UTB 3202
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UTB 3202
Eine Arbeitsgemeinschaft der Verlage Böhlau Verlag· Köln· Weimar· Wien Verlag Barbara Budrich . Dpladen . Farmington Hills facultas.wuv· Wien Wilhelm Fink· München A. Francke Verlag· Tübingen und Basel Haupt Verlag· Bern . Stuttgart . Wien Julius Klinkhardt Verlagsbuchhandlung· Bad Heilbrunn Ludus & Ludus Verlagsgesellschaft . Stuttgart Mohr Siebeck . Tübingen Drell Füssli Verlag· Zürich Ernst Reinhardt Verlag· München· Basel Ferdinand Schöningh . Paderborn . München· Wien· Zürich Eugen Ulmer Verlag· Stuttgart UVK Verlagsgesellschaft . Konstanz Vandenhoeck & Ruprecht· Göttingen vdf Hochschulverlag AG an der ETH Zürich
Jean Grondin
Hermeneutik Aus dem Französischen übersetzt von Ulrike Blech
Vandenhoeck & Ruprecht
Prof. Dr. Dr. h.c. Jean Grondin studierte Philosophie, Klassische Philologie und Theologie an den Universitäten Montreal, Heidelberg und Tübingen (dort Promotion 1982). Er ist seit 1991 Professor an der Universite de Montreal (Kanada). Seine philosophischen Veröffentlichungen sind großenteils auch in deutscher Übersetzung erschienen.
L'hermeneutique, "Que sais-je?" n° 3758, I'''ed. 2006 de Jean Grondin © Presses Universitaires de France (2. Auflage 2008). Die Übersetzung ist vom Autor geprüft, aktualisiert und ergänzt.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© 2009, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen Internet: www.v-r.de ISBN 978-3-525-03326-5 Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Hinweis zu § 52a UrhG: Weder das Werk noch seine Teile dürfen ohne vorherige schriftliche Einwilligung des Verlages öffentlich zugänglich gemacht werden. Dies gilt auch bei einer entsprechenden Nutzung fur Lehr- und Unterrichtszwecke. Printed in Germany. Umschlaggestaltung: Atelier Reichert, Stuttgart Druck und Bindung: @ Hubert & Co, Göttingen UTB Bestellnummer ISBN 978-3-8252-3202-3
Inhalt
Einfiihrung. Was Hermeneutik alles sein kann ........................ 7 I.
Die klassische Auffassung von Hermeneutik ............. 13
II.
Das Entstehen einer universelleren Hermeneutik im 19. Jahrhundert ...................................................... 17 1. Friedrich Schleiermacher (1768-1834) ................... 17 2. Wilhelm Dilthey (1833-1911) ................................ 24
III.
Die existenziale Wende der Hermeneutik bei Heidegger .............................................................. 30 1. Eine Hermeneutik der Faktizität ............................. 31 2. Die Hermeneutik des Daseins in Sein und Zeit ...... 34 3. Eine neue Hermeneutik des Verstehens .................. 37 4. Der Zirkel des Verstehens ..................................... ). 41 5. Heideggers spätere Hermeneutik ............................ 43
IV.
Bultmanns stillschweigender Beitrag zur Entstehung der nachheideggerschen Hermeneutik ........................ 45
V.
Hans-Georg Gadamer. Eine Hermeneutik des Verstehensgeschehens ............ 50 1. Eine nicht methodologische Hermeneutik ............. 50 2. Das Modell der Kunst ............................................ 54 3. Vorurteile als Bedingungen des Verstehens .......... 56 4. Die Wirkungsgeschichte und ihr Bewusstsein ....... 59 5. Die Horizontverschmelzung ................................... 62 6. Sprache als Gegenstand und Vollzug ..................... 64
6
Inhalt
VI.
Hermeneutik und Ideologiekritik ............................... 1. Bettis methodologische Reaktion ........................... 2. Gadamers Verdienst aus Habermas' Sicht ............. 3. Habermas' Qadamerkritik ......................................
68 68 70 73
VII.
Paul Ricamr. Eine Hermeneutik des historischen Selbst angesichts des Konfliktes der Interpretationen ............................. 79 1. Ein Weg mit Umwegen .......................................... 79 2. Eine hermeneutisch gewordene Phänomenologie .. 83 3. Der Konflikt der Interpretationen ........................... 85 4. Eine neue Hermeneutik des Erklärens ................... 88 5. Die Hermeneutik des geschichtlichen Bewusstseins ........................................................... 91 6. Eine hermeneutische Phänomenologie des »fahigen« Menschen ......................................... 94
VIII. Hermeneutik und Dekonstruktion ............................... 97 1. Dekonstruktion, Hermeneutik und Interpretation bei Derrida ........................................ 97 2. Das Pariser Treffen ................................................ 101 3. Die Folgen des Treffens ....................................... 109 4. Der letzte Dialog .................................................. 111 IX.
Postmoderne Hermeneutik. Rorty und Vattimo ........ 114 1. Rorty ..................................................................... 114 2. Vattimo ................................................................. 119
Schlussfolgerung. Die Gesichter der hermeneutischen Universalität.. ... 124 Bibliografie ........................................................................... 132 Register ................................................................................ 135
Einführung
Was Henneneutik alles sein kann Die relativistische Koine unserer Zeit? - Vor einiger Zeit haben Jean Bricmont und Alan Sokal einen Scherz inszeniert, um den Scharlatanismus anzuprangern, der ihrer Meinung nach in den Geisteswissenschaften grassiert. Sie reichten einen Artikel voller Absurditäten ein bei der amerikanischen Zeitschrift Social Textein Titel, der ein wenig suggeriert, dass jedes kulturelle oder wissenschaftliche Erzeugnis als einfacher »sozialer Text« angesehen werden kann, folglich als ideologische Interpretation oder Konstruktion. Der Artikel sollte beweisen, dass die Quantenphysik trotz ihres Anspruchs auf Objektivität selbst nur eine soziale Konstruktion sei. Gespickt mit Belegen zu Einsteins Gleichungen, aber auch zu den herausragenden Meistem der »Dekonstruktion« (darunter Lacan und Derrida), wurde der Artikel angenommen und veröffentlicht. Diesen Schwindel, der in Frankreich ziemlich viel Staub aufgewirbelt hat, klärten die Autoren umgehend öffentlich auf. l Wenn diese Polemik uns hier als Ausgangspunkt dienen kann, liegt es allein daran, dass der Begriff »Hermeneutik« im Titel des Artikels auftauchte, der bei der Zeitschrift eingereicht wurde: »Grenzen überschreiten: zu einer transformativen Hermeneutik der Quantengravitation«. Man darf getrost sein, die Idee einer »transformativen Hermeneutik« verweist auf nichts Genaueres. Aber indem sich die Autoren auf den Begriff »Hermeneutik« stützten, nahmen sie einen modischen Begriff auf, der manchmal zur Beschreibung des gegenwärtigen, »postmodernen« und rela1
J. Bricmont et A. Soka1, Impostures intellectuelles, Paris 1997.
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Einfiihrung
tivistischen Denkens dient, just dieses Denkens, das Bricmont und Sokal anprangern wollten. Denn das ist sehr wohl eine der möglichen Bedeutungen des Begriffs »Hermeneutik«. Der Ausdruck dient nämlich oft - und nicht ganz zu Unrecht - zur Bezeichnung eines intellektuellen und kulturellen Raums, in dem es keine Wahrheit gibt, weil alles Interpretationssache sein soll. Diese Universalität der Interpretation ist erstmals ausgedrückt worden in dem donnernden Nietzsche-Wort: »Nein, gerade Thatsachen giebt es nicht, nur Interpretationen«.2 Von dieser relativistischen Hermeneutik konnte Gianni Vattimo sagen, sie sei die Koine - die gemeinsame Sprache - unserer Zeit. 3 Dennoch - daran werden wir immer wieder erinnern - ist diese Auffassung genau dem entgegengesetzt, was Hermeneutik immer sein wollte, nämlich eine Wahrheits lehre im Interpretationsbereich. Die klassische Hermeneutik wollte tatsächlich Regeln aufstellen, um Willkür und Subjektivismus in den Fächern, die mit Interpretation zu tun haben, zu bekämpfen. Eine Hermeneutik, die sich Willkür und Relativismus verschreibt, verkörpert folglich einen Widersinn, den man sich ausgeprägter nicht denken kann. Dabei verlief der Weg von der klassischen Auffassung zur »postmodernen« Hermeneutik nicht ganz ohne Logik. Er ist verbunden mit einer gewissen Erweiterung des Interpretationsrahmens, die aber nicht notwendig zum postmodernen Relativismus fUhrt. Drei mögliche Hauptbedeutungen der Hermeneutik. - Im engsten und gebräuchlichsten Sinn des Wortes dient »Hermeneutik« heute zur Charakterisierung des Denkens von Autoren wie Hans-Georg Gadamer (1900-2002) und Paul Ricceur (19132005), die eine umfassende Philosophie der Interpretation und 2 F. Nietzsche, Kritische Studienausgabe, hg. von G. Colli und M. Montinari, Berlin/New York 1980, Band 12, S. 315 (= Wille zur Macht, 481). Zur hermeneutischen Tragweite dieser Stelle vgl. jetzt K. Hübner, »Hermeneutik des Verdachts bei Friedrich Nietzsche«, in: New Testament Studies 51 (2008), S. 115-138. 3 G. Vattimo, Jenseits der Interpretation. Die Bedeutung der Hermeneutikfür die Philosophie, Frankfurt am Main 1997, S. 13.
Einfiihrung
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der Geisteswissenschaften entwickelt haben, in der die geschichtliche und sprachliche Anlage unserer Welterfahrung. betont wird. Von da an wirkten Gadamers und Ricreurs Gedanken in einem Großteil der intellektuellen Debatten fort, die während der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts Richtpunkte setzten (Strukturalismus, Ideologiekritik, Dekonstruktion, Postmoderne) - Rezeptionen, die also auch Teil dessen sind, was sich als die »hermeneutische Bewegung« charakterisieren ließe. Indes, die hermeneutischen Ansätze Gadamers und Ricreurs und ihrer Erben berufen sich oft auf die frühere Tradition der Hermeneutik, als diese noch keine universelle Interpretationsphilosophie bezeichnete, sondern lediglich die Kunst, Texte richtig zu deuten. Da nun diese frühere Auffassung aber immer vorausgesetzt und von der neueren Hermeneutik diskutiert wird, muss man sie in einer Gesamtdarstellung der Hermeneutik berücksichtigen. So lassen sich drei mögliche Hauptbedeutungen der Hermeneutik unterscheiden, die im Lauf der Geschichte aufeinander folgten, von denen aber auch jede einzelne eine aktuelle und berechtigte Sicht der hermeneutischen Aufgabe darstellt. 1. Im klassischen Sinn des Wortes bezeichnete »Hermeneutik« einmal die Kunst, Texte richtig zu deuten. Diese Kunst hatte sich hauptsächlich in Disziplinen entfaltet, die mit der Interpretation heiliger oder kanonischer Texte zu tun hatten: in der Theologie (die eine hermeneutica sacra ausgearbeitet hat), in der Rechtswissenschaft (hermeneutica iuris) und der Philologie (hermeneulica profana). Die »Hermeneutik« erfreute sich dabei einer Hilfsfunktion, indem sie einem Interpretationsverfahren zur Seite stand, das immer dann eine Auslegungshilfe brauchte, wenn es sich um zweideutige oder anstößige Stellen handelte. Ihre Absicht war durchaus normativ: Sie bot Regeln, Richtlinien oder Kanones an, die eine gute Textauslegung ermöglichten. Die meisten dieser Regeln entstammten der Rhetorik, einer der grundlegenden Wissenschaften des trivium (neben Grammatik und Dialektik), in der man oft hermeneutische Betrachtungen zur Auslegekunst fand, so bei Quintilian (30-100), der die exegesis
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Einführung
(enarratio) in seinem Werk De institutione oratoria (1,9) behandelt, besonders aber bei Augustinus (354--430), der in seiner Abhandlung über die christliche Lehre (De doctrina christiana) Regeln zur Textinterpretation zusammengestellt hat - ein Meilenstein in der Geschichte der Hermeneutik. 4 Diese Tradition erfreute sich einer nachhaltigen Blütezeit im Protestantismus, der mehrere Abhandlungen zur Hermeneutik hervorgebracht hat, die sich meist vom Vorbild der Rhetorica (1519) von Melanchthon (1497-1560) inspirieren ließen. Diese Tradition, in der die Hermeneutik als normative Hilfswissenschaft für die auslegenden Wissenschaften verstanden wird, blieb bis hin zu Friedrich Schleiermacher (1768-1834) weitgehend unangefochten. Zwar gehört Letzterer noch zu dieser Tradition, aber sein Entwurf einer universelleren Hermeneutik kündigt bereits eine zweite Hermeneutik-Auffassung an, die insbesondere von Wilhe1m Dilthey (1833-1911) eingeführt wird. 2. Dilthey ist die klassischere Tradition der Hermeneutik bestens vertraut; sie bleibt immer Voraussetzung, aber er bereichert sie um eine neue Aufgabe: Wenn die Hermeneutik sich den Regeln und Methoden der Verstehenswissenschaften widmet, so erscheint sie berufen, als methodisches Fundament aller Geisteswissenschaften (Literaturwissenschaft, Geschichte, Theologie, Philosophie und der heute so genannten »Sozialwissenschaften«) zu dienen. Die Hermeneutik wird damit eine methodologische Grundlagenrejlexion über den Wahrheitsanspruch und den wissenschaftlichen Status der Geisteswissenschaften. Diese Überlegung entsteht vor der Folie des Aufschwungs der Naturwissenschaften im 19. Jahrhundert - ein Erfolg, der durchweg ihrer Methodenstrenge zugeschrieben wird, nach deren Maßstäben die Geisteswissenschaften ziemlich zurückgeblieben scheinen. Um als Wissenschaft respektabel zu sein, sei es für die Geisteswissenschaften erforderlich, auf eine Methodenlehre 4
Aurelius Augustinus, Die christliche Bildung, übers. v. KarlaPollmann,
Stuttgart 2002.
Einführung
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gegründet zu sein; diese hervorzubringen könnte Aufgabe der Hermeneutik werden. 3. Die dritte Hauptbedeutung ist auf weite Strecken als Reaktion auf diese methodologische Auffassung der Hermeneutik entstanden. Sie nimmt die Form einer universellen Interpretationsphilosophie an. Deren Grundidee (die beim späten Dilthey angedeutet ist) ist, dass Verstehen und Auslegung nicht nur in den Geisteswissenschaften anzutreffende Methoden sind, sondern grundlegende Vorgänge, die man mitten im Leben selbst findet. Interpretation erscheint damit immer stärker als Wesensmerkmal unserer Welterfahrung. Diese Bedeutungserweiterung des Begriffs »Interpretation« ist verantwortlich für die Fortentwicklung, die der Hermeneutik im 20. Jahrhundert zugute gekommen ist. Diese Fortentwicklung kann sich auf zwei Paten berufen: einen anonymen Paten in Nietzsche (anonym, weil Nietzsche nicht viel von Hermeneutik gesprochen hat) und seiner universellen Interpretationsphilosophie und einen offizielleren Paten in Heidegger, auch wenn Letzterer eine sehr eigene Hermeneutik-Auffassung die mit der klassischen, methodologischen Hermeneutik bricht vertritt. Für ihn hat es Hermeneutik nicht zunächst mit Texten zu tun, sondern mit der Existenz selbst; diese ist schon von Interpretationen durchdrungen, die sie aber ans Licht bringen kann. Damit wird Hermeneutik in den Dienst einer Existenzphilosophie gestellt, die darauf abzielt, den Menschen zu seinen Verstehenskapazitäten aufzuwecken. Es vollzieht sich hier ein Übergang von der klassischen »Texthermeneutik« zu einer »Existenzhermeneutik« unerhörter Art. Die meisten großen Vertreter der zeitgenössischen Hermeneutik (Gadamer, Ricreur und ihre Nachfolger) stehen in der Nachfolge Heideggers, verfolgen aber seinen »direkten Weg« der Existenzphilosophie nicht wirklich. Stattdessen nehmen sie den Dialog mit den Geisteswissenschaften wieder auf, den Heidegger mehr oder weniger hinter sich gelassen hatte. Sie knüpfen wieder an Schleiermachers und Diltheys Tradition an, ohne aber der Her-
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Einführung
meneutik in erster Linie eine methodologische Funktion zuzuerkennen (obwohl Ricreur der traditionellen, methodenorientierten Hermeneutik eher folgt als Gadamerl). Ihr Anliegen ist es eher, eine angemessenere Hermeneutik der Geisteswissenschaften zu entwickeln, die - befreit vom ausschließlich methodologischen Paradigma - der sprachlichen und historischen Dimension menschlichen Verstehens gerechter wird. Indem sie die Form einer universellen Verstehensphilosophie annimmt, verlässt diese Hermeneutik letztlich die Ebene einer methodologischen Grundlagenreflexion über die Geisteswissenschaften und erhebt einen universellen Anspruch. Wir werden sehen, dass diese Universalität unterschiedliche und unterscheidungsWÜfdige Formen annehmen kann.
5 Siehe dazu meine neuere Arbeit »De Gadamer a Ricreur. Peut-on parler d'une conception commune de l'hermeneutique?«, in: Paul RiclEUr: Df3 l'homme faillible al'homme capable, G. Fiasse (Hg.), Paris 2008, S. 37--62.
I
Die klassische Auffassung von Hermeneutik Der Begriff hermeneutica taucht erst im 17. Jahrhundert auf; der Straßburger Theologe Johann Conrad Dannhauer erfand ihn zur Bezeichnung für etwas, was man vorher Auslegungslehre oder Auslegekunst nannte. Dannhauer war auch der Erste, der diesen Begriff im Titel eines Werkes verwendete, in seiner Hermeneutica sacra sive methodus exponendarum sacrarum litterarum von 1654, ein Titel, der an sich die klassische Bedeutung der Disziplin glücklich zusammenfasst: eine heilige Hermeneutik, gedacht als Methode zur Auslegung (exponere auslegen, erklären) der Heiligen Schrift. Wenn es einer solchen Methode bedurfte, lag das daran, dass die Bedeutung dieser Schriften nicht immer sonnenklar war. »Interpretation« (exponere, interpretari) ist hier die Methode oder das Vorgehen, das den Zugang zum Verstehen der Bedeutung, die Einsicht, ermöglicht. Unbedingt festzuhalten ist hier die Zweck-Mittel-Beziehung zwischen der Interpretation und dem Verstehen, denn beide Begriffe, d.h. sowohl Interpretation als auch Verstehen, werden in der späteren hermeneutischen Tradition unterschiedliche Bedeutungen, speziell bei Heidegger, bekommen. Das aus dem Lateinischen entlehnte Wort »Interpretation« stammt vom griechischen Verb hermeneuein ab, das zwei Hauptbedeutungen hat: Das Wort bezeichnet sowohl den Ausdrucksprozess (die Sprechweise, den Ausdruck und Vortrag) als auch den Erklärungsprozess (oder die Übersetzung). In beiden Fällen geht es um das Vermitteln von Sinn, das in zwei Richtungen möglich ist. Die Vermittlung kann 1. vom Gedanken ausgehen und zur Rede führen oder 2. von der Rede ausgehend zum Ge-
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Die klassische Auffassung
danken zurückfiihren. Heute sprechen wir von Interpretation nur noch, um den letzteren Vorgang zu bezeichnen, der von der Rede zum dahinter stehenden Gedanken führt. Die Griechen aber verstanden schon die Sprechweise selbst als »hermeneutischen« Prozess der Sinnvermittlung, der den Ausdruck und die Übersetzung der Gedanken in Worte bestimmt. Das Wort hermeneia bezeichnet übrigens auch die Aussage. Das zweite Buch des Organon von Aristoteles, das der Aussage gewidmet ist, trägt die Überschrift Peri hermeneias, die man im Lateinischen mit De interpretatione übersetzt hat. Natürlich geht es hier nicht um Interpretation in dem Sinn, wie wir sie verstehen, d.h. als Erklärung einer Rede, die zu der ihr zugrundeliegenden Bedeutung zurückkehrt, sondern im Gegenteil um die Erklärung der Bestandteile der Aussage selbst; diese Aussage wird bereits als Sinnvermittlung aufgefasst. Das griechische Verständnis des Wortes ist deshalb erhellend, weil es uns einzusehen hilft, dass der Interpretationsvorgang nicht mehr und nicht weniger zu leisten hat als die Umkehrung des Redevorgangs selbst, der von der »inneren Rede« (logos endiathetos) zur »äußeren Rede« (logos prophorikos) geht, wie es später die Stoiker eindrucksvoll beschreiben.! Hier ist folglich das hermeneutische Bemühen um Sinnerklärung, das von der äußeren Rede ausgehend die innere Rede zurückverfolgt, zu unterscheiden vom rhetorischen Bemühen um Ausdruck, das der im strengen Sinn hermeneutischen Aufgabe vorausgeht und ihr erst den Sinn gibt: Man kann einen Ausdruck nicht interpretieren wollen, um den Sinn zu verstehen, ohne vorauszusetzen, dass er etwas ausdrückt und dass er insofern der Ausdruck einer inneren Rede ist. Kein Zufall ist es also, dass die hermeneutischen Hauptregeln meistens der Rhetorik entnommen wurden, der Kunst der Rede, die auf der Idee aufbaut, dass der mitzuteilende Gedanke wirksam in der Rede vorgebracht werden soll. Das gilt besonders für ! Zur grundlegenden Funktion dieser Einsicht fiir die Henneneutik siehe meine Einfiihrung in die philosophische Hermeneutik, 2. Aufl. Darmstadt 2001.
Die klassische Auffassung
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die hermeneutische Hauptregel vom Ganzen und von den Teilen, der zufolge die Teile eines Schriftstücks nur zu verstehen sind, indem man vom ganzen Gebilde der Rede und von ihrer Gesamtabsicht ausgeht. Platon stellte in seinem Phaidros (264 c) dieses Prinzip als die Grundregel des rhetorischen Aufbaus vor: Ein Text solle wie ein Lebewesen komponiert sein, also wie ein Körper, der eine Mitte hat und Glieder, die so verfasst sind, dass sie zueinander und zum Ganzen passen. Selbstverständlich muss der Interpret die gängigen Redefiguren kennen, die »Tropen« der Rhetorik, wenn er Texte richtig interpretieren will. Die bedeutenden Theoretiker der klassischen Auffassung von Hermeneutik waren fast durchweg Lehrer der Rhetorik. Das gilt auch für den heiligen Augustinus, der selbst stark durch Ciceros Rhetorik beeinflusst wurde. Bevor er zum Interpretationstheoriker wurde, war er längst Praktiker. Bei ihm findet man mehrere Interpretationen (expositiones) heiliger Texte, vor allem der Apostelbriefe und der Genesis, auch schon in den Confessiones (deren letzte drei Bücher eine Interpretation der ersten Genesis-Verse bieten). In seinem Kommentar der Genesis nimmt er einen klassischen Lehrsatz auf, der auf Origines (ca. 185-254) und aufPhiion von Alexandria (ca. 13-54) zurückgeht. Demnach lässt die Heilige Schrift eine vierfache Bedeutung zu: »In allen heiligen Büchern ist es wichtig, ewige Wahrheiten (aeterna) zu unterscheiden von Tatsachen, über die berichtet wird (facta), von künftigen Ereignissen (futura) und von Handlungsregeln (agenda), die befohlen oder angeraten werden.«2 Aber um diese Wahrheiten, Tatsachen, künftigen Ereignisse und Handlungsregeln zu verstehen, bedarf es bestimmter Interpretationsregeln (praecepta), die Augustin in seinem Werk De doctrina christiana vorstellt. Sein Grundprinzip ist, dass jede Wissenschaft entweder mit Dingen (res) oder aber Zeichen (signa) zu tun hat. Sicher hat man den Dingen Priorität vor den 2 Sancti Aureli Augustini De genes i ad litteram libri duodecim, 1.1.1.; Deutschsprachige Fassung siehe z.B.: Augustin, Über den Wortlaut der Genesis, Paderbom 1961, S. 3.
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Die klassische Auffassung
Zeichen zuzugestehen, denn die Kenntnis des Zeichens setzt notwendig die des durch sie bezeichneten Dinges voraus. Das erste Buch der Doctrina christiana ist daher der Auslegung des »Dinges« gewidmet, das im biblischen Text dargestellt werden soll, nämlich der »christlichen Lehre« selbst, die sich auf den dreieinigen Gott und das von ihm angebotene Heil gründet. Augustin unterscheidet diesbezüglich zwei Typen von Dingen: diejenigen, die man um ihrer selbst willen genießt (jrui), die ihren Zweck in sich selbst haben, und diejenigen, die man zu einem anderen Zweck benutzt (uti). Nur die ewigen Dinge gewähren einen wirklichen Genuss, und ihre Kenntnis entspricht dem höchsten Gut, dem summum bonum. Nach Augustin bestand das Ziel der göttlichen Menschwerdung genau darin, diesen Unterschied - der sich im Grundsatz der Liebe ausdrückt - zu lehren (zunächst geht es dabei um die Liebe Gottes zu seiner Schöpfung). Augustin leitet hieraus ein erstes hermeneutisches Prinzip ab: Alle Texte sind im Zusammenhang mit dem Liebesgebot zu interpretieren, durch das alles Veränderliche zum Ewigen zurückgeführt wird. Die dicta (Aussagen) und signa (Zeichen) der Heiligen Schrift müssen in Hinblick auf diese wesentliche res verstanden werden. Um aber zu verstehen, inwiefern die Zeichen auf diese res verweisen, ist es nötig, die Wissenschaften zu studieren, besonders Grammatik und Rhetorik. Rhetorik lehrt uns, Tropen und Stilfiguren der Bibel zu erkennen und den eigentlichen Sinn vom übertragenen Sinn zu unterscheiden. Die Regeln der Doctrina christiana - nach rhetorischem Vorbild - wurden zur Grundlage der gesamten mittelalterlichen Exegese. Weitgehend wieder aufgenommen von den ersten großen Theoretikern der protestantischen Hermeneutik (Melanchthon, Matthias Flacius, Dannhauer), konnten sie sich bis hin zu Schleiermacher, mit dem »Hermeneutik« eine neue Bedeutungsfülle bekam, behaupten.
II
Das Entstehen einer universelleren Hermeneutik im 19. Jahrhundert 1. Friedrich Schleiermacher (1768-1834)
Als Zeitgenosse der großen Denker des deutschen Idealismus, Fichte, Hegel und Schelling (dabei näher an der Romantik Friedrich Schlegels), war Schleiermacher gleichzeitig bedeutender Philologe, hervorragender Theologe, Philosoph und Theoretiker der Hermeneutik. Als Philologe übersetzte er die gesamten Dialoge Platons ins Deutsche, dazu verfasste er wichtige Einführungen, die die Platon-Studien bis heute beeinflusst haben. Karriere machte er aber vor allem in der Theologie. Nachdem er seine wirkungsvollen Reden Über die Religion (anonym) 1799 veröffentlicht hatte, in denen er die Idee verteidigte, dass die Religion aus einem gefühlten »Anschauen des Universums«l entspringt (darin huldigte er einem subjektivistischen Ansatz, der im Übrigen nicht nur seine Theologie, sondern auch seine Hermeneutik kennzeichnet), wurde er 1804 zum Theologieprofessor in Halle berufen, bis er 1810 erster Dekan der Theologischen Fakultät an der neu gegründeten Universität in Berlin wurde. Dort veröffent1 F. Schleiermacher, Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern, Hamburg 1958, S. 31. Erst in Der christliche Glaube (2. Aufl. Berlin 1830, S. 16,243) spricht er von einem Gefühl »schlechthinniger Abhängigkeit« von Gott. Vgl. S. 16: »Das gemeinsame aller noch so verschiedenen Äußerungen der Frömmigkeit, wodurch diese sich zugleich von allen andem Gefühlen unterscheiden, also das sich selbst gleiche Wesen der Frömmigkeit ist dieses, daß wir uns unsrer selbst als schlechthin abhängig, oder, was dasselbe sagen will, als in Beziehung mit Gott bewußt sind«.
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Universellere Henneneutik im 19. Jahrhundert
lichte er von 1821-1822 ein bedeutendes dogmatisches Werk: Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhang dargestellt (2 Bände). Außerdem hielt Schleiermacher Philosophievorlesungen: Nach seinem Tod wurden seine Dialektik(1839), seine Ethik (1836) und seine Ästhetik (1842) veröffentlicht. Hier interessiert er uns natürlich nur in seiner Eigenschaft als Hermeneutiker. Wichtig zu wissen ist, dass Schleiermacher in Halle ausgebildet wurde, einer Hermeneutik-Hochburg des 18. Jahrhunderts, wo die großen Denker der rationalistischen und pietistischen Hermeneutik des 18 . Jahrhunderts gelehrt hatten. Schleiermacher selbst ließ niemals eine systematische Darstellung seiner Hermeneutik veröffentlichen. Zu seinen Lebzeiten erschien nur der Text der beiden Reden, die er 1829 vor der Berliner Akademie hielt: »Über den Begriff der Hermeneutik mit Bezug auf F. A. Wolfs Andeutungen und Asts Lehrbuch«. Während der gesamten Zeit seiner Lehrtätigkeit widmete Schleiermacher aber der Hermeneutik zahlreiche Vorlesungen. Aufgrund der Vorlesungsmanuskripte und Notizhefte seines Lehrers veröffentlichte sein Schüler Lücke 1838 eine Zusammenfassung der schleiermachersehen Ideen unter dem Titel Hermeneutik und Kritik mit besonderer Beziehung auf das Neue Testament, ein Titel, der ihn der klassischen Hermeneutiktradition zuweist (»Kritik« bezeichnet hier die philologische Disziplin, die sich mit textkritischer Edition befasst). Dem Beispiel aller großen Theoretiker der Hermeneutik folgend schöpft Schleiermacher ergiebig aus der rhetorischen Tradition. 2 Ganz zu Anfang seiner Hermeneutik liest man nämlich, dass »jeder Akt des Verstehens die Umkehrung eines Aktes des Redens ist, indem in das Bewußtsein kommen muß, welches Denken der Rede zum Grunde gelegen«.3 Wenn es zutrifft, dass 2 Über die enge Beziehung zwischen beiden Disziplinen siehe Die Hermeneutik und die rhetorische Tradition, in: J. Grondin, Von Heidegger zu Gadamer. Unterwegs zur Hermeneutik, Dannstadt 2001, S. 17-45. 3 F.D.E. Schleiermacher, Hermeneutik und Kritik, hg. von M. Frank, Frankfurt 1977, S. 76.
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Universellere Hermeneutik im 19. Jahrhundert
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»jede Rede auf einem früheren Denken beruht«,4 muss die erste Verstehensaufgabe darin liegen, den Ausdruck auf die beabsichtigte Bedeutung, die ihn hervorgebracht hat, zurückzufiihren: »Gesucht wird dasselbe in Gedanken, was der Redende hat ausdrücken gewollt«. 5 Hermeneutik ist so als die Umkehrung der Rhetorik zu verstehen. Folglich ist es die »Aufgabe, aus der Sprache den Sinn einer Rede zu verstehen«.6 »Alles Vorauszusetzende in der Hermeneutik ist nur Sprache«, sagt Schleiermacher in einem fiir die künftige Hermeneutik wegweisend gewordenen W ort.7 Die der Sprache gewidmete Hermeneutik gliedert sich in zwei große Teile: die grammatische Interpretation, die jede Rede von der vorgegebenen Sprache und der Syntax her aufrollt, und die psychologische Interpretation (manchmal »technische« Interpretation genannt), die in der Rede eher den Ausdruck einer individuellen Seele sucht. Wenn auch der Interpret immer vom alles umspannenden Rahmen der Sprache ausgehen muss, so ist es doch ganz offensichtlich, dass Menschen bei Verwendung derselben Worte nicht immer dasselbe denken (was ganz besonders fiir geniale Denkschöpfungen zutrifft, die den Wortschatz einer Sprache bereichern). Wäre es anders, seufzt Schleiermacher, »gäbe es nur Grammatik«. B Die psychologische Interpretation verkörpert vielleicht den originellsten Aspekt Schleiermachers (hierauf besteht später Gadamer, allerdings, um eine übertriebene Psychologisierung anzuprangern, die das Ziel des Wahrheitsverständnisses aus dem Blick verlieren würde). Schleiermacher hatte sie als »technische« Interpretation bezeichnet, weil sie die spezielle Kunst (techne) eines Verfassers, die fiir ihn charakteristische Virtuosität, zu verstehen versucht.
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6 7 B
F.D.E. Schleiennacher, Hermeneutik und Kritik, S. 78. Schleiermacher-Archiv 1, Teilband 2, 1985, S. 1276. Ebd. Hermeneutik, hg. von H. Kimmerle, Heidelberg 1959, S. 38. Schleiennacher-Archiv 1, Teilband 2,1985, S. 1276.
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Universellere Hermeneutik im 19. Jahrhundert
Schleiennachers Hoffnung galt der Entwicklung einer >>Universellen Henneneutik«, die es noch nicht gab: »Die Hermeneutik als Kunst des Verstehens existiert noch nicht allgemein, sondern nur mehrere spezielle Henneneutiken.«9 Hier wird eine allgemeine Henneneutik ins Auge gefasst, die sich nicht auf einen begrenzten Bereich beschränkt, wie bei den speziellen Henneneutiken des Neuen Testaments oder der Jurisprudenz. Und wenn die Henneneutik einen universellen Status zu erwerben hat, dann in ihrer Eigenschaft als Kunst (oft: Kunstlehre) des Verstehens. Die Betonung des Verstehens ist aufs Ganze gesehen ziemlich neu, da die Henneneutik bis dahin eher verstanden wurde als Kunst der Interpretation (ars interpretandi), als Auslegungslehre, die zum Verstehenfohren solle. Jetzt ist es der Verstehensvorgang selbst, der der Absicherung durch eine Kunstlehre bedarf; in diesem Beharren kann man das schon in Schleiennachers Theologie des Gefühls auftauchende, subjektive Moment erkennen. Zu dieser Betonung gesellt sich Schleiennachers eigene Thematik, die der Verallgemeinerung des möglichen Missverständnisses. Was erlaubt uns zu behaupten, unser Verstehen sei richtig? Diesbezüglich unterscheidet Schleiennacher zwei recht unterschiedliche Auffassungen von Interpretation: 1. einen freieren Gebrauch, der davon ausgeht, dass »sich das Verstehen von selbst ergibt«. Für diese Auffassung bildet das Missverständnis eher die Ausnahme; ihr henneneutisches V Ofgehen »drückt das Ziel negativ aus: Mißverstand soll vennieden werden«.IO Hier ist die klassische Auffassung von Henneneutik erkennbar, die aus der Henneneutik eine Hilfswissenschaft machte, auf die man nur bei mehrdeutigen Stellen zugriff. 2. einen strengeren Gebrauch, der - im Gegensatz dazu - davon ausgeht, dass »sich das Mißverstehen von selbst ergibt und
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F.D.E. Schleiermacher, Hermeneutik und Kritik, S. 75. Ebd., S. 92.
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das Verstehen auf jedem Punkt [... ] gewollt und gesucht werden« mussY Aus dieser Unterscheidung ergeben sich weitreichende Folgerungen. Der freiere Interpretationsbegriff wird einem intuitiven Vorgehen zugeordnet, das keiner Regel und keiner Kunstlehre folgt. Er setzt ja voraus, dass das Verstehen sich spontan einstellt. Wenn nun aber das Missverständnis das Natürliche wäre und man ständig dagegen ankämpfen müsste? Dies ist Schleiermachers Voraussetzung. Verstehen soll in allen Einzelheiten den strengen Regeln der Kunst gemäß vor sich gehen: »Das Geschäft der Hermeneutik darf nicht erst da anfangen, wo das Verständniß unsicher wird, sondern vom ersten Anfang des Unternehmens an, eine Rede verstehn zu wollen.«12 Was der Hermeneutik fehlt, stellt Schleiermacher später fest, ist folglich: mehr Methode. »Die hermeneutischen Regeln müssen mehr Methode sein«13. So weist Schleiermacher den Weg zu einer entschieden methodischen Auffassung der Hermeneutik (die Gadamer ebenfalls kritisieren wird), um die Gefahr des möglicherweise universellen Missverständnisses in Grenzen zu halten. Damit hört Hermeneutik auf, eine bloße Hilfsfunktion innezuhaben, und wird stattdessen zur conditio sine qua non jeglichen Verstehens, das diesen Namen verdient. Sie wird im strengen Sinne eine »Kunstlehre« des Verstehens. Deshalb nimmt das grundsätzliche Verfahren der Hermeneutik oder des Verstehens die Form einer Rekonstruktion an. Um eine Rede gut zu verstehen und das ständige Abdriften ins Missverständnis einzuschränken, muss ich sie von ihren einzelnen Elementen aus rekonstruieren, als wäre ich der Verfasser. Aufgabe der Hermeneutik ist demnach, »die Rede zuerst ebensogut und dann besser zu verstehen als ihr Urheber«,14 wenn man einer von Schleiermacher oft (auch in anderen Lesarten) wieder-
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12 13 14
Ebd. Schleiennacher-Archiv 1, Teilband 2, 1985, S. 1272. F.D.E. Schleiennacher, Hermeneutik und Kritik, S. 84. Ebd., S. 94.
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holten Maxime folgt. Diese Maxime ist vermutlich erstmals von Kant formuliert worden, als er in seiner Kritik der reinen Vernunft sagte: »Ich merke nur an, dass es gar nichts Ungewöhnliches sei, sowohl im gemeinen Gespräche, als in Schriften, durch die Vergleichurig der Gedanken, welche ein Verfasser über seinen Gegenstand äußert, ihn sogar besser zu verstehen, als er sich selbst verstand, indem er seinen Begriff nicht genugsam bestimmte« (A 314/B 370). Schleiermacher macht daraus ein allgemeines Prinzip seiner Hermeneutik, die damit den Weg entstehungs geschichtlicher Erklärung einschlägt: Verstehen bedeutet von jetzt an, »das Entstehen von ... zu rekonstruieren« (eine entstehungsgeschichtliche und psychologisierende Strömung, die übrigens die genetischen Interpretationen charakterisiert, deren Blütezeit im 19. Jahrhundert beginnt). Die Idee stammt aus dem deutschen Idealismus: Man versteht etwas, wenn man dessen Entstehung begreift, angefangen mit dem ersten Ursprung. Für den Romantiker Schleiermacher ist dieser erste Ursprung das Aufkeimen der Entscheidung des Schriftstellers. Damit gibt Schleiermacher der Hermeneutik eine psychologische Ausrichtung. So sagt er in seinen Reden von 1829, dass »die Aufgabe der Hermeneutik darin besteht, den ganzen inneren Verlauf der komponierenden Tätigkeit des Schriftstellers auf das vollkommenste nachzubilden«.15 Während die Hermeneutik bei Schleiermacher also insgesamt ihrer klassischen Bestimmung - der Textinterpretation - treu bleibt, gewinnt sie gleichzeitig eine universellere Reichweite. Ein erster Universalitätsschub kündigt sich in dem Plan einer allgemeinen Hermeneutik an, die unter der Überschrift Verstehenslehre den speziellen Hermeneutiken - gewidmet jeweils bestimmten Texttypen - vorausgehen sollte (diese Universalitätsversion verteidigt Schleiermacher). Aber in der Idee, der zufolge Hermeneutik auf jedes richtige Verstehen anzuwenden sei, kommt ein zweites Universalitätsmoment ans Licht. Indem Schleiermacher dem strengen, von ihm empfohlenen Interpreta15
Ebd., S. 321.
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tionsverfahren folgt, verallgemeinert er hier - als Romantiker, der weiß, dass man immer Gefangener der eigenen Vorstellungen bleiben kann - das Risiko des möglichen Missverständnisses. Die Möglichkeit falschen Verstehens fuhrt zu einer methodischeren und rekonstruierenden Auffassung der hermeneutischen Aufgabe. Ein drittes Universalitätsmoment ist in einer Idee erkennbar, die in den Reden von 1829 entwickelt wird: Die Hermeneutik dürfe nicht auf schriftliche Texte beschränkt werden, sondern müsse auch auf alle Phänomene des Verstehens anwendbar sein. Die Hermeneutik [ist] auch nicht lediglich auf schriftstellerische Produktionen zu beschränken; denn ich ergreife mich sehr oft mitten im vertraulichen Gespräch auf hermeneutischen Operationen, wenn ich mich mit einem gewöhnlichen Grade des Verstehens nicht begnüge, sondern zu erforschen suche, wie sich wohl in dem Freunde der Übergang von einem Gedanken zum andern gemacht habe ( ...); [so ist] deutlich genug, daß die Auflösung der Aufgabe, für welche wir eben die Theorie suchen, keineswegs an dem für das Auge durch die Schrift fixierten Zustande der Rede hängt, sondern daß sie überall vorkommen wird, wo wir Gedanken oder Reihen von solchen durch Worte zu vernehmen haben. 16
Alles kann von nun an Gegenstand hermeneutischer Auslegung werden. Diese Verallgemeinerung geht Hand in Hand mit einer Erweiterung des Fremdartigen. Wenn die gesprochene Rede vorher noch keinen Platz im klassischen Aufgabenkanon der .Hermeneutik hatte, lag es gerade daran, dass sie zeitgenössisch, in jedem Augenblick gegenwärtig und von da her unmittelbar einsichtig war. Nur die schriftliche Rede, ganz besonders die Rede der antiken und zeitlich weit zurückliegenden Verfasser, hatte etwas Fremdartiges, das eine hermeneutische Vermittlung erforderte. Schleiermacher verallgemeinert diese Dimension: Die Rede eines anderen, auch wenn er ein Zeitgenosse ist, enthält immer etwas Fremdes. Die erste Bedingung der Hermeneutik ist in der Tat, dass etwas Fremdes verstanden werden soll, wenn wir einer 16
Ebd., S. 315.
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Idee folgen, die Schleiermacher Ast verdankt. Diese Problematik, wenn nicht gar Aporie, führt Schleiermacher dazu, die Frage vom Zirkel des Ganzen und der Teile anzuschneiden (eine Frage, die später den »hermeneutischen Zirkel« entstehen lässt). Schleiermacher kannte die zUgleich rhetorische und hermeneutische Regel vom Ganzen und den Teilen sehr wohl, aber er fragt sich ausdrücklich, »wie weit man mit Anwendung dieser Regel hinaufsteigen könne«.17 Sie lässt sich ja ausdehnen bis zu immer umfassenderen Sinnhorizonten: Ein Satz muss von seinem Kontext her verstanden werden, dieser vom Einzelwerk her, jenes vom Gesamtwerk und der Biografie eines Verfassers, die man wiederum von der geschichtlichen Epoche her verstehen muss, einer Epoche, die selbst nur aus der Universalgeschichte heraus verständlich wird. Etwas früher als Schleiermacher hatte der Hermeneutiker Ast l8 , ein Schüler Schellings, schon die unbegrenzte Ausdehnbarkeit dieser hermeneutischen Regel erkannt: Man muss den Geist einer Epoche verstehen, wenn man ein Werk auslegen will. Schleiermacher ist seinerseits darum bemüht, die »Potenzierbarkeit« des Verstehenskreises zu begrenzen. Er versucht in diesem Sinne, objektive und subjektive Markierungen zu setzen. Objektiv gesehen, meint er, muss das Werk zunächst aufgrund der literarischen Gattung, zu der es gehört, verstanden werden. Aber subjektiv gesehen ist das Werk auch Sache des Verfassers, es bildet einen Teil seines Lebens, dessen Kenntnis das Verstehen des Werks klären soll.
2. Wilhelm Dilthey (1833-1911) Die Hermeneutik, die bei Schleiermacher noch als philologische und theologische Hilfsdisziplin verstanden worden war, bekommt bei Dilthey eine eher methodologische Bedeutung. Unter Ebd., S. 330. F. Ast, Die Grundlagen der Grammatik, der Hermeneutik und der Kritik, Landshut 1808. 17 18
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Methodologie verstehen wir hier die Reflexion über die grundlegenden Methoden eines Wissenschaftstyps. Das Problem einer methodologischen Rechtfertigung der Geisteswissenschaften gab es fiir Schleiermacher noch nicht. Erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde diese Rechtfertigung vordringlich, mit Blick auf den gewaltigen Aufschwung der Naturwissenschaften, deren Methodologie Kant bereitgestellt haben soll. Kant wird zu dieser Zeit meist wahrgenommen als derjenige, der der traditionellen Metaphysik - die er als Wissenschaft des Übersinnlichen und somit als einen Widerspruch in sich verstand - den Todesstoß versetzt hat und der die Philosophie in eine Methodologie der Naturwissenschaften verwandelte. Aber was ergibt sich daraus rur die Geisteswissenschaften, fiir die Geschichte und besonders die Philologie, deren Fortschritt im 19. Jahrhundert nicht zu leugnen ist? Wenn es sich wirklich um Wissenschaften handelt, müssen sie auf Methoden beruhen, die deren Strenge begründen. Diese Methodenreflexion hofft Dilthey mittels eines kantisch inspirierten Programms herzustellen, nämlich mit Hilfe einer »Kritik der historischen Vernunft«. Dilthey hat den Plan dazu im ersten Band seiner Einleitung in die Geisteswissenschaften von 1883 dargelegt, dem einzigen Band, der zu seinen Lebzeiten erschien. Indem Dilthey dieses anspruchsvolle Programm einer »Kritik der historischen Vernunft« verteidigt, hundert Jahre nach Kants Kritik der reinen Vernunft, verspricht er eine »logische, epistemologische und methodologische« Fundierung der Geisteswissenschaften. Sie beabsichtigt, die Geisteswissenschaften auf ihnen eigene Kategorien (also in einer Logik) zu gründen, auf eine ihnen gemäße Erkenntnistheorie (Epistemologie) und eine Theorie ihrer spezifischen Methoden. Dilthey kämpft dabei gegen zwei starke Gegner: einerseits gegen den empirischen Positivismus Auguste Comtes oder John Stuart Mills, denen zufolge es keine spezifischen Methoden fiir die Geisteswissenschaften gibt (diese sollten auf die naturwissenschaftlichen Methoden zurückgreifen, wenn sie überhaupt Wissenschaften sein wollen), andererseits gegen die »Geschichtsmetaphysik« der idealistischen Philosophie, besonders Hegels,
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. der den Verlauf der Geschichte apriori zu rekonstruieren vorgab, den Bedingungen seines eigenen philosophischen Systems entsprechend. Ähnlich wie Kant es gemacht hatte, als er zugleich gegen den empirischen Skeptizismus Humes und gegen die schwärmerische Metaphysik kämpfte, versucht nun Dilthey, das Schiff der historischen Vernunft zwischen den Klippen des Positivismus und des Idealismus hindurchzusteuern. Um die methodologische Besonderheit der Geisteswissenschaften zu begründen, lässt sich Dilthey von der Unterscheidung des Historikers Droysen (1808-1884) zwischen Erklären und Verstehen leiten. Während die Naturwissenschaften Phänomene zu erklären versuchen, indem sie sie von Hypothesen und allgemeinen Gesetzen ableiten, wollen die Geisteswissenschaften eine historische Individualität von äußeren Erscheinungen aus verstehen. Die Methodologie der Geisteswissenschaften wird so zu einer Methodenlehre des Verstehens. Wir erinnern uns, dass dieser Verstehensbegriff und die Idee einer allgemeinen Verstehenstheorie eine große Rolle bei Schleiermacher spielten. Zu den zahlreichen Verdiensten Diltheys gehört auch, dass er ein scharfsinniger Kenner des schleiermacherschen Werks war. 1864 hatte er eine Dissertation über Schleiermachers Ethik abgeschlossen, 1867 eine bedeutende Studie über dessen »hermeneutisches System« verfasst (die erst 1966 veröffentlicht wurde) und 1870 eine umfangreiche Schleiermacher-Biografie veröffentlicht. In seiner Einleitung in die Geisteswissenschaften von 1883 ist zwar nicht von Hermeneutik die Rede, aber in der richtungweisenden Studie von 1900, die das Jahrhundert der Hermeneutik eröffnet, über »Die Entstehung der Hermeneutik«, gewinnt sie wegweisende Position. In dieser Studie zeichnet Dilthey in großen Zügen die Geschichte eines bis dahin weitgehend unbekannten Fachs, dessen größter Theoretiker in seinen Augen Schleiermacher war; neu ist die Funktion, die er dieser Disziplin zugesteht, die sich aus dem großen, methodologischen Problem der Geisteswissenschaften ergibt:
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Nun tritt uns die Frage nach der wissenschaftlichen Erkenntnis der Einze1personen, ja der großen Formen singulären menschlichen Daseins überhaupt entgegen. Ist eine solche Erkenntnis möglich und welche Mittel haben wir, sie zu erreichen? [... ] Und wenn die systematischen Geisteswissenschaften aus dieser objektiven Auffassung des Singulären allgemeine gesetzliche Verhältnisse und umfassende Zusannnenhänge ableiten, so bleiben doch die Vorgänge von Verständnis und Auslegung auch für sie die Grundlage. Daher sind diese Wissenschaften so gut wie die Geschichte in ihrer Sicherheit davon abhängig, ob das Verständnis der Singulären zur Allgemeingültigkeit erhoben werden kann. 19
Auf diese Frage verspricht die Hermeneutik zu antworten, verstanden als »Kunstlehre der Auslegung von Schriftdenkmalen«20, die Regeln fiir die Interpretation »von dauernd fixierten Lebensäußerungen«21 formuliert. Ziel der Interpretation ist es, das Singuläre zu verstehen, ausgehend von den äußeren Zeichen: »Wir nennen den Vorgang, in welchem wir aus Zeichen, die von außen sinnlich gegeben sind, ein Inneres erkennen: Verstehen.«22 Dieses Innere, das es zu verstehen gilt, entspricht dem Erlebnis eines Autors, zu dem wir nicht unmittelbar, sondern nur über äußere Zeichen Zugang haben. Der Vorgang des Verstehens besteht demnach darin, in sich das Erlebnis des Autors »neu zu schaffen«, ausgehend von seinen Ausdrücken. Durch das Zurückgehen vom Ausdruck zum Erlebnis, vom Äußeren zum Inneren, kehrt hier das Verstehen den Schöpfungsvorgang um, gerade so wie die hermeneutische Aufgabe als Umkehrung des Prozesses, der zum rhetorischen Ausdruck führte, gesehen werden konnte. Die Trias von Erlebnis, Ausdruck und Verstehen gilt fiir die Hermeneutik der Geisteswissenschaften als grundlegend. Wenn dem so ist, könnte die Hermeneutik eine neue Funktion bekommen, deutet Dilthey an. Die »Hauptaufgabe« der Hermeneutik, die weiterhin als »Kunstlehre des Verstehens schriftlich 19 w. Di1they, Die Entstehung der Hermeneutik (1900), in Wilhelm Diltheys Gesammelte Schriften, Band 5, hg. von G. Misch, Leipzig 1924, S. 317. 20 Ebd., S. 320. 21 Ebd., S. 319. 22 Ebd., S. 318.
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fixierter Lebensäußerungen« verstanden wird, wird darin bestehen, »gegenüber dem beständigen Einbruch romantischer Willkür und skeptischer Subjektivität in das Gebiet der Geschichte die Allgemeingültigkeit der Interpretation theoretisch [zu] begründen, aufweIchet alle Sicherheit der Geschichte beruht«.23 Diese Absicht bleibt in Diltheys Werk weitgehend Programm, aber die Idee, der zufolge sie den Geisteswissenschaften als methodologische Grundlage dienen könnte, hat der Hermeneutik eine Zweckbestimmung und Sichtbarkeit verliehen, die ihr nie zuvor widerfahren war. Bis heute sehen bedeutende Denker wie Emilio Betti und E. D. Hirsch in der Hermeneutik noch eine methodologische Reflexion über den wissenschaftlichen Status der Geisteswissenschaften. Für sie würde die Hermeneutik, wenn sie auf diese Aufgabe verzichtete, jede Daseinsberechtigung verlieren. Aber es gibt in Diltheys Spätwerk noch eine Idee, die die hermeneutische Erbschaft in eine ganz andere Richtung drängen sollte. Es ist die Idee, dass das Verstehen, das sich in den Geisteswissenschaften entfaltet, nichts anderes ist als die Verlängerung einer Suche nach Verstehen und Formulierung, die schon das menschliche und geschichtliche Leben an sich auszeichnet. »Das Leben artikuliert sich selbst«, wird Dilthey sagen, mittels der verschiedenartigen Ausdrucksformen, die die Geisteswissenschaften zu verstehen versuchen, indem sie das Erlebte, dem sie entsprungen sind, nachzuerleben trachten. Diltheys folgenschwere Grundeinsicht - die in eine universelle Philosophie historischen Lebens münden sollte, von der das Spätwerk Zeugnis ablegt - war, dass Verstehen und Erklären nicht nur spezifische Methoden der Geisteswissenschaften sind, sondern ursprünglichere Formen der Suche nach Sinn und Ausdruck, die bereits das Leben selbst charakterisiert. Diese »hermeneutische« Dimension des Lebens selbst fand Bestätigung in den Ideen, die der späte Nietzsche fast gleichzeitig in seiner universellen Philosophie des Willens zur Macht 23
Ebd., S. 331.
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entwickelte; rur ihn gibt es keine Fakten, sondern »nur Interpretationen«. Was sich bei Nietzsche wie in den letzten Arbeiten Diltheys andeutet, ist folglich ein neues Gesicht der Universalität der Hermeneutik oder unserer durch und durch interpretativen Welterfahrung; gerade diese universelle Dimension der hermeneutischen Erfahrung stellt aber Diltheys Traum einer epistemologischen Fundierung der Geisteswissenschaften in Frage, die es ihnen erlauben würde, die Allgemeingültigkeit der Interpretation ein rur alle Mal zu sichern. Für die meisten Erben Diltheys (Heidegger und Gadamer) wird sich dieser Traum als unvereinbar mit der grundsätzlichen Geschichtlichkeit des Lebens erweisen, in die Diltheys letzte Arbeiten einmündeten. Diese wird die Hermeneutik mit neuen Aufgaben konfrontieren.
III
Die existenziale Wende der Hermeneutik bei Heidegger Blieb die Hermeneutik bis zum 18. Jahrhundert weitgehend eine Kunstlehre der Textauslegung, bis sie im 19. Jahrhundert in den Dienst einer Methodologie der Geisteswissenschaften trat, so wurde sie im 20. Jahrhundert etwas ganz anderes, nämlich eine »Philosophie«, aber auch ein Begriff, der immer mehr in Mode kam. Dies war zunächst innerhalb der Dilthey-Schule der Fall; Diltheys Schüler Georg Misch bemühte sich, eine »hermeneutische Logik« zu entwickeln, die den Nachweis erbringen wollte, dass die Grundkategorien der Logik und der Wissenschaft in einer Verstehens- und Sinn suche des Lebens selbst verwurzelt waren. Diese Logik stellte Misch vor allem in seinen V orlesungen vor, die allerdings erst 1994 publiziert worden sind! und die somit nur eine bescheidene Rolle in der Entfaltung des hermeneutischen Denkens gespielt haben. Martin Heidegger (1889-1976) war zwar nicht der Einzigedie Thematik lag nach Dilthey und Nietzsche ja in der Luft -, aber er sollte der Hauptkatalysator dieser philosophischen Transformation der Hermeneutik werden, die eine eigene Philosophieform wurde. Mit Heidegger ändern sich für die Hermeneutik der Gegenstand, die Bestimmung und der Status. Zunächst wechselt der Gegenstand; es dreht sich nicht mehr um Texte oder erklärende Wissenschaft, sondern um die Existenz selbst. Aus diesem Grund kann man von einer existenzialen Wende der Hermeneutik sprechen. Auch ihre Bestimmung ändert sich gewaltig, denn ! G. Misch, Der Aufbau der Logik auf dem Boden der Philosophie des Lebens, FreiburglMÜllchen 1994. Vgl. den lehrreichen, Georg Misch gewidmeten Band 11 des Dilthey-Jahrbuchs, 1997-98.
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die Hermeneutik versteht sich nicht mehr technisch, normativ oder methodologisch. Ihre Funktion wird nunmehr phänomenologischer, gar »destruktiv« im neuen, befreienden Sinn des Wortes, was sich aus ihrem Statuswechsel ergibt: Jetzt ist sie nicht mehr nur eine Reflexion über die Interpretation (oder ihre Methoden), sie wird verstanden als Vollzug eines Auslegungsvorgangs, der mit der Philosophie selbst verschmilzt.
1. Eine Hermeneutik der Faktizität Es wird kaum erwähnt, aber in der Tat war Heidegger der Erste, der aus der Hermeneutik eine Philosophie machte, als er sein Denken in einer seiner Vorlesungen des Jahres 1923 (die er in Sein und Zeit, aber auch noch 1959 zitiert) als eine »Hermeneutik der Faktizität« präsentierte. Faktizität bezeichnet hier das konkrete, jeweilige Dasein, das für uns zunächst kein Gegenstand der Anschauung ist, sondern ein Abenteuer, in das wir geworfen werden und für das wir ausdrücklich wach werden können oder nicht. Die Idee einer Hermeneutik der Faktizität - genau wie die einer Hermeneutik des Daseins in Sein und Zeit von 1927 - enthält eine herrliche Zweideutigkeit, die der Mehrdeutigkeit des Genitivs entspricht, wie z.B. »die Angst der Feinde« (metus hostium) zum einen die Angst bedeuten kann, die wir vor den Feinden haben (genitivus obiectivus) und zum anderen die Angst der Feinde vor uns (genitivus subiectivus). Im objektiven Sinn bedeutet Hermeneutik der Faktizität, dass die Philosophie nichts anderes als das fragliche menschliche Dasein zum Gegenstand hat, radikal verstanden als ens hermeneuticum, als »hermeneutisches Wesen«. Diese sehr weit gefasste Hermeneutikauffassung speist sich aus drei Quellen. 1. Teilweise rührt sie von Dilthey und der Idee her, der zufolge das Leben selbst an sich hermeneutisch ist, d.h. auf eine Interpretation seiner selbst angelegt. 2. Beeinflusst wird sie ferner durch die Intentionalitätsidee Husserls, der zufolge das Bewusstsein
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sinnstiftend auf einen Gegenstand (Sachverhalt) gerichtet ist; die Welt wird stets aus sinnsuchender Perspektive wahrgenommen, die überhaupt erst ihre Gegenstände konstituiert. 3. Letztlich stammt ihr Gedankengut aus der christlichen Philosophie Kierkegaards, der von einer Wahl gesprochen hatte, vor die sich die Existenz gestellt sieht, die über die Orientierung ihres Seins zu entscheiden hat, eine Wahl, die voraussetzt, dass Existenz etwas Fragliches und zu Interpretierendes ist. Das ist von nun an der neue »Gegenstand« der Hermeneutik. Als genitivus subiectivus verstanden, suggeriert der Entwurf einer Hermeneutik »der« Faktizität aber, dass diese Interpretation von der Existenz selbst vorgenommen werden müsse. Mit anderen Worten, der Philosoph - oder der Verfasser der Hermeneutik der Faktizität - muss sich nicht an die Stelle der Existenz selbst setzen. Er kann höchstens »Formalanzeigen« herausarbeiten, die es der Existenz erlauben sollen, von ihren eigenen Seinsmöglichkeiten Besitz zu ergreifen. Aber der Existenz selbst kommt es zu, die Hermeneutik ihrer eigenen Faktizität auszuarbeiten. Diese Hermeneutik ihrer selbst praktiziert sie aber bereits mehr oder weniger unbewusst, indem sie mitten in bestimmten Interpretationen lebt. Diese Möglichkeit einer »Auslegung« ihrer selbst gründet sich auf das, was Existenz von Haus aus ist, d.h. auf einen offenen Raum, der nicht vollständig durch Instinktherrschaft geregelt ist, sondern der die eigene Lebensgrundrichtung bestimmen und sich von »entfremdenden« Interpretationen freimachen kann. So bezeichnet die Faktizität bei Heidegger die grundlegende »Seinsweise« menschlicher Existenz und dessen, was er auch »Dasein« nennt, d.h. jenes Phänomen des In-dieses-da-geworfensein-und-damit-fertig-werden-müssens; dieses Sein ist mein jeweiliges, für mich ist es nicht und nie primär ein »Gegenstand«, der mir gegenüber steht, sondern ein Verhältnis zu mir selbst im Modus durchgreifender Besorgnis und Unruhe. Der Begriff »Hermeneutik« ist nicht zufällig zur Annäherung an diese Faktizität gewählt. Heidegger betont, dass er sich auf die Faktizität selbst gründet. Die Faktizität ist also gleichzeitig 1. auslegungs-
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fähig, 2. auslegungsbedürftig, 3. immer schon in Auslegung gelebt, mitten in einer bestimmten Daseinsinterpretation. 2 Bloß vergisst die Faktizität dies gern, und damit vergisst sie sich selbst. Aufgabe einer Hermeneutik der Faktizität, im Sinne des genitivus obiectivus, wird folglich sein, sie an sich selbst zu erinnern, sie aus ihrer Selbstvergessenheit herauszuholen. Diese Hermeneutik hat Angriffscharakter, sie zielt auf die Faktizität eines jeden: »Die Hermeneutik hat die Aufgabe, das je eigene Dasein in seinem Seinscharakter diesem Dasein selbst zugänglich zu machen, mitzuteilen, der Selbstentfremdung, mit der das Dasein geschlagen ist, nachzugehen.«3 Mit anderen Worten: Es geht um ein Wachsein des Daseins über sich selbst. »Thema der hermeneutischen Untersuchung ist je eigenes Dasein, und zwar hermeneutisch befragt auf seinen Seins charakter im Absehen darauf, eine wurzelhafte Wachheit seiner selbst auszubilden.«4 Man wird der Entfernung gewahr, die Heidegger von der klassischen Hermeneutik trennt: Hermeneutik hat nicht mehr mit Texten zu tun, sondern mit der individuellen Existenz eines jeden, um für sich selbst wach zu werden und zu sein! Da die Existenz durchgeschüttelt werden soll, müssen folglich die Interpretationen zerstört werden, die sie in einem Zustand der trägen Schläfrigkeit halten: »Hermeneutik bewerkstelligt ihre Aufgabe nur auf dem Weg der Destruktion.«5 Wenn es einer Zerstörung bedarf, so deshalb, weil das Dasein versucht, sich selbst aus dem Wege zu gehen. So sehr ist das Dasein von der Sorge um sich selbst durchdrungen, dass es dahin strebt, sich von dieser ängstlichen Selbstbekümmerung, die es selbst ist, zu befreien. Das Dasein versucht sich selbst zu beruhigen, sich aus dem Weg zu gehen, und erliegt dabei der Tendenz, sich selbst zu 2 M. Heidegger, Ontologie (Hermeneutik der Faktizität), Gesamtausgabe Band 63, Frankfurt am Main 1988, S. 15. 3 Ebd. 4 Ebd., S. 16. 5 Siehe M. Heidegger, Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles (Anzeige der hermeneutischen Situation), in: Dilthey-Jahrbuch 6 (1989), S. 249. '
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»verfehlen«, die ihr wie ein Schatten folgt. 6 So erliegt das Dasein selber der Durchschnittlichkeit, wie sie durch das gängige »man« und die öffentliche Meinung diktiert wird. Noch einmal: Heidegger hat dem konkreten Dasein alles andere als ein Erbauungsmodell vorzuschlagen. Er erinnert es einfach daran, dass es teilweise zu sein aufhört, was es von Hause aus ist, wenn es sich gehen lässt und es versäumt, sich selbst in die Hand zu nehmen. Diesem >mneigentlichen« Dasein stellt Heidegger das Ideal einer Eigentlichkeit gegenüber, das insofern schon dem Dasein innewohnt, als es ein offener Raum ist, fähig zur Bestimmung der Interpretation seines Seins. Es handelt sich also nicht darum, eine neue Moral vorzuschlagen, sondern das Dasein aufzufordern, das zu werden, was es schon ist, ein Sein, das »da« sein kann, wo die fundamentalen Entscheidungen fallen, die sein Sein betreffen, das aber meistens anderswo, »weg« ist, zerstreut und sich selbst entfremdet.
2. Die Hermeneutik des Daseins in Sein und Zeit Das hermeneutische Programm von 1923 wird in Heideggers Hauptwerk von 1927 wieder aufgenommen, aber jetzt in den Dienst des neuen Projekts einer Fundamental-Ontologie gestellt. Philosophie ist dort tatsächlich als Ontologie gedacht, da ihre erste Frage dem Sein gilt. Nach Heidegger ist diese Frage in mehrfacher Hinsicht vordringlich: 1. In der Wissenschaft scheint sie zunächst von grundsätzlicher Bedeutung, da jede Kenntnis und jeder Bezug zu einem Gegenstand auf einem gewissen Verstehen des Seins beruhen, mit dem man es zu tun hat (das Sein ist somit die Voraussetzung jeglicher wissenschaftlichen Untersuchung, aber dies klarzustellen ist eigentlich Sache der Philosophie). 2. Noch grundsätzlicher erweist sich die Frage des Seins als dringlich für das Dasein selbst, das sich dadurch auszeichnet, »daß es diesem Seienden in seinem Sein um dieses Sein selbst 6
Ebd., S. 238, 242.
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geht«.7 Für die Philosophie selbst gibt es folglich keine wesentlichere Frage. Allerdings, so verzeichnet es die allererste Zeile des Buches aus dem Jahr 1927 ironisch, sei die Frage heute in Vergessenheit geraten. Die Philosophie und die Existenz haben also ihre Grundfrage »vergessen«: die Seinsfrage. Man muss sich folglich einen neuen Zugang zu dieser Frage bahnen. Zu diesem Zweck schlägt Heidegger vor, der phänomenologischen Methode zu folgen. Diese hat zunächst verbietenden Charakter: Alles was von Phänomenen gesagt wird, muss Gegenstand einer direkten Legitimation sein. Nun aber - das ist sozusagen die Schwierigkeit mit dem Sein - zeigt sich das Sein nicht, oder nie direkt, zumal die Frage aufgegeben oder durch die Problematik der Erkenntnistheorie verdeckt wurde. Was die Phänomenologie zeigen muss, sagt Heidegger, ist nicht das, was sich auf den ersten Blick zeigt, sondern was zunächst verborgen ist und eine ausdrückliche Aufdeckung braucht: »Was ist das, was die Phänomenologie )sehen lassen< soll? ( ... ) Offenbar solches, was sich zunächst und zumeist gerade nicht zeigt, was gegenüber dem, was sich zunächst und zumeist zeigt, verborgen ist, aber zugleich etwas ist, was wesenhaft zu dem, was sich zunächst und zumeist zeigt, gehört, so zwar, daß es seinen Sinn und Grund ausmacht«.8 Phänomenologie wird so zum Weg, der Zugang zum Sein gewähren soll, verstanden als das Grundphänomen, das sich wegen der Seinsvergessenheit sonst nicht zeigt. Aber wie kann man das »sehen lassen«, was sich nicht zeigt und was Gegenstand der Ontologie ist? Heidegger löst das Dilemma, indem er auf die Henneneutik rekurriert, wohl verstanden als eine Henneneutik des Daseins. So erfährt die Phänomenologie eine »henneneutische Wende«. Die komplexen Ausführungen, die Heidegger den Begriffen Phänomenologie und Hermeneutik widmet, legen unmissverständlich nahe, dass die Verborgenheit des Seinsphänomens das Ergebnis einer Verdeckung 7 M. Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen, 14. Aufl. 1977, Originalpaginierung, S. 12. 8 Ebd., S. 35.
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ist, die nicht von ungefähr ist. Diese Verdeckung gründet sich nämlich auf eine Selbstverdeckung des Daseins, das, indem es das Seinsthema unterdrückt, vor allem versucht, seinem begrenzten und sterblichen Sein zu entfliehen. Aufgabe einer Hermeneutik des Dasems wird es folglich sein, das Dasein und sein Kernthema, das Sein - entgegen der Tendenz, sich selbst verborgen zu halten - zurückzugewinnen (wieder zu »erwecken« hieß es in der Vorlesung von 1923). Hier geht es darum, einem doppelten Vergessen, das engstens zusammenhängt, entgegenzuwirken: dem Vergessen des Daseins selbst (d.h. der Vergessenheit von sich selbst als Aufgabe und Entwurf) und dem Vergessen des Seins selbst als Grundthema der Philosophie. In beiden Fällen verlangt das Vergessen eine »Destruktion«, d.h. eine Aufdeckung der Gründe, die maßgeblich :für die Verbergung des Seins als Grundthema des Daseins und der Philosophie sind. In der Einführung zu Sein und Zeit liegt der Akzent auf dem Vergessen des Seins, aber im weiteren Verlauf des Werks wird klar herausgestellt, dass dieses Vergessen auf einem Selbstvergessen des Daseins und seiner Endlichkeit, die damit ihren grundsätzlichen Charakter nur bestätigt, beruht. Um das doppelte Vergessen aufzuheben, ist eine Hermeneutik nötig, d.h. ein »destruktives« (destruktiv immer im positiven Sinn eines Abtragens der überlagerten Schichten zu verstehen, das das verdeckte Phänomen zu befreien versucht) Aufdecken: einerseits eine Hermeneutik des Daseins selbst, die es aus seiner Selbstverbergung herausholt; andererseits eine Hermeneutik des philosophischen Vergessens des Seins, die sich unter dem Programm einer »Destruktion« der Ontologiegeschichte ankündigt. Sein und Zeit gelangt folglich, auf einer inhaltlich sehr kompakten Seite,9 zu einer genauen, knapp zusammengefassten und gedrängten Cha;rakterisierung dessen, was unter Hermeneutik zu verstehen ist. Der »methodische Sinn der phänomenologischen Deskription« wird der einer »Auslegung« sein müssen, insofern 9
Ebd., S. 37.
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die »Deskription« eine aufklärende und destruierende Interpretationsarbeit leisten muss (wir kommen gleich auf diesen entscheidenden Begriff der Auslegung zurück). Dieser hermeneutische Sinn der Phänomenologie soll unterstreichen, dass zwei Dinge dem Seinsverständnis, das zu unserem Dasein gehört, »kundgegeben« werden müssen: 1. »der eigentliche Sinn von Sein« und 2. »die Grundstrukturen seines eigenen Seins«. Aber um den Sinn des Seins und die Grundstrukturen des Daseins, das das Unsrige ist, kundzugeben, ist es erforderlich, von einer ausdrücklichen »Auslegung des Seins des Daseins« auszugehen, die die philosophisch ursprüngliche Bedeutung der Hermeneutik in Sein und Zeit ausmacht. Diese Bedeutung steht an erster Stelle, weil sie das wirkliche Fundament der phänomenologischen Ontologie bereitstellt, die Heidegger in die Wege leiten will: Um die Seinsfrage zu erwecken, ist von einer auslegenden, d.h. ausdrücklichmachenden Interpretation des mehr oder weniger expliziten Seinsverständnisses auszugehen, die das Dasein von Haus aus vollzieht. Im Hinblick auf diese buchstäblich grundlegende Problematik ist es nur »auf abkünftige Weise«, sagt Heidegger, dass man unter Hermeneutik eine »Methodologie historischer Geisteswissenschaften« verstehen kann. Das ist nicht unbedingt abschätzig gemeint: Heidegger behauptet bloß, dass man vor der Ausarbeitung einer solchen Methodologie zuallererst eine Hermeneutik des Daseins ausarbeiten muss. So trennt sich jedenfalls Heidegger von der diltheyschen Hermeneutikauffassung, im Namen eines ursprünglicher sein wollenden Ansatzes, der die Hermeneutik noch fester an das Dasein selbst bindet. Damit radikalisiert er aber sehr wohl eine Tendenz des späten Dilthey.
3. Eine neue Hermeneutik des Verstehens Hermeneutik verspricht also, das Dasein an die wesentlichen Strukturen seines Seins zu erinnern, die Heidegger »Existenziale« nennen wird. Wenn dem Dasein grundsätzlich ein (besorgtes)
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Seinsverständnis innewohnt, liegt es nahe, dem Existenzial des »Verstehens« eine grundlegende Bedeutung zu geben. Das Verstehen wird aber damit einen völlig neuen Sinn gewinnen. Wir wissen bereits, dass das Dasein hermeneutisch ist, da es von Grund auf ein verstehendes Wesen, ein ens hermeneuticum ist. Aber was bedeutet »verstehen«? Heidegger bricht ein weiteres Mal mit der älteren Tradition: Er sieht im »Verstehen« weniger ein Erkennen (intelligere) als ein Können, eine Fähigkeit, ein Know-how oder eine Geschicklichkeit. Dazu beruft er sich auf die deutsche Redewendung »sich auf etwas verstehen«, d.h. sich auskennen, zu etwas fahig sein. »Sich verstehen auf« ist ein reflexives Verb, das mich mit in die Ausübung einschließt, denn immer ist es eine Möglichkeit meiner selbst, die sich da entfaltet, die auch im Verstehen etwas riskiert. Verstehen ist also Können, und das, was in diesem Können »gekonnt« wird, ist immer eine Möglichkeit meiner Selbst, ein »Sich-Verstehen« also. Verwurzelt im Dasein und der fundamentalen Besorgnis um sich selbst, bekommt jedes Verstehen die Strukur eines Entwerfens. Das Verstehen befindet sich mitten in einem Gefüge von Sinnerwartungen und -vorwegnahmen, die dem chronischen Orientierungsbedürfuis des Daseins entstammen: »Geworfen« in die Existenz, nährt sich das Verstehen von Verstehensentwürfen, d.h. von ebenso vielen Möglichkeiten, mit der Welt zurande zu kommen, ihr gewachsen zu sein. Aber es ist möglich, dieses Geworfen-Sein zu erhellen, diese Erwartungen ans Tageslicht zu bringen und sich so die Verstehensentwürfe zu eigen zu machen. Dieses Erhellen des Verstehens wird in dem, was Heidegger Auslegung nennt, erfüllt. Damit wendet Heidegger den Begriff an, der die klassische Aufgabe der Hermeneutik definierte, den Begriff der Interpretation oder Auslegung, aber er gesteht ihm einen unerhörten Sinn zu. Auslegung, sagt er, ist nichts anderes als die »Ausbildung des Verstehens».lo Mit dem ihm eigenen Sprachgenie, das freilich 10
Ebd., S. 148.
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nicht allen gefällt, hebt Heidegger die »entwirrenden«, aussondernden Konnotationen der Begriffe Ausbildung und Auslegung hervor. Aus-Iegung, ein Begriff, der im Deutschen als Synonym :fiir Interpretation fungiert, heißt nun so viel wie »auseinanderlegen«, »herausarbeiten«, geradezu: »aus dem Vergessen herausreißen und ans Tageslicht heben bzw. legen«. Das und nichts anderes soll Auslegung (oder Interpretation) sein. Das zieht mindestens zwei bedeutende Verschiebungen gegenüber der klassischen Problematik der interpretatio nach sich. 1. Was ans Licht gebracht werden soll, ist zunächst nicht die Bedeutung des Textes oder die Absicht des Verfassers (die mens auctoris), sondern sozusagen die Absicht, die dem Dasein selbst innewohnt, den Sinn seines Entwerfens. Diese Verschiebung hängt aufs Engste zusammen mit der existenzialen Wende der Hermeneutik bei Heidegger, der das Muster der Textinterpretation hinter sich lässt (eine Verschiebung, die gleichwohl nicht ohne Rückwirkung auf sie bleiben wird, wie Heideggers Erben Bultmann, Gadamer und Ricreur erkennen werden). 2. Die Interpretation oder Auslegung ist hier nicht mehr das Verfahren, das gemäß der teleologischen Struktur von Interpretation und Verstehen, die der klassischen Auffassung von Hermeneutik selbstverständlich war, zum Verstehenfiihren soll. Nein, Interpretation ist nunmehr eher ein kritisches Erhellen des Verstehens selbst, das ihr vorausgeht. Zuerst gibt es Verstehen, dann die Auslegung, wobei das Verstehen dahin gelangt, sich selbst zu verstehen l1 , gleichsam seiner Voraussetzungen gewahr zu werden. Das Verstehen ist versehen mit einer dreifachen Struktur, der es gelingt, über sich klar zu werden in dem, was Heidegger »Auslegung« nennt und als erläuternde Interpretation begreift. Jedes Verstehen besitzt:
11 Ebd., S.148: »Das Entwerfen des Verstehens hat die Möglichkeit, sich auszubilden. Die Ausbildung des Verstehens nennen wir Auslegung. In ihr eignet sich das Verstehen sein Verstandenes verstehend zu. In der Auslegung wird das Verstehen nicht etwas anderes, sondern es selbst«.
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1. eine »Vorhabe«, einen Horizont, von dem aus es versteht; 2. eine »Vorsicht«, denn es vollzieht sich in einer bestimmten Absicht oder Richtung; 3. einen »Vorgriff«, denn es entfaltet sich in einer Begrifflichkeit, die das vorwegnimmt, was es zu verstehen gibt, und die vielleicht nicht unschuldig ist.
Zweck der erklärenden Auslegung ist es, diese Struktur der Vorwegnahme und das, was sie mit einschließt, für sich selbst und als solche hervortreten zu lassen. Heidegger ist hier offenbar von einem Aufklärungsimpuls beseelt (der bei seinem Schüler Gadamer gemäßigter sein wird I2 ). In Sein und Zeit denkt Heidegger zunächst nicht an philologische Interpretations- und Verstehensmöglichkeiten, er denkt hauptsächlich an zwei Typen von Vorwegnahmen, die auf eine Erklärung oder »Destruktion« warten: a. die Vorwegnahme eines bestimmten Seinsbegriffs (als »beständige Anwesenheit«: Was ist, ist das, was sich in einer beständigen Anwesenheit oder Vorhandenheit einem sie beherrschenden Blick bietet, eine Auffassung, die nach Heidegger die ganze Geschichte der Metaphysik dominiert haben soll); b. die Vorwegnahme eines bestimmten Existenzbegriffs (des Menschen als denkenden Wesens oder animal rationale). Heideggers Frage ist hier in etwa die folgende: Woher rühren diese V orverständnisse dessen, was das Sein und der Mensch sind? Sind sie für sich jemals deutlich gemacht worden? In Sein und Zeit nimmt er sich vor, dies zu tun, indem er die Struktur des Verstehens und der Auslegung, die das Dasein von Hause aus ist, auf die Frage des Seins und des Menschen anwendet. Das Werk praktiziert so im philosophischen Sinn die Hermeneutik des Seins und des Daseins, die sich schon mitten im Dasein als Möglichkeit der Selbstaufklärung vollzieht. Wieder fällt die Distanz 12 Das ist freilich ein Understatement. Während Heidegger den Akzent auf die Möglichkeit einer Aufklärung des Verstehens durch die Auslegung legt, wird Gadamer eher auf die Grenzen dieser Aufklärung hinweisen.
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auf, die Heidegger von der klassischen Hermeneutik trennt: Es geht nicht darum, die Bedeutung eines Textes oder die Gedanken eines Verfassers zu erläutern, sondern darum, das Vorverständnis des Daseins zu erhellen, um zu bestimmen, ob es eigens erfasst war oder nicht. '
4. Der Zirkel des Verstehens Nach Heidegger gründet jedes Verstehen auf Vorwegnahmen, die VOn der Sorge um das eigene Dasein selbst diktiert werden. Dasein versteht sich folglich von einer bestimmten Vorhabe, Vorsicht und einem Vorgriff aus, die der Auslegung harren. Anders gesagt, es gibt keine tabula rasa des Verstehens. Gerade dieses Ideal der tabula rasa des Verstehens hatte sich als Norm fiir die wissenschaftliche Methodologie der Hermeneutik des 19. Jahrhunderts empfohlen, besonders bei Dilthey: Die Hermeneutik versteht sich geradezu als die Disziplin, die den Subjektivismus der Interpretation ausräumen muss, um den Anspruch der Geisteswissenschaften auf Objektivität oder Allgemeingültigkeit zu begründen. Dabei wird hier vorausgesetzt, dass man nur »objektiv« interpretieren kann, wenn man die Vorurteile des Interpretierenden und seiner Zeit ausräumt. An diesem Ideal der Objektivität gemessen, scheint Heideggers Auffassung des Verstehens und der Interpretation in einen ))Kreis« zu münden, der allem Anschein nach ein Teufelskreis ist. Es scheint nämlich keine objektive, neutrale Interpretation mehr möglich zu sein, da ja jede Interpretation - so scheint es nur die Ausarbeitung eines zuvor bestehenden Verstehens ist. Von daher rührt das Problem, durch das die klassische Hermeneutik bestimmt war: Wie soll man herauskommen aus diesem verflixten Kreislauf? Wie eine Interpretation bewerkstelligen, die schließlich unabhängig von den Vorentwürfen des Interpreten wäre?
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Diesem Zirkel entkommen zu wollen, käme in den Augen Heideggers der Hoffnung gleich, ein Verstehen zu erreichen, das nicht mehr dem Dasein entspränge. Abgesehen davon, dass es kein solches gibt, hieße für ihn das Verfolgen einer solchen Illusion, das Verstehen ganz und gar zu verfehlen. Verstehen ist nie die bloße Kenntnisnahme des Vorhandenen, sondern ein Sich-Entwerfen des Daseins, wo das Dasein sich selbst (mit seiner »Vorstruktur«) mitbringt. Damit werden nicht alle Vorwegnahmen legitimiert, so dass der Willkür Tür und Tor geöffnet wären. Eine kritische Dimension bleibt erhalten, ja zentral: nämlich die der Auslegung als »kritischer Aufklärung« der Vorwegnahmen. Deshalb ruft Heidegger in dem vielleicht berühmtesten Passus der Hermeneutik aus: »Das Entscheidende ist nicht, aus dem Zirkel heraus-, sondern in ihn nach der rechten Weise hineinzukommen«.lJ Für ihn besagt das unmissverständlich, dass die erste Aufgabe der Interpretation oder Auslegung darin besteht, den willkürlichen Vorurteilen nicht nachzugeben, sondern die Struktur der Verstehensvorwegnahmen zuallererst herauszuarbeiten, um sie »aus den Sachen selbst« zu sichern (damit gibt Heidegger zu verstehen, dass er mitnichten auf den klassischen Wahrheitsbegriff - als die Angemessenheit von Sache und Denken - verzichtet). Heideggers hermeneutische Maxime besteht folglich darin, die Erwartungsstruktur des Verstehens an den Tag zu bringen, anstatt so zu tun, als gäbe es sie gar nicht. Damit fordert Heidegger die Interpretation oder Auslegung zu einem strengen, selbstkritischen Vollzug auf. Diesem Vollzug widmet sich das gesamte Vorhaben von Sein und Zeit, indem es nach den hermeneutischen Voraussetzungen des Seins- und Existenzverständnisses fragt. Sein und Zeit als Ganzes gehorcht also seinem eigenen Auslegungsbegriff. 14 Sein und Zeit, S. 153. Diese Auslegungskonzeption hat denkbar wenig mit den fiüheren Henneneutiken zu tun und wurde von den nach Heidegger aufgetauchten Henneneutiken wenig rezipiert. Siehe dazu meine neue kontrastierende Studie »Heideggers und Gadamers Konzeption der henneneutischen Wende der Philosophie - Ein Vergleich 1J
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5. Heideggers spätere Hermeneutik Diese kritische Auseinandersetzung wurde in Heideggers später Philosophie fortgeführt, ja in seiner späten Hermeneutik der Metaphysikgeschichte und der in ihr vorherrschenden Auffassung des Seins als beständige Anwesenheit nur noch radikalisiert. 15 Der späte Heidegger spricht zwar fast nicht mehr von Hermeneutik, aber er praktiziert sie um so entschiedener, indem er seine Kräfte dem Zutagefördem der Voraussetzungen des metaphysischen Denkens als eines geschichtlichen Schicksals widmet, das seiner Ansicht nach für die Seinsvergessenheit verantwortlich ist. In Sein und Zeit blieb dieses Vergessen weitgehend dem »uneigentlichen« Dasein zugeschrieben, das seine essenzielle Frage in Vergessenheit geraten ließ. Der spätere Heidegger wird darin eher die Folge des Schicksals der abendländischen Metaphysik sehen: Indem sie das Sein dem »Satz vom Grund« (»nichts ist ohne Grund«) unterwirft, hätte die Metaphysik das ursprüngliche Geheimnis des Seins - sein freies, grundloses Auftauchen ausradiert. Diese Metaphysik des Grundes und Gründenwollens fände ihre Vollendung im Wesen der Technik: Das Sein wäre nichts als eine gegebene, kompatible Größe. Heidegger ist einem anderen Seinsverständnis auf der Spur, das weniger gebieterisch, weniger hegemonial und vom Satz vom Grund regiert sei. So zielt sein Denken auf einen neuen Anfang und eine Überwindung (oder gar »Verwindung«) des metaphysischen Denkens. Diese Hermeneutik steht in der Kontinuität von Sein und Zeit in dem Sinne, dass das Vorhaben weiterhin darin besteht, die Voraussetzungen der metaphysischen Seinsauffassung herauszuheben, um einen anderen, ursprünglicheren Anfang des Denkens vorzubereiten. Wie in Sein und Zeit erfolgt also die »Destrukmit Blick auf Dilthey«, in: G. Kühne-Bertram und F. Radi (Hg.), Dilthey und die hermeneutische Wende, Göttingen 2008, S. 109-118. 15 Zu dieser späten Hermeneutik der Metaphysikgeschichte siehe meine Arbeit »Zur Ortsbestimmung der Hermeneutik Gadamers von Heidegger her«, in Von Heidegger zu Gadamer, Darmstadt 2001, S. 90--91.
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tion« der Metaphysik und ihrer verhängnisvollen »Vorstruktur« im Namen einer dem menschlichen Dasein gerechter sein wollenden Seins- und Daseinsoffenheit. Dieses andere Denken skizzierte Heidegger nicht zuletzt dadurch, dass er dem Phänomen der Sprache - und der dichterischen Sprache - neue, und zwar ganz und gar hermeneutische Aufmerksamkeit schenkt. In Sein und Zeit war bereits gesagt worden, Aufgabe der Hermeneutik sei es, dem Dasein den eigentlichen Sinn des Seins »kundzutun«. Vollzieht sich dieses »Kundtun« aber nicht bereits im Medium der Sprache selbst, in dem das Sein immer schon zu Wort gekommen ist? Ist es nicht dieses Geschenk, auf die Sprache hören zu können und dadurch offen zu sein für das Geheimnis des Seins, das unser »Dasein«, unser »In-der-Sprache-Sein« begründet? So nimmt es nicht wunder, dass der ganz späte Heidegger in seinen Überlegungen zur Sprache, die sein »Brief über den Humanismus« als »Haus des Seins« auszeichnete, sagen konnte, dass es das Wort sei, das den »hermeneutischen Bezug«, nämlich den wechselseitigen Bezug des Seins und des Menschen, »bestimme«.16 Es »bestimmt« ihn im buchstäblichen Sinne, indem es ihn in die Stimme einspannt und hörbar sein lässt. Heidegger hat diese hermeneutische Bestimmung zudem in einem retrospektiven »Gespräch« VOn 1959 veröffentlicht, in dem er voller Nostalgie auf seinen Entwurf einer Hermeneutik der Faktizität VOn 1923 zurückkommt und in dem er zum ersten Mal nach dreißig Jahren Texte von Schleiermacher und Dilthey zitiert. Auf diese Weise wollte er seine stillschweigende Solidarität mit dem Erbe der Hermeneutik ausdrücken, das ihm vorausgegangen war; indem er aber betonte, dass Sprache den hermeneutischen Bezug wesentlich bestimmt, hat er den hermeneutischen Bemühungen seiner eigenen Erben den Weg gewiesen.
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M. Heidegger, Unterwegs zur Sprache, Pfullingen, 2. Aufl. 1960, S. 122.
IV
Bultmanns stillschweigender Beitrag zur Entstehung der nachheideggerschen Hermeneutik Heidegger muss man zumindest zugestehen, dass er eine äußerst ungewohnte, wenn nicht ketzerische Hermeneutikauffassung vorgelegt hat. Unlöslich mit der Frage des Seins und des Daseins verbunden, hat sein Vorhaben auf den ersten Blick nicht viel zu schaffen mit dem klassischen Hermeneutikbegriff, verstanden als Kunst, Texte auszulegen oder als Methodologie der Geisteswissenschaften. Heidegger scheint von den traditionellen, vorherrschenden Sorgen der Hermeneutik so weit entfernt, dass mehrere Historiker der Hermeneutik sich erlauben können, seinen Beitrag entweder zu ignorieren oder aber als eine tödliche Gefahr zu empfmden (das ist bei Betti der Fall). Aber für diejenigen, die man als die hermeneutischen Erben Heideggers bezeichnen kann (Bultmann, Gadamer, Ricreur, Vattimo u.a.), hatten gerade seine »revolutionären« Überlegungen über das Verstehen, die Interpretation und die Sprache einschneidende Konsequenzen für die hermeneutische Fragestellung, die sich traditionell der Textauslegung und der Begründung des Wahrheits anspruchs der Geisteswissenschaften widmete. Die Leistung dieser Erben war es und jeder tat es auf seine Weise -, die Lehren der existenzialen Hermeneutik auf die traditionelleren Fragen der Hermeneutik anzuwenden. Vielleicht war der Theologe Rudolf Bultmann (1884-1976) der erste Denker von Format, der zeigte, wie die heideggersche Hermeneutikauffassung in den Dienst der klassischeren Fragen der Textauslegung gestellt werden könnte. Schon bevor er Heidegger kennenlernte, war Bultmann ein herausragender Exeget
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des Neuen Testaments. In seiner Geschichte der synoptischen Tradition aus dem Jahr 1921 hatte er einen erstrangigen Beitrag zur historisch-kritischen Lektüre des biblischen Texts geliefert, indem er auf der Existenz von Stilfiguren und literarischen Gattungen des heiligen Textes bestand. 1921 wurde er Professor in Marburg, wo er seine ganze berufliche Laufbahn hindurch blieb und wo er engen Kontakt hatte zu Heidegger (der von 1923 bis 1928 Professor in Marburg war), aber auch zu Gadamer (der zwanzig Jahre in Marburg verbrachte, von 1919 bis 1939). Bultmann war stets der Überzeugung, die existenziale, von Heidegger vorgeschlagene Interpretation biete eine neutrale Beschreibung menschlichen Daseins, die der Theologe bei seiner Interpretationsarbeit nützen könne. So wurde er zum ersten Hermeneutiker, der Heideggers Ideen auf dem Gebiet der Exegese anwendete. Besonders offenkundig ist dies in einem Essay, den er 1950 über Das Problem der Hermeneutik veröffentlichte. Dieser Text erscheint in Bultmanns Werk ziemlich spät, aber er ist wichtig, da er das herauszuheben hilft, was fiir Autoren wie Gadamer und Ricreur »das hermeneutische Problem« bleiben wird. Bultmann stellt das von ihm so genannte »Problem« der Hermeneutik vor, indem er sich auf den von Dilthey 50 Jahre zuvor erschienenen Essay über die »Entstehung der Hermeneutik«, bezieht, um allerdings sogleich die zu restriktive, zu genetische Auffassung Diltheys vom Verstehen zu kritisieren: Ist das Verstehen wirklich der »Nachvollzug der seelischen Vorgänge, die sich im Autor vollzogen haben«? Sind die Texte, die das Verstehen zu erhellen sucht, »erst aus der V ersetzung in den inneren schöpferischen Vorgang, in dem sie entstanden sind, verständlich«!? Bultmann wertet· also Diltheys psychologisierende Ausrichtung der Hermeneutik stark ab, um den Sachbezug des Verstehens in den Vordergrund zu TÜcken. Beim fundamentalen Bemü! R. BuHmann, Das Problem der Hermeneutik, 1950, in: Glauben ,,!nd Verstehen, Gesammelte Aufsätze, 2. Band 1952, Tübingen, 6. Aufl. 1993, S. 215.
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hen des Verstehens, und folglich der Hermeneutik, gehe es nicht um den subjektiven Schaffensprozess des Autors, sondern um die Sache, VOn der die Texte handeln. Diese viel beschworene Sache sei ihrerseits nur vom Sachbezug des Interpreten aus zu verstehen: Ein Verstehen, eine Interpretation ist ( ... ) stets an einer bestimmten Fragestellung, an einem bestimmten Woraufhin, orientiert. Das schließt aber ein, dass (... ) sie immer von einem Vorverständnis der Sache geleitet ist, nach der sie den Text befragt. Auf Grund eines solchen Vorverständnisses ist eine Fragestellung und eine Interpretation überhaupt erst möglich. 2
Für Bultmann kann das auf die Sache eines Textes zielende Verstehen nicht umhin, vom Vorverständnis des Interpreten gelenkt zu werden. Dieses Vorverständnis gründet sich seinerseits auf das Leben dessen, der versteht: Die Fragestellung ( ... ) erwächst aus einem Interesse, das im Leben der Fragenden begründet ist, und es ist die Voraussetzung aller verstehenden Interpretation, daß dieses Interesse auch in irgendeiner Weise in den zu interpretierenden Texten lebendig ist und die Kommunikation zwischen Text und Ausleger stiftet. 3
Verstehen wird hier bereits als ein Gespräch zwischen dem Text, genauer der Sache des Textes, und dem Sachverhältnis des Lesers gedacht. Diese Idee wird bei Gadamer wieder auftauchen. Verstehen könne man nämlich nur, indem man an dem, woVOn die Rede ist, teilnimmt. Bultmann spricht hier VOn einem »teilnehmenden Verstehen«.4 Verstehen heißt: an dem, was ich verstehe, Teil haben. »Platon versteht nur, wer mit ihm philosophiert«5, sagt Bultmann. Bultmann berief sich in diesem Zusammenhang und noch vor Gadamer auf Aristoteles, der diese Grundlehre durch seine »Lehre von Furcht und Mitleid als der
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Ebd., S. 216. Ebd.,S.217. Ebd., S. 221. Ebd., S. 222.
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Wirkung der Tragödie« zum Ausdruck gebracht hatte. 6 Dies besagt, dass die Wirkung auf den Leser oder Zuschauer Teil der zu verstehenden Sache ist. Verstehen wird nicht auf Distanz, sondern in unmittelbarer Teilnahme vollzogen. Darauf besteht Bultmann, um eine Zu stark »ästhetisierende« Auffassung des Verstehens in ihre Schranken zu weisen, der zufolge der zu verstehende Sinn zunächst Ausdruck einer Individualität wäre. Nein, sagt Bultmann, Verstehen heißt eher eine Seinsmöglichkeit ergreifen: Solchem »teilnehmenden Verstehen« erschließt sich »das menschliche Sein in seinen Möglichkeiten als den eigenen Möglichkeiten des Verstehenden.« 7 Diese Seinsmöglichkeit im Zentrum des hermeneutischen Problems manifestiert sich an den zwei Eckpunkten des Verstehens, das sich von nun an als Sache eines Zwiegesprächs erweist: Ich verstehe und gehe dabei immer von meiner Existenz aus, aber das, was ich verstehe, ist auch eine Existenzmöglichkeit, die durch den Text offenbar wird. Paul Ricreur, durch Bultmanns Denken stark beeinflusst, wird später sagen, dass sich dem Verstehen durch das Werk eine Welt eröffnet, in der ich wohnen kann. Das V orverständnis des Interpretierenden darf also keineswegs - im Namen eines methodischen Hermeneutikideals unterdrückt werden, sondern muss um seiner selbst willen ausgearbeitet und damit in Frage gestellt werden: »Es gilt nicht, das Vorverständnis zu eliminieren, sondern es ins Bewußtsein zu erheben, es im Verstehen des Textes kritisch zu prüfen·«.8 Und es kritisch zu prüfen, erläutert Bultmann, heißt, »es aufs Spiel zu setzen; kurz, es gilt: in der Befragung des Textes sich selbst durch den Text befragen zu lassen, seinen Anspruch zu hören«.9 Eine Überprüfung des Vorverständnisses ist immer möglich, ja
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Ebd., S. 22l. Ebd., S. 22l. Ebd., S. 228. Ebd.
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geboten, bildet sie doch nach Bultrnann die wesentliche Vollzugsweise einer jeden Auslegung, die sich ernst nimmt. Diese kritische Ausarbeitung des Vorverständnisses ist die wesentliche Lehre, die er - zu Recht - aus Heideggers Lehre vom Verstehen zieht: Zu entscheidender Klarheit ist das Problem des Verstehens durch Heideggers Aufweis des Verstehens als eines Existentials gebracht worden und durch seine Analyse der Auslegung als der Ausbildung des Verstehens. 1O
Beweist Bultrnann damit, dass er die enge Verbindung zwischen Verständnis und erklärender Auslegung bei Heidegger bestens begriffen hat, so war es sein Verdienst, als Erster Heideggers Auffassung vom hermeneutischen Zirkel speziell auf die traditionelleren Fragen der Hermeneutik angewendet und eine existenziale Texthermeneutik nicht nur angemahnt, sondern auch selbst praktiziert zu haben (beschränkte sich Heidegger doch weitgehend auf eine Hermeneutik des Daseins und der Geschichte der Metaphysik). Indem er bekräftigte, dass das Verstehen auf ein »Lebensverhältnis zu den Sachen«ll gegründet ist, kam er der Verstehensauffassung der philosophischen Hermeneutik durch Gadamer (Verstehen als Anwendung) und durch Ricreur (Verstehen als Öffnung einer Welt) zuvor. Damit wandte er sich - auch vor Gadamer - gegen die zu ästhetisierende und rekonstruierende Auffassung des Verstehens bei Dilthey. Sein »teilnehmendes Verstehen« machte den Weg für eine Auffassung des Verstehens als Gespräch zwischen Text und Ausleger frei. Eine Rückkehr der Hermeneutik zu ihren ehemaligen Fragen wurde von einem heideggerschen Boden aus möglich.
Ebd., S. 226. Ebd., S. 218. Vgl. J. Grondin, »Gadamer und Bultmann«, in Gadamer verstehenlUnderstanding Gadamer, hg. von M. WischkelM. Hofer, Darmstadt 2003, S. 186-208. 10
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v Hans-Georg Gadamer Eine Hermeneutik des Verstehensgeschehens 1. Eine nicht methodologische Hermeneutik der Geisteswissenschaften Auch wenn bereits Heidegger eine ausgesprochen philosophische Auffassung der Hermeneutik vertreten hatte, geriet der Hermeneutikbegriff erst mit Gadamer allmählich ins allgemeine Bewusstsein. 1960 legte er seinem Verleger ein umfangreiches Manuskript mit dem Titel Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik vor. Sein Verleger befand jedoch, der Ausdruck Hermeneutik sei vielleicht zu esoterisch und könne womöglich Leser abschrecken. Auf der Suche nach einem geeigneteren »Teaser« dachte Gadamer zunächst an Verstehen und Geschehen, bevor er auf den Titel Wahrheit und Methode kam. Dieses Werk hat alsdann den Begriff der »Hermeneutik« ins Zentrum philosophischer Debatten katapultiert, und zwar in einem Ausmaß, dass genau derselbe Verleger später darauf bestand, dieser Begriff müsse im Titel einer Sammlung von Essays, die Gadamer 1967 veröffentlichte, auftauchen ... Obwohl Gadamer Heideggers Schüler war und stark von ihm beeinflusst wurde, vollzog sich der Übergang von Heideggers zu Gadamers Hermeneutik nicht ohne gewaltige Akzent- und Themenverschiebungen. 1 Es ließe sich zunächst nicht sagen, dass 1 Siehe dazu meine Studie Die Hermeneutik von Heidegger bis Gadamer, in O. Breidbach u. G. Orsi (Hg.), Ästhetik - Hermeneutik - Neurowissenschaften. Heide/berger Gadamer-Symposium des Istituto Italiano per gli Studi Filosofici, Münster 2004, S. 7-17.
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Gadamer die »Daseinshermeneutik« von seinem Lehrer direkt übernahm. Vielmehr versuchte er, von ihr ausgehend die eher diltheysche Probiematik einer Hermeneutik der Geisteswissenschaften neu zu durchdenken (auch wenn Gadamer letztlich durch den Entwurf einer Universalhermeneutik der Sprache über diesen Gesichtskreis hinausging). Was ihn bei Heidegger fasziniert hat, war weit weniger das Konzept einer direkten Hermeneutik des Daseins oder einer Wiederaufnahme der Frage nach dem Sein, sondern eher das neue Verständnis des hermeneutischen Zirkels, der nicht mehr als Verstehenshindernis etwa im Sinne des objektivistischen Ideals einer tabula rasa erschien. Heideggers Grundidee besagte, es sei absurd, auf ein von Vorwegnahmen gereinigtes und von da an objektives Verstehen zu hoffen, denn fiir ein endliches Sein heiße Verstehen nun einmal, von bestimmten Vorhaben, Vorsichten und Vorgriffen geleitet zu sein. Ohne grundlegende Vorwegnahmen verliere das Verstehen seine (lebens orientierende) Funktion: Schließlich sei das Dasein das Wesen, dem es in seinem Sein ständig um dieses Sein gehe. Folglich gebe es keine Auslegung, die nicht von einem Vorverständnis ihren Ausgang nehmen würde. Ja, Heidegger behauptete sogar, die Auslegung sei nichts anderes als die Entfaltung des Verstehens. Natürlich meinte Heidegger dies mit Blick auf die Hermeneutik des Daseins: Sind die Vorwegnahmen des Daseins auf eigentliche Weise ausgearbeitet worden, d.h. von der Endlichkeit unseres Seins aus, oder nicht? Gadamer seinerseits wendet dann die positivere Wertung des hermeneutischen Zirkels auf die Problematik einer geisteswissenschaftlichen Hermeneutik an, die Heidegger überwunden haben wollte. Muss nicht indes Heideggers Auffassung (des hermeneutischen Zirkels) Konsequenzen rur eine Hermeneutik haben, die dem Wahrheits anspruch der Geisteswissenschaften Gerechtigkeit widerfahren lassen will? Gadamer geht gewiss von Heidegger aus, aber er tut es, um die Fragestellung Diltheys nach dem Wahrheits anspruch der Geisteswissenschaften zu erneuern. Während Gadamer erneut an Diltheys Problem anknüpft, stellt er jedoch dessen Prämisse in
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Frage, der zufolge allein eine Methodik Rechenschaft über die Wahrheit der Geisteswissenschaften geben könne. Genau darin liegt die Bedeutung des Titels Wahrheit und Methode: Wahrheit ist nicht allein Sache d~r Methode. Die Methode gründet sich ja auf die Distanz des Beobachters zu seinem Objekt. Ist nun aber dieses Modell des »Verstehens auf Distanz« tatsächlich für die Geisteswissenschaften geeignet? Ist nicht der Beobachter immer auf irgendeine Weise eingebunden, miteinbezogen in das, was er versteht? Diese Auffassung des Verstehens stammt weitgehend von Heidegger: Verstehen schließt immer ein Sich-Verstehen mit ein. Aber sie erinnert offenbar auch an Bultmanns »teilnehmendes Verstehen«. Gadamers Grundvorhaben ist es zunächst, die Wahrheitserfahrung der Geisteswissenschaften (und des Verstehens im Allgemeinen) zu rechtfertigen, ausgehend von dieser »teilnehmenden« Verstehensauffassung. Sie gibt den Ausschlag für das, was er in der ersten Zeile seines Werkes das »hermeneutische Problem«2 nennt, von dem er immer wieder sagen wird, dass es gelte, es wiederzuentdecken. Dieses »Problem« war nämlich seiner Ansicht nach durch den zu methodologischen Ansatz des »hermeneutischen Problems« bei Dilthey verdeckt worden. Gadamers These ist es, dass Dilthey wohl gegen seine besseren Absichten einer stillschweigend von der naturwissenschaftlichen Methodologie nahegelegten Wahrheitsauffassung erliegt, die jede Implikation der Subjektivität im Verstehensprozess als Gefährdung der Objektivität verabscheut. Anstatt sich blind an dieser Methodologie zu orientieren, die im Übrigen ihrer tatsächlichen Arbeit wenig entspricht, täten die Geisteswissenschaften gut daran, sich von der ein wenig in Vergessenheit geratenen Tradition des Humanismus inspirieren zu lassen, der die Geisteswissenschaften ja doch ihre Bezeichnung (humaniora) verdanken. Die Wiederaufnahme des hermeneutischen Problems in den ersten Teilen von Wahrheit und Methode 2 H.-G. Gadamer, Wahrheit und Methode, Gesammelte Werke, Band. 1, Tübingen 1986, S. 1.
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beginnt folglich mit einer ausdrücklichen Ehremettung des humanistischen Wissensbegriffs. Das humanistische Wissen zielt nicht primär darauf, wie die methodischen Naturwissenschaften objektivierbare und messbare Ergebnisse hervorzubringen; in ihm geht es eher um die Bildung und Erziehung des Menschen durch die Entwicklung der Urteilskraft. In diesem Bildungsideal, in dem sich ein sensus communis herausbildet - also sowohl ein allen gemeiner Verstand als auch ein Sinn für das, was allgemein gültig und gerecht ist -, geschieht eine »Erhebung zum Universellen«, die aber nicht mit dem Allgemeinen des naturwissenschaftlichen Gesetzes gleichzusetzen ist. Vielmehr geht es hier um eine Erhebung »über die Borniertheit der Interessen und die Privatheit der Vorlieben«,3 die offen macht für andere Horizonte und lehrt, »Abstandnahme von sich selbst«4 zu gewinnen. Ist dies nicht ein »Erkenntnisweg«, der das Individuum mit einbezieht und der Modellcharakter für die Geisteswissenschaften haben könnte? Dass dieses Modell für uns seine zwingende Kraft verloren hat, liegt daran, dass der wissenschaftliche Positivismus ein einziges Wissensmodell durchgesetzt hat: das der methodischen, vom Interpretierenden unabhängigen Erkenntnis. Gadamer hat nichts gegen das methodische Wissen als solches, er gesteht ihm jede Berechtigung zu, befürchtet aber, dass die ausschließliche Herrschaft dieses Erkenntnismodells uns für andere Wissens- und Wahrheitserfahrungen blind machen kann. Eine Besinnung, die der Wahrheit der Geisteswissenschaften gerecht werden will, die folglich in den Problembereich der »Hermeneutik« seit Dilthey gehört, muss nicht unbedingt eine methodologische sein. Kurzum: Gadamer übernimmt Diltheys Problem (worin besteht die Wahrheit der Geisteswissenschaften?), aber nicht seine Lösung (eine Methodologie) bzw. seine zu einseitige Fixierung darauf.
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2. Das Modell der Kunst - das Geschehen des Verstehens
Auf der Suche nach einem angemesseneren Wissensmodell als dem der methodischen Wissenschaft lässt Gadamer sich im ersten Teil von Wahrheit und Methode durch die Erfahrung der Kunst leiten. Das Kunstwerk bewirkt nicht nur ästhetischen Genuss, es ist zunächst eine Wahrheits erfahrung, betont Gadamer mit Nachdruck. Das Kunstwerk auf eine rein ästhetische Angelegenheit zu reduzieren, hieße gemeinsame Sache mit dem methodischen Bewusstsein zu machen, das ein Monopol auf die Wahrheitserkenntnis beansprucht, die es auf das wissenschaftlich Erkennbare begrenzt. Nein, sagt Gadamer, man muss erkennen, dass die Kunst einen Wahrheits- und Wissensanspruch erhebt. Diese Erweiterung des Wahrheitsbegriffs wird es später ermöglichen, dem Erkenntnisweg der Geisteswissenschaften eher Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Um sich diese Wahrheitsbegegnung vorzustellen, schlägt Gadamer vor, vom Begriff des Spieles auszugehen: Ein Kunstwerk verstehen heißt, sich in dessen Spiel hineinziehen lassen. In diesem Spiel sind wir weniger die Spielenden als die Gespielten, die sich durch das Werk bezaubern lassen, das uns gleichsam an einer höheren Wahrheit teilnehmen lässt. Das Spiel hat folglich für Gadamer nichts rein Subjektives (wie Schiller meinte, als er die ästhetische Erziehung auf den Spieltrieb gründete). Ganz im Gegenteil, der Spieler findet sich eher in eine Wirklichkeit versetzt, die ihn »übersteigt«. Der Teilnehmer an einem Spiel beugt sich der Autonomie des Spiels: Der Tennisspieler reagiert auf den Ball, der ihm zugeschlagen wird, der Tänzer folgt dem Rhythmus der Musik, der Leser eines Gedichts oder Romans ist gefangen von der Lektüre. Dieses Modell ist deshalb von Bedeutung, weil darin »Subjektivität« sehr wohl und voll mit enthalten, »im Spiele« ist; sie ist es aber nur, indem sie sich genau dem fügt, was das Werk in seiner Objektivität ihr aufzwingt: Das Subjekt wird also in eine Begegnung verwickelt, die es ganz verändert. Bei einem Kunst-
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werk verdichtet sich das »Spiel« in einem Gebilde, in einem Werk, das mich gefangen nimmt und mir etwas Wesentliches zeigt, sowohl in Bezug auf das Dargestellte als auch auf mich selbst; in Bezug auf das Dargestellte deshalb, weil es sich im Werk mit einem »Zuwachs an Sein« zeigt. Das besagt, dass die dargestellte Wirklichkeit sich im Werk stärker, enthüllender und sprechender zeigt als die Wirklichkeit selbst, die es darstellt. Das Werk beschert damit einen Erkenntnisgewinn, indem es der Wirklichkeit einen »Seinszuwachs« widerfahren lässt. So zeigt mir z.B. das Bild »2. Mai« von Goya - arme spanische Bauern, die die Arme hochhalten und von französischen Truppen exekutiert werden - hautnah die Wirklichkeit der Besetzung Spaniens durch Napoleon. Die Wirklichkeit gibt sich in der Kunst auf prägnante Weise zu erkennen. Man versteht die Pointe: Da geht es gar nicht um ein subjektives Spiel oder die Phantasie des Malers. Wahrheit wird hier vermittelt, aber sie ist nicht von methodologischer Art. Denn die Wahrheitsbegegnung verkörpert zugleich eine Begegnung mit sich selbst. Dies ist eine Wahrheit, an der ich »teilnehme« (man erinnere sich an Bultmann), denn das Werk spricht mich auf einzigartige Weise an. Daher rührt der Spielraum, der der Interpretation der Kunstwerke notwendig überlassen bleibt. Gadamers schlagende Idee ist es, dass diese Variation der Interpretation für den Sinn selbst maßgebend ist. Folglich wäre es unsinnig, sie aus der Interpretation auszulöschen. Die Wahrheitserfahrung ergibt sich nicht so sehr aus meiner eigenen Perspektive, sie ergibt sich vor allem aus dem Werk selbst, das mir die Augen über das Dargestellte öffnet. Es gilt also die Wahrheit, von der Gadamer spricht, von der pragmatischen Auffassung zu unterscheiden, die die Wahrheit auf das reduziert, was für mich nützlich sein kann: Nicht das Werk muss sich meiner Perspektive beugen, ganz im Gegenteil muss sich meine Perspektive in Gegenwart des Kunstwerks erweitern, ja sich sogar verwandeln. Folglich findet in der Erfahrung des Kunstwerks ein strenges, mitreißendes Spiel statt, zwischen dem »Seinszuwachs«, der sich mir wie eine Offenbarung, wenn nicht wie ein Diktat, darstellt,
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und meiner Antwort darauf. Niemand vermag gleichgültig gegenüber einem Kunstwerk zu bleiben, das uns seiner Wahrheit aussetzt. Diese Offenbarung, die die Wirklichkeit - »verklärt« und »wiedererkannt« in einem Kunstwerk - verwandelt, transformiert auch uns. Das' Kunstwerk sagt mir immer wie das Gedicht von Rilke, das Gadamer gern anführt: »Du mußt dein Leben ändern!« Genau dieses Modell des Kunstwerks mit seiner einzigartigen Strenge wendet Gadamer auf die Geisteswissenschaften an. Nach Gadamer ist die Wahrheit in den Geisteswissenschaften eher Sache eines »Geschehens« (das uns ergreift und uns Wahrheit entdecken lässt) als die berechenbare Konsequenz einer Methode. In diesem Zusammenhang ist es aufschlussreich, dass Gadamer seinem Werk zunächst den Titel Verstehen und Geschehen geben wollte. Damit wollte er Folgendes unterstreichen: Man kommt vielleicht zu spät, wenn man dieser herausragenden Wahrheits erfahrung eine Methodologie aufzwingt, die ihr »Objektivität« garantiert. Erliegt man damit nicht einem methodischen Erkenntnisideal, das an seinem Platz legitim ist, das aber die Wahrheits erfahrung - die die Geisteswissenschaften bezeugen und die die Erfahrung der Kunst wiederzuentdecken hilft zu entstellen droht?
3. Vorurteile als Bedingungen des Verstehens Rehabilitierung der Tradition Das alte Rezept zur Wahrheitsbegründung der Geisteswissenschaften bestand darin, die »Vorurteile« des Verstehens im Namen einer Auffassung von Objektivität, die von den Naturwissenschaften übernommen wurde, auszuschalten. 5 Provozierenderweise sieht Gadamer in den Vorurteilen eher »Bedingungen des Verstehens«. Er beruft sich auf die Strukturanalyse der Vorwegnahme des Verstehens bei Heidegger, die gezeigt hatte, dass 5
H.-G. Gadamer, Hermeneutische Entwürfe, Tübingen 2000, S. 42.
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der Sinnentwurfkeineswegs ein Fehler, sondern eine wesentliche Komponente jeglichen Verstehens, das diesen Namen verdient, ist. In diesem Sinn hatte BuHmann behauptet, es gebe keine Interpretation ohne das »Vorverständnis« des Interpretierenden. Bei Heidegger wie bei Bultmann öffnete diese Auffassung allerdings die Tore nicht etwa weit für den Subjektivismus, denn es ging nur darum, die Vorwegnahmen, die der zu verstehenden Sache angemessen waren, herauszuarbeiten. Interpretation war bei beiden in der Tat nichts anderes als die Aufforderung zu einer kritischen Prüfung der ihr zugrunde liegenden Vorgriffe. Gadamer beginnt auch seine Untersuchung der Vorstruktur des Verstehens - das ist zu wenig beachtet worden -, indem er auf diese ständige Überprüfung, die die Interpretationsbemühungen charakterisiert, abhebt. Eine richtige Interpretation muss sich vor der Willkür der aufgenommenen Ideen hüten und den Blick »auf die Sachen selber« richten. 6 Ganz wie Heidegger ist Gadamer folglich kein Feind der Angemessenheitsidee. Was er eher in Frage stellt, ist das aus der Aufklärung stammende Ideal eines Verstehens, das ganz und gar von Vorurteilen befreit wäre. Die Pointe der gadamerschen Untersuchung besteht darin zu zeigen, dass der aufklärerische Abscheu vor den Vorurteilen seinerseits auf ein nicht hinterfragtes Vorurteil zurückgeht, namentlich auf das »Vorurteil gegen die Vorurteile«. Tatsächlich beruht der Kreuzzug der Aufklärung gegen die Vorurteile auf der Idee, dass nur als wahr erkannt werden kann, was vernünftig auf der Basis einer ersten Gewissheit gegründet ist. Dieser Grundsatz führte die Aufklärung dazu, jegliche Kenntnis, die sich auf Tradition und Autorität gründet, zu entwerten. Das aber heißt verkennen, dass es doch »berechtigte Vorurteile« geben kann Gadamer beruft sich zu Recht auf den Umstand, dass man im Französischen von prejuges legitimes sprechen kann - fruchtbare Vorurteile, die wir der Tradition verdanken. Gadamer sieht folglich in der Opposition zwischen Vernunft und Tradition eine 6 H.-G. Gadamer, Wahrheit und Methode, Gesammelte Werke, Band 1, Tübingen 1986, S. 271.
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abstrakte Gegenüberstellung: Die Tradition kann auch etwas Vernünftiges haben, die Vernunft ist ja selbst von einer - u.a. descartesschen - Tradition abhängig. Aber gibt es - fragt Gadamer - eine Wahrheit, die der Tradition absolut nichts verdankt und die folglich ganz 'und gar von Tradition und Sprache getrennt wäre? Gadamer denkt hier nicht an eine bestimmte Tradition (das würde ihn zum Traditionalisten machen, der er nicht ist), er hat eher die in uns meist unbemerkt »wirkende Geschichte« im Auge, die sozusagen im Rücken des Verstehens am Werke ist und es voranbringt. So vertritt die Tradition alles, was beim Verstehen nicht »objektivierbar« ist, was es aber unmerklich bestimmt. Verstehen ereignet sich, es wird hervorgebracht von gewissen Erwartungen und Zielen, die es aus der Vergangenheit und der Gegenwart übernommen hat, die es aber nicht immer auf Distanz halten kann. Auch wenn Gadamer das klassische und heideggersche Ideal einer kritischen Prüfung der Vorurteile beibehält, scheint es ihm doch illusorisch, die Wahrheit des Verstehens nach dem Ideal einer von Vorurteilen völlig freien Erkenntnis auszurichten. Ein solches Ideal wird seiner Meinung nach der grundlegenden Geschichtlichkeit des Bemühens um Verstehen nicht gerecht. Bei Gadamer ist es eben diese Geschichtlichkeit, die die Hoffnung auf eine Lösung der kritischen Hermeneutik-Frage erlaubt: Wie sind die berechtigten Vorurteile (die die Interpretation ermöglichen) zu unterscheiden von den unberechtigten, die zu überwinden Pflicht der kritischen Vernunft ist?7 Oft - so heißt seine erste Antwort - ist es der zeitliche Abstand, der die guten von den bösen Vorurteilen auszusondern hilft. Das sieht man zum Beispiel in der zeitgenössischen Kunst, aber auch in der Philosophie: Wie kann man die bedeutenden und originellen Beiträge von den weniger bedeutenden unterscheiden? Hier bietet nur der »Zeitenabstand« Hilfe an, indem er die besseren von den schlechteren Vorurteilen unterscheidbar macht. Ein 7
Ebd., S. 28lf., 304.
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stillschweigend hegelianisches »Effizienzkriterium« erscheint hier am Werke: Was sich durchgesetzt hat, hat etwas für sich. Eine mehr oder weniger befriedigende Lösung freilich, da sie die Frage nach der Gewichtung zeitgenössischer Werke offen lässt, in Ermangelung zeitlicher Distanz (nicht aber jeder Form kritischer Distanz), aber auch, weil sie vielleicht Verfahren in den Wind schlägt, bei denen der zeitliche Abstand große Werke und bedeutende Interpretationen vernebeln kann. Wenn Gadamer zu Recht an das vernünftige Potenzial der Tradition und des Hergebrachten erinnert, hat er vielleicht nicht genügend unterstrichen, was sie an Verdeckendem und manchmal Unterdrückendem hat. Diese Kritik setzt allerdings ein recht »modemes« Konzept von Tradition voraus, das Gadamer eben in seine Schranken weisen möchte.
4. Die Wirkungsgeschichte und ihr Bewusstsein Das Grundkonzept der Hermeneutik Gadamers ist das der Wirkungsgeschichte. Der schon vor Gadamer existierende deutsche Begriff bezeichnet üblicherweise die Geschichte der Rezeption oder - einfacher - die Nachwirkung eines Werkes in der Geschichte. So kann man zum Beispiel das Werk Cervantes' von seiner »Nachwirkung« unterscheiden, ebenso wie man die französische Revolution von ihrer »Wirkungsgeschichte« trennen kann. Es gibt hier ein» Wirken« der Geschichte, das für Gadamer für das geschichtliche Sein überhaupt konstitutiv ist. Auszugehen ist aber von der grundlegenden Bedeutung der Wirkungs geschichte in den Geisteswissenschaften, um Gadamers Ausweitung derselben recht zu würdigen. Das besondere Fachgebiet der »Wirkungs geschichte« wurde im 19. Jahrhundert von Historikern entwickelt, die stolz auf ihr »historisches Bewusstsein« waren und die darauf bedacht waren, ihr Studium der Quellen und Fakten von deren Nachwirkung zu unterscheiden. So kann man die großen Werke oder Ereignisse um ihrer selbst willen und in einem zweiten Schritt ihre Wir-
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kungsgeschichte studieren: Der Historiker, der Platons Denken als solches erforschen will, wird bemüht sein, sich von der Nachwelt und ihren Vorurteilen abzugrenzen, denn sie könnten seine Erkenntnis beeinträchtigen. Die historische Aufklärung der wirkungsgeschichtlicllen Nachwirkung sollte es folglich erlauben, ihrem heimtückischen Einfluss zu entkommen. Das Studium der Wirkungs geschichte stand also im Dienst einer objektiven Interpretation der Vergangenheit, »wie sie wirklich gewesen ist«, bevor die Geschichte ihr neue Bedeutung verlieh. Gadamer fragt sich, ob dieses an sich ehrenvolle Verstehensideal, das die Wirkungsgeschichte immer auf Distanz halten will, ihrer Wirkung uneingeschränkt gerecht wird. Schließt das Studium der Nachwelt um ihrer selbst willen mit ein, dass man sich ihrer Wirksamkeit entzieht? Das ist nicht ausgemacht, denn die Interpretation, die die Wirkungsgeschichte zu objektivieren versucht, wird selbst im Namen von Vorurteilen und einem Objektivitätsideal durchgeführt, die ihrerseits Ergebnis einer spezifischen, mehr oder weniger transparenten Wirkungs geschichte sind (im vorliegenden Fall des Positivismus). In Gadamers Augen scheint es weniger wichtig, diese Präsenz der Wirkungsgeschichte zu objektivieren - eine ohnehin unendliche Aufgabe, da man dabei hofft, Herr all seiner Bestimmungen zu sein - als zu erkennen, dass jedes Verstehen von einer Wirkungsgeschichte getragen und fortgetragen ist; es rührt von den Werken und ihrer Nachwirkung selbst her, ist sich dessen aber immer nur teilweise bewusst. Gadamers philosophische Absicht gilt der Entwicklung eines angemessenen Bewusstseins dieser Wirkungsgeschichte. Wie bei Heidegger und Bultmann kann es sich dabei zunächst um ein Bewusstsein handeln, das sich bemüht, die Arbeit der Wirkungsgeschichte, in deren Mitte es sich befindet, möglichst an den Tag zu bringen, um seine eigene hermeneutische Situation zu erhellen. Das ist im Bereich der historischen Forschung völlig legitim, ja geboten, aber ebenso wichtig ist in den Augen Gadamers, sich der Grenzen einer solchen Klärung bewusst zu werden. Die Geschichtsarbeit bestimmt nämlich unser Bewusstsein noch über
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dasjenige, dessen wir uns bewusst sind, hinaus. Ein endliches Bewusstsein wird nie Herr all seiner Bestimmungen. Gadamers Grundbegriff ist also der des »wirkungsgeschichtlichen Bewusstseins«, das es zu entwickeln gilt. Wie es das Vorwort zur zweiten Auflage von Wahrheit und Methode gestand, ist der Begriff zweideutig: Einerseits wird damit das Bewusstsein bezeichnet, das von der Geschichte geprägt, getragen und bestimmt wird; andererseits geht es gerade um ein Bewusstwerden dieses Vonder-Geschichte-Geprägtseins, das Gadamer dem Ideal eines ganz und gar fiir sich transparenten Bewusstseins entgegensetzte8• Gadamers Hoffnung besteht darin, dass gerade das Erkennen der wesensmäßigen Begrenztheit und Endlichkeit unseres Bewusstseins uns dazu bringen kann, uns fiir Selbstkorrektur und neue Erfahrungen offen zu halten. Wie bei der Kritik des »Vorurteils gegen die Vorurteile«, das die Aufklärung charakterisiert, geht es hier um eine Selbstkritik des »geschichtlichen Bewusstseins«. Mithilfe dieses Bewusstseins wollte sich der Historiker sozusagen über die Geschichte selbst erheben und sie von ihrem eigenen Kontext her »objektiv« entschlüsseln, wie es der Naturwissenschaftler tut, wenn er die Phänomene erklärt. Gadamers Pointe ist hier, dass die Rekonstruktionsarbeit des Historikers verkennt, wie sehr sie in einer Wirkungsgeschichte steht, und dies in mehrfachem Sinne: Verkannt wird zunächst, wie sehr dieses Ideal der positivistischen Methodologie der Naturwissenschaften entstammt; uneingestanden wird ferner, dass jede Rekonstruktion der Vergangenheit nolens volens in einer Wirkungs geschichte steht, aber auch von ihr zehrt. Gadamer sieht in ihr nämlich weniger eine Grenze als eine Möglichkeitsbedingung des historischen Erkennens. Sie lässt sich teilweise hinterfragen, aber nie ganz.
8 Vorwort zur 2. Auflage von H.-G. Gadamer, Wahrheit und Methode, jetzt in: Gesammelte Werke, Band 2, Tübingen 1993, S. 444.
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5. Die Horizontverschmelzung und ihre Anwendung Im Lichte dieses »wirkungs geschichtlichen« Bewusstseins, das seiner Endlichkeit gewahr ist, erscheint Verstehen weniger als eine Aktivität des Subjekts, sondern eher als ein wirkungsgeschichtliches Geschehen: Das Verstehen ist selber nicht so sehr als eine Handlung der Subjektivität zu denken, sondern als Einrücken in ein Überliejerungsgeschehen, in dem sich Vergangenheit und Gegenwart beständig vermitteln. Das ist es, was in der hermeneutischen Theorie zur Geltung kommen muß, die viel zu sehr von der Idee eines Verfahrens, einer Methode, beherrscht ist. 9
Diese ständige Vermittlung zwischen Vergangenheit und Gegenwart ist die Wurzel der gadamerschen Konzeption einer »Horizontverschmelzung«. Vergangenheit verstehen heißt nicht über den Horizont der Gegenwart mit ihren Vorurteilen hinauszugehen, um sich in den Horizont der Vergangenheit hineinzuversetzen. Eher heißt es, die Vergangenheit in die Sprache der Gegenwart, in der die Horizonte der Vergangenheit und der Gegenwart miteinander verschmelzen, zu übersetzen. Die Verschmelzung ist derart gelungen, dass man nicht mehr erkennen kann, was noch von der Vergangenheit und was von der Gegenwart abhängig ist. Daher rührt die Idee der »Verschmelzung«. Diese Verschmelzung von Gegenwart und Vergangenheit ist aber auch - grundlegender - die Verschmelzung des Interpretierenden (des interpretans) mit dem, was er versteht (mit dem interpretandum). Die Kunsterfahrung hat uns gelehrt, dass das Verstehen eines Kunstwerkes das Geschehen des Verschmelzens ist, wo sich nicht mehr recht unterscheiden lässt, was aus dem Objekt und was aus dem verstehenden Subjekt erwächst. Beide verschmelzen in einer gelungenen Begegnung von Subjekt und Objekt, in der man Gadamers Version der adaequatio rei et intellectus erkennen darf, der Angemessenheit von Sache und Denken - gemäß der klassischen Definition der Wahrheit.
9 H.-G. Gadamer, Wahrheit und Methode, Gesammelte Werke, Band 1, Tübingen 1986, S. 295.
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Sofern es eine Verschmelzung mit der Gegenwart gibt, schließt Verstehen immer ein Anwendungsmoment mit ein. Sobald der Interpretierende versteht, bringt er Eigenes mit ein, aber sein »Eigenes« ist ebenso sehr das seiner Zeit, seiner Sprache und seiner Fragestellungen. Ein Werk wird immer aus Fragen der eigenen Zeit heraus, meist unbemerkt, interpretiert. Verstehen heißt folglich eine Bedeutung auf die Gegenwart anwenden. Gadamer beruft sich hier auf die ehemalige subtilitas applicandi, die noch im Pietismus des 18. Jahrhunderts zur Hauptaufgabe der Hermeneutik gehörte. Für einen Pastor fand diese Anwendung in der Predigt statt, die versuchte, das Verstehen des Bibeltextes auf die aktuelle Lage der Gläubigen anzuwenden. Gadamer gesteht ihr nun eine unerhörte Tragweite zu, wenn er behauptet, Verstehen sei nichts anderes als die Anwendung einer Bedeutung auf die Gegenwart. Damit widersetzt sich Gadamer dem methodischen und rekonstruktiven Ideal Schleiermachers und Diltheys, das ein Eingreifen der Gegenwart - aufgefasst als Bedrohung der Objektivität - ausschließen will. Kann man wirklich verstehen, ohne mit ins Verstehensgeschehen einbezogen zu sein, ohne Miteinbezug der Gegenwart?, fragt sich Gadamer. 1O Eine Übersetzung bietet ein gutes Beispiel für das, was Gadamer unter Anwendung versteht: Einen Text übersetzen heißt, ihn in einer anderen Sprache sprechen zu lassen. Selbstverständlich müssen dabei die Mittel unserer Sprache zum Tragen, ja zum Sprechen kommen. Die fremde Bedeutung kann nur in einer Sprache wiedergegeben werden, die wir zu verstehen in der Lage sind. Bei der Übertragung der Bedeutung in eine andere Sprache kommt es (wenn sie gelingt) zu einer wahren Verschmelzung mit dem, was zu übersetzen ist. Überhaupt ist eine Übersetzung umso gelungener, je weniger man das Gefühl hat, eine Übersetzung zu lesen. Besonders dort sieht man, dass diese Anwendung der eigenen Sprachmittel Strenge und Wahrheit mit einschließt: Man kann einen Text nicht irgendwie übersetzen. Es geht um 10 Diese Konzeption hat natürlich enormen Widerstand ausgelöst. Vgl. neuerdings H. Krämer, Kritik der Hermeneutik, München 2007, S. 26-29.
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den fremdsprachigen Text, der übersetzt werden soll, das ist aber nur möglich durch Anwendung der eigenen Sprachmöglichkeiten. Folglich ist es ein Missverständnis, die Anwendung des Interpretierenden, die Gadamer im Auge hat, mit einer Form subjektiver Willkür zliassoziieren. Dies Übersetzungsmodell ist nicht ohne weitere Konsequenz, da es das »sprachliche« Element eines jeden Verstehens in den Vordergrund rückt. Seine Universalisierung bildet den Abschluss von Wahrheit und Methode.
6. Sprache als Gegenstand und Vollzug der hermeneutischen Erfahrung Das Übersetzungsmotiv genießt in der Tat Musterfunktion für die Hermeneutik und ihre Universalisierungsansprüche. Das mag sich zunächst trivial anhören, aber einerseits ist Übersetzung stets auf Sprachliches gerichtet: Der hier zu verstehende Gegenstand ist stets sprachlich verfasst. Andererseits ist die Übersetzung selber ein sprachlicher Vorgang: man sucht etwas in eine fremde Sprache (und nie nach Belieben!) zu übersetzen, ein Vorgang also, der unsere Verstehens- und Sprachfähigkeit in Anspruch nimmt. Hier kommt indes die weit weniger triviale Universalisierung: Was fiir die Übersetzung gilt, trifft nach Gadamer fiir alle Verstehensformen zu, also sowohl fiir die in den Geisteswissenschaften betätigten Verstehensformen, die bislang das Paradebeispiel Gadamers abgaben, wie für das allgemeine, alltägliche Verstehen, nämlich dass ihr Gegenstand und Vollzug sprachlich »sind«. Hier gibt es zwei Thesen. Die erste besagt, dass Verstehen immer ein sprachlicher Prozess ist. Negativ ausgedrückt: Es gibt kein Verstehen, das nicht irgendwie eine Art Versprachlichung (mise en langage) vollziehen würde. Verstehen heißt durch einen Sinn angesprochen zu werden und ihn in eine Sprache, die notgedrungen immer die eigene ist, übersetzen zu können. Hier
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findet eine Verschmelzung zwischen dem Vorgang des Verstehens und seiner Versprachlichung statt. Gadamers Idee ist es, dass die Sprache nicht die - nachträgliche - Übersetzung eines intellektuellen Vorgangs ist, der ihr vorausging und der auch ohne sie ablaufen könnte. Nein, jede Verstehenssuche ist immer schon Suche nach Sprache. Es gibt kein Denken ohne Sprache. Beide finden simultan statt. Nach Gadamer hat das abendländische Denken diese Simultaneität bzw. Verschmelzung von Sprache und Denken (bzw. Verstehen) seit Platon hartnäckig verkannt, indem es der Sprache im Verhältnis zum autonomen Gedanken nur den zweiten Platz einräumte. Gadamer weist hier eine Sprachvergessenheit nach, die sich durch die ganze abendländische Überlieferung hindurch gehalten habe (sie nimmt in seinem Denken in etwa die Stelle ein, die die Seinsvergessenheit bei Heidegger innehatte): Nur eine einzige Ausnahme kennt er: die von Augustinus flüchtig gestreifte Idee einer grundlegenden Seins-Identität zwischen dem Gedanken (logos) und seiner Versprachlichung (incarnatio). Hier und allein hier sei die Wesensgleichheit von Sprache und Denken erkannt worden. Sprache reicht also so weit wie das Denken und arbeitet ihm sogar voraus. ll Sprache kann somit alles umfassen, das fähig ist, verstanden zu werden. Sie ist also nicht auf die eigene Perspektive (die einer Sprache oder einer speziellen Gemeinschaft) begrenzt: »Die Sprachgebundenheit unserer Welterfahrung« bedeutet keine »ausschließende Perspektivität«.12 Betont wird also mitnichten, wie in den meisten heutigen Sprachtheorien, die perspektivistische Grenze, die die sprachliche Verfassung unseres Verstehens bedeuten würde, sondern ganz im Gegenteil die universelle Offenheit der Sprache: Sprache, die vom Dialog aus verstanden wird, kann sich allem, was verstehbar ist, öffnen, aber auch anderen sprachlichen Horizonten, die die unsrigen
II Vgl. H.-G. Gadamer, Wie weit schreibt Sprache das Denken vor? (1970), in: Gesammelte Werke, Band 2, S. 199-206. 12 H.-G. Gadamer, Wahrheit und Methode, Gesammelte Werke, Band 1, Tübingen 1986, S. 452.
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erweitern. Übersetzung und Dialog sind im Prinzip immer möglich. Das bedeutet nicht, dass unsere Sprache keine Grenzen kenne: Unsere Worte sind oft ziemlich unzulänglich beim Ausdruck all dessen, was wir ruhlen. Aber die Grenzen der Sprache sind hier ebenso die unseres Verstehens. Jede Kritik an den Grenzen der Sprache kann ja nur innerhalb der Sprache stattfinden. »Insofern überholt die Sprache alle Einreden gegen ihre Zuständigkeit. Ihre Universalität hält mit der Universalität der Vernunft Schritt.«13 Diese drückt sich selbst in einer Sprache aus, die verständlich zu sein hat und die ohne Sprache nicht vollziehbarwäre. Man kann also von einer Universalität und einer dialogischen Rationalität der Sprache sprechen, um ihre Offenheit rur jede verstehbare Bedeutung zu bezeichnen. Aber sie ist nur möglich, weil Sprache hier als das Licht des Seins selbst verstanden wird. Daher rührt die zweite große These Gadamers: Nicht nur der Vollzug des Verstehens ist sprachlich, sondern der Gegenstand des Verstehens selbst ist immer sprachlich. Dies ist die weitergehende Bedeutung des berühmten Gadamer-Wortes: »Sein, das verstanden werden kann, ist Sprache.«14 Für Texte gilt das ohnehin, aber nach Gadamer ist die Welt, die ich verstehe, immer eine Welt, die auf Sprache ausgerichtet ist. Welt begegnet mir nur sprachlich: Diese Wand, dieser Arzt, diese Angst bieten sich mir nicht zunächst als physische Realitäten dar, denen ich anschließend Bezeichnungen zuweisen kann. Nein, was ich sehe, sind eine Wand, ein Heilpraktiker, und es ist eine Angst, die mir die Kehle zuschnürt. Alles, was verstanden werden kann, ist ein Sein, das sich in Sprache kundtut. Sobald ich zu verstehen versuche, was etwas ist, suche ich ein Sein, das schon Sprache ist und von daher auch verstehbar ist. Entscheidend ist, dass Gadamers Betonung nicht auf der Versprachlichung der Welt durch ein Subjekt (oder eine Sprachgemeinschaft) liegt; dies war es nach Gadamer bei Humboldts 13
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Ebd., S. 405. Ebd., S. 478.
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Auffassung, der zufolge Sprache eine »Weltansicht« sei, der Fall, oder bei Cassirer, der die Sprache als eine »symbolische Form« unseres Welterfassens verstand. Gadamers zentrale Einsicht setzt noch ursprünglicher an: Es ist die Sprache, die das Sein der Welt zuallererst zutage treten lässt, denn sie ermöglicht es, die Sprache der Dinge selbst zu entfalten. So verkörpert Sprache »das Licht des Seins«, wo immer das Sein der Dinge sich zu verstehen gibt. Viel zu stark vom modemen Denken beeinflusst, haben die Interpreten die Reichweite dieser These Gadamers nicht immer voll begriffen. Seine Absicht ist nicht, zu sagen, dass man sich die Wirklichkeit schon immer durch Sprache (sei sie Ausdruck einer Sprachgemeinschaft oder einer historischen Kultur) zu eigen gemacht hat und dass das »Sein an sich« folglich selbst gar nicht erkennbar wäre.I.'OCm Gegenteil, sagt er, ist es die Sprache, die uns das wahre Sein der Dinge erkennen hilft. Gadamer kritisiert aufs Entschiedenste die modeme Idee (die Humboldt und Cassirer vertreten, die allerdings auf Kant zurückgeht), der zufolge das Wirkliche seine Verständlichkeit nur dank unserer Sprache, unserer Weltansicht und unserer Kategorien bekäme. Das sinngebende Subjekt sieht sich nicht einer sprachlosen Welt von Objekten gegenüber, die zunächst sinnlos wäre und Sinn erst im Lichte unseres Sprechens und Denkens bekäme. Gadamer prangert hier eine nominalistische und instrumentale Sprachauffassung an, die aus Sprache ein Werkzeug in den Händen des Subjekts macht. Gadamer hält mutig fest, dass Sprache bereits Ausdruck des Seins der Dinge selbst ist. Es ist kein Instrument, über das wir verfUgen. Eher geht es um ein universelles Element, in dessen Mitte sich sowohl Sein als auch Verstehen finden: Es ist das Band, das beide ursprünglich miteinander verschmilzt. Dies universelle Element der »Sprachlichkeit« des Seins und des Verstehens gestattet es der Hermeneutik, Anspruch aufUniversalität zu erheben. Damit überschreitet die Hermeneutik den Horizont einer Reflexion über die Geisteswissenschaften hin zu einer universellen philosophischen Reflexion über den sprachlichen Charakter unserer Welterfahrung und der Welt selbst.
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Hermeneutik und Ideologiekritik 1. Bettis methodologische Reaktion Gadamers Hermeneutik, die damit ihre eigene Auffassung von der Wirkungs geschichte aposteriori bestätigt, hat lebhafte philosophische Diskussionen hervorgerufen, die dazu beigetragen haben, ihre Bedeutung und Reichweite erkennbar werden zu lassen. Die erste bedeutende Reaktion erfolgte von Seiten des italienischen Juristen Emilio Betti (1890-1968), der in seiner umfangreichen Allgemeinen Theorie der Auslegung aus dem Jahr 1955 (Giuffre Ed., Mailand) eine streng methodologische Auffassung der Hermeneutik vertreten hat. Sie befand sich in der Tradition Schleiermachers und Diltheys, aber Bettis meisterhafte Synthese war unendlich differenzierter entwickelt als die Entwürfe seiner beiden großen Vorgänger. Die 1000 Seiten umfassende Teoria generale ist vielleicht wenig gelesen worden, aber Betti hat zwei polemische Streitschriften in deutscher Sprache verfasst, in denen er seine wesentlichen Gedanken zusammenfasst; diese haben mehr Aufsehen erregt: Zur Grundlegung einer allgemeinen Auslegungslehre von 1954 und ein Essay von 1962 Die Hermeneutik als allgemeine Methodik der Geisteswissenschaften 1. Im ersten Pamphlet ist von Wahrheit und Methode natürlich noch nicht die Rede, aber Betti greift bereits die »ketzerischen« Lehren Heideggers und Bultmanns an, die im Vorver1 E. Betti, Zur Grundlegung einer allgemeinen Auslegungslehre, 1954, Neuauflage Tübingen 1988; Die Hermeneutik als allgemeine Methodik der .Geisteswissensehaften, 1962,2. durchgesehene Auflage Tübingen 1972.
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ständnis eine positive Bedingung der Auslegung sehen wollten. Leidenschaftlich verteidigt Betti die klassische Ansicht, nach der das Vorverständnis das richtige Verständnis eher beeinträchtigt als fördert. Er wirft Heidegger vor, die natürliche teleologische Verbindung zwischen Auslegung und Verstehen auf den Kopf zu stellen, wenn er in der Auslegung nichts anderes als die Entfaltung des 01or-)Verstehens sieht. Der Essay von 1962 versetzte Wahrheit und Methode den ersten bedeutenden Entgegnungsschlag; er folgte aber einer voraussehbaren Angriffsrichtung, die es Gadamer ermöglichte, den Sinn und die Zielrichtung seiner Hermeneutik in seinen Entgegnungen zu verdeutlichen, besonders im Vorwort zur zweiten Auflage von Wahrheit und Methode und im Essay Hermeneutik und Historismus von 1965.2 Betti griff speziell Gadamers Konzeption von der Anwendung (auf die Gegenwart), die jedes Verstehen einschließe, an; er wirft Gadamer vor, die Bedeutung eines Werks, d.h. den ursprünglichen Sinn aus Sicht des Autors, mit der Bedeutsamkeit zu verwechseln, die sie für den jeweiligen Interpreten und die sie im Lauf der Geschichte erlangt hat. In seinen Augen besteht die wesentliche Aufgabe der Hermeneutik nicht darin, einen Sinn auf die Gegenwart anzuwenden - was zu Subjektivismus führen würde -, sondern darin, die Absicht des Autors, die mens auctoris, wiederherzustellen. Betti verurteilt die von Gadamer scheinbar vorgeschlagene »hermeneutische Methodik«, die darin aufgehen würde, die Methode aufzugeben und seinen eigenen Vorurteilen freien Lauf zu lassen. Offenbar dachte Betti, dass Gadamer dieselbe »methodische« Auffassung von Hermeneutik hatte wie er. Gadamers »Methode«, wie er sie verstand, erschien ihm aber widersinnig. Gadamer hat darin ein Missverstehen seiner wirklichen Absichten gesehen. Er hatte gar nicht vor, eine neue Methodik einzubringen - und schon gar nicht jene, die Betti ihm unterstellte -, sondern wollte allein die eigenartige Wahrheitserfah2 H.-G. Gadamer, Wahrheit und Methode, Gesammelte Werke, Band 2, Tübingen 1993, S. 387-424.
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rung der Geisteswissenschaften ergründen, was ihn gerade dazu brachte, über den Rahmen der Methodik (die noch zu stark von dem Modell der Naturwissenschaften abhängig war) hinauszugehen. Die Reichweite der Unterscheidung zwischen (ursprünglicher) BedeutUng und (aktueller) Bedeutsamkeit eines Werks schwächte er ab, indem er die Frage stellte, ob die Bedeutung der Vergangenheit wirklich unabhängig von dem Sinn, den sie für uns hat und den sie im Verlauf der Geschichte bekommen hat, verstanden werden könne. Aber noch eine andere Debatte hat dazu beigetragen, die Hermeneutik ins Rampenlicht zu rücken und damit besser bekannt zu machen. Diese Debatte konfrontiert Gadamer mit Habermas.
2. Gadamers Verdienst aus Habermas' Sicht Im Verlauf der sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts arbeitete Jür" gen Habermas (Jahrgang 1929) an einer Logik der Sozialwissenschaften, die - ein wenig wie bei Gadamer im Bereich der Geisteswissenschaften - versuchte, den spezifischen Wahrheitsbeitrag der Sozialwissenschaften zu legitimieren. Seine sehr wichtige Arbeit Zur Logik der Sozialwissenschaften (1967) erschien zunächst als Artikel in einer von Gadamer herausgegebenen Zeitschrift, der Philosophischen Rundschau. 1961 hatte Gadamer bereits den jungen Habermas, von dem er wusste, dass er in Frankfurt umstritten war, unter seine Fittiche genommen, indem er ihm eine außerordentliche Professur an der Universität Heidelberg vermittelte. Die Logik der Sozialwissenschaften präsentiert sich als eine lange, kritische Sammelrezension der Hauptbeiträge zur Erkenntnistheorie und »Logik« der Sozialwissenschaften. Aus der Frankfurter Schule hervorgegangen, war es Habermas' Absicht zu zeigen, dass diese Wissenschaften von einem »emanzipatorischen« Erkenntnisinteresse geleitet sind, das sie in die Lage versetzt, die bestehende Gesellschaft zu kritisieren. Habermas
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kämpft dabei vor allem gegen die Soziologen, die einer rein positivistischen Auffassung ihrer Fachrichtung erliegen. Nach deren Sichtweise haben es die Sozialwissenschaften mit empirischen, messbaren Gegebenheiten, die ganz frei von Erkenntnisinteressen seien, zu tun - denn sonst wäre ihr Anspruch auf Objektivität gefährdet. In seiner Rechtfertigung des sozialwissenschaftlichen Erkenntnistyps hat sich also Habermas von Gadamer inspirieren lassen, er hat ihn aber auch scharf kritisiert. Da die Kritik vielleicht mehr Berühmtheit erlangt hat als die Solidarität zwischen bei den Denkern, ist es wichtig, an ihre GrundÜbereinstimmung zu erinnern: a) Habermas solidarisiert sich zunächst vollends mit der gadamerschen Kritik am »objektivistischen Selbstverständnis der traditionellen Geisteswissenschaften«: Aus der Bindung des interpretierenden Wissenschaftlers an seine hermeneutische Ausgangslage folgt, daß die Sachlichkeit des Verstehens nicht durch die Abstraktion von Vonneinungen gesichert werden kann, sondern allein durch eine Reflexion des wirkungs geschichtlichen Zusammenhangs, der die erkennenden Subjekte mit ihrem Gegenstande immer schon verbindet. 3
Habermas zieht daraus den Schluss, dass der Sozialforscher von seinem Objekt, dessen Teil er ja ist, betroffen ist, und dass er nur gewinnen kann, wenn er sich seiner Vorurteile, die nach Habermas emanzipatorisch sind und die Richtung seines Forschens beeinflussen, bewusst wird. b) Ebenso verdankt Habermas der gadamerschen Sprachauffassung wegweisende Einsichten, die ihn indes zu seiner GadamerKritik nötigen sollten. Es leuchtet zunächst ein, dass man soziales Handeln nicht verstehen kann, wenn man von der Sprache abstrahiert, in der das Handeln sich abspielt, verständlich wird und sich auch selbst reflektiert. Der Gegenstand und der Vollzug des (hier freilich sozialwissenschaftlich gewendeten) Ver-
3 J. Habennas, Der Universa1itätsanspruch der Henneneutik, in: Hermeneutik und Ideologiekritik, Frankfurt am Main 1970, S. 127.
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stehens sind immer schon sprachlich verfasst. Aber noch etwas Wichtigeres hat er bei Gadamer entdeckt, nämlich die Idee, der zufolge die Sprache kein geschlossenes Universum bildet wie in Wittgensteins Theorie des »Sprachspiels«, das Habermas mit Hilfe Gadamers auf brillante Weise kritisieren wird. Sprache zeichnet sich durch ihr Vermögen aus, fiir alles Ausdruck zu suchen, und damit durch die Fähigkeit, über ihre eigenen Schranken und Festsetzungen hinauszugehen. Gadamer hatte nämlich gezeigt, dass es immer möglich ist, die Bedeutung eines fremdsprachigen Inhalts zu übersetzen. Sprache kann sich folglich allen möglichen Sinnhorizonten öffuen und die Grenzen eines gegebenen linguistischen Rahmens überschreiten: »In Wahrheit sind die Sprachkreise nicht monadisch abgeschlossen, sondern porös: sowohl nach außen wie nach innen.«4 Nach außen, da sie jeglichen fremdsprachigen Inhalt empfangen und übersetzen können, aber auch nach innen, in dem Maße, in dem Sprache imstande ist, ihre eigenen Festsetzungen zu transzendieren, zu nuancieren und neue Ausdrücke zu finden fiir das, was verstanden werden soll. Diese Öffuung bestätigt in Habermas' Augen das Potenzial der Rationalität, das der Sprache innewohnt. 5 Vernunft, wird er später sagen, hat ihren Sitz in der Sprache in dem Maße, in dem sie imstande ist, über sich selbst hinauszuwachsen. Dies ist eine beeindruckende Rezeption - und Anwendung - der gadamerschen Hermeneutik durch Habermas, die allerdings mit einer gewichtigen, beachtenswerten Kritik einhergeht.
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J. Habermas, Zur Logik der Sozialwissenschqften, Frankfurt am Main, 1970,
S.258. 5 Ebd., S.253: »Die Sprachen selber enthalten das Potential einer Vernunft, die, in der Besonderheit einer bestimmten Grammatik sich aussprechend, deren Grenzen zugleich reflektiert und als besondere negiert. Die stets in Sprache eingebundene Vernunft ist über ihre Sprachen immer schon hinaus: nur indem Vernunft die Besonderungen der Sprachen, durch die sie allein sich verkörpert, vernichtet, lebt sie in der Sprache«. Vgl. J. Habermas, Philosophisch-politische Profile, Frankfurt am Main, erw. Aufl. 1981, S. 288: »Vernunft sitzt in der Sprache«.
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3. Habermas' Gadamerkritik »Gadamer verkennt die Kraft der Reflexion, die sich im Verstehen entfaltet«. 6
Wenn Gadamer das Potenzial einer »kommunikativen Vernunft«, die fähig ist, die Grenzen einer gegebenen Sprache zu überschreiten, entdeckt hat, so hat er nach Habermas die Reichweite seiner Einsicht durch die Behauptung verspielt, dass Erkenntnis sich auf Tradition oder das schon existierende Einverständnis gründe, das eine gegebene Gemeinschaft trage. Nun ist es aber möglich, die Grenzen dieses schon bestehenden und tragenden Einverständnisses durch »Ideologiekritik« zu hinterfragen und zu überschreiten. Deren Absicht ist es gerade, die herrschende Ideologie einer gegebenen Gesellschaft oder Gruppe in Frage zu stellen und als eine »systematisch verzerrte Kommunikation« zu entlarven; verzerrt ist sie, weil sie die Kommunikation von ihrem natürlichen Ziel, das ja die Verständigung zwischen den Gesprächspartnern ist, abbringt. Diese Kritik erfolgt somit im Namen einer idealen, vielleicht irrealen Kommunikationsgemeinschaft, die aber nichtsdestoweniger in jedem Gespräch vorausgesetzt werde, insofern jede Kommunikation auf Verständigung ziele. So wie der Psychoanalytiker in der Lage sei, ein internes Kommunikationshindernis bei einem Patienten zu diagnostizieren, sei der Sozialtherapeut ebenso in der Lage, einen Pseudo-Konsens aufzudecken, der eine gegebene Gesellschaft trägt wie eine Form »falschen Bewusstseins«. Wenn man aber das schon bestehende Einverständnis einer gegebenen Gemeinschaft in Frage stelle, verlasse man das Gebiet der Hermeneutik und gewinne die Ebene der »Ideologiekritik«.7 Wenn die 6 1. Habermas, Zur Logik der Sozialwissenschaften, S. 283 (= Hermeneutik und Ideologiekritik, 48). 7 Ebd., S.287 (= Hermeneutik und Ideologiekritik, 52): »Die Hermeneutik stößt gleichsam von innen an Wände des Traditionszusammenhangs; sie kann, sobald diese Grenzen erfahren und erkannt sind, kultnrelle Überlieferung nicht länger absolut setzen. ( ... ) Sprache ist auch ein Medium von Herrschaft und sozialer Macht ( ... ). [SpracheI ist auch ideologisch. Dabei handelt es sich nicht um Täuschungen in
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Ideologiekritik sich aufgrund der Reflexionsarbeit vom bestimmenden Rahmen der Tradition freimache, arbeite sie ein normatives Bezugssystem8 aus, das ihr erlaube, die unreflektierte Zugehörigkeit zur Tradition zu erschüttern: Wie die Psychoanalyse noch einmal bestätigt; würde eine durch Reflexion bewusst gemachte Tradition aufhören, uns zu bestimmen. Habermas wirft Gadamer somit vor, »kulturelle Überlieferungen absolut zu setzen«.9 Wenn man sich jedoch Habermas' Kritik genau ansieht, wird klar, dass er auch »mit Gadamer gegen Gadamer«lo zu denken versucht. Denn es ist gerade die gadamersche Sprachauffassung und ihre Fähigkeit zur Selbstüberschreitung, die er als Argument gegen die gadamersche Auffassung von Tradition anführt. Kann man aber wirklich von einer Verabsolutierung kultureller Überlieferungen bei Gadamer sprechen? Das ist nicht sicher. Gadamer erkennt sehr wohl an, dass es möglich ist, Grenzen die man ideologisch nennen darf, zum Beispiel die einer bestimmten Sprache oder Situation - zu überschreiten. Sprache ist ja »porös«, in Gadamers Worten »offen« für alles Sinnhafte. Besteht nicht gerade darin das große Verdienst, das Habermas Gadamers Sprachauffassung zugesteht? l~Hinzu kommt, dass Gadamer bereits in Wahrheit und Methode hervorgehoben hatte, die Autorität einer Tradition habe nichts Autoritäres, sondern beruhe auf einem Akt der Anerkennung und der Vernunft,l1 da
einer Sprache, sondern um Täuschung mit Sprache als solcher. Die hermeneutische Erfahrung, die auf eine solche Abhängigkeit des symbolischen Zusammenhangs von faktischen Verhältnissen stößt, geht in Ideologiekritik über«. 8 Ebd., S. 285 (= Hermeneutik und Ideologiekritik, 50): »Das Recht der Reflexion erfordert die Selbsteinschränkung des hermeneutischen Ansatzes. Es verlangt ein Bezugssystem, das den Zusammenhang von Tradition als solchen überschreitet«. 9 Ebd., S. 287 (=HermeneutikundIdeologiekritik, 52). 10 Ebd., S. 285 (= Hermeneutik und Ideologiekritik, 50): »Man ist versucht, gegen Gadamer Gadamer ins Feld fUhren.« 11 H.-G. Gadamer, Wahrheit und Methode, Gesammelte Werke, Band 1, Tübingen 1986, S. 284: »Die Autorität von Personen hat aber ihren letzten Grund nicht in einem Akte der Unterwerfung und der Abdikation der Vernunft, sondern in einem
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sie in erster Linie das Anerkennen einer Überlegenheit sei. Es ging also Gadamer nicht darum, aus der Tradition ein absolutes Kriterium zu machen. Gadamer hat dies in seiner Antwort auf Habermas bekräftigt, unter dem vielsagenden Titel Rhetorik, Hermeneutik und Ideologiekritik: »Daß das kulturelle Überlieferung verabsolutieren soll, scheint mir aber irrig«.12 Hier sind sich Gadamer und Habermas eher einig. Der Disput dreht sich dabei um die Antwort auf die Frage, ob man wirklich das hermeneutische Universum verlassen muss, wenn man die Grenzen einer gegebenen Tradition im Namen der Ideologiekritik überschreitet, und ob die Bewusstmachung einer Tradition durch Reflexion ganz und gar die Traditionsdeterminierung bricht. Unbestreitbar ist, dass Reflexion oft die Kraft einer »verzerrten« Tradition zerstören oder brechen kann. Wenn ich mir darüber klar werde, dass ich das Opfer eines verzerrenden Vorurteils bin, kann es aufhören, mich zu lähmen, sobald es ins Bewusstsein erhoben wird. Aber auch dies sah Gadamer sehr klar, als er betonte, die kritische Aufgabe der Hermeneutik sei es, Vorurteile herauszuarbeiten, die »sachangemessen« sind. 13 Seine Beschreibung des hermeneutischen Zirkels hob ja darauf ab, dass das Verstehen den »Blick auf die Sache« festzuhalten habe, um sich »gegen die Willkür von Einfällen und die Beschränktheit unmerklicher Denkgewohnheiten ab[zu]schirmen«.14 Diese Selbstkorrektur beschreibt nach Gadamer nichts anderes als »die Vollzugsform des verstehenden Auslegens selbst«.15 Gadamer Akt der Anerkennung und der Erkenntnis - der Erkenntnis nämlich, daß der andere einem an Urteil und Einsicht überlegen ist«. 12 H.-G. Gadamer, Wahrheit und Methode, Gesammelte Werke, Band 2, Tübingen 1993, S.242. Ricreur hat zu Recht geschrieben (Temps et n3cit, Bd. 3, 1985, S.320): »Den Traditionen eine positive Wertschätzung zu geben heißt keineswegs aus der Tradition ein hermeneutisches Wahrheitskriterium zu machen.« 13 H.-G. Gadamer, Wahrheit und Methode, Gesammelte Werke, Band 1, Tübingen 1986, S. 272, 281-282. 14 Ebd., S. 271. Diese »Beschränktheit unmerklicher Denkgewohnheiten« entspricht sehr wohl dem, was Habermas als »Ideologie« brandmarkt. 15 Ebd.
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hielt es also nicht für nötig, darüber belehrt zu werden, dass ein gegebenes Verständnis bzw. Einverständnis durch kritische Reflexion hinterfragt werden kann. Die Endlichkeit und Offenheit des hermeneutischen Verstehens, die er betont, sind von Haus aus darauf aus. Nur: Diese Reflexion löst nicht alle Zugehörigkeit zur Tradition auf. Die kritische Reflexion einer Tradition erfolgt selbst im Rahmen einer ihr mehr oder weniger transparenten Wirkungs geschichte. Nur von einer anderen Tradition aus kann ich eine Tradition in Frage stellen, selbst wenn ich mir darüber nicht ausdrücklich Rechenschaft ablege. Das In-FrageStellen einer Tradition geschieht also nach Gadamer nicht mittels eines »Bezugssystems«, »das den Zusammenhang von Tradition als solchen überschreitet« und mithin von der Wirkungs geschichte unabhängig wäre. Wenn Gadamer die Möglichkeit einer Überschreitung gegebener kultureller Grenzen (oder zunächst unmerklicher »Denkgewohnheiten«) sehr wohl anerkennt, zweifelt er doch daran, dass die Überschreitung des bestehenden Einverständnisses vom archimedesschen Prinzip einer Ideologiekritik auszugehen hat, die vorgibt, die »Pathologien« der Gesellschaft zu diagnostizieren. Diese Übertragung des psychoanalytischen Modells auf die Pathologien der Gesellschaft scheint in Gadamers Augen mehr als problematisch. Die Rolle des Psychotherapeuten unterscheidet sich beträchtlich von der des Soziologen. In einer psychoanalytischen Behandlung ist man wirklich in Gegenwart eines »Kranken« und eines meist sich als solchen Wissenden, der die anerkannte Kompetenz eines Therapeuten sucht. Ist es nicht aber vom Sozialforscher vermessen zu behaupten, ein Teil der Gesellschaft sei von Grund auf »krank«, und sich damit die Kompetenz des »Sozialtherapeuten« anzumaßen? Gibt es hier in der Tat einen Patienten und eine unbestrittene therapeutische Kompetenz? Man verlässt also keineswegs das hermeneutische Universum, wenn man sich der Ideologiekritik hingibt. Die Überschreitung der bestehenden Übereinkunft vollzieht sich nicht anhand des Bezugssystems einer selbstsicheren und sozusagen von tradition
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losgelösten Ideologiekritik. Sie geschieht immer mitten im Verstehen und im hermeneutischen Dialog selbst, wenn die Teilnehmer sich über ihre Grenzen klar werden und zu besserer Einsicht gelangen. Da Reflexion selbst Verstehen ist und sich in einer Sprache vollzieht, die verstehbar sein muss, ist sie zur Hermeneutik gehörig und kann sich von der Tradition nicht völlig loslösen. Habermas befindet sich selber inmitten einer mehr oder weniger bewussten Tradition, die ihrerseits mehr oder weniger durch Reflexion aufgelöst ist. Den besten Beleg dafür liefert übrigens die Erinnerung an den politischen und sozialen Kontext, der ganz offensichtlich die Folie für Habermas' Kritik bildete und den man unschwer - mehr als eine Generation später - als bestimmend für diese Diskussion ansehen muss: den Kontext der Studentenrevolte von 1968 und ihrer systematischen In-FrageStellung jeder auf Tradition gegründeten Autorität. In einem politisch derart aufgeladenen Kontext konnte Gadamer nur als »Konservativer« (der er niemals sein wollte noch zu sein vorgegeben hat) erscheinen, während Habermas, der die emanzipatorische Kraft der marxistischen Ideologiekritik und der Psychoanalyse für sich in Anspruch nahm, sich die Rolle des Progressiven und Befreienden gönnte. Die (wenn man es bedenkt, schreiende) Ironie war folgende: Derjenige, der mit größter Inbrunst die Sicht der Ideologiekritik verteidigte, war vielleicht derjenige, dessen Rede am offensichtlichsten ideologisiert war. Wie Gadamer viel später subtil bemerkte: »Mir fehlte an der Ideologiekritik die Ideologiekritik an der Ideologiekritik«16. Habermas wird das auf seine Weise erkannt haben. Nach seinem epischen Streit mit Gadamer hat er mehr und mehr auf die Rhetorik der Ideologiekritik und auf die Idee einer zur sozialen Ordnung erweiterten Psychoanalyse verzichtet und seine Kräfte der Ausarbeitung einer Theorie des kommunikativen Handelns (1981) gewidmet, deren Herzstück eine beachtenswerte Diskurs16 Gespräch mit C. Barkhausen, in: Sprache und Literatur in Wissenschaft und Unterricht, Paderborn!München 1986, S. 97.
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ethik bildet, die auf die Fähigkeit der Sprache, sich selbst zu überschreiten, gegründet ist. Es handelt sich dabei um eine urhermeneutische Einsicht, beruht sie doch auf der gadamerschen Idee, der zufolge Sprache auf Verständigung ausgerichtet ist. Diese Ausrichtung auf Verständigung ist aber undenkbar ohne einen gewissen ethischen Einsatz von Seiten der Gesprächspartner, sagt Habermas zu Recht: Tatsächlich wird ein gewisses Ideal der Gegenseitigkeit, der Authentizität vorausgesetzt, und der Wille, sich der Kraft des besten Arguments zu beugen. Man kann sagen, dass sich der späte Habermas mit diesen Gedanken Gadamer angenähert hat: Er versucht nicht mehr, diese Normen auf eine Ideologiekritik zu gründen, die »den Zusammenhang von Tradition als solchen überschreitet«, sondern auf die pragmatischen Voraussetzungen der Sprache.
VII
Paul Ricceur Eine Hermeneutik des historischen Selbst angesichts des Konfliktes der Interpretationen
1. Ein Weg mit Umwegen
Nichts ist ungerechter, als im Anschluss an Gadamer und Habermas auf die Leistung Paul Ricreurs (1913-2005) zu sprechen zu kommen. Nur deshalb entschließen wir uns dazu, weil einer . von Ricreurs vielen hermeneutischen Beiträgen aus einem Vermittlungsversuch der Positionen Gadamers und Habermas' besteht. l Aber er verknüpfte den Konflikt zwischen Hermeneutik und Ideologiekritik mit einer Unterscheidung zwischen zwei Hermeneutik-Typen - Vertrauen und Argwohn -, die er schon vor der berühmten Auseinandersetzung zwischen Gadamer und Habermas eingeführt hatte. Ricreurs Idee - vielleicht die grundlegende Idee seiner Hermeneutik - ist die, dass man die beiden Hermeneutiken zusammen denken muss, sowohl diejenige, die sich den Sinn aneignet, so wie er sich dem von ihm Orientierung erheischenden Bewusstsein darstellt, als auch jene, die die unmittelbare Sinneserfahrung auf Distanz hält, um sie auf eine geheimere Ordnung zurückzuführen. Ricreur ist auf diese Idee im Verlauf eines Werdegangs gekommen, der sich erheblich von dem Gadamers unterscheidet. Er 1 P. Ricreur, Herrmineutique et critique des ideologies (1973), Du texte a ["action, Paris 1986. In deutscher Sprache: Vom Text zur Person: hermeneutische Aufsätze (1970-1999), Hamburg 2005.
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ist eigentlich von ihm völlig unabhängig. 2 Seine Grundlagen sind in Werken niedergelegt worden, die im Lauf der 1950er- und 1960er-Jahre erschienen sind, wie Die Philosophie des Willens (La philosophie de la volonte, 1950, 1960), Von der Interpretation - Ein Versuch üb'er Freud (De 1'interpretation, 1965) und Der Konflikt der Interpretationen (Le conjlit des interpretations, 1969), in denen überhaupt nichts von Gadamers Einfluss zu spüren ist. Er bleibt übrigens auch in den späteren Werken Ricreurs eher bescheiden. Nichtsdestoweniger gehen beide von derselben hermeneutischen Tradition Schleiermachers, Diltheys, Bultmanns und Heideggers aus, aber in unterschiedlichem Maße und mit unterschiedlicher Absicht. Gadamer ist gewiss Diltheykritischer und näher an Heidegger, da seine universelle Hermeneutik ja über das methodische Muster der Hermeneutik hinauszugelangen versucht. Ricreur seinerseits hat sich niemals von der methodologischen und epistemologischen Problematik der Hermeneutik verabschieden wollen. Man könnte also sagen, er stehe Dilthey näher, aber auch das wäre eine Vereinfachung. Ricreurs Weg ist tatsächlich viel komplexer: Er geht auf andere Quellen zurück und lässt sich vielleicht weniger nur auf die hermeneutische Tradition zurückführen als Gadamers Weg. Er hat sich nach und nach entwickelt, im Laufe mehrerer großer Bücher, die sich über einen Zeitraum von fast sechzig Jahren erstrecken (von 1947 bis 2004), während Gadamers Hermeneutik sich in einem einzigen, geschlossenen Buch verdichtet, das eine systematischere Theorie bietet und das aufs Ganze gesehen vielleicht mehr aufschlussreiche hermeneutische Debatten (mit bedeutenden Autoren wie Betti, Habermas, Apel und Derrida) hervorgerufen hat als die Theorieentwürfe Ricreurs. Ricreurs Werke interessieren sich für eine beeindruckend reichhaltige Vielfalt von Disziplinen: die Existenzphilosophie - von wo er aufgebrochen ist und wo er Autoren wie Gabriel Marcel und 2 Vgl. dazu erneut meine Stellungnahme »De Gadamer a Ricreur. Peut-on parler d'une conception commune de l'hermeneutique?«, in: G. Fiasse (Hg.), Paul RiclEur: De I 'homme faillible a I 'homme capable, Paris 2008, S. 37-62.
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Karl Jaspers näher stand als Heidegger -, die Erkenntnistheorie der Geschichte, die Bibelinterpretation, die Psychoanalyse, die linguistische Theorie, die Aktionstheorie, die Phänomenologie der Zeit, des Gedächtnisses und des Erkennens, die Erzähltheorie und die Ethik. In jedem seiner Bücher entwirft er mächtige historische Gemälde, die die verschiedensten Zugänge zu versöhnen versuchen. Dies ist der geheime hegeische Zug seines Denkens, das trotzdem der Idee einer zusammenfassenden Synthese widersteht (eine wichtige Kapitelüberschrift in Temps et recit besagt, dass man »auf Hegel verzichten« muss, im Namen der Unvollendbarkeit des Lebens und der menschlichen Endlichkeit). Die Kehrseite dieses Reichtums ist, dass es manchmal schwierig scheinen kann, den Kern seiner hermeneutischen Auffassung herauszuschälen. Das einzige Problem dieses hermeneutischen Denkens ist dessen Einheit, ein eher relatives Problem angesichts des Überflusses an Gedanken. Aber es gibt wirklich Einheit. Man kann sie verstehen, wenn man von den ersten Impulsen auf Ricreurs Weg ausgeht. Sie sind in der französischen Tradition der Reflexionsphilosophie zu finden, die auf Ravaisson, Lachelier und Bergson zurückgeht und weiter reicht zu Ricreur nahen Autoren wie Jean Nabert und Gabriel Marcel. Die reflexive Philosophie geht von der Selbstreflexion des Ego aus, in der Tradition des »Erkenne dich selbst« bei Sokrates und den Meditationen Descartes'. Diese Tradition hat Ricreur sehr früh zu Jaspers' Existenzialismus und Husserls Phänomenologie (die von einem transzendentalen Ego ausgeht, das versucht, vom seiner Erfahrung Rechenschaft abzulegen) hin geführt. Von der Existenzphilosophie und ihrer Radikalisierung der ethischen Problematik - wie soll ich mich selbst verstehen? - in den Bann gezogen, hat Ricreur zunächst die phänomenologische Untersuchung Husserls auf das Phänomen des Willens ausdehnen wollen, im ersten Teil seiner Philosophie des Willens (La philosophie de la volonte, 1950). Von Hermeneutik ist dort nicht die Rede; sie erscheint aber im zweiten Teil, Endlichkeit und Schuld (Finitude et culpabilite, 1960), und ganz besonders im
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zweiten Band dieses Buches, das der »Symbolik des Bösen« gewidmet ist. Hier setzt nämlich Ricreurs »hermeneutische Wende« ein, oder das, was er später seine »Verpflanzung der Hermeneutik in die Phänomenologie« nennen wird. Sein Grundmotiv ist, 'dass das Ego - der Ausgangs- und Zielpunkt der Reflexionsphilosophie - sich nicht direkt durch Selbstbeobachtung erkennen kann, es vermag sich nur auf dem indirekten Weg der Interpretation großer Symbole (Adam und Eva, Hiob, Orphik usw.) zu erkennen, die sich bemühen, dem Problem des Bösen einen Sinn abzuringen. Wenn man dem folgt, was Ricreur später seine »erste Definition der Hermeneutik« genannt hat, war diese »schon ausdrücklich entworfen als Entzifferung von Symbolen, die ihrerseits verstanden wurden als mehrdeutige Ausdrücke«3. In dieser Sichtweise ist Interpretation eine »Gedankenarbeit, die darin besteht, den verborgenen Sinn im sichtbaren Sinn zu entziffern, d.h. die Bedeutungsebenen zu entfalten, die in der wörtlichen Bedeutung enthalten sind«.4 Dies ist die erste Bedeutung seines »hermeneutischen Umwegs«, der ganz anders als bei Heidegger und Gadamer gedacht ist. Hat NabertS Ricreur zum Umweg in die über die »Objektivationen« zu erschließende Seite der Erfahrungen hin inspiriert, so geht der Begriff »Hermeneutik« auf Dilthey und Bultmann zurück, für die Hermeneutik die Theorie der Interpretation schriftlich festgehaltener Lebensäußerungen war. Ricreur wusste natürlich sehr wohl, dass Heidegger Dilthey überwinden wollte, aber er selbst wollte stets Heideggers »Ontologisierung« der Hermeneutik widerstehen, d.h. der Verschmelzung der Hermeneutik mit dem ursprünglichen Vollzug der Existenz. Diese »ontologische Vehemenz« Würde seiner Ansicht nach die epistemologische - und folglich kritische - Orientierung der Hermeneutik Diltheys aus den Augen verlieren. 6 3
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P. P. P. P.
Ricreur,Reflexionfaite. Autobiographie intellectuelle, Esprit, 1995, S. 3l. Ricreur, Le.conflit des interpretations, Paris 1969, S. 16. Ricreur, Parcours de la reconnaissance, Paris 2004, S. 142. Ricreur, Du texte a l'action, S. 95. Siehe J. Greiseh, L 'itinerance du sens,
PatIl Ricceur
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2. Eine hermeneutisch gewordene Phänomenologie Trotz seines Widerstandes gegenüber Heideggers Hermeneutik verteidigt Ricreur selbst die Idee einer »hermeneutischen Wende« der Phänomenologie. Sie bekommt indessen einen anderen Sinn als bei Heidegger. Bei Ricreur ist diese Wende gerechtfertigt durch die Unmöglichkeit eines direkten Zugangs zu den Phänomenen und zum Ego selbst. In seinen Augen ist das, »was die Hermeneutik fallen läßt, nicht die Phänomenologie, sondern eine ihrer Interpretationen, und zwar ihre idealistische Interpretation durch Husserl selbst«7. Was die Hermeneutik dabei preisgibt, ist im Einzelnen 1. das husserlsche Ideal der Wissenschaftlichkeit, die sich nach dem Ideal der deduktiven Geometrie ausrichtet, 2. der Vorrang der Intuition im Zugang zu den Phänomenen, 3. der cartesianische und husserlsche Primat eines Bewusstseins, das sich selbst immanent und damit transparent ist, 4. die Idee einer Letztbegründung im Bewusstsein und schließlich 5. die noch zu theoretische Auffassung der Selbstreflexion mitten in Husserls Phänomenologie: Als unmittelbar selbstverantwortlicher Akt zeitigt die Bewusstwerdung des Subjekts ethische Folgen, die Ricreur im Verlauf seines Weges immer weiter vertiefen wird. Auf dem Hintergrund dieser Kritik schlägt Ricreur seinerseits den Weg einer betont hermeneutischen Phänomenologie ein, die den Weg der Objektivierungen als zwangsläufigen Umweg bei der Selbsterkenntnis anerkennt. Man beachte, dass die Hermeneutik hier dazu dient, die Phänomenologie näher zu bestimmen. Fast umgekehrt war es bei Gadamer, der seinerseits eine phänomenologische Hermeneutik vorschlug, d.h. eine Hermeneutik, die sich zurückwandte zum Phänomen des Verstehens, indem sie es von seinem methodologischen »Joch« befreite. Folglich kann man bei Ricreur von einer hermeneutischen Wende der Phäno-
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menologie und bei Gadamer von einer phänomenologischen Wende der Hermeneutik sprechen. 8 Besteht Ricreur auf der hermeneutischen Wende der Phänomenologie, so sollte man aber ihm zufolge nicht die immer noch phänomenologischen Voraussetzungen der Hermeneutik vergessen. Deren erste ist, dass »jede Frage, gerichtet auf welches Seiende auch immer, eine Frage nach dem Sinn dieses Seienden ist«. Aber dieser Sinn ist zunächst verborgen, undurchsichtig und muss erst durch hermeneutische Anstrengung ans Licht gebracht werden. »Die Option für den Sinn ist also die allgemeinste Voraussetzung jeder Hermeneutik«. Allerdings, dies »bedeutet ganz und gar nicht, dass eine transzendentale Subjektivität die Alleinherrschaft über diesen Sinn, auf den sie sich zu bewegt, innehätte. Im Gegenteil [kann] die Phänomenologie in die entgegengesetzte Richtung gezogen werden, nämlich in die des Vorrangs des Sinnes über das Selbstbewusstsein«.9 Diese Sekundarisierung des Selbstbewusstseins teilt Ricoeur mit Gadamer. Die zweite phänomenologische Voraussetzung ist, dass die Hermeneutik der Erfahrung der verfremdenden »Distanz« stattgeben muss: Wenn Bewusstsein zunächst charakterisiert ist durch seine Zugehörigkeit zum Sinn, kann dieser Sinn auf Abstand gehalten und interpretiert werden. Die dritte Voraussetzung besteht darin, dass die Hermeneutik - wie Husserl- den abgeleiteten Status der linguistischen Ordnung im Hinblick auf den Sinn und die Sachen erkennt. Hier scheint Ricreur sich von Gadamer zu entfernen. Das stimmt jedoch nicht ganz, denn Gadamer verteidigte ebenfalls, um mit Habermas zu sprechen, die Idee einer zur Sprache wesensmäßig gehörigen »Porosität«, da die Sprache für alles offen und fähig ist, über sich selbst hinauszugehen. Ricreur zieht daraus den Schluss, dass die linguistische Ordnung nicht autonom ist und dass sie auf eine Welterfahrung zurückverweist. Aber diese Erfahrung gewinnt man nur auf dem Weg über eine 8 S. dazu meine Studie über Le tournant hermeneutique de la phenomenologie, Paris, 2003, S. 84-102. 9 P. Ricamr, Du texte a I 'action, S. 57.
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Hermeneutik, die sich der Interpretation von Sinn-Objektivierungen widmet.
3. Der Konflikt der Interpretationen Hermeneutik des Vertrauens und des Argwohns Aber wie soll man denn die Sinn-Objektivierungen interpretieren? Das war in etwa die Frage der klassischen Hermeneutik. Es wurde auch Ricreurs Frage. Kann man der Unmittelbarkeit des Sinns, so wie er sich ergibt, freien Lauf lassen, etwa nach dem Modell der biblischen Exegese, die danach strebt, die Richtung des Sinnes zu vertiefen und seiner Orientierung zu folgen? In diesem Sinne hatte Ricreur in seiner Symbolik des Bösen (Symbolique du mal) aus dem Jahr 1960 noch von dem hermeneutischen Umweg über die Objektivationen, die »zu denken geben«, gesprochen. Genügt aber dieses Vertrauen in den Sinn? Wenn diese Frage sich mit solcher Schärfe stellt, liegt es daran, dass Ricreur, nachdem er dies Werk abgeschlossen hatte, sich mit anderen Interpretationsstrategien konfrontiert gesehen hat - die eher »reduktionistisch« sind und die gerade diese naive Wiedergabe des Sinns in Frage stellen. So kam er dazu, zwei unterschiedliche Interpretationsformen hervorzuheben, die anscheinend nicht miteinander vereinbar sind: 1. Die erste gehorcht einer Hermeneutik des Vertrauens oder der »Sinn-Sammlung«; sie nimmt den Sinn an, wie er sich dem Verständnis anbietet und das Bewusstsein orientiert, einen Sinn, in dem sich eine tiefere Wahrheit offenbart, deren Tragweite eine den Sinn »erweiternde« (amplifiante) Hermeneutik an den Tag zu legen hat. Ricreur spricht hier von einer Teleologie des Sinns. Diese Hermeneutik, deren Muster die biblische Exegese und die Phänomenologie des Bewusstseins sind, ist dem Verstehen des Sinns gewidmet, im vollen Sinne Diltheys: Sie öffnet sich den Sinnmöglichkeiten und dem nachzuerlebenden Erlebnis, das sich hinter den Ausdrücken zu verstehen gibt.
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2. Dem steht eine Hermeneutik des Misstrauens gegenüber, die angesichts des Sinnes, so wie er sich anbietet, auf der Hut ist, denn er kann das Bewusstsein irreleiten. Was als Wahrheit erscheint, kann nichts anderes sein als ein nützlicher Irrtum, eine Lüge oder eine EntsteHung, deren unterirdische Archäologie zu rekonstruieren eine Hermeneutik des Argwohns sich vornimmt. Diese Archäologie kann eine ideologische, soziale, eine Triebund Strukturarchäologie sein. Eine solche Hermeneutik befiirworten die »Meister des Argwohns«: Feuerbach, Marx, Nietzsche, Freud und der Strukturalismus. Auf die erweiternde teleologische Hermeneutik des Vertrauens antwortet also eine reduktionistisch gesonnene Interpretation - nicht dem Verstehen verpflichtet, sondern der Erklärung der Bewusstseinsphänomene, die auf eine geheime und verdrängte Ökonomie zurückgefiihrt werden -, die sich gern von den Erklärungsmodellen der Naturwissenschaften beeinflussen lässt. Da Rica:ur seine Wurzeln in der französischen Reflexionsphilosophie und im Existenzialismus hat, könnte man ihn näher an der Phänomenologie und der Hermeneutik des Vertrauens vermuten. Ganz so ist es jedoch nicht. In seinen Büchern der 1960er Jahre hat er sich tatsächlich besonders den Meistem des Argwohns gewidmet, besonders Freud, in Von der Interpretation (De I 'interpretation, 1965), und dem Strukturalismus im Konflikt der Interpretationen (Le conjlit des interpretations, 1969). Rica:ur empfiehlt dabei ein außerordentlich versöhnliches Vorgehen, das nichts von der reduktionistischen Hermeneutik des Argwohns verleugnet. Seine Leitidee ist, dass man in die Schule des Verdachts gehen muss, wenn man die Illusionen des naiven Bewusstseins zerstören will. Diese Zerstörung stellt sich als heilsam für das Bewusstsein heraus, denn es gelingt ihm dann, sich selbst besser zu verstehen. Wenn das Ich sich in der Hermeneutik des Argwohns verliert, so nur, um sich klarer wiederzufinden, befreit von seinen Illusionen.
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Indem Ricu::ur auf diese Weise beiden großen Vorgehensweisen der Interpretation gleiches Recht zugesteht, beweist er, dass er einen scharfen Sinn für die Objektivierungen und Sinnkonstruktionen beibehält, um deren Interpretation es geht. Das hat zur Folge, dass er sowohl der heideggerschen Versuchung widersteht, alles einer ontologischen Verstehenshermeneutik unterzuordnen,10 als auch der gadamerschen Versuchung, den Vorrang methodischer Distanz in Frage zu stellen. Für Gadamer ist es nicht so, dass sich das Verstehen zunächst einer zu entschlüsselnden Objektivierung (oder Zeichen) »gegenüber« fände. Verstehen heißt vielmehr, sich von dem Sinn und den dank Sprache zugänglichen Sachen ansprechen zu lassen, so sehr, dass man ganz vergisst, dass man es mit Objektivationen oder Zeichen zu tun hat. Wie Gadamer in einem mündlichen Kontext einmal sagte: »Verstehen heißt Nichtauslegenkönnen«,11 Gemeint ist, dass man so vom Sinn gefesselt ist, dass man nicht recht erklären kann, was und wie einem geschieht. Infolgedessen sprach Gadamer von einer Verschmelzung zwischen dem Sinn und dem Verstehenden. Der philosophischen Rechtfertigung dieses Verstehensgeschehens sollten die Anstrengungen seiner Hermeneutik gelten. Ricu::ur seinerseits misstraut dieser Verschmelzung und situiert die Interpretationsaufgabe ohne Weiteres als den Objektivierungen gegenübergestellt, bei deren Entschlüsselung die objektivierende Vorgehensweise der Psychoanalyse und des Strukturalismus unentbehrlich seien. Aber sie sollten nicht das letzte Wort haben können, denn immer ist es ein Bewusstsein, das dann versucht, sich besser zu verstehen, der großen Devise Ricu::urs zu dieser Zeit folgend: »Mehr erklären heißt besser verstehen«.
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P. Ricreur, Du texte al'action, S. 33. Angeführt in J. Grondin, Einführung zu Gadamer, Tübingen 2000, S. 25.
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4. Eine neue Hermeneutik des Erklärens und des Verstehens am Leitfaden der Textidee Ricreur erneuert damit'die von Dilthey getroffene Unterscheidung zwischen der Erklärung der Naturwissenschaften und dem Verstehen der Geisteswissenschaften. Aber bei Ricreur handelt es sich weniger um eine methodologische Unterscheidung zwischen zwei Wissenschaftstypen als um zwei sich ergänzende Operationen in dem, was er zunehmend als den »hermeneutischen Bogen der Interpretation« bezeichnen wird, d.h. die Gesamtheit der miteinander verflochtenen Vorgänge, die das Bestreben der Hermeneutik ausmachen. Ein kritisches Bewusstsein muss misstrauisch gegenüber der unmittelbaren Offensichtlichkeit des Sinnes sein, den es versteht und den es sich spontan aneignet. Es muss akzeptieren, dass dieser Sinn durch den reinigenden Umweg einer Erklärung, die die Illusionen des Bewusstseins entlarvt, auf Distanz gehalten werden kann. Man versteht also unschwer, dass Ricreur Habermas mit einer Hermeneutik der Distanzierung verbinden wollte und Gadamer mit einer Hermeneutik der Zugehörigkeit (zur Tradition). Unter diesen neuen Bezeichnungen erkennt man mühelos die Hermeneutik des Argwohns und des Vertrauens: Wenn Gadamer die Zugehörigkeit des Verstehens zum durch Tradition übermittelten Sinn betont, warnt die Ideologiekritik vor der Ideologisierung, die diese Einsicht verborgen halten könnte. Das hermeneutische und somit nach Ricreur reflektierte Bewusstsein kann es sich nicht leisten, die desillusionierenden Lehren einer Hermeneutik der Enteignung zu ignorieren. Ist nicht ein Bewusstsein, das sich von seinen Illusionen losgelöst hat, besser imstande, sich sich selbst anzueignen? Bei der Vertiefung dieser Dialektik des Erklärens und des Verstehens hat sich Anfang der siebziger Jahre ein neues Thema auf dem Weg Ricreurs ergeben, das man mit dem Textbegriff verbinden kann. Es hat zu einer Erweiterung seiner ersten Hermeneutikkonzeption geführt: Diese ist nicht mehr allein der
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Entzifferung zweideutiger Symbole gewidmet, sie hat zu tun mit der Gesamtheit allen Sinns, der sich verstehen lässt und den man als »Text« bezeichnen kannY Aber wie soll man Texte interpretieren? Hier ist Ricreur noch stark beeinflusst von den strukturalen und semiotischen Ansätzen (besonders von Greimas), die den Text als eine in sich selbst geschlossene Einheit mit eigenem Bezugssystem auffassen. Die Miteinbeziehung dieser Interpretationen stellt in den Augen Ricreurs die erste, notwendige Etappe der Hermeneutik im Bogen der Interpretation dar: »Eine neue Epoche der Hermeneutik ist eröffnet durch den Erfolg der strukturalen Analyse. Die Erklärung ist von nun an der Ptlichtweg zum Verstehen«.13 Aber die Strukturanalyse kann nicht das letzte Wort haben. Denn die Welt eines Textes ist niemals in sich selbst geschlossen, sie öffnet vielmehr eine Welt, in der das Bewusstsein wohnen kann. Der Textbegriff verweist übrigens von sich selbst zurück auf einen Akt des Lesens, in dem sich ein Leser die Welt des Textes aneignet und dem es dadurch gegönnt ist, sich selbst besser zu verstehen. Die den Sinn erweiternde Hermeneutik wird also im Akt des Lesens vollzogen: Die Interpretation eines Textes vollendet sich in der Selbstinterpretation eines Subjekts, das sich von da an besser versteht, sich anders versteht oder auch selbst anfangt, sich zu verstehen. 14
Die Hauptaufgabe der Hermeneutik wird folglich eine doppelte sein: Es geht darum, »die innere Dynamik des Textes zu rekonstruieren [und] die Fähigkeit des Werks, sich nach außen zu
12 P. Rico:ur, Qu'est-ce qu'un texte? Du texte a ['action, S. l37-l59. Dieser Text erschien übrigens erstmalig in einer Festschrift zu Gadamers 70. Geburtstag (Hermeneutik und Dialektik, Tübingen, 1970). Er hätte ein Gespräch zwischen beiden Hermeneuten möglich machen können, von dem man bedauern darf, dass es nie recht stattfand, so verschieden waren die Ansätze und Ausgangspunkte. 13 P. Rico:ur, Du texte a ['action, S. 110. Man versteht von daher, warum das Gespräch mit Gadamer so schwierig war. Gadamer hat selber die strukturalistischen Interpretationen wenig zu Rate gezogen, zumindest bis zu seiner Auseinandersetzung mit Derrida. 14 Ebd., S. 152.
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projizieren, in der Vorstellung einer Welt, die ich bewohnen könnte, wiederher[ zu]stellen«.15 Diese Dialektik der distanzierenden Erklärung und des Verstehens, das die Welt des Textes entfaltet, fuhrt zu einem weiter gefassten Begriff der Hermeneutik: Die neue Dialektik stellte zwei Vorgänge [das Erklären und das Verstehen] einander gegenüber, in denen W. Dilthey Anfang des Jahrhunderts eine scharfe Opposition gesehen hatte. Nun aber führte die Thematisierung dieser Konfliktsituation zu einer Neugestaltung meines früheren Hermeneutikbegriffs, der bis dahin verbunden war mit dem Begriff Symbol, verstanden als mehrdeutigem Ausdruck, und der sein Konfliktpotential im Wettstreit zwischen reduktionistischer und erweiternder Interpretation gefunden hatte. Die Dialektik zwischen Erklären und Verstehen, auf Textebene entfaltet, soweit es um eine Einheit geht, die größer ist als der Satz, wurde vordringliches Thema der Interpretation und bildete von nun an den Gegenstand und die Herausforderung der Hermeneutik. 16
In Du texte cl ['action macht sich Ricreur daher die folgende Hermeneutikdefinition zu eigen: Sie ist die» Theorie der Verstehensvorgänge in ihrem Zusammenhang mit der Textinterpretation«Y Was Ricreur hier immer stärker fasziniert, ist die fast unbegrenzte Ausdehnung, die dem Begriff »Text« zugute kommt. Alles Verstehbare kann als Text angesehen werden: nicht nur die Schriftstücke selbst, sondern auch menschliche Handlung und Geschichte, von der individuellen bis zur kollektiven, die nur in dem Maße einsehbar sind, in dem sie sich wie Texte lesen lassen. 18 Die Idee, die sich daraus ableitet, ist, dass das Verstehen menschlicher Wirklichkeit auf dem Umweg über Texte und Erzählungen erwächst. Die menschliche Identität muss folglich verstanden werden als eine in der Hauptsache narrative Identität. Die Theorie des recit (der Erzählung), ent15
Ebd., S. 32. P. Ricreur, Reflexion/aite, S. 49. 17 Du texte al'action, S. 75. 18 Vgl. hierzu die Ausführungen von H. Blumenberg, Die Lesbarkeit der Welt, Frankfurt am Main, 1981. 16
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wickelt in den 1980er Jahren, wird eine neue Antwort ermöglichen auf die Leitfrage aller reflexiven Philosophie »Wer bin ich?«.
5. Die Hermeneutik des geschichtlichen Bewusstseins Das Ich, das aus der Hermeneutik des Argwohns und der Entfremdung hervorgeht, ist ganz sicher ein gebrochenes cogito, sagt Ricreur oft. Es muss auf das Ideal einer Selbsttransparenz verzichten, aber es kann nicht umhin, sich dabei neu zu verstehen, ausgehend von den Sinnobjektivierungen, den großen literarischen, philosophischen und religiösen »Texten«, vermittelt durch die Menschheitsgeschichte, in denen sich seine Urerfahrung der Zeitlichkeit gestaltet. In Temps et recit (1982-1985) hat Paul Ricreur diese neue Hermeneutikauffassung vorgestellt. Sie bekräftigt die Ausweitung, die der Textbegriff (und der Lesensbegriff)19 in seiner Hermeneutik des Erklärens und des Verstehens erfahren hat, aber sie ist an eine Phänomenologie unserer essenziellen Zeitlichkeit zurückgekoppelt: Das Selbst kann seiner radikalen und unüberwindlichen Zeiterfahrung nur mittels erzählender Gestaltung einen Sinn abgewinnen. Das »gebrochene Selbst«, das sich auch als solches erkennt, kann dabei nichtsdestoweniger seiner bescheidenen, aber tatsächlichen »Fähigkeiten« gewahr werden, seine eigene Welt zu gestalten. Die erzählende Hermeneutik Ricreurs unterstreicht beide Aspekte mutig: sowohl den tragischen Charakter des Menschseins, das niemals zu einem umfassenden Verständnis seiner selbst gelangen wird, 19 Er fmdet auch eine Entsprechung bei Gadamer, der in seiner späteren Ästhetik im sammelnden »Lesen« eines Kunstwerkes die Konkretion des Sinnes erblickt. Vgl. seine Aufsätze »Hören - Sehen - Lesen« (1984) und »Lesen ist wie Übersetzen«, in seinen Gesammelten Werken, Band 8: Ästhetik und Poetik 1: Kunst als Aussage, Tübingen 1993, S. 271-285. Sowohl Ricceur als auch Gadamer stehen hier unter dem Einfluss der Rezeptionsästhetik von Hans Robert Jauß und hier insbesondere von Wolfgang Iser (Der Akt des Lesens, München 1976), die ihrerseits von Gadamers Rehabilitierung der Anwendung zuallererst inspiriert worden war.
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als auch die dem Menschen zustehende Antwort auf diese Aporie, den Eigeninitiativanteil, der ihm trotz allem zukommt, da er als Mensch, als homme capable, doch etwas »kann«. Im letzten Band von Temps et nicit werden diese beiden Momente in einer »Hermeneutik des geschichtlichen Bewusstseins« miteinander verflochten. Die Formel erinnert durchaus an Gadamer und seine Idee einer Hermeneutik des wirkungs geschichtlichen Bewusstseins. Ricceur erkennt hierbei Gadamer das Verdienst zu, zu Recht auf der durchgängigen Bestimmung durch die Wirkungs geschichte (l'etre-ajJecte-par-Ie-passe) bestanden zu haben: »Wir sind die Handelnden der Geschichte ebenso wie ihre Opfer«, denn »niemals sind wir im Null-Punkt der Geschichte, sondern immer zuerst in der Rolle der Erben«. Dieser Zustand hängt zunächst, wie bei Gadamer, mit unserer Sprachlichkeit zusammen: »Die Sprache ist die große Institution - die Institution der Institutionen -, die schon immer eher da war als jeder von uns«. Da wir ja sprechende Wesen sind, sind wir nicht nur abhängig vom System der Sprache, auf dem die strukturalen Ansätze bestehen, sondern auch von den »schon ausgesprochenen, gehörten und aufgenommenen Dingen«. Die Welt, so wie wir sie empfinden, ist folglich eine Welt, die sich in einer Sprache und durch eine geschichtlich gewordene und narrativ gestaltete Identität ausdrückt, die zunächst empfangen worden ist. Deshalb sagt Ricceur jetzt: »Die Distanznahme und die Freiheit im Hinblick auf die übermittelten Inhalte können nicht die erste Haltung sein«20. Ricceur nähert sich hier stark Gadamer, stärker vielleicht als irgendwo sonst in seinem Werk. Aber noch einmal ist er hier weniger darum besorgt, die methodische, objektivierende Distanz in ihre Schranken zu weisen, als darum, sie in eine Hermeneutik des historischen Bewusstseins aufzunehmen. Nach Ricceur hätte Gadamer selbst die Notwendigkeit dieser Integration erkannt, indem er auf den Begriff der Anwendung abhob sowie auf die Idee, das Verstehen sei immer das Ergebnis einer Verschmelzung von Vergangenheit 20
Temps et nkit, t. III, Paris 1985, S. 313, 320, 321, 324.
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und Gegenwart. Die Gegenwart hat das Ihre zu sagen im Traditionsgeschehen des Verstehens, mag sich ihre Antwort noch so sehr vor dem Hintergrund einer ursprünglichen Zugehörigkeit abzeichnen. Ricreur bezeichnet von da an die Polemik als »bedauerlich«21, die die Hermeneutik und Ideologiekritik entzweit hatte. Die Positionen Gadamers und Habermas' rührten nämlich von zwei unterschiedlichen Standpunkten her: Bei dem einen gehe es primär um die erneute Interpretation der durch die Tradition überlieferten Texte, bei dem anderen um die Kritik an ideologischen Formen verzerrter Kommunikation. Man könne folglich das, was Gadamer Vorurteil nennt, im Sinn von günstigem Vorurteil, mit dem ideologischen Phänomen, das Habermas interessiert, d.h. der Verzerrung der Kommunikation, nicht mehr auf dieselbe Ebene setzen. Ricreur setzt aber doch seinen eigenen Akzent: So sehr wir Erben der Tradition sind, ist die erzählende Identität, die wir von der Geschichte erben, niemals ein für allemal festgesetzt oder abgeschlossen. Sie hängt auch von der Antwort ab, die wir dazu beitragen können. Der Nachdruck liegt hier auf der Fähigkeit zur Antwort und auf der Initiative, die sie auszeichnet. Was sich hier in Erinnerung bringt, ist die ethische Dimension des zur Antwort herausgeforderten und »fähigen« Menschen. Dort sollte der letzte Brennpunkt der hermeneutischen Überlegungen Ricreurs liegen. Die Ausgangsfrage der reflexiven Philosophie »Wer bin ich?« wird der nicht weniger hermeneutischen als ethischen Frage Platz machen: »Was kann ich?«
21 Temps et nfcit, t. III, S. 314. Ricreur nuanciert damit das Urteil, das er im Jahr 1973 gesprochen hatte, als er von einer wesensmäßigen Dialektik zwischen
Hermeneutik und Ideologiekritik gesprochen hatte.
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6. Eine hermeneutische Phänomenologie des »fähigen« Menschen (l'homme capable) Als Erben der Geschichte sind wir nicht nur passive Wesen. Ein Initiativen-Spielraum bleibt uns gewährt. Eine Hermeneutik des historischen Bewusstseins muss folglich in eine Phänomenologie der Fähigkeiten des einsichtigen Menschen einmünden. Mit der EntwicklUlig dieser Hermeneutik des fähigen Selbst knüpft der späte Ricreur wieder an das an, was er eine seiner »frühesten Überzeugungen« nennt, nämlich die, dass . das Selbst der Selbsterkenntnis nicht das egoistische und narzisstische Ich [ist], dem die Hermeneutiken des Argwohns ebenso sehr Heuchelei wie Naivität vorgeworfen haben (...). Das Selbst der Selbsterkenntnis ist Frucht eines geprüften Lebens, gemäß dem Wort des Sokrates in der Apologie. Nun ist aber ein geprüftes Leben großenteils ein geläutertes, abgeklärtes Leben, durch die läuternden Effekte sowohl historischer wie fiktiver Erzählungen, die durch unsere Kultur übermittelt worden sind. Die Selbstbezüglichkeit bezieht sich somit auf ein Selbst, das durch Werke der Kultur belehrt worden ist, die es sich selbst zu eigen gemacht hat. 22
Die narrative Identität wird folglich entsprechend den jeweiligen Gemeinschaften und auch den jeweiligen Individuen eine andere sein. In beiden Fällen kann das Selbst in gewissem Maß seine narrative Identität neu gestalten. In seiner Phänomenologie des »fähigen« Menschen, deren Grundzüge Ricreur im Parcours de la reconnaissance, der ein Jahr vor seinem Tode erschienen ist (deutsch: Wege der Anerkennung: Erkennen, Wiedererkennen, Anerkanntsein, Frankfurt 2006), zusammengefasst hat, geht er vom Sprachgebrauch des »ich kann«23 im Französischen aus: »Ich kann sprechen, ich kann handeln, ich kann erzählen, ich kann verantwortlich sein fiir meine Handlungen, ich kann sie mir zurechnen lassen, als sei ich der wahre Urheber.« Diese vier Gebrauchsmöglichkeiten führen jeweils zu den Gebieten der 22 23
P. Ricceur, Temps et rlkit, t. m, S. 356. P. Ricceur, Parcours de la reconnaissance, Paris 2004, S. 137-163.
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Sprachphilosophie, der Handlungsphilosophie, der Erzähltheorie und der Moralphilosophie. Aber das Hauptziel des philosophischen Entwurfs bei Ricreur bleibt das einer »Hermeneutik des Selbst«24. Die Formel erinnert nahezu an die heideggersche Idee einer Hermeneutik der Faktizität. Denn Hermeneutik bezieht sich hier nicht, den beiden ersten Auffassungen Ricreurs von Hermeneutik folgend, auf Symbole oder Texte, sondern direkt auf das Selbst. Hermeneutik nimmt hier die Form einer »fundamentalen Ontologie« an, die den Begriffen der Handlung, der Möglichkeit, des Könnens und der Fähigkeit den Vorzug gibt, im Gegenzug zur Vorherrschaft der Substanzbegriffe in der klassischen Philosophie. 25 Ihm geht es dabei um die Anerkennung des e.tJort d' etre des Menschen, seines »Strebenscharakters«, dem die Ontologie von Spinoza und Leibniz etwa im Begriff des appetitus und des conatus nahekam. Ricreur scheint hier seine frühere Kritik an der »ontologischen« Vehemenz Heideggers, die noch seine ersten hermeneutischen Auseinandersetzungen prägte, etwas zu mildem, da er selber eine Ontologie der Möglichkeit und des conatus anvisiert. Während die Ontologie für Heidegger ein Ausgangspunkt war, ist sie für Ricreur ein Zielpunkt. Man kann in dieser hermeneutischen Ontologie des »fähigen« Menschen den beachtlichen terminus ad quem des gesamten ricreurschen Denkweges sehen, aber auch eine Rückkehr zur Reflexionsproblematik, die den Anstoß zu seinem »Umweg über die Hermeneutik« gegeben hatte. Diese Hermeneutik des Selbst erinnert glücklicherweise daran, dass das Von-der-Vergangenheit-bestimmt-Sein (l'etre-a.tJecte-par-le-passe'), auf dem Gadamer beharrt hatte, nicht die einzige Bestimmung des Bewusstseins ist. Der Mensch, das Wesen der Möglichkeiten und des Strebens (conatus), kann dank seiner Initiative (der Ausdruck ist wohl Mounier entlehnt) seine Welt neu gestalten (aber auch 24 P. Ricamr, Soi-meme comme un autre, Paris 1990, S. 345; Parcours de la reconnaissance, S. 137. 25 P. Ricreur, La memoire, l'histoire et l'oubli, Paris 2000, S. 639.
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seine Vergangenheit: durch Gedächtnis, Verzeihen und Anerkennung). Da diese Hermeneutik wesentliche Lehren aus der Schule des Argwohns gezogen hat, verlässt sie ein fur alle Mal die falsche Vorspiegelung eines Vollbesitzes des Selbst durch Reflexion; aber diese 'Destruktion sollte nicht zu einer fatalistischen Resignation angesichts einer unerbittlichen, schicksalhaften Wirkungsgeschichte fuhren. Im Gegenteil, sie hilft uns, angesichts des tatsächlich vorhandenen Bösen und der Ungerechtigkeiten, die uns umgeben, die ethischen Ressourcen des »fähigen Selbst« wiederzuentdecken. Die ethische Reichweite dieser Hermeneutik des Selbst liegt klar auf der Hand. In »Sich selbst wie einen anderen« hat Ricreur beherzt eine kleine Ethik26 entwickelt, die versucht, die fundamentale ethische Spannung auf den Begriff zu bringen: Sie zeichnet sich aus durch »das Streben nach dem guten Leben mit und fur andere in gerechten Institutionen«. Aber diese Bedeutung von Gerechtigkeit und von gutem Leben fällt nicht vom Himmel. Da wir historische Wesen sind, sind wir auch Erben grundlegender Versprechen27 und folglich von Hoffuungen, als deren Gedächtnis sich die Hermeneutik des Selbst versteht. Ricreur gibt uns auf diese Weise zu erkennen: Wenn eine Hermeneutik ohne Ethik leer bleibt, so ist eine Ethik ohne Hermeneutik blind.
26 27
P. Ricreur, Soi-meme comme un autre, S. 202. P. Ricreur, Parcours de la reconnaissance, S. 197.
VIII
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1. Dekonstruktion, Hermeneutik und Interpretation bei Derrida Zu einer echten Konfrontation zwischen einer Hermeneutik des Vertrauens und einer Hermeneutik des Argwohns kam es bei dem in der Folge immer bedeutender gewordenen Treffen zwischen Hans-Georg Gadamer und Jacques Derrida (1930-2004), das in Paris im April 1981 stattfand. Im Unterschied zu den Interpretationskonflikten, die die bei den Hermeneutiken des Vertrauens und des Argwohns miteinander zu konfrontieren pflegen, hatten beide Denker allerdings gemeinsame Ursprünge: Wie Gadamer war auch Derrida vom »hermeneutischen« Programm Heideggers in Sein und Zeit ausgegangen; er hat sich von diesem a1:)er eher dessen »destruktive« Seite zu Herzen genommen, d.h. seine Absicht, die metaphysischen Voraussetzungen der westlichen Tradition offenzulegen. Derrida nimmt ganz speziell die heideggersche Idee wieder auf, der zufolge das abendländische Denken oder die »Metaphysik« (d.h. das inzwischen zur Herrschaft gelangte Denken der Autoren, die von Platon bis Hegel und Nietzsehe nach einer totalisierenden Erklärung des Seins trachteten) von einer Bestimmung des Seins als Gegenwartl geprägt sei: Das Sein ist das, was sich einem es beherrschen wollenden Blick öffuet. Ange1 Siehe J. Derrida, La structure, le signe et le jeu dans le humaines, L 'ecriture et la difference, Paris 1967, S. 41l.
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prangert werden damit die vergegenständlichende Tendenz und der Herrschaftswille des abendländischen Rationalismus. Vom Strukturalismus her kommend, wendet Derrida diese Intuition auf die Auffassung von Zeichen an, was ihn dazu führt,. den für »metaphysisch« gehaltenen Begriff der Bedeutung und der Wahrheit selbst in Frage zu stellen. Die Linguistik Ferdinand de Saussures versteht den Begriff der Bedeutung von der Doppelheit von Bezeichnendem (signifiant) und Bezeichnetem (signifie') aus. Das Bezeichnende (oder Zeichen, SignifIkant) soll dann auf eine »bezeichnete Gegenwart« verweisen, die ihrerseits eine Präsenz verkörpern soll, die von der Sache oder dem »Bezeichneten« (signifie') gerullt sei. Nur, wenn man das Bezeichnete (SignifIkat) zu denken versuche, entdecke man bald, dass dies immer nur innerhalb des Bereichs der Zeichen oder der Rede möglich sei. Die Bedeutung werde also dauerhaft »differiert« durch das Spiel dessen, was Derrida die difJerance nennt - ein genialer Kunstausdruck, unter dem man sowohl die angebliche »Differenz« zwischen Zeichen und Bedeutung als auch die (nach Derrida unendliche) Verschiebung ihres Vollzugs zu verstehen hat, denn niemals könne man endgültig aus dem Reich der Zeichen herauskommen. Derrida erkennt damit der sprachlichen Konstitution des Verstehens eine ausschlaggebende Rolle zu, was ihn scheinbar in Gadamers Nähe führt. Aber hier wiegt vielleicht in den Augen Derridas die Entfernung schwerer als die auf der Hand liegende Nähe. Derrida erweist sich in der Tat als entschieden »strukturalistischer« als Gadamer oder selbst Heidegger: Während es rur sie das Sein ist, das die Sprache zur Rede bringt, ist rur Derrida das Sein nur mehr ein Ergebnis der difJerance, denn seiner Ansicht nach bleibt es außerhalb der Zeichen, die es ausdrücken, unerreichbar. In einem oft zitierten Text schreibt er, dass es nichts gebe »außer Text« (il ny a pas de hors texte).2 Man kann sich hier fragen, ob diese Dekonstruktion nicht ihrerseits dem Nominalismus modemen Denkens unterliegt, indem sie sich 2
J. Derrida, De la grammatologie, 1967, S. 227.
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ausschließlich auf den Bereich der Zeichen und linguistischen Oppositionen konzentriert. So würde Derrida selber zum Opfer einer »Metaphysik der Gegenwart«, im vorliegenden Fall der Metaphysik der Zeichen selbsU Heideggers Zerstörung der Metaphysik nimmt also bei Derrida die Form einer Dekonstruktion der Logik des Denkens an, die uns zum Glauben an die Idee einer wirklichen Gegenwart der Bedeutung fUhrt, außerhalb der Zeichen, die deren Vorstellung wie eine Fata Morgana hervorrufen, die aber nach seiner Ansicht immer nur auf sich selbst verweisen. Diese Radikalisierung von Heideggers destruktivem Entwurf zwingt Derrida, gegenüber dem hermeneutischen Entwurf Heideggers einen gewissen Verdacht zu äußern. Er erscheint ihm suspekt, weil er ihm eine stillschweigend metaphysische Orientierung an Verständlichkeit und Entzifferung unterstellt, die einen letzten Sinn hinter den Zeichen suche (eine Auffassung der Hermeneutik, die Derrida auch Ricreur und seiner Hermeneutik der Sinnrekuperation unterstellt). Dabei handelt es sich fiir Derrida nicht nur um eine metaphysische Illusion, er prangert in ihr auch ohne Unterlass einen Herrschaftswillen an. Die heideggersche Destruktion geht hier eine Verbindung mit der Kritik am »Verstehenswillen« bei Levinas ein; dieser Wille tue dem anderen Gewalt an, weil er ihm seine Blickrichtung ganz und gar aufzwinge und von ihm Besitz ergreife. Für Derrida geht es also nicht darum, den anderen zu verstehen, sondern vielmehr darum, gerade die» Wut des Verstehens« zu unterbrechen, die die Metaphysik charakterisiert haben soll. Auf eine Weise, die den Beobachtern nicht entgangen ist, verteidigt Derrida damit sehr wohl eine Auffassung, die sich als 3 Erinnert sei hier an das etwas vergessene Streitgespräch zwischen Derrida und Ricreur im Jahre 1971, als Ricreur Derrida vorwarf, auf der Ebene der Semiologie zu verharren (»Philosophie et communication«, in: La communication. Actes du XV" Congres de l' Association des Societes de philosophie de langue fran~aise, Montreal, ed. Montrnorency, 1973,393--431, insb. S. 398). Das war sozusagen die Begeguung zwischen der Dekonstruktion und der Hermeneutik vor der Begeguung von 1981. Sie hat vielleicht Derridas Distanz zur »Hermeneutik« Vorschub geleistet.
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»panhermeneutisch« bezeichnen lässt, denn sie leugnet gerade, dass es möglich ist, einen Sinn außerhalb der Rede zu fmden, führe doch jeder Seinsbezug auf das Spiel der Interpretationen zurück. Im Angesicht dieser »Universalität der Sprache« unterscheidet Derrida sorgfliltig zwei mögliche Strategien oder »zwei Interpretationen der Interpretation, der Struktur, des Zeichens und des Spiels«: 1. »Die eine versucht zu entziffern, träumt davon, eine Wahrheit oder einen Ursprung zu entziffern, der dem Spiel und dem Bereich des Zeichens enthoben wäre, und erlebt die Notwendigkeit der Interpretation wie eine Verbannung.« Derrida denkt hier an die klassische, in seinen Augen nochmetaphysische Hermeneutik, die einen »Sinn« zu ergreifen, wenn nicht zu durchdringen versucht, der wie eine lebendige Gegenwart hinter den Dingen erhofft wird. Dabei denkt man an Autoren wie Heidegger, Ricreur und Gadamer, selbst wenn sie im Kontext dieser Stelle nicht genannt werden. Derrida setzt ihnen stolz eine andere Interpretation der Interpretation entgegen: 2. »Die andere Interpretation, die nicht auf den Ursprung gerichtet ist, begrüßt das Spiel und versucht über den Menschen und den Humanismus hinauszugelangen, da ja der Name des Menschen der Name dieses Wesens ist, das - quer durch die . Geschichte der Metaphysik oder der Ontotheologie, d.h. seine gesamte Geschichte hindurch - die vollständige Gegenwart erträumt hat, ihre beruhigende Grundlage, den Ursprung und Endzweck des Spiels.« Diese Idee einer völligen und unmittelbaren Gegenwart ist seit dem Strukturalismus nach Derridas Einschätzung nicht mehr möglich. Das ist die »traurige« Seite dieser »zweiten Interpretation der Interpretation«, die aber auch einen befreienden, spielerischen Zug in ihrer Leugnung der Idee einer zwingenden Wahrheit mit einschließt. Derrida weist darauf hin, dass es Nietzsche ist, der die »Bahn eröffnet hat« für diese »zweite Interpretation der Interpretation«, mit der Derrida sich nicht ohne Enthusiasmus solidarisiert:
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Gewendet zur verlorenen und unmöglichen Gegenwart des abwesenden Ursprunges, ist diese strukturalistische Thematik der gebrochenen Unmittelbarkeit also die traurige, negative, nostalgische, schuldige, rousseauistische Seite des Spiel-Gedankens, dessen andere Seite die nietzscheanische Bejahung darstellt, eine Bejahung, die glücklich über das Spiel der Welt und die Unschuld der Zukunft wäre, die Bejahung einer Welt von Zeichen ohne Schuld, ohne Wahrheit, ohne Ursprung, die sich zur aktiven Interpretation anbietet. 4
Bereits 1967 wies Derrida darauf hin, dass diese beiden Interpretationen der Interpretation absolut unvereinbar seien. Er sprach sogar davon, ihre Unversöhnlichkeit zu schärfen. Diese beiden Interpretationen der Interpretation sollten während einer öffentlichen Debatte aufeinanderprallen, als das Goethe-Institut in Paris im April 1981 ein Treffen zwischen Gadamer und Derrida organisierte.
2. Das Pariser Treffen zwischen Derrida und Gadamer Trotz ihrer zahlreichen gemeinsamen Ausgangspunkte - erinnert sei an ihre gemeinsame heideggersche Herkunft, an ihre Wissenschaftskritik, besonders aber an ihre gemeinsame, wenn auch unterschiedlich gewichtete These über die »Universalität der Sprachlichkeit« - wurde das Treffen von 1981 insofern ein Misserfolg, als es eher Gelegenheit zu einem Tauben-Gesprächs bot. Aber genau in dieser Eigenschaft ist es vielleicht lehrreich und sogar fruchtbar gewesen. Auf jeden Fall war es ein Ereignis,
J. Derrida, L 'ecriture et la difference, Paris 1967, S. 427. Die anlässlich des Treffens vorgestellten Texte wurden teilweise in der Revue internationale de philosophie, n0151 (1984), veröffentlicht. Eine vollständigere Dokumentation fmdet man im Sammelband, hg. von D. Michelfelder und R. Palmer, Dialogue and Deconstruction. The Gadamer-Derrida Encounter, Albany, Suny Press, 1989. Siehe auch den deutschen Sammelband, hg. von P. Forget, Text und Interpretation, München 1984. Der von Derrida vorgestellte Text ist nur in der amerikanischen und der deutschen Edition zu fmden. 4
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dessen Ausmaß an Bedeutung mit den Jahren noch zugenommen hat. Gadamer hielt zunächst einen Vortrag über »die hermeneutische Herausforderung«6. Darin spielte er auf die Herausforderung an, die sein hermeneutisches Denken zuallererst auf den Plan gerufen hatte, aber auch auf die Herausforderung, die :für ihn das Treffen mit Derrida bedeutete, dessen Werk ihm in seinen groben Zügen vertraut war (auf der Gegenseite war das vielleicht weniger der Fall). Gadamer konnte sich bis zu einem gewissen Grad in Derridas Entwurf wiedererkennen, der darauf abzielte, die begriffliche Sprache der Metaphysik zu »destruieren«. Aber der Meister der Hermeneutik verstand darunter vor allem das verknöcherte Vokabular des Denkens, das sich vom »lebendigen Dialog«, von dem jede echte Sprache ausgeht, entfernt hat: Die »Destruktion« im positiven Sinne bestehtfür ihn darin, einen leer gewordenen Begriff wieder in die lebendige Sprache zurückzustellen, aus der er hervorgegangen ist und die ihm seinen ganzen Sinn gibt. Destruktion wird also von Gadamer ausschließlich als Abbau von Verdeckungen und scholastisch gewordenen Schematisierungen gedacht.? Aber genau dieser ständige Rückbezug des Denkens auf den Dialog der lebendigen Sprache führte ihn dazu, die Idee in Frage zu stellen, dass es eine geschlossene Sprache der Metaphysik gebe:
6 Man beachte, dass der Text Gadamers, der in der Revue internationale de philosophie veröffentlicht wurde, nur acht Seiten umfasste, während er in der deutschen Ausgabe 32 Seiten ausmachte. Diese 1983 niedergeschriebene, längere Version des Textes, der den Titel Text und Interpretation erhielt, findet sich wieder in H.-G. Gadamer, Gesammelte Werke, Band 2, S. 330-331. 7 H.-G. Gadamer, Gesammelte Werke, Band 10, S. 132. Gadamer kommt in seinen späteren Schriften oft auf diesen ersten Sinn der heideggerschen Destruktion, der Derrida entgangen sei, zurück, besonders in »Destruktion und Dekonstruktion« (1985, Gesammelte Werke, Band 2, S.361-372) sowie in »Frühromantik, Hermeneutik, Dekonstruktivismus« (1987) und »Dekonstruktion und Hermeneutik« (1988, beide in Gesammelte Werke, Band 10, S. 125-147). Empfindlich wie er war, wird es Derrida Gadamer sicherlich übel genommen haben, dass er ihn auf eine etwas patemalistische, schulmeisterliche Weise über den Sinn der Destruktion belehren wollte.
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Meine eigentliche Idee scheint mir wie folgt zu sein: Es gibt keine begriffliche Sprache, nicht eimnal die der Metaphysik, die das Denken definitiv umschreiben könnte, wenn sich der penker auch nur im Geringsten der Sprache hingibt, was ja bedeutet, dass er den Dialog mit anderen Denkem, die anders als er denken, akzeptiert. 8
Indem Gadamer daran erinnerte, dass seine Sprachauffassung aus der Erfahrung des lebendigen Dialogs und seinem Versprechen zur Selbsttranszendenz hervorging, rief er - in bester Absicht - auch Hoffnungen hervor, die er mit dem Dialog, den er mit Derrida führen zu können glaubte, verknüpfte. Diese hermeneutische Erfahrung des Dialogs illustrierte Gadamer, indem er von der Erfahrung der Kunst und der Philosophiegeschichte ausging, die die für seinen Denkweg bestimmende Grunderfahrung war; hier tritt der Interpret in einen Dialog mit dem, was ihn anspricht, allerdings nicht ohne daraus verändert hervorzugehen. Es lässt sich aber nicht in Abrede stellen, dass das, was uns in einem Kunstwerk gesagt wird, nie begrifflich ausgeschöpft werden kann. Die Unvollkommenheit der Sinn-Erfahrung ist wesentlicher Teil der menschlichen Endlichkeit. Damit wollte Gadamer sicherlich seine Übereinstimmung mit Derridas Idee einer unendlichen differance der Bedeutung unterstreichen, deren Weite nie ein für alle Mal eingeholt wird, da sie sich in einer nie vollendeten Wirkungsgeschichte entfaltet. Nach der Erinnerung an diese gemeinsamen Elemente erklärt Gadamer, warum dieses Treffen »mit der französischen Szene« für ihn eine neue Herausforderung darstellt. Derrida klage nämlich Heidegger - dessen Idee der Destruktion er aufnimmt - des Logozentrismus an, weil er weiterhin die Frage nach dem Sinn, der Bedeutung oder der Wahrheit des Seins stelle und damit den Sinn und die Wahrheit des Seins als eine Gegebenheit ansehe, die man irgendwo fmden könnte. Für Derrida sei in diesem Punkt Nietzsche radikaler mit seiner Idee, der zufolge die Interpretation nicht die Entdeckung einer Bedeutung sei, sondern die Zustimmung zu einem Spiel der Perspektiven und der Masken. 8
Revue internationale de philosophie 1984, S. 334-335.
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In diesem Sinne pflege man nach Gadamer Nietzsches Heideg-
ger-Lektüre in Frankreich zu kritisieren: Nietzsche sei nicht derjenige, der die Metaphysik zum Höhepunkt geführt habe, indem er das Sein als Wert dachte, sondern eher derjenige, der es - besser als Heidegger - möglich machte, die Metaphysik zu überwinden, indem er das unendliche Spiel der Interpretationen begrüßte. In Gadamers Augen drehte sich also die Debatte um die Frage, ob Heidegger oder Nietzsche radikaler gewesen sei. Hätte Derrida recht, dann wäre ich, seufzt Gadamer, »mit meinem eigenen Aufgreifen und Fortführen der Hermeneutik als Philosophie das in die verdorrenden Gefilde der Metaphysik verirrte Schaf«. 9 Zu dieser Frage legte Gadamer in Paris seine Karten offen auf den Tisch und erklärte seine Solidarität mit Heidegger: »Heidegger übertrifft Nietzsche in der Tat«. Gadamer wirft Nietzsches französischen Erben vor, nicht in angemessener Weise das Abtastende und Verführerische seines Denkens einzuschätzen. Dies führe zu der Annahme, die Erfahrung des heideggerschen Seins sei »weniger radikal als Nietzsches Extremismus«lO. Das ist nach Gadamer nicht der Fall. Heideggers Überlegenheit liege in der Tatsache begründet, dass es ihm gelungen sei, Nietzsches Wertbegriff in die Kontinuität der westlichen Metaphysik zurückzustellen. Dieses metaphysische Denken in Werten (und die Aporie eines Denkens, das eine Umwertung fördern will) habe Heidegger überwunden, indem er seinerseits - und nicht zuletzt in seinen Überlegungen über das Wahrheitsgeschehen des Kunstwerkes - eine Erfahrung des Seins entwickelte, das sich nicht auf seine messbare Manifestation reduziert, folglich: ein Sein, das sich niemals ganz preisgibt, sondern einen Teil seines Geheimnisses beibehält. Heidegger sei also noch weiter gegangen als
H.-G. Gadamer, Gesammelte Werke, Band 10, 1994, S. 139. Revue internationale de philosophie 1984, 338. Siehe H.-G. Gadamer, »Frühromantik, Hermeneutik, Dekonstruktivismus« (1987), in: Gesammelte Werke, Band 10, 125, und »Dekonstruktion und Hermeneutik«, in: Gesammelte Werke, Band 10, S.138f. 9
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Nietzsche, indem er über ein Sein reflektiert habe, das nicht auf messbaren Wert und technische Nützlichkeit begrenzt sei. Diese Intuition, sagt Gadamer, habe er mit Überzeugung aufgenommen, nicht ohne ihr im Kontext des Pariser Treffens eine derridianische Wendung zu geben: »Auf diese Weise habe ich mich immer bemüht, die Grenze, die jeder hermeneutischen Sinn-Erfahrung auferlegt ist, im Kopf zu behalten.«l1 Die Hermeneutik gebe uneingeschränkt zu, dass das Sein nie Gegenstand eines alles umfassenden Verstehens sein kann, jenes Verstehens, das Heidegger und Derrida kritisieren. Durch das Anerkennen einer Grenze bei jeglicher Sinn-Interpretation lade die Hermeneutik dazu ein, sich dem anderen zu öffnen und damit zur »Möglichkeit der Andersartigkeitanzueignen< und damit in seiner Anders-
14 Siehe dazu die drei neueren Texte über Derridas Herausforderung im letzten Band seiner Gesammelten Werke, Band 10, S. 125-174.
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artigkeit zu verkennen.«15 Dies ist zwar ein sehr kurzer Text, er kommt aber in diesem Zusammenhang fast einer Selbstkritik gleich. Gewiss, Gadamer stellte niemals ausdrücklich die Idee in Frage, dass das Verstehen stets mit einer Anwendung einhergeht, aber 1986 zeigt er sich aufinerksamer gegenüber der Gefahr eines Verstehens, das, indem es sich das andere aneignet, vielleicht seinem Anderssein Gewalt antut. Auch wenn Derrida nicht unmittelbar von Gadamers Konzeption der Anwendung sprach (als er die Metaphysik des Willens entlarven wollte, die unterschwellig dem hermeneutischen Denken zugrunde liege), so zielte seine Kritik genau auf den - möglicherweise verborgenen - Herrschaftswillen. Die Begegnung zwischen der Hermeneutik und der Dekonstruktion ist also vielleicht nicht so unergiebig gewesen, wie es oft behauptet wird. Dafür findet sich noch eine letzte Bestätigung in einer »Definition« der Hermeneutik, die der späte Gadamer immer wieder angeführt hat. In seinen letzten Schriften und Interviews hat Gadamer gern unterstrichen, die Seele der Hermeneutik bestehe darin zu erkennen, dass es vielleicht der andere ist, der recht hat. 16 Verstehen erscheint dann weniger als Aneignung, sondern eher als Öffnung hin zum anderen und seinen Gründen. Ebenso hat Gadamer in seinen späten Schriften weniger von der Universalität der Sprache gesprochen als von ihren Grenzen, angesichts all dessen, was zu sagen ist. Die Grunderfahrung einer Hermeneutik der Endlichkeit ist nicht nur die der grundsätzlichen Sprachlichkeit des Verstehens, sondern zugleich die der Grenzen der Sprache, angesichts dessen, was gesagt werden können
15 Wahrheit und Methode, Gesammelte Werke, Band 1, S. 305; vgL Gesammelte Werke, Band 10, S. 130: »Der Einwand Derridas meint nun, daß Verstehen immer wieder zur Aneignung wird und damit Verdeckung der Andersheit einschließt - ein auch von Levinas gewiß stark gewertetes Argument und eine durchaus nicht abweisbare Erfahrung«. Gadamer versucht im Folgenden, sich gegen diesen Einwand zu verteidigen, aber man kann vermuten, dass er sich hier getroffen fühlte, wie diese Fußnote zeigt. 16 Siehe dazu ein Gespräch mit Hans-Georg Gadamer, Le Monde vom 3. Januar 1995; Das Erbe Europas, Frankfurt am Main 1989, S. 158.
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müsste. 17 Es ist keineswegs ausgeschlossen, dass diese neuen Akzente der gadamerschen Hermeneutik, im Hinblick auf die Öffnung hin zum Anderssein des anderen und auf die Grenzen der Sprache, Früchte seiner Begegnung mit der Dekonstruktion Derridas gewesen sind.
4. Der letzte Dialog zwischen Derrida und Gadamer Lange hat man geglaubt, dass nur Gadamer den inneren Dialog mit Derrida fortgesetzt hatte. Aber nach Gadamers Tod am 13. März 2002 gab Derrida überraschend zu erkennen, dass auch ihn dieser Dialog immerfort begleitet hatte. Am 15. Februar 2003 hielt er zum Gedenken Gadamers einen Gedächtnisvortrag an der Universität Heidelberg unter dem Titel Der ununterbrochene Dialog: zwischen zwei Unendlichen, das Gedicht (Beliers. Le dialogue ininterrompu: entre deux infinis, le poeme, Galilee, 2003). Bereits der Titel dieser Vorlesung, die eine meisterliche Lesung eines Celan-Gedichtes bot, nahm eine Idee auf, die Gadamer am Herzen lag: die des Dialogs. Aber die Pointe daran war, dass Derrida gerade in dem Augenblick von einem »ununterbrochenen Dialog« sprach, als der Tod ihn unterbrochen hatte. Aber für Derrida ist dieser Tod intimer Bestandteil des Dialogs, der zwei Freunde aneinander bindet. Unerbittliches Gesetz der Freundschaft ist es, dass einer von beiden Freunden den Tod des anderen überleben muss. Dem Überlebenden steht es dann zu, den Freund in sich selbst zu tragen. Der »ununterbrochene Dialog« ist derjenige, den Derrida sich verurteilt sieht, allein zu führen, den anderen in sich tragend gemäß einem Leitmotiv, das er dem Celan-Vers entnimmt: »Die Welt ist fort / ich muss dich tragen«. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, 17 Siehe den Essay von 1985 über »Grenzen der Sprache« in: Gesammelte Werke 8, S. 350-361, und »Europa und die Oikoumene«, Gesammelte Werke, Band 10, S. 267-284, wo zu lesen ist (S. 274), dass »oberster Grundsatz der philosophischen Hermeneutik ist (... ), daß wir nie das ganz sagen können, was wir sagen möchten«.
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dass Derrida damit auf die von Gadamer 1981 verwendete Idee eines »lebendigen Dialogs« antworten will: nämlich durch die ihm noch wesentlicher vorkommende Idee eines posthumen Dialogs, in dem der Überlebende in sich die Stimme des verstorbenen Freundes zum Sprechen bringen muss. Die Idee eines ununterbrochenen Dialogs ist ihrerseits ein Echo auf die nicht geringe Rolle, die dem Begriff der »Unterbrechung« bei der Konfrontation von 1981 zukam. In seinem dritten Einwand fragte Derrida, ob die Idee des Verstehens nicht eine gewisse »Unterbrechung« des Verhältnisses zum anderen einschließe: »Immer muss man sich doch fragen, ob die Bedingung des Verstehens, weit davon entfernt, ein sich kontinuierlich entfaltender Bezug zu sein ( ... ), nicht doch eher der Bruch des Bezugs ist, der Bruch als Bezug gewissermaßen, eine Aufhebung aller Vermittlung?« Die inzwischen eingetretene »Unterbrechung« war die des Todes des Denkpartners. Genau in diesem Moment behauptet Derrida eine höhere Kontinuität, die der Freundschaft: Nach dem Tod obliegt es dem Freund, das Wort des anderen in sich zu tragen. Ein Zeugnis für diese Freundschaft hatte Derrida bereits in einem Text abgelegt, den er in deutscher Sprache und nur zwei Wochen nach Gadamers Tod unter dem Titel »Wie recht er hatte! Mein Cicerone, Hans-Georg Gadamer«18 herausgegeben hatte. Hier sprach er in bewegender Weise von der Bewunderung, die er stets für die Person Gadamers empfunden hatte, für diesen »bon vivant«, der so gern lebte und das Leben bejahte; um diese Fähigkeit zur Lebensbejahung, die ihm selbst, wie er sagte, vorenthalten blieb, beneidete er ihn. Derrida erklärt, warum: Ich glaube nicht an Gadamers Tod. Es gelingt mir nicht, daran zu glauben. Ich hatte mich schon an den Gedanken gewöhnt, daß Gadamer niemals stürbe. Daß er kein Mensch war, der sterben könnte. Irgend
18 Zuerst abgedruckt auf Deutsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 23.3.2002. Der französische Urtext wurde erst nach Derridas Tod zugänglich gemacht, in der Zeitschrift Contre-jour 9 (2006), S. 87-91.
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etwas in mir glaubt das noch immer. ( ... ) Seit 1981, dem Jahr unserer ersten Begegnung ( ... ), schenkte mir alles, was von ihm kam, eine Heiterkeit, von der ich das Gefiihl hatte, daß Gadamer sie mir ganz persönlich vermittelte. Gleichsam durch Ansteckung oder philosophische Strahlung. Ich sah ihn so gern leben, sprechen, lachen, laufen, ja selbst hinken und essen und trinken. So viel mehr als ich! Ich beneidete ihn um seine lebensbejahende Kraft. Sie schien unbesiegbar. Ich war der Überzeugung, daß Gadamer es verdiente, niemals zu sterben, weil wir solch einen absoluten Zeugen brauchten, der an allen philosophischen Debatten des Jahrhunderts aktiv oder als Beobachter teilnahm. 19
Und weil Gadamer verdiente, niemals zu sterben, glaubte Derrida, den Dialog mit seinem Denken, dem er im Jahr 1981 ein wenig ausgewichen zu sein gestand, ins Unendliche verschieben zu können. Derridas plötzlicher Tod am 9. Oktober 2004 unterbrach diesen posthumen Dialog. Es obliegt also den Freunden der beiden, dieses Gespräch zwischen »zwei Unendlichen« fortzusetzen, der Hermeneutik und der Dekonstruktion.
19
FAZ vom 23.3.2002. Contre-Jour 9 (2006), S. 87-88.
IX
Postmoderne Hermeneutik Rorty und Vattimo Im Unterschied zu Derrida berufen sich Richard Rorty (1931-
2007) und Gianni Vattimo (geboren 1936) ausdrücklich auf die Tradition hermeneutischen Denkens. Sie gaben ihm allerdings eine eher »relativistische« oder »postmoderne« Wendung. Beide stützen sich auf Gadamers berühmte Formel: »Sein, das verstanden werden kann, ist Sprache«, zogen daraus jedoch den Schluss, es sei illusorisch, zu behaupten, unser Verstehen beziehe sich auf ein Sein oder eine objektive Realität, die durch unsere Sprache erreicht werden könne. Da letztlich alles nur von der Sprache abhängt, die wir ihrer Auffassung nach nicht transzendieren können, müsse man die Idee einer Entsprechung von Denken und Wirklichkeit aufgeben. Dies fuhrt Rorty zum Pragmatismus und Vattimo zu einem fröhlichen Nihilismus. Beide berufen sich in diesem Schritt auf Heidegger und Gadamer (weit weniger, ja überhaupt nicht auf Ricreur), nämlich auf deren Hervorhebung der unentrinnbaren (geschichtlichen) Vorstruktur des Verstehens und deren Sprachlichkeit, ziehen aber relativistische Konsequenzen.
1. Rorty Pragmatische Verabschiedung des Wahrheitsbegriffes In seinem 1979 erschienenen Werk Philosophy and the Mirror 01 Nature gelang Rorty eine beeindruckende und wirkungsvolle Verbindung zwischen der Tradition des amerikanischen Prag-
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matismus und der Hermeneutik gadamerscher Herkunft. Seine Absicht war es, zu zeigen, warum Philosophie auf ein Wissen verzichten muss, das sich als einfacher »Spiegel der Wirklichkeit« versteht, in dem Rorty eine unglückliche Metapher und einen verhängnisvollen Spracheffekt sieht. Ebenfalls stellt er die - in der angelsächsischen Welt vorherrschende - Idee in Frage, der zufolge Philosophie eine »Erkenntnistheorie« oder Epistemologie sein müsse, deren Aufgabe es sei, zu erklären, wie sich unsere Erkenntnis auf die Wirklichkeit beziehe. An sich ist diese Positivismus- oder Empirismuskritik, die sich gegen die herrschende, wissenschaftsgläubige angelsächsischen Epistemologie richtet, nicht allzu originell. Eingeleitet wurde sie durch Quines Pragmatismus und seine Ablehnung der sogenannten »Dogmen des Empirismus« (an sich eine kühne Formel!), darunter das Dogma des Bezugs auf die wirkliche Welt. Eingeleitet wurde sie aber auch durch die Arbeit des Wissenschaftshistorikers Thomas Kuhn, der in seinem berühmten Werk über Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen (1962) zeigen wollte, dass die Akzeptanz wissenschaftlicher Theorien der Sprache und der Rhetorik viel zu verdanken habe, sowie Gesamtannahmen, die weniger vom wissenschaftlichen Beweis als von geltenden »Paradigmen« abhängen, welche die Normen wissenschaftlicher Rationalität in einer gegebenen Epoche definieren. Rortys Originalität liegt eher in der Tatsache begründet, dass er sich dabei massiv auf das bis dahin in der englischsprachigen Welt wenig bekannte Werk Gadamers beruft, ganz besonders, wenn er die These verficht, der zufolge sogar das Gebiet und das ganze Unternehmen der Epistemologie und Wissenschaftstheorie durch hermeneutisches Denken ersetzt werden muss. Das VII. Kapitel von Philosophy and the Mirror 01 Nature trägt tatsächlich den Titel »Von der Epistemologie zur Hermeneutik«. Es wäre aber ein Irrtum zu glauben, Epistemologie und Wissenschaftstheorien seien durch die Hermeneutik zu ersetzen, weil die hermeneutische Auffassung der Wirklichkeit etwa angemessener oder passender wäre. Nein, der Vorteil
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der Hermeneutik liegt fiir Rorty darin, überhaupt auf diese Idee zu verzichten und die Idee einer ganz anderen menschlichen Kultur voranzubringen: Hierbei muß von Anfang !jll klar sein, daß ich die Hermeneutik nicht als eine »Nachfolgedisziplin« 'der Erkenntnistheorie verstehe, nicht als ein Unternehmen, das die kulturelle Lücke ausfüllt, die vormals die erkenntnistheoretisch orientierte Philosophie eingenommen hatte. Bei mir steht »Hermeneutik« weder für eine Disziplin noch für eine Methode, mittels deren man Resultate erzielen könnte, die sich der Erkenntnistheorie entzogen haben, noch für ein Forschungsprogramm. Im Gegenteil, Hermeneutik ist Ausdruck der Hoffnung, die kulturelle Leerstelle werde nach dem Abgang der Erkenntnistheorie gerade nicht neu besetzt - unsere Kultur werde zu einer Kultur, in der das Bedürfnis nach Einschränkung und Konfrontation nicht mehr verspürt wird. l
In Rortys Augen bietet Hermeneutik keine Methode oder keine bessere Methode, um Wahrheit zu erreichen; sie lehrt uns vielmehr, ohne die Idee von Wahrheit - verstanden im Sinne einer Übereinstimmung mit der Wirklichkeit - zu leben. Das Streben nach der Wahrheit mache einer Kultur Platz, die eher die Ideale der Bildung und des Gesprächs hochhalte. Rorty beruft sich hier auf die Idee der »Bildung« in Wahrheit und Methode. Gadamer hatte sie heraufbeschworen, um zu zeigen, dass das von der Kunst und den Geisteswissenschaften vermittelte Wissen kein methodisches war, kein Wissen auf Distanz, sondern ein »Bildungswissen«, das eine Verwandlung der Handelnden selbst mit einschloss und eine Kultur des Gesprächs durch gegenseitigen Austausch hervorbringen wollte. Rorty zieht daraus entschieden relativistischere Schlussfolgerungen: Gadamer beginnt Wahrheit und Methode mit einer Diskussion des Beitrages der humanistischen Tradition zu einer Entwicklung, die dazu führte, daß Bildung als etwas verstanden wurde, das »keine außerhalb ihrer gelegenen Ziele« hat. Hierfür bedurfte es eines Gespürs für die 1 R. Rorty, Philosophy and the Mirror 0/ Nature, Princeton 1979, S.315; R. Rorty, Der Spiegel der Natur: Eine Kritik der Philosophie. Übers. VOll M. Gebauer, Frankfurt am Main 1981, S. 343.
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Relativität deskriptiver Vokabulare auf Epochen, Traditionen und historische Begebenheiten. Eben dieses Gespür vermittelt die humanistische erzieherische Tradition, wohingegen es sich den Ergebnissen der Naturwissenschaften gerade nicht entnehmen läßt. 2
Diesem Bildungsideal zufolge bestünde die Aufgabe der Philosophie nicht darin, treffendere Beschreibungen der Wirklichkeit vorzuschlagen, sondern lediglich die möglichst friedliche und nach Rorty »erbauende« Fortsetzung des Gesprächs oder der conversation unter den Menschen zu fördern. Das Wissen würde nämlich niemals die Ebene des Gesprächs und damit der Sprache transzendieren und so eine nicht sprachlich verfasste Wirklichkeit erreichen können. Indem Rorty in seinem Werk eine hermeneutische Transformation oder gar Selbstaufhebung der analytischen Philosophie in die Wege zu leiten versuchte, hat er erheblich dazu beigetragen, hermeneutisches Denken in der angelsächsischen Welt bekannt zu machen. Das ist eins seiner unleugbaren Verdienste. Er hat indes diesem Denken eine relativistische Richtung gegeben, die Gadamer einigermaßen fremd war. Es ist schwer vorstellbar, dass ein Verfasser, der sein Hauptwerk Wahrheit und Methode nennt, auf den Wahrheitsbegriffverzichten wollte! Ebenso wenig nachvollziehbar ist der Verzicht auf eine Erkenntnis der Wirklichkeit rur einen Denkansatz, der der Hermeneutik eine betont ontologische Wende gibt. Rorty hat abermals die Tugenden der Hermeneutik, wie er sie versteht, aus Anlass von Gadamers 100. Geburtstag in einer am 12. Februar 2000 in Heidelberg gehaltenen Vorlesung hervorgehoben. Er hat sich dann auf das Diktum »Sein, das verstanden werden kann, ist Sprache« bezogen, um ihm allerdings einen rein >mominalistischen« Sinn zu geben, den er wie folgt charakterisiert: »Den >Nominalismus< möchte ich im Sinne der These definieren, alle Wesenheiten seien nominaler Art und alle Notwendigkeiten de dicto [der Rede zu eigen]. Diese These läuft 2
S.393.
R. Rorty, Philosophy, and the Mirror
0/ Nature,
362; Der Spiegel der Natur,
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Postmoderne Henneneutik
darauf hinaus, dass keine Gegenstandsbeschreibung in höherem Maße die eigentliche Natur des betreffenden Gegenstandes trifft als irgend eine andere Beschreibung.«3 »Wer einen widerspruchsfreien Nominalismus vertritt«, wird folglich »betonen, daß der Prognose- und Erklä.rurigserfolg eines Korpuskularvokabulars fiir dessen ontologischen Rang ohne Belang ist und daß man den Begriff des >ontologischen Rangs< überhaupt fallen lassen sollte«.4 Dieser Verzicht auf die Ontologie ist Gadamer völlig fremd. Der Titel des letzten Teils von Wahrheit und Methode kündigt schließlich eine »ontologische Wendung« der Hermeneutik am Leitfaden der Sprache an. Die Sprache bildet fiir Gadamer keineswegs eine Barriere, die ein Denken der Wirklichkeit unmöglich machen würde, sondern im Gegenteil das Element, in dem das Sein sich selbst offenbart. Man kann ferner im Falle Gadamers überhaupt nicht von Nominalismus sprechen, denn Sprache ist für ihn zuerst Sprache der DingeS und dann erst der Gedanken. Die gesamte gadamersche Kritik an der Sprachvergessenheit des abendländischen Denkens zielt letztlich darauf ab, die instrumentalistische und nominalistische Auffassung anzuprangern, die aus der Sprache ein reines Instrument des Denkens macht, das einer Wirklichkeit gegenübergestellt wäre, die an sich ohne Sinn wäre. Nun versucht aber Rorty nicht mehr und nicht weniger, als diesen Nominalismus zu rehabilitieren: Sofern wir überhaupt etwas verstehen, verstehen wir es mithilfe einer Beschreibung, und privilegierte Beschreibungen gibt es nicht. Es gibt keine Möglichkeit, unsre deskriptive Sprache zu hinterschreiten und zum Gegenstand an sich vorzudringen. Und das liegt nicht an der Begrenztheit unserer Fähigkeiten, sondern daran, daß die Unterscheidung zwischen »für uns« und »an sich« das Überbleibsel eines deskriptiven Vokabulars 3 R. Rorty, Being that can be understood is language, London Review ofBooks, 16 mars 2000, S. 23-25; dt. im Sammelband (ohne Herausgeber): Sein, das verstanden werden kann, ist Sprache. Hommage an Hans-Georg Gadamer, Frankfurt, 2001, S. 30--49, hier S. 33. 4 Sein, das verstanden werden kann, ist Sprache, S. 34. S VgL H.-G. Gadamer, Die Natur der Sache und die Sprache der DingI;:, in: Gesammelte Werke, Band 2, S. 66---76.
Rorty und Vattimo
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- nämlich des Vokabulars der Metaphysik - ist, das seine Nützlichkeit längst eingebüßt hat. 6
Obwohl Rorty sich dabei stolz auf eine neue »gadamersche Bildung« bezieht, erkennt man in seinem Ansatz unschwer den Gipfel des modemen Konstruktivismus, für den sich die Welt auf die Auffassung reduziert, die wir uns davon bilden. Dieser Nominalismus, der Sprache auf rein instrumentelle Weise versteht, wird von Gadamer stark kritisiert. Der Spruch »Sein, das verstanden werden kann, ist Sprache« ist bei ihm nicht in nominalistischem Sinn zu verstehen, in dem das Sein sich auf die Beschreibung, die wir uns davon geben, reduziert, sondern in ontologischem Sinn: Das Sein selbst kommt zum Ausdruck in der Sprache, und seine Sprache erlaubt uns, die unzutreffenden Beschreibungen, die wir davon anbieten, zu korrigieren. Während Rorty Hermeneutik im anti-ontologischen und nominalistischen Sinne interpretiert, zieht Vattimo daraus nicht weniger relativistische Schlussfolgerungen: Diese veranlassen ihn aber zur Verteidigung der Idee einer nihilistischen Ontologie.
2. Vattimo »Für« einen hermeneutischen Nihilismus Vattimo spricht absolut positiv von der »nihilistischen Bestimmung« der Hermeneutik. Diese These geht bei ihm mit einer Kritik an Gadamer einher, wie man sie bei Rorty nicht wirklich findet. Er wirft nämlich der gadamerschen Hermeneutik vor, die nihilistische Ontologie, zu der sie heimlich tendiere, nicht selbst entwickelt zu haben. Ohne diese radikalere und konsequentere Ontologie bliebe die Hermeneutik gewiss die Koine des zeitgenössischen Denkens, aber eine zu laue, ökumenische Koine, ohne echte Pointe und Stoßrichtung, die sich darauf beschränke
6
Ebd.
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zu sagen, alles sei Interpretationssache. 7 Dadurch werde die philosophische Bedeutung der Hermeneutik verwässert. Diese Kritik ist das Ergebnis einer fleißigen Lektüre Heideggers und Nietzsches, die oft von »Nihilismus« gesprochen hatten, was bei Gadamer wahrhaftig nicht der Fall war. Nihilismus bedeutet hier, dass man nichts über das Sein sagen kann, da jegliche Wahrheit von der Interpretation, der Tradition und der Sprache abhänge. Eine konsequente Hermeneutik müsste nach Vattimo zu einer nihilistischen Ontologie führen: Das Sein an sich ist nichts, da es sich vollends auf unsere Sprache und unsere Interpretationen zurückführen lasse. Diese These setzt sich natürlich dem Einwand aus, selbst nur eine Interpretation zu sein. Wie lässt sie sich rechtfertigen? Das ist nur möglich, meint Vattimo, wenn man erkennt, dass sich die Hermeneutik selbst als eine Antwort auf das Ereignis der Seins geschichte versteht, die mit Heidegger und Nietzsche in der Heraufkunft des Nihilismus gipfeln würde. Das läuft darauf hinaus, im »Nihilismus« eine »nicht enden wollende Abschwächung des Diskurses über das Sein«8 zu sehen, das die Geschichte unserer Modeme charakterisiert hat und das die Rechtmäßigkeit der Hermeneutik als universeller Koine begründete. Wenn Hermeneutik schlüssig sein will, »kann sie sich nur als die überzeugendmöglichste philosophische Interpretation einer Situation, einer >Epoche< und folglich notwendig einer Herkunft darstellen«. Indem die Hermeneutik sich als das konsequente Ergebnis einer bestimmten Geschichte und Herkunft darstellt, kann sie ihren eigenen Anspruch auf Universalität rechtfertigen. Dass es sich dabei um eine »abgeschwächte« (weil vergeschichtlichte) Universalität handelt, ist ganz im Sinne des »schwachen Denkens«, das Vattimo als kennzeichnend fiir unsere postmoderne Epoche ansieht, die auf »rigide« und somit »gewaltige« Seinsbestimmungen verzichte. Diese Ära »gewalti-
7
G. Vattimo, Die nihilistische Bestimmung der Hermeneutik, in: G. Vattimo,
Jenseits der Interpretation. Die Bedeutung der Hermeneutik für die Philosophie, Frankfurt am Main 1997, S. 21. 8 Ebd.
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ger« Seinsbestimmungen sei die.der Metaphysik, die die Hermeneutik völlig hinter sich lasse. Gadamers Spruch »Sein, das verstanden werden kann, ist Sprache« muss also nach Vattimo in einem radikal nihilistischen Sinn verstanden werden, wie das bei Rorty der Sache nach (wenn man so sagen darf) bereits der Fall war. Dieser Satz, meint Vattimo, »hat nicht nur den banalen Sinn, das Feld des Verstehens mit dieser Art von Sein, die sich als Sprache darstellt, zu identifizieren«. Anstelle dieser zu zaghaften Lesart schlägt Vattimo »eine radikale ontologische Lesart« vor, die der schlichten Identifikation von Sein und Sprache (mit all ihrer Geschichtlichkeit), eine These, die Gadamer nicht bis zu Ende gedacht habe, die aber die letzte Konsequenz seines »nachmetaphysischen« Denkens sei. 9 In dieser Sicht der Dinge wird das Sein jeweils von der Sprache und der Perspektive festgenommen und ist nichts außerdem. Diese Lesart mag sich als »postmodern« empfehlen, sie stimmt jedoch völlig mit dem Geist der Modeme überein, der jeden Sinn auf eine Subjektivität zurückführt, bis auf den Unterschied, dass sich diese Subjektivität nunmehr historisch weiß und als Spiel der Sprache entfaltet. Die Hermeneutik und die Ontologie gingen aber bei Gadamer in eine entgegengesetzte Richtung: Nicht das Sein wird von der Sprache festgenommen, sondern unsere Sprache ist es, die vom Sein ergriffen wird, da ja die Sprache zunächst das »Licht« des Seins selbst ist. Von einer Überwindung der Metaphysik war bei ihm auch nicht die Rede. Gadamer berief sich vielmehr auf die Seinsmetaphysik des Mittelalters, die die allgemeinen Seinsbestimmungen als Prädikate des Seins und nicht des Denkens verstand, um an die »Seins gebundenheit des Denkens« zu erinnern. 10
9 G. Vattimo, Histoire d'une virgu1e. Gadamer et 1e sens de 1'etre, Revue internationale de philosophie, n° 213 (2000), S. 502 und 505. 10 Gesammelte Werke, Band 1, S. 462. Vgl. dazu meine Arbeit über »Gadamer und die Metaphysik«, in: Archiv for Begriffsgeschichte 52 (2009).
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Um den Unterschied zwischen der Hermeneutik Vattimos und der seines Lehrers Gadamer besser zu verstehen, kann es nützlich sein, die Aufmerksamkeit auf die besondere Rolle zu richten, die Autoren wie Nietzsche und Heidegger für die postmodernen Erben Gadamers spielen konnten, für Vattimo ebenso wie für Rorty (aber auch für Derrida). Der für sie einschlägige Nietzsche ist derjenige, der behauptet, dass es keine Fakten, sondern nur Interpretationen gebe, der also den klassischen Wahrheitsbegriff in Frage stellt (um den Preis freilich eines Selbstwiderspruches, sofern diese These wahr sein will, aber darum scheren sich die postmodernen Denker nicht allzu sehr). Ihre Heidegger-Auffassung ergibt sich vor allem aus der Einsicht seiner späteren Philosophie, wonach unser Verstehen restlos durch den umfassenden Rahmen der Seins-Geschichte, gedacht als Heraufkunft des Nihilismus, bestimmt ist. Die postmodernen Autoren haben spontan diese nietzscheanische und heideggersche Sichtweise mit Gadamer assoziiert, speziell mit seiner Kritik am Objektivismus in den Geisteswissenschaften und seiner Hervorhebung der Vorurteile und des sprachlichen Charakters unseres Verstehens. Indem sie diese Aspekte des gadamerschen Denkens hervorkehrten, glaubten sie, die Hermeneutik führe zur Verabschiedung des klassischen Wahrheitsbegriffs (adaequatio rei et intellectus). Nietzsches Perspektivismus, Heideggers Seins-Geschichte und Gadamers Sprachdenken wurden also miteinander verschmolzen. Diese Horizontverschmelzung ließ sie allerdings die betont ontologische Reichweite der Hermeneutik aus den Augen verlieren. Übersehen wurde fernerhin, dass Gadamer - im Gegensatz zu Nietzsche - den Wahrheitsbegriff mitnichten verabschieden wollte. Nietzsche ist wahrhaftig kein Mitstreiter für Gadamer. Er ist vielmehr derjenige, der den Nominalismus modernen Denkens auf die Spitze treibt, indem er das Sein auf seinen Wert für das Wollen zurückführt, so dass selbst die Sprache als eine perspektivische Zurechtlegung der Wirklichkeit ausgemalt werden kann. In einem solchen Zusammenhang, in dem alles vom Subjekt oder vom Willen abhängt, leuchtet es ein, dass es weder
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objektive Wahrheit noch zwingende Werte geben kann. Aber diese Abwesenheit von Wert und Wahrheit ist nur stichhaltig, beobachtet Gadamer, wenn man innerhalb des nominalistischen Rahmens modemen Denkens bleibt, in dem der Welt ohne die Sinn spendende Subjektivität weder Bedeutung noch Ordnung zukommt. Nun ist es aber genau diese Idee eines souveränen, alles bestimmenden Subjekts - das einer formlosen Welt, die man für sinnentleert hält, gegenübergestellt ist -, welche die Hermeneutik in Frage zu stellen erlaubt. So hilft uns die Hermeneutik, den Seinsbezug des Verstehens neu zu entdecken und die Ausgangssituation des Nihilismus zu überwinden. Das ist jedenfalls die entscheidende Leistung, die ich ihr nach den Denkansätzen Nietzsches und Heideggers attestieren würde. II
11 Vgl. J. Grondin, »Vattimo's Latinization of Hermeneutics. Why Did Gadamer Resist Postmodernism?«, in: S. Zaba1a (Hg.), Weakening Philosophy. Essays in Honor ofGianni Vattimo, MontreallKingston, 2007, S. 203-216.
Schlussfolgerung
Die Gesichter der hermeneutischen Universalität Wenn die Hermeneutik die Koine unserer Zeit darstellt, so bietet sie doch ein kontrastreicheres Aussehen, als man oft glaubt. In ihrer Eigenschaft als Philosophie behauptet die Hermeneutik, auf eine universelle Komponente unserer Welterfahrung hinzuweisen, aber diese Universalität lässt sich ganz unterschiedlich verstehen und verteidigen. Das erweist sich, wenn man vom allgemeinsten Spruch ausgeht, der diese Universalität ausdrückt: »Alles ist Interpretationssache.« Die verschiedenen Gewichtungen, die diese Formel zutage fördert, kann man mit den großen Vertretern der Hermeneutik assoziieren, aber auch mit einigen sozusagen »anonymen Hermeneutikern«, die eine ähnliche These vertreten haben, ohne sich allerdings auf die hermeneutische Tradition zu berufen. Man wird sehen, dass jede dieser Interpretationen verschiedene und zuweilen entgegengesetzte Auswirkungen auf die Wahrheitskonzeption hat, auf die die Hermeneutik aus ist: l. Die Formel »Alles ist Interpretationssache« kann zunächst in nietzscheanischem Sinn gelesen werden, im Sinne eines Perspektivismus des Willens zur Macht - einer Idee, die sicherlich die Sophisten aus der Zeit Platons vorweggenommen hatten: »Es gibt keine Tatsachen, es gibt nur Interpretationen.« In einem solchen Zusammenhang gibt es wirklich keine Wahrheit im Sinne einer Übereinstimmung mit der Sache, sei doch Wahrheit, wie Nietzsche bissig hinzufugt, nur »diejenige Art von Irrtum, ohne die eine bestimmte Art von Lebewesen nicht leben kann«. Was man fur Wahrheit hält, sei nur eine Perspektive unter anderen, die durch einen Willen zur Macht heimlich diktiert sei, der
Schlussfolgerung
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sich durchzusetzen versuche. Abgesehen vom offenkundigen Selbstwiderspruch dieser These, die wahr sein will und im selben Atemzug jede Wahrheit als eine Art Irrtum ansieht, besteht die größte Schwierigkeit dieser perspektivistischen Theorie darin, dass wir wirklich einen nachweisbaren (weil korrekturfähigen) Zugang zur Wirklichkeit haben, so dass es tatsächlich Wahrheiten' Irrtümer und Verirrungen gibt, die sich voneinander kritisch unterscheiden lassen. Es ist eine Tatsache und keine Interpretationssache zu sagen, dass Paris (und nicht Marseille) die Hauptstadt Frankreichs ist, dass ein Wassermolekül sich aus einem Atom Sauerstoff und zwei (nicht drei) Atomen Wasserstoff zusammensetzt und dass ich niemals auf dem Pluto war. 2. Der hermeneutische Perspektivismus kann in einem engeren epistemologischeren Sinn verstanden werden: Diese These besagt dann, dass es keine Erkenntnis der Welt ohne vorheriges Schema, ohne Interpretationsmuster (nach der These von Thomas Kuhn in Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, 1962) gibU Nach Kuhn arbeitet jede Wissenschaft auf der Grundlage allgemeiner »Paradigmen«, d.h. Welt- und Wertvorstellungen, die einen Rahmen von Einsehbarkeit und Stimmigkeit abstecken, innerhalb dessen sich Wahrheit und Falschheit unterscheiden lassen. Aber dieser Rahmen ist selbst veränderlich und Gegenstand wissenschaftlicher Revolutionen, die die gewonnenen Parameter umwerfen können. So gelingt es einem Paradigma, das nächste zu entthronen. Wahrheit bleibt hier erreichbar, hängt aber von einem gegebenen Paradigma ab (die Frage der Wahrheit der Paradigmen selbst bleibt in der Epistemologie bis heute umstritten). 3. Die These »alles ist Interpretation« kann allgemeiner einen historischen Sinn annehmen: Jede Interpretation ist Tochter ihrer Zeit. Diese Sicht entspricht dem, was man Historismus nennen kann. Er ist es, den die klassische und methodologische 1 1962 wusste Kuhn (1922-1996) noch nichts von der henneneutischen Tradition; aber in seinem letzten Buch, The Essential Tension: Selected Studies in Scientific Tradition and Change, 1977, erwähnt er sie kurz und zustimmend.
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Schlussfolgerung
Hermeneutik (Dilthey) besonders oft zu zügeln versuchte, den aber der postmoderne Relativismus häufig wie eine Befreiung begrüßt: Die unentrinnbare Geschichtlichkeit der Wahrheit würde uns von der Wahrheitsauffassung als Angemessenheit oder adaequatio befreien. In' der begrenzteren Perspektive des Historismus bleibt indessen Wahrheit möglich, aber ein Phänomen in Wahrheit zu interpretieren heißt, dass man es von seinem Kontext aus versteht. Eine kontextunabhängige Wahrheit scheint ausgeschlossen. 4. Der Spruch lässt sich ferner auf ideologischere Weise zuspitzen: Er bedeutet dann, jede Weltvorstellung werde durch mehr oder weniger eingestandene Interessen geleitet. Hier wird man an Marx, Freud, an die Ideologiekritik und an all jene denken, die Ricreur die Meister des Verdachts nennt. Dieser Verdacht lässt eine sog. »Tiefenhermeneutik« (Habermas) entstehen, die ihrerseits einen starken Wahrheits anspruch erhebt, der allerdings etwas ideal, wenn nicht eschatologisch bleibt. Nicht nur bleibt die Wahrheit Vorrecht des Theoretikers (der eingeweiht ist in die letzte Wahrheit der Phänomene); dieser wird auch sein »Objekt« (die Gesellschaft) nur in dem Maße voll erkennen, in dem es sich von den Ideologien befreit, die gegenwärtig sein Bewusstsein entstellen. Diese ideale Wahrheit antizipiert jedoch der Theoretiker, wenn er den bestehenden Zustand einer Gesellschaft oder eines Bewusstseins als entstellt oder verzerrt kritisiert. Dies sind ganz aktuelle und höchst relevante Formen der hermeneutischen Ubiquität, aber die Hauptrepräsentanten der hermeneutischen Tradition haben in der Regel gezieltere Konzeptionen dieser Universalität vertreten: 5. Für Heidegger enthält die Universalität der Hermeneutik vor allem einen existenzialistischen Sinn: Da der Mensch für sich selbst eine Frage ist, ist er geradezu ein zur Interpretation bestimmtes Wesen. Er hat Interpretationen nötig und lebt von jeher mitten unter Interpretationen, die er aber nichtsdestoweniger erhellen kann. Diese augustinisch anmutende Dramatisierung der Hermeneutik macht aus ihr eine universelle Philo-
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sophie der menschlichen »Faktizität«, die darauf abzielt, die menschliche Existenz aus der Selbstvergessenheit, in der sie sich so gern verbirgt, herauszuholen. Hier bleibt der Wahrheitsbezug im Sinne der Angemessenheit sicherlich erhalten. Heidegger unterstreicht ja, dass es die erste Aufgabe der Auslegung sei, ihre Verstehensvorgriffe »aus den Sachen selbst zu sichern«2 (nichts anderes meinte seit jeher die Adaequatio-Wahrheit!). Das heißt aber für Heidegger, dass es möglich ist, Projekte zu entwerfen, die dem entsprechen, was menschliches Dasein sein kann, wenn es sich eigentlich und entschieden als das sterbliche Seinkönnen übernimmt, das es von Hause aus ist. Den »uneigentlichen«, sprich unangemessenen Daseinskonzeptionen (denen der Metaphysiktradition vor allem) wird der Kampf angesagt, weil sie die Augen schließen vor dem, was das Dasein faktisch ist und sein kann. So werden die »uneigentlichen« Interpretationen - d.h. diejenigen, die insofern unangemessen sind, als sie die Existenz von ihrer Endlichkeit entfernen - destruiert, aber dies geschieht am Maßstab eines starken Eigentlichkeitsideals. So mag es dem jeweiligen Dasein überlassen bleiben, wie und ob es es erfüllt. 6. Für einen Autor wie Gadamer, ebenso wie für viele andere, muss hingegen die Universalität der Henneneutik besonders im Sinne einer Universalität der Sprachlichkeit begriffen werden. Jede Interpretation, jeder Weltbezug setzt das sprachliche Medium voraus, da Vollzug und Gegenstand des Verstehens notwendig sprachlich sind. Auch in diesem Universum ist die Wahrheit als Angemessenheit möglich, aber es handelt sich immer um eine Angemessenheit in Bezug auf die Sprache der Dinge selbst. So bleibt es möglich, unsere Interpretationen zu überprüfen, indem man sie mit dem konfrontiert, was die Dinge selbst sagen, nämlich mit ihrer Sprache. Diese Art zu sprechen ist weniger befremdlich, als sie sich anhört. Wenn man sagen kann, dass der Satz »Die Sonne dreht sich um die Erde« falsch ist, so liegt das daran, dass er dem, was die Wirklichkeit selbst »sagt«, ihrer Offensichtlichkeit (evidence), zuwiderläuft. FolgM. Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen, 14. Aufl. 1977, S. 153.
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lich lässt sich eine wissenschaftliche oder philologische Konzeption oder ein Vorgriff immer durch ein angemesseneres Verstehen widerlegen, das an die Sprache der Wirklichkeit selbst appelliert, an die Offensichtlichkeit der Dinge, mag diese auch nur vermöge der Spraclle sichtbar werden. Diese Sprache ist für Gadamer zunächst die der Dinge selbst, und erst in einem zweiten Schritt die unseres Geistes (der sie eher von den Dingen her erhält). Diese Auffassung von der Universalität der Sprache ist freilich nicht die einzige in der Hermeneutik vertretene. 7. Die wohl verbreitetste Auffassung ist die postmoderne (und im vorliegenden Fall sehr modeme) Lesart, die in der Sprache eher eine nicht hintergehbare »Formung« und Vorgestaltung der »Wirklichkeit« sieht, eine Schematisierung, die die Idee einer Realität, der unsere Interpretationen entsprechen könnten, für hinfällig ausgibt (da die Realität zuallererst durch unsere Interpretationen »konstruiert« oder gebildet sei - welch ein Anspruch!). Diese postmoderne These bemächtigt sich gern der perspektivistischen, kognitiven, historischen, ideologischen, existenzialistischen und sprachlichen Bedeutungen, die wir unterscheiden können, und zwar jedes Mal, um die für chimärisch erachtete Idee einer Entsprechung der Wirklichkeit in Frage zu stellen. Diese Hermeneutik kann man in der Tat oft mit dem Perspektivismus des Machtwillens, von dem oben (1) die Rede war, assoziieren. Aber der postmoderne Ansatz zeichnet sich eher dadurch aus, dass er die Sinnerfahrung durch einen mehr oder weniger starren, aber alles bestimmenden Interpretationsrahmen vorgeprägt sein lässt, der mal aus der Geschichte der »Metaphysik« (Derrida, Vattimo) herrührt, mal aus der für eine bestimmte Epoche charakteristischen Episteme (Foucault), oder aus dem Rahmen der Nützlichkeitserwägungen stammt, die unsere Kultur bestimmen (Rorty). Hier gibt es freilich keine Übereinstimmung mit der Wirklichkeit, es sei denn innerhalb des Kreises einer gegebenen Ordnung. Das soll und will aber eine positive Kehrseite haben: Die glückliche Tilgung jedes extralinguistischen Bezugs würde eine neue Toleranz gegenüber der Vielzahl von Interpretationen möglich machen. Diese herme-
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neutische Großzügigkeit, »Caritas« (etwa nach dem Motto: »alles ist cool«) oder Aufgeschlossenheit mag an sich lobenswert sein, doch stellt sich die Auflösung des Wahrheitsbegriffs in einzigartiger Weise als verhängnisvoll für diese Hermeneutikauffassung heraus: Warum sollte diese Theorie wahrer sein als andere? Und: Warum sollte man auf das Weltverständnis einer Philosophie hören, die behauptet, man verstehe die Welt überhaupt nicht?
* Ich würde für meinen Teil eine anders gewichtete Auffassung der hermeneutischen Universalität vertreten, die mitnichten auf den klassischen Wahrheitsbegriff (als adaequatio) und auch nicht auf den Seinsbezug verzichten würde. Beide Renunziationen sind suizidär. Sie stammen ferner, wenn man denn von der Geschichte der Metaphysik sprechen will, von der Konzeption des Sinnes ab, die für einen wichtigen Zug des modemen Denkens charakteristisch ist, der in jedem Sinn- und Wahrheits anspruch eine Festsetzung der souveränen Subjektivität sieht, mag sie sich als das menschliche Bewusstsein oder als die »Sprachgemeinschaft« einer gegebenen Epoche verstehen. Die Welt wird dabei für an sich sinnentleert oder unerrreichbar (!) vorgestellt. Diese Konzeption übersieht, dass wir immer schon einen Sinn verstehen, der sich nicht auf unsere Konstruktionen zurückführen lässt, zumal sich diese von den Dingen selbst dauernd widerlegen und zurechtstellen lassen. Den Irrtum und die Falschheit können wir als solche einsehen und daraus (hoffentlich) lernen. Der Kurzschluss dieser modemen und postmodernen Sinnkonzeption besteht nicht zuletzt darin, in der Sprache oder in den Kategorien unseres Verstandes eine Art Hindernis zu sehen, das uns eine Erkenntnis der Welt, wie sie nun mal ist, verwehrt. Die Sprache wird hier als Barriere gesehen. In einem ähnlichen Sinne hatte Kant vor zwei Jahrhunderten behauptet, dass die Verfassung unseres Geistes es uns verbiete, die Dinge an sich zu erken-
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nen. Wir würden lediglich die Sachen erkennen, wie sie sich uns darstellen, d.h. wie wir sie a priari hergestellt haben. Wir haben die Welt und die Natur a priari hervorgebracht? Ist das nicht ein zu hoch gesteckter Anspruch des menschlichen Verstandes? Das postmoderne Denken erblickt darin zu Recht eine Überschätzung unseres annen, zumal geschichtlichen Verstandes. Aber es übernimmt die ihr zugrundeliegende subjektivistische Sinnauffassung, wenn es die sinnkonstituierende Funktion auf die Sprache überträgt. Nunmehr ist es die Sprache, die uns eine Erkenntnis der Welt, wie sie ist, verbietet. Die Postmoderne entthront zwar das menschliche Subjekt, ersetzt es aber de facta durch die Sprache und die jeweils geschichtliche Sprachgemeinschaft einer Epoche. Die Welt wird nicht mehr durch das Subjekt, wohl aber durch die »Sprache« hergestellt und konstruiert. Ihre Vorschematisierung verbaut uns demnach eine Wirklichkeitserkenntnis. Ist dem wirklich so? Liegt es nicht viel näher, in der Sprache einen Zugang zur Wirklichkeit zu sehen? Die Sprache ist es, die uns die Welt erfahren lässt und an ihrer Sinnhaftigkeit teilhaben lässt. Es mag trivial klingen, es so zu sagen, aber die postmoderne Radikalisierung der Henneneutik zwingt dazu: Was wir über die Welt sagen und über sie erfahren, stimmt mit ihr überein - oder nicht (was wir jeweils einsehen und oft genug verifizieren können). Es ist eine wahre Welterfahrung und Welterkemltnis, die wir dank der Sprache (und vielleicht nicht nur dank ihrer) haben. . Das ist die letzte Konsequenz der Einsicht in die grundsätzliche Porosität der Sprache, die in Gadamers Henneneutik angelegt ist und die Habennas uns herauszustellen half: Sprache ist prinzipiell für alles offen, was sich sagen und erfahren lässt. Darin liegt ihre Universalität begründet. Selbst das, was sie übersteigt, lässt sich sprachlich umschreiben. Aber Sprache kann auch über ihre eigenen Verhärtungen hinaus gelangen und hinausblicken. Sie lässt sich endlos revidieren, nuancieren und differenzieren, je nachdem, ob und wie die Sachen es selbst verlangen. Eine Sprachgrenze oder -verhärtung besteht nur angesichts der Welt, die sich gegen sie behauptet und uns zur Differenzierung auffordert.
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Das Dogma, dem zufolge eine Wirklichkeitserkenntnis unmöglich ist, weil sie nur innerhalb der Sprache erfolgen müsste, verkennt die konstante Selbsttranszendierung der Sprache. In ihr geht es nicht um sie selbst und ihr eigenes, in sich geschlossenes Universum. Nein, es geht um das, was sie erfahren lässt, d.h. um das Sein und dessen Sinn, den wir gleichwohl nie ausschöpfen können. Wir sind nämlich selber Wesen, die im geradezu unüberwindlichen Element des Sinns und seiner Erwartung leben. Es ist ein Sinn, den wir uns immer zu verstehen bemühen und den wir dann notwendig voraussetzen. Aber dieser Sinn ist immer der Sinn der Dinge selbst, dessen, was sie sagen und besagen, ein Sinn, der mit Sicherheit über unsere ärmlichen Interpretationsversuche und den begrenzten Horizont unserer jeweiligen Sprachmöglichkeiten hinausgeht. Unsere Interpretations- und Sprachmöglichkeiten bleiben selbstverständlich begrenzt angesichts an dessen, was zu sagen und zu durchdringen ist, aber sie sind Gott sei dank stets erweiterungsfähig. 3
3 Diese Konzeption der Henneneutik habe ich in meinen Arbeiten in aller Bescheidenheit darzulegen versucht, zuerst wohl in meiner Einführung in die philosophische Hermeneutik (1991); hier wurde das Ziel der Interpretation von der Idee eines inneren Sinnes - eines unerschöpflichen verbum interius - verstanden, den wir anband seiner äußeren Manifestationen (dem stets tastenden »äußeren« Logos) zu interpretieren versuchen. In Du sens de la vie, Montreal, 2003 (Deutsch: Vom Sinn des Lebens, Göttingen 2006), wird die Idee entwickelt, dass der Sinn, den wir zu verstehen versuchen, zunächst der des Lebens selbst ist, den wir nicht erfinden und nach dem wir uns immer schon richten. Die postmodernen Henneneutiken haben recht, an die Endlichkeit unserer Verstehensbestrebungen zu erinnern, sie verspielen aber den ernüchternden Gewinn dieser Einsicht, wenn sie das Subjekt oder eine gegebene Sprachgemeinschaft als den einzigen Erfmder des Sinnes ausgeben und damit den selbstverständlichen Seinsbezug eines jeden Sprechens und Verstehens aus den Augen verlieren.
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Register
Aristoteles 14,33,47,133 Ast, F. 18,24 Augustin 10, 15-16,65, 126, 132 Barkhausen, C. 77 Betti,E.6,28,45,68-69,80,132 Blumenberg, H. 90 Bricmont, J. 7-8 Breidbach, O. 50, 132 Bultmann, R. 39, 45-49, 52, 55, 57, 60, 68, 80, 82, 132 Celan, P. 111 Cervantes 59 Cicero 15 Colli, G. 8, 134 Comte,A.25 Dannhauer, J.C. 13, 16 Derrida, J. 6-7, 80, 89, 97-114, 122, 128,132 Descartes, R. 58, 81 Dilthey, W. 10-11, 24-31, 33, 37, 41, 43-44,46,49,51-53,63,68, 80, 82,85,88,90,126,132-133 Droysen, J.G. 26 Fiasse, G. 12, 80, 133 Fichte, J.G. 17 Flacius, M. 16 Forget, P. 101, 106, 133 Foucault, M. 128 Frank, M. 18, 134 Freud, S. 80,86, 126, 134 Gadamer, H.-G. 5-6, 8-9, ll-i2, 1819, 21, 29, 39-40, 42-43, 45-47,
49-80, 82-84, 87-89, 91-93, 95, 97-98, 100-123, 127-128, 130, 132-134 Gebauer, M. 116 Grondin, J. 18,49,87, 123, 132 Habermas, J. 6, 70-80, 84, 88, 93, 126, 130, 133 Hegel, G.w.F. 17,25,59,81,97,109 Heidegger, M. 7, ll, 13, 18, 29-46, 49-52,56-58,60,65,68-69,8083, 87, 95, 97-106, 114, 120, 122-123, 126-127, 133 Hirsch, E.D. 28 Hofer, M. 49, 134 Hübner, K. 8 Husserl, E. 31, 81, 83-84 Iser, W. 91 Jaspers, K. 81 Jauß, H. R. 91, 134 Kant,1. 22, 25-26, 67,129 Kierkegaard, S. 32 Kimmerle, H. 19,134 Krämer, H. 63,134 Kuhn, Th. 115, 125 Kühne-Bertram, G. 43, 133 Lacan, J. 7 Leibniz, G.w. 95 Levinas, E. 99, 110 Marcel, G. 80-81 Marx,K. 77,86, 126 Melanchthon, Ph. 10,16
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Register
Michelfelder, D. 101 Mill, J.S. 25 Misch, G. 27, 30,133-134 Montinari, M. 8, 134 Nabert, J. 81-82 Nietzsche, F. 8, 11, 28-30, 86, 97, 100-101,103-106, 120, 122-124, 134 Origines 15 Orsi, G. 50, 132
Ricceur, P. 6, 8-9, 11-12, 39,45-46, 48-49, 75, 79-96, 99-100, 114, 126, 133-134 Rodi, F. 43, 133 Rorty,R.6, 114-123, 128, 134 Schelling, F.W.J. 17,24 Schlegel, F. 17 Schleiermacher, F.D.E. 5, 10-11, 1626,44,63,68,80,106,134 Sokal, A. 7-8 Vattimo, G. 6, 8,45,114-123,128,134
Phiion von Alexandria 15 Palmer, R. 101 Platon 15, 17,47,60,65,97,124 Quine, W.V. 115 Quintilian 9
Wischke, M. 49, 134 Wittgenstein, L. 72 Wolf, F.A. 18 Zabala, S. 123, 134