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Revolution in Deutschland und Europa 1848/49 Herausgegeben von Wolfgang Hardtwig
Vandenhoeck & Ruprecht
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Revolution in Deutschland und Europa 1848/49 Herausgegeben von Wolfgang Hardtwig
Vandenhoeck & Ruprecht
98. 31782
Umschlagbild: t Blum's letzter Kampf für Deutschland's Freiheit. zu Wien, den 28lcn Qclober 1848. Historisches Museum Frankfurt am Main; Fotograf/ in: 5eitz-Gray_
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Rl"VOirltiOIl ill Deutschlond U/zd Ell ropa 1848/49 / hrsg. von Wolfgang Hardtwig.Göttingen : Vandenhoeck und Ruprecht, 1998 (Sammlung Vandenhoeck)
ISBN 3-S25-Dl368-X
1i:l 1998 Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen Printed in Germany. - Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urhebc.rrechtsgcsetzes ist ohne Zustimm ung des Verlages unzulässig u nd s trafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Sys temen. Satz: Satzs piegel, Bovenden Druck- und Bindearbeiten: Hubert & Co" Gö ttingen
Bayerfsche Stastsblbllolhek München
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Inhalt
Woljga"g Hardtwig Einleitung ...................... , ... , .. , , ... , . , . . ..... 7
Laurenz Demps 18. März 1948. Zum Gedenken an 100 jahre Märzrevolution in Berlin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 11
Peler Niedermiiller Geschichte, Mythos und Politik. Die Revolution von 1848 und d as historische Gedächtnis in Ungarn ...... 32 Woljga"g Kascllllba 1848 / 49: Horizonte politischer Kultur ........... . , ...... 56 Woljgang Hardtwig Die Kirchen in der Revolu tion 1848/ 49. Relig iös·politische Mobilisierung und Parteienbildung .... 79
Rillf P'öve Politische Partizipa tion und soziale Ordnung. Das Konzept der ).volksbewaffnung'( und die Funktion der Bürgerwehren 1848/ 49 . .. . ....................... 109 Rüdiger vom Bruch Die Universitäten in d er Revolution 1848/49. Revolution ohne Universität - Universität ohne Revolution? ........ 133 Konrad Canis Die preußische Gegenrevolution. Richtung und Hauptelemente der Regierungspolitik von Ende 1848 bis 1850 .. 161 Heinrich August Wink/er Der überforderte Liberalismus. Zum Ort der Revolution von 1848/ 49 in d er d eutschen Geschichte ...... ...... ... 185 Ganter Schödl Jenseits von BürgergeselJschaft und nationalem Staat: Die Völ ker Ostmitteleuropas 1848 / 49 ................. . 207
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Inhalt
Ludmi/a Thomas Russische Reaktionen auf die Revolution von 1848 in Europa ....................................... .... 240 Hartmut Knelble 1848: Viele nationale Revolutionen oder eine europäische Revolution? .............................. . ...... ... 260
Autorin und Autoren .... . .. . . ... . . .. .. . . ... . ... ... .. 279
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Einleitung
Der vorliegende Band vereinigt Studien zur Geschichte der Re· volution 1848 / 49 in Deutschland und Europa aus Anlaß d es hundertfünfzigjährigen Jubiläums der Revolution. Sie ents tan· den aus einer Ringvorlesung, die im Wintersemester 1997/ 98 an der Humboldt-Un iversität zu Berlin gehalten w urde. Der Stand ort der Universität Unter den Linden, schräg gegenüber dem ehemaligen Schloßplatz, verpflichtete gleichsam dazu. Berlin war 1848 ein zentraler Handlungsort. lm TIergarten westlich des Brandenburger Tors fanden seit Anfang März die Volksversammlungen statt, bei d enen die populären liberalen und demokratischen Forderungen erhoben wurden. Von hier aus bewegten sich mehrfach Demonstrationszüge zur Innenstadt, bei denen »die Straße« zum Schauplatz des revolutionären Geschehens wurde. Die nach den fatalen Schüssen auf dem Schloßplatz am 18. März losbrechenden Barrikadenkämpfe bildeten den Auftakt für gewaltsame Unruhen auch in anderen Teilen Deutschlands. Wenn es der Revolution auch an einer gesamtdeutschen Zentrale ge fehlt hat, so entwickelte sich hier doch - ebenso wie in Wien - eine zunächst revolutionäre, dann gegenrevolutionäre Dynamik, die auf die anderen Staaten und Hauptstädte des Deutschen Bundes ausstrahlte. Berlin war freilich nicht nur ein zentraler Handlungsort in der Revolution, sondern auch der wichtigste Ort der Erinnerung an die Revolution und ihre Bedeutung für die deutsche Geschichte im weiteren Verlauf des 19. und im 20.Jahrhundert. 1948, beim hundertjährigen Jubiläum, geriet das Gedächtnis an die revolu· tionären Ereignisse in die Konfrontation des Kalten Krieges hin· ein . In ungewöhnlich direkter und massiver Weise versuchte die SED in der politisch noch nicht geteilten Stadt, die kollektive Erinnerung in ihrem Sinne zu gestalten und für ihre politischen Zwecke zu instrumentalisieren. Die übrigen Parteien unter Füh· rung der SPD erkannten die Dimension einer solch einseitigen geschich tspolitischen Vereinnahmung spä t, aber gerade noch so rechtzeitig, daß sie eine exklusive An eignung des historischen Erbes durch die SED verhindern konnten.
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Das hundertfünfzigjährige Jubiläum der Revolution find et in einer weniger zugespitzten, wenn auch keineswegs beruhigten politischen Atmosphäre statt, gerade wenn man vom histo ri· sehen Handlungs· wie auch Ermnerungsort Berlin ausgeht . Es bietet jedenfalls weniger Anlaß für eine aktuell·politische Über· frachtung und für grundsätzliche geschichtspolitische Kontro· ve·rsen. Mit dem endgültigen Übergang des wiedervereinigten Deutschland zur repräsentativen Demokratie 1989/90 hat sich die historiseh·politische Bewertung der liberal-d emokratischen Mehrheit von 1848/ 49 endgültig ins Positive gewendet, na ch· dem in der Einschätzung der revolutionären Ziele und Möglichkeiten zwischen Historikern und politischen Erbeverwaltern aus d er Bundesrepublik und der DDR noch erhebliche Divergenzen bestanden hatten. Die Revolution gilt jetzt als eine wesentliche Etappe auf dem Weg Deutschlands zur parla mentarischen Demokratie und zu einem partizipativen Nationalstaat - ungeachtet ihrer Erfo lglo· sigkeit. Sie konnte ihre Ziele unmittelbar so gut wie nirgends erreichen - weder was die nationale Einheit noch was ih re freiheitspolitischen Forderungen angeht. Gleichwohl ist die gäng ige Rede von ihrem »Scheitern« in den letzten Jahren vielfa ch modifiziert worden. Die Revolution bewirkte den - mehr oder weniger- retardierten Übergang der vor konstitutionellen größ. ten heiden deutschen Staaten, Preußens und ÖSterreichs, zur Verfassungsstaatlichkeit; sie praktizierte in der Paulskirche und in den ei nzelstaatlichen Versa mmlungen vielfach Formen eines modernen Parlamentarismus; sie trieb die Auflösung d er alten Ständeordnung entschieden voran; sie brachte einen Politisierungsschub bis in die unterbürgerlichen und bäuerlichen Schichten hinein, der in den nachfolgenden Jahren d er Reaktion zwa r massiv unterdrückt wurde, sich nach der Lockerung der nachrevoluti onä ren Repression seit 1859 aber erneut Bahn brach und die politische Kultur in den deutschen Staaten erheblich veränd erte. Und sie zeichnete die kleindeutsche Option für die nationalstaatliche Einigung 1864 bis 1871 vor. Gleichwohl sind die Brechungen zu beach ten, die eine allzu einlinige Einordnung der Revolution in eine Vorgeschichte unserer heutigen politischen Ordnung nicht zulassen. Der Protest von Bauern und gewerblichen Schichten verfolgte z. T. eng begrenzte und mitunter durchaus traditionalistische Ziele. Viel· fach verbanden sich die Absichten der politischen Demokratie
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mit sozia l konservativen Wertordnungen und Forderungen. In den Kirchen bew irkte die Revolution eine konservati ve Modernisierung, die für die Verbreitung liberal-demokratischer EinsteUungen durchaus ambivalente Folgen haben sollte. Die Revolution scheiterte in Deutschland hauptsächlich an der von den Akteuren selbst nicht zu verantwortenden Überlastung von sich überschneidenden und gegenseitig verstärkenden Problemen und Aufgaben. 1m Ergebnis setzten sich - kurzfristig und massiv, aber doch auch mit langfris tigen Folgen - die einzeIstaa tli chen militärisch-bürokrati schen Machtapparate durch. Dies hatte u. a. zur Folge, daß das Andenken an die Revolution und ihre Träger und d amit auch an ihre Ziele in der in Deutschland überwiegend staa tsnahen gebildeten Öffentlichkeit zunehmend diskreditiert w urde und im allgemeinen politischen Bew uBtsein viel umstrittener blieb als in anderen europäischen Ländern. Die Revolution von 1848/ 49 is t kein spezifisch deutsches Phänomen, sondern ein europäisches. Diese Feststellung gilt auch, wenn man in Rechnung stellt, daß zwei der großen Mächte der europäischen Pentarchie, England und Rußland - ebenso wie Teile Süd osteu ropas, die un ter os manischer Herrschaft standen - von der Revolution nicht unmittelbar betroffen wurden und daß d ie Revolution im ost- und südosteuropäischen Raum z. T. in anderen Formen, mit anderer Intensität, anderen Trägergruppen und anderen Zielen auftrat als in West- oder Mitteleuropa. Die Verflechtungen und Konfrontationen der europäischen Staaten und ihrer herrschenden, aber auch ihrer opponierenden Kräfte sind überaus vielgestaltig und auch widersprüchlich. Für den Rückblick auf die Jahre 1848/49 in Deutschland ist es un abdingba r, diese eu ropäisc he Dimension der Revol ution in ihrer ganzen Komplexität in die Analyse und Renexion einzubeziehen. Die Vortragsreihe w urde veranstaltet vom Institut für Geschichtsw issenschaften an der Humboldt-Universität; daß auch Vertreter des Instituts für Europäische Ethnologie d aran mitwirkten, hat die Spann weite der Themen und Fragestellungen noch erweitert. Historiker/ Innen und Ethnologen stellten sich die Aufgabe, die angedeuteten Probleme und Dimensionen aus der Sicht von Spezialisten auf dem aktuellen Forschungsstand, aber in allgemein-verständlicher Form und auch für ein breiteres Publikum zugänglich darzustellen. Aspek te der politischen
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und sozialen Geschichte der Revolution in Deutschland und im e uropäischen Vergleich kommen dabei ebenso zur Sprache wie solche der Menta litäts· und der Kulturgeschichte, der Wertorientierungen und der normati ven Einstellungen der Handelnden und Betroffenen. Zwei Beiträge wid men sich ausdrücklich den Formen und Funktionen der Erinnerungsku ltur. Alle hier vorgelegten Untersuchungen verstehen sich ihrerseits als Beiträge zu einer Ermnerungskultur, die ihre eigenen Bedingungen reflektiert und der es nicht nur um die wissenscha ftli che Erkenntnis, sondern auch um die Vermittlung von Wissenschaft und Ö ffe ntlichkeit zu tun ist. Wolfgang Hardh.... ig
Laurenz Demps
18. März 1948 Zum Gedenken an 100 Jahre März revolution in Berlin
Gedenken und Kultur des Gedenkens sind gegenwärtig in heftiger Diskussion. Die Stadt Berlin scheint dabei ihre besonderen Probleme zu haben. Es soU nicht verschwiegen werden, daß die Jahre nach 1945 gerade in Berlin die gesamten Schwierigkeiten der Entwicklung einer Gedenkkultur aufgezeigt haben. Aber es waren immer auch tagespolitische Ereignisse von hoher Brisanz, die eine notwendige Klärung unmöglich machten, ja sogar verhinderten, und dies mit Langzeitwirkung bis in die Gegenwart. An einem Beispiel, dem Gedenken an 100 Jahre Märzrevolution 1848, sollen die Tücken des Gedenkens aufgezeigt werden . Am Anfang stand ein Magistratsbeschluß, der am 25. August 1947 gefaßt wurde. Er trägt die Unterschriften von Louise Schröder, Oberbürgermeister i(n) V(ertretung), und Stadtrat May für die Abt(eilung) f(ür} Volksbildung. Hier zunächst der Wortlaut des Beschlusses: a) Herausgabe einer Festschrift, b) einer kleineren Broschüre für Schüler, c) Berücksichtigung des Revolutionsjahres im Lehrplan der Schulen und Volkshochschulen. d) Durchführung einer Ausstellung über die48er Bewegung in den Räumen des Berliner Zeughauses, zur gleichen Zeit Kennzeichnung der historischen Stä tten der Barrikadenkämpfe, e) offizieller Festakt am 18.3.1948, bei dem Vertreter Groß-Berlins und anderer Körperschaften sprechen; Festrede eines namhaften Historikers, Umrahmung durch das philharmonische Orchester und den Chor der Staatsopcr, f ) am Tag der Beisetzung der Märzgefallenen feierliche Kundgebung auf dem Gendarrnenmarkt unter Mitwirkung der Gewerkschaften, der Parteien und anderer Abordnungen der Berliner Bevölkerung. Im Anschluß an die Kundgebung Bildung eines Gedenkttauerzuges, der sich zum Friedho f der Märzgefallenen im Friedrichshain bewegt, um don an der neuhergerichteten Gedenkstätte Kränze niederzulegen,
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g) um den Erinnerungsfeie rlichkeiten eine möglichst große Wirkung zu verleihen, ist es erwünscht, daß neben den zentralen Veranstaltungen d es Magistrats weitere Sonderveranstaltungen in den Bezirken, Schulfe ie rn. eine Hochschulveranstaltung und dergl. stattfinden, die zeitlich u nd räumlich SO aufeinander abzustimmen sind, da ß keine gegenseitige Beeinträchtigung möglich ist. I
Obwohl es ungewöhnlich sein mag, an den Anfang einer Ausführung ein komplettes Dokument zu stellen, wurde diese Vorgehensweise gewählt, um an Hintergründe und Ergebnisse eines Memorialvorgangs zu erinnern, Motive und Momente d es Tradierens zu beleuchten und Wirkungen und Ergebnisse zu hinterfragen. Und noch etwas Ungewöhnliches: die eigene Erinnerung. Der Verfasser dieser Zeilen war im März 1948 knapp acht Jahre alt und unterlag als Schüler der 33. Volksschu le Prenzlauer Berg diesem Beschluß, in dessen Folge er an irgendeinem Tag im März 1948 - im übrigen bei leichtem Nieseiregen - im Hof der Ruine des Berliner Schlosses stand und die Geschichte der Revolution von 1848 erstmals hörte. Wenig erfreut wegen des leichten Regens, der Schule und in Erwartung dessen, was uns die Lehrer wohl nun schon wieder erzählen würden. Ein weiterer Beschluß des Magistrats vom selben Tage bestimmte, d aß für die "Vorbereitung und Durchführung der Erinnerungsfeierlichkeiten 1848/ 1948[ ... ] folgende Maßnahmen getroffen [werden]; 1. Bildung eines rep räsentativen Komitees, dem namhafte Vertreter des öffentlichen, politischen und geistigen Lebens angehören sollen. 2. Bildung eines Arbeitsausschusses, dem seitens des Magistrats angehören soUen: Bürgermeister L. Schröder, Bürgermeister Dr. Frieclensburg. Bürgermeister Dr. Acker, Stadtrat May, Stad trat Bonatz, Stadtrat Theuner ...2
Zunächst sei an die konkrete Situation in der Stadt erinnert. Nachkriegswirren und Not waren Alltag, Hunger, Krankheit und Verrohung der Sitten ebenso. Kein Glas in den Fenstern, ein permanentes Hungergefühl, Ruinen, wohin man schaute, Glasscherben, Panzerruinen, Fahrgestelle von Geschützen, die man als Spielplätze nutzte, Aluminiumstreifen, »Stahlbucker« aus Panzern, angeschlagenes Panzerglas als besondere Kostbarkeit, Suche nach Holz in den Ruinen ... alles hundertfach beschrieben, Neues ist wohl nicht hinzuzufügen. Die Geschichtsaufarbe itung nach der Katastrophe der NSHerrschaft hatte zunächst einschneidende Eingriffe in das tra-
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dierte Geschichtsbild erbracht. Man war sich einig, daB ein intellektueller Bruch mit der bisherigen Geschichtsbetrachtung nationalstaatlicher und borussischer Prägung notwendig war. Den Minimalkonsens für alle Seiten stellte das Buch von Alexander Abusch »Irrweg einer Nation(( dar, eine sehr mechanische, aber holzschnittartig wirkungsvolle Betrachtung der deutschen Geschichte, die als geradlinige Misere in direkter linie von Luther über Friedrich U. und Bismarck zu Hitler dargestellt wurde. Abusch lieB Raum für die Betrachtung der Gegenkräfte und Bewegungen, zu denen er auch die Revolution von 1848 zählte. Bei der Suche nach Anknüpfungspunkten in der geistigen Leere der Jahre nach 1945 schälte sich ein Zurückgehen um einhundert Jahre heraus. Der März 1848 war wohl der Punkt, auf den sich die Mehrzahl der politisch Handelnden - wenn auch aus unterschiedlichen Motiven - einigen konnte, wenn man an etwas in der Geschichte anknüpfen wollte. Spürbar war die Unruhe, die Suche nach einem Konsens, die die Zeit mitprägte. In einem dann nicht veröffentlichten Aufruf - wohl vom Februar 1948umschrieb der Magistrat von Groß-Berlin den Konsens so: ).Die Revolution hat ihr Ziel nicht erreicht, weder auf den Barrikaden noch im Parlament, und dennoch ist ihr Kampf für unser Volk nicht umsonst gewesen. Reaktion und Tyrannei raubten der werdenden Demokratie die Rechte und Freiheiten, die dem überlebten Obrigkeitsstaat abgerungen [worden) waren.«) Es läßt sich heute nicht mehr eindeutig feststellen, von weichem Personenkreis die Initiative ausging, eine Würdigung von 100 Jahren Märzrevolution in Berlin vorzunehmen. Fest steht, daß diese Idee aus dem Kreis der Stadtverordnetenversammlung an die Öffentlichkeit gebracht wurde. Am 24. April 1947 hatte die Stadtverordnetenversammlung im Haushaltsplan »Volksbildung und Kunst 500 000 RM eingestellt, um die Feierlichkeiten zu finan zieren«. Aber erst am 24 . Juli 1947 gingen die Zeitungen darauf ein. Es folgte am 7. Oktober eine Pressekonferenz, auf der der Leiter der Abteilung Volksbildung, Dr. Karl May, die Einzelheiten der Planung für die Feierlichkeiten erläuterte. Bürgermeis ter Dr. Ferdiand Friedrichsburg schrieb im »Tagesspiegek ))Die Stadt Berlin hat es sich zur Aufgabe gemacht, in den kommenden 1ahren die Vorgänge von 1848 anschauli ch und einprägsam darzustellen. ,,4 Er legte dabei besonderen Wert auf die Vorlage von drei Schriften: eine Arbeit von
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Friedrich Meinecke, eine weitere vom Stadtarchivdirektor Kaeber und eine populäre Schrift für die Jugend. Mit diesen Schriften und in der eingangs erwähnten Ausstellung sollte an die Ereignisse des März 1848 erinnert werden, Kundgebung und Demonstration hatten dann die notwendige Öffentlichkeit herzustellen. In ungewöhnlich scharfer Form reagierte darauf am 21. Oktober die »Tägliche Rundschau «, die Zeitung der Sowjetischen Mihtäradministration für die deutsche Bevölkerung. Sie fragte: »Revolutionsfeiern ohne revolutionären Geist?« Der Arti_kel legte die Schritte der Vorbereitungen dar, ging u . a. auf die geplante Arbeit von Kaeber ein und kommentierte: »Man wird auf diese Weise sicher eine Fülle von historischem Material erhalten, aber ob man in dem Werk revolutionären Atem verspüren wird, dürfte zweifelhaft sein.« Scharf ging der Autor dann gegen die Absicht des Magistrats vor, Friedrich Meinecke um eine weitere Arbeit zu bitten. Meinecke wurde als »Antipode der materialistischen Geschichtsauffassung« bezeichnet und der Vorwurf gemacht, daß er in seinen Arbeiten die »sozialen Zusammenhänge gänzlich unbeachtet gelassen« habe. Es wurde gefordert, Vertreter der Parteien, der Gewerkschaften, gesellschaftlicher Organisationen mit in den Kreis der Personen einzubeziehen, die die Feierlichkeiten vorbereiten sollten. Mit dem Hinweis auf die geplante Demonstration schloß der Artikel mit den Worten: "Damit aus allen diesen Plänen etwas Lebensvolles wird , bedarf es vor allem der Mitwirkung von Menschen mit revolutionärem Geist. «"~ Das entsprach weltanschaulicher und politischer Überzeugung sowie konkretem Machtkalkül, denn die Erinnerung an ein historisches Ereignis war in diesem Selbstverständnis nur dann sinnvoll, wenn damit gleichzeitig Veränderungen in der Gegenwart vollzogen werden konnten. In diesem Falle sollte die Erinnerungsarbeit genutzt werden, um die Bewohner Berlins an die Ausweitung der eigenen Macht heranzuführen . Oberst Serge; I. Tulpanow, damals Chef der Informationsabteilung der Sowjetischen Militäradministration, formulierte dies im Rückblick des Jahres 1976 so: »Von großer Bedeutung bei der Überwind ung der tief im Bewußtsein d er Intelligenz verwurzelten Apologetik des bürgerlichen Parlamentarismus waren Artikel und Bücher, die der Analyse der Novemberrevolution in Deutschland und der Revolution von 1848 gewidmet waren. «6
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1m Klartext bedeutet dies: Es ging nicht um die Erinnerung, sondern um eine Verbindung von Erinnerung und tagespolitischer Auseinandersetzung. Natürlich hat Erinnerungsku ltur immer mit dem Einfluß auf die Gegenwart zu tun. Eine Erinnerung nur an vergangene Vorgänge, ohne eine gewisse Einflußnahme auf die Gegenwart, auf die Haltung, auf die Meinungsbildung usw., ist wohl nicht gerechtfertigt. Zu einer die Menschen ansprechenden Erinnerungskultur gehört aber ganz wesentlich auch die freie Rückwendung der Aufmerksamkeit in die Vergangenheit. Um diese ging es hier freilich nicht, sondern um die Nutzung eines historischen Ereignisses für den politischen Tageskampf. Berlin hatte nach 1945 einen besonderen Status erhalten, der die Stadt in vier Sektoren teilte. Die Stadt sollte aber von allen vierSiegermächten des Zweiten Weltkriegs einheitlich und gemeinsam verwa ltet werden. Den jeweiligen Sektoren stand ein Stadtkommandant vor. Die vier Kommandanten bildeten die Allüerte Kommandantur. Die auf die ganze Stadt gerichtete alliierte Verwaltung verlangte die ständige Suche nach einem Konsens, denn nur das gemeinsame Handeln sicherte die Einheitlichkeit. Der »Ka lte Krieg« zwischen Ost und West um Gebietsansprüche und Einfl ußsphären erschwerte jedoch die Zusammenarbeit immer mehr, man konnte sich über immer weniger Fragen einigen. Mit der Ausarbeitung der Festschrift zur Revolution von 1848 wurde der Direktor des Stadtarchivs, Dr. Ernst Kaeber, beauftragt. Seine Arbeit erschien 1948 im Aufbau-Verlag. Der einleitende Satz Kaebers lautete: »Zwei Themen sind es, die beherrschend über der deutschen Revolution des Jahres 1848 stehen: Einheit und Freiheit. «' Damit stell te sich die Schrift selbst in die po litische Auseinandersetzung. Kaeber schließt: »Und doch - vergeblich ist der 18. März nicht gewesen. Er hat die Möglichkeit für eine Entwicklung der produktiven Kräfte der bürgerlichen Wirtschaft eröffnet [... ] Die Grunde aufzuzeigen, warum die kommenden Generationen das Versäumte nicht nachgeholt, warum sie die schwerste politische Belastung Preußens, den MiHtarismus, nicht ausgerottet haben, ist die wichtigste Aufgabe, die der Geschichtsschreibung der Gegenwart gesetzt ist, ((8 Damit war der inhaltliche Bogen auch für die AussteUung und für den Grundtenor des Gedenkens gespannt. Die Zuspitzung, die vordergründige Politisierung der Gedenkfeierlichkeiten setzte im Januar 1948 ein. Nur eine Berliner
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Tageszeitung - die »Berliner Zeitung{( - berichte te im Janu a r überha upt in knappe r Form vom Fortgang der Vorbereitungen a uf den Gedenktag, auf die Ausstellunßt die Festsitzung der Stadtve rordneten, die Kundgebung und Demonstra tion, z u der »die Betriebe und die Berliner Bevölke rung a ufgerufen wer· den«9 sollen . Das »Neue Deu tsc hland « berichte te dann, d aß Karl Mew is, Stadtverordnete r de r SED und Ve rtreter seiner Pa r· tei im Vorbe reitungskomitee, auf einer Funktion ä rsversamm· lung gegen die Vorbereitungen de r Stadtverordne ten versamm· lung und des Magistrats p rotestiert habe, da d er »18. März eine Sache der Arbeiterklasse« sei.10 N un gelan gten die Vorbereitun· gen des Gedenkens an die Revolution von 1848 in die tagespo· litischen Auseina ndersetzungen. Aus einer historisch·aufklä re· risch ged achten Erinne rung, die ein Denken und Ged enken an ein verbindendes historisches Ereignis darstellen sollte, w urde ein la utes, vorde rgrü ndiges, tagespoliti sches Spektakel. An zwei Ereignisse sei erinne rt: Im Janua r 1947 schlossen sich d ie am e rikanische und britische Besa tzungszone in Westdeutsch· land z ur Bizone zusammen, d ie im März 1948 durch Einbezie· hung d er französischen Zone z ur Trizone e rweitert w urde. Ber· Hn blieb d avon weitestgehend au sgesch lossen, an eine Einbe· ziehung der Stad t - auch der n icht unter Westalliierter Verwaltung stehenden Bezirke - in de n Marshallpl an und in eine vorbereitete Wä hrungsreform war zunächst in keiner Wei· se gedacht. Auf der anderen Seite nahmen die »brutalen Versu· ehe der sowjetischen Besa tzun gsmacht und ih rer d eutschen Helfe r«11 z u, die Westmächte aus Berlin h inau szudrängen und die Macht in ganz Berlin zu übernehmen. Die Februarereignisse in Prag, d ie zum Sturz der Regie rung Masa ry k und zur Über· nahme der Macht durch d ie Kommunis ten in der Tschechoslo· wa kei führten, spitzten d ie Auseina ndersetzungen in Berlin zu, sah man in ihn en doch a uf den unterschied lichen politischen Sei ten ennved er den Weg z ur Durchsetzung eigener politische r Vorstell ungen oder aber d ie d rohe nde Gefahr ein es kommuni · stischen Ums turzes. In die Berli ner Vorgänge spielten sehr sta rk d ie zentralen Hand lungsabläufe in der Sowjetischen Besatz ungszone (SBZ) hinein, die sich ebenfalls a uf Berlin konzentrierten . Am 12. Fe· bruar übertrug d ie Sowjetische Mili täradminis tration Deutsch· la nd (SMAD) der im Juni 1947 gebild e ten De utschen Wirt· schaftskom mi ssion (DWK) Gese tzgebu ngsbefugnisse; damit
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war de facto eine oberste deutsche Regierungsbehörde für die SBZ geschaffen. Oie östl ichen Bezirke der noch ungeteilten Hauptstadt wuchsen in eine zentrale Entscheidungsebene fü r die SBZ hinein, denen die westlichen Bezirke nichts entgegenzusetzen hatten. Oie Spa ltung deutete sich auf allen Ebenen an; erinnert sei nur an den Auszu g von Marschall Sokolowski als Vertreter der SMAD am 20. März 1948 aus dem Alliierten Kontrollrat. Die Politiker insbesondere der SPD und der CDU mußten alles daransetzen, die Haltung der Westmächte gegenüber Berlin zu verändern, d. h. einen Gesinnungswandel bei den Westmächten gegenüber der Stadt herbeizuführen und d ie Westintegration des spä teren West-Berlin voranzutreiben. Dem s tand d as Bestreben der SED gegenüber, offensiv jede Möglichkeit zu nutzen, um d en Druck auf Westberlin und die Westmächte zu vers tärken. Oie Differenzen nahmen in Berlin auch im lokalen Bereich zu. Die sowjetische Militäradministration spielte dabei eine aktive Rolle. Sie arbeitete darauf hin, daß die Berliner Parteiorganisationen von den Verbänden in der Sowjetischen Besatzungszone getrennt wurden. Am 10. Februar 1948 wurde die Berliner Organisation der LOP und am 12. Februar d ie der COU von d en Landesverbänden der SBZ ausgeschlossen. Und so geriet das Gedenken an den 18. März 1848 in einen poli tischen Mahlstrom, denn es bot die Möglichkeit, politischen Druck auszuüben. ln der Folge zeigten sich zwei Linien: die eine, die dem Beschluß des Magistrats folgte, durch Veröffentlichungen, Ausstellungen und Gedenken an den 18. März 1848 aufklärerisch zu wirken, und die zweite, die d as Gedenken an das Ereignis vordergründig, für den pol itischen Tageskampf ummünzen wollte. ln der Vorbereitung auf die folgende Stadtverordnetenversamm lung ließ der Ältestenrat am 14. Januar 1948 - gegen den Protest d es SED-Vertreters - d ie Kundgebung und die Demonstration am 18. März 1948 fallen, d a befürchtet wurde, daß diese für d ie Politik der SED genutzt wurden. Alle anderen Vorlagen fü r die Stadtverordnetenversammlung wurden genehmigt. Am 15. Januar 1948 wurden die Vorlagen des Arbeitsausschusses des Berliner Magistrats in der Berliner Stadtverordnetenversammlung behandelt. Als erster sprach Karl Mewis für dieSED-Fraktion. Er wandte sich gegen die Aktivitäten des Magistrats zu den Gedenkfeiern und füh rte aus, daß nach Ansicht
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seiner " Fraktion die Jahrhundertfeier keine Angelegenheit l e~ diglich der Stad tverwaltung, sondern der Bevölkerung von Ber~ Lin« sei. Den Zeitungsberichten zufolge verlangte er, daß in den Arbeitsausschuß auch Stadtverordnete, Angehörige demokratischer Organisationen, vor allem d es FOCB, des Kulturbundes und der Jugendorganisation aufgenommen werden sollten. Dahinter stand eine strategische Absicht: »Die Revolution von 1848 hat für unsere heutigen Verhältnisse a ußerordentliche Be~ deutung. Die Arbeiterschaft Berlins ist daran auf das höchs te interessiert und beabsichtigt zu beweisen, daß sie der Tradition jener Tage vor hundert Jahren würdig iSt. «ll Die Veranstaltun~ gen - so Mew is weiter - dürften deshalb nicht nur formalen und repräsentativen Charakter tragen, wie das noch vor 15 Jah ~ ren üblich gewesen sei. Überdeutlich trat bei alledem d er Bez ug zu den Ausführungen der »Täglichen Rundschau« vom 21. Oktober 1947 hervor. Mewis' beinahe harmJos anmutenden Sätze stellten eine kla ~ re Kampfansage dar. In ihnen wurde das geplante Programm politisiert. Hier wa r von einer ganz anderen Feier die Rede. In den Ausschüssen sollten Vertreter derjenigen Organisationen mitwirken, die als »Transmissionsriemen« der Politik dienten, und die Veranstaltungen sollten auf die Straße verlegt werden. Mit der Demonstration sollte Druck auf die Politik d es Magi~ strats und im weiteren auf die westlichen Alliierten ausgeübt werden. Der Sinn d er Ausführungen zielte darauf, die abwartende Haltung der westlichen Alliierten gegenüber Berlin in der Weise zu beeinflu ssen, daß sie ihr Engagement in der Stad t un ~ ter dem Druck der Straße einstellen soHten . Insbesondere die Stadtverordneten der SPD mußten da ge~ gen auftreten. Diese Aufgabe übernahm der Abgeordnete Swolinzky. Wohl unüberlegt verlangte er die "ungetei lte Republik von Königsberg bis zum Süden((, um dann die Forderungen von Mewis zurückzuweisen. Es kam zu Tumult, persönlichen Beleidigungen und Ordnungsrufen . Die Position der SPD blieb insgesamt defensiv, s ie wehrte sich insbesondere gegen den Oemonstrationszug zum Friedhof der Märzgefallenen, da die Berliner nur mangelhafte Schuhbekleidung hätten. 13 »Die Menschen soUen jedoch nicht zum Demonstrieren gezw ungen werden . Magis trat und Stadtparlamen t (s ind) d ie gewählten Kö rperschaften, um diese Kundgebung durch zu führen.(14 ),Stellen Sie sich im März, bei rauhem Wetter, einen Demonstra-
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tionszug vor (. . . ] und die Leute haben nicht einmal das Schuhzeug dazu! Wir wollen diesen Tag ohne groBe Propaganda begehen.«IS SPO, COU und LOP zogen sich in dieser Frage zurück, offensichtlich trauten sie ihren Argumenten wenig und hatten Befürchtungen wegen des Organisationsschwungs der SED. Alle Fraktionen brachten dann schließlich ein »Gesetz über den 18. März 1948 als gesetzlicher Feiertageeein. Es hatte folgenden Wortlaut: »§ 1 Der 18. März 1948 ist als Gedenktag des hundertsten Jahrestages der Berliner März-Revolution in Groß-Berlin gesetzlicher Feiertag. § 2 Für die infolge dieser Bestimmung ausfallende Arbeitszeit ist der regelmäßige Arbeitsverdienst zu bezahlen. § 3 Der Magistrat von Groß-Berlin wird ermächtigt, zur Durchführung des Gesetzes allgemeine Verwaltungsvorschriften zu erlassen.ee l6 Mit Befehl Nr. 20 des Obersten Chefs der Sowjetischen Militärverwaltung vom 3. Februar 1948 wurde die Arbeitsfreiheit befohlen, »zur Feier des 100. Jahrestages der Revolution von 1848 in Deutschland, die unter dem Banner der Freiheit für eine einige demokratische deutsche Republik gegen die Kräfte der Feudaljunkerreaktion durchgeführt wurde, und zur Erinnerung an die Kämpfer der Revolution<e.17 Diese Passage verdeutlicht die Stoßrichtung des Befehls. Eine weitere Zuspitzung erfuhr der Streit durch die Tagung des 2. Deutschen Volkskongresses in Berlin. Dieses Organ der SED, bestehend aus Delegierten verschiedener Parteien und Massenorganisationen, vertrat die Auffassung der sowjetischen Deutschlandpolitik. Sein äußeres BiJd entsprach dem Scheinpluralismus, den dieSED nach 1945 in die politische Landschaft der SBZ eingebracht hatte.18 Entstanden war er aus der Volkskongreßbewegung für Einheit und gerechten Frieden. Die in den westlichen Besatzungszonen Anfang 1948 verbotene Bewegung ließ mitteilen, daß sie ihren 2. Kongreß am 18. März 1948 in Berlin abhalten werde. Durch den beabSichtigten Zusammenfall des Gedenkens an den 18. März 1848 mit dem 2. Deutschen Volkskongreß entstanden unter anderem auch Raumprobleme. So war vorgesehen, daß die festliche Sitzung der Stadtverordnetenversammlung in der Deutschen Staatsoper - zu diesem Zeitpunkt Admiralspalast in d er Friedrichstraße und Tagungsort des 2. Deutschen Volkskongresses - stattfinden sollte. Stadtrat May wandte sich daher am 2. Februar an das Ständige Sekretariat des Volkskon-
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gresses und bat um Verlegung, »damit allen Berlinern und den geladenen Gästen die Teilnahme an den Feiern der Stad t möglich is t «.l9
Bereits am 4. Februar anhvorteten Otto Nuschke und Waltet Ulbricht im Namen d es Deutschen Volkskongresses und le hnten eine Verlegung d es Termins ab. Im Gegenzug schlugen sie vor, die »Ehrung an den Gräbern d er Märzgefallen en am 18. März früh « gemeinsam vorzunehmen. »Au f diese Weise so heißt es dann weiter, »würde nach aussen hin bekundet, dass wir gemeinschaftlich dem Gedächtnis der gefallenen Vorkämpfer für Einheit und Freiheit huldigen, wenn auch naturgemäß die politische Tagung des Volkskongresses sich von der doch mehr als Erinnerungsfeier gedachten Berliner Veranstaltung abhebt. «20 Durch diese Hintertür wären d ann der Berliner Magistrat und j ',
die Stadtvero rdneten versa mmlung d och mit dem Volkskongreß verza hnt worden. Das wollten die großen Parteie n - außer d e r SED - in Berlin nicht, da sie d ann po litisch in e in Programm eingebunden worden wären, das s ie ablehnten. Auf die d e r Ö ffentlichke it im wesentlichen verborgenen und damit unverständlichen Vorgänge reagierte d ie Presse unwillig. So meldete die Zeitung ••Berlin am Mittag« am 6. Februar: »Der Älteste nrat lehnte ab, die Opfer d er Revolutio n von 1848 gem einsam mit den Teilnehme rn des Volkskongresses zu ehren. Die genannten Parteien (SPD, CDU, LDP; d e r Verf.J wollen sich ausschließlich an den offiz iellen Feierlichkeiten d er Stadt Berlin bete ili gen. Da an diesen Fe ie rlichkeiten nur geladene Gäste teilnehm en, ist eine Te ilnahme d er Berliner Bevölke rung so gut wie ausgesch1ossen.«21 Die Zeitungen verö ffentl ichten nun die Progra mme für d ie Veranstaltungen, die im wesentlichen g leich lauteten : .. Mittv.'och 17. März 13 Uh r: Eröffnung der Auss tellung im Weißen Saal des Schlosses, Ansprache Stadtrat May. 18 Uhr: Festvorstellung im Deutschen Thea ter . Nathan der Weise... Ans prache Louise Schröder. Donnerstag 18. März 8 Uhr: Einwei hung d es Gedenksteines und Kranzniederlegung auf dem Friedhof der Märzgefallenen. Ansp rache Stadtverordnetenvorsteher Dr. Suhr. 10.30 Uhr: Festakt in der Städtischen Oper. Anspra · che Dr. Peters und Paul Löbe. Rezitation: Fritz Kortner. - 14 Uhr: Festtagung dcr 5tadtverordnetenversammlung im Neuen 5tadthaus.,,21
Dazwischen lagen dann ab 10.30 Uhr die Demonstratio n der SED zum Friedhof der Märzgefallenen und die Kundgebung •
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vor dem Reichstag um 16 Uhr. Es war vom Zeitplan her für die poli tisch Handelnden durchaus möglich, an aUen Veranstaltungen teilzunehmen. Der Zeitplan diente aber nicht diesem Zweck, sondern sollte keine weiteren Komplikationen hervorrufen. Die Gegenkräfte waren gegenüber der Politik der SED in die Defensive geraten, sie hatten sich selbs t überlistet. Die SED konnte sich auf den MagistratsbeschluB von 1947 stützen, verfügte über den historischen Raum in der Mitte Berlins sowie im Friedrichshain und war immer für eine Demonstration - also für die Öffentlichkeit - eingetreten. SPD, CDU und LDP waren in der Stadtverordnetenversammlung vom 15. Januar vehement gegen eine öffentliche Demonstration vorgegangen und hatten sich so eines für diese Zei t wichtigen Mittels der Öffentlichkeitsbeeinflussung beraubt. Die verbalen Auseinandersetzungen in den Medien konnten dies n icht ersetzen. Die SEOKo ntrahenten sahen sich daher zum Rückzug genötigt und muBten kurz entschlossen ihre Haltung in der Kundgebungsfrage ändern, wollten sie nicht ihre Handlungsfreiheit verlieren. Das Gesetz über die Arbeitsfreih eit am 18. März 1948 gab dazu die Möglichkeit. Am 14. März lieBen die Landesvorstände und die Stadtverordnetenfraktionen der SPO, der COU und der LDP unter der Überschrift »Freiheitliches Berlin« einen Aufruf in den in Westberlin erscheinenden Zeitungen veröffentlichen: .. 1848/ 1948 - das s ind hunde rt Jahre Kampf um die Freiheit! Dieser Kampf muß entschlossen fortgesetzt werden, wenn Leben und Zukunft gesichert werden sollen. Jeder entscheide sich klar fü r eine freiheitl iche und demokratisch geordnete Gesellscha ft, gegen Willkür, Rechtlosigkeit und totalitäre Machtansprüche. Bekennt Euch erneut zu Frieden, Freiheit und Demokratie! Gebt diesem Willen Ausd ruc k am 18. März um 16 Uhr auf dem Platz der Republik.«23
Mit diesem Aufruf überwanden die Parteien ihre defensive Hal-
tung in d er Kundgebungsfrage und vers uchten, in die Offensive zu gehen. Der »Tagesspiegel« veröffentlichte einen redaktionellen Aufruf zu dieser kurzfristig angesetzten Kundgebung. Sein Geist und die knappen, zutreffenden Wertungen belegen die Dramatik, die der Vorgang der Würdigung der Revolu tion von 1848 nun in der Tagespolitik angenommen hatte:
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..Mit den Vertretern der Stadt und den aus den deutschen Ländern gekommenen Gästen versanunelten sich heute nachmittag um 16 Uhr die Anhänger der demokratischen Parteien auf dem Platz der Republik, um derer zu gedenken, die vor hundert Jahren für das Bürgerrecht kämpften und sta rben. Der Magistrat glaubte, die Erirmerung an den 18. März nicht mit öf· fentlichen Kundgebungen feiern zu sollen. Aus der Tatsache, daß wir in unserer jüngsten Vergangenheit zu oft au fmarschiert waren und dabei die Selbstbesinnung, auf die es in politischen Dingen ankommt, verlo ren hatten, zog er den umgekehrten Schluß wie die SED. Diese Partei will die suggestive Wirkung des Massenerlebniss~s für ihre Zwecke mißbrauchen. Sie benutzt den 18. März, um die We.betrommel für die Ziele ihrer Partei zu rühren, sie kommandiert nach dem Muster der Arbeitsfront den Gleich· schritt der Betriebe. Es kommt ihr ebenso auf eine gewaltige Demonstration wie auch und vor allem auf die Demonstration der Gewalt an, nach der sie offen strebt. Im Vertrauen auf den nüchternen Sinn der Berliner, die gelernt haben, zw ischen Propaganda und Erkenntnis, zwischen befohlenem Gleichschritt und innerer Übereinstimmung zu unterscheiden, haben die demokratischen Parteien zu einer gemeinsamen Kundgebung aufgerufen. An der Stätte, die zu deutsch " Platz de r öffentli chen Angelegenheiten« heißt, soll heute nachmittag bekundet werden, daß das, was 1848 de r geheime Wunsch von einigen Tausend war, 1948 der öffentlich erklärte Wille von Hunderttausenden ist. Oie SED konunand iert zum Appell, die demokratischen Parteien bitten um die Beteiligung an ihre r Veranstaltung. Der Demonstration der falschen Einheit muß eine Demonstration der echten Freiheit entgegengestellt werden. Berliner, beweist, daß ihr freie Bürger einer Weltstadt sein und bleiben wollt ...u
Angemerkt werden muß, daß der Magistrat u rsprünglich eine Demonstration wollte. Die Verwirrung wurde nur noch größer, als v iele Berliner Tageszeitungen am 16. März den »Aufmarschplan zu m 18. März« veröffentlichen . Die von der SED einberufene u nd durch den Magistratsbeschluß gestützte Kundgebung war für Gesamtberlin angelegt. Allen Verwaltungsbezirken waren Stellplätze zu· gew iesen. So z. B. für die »Bezirke Wedding, Reinickendorf, Spanda u: Cha rlottenstr., Spitze Unter den Linden; Weg: Charlottenstraße bis Jägerstraße«.2S Alle Zü ge wurden ab 10 Uhr über d en Gend armenmarkt geführt und dann ab 10.30 Uhr durch d ie Französische Straße, Schloßplatz, Königstraße, Alexanderplatz, Neue Königstraße, Königstor, Friedenstra ße, Landsberger Platz, Landsberger Allee - genau der Weg, den der historische Zug im Jah re 1848 genommen hatte.26 Und gerade das war d as Verführerische an dieser Kundgebung: Sie folgte dem historischen Vorbild. Der Magistrat dagegen versuchte, sich aus allen Q uerelen
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herau szuhalten und neutral zu bleiben, w ie sich d en Protokollen d er Ab teilung Volksbi ld ung u. a. enmehmen läßt. Am 27. Janua r 1948 wu rde festgelegt: »Es find en in allen Bezirken Veran staltungen statt . Darüber ist von einer zentralen Feier für Lehrer abgesehen worden. Die Schulfeiern m üssen am 17. III . stattfinden , d a der 18. IU. gesetzlicher Feiertag ist. •• Es schloB sich die Klage an : »Es fe hlt alJgemein an Material. ••27 Dam it war die konkrete Situati on umrissen: Die groBen , übergreife nden politisch en Prozesse verhinderten d ieser Aussage zufolge die Umsetzung des eigentlichen Anliegens der Gedenkfeiern. Die Presse d er SE D reagierte sofort. Insbesondere d as »Neue Deu tschland « veröffentlichte aus seiner Sicht Artikel, Äußerungen und Dokumente über die Ereignisse des März 1848. um den Lehrern Material in d ie Hände zu geben und so >Ki ie Köpfe zu besetzen ... Andere Zeitungen versuchten d ies ebenfalls, hatten aber kein Material zur Hand, w ußten nicht, in welche Richtu ng sie gehen sollten . Damit verloren sie an Einfl u ß. Am 17. Februar wurde aus Kreisen d er Lehrerschaft ein An trag auf eine StraBenumbenennung nach Ernst Zinna, einem Berliner Schlossergesellen und Helden d er Barrikadenkämpfe von 1848, gestellt. 28 Am 15. März folgte die Festlegung der Abteilung Volksbildung, d ie »Schüler besuchen die Revolutionsa usstellung im Schloß«.29 Um die Bede utung d ieser Anordnung richtig zu würd igen, sei darauf venviesen, d aß es zu diesem Zeitpunkt keinen Unterricht im Fach Geschichte in Berlin gab und Ausein andersetzungen, wer die neuen Schullehrbücher also damit ein neues Geschichtsbild - bestimmen sollte, an der Tagesordnung wa ren . Wei terhin gab es nach Ausweis d er Sitzungen d er Abtei lungslei ter im Ha up tschulamt kein Material und keine Lehrer, um d ie Ereignisse darzus tellen . Wer d ie Lükke besetzen konnte, entschied im Augenblick und fü r die Zukunft über d as Bewu ßtsein . Am 18. März 1848 traten dann die Stadtverordneten endlich zu ihrer 59. Außerordentlichen Sitzung zusa mmen, um der Revolution von 1848 zu ged en ken. Die Ka mmermusikvereinigung der Berliner Ph ilha rmonie sp ielte einen Sa tz aus dem Beethoven-Septett Es-Du r, op . 20, und der Stadtverordneten vorsteher Dr. Otto Suhr hielt d ie Festansprache. Lakonisch vermerkte das Protokoll: »ln einer Ansp rache würdigte der Sd tv.Vorsteher die Bedeutung Berlins in d er Revolution 1848. Er begründet d ie Einberu fung d er festl ichen Sitzung mit dem
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Hinweis au f die Rolle, die dama ls d ie Berliner Stadtverordnetenversammlung gespielt hat, und die Tatsache, d aß d as Jahr 1848 als Gebu rtsjahr des Parlamentarismus in Deutschland geiten müsse.( 30 Dann trat die Versa mmlung in die Tagesordnung. Sieben Punkte wurden behandelt: 1. Wiedereinrichtung der Deutschen Hochschule fü r Politik Vertagung 2. Stiftung von Preisen für Literatur, Musik und bildende Kunst -Annahme 3. und 4. Sond erzu wendungen aus Anlaß der 100jährigen Gedenkfeier für das H auptkinderheim - Annahme 5. Gesetz über Wappen und Flagge von Groß-Beflin - Ausschreibung 6. Antrag an die Alliierten auf Gnadenerl aß für jugendliche Straftäter - Annahme 7. Beseitigung des Nationa lkriegerdenkmals im Invalid enpark
-Annahme Diese knappe Tagesordnung zeigt die geringen Möglichkeiten auf, über die d ie Stadt verfügte, um ein würdiges Gedenken an die Revolution von 1848 zu ermöglichen . Die Mehrzahl der Anträge mu ßte von d er Alliierten Kommandantur genehmigt werden. Mit dem Beschluß über die Beseitigung des Nationalkriegerdenkm als im Invalidenpark zeigte sich die Versammlung desorientiert. Das Protokoll vermerkt, daß d er Antrag von der SEO-Fraktion gestellt worden war. Als Berichterstatterin trat Frau Schrooter von der LDP auf, die darauf hinwies, »daß die Bezeichnung Nationa lkriegerd enkmal irreführend ist. Es handelt sich vielmehr um einen Regimentsgedenkstein zur Erinnerung an die im Kampf gegen d ie revolutionären Kämpfer 1848 gefall enen Soldaten«.)] Tatsächlich handelte es um eine Säule, eingeweiht am 18. Oktober 1854, »zum Gedächtnis der in den Kämpfen von 1848 und 1849 gefall enen preußischen So ldaten «.32 Au f den ersten Blick ist es verständlich, daß m an ein derartiges Erinnerungszeichen als nicht mehr zeitgemäß ansah und d as Gedenken zum Anl aß nahm, das Zeichen zu vernichten . Aber es war kein Regimentsgedenks tein, sonde rn ein von der preußischen Regierung gesetztes »nationa les Ehrenzeichen«, das sich freilich gegen die gleichzeitige Konjunktur op-
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positioneller nationalkultureller Denkmäler richtete. Alle Frak· tionen stimmten mehrheitlich der Zerstörung zu. D ie Feierstunde war aber nur ein Teil der Veranstaltungen an diesem Tage. Der Berliner Gendarmenmarkt war aufgeräumt worden, hier traf man sich zum Demonstrationszug zum Fried· hof der Märzgefallenen. Auf dem Friedhof im Friedrichshain war am Morgen ein neuer Gedenkstein gesetzt worden, der bis heute die Inschrift trägt: "Den Toten 1848/1918. Das Denkmal habt Ihr selber Euch errichtet. Nu r erns te Mahnung spricht aus diesem Stein, daß unser Volk niemals darauf verzichtet, wofür Ihr starbt - Einig und frei zu sein.« Der Sta dtverordn etenvor· steher O tto Suhr führte aus: »Aus dem Blut der Barrika den ist die erste Auseinandersetzung um d ie Grundrechte in Deutsch· land geboren. Es ist derselbe Geist, der in den besten Kräften der Widerstandsbewegung gegen den Nationalsozialismus ge· blieben war, und die Opfer d es 18. März 1848 sind ebensowenig nach dem unmittelbaren Erfolg zu beurteilen wie die Opfer des 20. Juli 1944. Im Gegenteil - wenn das deutsche Volk endlich die Demokratie begreifen will, dann muß es seine Helden des Frie· dens und d er Freiheit achten lernen . ~ Sehr maßvolle Worte, die d em Charakter des Tages gerecht wurden. Um 10.00 Uhr begann die Demonstration vom Gendarmen markt zum Friedhof der Märzgefallenen, organisiert vom »Ständigen BeriinH Ausschuß für Einheit und gerechten Frie· d en «. Die Berichterstattung der »Neuen Berliner [\)ustrierten« spiegelte die Absicht und den Zweck dieses Aufmarsches wider: »Im Friedrichshain lodert ein Opferfeuer an der historischen Gedenkstä tte. Noch nie hat dieser Platz einen Aufmarsch von so eind rucksvoller Wucht gesehen. Um 12 Uhr wird die Kundgebung eröffn et. Chorlieder klingen auf, dann spricht Wilhelm Pieck.«34 Seine Worte gaben d as Ziel der Veranstaltung vor. »Heute, unter ganz anderen Bedingungen als vor hundert Jahren, ist die Arbeiterschaft zu einer selbständigen Kraft mit einem zielklaren Programm geworden, das ihr von den Gründern des w issenschaftlichen Sozialismus, von Karl Marx und Friedrich Engels, im Kommunistischen Manifest gegeben und deren Lehren von Lenin und Stalin weiterentwickelt wurden. Diese Klarheit des Programms und die breite pol itische und gewerkschaftl iche ürganisiertheit ermöglichen es der Arbeiterscha ft, s ich mit den antifasch is tisch·demokratischen Kräften des Bürgertums und d er Bauernschaft zu verbünden und mit
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ihnen gemeinsam den Kampf für die Demokratie, für die nationale Einheit Deutschlands und für die Wohlfahrt des deutschen Volkes aufzunehmen.«35 Pieck sprach eigentlich kaum über die Revolution von 1848, sondern im wesentlichen über den Volkskongreß: »Wir rufen dem deutschen Volke zu: Laßt euch nicht durch die Hetze gegen den Deutschen Volkskongreß verwirren. Alles ist Lug und Betrug, was gegen ihn vorgebracht wird. Im Deutschen Volkskongreß offenbart sich der Wille des fortschrittlichen Deutschlands sich aus der Schande und Not des Hakenkreuzes und des Hitlerkrieges zu erheben und ein neues, friedliches und demokratisches Deutschland aufzubauen .«36 Damit war im Selbstverständnis der Organisatoren der Forderung der Täglichen Rundschau entsprochen und »revolutionä rer Geist« in die Veranstaltung gebracht worden. Letztendlich stand diese Veranstaltung unter dem leitgedanken, den die »Neue Berliner Illustrierte« in ihrem Bildbericht dazu formulierte: »Das demokratische Berlin hat sich in dieser Kundgebung zu der Verpflichtung bekannt, die damals nicht vollendete Revolution jetzt zu Ende zu führen. «37 Die Arbeiter, so der Grundtenor, haben in der Revolution von 1848 den größten Blutzoll errichtet. Damals aber seien sie schwach und unorganisiert gewesen. Heute verfügten sie über eine große Organisation, ein Programm und eine Theorie, um ihre Interessen zu sichern und durchzusetzen. Mit den Arbeitern ständen liberale und demokratische Kräfte anderer sozialer Klassen und Schichten auf den ßarrlkad..:n. Dieses Zusammengehen verschiedener politischer Kräfte des Jahres 1848 wiederhole sich 100 Jahre später in der Volkskongreßbewegung, und deshalb sei die Unterstützung dieser Bewegung die einzig richtige lehre aus den Ereignissen von 1848. Um 16.00 Uhr schließlich begann die Demonstration auf dem Platz der Republik vor dem Reichstag. Auch dieser Platz mußte für diesen Zweck hergerichtet werden. Hier sprach Franz Neumann, 1. Vorsitzender der SPD in Berlin: ))Wir haben nicht umsonst diesen Platz an diesem Tage geWählt. Er unterstreicht unser Bekenntnis zur deutschen Republik, die dem ganzen deutschen Volke, wie es hier an den Trümmern noch sichtbar ist, dienen soll. Wir zeigen aber auch die Schwierigkeiten auf, die heute noch diesem Ziele entgegenstehen. (~ Auch hier gab es eine Verbindung der Erinnerung mit der gegenwärtigen politischen Situation. Den Veranstaltern war es gelungen, den großen
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Platz vor dem Reichstag zu füllen und die Menschen in dieser angespannten politischen Situation zu mobilisieren. In den Re· den wurde immer auf die Gefahr hingewiesen, West·Berlin kön· ne kommunistisch werden - eine Gefahr, die sehr real war. Der Wandel in der Auffassung der Westmächte gegenüber den westlichen Bezirken Berlins zeigte sich kurz nach den Ereignissen. Der Tagesspiegel meldete am 21. März: »In der wö· chentlichen Konferenz mit seinem Mitarbeitern nahm Ludus D. C lay zu der Demonstration des freiheitlichen Berlins am 18. März Stellung: )Der Mut dieser Deutschen, die am Donners· tag vor dem Reichstag für Freiheit und Demokratie demonstrierten, kann uns ermutigen. Viele tausend Berliner trotzten der Kälte und dem strömenden Regen [... ] Die Tatsache, daß sich so viele Deutsche an dieser Demonstration für Demokratie und individuelle Freiheit beteiligten, ist ein überzeugender Beweis dafür, daß die oft gehörte Behauptung, das deutsche Volk sei an der Demokratie nicht interessiert, falsch ist. Sie zeigt im Gegenteil, daß in Deutschland starke Kräfte bereit sind, für Freiheit und wahre Demokratie zu kämpfen und notfalls soga r zu sterben .«(39 Offiziell teilte die amerikanische Militärregierung mit: »Da s Erscheinen Zehntausender Berliner auf dem Platz der Republik trotz aller Schwierigkeiten des täglichen Lebens, trotz des unfreundlichen Wetters ist ein schlagender Beweis der Größe und Ehrlichkeit der Überzeugung, milder die Berliner von heute die Freiheitsideale, für die die Helden der Revolution von 1848 ihr Leben gaben, zu verwirklichen entschlossen sind . Die amerikanische Militärregierung hat einen tiefen Eindruck von dem Geiste dieser Feier empfangen [.. . I Die Berliner, die sich so spontan versammelten, um den Idealen der Freiheit, d es Friedens und der Demokratie auf dem Platz der Republik ihren Beifall zu zollen, haben die aufrichtige Unterstützung der amerikanischen Mili tä rregierung. «.a Natürlich zählten sowohl die SED als auch ihre Kontrahenten jeweils ihre Demonstranten und warfen sich gegenseitig vor, die Zahlen in ihren Veröffentlichungen gefälscht zu haben . Die dazu erschienenen Kommentare sollen hier nicht angeführt werden. Das war »Kalter Krieg(( in seiner reinsten Form. Und so wurde das Ereignis »100 Jahre Märzrevol ution in Berlin(( nicht nur Gedenken, sondern konkrete und durchaus dramati· sche Tagespolitik.
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Einige Anmerkungen müssen zum Ton der Reden und der Berichterstattung noch gemacht werden. Hier übte keiner Zurückhaltung, der Ton wurde auf beiden Seiten immer peinlicher, z. T. auch mit Anleihen an eine vergangene Zeit. 50 schrieb das Neue Deutschland am 20. März unter d er Überschrift »Demonstration der Hunderttausenden« über die Demonstration im Friedrichshain: »I... J aber gestern, zur Hundertjahrfeier von 1848 marschierten sie wieder; die Proleten aus den Vorstädten Berlins, so, wie sie immer marschiert sind und weitermarsch ieren werden«,41 Noch exemplarischer in der Anleihe an die vergangene Zeit dann der Bericht über die Demonstration: »Wir sahen eine Frau , die hatte ihre Schuhe mit Gummiringen von Einweckgläsern zusammengebunden; wir trafen einen alten Genossen aus den Tagen des antifaschistischen Widerstandskampfes vor 1933, der hatte kein Hemd unter seinem Rock. Jeder von denen, die sich durch Wind und Wetter durchkämpften, zählte doppelt und dreifach.«42 Auf der anderen Seite sprach Kurt Mattick am 12. März im Telegraf vom Ansturm des Totalitarismus, dem zu trotzen sei, denn es »geht in diesen Tagen um die Abwehr einer slawischen Gewaltideologie, die Europa zu zerstampfen drohte--485, hier 5. 459. "l.7 Vgl. Aleid a Ass mann, Kultur als Lebenswelt und Monument, in: Dies./Dietrich Harth (Hg.), Kultur als Lebenswelt und Monument, Frankfurt ,/ M. 1991, 5. 11 -25, hier 5. 11 .
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Auch wenn wir es heute wohl gerne bes treiten: Wir sind es gewohnt, anderen Na tionen und Gesellschaften eine spezifische hjstorisch-politische Identität zuzuschreiben, Züge einer Kollektivpersönlichkeit. lmmer noch ist es jenes alte Spiel mit Bildern »vom Anderen«(, mit Mutma Bungen über nationale Charaktere und Mentalitäten al s den vermeintlichen Folgen jeweiliger Kultureigenarten und Gesch ich tsverläufe. Dasselbe geschah und geschieht natürlich auch mit uns. Die Deutschen und die Bildung, die Deutschen und die O rdnung, die Deutschen und d er Krieg: Mindestens in den letzten einhundert Jahren bargen solche Bilder für Zeitgenossen und Nachbarn stets einleuchtende, auch bedrohliche Assoziationen. Die Deutschen und die Revolution hingegen: Nicht erst seit 1918 - und auch durch 1989 kaum gemildert - ruft dieses Bild meist eher ironische Kommentare hervor wie jenen geflügelten Satz von d en d eutschen Revolutionären, die vor der Besetzung des Bahnhofs erst noch eine Bahnsteigkarte lösen. Darin sind natürlich die bekannten Anspiel ungen enthalten a uf ein vermeintlich tief eingewurzeltes sozia les Ordnungs-, Regel- und PflichtbewuBtsein, auf jene»Tugenden« der Deutschen, die für eine Revol ution mentalitätsgeschichtlich einfach nicht »gebaut«( scheinen, die politisch nie willens noch fähig dazu waren und sich lieber regieren lieBen. Vermutlich is t die Floskel von der »regierbaren Gesellschaft« nicht zufällig bis heu te eine Lieblingsvokabel deutscher Politiker. Nun ist dieser Mythos vom ,.O rdnungsvolk« freilich zu einem guten Teil hausgemacht. Nicht zunächst die anderen, die Deutschen selbs t entwarfen dieses historische Cha raktergemälde einer »volkstümlichen « Reichs- und Staa tstreue. A llen statt gefundenen Revolutionsversuchen, allen Traditionen antifeudaler, demokratischer, liberaler wie sozia lis tischer Bewegungen zum Trotz erschienen d ie Bilder deu tscher Vergangenheit d aher stets nachhaltig geprägt von den Zügen einer »Untertanenge-
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schichte«. So ließ sich auch die deutsche Geschichtsschreibung bis in die 1960er Jahre als eine fast reine Politik- und Staatsgeschichte lesen, die das 19. und 20. Jahrhundert in der Figur eines Fortschritts- und Modernisierungsdiagramms zeichnete, wobei dessen Verlauf stets »von oben«, staatlich gestaltet, also wohlgestaltet war. ln diesem Diagramm wiederum markierte die Revolution von 1848 einen zentralen Koordinatenpunkt, von dem aus die Entwicklungslinien hin zu nationaler Einheit und staatlicher Verfassung sta rk ausgezogen wurden, diejenigen hin zu Republik und Demokratie dagegen eher schwach. Die revolutionäre Bewegung selber schien ja »gescheitert« - sofern man von »revolutionär« überhaupt sprechen mochte. Damit wurde ihr Andenken zu einer formbaren Skulptur in den Händen späterer »Zeitgeister« wie von Generationen deutscher Historiker, die deren Gestalt eher tragikkomische als ernsthafte und nachd enkliche Züge verliehen.
Ansichten einer Revolution Nachdem die Anekdote von den deutschen Revol utionären und der Bahnsteigkarte auf das Jahr 1918 anspielte, will ich die Geschichte der Revolution von 1848/ 49 mit einer Gegenanekdote beginnen, die ebenfalls mit der Eisenbahn zu tun hat, für deren queUenmä ßigen Beleg ich jedoch bürgen kann. Gerade rechtzeitig im Jahr 1848 nämlich wird die erste Bahnlinie im Königreich Württemberg fertiggestellt, die damals die beiden wichtigsten Garnisonsstädte Ludwigsburg und Ulm miteinander verbindet. Als im März erste Unruhen beginnen, ist die Regierung daher froh, dieses strategische Truppentransportmittel zu ihrer Verfügung zu wissen. Im Sommer 1849 dann, als die Reichsverfassung beraten wird, zu der sich auch die württembergische Regierung ausgesprochen reserviert verhält, befürchtet man allerdings, daß nun auch umgekehrt bewaffnete Revolutionstruppen diese Verbindung nutzen und mit dem Zug nach Stuttgart einfallen bzw. -fahren könnten, denn die Strecke ist inzwischen nach Norden verlängert, in das »unruhige« Hohenloh ische. Deshalb gibt man Ordre an die Stati onskommandanten d er Bahnhöfe kurz vor Stuttgart: Sie
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möchten, sofern ihnen größere bewaffnete Trupps im Zuge auffielen, diese bereits an ihrer Station ganz entschieden aus dem Zug weisen. Auf diesen klaren Befehl kommt nun allerdings die Rückfrage eines Stationsvorstehers, d er die Furcht sehr wohl versteht, nur gewisse praktische Bedenken hat: Er sei sich nicht sicher, wendet er ein, ob solche Trupps dann einfach auf seine Anordnung hin den Zug auch tatsächlich verlassen würden.\Eine gute Frage, die Antwort d er Regierung darauf ist leider nich t überliefert. Obwohl quasi Beamter, scheint der Mann also Realist zu sein . Allein mit Mütze, Trillerpfeife und Amtsstimme einen bewaffneten Trupp zu dirigieren, dünkt ihm doch kein einfaches Unterfangen. Er jedenfalls traut also der Regel von den deutschen Revolutionären und der Bahnsteigkarte offenbar noch nicht so ganz. Und der Mann hat recht: Zwar fahren damals keine Eisen· bahnzüge voller Bewaffneter nach Stuttgart, aber d ie neue Errungenschaft der Eisenbahn wirkt doch nicht nur im Sinne ihrer Erfinder. Neben ihrer Funktion als TruppentranspOlltllittel dient die Eisenbahnlinie längst als Vehikel und als Kommunikationsader der revolutionären Bewegung: Die großen Volksversammlungen mit manchmal zehn tausenden von Teilnehmern und die groBen regionalen Vereinsversammlungen machen sich nämlich die neue Transporttechnik ebenso für die Massenmobilisierung zunutze wie die Emissäre der Arbeiter- oder der Handwerker· vereine für den Aufbau ihrer Kommunikations- und O rganisa· tlonsnetze. lm Volks mund heißt diese EIsenbahnlinie d a h ~r auch »Demokratenexpreß(c: Ein Herrsc haftsinstrument ist in ein Volksbewegungsmittel umgewidmet. Diese Anekdote besitzt also ei ne umgekehrte Pointe: Sie weist Disziplingläubigkeit und Phantasieannut nicht den Untertanen zu, sondern den Herrschenden. Dariiberhinaus ver· weist ihr Stoff auf einen generellen Kern vieler solcher Revolutionsgeschichten: auf den darin pointiert angedeuteten Ka mpf um die alltäglichen ~~Sp i elrege ln « der Gesellschaft, auf Fragen nach institutionellen Machtverhältnissen und öffentlicher Definitionsmacht, nach Traditionen und Denkgewohnheiten, aber eben auch nach Fähigkeiten der Veränd erung, des Umdenkens und des Umbaus solcher gesellschaftlichen Regelsysteme. Und schließlich verweist sie uns auch auf das Problem unseres Geschichtsbildes, seiner Deu tungen und Überlieferungen: Die Bahnsteig-Anekdote ist kurz, prägnant, bekannt und paßt sle-
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reotyp "ins deutsche Bild «; der »Demokratenexpreß( hingegen ist später nie zu einem geflü gelten Wort geworden - jedenfaUs nicht in der o ffi ziellen Geschichtsüberlieferung. Mit anderen Worten und um die Anekdotik nun zu verlassen: Bis vor wenigen Jahren noch wurde die Revolution von 1848 fa st ausschließlich in einer engen staa ts- und politikgeschichtlichen Perspektive mit wirtschaftsgeschichtJichen Fußnoten präsentiert. Sie erschien dabei als eine Art unfreiwilliger gesellschaftlicher »Modemisierungsvorgang((, geboren aus einer europäischen wie deutschen Krisensituation, zunächst ungeschickt gemanaged vom ancien regime, dann aber doch mit wesentlicher Irnpulsw irkung im Blick auf ihre politisch-institutionellen Folgen, auf ihre verfassungspolitische Seite wie auf die n euen O rganisa tions formen »bürgerlicher( Politik. Dies schienen d ie wertvol1en Merk- und Marksteine für unsere historisch-politische Kultur wie für unser »kollektives Gedächtnis,(. 2 Gewiß war dabei auch immer von revolutionären Bewegungen die Rede: von »Volksmassen«, von Unruhen und von Märzaufständen in Berlin und Wien, von der badischen Revolution gar als einem vorübergehend erfolgreichen Machtkampf. Doch schienen das eher Episoden, diffuse Aktionen und Bewegungen, die gleichsam epidemisch auftraten und bald wieder in sich zusammenfielen. Jedenfalls gab es an dieser Seite der Revolution offenbar weniges, was dauerhaft blieb, was genügend Kraft und Kontinuität besessen hätte, um "geschichtlich « und »politisch « zu wirken - mehr Politik mit dem Bauch, vielleicht noch mit d em Herzen, als mit d em Kopf. Denn dieser Kopf, das war die bürgerlich-kons titutionelle Seite der Revolution. Und deren »Leitfossilien,( d ominierten auch jenes Revolutionsmuseum, das in Büchern, Gedenkschriften und Ausstellungen allmählich erstand: die Paulskirche und die Nationalversammlung mit ihren Debatten über Verfassung und Na tion, über Grund- und Wahlrechte; d ie liberale Bewegung mit ihrer spä teren Spaltung, ihrem Scheitern, aber auch mit ihrem Vorbildund Vorläufercharakter für d ie folgende »modeme(, Parteiengeschichte; die wirtschafts- und sozia lpolitischen Diskussionen als Weichenstellungen für künftige deutsche Zoll-, Gewerbeund Sozialpolitik; vielleicht noch der Abschlu ß der »Bauembefreiung «, also der Grundentlastung und Inbesitznahme d es Landes in bäuerliches Eigentum.
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In den ergänzenden Vitrinen dieses Museums und in d en Fu ßnoten der Geschichtsbücher kam dann etwas mehr zur Sprache, immerhin eine grobe Chronik des Geschehens: Szenen aus der deutschen Vormärzgesellschaft, aus ihren politischen Bewegungen wie industriellen Anfängen - die akute Agrarund Versorgungskrise der Jahre 1846/ 47 - darauf die Welle d er sogenannten »Brotunruhen« und »Hungerkrawalle«( - dann, 1848, die französische Februarrevolution, gleichsam als Signal für die deutsche Märzbewegung - die Bauernunruhen, die ländliche Rentämter in Flammen aufgehen lassen, und die städ tischen Protesta ktionen, die Bürgermeis ter und Magistrate zum Rücktritt zwingen - die Bürgerkomitees mit ihren Märzfo rderungen und d ie liberale Opposition, deren Vertreter Zugang in die Mehrzahl d er deutschen Regierungen finden - militärische Konfrontationen zwischen "Volksbewegung« und Regierungsmacht wie in Berlin und Wien - das Vorparlament auf d er Bühne der Paulskirche und die Nationalversammlung im Mai 1848 mit ihren Debatten - Ende Juni der Reichsverweser Erzherzog Johann - im Herbst Aufstände wie in Frankfurt, Baden oder Wien - gleichzeitig die Spaltung der Bürgerlich en in konstitutionelle Monarchisten und eher republikanisch und demokratisch Gesonnene - am 27.12.1848 die Verkündung der »Grund rechte des deutschen Volkes« - am 28.3.1849 die Verabschiedung der Reichsverfassung durch die Nationalversammlungd ann Ablehnung der Kaiserkrone durch Friedrich Wilhelm IV. von Preußen - im Mal und Juni 1849 darauf die »drille Welle,( der revolutionären Bewegung: Versuche der Durchsetzung der Reichsverfassung in Sachsen, Rheinland , WestfaJen, Pfalz und Baden - d eren Scheitern bzw. Niederschlagung durch preußische Truppen - am 18.6.1849 die Auflösung des ))Rumpfparlaments«, der nach Stu ttgart geflohenen )) Linken« der National versammlung - am 23.Juli die Kapitulation der letzten republikanischen Truppen Badens in Rastatt. - Ende des Rundgangs: die Revolution als Episode, die neu- und wiedergewonnene O rdnung als die "eigentliche« Geschich te? Da s ist natürlich: Revolution im Telegrammstil. Doch so sehr mein Report hier verkürzt, vergröbert und zweifell os Generationen von Historikern un recht tut, die sich durch dicke Aktenbestände gekämpft haben, so gewiß sind es doch ungefähr diese wen igen Schlagzeilen, die das öffentlichen Geschichtsbew ußtsein lange Zeit bestimmten . Denn schon unmittelbar nach 1849
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waren a lte rnative Revo lutionsdeutungen liberale r Historiker rasch von der staa tstragenden Geschichtszunft verdrängt. 1898 konnte m an bei der SOjährigen Wiederkehr mit kaiserlich em Segen d ie volle ndete »Reichseinheit« feiern. 1918 wurde das Be· zugsjahr 1848 zwa r zunächst revolutionär beschworen, bis a u f d ie Arbeite rbewegung mit ihrer Erinne rung a n »d ie Achtund· vierziger( wurde jed och bald w iederum weniger auf die Volks· bewegung verw iesen als vielmehr auf bürgerliche republika ni. sehe und na tionale Traditione n. 1948 schließlich sollte ein raseh entsta ubtes Denkmal »1848( m it flüc htig gezeichneten dem Nolk« die erweckten Geistlichen als seine natürlichen Sprecher ansah. Die Inhalte und der Motivationshintergrund der von ihnen vertretenen sozialen Politik d eckten sich dabei nicht unbeträchtlich mit denen der Demokraten. Beide wandten sich in der Gewerbepolitik gegen den Übergang zur industriellen Konkurrenzwirtschaft, wie sie von der »Bourgeoisie« bzw. dem »Kapital « so gleichermaßen Demokraten und Erweckte - vertreten wurden. Diese politische und menta litä tsgeschichtliche Gemeinsamkeit von Konservativen und Demokraten zeigte sich in der Gewerbe- und Sozialpolitik, aber auch im Verhältnis zum Staat. Beide setzten ihre Hoffnung auf das Eingreifen des Staates- nur
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meinten die Christlich-Konservativen den alten vorkonstitutioneU-monarchischen und die Demokraten den neuen, umfassend liberalisierten Staat. Bezeichnend ist demgemäß auch der Unterschied in der politischen Methodik: die Demokraten g ründeten Vereine, die Erweckten suchten den direkten Kontakt zu hilfreich von oben intervenierenden Staatsbehärden. In d iesem Punkt erwies sich der entstehende po litische Katholizismus als moderner. Auch er hielt am Autoritätsgefüge der herkömmlichen Sozialordnung fest. Auch er vertrat in den ultramontanen Pius-Vereinen vielfach - je nach örtlicher Gewerbe- und Sozialstruktur - die lnteressen d er gewerblichen unteren Schich ten gegen das Eindringen von liberaler lndustrie- und Konkurrenzwirtschaft. Mit der Steuerung der PiusVereine durch die Geistlichen, dem Einfluß der Bischöfe, d er straffen Organisation von Petitionen entstand im politischen Katholizismus somit eine singuläre Mischung von demokratischer Partizipation an politischen Entscheidungsprozessen und autoritativer Führung. Dabei setzte eine erbitterte Rivalität mit d en Demokraten ein, die sozial- und mentalitätsgeschichtlich auf dem Wertehorizont der gemeinsam angesprochenen Schichten beruhte: ein sozialer Konservativismus, d er von d en Demokraten säkular, vom politischen Katholizismus und vom protestantisch-christlichen Konservativi smus primär in religiösen Kategorien artikuliert wurde.
VII.
Zieht man Bilanz, so zeigt sich zuerst, daß die Revolution die Ausdifferenzierung der Gesellschaft auch auf dem religiöskirchlichen Sektor ein erhebliches Stück vorantrieb, die Religionsfreih eit grundrechtLieh verankerte und die konfessionelle Parität des Staates endgültig durchsetzte. 49 Sie führte aber auch dazu, daß sich die jeweils spezifischen Entwicklungen und Ziele d er beiden Großkirchen noch einmal verhärteten. Die entstehende katholische politische Bewegung hatte von Anfang an wesentliche Energien aus dem Kampf gegen den Protestantismus und seine Verflechtung mit der politischen Macht bezogen. Der Ultramon tanisierungsschub mit seiner Romori entierung
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schloß jetzt eine neue konfessionelle Irenik, aber auch eine interkonfessionelle Zusammenarbeit gegen gemeinsame Gegner, wie sie bis 1837 mehrfach bedacht und im »Berliner Wochenblatt
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patriotischer Kampfgeist oder maximale Zugriffsrechte auf die zivi le Bevölkerung unter Umgehung bisheriger bürgerlicher Schutzbestimmungen. Militärreformer od er die Vertreter der Wehrertüchtigung, erstere im Zeichen der Spätaufklärung, letztere im Bann der Romantik und des Herd erschen Volksbegriffes, akzeptierten zwar die Koexistenz von Staa t und GeseUschaft, wollten aber nur einen sittlich-moralischen Freiheitsbegriff anwenden und damit lediglich die »innere" Einstellung der Menschen ändern.10 Eine nach ))außen" gerichtete radikale Umwälzung der Staatsverfa ssun g oder die Verkündung des politisch partizipierenden Staatsb ürgers stand nicht zur Disposition. Erst vor dem Hintergrund des politischen und republikanischen Freiheitsbegriffs geriet die Formel von der Volksbewa ffnu ng zur staa tskritischen Variante. Vorschläge fü r revolutionäre Formen der Volksbewaffnun g jenseits von Landsturm und Landwehr oder auch die Erweiterung des Volksbegriffes auf untere, grundbesitzlose Schichten blieben in d en ersten Jahren des Vormärz noch aus. Die Variationsbreite der Realisierungsmöglichkeiten der Volksbewaffnung erschöpfte sich zu diesem Zeitpunkt vornehmlich noch in Allgemeiner Wehrpflicht, Landsturm oder Landwehr. Nach 1830 gehörte die Forderung nach Bürgerbewaffnung zum Repertoire von "gemäßigten ,( wie ))entschiedenen,( Liberalen, von Demokraten und Radikalen. So forderte der demokratische Publi zist Fried rich Wilhelm Schulz 1832 nach dem kurhessischen Vorbild »in allen deutschen Ländern, wo noch keine Bürgerga rden sind [... 1dem Volke die Waffen in die Hände" zu geben. Da ))wehrloses Volk [. . . } gleich d em Sperlinge in den Klauen des Habichts(, sei, habe jeder d as Recht, sich ein e Waffe zu besorgen. Schul z rief indirekt zu m Verfassungskampf, zum bewaffneten Schu tz von Freiheit und Verfassung auf. ll Der gemäßigte Liberale David Hansemann forderte 1840 in seiner Denkschrift für den Thronfolger Friedrich Wilhelm IV. wesentlich vorsichtiger und behu tsamer, aber doch nicht minder eindringlich, an der Basis der preußischen Heeresverfassung, nämlich der Volksbewaffnung, unbedingt festzuhalten. 12 Der radikale Reformer Arnold Ruge strich in seiner ),Selbstkritik« 1843 noch einmal die verachtenswerte polizeistaatliche Fu nktion des Stehenden Heeres heraus und forderte, Volksbildung und Volksbewaffnung, Schule und Militär, miteinander zu verschmelzen.13 Auf der Heppenheimer Tagung liberaler Politiker
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1847 w urde hefti ge Kritik an der Bundesmilitärverfassung ge· übt, die keine allgemeine Volksbewaffnung zulasse. Geforde rt wurde eine Minderung des Stehenden Heeres und die Einführung einer »Volkswehr«.14Im gleichen Jahr zählten z u den so· genannten »Offenburge r Forderungen « d er Verfassungseid des Militärs und die Einrichtung einer »volkstümlichen Wehrve r· fassung «(.1 s Noch vor Ausbruch der Revolution 1848 benannte d ie Mannheimer Bürgerversammlung am 27. Februar 1848 v ie r »dringende Fo rderungen «, von d e nen die »Volksbewaffnun g mit freien Wahlen der O ffi ziere( an erster StelJe sta nd .16 Im Frühjahr 1848 gaben die Regierungen den Protesten nach und beriefen neue Minister, fa ßte n Reformbeschlüsse, organisierten Wahlen z ur verfassungsgebenden Na tionalversa mm· lung, hoben die Zensur auf und gewährten endlich die allgemeine Volksbewaffnung. Auch in Berlin spitz te sich die Situation zu. Zusä tzlich beflü gelt vom Erfolg der Revolution in Wien und dem d a mitverbundenen erz wungen en Rü cktritt Mettemichs, bildete sich ein e breite soziale Protestbewegung, d ie täglich weiteren Z ulauf erhiel t. Die allgemeine aufgeregte Stimmung wurde noch weiter angefacht durch kursierende Gerüch te und revolutionäre Nachrichten aus deu tschen und europäischen Ha uptstädten . Friedrich Wilhelm IV. und seine Regierung reagierten auf diese, als immer bedrohlicher empfund ene Entwicklung mit eine r massiven Militärpräsenz auf den Stra ßen. Schon bald kam es z u blutigen Kon(ron tation~n zwischen Militär und Einwohner· schaft, in de ren Folge die e mo tional aufgeladene Atmosphäre eskalierte und auf heiden Seiten aggressive und irrationale Re· aktionen hervorrief. Der Ausgang solche r »Begegnungen« war in jenen Tagen stets d er gleiche und wurde von durch Säbelhiebe oder Gewehrschüsse verletzten, ja soga r getöte ten Einwohner begleitet, so daß jedem Zivilis ten überdeutlich die fa talen Wirkungen und Konsequenzen des militä risch-staatlichen Waffenmonopols a ufgezeigt w urde n . Nach dieser grundlegenden, für nicht wenige auch u nmittelbaren und sc hme rz ha ften Erfahrung besaß die »Märzforderung« nach »Volksbewaffnung« oberste Priorität. Am 7. März s tand die Forderung nach »Volksbewaffnung( in einer Adresse an den König noch an s ieb ter und drittletzter Pos ition .1 7 Zehn Tage spä ter umfaßte eine Vier-Punkte-Adresse erstens die »Zurückziehung der m ili tärischen Macht«, zweitens die »Qrgani-
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sation einer bewaffneten Bürgergarde«, drittens Pressefreiheit und viertens die Einberufung d es Vereinigten Landtages.l8 Die· se Forderungen sollten als sogenannte Sturmpetition im Rah· men einer Massendemonstration, zu der die gesamte Einwohnerschaft aufgerufen wurde, am folgenden Tag, d en 18. März, vor dem königlichen Schloß verkündet werden. Damit war die Bürger- bzw. Volksbewaffnung, verknüpft zu einem Junktim über den Truppenabzug, zur alles bestimmenden Machtfrage geworden, die über Erfolg und Mißerfolg der Bewegung entscheiden würde. Zugleich aber zeichnete sich schon in diesem frühen Stadium die Realisierung nicht nur einer viel stärker politisierten, sondern auch sozial beträch tlich erweiterten Formation ab. Auch König und Regierung hatten ihre Lehren aus den vergangenen Tagen gezogen. Um zukünftige Konfrontationen zu vermeiden, die nur weitere Radikalisierungen nach sich gezogen hätten, versuchte man, stad tbürgerliche Schutzkommissionen aufzustellen und den Bürger zum Ersatzsoldaten zu stempeln . Da aber der Stad tkommandant ein Abrücken vom militärischen Waffenmonopol verweigerte, mußten diese Schutzkommissi0nen unbewaffnet agieren - was ihre Einsatzfähigkeit gleich am ersten Tag, dem 16. März, erheblich minderte.l9 Die Entwicklung kulminierte am 18. März, als es im Rahmen d er »Sturmpetition ll für eine Bürgerbewa ffnung vor dem Schloßplatz zu einer Schießerei kam, in deren Folge Armee und Einwohnerschaft in einen erbitterten und blutigen Barrikaden· kampf verwickelt wurden.20 Am 19. März gab d er König nach, entschied sich für den Rückzug der Truppen aus der Stad t und bewilligte die geforderte Bürgerbewaffnung, an der Bürger und Schutzverwandte beteiligt werden sollten.2l Eine d etaillierte gesetzliche Ausarbeitung wurde in Aussicht gestellt. Dies bedeu· tete im Vergleich zu d en bisherigen Maßgaben eine breite soziale Öffnun g der bürgerlichen Ordnungsformationen bis weit in die unterbürgerlichen Schichten hinein - eine soziale Öffnung, die ja nich t nur durch die Paragraphen d er Verordnung, sondern auch durch die revolutionären Begleitumstände, also die Beteiligung von Tagelöhnern und Handwerksgesellen, bewirkt wurde . Hatten doch in den Augen vieler nicht die stadtbürgerlichen Eliten, sondern vor allem das »Volk« den Sieg und d amit das Anrecht au f eine Selbstbewaffnung errungen . Zunächst aber versuchte die Regierung, die Gefahr einer all-
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gemeinen »Volksbewaffnun g(( zu bannen 22 und vielmehr trotz d er eindeutigen Formulierungen ein e O rdnungsformation von Besitzbürgern zu schaffen, die einer weiteren Rad ikalisieru ng d er Entwicklung vorbeugen sollte. Zentrale Bedeutung erhielt die aus Stadtbürgem bestehende Schützeng ilde, die a ls neue Sc:.hloßwache und ),bürgerliche Leibgarde d es Kön igs( fungieren sollte. 23 Gewehre wurden zunächs t nur an Hausbesitzer und an als verläßlich bekannte Bürger verteilt; d ie groBe Mehrhe it d er Barrikadenkä mpfer blieb von einer Bewaffnun g zunächst ausgeschlossen.24 Diese Einschränkung der ersten Tage w urde von d en Verantwortlichen geschickt kaschiert. 25 Freilich war die Freude über den politischen Erfolg und damit über d ie Präsenz bürgerlicher Ordnungsformationen gerad e in den er· sten Tagen weitgeh end ungeteilt, so daß sich die unteren Schichte n zunächs t nicht a usgeschlossen fühlten. Immerhin war die nun ohne Auflage genehmig te Bü rgerbewa ffnun g ein großer Erfolg, der freilich, d a die Formation zu spät und aus der Defensive heraus bewilligt w urde, im Zuge der weiter vor· antreibenden Radikalisierung rasch verpuffte.26 In d ieser ersten Phase bis in den April hinein blieb die Bürgerbewaffnun g noch in starkem Maße an die Obrigkeit gebunden.27 Auch die Anzahl der Ga rdis ten fi el mit wenigen tausend Männem vergleichs· weise gering aus.23 Die versproch ene gesetzliche Fassung d er Bürgerwehr ließ lange auf sich warten. Zunächs t w urden am 25. März ))Prov iso· rlsch e Anordn ungen Ober die Bildung d er BUrgerwehr von Ber· lin«29 verkündet, die in ihrem Wesensgehalt über eine Bekräfti· g ung d er ersten Adhoc·Bes timmungen vom 19. März ka um hinausg ingen und ledig lich Wachtinstruktionen und Gliede· rungskriterien beinhalteten. Die vom König am 22. März ver· anlaßte Ausa rbeitung eines speziellen Bürgergese tzes sollte sich noch bis in d en Oktober hinziehen. Eine wichtige Etappe wa r d ie Verordnung vom 19. April, in der die Bürgerweh ren landesweit a nerkannt und ihnen )) Behufs Aufrechterhaltung der öffentlichen O rdnung und Sicherheit die Befugnisse d er be· wa ffneten Macht nach d en gesetzlichen Bestimmungen.( zu ge· s tanden w urde.Ja In d er Provinz Bran denburg folgte eine ganze Reihe von Städ· ten in den Märztagen d em Berliner Beispiel und stellte ebenfalls Bürgerwehren bzw. Schutztruppen au f.3 ! Die Prov inzregierung versuchte jedoch, die radikale EntwickJung in Berlin auf d em
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pla tten Land und in den kleineren Städten abzub remsen. So unterstützten die Behö rden vornehmlich d ie Gründungvon Sicherheitsvereinen auf der Basis von 1830. In jenem Jahr war angesichts der Unruhen in den westpreußischen Provinzen eine Verord nung über die Bildung ausschließlich hilfspo lizeilich ausgerichteter städ tischer Sicherheitsvereine, die unter strikter obrigkeitlicher Anleitung stehen sollten, erlassen worden.32 Schon wenige Wochen und Mona te nach diesen ersten Anfangserfolgen, zu m Teil aber auch schon ansa tzweise im März, zeichneten sich zwei Entwicklungen ab. Zum einen zerbrach die breite Protestfront in mehrere politische Flügel; wäh rend die einen mit dem Erreichten zufrieden waren, streb ten die anderen nach mehr, nach funda mentalen Veränderungen der sozioökono mischen Struk tur d er Gesellschaft. Dies hatte gerade für die Volksbewaffnung unmittelba re Auswirkungen. Zum anderen waren d ie in d er Regel reflexartig gewährten Märzverordnungen wenig präzise gewesen, so d aß es - in erster Linie in Preußen - notwendig wurde, ein vollständ iges und detailliertes Bürgerwehrgesetz auszua rbeiten . Die öffe ntlichen Debatten und Diskussionen in den Pa rlamenten und den politischen Klubs sowie d as p ubli zistische Echo könn en hierbei als Gradmesser fü r d as Wied ererstarken d er alten Kräfte gelten. Nachdem im April und Mai eine Regierungskommission zur Erstellung eines Bürgerwehrgesetzes berufen worden war, wurd e d er Entwurf schließlich Anfang Juli d er Nationalversammlung vorgelegt. l l Die sich unmittelba r d arauf entzündende heftige Diskussion innerhalb wie außerhalb d es Parlamentes wurde noch weiter angefacht, als am 4. August d as Pa rlament die überarbeitete Fassung des Entwurfes der Öffentlichkeit p räsentierte.J.4 Die Diskussion kristallisierte sich an d en Brennpunkten: Aufgabenbereich, soziale Zusammensetzu ng, Anbindung an d ie Obrigkeit. Der Gesetzentwurf d er Regierung sah vor, d aß die Bürgerwehr »d ie verfassungsmäß ige Freiheit und die gesetzliche O rdnung zu schü tzen und bei Vertheidigung des Vaterlandes gegen äußere Feinde mitzuwirken « habe. »Eine Berathung oder Beschlußnahme der Bürgerweh r als solcher über öffentliche Angelegenheiten ist [.. . J ve rbo t en ~~.35 Der »G egenen tw urf~tabula rasa« machen können. Auf der Tagesordnung stand die Erweiterung, nicht eine, und sei es auch nur zeitweilige Einschränkung des bereits errungenen Maßes an Demokratie, etwa in Gestalt einer Diktatur des Proletariats. Deutschland war auch schon zu industrialisiert für einen totalen Bruch mit der Vergangenheit. Rosa Luxemburg irrte sich, als sie am 31. Dezember 1918 auf d em Gründungsparteitag d er Kommunistischen Partei Deutschlands meinte, "geführt durch den Gang der historischen Dialektik und bereichert um die ganze inzwischen zurückgelegte siebzigjährige kapitalistische Entwicklung«, stünd e man nun w ieder an der Stelle, "wo Ma rx und Engels 1848 sta nden, als sie zum ersten Mal d as Banner des internationalen Sozialismus aufrollten. Siebzig Jahre d er großkapitalistischen Entwicklung haben genügt, um uns so weit zu bringen, d aß wir Ernst machen können, den Kapitalismus aus der Welt zu schaffen.« In Wirklichkeit hatte d ie wirtschaftliche und geselJschaftliche Enhvicklung den Bedarf an Kontinuität der alltäglichen öffentlichen Dienstleistungen gewaltig gesteigert und jenen für hochindustrialisierte Gesellschaften bezeichnenden "Anti-Chaos-Reflex« hervorgerufen, den Richard Lö-
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wenthai zu Recht d en objektiv revolutionshemmenden Faktoren von 1918/ 19 zurechnet. 19 Zwischen den d eu tschen Revolution en von 1848 / 49 und 1918/ 19 g ib t es eine Reihe von auffallenden Parallelen oder, wie man auf englisch sagen w ürde, von )' recurrent patterns« . Seide Revolutionen waren in gewisser Weise »ungewollt«, d ie Sozialdemokraten 1918 ebenso Revolutionäre wider Willen wie die Liberalen 1848. Beide Ma le unternahm eine Minderheit den Vers uch, die Wahl zur Nationalversammlung gewaltsam zu verhindern und dies d amit zu rechtfertigen, daß die Gemäßigten die Revolution verraten hätten: Der Heckerpu tsch vom Ap ril 1848 erlebte eine Art Wiederkehr im (mit fragwü rdigem Recht oft "Spa rtakusa ufs tand « genann ten) Berliner Ja nuarau fstand von 1919. Marxens Aufruf zum revolutionären Weltkrieg verwandelte sich in Lenins Weltrevolution. Verändert h atten sich freilich d ie H immelsrichtungen, aus d enen d ie revolutionären und d ie gegenrevolutionä ren Pa ro len kamen. Am Beginn einer europäischen Revolu tionsweUe stand 1848 die Pa riser Februarrevolution, am Ende des Ersten Weltkriegs d ie russische Oktoberrevolution von 1917. Hätte 1848 / 49 ein Weitertreiben d er Revolution zu einer Intervention des autokratischen Rußland geführt, so nach 1918 eine Nachahmung des russischen Beispiels in Deutschland zu einem militärischen Eingreifen d er westlichen Demokratien. Zur Probe au fs Exempel kam es weder im einem noch im anderen Fall . Oie »Machtergreifun g der Extremisten «, in d er Crane Brinton die typische zweite Phase aller großen Revolutionen sieht, fand nicht s tatt. Doch auch als bloße Möglichkeit w ar der Ernstfall in beid en Revolutionen ein politischer Faktor. Er rief Angst hervor und d iente als Mittel, Angst zu schüren: d ie Angst vor der ro ten Revolution, vor Chaos und Bürgerkrieg.20 Der Vergleich läßt sich fortsetzen: 1848 w u rd e der liberalismus d urch d ie Fülle de r zu lösenden Aufgaben ü berfordert, nach 1918 die Sozialdemokratie. Von d en beiden großen Zielen d er Revolution von 1848 w urde eines, die na tionale Einheit, 1871 durch Bismarck verwirklich t, das an dere, d ie politische Freiheit im Sinne eines parla mentarisch regierten Verfassungstaates, ers t 1918 im Gefolge der militä rischen Nied erl age Deu tschlands im Ersten Weltkrieg. Die Verknüpfung von N iederlage un d Demokratie wurde zur sch weren Vorbelastun g der ersten deu tschen Republik. Sie beruhte auf d er wechselseitigen
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Bereitschaft der gemäßigten Kräfte in Arbeiterschaft und Bürgertum, miteinander zusammenzuarbeiten. Doch die freiheitlichen Kräfte im deutschen Bürgertum waren 1918 längst nicht mehr so stark wie 1848, und sie wurden im Verlauf der vierzehn Jahre der Weimarer Republik immer schwächer. Zuletzt stand die Sozialdemokratie im Kampf um die Erhaltung der Demokratie nahezu isoliert da: von der Rechten des nationalen Verrats, von den Kommunisten des Klassenverrats bezichtigt. Die Demokratie gegen eine Mehrheit zu verteidigen, die die Demokratie im Grunde nicht wollte, und sich zugleich am eigenen Anspruch auf die Verwirklichung von mehr sozialer Gerechtigkeit messen lassen zu müssen: Rudolf Hilferding hat im Sommer 1931 diese Herausforderung mit der Quadratur des Kreises verglichen und von einer »tragischen Situation« der Sozialdemokratie gesprochen.2\ Am Ende kommen wir wohl auch bei der Betrachtung der Revolution von 1848 um den vielmißbrauchten Begriff der Tragik nicht herum. Stadelmann hat in seinem eingangs zitierten, 1946, ein Jahr nach dem Zusammenbruch der nationalsozialistischen Herrschaft, verfaßten und zwei Jahre später veröffentlichen Aufsatz das ),Scheitern der 48er Bewegung« verhängnisvoll für die politische Entwicklung der Deutschen genannt und dieses Urteil mit einer Metapher zu begründen versucht: »Das Gift einer unausgetragenen, verschleppten Krise kreist von 1850 ab im Körper des deutschen Volkes. Es war die typische Krankheit des >Landes ohne Revolutionw.22 Das Scheitern der Revolution von 1848 hat die Wirkungen gehabt, die Stadelmann beschreibt: Es ist einer der Gründe für die Schwäche der freiheitlichen Traditionen im Deutschland des 20. Jahrhunderts oder, um denselben Sachverhalt anders auszudrucken, die obrigkeitliche Verformung großer Teile des deutschen Bürgertums oder, noch schärfer, die Brechung des liberalen Selbstbewußtseins. Und doch greift Stadelmanns Verdikt zu kurz. Denn wenn wir ernst nehmen, was die wirklichen (und nicht nur widerwilligen) Revolutionäre von 1848 wollten, müssen wir auch nach den Kosten d es denkbaren Erfolgs dieser Revolution fragen . Ohne einen großen europäischen Krieg wäre dieser Erfolg schwerlich zu sichern gewesen. Wollen wir die gemäßigten Liberalen dafür tadeln, daß sie, bei allen ausufernden Visionen von künftiger deutscher Hegemonie, vor dieser Konsequenz zurückschreckten?
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Aus dem Rückblick von eineinhalb Jahrhunderten haben wir vielleicht die Chance, differenzierter zu urteilen, als manche Historiker es 1948, hundert Jahre nach der Revolution, taten . Damals stand die »deutsche Katastrophe«, wie Friedrich Meinecke die Zeit des Nationalsozialismus genannt hat, ganz im Vordergrund der Betrachtung. Die zwölf Jahre von 1933 bis 1945 bleiben das zentrale Ereignis der deutschen Geschichte im 20. Jahrhundert. Im kollektiven Gedächtnis der Deutschen wirkt diese Zeit bis heute nach als das große ),argumenturn e contra rio« für die westliche Demokratie, die viele Deutsche so lange verachten zu können meinten. Eben daraus ergibt sich ein paradoxer Effekt, der 1948 noch nicht erkennbar war: Der Erinnerung an das »Dritte Reich «, die extremste Form der deutschen Auflehnung gegen die Demokratie, kommt im Gesamtzusammenhang der deutschen Geschichte eine ähnliche Bedeutung zu wie bei anderen Nationen die Erinnerung an eine erfolgreiche Revolution. Es is t eine Erinnerung, die die Demokratie festigt. 23 Die Verfasser der Säkularbetrachtungen von 1948 konnten nur auf eine deutsche Demokratie, die gescheiterte Republik von Weimar, zurückblicken. Wir kennen mittlerweile auch die vielzitierte Erfolgsgeschichte der zweiten deutschen Demokratie, die bis 1990 freilich nur eine westdeutsche Demokratie war. Daß sie heute eine gesamtdeutsche Demokratie ist, hat seine Ursache nicht nur im Zusammenbruch des sowjetischen lmperiums. Zum Endc der z",citcn dcutschcn Diktatur trugen a.uch
jene Zehntausende bei, die der Partei- und Staatsführung der DDR im Herbst 1989 das selbstbewußte Wort entgegenriefen: ))Wir sind das Volk«! Der Begriff »Revolution(, mag für die Ereignisse von 1989/90 zu hoch gegriffen sein. Aber das Ergebnis des Umbruchs ist die Verwirklichung dessen, was die Träger der Revolution von 1848 erstrebten: Einheit in Freiheit.
AnmerklllTgell 1 Rudolf Stadelmann, Deutschland und die westeuropäischen Revolutionen, in: Ders., Deutschland und Westeuropa. Drei Aufsätze, Laupheim 1948,5. 11-34, hier 5. 14; Ders., Soziale und politische Geschichte der Revolution von 1848, München 11948 e I970).
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2 Wolfgang Schieder, 1848/ 49: Die ungewollte Revolution, in: Carola Stern / Heinrich August Wmkler (Hg.), Wendepunkte deu tsche r Geschichte 184 ~ 1990, Frankfurt/ M. 1994, S. 17-42; Michael Neumüller, Liberalismus und Revolution. Das Problem der Revolution in der deutschen libera len Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts, Düsseldorf 1963; Hartwig Brandt, Die Julirevolution (1830) und die Rezeption der .. prinicipes de 1789.. in Deutschland, in: Roger Dufraisse (Hg.), Revolution und Gegenrevolution 1789-1830. Zur geistigen Auseinandersetzung in Frankreich und Deutschland, München 1991, S. 225-235. 3 Heinrich von Sybel, Die politischen Parteien der Rheinprovinz, in ihrem Verhältniß zur preußischen Verfassung, Düsseldorf 1847, S. 63, 81 f., 59, 54 (in der Reihenfolge der Zitate; Hervorhebung im Original). 4 Manfred Meyer, Freiheit und Macht. Studien zum Nationalis mus süddeutscher, insbesondere badischer Liberaler 1830-1848, Frankfurt/ M. 1994, S. 149 (Rotteck); Irmline Veit·Brause, Die deutsch-französische Krise \'on 1840. Studien zur deutschen Einheitsbewegung, Diss. Köln 1967; HansUlrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 2: Von der Reformära bis zur industriellen und politischen .. Deutschen Ooppelrevolution .. von 1815-1845/49, München 1987, S. 125 ff. 5 Hans Rothfels, 1848 - One Hundred Years After, in: The Journal of Modem His tory 20 (1984), S. 291 - 319; Ders., Das erste Scheitern des Nationalstaates in Ost·Mittel-Europa 1848/ 49, in: Ders., Zeitgeschichtliche Betrachtungen, Göttingen 1959. 5.40-53. 6 Veit Valentin, Geschichte der deutschen Revolution 1848-1849, 2 Bde. (' 1931/32) ND, Bd. 2, Köln 1970, S.95ff.; Manfred Botzenhart, Deutsche r Parlamentarismus in der Revolutionszeit 1 84~1850, Düsseldorf 19n, 5. 184 H.; Ernst Rudolf Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. 2: Der Kampf um Einheit und Freiheit 1830 bis 1850, Stuttgart )1988, 5. 587 H. 7 Ste nographischer Bericht übe r die Verhandlungen de r deutschen cons tituierenden Nationalversammlung zu Frankfurt am Main. Hg. auf Beschluß der Nationalversammlung durch die Redactions-Commission u. in deren Auftrag v. Prof. Franz Wiga rd, 9 Bde., Leipzig 1948/ 49, Bei. 6, S. 4596 (Beckerath), 4626 (Beseler). 8 Joseph Hansen, Gus ta v von Mevissen. Ein rheinisches Lebensbild 1815-1899, Bd . 2, Bonn 1906, S. 448 (Brief an Georg Mallinckrodt); Stenographische r Bericht, Bd . 6, S. 4096 f. (Dahlmann); Manfred Botzenhart, Das preußische Parlament und die deutsche Nationalversammlung im Jahre 1848, in : Gerhard A. Ritte r (Hg.), Regierung, Bürokratie und Parlament in Preußen und Deutschland von 1848 bis zur Gegenwart, Düsseldorf 1983, S. 14 10. 9 Günter Wollstein, Das "Großdeutschland .. der Pauls kirche. Nationale Ziele in der bürgerlichen Revolution 1848/ 49, Düsseldorf 1977; Rudolf Lill, GroBde utsch und kleindeu tsch im Spannungsfeld de r Konfessionen, in : Anton Rausche r (Hg.), Probleme des Konfessionalis mus in Deutschland seit 1800, Paderbom 1984, 5. 29-47; Peter Borowsky, Was ist Deutschland? Wer is t de utsch? Die Debatte zur nationalen Identität in de r de utschen Na· tionalversammlung in Frankfurt und der preußischen Nationalversamm· lung zu Berlin, in: Bemd-Jürgen Wendt (Hg.), Vom schwierigen Zusammen-
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wachsen der Deutschen. Nationale Identität und Nationalismus im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt / M. 1992, 5.81-85; Wolfram Siemann, Die deut· sehe Revolution von 1848/ 49, Frankfurt/ M. 1985.5.192 ff .. 10 Valentin. Geschichte, Bd. l, S. 46 ff.; Franz X. Vollmer, Die 48er Revolution in Baden. in: losef Hecker u . a., Badische Geschichte. Vom Großherwgtum bis zur Gegenwart, Stuttgart 1979, S. 37-64. 11 Verhandlungen der Versammlung zur Vereinbarung der Preußischen Staats-VerfassunSt 3 Bde., Beflin 1848, Bd . 1, 5.417 (Waldeck, 11.7.1848), Bd . 3, S. 292 f. (Waldegleichen frühe Ve rfassungen wie die .. türkisch e « Verfassung in Serbien von 1838 oder der serbische )}Sabor«, ein
Parlament, das allerdings zwischen 1843 und 1858 nur ein einziges Mal, eben im Jahre 1848 tagte und sich längst vor der ersten Verfassung, nämlich aus Repräsentantenversammlungen entwickelt hatte - so stellten Erscheinungen dieser Art weniger Ähnlichkeiten mit westlicher Modeme dar als eigenständige, unter Umständen auch verfehlte und so gar nicht beabSichtigte, womöglich auch manipulativ-instrumentell gedachte Schöpfungen. Eine Variantenbildung dieser Art, hinter der sich im Extremfall sogar - sei es planvoll herbeigeführt oder als Resultat der regional besonderen Entwicklungsmöglichkeiten - das Gegenteil des betreffenden modernen, westlichen Bezugsobjekts verbirgt, kann nur unter Berücksichtigung des politischgesellschaftlichen Kontextes einem sinnvollen Vergleich unterzogen werden.8 Die politisch-konstitutionelle Landschaft in Europas Osten
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jedenfalls entsprach in vielem nicht den Vorstellungen, die man sich von den Bedingungen des europäischen Modernisierungsprozesses dieser Zeit macht. Ganz abgesehen davon, daß - w. o. erwähnt - die als Träger in Frage kommenden Großgruppen weder staatlich noch territorial definiert waren und daß insgesamt der Prozeß nationaler Identitätsbildung weithin noch im Anfangsstadium steckte, fehlte es auch an den wirtschaftlichgesellschaftlichen Voraussetzungen. Balkanische Bauerngesellschaften, bipolare Agrarordnungen mit der Grundherr-Kolon bzw. Kmet-Konstellation sowie eine Mehrheit abhängiger Bauern - diese soziale Struktur entsprach den EXistenzbedingungen des westeuropäischen Modernisierungsprozesses ebensowenig wie eine Gesellschaft ohne die nötige Trägerschicht, sei es bürgerlicher Mittelstand oder AdeL Immerhin ist einzuräumen, daß politisch-kulturelle und Wirtschaftlich-gesellschaftliche Strukturelemente dieser Art zumindest zeitweilig übersprungen oder überhaupt funktional ersetzt werden konnten . Dies konnte durch situative Vorbildwirkung, wie sie vom griechischen Unabhängigkeitskampf und von d en polnischen Aufständen, vor allem von der Pariser Julirevolution und den belgischen Unruhen im August 1830 ausstrahlte, ebenso geschehen wie durch außenpolitische Veränderungen. Diese begünstigten den serbischen bzw. den griechischen Unabhängigkeitskampf, als das Osmanische Reich zunächst durch Rußland, ferner durch Aufstände in Mesopotamien und Arabien, später durch eine Allianz der Großmächte anderweitig unter Druck gesetzt wurde. Mit Vorbehalten dieser Art lassen sich die politisch-gesellschaftlichen Verhältnisse d es östlichen Europa im frühen 19. Jahrhundert durch die Beobachtung charakterisieren, daß ihnen weniger der gesellschaftliche Wandel und das Verlangen nach einer rechtlich abgesicherten Verfassungsordnung seitens einer ansatzweise politisierten Öffentlichkeit den Stempel aufdrückten; es handelte sich hier eher um die weitgehend traditionellen Formen von Verweigerung gegenüber fremder Loyalitätsforderung, die mit einem neuen Interesse adliger oder f und intellektueller Eliten an nationaler Identität einhergehen konnten. Es war - kurz und zugespitzt ausgedrückt - weniger politischer Modemisierungsd ruck als nationales Autonomiestreben, das auch im Osten Europas am Ausgang der vierziger Jahre eine neue Veränderungsdynamik hervorbrachte. Am Beispiel
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zunäch st üstmitteleuropas im engeren Sinne, vor allem des tschechischen Falles, sodann im kurzgefaßten Vergleich mit Osteuropa insgesamt sei dies im folgenden näher betrachtet.
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Daß die revolutionäre Entwicklung in den Ländern der böhmi· sehen Krone seit März 18489 im soeben erwähnten Sinne nicht nur von den Ereignissen in Frankreich und in Deutschmitteleu· ropa beeinOußt war, sond ern Besonderheiten aufwies, sollte sich sehr schnell zeigen. So klar hier auch als konstitutive Tendenzen die Ausformung einer Bürgergesellscha ft und d as Selbstbestimmungsstreben einer Nation hervortraten, so unübersehbar waren gewisse Eigenheiten. Auch wenn d as wirtschaftlich-gesellschaftliche Erscheinungsbild Böhmens im 19. Jahrhundert d emjen igen Deutschmitteleuropa s in hohem Maße glich - in einem besond eren Licht steht doch vor allem die Frage nach dem Subjekt, nach den Trägern der Ereignisse von 1848, ihrem Selbstverständnis und ihren Zielen. Zwar wich di e sozial-strukturelle Zusam mensetzung auch der Bevölkerung Prags als wichtigstem Schauplatz d es böhmischen »1848« ni cht wesentlich von deutschmitte leuropäischen Verhältnissen
ab; vor allem hatten sich bereits bürgerliche Mittelschichten herauszubilden begonnen . Aber gewisse Eigenheiten ließen diese Anfänge sozialer Modernisierung doch erkennen - gegenüber deutschmitteleuropäischen, zugleich auch ostmitteleuropäischen Parallelen. So bahnte sich in jedem der böhmischen Länder geWisserma ßen eine Verd opplung des Modernisierungsprozesses an. Auf ein- und demselben Territorium traten - vielfach miteinander konkurrierend - jeweils eine tschechische und eine deutsche Verbürgerlichungstendenz zutage. Diese Prozesse waren weder territorial kompakt, noch umfaßten sie je einen klar abgegrenzten TeiJ der böhmischen Länder, zumal die zug rundeliegende nationale Rivalität noch nicht voll ausgeb ildet war. Selbst ein nur ansa tzweise systematisch strukturierte r, kurzer Blick auf den Ereignisablauf von 1848/49 in Böhmen 10 zeigt, daß die Cha rakterisierung als »Revolution« nur begrenzt auf
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eine entsprechende Dramatik gegründet werden kann . Abgesehen von situ ativen Zuspitzungen und den Prager »Pfingstunruhen« Mitte Juni 1848 handelte es sich nicht um ein revolutionä res Geschehen im Sinne langdauernder Barrikadenkämpfe, mit Massenmobilisierung und -radikalisierung. Vor allem kam es nicht z u anhaltender Teilnahme der städtischen Unterschichten und der Landbevölkerung. Wie diese soziale Grenze zum Mas5ellphänomen nicht überwunden wurde, so auch nicht diejenige zwischen Stad t und Land. Daher könnte man für einen G roßteil des Geschehens eher von »Prager Revolution« sprechen als von »Böhmischer Revolution«. Insofern stellte sie von ihrer Ereignisgestalt, aber auch von ihrem programmatischen Profil her keineswegs eine voll ausgebildete Parallele zur Revolution, genauer: zu den drei Aufständen in Wien dar. Die initialzünd ung der Mobilisierungs- und Homogenisierungsimpul se war auch nicht stark genug, um die historischen Grenzen zwischen den Ländern der Wenzelskrone, zw ischen Böhmen, Mähren und Österreichisch-Schlesien zu überspringen. Dennoch wäre es unberechtigt, dieses Geschehen im Sinne des Klischees »weit d ahinten im Osten« gewissermaßen zu exotisieren; weder die kleindeutsche Sichtweise d es Bismarckstaates noch diejenige des Ost-West-Blockdenkens, d ie beide noch immer nachwirken, werden den besonderen ostmitteIeuropäischen Verhältnissen gerecht. Die Prager Ereignisse von 1848/49 spielten sich nicht irgendwo im Dämmerlicht eines düster-unbegreiflichen Ostens ab, sondern geographisch und zug leich politisch in nächster Nähe Wiens als damaligen mitteleuropä ischen Zentrums. So ist es ein wichtiger Teilaspekt des sei t d em Ende des Blockgegensatzes in Gang gekommenen politisch-historischen Umdenkens, wenn auch am Beispiel »1848" über die böhmischen Länder als Teil Mitteleuropas, überhaupt über das östliche Mitteleuropa nachgedacht wird. Eine dieser Art erneuerte Verortung im au thentischen zeitgenössischen Kontext legt - trotz der w. o. envähnten Einwände - die Auffassung nahe, es habe sich nicht nur um d ie eher zufä lli ge Ähnlichkeit eines Randphänomens gehandelt, sondern um einen konstitutiven Bestandteil der staaten- und völkerübergreifenden, in sich zusammenhängenden europäischen Revolution . Deren bestimmende Inhalts- und Strukturelemente sind auch in der böhmischen Revol ution anzutreffen. So ist im Hinblick auf die eigentliche Prager Revolutionsphase zwischen März und Juni 1848,
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also zwischen »Wenzelsbad· Versammlung« als Auftakt und d er Nied ersc hlagung d er Pfingstunruhen als negativer strategi. scher Entscheidung, geradezu eine hochgradige Übereinstimmung gegeben. Dieser Einschätzung widerspricht nicht d er Umstand, daß es während d er weiteren Entwicklung bis zur Auflösung des verfassunggebenden Kremsierer Reichs tags und schließlich dem Ausnahmezus tand in Prag am 7. Mä rz bzw. 10. Mai 1849 zu Vorgängen und Gestaltungen anderer Art gekommen ist. Sie können in höherem Maße als Ausdruck der Landes- und der überg reifenden Reichspolitik verstanden werden. Verglichen etwa mit den dram a ti schen Auseinand ersetzungen auf d en Straßen d er Hauptstadt des Habsburgerreiches, besond ers im März / Mai und bereits unter proletarischer Beteiligung im Oktober 1848, han delte es sich beim Aufta kt d er böhmischen Revolution im Prager Wenzelsbad eher um eine durchaus n icht um stürzlerische Protest- und Petitionskundgebung. Ihre prog rammatischen Bekundungen bilden zusammen mit d em ablehnend en Antwor tschreiben d es Histo rikers Fra nti~e k Pa lacky, den der Fünfzigerausschuß d er d eutschen Nationalbewegung eingelad en hatte, an d en Vo rberei tungen für eine d eutsche Nationalversa mmlung mitzuwirken, gewissermaßen d en konzeptionellen Kern jener früh en tschechischen Po litik: Der Politisierungsschub von März/ Ap ril gewann so erste inhaltliche Kontu ren. Auch ers te o rganisatorische Ergebnisse traten zutage: So wurde als erstes G lied einer langen Kette na ti onaler Organisa tionsbemühungen, d ie mit dem tschechoslowakischen »Na ti onalrat« von 1916/ 18 ihren Abschl uß finden sollten, ein tschechischer »Nationalausschu ß« geschaffen. Eine weitere, ausgesproch en konfliktträchtige frühe Folge d er Debatten, die sich aus der Wenzelsbad-Kundgebung trotz d er Teilnahme auch deu tscher Bürger ergaben, war die beginnende Nati onalisierung d es deutsch-tschechischen Zusa mmenlebens. Auch wenn regelrechte kollektive Verfeind u ng d am it noch nicht vorprogrammiert war, so rückte doch ein künftighin prägendes Problem auf die Tagesordnung. Die Zeit d es his torisch gewachsenen böhmischen Landespatriotismus war abgelau fen , und die kultureJl·intellektuellen Bestrebungen »nationaler Wied ergeburt« (»Narodni obrozeni«) erfuhren ihre Metam o rphose zum Politischen. Vorbe reitet ha tte sich dies kulturell schon seit d em späten l a. Jahrhundert, und im frühen 19. Jahrhundert wa-
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ren im Vergleich und im Wettstreit mit dem zu dieser Zeit in Prag noch d ominierenden deutschen Element sprachliches und politisches Selbstbewußtsein der Tschechen geformt worden. Verstärkt durch den Generationswechsel in den tschechischen Führungsschichten seit den frühen vierziger Jahren, wurde daraus eine unumkehrbare Tendenz, die eben 1848 endlich auch mit politischer Schubkraft ausgestattet wurde: Eine Wechselbeziehung zwischen - erst jetzt gesicherter - tschechischer nationaler Identität und übergreifendem Modemisierungsprozeß, die beide Elemente so eng aneinanderband, daß sie in gewissem Maße austauschbar werden sollten. So vorteilhaft, womöglich sogar notwendig diese Kombination für die Entfaltung der tschechischen Nation auch wurdesie erwies sich zugleich als Verhängnis: die Deutschen gerieten im eigenen Lande unabhängig von ihrem tatsächlichen Verhalten als Verkörperung des Deutschen überhaupt, an dem man sich zugleich maß und rieb, in die Rolle geWissermaßen eines für die tschechische nationale Entwicklung prägenden negativen Bezugspunktes, einer Art negativen Elitenersatzes. Es war die Einsicht in dieses Zerbrechen einer bisher überwiegend symbiotischen Konstellation tschechischer und deutscher Bevölkerung in Böhmen, was Palackys paradigmatisch bedeutsame Distanzierung von Parlament und Staat der Deutschen bedingte. Wirkungsmächtiger als die im Laufe des Jahrhunderts sich aufstauenden gegenseitigen Vorurteile und Aggressionen sollte dieser funktional notwendige Sachverhalt werden, daß sich die, eben 1848 erst zur Entfaltung kommende tschechische Nationsbildung von Anfang an in Auseinandersetzung mit der vorauslaufenden, beeindruckenden und sogleich bedrohlichen deutschen Parallele herausbildete. Damit war die Zeit vorbei, in der böhmischer Landespatriotismus und romantischer Slawismus, Loyalität zum Hause ÖSterreich und Beschwörung des historischen böhmischen Staatsrechtes nebeneinander hatten existieren können. Zwar erkannten nationalpolitische Meinungsführer wie Palacky und Karel Havlicek Borovsky noch vor 1848, wie illusionär alle Vorstellungen von slawischer Solid arität waren. Es war ihnen auch nicht verborgen geblieben, wie schwer es fallen mußte, einen historisch hergeleiteten Anspruch auf böhmische Staa tlichkeit durchzusetzen. Aber unübersehbar war angesichts des Politisierungsschubs, den ,,1848« zumindest den größeren Städten brachte, zug leich dies:
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es wurde als ein Zeichen der Zeit aufgefaBt, daß die Absage an böhmischen Landespatriotismus, an übemational·humanistisehe Harmonieappelle, gleichermaßen an Panslawismus und russische Verlockung, nun nicht mehr einen Verzicht auf volle Entfaltung der eigenen Nation nach sich zog. Angesichts des
gewandelten Zeitgeistes von 1848 und besonders der ungarischen und polnischen Vorbilder nebenan war diese Orientierung durchaus selbstverständlich, und doch führte sie nicht zu entsprechend klaren Positionen bei der anstehenden nationalpolitischen Programmdiskussion. Die Forderungen der Prager Petitionsbewegung blieben daher bei den Belangen tschechisch-deu tschen Zusammenlebens sowie der künftigen Beziehung zu Wien strittig bzw. unabgeschlossen-vage. Aber ähnlich klar wie Palackys Verweigerung gegenüber einem nationalen Deutschland waren auch die Petita der Wenzelsbad-Versammlung, insofern es um den gemeinsamen politisch-freiheitlichen Kanon der europäischen Revolution ging. Man forderte in erster Linie das Ende der Mettemichschen Epigonie eines überlebten Absolutismus, in Böhmen des Ständesystems; wichtigste Anliegen waren Verfassung und bürgerliche Freiheitsrechte, femer die Liberalisierung in Bereichen wie Justizwesen, Versamm lungsrecht und Presse; weitgehend bekannte man sich auch zum Abschluß der Bauembefreiung. Aber so klar dieses Bekenntnis zur eigenen Nation und ihrer Entfaltung in den Kategorien d es Sturmjahrcs 1848 auch crscheint, so zaudcr-nd und
vorläufig blieb doch die na tionalpolitische Ku rsbestimmung darüber hinaus. Dieses Moment des Zaudems, des offenkundigen Zurückschreckens vor naheliegenden Folgerungen aus prinzipiellen Erkenntnissen war nicht nur Ausdruck einer Zeit beschleunigter Veränderungen, die wenig Gelegenheit zu abgeklärter Programmarbeit gegeben hätte - es hat mehr mit Genesis und charakteristischer Konstellation tschechischer nationaler Politik in Böhmen zu tun. Beides war in hohem Maße von der Einsicht in die Übermacht der Verhältnisse bestimmt. Die Protagonisten tschechischer nationaler Politik, welche als solche bis 1848 ohneh in nur Sache einer Minderheit gewesen war, befanden sich zwar auf der Höhe ihrer Zeit, was die Reflexion über Möglichkeiten kulturell-nationaler Identitäts- und kollektiver Willensbildung betraf, die trotz politischer Ohnmacht gegeben waren. Sie ließen sich vom pragmatischen Selbstbehauptungsstreben
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des englischen Bürgertums, von Konzepten des englischen liberalismus für kompromißorientierte Beteiligung des Bürgertums an der Macht mehr noch inspirieren als von der Radikalisierung des französischen Konstitutionalismus;ll schließlich hatte man sich in der vorpolitischen Phase der zwanziger und dreißiger Jahre an Wunschbildern urslawischer Zustände, besonders slawischer Demo kratie, geradezu berauscht, hatte man zudem Erwartungen in ein slawisiertes Österreich und in allslawische Gemeinschaft gesetzt. Aber der systematisch durchdachte Gegenentwurf zur abgelehnten Realität einer innenund außenpolitisch, finanziell und herrschaftstechnisch in die Krise geratenen Monarchie, die außer der Selbsterhaltungsraison des Hauses ÖSterreich kaum noch über eine Staatsidee verfügte, ferner der Gegenentwurf zu den unzureichenden Reformofferten des böhmischen Adels, die lediglich eine gewisse bürgerliche Erweiterung der überlebten Ständeordnung vorsahen -dies alles wurde nicht in seiner vollen systematischen Entfaltung präsentiert. So stellte es von vorneherein einen Akt des Zurückschreckens vor entschiedenen politisch-konstitutionellen und sozialen Reformforderungen dar, daß in der ersten Wenzelsbad-Petition vom 11 . März 1848 nicht innen-, sondern nationalitäten politischen Postulaten der Vorrang eingeräumt wurde. Mit Nachdruck wurde eine Verfassungsgarantie für die Gleichstellung aller Nationalitäten der Monarchie gefordert, während insgesamt für die tschechische Debatte über das Verhältnis zu den Deutschen in Böhmen selbst eine gewisse Unentschiedenheit charakteristisch war. Es handelte sich um ein Schwanken des national politischen Denkens zwischen konkurrierenden grundsätzlichen Auffassungen, die um 1848 weitgehend durch Palacky einerseits, andererseits Havlicek Borovsky als Angehörigem einer jungen, nicht mehr universalistisch-humanistisch geprägten Intellektuellengeneration verkörpert werden : um das »Schwanken zwischen dem historischen Staatsrecht (mit der Priorität der Tschechen und der tschechischen Sprache bei Havlicek) und der Autonomie und dem Naturrecht (Palackys Gleichberechtigung bei der Landessprachen) ~(. 12
Ein gewisses Zurückschrecken vor der Rolle der TItularnalion eines selbständigen Staatswesens stellte die Forderung nach Ausdehnung des Prinzips der individuellen Gleichberechtigung auf die Ebene der Gleichberechtigung von Nationalitä-
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ten dar. Auf der gleichen Linie bewegten sich - als Zentrum der nationalitätenpolitischen Debatte - die sprach- und verwaltungspolitischen Vorschläge dieser Zeit. Im April 1848 trat selbst ein führender Vertreter der entschiedeneren Richtung HavHceks, Vaclav Tornek, in diesem Sinne hervor: 1J anders als gleichzeitig die ungarische Nationalbewegung und ihre Nationalitätenpolitik beharrte Tomek auf weitgehender Zweisprachigkeit in Bildungswesen und Staatsverwaltung Böhmens. Verbunden hiermit waren in der ersten Wenzelsbad-Petition staatsrechtliche Forderungen, die - wiederum in Anpassung an den Status quo - nicht etwa der nationalen Staatsbildung galten, sondern einer Art realistischen Umbaus der Habsburgermonarchie. Und auch hier erweist ein Vergleich mit der ungarischen Problematik, wie ausgeprägt eine innere Unsicherheit, vielleicht auch unpraktisch-idealistische und politisch unerfahrene Haltung der tschechischen Wortführer war. Während die ungarische Fronde die Restituierung der historischen Staatlichkeit forderte, zugleich aber eine Stellungnahme zur Loyalitätserwartung der Krone und zu den Vorstellungen anderer Nationalitäten vermied, engten tschechische Politiker durch vorzeitige Stellungnahmen ihren reformpolitischen Spielraum ohne Not selbst ein. Sie legten sich weitgehend auf das Konzept eines österreichisch-ungarisch-tschechischen Trialismus fest. H Er sollte zudem die nationale Integration von Böhmen, Mähren und Schlesien als Ländern der We n zelskrone unte r einem Vize-
könig - ausdrücklich: aus der herrschenden Dynastie - ermöglichen. Stärker kam der reformerische Impetus der Wenzelsbad-Versammlung bei den im engeren Sinne verfassungspolitischen Forderungen zur Wirkung, etwa durch das Beharren auf eine wesentliche Erweiterung und Veränderung des Ständelandtages durch die Wahl von Vertretern der Städte und Landgemeinden. Auch die - bereits erwähnten - staatsrechtlichen und nationalitätenpolitischen Forderungen nach engerem Zusammenschluß der böhmischen Länder unter Aufwertung Prags enthielten nach den Maßstäben des zeitgenössischen österreichischen Liberalismus einen massiven Modemisierungs im puls: sie zielten auf gemeinsame Institutionen der Länder der Wenzelskrone als Mittel nationaler Integration. Die weitere Entwicklung der Petitionsbewegung, so etwa Palackys Landtagsinitiative von Anfang Mai, bewies eine entschiedene Stoßrich-
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tung. Es ging um Liberalisierung der ständischen Institutionen und um Abwehr des Plans einflußreicher adliger Reformer und des böhmischen Gubernalpräsidenten Leopold Graf Thun-Hohenstein, ÖSterreich lediglich nach Maßgabe eines historisch hergeleiteten Kronländerföderalismus umzugestalten - ohne echte Reform d er ständischen Vertretungskörperschaften und ohne volle Gleichstellung der Tschechen mit den Deutschen.
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Trotz alledem wurde es für den weiteren Verlauf und die Ergebnisse der bö hmischen Revolution charakteristisch, daß sich schon im April ein Kompromiß mit den adligen Reformern anbahnte. Nach Graf Thuns Vorstellungen wurde die organisatorische Plattform der Revolution, der Wenzelsbad-Ausschuß, durch Umformung zum tschechischen "Nationalausschuß « entschärft und eingebunden in den Kurs des Gouverneurs. Diesem gelang es, die tschechischen Wortführer des Wandels dadurch für sich einzunehmen, daß er gegen den - für die tschechische Bewegung gefährlichen - Zentralismus der stärker werdenden Wiener Linken eine Allianz anbot. Weitere Umstände, welche - in krassem Unterschied zur ungarischen Nationalbewegung - deren tschechisches Pendant bremsten: zunächst als äußeres Moment die nationalpolitische Dynamik Frankfurts, die ihrerseits eine Verschärfung der Wiener Zentralisierungsbestrebungen nach sich zog; außerdem machte sich als internes Hindernis allmählich bemerkbar, daß sich die tschechische Nationalbewegung weder in Schlesien noch in Mähren schon voll durchsetzen konn te - in Schlesien überhaupt nicht, in Mähren wiederum kristallisierte sich eine pragmatischere Variante heraus, die auf Distanz zu den staatsrechtlichen Forderungen nach trialistischer Zusammenfassung der böhmischen Länder und Zentralisierung ihres politischen Lebens ging. ln dieses Bild einer unter der Übermacht widriger Existenzbedingungen von Anfang an abgewandelten böhmischen Revolution fügte sich auch die innenpo litische Komponente ihrer Progra mmatik. Trotz des Bewußtseins in der Wenzelsbad-Versammlung, daß ein möglichst breiter Konsens vom liberalen Bürgertum über
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die Studenten bis hin zum städtischen Kleinbürgertum und den Bauern nötig sei, blieb die insofern naheliegende, weithin pro· pagierte Forderung nach vollständiger Bauernbefreiung doch nicht unumstritten . Gegenläufig zur gleichzeitigen sozialen Ra· dikalisierung der Wiener Revolution kam es beispielsweise schon am 13./ 14. März im sogenannten Pinkas·Entwurf der Pe· titionskampagne zu einer Abschwächung der ursprünglichen Forderung nach völliger Beseitigung der Feudallasten, als nur noch eine Verbesserung der Lebensverhälmisse angemahnt wurde. Zunächst wurde der anfängliche Einfluß der vergleichs· weise radikalen Prager »RepeaHsten« durch wachsende Präsenz des begüterten Bürgertums in der tschechischen Nationalbewegung gebremst. 15 Dann nahm im April Gouverneur Graf Thun der Nationalbewegung die Initiative aus der Hand . Es war nur eine kurze Phase, zwischen 11 . März und etwa Mitte April 1848, während der - analog zur Entwicklung in Wien, wo zwischen 13. und 15. März das System Metternich sein Ende fand - in Böhmen die Revolution in Gestalt des Wenzels-Ausschusses von großen Teilen der Bevölkerung tatsächlich als Re-präsentantin der Nation betrachtet wurde. Auch im Urteil des Ho fes erfuhr sie alsbald eine deutliche Herabstufung - vor allem im Vergleich zur ungarischen Nationalbewegung. Zwar konnte die allerseits bedrängte Krone nach der erzwungenen Annäherung an das konstitutionelle Prinzip von der ungarischen Nationalbewegung am 16. März zur indirekten Sanktionierung der ungarischen Autonomie gedrängt werden, zwar schufen ferner am 18./22. März Aufstände in Mailand und Ve· nedig sowie am 23. März Sardiniens Kriegserklärung eine wei· tere Front und nahm die Herausforderung seitens Frankfurts immer deutlichere inhaltliche Konturen an. Dennoch vermochte die Krone gegenüber der böhmischen Petitionsbewegung eine ausweichend·abwehrende Position aufrechtzuerhalten: in der Antwort vom 8. April, welche unter dem Eindruck der be· ginnenden Vorbereitungen für Wahlen zum böhmischen landtag und zum ästerreichischen Reichstag erfolgte, verpflichtete sich die Regierung nicht zu einer realistischen Reichsreform, auch nicht zur Einheit der böhmischen Länder und entsprechenden konstitutionel1en Einrichtungen. 1m wesentlichen anerkannte sie lediglich die konkreten nationalitäten politischen Anliegen der Petition, also vor allem die Gleichstellung der Na· tionalitäten und damit die Aufwertung der tschechischen
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Sprache. Selbst den Anschein einer Zustimmung zu den staatsrechtlichen Anspruchen der Tschechen suchte sie zu vermeiden, indem sie nur indirekt, nur durch Hinweis auf zentrale Institutionen, von einer Zusammengehörigkeit der Länder der böhmischen Krone sprach: einer Analogie zu dem Entgegenkommen gegenüber den »Ländern der Stephanskrone« beugte man auch dadurch vor, daß nicht von den »Ländern der Wenzelskrone« , sondern nur vom »Königreich Böhmen« gesp rochen wurde. 16 Die Prager Deputation nahm das ebenso hin, wie die Unterscheidung zwischen - verweigertem - verantwortlichem Ministerium und gemeinsamem Parlament der böhmischen Länder und andererseits - in Aussicht gestellten - Landesinstitutionen nur für Böhmen. Daß sich also die Krone sogar in dieser Schwächephase nur in sehr begrenztem Umfang zu einem Entgegenkommen bereitfand , wurde mH jener Kompromißbereitschaft hingenommen, welche der böhmischen Revolution von Anfang an eigen war. Daran ändert auch die Tatsache nichts, daß es - im Zusammenhang mit einer zweiten revolutionären Welle in Wien im Maiseit Monatsanfang in Prag erneut zu Unruhen kam. Damit war nun auch die Radikalisierung von Arbeitern verbunden, zugleich die ers tmals signifikante Verschlechterung des tschechisch-deutschen Verhältnisses in Prag, nachdem ein Versöhnungsfest im königlichen Wildgarten am 25. Mai gescheitert war. Vorkommnisse dieser Art konnten die mittlerweile ausgetestete und einvernehmlich verabredete Strukturierung der politisch-gesellschaftlichen Machtaus übung nicht mehr gefährden. Es blieb bei dem Arrangement zwischen Gouverneur Thun und dem tschechischen Nationa lausschuß bzw. dem adlig-bürger lichen InteressenkarteU des »Provisorischen Regierenden Rates«. Dieses hatte Thun am 28. Mai unter Einbeziehung führender tschechischer Politiker wie Palacky und F ranti~ek Rieger ins Leben gerufen. Obwohl die tschechische Öffentlichkeit hierin einen Schritt zu ihrer nationalen Emanzipation erblickte, handelte es sich um eine weitere Initiative von oben, welche die Lage in Böhmen nicht etwa gegen den Hof, sondern gegen das revoltierende Wien gerichtet stabilisieren sollte. In ihren Grundzügen definierte Palacky die bestimmenden Anliegen d er böhmischen Revolution, wie sie sich im Frühjahr 1848 während gewissermaßen dieses ersten, weithin bereits prägenden Durchgangs von programmatischer Konturierung
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und nationaler Mobilisierung herausgebildet hatten - und zwar dadurch, daß er sie mit seiner abschlägigen Antwort vom 11. April auf die Einladung nach Frankfurt in d en Kategorien tschechischer Nationalpolitik zum Ausdruck brachte. Palacky wies darauf hin, daß die Zugehörigkeit der böhmischen Länder zum Deutschen Bund als Angelegenheit »von Herrscher zu Herrscher«, nicht aber »von Volk zu Volk.. aufzufassen sei;17 er als tschechischer Politiker sei daher weder befugt noch willens, an der Gestaltung eines deutschen Nationalstaats mitzuwirken. Für seine eigene, die tschechische Nation, gebe es - wie für die kle inen Völker zwischen Deutschland und Rußland überhaupt - nur in einem ÖSterreich, das s ich eben als Völkerbündni s zu verstehen habe, ein e Zukunft. Die böhmische Revolution war in dieser Perspektive ein Ereignis d er tschechischen Nationalpolitik. lhre politisch-gesellschaftliche Gestalt einschließlich d es Verhältnisses zu d en Deutschen im Lande war ebenso wie die Beziehungen zum Haus ÖSterreich von diesem Grundsatz her bestimmt. Im Zen trum des Revolutionsgeschehens war das kollektive Existenzinteresse einer jungen, noch nicht als ganzer mobilisierten Nation positioniert, dem eine Entwicklungs- und Emanzipations programmatik nach w esteuropäischem Vorbild zu- und untergeordnet war. Die - kons titutiven - Zielvorstellungen politischer und gesellschaftlicher Modemisierung, von nationalem Staa t und bürgerlich e r Gesellschaft, ersch e ine n aber in ihrer Reich -
weite d eutlich verkürzt. Sie wurden in der Revolutio n von 1848 als lnitialereignis "nationaler Wiedergeburt« nach Maßgabe bestimmter Umweltbedingungen in einer Art und Weise abgewandelt, d ie nicht nur für die böhmischen länder, sondern na tiona l-indi viduell unterschiedlich - für Ostmitteleuropa überhaupt charakteristisch ist . Mehrere Faktoren sind es gewesen, die im Falle der böhmisch en Revolution, zugleich d es tschechischen Modernisierungsprozesses, für die Herausbildung einer besonderen Erscheinungsform des europäischen Ereignisses 1848 gesorgt ha ben. Sie nochmals zu nennen, stellt zugleich d en Versuch dar, ansatzweise ein Betrachtungsmuster für den Vergleich Böhmens mit anderen Teilgebieten d es östlichen Europa zu entwerfen. Zunächst waren weder in pol itischer noch in gesellschaftlicher Hinsicht die Voraussetzungen gewissermaßen für einen direkten Weg in Richtung auf nationale Staatsbildung und Bür-
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gergesellschaft gegeben. Die Einbindung in die übernationale Habsburgermonarchie bzw. das Defizit von Staatstradition und entsprechender Elitenbildung waren ebensowenig zu korrigieren wie die Verzögerung der soziostrukturellen Modernisierung. Wie die reichs- und außenpolitische Konstellation, wie die unvollendet - unsichere nationale Identitätsbildung, so trugen auch die soziostrukturellen Bedingungen der böhmischen Revolution zur kompromißartigen Verkürzung ihrer nationalpolitischen Dimension bei. Eine Nutzung der Emanzipationschancen, die das englische liberale Modell des selbstbestimmten Einzelnen und der freien Gemeinde eröffnete, hätte gleichermaßen ein starkes, selbstbewußtes Bürgertum und eine tragfähige Massenbasis vorausgesetzt. Beides war in den böhmischen Ländern bis etwa in die siebziger Jahre nicht gegeben. Die tschechische Nationalbewegung stand 1848/ 49 der politischen und sozialen Übermacht des dynastisch-spätabsolutistischen Vielvölkerstaates und der böhmischen Aristokratie, heide vor- bzw. übernational geprägt, im Grunde ohne selbsttragende Dynamik gegenüber. Ohne eine politisch erfahrene Bürgerschicht, zugleich ohne jede Aussicht, die Unterschichten für ihre Anliegen in Bewegung setzen zu können . Wirtschaftliche Modernisierung und soziostrukturelle Differenzierung steckten noch in den Anfängen. Sie waren zu sehr an das agrarisch-kleinstädtische Milieu gebunden, um einer nationalpolitischen und sozialen Revolution über einige Wochen hinaus die nötige Schubkraft verleihen zu können. Außerdem fand man zur Masse der Dorfarmut keinen Zugang und das ohnehin schwache lnteresse der bäuerlichen Bevölkerung erlahmte nach der endgültigen Beseitigung der Erbuntertänigkeit seit Hochsommer 1848. Da ferner - außerhalb Prags - kaum unternehmerisch starkes Bürgertum existierte und bürgerliche Aufsteiger im Staatsdienst gemeinhin verösterreicherten, war das soziale Reservoir der Nationa lbewegung ganz unzureichend. Im Grunde waren es lntellektuelle und Studenten oftmals kleinstädtischer und bäuerlicher Herkunft, daneben besonders in Prag manche Angehörige der jungen Unternehmerschicht sowie Handwerker und Gewerbetreibende, die als Träger der Revolution und darüber hinaus der nationalen Bewegung in Frage kamen. Insofern ist zwar in sozioökonomischer Hinsicht die Tendenz zu Modernisierung, zur Entstehung einer Bürgergesellschaft erkennbar. Zugleich aber auch die Tatsache, daß die - in aller Kür-
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ze erwähnten - Defizite nicht nur das Ergebnis einer zeitlichen Verzögerung, sondern auch einer gewissen inhaltlich·struktu· rellen Variantenbildung waren. Obwohl es - anders als sonst im Osten Europas - im späten 19. Jahrhundert an der Tendenz zu einer voll entfalteten tschechischen Nationalgesellschaft kei· nen Zweifel mehr geben konnte, sollte es doch bei bestimmten sozialen und politischen Echowirkungen bleiben: sie ergaben sich aus einer gesellschaftlichen Überrepräsentation kleinstäd· tisch·agrarischen Milieus, auch der unteren Mittelschichten. Als weiterer Faktor kam die für das östliche Europa charakte· ristische ethnische Gemengelage hinzu: die Tschechen, die am Vorabend der Revolution (1847) nur etwa 10,5 % der 37,44 Mio Personen zählenden Bevölkerung ÖSterreichs stellten, sahen sich in Böhmen einer vermutlich 30 bis 40 % umfassenden deut· schen Minderheit gegenüber 18 - einer Minderheit, die sich mit den österreichischen Deutschen eng verbunden und 1848 in die deutsche Nationalbewegung einbezogen wußte. Schließlich war man sich in der tschechischen Führung durchaus der Be· deutung auch außenpolitischer Einflüsse, bzw. der jeweiligen Großmächtekonstellation, bewußt. Zumindest 1848/ 49 ließen die GroBmachtbeziehungen - ungeachtet etwa englischer Kri· tik an dem epigonal·absolutistischen, verkrusteten System Met· ternich - keine Chance erkennen, durch Anlehnung an andere Mächte, vor allem an das lange idealisierte Rußland, einen grö· Beren Bewegungss pielrIOationaler Staat und BürgergeseUschaft{{, wie sie 1848/ 49 hervortraten, konnten zunächst nur abgewandelt erreichbar erscheinen. Es dürfte gerechtfertigt sein, die böhmische Revolution und die sich daraus ergebende weitere Entwicklung der Tschechen jen· seits von nationalem Staat und Bürgergesellschaft zu verorten: es handelt sich nicht um eine regelrechte Alternative zu den europäischen Ideen und Tendenzen und 1848, sondern um eine weitere Variantenbildung neben derjenigen, die bereits im Zuge der deutschen Revolution zustande gekommen war. Hatten hier das Ziel nationale Staatsbildung und das ethnisch·kultu·
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relle Kriterium kollektiver Identitätsbildung als Teil eines umfassenden Modernisierungsprozesses anders als in Westeuropa zentrale Bedeutung erlangt, so lassen sich die Ereignisse in Böhmen als eine weitere ostmitteleuropäische Variante auffassen. Eigentlich o rientiert am Vorbild des westeuropäischen, vor allem aber in hohem Maße geprägt durch das deutsche ethnischkulturelle Nationsverständnis, mußte die nationale Bewegung der Tschechen angesichts übermächtiger reichs- und außenpoliti scher, auch sozialer Existenzbedingungen die modemisierungs kons titutiven Entwicklungsziele »nationale Staatsbildung und Bürgergesellschaft(( modifizieren. So wurde durch 1848 in den böhmischen Ländern - eng verzahnt mit den deutschböhmischen und deutschösterreichischen Verhältnissen - eine tschechische nationale Entwicklung im Augenblick ihrer Politisierung dergestalt langfristig vorprogrammiert, daß sie - zum einen - politisch der Tendenz zu einer " Nation ohne Staat« (" Na rod bez statu«) folgte. Zum anderen richtete sich die wirtschaftlich-gesellschaftliche Gestaltung dieser "staatsoppositionellen Nationalgesellschaft«19 nach einer - im Vergleich mit West- und weithin auch Deutschmitteleuropa - verzögerten OeAgrarisierung, nach stärkerem Agrarbezug von industrialisierung, Urbanisierung und VerbürgerHchung, schließlich nach überproportionaler Bedeutung von unteren Mittelschichten und Kleinstadtmilieu . Insgesamt ist dies ein Modemisierungsprozeß, der - anders als in West- und Deutschmitteleuropa ohne direkte Anknüpfung an eine gleichsam selbstverständlich wirksame Vorgeschichte von Staatlichkeit und nationaler Identität in Gang kommen mußte. Statt einer erkennbaren Schrittfolge national definierter Staatsbildung auch nur bei den Tschechen, geschweige denn bei den sprachlich-ethnisch verwandten Slowaken oder gar der deutschen Bevölkerung der böhmischen Länder, die auf europäische Maßstäbe einer liberalen Bürgergesellschaft abgestimmt gewesen wäre, blieb - als Ergebnis von »1848(( - aus mittlerer Sicht nur der Kompromiß mit der Habsburgermonarchie, die ihrerseits zu dieser Zeit noch gegen nationalen Staat und Bürgergesellschaft als existenzieller Gefahr Front machte. Diesen Kompromißcharakter in seiner Bedeutung für den weiteren Verlauf der böhmischen Revolution und die tschechische Nationalbewegung kann ein Blick auf die folgenden Ereignisse veranschaulichen. So s tellt sich der Prager Slawenkongreß sei t dem 2. Juni, der durch die Pfingstunruhen
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seit 12. Juni und den Ausnahmezustand vom 18. Juni zum Fias* ko wurde, weniger als ein Höhepunkt der Revolution denn als Ausdruck ihrer zu schwachen Dynamik, ihrer unzureichenden politischen und gesellschaftlichen Voraussetzungen dar. Oie militärische Niederwerfung kann als logischer Abschluß der eigentlichen »Revolution« aufgefaßt werden. Bereits Mitte Juni wurden alle Illusionen über Machtverhältnisse und Regenerierungsfähigkeit der angeschlagenen Monarchie beseitigt. Außerdem zeigte sich, daß weder die Prager Bevölkerung als solche, geschweige denn diejenige Böhmens insgesamt und gar diejenige Mährens und Schlesiens sich durch nationalpolitische Proklamationen dieser Art tatsächlich repräsentiert und zu politi scher Aktion veraniaßt sahen . Und was die nationalpolitisch aktiven Intellektuellen betrifft, so wurde deutlich, da ß s ie weder politisch handlungsfähig noch zu nationalpolitischer Konsensbildung imstande waren. Die konzeptionellen Widersprüche zwischen Palackys ethnischem Föderalismus austroslawi schen Zuschnitts und panslawischer, zum Teil auch ru ssischer Orientierung Jüngerer konnten ebenso wie der Gegensatz zwi schen revolutionärer, liberaler Grundhaltung und dem Hilfeersuchen der »slawischen Brüder((, die sich der ungarischen Revolution bzw. des magyarischen Nationalstaatsstrebens zu erwehren hatten, nur rhetorisch verdeckt, nicht aber geklärt werden.
Diese Einschätzung bestätigt die weitere Entwicklung bis zum strategischen Abschluß der Revolution in ÖSterreich am 7. März 1849 mit dem Verfassungsoktroi sowie im Mai bzw. August mit dem definitiven Ende in Böhmen bzw. in Ungarn und Venezien. Wie während des Slawenkongresses in nationa lpolitischer Hinsicht, so wird im weiteren Verlaufe des Jahres 1848 durch das Agieren der tschechischen Abgeordneten, besonders derer aus Böhmen, zusätzlich auch in verfassungspolitischer Hinsicht das Defizit an gesellschaftlicher Massenbasis als Grund für konzeptionellen Substanzverlust und zunehmend fragwürdiges, bloßes Taktieren sichtbar - im Verfassungsgebenden Reichstag seit dem 22. Juli und gleichermaßen seit d em 22. November bei dessen Fortsetzung in Kremsier. Die Konstitutionsund Freiheitsforderungen der Revolution wurden als Bezugspunkt ihres parlamentarischen Wirkens mehr und mehr relativiert. Sie wurden - unter fortwährenden internen Auseinandersetzungen - allmählich der Orientierung an einem sich verselb-
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ständigenden, eher opportunistischen Kalkül nationalpoliti~ scher Vorteile geopfert. So näherten sich die tschechischen Abgeordneten der Regierung, indem sie sich gegen die demokratische Linke in Wien wandten. Außerdem geschah dies dadurch, daß si~ mit der Regierung gem einsam d en nationalstaatsbezogenen, antiösterreichischen Zentralismus Frankfurts und Ungarns zum gemeinsamen Feindbild erkoren . Auch mit d er Auflösung des Kremsierer Reichstags und d em Sichtbarwerden e i ~ ner militärisch-repressiven Initiative von oben fand man sich ab. Als dann ab August/ Dezember 1851 die alte Ordnung unter bürokratisch-zentralistischem Vorzeichen wieder hergestellt wurde, kam es trotz zeitweiligen Autbäumens in Böhmen nur noch zu einer Welle von Resignation und ratlosem Pessimismus: Palackys schrittweiser Rückzug aus dem politischen Leben 1849 / 50 legte davon beredtes ZeugniS ab. Daß die böhmische Revolution, daß der erste Anlauf zu tschechischer Nationa lpolitik auf diese Weise scheiterte, war wohl weniger individuellen und situativen Irrtümern oder der politischen Unerfah renheit der schma len tschechischen Führungsschicht, die sich zudem ihrer deutschböhmischen Rivalen zu erwehren hatte, zuzuschreiben. Sehr viel mehr war es wohl notwendiges Ergebnis bestimmter politischer und struktureller Existenzbedingungen der böhmischen Revolution, die weder den westeuropäischen noch d en deutschmitteleuropäischen Weg zu Bürgergesellschaft und nationalem Staa t uneingeschränkt ermöglichten.
IV Ein kurzer Blick a uf einige ausgewählte Aspekte d er Verhältnisse im Osten Europas insgesa mt um 1848 läßt zunächst - im Sinne der einleitenden Bemerkungen - deutlich werden: »1848« war in d er Tat ein »europäisches« Ereignis. Selbst dort, wo es nicht zu regelrechtem Revolutionsgeschehen kam, waren fast durchweg zumindest Ansätze dazu oder wenigstens indirekte Veränderungsimpulse spürbar. Von einem Revolutionsgeschehen im engeren Sinne, als ereignismäßiges Analogon zur böhmischen Revolution, und eingeschränkt zu Deutschmittele uropa, kann in m ehreren Teillandschaften d es östlichen Mitteleu-
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Topa gesprochen werden. Was den polnischen und litauischen Bereich betrifft, so konnte zwar im russischen Teilungsgebiet das nach dem Aufstand von 1830 / 31 errichtete Pazifizierungs· regime seine anhaltende Wirksamkeit erweisen, aber in Preu· Ben war trotz der »Versöhnungsära « seit 1840 schließlich im März 1848 revolutionäres Hervorbrechen polnischen Emanzipationsverlangens nicht zu verhlndem. 20 Ähnlich wie im österreichischen Teilungsgebiet bereits 1846 im FaU der bisherigen »Freien Stadt(( Krakau scheiterten diese Aktionen eines polnischen »Nationalkomitees«, Nach dessen Kapitulation bereits am 9. Mai 1848 kam es - wie in Krakau - zur Beseitigung der bisherigen SondersteUung des Großherzogtums Posen. Programmatisch, auch von Verlauf und Ergebnissen her stärker ausgeprägt war der revolutionäre Charakter der Ereignisse im Falle der beiden anderen ostmitteleuropäischen Adelsnatio· nen, in Ungarn und in Kroatien . Die ungarische Revolution ~r· reich te die Zustimmung der Krone zur Einsetzung eines natiPnalen, verantwortlichen Ministeriums unter Lajos Graf Batthyany am 17. März 1848, die Grund lage für das ab April folgende Reformwerk des Landtags war damit geschaffen. Die Reformen zielten gleichermaßen auf politisch·staatliche Auto· nomie und gesellschaftliche Modemisierung. Nach mehreren Radikalisierungsschritten bis hin zur militärischen Auseinan· dersctzuns mit der Krone und schließlich
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14 . April 1849 zur
Souveränitätserklärung Ungarns führte insbesondere die lnter· vention des nikolaitischen Rußland schließlich zum Scheitern auch der ungarischen Revolution. Dazu hatte der Umstand bei· getragen, daß die Kossuthisten durch schematische Kombina· tion des historischen ungarischen Staatsrechts mit Versatz· stücken des westeuropäischen Liberalismus den größten Teil der nichtmagyarischen Bevölkerungshälfte zum Widerstand geradezu gezwungen hatten. Die Aussicht auf Ungarn als magyarischem Nationalstaat, also lediglich auf individuelle Freiheiten ohne Absicherung ihrer nationalen Identität machte glei· chermaßen slowakische, rumänische und serbische Freischaren, vor allem aber die kroatische Nationalbewegung zu Geg· nem der paradoxen »Iawful Revolution« (lstvan Deak).21 Nicht nur diese ~) Notwehr « gegen die ohnehin drohende Magyarisierung, sondern auch eigenständige Impulse waren es, die im März 1848 zum Durchbruch der kroatischen Natio· nalbewegung geführt haben. Sie trat die Nachfolge der ~)Illyri·
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sehen Bewegung«22 an, deren Anliegen die kroatische Au tonomie innerhalb Österreichs und ansonsten die kulturelle Einheit der Südslawen gewesen war. Die »Nationalpartei«( setzte 1848 - unter anderem am 18. Mai durch eine neue Wahlordnung wesentliche Sch ritte in Richtung auf Abbau d er ständischen Ord nung und auf libera l-repräsentative Neuerungen durch.2J Der z um 5. Juni einberufene Sabor (Landtag) bezog sich bei d er einseitigen Umwandlung der kroatisch-unga rischen Realunion in eine b loße Personalunion auf jene kroa tische Staatlichkeit, die bereits zu Beginn d es 12. Jahrhunderts verlorengegangen war. Auch in Kroatien erwies sich der Anspruch auf nation ale Staatsbildung als nicht realis ierbar: er verursachte eine offene militärische Au sei nandersetzung zwischen den Kroaten unter der Führung des Banu s (La ndeschefs) Josip JelaCic ab Juni 1848 und der ungarischen Na tionalbewegung - die kroatische Nationalbewegung war damit mehr oder weniger auf Kooperation mit d er Krone an gewiesen. So unvolls tänd ig die Umsetzung westeuropäischen liberalen Reformdenkens und d er N achvollzog revolutionä rer Ereignisablä ufe in dieser ostmittele uropäischen Region auch ausfi elen, so wenig zweifelhaft kann doch sein, daß die Ereignisse in d en böhmischen Ländern und in polnischen Teilungsgebieten, in Unga rn und Kroa tien in unmittelbarer Beziehung zu d en gleichzeitigen Ereignissen im Westen Europas ihre Gestaltung fand en . Dies kann nicht in gleichem Maße von bestimmten Vorgängen we iter im Osten und Süd osten behauptet werden. Während selbst in Os tmitteleu ropa bei Slowa ken und Slowenen 1848/ 49, abgesehen von kleineren, vornehmlich intellektuellen Vorläuferg ru ppen noch keine entfalteten Nationalbewegungen existierten, aber wenigstens erste Indizien für eine »nachholende« Aneignung von Liberalism us und Nationalismus gegeben waren, war d ies im russischen Kaiserreich - sei es im Baltikum, in Weißrußland od er in der Ukraine - ebensowenig zu beobachten wie bei Rumänen und Balkanvölkern oder im Osmanischen Reich. Un d dennoch erscheint es gerechtfertigt, im Hinblick auf 1848/ 49 von m ancherlei Wechselbeziehungen und Ähnlichkeiten zu sprechen, die - ungeachtet geringer ereignisgeschichtlicher Bedeutung - als Anzeichen einer e uropawei ten, in gewissem Sinne einer gesa mteuropäisch en Entwicklungstendenz au fgefa ßt werden können. So könnte man auf d as Baltikum hinweisen, wo zwa r schon
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im frühen 19. Jahrhundert durch deutschbaltische Vermittlung kulturnationale und literarische »Erweckungs«-impulse wirksam wUIden.2~ Es sollte aber noch bis zur Jahrhundertmitte dauern, bevor u . a. dank der Schrittmacherrolle kleiner lntellektuellenzirkel sowie jahrzehntelanger Agrarreformen und andererseits wegen des seit den sechziger Jahren wachsenden Russifizierungsdrucks die programmatisch-organisatorischen Voraussetzungen nationaler Mobilisierung entstanden, die frei lich die ungünstigen Rahmenbedingungen des kaiserlichen Rußland nicht beeinflußten. Im Vergleich dazu wurden den Ukrainern wesentlich günstigere Chancen der Emanzipation eingeräumt: das österreichische Galizien avancierte im Frühjahr 1848 geradewegs zu einer Art ukrainischem Piemont. Die Politisierung der dortigen "ruthenischen« bäuerlichen Bevölkerungshälfte wurde von Statthalter Franz Graf Stadion plan voll gefördert - als Gegengift gegen die polnische Nationa lbewegung. Aber erste nationalpolitische Organisations- und Programminitiativen ("Oberster Ruthenischer Rat ••/»Holovna Rus'ka Radacc) blieben angesichts des offenen Bekenntnisses zu einer gesamtukrainischen Nation und der Forderung nach Autonomie für ein ruthenisches Kronland innerhalb ÖSterreichs einigermaßen isoliert. So war weder die Masse der Bauern zu mobilisieren noch überhaupt die nationalpolitische Grundfrage ukrainischer oder russisch e r Orientierung zu e ntscheiden . Na-
tionalpolitische Radikalität dieser Art brachte letztlich nur die reformerische Ohnmacht, weithin auch die Isolierung der jungen Elite von der eigenen Nation zum Ausdruck. Hierin, in der ,>Rolle« von Nationalismus als Reformersatz, liegt eine Ähnlichkeit mit der rumänischen Entwicklung. Anders als ihre Konnationalen im seit 1812 russischen Bessarabien sowie in den Fürstentümern Moldau und Walachei, anders auch als die habsburgischen Rumänen in Bukowina und Banat, hatten diejenigen in Siebenbürgen 25 zunächst die Überwindung ihres orthodox-unierten Konfessionsgegensatzes und das Streben nach Gleichberechtigung mit den »ständischen Nationen « der Magyaren, der Szekler und der »Sachsen« als ihre Aufgabe begriffen. Schon im späten 18. Jahrhundert begann so die Po litisierung des Bewußtseins ethnisch-kultureller Z usammengehörigkeit, das nach 1816 in die konnationalen Donaufürstentümer, die noch unter osmanischer Hoheit s tanden, transferiert wurde. Der rumänische Nationalgedanke wurde hier zu einem
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wesentlichen Versa tzstück jenes "Bojarenliberalismus«, dessen Refo rmdenken also von ÖSterreich, von der theresianisch-josephinischen Reformüberlieferung her ebenso beeinflußt war wie vom Liberalismus jüngerer Intellektueller, die vor allem als Söhne d es mittleren Bojarenadels in Westeuropa studiert hatten . Aber na tionale Integration und liberale Reform stießen während und - ab 1822 - nach der Phanariotenherrschaft auf widrige Bedingungen: Liberalismus ohne Bürgertum, Nationalismus ohne Na tion w urden zu bloßen Herrschaftsinstrumenten einer klientelistisch verfaß ten Oberschicht. Sie war an Reformen allenfalls im Sinne d er IIEntorientalisierung« von Verwaltung, Rechtswesen etc. interessiert.16 Diese Verhältn isse konnten auch durch d ie Revolution in der Walachei nicht in Frage gestellt werden: Ihre Veränderungsd ynamik reichte led iglich dazu, den Hospod ar Gheorghe Dimitrie Bibescu am 25. Juni 1848 durch d ie Ko mitees um Ion C. Bratianu zu stürzen und eine Verfassung vorzubereiten. Auf d em weiteren Weg zur rumänischen Staatsbildung (1 859/ 61), der entsprechend der Friedensregelung nach d em Krimkrieg zur Einberufung von Landtagen führte, verblaßten diese frühen Spuren konstitutionellen und sozialen Refo rmd enkens, das allmählich zu klientelistischem Macht- und Interessenstreit d eformi ert wurde, wied er sehr schnell . Die Revolution in Moldau und Walachei wurde im t"ferbst 1848 durch russische Intervention beendet. Damit waren auch die ohnehin geringen Hoffnun gen der rumänischen Nationa lbewegung innerhalb d er Habsburgermonarchie, in Siebenb ürgen, unter Führu.ng d es orthodoxen Bischofs Andreiu ~gun a auf gesamtrumänische Staatsbild ung vorerst einmal zerstört. Daß die siebenbürgischen Rumänen in einem opferteichen Bürgerkrieg 1848/ 49 gegen die lnkorporierung durch Ungarn, überha upt gegen die ungarische Revol ution, insofem auch fü r d ie Interessen der Krone einstanden, lohnte ihnen eine Parallele zur schlechten Behand lung der Kroaten - die Regierung nicht: da s II Blasendorfer Programm« der siebenbürgisch-rumänischen Revolution vom Mai 1848 mit Forderungen u. a. nach konstitu tioneller Gleichstellung, später nach rumänischer Autonomie innerhalb ÖSterreichs stieß nach 1849 im Zuge der neoabsolutis tischen Rekonstruktion habsburgischer Macht ebenso auf Ablehnung wie vorher als ungarische Antithese das Programm der Kossuth-Beweg ung. Wie bei den Rumänen in Siebenb ürgen / Banat sowie in den
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Fürstentümern gewissermaßen erst nach Modemisierung der Konfessions- bzw. der Bojarennation, so war bei Serben (außerhalb ÖSterreichs) und Bulgaren erst nach internationaler Absicherung der staatlichen Existenz und ersten Anzeichen von wirtschaftlich-gesellschaftlichem Strukturwandel im späten 19. Jahrhundert, also mehr als ein halbes Jahrhundert nach der ungarischen »Refo rmära «, die Zeit wenigstens ansatzweiser Modemisierungsversuche gekommen . Zwar machte sich bei den Bulgaren bereits in den vierziger Jahren der Prozeß der »>nationalen Wiedergeburt« ("vuzratdane«) bemerkbar:'lJ die osmanische Autorität wurde nach fünf Jahrhunderten ungefährdeter Gültigkeit ebenso wie der griechische Vorrang in Kirche und Kommerz in Frage gestellt; zwa r konnten auch die Serben außerha lb der Habsb urgermona rchi e bis 1830, als sie s ich im Windschatten des osma nisch-phanarioti schen Rückzugs aus den Donaufürstentümern 1822 und der griechischen Verselbs tändigung zwischen 1821 und 27/ 30 selbst der osmanischen He rrschaft weitgehend entledigten, das mod eme Entwicklungsziel nationaler Staa tsbildung realisieren; aber es gab weder ein bulgarisches noch ein serbisches »1848«, auch kein etwa nur zei tlich versetztes - entwickJ ungslogisches Äq uivalent. Trotz gewisser kulturell-wirtschaftlicher, weithin konfessionell eingebundener Einflüsse von a ußen auf Serben und Bulgaren, ehva von Conn .. tionnlcn in Süd ungnrn bzw. vom rus -
sische n Odessa aus, war es aber ein im wesentlichen andersartige r Entwicklungsgang, de r sich hier abzeichnete. So ist es beispielsweise nicht als Beleg für eine Annäherung an die Ideale der europäischen Revolution, sondern eher für das Ausmaß der tatsächlichen Distanz zu betrachten, wenn die serbische Skup~tina (Vorsteherversammlung) im Jahre 1848 einberufen wurde - es war nur eben zwischen 1843 und 1858 ein einziges Mal, daß dies geschah. Und die Fortschritte bei der Staatsbildung vollzogen sich nicht in Abstimmung mit politisch-kulturellen und wirtschaftlich-gesellschaftlichen Veränderungen, die in West- und Mitteleuropa unter vielfacher Abwandlung doch einen charakteristischen Bedingungs-, Verlaufs- und Wirkungszusammenhang geschaffen ha tten.28 Mit anderen Worten: die zügige Realisierung des Entwicklungsteilzieles Staatsbildung durch Rumänen, durch Serben und Bulgaren sowie - unter ausschlaggebender Mitwirkung der Großmächte - durch die Griechen kann nicht als Indiz für gleichermaßen zügige Verwirkli-
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chung anderer Teilziele, ehva einer »Bürgergesellschaft« westlichen Typs gelten. Es wäre auch irreführend, darauf einen Entwicklungsvergleich zwischen den genannten Balkannationen und Polen, Tschechen, i . g. S. auch Kroaten zu gründen, denen im 19. jahrhundert die Staatsbildung noch nicht gelang. Auf die Gren zen eines solchen Vergleichs verweist auch das Beispiel der griechischen Staatsbildung. Sie war nicht Ergebnis eines selbsttragenden gesellschaftlichen Modernisierungsprozesses, sond ern überwiegend exogener Einflüsse - zunächst im Jahre 1821 von seiten der moldauischen Phanarioten, d ann mehr und mehr von seiten der GroBmächte, während sich die autochthone Dynamik. der Griechen - zersplittert wie sie war - dem osmanischen militärischen Druck nicht gewachsen zeigte. In welchem Maße die einzelnen Versatzstücke des west- und deutschmitteleuropäischen Reformkanons von 1848 im Falle isolierter Übertragung oder überhaupt der Implementierung in eine fremde Umgebung ihren ursprünglichen Sinn, ihre Systemfunktio n einbü Bten und anderen Zwecken als den 1848 eingeford erten nutzba r gemacht werden konnten, zeigt noch deutlicher als der rumänische Fall eines Liberalismus ohne Modernisierung und als d er balkan ische Weg zur nationa len Staa tsbildung ohne vollständige und moderne Nationalgesellschaft schließlich d as Schicksal der Ideen von 1848 im Osmani schen Reich.2'J Vorbereitet durch den Einfluß westeuropäischer Vorbilder d er Verwaltungs- und Militärreform en im frühen 19. jahrhundert kam es in den vierziger jahren während der Tanzimat-Periode (1 839-1861) zur Zeit des Sultans Abdülmecit zu Grundrechtsga rantien und ersten Ansätzen konstitutioneller Politik. Ihnen folgte 1876 unter Abdülhamit 11. schließlich die Gewährung einer Verfassung, die allerdings ein Jahr spä ter sistiert wurde. Aber das Ziel dieser Übernahme isolierter Einzelelemente westlicher Modernität war - neben u. a. der Rücksichtnahme besonders auf Forderungen Englands - zweifellos gerade die Absicherung der Autokratie, keinesfall s ein Ein schwenken auf den westlichen Enhvicklungsweg.
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v Es ist das Anliegen dieser Ausführungen, am Beispiel der böhmischen Revolution von 1848 zunächst auf das Gemeinsa me von Ostmitteleuropa und d em west- und deutschmitteleuropäischen Geschehen hinzuweisen; auf dieser Grundlage wird die Frage nach Unterschieden, nach dem für OstmitteJeuropa
Charakteristischen gestellt. Daran schließen sich kurze Beobachtungen zum Vergleich mit Ost- und Südosteuropa an: mit der d ortigen Kombination von Reformanleihen und andersartigen oder noch nicht herangereiften Rezeptions- und Anwendungsbed ingungen kontrastiert, tritt das Charakteris tische d er ostmi tteleuropäisch en Verhältnisse d eutlicher hervor. Vor a llem dürfte d arau f abzuheben sein, da ß - bei erheblichen national-individuellen Unterschied en im einzelnen - sich die böhmischen und polnischen, ungarischen und kroa tischen Revolutionen des Jahres 1848 auf Überlieferungen von ständischen Vertretungskörperschaften und Staatlichkeit bezogen haben. Dies geschah auch in solchen FäUen, wo - etwa bei den Tschechen - eine nationale Adelselite längst nicht mehr existierte oder - so bei den Kroaten - die eigene Sta atlichkeit schon seit dem Beginn des 12. Jahrhunderts erloschen war. Auf diese hi sto rische Erinnerung, vielfach literarisch hochs tili siert und emotional überfrachtet, wurde a u c h dann die Forderung nach
Wiederherstellung gegründ et. wenn weder die künftige territoriale Ausdehnung noch das nationa le Selbstverständn is geklärt waren . Weithin war solche inhaltliche Bestimmung nationaler Staatsbildung im Osten Europas wegen d er vorherrschenden ethnischen Gemengelage gar nicht möglich. So mag es berechtigt sein, davon zu sprechen, das mit West- und Deutschmitteleuropa gemeinsame Entwicklungsziel nationaler Staatsbildung erfahre in Ostmitteleuropa eine gewisse Abwandlung: es bleibt zwa r verbindlich, ist aber in d en genannten Fä llen schon deswegen unrealisierbar, weil es parallelen Bestrebungen benachbarter Nationen widersprich t. Auch die politisch-konstitutionelle Zielstellung der Revolution, von den individ uellen Freiheitsrechten und rechtsstaa tlicher Sicherhei t bis hin zu Verfassung und Parlament, ist im os tmitteleuropäischen Reformkanon enthalten . Dies gil t unabhängig von bestimmten Modifizierungen, die sich aus der jeweiligen InteressenJage der Träger des Revol utionsgesch eh ens ergaben. Diese konn ten •
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nicht identisch sein etwa bei magyarischem oder galizisch-polnischem Hochadel sowie bei tschechischen oder kroatischen Intellektuellen und kleinen Gewerbetreibenden. Aufs Ganze gesehen scheinen die konstitutiven Teilziele sowie der politisch-gesellschaftliche Kontext die These zu erlauben, daß Gemeinsamkeit im wesentlichen gegeben war. Dennoch bedarf es auch hier einer Modifizierung: ein Blick auf die gesellschaftliche Dynamik, die Forderungen dieser Art überhaupt zu Geltung brachte, weist auf Charakteristika, wohl eher: Defizite, Ostmitteleuropas hin . Der Weg zur »Bfugergesellschaft(, auch wenn er das definierte Ziel darstellte, war nur mit zeitlicher Verzögerung und darüber hinaus mancherlei inhaltlicher Veränderung möglich . So wenn etwa alte Eliten, insbesondere übernationale oder entnationalisierte wie im böhmischen und kroatischen Falle, einem ausgesprochenen Defizit an Mittelschichten gegenüberstanden. Diese Konstellation kam etwa in der unvollständigen magyarischen Sozialstruktur zum Ausdruck. Ähnliches gilt von De-Agrarisierung und Urbanisierung, von Anfängen industriel1en Proletariats sowie der Intensität nationaler Assimilation und überhaupt der gesellschaftlichen Differenzierungsprozesse. Die »europäischen« Entwicklungstendenzen von 1848, die Herausbildung von »nationalem « Staat und ~) Bürgergesel1schaft«, erfahren also in Ostmitteleuropa nicht nur in ihrem Programmgehalt, sondern auch bei ihrer Dynamik eine - ihrerseits variierende - gewisse Abwandlung. Sie kann im Einzelfall über abgestufte Variantenbildung hinaus bis zu dezidierter Widersprüchlichkeit sowie manipulativer lnstrumentalisierung reichen - dies wurde an einigen Beispielen aus dem ost- und südosteuropäischen Bereich gezeigt. Es handelte sich letztlich nicht einmal in Ost- und Südosteuropa, geschweige denn im östlichen Mitteleuropa um »)$onderwege{( bzw. um einen gemeinsamen anti westlichen Entwicklungspfad, jedenfalls nicht um eine Alternative zu Bürgergesellschaft und nationalem Staat. Aber das Ausmaß der Variantenbildung läßt erahnen, wie gewichtig die strukturellen Defizite und die politisch-kulturellen Hindernisse gewesen sein müssen, die dabei um 1848 wirksam geworden sind - ihre Langzeitwirkung macht sich auch in den gegenwärtigen Transformationsprozessen im östlichen Europa noch bemerkbar.
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Anmerkungen 1 Erweiterte Fassung eines Beitrages zu einer Ringvorlesung an d er H umbold t-Un iversität zu Berlin im Wmtersemester 1997/ 98. Die Anmerkungen, die vor allem Uteraturbelege enthalten, sind kurzgefaßt. 2 Die Begriffe »Ostmitteleuropa .. , ..Mitteleuropa .., »ÖStliches Europa«, .,Osteuropa« ete., die an sich nie klar voneinander abgegrenzt waren, sind seit d er Auflösung des ..Ostblocks« erneut in die Diskussion geraten. In den folgenden Aus führungen - dies bedarf insofern eines ausdrücklichen Hinweises - wird ein engerer ..Ostmitleleuropaot-Begriff, der zumindest die westslawisch- ungarisch-südslawische (slowenisch-kroatische) Region zusammenfaßt, ausgedehnt aufTeile Deutschmitteleuropas sowie auf d ie unmittelbar ben achbarten baltisch-ostslawischen und balkanisch-rurkischen Gebiete. Dieser weite »Ostmitleleuropaot-Begriff ist sicherlich nicht auf alle Epochen gleichermaBen anwendbar. Vgl. u. a. die einschlägigen Überlegungen von K. Zemack, in: Osteuropa, München 1977, bes. S. 33-41. 3 Weiterfü hrende Anregungen vermitteln einige neuere Sammelbände: K. Mack (Hg.), Revolutionen in Ostmitteleuropa 1789-1989, Wien 1995; R. Jaworski/ R. Luft (Hg.), 1848/ 49. Revolutionen in Ostmitteleuropa, München 19%; grundlegend für die kom parative Betrachtung: D. Langewiesche (H g.), Liberalismus im 19. Jahrhundert. Deutschland im europäischen Verg leich, Göttingen 1988, und J. Kocka (Hg.), Bürgertum im 19. Jahrhundert, 3 Bde., München 1988, hier u . a. die Beiträge von Langewiesche, Liberalis-mus und Bü rgertum in Europa, Bel.. 3, S. 360-394; ferner M. H roch, Das Bürgertum in d en nationalen Bewegungen des 19.1ahrhunderts, in: ebd., 5 . 337-359; Elzbieta Kaczynska, Bürgertum und städtische Eliten, in: ebd., S. 466 ~ 87. " Dazu R. M uru, Dcutochc r und briti5Chcr LibcTn tis m ue im VcrSlci.::h ,
in: Langewiesche, Liberalismus im 19. Jahrh undert, S. 223-259. 5 Vgl. G. Eley, Liberalismus 1860-19 14. Deutschland und Großbritann ien im Verg le ich, in: ebd., S. 260-276. 6 Zur strukt ur- und ent\.Yickl ungsbezogenen Betrachtung Ostmitleleuropas u. a.: I. Berend / Gy. Ranki, The European Periphery and lndustrialization 1780- 191 4, Budapest 1982; P.F. Sugar /0. Treadgold (H g.), A History of East Central Europe, 11 Bde., Seattle 1974 ff.; A. Wand ruszka / P. Urban itsch (Hg .), Die Habsbu rgermonarchie 1848-1918, bish. 7 Bde., Wien 1973 ff.; Ch. Cholioll'ev / K. Mack/ A. Suppan (Hg.), Nationalrevolutionäre Bewegungen in Südosteuropa im 19.]ahrhundert, Wien 1992, und W. Conze, Ostmitteleuropa, hg. v. K. Zemack, München 1992. 7 Zum Stand der Forschungsdiskussion über die deutschmitteleuropäische Entwicklung seien aus de r umfangreichen Litera tur lediglich genannt: D. Langewiesche, Europa zwischen Res tauration und Revolution 1815-1849,3. bearb. Auflage, München 1993; H.·U. Wehler, Deutsche Geseilschaftsgeschichte, Bd . 2, München 1987; Th. Nipperdey, Deu tsche Geschichte 1800-1866, München 1983; H. Lutz, Zwischen Habsburg und Preußen. Deutschland 1815-1866, Berlin 1985; J. Sheehan, German His tory 1770-1866, Oxford 1989; H. Rumpie r (Hg.), Deutscher Bund und deutsche Frage 1815-1866, Wien 1990; W. Hardtwig. Vormärz, München ·1997; W.
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Häusler, Von der Massenarbeit zur Arbeiterbewegung, Wien 1978; W. Siemann, Die deutsche Revolution von 1848/ 49, Frankfurt1 M. 1985; H .-H. Brandt, Der österreichische Neoabsolutismus, 2 Bde., Göttingen 1978; kurz und anregend zum tschechisch.o()Stmilleleuropäischen Bezug nunmehr: F. Seibt, Das Jahr 1848 in der europäischen Revolutionsgeschichte, in: Jaw orski / Luft, 1848/ 49, S. 13-27. 8 Zum Problem von Entwicklungsverzögerung und Maßstäben ihrer Inte rpretation am südslawischen Beispiel: K. Grothusen, Urbanisierung und Nationsbildung in Jugoslawien, in: Süd ost-Forschungen XUß (1984), 5. 135-180. 9 Vgl. J. Ktcn, Die Konniktgemeinschaft. Tschechen und Deutsche 1780-1918, München 1996, bes. Kap. 2; O . Urban, Die tschechische Gesellschaft 1848-1918, 2 Bde., Wien 1994; J. Kotalka, Tschechen im Habsburgerreich und in Europa 1815-191 4, Wien 1991; Jiti ~taif, Revoluen! leta 1848-1 849 a ~ecke zem~. Prag 1990; zur deutschen Sicht vgl. K. 80s! (Hg.), Handbuch der Geschichte der böhmischen Länder, 4 Bde., Stuttgart 1974, hier 2. Bel .; F. Prinz. (Hg.), Böhmen und Mähren (: Deutsche Geschichte im Osten Europas, Bd. 2), Berlin 1993. 10 Dazu n unme hr: Urban, Tschechische Gesellschaft, Kap. I; J. K. H ~ ensch, Geschichte Böhmens, Münc hen 11987, bes. S. 316-349. 11 Kten, Konfliktgemeinschaft, 5.59; zum längerfristigen geistesgeschichtlichen Entwicklungszusammenhang: R.G. Plaschka, Von Palacky bis Pekat. Geschichtswissenschaft und Nationalbewußtsein bei den Tschechen, Graz 1955. 12 Ebd ., S. 82; zu den Fo lgen dieser Debatte für d ie nationalitätcnpolitische Praxis siehe: A . Klima, Ce!i a Nemci v revoluci 1848-1849, Praha 1988. 13 Ebd., S. 83. 14 Ebd ., 5.78; zum politisch-gesellschaftlichen Rahmen: P. Heumos, Agrarische Interessen und nationale Politik in Böhmen 1848-1889, Wiesbaden 1979; Ders., Oie Bauernbefreiung in den böhmischen ländern, in: Jaworski / Luft, 1848/ 49, 5.221-237; J. Kolejka, Närody habsburske m onarchie v revoluci 1848-1889, Praha 1989. 15 Urban, Tschechische Gesellschaft, S. 45 ff. 16 Ebd., S. 53. 17 Ebd.,S. 60f. 18 Ebd.,S. 3 L 19 Th. Schieder, zit. nach J. Ko ralka / R.J. Crampton, Die Tschechen, in: Wandruszka /U rbani tsch, Habsburgermonarchie, lII / l, 5. 489-521, hier 5 16 A 95. 20 VgL K.G . H ausmann, Ad elsgesellschaft und nationale Bewegung in Polen, in : O. Dann (H g.), Nationalismus und sozialer Wandel, Hamburg 1978, 5.23-47; K. Zemack, Polen und Ru ßland, Berlin 1994; Ders. (H g.), Zu m Verständnis der polnischen Frage in Preußen und Deutschland Im-187l , Berlin (West) 1987; W. Molik. Entwicklungsbedingungen und -mechanismen d er polnischen Nationalbewegung im Großherzogtum Posen, in : Berl iner Ja hrbuch für osteuropäische Geschichte 1995, Bel. 2, 5. 17-34; A. GiIl, Die polnische Revolution von 1846, München 1974. 21 Zur ungarischen Revolution neben den einschlägigen Bänden von I.
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Günter Schörli
Deak, Die rechtmäßige Revolution, 01. Übers. VVien 1989; 1. Varga, Ajobbagyfelszabadltas kivivasa 1848-ban, Budapest 1971; F. Glatz/R. Melville (Hg.), Gesellschaft, Politik und Verwaltung in der Habsburgermonarchie 1830-1918, Budapest 1987; A. Urban, Batthyany Lajos miniszterelnö!<sege, Budapest 1986, sowie jüngst die Thesen von P. Hanak, Die gesellschahli· ehen Voraussetzungen der Revolution in Ungarn, in: Jaworski / Luft, 1848/ 49, S. 239-244; sowie die strukturbezogene lnterpretationsskizze von A. Gergely, Der ungarische Adel und der Liberalismus im Vonnärz, in: Langewiesche, Liberalismus im 19. Jahrhundert, S. 458 483; zum ostpÜtteleuropäischen Vergleich die Detailuntersuchungen bei V. Bacskai (Hg.), Bürger· turn und bürgerliche Entwicklung in Millel· und Osteuropa, 2 Bde., Budapest 1986. 22 Dazu zahlreiche Studien von J. Sidak, bes.: Ders., Studije iz hrvatske povijesti za revolucite 1848/ 49, Zagreb 1979; wichtig außerdem: W. Kessler, Politik, Kultur und Gesellschaft in Kroatien und 5lawonien in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, München 1981. 23 Zu regionaler Konkretisierung und politisch· kulturellem Gesamtzu· sammenhang: N. StanCic, Hrvatska nacionalna ideologija preporodnog po' kreta u Dalmaciji, Zagreb 1980; sowie vor allem das Gesamtwerk von M. Gross u. a., Povijest prava~ke ideologije, Zagreb 1974. 24 G. v. Rauch, Geschichte der baltischen Staaten, München 11977, hie r 5. 19-34; G.v. Pistohlkors, Baltische Länder (= Deuts