JEAN GRONDlN
EINFÜHRUNG IN DIE PHILOSOPHISCHE HERMENEUTIK
WISSENSCHAFTLICHE BUCHGESELLSCHAFT
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JEAN GRONDlN
EINFÜHRUNG IN DIE PHILOSOPHISCHE HERMENEUTIK
WISSENSCHAFTLICHE BUCHGESELLSCHAFT
JEAN GRONDIN EINFÜHRUNG IN DIE PHILOSOPHISCHE HERMENEUTIK
Einbandgestaltung: Neil McBeath, Stuttgart.
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Ein Titeldatensatz für diese Publikation ist bei Der Deutschen Bibliothek erhältlich.
Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme. 2., überarbeitete Auflage © 2001 by Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier Printed in Germany Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-darmstadt.de
ISBN 3-534-15076-7
Für Paul-Matthieu und Emmanuel
INHALT "Vorwörtliches
CC
Einleitung . . . Anmerkungen 1. Zur Vorgeschichte des Hermeneutischen 1. Sprachliche Vorverständigung .. . . 2. Zum Wortfeld um EQl-lllVEUELV . . . . 3. Motive der allegorischen Mythendeutung 4. Philo: Die Universalität des Allegorischen 5. Origenes: Die Universalität des Typologischen 6. Augustin: Die Universalität des inneren Logos 7. Luther: sola scriptura? . . . . . . . . . . . . . 8. Melanchthon: Die Universalität des Rhetorischen 9. Flacius: Die Universalität des Grammatischen Anmerkungen 11. Hermeneutik zwischen Grammatik und Kritik 1. Dannhauer: Hermeneutische und sachliche Wahrheit. 2. Chladenius: Die Universalität des Pädagogischen 3. Meier: Die Universalität des Zeichenhaften 4. Pietismus: Die Universalität des Affektiven Anmerkungen IH. Die romantische Hermeneutik und Schleiermacher 1. Der nachkantische Übergang von der Aufklärung zur Romantik: Ast und Schlegel . . . . . . . . . . . . . . . 2. Schleiermachers Universalisierung des MißverständnIsses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 3. Psychologistische Einschränkung der Hermeneutik? 4. Der dialektische Boden der Hermeneutik Anmerkungen IV. Einstieg in die Probleme des Historismus 1. Boeckh und das Aufdämmern der geschichtlichen Bewußtheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
9 13 29 33 33 36 40
43 46 50 59 62 65 68 75 77 80
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Inhalt
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2. Droysens Universalhistorik: Verstehen als Erforschung der sittlichen Welt . . . . . . . . 3. Diltheys Weg zur Hermeneutik Anmerkungen . . . . . . . . . . . V. Heidegger: Hermeneutik als Selbstaufklärung der Existenzialen Ausgelegtheit . . . . . . . . . . . . 1. Das sorgende Voraus des Verstehens 2. Dessen Durchsichtigkeit in der Auslegung 3. Die Idee einer philosophischen Hermeneutik der Faktizität . . . . . . . . . . . . . . . 4. Abkünftiger Status der Aussage? 5. Die Hermeneutik aus der Kehre Anmerkungen VI. Gadamers Universalhermeneutik . . . . . . . . . . . 1. Zurück zu den Geisteswissenschaften . . . . . . . 2. Hermeneutische Selbstaufhebung des Historismus 3. Wirkungsgeschichte als Prinzip 4. Anwendendes weil fragendes Verstehen 5. Sprache aus dem Gespräch . . . . . . . 6. Die Universalität des hermeneutischen Universums Anmerkungen
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133 134 138 140 142 144 148 152 152 156 159 161 164 167 170
VII. Die Hermeneutik im Gespräch . . . . . . . . . . . . . . . 1. Bettis epistemologischer Rückgang zum inneren Geist 2. Habermas' Kritik der Verständigung im Namen der Verständigung . . . . . . . . . 3. Postmoderne Dekonstruktion Anmerkungen . . . . . . . . . .
173 174
Schlußwort Anmerkungen
195 199
Personenregister
201
178 186 190
"VORWÖRTLICHES" Spätestens in einem Vorwort darf ein Verfasser von sich oder seinem Verhältnis zum Verfaßten sprechen. Abseits vom eigentlichen Text kann damit der rein zufällige Anstoß, der ihn motivierte, deutlichet hervortreten. Als ich im Spätherbst 1988 an dieser Einführung arbeitete, geriet ich in einige Schwierigkeiten bei der begrifflichen Fassung des hermeneutischen Universalitätsanspruchs. So vieles schien darunter verstanden und kritisiert worden zu sein, daß ich nicht mehr durchblickte. Gemäß Wittgensteins Diktum: "ein philosophisches Problem hat die Form: ich kenne mich nicht aus", tröstete ich mich zunächst damit, daß meine Situation etwas Philosophisches hatte. Etwas später traf ich Hans-Georg Gadamer in einem Heidelberger Lokal, um u. a. die Sache mit ihm zu besprechen. Formelhaft und ungeschickt fragte ich ihn, worin denn der universale Aspekt der Hermeneutik genauer bestehe. Nach all dem, was ich gelesen hatte, war ich auf eine lange und etwas vage Antwort gefaßt. Er überlegte sich die Sache und antwortete, kurz und bündig: "Im verbum interius." Ich rieb mir die Augen. Das steht doch nirgends in >Wahrheit und Methode Wahrheit und Methode< sowie dessen in der Heidelberger Universitätsbibliothek aufbewahrte U rfassung durchlas. Da ging mir auf, daß sich in der Tat der Universalitätsanspruch der Hermeneutik nur aus der Lehre vom verbum interius angemessen nachvollziehen läßt, jener von einem durch Heidegger hindurch gelesenen Augustin herstammenden Einsicht, daß die gesprochene Rede stets hinter dem Auszusagenden, dem inneren Wort zurückbleibt und daß man ein Gesprochenes nur verstehen kann, wenn man die hinter ihm lauernde innere Sprache nachvollzieht. Das klingt altmodisch und sehr metaphysisch: neben der Sprache gäbe es die hintere oder die innere Welt des verbum interius. Wie wir aber sehen werden, ist diese Einsicht allein imstande, den metaphysischen und logischen Vorrang der Aussage zu erschüttern. Nach der klassischen Logik, von der die Substanzmetaphysik zehrt, steht alles in der propositionalen Aussage. Das Ausgesagte ist selbstsuffizient und ist auf seine innere Schlüssigkeit hin zu prüfen. Für die Hermeneutik hingegen ist die Aussage, um es in der überzogenen Sprache von >Sein und Zeit< auszudrücken, etwas Sekundäres, Abkünftiges. Das Festhalten an der Aussage und ihrer Verfügbarkeit verbirgt das Ringen um Sprache, das das verbum interius, das hermeneutische Wort, ausmacht. Unter dem inneren Wort, dies sei ein für allemal klargestellt, ist aber keine private oder psychologische Hinterwelt, die bereits vor dem sprachlichen Ausdruck feststünde, gemeint. Es ist dasjenige, was danach strebt, sich in der ausgesprochenen Sprache zu äußern. Die geäußerste Sprache ist das Depositum eines Ringens, das als solches zu hören ist. Es gibt keine" vorsprachliehe" Welt, sondern nur eine auf Sprache ausgerichtete Welt, die das Auszusprechende zum Wort zu bringen versucht, ohne daß es ihr ganz gelänge. Diese hermeneutische Dimension der Sprache ist die einzig universale. Diese Einführung ist der Versuch, die philosophische Hermeneutik von diesem Gesichtspunkt aus darzustellen. Der Hinweis auf das Gespräch mit Gadamer hat nicht die überhebliche Funktion, unsere Deutung als die "authentische" Sicht Gadamers auszuzeichnen. Solche Hinweise sind höchst problematisch, und so haben wir lange ge-
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zögert, im hiesigen Zusammenhang darauf hinzu-weisen. Uns hat in dieser Hinsicht schließlich das Beispiel von Walter Schulz ermuntert, der selber auf Unterredungen mit Heidegger ver-wies, -weil sie zur Ausrichtung seiner Heidegger-Auslegung wesentlich beigetragen haben.! So mag es uns mit Gadamer ergangen sein. Es versteht sich aber, daß die auf diese Weise angeregte Interpretationsrichtung auf eigene Kosten und Risiken erfolgen muß. Unser spezifisches Anliegen wird es also sein, unabhängig von Gadamer, somit in eigener Verantwortung und nach dem jetzigen Stand des philosophischen Gesprächs eine Einführung in die philosophischen Dimensionen (folglich unter Absehung ihrer einzel-wissenschaftlichen Anwendungen, etwa in der Philologie, der Theologie, der Historie und der Sozialwissenschaften) der Hermeneutik zu vermitteln, die ihre geschichtliche Problemlage so getreu wie möglich - also anhand ihrer heute selten gelesenen Zeugnisse - nach diesem Gesichtspunkt des verbum interius zu rekonstruieren versucht. Uns obliegt es freilich, zu zeigen, daß dieser Blickpunkt tatsächlich zentral ist. Der Alexander-von-Humboldt-Stiftung so-wie dem Conseil de recherches en sciences humaines du Canada ist diese von ihnen geförderte Arbeit zu großem Dank verpflichtet. Begegnungen mit Kollegen haben ferner den vorliegenden Untersuchungen entscheidende Anstöße gegeben. Sehr herzlich danke ich dafür Ernst Behler, Otto Friedrich Bollnow, Luc Brisson, Rüdiger Bubner, Hans-Georg Gadamer (der den Fingerzeig auf unser Gespräch gestattete), Hans-Ulrich Lessing, Manfred Riedel, Frithjof Rodi, Josef Simon und Alberto Viciano. Ich ergreife die Gelegenheit, um diesen Dank durch den Ausdruck der Bewunderung, die ich seit langem für ihre philosophische Arbeit hege, zu vervollständigen. Philosophie mag sich noch so kritisch und argumentativ ausnehmen, ohne ituUf.-tat;€LV vor dem, -was sie zum Denken hintreibt, würde sie gar nicht anheben.
Anmerkung 1 Vgl. W. Schulz, Die Aufhebung der Metaphysik in Heideggers Denken, in: Heideggers These vom Ende der Philosophie. Verhandlungen des Leidener Heidegger-Symposiums April 1984, Bann 1989, S. 33.
EINLEITUNG Unter Hermeneutik versteht man seit dem ersten Auftauchen des Wortes im 17.Jahrhundert die Wissenschaft bzw. die Kunst der Auslegung. Bis zum Ende des vorigen Jahrhunderts nahm sie gewöhnlich die Form einer Lehre an, die Regeln des kunstgemäßen Deutens anzugeben versprach. Ihre Absicht war vorwiegend normativer, ja technischer Art. Sie beschränkte sich darauf, den ausgesprochen interpretativen Wissenschaften methodische Anweisungen an die Hand zu geben, um der Willkür im Feld der Interpretation möglichst vorzubeugen. Sie fristete ein nach außen weitgehend unsichtbares Dasein als "Hilfsdisziplin" innerhalb der etablierten Wissenszweige, die es offenkundig mit der Interpretation von Texten oder Zeichen zu tun hatten. So bildeten sich seit der Renaissance eine theologische (hermeneutica sacra), eine philosophische (hermeneutica profana) sowie eine juristische Hermeneutik heraus. Die Idee einer Kunst der Auslegung reicht aber weiter zurück, sicherlich bis zur Patristik, wenn nicht schon bis zur stoischen Philosophie, die eine allegorische Mythendeutung entwickelte, und zur Rhapsodentradition bei den Griechen. Überall, wo halbwegs methodische Interpretationsanweisungen angeboten wurden, kann man im weiteren Sinne von Hermeneutik sprechen. Die philosophische Hermeneutik hingegen ist viel jüngeren Datums. Im engeren und gebräuchlichen Sinne bezeichnet sie die philosophische Position Hans-Georg Gadamers, gelegentlich auch die Paul Ricceurs. Gewiß, anspruchsvolle Formen der Hermeneutik hat es vorher gegeben, aber sie haben sich kaum als ausgearbeitete philosophische Konzeptionen ausgegeben. Selbst wenn sie einen entscheidenden Beitrag zur Entfaltung eines hermeneutischen Problembewußtseins in der Philosophie beigesteuert haben, haben weder Schleiermacher noch Droysen oder Dilthey - die Großväter der zeitgenössischen Hermeneutik - ihre Ansätze öffentlich und primär unter dem Titel einer philosophischen Hermeneutik zur Entfaltung gebracht. Auch wenn das philosophische Unternehmen eines Gadamer ohne Heidegger unmöglich gewesen wäre, konnte der späte Heidegger nicht umhin, festzustellen: "Die ,hermeneutische Philosophie' ist die Sache von Gadamer."! Seit Gadamer sind ferner, obwohl seine
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Philosophie zahlreiche Diskussionen, insbesondere mit der Ideologiekritik von Habermas und mit der Dekonstruktion von Derrida, auslöste, keine wirklich umstürzenden Neuansätze innerhalb der Hermeneutik zu verzeichnen. 2 Trotz des horizontbestimmenden Charakters ihrer Gadamerschen Gestalt empfiehlt es sich, im Rahmen der vorliegenden Einführung die philosophische Hermeneutik etwas weiter zu fassen. Schon ihre ausgesprochene Heideggersche Herkunft weist darauf hin, daß der Denkversuch Heideggers sehr wohl zum Umkreis der philosophisch motivierten Hermeneutik gehören muß. Gadamer empfing aus Heideggers Denken wegbestimmende Anstöße, sowohl aus dem Gedankenkreis seiner späten Philosophie der Kehre als auch aus den frühen, bis vor kurzem noch unpublizierten Vorlesungen. In seinem sehr bedeutenden Aufsatz über >Die Universalität des hermeneutischen Problems< (1966) - der ja die Debatte mit Habermas in Gang brachtenotierte Gadamer, daß er seine Perspektive "unter Anknüpfung an eine von Heidegger in seiner Frühzeit entwickelte Sprechweise" ,hermeneutisch' genannt habe. 3 Es ist inzwischen fraglich, ob man Heideggers "Hermeneutik" allein aus >Sein und Zeit< zureichend verstehen kann. Es wurde nicht zu Unrecht suggeriert, daß Gadamers Hermeneutik weit mehr von den früheren Vorlesungen als von >Sein und Zeit< angeregt worden sei, hatte doch Gadamer nach eigener Auskunft das Werk von 1927 als eine "schnelle Improvisation aus äußerem Anlaß", wenn nicht schon als "Abfall" angesehen. 4 Ohne in die Übertreibung einer herabsetzenden Einordnung des philosophischen Hauptwerkes von Heidegger zu fallen, könnte dies implizieren, daß eine angemessene Würdigung der philosophischen Hermeneutik Heideggers und ihrer Fortsetzung durch Gadamer erst jetzt versucht werden kann. Um diese neue Hermeneutik einzuordnen, muß freilich auf die ältere Tradition der (wenn man will: noch nicht philosophischen) Hermeneutik zurückgegriffen werden, zumal sich Gadamer ständig auf sie bezieht und profilierend von ihr absetzt. Die traditions reiche und -freudige Hermeneutik muß auch zum Teil aus ihrer eigenen Herkunft erschlossen werden. So werden in unserem Zusammenhang die klassischen Ansätze von Schleiermacher, Droysen und Dilthey, aber auch die oft unterschätzte Hermeneutik der Aufklärung, die anfänglichen Auslegungslehren innerhalb der frühprotestantischen Theologie und die hermeneutischen Pionierarbeiten der Patristik zur Sprache kommen. Indes soll es hier vermieden werden, die Geschichte der Hermeneutik als einen teleologischen Prozeß darzustellen, der
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sich, von der Antike ausgehend, über die Reformation und die Romantik erst in der philosophischen Hermeneutik vollendet habe. So wurde tatsächlich, angefangen mit Diltheys bahnbrechendem Aufsatz über >Die Entstehung der Hermeneutik< (1900), dann radikaler bei Gadamer und in den ihm folgenden Gesamtdarstellungen, die Geschichte der Hermeneutik (im Singular!) präsentiert. Etwa nach dem folgenden Muster: In der Antike und in der Patristik gab es zunächst nur bruchstückhafte hermeneutische Regeln, bis die Reformation Luthers die Entwicklung einer systematischen Hermeneutik hervorrief, die aber erst bei Schleiermacher als allgemeine Kunstlehre des Verstehens universal geworden sei; Dilthey habe dann diese Hermeneutik zu einer allgemeinen Methodologie der Geisteswissenschaften ausgeweitet, und Heidegger habe alsdann die hermeneutische Fragestellung auf dem noch fundamentaleren Boden der menschlichen Faktizität angesiedelt; deren universale Hermeneutik in Gestalt einer Theorie der durchgängigen Geschichtlichkeit und Sprachlichkeit unserer Erfahrung sei schließlich erst von Gadamer ausgearbeitet worden. Von dieser universal verstandenen Hermeneutik aus seien endlich kritische Weiterführungen in der Ideologiekritik, der Theologie, den Literaturwissenschaften, der Wissenschaftstheorie und der praktischen Philosophie erfolgt. Dieser sich selbst quasiteleologisch verstehenden U niversalgeschichte der Hermeneutik wurde inzwischen, vor allem aus literaturwissenschaftlicher Sicht,S Skepsis entgegengebracht. Beanstandet wurde die von Dilthey und Gadamer initiierte, dann von den kompendienartigen Gesamtdarstellungen nachgesprochene Vorstellung einer Geschichte »der" Hermeneutik, die sich »in mehreren teleologisch aufeinander bezogenen Stufen oder Phasen" vollzogen haben sol1. 6 Wahr an der klassischen Selbstdarstellung der Hermeneutik ist die Idee, daß die frühere Hermeneutik eher einer technischen Kunstlehre ähnelte, die in der Regel viel weniger universal angelegt war, als es die heutige philosophische Hermeneutik sein möchte. Richtig an der Skepsis bezüglich der Hermeneutikgeschichte ist, daß beide Vorhaben wenig miteinander zu tun haben und daß sich diese Geschichte alles andere als teleologisch entfaltet hat. Die heutige Geschichte der Hermeneutik ist, wie wohl jede Geschichte, eine Geschichtsschreibung aus dem Nachher, also eine Konstruktion. Diese Geschichte hat sich weitgehend vollzogen, ohne um sich selbst zu wissen. Bis zum 17.Jahrhundert hatte sie noch keinen N~men. Was früher ars interpretandi hieß, wurde von Wissenschaftszweigen wie der Kritik, der Exegese oder der Philologie wiederaufge-
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nommen und fortgeführt. Auch in der Neuzeit hat sich die Hermeneutik nicht gradlinig auf ein teleologisches, philosophisches Ziel hin entwickelt. Auf Luther geht gewöhnlich das Verdienst einer Erfindung oder Wiederbelebung der Hermeneutik zurück. Dies ist auch die für Gaclamer bestimmende Sicht des protestantischen Dilthey sowie des Luther-Forschers Gerhard EbelingJ Gewiß mußte das Schriftprinzip der sola scriptura eine ausgearbeitete Hermeneutik auf den Plan rufen, aber sie wurde nicht von Luther konzipiert, der sich ohne spezifische hermeneutische Theorie mit exegetischen Arbeiten und Vorlesungen abgab, sondern von seinen Mitarbeitern Melanchthon und Flacius Illyricus, die wohl die erste neuzeitliche hermeneutische Theorie der Heiligen Schrift verfaßten. Sie galten bis zum späten 18.Jahrhundert als grundlegende Werke auf dem Gebiet der Exegese. Im 17.Jahrhundert wurde inzwischen die hermeneutica als allgemeine Auslegungskunst, also im Keim als Universalhermeneutik im Geist des Rationalismus, durch Autoren wie J. Dannhauer, G. F. Meier und J. M. Chladenius ausgearbeitet. 8 Diese allgemeinen Auslegungslehren sprengten den Rahmen der Spezialhermeneutiken, also der Kunstlehren, die spezifisch auf die Heilige Schrift oder auf die klassischen Autoren gemünzt waren. Es ist folglich unrichtig, Schleiermacher die Entwicklung der ersten, über die Spezialhermeneutiken hinausgehenden Kunst der Auslegung zuzusprechen. Die Einordnung der hermeneutischen Theorie Schleiermachers ist wiederum alles andere als univok. Dies liegt zunächst daran, daß der sich primär als Theologe verstehende Schleiermacher seine Hermeneutik nie selber zum Druck brachte. Seine einzige druckfertige hermeneutische Schrift >Über den Begriff der HermeneutikHermeneutik und Kritik< herausgab. Außerhalb des engen Rahmens der theologisch-philologischen Hermeneutik erfreuten sich aber die fragmentarischen Entwürfe Schleiermachers anfangs geringer Aufmerksamkeit. 9 August Boeckh wurde vor allem als Hörer seiner Vorlesungen von Schleiermachers Hermeneutik stark beeinflußt, die er seinen seit 1816 (also vor ihrer Veröffentlichung durch Lücke) gehaltenen Vorlesungen zur >Enzyklopädie und Methodenlehre der philologischen Wissenschaften< zugrunde legte, ohne sie selber, nahezu dem Schleiermacherschen Exempel folgend, zu publizieren. Erst 1877 wurden sie von Boeckhs Schüler Bratuscheck herausgegeben. lc Auf
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der Grundlage der Verstehenshermeneutik Schleiermachers wollte Boeckh eine Methodologie der philologischen Wissenschaften vorlegen. Dadurch verband er die Hermeneutik mit dem Bedürfnis nach einer Methodologie der nichtexakten Wissenschaften - ein Ansinnen, das Schleiermacher noch fernlag und das von Autoren wie Droysen und Dilthey fortgesetzt wurde. Droysen bemühte sich auch um eine Methodologie der Geschichte, die er ebenfalls nur in Vorlesungen vortrug, ohne sie ganz zu veröffentlichen. 1868 brachte er einen >Grundriß der Historik< zum Druck, dem allerdings breite Wirksamkeit beschieden wurde. Erst 1936 wurden aber die Vorlesungen zur >Historik< von Rudolf Hübner herausgegeben. Indessen: weder der >Grundriß< noch die >Historik< erwähnen ein einziges Mal den Namen Schleiermacher oder den Titel >HermeneutikDas hermeneutische System Schleiermachers in der Auseinandersetzung mit der älteren protestantischen HermeneutikKritik der historischen Vernunft< tragen sollte. Von ihr erschien auch nur der erste, überwiegend historische Teil im Jahre 1883 unter dem Titel >Einleitung in die GeisteswissenschaftenÜber erklärende und beschreibende PsychologieSein und Zeit< gelangte immerhin seine Konzeption mit massivem Widerhall zu ihrem ersten öffentlichen Ausdruck. Seine Einsichten über die ontologische Zirkelhaftigkeit und Vorstruktur des Verstehens wiesen seinen Ansatz als hermeneutischen Neubeginn aus. Nichtsdestoweniger blieb es angesichts der in >Sein und Zeit< spärlichen Angaben zu diesem Thema schwer, ein richtiges Verständnis dessen zu gewinnen, was Heidegger unter Hermeneutik (des Daseins) genau verstanden wissen wollte. In der Tat: Die systematische Definition und Ortsbestimmung der Hermeneutik als philosophischer Programmanzeige vollzog sich auf einer knappen halben Seite von >Sein und ZeitSein und Zeit
Wahrheit und Methode< weit mehr an die Faktizitätshermeneutik als an >Sein und Zeit< selbst anschließtY Die mit >Sein und Zeit< ansetzende Distanzierung vom Programm einer als Hermeneutik verstandenen Philosophie vollzog sich auf eine andere Weise beim späten Heidegger, der den Begriff der Hermeneutik so gut wie nicht mehr verwendete. Sein späteres, seins geschichtliches Denken wimmelte jedoch von hermeneutischen Einsichten, etwa um die metaphysische Abhängigkeit der bisherigen Philosophie und die Geschichte überhaupt, die sich aber weigerten, "hermeneutisch« genannt zu werden. In diesem Denken der Kehre erkannte aber Gadamer kühn und richtig nichts anderes als eine Rückkehr zu den früheren hermeneutischen Ideen seines Lehrers.1 8 Geschichtlich gesehen ist es das Verdienst Gadamers gewesen, die herm.eneutischen Einblicke der Kehre, von denen >Wahrheit und Me-
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thode< ausgeht, mit der hermeneutischen Fragestellung des frühen Heidegger in Verbindung gebracht zu haben.t 9 Damit dachte er, der klassischen Formel gemäß, mit Heidegger gegen Heidegger, nämlich gegen die scheinbare Verabschiedung des hermeneutischen Denkens, aber für die konsequente Durchführung des brachliegenden Programms einer Hermeneutik unserer geschichtlichen Faktizität. Gadamers Leistung wurde es, aus der Konzeption der Seins geschichte Konsequenzen für das Selbstverständnis des geschichtlich situierten Bewußtseins und die es ausdrückenden Geisteswissenschaften zu ziehen. Um die Entfaltung und die Aussichten dieser von Heidegger und der älteren Tradition her verstandenen Hermeneutik soll es in der vorliegenden Einführung gehen. Es ist immer schwer, sich im unübersichtlichen Feld des gegenwärtigen Philosophierens zu orientieren. Gerade deshalb muß es aber immer wieder versucht werden. Vor mehr als 30 Jahren ging K.-O. Apel davon aus, daß es drei Grundrichtungen der Philosophie gab: den Marxismus, die analytische Philosophie sowie das phänomenologisch-existentialistisch-hermeneutische Denken. 20 Von diesen drei "Schulen" hat sicherlich der philosophische Marxismus einiges an Aktualität eingebüßt. Das Erbe einer an Marx und Lukacs anschließenden kritischen Gesellschaftstheorie wird kaum noch als Marxismus oder als historischer Materialismus vertreten. In den sechziger Jahren, als Apel seine Dreiteilung vorschlug, noch ein unumgänglicher Bezugspunkt, ist die Berufung auf Marx in den für die kontinentale Philosophie tonangebenden deutschen und französischen Traditionen aus zeitgeschichtlichen Gründen, die uns hier nicht zu beschäftigen haben, suspekt geworden. Ein Autor wie Habermas, dem noch in den siebziger Jahren an einer Rekonstruktion des historischen Materialismus lag, zieht es heute beispielsweise vor, seine kritische Theorie, sieht man von ihren soziologischen Aspekten ab, mit Argumenten aus der Hermeneutik und der analytischen Sprachpragmatik auszuarbeiten. Auch K.-O. Apel trägt heute seine normative Theorie unter den Titeln einer Transzendentalhermeneutik oder Transzendentalpragmatik vor. In Wirklichkeit verbleiben nur noch die analytische sowie die phänomenologisch-existentialistisch-hermeneutische Tradition. Die dreistellige Charakteristik der letzteren ist im Sinne einer geschichtlichen Fortentwicklung zu begreifen. Erkannte sich zunächst die kontinentale Philosophie in der breit verstandenen Phänomenologie (Husserl, Scheler, Lipps, Heidegger und der Sache nach N. Hartmann), wurde sie in der unmittelbaren Nachkriegszeit eher unter dem Titel des Exi-
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stentialismus Gaspers, Heidegger, Merleau-Ponty, Sartre) vertreten, der sich jeweils als Konkretisierung des phänomenologischen Gesichtspunktes ausnahm. Mittlerweile in den Ruf, eine Mode gewesen zu sein, geraten, hat der Existentialismus der hermeneutischen Philosophie (abermals Heidegger, Gadamer und im weiten Sinne: Transzendentalhermeneutik bei Habermas und Apel sowie Postmodernismus) Platz gemacht. Unter Hermeneutik werden so verschiedene Ansätze zusammengefaßt wie die Gadamersche Philosophie selbst, die unter ihrem Einfluß zustandegekommene Rehabilitierung der praktischen Philosophie (H. Arendt, J. Ritter, M. Riedel' R. Bubner u. a.)21, die oft als "Neoaristotelismus« von sich reden machte,22 der geschichtlich relativierende Zug innerhalb der Wissenschaftstheorie (Kuhn, Feyerabend) und der Sprachphilosophie (Rorty, Davidson), aber auch der Nietzsche nahe Postmodernismus der neostrukturalistischen AvantgardeP All das gilt heutzutage als "hermeneutisches« Gedankengut. Wir werden in der vorliegenden Arbeit die hermeneutische Philosophie enger zu bestimmen und zu umgrenzen Veranlassung haben. Neben der kontinental-hermeneutischen herrscht die vor allem in den angelsächsischen Ländern vertretene analytische Philosophie. Diese durchlebt zur Zeit grundsätzliche Umwandlungen, die ihr eigenes Selbstverständnis angehen. In der Nachfolge des späten Wittgenstein und unter den Auspizien einer Reaktivierung ihrer älteren pragmatischen Tradition (Peirce, James, Dewey) durch Quine, Goodman, Rorty und Davidson hat sie sich allmählich von ihrem frühen Programm einer logischen Sprachkritik gelöst, um sich den allgemeinen Fragen etwa nach der Möglichkeit einer verbindlichen Wahrheit, eines verantwortlichen Handelns und Wissens angesichts der perspektivistischen Kulturrelativität zuzuwenden, die dem kontinentalen Philosophieren seit dem Historismus vertraut sind. Heute scheint die analytische Philosophie - ein Novum in ihrer Geschichte - für kein genau angebbares Programm zu stehen. Meist unter institutioneller Fortführung ihrer eigenen Tradition wurde sie vom geschichtlichen Bewußtsein ereilt, das sie vor dieselben Herausforderungen wie das kontinentale, transzendentalhermeneutische Denken stellt. Beide bewegen sich auf das Programm einer pragmatischen Philosophie der Endlichkeit zu, die ihre Chancen und Risiken abzuwägen hat. 50 konnte man von einer 5elbstauflösung des analytischen Lagers, jedenfalls von einer Konvergenz von analytischer und hermeneutischer Philosophie sprechen. 24 Mit solchen Konverßenzanzeichen läßt sich freilich noch keine
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spezifische philosophische Problematik identifizieren. Just desw-egen soll es sich hier darum handeln, eine besondere Form der hermeneutischen Philosophie herauszuarbeiten, die imstande sein könnte, den klassischen Universalitäts anspruch der Philosophie unter den heutigen Bedingungen, nämlich unter dem Zeichen eines sich geschichtlich erfahrenen Bew-ußtseins einzulösen. Nur so läßt sich von einem Beitrag der Hermeneutik zur heutigen Philosophie reden. Was ist aber unter Universalität zu erw-arten? Obwohl in aller Munde, kann nicht behauptet werden, daß der Begriff eines »Universalitätsanspruchs" (der Hermeneutik oder der Philosophie i. a.) sonnenklar sei. Weder der Gadamersche Anspruch auf Universalitätdenn bei ihm scheint sie sowohl für die Sprache, die Geschichtlichkeit als auch die eigene Philosophie zu gelten - noch die Habermassche oder Derridasche Bestreitung desselben haben hier letzte Klarheit geschaffen. Es lag nahe, zu vermuten, daß mit Universalität ein Anspruch auf die Allgemeingültigkeit der eigenen Aussagen beabsichtigt war. Dabei war es ein leichtes, die Hermeneutik in einen logischen oder pragmatischen Widerspruch zu verwickeln. Man hat den hermeneutischen Universalitätsanspruch so zu rekonstruieren versucht, daß er in der allgemeingültig sein wollenden These gipfeln mußte, alles sei geschichtlich bedingt. Sollte diese These allgemein gelten, so müßte sie folgerichtig für den eigenen Anspruch gelten, der sich folglich als geschichtlich begrenzt und nicht als universal gültig erweisen müsse. Der Universalitätsanspruch der Hermeneutik soll am Selbstwiderspruch ersticken. Diese Argumentationsstrategie muß den Eindruck erwecken, daß man dem geschichtlichen Bew-ußtsein dadurch entrinnen könnte, daß dessen Verallgemeinerung einen unhaltbaren Widerspruch enthalte. So wird eine scheinbar heile Welt des Logischen wiedererrichtet: Es ist doch nicht alles geschichtlich, weil ja ein geschichtlicher Universalismus in sich widersprüchlich sei. Wie Heidegger früh bemerkte, wirken solche formallogischen Argumentationen wie» Überrumpelungsversuche" ,25 die die eigene Geschichtlichkeit mithilfe der Logik überlisten wollen. Heideggers Gedanken fortführend diagnostizierte hier Gadamer einen »formalen Schein", der an der sachlichen Wahrheit vorbeigeht: »Daß die These der Skepsis oder des Relativismus selber wahr sein will und sich insofern selber aufhebt, ist ein unw-iderlegliches Argument. Aber wird damit etwas geleistet? Das Reflexionsargument, das sich derart als siegreich erweist, schlägt vielmehr auf den Argumentierenden zurück, indem es den Wahrheitswert der Reflexion suspekt macht. Nicht die Realität der Skepsis oder des alle
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Einleitung
Wahrheit auflösenden Relativismus wird dadurch getroffen, sondern der Wahrheitsanspruch des formalen Argurnentierens überhaupt. "26 Wie die philosophische Hermeneutik wird zeigen können, bleibt die Berufung auf die logische Widersprüchlichkeit der universalen Geschichtlichkeit auf den Gleisen des Historismus. Es läßt sich verteidigen, daß der Historismus das zentrale und wohl lähmendste Problem der Philosophie seit Hegel gewesen ist. Sein Problem ist die Frage nach der Möglichkeit einer verbindlichen Wahrheit und damit einer schlüssigen Philosophie im Horizont einer sich geschichtlich wissenden Welt. Sind alle Wahrheiten oder Handlungsmaximen von ihrem historischen Kontext abhängig? Wenn dem so wäre, lauerte das Gespenst des Relativismus oder des Nihilismus. Die Grundfrage des historischen Nihilismus ist ohne Zweifel ernst zu nehmen. Wenn der kulturelle Horizont letztbestimmend sein soll, wie läßt sich etwa eine perverse Lebenskonstellation (und für die deutsche Nachkriegsphilosophie wurde das Extrembeispiel der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft maßgeblich) von einer anderen abheben oder kritisieren? Die metaphysische Fragestellung des Historismus legt es aber nahe, die Lösung dieses Problems in einer proklamatorischen Transzendierung der Geschichtlichkeit zu suchen. Dies geschieht etwa durch die Berufung auf eine überzeitliche Autorität, säkularer oder sakraler Art, die die Geltung von ungeschichtlich sein sollenden Normen gewährleisten soll, oder durch den Rekurs auf die Unhintergehbarkeit des Logischen, gelegentlich durch die Versicherung der eigenen Letztbegründetheit. Was diese Lösungsversuche mit dem Historismus teilen, ist die Gemeinsamkeit der metaphysischen Frontaufrichtung, nämlich die Idee, daß alles heillos relativ ist, wenn man keine absolute Wahrheit besitzt. Schließlich werden aber die Lösungen selbst durch den Historismus eingeholt: auch von ihnen läßt sich alsbald zeigen, daß sie geschichtlich bedingt bleiben, werden sie doch ständig überholt und ihrer jeweiligen Perspektivität überführt. Die philosophische Leistung der Hermeneutik liegt vielleicht weniger in einer Lösung seines Problems als in einem Abschied vom Historismus. Bei Heidegger und Gadamer wird der Historismus sozusagen auf sich selbst angewendet und damit in seiner eigenen Geschichtlichkeit, nämlich in seiner geheimen Metaphysikabhängigkeit sichtbar gemacht. Denn die dogmatische These, alles sei relativ, kann nur vor dem Horizont einer unrelativen, absoluten, überzeitlichen, metaphysischen Wahrheit Sinn geben. Nur am Maßstab einer für möglich gehaltenen absoluten Wahrheit kann eine Meinung als bloß relativ gelten. Wie sieht aber diese absolute Wahrheit positiv aus?
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Eine allgemeinbefriedigende, also von allen anerkannte Antwort wurde nie gegeben. Woher entstammt aber der Anspruch auf eine solche? Die philosophische Hermeneutik vermutet, daß die Prätention auf eine überzeitliche Wahrheit gerade einer Verleugnung der eigenen Zeitlichkeit entspringt. Die absolut gedachte Wahrheit wird auffallenderweise bloß negativ besetzt: als das Nichtendliche, das Nichtzeitliche usw. Es spricht sich hier die Selbstnegierung der menschlichen Zeitlichkeit aus. Die Jagd nach absoluten Normen, Maßstäben oder Kriterien zeugt von der metaphysischen Ausgangssituation des Historismus, der der Logik eines die Zeit verdrängenden Denkens gehorcht. Die philosophische Hermeneutik läßt zunächst die metaphysische Obsession des Überzeitlichen, deren stillschweigende Geschichtlichkeit aufgewiesen wurde, auf sich beruhen, um sich dem in eminentem Sinne grundsätzlichen Problem der Zeitlichkeit unter dem Arbeitstitel einer Hermeneutik der Faktizität zu stellen. Wie sich dieser Rückgang philosophisch artikuliert, wird zu zeigen sein. Es zeichnet sich aber schon hier ab, daß ein solches Denken der Endlichkeit alles andere als kritiklos gegenübersteht. Es ist eine Vermessenheit, zu meinen, ein in der Zeit versenktes Wesen verfüge über keinerlei Mittel der Kritik. Der Kurzschluß liegt in der metaphysisch-historistischen Erwartung, glaubhafte Kritik könne nur aus einer überzeitlichen Instanz oder Norm her stammen. Das Gegenteil trifft zu. Die Menschen sind von Hause aus kritisch, weil sie der Zeit unterstehen und gegen das Unheil nur im Namen ihrer Hoffnungen und Aspirationen, die man sich ja nur als zeitlich denken kann, angehen können. Man braucht keine überzeitlichen Maßstäbe, um die Hitler-Diktatur oder weniger unheilvolle Ungereimtheiten anzuprangern. Kritik geschieht doch immer und primär im Namen des Leides, das durch solchen Unsinn zugefügt wurde. Diese Kritik braucht nicht die Stützung von unzeitlichen Prinzipien, die nach dem Muster von naturwissenschaftlichen »Gesetzen" gedacht werden. Das zugefügte oder befürchtete Leiden, auf großer und kleiner Ebene, bietet nach wie vor die besten Argumente der Kritik. Dafür kann die Hermeneutik das Bewußtsein schärfen. Man wird vielleicht entgegnen, daß damit das Unheil nicht für immer verhindert werden kann. Richtig, aber ließen sich Prinzipien ausfindig machen, die allein imstande wären, die Ungerechtigkeit abzuwenden, bräuchte über das Gute und die Bedingungen eines gerechten Zusammenlebens gar keine Diskussion stattzufinden.27 Ein Appell an die Wachsamkeit und die Kritikfähigkeit der Menschen, gekoppelt mit einer Warnung vor metaphysischen
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Utopien, ist der nicht geringfügige Beitrag der Hermeneutik zu dieser notwendigen Diskussion. Damit bleibt aber der Universalitäts anspruch der Hermeneutik ungeklärt. Was für einen Sinn hat es für sie, einen solchen Anspruch aufrechtzuerhalten? Dieser Frage wollen wir in der vorliegenden Untersuchung nachgehen. In der gerade in dieser Hinsicht nicht einheitlichen Geschichte der Hermeneutik hat sich dieser Anspruch sehr verschieden ausgenommen. Deshalb lohnt es, diese Geschichte auf die sie konstituierenden Universalitätsansprüche hin zu befragen. Damit ist die Leitfrage unserer Einführung gewonnen: Welche Universalität beanspruchte die jeweils untersuchte Gestalt der Hermeneutik und was für eine Universalität darf oder kann die heutige in Anspruch nehmen? Diese Frage wird ans Ganze der nun einmal konstituierten "Geschichte" hermeneutischen Denkens zu richten sein. Dieser Anspruch muß de facto schon immens gewesen sein für eine Wissenschaft wie die frühmittelalterliche, die ihr ganzes Wissen aus der Interpretation einer einzigen (Heiligen) Schrift bezog, desgleichen für das aufklärerische Zeitalter, das im Geiste Leibniz' alles Wissen als Erklärung von Zeichen ansah, wie die universal angelegten Hermeneutiken von Chladenius und Meier beweisen. In diesen Ansprüchen wurden sehr wohl modernere Formen der Hermeneutik (etwa die semiotische) vorweggenommen. Als erste Anzeige empfiehlt es sich, die Universalität der Hermeneutik als die eines universalen Problems vor Augen zu haben. Was die Hermeneutik zum Status einer prima philosophia unserer Zeit zu befördern vermag, ist wohl die virtuelle Allgegenwart des interpretatorischen Phänomens, die spätestens seit Nietzsches Einblick in den universellen Perspektivismus ("es gibt gar keine Fakten, sondern nur Interpretationen") auf der Tagesordnung der Philosophie steht. Nietzsche ist wohl der erste moderne Autor, der den fundamental interpretativen Charakter unserer Welterfahrung ins Bewußtsein gehoben hat. Weit davon entfernt, sich auf die rein interpretativen Wissenschaften wie die Exegese, die Philologie oder das Recht zu beschränken, erstreckt sich der Horizont der Interpretation auf alle Wissenschaften und Orientierungshinsichten des Lebens. Die wissenschaftstheoretische Revidierung des empiristisch-induktivistischen Selbstverständnisses der Wissenschaft leistete dem Vorschub und zog damit hermeneutische Konsequenzen aus Kants Unterscheidung zwischen Phänomenen und Dingen an sich: Das Wissen ist nicht eine Widerspiegelung der Dinge, wie sie unabhängig von uns sind, sondern stets Schematisierung und motivierte Bearbeitung der Phänome-
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neo Für Kant bedeutete dies insofern keine Gefährdung der Objektivität, als alle Menschen prinzipiell mit denselben Verstandeskategorien ausgestattet sind. Ein philosophisches, somit universales Problem wird es aber, sobald man mit Nietzsche gewahr wird, daß diese Kategorien, d.h. die Vernunft und ihre sprachlichen Verkörperungen einem geschichtlichen, kulturellen und gar individuellen Perspektivismus unterzogen sein könnten. Der Perspektivismus ist aber keine letzte Gegebenheit für einen Nietzsche. Er ist zuletzt in einem Willen zur Macht fundiert. Jede Perspektive steht unter dem Verdacht, nichts als ein Sichzurechtlegen der Welt im Sinne eines Willens zur Macht zu sein. Der Panhermeneutismus Nietzsches mündet in einen gewissen Pragmatismus, der auf die Erneuerung des pragmatischen Denkens in der analytischen sowie in der kontinental-hermeneutischen Philosophie vorausdeutet, ein. Was für das jeweilige Recht einer Perspektive spricht, ist schlechterdings ihr Wert für das Leben, ihr Beitrag zur Förderung oder zur Stabilisierung des jeweiligen Willens zur Macht. Dies führt nicht unbedingt zum Defätismus oder zur nihilistischen Orientierungslosigkeit. Die Perspektiven sind ja nicht gleichberechtigt, denn einige erweisen sich als fruchtbarer als andere. Der Kurzschluß läge nach Nietzsche nur darin, die eine fruchtbarere Perspektive mit irgendeinem Ansichsein der Sache selbst gleichzusetzen. 28 Ein so universal angelegter Perspektivismus mag extrem erscheinen. Nichtsdestoweniger rührt damit Nietzsche an ein wesentliches Merkmal unseres modernen Weltbildes. Das moderne Weltverständnis zeichnet sich, wie zuletzt Habermas 29 geschildert hat, durch seine "Reflexivität" aus, nämlich dadurch, daß es sich reflexiv als Weltdeutung bewußt werden kann. Unser Wissen weiß um sich als Wissen, somit als Interpretation der Welt. Es identifiziert sich nicht mit der Welt selbst oder deren einfacher Widerspiegelung. Das mythische Weltverständnis hingegen ist sich nicht seiner selbst als Weltinterpretation bewußt. Es setzt sich sozusagen mit dem Ansich der Welt gleich. Diesen Reflexionsmangel drückt Habermas durch die glückliche Formel einer "Reifikation des Weltbildes"30 aus. Erst bei dem modernen, entzauberten Weltbild treten die Wirklichkeitsdeutungen als Interpretation auf, die sich als solche zur Diskussion stellen und der Kritik aussetzen. Habermas und Nietzsche sind sich also über den prinzipiell hermeneutischen, d. h. interpretatorischen und leJ;ztlich pragmatischen Horizont unseres Weltbildes einig. Beide zeugen von der Universalität des hermeneutischen Problems, ohne freilich dieselben Schlußfolgerungen zu ziehen. Angesichts des durchgehen-
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den Perspektivismus hält es Habermas für angebracht, über unsere als Perspektiven gewußten Weltansichten zu diskutieren und die Ansichten für (pragmatisch) legitimiert zu erachten, die auf einen Konsens stoßen können. Da jedoch der faktische Konsens künstlich - etwa durch Macht - herbeigeführt werden kann, scheut Habermas davor zurück, den wirklichen Konsens für den wahren zu halten. Er muß sich mit der Behauptung begnügen, daß die Idee der Wahrheit an die kontrafaktische Antizipation eines idealen Konsensus gebunden ist. Diese kontrafaktische Idealisierung fungiert aber bestenfalls als kritischer Stachel,3! so daß letzten Endes doch problematisch bleibt, was in der wirklichen Welt als wahr oder legitimiert gelten darf. Nietzsche verzichtet auf metaphysische Idealisierungen und verbleibt bei der Agonistik der prinzipiell heterogenen, weil auf Macht ausgerichteten Perspektiven. Wie kann man aber sicher sein, daß alles so perspektivistisch ist? Ist der Perspektivismus nicht auch nur eine Perspektive unter anderen? Darauf ist zunächst zu antworten, daß der Verdacht des Perspektivismus sehr wohl universalisiert werden kann. Der Argwohn, eine Ansicht der Welt sei nur eine von Machtinteressen bedingte Perspektive neben anderen, läßt sich jeder Konzeption gegenüber kritisch hegen. 32 Es liegt an der jeweils unter Perspektivismusverdacht stehenden Position, zu zeigen, daß sie keine einseitige Perspektive ist, wenn sie es kann. Die Perspektive des Perspektivismus führt also nicht unbedingt zur Resignation des "anything goes", sie ist die einer kritischen und hermeneutischen Philosophie, deren Aufgabe es ist, unerweisliche Erkenntnisansprüche abzuwehren. 33 Im heutigen Spektrum gilt also Nietzsche als Repräsentant einer "Hermeneutik des Verdachts". Der Terminus wurde von Paul Ricreur 34 geprägt, um eine Interpretationsstrategie zu charakterisieren, die dem unmittelbaren Sinn mit Mißtrauen begegnet und ihn auf einen unbewußten Willen zur Macht zurückführt. Neben Nietzsche nennt Ricreur auch Freud, der den Sinn auf unbewußte Triebe reduziert, und Marx, der ihn an Klasseninteressen zurückkoppelt, als Vertreter einer Verdachtshermeneutik. Ihr stellt er eine Hermeneutik des Vertrauens entgegen, die Sinnhaftes, wie es sich gibt, phänomenologisch nimmt, um dessen Dimensionen auszuschöpfen. Während die Hermeneutik des Verdachts rückwärts blickt, um Sinnansprüche reduktionistisch auf eine hinter ihnen funktionierende Energetik oder Ökonomik (Pulsionen, Klasseninteressen, Willen zur Macht) zurückzubringen, richtet sich die Vertrauenshermeneutik nach vorne, nach der Welt, die uns der zu deutende Sinn auftut. Diese Hermeneutik liefert sich aber nicht in naiver Weise der Verführung des immediaten
Anmerkungen
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Sinnes aus. Sie läßt sich zunächst von der Hermeneutik des Verdachts belehren und übernimmt, sofern sie nachweisbar ist, ihre Destruktion der Illusionen des falschen Bewußtseins. Aber diese Zerstörung läßt die Sinnfrage völlig offen. Das von seinen Illusionen befreite Bewußtsein strebt nach wie vor nach Orientierung. Im kritischen Vertrauen wendet es sich also den sinnerschließenden Möglichkeiten der Wahrheitsanspruche, folglich dem verbum interius hinter jedem geäußerten Sinn, zu. Dieses Sinnvertrauen, ohne das Sprache bedeutungslos bliebe, darf seinerseits Anspruch auf Universalität erheben. Die Verdachtshermeneutik ist ihm insofern untergeordnet, als ihre Destruktion stets im Hinblick auf ein "wahres" Bewußtsein, mag es nun als regulative Idee fungieren, erfolgen muß. Eine Dekonstruktion ohne Aussicht auf ein zumindest weniger falsches Bewußtsein wäre witzlos. So manifestiert sich schon auf der Ebene des Problemhorizontes die universale Dimension der hermeneutischen Besinnung. Die Reflexion auf die Interpretation erlaubt es der heutigen Philosophie, ein Universales erneut in den Blick zu bringen. Indem sie den grundlegend hermeneutischen Charakter unseres Weltbezugs thematisiert, verabschiedet die Hermeneutik mitnichten den philosophischen Universalismus, sie realisiert ihn.
Anmerkungen 1 Brief von M. Heidegger an o. Pöggeler vom 5. 1. 1973, zitiert in O. Pöggeler, Heidegger und die hermeneutische Philosophie, Freiburg/München 1983, S. 395. 2 Vgl. C. von Bormann, Hermeneutik, in: Theologische Realenzyklopädie, Bd. XV, Berlin/New York 1986, S. 130: "In Gadamers Werk hat die Hermeneutik wohl ihre letzte große Ausprägung erhalten. Seitdem wurden keine Neuansätze mehr entwickelt - Ricceurs Versuche einer ,philosophischen Hermeneutik' führen auf ältere Formen des Sinnverstehens zurück.« J Vgl. H.-G. Gadamer, Gesammelte Werke (fortan: GW), Bd. II, Tübingen 1986, S. 219. 4 Vgl. C. F. Gethmann, Philosophie als Vollzug und als Begriff. Heideggers Identitätsphilosophie des Lebens in der Vorlesung vom WS 1921/22 und ihr Verhältnis zu ,Sein und Zeit3. 23 S. Rosen (Hermeneutics as Politics, Oxford 1987) versteht z. B. unter "hermeneutics" die gegenwärtige französische Philosophie um Derrida, Foucault, Deleuze und Lyotard, ein Titel, unter dem sie sich selbst kaum wird erkennen können. Gleichwohl sprach M. Foucault in seinem Nietzsehe, Freud und Marx (Cahiers de Royaumont, Philosophie, no 6, Paris 1967, S. 183-192) gewidmeten Text von diesen drei Autoren als den Wegbereitern der "modernen Hermeneutik" (S. 189ff.). 24 Vgl. R. Rorty, Philosophy and the Mirror of Nature, Princeton 1979; J. Grondin, Hermeneutical Truth and its Historical resuppositions. A possible Bridge between Analysis and Hermeneutics, in: Anti-Foundationalism and Practical Reasoning, ed. by E. Simpson, Edmonton 1987, S. 45-58; Continental or Hermeneutical Philosophy: The Tragedies of Understanding in the Continental and Hermeneutical Perspectives, in: J. SallislC. Scott (Hrsg.), Interrogating the Tradition: Hermeneutics and the History of Philosophy, Albany 2000,75-83; R. Bubner, Wohin tendiert die analytische Philosophie?, in: Philosophische Rundschau 34 (1987), S. 257-281. 25 SZ, S. 229. 26 WM, S. 327 (= GW I, S. 350). 27 Vgl. H.-G. Gadamer, Das Erbe Europas, Frankfurt a.M. 1989, S. 123: "Mißbrauch von Macht ist das Urproblem des menschlichen Zusammenlebens überhaupt und völlige Verhinderung dieses Mißbrauchs nur in Utopia möglich." 28 Zum universalen Perspektivismus Nietzsches vgl. W. Müller-Lauter, Nietzsehe. Seine Philosophie der Gegensätze und die Gegensätze seiner Philosophie, Berlin/New York 1971; ders., Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht, in: Nietzsche-Studien 3 (1974), S. 1-60; J. Figl, Interpretation als philosophisches Prinzip. Friedrich Nietzsches universale Theorie der Auslegung im späten Nachlaß, Berlin/N ew York 1982; V. Gerhardt, Die Perspektive des Perspektivismus, in: Nietzsche-Studien 18 (1989), S. 260-281; am ergiebigsten scheint mir die vorzügliche Arbeit von Alan D. Schrift: Nietzsehe and the Question of Interpretation. Between Hermeneutics and Deconstruction, RoutIedge/New York/London 1990 zu sein, weil sie Nietzsehe mit der Hermeneutik und der Dekonstruktion konfrontiert. 29 J. Habermas, Theorie des kommunikativen HandeIns, Bd. I, Frankfurt a.M. 1981, S. 72ff. 30 Ebd., S. 82. 31 Vgl. J. Habermas, Nachmetaphysisches Denken, S. 55. Kein Wunder also, daß Habermas trotz seiner seit langem vorgelegten Diskurstheorie der Wahrheit die Ausarbeitung einer Wahrheitstheorie als ein Desiderat seiner Arbeiten empfindet (vgl. seine Entgegnung in: Kommunikatives Handeln, hrsg. von A. Honneth und H. J oas, Frankfurt a. M. 1986, S. 327). Die Korre-
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spondenztheorie gilt ihm nach wie vor als unhaltbar (vgl. Nachmetaphysisches Denken, S. 149). Vgl. neuerdings den Band: Wahrheit und Rechtfertigung. Philosophische Aufsätze, Frankfurt a.M. 1999. 32 Auch die etwa von K.-O. Apel urgierte Überholung des hermeneutischen Universalismus durch die transzendentalhermeneutische Reflexion auf die unhinterfragbaren Bedingungen der Argumentation muß sich vorhalten lassen, daß sie ihrerseits bloß eine Interpretation der für fundamental ausgegebenen Argumentation darstellt. 33 Vgl. V. Gerhardt, a.a.O., S. 271. 34 P. Ricceur, De l'interpretation. Essai sur Freud, Paris 1965 (dt.: Die Interpretation. Ein Versuch über Freud, Frankfurt a.M. 1969); Le conflit des interpretations, Paris 1969 (dt.: Der Konflikt der Interpretation, I: München 1973, II: München 1974). Vgl. dazu die positive Wiederaufnahme der Hermeneutik des Verdachts in dem schon angeführten Aufsatz von Foucault über Nietzsche, Freud und Marx.
1. ZUR VORGESCHICHTE DES HERMENEUTISCHEN
1. Sprachliche Vorverständigung Die Entwicklung einer ausgesprochen hermeneutischen Reflexion trägt die Signatur der Moderne. Wie im vorigen mit Hilfe von Nietzsche und Habermas ausgeführt wurde, zeichnet sich das moderne Weltbild durch sein perspektivistisches Selbstbewußtsein aus. Erst wenn feststeht, daß Weltansichten keine schlechthinnigen Verdoppelungen der Realität, wie sie an sich ist, sondern pragmatische, d. h. in unseren sprechenden Weltbezug einbegriffene Interpretationen darstellen, kann Hermeneutik entstehen. Das geschieht erst in der Moderne. Es ist in diesem Sinne kein Zufall, wenn das Wort hermeneutica erst im 17. Jahrhundert auftaucht. Einsichten der Moderne lassen sich aber in die Antike zurückverfolgen, deren Kosmos viel weniger eintönig war, als es das übliche Klischee will, das nicht zuletzt von den Liebhabern der "Alten" konstruiert wurde. Neben den rationalistischen Eleaten und Platonikern gab es eine Reihe von relativistischen Sophisten, die bestens um die machtbedingte Perspektivität menschlichen Ermessens Bescheid wußten. Es ist somit fraglich, wie weit die Geschichte der Hermeneutik zurückreichen muß. Die Antwort hängt natürlich davon ab, was man unter Hermeneutik verstehen will. Zur Eingrenzung unseres Themas sind also sprachliche Wegmarken erforderlich. Das Wort Hermeneutik ist im heutigen Sprachgebrauch von einer enormen Verschwommenheit heimgesucht, die, wie es von fast allen Philosophemen gilt, zu seiner Hochkonjunktur beigetragen haben mag. Begriffe wie Hermeneutik, Deutung, Auslegung, Exegese, Interpretation werden oft als Synonyma verwendet. Eine Interpretation von Hegel z. B. kann sich heute umstandslos für eine Hermeneutik Hegels ausgeben.! "Hermeneutische Vorüberlegungen" sind gleichbedeutend mit Vorklärungen zum jeweiligen Interpretationshebel. Der terminologischen Eingrenzung halber empfiehlt es sich, den Begriff der Hermeneutik enger zu fassen und darunter zuallererst eine Theorie der Interpretation zu verstehen. Dabei kann unbestimmt bleiben, was Theorie besagen soll, denn jede Hermeneutik hatte auch eine verschiedene Auffassung dessen, was von einer hermeneutischen
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Zur Vorgeschichte des Hermeneutischen
Theorie zu erwarten sei. Für die einen sollte diese Theorie eine Kunstlehre (Schleiermacher) sein, d.h. eine methodische Regelanweisung für den Umgang mit Texten, deren Aufgabe vorwiegend technisch-normativer Natur war. Sie wollte lehren, wie man interpretieren soll, um die Beliebigkeit im Universum der Interpretation auszumerzen. Für die anderen soll die Hermeneutik auf diese technische Aufgabe Verzicht leisten, um die umfassendere Gestalt einer philosophischen oder phänomenologischen Analyse des ursprünglichen Phänomens der Interpretation bzw. des Verstehens anzunehmen. In ihrer phänomenologischen Spielart lehrt die Hermeneutik anscheinend nicht mehr, wie man interpretieren soll, sondern wie de facto interpretiert wird. Grundsätzlich kann man es entweder mit einer normativ-methodischen oder mit einer phänomenologischen Hermeneutik zu tun haben. Die Reichweite des Interpretationsbegriffs ist auch variabel. Behauptet man etwa, Sprache sei als solche immer schon Interpretation, so wäre eine Theorie der Interpretation eine allgemeine Theorie der Sprache oder des Wissens. Selbst wenn Sprache unabdingbar Interpretation mit einschließt, würde dies aber kaum einen Gegenstand für eine geschichtliche Einführung in die Hermeneutik hergeben (in diesem Zusammenhang werden wir gleichwohl vom hermeneutischen Beitrag zur Sprachphilosophie handeln). Auch hier erscheint es geboten, einen engeren Interpretationsbegriff heuristisch zu gebrauchen. Demgemäß tritt Interpretation erst dann in Erscheinung, wenn ein fremder oder als fremd empfundener Sinn verständlich gemacht werden soll. Das Interpretieren ist somit ein Verständlichmachen oder ein Übersetzen von fremdem Sinn in Verständliches (nicht notgedrungen in Vertrauliches, weil Unvertrautes als solches dem Verständnis erschlossen werden kann). Mit diesem Vorgang der Interpretation hat es die hermeneutische Theorie zu tun. Er erscheint als sekundär, wenn man ihn für einen winzigen Ausschnitt der menschlichen Erfahrung hält, nimmt aber universale Relevanz an, sobald man gewahr wird, daß alle menschlichen Tätigkeiten einen gewissen Prozeß des Verständlichmachens, sei es nur als fernen Telos, zur Grundlage haben. Davon wird schließlich der Universalitätsanpruch der Hermeneutik Zeugnis ablegen. Erst im 20. Jahrhundert ist diese Universalität dem philosophischen Bewußtsein aufgegangen. Früher wurde der Vorgang der Interpretation bis auf wenige Ausnahmen als ein spezielles Problem behandelt, dessen eine normative Hilfsdisziplin innerhalb der auslegenden Wissenschaften Herr werden wollte. Eine konsequente Geschichte der Hermeneutik muß ihrer Selbst-
Sprachliche Vorverständigung
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vergewisserung wegen auf ihre »provinziellen" Ursprünge zurückkommen. Interessant für die Erschließung ihrer Archäologie ist der Umstand, daß es gewisse Achsenzeiten der Hermeneutik, sozusagen Schaltepochen, in denen das Problem der Interpretation etwas brennender wurde, gegeben hat. Selbst wenn sie des öfteren aus dem Nachher, nämlich von der Warte der heutigen Geschichtsschreibung aus, festgestellt wurden, waren es vor allem Erfahrungen des Traditionsbruches, die das Problem der Interpretation und ihrer hermeneutischen Theorie zu erneuter Brisanz gedeihen ließen. So wurde beispielsweise in der nacharistotelischen Philosophie eine Theorie der allegorischen Mythendeutung entwickelt, um die unvertraut und anstößig gewordenen Mythen einer rationalisierenden Auswertung zu unterwerfen, die fremden Sinn in neue Aktualität verwandelte. Die Ausglättung des Traditionsbruches geschah dabei oft genug um den Preis auslegender Gewaltsamkeit. Ebenso mußte die Verkündigung J esu, die die jüdische Überlieferung hintanzustellen schien, eine besondere Besinnung auf die Prinzipien der Interpretation hervorrufen. Für das frühe Mittelalter überhaupt mußte die Interpretation einen bevorzugten Platz einnehmen, beruhte doch sein ganzes Wissen auf der Exegese der Heiligen Schrift und der Schriftsteller der Antike. Die Umwandlung der mittelalterlichen Hermeneutik durch die Norm der sola scriptura in der Reformation wurde zu einem neuen Antrieb der hermeneutischen Reflexion. So wird in ihr oft, so z. E. bei Dilthey, der Beginn der Hermeneutik gefeiert. Es muß aber auffallen, daß die hermeneutischen Traktate, die die Reformation in ihrer Auseinandersetzung mit der katholischen Orthodoxie produzierte, von Regeln wimmelten, die der Rhetorik und den Kirchenvätern entnommen waren, so daß sich diese Achsenzeit oder Geburtsstunde der Hermeneutik weit weniger umstürzlerisch ausnimmt, als in der klassischen, der protestantischen Theologie verpflichteten Geschichtsschreibung der Hermeneutik angenommen wird. Im 17. Jahrhundert, angefangen mit J. C. Dannhauer, sprossen viele, heute fast vergessene Hermeneutiken oder allgemeine Auslegungslehren hervor, mit dem Ziel, im Geist des Rationalismus methodische Regeln für die Herausstellung des wahren Sinnes von Textstellen vermitteln zu wollen. Angeregt durch die kopernikanische Revolution Kants, die der Subjektivität eine neue, konstitutive Rolle im Erkenntnisprozeß einräumte, erfolgte in der Romantik ein neuer Umbruch, der sich auf den Vollzug des "Verstehens" konzentrierte, aber auch hier unter weitgehender Umwandlung älteren Materials aus der Tradition der Rhetorik. Der Subjektivierungsstoß der Kanti-
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Zur Vorgeschichte des Hermeneutischen
schen Kritik beschwor im späteren 19. Jh. die Herausforderung des Historismus herauf, die die hermeneutische Theorie radikal vor das relativ neue, weil vom Aufschwung der Naturwissenschaften nahegelegte Problem der Objektivität der Geisteswissenschaften stellte. Bei Autoren wie Boeckh, Dilthey und Droysen wurde das Kantische Desiderat einer Kritik der historischen Vernunft laut. Die Zukunft der Hermeneutik schien nunmehr in der Methodologie der Geisteswissenschaften aufgehoben zu sein. Just der Entfremdungsprozeß, den die Obsession mit der Methodologie und der Erkenntnistheorie in der Philosophie verursachte, führte bei Heidegger zur philosophischen U niversalisierung und Radikalisierung der Hermeneutik. Das "Verständlichmachen", das die hermeneutische Bemühung von Anfang an in Atem hielt, wurde nicht mehr ein Epiphänomen am Rande der textverbundenen Wissenschaften, sondern zum grundlegenden Existential für ein der Zeit unterstehendes Wesen, dem es in seinem Sein um dieses Sein selbst geht. Bis hin zu Gadamer und Habermas ist dies der Horizont der unwiderruflich philosophisch gewordenen Hermeneutik geblieben. Bis dahin war die Geschichte der Hermeneutik vielleicht bloß eine "Vorgeschichte" gewesen. Ihre wichtigsten Stationen sollen uns jetzt beschäftigen. Wir setzen bei einer etymologischen Rückbesinnung an. 2. Zum Wortfeld um
eQ~tllvEUElV
Die Idee, daß die Hermeneutik die Verständlichmachung von Sinn zum Gegenstand hat, findet einen ersten Anhalt in der Etymologie. Seit G. Ebeling 2 pflegt man drei Bedeutungsrichtungen von eQ~llvEUElV zu unterscheiden: ausdrücken (aussagen, sprechen), auslegen (interpretieren, erklären) und übersetzen (dolmetschen). Daß sich die beiden letzten Funktionen durch dasselbe Verb wiedergeben lassen, ist nicht schwer einzusehen, denn das Übersetzen, die Übertragung von fremd vorkommenden Lauten in vertrauliche Rede, ist in gewissem Sinne ein Interpretieren. Der Übersetzer hat ja zu erklären oder verständlich zu machen, was ein fremder Sinn sagen will. So bleiben zwei Grundbedeutungen von eQ~llvEuELv übrig: ausdrucken und interpretieren. Auch hier läßt sich ein gemeinsamer Nenner fassen, denn man hat es im Grunde in beiden Fällen mit einer ähnlichen, auf Verständnis zielenden Bewegung des Geistes zu tun, nur daß sie, wie es J. Pepin3 formuliert hat, einmal nach außen, das andere Mal nach innen gerichtet ist. Beim "Ausdrücken" gibt der Geist sozusa-
Zum Wortfeld um EQl-ll1vEUELV
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gen seine inneren Gehalte nach außen hin zur Kenntnis, während das "Interpretieren" den geäußerten Ausdruck auf seinen inneren Gehalt hin zu durchschauen strebt. In beiden Richtungen gehe es also um eine Verständlichmachung oder Sinnvermittlung. Das Aussagen gibt ein "Inneres" kund, während das Interpretieren den inneren Sinn hinter dem ausgedrückten (zurück)sucht. Es empfiehlt sich also, zwischen einer rhetorischen und einer ausgesprochen hermeneutischen Sinnvermittlung zu unterscheiden: Während die erste ad extra geht, verläuft die andere umgekehrt vom Ausdruck auf seinen "inneren" Gehalt hin oder - um psychologistische Verengung zu vermeiden auf das, was ein Ausdruck zu sagen hat (Gehaltsinn). So verstand die gesamte Tradition das Interpretieren als die Umkehrung des Aktes des Redens, bis hin zu Schleiermacher. 4 Dies erklärt auch, warum die meisten hermeneutischen Regeln direkt der Rhetorik entnommen wurden, u. a. die Tropenlehre und der sog. hermeneutische Zirkel, wonach das Einzelne aus dem Ganzen zu verstehen sei. Die wichtigsten Vermittler waren dabei, wie wir sehen werden, die Rhetoriklehrer Augustin und Melanchthon, die die Auslegekunst nach dem Vorbild des viel reicheren Rhetorikcorpus ausrichteten. Die Griechen verstanden aber offenbar das Aussagen selber als ein "Interpretieren", ein EQf.l.TJVEUELV. Die ausgesagte Rede ist lediglich die Übertragung von Gedanken in Worten. So konnte Aristoteies' logisch-semantische Schrift >Peri hermeneiasLmc; im Sinne der Textkritik. Sie berief sich nicht zuletzt auf die empirisch gesinnte Methode des Arztes, aber auch Hippokrates-Exegeten Claudius Galenus (ca. 131-201). In der Renaissance wird Galen weiterhin als ein Vorfahr der wiedererweckten ars critica Anerkennung finden. 54
6. Augustin: Die Universalität des inneren Logos
Mit Augustin (354-430) treten wir erstmals in dieser Untersuchung an einen Philosophen heran, der von den Vertretern der zeitgenössischen Hermeneutik, wenngleich in einem bisher wenig beachteten Grad, stark rezipiert wurde. Das gilt ebenso von Heidegger wie von Gadamer. Der junge Heidegger, der sich der Phänomenologie der Religion widmete, bekundete sehr früh sein Interesse für Augustin. Im Sommersemester 1921 hielt er eine Vorlesung über Augustin und den Neuplatonismus 55 und noch im Jahre 1930 einen bislang ungedruckten Vortrag unter dem Titel >Augustinus: Quid est tempus? Confessiones lib. XISein und Zeit< sowie in den veröffentlichten Vorlesungen fallen überwiegend positiv
Augustin: Die Universalität des inneren Logos
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aus, was insofern hervorhebenswert ist, als der damalige Heidegger schon dem Programm einer kritischen Destruktion der Geschichte der abendländischen Ontologie verpflichtet war. Nach Gadamers Zeugnis begrüßte Heidegger in Augustin einen, wenn nicht den wichtigsten Eideshelfer für seine Konzeption vom Vollzugssinn der Aussage, den er gegen die metaphysisch-idealistische Tradition ausspielte. Denn auf Augustin wurde die prinzipielle Unterscheidung zwischen dem actus signatus, der prädikativen Aussage, und seinem Nachvollzug im actus exercitus zurückgeführt, einem Zauberwort, erinnert sich Gadamer, mit dem Heidegger seine damaligen Hörer in Freiburg und Marburg, und nicht zuletzt Gadamer selbst, verzaubert hat. 56 Eine tiefgreifende Augustinus-Rezeption läßt sich auch bei Gadamer nachweisen. Im Vorwort wurde bereits auf ein Gespräch verwiesen, in dem Gadamer den Universalitäts anspruch der Hermeneutik auf Augustin zurückbezog. Ihm wurde ja ein entscheidendes Kapitel im abschließenden Teil von >Wahrheit und Methode< gewidmet. Entscheidend ist nicht zuviel gesagt, denn Augustin hatte es dort Gadamer erlaubt, über die Sprachvergessenheit der griechischen Ontologie hinauszugelangen, welche sich durch ein nominalistisch-technisches Sprachverständnis charakterisierte. An Augustin konnte Gadamer zeigen - und dessen immense Bedeutung geht daraus hervor -, daß diese Sprachvergessenheit in der Tradition keine vollständige gewesen istY Allein der augustinische Gedanke vom verbum wäre in der Tradition dem Sein der Sprache gerecht geworden. In dem Verständnis des Wortes als prozessualer Inkarnation eines Geistigen, das aber im Wort voll gegenwärtig ist und dennoch auf ein Anderes verweist, zeichnet sich die Universalität des hermeneutischen Zugehens auf die Sprache ab. Soweit wir sehen, wurden Heidegger als auch Gadamer vornehmlich durch die >Konfessionen< und den >De trinitate< spekulativ angeregt. Es trifft sich aber, daß Augustin auch der Autor eines hermeneutischen Traktates, >De doctrina christianaDoctrina christiana< sowohl lateinisch als auch deutsch vor: "Augustinus gibt die erste ,Hermeneutik' großen Stils: [es folgt der
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Zur Vorgeschichte des Hermeneutischen
lateinische Text, wir geben nur die dt. Übersetzung wieder:] ,In welcher Ausstattung der Mensch an die Auslegung nichtdurchsichtiger Stellen der Schrift herantreten soll: in der Furcht Gottes, in der alleinigen Sorge, in der Schrift Gottes Willen zu suchen; durchgebildet in der Frömmigkeit, auf daß er nicht Gefallen habe an Wortzänkereien; ausgerüstet mit Sprachkenntnis, daß er nicht an unbekannten Worten und Redeweisen hängen bleibe; versehen mit der Kenntnis gewisser natürlicher Gegenstände und Begebenheiten, die zur Illustration beigezogen sind, damit er nicht ihre Beweiskraft verkenne, unterstützt durch den Wahrheitsgehalt ... "'59 Heidegger hebt deutlich diese Hermeneutik "großen Stils" von der nachherigen, seiner Ansicht nach formaleren Hermeneutik eines Schleiermacher ab: "Schleiermacher hat dann die umfassend und lebendig gesehene Idee der Hermeneutik (v gl. Augustin!) eingeschränkt auf eine ,Kunst (Kunstlehre) des Verstehens' ... "60 Inwiefern ist es angebracht, in Augustin "die umfassend und lebendig gesehene Idee der Hermeneutik" zu erkennen? Heidegger ist sicherlich beeindruckt worden von dem unmißverständlichen Zusammenhang, den Augustin im angeführten Proemium zwischen dem zu Verstehenden und der sich um die alleinige Sorge, die lebendige Wahrheit zu suchen, eifernden Haltung des Verstehenden aufstellt. Diese Verbindung verleiht der augustinischen Hermeneutik einen unverkennbar "existentiellen" Zug, der sich in all seinen Schriften wiederfindet und ihm seit langem den Ruf eines Protoexistentialisten eingebracht hat. Das Verstehenwollen der Schrift ist kein indifferenter, rein epistemischer Prozeß, der sich zwischen einem Subjekt und einem Objekt abspielt, es zeugt von der grundlegenden Beunruhigung und Seinsweise eines nach Sinn strebenden Daseins. Ferner auffallend an dem Text des Augustinus ist insbesondere für unsere Belange, daß er seine hermeneutische Untersuchung auf das Problem der "dunklen Stellen" (ad ambigua Scriptuarum) einschränkt. Denn Augustin geht von der prinzipiellen Klarheit der Schrift, die selbst den Kleinen zugänglich ist,61 aus. Merklich setzt er sich dadurch von einem Origenes ab, dem in der Schrift alles allegorisch sein konnte. Bei Augustin ist eine ausdrückliche hermeneutische Meditation erst da vonnöten, wo das Verständnis von dunklen Stellen Schwierigkeiten aufwirft. In >De doctrina christiana< (vor allem dessen 3. Buch) wird es nur darum gehen, Anweisungen (praeceptae) zu vermitteln, um mit dem Problem der obskuren Stellen fertigzuwerden. Diese Anweisungen, anhand deren sich zeigen ließe, daß Augustin nicht nur der Vater der existentialistischen, sondern in nuce auch
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der regelgeleiteten Hermeneutik ist, können uns nicht in extenso beschäftigen. Ein kleines Aper~u muß hier genügen. Augustin ruft zunächst ins Gedächtnis, daß jede Wissenschaft drei Fundamente hat: den Glauben, die Hoffnung und die Liebe. 62 Dem ist zu entnehmen, daß bei aller Regelbefolgung das Licht, das nötig ist, um in die dunklen Passagen der Schrift einzudringen, doch von Gott kommen muß. Alles kommt also auf die spirituelle Disposition des Interpreten, vornehmlich auf die caritas an. Wer mit Liebe und Vorsicht an die Schrift herantreten will, wird zuallererst alle kanonischen Bücher durchlesen, damit er wenigstens eine Kenntnis von ihnen erlangt, auch wenn er nicht alles versteht. 63 Auf diesem Weg wird er sich mit der Sprache der Schrift vertraut machen und wird so in den Stand gesetzt, die dunklen Stellen mit Hilfe der klaren zu beleuchten. Damit werden die Grundlagen einer immanenten Deutung der Schrift aus ihr selbst (sofa scriptura avant fa fettre) gelegt. Die Schrift will nämlich allgemeinverständlich sein. Augustin empfiehlt ferner, die Kenntnis der hebräischen und griechischen Sprache zu pflegen. Er unterstreicht auch den Nutzen, den man aus der Vielfalt der Interpretation64 und Übersetzungen für die Penetration dunkler Stellen ziehen kann. Ein historisch-kritisches Element wird auch in seine Hermeneutik eingebaut: Der kritische Christ wird stets einen gottgemäßen Sinn suchen und die abergläubischen Fabeln der Schrift nicht wortwörtlich auffassen. Der historische Kontext ist auch in Rechnung zu stellen, insbesondere im Umgang mit dem Alten Testament. Man wird etwa dafür Verständnis aufbringen, daß es Zeiten gab, wo ein Mann mit vielen Frauen keusch leben konnte (wie das Verhältnis von Abraham und Sara, das bereits Paulus zu einer allegorischen Deutung getrieben hatte), während heute einer mit einer einzigen Frau ein recht zügelloses Leben führen kann. 65 Die ganze Ambiguität der Schrift, die seine noch namenlose Hermeneutik auf den Plan ruft, liegt nach Augustin in der Verwechslung des eigentlichen und des übertragenen Sinnes. 66 Hier soll auch, außer der Caritasregel, die Augustin überall und systematisch heraufbeschwört, die allgemeine Regel helfen, daß dunkle Stellen womöglich durch klare Parallelstellen zu erhellen sind. Man soll auch nicht buchstäblich nehmen, was metaphorisch gemeint war. Um die Metaphern der Schrift auf ihren Geist hin zu durchleuchten, empfiehlt Augustin, die Kenntnis der Rhetorik zu erwerben, um die verschiedenen "Tropen" oder Redewendungen (von der Ironie bis zur Katachrese) zu beherrschen. 67 Augustin verzichtet aber willentlich auf eine ausschöpfende Darlegung der Redewendungen, die so weitgestreut sind,
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daß keine Intelligenz sie alle fassen kann. So schließt Augustin das dritte Buch (eine kleine, dreißig Jahre dauernde Unterbrechung erfolgte mitten im 3. Buch) seines Traktates mit einem Aufruf zum Gebet, denn von Gott her soll der Geist des Buchstaben aufleuchten. Damit endet, so führt der letzte Absatz aus, was wir zu sagen hatten über das Verhältnis der Zeichen zum Wort oder zum Denken (de signis, quantum ad verba pertinent).68 Der Schluß des dritten Buches evoziert ein Verhältnis von Zeichen (signum) und Verbum, das man von Augustins >De trinitate< her ergänzen muß, zumal sich Gadamers Sprachhermeneutik nachdrücklich auf diese Lehre bezieht. Die Ansetzung dieses Verhältnisses ist im Kontext dieser Schrift freilich auf ein theologisches Problem gemünzt: Wie läßt sich Gottes Sohn derart als Verbum oder Logos denken, ohne das Verbum als einfache sinnliche Veräußerung Gottes aufzufassen, die einen trinitarischen Subordinationismus zur Folge hätte? Augustin rekurriert dafür im 15. und letzten Buch des >De trinitate< auf die stoische Unterscheidung zwischen einem inneren (evöuifrnoWas ist Wahrheit?Wahrheit und Methode< ist die, daß sich dieses Jenseits der gegebenen Aussage wiederum nur sprachlich suchen und denken läßt, auch wenn es sich nie ausschöpfen läßt. Es weist nämlich nicht auf eine rein noetische Sphäre des Denkens, wo das Denken endlich von den Schranken der Sprache befreit wäre. Es gibt für uns Menschen kein Denken ohne dieses Element der Sprachlichkeit. Denken heißt Wortesuchen für das zu Sagende. Die Erfahrung der Grenzen der Sprache, besser: der Aussage setzt nach >Wahrheit und Methode< das Element der Sprachlichkeit voraus. Eine Aussage ist nur begrenzt im Lichte all dessen, was auszusagen wäre. Sie bleibt also auf weitere Worte angewiesen, aber gerade wegen ihrer Grenzen. In ihrer Anlehnung an Augustin betont also die Hermeneutik zwei Aspekte, die widersprüchlich erscheinen können, die sich aber in der Sache ergänzen: Erstens geht es um die Identität zwischen dem Den-
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ken und seiner sprachlichen Erscheinungsform, da es für uns kein denkbares Denken ohne das Element der Sprachlichkeit geben kann. Zweitens muß man sich jedoch davor hüten, in der jeweils geäußerten Sprache, in den Aussagen des logos prophorikos, die volle und restlose Manifestation des Denkens (des logos endiathetos) festzunageln, d.h. den vollen Ausdruck all dessen zu erblicken, was gesagt werden müßte, um angemessen verstanden zu werden. Wenn ich recht sehe, hat Hans-Georg Gadamer in >Wahrheit und Methode< eher den ersten Punkt, nämlich die essentielle Sprachlichkeit allen Denkens betont, als er etwa die "Universalität der Hermeneutik" darin sah, daß "Sprache alle Einreden gegen ihre Zuständigkeit" überholen und damit "mit der Universalität der Vernunft Schritt" halten könne. 83 In seinen letzten Arbeiten indes war es eher die Unaussagbarkeit des inneren Wortes, die er unmißverständlich ins Zentrum rückte. So widmete er viele Aufsätze der Erfahrung der "Grenzen der Sprache" (so der Titel eines Aufsatzes aus dem Jahre 1985), die ihn in einem Text von 1993 endlich dazu brachte, den "oberste[n] Grundsatz der philosophischen Hermeneutik" darin zu erblicken, "daß wir nie ganz sagen können, was wir sagen möchten" .84 Darin darf man gewiß eine Akzentverschiebung, wenn nicht eine Entwicklung bei Gadamer sehen, aber es ist wichtiger zu sehen, daß beide Aspekte der hermeneutischen Universalität zusammengehören, nämlich die Sprachangewiesenheit des menschlichen Denkens und die Einsicht in die Grenzen einer jeden sprachlichen Aussage. Es ist aber Augustin, der es erlaubt, diese Solidarität zu fassen, weil er anhand der Fleischwerdung Gottes beides zu denken versuchte, nämlich die Wesensgleichheit, aber auch die Differenz zwischen Gott und seiner irdischen Manifestation. 85 Die Universalität der Hermeneutik wird gar nicht tangiert, wenn man, etwa mit J. Habermas, auf vorsprachliche Erfahrung oder Grenzen der Sprache verweist. Ja, die Hermeneutik ist geradezu ein Zuendedenken der Grenzen der Sprache. Denn "das Versagen der Sprache bezeugt ihr Vermögen, für alles Ausdruck zu suchen" .86 Eine von Augustin herkommende Hermeneutik braucht nicht über die Grenzen der ausgesprochenen Sprache belehrt zu werden. Die Universalität, die sie meint, ist die der Verstehenssuche, des Versuchs oder des Vermögens, für alles Ausdrücke zu finden. Es ist ja Gadamers Hauptthese, daß die Aussage prinzipiell Grenzen hat, die von unserer geschichtlichen Endlichkeit und unserer Angewiesenheit auf die Dichte einer schon bestehenden, aber offenen Sprache herrühren. "Wir sehen
Luther: sola scriptura?
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an den Beispielen, welche prinzipielle Grenze eine Aussage hat. Sie kann nie alles sagen, was zu sagen ist. ( ... ) Plato hat das Denken das innere Gespräch der Seele mit sich selbst genannt. Hier wird die Struktur der Sache ganz offenkundig. Es heißt Gespräch, weil es Frage und Antwort ist, weil man sich so fragt, wie man einen anderen fragt und sich so sagt, wie einem ein anderer etwas sagt. Schon Augustin hat auf diese Redeweise hingewiesen. Jeder ist gleichsam ein Gespräch mit sich selber. Auch wenn er im Gespräch mit anderen ist, muß er im Gespräch mit sich selbst bleiben, soweit er denkt. Die Sprache vollzieht sich also nicht in Aussagen, sondern als Gespräch, als die Einheit von Sinn, die sich aus Wort und Antwort aufbaut. Erst darin gewinnt Sprache ihre volle Rundheit. "87 Mit dieser augustinisch-gadamerischen Einsicht in die Universalität des inneren Logos können wir unseren kurzen Überblick über die vorreformatorische Geschichte der Hermeneutik beschließen. Vom Höhepunkt dieser Universalität können wir uns gewiß Ebelings Urteil über das restliche Mittelalter nur anschließen: "In hermeneutischer Hinsicht sind auf die Dauer von ca. einem Jahrtausend nach Augustin keine grundlegend neuen Fragestellungen und Gesichtspunkte aufgekommen. "88 Es wäre jedoch sicherlich ungerecht, das übliche abschätzende Urteil über das "dunkle" Millennium des Mittelalters neu aufzulegen.8 9 Um diesem gängigen, der Unkenntnis entstammenden Vorurteil zu entgehen, tut man gut daran, das exzellente, leidenschaftliche vierbändige Werk von Henri de Lubac zur mittelalterlichern Hermeneutik sowie Brinkmanns Gesamtdarstellung zu Rate zu ziehen. 90 7. Luther: sofa scriptura?
Vermutlich gibt es mehr Sekundärliteratur über Luthers "Hermeneutik" als zu irgendeinem anderen Klassiker der Hermeneutik. Das liegt mit Sicherheit an der gewaltigen geistes- und kirchengeschichtlichen Bedeutung Luthers, möglicherweise aber auch an dem Umstand, daß die Tradition der Hermeneutik vor allem im Protestantismus gepflegt wurde, von Flacius bis hin zu Schleiermacher, Dilthey, Bultmann, Ebeling und vielleicht auch Gadamer. 91 Für den ersten Historiker der Hermeneutik, Dilthey, stand fest, daß die hermeneutische Wissenschaft erst mit dem Protestantismus anhob. 92 Gewiß hat die reformatorische Tat Luthers die Prämissen einer hermeneutischen Revolution gesät, aber man muß sich nüchtern fragen, ob Luther selber wirklich eine hermeneutische Theorie entwickelt hat. Seine "Her-
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meneutik" geht vollends in seiner Schriftauslegung auf. Als Professor hielt er nur exegetische Vorlesungen, was für die damalige Zeit etwas Neues bedeutete. 93 Auf die Schrift und ihr Wort derart konzentriert, war Luther bekanntlich der Philosophie oder der Theoretisierung abhold, die er mit leerer Scholastik gleichzusetzen geneigt war. Seine hermeneutische Konzeption muß sich allein aus der Methode seiner Schriftexegese heraus deduzieren lassen. 94 Zweifellos nahm dabei Luther seinen Ausgang vom reformatorischen Prinzip der "sola scriptura", das er gegen die Tradition und das kirchliche Lehramt abhob. Die Neuaufstellung dieses Prinzips stellte sicherlich einen Affront für die damalige, textvergessene Kirche dar. In rein hermeneutischer Hinsicht jedoch war es aber nichts Unbekanntes. Für die Patristik etwa stand der Primat der Schrift fest. Bei Augustin konnten wir sehen, daß stets von der scriptura auszugehen sei. So seien alle dunklen Stellen mit Parallelstellen aus der Schrift zu erklären. Zu Beginn seiner >Doctrina christiana< riet er dem Leser, zuallererst die ganze Schrift durchzulesen und sich dabei auf das erhellende Licht des Geistes zu verlassen. Im Gegensatz zur allegorisierenden Tendenz der Alexandriner ging er ferner von der prinzipiellen Verständlichkeit der Schrift aus. Daß die Kirche zu Luthers Zeiten diese Selbstverständlichkeit aus dem Auge verloren hatte, stimmt vollkommen, ist aber in rein hermeneutischer Sicht weniger von Belang, ging es doch in der Reformation nur um die Rückeroberung einer verlorengegangenen Evidenz. Die sola scriptura sowie die grundsätzliche Klarheit der Schrift waren schon hermeneutische Pfeiler der Patristik, die Luther ja nicht geringschätzte. Seine Ablehnung der Allegorese und des vierfachen Schriftsinnes bedeuteten in dieser Hinsicht eine provokatorische Erneuerung patristischer Gesinnung. Positiv signalisierte die Verwerfung der Allegorese, die der junge Luther noch praktiziert hatte, eine entschiedene Hinwendung zum sensus literalis. 95 Luthers Grundintuition war hier, daß der recht verstandene Literalsinn von sich aus eine geistige Bedeutung enthielt. Aus dem richtigen Verständnis des Wörtlichen heraus erwächst der Geist der Schrift. Der Geist ist nicht ein spiritualistisch verflüssigtes Jenseits des Wortes, er begegnet im glaubenden Vollzug des Wortes. Toter Buchstabe bleibt das Wort, wenn es nicht im Vollzug, im Absehen auf den geistigen Wandel, den er anzeichnet, erfahren wird - eine Konzeption, die an Augustins Lehre vom verbum gemahnen muß. Luthers bekanntes Diktum, nach dem die Schrift sui ipsius interpres, ihr eigener Schlüssel sei, besagt eben dies, daß das Wort als Selbstangebot Gottes auf einen Vollzug wartet, der im glaubenden Schrift-
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verständnis zu erfolgen hat. Anders gewendet: Ein Wort der scriptura ist stets auf eine Deutung aus, die nur der Nachvollzug des Verbum selbst leisten kann, indem es das befreiende Ganze der Bedeutung, die es durch Gnade ausdrücken will, mitschwingen läßt. Das Wort, recht wahrgenommen, d. h. gemäß seiner inneren Tendenz, ist schon Geist. Die Hinwendung zum Wort erfüllt alles, was die Schrift zu offenbaren hat. Dies ist die Form des hermeneutischen Universalismus für Luther. Das Prinzip der sola scriptura, die ihr eigener interpres sei, die ihm zugrundeliegende Lehre vom Verbum sowie der Vorgriff der fundamentalen Verständlichkeit der scriptura sind keine Entdeckungen Luthers. Es fragt sich aber, ob sie für die Konstitution einer strengen Auslegungstheorie ausreichen können. Denn mit ihnen ist es nicht getan, wenn es um das heikle Dilemma der dunklen Stellen (ambigua) der Schrift geht. Nur ihretwegen hatte Augustin seine hermeneutischen Anweisungen in seiner >Doctrina christiana< ausgearbeitet. Die Schrift ist im Prinzip klar und verständlich, aber eben nicht immer. Dafür hatte sich die offizielle Kirche auf die Autorität der Tradition und des Lehramtes gestützt. Wie wurde der Protestantismus mit diesem Problem fertig? Die protestantische Berufung auf die Eingebung des Heiligen Geistes oder eine Schrift, die überall und eindeutig sui ipsius interpres sei, wirkte sehr unbefriedigend und z. T. naiv, schien sie doch der Willkür gegensätzlicher Deutungen keinerlei Einhalt gebieten zu können. Dem gegenreformatorischen Konzil von Trient (1546) wurde es ein leichtes, die hermeneutische Unzulänglichkeit der Schrift und die Notwendigkeit eines Rekurses auf die Tradition zu bekräftigen. Als schlagendes Argument wurde ins Feld geführt, daß es künstlerisch sei, einen Gegensatz zwischen der Schrift und der Tradition aufzurichten, wo sie doch beide aus demselben Heiligen Geist aufsprießen. Der Katholizismus konnte ferner aus den erheblichen Meinungsverschiedenheiten innerhalb des Protestantismus selbst Kapital schlagen, um das Prinzip einer Schrift, deren Sinn allenthalben klar und eindeutig sein sollte, ad absurdum zu führen. Für die dunklen Stellen sei also das Zeugnis der Tradition und der Väter, deren Griechisch- und Hebräischkenntnisse doch viel besser als die eines Luthers gewesen sein sollten, weiterhin unentbehrlich. Die gegenreformatorische Bewegung machte damit auf den wunden Punkt der frühprotestantischen Hermeneutik, genauer: auf das Fehlen einer solchen überhaupt aufmerksam. Die Entfaltung einer expliziten Hermeneutik wurde so zu einem der dringendsten Desiderata des Protestantismus. Die dramatische Vakanz einer solchen bei
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Luther führte bald zur Entwicklung einer wissenschaftlichen Hermeneutik der Heiligen Schrift.
8. Melanchthon: Die Universalität des Rhetorischen Philipp Melanchthon (1497-1560) kommt bei der Ausarbeitung der frühprotestantischen Hermeneutik eine zentrale Funktion zu. Geschult in der humanistischen Rhetoriktradition während seiner Heidelberger und Tübinger Studienzeit, also vor seiner Begegnung mit Luther, entwickelte er von früh an einen Sinn für die Bedeutung der artes liberales. Er verteidigte auch ihre Unentbehrlichkeit in seiner Wittenberger Antrittsvorlesung (1519) in Anwesenheit von Luther (De corrigendis adolescentiae studiis). Der Verfall biblischer Studien, führt er dort aus, hängt auch mit einem Verfall liberaler Studien zusammen. Es sei nicht nur so, daß die scholastischen Künste (die Luther zu verwerfen gesonnen war) den Intellekt schärfen helfen und damit bei der Häresiebekämpfung eine wichtige Rolle spielen können, die Heiligen Bücher selbst seien nach den Maßstäben der Rhetorik verfaßt. 96 Rhetorik wird sich also bei der Deutung der Schrift als unabdingbar erweisen. Diese hermeneutische Akzentuierung tritt bereits in der Zwecksetzung von Melanchthons eigenen Lehrbüchern der Rhetorik (von der es drei verschiedene Versionen gab: die von 1519,1521 und 1531) sehr klar zutage: Die rhetorischen Lehren sollen "junge Leute weniger zur eigenen korrekten Ausdrucksweise als vielmehr zum klugen Verständnis von Texten anderer anleiten (non tam ad recte dicendum, quam ad prudenter intelligenda aliena scripta)" .97 Rhetorik wird vermittelt, "um junge Leute bei der Lektüre guter Autoren zu unterstützen (ut adolescentes adiuvent in bonis autoris legendis), die sie ansonsten nicht wirklich verstehen könnten".98 Damit erfolgt eine Wendung der Rhetorik von der (aktiven) Erzeugung überzeugender Reden zur (passiven) Lektüre oder Deutung von Texten. Die ars bene dicendi wird zur ars bene legendi: "Die Beschäftigung mit der rhetorischen Theorie dient nicht dazu, Beredsamkeit zu erzeugen, sondern für die auszubildende Jugend ein methodisches Rüstzeug bereitzustellen, um elaborierte Texte kompetent zu beurteilen. "99 Wie bereits Dilthey feststellte, war diese Rhetorik "gewissermaßen auf dem Weg zur Hermeneutik" .1 00 In einer wichtigen Studie von 1976 über "Rhetorik und Hermeneutik" hat H.-G. Gadamer auch Melanchthon an den Beginn der neuzeitlichen Hermeneutikgeschichte gestellt. 101 Die "Umwendung
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der rhetorischen Tradition auf das Lesen klassischer Texte" 102 hat er dort damit erklärt, daß die Redekunst "seit dem Ende der römischen Republik ihre politische Zentralstellung verloren" hatte. Melanchthons humanistisch geprägte Erneuerung der Rhetorik kam auch "mit zwei folgenschweren Dingen zusammen, der Erfindung der Buchdruckerkunst und, im Gefolge der Reformation, der gewaltigen Ausbreitung des Lesens und Schreibens, die mit der Lehre von dem allgemeinen Priestertum verknüpft war" .103 Dem hergebrachten Trivium von Grammatik, Dialektik und Rhetorik gemäß entfaltet sich Melanchthons Rhetorik in enger Wechselwirkung mit der Dialektik, die als die Kunst der richtigen Beweisführung galt. War für Melanchthon die Rhetorik ursprünglich Teil der Dialektik, errang sie immer mehr Selbständigkeit104 : Während die Dialektik die Sachverhalte sozusagen nackt vorstelle, füge die Rhetorik mit der sprachlichen Gestaltung das Gewand hinzu. lOS Da sich aber Sachverhalte nur sprachlich ausdrücken lassen, kann von einer zunehmenden Verschmelzung rhetorischer und dialektischer Gesichtspunkte bei Melanchthon die Rede sein. Die Anwendung der Rhetorik auf das Lesen von Texten zeigt sich zum ersten Male in Melanchthons Behandlung der Exegese (de enarratio genere) und des Kommentars (de commentandi ratione) in seiner >Rhetorica< von 1519. 106 Dort erhebt sich Melanchthon gegen die allegorisierende Deutungsmethode zugunsten des sensus litteralis. Es sei verfehlt, Geschichten, die uns moralisch anstößig erscheinen, allegorisch wegzu~rklären. Die Bibel wollte gerade das menschlich Anstößige schildern, um uns an die Sündenhaftigkeit und Eitelkeit unserer Natur zu erinnern. Melanchthon legt in diesem Sinne die Geschichte vom Opfer Isaaks durch seinen Vater Abraham aus. Diese Geschichte sei gar nicht gemein (ignobilis). Aus Abrahams Gehorsam Gott gegenüber könnten wir vielmehr moralische Lehren ziehen (die Läuterung der Affekte des Fleisches und ihre notwendige Vernichtung). Gegen die Lehre vom vierfachen Schriftsinn macht Melanchthon geltend, daß ein Text ungewiß wird, wenn man ihm einen derart vielfachen Inhalt zuschreibt. l07 Diese künstliche Teilung zeuge von einem Mangel an rhetorischer Bildung. Melanchthon hebt insbesondere auf die seiner Ansicht nach verfehlte Auffassung des "tropisehen" Sinnes ab. Unter Tropologie werde irrigerweise eine Übertragung auf die Moral verstanden. Der Begriff tropologia bedeute ursprünglich keine Beschäftigung mit Moral, sondern etwas Rhetorisches, nämlich figurativ Ausgedrücktes. los An Melanchthons hermeneutischer Praxis fällt indessen auf, wie
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sehr ihm doch an einer moralischen Ausdeutung des sensus litteralis liegt. In der Hl. Schrift sieht er überall einen Unterricht über die heils notwendigen loci communes, die in seiner Theologie überhaupt eine hervorragende Rolle spielen und denen er 1521 ein eigenständiges Werk gewidmet hat. Loci communes ("Gemeinplätze") sind universalgültige Lehren über die Hauptanliegen des Menschen (Tugend, Sünde, Gnade usw.). Didaktischer Zweck der Hl. Schrift ist es demnach, Beispiele (exempla) von loci communes für unsere Erbauung vorzuführen. Die loci fungieren damit als hermeneutischer Schlüssel der Bibel. Melanchthon übernimmt dabei die hermeneutische ScopusRegel der Aristoteles-Kommentatoren, insbesondere des Simplicius,109 indem er besonderen Wert auf den scopus der Hl. Schrift legt: Jede einzelne Stelle muß hermeneutisch auf die Hauptabsicht der Bibel zurückgeführt werden, die im Grunde in der Vermittlung der loci über Gesetz, Sünde und Gnade besteht. 110 Es fällt dabei auf, daß die Lutherische Rechtfertigungslehre den interpretatorischen Rahmen der Scopuslehre abgibt. Ob dabei ein theologisches Vorurteil das Schriftverständnis nicht zirkulär vorherbestimmt und damit die schlechthinnige Geltung des Sola-scriptura-Prinzips in Frage stellt, wie von katholischer Seite vorgeworfen werden wird, wird von Melanchthon nicht eigens bedacht. ll1 In der rhetorisch -didaktisch geprägten Rückbeziehung des Bibelsinnes auf den allgemeineren scopus der Schrift gelangt Melanchthon indessen zu beachtenswerten Vorformulierungen des hermeneutischen Zirkels von Teil und Ganzem: "Da Unerfahrene keine ausführlichen und komplizierten Abhandlungen verstehen können, wenn sie den Text nur oberflächlich zur Kenntnis nehmen, ist es nötig, ihnen das Ganze des Textes (universum) und seine Bestandteile (regiones) zu zeigen, so daß sie fähig werden, die einzelnen Elemente in den Blick zu nehmen und zu prüfen, inwieweit Übereinstimmung herrscht."112 In dieser noch rein didaktisch gehaltenen Schilderung der hermeneutischen Zirkularität kommt ein Bewußtsein ihrer erkenntnistheoretischen Fragwürdigkeit offenbar nicht auf. Erst im 19.Jh. wird man hier aus einem positivistisch überspitzten Kartesianismus heraus einen zu vermeidenden Kurzschluß vermuten. Melanchthons Rhetorik war eine enorme, hier unmöglich nachzuzeichnende Wirkungs geschichte beschieden (zu seinen Lebzeiten allein kamen die verschiedenen Versionen seiner Rhetorik in 80 Einzeldruckausgaben heraus 1l3 ). Sie ermöglichte u. a. eine Versöhnung zwischen der Reformationsbewegung und der antiken Bildungstradition, die der protestantischen Hermeneutik von Flacius bis Schleiermacher
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und darüber hinaus den Weg wies. Die sichtbarste Frucht dieser rhetorisch fundierten Hermeneutik findet sich im Werk des Melanchthon-Schülers Matthias Flacius Illyricus (1520-1575).
9. Flacius: Die Universalität des Grammatischen Die Absicht von Flacius' >Clavis scripturae sacrae< von 1567 ist es, einen Schlüssel (clavis) zur Entzifferung der dunklen Stellen der Bibel zu geben. Sie entstand als Antwort auf die Angriffe des Tridentiner Konzils, das die Unzulänglichkeit des Sola-scriptura-Prinzips bei der Entzifferung dunkler (ambigua) Stellen bekräftigte. Die Ambiguität der Schrift, antwortete Flacius, liegt nicht an ihr, sondern an den fehlenden Sprachkenntnissen der heutigen Schriftgelehrten. Für eine solche Aufgabe war Flacius bestens ausgerüstet. Er hatte sich bei dem Humanisten Johann Baptista Egnatius in Venedig ausgebildet und besaß u. a. hervorragende Hebräischkenntnisse. Melanchthon verschaffte ihm eine Professur für hebräische Sprache in Wittenberg. 114 Bevor er im 2. Buch der >Clavis< an das heikle Problem der dunklen Stellen heranging, hatte Flacius das lutherische Prinzip der generellen Verständlichkeit der Schrift in seinem Vorwort kraftvoll erneuert. Wenn uns Gott die Schrift zu unserem Heil gegeben hat, so sei es eine Blasphemie gegen die Philanthropie Gottes zu behaupten, daß sie dunkel sei und für das Heil der Christen nicht ausreiche. 1lS Die Dunkelheit der Schrift liegt an den mangelnden Grammatik- und Sprachkenntnissen, die sich die damalige katholische Kirche hat zuschulden kommen lassen. Der erste Teil der >Clavis< wird ein reines Bibellexikon sein, das eine ausführliche Konkordanz der Parallelstellen bietet. Damit wurde das Gewicht grammatikalischer Kenntnisse für die protestantische Hermeneutik wirkungsvoll unterstrichen. Insofern wurde die >Clavis< für die protestantische Theologie von entscheidender systematischer Bedeutung. 116 Die Beherrschung des Buchstabens, des Gramma, soll den universalen Schlüssel der Schrift abgeben. Mit Hilfe dieses universalen Schlüssels erklärt Flacius zu Beginn des 2. Buches die Gründe für die Schwierigkeiten, die die Heilige Schrift bereitet, als rein sprachlich oder grammatisch. Alle Hindernisse hängen an der Dunkelheit der Sprache selbst, für die die mangelnde grammatische Ausbildung des Deuters, also des heutigen Lesers verantwortlich sei. Denn: "Die Sprache ist nämlich ein Zeichen oder ein Bild der Dinge und gleichsam eine Art Brille, durch welche wir die Dinge selbst anschauen. Wenn daher die Sprache entweder an sich
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oder für uns dunkel ist, so erkennen wir mühsam durch sie die Sachen selbst."117 Die Sprache erscheint hier als Vehikel oder bildliches Mittel eines anderen. Dieses Mittel des Grammatischen ist zu meistern, will man zum Geist oder zur Sache der Schrift vorstoßen. Gegen die rein grammatikalische Schwierigkeit der Schrift schlägt Flacius alsdann eine Reihe von Heilmitteln (remedia) vor. Außer der ritualen Anrufung des Heiligen Geistes legt Flacius immer wieder besonderes Gewicht auf Sprachkenntnisse: "Hier liegt nämlich wohl die vorwiegende Quelle der Schwierigkeit der Heiligen Schrift, daß fast niemals die Theologen mit höchster Sorgfalt sich darum bemüht haben, die Hl. Schrift und den Text vollständiger zu erkennen oder anderen zu erklären."118 Flacius schwebt also eine strikt immanente Deutung der Schrift, nämlich durch das Heranziehen von ParallelsteIlen vor, gleichsam als Konkretion der lutherischen Intuition, daß die Schrift sui ipsius interpres sei. Wie die allermeisten Anweisungen, die Flacius gibt, fand sich dieses Prinzip der Parallelen bereits bei Augustin. Flacius wird sich im übrigen häufig auf die Autorität Augustins und sonstiger Kirchenväter berufen, wohl aus dem ihn auszeichnenden 119 Bestreben heraus, das Neue des Protestantismus durch Aufweis von Vorgängern als alt und damit als wohlbegründet nachzuweisen: "So sagt Augustin sehr richtig, nicht leicht werde irgendein Satz übertragen gebraucht, der nicht an anderer Stelle deutlich erklärt werde." 120 Der starke inhaltliche Bezug auf die ältere kirchliche Tradition, die Flacius offenbar gegen die katholische Kirche seiner Zeit ausspielt, läßt seine eigene hermeneutische Theorie letzten Endes wenig originell erscheinen. Es findet sich kaum eine hermeneutische Regel bei Flacius, die nicht schon bei den Kirchenvätern anzutreffen wäre - ein Umstand, der den Historikern der Hermeneutik nicht entgangen ist. So notierte Dilthey: "Fast das ganze 4. Buch des Augustin de doctr. ist in einzelnen Massen aufgenommen ( ... ). So ist in der Tat dieses Buch [die >ClavisPhaidros< zurück, bei der Niederschrift von Reden den ganzen Sinnzusammenhang mit in Rechnung zu stellen (siehe H.-E. Hasso Jaeger, a.a.O., S. 46). 125 Flacius, De ratione, S. 23. 126 Ebd., S. 69.
Ir. HERMENEUTIK ZWISCHEN GRAMMATIK UND KRITIK In der Einleitung hatten wir vor einer teleologischen Selbstauffassung der Hermeneutikgeschichte gewarnt. Gesunde Skepsis sei am Platz angesichts der gängigen Vorstellung eines Zusichselbstkommens der Hermeneutik, die sich von einer losen Ansammlung von Interpretationsregeln zu einer universalen Problematik emporentwickelt haben will. Im Laufe ihrer "Vorgeschichte", die nur wegen des Fehlens eines Wortes wie Hermeneutik so genannt wurde, war zu sehen, daß sich eine solche teleologische Sicht nicht recht nachzeichnen ließ. Gleichwohl erhoben die Stadien dessen, was Hermeneutik genannt zu werden verdient, d.h. der Theorie der Interpretation, Anspruch auf Universalität. Dieser Anspruch, der bei Autoren wie Philo, Origenes, Augustin, Melanchthon oder Flacius verschiedene Formen annahm, zehrte doch von einer gemeinsamen Einsicht, die schon in den Worten EQf.tllVEUELV und EQf.tllvdu, wie sie die Griechen empfanden, verwurzelt ist. Es ist die Idee, daß das (sprachliche) Wort stets die Übertragung oder Übersetzung eines Geistigen verkörpert (im wahrsten Sinne des Wortes). Sofern die Übertragung von selbst einleuchtet, bedarf es nicht eines besonderen Vermittlungsaufgebots für den Hörer. Das Wort vollzieht es von selbst und ist nichts als dieser Vollzug. Eine hermeneutische Vermittlung (und frühestens seit Philo eine Theorie) wird erst gefragt, wenn die natürliche Verweisfunktion des Wortes ausbleibt. Die naheliegendste Lösung dieser Störung des naturwüchsigen Sprachverhältnisses war dann die allegorische: das Wort meine ein Geistiges, das es zugleich verbirgt up.d nur den Eingeweihten offenbart. Im Rahmen der religiösen Sprache war dies ein kurzer Schritt, hat doch das Mysterium nichts mit Irdischem zu tun. Für Origenes konkretisierte sich die Allegorese in der Aufgabe einer typologischen Deutung des Alten und des Neuen Testaments (woran man ersieht, wie problematisch es etwa wäre, von einem Fortschritt von Philo zu Origenes zu sprechen - es handelt sich in beiden Fällen um verschiedene Versinnbildlichungen einer universalen Funktion des Logos). Augustin schuf nicht nur die anerkanntermaßen wirkungsvollste hermeneutische Theorie der antiken Welt, er arbeitete auf subtilste Weise die Grundbedeutung des Logos heraus.
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Hermeneutik zwischen Grammatik und Kritik
Er griff dabei auf die stoische Unterscheidung zwischen einem inneren und einem äußeren Wort zurück, konnte aber zeigen, daß das verbum interius sehr wohl dem geäußerten Logos innewohnte. Bei Gottes Verbum ließ sich sogar von einer Wesensgleichheit beider sprechen. Für uns Menschen hingegen will diese Gleichsetzung nicht immer gelingen, weshalb es eines hermeneutischen Verhältnisses zum geäußerten Wort bedarf, um es in seinen rechten Horizont zu rücken. Das Geäußerte deckt sich nicht ganz mit dem Gedachten und Beabsichtigten, wenngleich es nichts als dessen Verkörperlichung sein will. Wir haben gesehen, daß die zeitgenössische Hermeneutik eines Gadamer an diese Auffassung, die der menschlichen Endlichkeit im Sprechen Gerechtigkeit widerfahren läßt, anknüpfen konnte. Dies gilt ebenso für die reformatorische Erneuerung des Wortverständnisses. Höchst konsequent führte ihre Vertiefung in das Wort anhand des Prinzips einer sola scriptura, die sui ipsius interpres sei, zu einer Verwerfung der Allegorese. Was soll die Allegorese, wenn der Sinn des Wortes sonnenklar ist? Mit der sola scriptura ist es jedoch nicht getan, wenn es um das Problem der dunklen Stellen geht, welches das einzige war, um dessentwillen es zur Ausarbeitung einer Hermeneutik in der augustinischen Tradition gekommen war. Im Grunde lag schon die Erfahrung mit "dunklen" oder anstößigen Stellen der allegorisierenden Mythendeutung bei der Stoa zugrunde. Um dieser Herausforderung Herr zu werden, boten Melanchthon und Flacius, treue Gefährten Luthers, einen Schlüssel zur immanenten Schriftauslegung, die insonderheit die Unentbehrlichkeit rhetorischer und grammatikalischer Vorkenntnisse herausstellte. Mit dem rechten Rhetorik- und Grammatikwissen wird die allererste und universellste, wenngleich wenig verbreitete Voraussetzung zum Eindringen in das Wort Gottes namhaft gemacht. Dieser für die Hermeneutik entscheidende Neubeginn verstand sich selbst als Renaissance des patristischen Wort- und folglich Geistesverständnisses. Die Idee eines gemeinsamen, stets wiederzuerobernden Kernes der hermeneutischen Bemühung hat doch einiges für sich. Es mag auffallen, daß die bisherige Universalität der Hermeneutik auf den Bereich der religiösen Rede begrenzt war. Für das Mittelalter bedeutete dies freilich keine Einschränkung, sofern die Schrift doch alles enthielt, was man wissen mußte. Die Schriftauslegung war in diesem Sinne universell veranschlagt. Der Kreis des Lesens- und damit des Deutenswerten weitete sich mit der Neuzeit aus. Diese neue Zeit wurde schließlich die Folge einer Renaissance, die ein Studium der griechischen und lateinischen Klassiker zur Geltung brach-
Dannhauer: Hermeneutische und sachliche Wahrheit
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te. Das Studium und die Edition alter Schriftsteller erfolgte damals im Rahmen einer Disziplin, deren geläufigster Name im 16.Jh. wohl die ars critica l gewesen ist. Auch andere Fächer hatten es damals mit der Interpretation zu tun, insbesondere die Juristen, die das Gesetz zu interpretieren hatten, und die Mediziner, deren Hauptaufgabe die Deutung von Symptomen war (und noch ist). In der damaligen Situation der sich suchenden Neuzeit erwachte das Bedürfnis nach einer neuen Methodenlehre der überall aufsprießenden Wissenschaften. Ein neues Organon des Wissens, das das aristotelische ersetzte oder komplettierte, war gefragt und wurde zu einem der wichtigsten Desiderata der Philosophie. Bekanntlich fand es in Bacons >Novum Organum< (1620), das sich als neue Propädeutik der Wissenschaften empfahl, sowie in Descartes' >Discours de la methode< (1637) seine beredtesten Zeugnisse. Just zwischen Bacon und Descartes erblickte der Neologismus hermeneutica das Licht der Welt, und zwar aus der Bemühung heraus, mit ihr den fälligen Beitrag zur Ergänzung des herkömmlichen Organons zu leisten. Diese Neuschöpfung und dieses Programm waren die Tat des Straßburger Theologen Johann Conrad Dannhauer (1603-1666).
1. Dannhauer: Hermeneutische und sachliche Wahrheit De solo sensu orationum, non autem de earum veritate laboramus. 2
Dannhauer wurde in der Geschichtsschreibung der Hermeneutik, in die er nicht recht zu passen schien, lange vernachlässigt. Dilthey hatte ihm so gut wie keine Bedeutung beigemessen und Gadamer überging ihn mit Schweigen in >Wahrheit und MethodeHermeneutica sacra sive methodus exponendarum sacrum litterarum< von 1654 verwendete. Dieser Befurui wäre an sich belanglos, hätte damit Dannhauer nur ein Wort aufgegriffen, um eine Aufgabe, die etwa Melanchthon mit seiner >Rhetorik< oder Flacius mit seiner >Clavis< erfüllen wollte, zu bezeichnen. Das Vorkommen eines Wortes impliziert ja in keiner Weise, daß die Sache, auf die es verweist, nicht vorher schon da gewesen ist. Die bisherigen Kapitel der vorliegenden Rekonstruktion wären umsonst gewesen, hätte es vor Dannhauer keine Theorie der Interpretation gegeben.
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Hermeneutik zwischen Grammatik und Kritik
Dannhauers Bedeutung geht aber weit über den zufälligen Umstand hinaus, als erster den Buchtitel >Hermeneutica< gebraucht zu haben. In einem akribischen Aufsatz hat H.-E. Hasso ]aeger4 nicht nur nachweisen können, daß Dannhauer die Neuschöpfung "hermeneutica" bereits 1629 geprägt hatte, sondern auch, daß er in seiner bislang wenig beachteten Schrift von 1630, >Die Idee des guten InterpretenLogik< ausgearbeitet hatte, stellte fest, daß sich weit mehr Gelehrte mit Schriften berühmter Autoren als mit der Erforschung der Dinge selbst abgäben.1° Die von der Renaissance bewirkte Ausweitung des Lesenswerten über das eine Heilige Buch hinaus ließ eine universale Hermeneutik notwendig erscheinen. Bei dieser universalen Ausrichtung konnte es sich nur um eine "propädeutische" Wissenschaft handeln, eine Stelle, die im klassischen Wissenschaftsspektrum der Logik zukam. Dannhauer ent-
Dannhauer: Hermeneutische und sachliche Wahrheit
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wickelte so seine hermeneutica generalis parallel und als Ergänzung zur herkömmlichen Logik der aristotelischen Methodenlehre (Orgahon). Grundbuch dieser Logik war Aristoteles' Schrift 3t€QI, EQI.tTlvcLa~. Sie thematisierte allgemein die Begriffsverbindungen, die in der aussagenden Rede ihren Niederschlag finden. Das Wort EQ!-lTlvci.a suggerierte, obwohl es im aristotelischen Traktat diesen Titels nicht vorkam, dabei ein Auslegungsverfahren (interpretatio), das man zu Dannhauers Zeiten in der Nachfolge der mittelalterlichen Aristoteles-Kommentatoren als ein "analytisches" empfand. Die logische Analysis bestand nämlich in der Rückführung (Analyse hieß überall Rückgang vom Zusammengesetzten auf seine konstituierenden Elemente) der Aussage auf ihren gedachten Sinn. l l Wir entsinnen uns etwa der Formel, die Boethius in seinem Kommentar zum ~Peri hermeneias< verwendete, als er die EQ!-lTlvci.a als vox articulata per se ipsam significans verstand. Die Aussage ist immer die Verlautbarung eines gedachten Sinnes. Die Logik, als allgemeine Lehre von der Wahrheit, sah ihre Aufgabe darin, in dieser Rückführung der Aussagen auf ihren logischen Sinn logische (sprich: sachhaltige) von nicht logischen Sätzen zu trennen. IZ Diese Rückführung, von der ja die hermeneutische Bemühung seit alters her ihren Anstoß erhielt, wurde erneut für Dannhauers originelle Idee einer Universalhermeneutik ausschlaggebend. Wie die Logik hat es die Hermeneutik mit der Ermittlung einer Wahrheit zu tun, um Falsches zu widerlegen. Während es aber das Geschäft der rein logischen Analyse ist, die sachliche Wahrheit des gedachten Sinnes durch dessen Rückführung auf höchste Prinzipien auszumachen, begnügt sich die hermeneutica mit der Festlegung des gedachten Sinnes als solchen, d. h. unabhängig davon, ob dieser Sinn auch von den Sachen her wahr oder falsch ist. Auf der Ebene des Denkens, der (lLUVOLU, erfolgte eine Sinnabsicht, die an sich dunkel oder verworren erscheinen kann. Bevor sie auf ihre sachliche oder logische Wahrheit hin geprüft wird, soll ihr Sinn mit Hilfe einer allgemeinen und wissenschaftlichen hermeneutica ausgemacht werden. Die hier getroffene Unterscheidung zwischen sententia (Wahrheit der Behauptung) und sensus (Bedeutung des Sinnes) war schon lange vor Dannhauer geläufig. 13 Neu ist, daß sie für die erste Ziel bestimmung einer universal ausgerichteten Hermeneutik in Ansatz gebracht wird. Offenbar lehnt sich Dannhauer an den Titel >Peri hermeneias< an, um das Wort "hermeneutica" zu bilden. Damit will er den aristotelischen Traktat fortsetzen und "um eine neue Stadt bereichern", wie er selber schreibt. 14 In der Tat hat er getreu den ursprünglichen Sinn von
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Hermeneutik zwischen Grammatik und Kritik
EQ!-tflveLa. zu Ende gedacht, die nichts anderes als eine Vermittlung bzw. eine Verlautbarung von Sinn besagt. Ehe über dessen sachliche Wahrheit befunden wird, ist bei Problemstellen eine hermeneutica dazu berufen, dessen "hermeneutische Wahrheit" zu ermitteln, d.h. das zu klären, was ein Autor hat sagen wollen, ohne Rücksicht darauf, ob es streng logisch oder sachlich zutreffend ist. So wird Dannhauer den Interpres - um den "guten" geht es im Titel seiner Schriftfolgendermaßen definieren: Er ist der Analytiker aller Reden, insoweit sie dunkel, jedoch "exponibel" (oder ausdeutbar) sind, um den wahren vom falschen Sinn zu scheiden. 15 Um diese Scheidung zu treffen, wird Dannhauers hermeneutica eine ganze Reihe von Direktiven oder media interpretationis anführen, darunter freilich die Berücksichtigung des scopus, der Absicht des Autors. 16 Diese hermeneutischen Regeln, die an Älteres anknüpfen, können uns hier nicht im einzelnen aufhalten. Dannhauers Programm einer in die Logik einzuordnenden universalen Hermeneutik fand im Rationalismus des 17. und des 18.Jh. zahlreiche Nachfolger, wie J. Clauberg, J. E. Pfeiffer,17 C. Wolff, J. M. Chladenius und G. F. Meier. Es ist gewiß ein Fehlgriff der hermeneutischen Geschichtsschreibung, in Schleiermachers bekanntem Diktum, mit dem seine Hermeneutik in der Ausgabe von Lücke begann, "die Hermeneutik als Kunst des Verstehens existiert noch nicht allgemein, sondern nur mehrere spezielle Hermeneutiken" ,18 den ersten Ansatz einer Universalisierung der Hermeneutik zu erblicken. An speziellen Hermeneutiken hat es wiederum in der Aufklärung nicht gefehlt. Dannhauer hat selber eine im Jahre 1654 unter dem Titel >Hermeneutica sacra< vorgelegt, in der er sich wiederholt und seitenlang auf Augustins Vorleistung berief.1 9 Philosophisch bedeutsamer war sein Programm gebliebener Versuch einer hermeneutica generalis von 1630, in der er zwischen Bacons >Novum Organum< und Descartes' >Discours de la methode< einen Beitrag zur Ausweitung der Logik und der Methodenlehre der Wissenschaft beisteuern wollte.
2. Chladenius: Die Universalität des Pädagogischen
Unter den zahlreichen Universalhermeneutiken des 17. und 18.Jh. verdient die >Einleitung zur richtigen Auslegung vernünftiger Reden und Schriften< (1742) von Johann Martin Chladenius (1710-1759) besondere Beachtung. Sie eröffnete der philosophischen Hermeneutik neue Horizonte, die über deren rein logische Aufgabenstellung bei
Chladenius: Die Universalität des Pädagogischen
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Dannhauer hinausweisen. Die allgemeine Hermeneutik oder Auslegungslehre wird geradezu von der Logik losgelöst und neben ihr als der andere große Zweig menschlichen Wissens etabliert. Die Verrichtungen der Gelehrten lassen sich nämlich, führt Chladenius im Vorwort seiner Auslegungslehre aus, in zwei Grundklassen einteilen: Zum Teil vermehren sie die Erkenntnis durch Selbstdenken und ihre eigenen Erfindungen, zum anderen aber sind sie mit dem beschäftigt, "was andere vor uns nützliches oder anmuthiges gedacht haben, ( ... ) und geben Anleitung, derselben Schriften und Denkmale zu verstehen, das ist, sie legen aus" .20 Für beide Möglichkeiten des Wissens, die ihre eigenen Verdienste und Abwege haben, soll es zwei Arten wissenschaftlicher Regeln geben. Die ersten lehren uns richtig zu denken und machen die "Vernunftlehre" aus, während die Regeln, die uns richtig auszulegen helfen, die allgemeine Auslege-Kunst füllen. Eine schon geübte Auslegefertigkeit soll ausgebaut werden. An dieser generellen Zweckbestimmung macht sich der pädagogische Zug - ein Sohn der Aufklärung - von Chladenius' Hermeneutik bemerklich, dem wir überall begegnen werden. Wie in der Hermeneutiktradition üblich, bilden zunächst die dunklen Sätze oder Stellen den Gegenstand der Auslegekunst. Neu ist aber, daß sich die Hermeneutik nicht mit allen dunklen Stellen, sondern lediglich mit einer besonderen Art derselben beschäftigen soll. Es gibt nämlich Dunkelheiten, die der Kompetenz des Hermeneuten entzogen sind. Chladenius legt eine strenge Einteilung 21 der möglichen Schriftdunkelheiten vor, die höchst aufschlußreich ist, um den Stellenwert der Hermeneutik und der sonstigen philologischen Hilfswissenschaften im 18.Jh. einzuordnen: 1. Die Dunkelheit kann öfter aus einer editorisch verderbten Stelle herrühren. Die zu beheben ist Sache des criticus und seiner ars critica. Ehe sie in Kants Werken zu philosophischen Ehren gelangte, war seit der Renaissance Kritik der Name der philologischen Wissenschaft, die sich mit der Edition, Verbesserung und Berichtigung älterer Schriften befaßte. Dieses Verständnis von Kritik wird sich bis spät in das 19.Jh. hinein erhalten und in Gesamtdarstellungen der philologisch-hermeneutischen Hilfswissenschaften eine bevorzugte Stelle einnehmen. Lückes Herausgabe der Schleiermacherschen Hermeneutik von 1838 trug den traditions bewußten Titel >Hermeneutik und KritikMuseum der Alterthums-WissenschaftenEnzyklopädie und Methodenlehre der philologischen Wissenschaften< zugrunde. 24 Die Kritik sollte anscheinend eine reine Faktenwissenschaft sein. Mit ihren Regeln sollte allererst der Zustand eines Textes festgestellt werden, bevor er anhand der Hermeneutik einer Deutung unterzogen wurde. Daß aber die Edition eines Textes, etwa die Anerkennung einer Stelle als "verderbter", eine hermeneutische Aufgabe ersten Ranges signalisierte, wurde bis auf wenige Ausnahmen 25 kaum berücksichtigt. Sollte sich die Philologie als Wissenschaft etablieren können, mußte sie zunächst auf reiner Faktenbasis beruhen. Der Zweiteilung von Hermeneutik und Kritik im 19.Jh. ging im 18.Jh. die sehr übliche Dreiteilung von Grammatik, Hermeneutik und Kritik voraus, der die Überschrift des vorliegenden Kapitels z. T. nachgebildet ist. Alle drei fungierten als formale oder einleitende Wissenschaften. Denn sie betreffen nicht das Material, den konkreten Stoff der philologischen Wissenschaften, sondern die Regeln (der Grammatik, Hermeneutik und Kritik), die jeder handhaben soll, um Schriftdenkmäler kunstgemäß zu verstehen und zu erklären. Schon Dannhauer hatte die Hermeneutik zur Propädeutik gerechnet, von der sich ihr Anspruch auf universelle Anwendbarkeit in den materialen Realwissenschaften ableitete. Mehr philologisch als logisch ausgerichtet geht Chladenius daran, die universale Funktion der Auslegekunst mit Hilfe einer wissenschaftlichen Einteilung der Dunkelheitssorten zu demonstrieren. In der Berichtigung einer verderbten Stelle, die dem criticus obliegt, sieht er nicht die prinzipielle Auszeichnung des richten Hermeneuten. 2. Die Dunkelheit kann zweitens "aus einer nicht genugsamen Einsicht in die Sprache, worinnen das Buch abgefasset ist"26, entstehen. Auch die soll nicht den Auslegekünstler auf den Plan rufen, denn sie wird von dem "philologus" oder dem Sprach-Lehrer behoben. Wo die Sprache nicht genug beherrscht wird, gibt es tatsächlich nichts zu deuten. Nur bessere Sprach- oder Grammatikkenntnisse können hier weiterhelfen. Weder die Dunkelheit verderbter Stellen noch die fehlender Sprachkenntnis gehören also in den Kompetenzbereich der Hermeneutik.
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3. Chladenius erwähnt alsdann eine dritte Fonn von Dunkelheit, die auch außerhalb der hermeneutischen Reichweite liegen soll. Es handelt sich um die Stellen oder Worte, die "an sich zweydeutig gesetzt" sind. Die Berichtigung an sich äquivoker Stellen wird keiner besonderen Kunst, wie es in den zwei früheren Fällen geschah, zugeteilt. Denn die Zweideutigkeit, die im Text selbst steckt, ist nicht wirklich aufzuheben, sondern als solche hinzunehmen und wohl zu tadeln. Eine hermeneutische Auflösung derselben würde offensichtlich dem Text Gewalt antun. Haben wir aber nicht langsam das Feld der Dunkelheiten ausgeschöpft? Im Grunde war es doch in der bisherigen Hermeneutik so, daß lediglich die Dunkelheiten, die aus mangelnder Grammatikkenntnis oder zweideutigen Stellen herrühren, vom Hermeneuten zu erhellen waren. Was für eine Dunkelheit bleibt noch der Hermeneutik übrig, zumal wenn sie so universal angelegt sein soll, wie dies bei Chladenius, der sie der Vernunftlehre als allgemeine Auslegekunst zur Seite stellt, der Fall ist? Die Dunkelheit, auf die die hermeneutische Kompetenz gemünzt ist, wird in einer Weise beschrieben, die auf den ersten Blick sekupdär anmuten mag, deren Universalität jedoch bei näherem Zusehen einleuchten wird: "Es geschieht aber unzehlich mal, daß man auch Stellen, wo keine von diesen [drei schon genannten] Dunckelheiten anzutreffen ist, dennoch nicht verstehet: Denn so können z. E. Leser öffters nicht in einem Philosophischen Buche fortkommen, ob es ihnen gleich nicht an Erkänntniß der Sprache fehlet, auch das Buch gar nicht zweydeutig abgefasset ist, sondern bey behorig zubereiteten Lesern den allergewissesten Verstand hat. Eben solcher Anstoß findet sich öfters bey denen historischen Büchern, ohne daß der Verfasser, und die Einrichtung des Buches die geringste Schuld daran haben. Bei genauerer Untersuchung findet man, daß diese Dunckelheit daher rühre, weil die biossen Worte und Sätze nicht allemal vermögend sind, den Begriff, den der Verfasser damit verknüpfft gehabt hat, bey dem Leser hervorzubringen, und daß die Erkänntniß der Sprache allein uns nicht in Stand setze, alle in derselben abgefaßten Bücher und Stellen zu verstehen.« Die Dunkelheit, die Chladenius hier namhaft macht, ist die der fehlenden oder mangelnden Hintergrundkenntnisse. Es ist in der Tat oft so, vor allem bei älteren Schriften, daß die Sprache und die Texte vollkommen klar erscheinen, wo dennoch das Verständnis nicht gelingen will, weil uns historisches oder sachliches Wissen mangelt, anders gewendet: weil wir nicht darüber im Bilde sind, wovon die Rede ist oder was der Autor eigentlich sagen wollte. Dieser Fall von Dun-
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kelheit mag, wie gesagt, zunächst entlegen vorkommen. Chladenius rührt aber hier an ein Grundphänomen der Sprache schlechthin. Sprache will stets etwas in Buchstaben ausdrücken, aber dieses "etwas" bleibt oft genug im Dunkeln, da es bei dem Empfänger nicht denselben Sinn oder dieselbe Wirkung auslöst, die beim Sprechen intendiert war. Auch Chladenius sieht es als einen reinen Sprachvorgang an. So fährt seine Einführung in die Idee der Hermeneutik als Universalwissenschaft fort: "Ein Gedancke, der durch die Worte bey dem Leser hervorgebracht werden soll, setzet offters schon andere Begriffe voraus, ohne welchen er nicht begrifflich ist: Daher, wenn der Leser dieselben Begriffe nicht schon hat, so können die Worte nicht die Wirckung bey ihn thun, noch die Begriffe veranlassen, welche bey einem andern Leser, der gehörig unterrichtet ist, gewiß erfolgen werden." Die Hermeneutik soll es also mit Stellen zu tun haben, die "aus keiner andern Ursache dunekel sind, als weil wir die Begriffe und Erkänntniß, welche zu ihrer Einsicht erfordert werden, noch nicht erlangt haben". Die Universalität dieser Situation springt in die Augen: Wann kommt es denn vor, daß wir das Hintergrundwissen meistern, das zur Einsicht in das Ausgesagte notwendig ist? Man braucht nicht nur an das Zeugnis älterer Autoren zu denken, wo uns das rechte Kontextwissen fehlt. Eines solchen Hintergrundwissens bedürfte es auch bei den trivialsten Äußerungen eines Anderen. Wer weiß mit Sicherheit, was sich in der Seele des Anderen abspielt, wenn er diesen oder jenen Satz ausspricht? Wir müssen es im praktischen Umgang immer voraussetzen, aber ein solches Eindringen in das verbum interius des Anderen läßt sich nie vollkommen bewerkstelligen. Es lädt zu immer weiterem Fragen und Diskutieren, aber auch zu Mißverständnissen ein. Chladenius betrachtet das Problem als ein rein didaktisches. Er beruft sich dafür auf die umgangssprachliche Bedeutung des Wortes "auslegen". Mit der Auslegung will man gewöhnlich erreichen, daß diejenigen, die noch nicht mit genugsamer Einsicht versehen sind, zum Verständnis gebracht werden. Man soll ihnen die Begriffe vermitteln, die zum Verstehen einer Stelle ausreichen sollen. So kommt Chladenius zu seiner betont pädagogischen Definition: "Auslegen ist daher nichts anderes, als diejenigen Begriffe beybringen, welche zum vollkommenen Verstand einer Stelle nöthig sind." Allein dieser Begriff, führt Chladenius aus, ist imstande, "einen tüchtigen Grund einer Philosophischen Auslege-Kunst" abzugeben. Das Vorkommen des Begriffs einer "philosophischen Hermeneutik" an dieser Stelle
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läßt freilich aufhorchen, denn Chladenius, ger als erster eine deutschverfaßte Hermeneutik vorlegte, verwendet Auslege-Kunst und Hermeneutik synonymP Es ist in Wahrheit ein allgemein philosophischer Kontext, in den diese pädagogische Sicht der Hermen-eutik eingebettet wird. Aus den etlichen Beispielen, die Chladenius anführt, geht hervor, daß ihr das Schüler-Lehrer-Verhältnis Pate stand. Die Auslegung nimmt sich demnach als ein didaktischer Vorgang aus, in dem ein Lehrer das umfassendere Wissen vermittelt, das es dem Schüler erlaubt, die Gedanken eines Autors richtig zu verstehen. Dieses didaktische Vorbild ist alles andere als einseitig. Denn es gilt auch für den Umgang des Einzelnen mit einem Text, ja mit der Sprache überhaupt. Jeder, der lernt - und wir hören nie auf, Lernende zu sein -, muß sich ein Hintergrundwissen selbst verschaffen, indem er etwa auf Lexika, Handbücher oder weitere Literatur schlechthin rekurriert. 28 Über Chladenius hinaus könnten wir auch sagen, daß dies vom Selbstsprechen gilt. Wenn wir etwas sagen wollen, können wir uns auf Wörterbücher, Synonyma, Metaphern usw. beziehen, um das zu sagen, was wir "auf der Seele" haben. Eine Seele hat zwar noch kein Mediziner angetroffen, aber wie kann man sonst das Ungenügen beschreiben, das wir selbst an unseren eigenen Ausdrücken angesichts des Auszusagenden erfahren? Auch wir bleiben als Schüler und Sprechende auf Lehrer und fremde Hilfe angewiesen, die wir aber auch für uns selbst sein können. Die Universalität dieser pädagogischen Hermeneutik wird in keinem anderen Punkt sichtbarer als in Chladenius' Lehre vom "SehePunckt", die sämtliche Historiker der Hermeneutik ihrer Modernität wegen hervorgehoben haben. Wichtiger als diese Lehre selbst ist aber ihr didaktischer Stellenwert. An sich ist das Wort "Sehepunkt" nichts als die deutsche Übertragung des lateinischen "scopus", der ein zentrales Thema der Hermeneutik seit Augustin, Melanchthon und Flacius gewesen war. Chladenius setzt freilich neue Akzente, die dem universalen Perspektivismus der heutigen Hermeneutik vorausarbeiten. Der Sehepunkt wird zunächst als Zustand der Person umschrieben: "Diejenigen Umstände unserer Seele, unseres Leibes und unserer ganzen Person, welche machen oder Ursache sind, daß wir uns eine Sache so und nicht anders vorstellen, wollen wir den SehePunckt nennen."29 Nach Chladenius, der auf die Scopuslehre nicht hinweist, wurde der Ausdruck des Sehepunktes zunächst von Leibniz geprägt, der damit den unaufhebbaren Perspektivismus der Monaden kennzeichnete, der ja über keine Fenster, die einen reinen Blick nach
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draußen ermöglichten, verfügen. So bildet sich ein jeder für sich Perspektiven oder Bilder von dem, was sich in der Außenwelt abspielt, die aber durchgehend vom subjektiven Sehepunkt aus bedingt sind. Chladenius ordnet diese Perspektivenlehre in seine didaktisch-philosophische Hermeneutik ein. Der Sehepunkt sei ja "unentbehrlich, wenn man von den vielen und unzehliegen Abwechslungen der Begriffe, die die Menschen von einer Sache haben, Rechenschaft geben soll" .30 Daraus folgt, daß die Einsicht in den Perspektivismus für Chladenius keine Gefährdung der "Objektivität" darstellen kann, wie es heute gemeinhin befürchtet wird, sondern das gerade Gegenteil: Sie will sachgerechte Erkenntnis und besseres Verstehen allererst möglich machen. Nur wenn man den Sehepunkt mit in Betracht zieht, hat man eine Chance, von den individuellen "Abwechselungen, die die Menschen von einer Sache haben", Rechenschaft zu geben. Es geht also lediglich um das richtige Verständnis der Sprache durch Rückführung auf den sie leitenden Sehepunkt. Ein Sprachobjektivismus, der vom Sehepunkt absehen würde, ginge an den Sachen vollkommen vorbei. Dies ist die Grundlehre der universalen Hermeneutik. Der Begriff des Sehepunkts ist somit pädagogisch-hermeneutisch motiviert. Auch er dient zur "Beibringung" der Begriffe (im weiteren Sinne), welche zum Verständnis einer Stelle nötig sind. Chladenius hatte den guten Gedanken, dem Zeitalter der Aufklärung eine allgemeine Hermeneutik, die diesen Gesichtspunkt bedenkt, anzuraten. Er mag heute noch recht behalten.
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Eingangs haben wir darauf hingewiesen, daß es hier den Autoren nach nur um einen repräsentativen Überblick der Hermeneutik gehen konnte, insofern sie einen philosophischen bzw. universalen Charakter innehatte. Die letzte repräsentative Station der Universalhermeneutiken der Aufklärung, die unser besonderes Augenmerk reklamieren muß, ist der Versuch einer allgemeinen Auslegekunst von Georg Friedrich Meier (1718-1777).31 Im Jahre 1757 erschienen, handelt es sich nicht nur um die letzte Allgemeinhermeneutik des Rationalismus, sondern auch um eine grundlegend neue Form und gar eine Überbietung des Universalitäts anspruchs, dem wir in den propädeutischen Arbeiten von Dannhauer und Chladenius begegnet waren. Der neue, auch für sein Zeitalter zuhöchst repräsentative Universal isierungsschub liegt darin, daß sich der Anwendungsbereich der allge-
Meier: Die Universalität des Zeichenhaften
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meinen Auslegekunst nunmehr weit über den Horizont des Schriftlichen erstreckt, um das ganze All der Zeichen, auch der natürlichen, einzubeziehen. Daß die Hermeneutik bei Chladenius auf schriftliche Zeugnisse "eingegrenzt" war, ging aus dem Titel seiner Schrift hervor, >Einleitung zur richtigen Auslegekunst vernünftiger Reden und SchriftenManductio ad lectionem S. Scripturae< von 1693 entworfen worden. 53 Vgl. W. Dilthey, ebd. 54 Zitiert nach dem Auszug bei H.-G. GadameriG. Boehm, Seminar: Philosophische Hermeneutik, Frankfurt a. M. 1977, S. 62. 55 Ebd., S 65. 56 Von dieser doppelten Aufgabe zeugte noch Meiers (a.a.O., § 1) Definition der Hermeneutik als der Wissenschaft der zu beobachtenden Regeln, "wenn man (1) den Sinn aus der Rede erkennen, und (2) denselben andern vortragen will". Vgl. ferner J. A. Ernesti, Institutio interpretis Novi Testa-
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menti, Leipzig 1775, § 4, S. 4: "Interpretatio igitur omnis duabus rebus continetur, sententiarum (idearum) verbis subiectarum intellectu, earumque idonea explicatione. U nde in bone interprete esse debet subtilitas intelligendi, et subtilitas explicandi." 57 Ich verdanke diese Klarstellung meinem Budapester Kollegen Istvan M. Feher, der mich über eine ungarische Debatte zu dieser Frage unterrichtete. Vgl. dazu von I. M. Feher: >Hermeneutik und Philologie: Verständnis der Sachen, Verständnis des Textes< (im Erscheinen). 58 Institutiones hermeneuticae sacrae, Jena 1752, S. 2: "Posteriore modo accepta hermeneutica sacra, est habitus practicus, quo doctor theologus, necesariis adminiculis sufficienter instructus, praelucente spiritus sancti lumine, idonus redditur, ad sensum scripturae legitime investigandum, investigatumque aliis exponendum, & sapienter adplicandum." 59 F. Schleiermacher, Hermeneutik und Kritik, hrsg. von Manfred Frank, Frankfurt a.M. 1977, S. 99, Anmerkung. 60 Vgl. M. Beetz, a.a.O., S. 602. 61 GW, II, S. 80.
IH. DIE ROMANTISCHE HERMENEUTIK UND SCHLEIERMACHER Ich lese Hermeneutik, und suche was bisher nur eine Sammlung von unzusammenhängenden und zum Theil sehr unbefriedigenden Observationen ist zu einer Wissenschaft zu erheben welche die ganze Sprache als Anschauung umfaßt und in die in-' nersten Tiefen derselben von außen einzudringen strebt. l
1. Der nachkantische Übergang von der Aufklärung zur Romantik: Ast und Schlegel Versteht man vereinfachend genug unter Romantik eine unvollendbare Sehnsucht nach dem Vollkommenen, so war das 19.Jahrhundert hinsichtlich hermeneutischer Theorie ein romantisches. Es zeichnet sich in der Tat durch eine unerhörte Publikationsscheu aus. Kaum einer der großen Klassiker der Hermeneutik von Schlegel über Schleiermacher, Boeckh und Droysen bis hin zu Dilthey hat es gewagt, seine hermeneutischen Arbeiten selbst in Druck gehen zu lassen. Ihren Schülern ist es zu verdanken, daß ihre Forschungen der Nachwelt überliefert wurden. Der Übergang von der Aufklärung zur Romantik ist zunächst durch eine große Diskontinuität gekennzeichnet. Äußerlich ist dies schon daran ersichtlich, daß Schleiermacher die zahlreichen Allgemeinhermeneutiken der vorigen Jahrhunderte nicht mehr zu kennen scheint. Er kennt nur noch die "mehreren speziellen Hermeneutiken"2 (vornehmlich die theologische), die ihr ruhiges Dasein als unsystematische Hilfsdisziplinen am Rand der gediegenen Wissenschaften fortsetzten. Die Entfaltung einer grundsätzlicher ansetzenden, allgemeinen Hermeneutik als Kunst des Verstehens stellt er - und die Geschichtsschreibung ist ihm hierin gefolgt - als ein Novum und Desiderat hin, das erst seine Denkanstrengung zu erfüllen berufen sei. Das angehende 19.Jahrhundert ist vom Rationalismus früherer Jahrzehnte durch einen Abgrund getrennt. Zu Recht bemerkt P. Szondi, der diese Periode eindringlich erforscht hat, daß "das halbe Jahrhun-
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Die romantische Hermeneutik und Schleiermacher
dert, das zwischen Meier und Schleiermacher liegt, eine der markantesten geistesgeschichtlichen Zäsuren darstellt"3. Was ist geschehen? In einem Wort, oder Namen: Kant. Die Kantsche Kritik hat auf vielfache Weise gewirkt, aber eines hat sie wirkungs geschichtlich bedeutet, nämlich den Zusammenbruch des Rationalismus,4 dem etwa Dannhauer, Spinoza, Wolff, Chladenius und Meier huldigten. Bei aller Hervorhebung der naturkonstituierenden Leistung des reinen Verstandes war es doch eine Demütigung der Vernunft, die Kants >Kritik der reinen Vernunft< vorlegte. Grundvoraussetzung des Rationalismus war doch, daß der obzwar endliche Geist des Menschen dennoch imstande sei, mit Hilfe seines Denkens den logischen und regelrechten Aufbau der Welt zu erkennen. Federführend war dabei der Satz vom Grund (nihil est sine ratione), der seinen Sitz in unserem Gemüt hat. Von ihm aus seien die Vernunftwahrheiten (verites de raison, sagte Leibniz im damaligen Deutsch) apriori, d. h. aus Prinzipien unserer Vernunft zu erschließen. Aus dem Umstand, daß der Satz vom Grund unserem Verstand entstammt, zieht nun Kant die Folgerung, daß die von ihm hergestellte bzw. aufgefundene Ordnung lediglich für die Welt der Phänomene, der Dinge, wie sie uns erscheinen und von uns bearbeitet werden, Geltung besitzt. Die Welt der Dinge an sich entschwindet nunmehr in lauter U nerkennbarkeit. In dieser Unterscheidung von Phänomen und Ding an sich liegt eine der geheimen Wurzeln der Romantik und des Aufschwungs, der der Hermeneutik seitdem widerfahren ist. Wenn jeder Zugang zur Welt, und in unserem Fall zum Text, über eine subjektive Deutung oder Ansicht erfolgt, muß die prinzipiell sein wollende philosophische Besinnung bei diesem Subjekt ansetzen. Auf seine Ebene wird beispielsweise die Frage zu stellen sein, wie und ob Objektivität in wissenschaftlichen sive hermeneutischen Belangen zu erlangen ist. Insofern wird Schleiermachers Bestimmung der Hermeneutik als Kunstlehre des Verstehens ein gewisses Novum verkörpern. Zur Voraussetzung hat sie aber den Bruch mit dem problemlosen, rein rationalen Weltzugang. In dieser Situation des zunehmend weltlos werdenden Subjekts übte zuerst die Vorbildhaftigkeit des griechischen Geistes eine magische Faszination aus, die an die Namen von Goethe, Schiller und Winckelmann geknüpft ist. S Die Beschneidung der Autarkie menschlicher Vernunft, die Kants Dialektik zeitigte, ließ eine Wiedererwekkung des anscheinend lebensverschönenden und wohltätigen Geistes des Griechentums geboten erscheinen. In dieser Lage, die selbstredend mit Kant nichts mehr zu tun hat, setzte sich die "idealistische"
Ast und Schlegel
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Hermeneutik zur Aufgabe, diesem griechischen Geist zu neuem Leben zu verhelfen. Dies ist wohl der gemeinsame Nenner der frühromantischen Bemühungen, die man bei so verschiedenen Autoren wie Friedrich Ast und Friedrich Schlegel, deren Werk nicht ohne Einfluß auf Friedrich Schleiermacher blieb, vorfindet. Im Jahre 1808 konnte der Schelling-Schüler Ast ein >Grundlinien der Grammatik, Hermeneutik und Kritik< betiteltes Werk vorlegen, in dem es umstandslos darum ging, die Einheit des sich im Altertum und der ganzen Geschichte ausdrückenden Geistes durch "Ahndung" wiederzugewinnen. Für die Aufklärung wäre eine so hochgestapelte Aufgabe unter dem Titel Hermeneutik noch undenkbar gewesen. Ast geht von dem identitätsphilosophischen Befund aus, daß alles Verstehen ohne die ursprüngliche Einheit alles Geistigen unmöglich wäre. 6 Alles Verstehen ist sich überall wiedererkennender Geist, und nichts ist dem Geiste fremd. Ausgangspunkt der hermeneutischen Erfassung dieses Geistigen bildet aber die Kenntnis des Geistes des Altertums. So erklärt Ast: "Die Hermeneutik oder Exegetik (EQ!-tlJVe'lJ'tLXT), El;lJYlJLLXT), auch LOLOQLXT) genannt: enarratio auctorum bei Quintil. Inst. Orat. I, 9.1.) setzt daher das Verständnis des Altertums überhaupt in allen seinen äußeren und inneren Elementen voraus und gründet darauf die Erklärung der schriftlichen Werke des Altertums."7 Das Unternehmen von Ast ist natürlich universal veranschlagt, handelt es sich doch um das hermeneutische Selbstverständnis des einen, identischen Geistes in all seinen, vom Altertum ausgehenden Erscheinungen. In diesem Zusammenhang wächst der hermeneutischen Lehre vom scopus, der zufolge jede Stelle aus ihrer Absicht und ihrem Kontext zu erklären sei, neue Bedeutsamkeit zu: jede einzelne Äußerung soll nun vom Ganzen des Geistes her begriffen werden. Damit erhält die bereits bei Melanchthon begegnende Idee vom "hermeneutischen Zirkel", wie sie später genannt wird, ihre vielleicht universellste Ausprägung: "Das Grundgesetz alles Verstehens und Erkennens ist, aus dem Einzelnen den Geist des Ganzen zu finden und durch das Ganze das Einzelne zu begreifen. "8 In diesem "Grundgesetz" wird die künftige Hermeneutik eher ein allgemeines Problem in den Blick bringen und sich fragen, wie denn das Ganze aus dem Einzelnen zu gewinnen sei und ob die Vorahnung eines Ganzen die Erfassung des Einzelnen nicht beeintächtige. Für Ast besitzt dieses Gesetz noch rein beschreibenden Charakter: Das eine ist aus dem anderen zu verstehen und umgekehrt. Keines ist früher als das andere, beide bedingen sich wechselseitig und sind "Ein harmoni-
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Die romantische Hermeneutik und Schleiermacher
sches Leben".9 Aus der Problematisierung dieser Harmonie wird die hier faßbare Lehre vom hermeneutischen Zirkel zu einem entscheidenden Zankapfel der nachherigen Hermeneutik werden. Für Ast bedeutet sie nur die Selbstverständlichkeit, daß jeder Buchstabe auf einen übergeordneten Geist zurückzuleiten sei. Schlegels Hermeneutikverständnis blieb lange undokumentiert. Es fand seinen Niederschlag in den zwischen 1796-97 verfaßten >Heften zur PhilologieÜber den Begriff der Hermeneutik mit Bezug auf F. A. Wolfs Andeutungen und Asts LehrbuchHermeneutik und Kritik mit besonderer Beziehung auf das Neue Testament< zurück. Lücke, der Schleiermachers Hermeneutikvorlesungen nicht beiwohnte,!5 hat ein breites Material vorgefunden, um seine kompendienartige Ausgabe zusammenzustellen, denn zwischen 1805 und 1832 hielt Schleiermacher neun Vorlesungen zur Hermeneutik. Im Jahre 1805, zu Beginn seiner theologischen Lehrtätigkeit, traktierte er nur eine "Hermeneutica sacra" nach dem Muster des pietistischen Lehrbuchs vonJ. A. Ernesti. Ab 1809/10 las er schon über "allgemeine Hermeneutik".1 6 Parallel zu seinen Vorlesungen schrieb er einige Entwürfe zur Hermeneutik in Heften nieder, offensichtlich im Hinblick auf eine Veröffentlichung. Diese Publikation, die ihm nie gelang, war aber seit 1805 fest geplantY Woran diese Publikationsscheu liegen mag, ist nicht leicht zu ermitteln. Sicherlich nicht daran, daß er die Hermeneutik für eine zweitrangige Beschäftigung neben seiner theologischen Arbeit gehalten haben könnte. Die ständige Arbeit an der Sache und den Entwürfen zur Hermeneutik zeugt vom Gegenteil. Gewiß kann man Schleiermachers "unerwartet frühen Tod"!8 (er war immerhin 66 Jahre alt) für das Fehlen einer Ausarbeitung verantwortlich machen. Naheliegender ist vielleicht die Vermutung, daß Schleiermacher - darin echter Romantiker (und Hermeneutiker!) - mit seinen Entwürfen bzw. ihrem Ausdruck nie ganz zufrieden war. Dies belegt bei einer sich im wesentlichen gleichbleibenden Gesamtkonzeption das beständige Schwanken seiner Terminologie und seiner Schwerpunkte, das der Schleiermacher- und Hermeneutikforschung viel Kummer bereitet hat. Hier kann nur das in sich sehr schlüssige Gesamtkonzept und sein hermeneutischer Neubeginn im Vordergrund stehen. Die Rede von einem Neubeginn ist schon etwas verführerisch und zum Teil falsch bei Schleiermacher.1 9 Denn grundsätzlich folgt er der älteren Hermeneutik, wenn er am Anfang seiner Hermeneutik erklärt, daß "jeder Akt des Verstehens die Umkehrung eines Aktes des Redens ist, indem in das Bewußtsein kommen muß, welches Denken der Rede zum Grunde gelegen".2o Geht man davon aus, daß "jede Rede auf einem früheren Denken [beruht]'',2! so unterliegt es keinem Zweifel, daß die Grundaufgabe des Verstehens darin aufgeht, den Ausdruck auf das ihn animierende Aussagewollen zurückzuführen: "Gesucht wird dasselbe in Gedanken, was der Redende hat ausdrücken gewollt. "22 Was nlan zu verstehen sucht, ist der Sinn einer Rede,23 d. h. den
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Ausdruck eines Anderen oder Gedachten. So hat das Verstehen kein weiteres Objekt als die Sprache. Daher schreibt Schleiermacher in einem bekannten, von Gadamer als Motto zum letzten Teil von >Wahrheit und Methode< übernommenen Ausspruch: "Alles Vorauszusetzende in der Hermeneutik ist nur Sprache. "24 Diese Grundvoraussetzung besitzt bei Schleiermacher einen spezifischen, architektonischen Sinn. Sprache läßt sich auf zweierlei Weise betrachten. Einerseits ist die jeweils zu deutende Sprache ein Ausschnitt aus der Totalität des Sprachgebrauchs einer gegebenen Gemeinschaft. Jeder Sprachausdruck folgt nämlich einer vorgegebenen Syntax oder dem Gebrauch und ist insofern etwas Überindividuelles. Den Teil der Hermeneutik, der sich mit diesem Aspekt beschäftigt, wird Schleiermacher "die grammatische Seite"25 der Interpretation benennen. Ihr obliegt es, einen Ausdruck aus dem Gesamtzusammenhang der vorliegenden Sprachtotalität zu erklären. Der Ausdruck ist aber nicht nur der anonyme Träger einer prinzipiell überindividuellen Sprache, er ist auch das Zeugnis einer individuellen Seele. Die Menschen denken sich nicht immer dasselbe unter denselben Worten. Wäre es so, dann gäbe es "nur Grammatik" .26 Die Hermeneutik, die sich nicht gemäß einer Tendenz, die im Strukturalismus unserer sechziger Jahre ausgeprägt war, in Grammatik auflösen will, muß die andere Seite der Interpretation, die individuellere, berücksichtigen. Diese zweite, die Hermeneutik allererst zu einer Einheit formende Aufgabe ist die der "technischen" Interpretation. Technisch meint hier vermutlich, daß der Interpret die besondere Kunst, die ein Autor in einem seiner Texte an den Tag legte, zu verstehen sucht. Hier wird offensichtlich die rein syntaktische Sicht der Sprache auf das, was Sprache eigentlich aussagen will, hin überschritten. Angezielt wird das Verstehen eines Geistes, das Sprache aus der sie hervorbringenden Seele heraus erschließt. Deshalb konnte Schleiermacher später diese Seite der Interpretation die "psychologische" nennenP Schleiermachers allgemeine Hermeneutik gabelt sich in zwei Aufgaben und folglich zwei Teile: die grammatische und die technische bzw. psychologische. Die grammatische betrachtet die Sprache aus der Totalität ihres Sprachgebrauchs heraus, die technisch-psychologische faßt sie als Ausdruck eines Inneren. Die Hermeneutik will aber eine "Kunstlehre" sein - eine Wendung, der bei Schleiermacher neue Konnotationen zuwachsen werden, da der Hermeneutik immer mehr die Aufgabe zugewiesen wird, den Akt des Verstehens "kunstmäßig" auszubilden (was nicht wenig an Schlegel erinnert). Aufschlußreich ist in diesem Bezug Schleiermachers Unterscheidung zwischen einer
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laxeren und einer strengeren Praxis der Interpretation, die zwei grundsätzlich verschiedene Zweckbestimmungen der Hermeneutik nach sich zieht. Die laxere (in der bisherigen Hermeneutikgeschichte übliche) Praxis geht davon aus, "daß sich das Verstehen von selbst ergibt und drückt das Ziel negativ aus: Mißverstand soll vermieden werden". Es unterliegt keinem Zweifel, daß Schleiermacher hier die klassische Stellenhermeneutik meint, die lediglich Anleitungen geben wollte, um dunkle Stellen zu entschlüsseln. Schleiermacher selbst zielt hingegen auf eine strengere Praxis ab, die davon auszugehen hätte, "daß sich das Mißverstehen von selbst ergibt und das Verstehen auf jedem Punkt muß gewollt und gesucht werden" .28 In dieser Unterscheidung meldet sich die Originalität des hermeneutischen Ansatzes von Schleiermacher. Was nunmehr "laxere" Praxis heißt, wird mit einem kunstlosen, da rein intuitiven Verstand gleichgesetzt. 29 Sicherlich ist das Verstehen in seiner normalen Entfaltungsweise kunstlos, d. h. für sich unproblematisch. Es war die Sicht der traditionellen Hermeneutik, daß man alles richtig und glatt versteht, bis man auf einen Widerspruch stößt.3° Eine Hermeneutik wird erst dann nötig, wenn man nicht (mehr) versteht. Die Verständlichkeit war früher das Primäre oder das Naturwüchsige, das Nichtverstehen sozusagen der Ausnahmefall, um dessen twillen es einer besonderen hermeneutischen Hilfe bedurfte. Schleiermacher stellt diese "naive", provinzielle Perspektive auf den Kopf und setzt das Mißverstehen als Grundtatbestand voraus. Vom Anbeginn der Verstehensbemühung an ist der Hermeneut vor möglichem Mißverstand auf der Hut. Das Verstehen hat also in allen seinen Schritten kunstgemäß zu verfahren. "Das Geschäft der Hermeneutik darf nicht erst da anfangen, wo das Verständniß unsicher wird, sondern vom ersten Anfang des Unternehmens an, eine Rede verstehn zu wollen. Denn das Verständniß wird gewöhnlich erst unsicher, weil es schon früher vernachlässigt worden. "31 Diese strengere Praxis ist diejenige, die Schleiermacher mit seiner Hermeneutik anbahnen will. So verlangt Schleiermacher explizit: "Die hermeneutischen Regeln müssen mehr Methode sein."32 In diesem "mehr Methode" liegt nahezu der Wahlspruch der modernen Hermeneutik, die Schleiermacher einleitet. Auf diese Weise gewinnt die Kunst des Verstehens eine betont rekonstruktive Funktion, die auf der Universalisierung der Problematik des Mißverständnisses beruht. Sie ist von einem Subjektverständnis durchdrungen, dem wir schon bei Schlegel begegnet waren. Die nachkantische Vernunft, deren Erkenntnisanspruch problematisiert wurde, ist fundamental
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unstabil geworden, weil ihr der begrenzte, perspektivische, hypothetische Charakter ihrer Verstehensversuche aufgegangen ist. Künftighin muß vom universalen Primat des Mißverständnisses der Ausgang genommen werden. Dieses Element des Verstehens ist in der Tat universalisierungsfähig: Wann läßt sich wirklich behaupten, daß man eine Sache zu Ende begriffen hat? Bei allem Verstehen, selbst dort, wo es zu gelingen scheint, kann ein Rest Mißverstehen nicht ausgeschlossen werden. Auf die Universalisierung der allzu menschlichen Erfahrung, daß, wie es 1829 heißt, "das Nichtverstehen sich niemals gänzlich auflösen will" ,33 kommt es Schleiermacher an. Deshalb muß er die Grundoperation der Hermeneutik oder des Verstehens - erst jetzt können beide Termini rigoros identisch werden - als die einer Nachkonstruktion ansetzen. Um eine Rede wirklich zu verstehen, d. h. um die stets drohende Gefahr des Mißverständnisses zu bannen, muß ich sie von Grund aus in all ihren Teilen rekonstruieren können, gleich als ob ich ihr Urheber wäre. Im Verstehen geht es nicht um den Sinn, den ich in eine Sache hineinlege, sondern um den Sinn, wie er sich vom zu rekonstruierenden Standpunkt des Autors aus zeigt. Diese hermeneutische Gerechtigkeit dem Gegenstand gegenüber bringt Schleiermacher dazu, die Aufgabe so zu formulieren, "die Rede zuerst ebensogut und dann besser zu verstehen als ihr Urheber" - eine zuerst von Kant verwendete Formel, die Schleiermacher in all seinen Texten zur Hermeneutik anführt. 34 Das Ziel des Besserverstehens läßt sich nur als optimale Forderung auffassen, denn so gestellt, handelt es sich um eine "unendliche Aufgabe", wie Schleiermacher oft unterstreicht. Mag der Imperativ des Besserverstehens etwas überschwenglich erscheinen, gemäß der potentiellen Universalität des Mißverständnisses soll es aber lediglich als Anleitung zum fortwährenden Weiterinterpretieren verstanden werden. 35 Da man des eigenen Verstehens nie ganz sicher werden kann, muß man immer wieder und immer von neuem in die Sache einzudringen streben. Das Besserverstehen als unerreichbarer Telos des Verstehens zeugt von dem Ansporn, der darin liegt, daß man nie vollkommen verstanden hat, so daß tieferes Eingehen auf das zu Deutende immer lohnt. Es erhebt sich freilich die Frage, ob die Gestalt einer "Kunstlehre", die eine streng rekonstruierende Praxis der Interpretation zu verwirklichen trachtet, der hier abgehandelten Sache gerecht werden kann. Schleiermacher hat selbst einige Kanones und Regeln, vor allem für den grammatischen Teil der Hermeneutik, vorgelegt. Er blieb sich aber immer dessen bewußt, daß es für die Anwendung der hermeneu-
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tischen Regeln selbst keine Regeln gab. 36 Er bot zwar allgemeine "Methoden" der Interpretation an, die im wesentlichen eine Erneuerung der Regeln der alten Hermeneutiktradition verrieten, so z. E. die Forderung, Stellen aus ihrem Kontext heraus zu erklären, verzichtete aber konsequent darauf, Regeln ihrer Anwendung zu geben oder in ihnen das Entscheidende zu sehen. Im "technisch-psychologischen" Teil, der sich mit der Rede als Manifestation eines Individuums befaßt, sprach er sogar von der Unabdingbarkeit der "Divination" im interpretativen Prozeß. Darunter ist keine göttliche Eingabe gemeint, sondern schlicht ein Vorgang des Erratens (divinare)Y Wenn uns die vorwiegend komparativistischen Mittel der grammatischen Deutung im Stich lassen, wenn die Aufhellung der besonderen Ausdrucksweise eines Autors angepackt werden soll, muß oft genug einfach erraten werden, was der Autor hat sagen wollen. Schleiermacher setzt überall und zu Recht voraus, daß hinter jedem gesprochenen oder geschriebenen Wort etwas anderes, ein Gedachtes steht, das die eigentliche Zielscheibe des Interpretierens bildet. Das Gedachte gibt sich aber nur in Worten kund. Deswegen läßt es sich letztlich nur erraten. Daher legte Schleiermacher immer mehr Wert auf das divinatorische Verstehen in der Hermeneutik. So mag er sich selbst etwas "mißverstanden" haben, als er seine eigene hermeneutische Konzeption unter das Programm einer regelgeleiteten Kunstlehre ("mehr Methode") stellte. Denn wie kaum ein anderer besaß er einen scharfen Sinn für die Grenze des Methodisierbaren und die Notwendigkeit einer gefühlsmäßigen Divination im Reich der Interpretation. Vielleicht hat er deshalb auf eine Edition seiner Hermeneutik in Gestalt einer Kunstlehre verzichtet?
3. Psychologistische Einschränkung der Hermeneutik?
Angesichts der noch lückenhaften Quellenlage bleibt es gewagt, über die Entwicklung der Schleiermacherschen Hermeneutik zu spekulieren. Von der Sache her hat aber die Schleiermacher-Forschung nicht ganz unrecht, in seinen späteren Arbeiten einen Vorrang der psychologischen Interpretation aufzuspüren,38 der sich u. a. darin äußerte, daß die technische Interpretation in eine psychologische umbenannt wurde. Mehr und mehr wird Schleiermacher darüber ins klare gekommen sein, daß der Ertrag einer rein grammatikalischen Auslegung recht bescheiden ausfallen mußte. Letztes Ziel der Interpretation war es für diesen Romantiker, hinter die Rede zum inneren
Psychologistische Einschränkung der Hermeneutik?
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Denken vorzustoßen. 39 Faktisch ist es doch meist so, daß der rein sprachliche oder grammatische Zustand einer Stelle unproblematisch ist. Was man nicht versteht und stets mißverstehen kann, ist eben das, was der Schriftsteller sagen wollte. Deswegen will und muß man seine Rede "interpretieren", d.h. verständlich machen durch Rückführung auf einen Aussagewillen. Die Akademierede von 1829 spricht allenthalben deutlich aus, daß die "äußere" Sprache durch ihre Rückbezogenheit auf das innere Denken des Autors zum Verständnis gebracht werden sol1. 40 Die ganze vorherige Geschichte der Hermeneutik hatte wahrlich keine andere Priorität gehabt. Die neuere Hermeneutik hat aber an Schleiermachers Redeweise ausgesetzt, daß sie einer Preisgabe der Sinn- bzw. Sachbezogenheit der älteren Hermeneutik gleichkäme. Anstatt einen Sinn oder eine Wahrheit zu ermitteln, käme es Schleiermacher nur noch darauf an, einen Autor oder einen schöpferischen Akt zu verstehen. Für Schleiermacher, so lautet Gadamers bekannter Einwand, solle der Interpret "die Texte unabhängig von ihrem Wahrheitsanspruch als reine Ausdrucksphänomene"41 betrachten. Viele Schleiermacher-Spezialisten, insbesondere M. Frank, haben dagegen Einspruch eingelegt, aber sie taten dies so, daß sie die allgemein für verwerflich gehaltene "Psychologisierung" der Hermeneutik Dilthey anlasteten. Er allein hätte einem Sichhineinversetzen des Interpreten in die Seele des Autors das Wort gesprochen. Wahr daran ist, daß Dilthey Schleiermacher stark psychologistisch rezipiert hat. Er sah es als den "treibenden Gedanken" Schleiermacher an, daß die Interpretation eine Nachkonstruktion des Werkes als eines lebendigen Aktes des Autors sei, woraus folge, daß es Aufgabe der hermeneutischen Theorie sei, "diese Nachkonstruktion wissenschaftlich zu begründen aus der Natur des produzierenden Aktes" .42 Man sollte jedoch nicht so tun, als ob Schleiermacher nicht selber geschrieben hätte, daß "die Aufgabe der Hermeneutik darin besteht, den ganzen inneren Verlauf der komponierenden Tätigkeit des Schriftstellers auf das vollkommenste nachzubilden".43 Zur Verhandlung steht einzig, ob es der Sache angemessen ist, die äußere Sprache als Verlautbarung eines inneren Denkens zu vernehmen. Völlig daneben wäre es, wollte man lediglich den unbewußten, kompositorischen Prozeß der Gedankenerzeugung nachkonstruieren. Diese Seele interessiert niemanden. Führt es aber wirklich in die Irre, Sprachliches auf seinen eigenen, hintergründigen Aussagegehalt hin zu erforschen? Soweit wir sehen, ist es allein die Rekonstruktion dieses Inneren, die Schleiermacher im Blickfeld hat. Muß dies im Ernst als "Psychologisierung" verworfen werden? Denn
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damit ist alles andere als ein Absehen vom Wahrheitsgehalt der Rede impliziert. Ganz im Gegenteil: Eine Einschränkung des Wahrheitsanspruches der Rede läge vielmehr in der Mißachtung dieses inneren Denkens, das eine jede Rede trägt. Der Wahrheit wird man nur teilhaftig, wenn man hermeneutisch gesinnt ist, d. h., wenn man bereit ist, den leichten Dogmatismus der rein grammatischen Ebene zu durchbrechen und in die Seele des Wortes einzutreten.
4. Der dialektische Boden der Hermeneutik Schleiermacher kann man nur eine sachfremde Psychologisierung zur Last legen, wenn man den dialektischen, genauer: dialogischen Horizont seiner Hermeneutik außer acht läßt. Unter Dialektik, die als oberste philosophische Wissenschaft angesetzt wird, der sich die Hermeneutik unterordnet, versteht Schleiermacher eine Kunstlehre des Sichverständigens. Ihre Notwendigkeit erwächst aus der Unnachvollziehbarkeit eines "vollendeten Wissens" oder eines archimedischen Punktes für uns Menschen. Angesichts unserer Endlichkeit müssen wir vielmehr annehmen, glaubt Schleiermacher, daß überall auf dem Gebiet des Denkens, wie die Geschichte der Wissenschaften deutlich genug lehre, unendlich Stoff zum Streit vorhanden sei. 44 So bleiben wir darauf angewiesen, Gespräche miteinander - und mit uns selbst, betont Schleiermacher - zu führen, um zu gemeinsamen und vorerst streitfreien Wahrheiten zu gelangen. Dieser dialektische Ansatz, der aus dem Sturz der metaphysischen Letztbegründungsversuche hervorgeht, geht Hand in Hand mit der Universalisierung des Mißverständnisses, die seiner Hermeneutik ihre spezifische Brisanz verleiht: Das prinzipiell im Irrtum befindliche Individuum kann sein Wissen nur auf dem Wege des Gesprächs oder des Gedankenaustausches mit anderen erobern. Die Hermeneutik, als "die Kunst, die Rede eines anderen, vornehmlich die schriftliche, richtig zu verstehen" , 45 partizipiert an dieser dialogischen Wissenssuche. Um einen Text zu verstehen, muß man ja in ein Gespräch mit ihm treten und damit hinter das, was seine Worte unmittelbar aussagen, kommen: "Wer könnte mit ausgezeichnet geistreichen Menschen umgehen, ohne daß er ebenso bemüht wäre, zwischen den Worten zu hören, wie wir in geistvollen und gedrängten Schriften zwischen den Zeilen lesen, wer wollte nicht ein bedeutsames Gespräch, das leicht nach vielerlei Seiten hin auch bedeutende Tat werden kann, ebenso genauer Betrachtung wert halten,
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die lebendigen Punkte darin herausheben, ihren innern Zusammenhang ergreifen wollen, alle leisen Andeutungen weiter verfolgen?"46 Die Hermeneutik ruht auf dialogischem Boden: Einen Text auslegen heißt, sich auf ein Gespräch mit ihm einzulassen, Fragen an ihn zu richten und sich von ihm in Frage stellen zu lassenY Immer wieder muß die Interpretation, will sie nicht redundant werden, das rein Geschriebene übersteigen und so "zwischen den Zeilen lesen", wie Schleiermacher glücklich sagte. Diese Kunst ähnelt sehr der des Gesprächs. Jedes geschriebene Wort ist an sich ein Dialogangebot, das ein Text mit einem anderen Geist führen will. So rät Schleiermacher dem Ausleger schriftlicher Werke dringend an, "die Auslegung des bedeutsameren Gesprächs zu üben".48 Was diese Kunst des Gesprächs mit schlechter Psychologisierung gemein haben soll, leuchtet wirklich nicht ein. In diesen dialogischen Rahmen ist Schleiermachers Aufnahme des hermeneutischen Zirkels eingenistet. Wir hatten bei Friedrich Ast gesehen, daß jede einzelne Äußerung des Geistes aus ihrem Gesamtzusammenhang, aus ihrem Ganzen her zu verstehen sei. Für Ast war schließlich dieses Ganze die allumfassende Einheit des Geistes, wie sie sich in den Grundepochen der Menschheit verausgabt. Schleiermacher ist dieses idealistische Ganze zu ungeheuer. Nach ihm läßt sich dieses Ganze bescheidener nach zwei Seiten hin bestimmen, die der Zweiteilung seines hermeneutischen Konzepts entsprechen. Nach der grammatischen, hier "objektiv" genannten Seite hin ist das Ganze, von dem her sich das Einzelne beleuchten läßt, die literarische Gattung, der es entsprießt. Nach der psychologischen oder subjektiven Seite hin ist aber das Einzelne (die Stelle, das Werk) als "Tat seines Urhebers" anzusehen und aus dem "Ganzen seines Lebens" zu erklären. 49 Damit begreift Schleiermacher das Individuum als das letzte Woraufhin, dem sich die Interpretation anzunähern hat. Auf diese Weise setzt er sich merklich von dem Unterfangen seines Lehrers Ast ab, den Zirkel "noch einmal zu potentieren"5o und die individuelle Leistung als Glied eines noch höheren, idealistischen oder geschichtlichen Ganzen aufzufassen. Schleiermachers Begrenzung der hermeneutischen Zirkularität auf die Totalität eines individuellen Lebens ist kennzeichnend für sein Bestreben, das Sprachliche als Emanation eines inneren Denkens, d. h. als Mitteilungsversuch einer Seele zu verstehen. Indern aber Ast den Zirkel geschichtlich potenziert hat, hatte er - sehr gegen seinen idealistischen, universalgeschichtlichen Willen - dem Epochenrelativismus des heraufsteigenden Historismus, für den alles als Ausdruck seines Zeitalters zu deuten sein wird,
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vorausgedacht. Wir wenden uns nun dem Universalitätsanspruch, den diese neue Blickweise für die Hermeneutik zeitigte, zu.
Anmerkungen 1 F. Schleiermacher, Brief an Ehrenfried von Willich vom 13. Juni 1805, zitiert bei W. Virmond, Neue Textgrundlagen zu Schleiermachers früher Hermeneutik, in: Schleiermacher-Archiv, Bd. I11, BerliniNew York 1985, S. 584. 2 F. Schleiermacher, Hermeneutik und Kritik, S. 75. 3 Einführung in die literarische Hermeneutik, S. 136. 4 Für eine weniger rabiate Präsentation der Kantschen Revolution sei auf unsere frühere Untersuchung >Kant zur Einführung< (Hamburg 1994) verWIesen. 5 Vgl. P. Szondi, a.a.O., S. 135f. 6 F. Ast, Grundlinien der Grammatik, Hermeneutik und Kritik, Landshut 1808, § 70 (vgl. den Auszug bei H.-G. GadameriG. Boehm, 1977, S. 112). 7 Ebd., § 71 (GadameriBoehm, S. 113f.). 8 Ebd., § 75 (GadameriBoehm, S. 116). 9 Ebd. Zur Vorreiterfunktion dieser Zirkellehre vgl. W. Dilthey, GS, XIV/I, S. 657-659. 10 Friedrich Schlegels >Philosophie der PhilologieHistorik< auf. Die "Interpretation" wird zwar bei ihm thematisiert, aber erst in einem relativ späten Stadium seiner >HistorikHistorik< zu liefern verspricht. Unser Zeitalter, stellt Droysen wohlbegründet fest, ist das der Wissenschaft, wobei die mathematischen Naturwissenschaften das Paradigma abgeben. Wie erklärt sich aber ihr unbezweifelbarer Erfolg? Nach Droysen beruht er darauf, "daß sie sich ihrer Aufgaben, ihrer Mittel, ihrer Methode völlig klar bewußt sind und daß sie die Dinge, welche sie in den Bereich ihrer Forschungen ziehen, unter den Gesichtspunkten und nur unter denen betrachten, auf welche ihre Methode gegründet ist".9 In der Klarheit ihres Methodenbewußtseins liegt also der Erfolg der Naturwissenschaften. Soll das historische Wissen, folgert er, zur Wissenschaftlichkeit erhoben und dem Eindringen mathematisch-physikalischer Methodik im Bereich der Historie Widerstand geleistet werden, sind die historischen Wissen-
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schaften darauf angewiesen, ihre eigenen Methoden herauszuentwickeln. Das methodologische Dilemma der Legitimation der historischen Wissenschaft erscheint also als die direkte Folge des von den exakten Naturwissenschaften aufgewiesenen Siegeszuges. "Erst seit die Naturwissenschaften sicher und ihres Weges bewußt sich ihre Methode begründeten und damit einen neuen Anfang gewannen, tauchte der Gedanke auf, auch der uf.-le'froöoC; flAll der Geschichte eine methodische Seite abzugewinnen."lo Um dem methodologischen Selbstverständnis der Historie nachzuhelfen, lehnt Droysen zwei mögliche Auswege ab: einerseits den positivistischen, der die Geschichte den mathematischen Methoden der Naturwissenschaft unterwerfen will und sie etwa anmahnt, dergleichen wie statistische Gesetze der Geschichte aufzufinden; andererseits die Auffassung der Geschichte als einer bloß erzählenden, unterhaltenden, kurzum, dilettantischen Kunst. So etwas dürfe kein Daseins recht als Wissenschaft genießen. Die Historie ist aber doch anderer Art als die Naturwissenschaft. Zweck der Historik wird es also sein, den eigenen Sinn und das eigene Verfahren der historischen Studien zu rechtfertigen. Bündig heißt es im Aufsatz von 1867, >Kunst und MethodeHistorik< mit einer anthropologisch-gnoseologischen Begründung anheben läßt. Ihr zufolge gibt es zwei grundsätzliche Auffassungsweisen des Geistes: Natur und Geschichte (bzw., kantischer, Raum und Zeit). Unser Gemüt begnügt sich nicht damit, empirische Tatsachen aufzusammeln, es tut es, indem es das Aufgefaßte unter Begriffe und Kategorien bringt, deren zwei allgemeinste Raum und Zeit sind: Im Raum oder in der Natur überwiegt das Ruhende, stets Gleiche, sinnlich Wahrnehmbare, in der Geschichte und in der Zeit das Wechselnde. Diese Doppelheit des Weltzugangs hängt mit der des menschlichen Wesens zusammen, das zugleich geistig und sinnlich ist. Diese gleichsam apriorische Doppel-
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heit ermöglicht zwei Betrachtungsweisen des Seienden, somit zwei Arten von Empirie, die in den N atur- und den Geisteswissenschaften ihren Ausdruck finden. Während die naturwissenschaftliche Methode in der Auffindung von normativen Gesetzen für die beobachteten Erscheinungen besteht,13 liegt das Wesen der historischen Wissenschaft darin, "forschend zu verstehen".1 4 So neu der methodologische Horizont sein mag, der hier in Ansatz gebrachte Verstehensbegriff weicht nicht von dem der früheren Hermeneutik ab: Verstehen heißt nach wie vor Ausdrücke "auf das zurückzuführen, was sich in ihnen hat ausdrücken wollen".!5 Historisches Verstehen, betont hierbei Droysen, ist im Grunde dasselbe wie das Verstehen eines mit uns Sprechenden. Immer fassen wir dabei das einzelne Wort als Äußerung eines Inneren. Die historische Wissenschaft baut sich durch Rückschluß auf die Kraft, die Macht, das Innere auf, das in den geschichtlichen Zeugnissen zum Ausdruck gekommen ist. Was wir dabei zu verstehen suchen, ist nicht die Vergangenheit selbst, denn sie ist eben nicht mehr gegenwärtig, sondern das von ihr in den gegenwärtigen Materialien und Quellen noch Erhaltene.!6 Das Verstehen des Historischen gilt den uns überlieferten Überresten der Vergangenheit. Auch für Droysen trifft Boeckhs Ausspruch zu, daß das Verstehen das Wiedererkennen eines Erkannten ist, nämlich das Eindringen in das von der uns noch erreichenden Überlieferung Aufbewahrte, um daraus den Geist der Vergangenheit zu rekonstruieren. Droysen denunziert die Ansicht, daß es der Historiker mit objektiven Befunden der Vergangenheit zu tun habe, als einen Wahn: "Es heißt die Natur der Dinge, mit denen unsere Wissenschaft beschäftigt ist, verkennen, wenn man meint, es da mit objektiven Tatsachen zu tun zu haben. Die objektiven Tatsachen liegen in ihrer Realität unserer Forschung gar nicht vor."!7 Was dem Historiker vorliegt, sind erhaltene Zeugnisse, also bereits verstehende Auffassungen des Vergangenen, die es erneut zu beleben gilt, um das als solches nicht gegebene Vergangene zu rekonstruieren. Indem sie ihre Quellen kritisch forschend befragt, hat die historische Wissenschaft "nicht bloß zu wiederholen, was als Geschichte überliefert vorliegt, sondern sie muß tiefer eindringen, sie will soweit irgend möglich, was irgend noch von der Vergangenheit wieder aufzufinden ist, im Geist wieder lebendig erstehen lassen und verstehen, sie will gleichsam neue erste Quellen schaffen".!8 Die auf Quellenkritik beruhende Reaktivierung des Geschehenen im Verstehen verfolgt sozusagen die Absicht, die Geschichte besser zu verstehen, als sie überliefert wurde. Was wir dabei gewinnen, ist freilich "nicht ein Bild des Geschehenen an sich, 50n-
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dern unserer Auffassung und geistigen Verarbeitung davon".19 Durch die Hinterfragung der überlieferten Auffassungen erlangen wir zwar möglichst bessere Ansichten, aber nichts als das, also die immer wieder unternommene Wiedererkenntnis eines Verstandenen. Wenn der Historiker hinter die geschichtlichen Äußerungen geht und auf deren Inneres hin forscht, strebt er, das Einzelne aus dem Ganzen, aus dem es hervorgeht, und umgekehrt das Ganze aus diesem Einzelnen, in dem es sich ausdrückt, nachzukonstruieren. 2o Die Geschichte bleibt zwar eine auf Zeugnissen fußende Erfahrungswissenschaft, aber Wissenschaft gibt es nur, wo zu dem Einzelnen, das die Empirie gibt, ein Allgemeines hinzutritt, das durch unseren forschenden Gedanken erkannt wird. 21 Wie ist aber dies Allgemeine oder "Innere", das der Historiker zu rekonstruieren sucht, zu bestimmen? Mit den Worten Droysens gefragt: Wie wird aus den Geschäften Geschichte?22 Dieses vermutete Allgemeine und Notwendige, das die einzelnen Tatsachen zusammenleimt, liegt nach Droysens Auskunft in der "Kontinuität der fortschreitenden geschichtlichen Arbeit und Schaffung"23, in der Entöomc; EtC; a:trt6, dem Zusichselbstwachen der geschichtlichen Welt. Die fortschreitende Kontinuität der Geschichte kann nur ideeller, sittlicher Art sein. Der Gang der Geschichte, wie ihn unser Verstehen zu erforschen strebt, ist gekennzeichnet durch die (postulierte) sich steigernde Kontinuität der sittlichen Welt. Das Geschehen mag oft rückläufig sein, aber "rückläufig nur, um dann mit doppelter Spannkraft wieder vorzudringen" .24 Damit läßt sich der Gegenstand der forschenden Historie umreißen: Die Geschichte ist ihrem Wesen nach ein Verstehen der sich fortschreitend entwickelnden sittlichen Mächte. In den sittlichen Mächten (von Familie, Sprache, Religion, Recht, Wissenschaft usw.) hat der Historiker, schreibt Droysen mehrfach, die Fragenreihe, mit der er an das historische Material herantritt, um es auf seinen sittlichen Gehalt hin zu interpetieren. Die Zielscheibe des historischen Forschens gewinnt dadurch an Schärfe. Das Verstehen des Einzelnen wird darin aufgehen, daß es auf das Ganze der geschichtlich-ethischen Entwicklung rückbezogen wird als sein Inneres, sein Gesetz oder Sinn. Denn "die Menschheit ist nur die Summe und Zusammenfassung aller dieser sittlichen Mächte und Gestaltungen und jeder einzelne nur in der Kontinuität und Gemeinschaft dieser sittlichen Mächte" .25 Wohlbedacht spricht Droysen hier von einem forschenden Verstehen, um die "Methode" der historischen Studien zu authentifizieren. Entgegen dem, was der positivistische Rahmen des Jahrhunderts nahelegen könnte, bedeutet Forschen nicht ein Vorgehen der bienenhaf-
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ten und betriebsmäßigen Ansammlung von Tatsachen. Gadamer vermutet unter dem »forschenden Verstehen« einen stillschweigenden religiösen Unterton, wie etwa in der Rede von der Gewissensforschung. 26 Richtig daran ist, daß Droysen nur deshalb von einem Forschen spricht, weil das Ganze der Geschichte, auf das das Verstehen zugeht, als solches nie gegeben ist. Verstehen bedeutet ja, vom gegebenen Befund oder Zeichen aus auf das hin zu forschen, was nicht unmittelbar gegeben ist. Diese Konnotation von Forschung tritt besonders klar zum Vorschein, wenn Droysen das Thema vom Ende der Geschichte anschneidet. Der verstehende Historiker nimmt an, daß die Geschichte ein Fortschreiten nach sittlichen Zwecken aufweist. Der "Zweck der Zwecke«, das Ziel der Geschichte läßt sich aber natürlich nicht empirisch nachzeichnen. Das einzige, was sich sagen läßt, ist, daß sich unser Verständnis und Ausdruck für diesen Zweck der Zwecke mit jedem Stadium steigert und vertieft. Ja, gerade dies, daß sich unser Verständnis für das Ziel der Ziele erweitert und verfeinert, ist als das eigentliche Fortschreiten der Menschheit anzusehen. So begriffen, ist die Geschichte nichts anderes als das stetig wachsende Bewußtwerden und Bewußtsein der Menschheit über sich selbst: "Nach dem Maß dieser durchmessenen Stadien wächst der menschliche Ausdruck für den Zweck der Zwecke, für die Sehnsucht nach ihm, für den Weg zu ihm. Daß mit jedem Stadium der Ausdruck sich erweitert, steigert, vertieft, das und nur das kann als das Fortschreiten der Menschheit gelten wollen. «27 Die Epochen der Geschichte werden so zu Stadien der Selbsterkenntnis der Menschheit, ja zur Gotterkenntnis, fügt Droysen hinzu. 28 Da die Geschichte noch unvollendet ist, bleibt das historische Verstehen unvollkommen, d. h.: bloß "forschende«. Das forschende Verstehen manifestiert an dieser Stelle seine besondere Brisanz. »Forschen« findet nur dort statt, wo uns eine endgültige Erkenntnis verwehrt ist, wo wir den Sinn hinter dem geschichtlichen Ausdruck nur mutmaßen können: »Dem endlichen Auge ist Anfang und Ende verhüllt. Aber forschend kann es die Richtung der strömenden Bewegung erkennen. "29 Im Grunde ist für ein endliches Wesen jedes Verstehen ein tastendes Forschen. Stets ist es darauf aus, hinter das unmittelbar Vorgegebene einen Sinn hinzuzudeuten, der sich aber nicht selbst feststellen oder -setzen läßt. Nur forschend, d.i. mutmaßend und vermutend erkennen wir unsere geschichtliche Welt. Das forschende Verstehen findet Anklang in Boeckhs schöner Idee einer Erkenntnis des Erkannten: Unaufhörlich strebt unser Verstehen danach, hinter das schon
Diltheys Weg zur Hermeneutik
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Erkannte zu kommen, um dessen über den Buchstaben hinausgehenden Sinn auszuschöpfen. Durch dieses Verfahren des forschenden Verstehens der sittlichen Welt wird nach Droysens Programm der geschichtlichen a~H}oöoEinleitung in die GeisteswissenschaftenEinleitungÜber das Studium der Geschichte der Wissenschaften vom Menschen, der Gesellschaft und dem StaatIdeen über eine beschreibende und zergliedernde Psychologie< (1895) über den programmatisch-historischen ersten Band der >Einleitung< hat
Diltheys Weg zur Henneneutik
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Dilthey in immer neuen Anläufen die Aufgabe einer psychologischen Grundlegung der Geisteswissenschaften in Angriff genommen. Ihm schwebte dabei eine Psychologie neuer Art vor, die nicht "erklärend" , sondern" verstehend" verfahren würde. Den an den nicht genannten Droysen erinnernden Unterschied zwischen einem erklärenden und einem verstehenden Vorgehen erläutert er in der wicht~gen Studie von 1895, der besondere Bedeutung zukommt, weil Dilthey in ihr zum ersten und beinahe letzten Male Materialien aus dem 2. Band seiner >EinleitungIdeen< von 1895 vor. Die niederschmetternde Kritik, die sie erfuhren, insbesondere von H. Ebbinghaus,37 scheint Dilthey tief getroffen zu haben und ihn von der öffentlichen Ausführung seines Programms, an dem er neben seinen zahlreichen historischen Studien (u. a. über Schleiermacher) bis zu seinem Tode weiterarbeitete, abgebracht zu haben. Unter einer erklärenden Psychologie verstand er eine rein kausale Explikation psychischer Phänomene, die das Seelenleben auf eine begrenzte Zahl von eindeutig bestimmten Elementen zurückzuführen beabsichtigt. Ähnlich wie der Chemiker will der erklärende Psychologe die seelischen Funktionen durch die Hypothese eines Zu sammenwirkens von einfachen Bestandteilen begreifen. Solche konstruktiven Hypothesen, die in den Wissenschaften der Natur zu Hause sind, lassen sich, stellt Dilthey fest, im Bereich der Psychologie nie verbindlich verifizieren. Gegen den Konstruktivismus der erklärenden Psychologie führt er die Idee einer eher verstehenden Psychologie ein, die von dem Ganzen des Lebenszusammenhanges, wie er im Erlebnis gegeben ist, ihren Ausgang nimmt. Anstatt die seelischen Phänomene zu erklären, d.h. sie auf psychische oder gar physiologische U relemente zurückzuführen, ist sie einfach darum bestrebt, das Seelenleben in seinem ursprünglichen Strukturzusammenhang zu beschreiben oder, da hier das Einzelne aus dem Ganzen begriffen werden soll, zu "verstehen". "Die Natur erklären wir, das Seelenleben verstehen wir", so lautet Diltheys Leitidee. 38 Ist aber eine rein beschreibende Psychologie möglich? Ja, antwortet Dilthey, denn seelische Phänomene haben vor den äußeren den Vorzug, daß sie durch inneres Erleben unmittelbar erfaßt werden
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Einstieg in die Probleme des Historismus
können, wie sie an sich sind, also ohne die Vermittlung äußerer Sinne, die bei der Erfassung der Außenwelt unentbehrlich sind. Im direkten Innewerden innerer Erlebnisse ist "eine feste Struktur unmittelbar und objektiv gegeben" ,39 deklariert Dilthey, denn mit ihr gewinnt die Beschreibung in der Psychologie "eine zweifellose, allgemeingültige Grundlage". Die auf einem so sicheren Fundament gründende Psychologie erheischt methodologische Bedeutsamkeit. Sie wird die Grundlage der Geisteswissenschaften, wie die Mathematik die der Naturwissenschaften ist. 40 Das Ungenügende an dieser methodologisch angesetzten Psychologie des Erlebnisses ist den Zeitgenossen - und bald vielleicht Dilthey selbst - nicht entgangen. Zwei Mängel treten besonders hervor. Es ist zunächst zweifelhaft, ob die schlicht beschreibende Psychologie, die in gewissen Zügen Husserls Idee einer Phänomenologie innerer Erlebnisse vorwegnimmt, tatsächlich über einen direkten, hypothesenfreien Zugang zum seelischen Strukturzusammenhang, deren innere Evidenz postuliert wird, verfügt. Wäre dessen Gegebenheit so einleuchtend, gäbe es doch keinen methodologischen Dissens innerhalb der Psychologie. Zweitens ist es Dilthey nicht gelungen, eine plausible Verbindung zwischen seinem psychologischen Neuansatz und den konkreten Geisteswissenschaften, deren Grundlagen er erhellen soll, herzustellen. Nirgends sieht man, wie die verstehende Psychologie die Objektivität geisteswissenschaftlicher Sätze soll gewährleisten können. Auch hier blieb Diltheys Wurf im Programmatischen stecken. Uns beschäftigt vor allem ein weiterer Umstand an dieser Psychologie und dem Einblick, den sie in Diltheys systematisches Vorhaben gewährt, nämlich die relative Abwesenheit der Hermeneutik. Sie taucht kein einziges Mal - namentlich zumindest - in der Abhandlung von 1895 auf. Sie ist auch so gut wie absent von der vierhundertseitigen Zusammenstellung seiner Ausarbeitungen zum 2. Band der >EinleitungDer Aufbau der geschichtlichen Welt in den GeisteswissenschaftenSein und Zeit< ist das von T. Kisiel: The Genesis of Heidegger's Being and Time, Berkeley 1993. V gl. auch den von T. Kisiel und J. van Buren herausgegebenen Sammelband: Reading Heidegger from the Start, Albany 1994. 5 Vgl. GA 20, S. 286. 6 Vgl. SZ, S. 158 sowie GA 21, S. 143-161 (die Abschnitte ,Die Als-Struk-
Anmerkungen
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tur des primären Verstehens: hermeneutisches "als"Die Modifikation der Als-Struktur beim Bestimmen: apophantisches "als"Einführung zu GadamerSein und Zeit< (S. 138) hinein, als Heidegger in der aristotelischen Rhetorik »die erste systematische Hermeneutik der Alltäglichkeit des Miteinanderseins aufgefaßt" sehen wollte. Es ist aber gerade diese Hermeneutik des Miteinanderseins und seines sprachlichen Charakters, die in SZ etwas zu kurz zu kommen schien. 33 Vgl. SZ, S. 160. 34 SZ, S. 161. 35 Beiträge zur Philosophie, GA 65, Frankfurt a.M. 1989, S. 13. 36 Zur Sache des Denkens, Tübingen 1969, S. 25. 37 V gl.: Beiträge zur Philosophie, S. 78 ff.
Anmerkungen
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38 Zur hermeneutischen Dimension der Kehre vgl. unsere frühere Untersuchung: Hermeneutische Wahrheit? Zum Wahrheitsbegriff Hans-Georg Gadamers, Königstein/Ts. 1982, S. 83-95 (Kap. nI.3: Die hermeneutische Bedeutsamkeit der Kehre). 39 V gl. dazu M. Riedel, "Vieles ist zu sagen". Die Antwort des Denkens in der Zeit. Zum 85. Geburtstag des Philosophen Hans-Georg Gadamer. Zum Abschied vom "transzendental-hermeneutischen" Denken zugunsten des seinsgeschichtlichen vgl. M. Heidegger, Nietzsche, Bd. II, Pfullingen 1961, S.415. 40 Unterwegs zur Sprache, Pfullingen 1959, S. 98. 41 Ebd. 42 Ebd., S. 121. 43 Ebd., S. 122. 44 Ebd., S. 123.
VI. GADAMERS UNIVERSALHERMENEUTIK
1. Zurück zu den Geisteswissenschaften Es ist gar keine Frage, daß Gadamer der Hinwendung des späten, die geschichtliche Geworfenheit radikalisierenden Heidegger zum hermeneutischen Wesen der Sprache folgt. Er ist aber bestrebt, diese Radikalisierung mit dem hermeneutischen, beim Verstehen verweilenden Ausgangspunkt des jungen Heidegger zusammenzudenken. Was bedeutet es nämlich für das Verstehen und das Selbstverständnis des Menschen, sich von einer Geschichte, die sich für uns als überlieferte Sprache artikuliert, getragen zu wissen? Diesen hermeneutischen Konsequenzen gilt seine >Ontologische Wendung der Hermeneutik am Leitfaden der SpracheWahrheit und Methode< (1960). Um zu erfassen, was diese ontologische bzw. universale Wende der Hermeneutik eigentlich besagt, muß man zum Ausgangsproblem des Werkes, der Frage nach den Geisteswissenschaften oder nach einer den Geisteswissenschaften gemäßen Hermeneutik zurückkehren. Das Problem der Geisteswissenschaften war Heidegger nicht unbekannt. Von Dilthey und seinen neukantianischen Lehrern her war es ihm bestens vertraut. Doch hatte er von seinem ursprünglicheren Ansatz auf dem Boden der Faktizität her das Verstehen der Geisteswissenschaften hartnäckig zu einem ab künftigen oder abgeleiteten gestempelt. Die Erhebung des Verstehens zum methodologischen Königsweg der Geisteswissenschaften erschien ihm schließlich nichts als ein Ausdruck der Schlüssellosigkeit, in der sich der Historismus befand. Der Rückgriff auf ein methodisierbares Verstehen sei der verzweifelte Versuch, angesichts der dem 19.Jh. aufgegangenen Geschichtlichkeit vor allem einen "festen Rückhalt" ausfindig zu machen. Was Heidegger problematisierte, war im Grunde die Idee eines solchen archimedischen Punktes, indem er deren metaphysische Voraussetzungen entlarvte. Die Idee eines zeitlosen, letzten Fundamentes entstamme doch einer Flucht des Menschen vor seiner eigenen Zeitlichkeit.! Die Vorstellung, daß es eine absolute Wahrheit gebe, erwachse so aus einem Verdrängen oder Vergessen der eigenen Zeitlichkeit. Anstatt dem Phantom eines letzten Fundamentes nachzujagen, empfahl Hei-
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degger, sich radikal auf der Ebene der Endlichkeit anzusiedeln und die eigene Vorurteilsstruktur als positives, ontologisches Merkmal des Verstehens auszuarbeiten, um die Möglichkeiten unserer selbst aus unserer Situiertheit heraus wahrzunehmen. So überwand Heidegger die epistemologische Fragestellung des Historismus. Nicht um das Phantomhafte eines allgemeingültigen Rückhalts, Sohn des Positivismus und somit der Metaphysik, kann es sich im Verstehen handeln, sondern um ein zu eroberndes Gewahrwerden des Daseins über die ihm zur Disposition stehenden Möglichkeiten. Es ist unleugbar, daß die Suche nach einer allgemeingültigen Wahrheit die Wirklichkeit des Verstehens zu verdecken droht und es auf ein Erkenntnisideal ausrichtet, das es doch nie verwirklichen wird. Der Ausarbeitung seines eigenen, hermeneutisch radikaleren Ansatzes hingegeben ließ Heidegger gleichsam das Problem des Historismus, und mit ihm die Methodologie der Geisteswissenschaften, hinter sich zurück. Wenn Gadamer den Dialog mit den Humanwissenschaften wiederaufnimmt, ist es aber nicht, um eine "Methodologie" zu entwickeln, wie der Titel >Hermeneutik< in der Nachfolge Diltheys nahelegen könnte, sondern um am Beispiel dieser verstehenden Wissenschaften die Unhaltbarkeit der Idee eines allgemeingültigen Erkennes auszuweisen und somit die Fragestellung des Historismus aus den Angeln zu heben. Die von Heidegger nur am Rande geführte Auseinandersetzung mit dem Historismus wurde bei Gadamer zu einer Hauptaufgabe. Von 1936 bis 1959 hielt Gadamer siebenmal eine Vorlesung unter dem Titel einer >Einleitung in die GeisteswissenschaftenWahrheit und Methode< der Öffentlichkeit vorlegte. Den Anstoß des Werkes liefert das Problem des richtigen Selbstverständnisses der Geisteswissenschaften gegenüber der Naturwissenschaft. Gadamer argumentiert dort gegen die vom Historismus und Positivismus verfochtene Idee, daß die Geisteswissenschaften ihre eigenen Methoden auszuarbeiten hätten, um den Status von Wissenschaft genießen zu dürfen. Diese Hoffnung war doch die Angel, um die sich die ganzen methodologischen Bemühungen Diltheys, Droysens und des Neukantianismus drehten. Gadamer stellt diesen Ausgangspunkt grundsätzlich in Zweifel und fragt sich, ob das Verlangen nach Methoden, die allein Allgemeingül-
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Gadamers Universalhermeneutik
tigkeit gewähren, in den Geisteswissenschaften wirklich am Platze ist. Gadamer orientiert sich zunächst an der Festrede, die der Naturwissenschaftler Heimholtz über das Verhältnis der Natur- und Geisteswissenschaften im Jahre 1862 in Heidelberg gehalten hatte. Nach diesem noch heute lesenswerten Vortrag kennzeichnen sich die Naturwissenschaften durch die Methoden der logischen Induktion, die aus dem gesammelten empirischen Material Regeln und Gesetze heraushebt. Die Geisteswissenschaften verfahren anders. Sie kommen eher durch so etwas wie psychologisches Taktgefühl zu ihren Erkenntnissen. Helmholtz spricht hier von einer "künstlerischen Induktion", die einem instinktiven Gefühl oder Takt erwächst, für den es aber keine definierbaren Regeln gibt. Mit nur sachter Übertreibung ließe sich sagen, daß Helmholtz Gadamers Hauptgesprächspartner im ersten Teil von ,Wahrheit und Methode< ist. Sollte es zutreffen, daß man ein Buch verstanden hat, wenn man die Frage angeben kann, auf die es die Antwort ist, so war es Helmholtz' unumwundenes Fragen nach der Erkenntnisweise der Geisteswissenschaften, das ,Wahrheit und Methode< den ursprünglichen Anstoß gab. So heißt es zu Beginn des Werkes: "Es gibt keine eigene Methode der Geisteswissenschaften. Wohl aber kann man mit Helmholtz, fragen, wieviel Methode hier bedeutet, und ob die anderen Bedingungen, unter denen die Geisteswissenschaften stehen, für ihre Arbeitsweise nicht vielleicht viel wichtiger sind als die induktive Logik. Helmholtz hatte das richtig angedeutet, wenn er, um den Geisteswissenschaften gerecht zu werden, Gedächtnis und Autorität hervorhob und vom psychologischen Takt sprach, der hier an die Stelle des bewußten Schließens trete. Worauf beruht solcher Takt? Wie wird er erworben? Liegt das Wissenschaftliche der Geisteswissenschaften am Ende mehr in ihm als in ihrer Methode?"2 Einig ist sich Gadamer mit Helmholtz darin, daß es die Geisteswissenschaften im Grunde viel mehr mit der Ausübung eines Taktes als mit der Anwendung irgendwelcher Methoden zu tun haben. Selbst wenn er vom Vorbild der naturwissenschaftlichen Methode ausging, in der zweiten Hälfte des 19.Jh. ging es nicht anders, hatte Helmholtz 1862 doch die Eigenart der Geisteswissenschaften im Sinne Gadamers richtig erfaßt. Man ermißt hierbei die Provokation der Gadamerschen Solidarität: Indem er auf eine Abhandlung von 1862 und den Naturforscher Helmholtz zurückgeht, überspringt Gadamer die epistemologischen Diskussionen um die methodische Eigenart der Geisteswissenschaften, die gegen Ende des 19. und zu Beginn des 20.Jahrhunderts von Autoren wie Dilthey, Misch, Rothacker, Weber
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und vom herrschenden Neukantianismus angezettelt wurden. Die Pointe ist wohl, daß diese langwierigen Debatten viel zu sehr von der Idee besessen waren, die Geisteswissenschaftler müßten, um es bis zur Wissenschaft zu bringen, irgendwie auch eigene Methoden haben. Viel angemessener erscheint es Gadamer, der hierin Helmholtz folgt, die Eigenart der Geisteswissenschaften auf so etwas wie Takt oder ein nicht zu methodisierendes «je ne sais quoi» zurückzuführen. Heimholtz, nicht Dilthey,3 wird somit zum stillschweigenden Vertreter einer Hermeneutik, die der spezifischen Erkenntnisweise der Geisteswissenschaften Gerechtigkeit widerfahren läßt. In diesem Geiste wird> Wahrheit und Methode< eine grundsätzliche Kritik der Methodenobsession in der Sorge um die Wissenschaftlichkeit der Geisteswissenschaften durchführen. Es ist demnach Gadamers Ausgangsthese, daß sich der Wissenschaftscharakter der Geisteswissenschaften "eher aus der Tradition des Bildungsbegriffs verstehen [läßt] als aus der Idee der modernen Wissenschaft".4 Hier enthüllt sich der Sinn des Rekurses auf die humanistische Tradition am Anfang von >Wahrheit und MethodeKritik der UrteilskraftWahrheit und Methode< ist dieser Vorgang von nicht zu unterschätzender Konsequenz. Denn erst hier muß die Kunst bzw. die Ästhetik in die Betrachtung des Werkes einbezogen werden. Indessen: Durch die Aufdeckung der Subjektivierung und der Ästhetisierung der Grundpfeiler der humanistischen Tradition wird die Leitfrage der Selbstbesinnung der Geisteswissenschaften nicht aus dem Auge verloren. Gadamer hält an dieser Leitfrage fest, wenn er den Vorgang, der zur Schaffung eines ganz neuen und spezifisch ästhetischen Bewußtseins führte, einer niederschmetternden Kritik unterzieht. Der Kern des Eingangsteiles von >Wahrheit und Methode< wird also in einer >Kritik der Abstraktion des ästhetischen BewußtseinsWahrheit und Methode< eine Art Umweg darstellt. Bei allen positiven Einsichten zur Kunst bietet doch die Eröffnungspartie von >Wahrheit und Methode< eher eine Anti-Ästhetik als eine Ästhetik. Die Schöpfung der Ästhetik ist somit nichts als eine Abstraktion, die es - in den Worten des frühen Heidegger - zu destruieren oder zu relativieren gilt, um ein adäquateres Verständnis der in den Geisteswissenschaften betätigten Erkenntnisart (zurück) zu gewinnen.
2. Hermeneutische Selbstaufhebung des Historismus Die Wiedergewinnung der hermeneutischen Spezifizität der Geisteswissenschaften erfolgt im 2. Abschnitt von> Wahrheit und MethodeGrundzüge einer Theorie des hermeneutischen VerstehensErhebung der Geschichtlichkeit des Verstehens zum hermeneutischen Prinzip< handeln. Es war nach Gadamer ein Wahn des Historismus, unsere Vorurteile durch sichere Methoden beseitigen zu wollen, um so etwas wie Objektivität in den Geisteswissenschaften zu ermöglichen. Diese von der Aufklärung her stammende Kampfstellung des Historismus war selber ein Vorurteil des methodologischen 19.Jh., das glaubte, Objektivität nur auf dem Wege einer Außerkraftsetzung der situiert verstehenden Subjektivität erreichen zu können. Der Historismus wird gleichsam durch Selbstanwendung überwunden: Er war es, der lehrte, jede Doktrin sei aus ihrem Zeitalter her zu verstehen. Diese Einsicht läßt sich auf den Historismus applizieren. So erweist sich, daß der Historismus ebenfalls ein Kind seiner Zeit, nämlich des Szientismus, war. Sobald die Metaphysikabhängigkeit des szientistischen Erkenntnisideals mit Heideggers Hilfe demaskiert ist, kann man ein angemesseneres Verständnis der Geisteswissenschaften gewinnen, das die ontologische Vorstruktur des Verstehens in der Bestimmung der Objektivität der Geisteswissenschaften zum Tragen kommen läßt. Nicht um eine einfache Beseitigung der Vorurteile kann es sich handeln, sondern um ihre Anerkennung und auslegende Ausarbei-
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Gadamers Universalhermeneutik
tung. So identifiziert sich Gadamer mit Heideggers Idee, daß die allererste, kritische Aufgabe der Auslegung darin bestehen muß, ihre eigenen Vorentwürfe auszuarbeiten, damit sich die Sache ihnen gegenüber Geltung verschaffen kann. Da sich das Verstehen von irreführenden Vorkonzeptionen leiten lassen kann und dieser Gefahr nie ganz entrinnt, muß es bemüht sein, sachangemessene Verstehensansätze zu entwickeln: "Die Ausarbeitung der rechten, sachangemessenen Entwürfe, die als Entwürfe Vorwegnahmen sind, die sich ,an den Sachen' erst bestätigen sollen, ist die ständige Aufgabe des Verstehens."!O Dieses Zitat paßt schlecht in das geläufige Gadamer-Bild. Als seine hermeneutische Lehre, für die es reichlich Belege gäbe, gilt eher, daß es angesichts der Vorurteils struktur des Verstehens doch keinerlei "Bestätigung an der Sache selbst" geben könne. Seine Hermeneutik wird hier leicht mißverstanden. Mögen sich Gadamers Äußerungen nicht immer ganz konsistent ausnehmen, so führt seine "Rehabilitierung" der Vorurteile doch zur kritischen Mahnung, "der eigenen Voreingenommenheit innezusein, damit sich der Text selbst in seiner Andersheit darstellt und damit in die Möglichkeit kommt, seine sachliche Wahrheit gegen die eigene Vormeinung auszuspielen".!! Andererseits verfällt Gadamer nicht in den positivistischen Aufruf nach einer Negierung der Vorurteilsstruktur, um die Sachen selbst bar jeder subjektiven Eintrübung sprechen zu lassen. Denn die Sache kann doch nur durch meine verstehenden Entwürfe, ja durch meine eigene Sprache zum Sprechen kommen. Lediglich ein kritisch reflektiertes Verstehen, das bestrebt sein wird, "seine Antizipationen nicht einfach zu vollziehen, sondern sie selber bewußt zu machen, um sie zu kontrollieren und dadurch von den Sachen her das rechte Verständnis zu gewinnen",!2 ist es, was Gadamer mit Heidegger anmahnt, gleichsam die Mitte haltend zwischen positivistischer Selbstauslöschung und Nietzsches Universalperspektivismus. Es fragt sich nur, wie man zu solchen "sachangemessenen" Vorentwürfen, die "die Sachen selbst" sprechen lassen, gelangen kann. So spitzt sich alles auf "die eigentlich kritische Frage der Hermeneutik"13 zu, wie man, sofern wir ihrer bewußt werden können, die richtigen Vorurteile von den falschen, zu Mißverständnis hinleitenden Vormeinungen auseinanderhalten kann. Gibt es dafür ein Kriterium? Gäbe es so etwas wie ein Kriterium, wären wohl alle Fragen der Hermeneutik gelöst, und man bräuchte nicht über das Problem der Wahrheit zu diskutieren. Dieses Trachten nach einem, die Objektivität ein für allemal sichernden Kriterium ist ebenfalls ein metaphy-
Wirkungsgeschichte als Prinzip
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sischer Ableger des Historismus. Wenn es aber auch keine handfesten Kriterien gibt, so gibt es doch Indizien. In dieser Absicht hebt >Wahrheit und Methode< die Produktivität des Zeitenabstandes hervor. Im geschichtlichen Rückblick sind wir des öfteren imstande, die Interpretationsansätze anzuerkennen, die sich tatsächlich bewährt haben. So ergeht es einem etwa in der Einschätzung der zeitgenössischen Kunst. Es ist einer Zeit fast unmöglich, die eigentlich wertvollen Kunstansätze seiner Gegenwart auszumachen. Dank dem geschichtlichen Abstand wird das Urteil etwas sicherer. So macht sich so etwas wie eine hermeneutische Fruchtbarkeit des Zeitenabstandes geltend. An diese Produktivität knüpfte Gadamer 1960 die Lösung der "kritisehen" Aufgabe der Hermeneutik an: "Nichts anderes als dieser Zeitenabstand vermag die eigentlich kritische Frage der Hermeneutik lösbar zu machen, nämlich die wahren Vorurteile, unter denen wir verstehen, von den falschen, unter denen wir mißverstehen zu scheiden."14 Diese Lösung wirkt aber etwas einseitig. Denn es fragt sich zunächst, ob sich der Zeitenabstand immer als so produktiv erweist. Denn ein Heideggerianer wie Gadamer kann nur wissen, daß die Geschichte sehr oft verdeckend wirkt, so daß sich oft genug Interpretationsansätze durchsetzen, die den Zugang zu den Sachen oder zu den Quellen versperren. Manchmal ist es gerade der Sprung hinter die geschichtsmächtigen Deutungen, der hermeneutisch ertragreich ist. 15 Ferner bietet der Zeitenabstand so gut wie keine Auskunft, wenn es um die Bewältigung zeitgenössischer Deutungen geht. Gadamer hat neuerdings die Einseitigkeit seines Ansatzes in dieser Frage selber eingesehen. Als >Wahrheit und Methode< 1985 in den Gesammelten Werken in fünfter Auflage erschien, hat er den diesbezüglichen Passus retuschiert und das "nichts anderes als ... " durch ein "oft" ersetzt, so daß der Text jetzt lautet: "Oft vermag der Zeitenabstand, die eigentlich kritische Frage der Hermeneutik lösbar zu machen ... " Mag das Problem auch ungelöst fortbestehen, läßt sich hier doch ein schönes Beispiel für die die Hermeneutik auszeichnende Bereitschaft, seine eigene Meinung durch bessere Einsicht zu ändern, vorfinden.
3. Wirkungsgeschichte als Prinzip Gadamers weitergehende Forderung an ein um Sachlichkeit besorgtes Verstehen in den Geisteswissenschaften ist in der Ausarbeitung eines wirkungsgeschichtlichen Bewußtseins zu gewahren. Unter
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Gadamers Universalhermeneutik
Wirkungsgeschichte versteht man seit dem 19.}h. in der Literaturwissenschaft das Studium der von einem Werke gezeitigten Deutungen oder ihre Rezeptionsgeschichte. Aus ihr wird deutlich, daß Werke zu je spezifischen Epochen verschiedene Interpretationen hervorrufen, ja hervorrufen müssen. Das zu entwickelnde Bewußtsein der Wirkungsgeschichte steht zunächst mit der Maxime in Einklang, sich die eigene hermeneutische Situation und die Produktivität des Zeitenabstandes vor Augen zu führen. Das wirkungsgeschichtliche Bewußtsein meint aber bei Gadamer ein viel Grundsätzlicheres. Es genießt ja bei ihm den Status eines "Prinzips", 16 aus dem sich seine gesamte Hermeneutik nahezu deduzieren läßt. Über die Ausarbeitung einer Nebendisziplin der Literaturwissenschaft hinaus druckt die Wirkungsgeschichte auf der ersten Ebene die Forderung aus, die eigene hermeneutische Situiertheit zu Bewußtsein zu heben, um sie im Umgang mit der Tradition oder Texten zu "kontrollieren". Das ist die von Heidegger verlangte Auslegung des eigenen Vorverstehens. Gadamer erkennt aber vielleicht markierter als Heidegger an, daß diese Aufgabe nicht ganz erfüllbar oder vollendbar ist. 17 Die Wirkungsgeschichte steht nicht in unserer Macht oder unserem Verfügen. Wir unterliegen ihr mehr, als wir uns vor Bewußtsein führen können. Überall, wo wir verstehen, ist die Wirkungsgeschichte am Werk als der nicht bis zur endgültigen Klarheit hinterfragbare Horizont dessen, was uns als sinnvoll und fragwürdig erscheinen kann. So gewinnt die Wirkungsgeschichte die Funktionen einer für das jeweilige Verstehen tragenden Instanz, von der her alles Verstehen bestimmt bleibt, auch dort freilich, wo es sie nicht wahrhaben will. Nach >Wahrheit und Methode< fand Gadamer die eindrückliche Formel, daß das wirkungsgeschichtliche Bewußtsein eigentlich "mehr Sein als Bewußtsein" sei.t 8 Es durchdringt unsere geschichtliche "Substanz" in einer Weise, die sich nicht zu letzter Deutlichkeit und Distanz bringen läßt. Diese Einsicht in die eigene wirkungs geschichtliche Bedingtheit findet in Gadamers Auseinandersetzung mit dem Historismus und dem neuzeitlichen Methodenbewußtsein sofort Anwendung. Der Historismus hoffte nämlich, der geschichtlichen Bedingtheit dadurch zu entrinnen, daß er die sie bestimmende Geschichte auf Abstand bringen konnte. Dem Historismus nach sollte es ein eigens entwickeltes historisches Bewußtsein fertigbringen, sich von dieser Bedingtheit zu emanzipieren und somit ein objektives Studium der Geschichte möglich zu machen. Gadamer macht dagegen geltend, daß die Macht der Wirkungs geschichte gerade nicht von ihrer Anerkennung abhängt. 19
Anwendendes weil fragendes Verstehen
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Das Auftauchen des geschichtlichen Bewußtseins im 19.Jh. stellte nicht derart ein Novum dar, daß es die untergründige Wirksamkeit der Geschichte in allem Verstehen einzustellen vermochte. Die Geschichte wirkt auch dort fort, wo wir uns über sie erhaben wähnen (so zwar, daß selbst der Historismus seiner eigenen, positivistischen Herkunft nicht eingedenk war). Sie ist es, die den Hintergrund unserer Wertungen, Erkenntnisse und sogar unserer kritischen Urteile bestimmt. "Darum", folgert Gadamer, "sind die Vorurteile des einzelnen weit mehr als seine Urteile die geschichtliche Wirklichkeit seines Seins."20 So weist der Begriff eines wirkungs geschichtlichen Bewußtseins eine subtile Zweideutigkeit auf. Einerseits meint es, daß unser heutiges Bewußtsein von einer Wirkungs geschichte her geprägt, ja konstituiert wurde. Unser Bewußtsein ist so von der Geschichte "erwirkt" .21 Andererseits kennzeichnet es ein immer wieder zu gewinnendes Bewußtsein dieses Erwirktseins selbst. Dieses Bewußtsein unseres Erwirktseins kann wiederum zweierlei bedeuten: einmal die Forderung nach Aufklärung dieser unserer Geschichtlichkeit im Sinne der Ausarbeitung unserer hermeneutischen Situation, aber auch und vor allem ein Innewerden der Grenzen, die solcher Aufklärung gesetzt sind. In dieser letzten Gestalt ist das wirkungs geschichtliche Bewußtsein der eindeutigste philosophische Ausdruck für das Bewußtsein der eigenen Endlichkeit. Das Anerkennen der menschlichen Begrenztheit bringt aber keine Lähmung der Reflexion, im Gegenteil. Hemmend war nach Gadamer eher die historische Ausrichtung des Verstehens auf ein metaphysisch bedingtes Erkenntnisideal. Das wirkungsgeschichtliche Bewußtsein verspricht demgegenüber einen Reflexions gewinn. Der Auslotung dieses Bewußtseins, d. h. dem Nachweis des universal und spezifisch hermeneutischen Charakters unserer Welterfahrung gilt Gadamers Endlichkeitshermeneutik.
4. Anwendendes weil fragendes Verstehen
Nach der Festschreibung der Wirkungsgeschichte als Prinzip macht sich >Wahrheit und Methode< daran, das "hermeneutische Grundphänomen", das auf den methodologischen Abwegen des 19.Jh. nach Gadamer verloren gegangen war, wiederzugewinnen. Operativster Hebel dieser Wiedereroberung ist das Problem der Anwendung.22 Die vorheideggersche Hermeneutik hatte in der Anwendung ein nachträgliches Geschäft des hermeneutischen Verstehens gesehen.
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Gadamers Universalhermeneutik
Die Zielbestimmung des Verstehens galt eigentlich als rein epistemisch, ja noetisch. Zu verstehen war dabei ein fremder Sinn gehalt als solcher. Eine Applikation des so Verstandenen geschah bestenfalls nachträglicherweise in Disziplinen wie der konkreten Rechtsprechung, in der Anwendung des Gesetzes auf den Einzelfall, oder in der Theologie, etwa in der homiletischen Erklärung des Bibeltextes. Nach Gadamer ist aber die Anwendung im Verstehen alles andere als nachträglich. Er folgiHeideggers Intuition, wonach Verstehen stets ein Sichverstehen, ja eine Selbstbegegnung miteinschließt. Verstehen heißt dann soviel wie einen Sinn auf unsere Situation, unsere Fragen anzuwenden. Es gibt nicht zunächst ein reines, objektives Sinnverstehen, das dann in der Anwendung auf unsere Fragen besondere Bedeutsamkeit erlangte. Wir nehmen uns schon mit in jedes Verstehen hinein, und zwar so, daß für Gadamer Verstehen und Anwendung zusammenfallen. Das läßt sich am negativen Beispiel des Nichtverstehens gut veranschaulichen: Wenn wir einen Text nicht verstehen können, liegt es daran, daß er uns nichts sagt oder nichts zu sagen hat. So ist es nicht verwunderlich oder zu beanstanden, daß Verstehen von Epoche zu Epoche, ja von Individuum zu Individuum je anders ausfällt. Das von seinen jeweiligen Fragen motivierte Verstehen ist kein nur reproduktives, sondern immer auch, da es Anwendung impliziert, ein produktives Verhalten. 23 Das Verstehen ist so sehr von der einzelnen, wirkungs geschichtlichen Situation mitbestimmt, daß es unangebracht erscheint, von einem Fortschritt, oder mit Schleiermacher von einem Besserverstehen, im Laufe der Geschichte zu sprechen. Erkennt man den produktiven Anteil der Anwendung in jedem gelingenden Verstehen, genügt es zu sagen, nach dem bekannten Diktum von Gadamer, daß man "anders versteht", wenn man überhaupt versteht.2 4 Die Anwendung braucht dabei nicht bewußt zu erfolgen. Auch sie bleibt von der Wirkungsgeschichte getragen. Das Verstehen oder, was hier dasselbe ist, die Anwendung ist weniger eine Handlung der selbstrnächtigen Subjektivität als ein "Einrücken in ein Überlieferungsgeschehen, in dem sich Vergangenheit und Gegenwart beständig vermitteln" .25 Einen Text der Vergangenheit verstehen heißt ihn in unsere Situation übersetzen, in ihm eine sprechende Antwort auf die Anfragen unserer Zeit zu hören. Es war eine Verirrung des Historismus, die Objektivität von der Auslöschung des interpretierenden Subjekts abhängig zu machen, denn Wahrheit, hier gefaßt als Sinnaufschluß (aA:rp'tELu), geschieht nur im Zuge wirkungsgeschichtlicher Anwendung.
Anwendendes weil fragendes Verstehen
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Die Hintanstellung des Verstehens als ein Einrücken in ein Überlieferungsgeschehen bedeutet, daß die Subjektivität nicht ganz Herr dessen ist, was ihr jeweils als sinnvoll oder unsinnig aufgeht. Wie der junge Heidegger notierte, geraten wir in die Ausgelegtheit unserer Zeit mehr auf dem Wege der Gewohnheit hinein, als daß wir sie uns ausdrücklich aneignen würden. Die Wirkungs geschichte ist mehr Sein als Bewußtsein, hege1isch gesprochen: mehr Substanz als Subjektivität. So gehören wir mehr der Geschichte, als daß sie uns gehörte. Diese Geschichtlichkeit der Anwendung schließt die Vorstellung eines Nullpunktes des Verstehens aus. Das Verstehen ist stets das Fortsetzen eines schon vor uns begonnenen Gesprächs. 26 In eine bestimmte Ausgelegtheit hineinprojiziert, führen wir dieses Gespräch fort. So übernehmen und modifizieren wir durch neue Sinnbegegnungen die uns überlieferten Sinnhinsichten aus der Tradition und ihrer Gegenwart in uns. Die Hermeneutik der Anwendung gehorcht, wie sie Gadamer schildert, auf diese Weise der Dialektik von Frage und Antwort. Etwas verstehen heißt etwas auf uns so angewandt haben, daß wir in ihm eine Antwort auf unsere Fragen entdecken. "Unsere" doch so, daß sie auch von einer Tradition her aufgenommen und verwandelt wurden. Jedes Verstehen, zumal als Sichverstehen, ist motiviert, beunruhigt von Fragen, die die Blickbahnen des Verstehens im voraus bestimmen. Ein Text wird nur sprechend dank der Fragen, die wir heute an ihn richten. Es gibt keine Interpretation, kein Verstehen, das nicht auf bestimmte Fragen, die nach Orientierung heischen, antwortete. Ein unmotiviertes Fragen, wie es dem Positivismus vorschwebte, würde niemanden angehen und folglich von keinem wissenschaftlichen Interesse sein. Nicht um die Ausschaltung unserer fragenden Sinnerwartungen muß man sich bemühen, sondern um deren Hervorhebung, damit die Texte, die wir zu verstehen suchen, um so deutlicher auf sie antworten können. So erfolgt das Verstehen als wirkungsgeschichtliche Verwirklichung der Dialektik von Frage und Antwort. Von hier aus läßt sich der Übergang vom 2. Teil von >Wahrheit und Methode< zum 3. Teil, wo sich eine "ontologische" Ausweitung der Hermeneutik über die Geisteswissenschaften hinaus vollzieht, festmachen: "Die Dialektik von Frage und Antwort ( ... ) erlaubt nun, näher zu bestimmen, was für eine Art von Bewußtsein das wirkungs geschichtliche Bewußtsein ist. Denn die Dialektik von Frage und Antwort, die wir aufwiesen, läßt das Verhältnis des Verstehens als Wechselverhältnis von der Art eines Gesprächs erscheinen."27 Das Verstehen wird hier als Verhältnis bestimmt und näher-
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Gadamers Universalhermeneutik
hin als Gespräch. Seiner Form nach ist das Verstehen somit weniger die Erfassung eines noetischen Sinngehalts als der Vollzug eines Gesprächs, des "Gesprächs, das wir sind", fügt Gadamer in Anlehnung an Hölderlin auf derselben Seite hinzu. Wohlgemerkt ist es das wirkungsgeschichtliche Bewußtsein, das hier als Gespräch angesetzt wird. Das Bewußtsein verliert dabei die Autonomie des Selbstbesitzes, die ihm in der idealistischen Tradition und der Reflexionsphilosophie, von der sich Gadamer hier absetzt, eigen war. Aufgabe des abschließenden Teiles von >Wahrheit und Methode< wird es sein, diesen hermeneutischen Charakter des Gesprächs, dessen Vollzugsform die Dialektik von Frage und Antwort ist, als das universale Merkmal unserer sprachlichen Welterfahrung auszuweisen. 5. Sprache aus dem Gespräch
Wir suchen von dem Gespräch aus, das wir sind, dem Dunkel der Sprache nahezukommen. 28 Gadamers Sprachhermeneutik ist das am meisten mißdeutete Stück seiner Philosophie. In ihrem Leitwort "Sein, das verstanden werden kann, ist Sprache" hat man eine allgemeine Zurückführung allen Seins auf Sprache inkriminiert oder, je nach Schule, gefeiert. Anstoß hat man auch an dem etwas verschwommenen Zug der Diktion des letzten Teiles von >Wahrheit und Methode< genommen, der gelegentlich präzise Begriffsdistinktionen vermissen ließ. So verbarg sich eine gewisse Resignation, als ein Gadamer-Schüler von Rang wie Walter Schulz meinte feststellen zu müssen, bei Gadamer gerate alles zu einer allumfassenden Synonymik: "Geschichte, Sprache, Gespräch und Spiel: all dies sind - das ist das Entscheidende- vertausch bare Größen. "29 Zu fragen ist eben, warum Sprache und Gespräch zu austauschbaren Größen werden dürfen. Gegen wen richtet sich die Hervorhebung des dialogischen Wesens der Sprache? Diese Akzentsetzung erhebt sich zweifellos gegen die Herrschaft der Aussagelogik in der abendländischen Philosophie. Fraglich gemacht werden soll die traditionelle Fixierung des philosophischen Denkens auf den theoretischen "A.oyor; uJtoWahrheit und Methode< die einzige Spur dafür, daß die Sprachvergessenheit des Abendlandes keine vollständige gewesen istY Gadamers wenig beachtete Rehabilitierung dieser Lehre ist nicht als Rückfall in einen naiven Mentalismus, sondern als hermeneutische Kritik an der auf methodische Domination ausgerichteten Aussagelogik zu verstehen. Diese Lehre malte in der Tat sehr plastisch aus, daß die Worte, die wir benutzen, weil sie uns gerade einfallen, nicht das erschöpfen können, war wir "im Geiste" haben, d.h. das Gespräch, das wir sind. Das innere Wort "hinter" dem ausgesprochenen meint nichts als dieses Gespräch, als die Verwurzelung der Sprache in unserer fragenden und für sich selbst fraglichen Existenz, ein Gespräch, das keine Aussage ganz wiedergeben kann: "Was ausgesagt ist, ist nicht alles. Das Ungesagte erst macht das Gesagte zum Wort, das uns erreichen kann. "38 Es ist aber immer erneut zu betonen, daß dies eine hermeneutische Theorie von Sprache, nicht irgend eine Mystik des Unaussprechlichen sein will. Um die Sprache selbst richtig zu erörtern, nicht um sie zu umgehen oder zu hintergehen, gilt es, das Unausgesagte, das innere Gespräch, mitzuvollziehen. Es festzuhalten besagt aber, daß die Sprachhermeneutik von der Grenze der Sprache, besser: der Aussage, ihren Ausgang nimmt: "Natürlich kann mit der prinzipiellen Sprachlichkeit des Verstehens nicht gemeint sein, daß alle Welterfahrung sich nur als Sprechen und im Sprechen vollzöge."39 Dies ist ein für allemal gegen die vorschnellen Deutungen in Erinnerung zu rufen, die Gadamer die sprachontologische These zurechnen, alles, was ist, müsse in Aussageform auszusagen sein. Wenn gleichwohl eine prinzipielle Sprachlichkeit unserer Spracherfahrung behauptet wird, liegt es nur dar an, daß Sprache das einzige
Die Universalität des hermeneutischen Universums
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Mittel für das (innere) Gespräch, das wir für uns selbst wie füreinander sind, verkörpert. Die Grenze der jeweiligen Aussage wird nämlich nur im Lichte dessen gefühlt, was auszusagen wäre. Deshalb gestattet sich die Hermeneutik einen Satz wie "Sein, das verstanden werden kann, ist Sprache". Dabei ist jedoch das Gewicht auf das "kann" zu legen. Das Verstehen, das stets selber sprachlich geformt ist und über Sprachliches ergeht, ist eine ständige, aber nie ganz gestillte Suche nach dem richtigen Wort, um das Sein herauszustammeln. Die wesentliche Sprachlichkeit des Verstehens äußerst sich weniger in unseren Aussagen als in unserer Suche nach Sprache für das, was wir in der Seele haben und heraussagen wollen. Es ist für die hermeneutische Seite des Verstehens weniger konstitutiv, daß es sprachlich erfolgt, was eine Banalität wäre, als daß es von dem nie endenden Prozeß der "Einbringung in das Wort" und der Suche nach einer mitteilbaren Sprache lebt und als dieser Prozeß zu begreifen ist. Denn dieser Prozeß - der entsprechende Mitvollzug des inneren Wortesbegründet die Universalität der Hermeneutik. 40
6. Die Universalität des hermeneutischen Universums
Die Inanspruchnahme einer Universalität für das Verstehen, das die Hermeneutik thematisiert, hat zahlreiche Diskussionen ausgelöst. Worin besteht aber dieser so lebhaft verhandelte Anspruch genau? Ist er als ein Allgemeingültigkeitsanspruch der Gadamerschen Philosophie aufzufassen? Wie läßt er sich in diesem Fall mit der hermeneutischen Urthese von der Geschichtlichkeit allen Verstehens vereinbaren? Es ist zunächst zu bemerken, daß Gadamers Wortgebrauch in Sachen Universalität besonders schillernd ist. Folgt man >Wahrheit und Methode< buchstabengetreu, wird sehr verschiedenen Kandidaten Universalität zugebilligt. Der Titel des letzten Abschnittes spricht vom "universalen Aspekt der Hermeneutik", wobei offen ist, ob Hermeneutik die philosophische Hermeneutik selbst (die Gadamers), das Verstehen oder die hermeneutisch gesehene Sprachlichkeit meint. In Wahrheit sind alle drei Möglichkeiten durchspielbar und begründbar. Gadamer spricht de facto von der "Universalität" der "Sprachlichkeit des Verstehens",41 von einer "universalen Hermeneutik", die das allgemeine Weltverständnis des Menschen 42 betrifft, sowie von der Ausweitung der Hermeneutik "zu einer universellen Fragestellung" .43 Öfter begegnen allgemeine Titel wie die >Universalität des hermeneutischen ProblemsRhetorik, Hermeneutik und Ideologiekritik< (1967),23 wobei indirekt auch Habermas' entflammte Rhetorik der gesellschaftlichen Emanzipation gemeint war. In seiner Diskussion des hermeneutischen Standpunktes hatte nämlich Habermas zur Geltung gebracht, daß "ein scheinbar ,vernünftig' eingespielter Konsensus sehr wohl auch das Ergebnis von Pseudokommunikation sein kann" .24 Das dialogische Einverständnis könne nämlich aus einer
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ideologisch verschleierten Herrschaftsstruktur resultieren. Kommunikatives, d.h. reflexiv eingesehenes Einverständnis müßte von einem rein rhetorischen oder strategischen (d.h. manipulativ erzielten) Konsens unterschieden werden. Die Einsicht, daß "jeder Konsensus, in dem Sinnverstehen terminiert, grundsätzlich unter dem Verdacht [steht], pseudokommunikativ erzwungen zu sein",25 ist nach Habermas die einer Meta- oder Tiefenhermeneutik, die "Verstehen an das Prinzip vernünftiger Rede, demzufolge Wahrheit nur durch den Konsensus verbürgt sein würde, der unter den idealisierten Bedingungen unbeschränkter und herrschaftsfreier Kommunikation erzielt worden wäre",26 bindet. Dadurch wäre Hermeneutik in Ideologiekritik ilberführt. Dagegen konterte Gadamer in seiner Replik von 1970: "Ich finde es erschreckend unwirklich, wenn man - wie Habermas - der Rhetorik einen Zwangscharakter zuschreibt, den man zugunsten des zwangsfreien rationalen Gesprächs hinter sich lassen müsse. Man unterschätzt damit nicht nur die Gefahr der beredten Manipulation und Entmündigung der Vernunft, sondern auch die Chance beredter Verständigung, auf der gesellschaftliches Leben beruht. Alle soziale Praxis - und wahrlich auch die revolutionäre - ist ohne die Funktion der Rhetorik undenkbar. "27 Es ist nach Gadamer ein künstlicher Gegensatz, mit Habermas ein "reflexiv eingesehenes Einverständnis" gegen ein "rhetorisch erzieltes" aufzustellen, denn selbst das reflexiv Eingesehene kann nur sprachlich, d. h. nach effektvollen Argumenten, die einem einleuchten, nachvollzogen werden. Der Unterschied zwischen einem Pseudoargument und einem starken muß selbst mit rhetorischen Mitteln verteidigt werden. Dieses Medium ist das des sprachlich Einleuchtenden, das sich ohne Rhetorik - im positiven Sinne - nicht denken läßt. Gadamer hat sich also an die Tradition der Rhetorik angeschlossen, weil er in ihr in seinem Kampf gegen einen einseitigen, methodenorientierten Wissenschaftsbegriff eine kritische Würdigung des sprachlichen Charakters des dem Menschen möglichen Wissens erkannt hatte: "Woran sonst sollte auch die theoretische Besinnung auf das Verstehen anschließen als an die Rhetorik, die von ältester Tradition her der einzige Anwalt eines Wahrheitsanspruches ist, der das Wahrscheinliche, das eikos (verisimile), und das der gemeinen Vernunft Einleuchtende gegen den Beweis- und Gewißheitsanspruch der Wissenschaft verteidigt?"28 Es ist freilich nötig, wie Gadamer 1993 verdeutlichte, "der Rhetorik ihre weitreichende Geltung wieder zurück[zu]geben, aus der sie in der beginnenden Neuzeit von der ma-
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thematischen Naturwissenschaft und Methodenlehre vertrieben worden ist. Rhetorik meint das Ganze des sprachlich verfaßten und in einer Sprachgemeinschaft ausgelegten Weltwissens. "29 Läßt sich Hermeneutik "geradezu als die Kunst definieren, Gesagtes oder Geschriebenes erneut zum Sprechen zu bringen",30 so konnte der späte Gadamer ihren universalen· Aspekt an die Universalität der Rhetorik zurückbinden. 31 Gadamer und Habermas haben beide von ihrer Begegnung hinzugelernt. Angeregt von Habermas konnte Gadamer das kritische Potential seiner Hermeneutik entschiedener als früher herausarbeiten. Seine Hermeneutik erschöpft sich nicht in einem Umsichkreisender Endlichkeit, sie strebt ein "kritisches Reflexionswissen"32 an, das dort seine Wirksamkeit beweist, wo die Korrektur objektivistischer Selbstrnißverständnisse einen Freiheitszuwachs für den einzelnen bedeutet. Gadamer denkt insbesondere an die von Habermas ausgespielte Trennung zwischen fortlebender, naturwüchsiger Tradition und reflexiver Aneignung derselben. Gewiß kann man sich aus einer bestimmten Tradition heraus reflektieren, aber die Tradition, die man sich so vor Augen führt, wird nur verständlich aufgrund von kritischen Fragen und Sinnerwartungen, die in ihrer Gesamtheit selber nicht durchreflektiert sind. Kritisches Reflexionswissen seitens der Hermeneutik ist auch dort geboten, hebt Gadamer hervor, wo "Fehlansprüche der Logik"33 in ihre Schranken zu weisen sind. So verteidigt die Hermeneutik "verständliches Sprechen" gegen die Aussagelogik, die Sprache nach Maßstäben eines Aussagekalküls bemißt. Hier muß die Hermeneutik an den dialogischen und das heißt rhetorischen Verständigungsboden jeder menschlichen Sprache erinnern. Die Aussage ist nicht alles. Die Hermeneutik, als kritisches Reflexionswissen, "erhebt zu kritischem Bewußtsein, was der scopus der vorliegenden Aussagen ist und welche hermeneutische Anstrengung ihr Anspruch auf Wahrsein verlangt")4 Gewiß lassen sich nach den Maßstäben selbstherrlicher Logik manche Aussagen widerlegen, aber es fragt sich, ob dabei, um mit Platon zu sprechen, "die Seele des Redenden"35 auch nur erreicht ist. In dieser Erinnerung an das innere Gespräch hinter der Aussage beweist sich das kritische Reflexionswissen der Hermeneutik. Auch Habermas wird aus dieser Debatte Früchte geerntet haben. Es mag anderswo begründet liegen, aber seit 1970 hat die Psychoanalyse langsam aufgehört, einen zentralen Stellenwert auf seinem Denkweg einzunehmen und das Modell einer kritischen Sozialwissenschaft abzugeben. Als ob Gadamer mit seinen Einwänden ins Schwarze ge-
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troffen hätte, hat Habermas seither vom Paradigma der soziologisch erweiterten Psychoanalyse so gut wie keinen Gebrauch mehr gemacht. Um so entschiedener vertiefte er sich dafür in die sprachtheoretischen Fundamente einer kritischen Gesellschaftstheorie, die ihn zur Entwicklung einer Universalpragmatik und zuletzt einer Theorie des kommunikativen Handeins führten. Seine Grundintuition ist, daß die normativen Grundlagen einer Sozialtheorie und mithin einer Ethik in den pragmatischen Implikationen oder Geltungsansprüchen des auf Kommunikation und Verständigung zielenden Sprachgebrauchs zu suchen sind. Aufgabe einer kritischen Philosophie muß es sein, eine rationale Nachkonstruktion der dabei intuitiv gemachten Voraussetzungen zu vollbringen. Habermas läßt sich von der Annahme leiten, daß Sprache prinzipiell als Verständigungsvorgang zu denken ist. "Ich bin mit Wittgenstein der Auffassung, daß ,Sprache' und , Verständigung' gleichursprüngliche, sich wechselseitig erläuternde Begriffe sind. "36 Dabei könnte statt "Wittgenstein" "Gadamer" stehen - ja mit größerem Recht angesichts der Tatsache, daß die >Logik der Sozialwissenschaften< die monadologische Geschlossenheit der Sprachspiele Wittgensteins durch die hermeneutische Einsicht in die grundsätzliche Offenheit und Reflektiertheit von Sprache korrigiert hatte. Von Gadamer war zu erfahren, daß im Gespräch prinzipiell universelle Verständigung zu erreichen war. Daß der späte Habermas sich eher und gegen seine bessere, frühere Einsicht auf Wittgenstein beruft, mag damit zusammenhängen, daß er in seinen letzten Arbeiten die Hermeneutik zunehmend zum Geschäft der Erhaltung "kultureller Überlieferung" banalisiert und ihre universelle Ansetzung der Sprachlichkeit aus dem Auge verloren hat. Wie dem auch sei, die hermeneutische Grundkategorie der Verständigung erfährt bei Habermas eine neue Universalisierung. Sie gilt nunmehr als der stillschweigende Telos und der gemeinsame Nenner eines jeden Sprachgebrauchs. Selbst wo Sprache Verständigung mißbraucht, um strategische Ziele zu verwirklichen, lebt solches Handeln "parasitär" von der Verständigungsidee, deren Geltung schlechthin zu verständigungsfremden Zielsetzungen ausgebeutet wird. Von dieser breitangelegten Antizipation der Verständigung lassen sich dann ethische Voraussetzungen ableiten, die eine Diskursethik rational nachzukonstruieren hat. Einsichtig an dieser Erneuerung des hermeneutischen Universalitätsanspruches ist ohne Zweifel, daß die mit dem Telos der Sprache identifizierte Idee der rhetorischen Verständigung ethische Konsequenzen nach sich zieht. Gadamer war dieses ethische Moment alles
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andere als fremd. Seit seiner ersten Begegnung mit Heidegger war es das Hauptanliegen seiner Arbeiten über die griechische Philosophie, die ethische Dimension der Faktizitätshermeneutik herauszuarbeiten. 37 In Anlehnung an die aristotelische Situationsethik zeigte er, daß die Ausübung der praktischen Klugheit, der Hermeneutik und Ideologiekritik S. 215; jetzt in: K.-O. Apel, Auseinandersetzungen, Frankfurt a. M. 1998, S. 569-607): "In dem Diskus-
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sionsband Hermeneutik und Ideologiekritik von 1971 haben J. Habermas und ich - aus meiner heutigen Sicht zu Unrecht - den Eindruck erweckt, als könnte der ,Universalitätsanspruch' der von Gadamer vertretenen ,philosophischen Hermeneutik' durch sozialwissenschaftliche Ansätze wie der Psychoanalyse und Ideologiekritik in Frage gestellt werden" (Hervorhebung vonJ. G.). 37 Vgl. insbesondere die Habilitationsschrift: Platos dialektische Ethik (1930), jetzt in: GW, V, und die mittlerweile publizierte Studie von 1930: Praktisches Wissen (ebd., S. 230-248). 38 Transformation der Philosophie, Frankfurt a. M. 1973. 39 SO J. Habermas, Moralbewußtsein und kommunikatives Handeln, Frankfurt a. M. 1983, und ziemlich dagegen K.-O. Apel, Normative Begründung der ,Kritischen Theorie' durch Rekurs auf lebensweltliche Sittlichkeit? Ein transzendentalpragmatisch orientierter Versuch, mit Habermas gegen Habermas zu denken, in: Zwischenbetrachtungen - Im Prozeß der Aufklärung, Frankfurt a.M. 1989. H.-G. Gadamer konnte seinerseits seine Solidarität mit dem Kantischen Vorhaben bekunden, eine begriffliche Klärung dessen zu vollziehen, was das moralische Urteil immer schon voraussetzt und an sich keiner philosophischen Rechtfertigung bedarf (vgl. GW, UI, S.357). 40 H.-G. Gadamer, Und dennoch: Macht des guten Willens, in: Ph. Forget (Hrsg.), Text und Interpretation, München 1984, S. 61. 41 Vgl. zur Derrida-Kritik J. Habermas': Der philosophische Diskurs der Moderne, Frankfurt a.M. 1985 sowie: Nachmetaphysisches Denken, Frankfurt a.M. 1988 (vor allem den Text >Die Einheit der Vernunft in der Vielfalt ihrer Stimmen