen Bevölkerungen zu den Wohlfahrtsstaatsmodellen (Angaben in Prozent) Land
kein WS
Liberal
Christdem.
Sozialdem.
Etatistisch
n. k.
EU 15 Deutschland-West
1,63
5,25
17,97
42,01
26,02
7,12
Deutschland-Ost
1,08
1,29
8,19
52,37
33,41
3,66
Niederlande
0,49
6,43
24,97
48,21
16,69
3,21
Frankreich
1,86
3,66
16,62
50,13
20,88
6,85
Großbritannien
0,27
4,44
19,25
49,53
22,07
4,44
Irland
0,12
2,81
14,74
54,27
26,67
1,40
Dänemark
0,18
8,14
26,09
40,81
20,75
4,03
Spanien
0,14
0,89
5,61
41,05
50,21
2,10
Portugal
0,13
0,13
4,12
49,84
44,62
1,16
Finnland
0,74
2,64
18,5
49,58
25,48
3,07
Schweden
1,21
6,47
17,8
40,34
29,32
4,85
Durchschnitt EU 15
0,71
3,83
15,81
47,10
28,74
3,81
EU-Beitritt 2004 Polen
0,68
1,85
7,71
46,24
42,83
0,68
Tschechische Republik
1,6
6,78
20,54
48,45
16,85
5,78
Ungarn
0,00
0,66
7,83
54,80
35,39
1,32
Slowenien
0,55
0,44
5,19
48,34
43,60
1,88
Lettland
0,25
1,99
11,55
54,29
27,33
4,60
Durchschnitt Beitritt
0,62
2,34
10,56
50,42
33,20
2,85
Länderdurchschnitt gesamt
0,66
3,19
13,47
47,44
31,83
3,42
Quelle: ISSP 2006, eigene Berechnung
Im Vergleich zu 1996 gibt es die höchsten Verschiebungen zwischen dem sozialdemokratischen und dem etatistischen Modell, wobei das sozialdemokratische zumeist an Zustimmung gewinnt, während die für das etatistische zurückgeht (siehe Ostdeutschland, Frankreich und Irland). Im Länderdurchschnitt verliert das etatistische Modell rund 4,38 Prozentpunkte, während die drei anderen Modelle um diesen Anteil hinzugewinnen, was letzlich eine leichte Rechtsverschiebung in den Einstellungen der Bürger zu 1996 bedeutet. In den drei Untersuchungsländern fällt auf, dass vor allem in Ostdeutschland die Differenz zu 1996 beim etatistischen Modell rund 22 Prozentpunkte beträgt, so dass die Zustimmungsrate zum sozialdemokratischen Modell um fast 16 Prozentpunkte und zum christdemokratischen um 3,54 Prozentpunkte zunimmt. In Westdeutschland liegt die Differenz zu 1996
144
6 Sozio-Kultur
beim sozialdemokratischen Modell bei minus 2,41 Prozentpunkten, beim etatistischen bei minus 5,64 Prozentpunkten, während das christdemokratische mit 3,3 Prozentpunkten und das liberale mit 2,16 Prozentpunkte hinzugewinnen. Demnach kann sowohl für Ost- als auch in geringerem Maße für West-Deutschland eine leichte Einstellungsverschiebung hin zu weniger Staatsverantwortung verzeichnet werden. Dieses „weniger an Staatsverantwortung“ lässt sich – betrachtet man die Operationalisierung der beiden Modelle – vor allem im Wirtschaftsbereich festmachen, da weniger Befragte beide Wirtschaftsfragen mit ‚ja’ beantworteten. In Großbritannien lassen sich keine großen Veränderungen zu 1996 feststellen. Während das etatistische Modell rund 4,7 Prozentpunkte an Zustimmung verliert, gewinnen das sozialdemokratische und das liberale je circa einen Prozentpunkte hinzu und das christdemokratische rund 2,7 Prozentpunkte. In Polen findet eine umgekehrte Verschiebung vom sozialdemokratischen hin zum etatistischen Modell um rund 7,6 Prozentpunkte statt. Tabelle 9: Einstellungsdifferenzen von 2006 zu 1996 (Angaben in Prozent) Land
kein ws
Christdem.
liberal
Sozialdem.
etatistisch
n. k.
2006 2006- 2006 2006- 2006 2006- 2006 2006- 2006 2006- 2006 20061996 1996 1996 1996 1996 1996 Tschechische Republik
1.60 -0.38 6.78 -0.68 20.54 -0.91 48.45 -3.30 16.85 2.63
5.78
Dänemark
0.18
4.03
DeutschlandOst
1.08
1.08
1.29
0.89
3.54 52.37 15.57 33.41 -22.08 3.66
0.99
DeutschlandWest
1.63
0.58
5.25
2.16 17.97 3.31 42.01 -2.41 26.02 -5.64 7.12
1.99
Spanien
0.14
0.09
0.89
0.50
1.08
Finnland
0.74
Frankreich
1.86 -0.69 3.66
0.15 16.62 6.26 50.13 15.63 20.88 -20.47 6.85 -0.88
Großbritannien
0.27 -0.21 4.44
0.94 19.25 2.72 49.53 0.92 22.07 -4.71 4.44
Ungarn
0.00 -0.30 0.66 -1.74 7.83
Irland
0.12 -0.20 2.81
1.21 14.74 1.84 54.27 10.88 26.67 -12.67 1.40 -1.05
Lettland
0.25
-1.1 11.55 -4.35 54.29 -5.16 27.33 7.28
Niederlande
0.49
Polen
0.68 -0.19 1.85
Portugal
0.13
8.14
26.09
2.64
0.07
1.99
8.19
5.61
40.81
1.86 41.05 -6.39 50.21 2.86
18.50
6.43
24.97 0.86
0.13
7.71 4.12
1.94
17.8
20.75
49.58
-1.1
25.48
54.8 -2.29 35.39 6.13
48.21
16.69
0.65 46.24 -7.91 42.83 7.64 49.84
Schweden
1.21
0.64
6.47
Slowenien
0.55
0.02
0.44 -0.19 5.19 -0.50 48.34 3.56
Total
0.66
0.00
3.19
44.62
2.10 3.07
0.34
1.32 -0.71 4.60
3.27
3.21 0.68 -1.05 1.16
1.27 40.34 -0.55 29.32 -4.11 4.85
0.79
43.6 -2.13 1.88 -0.75
0.63 13.47 2.32 47.44 1.20 31.83 -4.38 3.42
Quelle: ISSP 1996, ISSP 2006, eigene Berechnungen
2.63
0.23
6 Sozio-Kultur
145
Bei einer Betrachtung der Mittelwerte getrennt nach neuen und alten EU-Mitgliedststaaten fällt auf, dass die konstatierte Rechtsverschiebung nur bei den alten Mitgliedsstaaten zu Buche schlägt, während in den neuen Mitgliedsstaaten die Zustimmungsverluste vor allem beim christdemokratischen und sozialdemokratischen Modell in die Befürwortung des etatistischen Modells münden, was einer leichten Linksverschiebung im wohlfahrtsstaatlichen Einstellungsmuster gleichkommt. Tabelle 10: Mittelwerte nach neuen und alten EU-Mitgliedsstaaten untergliedert Jahr
k.Ws.
liberal
Christdem.
Sozial dem.
etatis.
n.k.
Mittwelwert EU 15
1996
0,63
2,42
10,97
41,47
40,56
4,01
Mittwelwert EU 15
2006
0,71
3,83
15,81
47,10
28,74
3,81
Mittwelwert EU-Beitritt
1996
0,75
3,10
12,39
52,56
29,05
2,10
Mittwelwert EU-Beitritt
2006
0,62
2,34
10,56
50,42
33,20
2,85
Quelle: ISSP 1996, ISSP 2006, eigene Berechnungen
Vor diesem Hintergrund kann vermutet werden, dass der in den westeuropäischen Ländern geführte Diskurs über die Krise des Sozialstaates sich in der leichten Rechtsverschiebung der Einstellungen widerspiegelt. In den osteuropäischen Ländern wurde zwar ebenfalls über die Finanzierbarkeit des Sozialstaates im Zuge der Transformation diskutiert, jedoch vor dem Hintergrund eines kompletten Systemwechsels. In diesem Sinne kann angenommen werden, dass sich die Erfahrungen mit einer liberalen Demokratie auf die Einstellungen der Menschen ausgewirkt haben und die leichte Linksverschiebung in den Einstellungen als Reaktion auf den schnellen Wandel (vor allem die Folgen der ökonomischen „Schocktherapie“) und den daraus resultierenden neuen Unsicherheiten interpretiert werden kann. Über diese Interpretationsansätze hinaus soll im Folgenden eine Regressionsanalyse zur Erklärung der bisherigen Befunde herangezogen werden. Jürgen Gerhards (2005) hatte im Rahmen seines Untersuchungsdesigns, das an die Studie von Roller (2000) angelehnt ist, die Vermutung aufgestellt, dass bei den Bürgern der Europäischen Union ein abnehmender Trend in der Unterstützung eines starken Sozialstaates angenommen werden könne: „In allen Ländern der EU ist eine heftige Debatte über die Nicht-Finanzierbarkeit der sozialen Sicherungssysteme entfacht und in allen Ländern hat – auch unter sozialdemokratischen Regierungen – eine Reduzierung staatlicher Leistungen stattgefunden. Wir vermuten, dass diese Entwicklungen nicht ohne Folgen für die Einstellungen der Bürger geblieben sind“393. Diese Vermutung konnte im Rahmen dieser Arbeit bestätigt werden, da das etatistische Staatsmodell als einziges eine kleiner werdende Anhängerschaft (s.o.) vorzuweisen hat. Allerdings sind hier deutliche Unterschiede zwischen den Ländern zu beobachten. Dies wirft die Frage auf, welche Faktoren diese Unterschiede erklären können. Im Gegensatz zur Untersuchung von Gerhards (2005) soll also nicht die Unterstützung für Alte, Kranke und Arbeitslose erklärt werden, sondern hier ist die abhängige Variable die Unterstützung für die unterschiedlichen Wohlfahrtsstaatstypen. Bei der Auswahl der unabhängigen Variablen erscheint jedoch eine ähnliche Vorgehensweise wie bei Gerhards (ebd.) angebracht: Die unabhängigen Variablen, also jene Faktoren, mit denen die oben beschriebenen Unterschie393
Gerhards (2005:190f.)
146
6 Sozio-Kultur
de erklärt werden sollen, lassen sich in Individualvariablen und Makrokontexte aufteilen. Die Makrokontexte sind wie bei Gerhards Modernisierungsgrad und staatliche Sozialausgaben. Der Modernisierungsgrad wird über den Human Development Index (HDI) operationalisiert. Die zu Grunde liegende Annahme ist, dass eine Solidaritätsorientierung, die über Verwandte und Freunde hinausgeht, mit dem Grad der Modernisierung eines Landes zunehmen wird. Eine auf fremde Personengruppen gerichtete Solidarität ist eine abstrakte Form der Empathie, die nur in modernen Gesellschaften anzutreffen ist, in denen elementare Bildung, Inklusion und Partizipation den Normalfall darstellen.394 Der HDI als Indikator für den Modernisierungsgrad eines Landes berücksichtigt neben dem Pro-KopfBruttosozialprodukt die Lebenserwartung (als Indikator für Gesundheitsfürsorge, Ernährung und Hygiene) sowie die Alphabetisierungs- und Einschulungsrate (als Indikatoren für den Bildungsstand). Die zweite Makrovariable ist die Sozialausgabenquote, also der Anteil der Ausgaben für soziale Belange gemessen an allen Staatsausgaben. Hierbei geht es um den Einfluss des wohlfahrtsstaatlichen Arrangements auf die Einstellungen der Bürger: Es kann plausibel angenommen werden, dass das Ausmaß sozialstaatlicher Aktivität „[…] die Einstellungen der Bürger in der Weise beeinflusst, dass diese das System unterstützen, in dem sie selbst leben.“395 Allerdings gilt auch die umgekehrte Vermutung, nach der die Einstellungen der Bürger – zumindest in Demokratien – die Entscheidungen der Politiker und damit auch das Ausmaß sozialstaatlicher Aktivität beeinflussen. Die Sozialausgabenquote als Indikator ist lediglich ein „Proxy“, um das sozialstaatliche Engagement der Länder abzubilden. Die Alternative wäre eine Zuordnung der Länder zu unterschiedlichen Wohlfahrtsstaatstypen. Allerdings ist eine solche Zuordnung nicht für alle Länder des ISSP-Survey verfügbar. Zum anderen muss auch eine Typologie notwendigerweise von zahlreichen Länderspezifika abstrahieren. Die Verwendung der Sozialausgaben dient also – wie die Daten des HDI – als empirischer Fingerzeig, der grundsätzliche Unterschiede zwischen den Länder abbilden soll und keinesfalls den Anspruch erhebt, komplexe Begebenheiten detailliert nachzuzeichnen. Auf der Ebene der Individualvariablen werden wie in Gerhards Untersuchung Alter, Beschäftigungsstatus und Konfession berücksichtigt. Zusätzlich wird der Einfluss der Variablen „subjektive Schichtzugehörigkeit“ und „Parteineigung“ geprüft. Der Einfluss der Parteineigung auf das präferierte Staatsmodell ist dabei am offensichtlichsten: Es ist davon auszugehen, dass die Neigung zu linken Parteien mit der Befürwortung eines sozialdemokratischen oder etatistischen Wohlfahrtsstaates zusammenhängt. Ebenso sollte die Neigung zu christdemokratischen oder konservativen Parteien mit der Befürwortung eines entsprechenden Sozialstaatsmodells einhergehen. Auch die Berücksichtigung der individuellen Merkmale „Alter“ (gemessen am Alter in Jahren), „Beschäftigungsstatus“ (in Beschäftigung vs. arbeitslos) und „subjektive Schichtzugehörigkeit“ (sechs Kategorien, siehe unten) gründet sich sowohl auf intuitiv nachvollziehbare wie auch vielfach empirisch nachgewiesene Zusammenhänge: Menschen, die eher von staatlichen Maßnahmen profitieren, sollten einen aktiven Sozialstaat auch eher unterstützen als jene Menschen, die von diesen Maßnahmen nicht profitieren, sie aber z.T. durch Steuern finanzieren müssen. Angehörige unterer Klassen, Alte und Arbeitslose sollten also eher einen umfassenden Sozialstaat befürworten als Angehörige der Oberschicht, junge Menschen und Berufstätige. Eine ähnliche Ar394 395
Ebd., s. auch Lerner (1979) Gerhards (2005:196)
6 Sozio-Kultur
147
gumentation lässt sich im Hinblick auf die Geschlechtervariable vornehmen: Frauen sind einem größeren Risiko ausgesetzt, staatliche Sozialleistungen in Anspruch nehmen zu müssen. Besonders augenfällig gilt dies für allein erziehende Mütter, die im Zuge einer Kombination von Gleichstellungs- und Aktivierungslogik Mutter und gleichzeitig auch Ernährerin sein sollen.396 Doch auch ohne die Aktivierungstendenzen in der Beschäftigungspolitik kann davon ausgegangen werden, dass Frauen einen umfassenden Sozialstaat in der Tendenz stärker befürworten sollten als Männer. Sie leisten einen deutlich größeren Anteil an der Pflege der älteren Generation, als dies bei Männern der Fall ist und sind in der Folge von einem größeren Armutsrisiko betroffen.397 Einen Einfluss der Konfession auf die individuellen Einstellungen zu vermuten, kann auf den ersten Blick nicht überraschen: Die „protestantische Arbeitsethik“ Max Webers ist nur das prominenteste Beispiel aus den Sozialwissenschaften. Im Hinblick auf die Einstellungen zum Wohlfahrtstaat muss man jedoch feststellen, dass es vergleichsweise wenige Untersuchungen gibt, die sich diesem Zusammenhang ausführlich gewidmet haben und hierbei auf den Unterschied zwischen Protestantismus und Katholizismus eingehen398. Philip Manow stellt in dieser Hinsicht eine begrüßenswerte Ausnahme dar und wartet mit der These auf, „[…] dass der Protestantismus – anders als in der Literatur immer wieder argumentiert wird (Kersbergen 1995; Huber, Ragin und Stephens 1993; Esping-Andersen 1990; Lagner 1998) – einen eigenständigen und nicht zu vernachlässigenden Beitrag zur Wohlfahrtsstaatsentwicklung in den Ländern Europas (und auch darüber hinaus in den USA und den Ländern des Commonwealth) geleistet hat, selbst wenn dieser Beitrag mittelbar und zum Teil negativ gewesen ist. Negativ in dem Sinne, dass vor allem die freikirchlichen Sekten und reformierten Strömungen des Protestantismus unter Betonung von gemeinschaftlicher Selbsthilfe, strikter Trennung von Staat und Kirche, innerweltlicher Askese und prudentia eine stark anti-staatliche Programmatik entwickelt haben, die sich vielfach verzögernd auf die Sozialstaatsentwicklung ausgewirkt hat.“399 Es lässt sich also annehmen, dass sich auf der Individualebene Katholizismus eher positiv, Protestantismus hingegen negativ auf die Unterstützung eines starken Staates auswirken sollte. Im Weiteren wird in einer multivariaten Regression untersucht, ob sich diese Hypothesen bestätigen lassen. Insbesondere die Individualmerkmale erweisen sich als erklärungskräftig. So haben sowohl der Beschäftigungsstatus wie auch die Geschlechtervariable zu beiden Untersuchungszeitpunkten einen signifikanten und positiven Einfluss auf die Unterstützung eines umfassenden Sozialstaates. Auch die einzelnen Kategorien der subjektiven Schichtzugehörigkeit erweisen sich als bedeutsam – interessanterweise nimmt die Bedeutung der Klassenzugehörigkeit im Zeitverlauf sogar zu. Ausgehend von der „Mittelklasse“ als Referenzkategorie ist festzustellen, dass 1996 nur die Unterklasse und die Arbeiterklasse den Zuspruch für eine aktive Rolle des Staates erhöhen. Der Unterschied zwischen „Mittelklasse“ und „unterer Mittelklasse“ ist nicht signifikant. Im Jahr 2006 wirkt sich auch diese Differenz statistisch positiv auf die Befürwortung einer größeren Rolle des Staates aus. Umgekehrt verhält es sich mit der „oberen Mittelklasse“: im Vergleich zur Mittelklasse wollen diejenigen, die sich der „oberer Mittelklasse“ angehörig fühlen, eine weniger große Reichweite
396
Saraceno (2008:249) Wakabayashi/Donato (2006), siehe auch Watson/Mears (1999) 398 Siehe aber z. B. Manow (2002), Kaufmann (1988), Heidenheimer (1983) 399 Manow (2002:208) 397
148
6 Sozio-Kultur
staatlicher Eingriffe. Für Angehörige der Oberschicht gilt in der Tendenz das gleiche, allerdings sind die Ergebnisse hier nicht mehr statistisch signifikant. Tabelle 11: Ergebnisse der multivariaten Regressionsanalyse zu Erklärung der Wohlfahrtsstaatsmodelle 1996
2006
Modernisierung (HDI)
-0,012
(0,74)
,004
(0,36)
Sozialausgaben
0,072***
(4,00)
-0,059***
(5,01)
Geschlecht
0,131***
(11,54)
,090***
(10,26)
Alter
0,042***
(3,72)
-,008
(0,92)
0,045***
(4,71)
,046***
(6,05)
0,060*** 0,149*** -0,022 -0,116*** -0,016
(5,63) (12,46) (1,75) (8,30) (1,19)
,045*** ,091*** ,088*** -,069*** -,018
(5,62) (9,91) (8,69) (6,61) (-1,65)
Religion c) Katholiken Protestanten Sonstige
0,092*** -0,006 0,011
(6,02) (0,43) (0,93)
,118*** ,014 ,010
(10,02) (1,16) (1,10)
Parteineigung d) dezidiert Links Mitte-Links Mitte-Rechts dezidiert Rechts Sonstiges Keine Präferenz
0,080*** 0,133*** -0,103*** 0,016 -0,010 0,066***
(7,06) (7,39) (5,63) (1,20) (0,72) (3,97)
,110*** ,106*** -,136*** -,003 ,016 ,011
(11,97) (9,59) (11,30) (0,33) (1,68) (1,10)
R²
0,131
+a)
Beschäftigung
+
Subjektive Schichtzugehörigkeit b) Unterklasse Arbeiterklasse Untere Mittelklasse Obere Mittelklasse Oberklasse
0,123
Anmerkungen: OLS-Regressionen, ungewichtet, robuste Standardfehler, standardisierte Beta-Koeffizienten, Betrag der t-Werte in Klammern *: p