suhrkamp taschenbuch wissenschaft 23 8
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suhrkamp taschenbuch wissenschaft 23 8
Hans-Georg Gadamer, geh. 1900, ist Professor emeritus der Universität Heidelberg. Publikationen u. a.: Platons dialektische Ethik, 2. A. Harnburg 1968, Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Tübingen 19M u. ö., Kleine Schriften, 3 Bände, Tübingen 19671972, Hegels Dialektik. Fünf hermeneutische Studien, Tübingen 1971, Wer bin Ich und wer bist' du? Ein Kommentar zu Paul Gelans »Atemkristall«, 1973 (BS 352); Vernunft im Zeitalter der Wissenschaft. Aufsätze, 1976 (BS 487); Lob der Theorie. Reden und Aufsätze, 1983 (BS 828); (Hg. zus. mit Gottfried Boehm) Seminar: Philosophische Hermeneutik, 197!1 (stw 144); (zus. mit Jürgen Habermas) Das Erbe Hegels. Zwei Reden aus An:laß des Hegel-Preises, 1979. (st 596). Gottfried Boehm, Professor für Kunstgeschichte Europas an der Universität Gießen, geh. 1942 in Braunau/Böhmen, studierte Kunstgeschichte, Philosophie, Germanistik in Köln, Wien und Heidelberg. Er promovierte 1968 bei Hans-Georg Gadamer und habilitierte sich 197-4 in Kunstgeschichte. Publikationen: Studien zur Perspektivität. Philosophie und Kunst in der frühen Neuzeit, Beideiberg 1969, Neuedition der.. Schriflen zur Kunst von Konrad Fiedler, 2 Bände, München 1971, Zur Dialektik der ästhetischen a. Grenze (Neue Hefte für Philosophie 5), Der vorliegende Seminar-Band verlängert die in der Sammlung Philosophische Hermeneutik (stw 144) begonnene Diskussion in die Gegenwart; dies insofern, als sich die Hermeneutik zu einem Diskurs entwickelt hat, der in vielfältiger Weise in das Selbstverständnis und !iie Forschungsstratt;gien der Wissenschaften eingreift. Die- zentrale Stellung' der Sprache und der kommunikative Vernunftbegriff in der Hermeneutik repräsentieren eine Basis, welche die einzelnen Wissenschaften nicht lediglich zu bestätigen hätte_n, ihnen vielmehr eine Öffnung für neue Erfahrungen und Verfahrensweisen ermöglicht. Verstand sich die philosophische Hermeneutik, besonders seit Hans-Georg Gadamers Wahrheit und Methode (1960), nicht selbst als Methode, sondern als Theorie, welche die Bedingungen der Verstehensprozesse darlegt, so hat sie doch auch Konsequenzen für Methodenkritik und Methodenbewußtsein innerhalb der Wisse.nschaften. Ein Strang dieser kritischen Auseinandersetzung ist bereits in dem Theorieband Hermeneutik und Ideologiekritik abgebildet worden. Der vorliegende Band enthält einen kurzen Abriß theoretischer Grundfragen, entwickelt von Whitehead, Mead, Ric<Eur, Plessner, Polanyi, um sich sodann der Wirkung hermeneutischer Überlegungen in den Sozialwissenschaften, der Rechtswissenschaft, der Psychoanalyse, der Theologie, Historie, Literaturwissenschaft und Rhetorik sowie der Kunstgeschichte zuzuwenden. Das vielfältige Spannungsverhältnis zwischen der philosophischen Hermeneutik und den Wissenschaften, welches dabei zutage tritt, bestimmt weite Bereiche der kritischen Grundlagendiskussion und scheint in seinen produktiven Möglichkeiten noch längst nicht erschöpft. _ Die Einleitung von Gottfried Boehm zeigt die Zusammenhänge und Weiterungen, die sich in der und durch die breitgeführte Hermeneutik-Diskussion ergeben haben.
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Seminar: Die Hermeneutik und die Wissenschaften Herausgegeben von Hans-Georg ~adamer und Gottfried Boehm
Suhrkamp
. CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Seminar: Die Hermen.eutik und die Wissenschaflen I hrsg. von Hans-Georg Gadamer u. Gottfried Boehm. - 2. Auf!. - Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1985. (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft; 238) ISBN 3-518-27838-X NE: Gadamer, Hans-Georg [Hrsg.]; Die Hermeneutik und die Wissenschaften; GT
suhrkamp taschenbuch wissenschafl: 238 Erste Auflage 1978 © Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 1978 Suhrkamp Taschenbuch Verlag Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags, der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen sowie der Übersetzung, auch einzelner Teile. Satz: Thiele & Schwarz, Ka~sel Drurk: Nomos Verlagsgesellschafl:, Baden-Baden Printed in Germany Umschlag nach Entwürfen von Willy Fleckhaus und Rolf Staudt 2 3 4.5 6 7 -
90 89 88 87" 86 85
Inhalt
Gottfried Boehm Einleitung 7
I
Aspekte
h~rmeneutischer
Theorie
1 Alfred North Whitehead Verstehen 63 2 Paul Ricreur Der Text als Modell: hermeneutisches Verstehen 83 3 Michael Polanyi Sinngebung und Sinndeutung 118 4 Helmuth Plessner . Der Aussagewert einer philosophischen Anthropologie 134 5 George H. Mead Die objektive Realität der Perspektiven 152
II Die Hermeneutik in den Wissenschaften 6 Charles Taylor Interpretation und die Wissenschaften vom Menschen 169 7 Josef Esser Dogmatik zwischen
Theorie~ und
Praxis 227
8 Hermann Lang Sprache - das Medium psychoanalytischer Therapie 252 9 Erich Seeberg Zum Problem der pneumatischen Exegese 272 10 Wolfhart Pannenberg Hermeneutik und Universalgeschichte 283 11 Gerhard Ebeling Hermeneutische Theologie? 320
12 Karl-Georg Faber Grundzüge einer historischen Hermeneutik 344 13 Reinhart KoseHeck über die Theoriebedürftigkeit der Geschichtswissenschaft 362 14 Chaim Perelman Philosophie, Rhetorik, Gemeinplätze 381 15 G. B. Madison Eine Kritik an Hirschs Begriff der "Richtigkeit" 393 16 Gerhard Kaiser Nachruf auf die Interpretation? 426 17 Gottfried Boehm Zu einer Hermeneutik des Bildes 444 Bibliographie 473 Quellen- und Übersetzungsnachweise 486
GottfriecJ. Boehm Einleitung Die Hermeneutik und die Wissenschaften. Zur Bestimmung des Verhältnisses Die Hermeneutik ist während zweier Jahrzehnte zu einem Schwerpunkt der wissenschaftlichen Diskussion geworden. Die Vielfalt aller sachlichen Perspektiven abzubilden, die hierbei eine Rolle spielten, überschreitet die Möglichkeiten und den Zweck dieses Bandes. Es geht im wesentlichen darum, die an der Debatte hauptsächlich beteiligten_ Wissenschaften durch Beiträge-···zu repräsentieren, die zur Einleitung in die anstehenden Problen:te geeignet sind un4 ihre produktive We~terbehandlung ermöglichen. Ein praktischer Gesichtspunkt war dabei, solche Aufsätze, die andernorts bereits gut greifbar sind, auszusondern1 und auf bisher unbeachtete, teilweise neue Linien der Diskussion hinzuweisen. Die Beitr~ge bilden untereinander vielfältige Korrespondenzen aus, so daß es gar nicht sinnvoll wäre, die einzelnen Wissenschaften stärker voneinander zu trennen. Die Historismuskritik beispielsweise. tangien die meisten Disziplinen, der Gesichtspunkt hermeneutischer Applikation gleichfalls. Die Bestandsaufnahme des Gesprächs, das zwischen der philosophischen Hermeneutik und den Wissenschaften in Gang gekommen ist, erstreckt sich auf Ursprünge, die vor der eigentlichen Entwicklung des ;engeren Fragenkreises liegen. Sie sind durch den Text von Whitehead hier nur angedeutet, da sie in der Sammlung Philosophische Hermeneutik 2 bereits ausführlich dargelegt wurden. Gleichwohl scheint es erforderlich, einige der theoretischen Grundlagen für den Austausch zwischen der Her'me)1eutik und de~ Wissenschaften einleitend kurz zu skizzieren. Wir greifen dabei auf Nietzsche, Busserl, Heidegger und Gadamer zurück. Von Interesse ist insbesondere auch, welchen philosophischen Anstößen sich der im Umlauf befindliche Begriff der »Interpretation« verdankt, der mit der Hermeneutik gängige · Münze wurde und der geeignet scheint, die verschiedensten Positionen hermeneutischer Theoriebildung unter sich zu versammeln. Interpretation oder Auslegung spielt nicht länger die Rolle eines Kampfbegriffes gegen das Ideal der Gesetzeswissen7
schaften oder dogmatischer Formen des Positivismus3 , sondern fungiert als eine Formel, in der sich - ungenau genug - abbildet, daß wir in einer Welt ohne Fakten, aber konkurrietender Interpretationen leben, einer post-histoire, die Nietzsche bereits im Auge hatte, wenn er vom »Perspektivismus« der Erkenntnis sprach: » ... Gerade Tatsachen gibt es nicht, nur Interpretationen.« Und: »Soweit überhaupt das Wort >Erkenntnis< Sinn hat, ist die Welt erkennbar: aber sie ist anders deutbar, sie hat keinen .. Sinn hinter sich, sondern unzählige Sinne.« 4 Wenn die Hermeneutik dazu beigetragen haben mag, bestimmte Tendenzen des Zeitgeistes aufzunehmen und zu verstärken, wie die erwähnte eines Perspektivismus, so ist dies nicht: mit ihren theoretischen Absichten und sachlichen Programmen gleichzusetzen.. Gewiß leistet der zentrale Stellenwert von »Interpretation« einem solchen Verständnis Vorschub, aber es wäre verfehlt, der Hermeneutik eine Destruktion am Methodenbewußtsein der Wissenschaften zu unterstellen, als wäre Wahrheit ohne oder gegen Methode zu erzielen. Das iterative »und« zwischen »Wahrheit« und »Methode« im Titel des Grundbuches der neueren Hermeneutikdiskussionen weist auf eine spannungsreiche dialektische Beziehung, die nicht vorschnell nach der einen oder anderen Seite aufgelöst w~rden darf. Die Debatte, die schon sehr früh zwischen E. Betti, E. -Hirsch, später Thomas M. Seebohm u. a. auf der einen und Hans-Georg Gadamer auf der anderen Seite ausgetragen wurde, hatte die Forderung zum Inhalt, das Verhältnis zwischen Wahrheit und Methode so zu gestalten, daß, in diesem Fall, der »Objektivitätsanspruch der philologisch-historischen Methode« gewahrt bleibr-5. Der bislang ungedruckte Beitrag von G. B. Madison (S. 393 ff) nimmt diese Einwände nochmals auf. Vorgreifend läßt sich die Funktion der Hermeneutik gegenüber dem wissenschaftlichen Methodengebrauch als diejenige einer Reflexion beschreiben, deren Ziel darin besteht, die naiven Dogmatismen oder perspektivischen Engführungen der wissenschaftlichen Methodik jeweils deutlich zu machen und dadurch neue Fragedimensionen zu öffnen und insgesamt die Fragwürdigkeit und Andersartigkeit der Sache gegenüber dem . methodischen Zugriff weiter aufrechtzuerhalten6 • Der Polarisierung zwischen methodenbewußten Wissenschaften und der philosophischen· Hermeneutik wirken Angebote entgegen, die geeignet sein sollen, wissenschaftliche Verfahren hin8
sichdich ihrer Reichweite selbst zu begrenzen, die wissenschaftliche Vernunft wieder mit der Frage zu konfrontieren, ob, was man wissenschafdich tun kann, auch tun soll. Für diesen Aspekt ist die Rehabilitierung der praktischen Vernunfe vo'n Bedeutung geworden, die von der Seite der Hermeneutik vor allem durch die Einsicht in die modellhafte Bedeutung der aristotelischen Ethik und des Kautischen Vernunftfaktums der Freiheit mitgetragen wurde8 • Wenn sich das Verhältnis zwischen Hermeneutik und den Wissenschaften insgesamt als ein Kontinuum umschreiben läßt, innerhalb dessen die Grenzen zwischen Philosophie und Einzelwissenschaften in Fluß geraten - um dabei produktive neue Erkenntnisperspektiven zu erschließen -, so bleibt doch wahr, daß die Hermeneutik das Mißverständnis, als ginge es ihr um ein neues Methödenkonzept, das mit bestehenden in Wettstreit trete, oder als sei sie eine Art genereller Methodologie mit universalem Anspruch, mit zustande kommen ließ. Einmal deshalb, weil sich die hermeneutische Theorie· auf gelingendes Verstehen beruft, um sich theoretisch auszuweisen : Interpretation als faktischer Vollzug kann so mit der Reflexion auf die Grenze allen Methodengebrauchs· verwechselt werden (anstatt ihre gegenseitige Abhängigkeit wahrzunehmen). Zum anderen aber auch, weil die Hermeneutik, aus Zeiten, bevor sie philosophische Bedeutung und theoretischen Rang erlangt hatte, in der Nähe einer ars interpretandi oder Kunstlehre stand, im Vorfeld methodischer Gesinnung. Sie suchte damals ein Wissen zu vermitteln, das aus praktischen Regeln und Kenntnissen erwuchs9 , die für die bessere Auslegung des eminenten Buches : der Bibel, nützlich, ja unabdingbar waren. Dabei glich sie bezüglich ihres theoretischen Genus stärker der Rhetorik, dem alten Streitgenossen der Philosophie, das heißt sie glich dem Gegenbild philosophischer Diskurse und war ohne gemeinsame Gesprächsbasis mit ihnen. Noch die Deklarierung der Hermeneutik· als »Methode der Geisteswissenschaften« (in der Nachfolge Diltheys z. B. bei E. Betti) ist von dieser alten Erbschaft gezeichnet, in deren Lichte leicht die Meinung aufkommen konnte, als ginge es auch heutiger Hermeneutik um eine Art Rückeroberung eines an die erklärenden Naturwissenschaften verlorenen Methoden-Terrains unter der Formel des Verstehens. Die neue Hermeneutik war nie eine Methodologie der Geisteswissenschaften, die ihre Selbstbestim9
mung aus dem Kontrast zu den Naturwissenschaften hätte finden wollen. Die Hermeneutik, über die heute zu sprechen ist, verdankt ihre Virulenz einer Verwandlung durch Philosophie. Diese erfolgte,· vom deutschen Idealismus an, in verschiedenen Schüben. Dazu gehörte auch die Orientierung an den philologischen, ästhetischen und historischen Disziplinen, auf die sich Dilthey bezog, um mit dem Zeugnis des Lebensbegriffes, das er ihnen entnahm, an den Abstraktionen der Gesetzeswissenschaften Kritik zu üben oder geschichtliche Konkretion zustande zu bringen. Diltheys Kategorie des Lebens, in deren Einheit sich Ausdruck, Erleben und Verstehen von Ausdruck zirkelhaft zusammenschließen, versuchte Hegels Begriff des Geistes konkreter zu machen, bzw .. der Kamischen Erkenntniskritik, welche die Naturwissenschaften zum Bezugspunkt hatte, ein paralleles Gebäude einer Kritik der historischen Vernunft an die Seite zu stellen10• Der bewegende Impuls, der zu einem »Hermeneutisch-werden« der Philosophie führte, läßt sich über die Grenzen der p}lilosophischen Sachpositionen hinweg als die Gemeinsamkeit einer Kritik am Methodenbegriff der modernen Wissenschaften und an der Philosophie des Selbstbewußtseins bestimmen. Darin treffen sich im einzelnen so unterschiedliche Konzepte wie diejenigen Nietzsches, Diltheys, Whiteheads, Heideggers, Gadamers und anderer. Diese Kritik schärfte die Einsicht darein, daß Verstehen ein sehr viel mehr umfassender und anders strukturierter Vorgang ist, als es die abstrakten Modelle exakten Methodengebrauchs nahelegen 11 • Wobei die Kritik am Ideal der Exaktheit sich ·nicht auf die Seite des Unexakten oder Divinatorischen schlägt, sondern auf diejenige größerer Sachangemessenheit.
Zu einigen Grundaspekten hermeneutischer Theorie Die Kategorie: »Interpretation«
Was wir heute als hermeneutische Philosophie kennzeichnenkönnen, baut weit mehr auf phänomenologischen Maximen als auf dem Lehrgehalt der Busserlsehen Philosophie auf. Der 10
systematische Husserl, der seine._ phänomenologische Deskriptionstechnik und Phänomenanalyse zur Errichtung eines an Fichte oder Kant gemahnenden Gebäudes einzusetzen suchte, führt auf die Konzeption eines transzendentalen Egos oder eines apodiktischen Selbstbewußtseins zurück, welches der Kritik hermeneutischer Philosophie verfallen muß 12 • Erhebliche Bedeutung dagegen konnte die phänomenologische Devise »Zu den Sachen selbst« behalten, wegen ihrer entdogmatisierenden Kraft, die die getroff~nen Einstellungen zu reflektieren, ihre Erschließungspotenz zu erproben und durch eine Reflexion auf den Gesamthorizont möglicher Einstellungen zu transzendieren fordert. Husserl selbst konnte deswegen schon früh sein Verfahren durch das Wort »Auslegung« beschreiben, und damit von der Interpretationskategorie Gebrauch machen, zu · welcher der gewissermaßen photographietechnische Begriff der »Einstellung« als ein Komplement hinzutritt. Sein Verfahren bringt das Moment der Perspektivität, eines jeweiligen Augenpunktes, in die Phänomenanalyse ein. Die befreiende Kraft dieser phänomenologischen Forschungsmaxime hat Husserl selbst durch seine Kritik am Psychologismus, an der Mephanik der Empfindungen (z. B. Machs), am Pragtp.atismus u. a. vorgeführt13 • Ihre Überlegenheit beruht darauf, die Phänomene nicht entindividualisieren zu müssen zugunsten eines abstrakten Erkenntnismodells, dem sie nur als aufrufbare Zeugen dienen, die dem Ziel einer »Erklärung« des Gegebenen, ein bestätigendes Nicken hinzufügen. Statt dessen zeigt Husserl, daß die Phänomene selbst die Theorie sind, indem er ihre Struktur und ihren Gehalt »auslegt« (sie nicht länger »erklären« ~öchte~ und als hilfswillige Zeugen vor die abstrakte Instanz· einer methodischen Hypothese zieht). Die Nähe solcher deskribierender Auslegung zu dem procedere des Verstehens in der Hermeneutik läßt sich leicht einsehen. Das mag am glänzendsten Paradigma Busserlscher Intentionalanalyse, der Gegenstandswahrnehmung noch deutlicher werden14 • Husserl zeigt in der Zuwt:ndung zur Gegebenheit eines Dinges auf, daß es nicht Etwas. ist, das sich dann auch noch perspektivisch erschließt, sondern daß die Perspektive der anschaulichen Erschließung der Gegenstand ist, der in einem Kontinuum von Abschattungen seine Gegebenheit auslegt. Die Differenzierung des intentionalen .Akt-Lebens erweist die Einheit von intentionalem Akt und intentionalem Gegenstand. Die wahrnehmende 11
Auffassung, Intentionaljtät qua »Interpretation«, reprasentiert zugleich den Zugang und seine Bedingungen, wie das dabei Erschlossene. Was in der Reflexion in die Momente ·bloßer Subjektivität und dinglichen >>An-sich-Seins« auseinanderfällt, vermag die phänomenologische Wahrnehmungsanalyse ohne ein anderes Konstrukt als dasjenige, welches der anschauliche Prozeß selbst liefert, in ihrer einheitlichen Verfaßtheit auszuwei~en. Hatte Busserl selbst schon in seiner mittleren Zeit die Kategorie des Lebens implizit zur Abwehr des Neukantianismus zur Geltung. gebracht (erkennbar an Wendungtm wie dem AktLeben), so hilt er sie ausdrücklich in der späten ·Philosophie der Lebenswelt ausgearbeitet. Dies erfolgt nicht zuletzt in Auseinandersetzung mit Heideggers Sein und Zeit, wo die Tradition des Lebensbegriffes, die vom jungen Regel, über Marx, ·Dilthey, den Grafen York von Wartenburg, Nietzsche, bis zu Simmel und Bergson u. a. eine weitverzweigte Entwicklung gehabt hatte, eine neue Radikalisierung fand. Sie drückte sich in der fundamentalontologischen Stellung des Daseins aus. Heidegger hatte neben dem Grafen Yorck15 besonders Nietzsche in sich aufgenommen, als er nach Sein und Zeit den transzendentalen Charakter der Phänomenologie abzustr~ifen begann. Erst dadurch war es möglich, der hermeneutischep. Auslegung ein neues und tiefer im Zentrum der Philosophie liegendes Fundament zu verschaffen. Die Auslegungsprozesse des menschlich Da-seienden selbst, des faktisch existierenden Lebens, werden als hermeneutische Grundphänomene bestimmbar. Einer der entscheidenden Entwicklungskeime der hermeneutischen Philosophie war damit gelegt. Bevor uns Heideggers paradigmatische Beiträge zur Hermeneutik weiter beschäftigen, wollen wir uns einem, für die Grundlegung der heutigen Hermeneutik, selten gewürdigten Denker zuwenden, Friedr1ch Nietzsche. Wir erwähnten bereits seinen emphatischen Gebrauch der Kategorie »Interpretation«, in der Gegenwendung zu sogenannten Tatsachen. Nietzsche geht es nicht länger darum, den objektiven Gehalt subjektiver Wahrnehmungen zu untersuchen16, dem Weg zu folgen, den Kant gezeigt hatte und der durch die Grenzpfähle zwischen Wahrheit und Irrtum, gangbar geworden war. Erkennen wird nicht durch die Korrespondenz von Satz und Faktum_ garantiert, die erlaubt, unbelegbares Meinen von sachhaltigen Aussagen zu unterschei12
den. »Die größte Fabelei ist die von der Erkenntnis. Man möchte wissen, wie die Dinge an sich beschaffen sind : aber siehe da, es gibt keine Dinge an sich ... « (a.a.O., III, 486). » ••. Erkennen heißt >sich in Bedingung setzen< : sich durch etwas fühlen und ebenso es selbst unsererseits bedingen - - es ist also unter allen Umständen ein· Feststellen, Bezeichnen, Bewußtmachen von Bedingungen (nicht ein Ergründen von Wesen, Dingen, >Ansichs>Lebens« aus geschichtlichem Dasein. Es repräsentiert die elementare Einheitsstruktur, in der sich die Gleichartigkeit dessen ausweisen läßt, das man in der Sprache der Reflexion Subjekt und Objekt nennt oder Bewußtsein und Gegenstand. Die Einheit ist nicht(z. B. als ein transzendentaler Punkt der Identität), sondern sie stellt sich dar, legt sich aus, ist temporär str\,lkturiert. Heidegger setzt so bei der hermeneutischen Bewegtheit des Lebens in Vorgriffen und Horizontbildungen an und knüpft die Phänomene an die Erschließungskraft des Daseins und seiner »Interpretationen«. Die Kritik am Idealismus, die Nietzsche 17
bereits formuliert hatte, hat nun ihren Kernpunkt in der Verdekkungstendenz des Daseins, das über seine Erkenntnisperspektiven niemals völlige Aufklärung erlangen kann. Ihren Durchblickscharakter kennzeichnet eine »Hermeneutik der Faktizität«. Dem Versuch einer absoluten Transparenz des Selbstbewußtseins hält Heidegger die unverrückbare Schranke des existierenden Lebens entgegen. Dies Faktische kann aus Konstitutionsleistungen des Subjekts nicht abgeleitet werden, es ist keine unterste Stufe der Perzeption, auf der sich höhere Erkenntnisleistungen aufbauen. An die Stelle von Husserls transzendentaler Phänomenologie (mit hermeneutischen Grundzügen) tritt in Sein und Zeit eine »hermeneutische PhänomenQlogie«. In ihr ist die Frage nach dem erkennenden Leben (dem Seinssinn des Daseins) gleich ursprünglich mit derjenigen nach dem Sinn des Erkannten (dem Sinn von Sein). Wenn der Mensch unter den vorgängig eingeprägten Bedingungen die Sinnfrage stellt, sieht er sich mit der Unhinter-. fragbarkeit seines eigenen Daseins konfrontiert, in der ihm -was er auch immer theoretisierend erklären und verstehen kann - eine unüberwindliche Grenze gesetzt ist. Dasein weist eine doppelte Struktur auf : es ist der Ort der Eröffnung von Möglichkeiten (des Erkennens, Handelns, Verstehens), auf die hin es sich entwirft, zugleich aber steht piese Offenheit ·unter Bedingungen der Faktizität. Heidegger beschrieb diesen Tatbestand durch die gegenwendigen Kategorien Geworfenheit und Entwurf, welche die Grundverfassung existierenden Lebens ausmachen. Der so verfaßte Bedingungszusammenhang läßt sich aus der Konkurrenz von Vermögen: etwa blinder Naturbestimmtheit und klarsichtiger Vernunft nicht begründen. Er ist lediglich mittels eines zirkelhaften Verweises - nicht zu erklären - aber auszulegen. Die Artikulation des befindlichen V erstehens nennt Heidegger >>Rede«, wobei sich die Aussage in den Auslegungsprozessen des Daseins fundiert. Alle Auslegung gründet in der Vorgriffstruktur des Verstehens: Aussage ist ihr abkünftiger Modus. (Vgl. Sein und Zeit §§ 32, 33). Die »Vor-Struktur« des Verstehens beschreibt, daß es der Auslegende nicht mit einem »an sich« gegebenen Text oder Phänomen zu tun hat, sondern daß er, was er zunächst liest, dank einer eigenen Vormeinung erfaßt, die sich bewährt oder modifiziert. Die zirkulären Vorgriffe und Vorurteile gehören zum Verstehen, weil sie dem Gegebenheitscharakter der Phänomene allererst gerecht werden und es sprachlich 18
auszulegen gestatten. 14 Der Interpretationsbegriff hat daher bei Heidegger seinen Ort in der Bewegtheit, die Entwurf und Geworfenheit des Lebens austragen. Sie erweisen, in anderer, aber Nietzsche vergl~ichbarer. Weise, die Vorhandenheit der Dinge, ihre von uns festgestellte Anwesenheit als eine inadäquate, jedenfalls abgeleitete Bestimmung des Seins. Die Bewegtheit desDaseins und seine Auslegungsperspektiven sind nicht nur das ursprünglich »Hermeneutische«, sondern auch die Basis, von der aus sich zeigen läßt, daß Sinn überhaupt nicht einfach »da ist«. Die Metaphysik, auch der deutsche Idealismus, hielten einen bestimmten Zeitmodus, den der Gegenwart, für dert ·selbstverständlichen Gegebenheitstypus von Sein und Sinn, während nun die Frage, wie Zeit zum Sinn von Sein gehört, gestellt werden kann. Das Seiende begegnet nicht länger in einer distanzierenden Optik des Bewußtseins als das Vorhandene, sondern unter dem temporalen Index der Prozessualität des Daseins wird es hinsieht> lieh seiner ursprünglichen Verwiesenheit auf das sich auslegende Leben als Zuhandenes, als Zeug, als Dienliches bestimmt, d. h. auf die »Existenz« des existierenden Daseins hin. Dessen Strukturbestimmungen sind. die »Existenzialien«. Sie bezeichnen, im Unterschied zu Kategorien, alles was das Dasein als existierendes ausmacht. In der existentialen Analytik des Daseins entwickelt sich die universelle und fundamentale hermeneutische Perspektivenlehre, deren Auszeichnung darin besteht, nicht nur den Interpretationscharakter des Lebens darzulegen, sondern ·den Zusammenhang einer jeweiligen Sicht des Verstehens mit ihrer unauflöslichen Befindlichkeit. Der intentionale Bezug ist nichts, was den Gegenstäriden von außen appliziert würde, sondern er ist die Weise der A~slegung, der Sinnrealisation selber. Hermeneutik kann damit nicht länger als· Lehre von der Auslegungskunst oder. als Ausübung derselben verstanden werden, sondern sie betrifft ~e l!!!!dam_~'f!..!tf..~f!__Q~g~~C.Yfheit schlechthin: das hermeneutische Smogesellehen des Dasems. · · Verstehen, als Inbegriff·· aller Modi des Erkennens und Erfahrens, ist nichts anderes als die ursprüngliche Vollzugsform des menschlichen Lebens selbst, nicht nur eine bloß methodische Operation an gegebenen Zusammenhängen. Seiner Struktur nach hat es Entwurfscharakter, beschreibt die Bewegung des Überstiegs über das Seiende, die Entwicklung von Horizonten der 19
Auslegung - sofern es Möglichkeiten repräsentiert. Es impliziert zugleich aber auch die Faktizität dieses Entwurfs - sofern das entwerfende Dasein auch schon immer »gewesen« ist (das heißt: sich vorfindet). Heideggers hermeneutische Phänomenologie, obwohl selbst keine Kunstlehre oder Methodologie, war zugleich eine Herausforderung an die Wissenschaften. Phänomengerechtigkeit ist eine Devise, der sich Erkenntnis, gleich welchen Genus, unterwerfen muß, wenn auch die Differenz zwischen ontologischen und ontischen Fragen immer noch hinreichende Unterscheidungsmerkmale zwischen der Philosophie und den Wissenschaften garantiert. Gleichwohl ist die Ausschöpfung des kritischen Potentials der hermeneutischen Phänomenologie weniger durch Heidegger selbst erfolgt als durch die ihm folgende Generation. Die Maxime, daß eine Wissenschaft soviel wert sei, als sie sich der Krisis ihrer eigenen Grundlagen fähig erweist, ist seit Sein und Zeit unabweisbarer Bestandteil der Debatte zwischen der Hermeneutik und den Wissenschaften. Erst durch Hans-Georg Gadamers Wahrheit und Methode wurden Heideggers Anstöße und die der älteren Hermeneutik auf der ·neuen Ebene einer. hermeneutischen Philosophie fruchtbar gemacht. Sie will verstehen, was im Geschehen der Auslegung geschieht. Die Struktur der Interpretation beruht auf unausgewiesenen Voraussetzungen, die durch keine Kunstlehre, die sagt, wie Verstehen sein müßte oder welche Regeln anzuwenden seien, geklärt werden können. Vielmehr zeigt sich die produktive Implikation eines Selbstverständnisses in der Sache. bie erläuterten Charakteristika hermeneutischer Theorie, die wir unter anderem unter den Titeln eines Vorrangs der Sprache, der Erkenntnisbedeutung der Kunst, einer Kritik am Historismus, einer strukturellen Analyse des Verstehensprozesses, erläutert haben, gelangen hier zudem in eine Auseinandersetzung mit wissenschaftlichen Methodologien (z. B. derjenigen der Geisteswissenschaften, etwa in der Ausprägung von Diltheys methodisch eingestellter Hermeneutik). Dies alles ist hier nicht im einzelnen aufzugreifen. 25 Allerdings sollte auf eine Einsicht hingewiesen werden, die für die Konzeption der Hermeneutik Gadamers und für ihre Ausstrahlungen26 von außerordentlicher Bedeutung war: nämlich die Tragweite des Erkenntnismodells
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der praktischen Philosophie, besonders dasjenige des Aristoteles und KantsY Was die Hermeneutik damit verbindet, is~, daß Wissen und Sichverständigen stets irt Situationen stehen, daß Erkenntnisprozesse an ihrem Ort im Lebenszusammenhang lokalisiert sind. Es wäre aber ganz ungenau, von der Anwendbarkeit hermeneutischen und praktischen Wissens zu sprechen. Der so Erkennende wendet nicht an, was er unter theoretischen Bedingungen, d. h. mittels Objektivierung erst einmal eingesehen hat. Anwenden kann man nur ein Wissen, das man schon_ besitzt. In dieser Lage befindet sich de~ in der Praxis des Lebens stehende und der sich verständigende Mensch nie : er kommt vielmehr schon immer in einer Situation vor, in der er handeln soll. Anwendung schließt ein, daß einer Wissen besitzt, das sich wie z. B. die Naturwissenschaften, für beliebige Verwendbarkeit offenhält. Pr~ktisches Wissen und Auslegung dagegen haben ihr eigenes Perfektionsideal, das man als kritisches Reflexionswissen bezeichnen darf. Beide berufen sich als reflexive Kritik auf eine Instanz,. die durch die hermeneutische Erfahrung und ihren sprachlichen Vollzug repräsentiert ist. Praktische und hermeneutische Einsichten sind über die Situation an die Vollzugsform eines menschlichen Soziallebens und (seine sprachlichen Artikulationen) gebunden, faßbar als universale Gesprächsgemeinschaft. In ihrem Zusammenhang ist nichts als ))objektiv« oder ))für sich richtig« :tu erweisen, sondern was gelten soll, muß sich heraus stellen, Einsichten müssen sich durchsetzen im Agon argumentativer Auseinandersetzung. Dieses Wissen unter Bedingungen, das die Hermeneutik an die Tradition der praktischen Philosophie knüpft, wurde von dieser als Prohairesis bestimmt : als Vorgriff, der normative Einschlüsse hat, in denen sich die Zielrichtung einer Entscheidung kund tut, die sehenden Auges angestrebt und realisiert werden soll. Prohairesis erfordert die Fähigkeit, das Richtige wählen zu können, erfordert Besonnenheit und Klugheit, aber auch Solidarität, die es erlaubt, beispielsweise· das einzelne Interesse einem gemeinsamen Zweck einzuordnen, kurz, der Situation gerecht zu werden. Die normative Kraft der Solidarität ist so wenig wie die konkrete Prohairesis aus der Anwendung eines allgemeinen Regelwissens zu begründen. Sozialprozesse (wie Arbeit, gesellige Organisation etc.) sind wie die Sprache selbst nicht nach dem Schema der Subsumtion des
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einzelnen unter allgemeine Bestimmungen verstehbar zu machen. Im sittlichen Wissen steht der Erkennende keinem Sachverhalt gegenüber, den er nur festzustellen hätte, vielmehr bemißt sich seine praktische Vernunft und die Fähigkeit zur Solidari~ät danach, ob er die eigene Betroffenheit durch das Faktum ·anerkennt und zur Geltung bringt. Nicht zufällig ist der humane Scopus dieses Wissens und derjenige der Geistenswissenschaften in dem alten Namen der humaniora oder der moral sciences aufbewahrt. Die Wissensform der Praxis, die man, um die parallele Kamische Bestimmung der Urteilskraft aufzugreifen, nicht lehren, sondern nur üben, nicht objektivierend bestimmen und dann auch noch praktisch machen kann, wiederholt sich in der Wissensform der juristischen Gesetzesauslegung. Ihr Ernst resultiert aus den unmittelbaren Folgen ihres Tuns. Ihr Problem beruht aber gerade darin, daß kein Gesetz vollkommen und für jede erdenkliche Situation genügend genau ist; mithin keine schematische A,nwendung erlaubt, vielmehr ausgelegt werden muß nach dem Geist des Gesetzes und dem situativen Zusammenhang, aus dem es kommt und in den es hineinwirkt. Wird an dieser Frage bereits eines der großen Spektren unserer Debatte greifbar, nämlich dasjenige der juristischen Hermeneutik28, so verknüpft sich mit ihr auch eine Kontroverse, welche das Selbstverständnis der Hermeneutik anlangt. Die Einwände gegen das hermeneutische Argument der gelingenden Verständigung folgen einem ideologiekritischen Verdacht. 29 Er erhebt sich aus der Vermutung, in die Kommunikation der Sprache, die in soziale Normen, Vormeinungen und Schematisierungen eingebettet ist, könnte sich unter bestimmten Bedingungen eine Verzerrung einschleichen, die sich hermeneutisch-reflektierend ni~ht mehr auflösen lasse. Das ideologisch falsche Bewußtsein (wie die individuelle psychische Pathologie) werden als Belege für derartig systematisch verzerrte Kommunikation aufgeboten, 30 die nach einer Überschreitung der hermeneutischen Basis verlangen und eines konstruktiven Erkennens, einer »Tiefenhermeneutik« bedürfen, die in der Theorie der kommunikativen Kompetenz dargelegt werden soll. Dagegen hat Hans-Georg Gadamer immer wieder deutlich zu machen gesucht, daß sich dieideeder Kommunikation am gelingenden Einverständnis orientieren muß, gerade auch, um seine Störungen verständlich werden zu lassen. 31
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Mi~ diesen Überlegungen ist der Überblick über die Entwicklung und theoretische Fundierung des Im:erpretationsbegriffs, als des Kernpunkts der h._ermeneutischen Diskussion, längst in das Gespräch der Hermeneutik mit den Wissenschaften übergegangen. Auch an der Lokalisie~ng herme~eutisc~er Erkenntnispr~ fung im Verhand der praktischen Phtlosophte, dem Nachweis, daß die Perspektive der Interpretation unter der Einwirkung von Interessen und einem normierenden Vorgriff steht, wurde deutlich, wie sich der Austausch zwischen einer hermeneutischen Reflexion auf das Verstehen und den methodologisch instrumentierten Verstehensprozessen der Wissenschaften vollziehen ka~m. Am Ende dieses Teils unserer Darlegungen sei an die grundle. gende Bedeutung des wirkungsgeschichtlichen Prinzips für die Hermeneutik erinnert.32 Unter anderem deshalb, weil es zu einem bevorzugten Punkt der Auseinandersetzung geworden ist. Gegenüber der offenen Antinomie des Historismus, einerseits das Geschichte schreibende Subjekt historisch verankern zu müssen, es andererseits aber instand zu setzen, die Objektivität einer Begebenheit jenseits aller perspektivischen Abschattung zu intendieren, baut die Wirkungsgeschichte auf einen Prozeß der Verständigung, der dieser Dissoziation nicht unterliegt. Der Zirkel von Vorgriff und Entwurf dient aber nicht der Stärku.ll"g der Selbstb~zieh\lng eines verstehe~den S\lbjekts .gegenüber der ·Geschichte~ sondern er rückt selbst unter ein Geschehen, in das er einbezogen ist, das der Tradition. Verständnis wird ·in dem gleichen Maße von der Sprache der Überlieferung in Gang gebracht, wie es vom fragenden Subjekt mit konstituiert. wird. »Das Verstehen ist selber nicht so sehr als eine Handlung der Subjektivität zu denken, sondern als Einrücken in ein überlieferungsgeschehen, , in' dem sich Vergangenheit und Gegenwart beständig vermitteln.33 Der Horizont des Interpreten und des Textes verschmelzen in einem gemeinsamen Horizont, in welchem die Partikularitäten des Subjekts und eines fremden Sinnes sich vermitteln. Die Wirkungsgeschichte übergreift den Interpreten und seinen Gegenstand~ Sie als Geschehen anzuerkennen, über welches wir nicht verfügen, ermöglicht nicht nur das Verständnis von Vergangenem, oder generell von Texten als etwas anderem, sondern sie gibt zugleich jene Perspektive an, unter welcher dem Verstehenden Wahrheit erscheinen kann, und zwar eine solche,· in die er einbezogen ist. In der wirkungsge-
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schichtliehen Überlieferung bin ich nicht nur mit »Sachen« konfrontiert, sondern wir vernehmen die _»Sprache der Dinge«.· »Es ist etwas anderes, ob von der Subjektivität des Meinensund der Eigenmächtigkeit des Wollens aus eine Grenze erfahren wird· oder ob von der vorgängigen Eingespieltheit des Seienden in die spracherschlossene Welt gedacht wird.« 34
Bemerkungen zu den Texten der Sammlung Der theoretische Zusammenhang, den wir dargestellt haben, ist in den Beiträgen dieser Sammlung nu~ mittelbar gegenwärtig. Doch gehen die Aufsätze der Rubrik »Aspekte der hermeneutischen The.9rje~~ darauf beso~ders ein. (1) Mit dem erstmals in deutscher Übersetzung vorliegenden Text »Verstehen«, aus dem Buch von Alfred North Whitehead Modes of Thought wird die Aufmerksamkeit auf eine Philosophie gelenkt, die in der anglo-amerikanischen Tradition entstanden ist, zu ihr selbst aber eine spannungsvolle Beziehung eingeht. 35 Mit der westeuropäischen Entwicklung hatte sie wenig direkte Berührung, obwohl die Nähe von Whiteheads prozessualer Theorie nicht nur zu Leibniz, sondern ebenso zum Komplex hermeneutisch-phänomenologischer wie dialektischer Philosophie überrascht, so daß von .ihr für die gegenwärtige hermeneutische Diskussion entscheidende Bereicherungen zu erwarten sind. Dafür kann der gewählte Ausschnitt freilich nür. !!inen ersten Anstoß bedeuten, der auf eine weitergehende Rezeption der Philosophie Whiteheads in Europa zielen muß. Die philosophische Tradition des Lebensbegriffes, die, wie wir sahen, für die Wissenschaftskritik und die Vorbereitung der hermeneutischen Philosophie (über Nietzsche, Heidegger u. a.) eine entscheidende Bedeutung gehabt hitt, war Whitehead nur durch Bergsous Theorie bekannt und in der Gestalt des amerikanischen Pragmatismus, besonders W. James und Dewey, die ihrerseits europäische Philosophie verarbeitet hatten. 36 Whiteheads Philosophie ist für: ~nseren Zusa~enhang deshalb ein so wertvolles Zeugnis, weil sie ohne den Kontext der kontinentalen Tradition zu sachlichen Argumenten fand, die mit der hermeneutischen Philosophie in enge Beziehung treten. Diese Übereinstimmungen bestehen sowohl in der Gesamtanlage seiner Theorie als auch in 24
Einzelheiten. Whitehea4 übt Kritik an einer Metaphysik der Substanzen, einer Theorie des Selbstbewußt!!eins und am methoöologisehen Objektivismus, insgesamt also an einer Th~oriebil ·dung, welche auf Präsenz zielt, - mittels einer Philosophie, die an die Stelle des Seins die Entfaltung der Prozeßhaftigkeit der Realität setzt. Process and Reality (1929) oder Adventures of Jdeas (1933) 37 entwickeln diese gemeinsame Struktur der Realität und des Erkennens unbeeinträchtigt von der Unterscheidung in Regionen der Natur, des Organismus, der Geschichte oder der Kunst. Die auch von der Hermeneutik erstrebte Aufhebung methodischer Grenzen zwischen Natur- und Geisteswissenschaften oder überhaupt zwischen den antagonistischen Prinzipien von Natur und Geist ist in Whiteheads Philosophie von Anfang an im Blick. Sein Konzept einer prozessualen Philosophie sucht eine universale Geschichtlichkeit aller, auch der Naturvorgänge, darzulegen. Auch er zeigt, daß die Dominanz_c:les Werdens vor dem Sein zu- einer Theor~e c:ler 'lniirpretätion führt, d. h., zu einer universalen Auslegungsbezogenheit aller Realität. In ihr werden Reflexionsbestimmungen wie Bewußtsein und Gegenstand, Subjekt und Objekt, Dualismen wie Leib und Seele, Natur und Geschichte einer Bestimmung zugänglich, welche die aller Kontraposition und Differenzierung vorausliegende Einheit anzugeben vermag. Die Fixierung der Wissenschaften oder der Begriff der Philosophie selbst werden in einer »Logik der Ereignisse« und derem gleichsam monadischen Zusammenhang wieder flüssig, d. h., sie werden als Perspektiven oder Auslegungen eines einzigen Wahrheitsgeschehens deutbar. Der Geschehenscharakter der Erkenntnis und die Zweideutigkeit des Wahrheitsbegriffs, die aus der Gegenwendigkeit von Sichtmöglichkeiten und unaufhebbaren Sichtgrenzen resultiert, wird von Whitehead wie von der hermeneutischen Philosophie 38 in gleicher Weise herausgearbeitet. Wie diese ist sie als Philosophie der Endlichkeit39 zu kennzeichnen: auch als Logik der Ereignisse, d. h. als universaler perspektivischer Zusammenhang 'von Interpretationen. R. Wiehl hat darauf hingewiesen, daß der Kontext der Interpretationen, die »Logik«, welche das einzelne Interpretationsereignis mit der Folge und Entwicklung aller anderen verbindet, bei Whitehead in einem Gedankengang dargelegt wird, der mit Gadamers Wirkungsgeschichte in. enger Verwandtschaft steht. 40 Das Flüssigwerden der Grenzen zwischen Regionen der Realität, zwischen
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den Dimensionen ihrer zeitlichen Bestimmtheit im Auslegungsprozeß des Erkennens bedeutet auch ein ausdrückliches Offenhalten der Grenzen zwischen Philosophie und Wissenschaften, ·. ein Angebot zu einer produktiven Neubestimmung ihrer gegenseitigen Orga~isationsverhältnisse. Whitehead hat dazu eine· eigene Theorie vorgelegtY Aus dem Ganzen seiner Konzeption soll abschließend nur noch ein, allerdings wichtiges, Detail behandelt werden, das für das Verständnis unseres Textes Bedeutung hat~ nämlich die Kritik am Vorrang des Aussagesatzes für die Legitimierung der Erkenntnis. Aus der Behandlung Heideggers wissen wir, daß das apophanti..: sehe Urteil als ein abkünftiger Modus der Auslegungsprozesse des Daseins dargestellt worden war, fundiert im Primärgeschehen einer Hermeneutik der Faktizität. 42 Aus Nietzsche ist uns bekannt, daß mit der Aufhebung des Korrespondenzmodells von Erkenntni~ die Sprache in ihren poietisch-metaphorischen Möglichkeiten (nicht als positivierendes Aussagesystem) hervortrat. Schließlich besteht ein wesentliches Prinzip phänomenologischer Forschung in der phänomenologischen Reduktion, und d. h. der Urteilsenthaltung, mit dem Ziel, beispielsweise die jeweilige Gegenstandgegebenheit: aus ursprünglicheren Schichten · als Muster eines Fl~sses yon Abschattungen auszuweisen. Vom Rückgang auf die Lebenswelt zeigt sich das Gegebene als Abwandlung perspektivischer Auslegungsprozesse, denen die logische Form des Urteils keineswegs adäquat ist. Schließlich hat auch Gadamers Hermeneutik an dem Vorrang des »Wortes« vor dem »Satz« 43 bzw. an der hermeneutischen Zweideutigkeit der Sprache festgehalten, in der die unaufhebbare Rückverwiesenheit aller Sinnaussagen an das Miß- und Nichtverstehen dargelegt wird. Gerade von da aus gelangte Gadamer (wie die deutsche Romantik und Nietzsche) zu einer ausdrücklichen Neubewertung der Erkenntnischancen der Kunst. Die dichterische Sprache, nicht nach dem Muster apophantischer Urteile begreifbar, wird zu einem Paradefall hermeneutischen Wahrheitsgeschehens. Auch Whiteheads Logik der Ereignisse hat eine Relativierung der apophantischen Aussage zum Ziel. Dem Prozeß entspricht eine sprachliche Synthesis, die ihre Relativierung und Neubestimmung durch den Zusammenhang anderer Auslegungsphasen nicht nur zuläßt, sondern ausdrücklich als Möglichkeit aufnimmt. Dies spiegelt sich auch in unserem Text, schon darin, daß 26
Whitehead den Beweis als ein ungeeignetes philosophisches Demonstrationsmittel und Erkenntnisziel beschreibt. Denn er geht von logische~ Prämissen aus, setzt ursprüngliche Evidenzen voraus, die es philosophisch erst vor Augen zu führen gilt. Er gründet sich auf Abstraktionen, während es die Philosophie im eig~ntlichen Sinne des Ausdrucks mit dem Verstehen zu tun hat, und das heißt der produktiven Erschließung von Evidenzen. Dieses Verfahren steht stets unter den Bedingungen einer Situation, die es ab~chatten, die es let?:tlich als Schein erweisen, in der Sprache des Begriffes über eine Ordnung zu verfügen,. die alle Verkürzungen außer sich hat. >~Es gibt k-einen Grund· für .die Annahme, daß U nordn~ng weniger grundlegend ist als Ordnung. Unsere Aufgabe besteht-~darm~--ein ··allgemeines Konzept zü entwickeln, in -dem.für beides Raum ist .. ·.« (vgl. S. 71) Whitehead macht auf d'as Paradox aufmerksam, daß ein vollständiges Verstehen von Etwas seine tautologische Selbstaufhebung insofern einschließt, als innerhalb seiner jeder einzelne Punkt bereits zu dem gehört, »Was bereits klar ist. Es handelt sich also nur noch um eine Wiederholung des Bekannten. In diesem Sinne ist Tautologie möglich. Tautologie ist also das intellektuelle Vergnügen des Unendlichen:« (vgl. S. 71) Eine angemessene sprachliche Beschreibung muß demnach die Verhältnissetzung von Einheit und Viellieit offenhalten4\ sie als· Bestimmungsprozeß darlegen. Whitehead diskutiert eine Reihe 'von Aspekten dieser Frage, :unter anderem denjenigen einer »Begründung der Logik auf dem Begriff der Unvereinbarkeit«, der Perspektivität der Sinneswahrnehmung45 , der Möglichkeit des Erkenntnisfortschrittes, der durch fixe Gewißheit paralysiert wird 46 , schließlich das kompletementäre Verhältnis von Logik unc;i ästhetischer Erfahrung. (2) Der Beitrag von Paul Ricceur vertieft sich ganz in hermeneu-
tische Grundlagenprobleme und die Erhellung eines interpretatorischen Paradigmas für die Sozial- bzw. die Humanwissenschaften. Ricceur sieht seine Theorie selbst in der Tradition der Reflexionsphilosophie verankert. Den Ausgang vom »Ich bin« deutet er, nach Busserls Vorbild, in eine noetisch-noematische Sachforschung um. Das Ich wird ein Selbst durch die Aneignung seiner vielfältigen Ausdrucksgestalten, es vermittelt sich durch Werke, Handlungen, Institutionen udgl. Daß darin schon eine
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Variation der Phänomenologie steckt, wird bereits an der Phänomenologie des Willens und der Symbolik des Bösens deutlich, die neben Merleau-Pontys Phänomenologie der Wahrnehmung die französische Rezeption Husserls nach 1945 prägt. 48 Nach 1960 gab Ricreur seiner reflexionsphilosophischen Position die Gestalt einer Interpretationstheorie, fiir die Freud, die Linguistik, ·der Strukturalismus und die angloamerikanische Sprechakttheorie (Austin, Searle) wichtigste Gesprächspartner geworden sind. An Freud wird ihm exemplarisch deutlich, daß die unmittelbare Selbstpräsenz des Subjekts eine Illusion ist, daß c:_s_~ich vielmehr selbst· interpretieren muß, d. h., es muß den Mechanismus der Entstellungen und Omprägungen seiner Wünsche und Erkenntnisse durchschauen lernen. Das Verstehen bedarf der Rekonstruktion einer Topik bzw. Energetik der Triebe in der die Selbstbeziehung des Subjekts eine unüberwindliche Barriefe erfährt. Es ist eine Instanz außerhalb der Selbstreflexion des Bewußtseins, an der es seinen Sinn interpretierend erfaßt, (in der Arb~it der Psychoanalyse). Die gleiche Brechung reflexiven Denkens sieht Ricreur in der Sprachdeutung der Linguistik. Unter Rückgriff auf Einsichten Ferdinand de Saussures, Louis Hjelmslevs und Emile Benvenistes gelangt er zu einer Grenzdialektik zwischen sprachlichem Diskurs und Sprachsysteni, wobei diskursives sprachliches · Prozedieren eines Überstiegs in die Gestalt der Schrift bedarf, um der ihm anhaftenden Schwäche abzuhelfen: »Was wir schreiben, was wir registrieren ist ~as noema des Sprechens. Es ist der Bedeutungsgehalt des Sprachereignisses, nicht das Sprachereignis als Ereignis. «49 In· dieses Verhältnis fließen die Differenzierungskategorien Austins' und Searles' ein. In ihm realisiert sich eine Überschreitung, die allerdings die Spiritualität des Diskurses garantiert, indem diesem nämlich über die situativ-kontingentenBedingungenseines Vollzugs hinaus eine Ebene der Bedeutung entgegentritt, die ihm erlaubt, entgangene und verlorene Intentionen in einer vorliegenden Nebeneinanderordnung von Bedeutungen zu überprüfen und zurückzuholen. Es ist. der ·Übergang von der Abfolge diskursiver Situationen zur Welt des Ausgesagten: dem »Ensemble der du~ch Texte eröffneten Bezüge« (S. 90). Die Enge der dialogischen Situation und ihrer wechselnden Perspektiven weitet sich aus zur Gleichzeitigkeit des Schriftlichen. In ihm wendet sich die Intention eines jeweiligen Autors u~ in eine Struktur, die an 28
den (auswechselbaren) Leser schlechthin addressiert ist. Der Text in seinem Lesbarkeitscharakter dient nun als Modell für sinnhaftorientiertes Verhalten in den Humanwissenschaften. Ricreur untersucht die Umsetzung der kontingenten Handlungen verschiedener Protagonisten zu einem noematischen Bedeutungsgeflecht. Es verzeichnet die schriftlichen Spuren abgelaufener Ereignisse, macht den Sinn der Intentionen des Handeins gegenwärtig und lesbar. Ein Werk- als Beispiel ein Text- »spiegelt nicht nur seine Zeit, sondern es erschließt eine neue Welt, jene Welt, die es in ~ich trägt.« (S. 99) Die Dialektik zwischen Schreiben und Lesen, deren Scharnier in der modellhaften Rolle des Textes liegt, sucht Ricreur durch eine analoge Dialektik zwischen Verstehen und Erklären zu explizieren. Allgemein gesprochen ist es die Objektivität des Textes, d. h. seine Herausgehobenheit aus Intentionen des Autors und seine Offenheit für eine unbegrenzte Zahl von Adressaten, - die ihm die Möglichkeit des Erklärens zu gewähren scheint. Er zielt auf die Rekonstruktion der Textganzheit aus Elementen und Sinnschichten, die er sich freilich nicht streng gesetzmäßig denkt, sondern einer Optik unterworfen. »Die Rekonstruktion des Textes als eines Ganzen hat notwendigerweise einen zirkulären Charakter - in dem Sinn, daß die Imputation einer bestimmten Art von Ganzem bereits in der Erkenntnis der Teilzusammenhänge impliziert ist.« (S. 103) Die Mehrdeutigkeit des Ganzen ist in gleicher Weise auch Ansatzpunkt eines dem Erklären folgenden Verstehens, welches die Konstrukte der Erklärung aneignet. Eine methodische Differenz zwischen Erklären und Verstehen soll die dialektische Abhängigkeit beider zugleich ermöglichen, aber auch trennbar halten. Der Hypothesenbildung der Rekonstruktion folgt eine Validierung, welche als Logik der Wahrscheinlichkeit dem Deckung zu geben sucht, was zunächst als bloßes abstraktum jenseits aller Verstehensakte dem Aufbau des Textes diente. Für diesen Versuch dient ihm Hirschs Validity in Interpretation als Richtschnur. 5° Entschlüsselung und Aneignung teilen sich die Arbeit der Textinterpretation, wobei die Abfolge dieses Tuns ·nur dann als zeitliches Nacheinander vorgestellt werden darf, wenn auch die Umkehrung gleiches Recht besitzt. Ricreur sucht die Vermitteltheit des Verstehens durch ein explanatorisches Verfahren aufzuweisen, das in dem Moment zum Verstehen wird, wenn die durch die Rekonstruktion aufge29
wiesenen Elemente eine Dynamik des Sinnes freisetzen. Die persönliche Aneignung scheint ihm dadurch aus subjektiver Willkür und Gefühl befreit. Erklärung und Verstehen verhalten sich in einem »hermeneutischen Zirkel«, den Ricceur mittels des Durchgangs durch die Aufgabe der Rekonstruktion aber davor schützen möchte, ein circulus vitiosus zu werden. Es bleibt freilich zu überprüfen, ob die angestrebte Dialektik nicht eine Brechung des Zirkels impliziert, insofern sie eine Innenperspektive der aneignenden Zuwendungen zu Textsinn umschlagen läßt in eine Außenperspektive der Rekonstruktion von Textelementen. Der Versuch der methodischen Ausfaltung der Hermeneutik zu den Human~issenschaften begegnet hier der Gefahr, die Ambiguität des Sinnverstehens nicht auszulegen, sondern durch eine methodische Doppeldeutigkeit, die aus einem Wechsel der Einstellungen erwächst, als die Variationsbreite eines Hofes von Bedeutungselementen zu fixieren. (3) Michael Polanyis Aufsatz Sinngebung und Sinndeutung hat einen Ort in der hermeneutischen Debatte, von dem aus sich sehr komplexe Beziehungen ergeben, sowohl zu den Naturwissenschaften, zur Psycholögie, zur Linguistik als auch zu den Grundlagen eine},' Theofie des Erkennens, die »unausdrückliche« Elemente zur .Geltung bringt und darin einen Beitrag zur Wissenschaftskritik liefert, der demjenigen der Hermeneutik nahe verwandt ist. Polanyi hat diese Überlegungen gegen Ende seiner Laufbahn als Forscher im Gebiet der physikalischen Chemie zu bilden begonnen. Sie haben ihren Niederschlag in seinem Hauptwerk Personal Knowledge (1958) gefunden und sind seitdem in Einzelstudien weitergeführt worden. 51 Es versteht sich, daß seine Versuche im engen Kontext mit Whiteheads Kritik der wissenschaftlichen Sprache und des logischen Ideals des Beweises gesehen werden können 52 , wie sie insgesamt mit dem hermeneutischen Verfahren konvergieren, die vorgebliche Präsenz des Erkannten durch den Hinweis auf den Prozeßcharakter der Erkenntnisbildung und die unüberholbare interpretative Abschattung alles Erkannten zu erweisen. ~>Alles Erkennen fällt demnach unter eine der beiden Möglichkeiten: Es ist entweder unausdrücklich oder es wurzelt in einer unausdrücklichen Erkenntnis.« (S. 128) Das in der Bedeutung sich anzeigende Unausgedrückte, die »tacit dimension«, macht sich bemerkbar, 30
wenn wir darauf achten, daß jedes Erkennen der »Hilfswahrnehmungen« bedarf, welche der Erkenntnis auf die Sprünge helfen, daß es einen Prozeß der Sinngebung beschreibt, der in der Explizitheit des Erkannten nicht aufgeht. 53 So ist bei der Wahrnehmung einer Physiognomie der Rückschluß von den verschiedenen Gesichtszügen auf die Stimmung der Person, die sich in ihnen bildet, nur möglich, wenn die Erkenntnis über eine integrierende und das heißt unausdrückliche Dimension verfügt, in welcher der Obergang von den Elementen der Bedeutung zum Sinn vollzogen wird. Dieser Übergang kann aufgrund seiner Funktion, Explizites auf Explizites zu beziehen oder eine irrexplizite Gesamtwahrnehmung zu bilden54 , nicht selbst die Form einer positiven Gegebenheit haben. Ähnlich Whiteheads Einwand gegen den wissenschaftlichen Beweis zeigt Polanyi, daß sich das Ideal eines streng expliziten Schließens auf der Linie seiner Selbstaufhebung bewegt, da es nicht anzuerkennen vermag, daß der Übergang vori der :Prämisse zum Schluß einer Instanz bedarf, die ihrerseits nicht explizit sein kann. 55 Die Dynamik unausdrücklicher Erkenntnis meldet sich aber nicht nur, wenn es gilt, jeweils über die Bildung·von Erkenntnisurteilen oder Wahrnehmungen zu reflektieren, sondern ganz besonders, wenn die Erwerbung der Sprache beim Kinde oder die Fähigkeit Neueszu erkennen oder zu formulieren erklärt werden soll. Polanyi zeigt, daß ohne eine Struktur des Übergangs, die er auch nach Kantischem Vorbild · als eine solche der Einbildungskraft beschreibt, diese Fragen gar nicht diskutiert werden können. 56 Das bloße Konstatieren von Erkanntem wäre nicht in der Lage, den Prozeß der Erkenntnis von neuem in Gang zu bringen, innerhalb dessen der Vorgriff der Verpllltung, der Akt der Imagination, Schemata bereitstellt, innerhalb derer sich Explizites neu zu deuten ver~ag, sich überhaupt he~ausstellt, was jeweils Fakten sind, und was sie »belegen«. Die Einbildungskraft ist die Fähigkeit, Perspektiven zu eröffnen, nicht nur innerhalb g~wähl ter Erkenntnisralunen gegebene Fakten zuzuordnen. Das Schließen der Einbildungskraft, in anderer Weise dasjenige der Urteilskraft bzw. der praktischen Vernunft57, ist nach dem Muster logischer Subsumtion nicht beschreibbar. Seine Bedeutung für eine wissenschaftliche Heuristik, d. h. für das V erfahren der Neubildung von adäquaten Erkenntnisperspektiven ist unabweisbar. Das Erlernen der Sprache durch das Kind, die Formulierung 31
nie dagewesener Sätze kann ebenfalls nicht als »Generalisation des Bestehenden« oder Anwendung expliziter Vorschriften verstanden werden, wie Polanyi unter Rückgriff auf Theoreme Chomskys bemerkt (vgl. S. 129 f). Es erfolgt in einer Dimension, in der das fingierende Vermögen in der W ahrnehniung und der Erkenntnis auf eine »Unausdrückliche Weise die Mittel ... (seiner) Verwirklichung hervorbringt«, und· dämit jene flüssige Zuordnung von Wort und Wort ermöglicht, in -der sich em Gegebenes sprachlich benennen und deuten läßt. 58 (4) In· dem Maße, wie die Hermeneutik wichtige Einsichten der Instanz des Lebensbegriffs verdankte, mußte auch das Substrat des Lebens, sei es als lebendiger Organismus oder als ausgezeichnetes menschliches Dasein, thematisiert werden. Damit gewinnt die hermeneutische Problemlage einen engen Zusammenhang zur Au.fgabe einer Anthropologie. 59 Dazu gab es von der Phänomenologie her bereits Anstöße, sobald neben der lebensweltlichen Fundierung des Erkennens auch die leibliche eine Rolle zu spielen begann, wie das besonders bei Merleau-Ponty, aber auch bei Anthropologen wie Buytendijk60 der Fall ist. In diesen Zusammenhang gehört auch das philosophisch-anthropologische Lebenswerk Helmuth ,l>lessners, der die Anthropologie aus der Ebene einer empirischen Lehre zurückzuholen trachtete auf eine Basis, von der aus das lebende Leben in seinen vielfältigen 'Ausdrucksgestalten und Verhaltensmustern reflektiert werden konnte. Der Kern einer solchen Theorie ist die im Menschen verkörperte Beziehung von Selbstsein und Welt, die »exzentrische Positionalität« des existenzbergenden Lebens, wie es Plessner bereits 1928 60a, unabhängig von Sein und Zeit (1927) nannte. Die Spannung aber, die sich zwischen einer so konzipierten Anthropologie und Heideggers Fundamentalontologie des Daseins ergeben mußte, ist Gegenstand des hier abgedruckten Beitrages. Während in Sein und Zeit die »Hermeneutik der Faktizität« dazu dient, am Faktum des menschlichen Daseins hinter dieses zurückzugelangen in die vorlaufende Frage· der unabschließbaren Seinsbestimmung alles Seienden, muß eine Anthropologie das Faktum des Daseins bzw. des Lebens überhaupt als Ausgang und Ziel ihrer Bemühungen verstehen. Der situative Charakter des lebenden Körpers ist im Anschluß an-Heidegger in der verschie-
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densten Weise ausgelegt worden, gerade durch Anstöße, die gegen die eigentliche Intention von Sein und ~eit wirksam wurden,-u. a. in der verstehenden Psychologie, der Psychoanalyse und Psychopathologie. 61 Plessners Untersuchungen, die ihren Ausgangspunkt vom >>materialen Apriori« exzentrischer Positionalität nehmen, suchen den Zusammenhang von Körper und Leib, von Naturbestimmtheit des Lebens und Existenz als einen Bereich auszulegen, in dem sich die »Bedingungen der Möglichkeit eines menschenhaften Wesens der vollen Erfahrung iri Natur und Geschichte« (5.150) erschließen. Erfahrungen dieses Typs haftet die Zweideutigkeit allen Ausdrucks an, der sich gelebtem Leben verdankt. Diese Anthropologie, mit der naturwissenschaftlichen Disziplin gleichen Titels unvergleichbar, ist eine Wissenschaft, die zwischen transzendentaler Fragestellung und Empirie Verfahren des Verstehens entwickelt, in die einerseits empirische Einsichten (aus der Vorgeschichte, der Stammesgeschichte, der genetischen Psychologie, der Verhaltensforschung u~ a.) einfließen, die aber andererseits imstande ist, eine Reflektion zu entwickeln, die dem perspektivischen Charakter des Lebens gerecht wird. >>Die menschliche Welt ist weder auf ewige Wiederkehr noch auf ewige Heimkehr angelegt. Ihre Elemente bauen sich aus dem Unvorhersehbaren auf und stellen sich in Situationen dar, deren Bewältigung nie eindeutig und nur in Alternativen erfolgt.«· (S. 150) (5) George Herbert Mead (1863-1931) ist als einer der Begründer einer »verstehenden Soziologie« immer wieder in Anspruch genommen worden. 62 Als Wissenschaftler ist er der Sozialpsychologie zuzurechnen; philosophisch dem Pragmatismus, zu Dewey steht er in· einem besonders engen Verhältnis. Als Pragmatist machte er den Versuch, eingeführte wissenschaftliche Dualismen wie Geist und Materie, Philosophie und Wissenschaft, Teleologie und Mechanik, Theorie und Praxis usw. zu vermeiden -Tendenzen, die er mit der späteren Hermeneutik teilt. Für den Zusammenhang der hermeneutischen Betrachtung ist von besonderem Interesse, daß sich die Grundlegung eines Verstehensbegriffs im sozialen Felde auch ausdrücklich auf Whiteheads Philosophie des Perspektivismus beruft. 63 Mead hat die mögliche fundierende Funktion dieser Theorie erkannt, er bezieht Whitehead ausdrücklich auf Leibniz' Monadenkonzeption, um dann 33
einen Schritt der Übertragung zu versuchen. Das Verhältnis von Perspektiven dient ihm als Basis, um gesellschaftlichen Prozessen ihren »Gegenstandscharakter« zu nehmen, um ihre Konstitutionsvorgänge von Innen her zu erfassen. An die Stelle der Gesellschaft tritt die Gesamtheit der Perspektiven, die Individualitäten in Wechselbeziehung zueinander versetzen. Mead's Theorie versucht den Antagonismus zwischen subjektiven und objektiven Ausgangspunkten zu vermeiden, indem er den Perspektivenzusammenhang als eine Abfolge von Ereignissen sieht, bei denen der Vollzug Wirklichkeit konstituiert, nicht ihr Ergebnis. Der Vollzug ergibt sich aus dem Faktum, · daß jede eigene Perspektive, die das Glied einer Gemeinschaft repräsentiert, zugleich in der Perspektive anderer erscheint, sich aus diesen perspektivischen Wechselverhältnissen die >>Gruppenperspektive« ergibt. Die Organisation der einzelnen Rollen schließt sich zu . einer »Gesamt-Handlung« zusammen, in welcher sich gemeinsame Eigenschaften anzeigen. Indem der einzelne seine Perspektive virtuell vom Standpunkt der anderen zu sehen vermag, gelangt er dazu, >>als >generalisierter anderer< in der Einstellung der Gruppe oder der Gemeinschaft zu sich selbst Stellung zu nehmen. Mit dieser Fähigkeit ist das Individuum gegenüber dem· sozialen Ganzen, dem es zugehört, ein definites >Selbst< geworden. Dies ist die gemeinsame Perspektive.« (S. 158) Es ist leicht ersichtlich, daß diese Theorie die Konstitution gesellschaftlicher Gruppen aus der Dynamik der in ihr ablaufenden »perspektivischen« Vorgänge verständlich machen kann, daß sich eine Gemeinschaft aus einem Prozeß wechselseitiger Anerkennung aufbaut, in dem die einzelnen Individuen gerade dadurch, daß sie an ihrer Perspektive festhalten, die Perspektive des anderen zu Gesicht bekommen. Dies beschreibt keinen Akt der Einfühlung oder der Projektion in .andere, sondern reale Vorgänge, die aus den Verhältnissen von Handlungen, Interessen, Normierungen zueinander entspringen: mit dem Selbst entsteht der andere, d. h. das gesamte soziale Gefüge. Dieses ist danach auch nicht als eine Summe von einzelnen Faktoren und Daten zu verstehen, sondern als offenes Sinngeschehen. Auf der Basis von Whitehead's Philosophie und mit Blick auf die behavioristische Psychologie gelingt es Mead auch, soziale Organisationen und Organisationsweisen der Natur in ein Kontinuum zu setzen. Was in diesem systematischen Text Meads als Skizze vorliegt, 34
hat er in den Schriftkonvolutef!, die unter anderem unter dem Titel Geist, Identität und Gesellschaft'4 von Charles Morris publiziert wurden, nach den verschiedensten Seiten hin soziologisch differertziert. Durch Alfred Schütz, der seine verstehende Theorie der gesellschaftlichen Phänomene .auf Busserls Philosophie gründete, ferner P. Bergerund Th. Luckmann und andere 65 sind Meads Ansätze fortgeführt worden. 66 Der hermeneutische Ertrag von Meads Ausführungen besteht darin, die gesellschaftlichen Prozesse ohne objektivierende Verfremdungen zu thematisieren und die k~nstitutive R,olle des Handlungsvollzugs, des sozialen Ereignisses selbst zu beschreiben. Charles Taylor entfaltet eben diese Aspekte in seinem Beitrag (S. 168) in seine _methodischen Konsequenzen, indem er sie auf Tendenzen gegenwärtiger Politikwissenschaft bezieht. Schon Mead macht deutlich, daß es eine soziale Realität >>als solche« nicht gibt, daß sie sich vielmehr aus Relationen oder Interpretationen aufbaut, die keinen Relativismus umschreiben, sondern insofern ein Verstehen als eine Perspektive realisieren, die Mit-Realität der anderen Perspektiven als ihr Umfeld einschließt, d. h. die Konstitution gemeinsamer sozialer Bedingungen. (6) Interpretation und die Wissenschaften vom Menschen: der vorliegende Versuch entstammt der Feder Charles Taylors, einem der angesehensten Sozialphilosophen und Theoretiker der Gesellschaftswissenschaften im angelsächsischen SprachgebietY Das Fundament seiner Theorie besteht in einer produktiven Aneignung kontinentaler Philosophie (unter anderem Merleau-Pontys, auch Hegels 68 , die sich den Einwänden analytischen Philosophierens gestellt hat. Schon in Explanation of behavior (1963), einer Kritik am sozialwissenschaftliehen Behaviorismus und einigen· Basisannahmen analytischer Wissenschaftstheorie, zeichnete sich die Konzeption einer Hermeneutik ab, die weniger vom Rückgriff auf das Repertoire hermeneutischer Tradition lebt, als aus der Reflektion unzureichender wissenschaftlicher Verfahren und Prämissen ihre hermeneutischen Überlegungen gewinnt. Kriterium dieses refus ist die Frage der Angemessenheit wissenschaftlicher Theorien gegenüber den Phänomenen. Die Übertragung des Exaktheitsideals der Naturwissenschaften, begleitet von Objektivität und Wertfreiheit, führt auf dem Gebiet der menschlichen Handlungen und Verhaltensweisen zu einer Verzerrung des 35
»Gegebenen«. Taylor setzt sich mit der »political theory« auseinander, die auf der Wissenschaftstheorie des logischem Empirismus aufbaut, Er weist nach, daß deren Prämisse, der Rekurs auf abstrakte data bruta fiktiv ist. Nomothetische Verfahren zielen darauf, gesellschaftliche Zusammenhänge unter_ Ausklammerung menschlicher ·Intentionen und der in ihnen sich vollziehenden Selbstinterpretationen zu thematisieren. Der Bezug des einzelnen Subjekts zum sozialen »Faktum« schrumpft auf eine _irrelevante Bewertung und Validierung, die für den gesellschaftlichen Prozeß keine konstitutive Bedeutung gewinnt. Diese Form wissenschaftlicher Theorie überspringt die Phänomene, insofern zu gesellschaftlichen AnerkennuJ;Igsvorgängen schon immer die wechselnde Selbstinterpretation der einzelnen Glieder der- Gruppe gehört. Praktische Vernunft69 ist Bestandteil dieses. Vollzugs menschlicher Selbst-Definition, den schon Aristoteles intendierte. Dennoch ist er »für die Hauptströmung der modernen Wissenschaft ... immer noch eine anstößige und unannehmbare · Wahrheit.« (S. 225) Das Phänomen, dem die wissenschaftliche Klärung .gerecht werde.q. int.iß, ist das situationsbezogene Handeln, in dem Bedeutungen immer schon »als solche«, zugleich aber im Scopus von Intentionen, Interessen, kurz gesagt »abgeschattet« wahrgenommen und realisiert werden. Das Handeln kann deshalb »als eine Art Proto->Interpretation< aufgefaßt werden.« (S. 184) Der lebendige Interpretationsvollzug des gesellschaftlich handelnden Menschen wird durch den Akt wissenschaftlicher Interpretation einer Klärung zugeführt. Die Auslegung hat gleichfalls Intentionali-: tätscharakter, sie steht nicht vor einer Heterogenität zwischen ihr selbst und dem, wovon sie spricht. Allerdings folgt sie Kriterien, die in der Fähigkeit zu steigender Klärung und Kohärenz bestehen, ferner darin, daß Ausdruck und Bedeutung unterscheidbar bleiben und diese jeweilige Bedeutung für ein Subjekt besteht. Der Interpret bezieht nicht Daten, sondern Lesarten aufeinander, das Geschehen der Rechtfertigung ist in die Zirkularität dieser Situation einbezogen. Was wir begründen sind Perspektiven (Lesarten) eines Textes (oder von Ausdrücken), was wir als unsere Gründe für eine jeweilige Lesart anführen, können wiederum nur weitere Lesarten sein (vgl. S. 218 u. ö.). Die Intersubjektivität der sozialen Phänomene ist aus dem kategorialen Raster der data bruta nicht-verständlich zu machen. 36
Ihre Realität ist immer schon sprachlich gedeutet. Intersubjektive Bedeutungen ~ind etwas anderes als die Konvergenz subjektiver Validierungen. »Woran es der Ontologie der Hauptströmung der Sozialwissenschaft fehlt, ist ein Begriff von Bedeutung, die nicht einfach für ein individuelles Subjekt gegeben wäre, sondern für ein Subjekt, das sowohl >wir< als auch )ich< sein kann. Der Ausschluß dieser Möglichkeit, des Gemeinschaftlichen, resultiert wiederum aus dem verhängnisvollen Einfluß der epistemologischen Tradition, für die alles Wissen aus den dem individuellen Subjekt eingeprägten Eindrücken rekonstruiert werden muß.« (S. 202Y0 Taylor diskutiert die Tragweite hermeneutischer ÜberlegungenamBegriff der politischen und gesellschaftlichen »Legitimität«. Der Verlust an normierender Kraft, der mit der Entwicklung der eur-opäischen Wissenschaften und ihrer technischen Anwendung verbunden ist, für welche die Erde in gleicher Weise datum brutum ist, nämlich Rohstoff für Bestimmungsakte, scheint nur von einer wissenschaftlichen Konzeption aufgefangen werden zu können, welche den Methodenzwang durchbricht und die Rekonstruktion der »intersubjektiven Bedeutungen der Gesellschaft« in der wir leben, verstehen lehrt. Eine hermeneutische Wissenschaft, die sich nicht auf data bruta gründet, kann nur zirkelhaft argumentieren. Darin besteht gegenüber dem Verifikationsideal exakter Methoden, und an dieser autoritativen Wissenschaftskon:zeption gemessen, ihre· Schwäche. Eine Schwäche, die sich schließlich doch als Stärke erweist. Deshalb, weil sie die Option in jeder Lesart des Erkenntnisprozesses stärkt und verdeutlicht; von der Illusion einer »wertfreien« Gesellschaftswissenschaft befreit, »Intuition«, »Imagination« und Einsicht ins Zentrum des Handeins und seiner wissenschaftlichen Auslegungen zurück bringt. Diese hermeneutische Konzeption schließt einen »Bruch mit gewissen allgemein vertretenen Auffassungen von unserer wissenschaftlichen Tradition ein«, sie impliziert Wissenschaftskritik. 71 Die Hermeneutik ist im Sinne Taylors »moralische Wissenschaft«, aber in noch radikalerem Sinne als das 18. Jahrhundert annahm. Sie verlangt, um erfolgreich betrieben zu werden, »ein hohes Maß an ·Selbsterkenntnis, die Freiheit von Illusionen - im Sinne von Irrtümern, die in der eigenen Lebensart verwurzelt sind und zum Ausdruck kommen} denn unsere Unfähigkeit, zu verstehen, wurzelt in unseren eigenen Selbst-Definitionen, folglich in dem, was wir sind.« (S. 225) 37
(7) Die juristische Hermeneutik hat für die Klärung der Verstehensproblematik eine überraschende Bedeutung gewonnen, deren exemplarische Bezüge auch für andere Wissenschaften (besonders die Historie und die Theologie) gelten dürften. Offenbar deshalb, weil die Auslegung einer gesetzlichen Vorschrift keine Beiseite-Setzung der Situation erlaubt, in der sie geschieht. Die Bedingungen des jeweiligen Falles und der Rahmen eines betreffenden Gesetzes schließen sich unter dem Scopus einer Anwendung zusammen, in der ein kodifizierter Text ein gerechtes Urteil ermöglicht. Die Applikation macht das Gesetz erst konkret, sie deutet seinen Sinn aus, wobei der Wortlaut des Textes den Horizont d;mtellt für die jeweils notwendige Ergänzung und Anpassung, die der zu behandelnde Fall erfordert. 72 Dieses Geschehen einer Anpassung hat mit willkürlicher Umdeutung nichts zu tun - im Gegenteil : es führt zur erforderlichen Konkretion. 73 Verstehen heißt hier:· was im Gesetz als geltend zum Ausdruck kommt, ZU erkennen und ihm zur Anerkennung in der Rechtsprechung zu verhelfen. Dazu gehört sicher auch die Frage, ob überlieferte Gesetze der Gegenwart noch entsprechen, ob sie nicht veraltet sind, die Erfordernisse einer Zeit nicht mehr treffen usw .. Insofern besitzt das , juristische Verstehen eine historische Dimension, die aber niit der Verkürzung, die eine historisch gesinnte Forschung einschließt, nichts zu tun harl4 • Während diese das Faktum feststellt und auf die in ihm erkennbaren historischen Kräfte und Antriebe schließt, kann die Rechtsprechung als der praktische Fall einer juristischen Applikationsleistung von der Zugehörigkeit Einheit des hermeneutischen Problems« wieder herzustellen sei/5 Der normative Gehalt eines Gesetzes ist auf einen gegebenen Fall hin abzuwägen. Juristisches Verstehen wäre deshalb als eine Subsumtion von Einzelfällen (vgl. unten s. 228 f) unter allgemeine Vorschriften nicht nur falsch beschrieben, sondern auch für den einzelnen Rechtsfall folgenschwer mißdeutet. Die Wir.., kung des Gesetzes erfüllt sich in der gerechten Entscheidung. Für diesen Prozeß der Rechtsfindung, der Urteilskraft und praktische
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Vernunfe6 verlangt und in den allgemeine Lebensnormen sowie gesellschaftliche Bedingungen eingehen (S. 235 f), stellt die juristische Dogmatik eine Art von Garanten dar. Sie ermöglicht die Anpassung von positivem Recht an die »Gerechtigkeitsanforderungen« , sie bewahrt die Fortschrittsfähigkeit der Gesetzesbildung. Der abgedruckte Aufsatz Josef Essers77, reflektiert die genannten Aspekte am Stellenwert rechtsdogmatischer Arbeit. Für sie hat die hermeneutische Kategori~ des Vorverständnisses · · eine wichtige Funktion. Sie erlaubt, die Anpassung des Rechts an die Realität, als einen wissenschaftlich reflektierten und damit kontraHierbaren Vorgang aufrechtzuerhalten, ein Vorg~ng, der offenbar nach zwei Seiten hin mißlingen kann: zugunsten eines Konformismus zwischen Recht und sozialer bzw. politischer Realität und zugunsten einer überständigen Antiquierung von Rechtsvorschriften. Eine wertungsneutrale Interpretationsarbeit des Richters oder Rechtsauslegers erweist sich als eine Fiktion, welche die tatsächlichen Vorgänge der Rechtsfindung unzumutbar verkürzen würde (vgl. besonders S. 246 f). (8) Freuds Entwurf der Psychoanalyse wurde hinsichtlich seines Stellenwerts für das Selbstverständnis der Philosophie und der Wissenschaften vielfach untersucht. Sein Nachweis, daß das Ich nicht Herr' im eigenen Haus sei, läßt sich zwanglos mit jener, die philosophische Hermeneutik begründenden, Bewegung in Zusammenhang bringen, die am Leitfaden des Lebensbegriffes Kritik am abstrakten Methodenideal der Wissenschaften und eben an jener Idee eines transparenten Selbstbewußtseins übte, die auch Freud zu destruieren unternahm. So wichtig die Frage scheint, ob Freud darin als Na~hfahre der Romantik verstanden werden kann, ohne seine Intentionen zu verkürzen 78 - für das Gespräch zwischen Psychoanalyse und Hermeneutik darf m~n . sich zunächst auf einen sachlichen Punkt konzentrieren. Er besteht in der Bestimmung des psychoanalytischen Gegenstandes, d. h. in der Klärung der Natur des Unbewußten. Die Bedeutung dieses Unteniehmens wird im Lichteall jener Versuche deutlicher, die das Unbewußte nicht schlüssig zu interpretieren erlauben. Zu diesen gehört u. a. das Bemühen, das Unbe:wußte als die affektive Nachtseite des Bewußtseins zu verstehen, oder als eine zusätzliche >Etage< im hierarchischen oder transzendentalen Konstitutionsprozesses der menschlichen Persönlich39
keit. Auch der Gedanke der Selbstreflexion scheint ungeeignet sich überunbewußte Vorgänge zu verständigen. Schließlich ist es auch als Bereich sprachlosen Ausdrucks kaum zu begreifen. Hermann Lang macht in seinem Beitrag den Versuch, die Sprache als das Medium analytischer Psychotherapie darzulegen, d. h. in Überlegungen hermeneutischen Typs ·e.in Interpretament für den G!;!genstand und den Vollzug der Psychoanalyse zu finden. Wir haben uns bereits klargemacht, in welchem Maße die Sprache zum Kernbereich hermeneutischer Theorie gehört. »Begegqete nicht eben die Sprache als ein Geschehen, in dem weit weniger wir die Führenden als vielmehr die Geführten waren«, schreibt Lang in seinem Lican-Buch unter Berufung auf Gadamers Analyse des Gesprächs79 und fährt fort : »bot sie ·sich nicht als ein Verhältnis dar, dem im Vergleich zu seinen Beziehungsgliedern .Subjekt-Subjekt bzw. Subjekt-Objekt das· Primat zukommt? Hat die Relation, die Freud zwischen unbewußtem und bewußtem Ich entdeckte, nicht etwas Analoges?« Die Psychoanalyse und ihren Gegenstand als Sprachgeschehen zu deuten, als eine >talking eureTalking eure< beispielsweise nan~te die, Patientin Anna 0. das Ereignis ihrer Behandlung im Gespräch.-mit Breuer. Lang untersucht die Rolle, die das Medium der Sprache für die Psychoanalyse besitzt unter Rückgriff auf Freuds eigene Abhandlungen80. Er zeigt dabei auf, welcher wissenschaftliche Erkenntnisrahmen Freud selbst darin hinderte, die Psychoanalyse als eine Hermeneutik des Gesprächs zu entwickeln - trotz seiner Einsicht in die Funktion der Sprache. Es 1st ihre empiristische Verkürzung, die diese Abblendung erzeugt. »In diesem Lichte erscheinen · die · Worte als eine gewissermaßen sekundäre Art von Vorstellungen, die ihre Bedeutung erst durch Assoziation mit Objekt- bzw. Sachvorstellungen erhalten. Wenn im Empirismus die Sprache hinter die Wahrnehmung zurücktritt, - ·. . . -, so reduziert die idealistische bzw. transzendentalphilosophische Tradition die Sprache zum bloßen Ausdruck ·des reinen Gedankens, zum letzlieh überholbaren Instrument des Denkens und der Reflexion.« (S. 260 f) In dem Maße, wie es gelingt, das Verstän~ nis von Sprache aus seinen Verengungen zu befreien, zu denen die erwähnten gehören, erweist es sich als die fruchtbareDimension, 40
das Verständnis des Unbewußten zu fördern. Lang führt aus, daß das analytische Gespräch den Patienten zur Erkenntnis seines U nbewußten, d. h. seiner Geschichte führen kann, weil sich diese Erinnerungen selbst schon im Rahmen einer sprachlichen Strukturierurig des Ynbewußten abspielen. Die Analyse versucht die Symbolisierungen, die von Konfliktsituationen existieren, >in das Wort einzuholenein Gespräch sindHermeneutisch< ist das, was zur Wahrnehmung der WortverantWortung anhält und.hiHt« (S. 327), womit keine philologischen Vorgänge oder die bloß·e Innerlichkeit eines Gewahrwerdens benannt sind, sondern »ein Heraustreten in die Externität: so wie einer ein Amt oder eine Gelegenheit wahrnimmt, bzw. eine Entscheidung oder sich selbst vor einem Forum verantwortet.« (a.a.O.) Die hermeneutische Theologie in diesem Sinne geht manche theologischen Teildisziplinen an, auch diejeruge der Dogmatik, rucht weil sie eine Ar,t Meta-Methode repräsentiert, sondern aufgrund ihres Potentials an kritischem Reflexionswissen, dem die Aufgabe zuwächst, Verdinglichungen in der wissenschaftlichen Rede von Gott aufzulösen, sie transparent zu machen für das eigentlich Gesagte. Es ·geht um ein Vermögen, das in verantwortliches theologisches Sprechen einweist, das heißt die Überführung der Verkündigung in die eigene Sprachverantwortung des Menschen gestattet, unter der unauflösbaren Bedingung der jeweiligen Situation. . (12, 1,3} Die Auseinandersetzung mit der besonderen Form einer wissenschaftlichen Objektivitätssuche, wie sie in der Gestalt eines universellen Historismus - der letztlich alles historisch zu nehmen vermag - 91 vorliegt, und sich besonders in den Geisteswissenschaften einschließlich Theologie und Jurisprudenz ausbreitete, gehörte von Anfang an zum Selbstverständrus der Hermeneutik. Die Auszeichnung des Verstehens bestand, - in verschiedenen theoretischen Bestimmungen - in einer Geschichtlichkeit, die Subjekt und Objekt aus dem Verhältnis einer
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gegeneinander gewendeten Isolation befreite und in ein einheitliches Geschehen einbezog. Die Wirklichkeit der Geschichte und die Wirklichkeit des geschichtlichen Verstehens bestimmen in ihrem wechselseitigen Auslegungsverhältnis die Sache der Historie, die einen falschen Objektivitätsanspruch dadurch einbüßt. Droysen, Dilthey, Nietzsche, selbst Max Weber in der verstehenden Soziologie92 , schließlich Gadamer mit dem wirkungsgeschichtlichen Theorem haben sich gegen die Verfremdung der Geschichte gewandt, die sie aus dem Akten des Verstehens heraussetzt, um ihr einen »objektiven« Charakter zu unterschieben. Der Historismus zeigt diese Problematik in aller Deutlichkeit an, wenn er alles Gewesene unter seinen eigenen historischen Gesichtspunkten betrachten möchte, ohne den geschichtlichen Ort und die Perspektive des Geschichtsschreibers mitzureflektieren. Gadamers Deutung der Historie als Tradition93 , welche den Historismus dadurch zu überwinden trachtet, daß sie auf die Gegebenheitsweise alles Historischen zurückgeht, ist der kritische Anknüpfungspunkt für die geschichtswissenschaftliehe Methodenüberlegung, die Karl Georg Faber unternimmt. Er möchte den Verstehensbegriff als eine Teilform historischen Erkennens akzeptieren, es darin aber nicht aufgehen lassen. Für einen Historiker sei gerade der methodisch verfremdete Sachgehalt eine ·unabdingbare Instanz, auch und gerade wenn er dem »Verstehen widersteht«. 94 Fabers Versuch, Grundzüge einer historischen Hermeneutik zu entwickeln, 'zunächst an einem Fallbeispiel, versucht allgemeine hermeneutische Einsichten auf die Ansprüche einer Methodologie der Geschichte einzugrenzen. Die historische Kritik dient ihm als Mittel, der unentbehrlichen Innenseite des Verstehens eine Rekonstruktion äußerer Bedingungen an die Seite zu stellen, als ein Element >>rationaler Kontrolle«. Dabei läuft allerdings die Universalität des Verstehens in eine methodische Zweigleisigkeit auseinander, bei der ein lediglich internalisierendes Verstehen durch die Zusammenhang und Kontrolle gewährende Arbeit objektiver Rekonstruktion sein notwendiges Komplement erhält. 95 . Die Historie sieht sich der Schwierigkeit gegenüber, der Krise des Historismus mit der richtigen Therapie beizukommen. Das Angebot einer Reflexion auf Geschichtlichkeit96 , wie es vor allem
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seit Sein und Zeit gängig wurde, enthält zwar den Verzicht auf ein ausgearbeitetes System der geschichtlichen Ereignisse, d. h. auf Geschichtsphilosophie vornehmlich im Sinne Hegels, deutet zugleich aber darauf hin, daß in der Differenz zwischen historischer Veränderung und ihrem jeweiligen Rahmen ein Ansatz für historische Theoriebildung möglich sein könnte, der dem Dilemma zwischen festen, metahistorischen Konstanten der Geschichte (anthropologischer oder sonstiger Art) und historischen Variationen nicht unterliegt. Danach wäre Geschichte nur als Entwicklungsmuster relativ zu Fixpunkten beschreibbar, deren historische Instabilität ihrerseits außerhalb der Betrachtung bleiben würde. Reinhart KoseHeck .unterbreitet in dem Aufsatz Ober die Theoriebedürftigkeit der Geschichtswissensch{ljt dazu mehrere Vorschläge97 • Als Heilmittel gegen die Perspektive einer Historie, die alles oder nichts zu ihrem Gegenstand machen kann, ohne sich der Bodenlosigkeit ihres Wissens widersetzen zu können, schlägt er eine »Theorie der geschichtlichen Zeiten« vor, »ohne die sich die Historie als Allesfragetin ins Uferlose verlieren müßte. Ich vermute, daß in der Frage nach der historischen Zeit die metahistorischen und die historischen Kategorien .zur Konvergenz gezwungen werden.« (S.· 366) Diese Überlegungen:· zielen darauf ab, die verschiedenen »Beschleunigungsgrade«, zwischen historischen Ereignissen und ihrem historischen Bezugsrahmen ausfindig zu machen. »Veränderungs- und Beschleunigungskoeffizienten verwandeln alte Bedeutungsfelder und damit die politische und soziale Erfahrung.« (a.a.0.? 8 Dabei zeigt sich, daß die historische Begriffsbildung selbst ein Spiegelbild der Übertragung von metahistorischen Vorstellungen auf temporale Vorgänge ist. Etwa wenn die Historie zur Beschreibung in der zeitlichen Dimension sich einer >>naturalen Metaphorik« des Raumes bedienen muß 99 • In diesem Zwang meldet sich eine >>anthropologische Prämisse«, nämlich die >>Anschauungslosigkeit der reinen Zeit« mit Elementen empirisch-naturaler Erfahrung substituieren zu müssen. Die perspektivische Situation100 des jeweiligen Geschichtsschreibers führt eine stillschweigende Teleologie (S. 373) aller Historiographie mit sich, deren Unüberwindbarkeit KoseHeck nicht resignierend konstatiert, sondern als eine produktive Aneignungsform deutlich macht. Eine Theorie der vorgeschlagenen Art 46
zeigt sich imstande, die hermeneutischen Verstehensbedingungen zu reflektieren, ohne sie transzendieren zu müssen, sie ist in der Lage, Finalitäten als die notwendigen Darstellungsbedingungen von Historie auszuweisen und damit die Historie als Wissenschaft vor naiven Annahmen oder ideologischer Verblendung zu bewahren. »Im Umkreis einer naiv-realistischen Erkenntnistheorie ist jeder Zwang zur Verkürzung ein Zwang zur Lüge. Ich kann aber darauf verzi~;hten zu lügen, wenn ich einmal weiß, daß der Zwang zur Verkürzung ein inhärenter Teil unserer Wissenschaft ist.« (s.- 379) · · (14, 15, 16, 17) Für den Gesamtzusammenhang hermeneutischer Überlegungen ist die Rehabilitierung der Rhetorik bzw. rhetorischer Wahrheitsfindung von großer Bedeutung/ 01 macht sie doch Alternativen zum Wahrheitsbegriff der Wissenschaften und zum Objektivitätsideal deutlich. Der Beitrag von Cha'im Perelrrian, dem Begründer der »Nouvelle Rhetorique«, untersucht Funktion und Stellenwert der rhetorischen Beweisform. Seine Überlegungen gehören nicht nur zum Bereich hermeneutischer Philosphie, sondern auch zur Theorie des Rechts, der praktischen Philosphie, der Geschichte, Pädagogik und nicht zuletzt zu den Wissenschaften von der Sprac~e und der Literatur102 , die seit alters mit rhetorischen Topoi bekannt sind, ohne daraus zunächst Folgerungen gezogen zu -haben, die für ihren methodischen Status hätten Bedeutung haben können. Erst seit einigen Jahren ist in Deutschland in der Nachfolge von E. R. Curtius, unter anderem durch die Anregungen von W. Dockhorn 103 die Wiederbelebung rhetorischen Wissens im Gange, das nicht so sehr einen vernachlässigten Bereich der Literaturwissenschaften meint, als einen ausgezeichneten Gesichtspunkt des Verstehens von Literatur. Auf diesem Wege sind Einsichten der philosophia practica wieder in die literatur-kritische Betrachtung eingeflossen, wie sich die Rhetorik insgesamt über den Rahmen eng gezogener Fachgrenzen ausdehnt. 104 Sie gewinnt mit der Ubiquität des gesprochenen und geschriebenen Wortes und seines Verstehens ihrerseits eigene universelle Bedeutung, die mit derjenigen der Hermeneutik in ein enges Wechselverhältnis trittHis. Auf die Verknüpfung dieser Sprachlichkeit mit kommunikativen und sozialen Aspekten hat Jürgen Habermas hingewiesen 106 • Die Bestimmung des Wechselverhältnisses einer darauf aufbauenden Theorie der kommunika47
tiven Kompetenz zur Hermeneutik versucht unter anderem der Band »Hermeneutik und Ideologiekritik« (a.a.0) 107• Damit ist eine generelle Verbindung zwischen praktischer Vernunft und der Sprachlichkeit des Verstehens hergestellt, die über Texte oder die Literatur hinausreicht. Mit dem Problem des Verstehens von Texten im engeren Sinne .einer Methodologie der Interpretation beschäftigt sich G. B. Madisons Kritik an Hirschs Validity in Interpretation, die auf den Dogmatismus im Objektivitätsideal dieser Abhandlung hinweist, die sich unter anderem von Emilio Betti angeregt zeigt 108 • Unter Rückgriff auf Husserl un4 . Gadamer macht Madison deutlich, daß das Ideal einer Richtigkeit, dessen Kanon in dem .vom Autor intendierten Sinn besteht, an unauflösbaren Widersprüchen ktankt. 109 Die Intention eines Sinnes, für die sich Hirsch auf den frühen Husserl der Logischen Untersuchungen zu berufen glaubt, gerät ihm zu einem »absoluten Gegenstand«, einer »überhistorischen Essenz«, die von den Akten ihrer zeitlichen Realisation völlig abgelöst ist. Das Verstehen wird zur Rekonstruktion eines Sinnes, der auf der Übereinstimmung zwischen interpretatorischer Hypothese und einem unveränderlichen, unter der Substanzkategorie. gesehenen, Gegenstand beruht. Mit der Absicht, eine absolute Sicherung der Wahrheit zu erreichen, steuert Hirsch in die Dilemmata einer »platonisierendenAus dem Nachlaß der AchtzigerjahreDie Vorgeschichte der romantischen HermeneutikGeschichtenVerbesserung< der Hermeneutik ein wichtiger Bestandteil der gegenwärtigen Diskussion. Vgl. R. Bubner, Transzendentale Hermeneutik?, In: Simon-Schäfer/Zimmerli, Wissenschaftstheorie der Geisteswissenschaften, Harnburg 1975, S. 56 ff., und, zuvor, K.-0. Apel, in: Transformationen, a.a.O. Bd. II. Husserls späte Konzeption der Lebenswelt stellt ihrerseits eine philosophische Korrektur der Transzendentalität in Aussicht. Vgl. Hans-Georg Gadamer, Die phänomenologische Bewegung und: die Wissenschaft von der Lebenswelt, in : Kleine Schriften Bd. III, Tiibingen 197'2, S. 150 ff. und 190 ff. 13 Vgl. besonders die Abhandlung Phänomenologie als strenge Wissenschaft (1911 ), Frankfurt/M 1965. über untergründige Beziehungen zu Mach vgl. H. Lübbe, Positivismus und Phänomenologie. Mach und Husserl., a.a.O., S. 33 ff. 14 · Vgl. E. Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie, Bd. 1, Den Haag 1950 15 Vgl. Martin Heidegger, Sein und.Zeit (1927), 9. Auf!., Tübingen 1960, § 77 16 Insofern ist die Kategorie der Perspektivität immer stärker ins Zentrum der Philosophie gewandert. Die neuzeitliche Entwicklungsgeschichte des Selbstbewußtseins ist dazu· n~r ein Vorspiel mit umgekehrten Vorzeichen. Vgl. G. Boehm, Studien zur Perspektivität.. Philosophie und Kunst in der frühen Neuzeit, Heidelberg 1969 17 Paul Ricreur, Die Interpretation. Ein Versuch übet Freud, Frankfurt/ M. 1969, S. 38 18 Vgl. Jürgen Habermas, Zu Nietzsches Erkenntnistheorie (ein Nachwort), zuletzt in: Kultur und Kritik. Verstreute Aufsätze, Frank52
furt/M. 1973, S. 239 ff. 19 Nietzsche beschreibt damit auch die theoretische Basis von der aus die .Frage der Metapher grundlegende Bedeutung erlangt. Metapherntheorie wird zu einer fundamentalen Aufgabe, wenn sich die prinzipielle . Unübersetzbarkeit metaphorischen Sinnes in einen >Sachgehalt< erweist. Vgl. G. Kurz/Tb. Pelster, Metapher. Theorie und Unterrichtsmodell, Düsseldorf 1976. In Vorbereitung: G. Kurz, Die schwierige Metapher (Ms). Ferner die Bemerkungen in meinem Beitrag Zur Hermeneutik des_ Bildes (unten S. 444). 20 Vgl. J. Habermas, a.a.O., S. 250 ff. 21 Die Kunst etabliert zwischen den absolut verschiedenen Sphären von Subjekt und Objekt kein fiktives Kausalitätsverhältnis, k~ine Richtigkeit und keine Ausdrucksbeziehung, sondern ein ästhetisches Verhalten >ich meine eine andeutende Übertragung ... in eine ganz fremde Sprache: wozu es aber jedenfalls einer frei dichtenden und frei erfindenden Mittelsphäre und Mittelkraft bedarfhermeneutische< Pointe darin, daß nur durch eine . Teilhabe am fortwirkenden Lebenszusammenhang der Geschichte Historie als eine Wissenschaft möglich ist, daß der selektive Vorgriff des Erkennenden historische Aufschlußkraft hat. Nur er kann Vergangenes aneignen, umbilden und tradieren. Gadamer hat in WuM, durch eine Kritik an den lebensphilosophischen Grundlagen der historischen Schule, gezeigt, daß auch die objektivierenden Methoden ·historischer Forschung den Zusammenhang des hermeneutischen Verstehens mit dem perspektivischen Vorgriff des Interpreten nicht abzuschütteln vermögen. Nietzsche wollte das Dilemma zwischen historischer Erkenntnis und Lebenspraxis durch einen Verzicht der Historie auf ihren Wissenschaftscharakter auflösen, während es der Hermeneutik um eine Begrenzung des Methodenglaubens, um die Durchleuchtung des objektivistischen Selbstverständnisses der Geschichte geht. 23 Vgl. M. Heidegger, Nietzsche, 2 Bde., Pfullingen 1961 24 Vgl. Hans-Georg Gadamer, Vom Zirkel des Verstehens, in: Kleine Schriften Bd. IV, Tübingen 1977, S. 58: >In Heideggers Analyse gewinnt ... der hermeneutische Zirkel eine ganz neue Bedeutung. Die Zirkelstruktur hielt sich in der bisherigen Theorie stets im Rahmen einer formalen Relation von Einzelnem und Ganzem ... Heidegger dagegen erkennt, daß das Verständnis des Textes von der vorgreifenden Bewegung des Vorverständnisses dauerhaft bestimmt bleibt. Was Heidegger so beschreibt, ist nichts anderes als die Aufgabe der Konkretisierung des historischen Bewußtseins ... daß
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die Erfassung des historisch Anderen und die dabei geübte Anwen25 26
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dung historischer Methoden nicht bloß herausrechnet, was man. hineingesteckt hat.< Vgl. H.-G. Gadamers Beiträge in PhHerm., a.a.O., und die vier Bände der K1einen Schriften, Tübingen 1967 ff. Zum Beispiel in der Debatte mit den Sozialwissenschaften, vgl. die Beiträge von J. Habermas, K.-0. Apel und die beiden Bände der Rehabilitierung der praktischen Philosophie (hrsg. v. M. Riedel), ferner den Beitrag von Charles Taylor, unten S:. 169. WuM, a.a.O. 250 ff. Vgl. den Beitrag von Josef Esser, unten S. 227, und diese Einleitung s. 38 Er wird begleitet vom Vorwurf eines hermeneutischen Traditionalismus, da Gadamer bestreite, daß die durch die Tradition überkommenen Vorurteile auch abgewiesen werden können. Demgegenüber ging es der Hermeneutik nie darum, ein Wahrheitskriterium aufzustellen, Erkenntnis inhaltlich zu fqrmieren, sondern durch Kritik ihrer Methodologien Erkenntnischancen offenzulegen. Vgl. J. Habermas, in: Hermeneutik und Ideologiekritik, a.a.O., S. 120, und die Replikvon H.-G. Gadamer, a.a.O., S. 283 ff. vgl. H.-G. Gadamer, Replik a.a.O. WuM, a. a. 0., S. 284 ff WuM, S. 274 f. vgl. H.-G. Gadamer, Die Natur der Sache und die Sprache der Dinge, in: Kleine Schriften 1, a.a.O., S. 68 Vgl. zu Whitehead u. a. P. Schilpp (Hrsg.), The Philosophy of A. N. Whitehead, 2. Auf!. 1951, und die Bibliografie im Anhang von A. N. Whitehead, Abenteuer der Ideen, Frankfurt/M. 1971, S. 513, sowie die Einleitung von R. Wiehl zu diesem Band. Der pragmatistische Hintergrund gewinnt bei· G. H. Mead für die Verstehensproblematik Bedeutung. Vgl. unten den Beitrag S. 153 und die Einleitung S. 33. Auch Hans Lipps hat diese Zusammenhänge reflektiert, in: Pragmatismus und Existenzphilosophie, abgedruckt in: Die Wirklichkeit des Menschen, Frankfurt 1954, S. 38 ff. A. N. Whitehead, Processand Reality. An Essay in Cosmology, 1969, und Abenteuer der Ideen, a.a.O. Vgl. die Bemerkungen zu Heidegger in dieser EinleitungS. 17 f Vgl. die Einleitung von R. Wiehl, a.a.O., S. 19 a.a.O., S. 17 f, zum Problem der Wirkungsgeschichte vgl. oben S. 23 f Wiehl, a.a.O., S. 7 f. Heidegger gelangt zu einer ausdrücklichen Kritik am Vorrang der Aussage, vgl. Sein und Zeit, §§ 33, 34 Vgl. H.'-G. Gadamer, Sprache und Verstehen, in Kleine Schriften IV, Tübingen 1977, S. 94 ff.
44 Vgl. Wiehis Bemerkungen a,a.O., S. 32 ff, besonders auch die Analogien mit der Selbstreflexion des Urteils im spekulativen Satz. 45 Dabei >bringt ... jede Veränderung des Maßstabs zum sehr Kleinen oder zum sehr Großen hier überraschende Veränderungen in den Eigenschaften der sichtbar gemachten Geschehnisse mit sich.< (S. 76) 46 >Der Sinn für Vertiefung geht in der Sicherheit vollständigen Wissens verloren. Dieser Dogmatismus ist der Antichrist des Lernens.< (S: 78) 47 P. Ricceur, Philosophie de Ia volonte, 2 vols, Paris 1963, und: Die Fehlbarkeit des Menschen/Symbolik des Bösen,/2 vols, Freiburg/ München 1971. M. Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrneh· mung, Berlin 1966 48 Der Konflikt der Interpretationen, 2 Bde, München 1973/74 49 V gl. unten S. 86 50 Vgl. unten den Beitrag von G. B. Madison und seine Kritik an Hirsch, die auch für Ricceur herangezogen werden kann,' S. 394 f 51 Vgl. u. a. The tacit dimension, Garden City/New York 1966. Polanyis Denken ist der von Th. A. Langford/W. H. Poteat (Hrsg.) edierte Band gewidmet: Intellect and Hope. Essays in the thought of M. Polanyi, Durharn 1968 52 Vgl. oben S. 61 53 Vgl. dazu G. Boehm, Zur Hermeneutik des Bildes, unten S. 444 54 Deren Paradigma sieht Polanyi u. a. in der Gestaltwahrnehmung wie sie von der Gestaltpsychologie beschrieben wurde. Vgl. The tacit dimension, a.a.O., S. 6 u. ö. 55 >Selbst eine exakte mathematische Theorie bedeutet nichts, sofern ihr nicht ein inexaktes, unmathematisches Wissen zugrunde liegt u~d eine Person in ihrem Urteil diese Beziehung aufrecht erhält. Das falsche Ideal einer streng expliziten Erkenntnis wurde mit größtem Eifer im 20. Jahrhundert durch den modernen Positivismus verfolgt; . es sollte aufgegeben werden.< (S. 128) 56 Vgl. Schöpferische Einbildungskraft, in: Zsch. f philos. Forschung, Jg. XXII, Meisenheim 1967/68. Die Funktion der Einbildungskraft ist auch das Kernstück von Heideggers Kam-Interpretation, in: Kant und da:s Problem der Metaphysik (1929), besonders im dritten Abschnitt. - Vgl. auch die Analyse von Wilhehn Szilasi, Ober das Einbildungsvermögen, in: Festschrift Hugo Friedrich >Ideen und FormenLernens< : Günter Buck, Lernen und Erfahrung, Stuttgart 1967 passim. 59 Vgl. hierzu H.-G. Gadamer, Theorie, Technik, Praxis- die Aufgabe einer Neuen Anthropologie, in der gemeinsam mit Paul Vogler
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herausgegebenen Reihe Neue Anthropologie Bd. I, München, Stuttgart 1972, S. IX ff; besonders auch die Beiträge der beiden Bände : Philosophische Anthropologie, Nr. 6 und 7, in denen die Verflechtun.· gen einer verstehenden Anthropologie mit dem Feld der Wissenschaften deutlich werden. Im Band 7 besonders .den Beitrag von H. Plessner, Zur Anthropologie der Sinne. Vgl. den Abschlußbericht des Unternehmens yon H.-G. Gadamer in Band 7, S. 374-392 60 F. J. J. Buytendijk, Mensch und Tier. Ein Beitrag zurvergleichenden. Psychologie, Harnburg 1958; ders., Das Menschliche, Stuttgart 1958 . 60a Vgl. H. Plessner, Die Einheit der Sinne. Grundlagen einer Aesthesiologie des Geistes, Bann 1922 (2. Aufl. 1965), und zu diesem Punkt: Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie, Berlin/Leipzig 1928. Ferner ders., Conditio Humana, Pfullingen 1964 61 Vgl. z. B. die Daseinsanalyse Binswangers, in: Ludwig Binswanger, Ausgewählte Vorträge und Aufsätze, 2 Bde, Bern 1947 und 1955 62·- VgL W. L. Bühl (Hrsg.), Verstehende Soziologie, München 1972 (Einleitung), und die Einleitung von Charles Morris zu G. H. Meads Geist, Identität und Gesellschaft, Frankfurt 1968 63 Vgl. diese Einleitung oben S. 24 f 64 A.a.O., Bibliografie S. 443 65 Vgi. Alfred Schütz, Der Sinnhafte Aufbau der sozialen Welt. Eine Einleitung in die verstehende Soziologie (1932), Frankf1,1rt/M. 1974. Ders., Das Problem der Relevanz (Einleitung von Th. Luckmann), Frankfurt/M.' 1971.. P. Berger/Th. Luckrnann, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie, Frankfurt/M. 1969 66 Zum Problemfeld der verstehenden Soziologie vgl. die Einleitung von W. L. Bühl, a.a.O. 67 Vgl. die Einleitung von G. Kortian, zu: Charles Taylor, Erklärung und Interpretation in den Wissenschaften vom Menschen, Frankfurt/ M. 1975 S. 7 ff. 68 Charles Taylor; Hege/, Frankfurt/M. 1978 69 Vgl. S. 21 f. 70 Vgl. zum Prozeß der Anerkennung der Perspektiven von Ich und Wir den Text von G. H. Mead, S. 152 f 71 Vgl. S. 12 f 72 Vgl. die Auseinandersetzung mit dem Rechtspositivismus bei Joachim Hruschka, Das Verstehen von Rechtstexten. Zur hermeneutischen Transpositivität des positiven Rechts, München 1972 passim. Zum hier angedeuteten Aspekt: »Das >Rechtliche< wird mithin .. d\lrch die positiven Rechtstexte nicht >selbständig< bestimmt, die Texte sind im Gegenteil ein Ausdruck dieses >RechtlichenGrün< in einigen ihrer Perspektiven. Was aber Grün in anderen Epochen des Universums, in denen andere Naturgesetze herrschen, sein kann, liegt jenseits unseres gegenwärtigen Vorstellungsvermögens. Und doch steckt nichts prinzipiell Unmögliches in der Idee, daß die Menschheit im Laufe der Zeit zu einer phantasievollen Einsicht in eine andere Möglichkeit der Natur gelangen kann und sich dadurch ein Verständnis der Möglichkeiten. von Grün in anderen, antizipierten Epochen erschließt. Es gibt einen Reim, der auf die Tradition des Dr. Whewell paßt, der vor etwa achtzig Jahren Master am Trinity College in Garnbridge war .. Der Reim ist weithin bekannt und geht folgendermaßen: . 63
I am Master of this College ; And what I know not, Is not knowledge. (An dieser Schule geh' ich Unterricht, Was ich nicht weiß, Ist Wissen nicht.) Diese Haltung herrscht in der gelehrten Welt immer vor. Sie steri~isiert phantasievolles Denken und stellt sich dadurch dem Fortschritt in den Weg. In unserer Diskussion des Verstehens ist dies die erste Irrlehre, die ich bekämpfen möchte. Ich schreibe diese Irrlehre nicht Dr. Whewell zu, obwohl man von ihm sagt, er habe eine Arroganz an den Tag gelegt, die vielleicht durch· sein überaus umfassendes Wissen gerechdertigt war. Mir geht es darum, daß Verstehen niemals ein abgeschlossener, statischer Bewußtseinszustand ist. Es hat immer den Charakter eines Prozesses der Vertiefung, ist unvollständig und partiell. Ich gebe uneingeschränkt zu, daß beide Aspekte des Verstehens in unsere Denkweisen eingehen. Meine These lautet, daß wir ein stärkeres Selbstbewußtsein haben, wenn wir uns in einem Prozeß der Vertiefung vorfinden, als wenn wir meinen, die Arbeit der Intelligenz sei abgeschlossen. Natürlich gibt es in gewissem Sinne einen Abschluß. Dieser setzt aber den Bezug auf eine gegebene unddinierte Umgebung voraus, die eine Perspektive erzwingt und erforscht werden muß. So haben wir weitreichende Kenntnisse von der Farbe >GrünHellasBeweisVollendungBeweisesBeweisBeweis< ausgesprochen hat, so tritt als nächster Begriff der der >Gleichgültigkeit< ins Bewußtsein. Wenn ein Beweis. nicht Selbstverständlichkeit zur Folge hat und dadurch überflüssig wird, dann mündet er in einen untergeordneten Bewußtseinszustand und löst einen Mechanismus aus, in dem es kein Verstehen gibt. Selbstverständlichkeit ist die grundlegende Tatsache, von der alle Größe lebt. Aber >Beweis< ist einer der Wege, auf denen Selbstverständlichkeit oft erreicht wird. Als Beispiel für diese Theorie führe ich an, daß Beweise in philosophischen Schriften so wenig wie möglich vorkommen 68
sollten. Die ganze Anstrengung sollte darauf gerichtet sein, die Selbstverständlichkeit grundlegender Wahrheiten über das Wesen der Dinge und ihren Zusammenhang zu entfalten. Man sollte beachten, daß der logische Beweis von Prämissen ausgeht und daß Prämissen auf Evidenz beruhen. Evidenz ist also eine Voraussetzung der Logik ; zumindest wird sie in der Annahme vorausgesetzt, daß der Logik irgendeine Bedeutung zukommt. Philosophie ist der Versuch, die grundlegende Evidenz hinsichtlich des W ~sens der Dinge ans ·Licht zu bringen. Auf der Voraussetzung dieser Evidenz beruht alles Verstehen. Eine richtig formulierte Philosophie bedient sich dieser grundlegenden Erfahrung, die in allen Prämissen .vorausgesetzt ist. Sie macht den Inhalt des menschlichen Bewußtseins überschaubar; sie gibt fragmentarische"n Einzelheiten eine Bedeutung; sie enthüllt Disjunktionen und Konjunktionen, Konsistenzen und Inkonsistenzen. Philosophie ist die Kritik der Abstraktionen, die spezielle Denkweisen beherrschen. Daraus folgt, daß die Philosophie in irgendeinem angemessenen Sinne des Wortes nicht bewiesen werden kann. Denn Beweis stützt sich auf Abstraktion. Philosophie ist entweder selbstverständlich oder sie ist nicht Philosophie. Das Bemühen eines jeden philosophischen Diskurses sollte darauf gerichtet sein, Selbstverständlichkeit zu erzeugen. Natürlich ist es unmöglich, ein solches Ziel zu erreichen. Aber nichtsdestoweniger ist alles Schlußfolgern in der Philosophie ein Zeichen für jene Unvollkommenheit, die allen menschlichen Bemühungen ,anhaftet. Das Ziel der Philosophie ist völlige Enthüllung. Die große Schwierigkeit der Philosophie liegt im Versagen der Sprache. Der alltägliche Verkehr der Menschheit hat mit sich verschiebenden Umständen zu tun. Es ist unnötig, selbstverständliche Tatsachen auszusprechen. So hatte man schon jahrtausendelang Jagdszenen auf Höhlenwänden abgebildet, bevor die dauerhafteren räumlichen Beziehungen Gegenstand der bewußten Analyse wurden. Als die Griechen Ausdrücke für die elementaren Eigenschaften der Naturgegebenheiten brauchten, m~ßten sie Worte wie Wasser, Luft, Feuer und Holz verwenden. Als das religiöse Denken der Antike von Mesopotamien bis Palästina und von Palästina bis Ägypten Worte brauchte, um jene grundlegende Richtungseinheit im Universum auszudrücken, auf der alle Ordnung. beruht und die der Bedeutung ihren Sinn gibt,
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fiel ihnen nichts besseres ein, als Anleihen bei den typischen Eigenschaften der reizbaren, selbstgefälligen und herrschsüchtigen Tyrannen zu machen, die die weltlichen Rei~he regierten. In den Anfängen der zivilisierten Religion gleichen die Götter Diktatoren. Unsere modernen Rituale halten noch immer an diesem Makel fest. Die entschiedenste Ablehnung dieser archaischen Vorstellung findet sich verstreut in den Lehren des Buddhismus und in den christlichen Evangelien. Die Sprache hinkt hinter der Intuition her. Die Schwierigkeit der Philosophie besteht darin, das Selbstverständliche auszudrükken. Unser Verstehen geht über den gewöhnlichen Gebrauch der Wörter hinaus. Die :Philosophie ist der Dichtung verwandt. Philosophie ist der Versuch, eine konventionelle Terminologie für die lebhaften Anregungen des Dichters zu finden. Sie ist der Versuch, Miltons >Lycidas< auf Prosa zu reduzieren und dabei eine sprachliche Symbolik hervorzubringen, die sich auch in anderen Denkzusammenhängen verwenden läßt. Dieser Zugang zur Philosophie veranschaulicht die Tatsache, daß V erstehen nicht primär auf Schlußfolgern beruht. Verstehen ist Selbstverständlichkeit. Aber die Klarheit unserer Intuition ist begrenzt und desultorisch. Daher kommt das Schlußfolgern als ein Mittel hinzu" um das uns mögliche Verstehen zu gewährleisten. Beweise sind die Werkzeuge, mit denen wir unsere unvollkommene Selbstverständlichkeit ausbauen. Sie setzen eine gewisse Klarheit voraus ; und sie setzen überdies voraus, daß diese Klarheit eine unvollkommene Vertiefung unserer schwachen Erkenntnis der äußeren Welt darstellt - der Welt der Tatsachen, der Welt der Möglichkeiten, der Welt gesetzter Werte und der Welt gesetzter Zwecke. 4. An diesem Punkt unserer Diskussion schiebt sich ein anderer Aspekt der Dinge in den Vordergrund. Es handelt sich um eine allgemeine Eigenschaft, deren besondere Formen verschieden ~s >UnordnungÜbel< und >Irrtum< bezeichnet werden. In dem einen oder anderen Sinne gehen Dinge schief; und die Vorstellung der Korrektur vom Schlechteren zum Besseren oder des Verfalls vom Besseren zum Schlechteren geht in unser Verstehen des Wesens der Dinge ein.· Die Philosophen sind der Versuchung ausgesetzt, ein Märchen über die Regulierung von Faktoren zu erfinden und dann im Anhang den Begriff der Vereitelung als sekundären Aspekt 70
einzuführen. Ich gebe Ihnen zu. bedenken, daß dies der kritische Einwand ist, den man gegen den monistischen Idealismus des neunzehnten Jahrhunderts und sogar des großen Spinoza erheben muß. Es leuchtet überhaupt nicht ein, warum das Absolute, wie es in der monistischen Philosophie begriffen wird, Unordnung unter seinen eigenen Einzelteilen aufkommen lassen sollte . .Es gibt keinen Grund für die Annahme, daß Unordnung weniger g~undlegend ist als Ordnung. Unsere Aufgabe besteht darin, ein allgerneines Konz~pt z~ en~ickeln, in dem für beides Raum ist und das auch den Weg für eine weitere Vertiefung unseres Wissens andeutet. Ich schlage vor, daß wir von. der Vorstellung zweier Aspekte des Universums ausgehen. Nämlich einem Faktor der Einheit, der seinem Wesen nach die Verbundenheit der Dinge, die Einheit des Zwecks und die Einheit des Erlebens einschließt. Der Begriff der Bedeutung bezieht sich vollends auf diese grundlegende Einheit. Und genauso grundlegend gibt es im Universum einen Faktor der Vielheit. Es gibt viele Wirklichkeiten, von denen jede ihre eigene Erfahrung· hat, die individuell erl~ben und doch aufeinander angewiesen sind. Jede Beschreibung der Einheit wird auf die vielen Wirklichkeiten zurückgreifen müssen; und jede Beschreibung der vielen Dinge wird den Begriff der Einheit benötigen, von dem Bedeutung und Zweck abgeleitet sind. Aufgrund der substantiellen Individualität der vielen Dinge kommt es zu Konflikten zwischen begrenzten Realisierungsformen·. Daher schließt die Summierung der vielen Dinge zu einem, wie auch die Ableitung von Bedeutung aus dem einen in die vielen hinein, die Vorstellung von Unordnung, Konflikt und Vereitelung mit ein. Das sind die primären Aspekte des U niversurns, die der common sense, der über den Aspekten des Seins brütet, an die Philosophie weiterreicht, die sie in einen Verstehenszusarnrnenhang bringen und erklären soll. Die Philosophie weicht ihrer Aufgabe aus, wenn sie eine Seite des Dilemmas ganz übergeht. Wir können niemals alles verst~hen. Aber wir können unser Wissen immer weiter vertiefen. Beim vollkommenen Verstehen gehört jeder Einzelaspekt. zu dem, was bereits klar ist. Es handelt sich also nur noch um eine Wiederhqlung des Bekannten.· In diesem Sinne ist Tautologie möglich. Tautologie ist also das intellektuelle Vergnügen des· Unendlichen. 71
In diesem Sinne ist auch die Auswahl des hervorzuhebenden Einzelaspekts gleichermaßen willkürlich. Sie ist'flie Konvention, mittels derer das Unendliche seine Aufmerksamkeit auf einen Punkt konzentriert. . Das endliche Individuum kann in seiner eigenen Erfahrung zum Neuen vordringen; und die Auswahl der Einzelheiten hängt von der Ursache ab, aus der dieses Individuum hervorgeht. Die Philosophie neigt dazu, zwischen den Standpunkten, die zum Unendlichen und zum Endlichen gehören, zu schwanken. Das Verstehen ist demnach, wie unvollkommen es auch sein mag, die Selb~tverständlichkeit einer Struktur, soweit sie herausgearbeitet ~~rden ist; und für die begrenzte Erfahrung ist das. Schlußfolgern ein geeignetes Mittel, um in solche Selbstverständlichkeit tiefer einzudringen. Eine· teilweise verstandene Struktur ist eindeutiger in dem, was sie ausschließt, als in dem, was ihre Vervollständigung einschließen würde. Hinsichtlich der Zugehörigkeit gibt es unendlich viele verschiedene Möglichkeiten der Vervollständigung. Aber sofern es angesichts der unvollständigen Ausarbeitung überhaupt etwas Eindeutiges gibt, sind gewisse Faktoren eindeutig ausgeschlossen. Die Begründung der Logik auf dem Begriff der Unvereinbarkeit wurde vor . etwa zwanzig Jahren zuerst von Professor Henry Sheffer (Harvard) entdeckt und entwickelt. Professor Sheffer betonte auch die grundlegende Bedeutung des Begriffs Struktur für die Logik. Auf diese Weise wurde einer der großen Schritte in der mathematischen 'Logik gemacht. Erstens wurde mit der Begründung der Logik durch den Begriff der Unvereinbarkeit der Begriff des Endlichen definitiv eingeführt . .Denn das Endliche ist, wie Spinoza gezeigt hat, das, was andere, ihm vergleichbare Dinge ausschließt. Unvereinbarkeit stützt also die Logik auf Spinozas Begriff der Endlichkeit. Zweitens lassen sich, wie Sheffer darlegte, die Begriffe der Negation und des Schlusses von dem der Unvereinbarkeit ableiten. Damit ist die gesamte Entwicklung der Logik gesichert. Wir können feststellen, daß diese Grundlage der Logik dafür spricht, daß die Vorstellung der Vereitelung eher einer begrenkten Geisteshaltung entspricht, während die Vorstellung einer harmonischen Verbindung aus dem Konzept eines monistischen Universums abgeleitet ist. Es obliegt der Philosophie, die beiden Aspekte zu koordinieren, mit denen uns die Welt konfrontiert. 72
Drittens erleichtert uns diese Grundlage der Logik das Verstehen des Prozesses, der eine grundlegende Tatsache in unserer Erfahrung ist. Wir leben in der Gegenwart ; die Gegenwart verschiebt sich ständig; sie leitet sich aus der Vergangenheit her; sie gestaltet die Zukunft; sie geht in die Zukunft über. Das ist der Prozeß, und. im Universum ist er eine unerbittliche Tatsache. 5. Wenn aber alle Dinge miteinander bestehen können, warum gibt es dann überhaupt einen Prozeß ? Eine Antwort auf diese Frage verkörpert eine Leugnung des Prozesses. Danach ist der Prozeß .bloße Erscheinung und besitzt keinerlei Bedeutung für die Realität an sich. Diese Lösung halte ich für äußerst unangemessen. Wie soll es der unveränderlichen Einheit des Tatsächlichen möglich sein, den trügerischen Anschein von Veränderung zu erwecken? Gewiß muß die befriedigende Antwort ein Verstehen des Ineinandergreifens von Veränderung und Dauer, ihrer wechselseitigen Abhängigkeit voneinander, zum Ausdruck bringen. Dieses Ineinandergreifen ist eine primäre Erfahrungstatsache. Sie liegt unseren Begriffen der persönlichen Identität, der sozialen Identität und aller gesellschaftlichen Institutionen zugrunde. Unterdessen muß uns nun ein anderer Aspekt der Beziehung zwischen Unvereinbarkeit und Prozeß beschäftigen. Unvereinbarkeit ist die Tatsache, daß die beiden Sachverhalte, aus denen sich die entsprechenden Bedeutungen eines Paars von Aussagen ergeben, nicht zusammen bestehen können. Sie leugnet eine mögliche Verbindung zwischen diesen beiden Bedeutungen. Aber diese Bedeutungen sind ja in dem Urteil über ihre Unvereinbarkeit schon zusammengebracht worden. Auf eine solche Paradoxie spielte Platon an, als er eine seiner Dialogfiguren sagen ließ: »Das Nichtseiende ist eine Gattung des Seienden.ZUsammen< und in der Tat alle Worte, die ganz allgemein eine Verbindung ausdrücken, ohne eindeutige Bestimmung sehr vieldeutig sind. Beispielsweise ist das kleine Wörtchen >Und< eine Brutstätte der Vieldeutigkeit. Es ist sehr erstaunlich, mit welcher Oberflächlichkeit Worte analysiert worden sind, in denen Verbindungen zum Ausdruck kommen. Diese Worte sind Todesfallen für die Genauigkeit des Denkens. Leider tauchen sie am häufigsten in Sätzen auf, die in ihrem literarischen Stil vollkommen sind. Ein bewundernswerter literarischer Stil bietet also keine Gewähr für logische Folgerichtigkeit. 73
Bei der Lektüre philosophischer Literatur muß jedes Wort, das eine Verbindung· ausdrückt, auf die Goldwaage gelegt werden. Wird es zweimal in demselben Satz oder in benachbarten Sätzen verwendet, dann müssen wir uns vergewissern, ob die· beiden Verwendungsweisen zumindest im Rahmen der Argumentation gleichbedeutend sind. Ich gebe Ihnen zu bedenken, daß die in der antiken und in der modernen Logik berühmten Widersprüche ihre Wur~el in solchen Vieldeutigkeiten haben. Viele Worte, die formal keine >Konjunktionen< sind, drücken inhaltlich eine Verbindung aus. Beispielsweise hat das Wort >Klasse< dieselbe mannigfache Vieldeutigkeit wie das Wort >undUnvereinbarkeit und Prozeß< zurückkehren. Die Idee, daß zwei Aussagen, die wir p und q nennen wollen, miteinander unvereinbar sind, muß besagen, daß die Bedeutungen der Aussagen p und q, so wie sie in einer vorausgesetzten Umgebung veranschaulicht werden, nicht nebeneinander möglich sind. Es kann keine der Bedeutungen auftreten oder eine von ihnen, aber nicht beide zusammen. Nun ist der Prozeß die Weise, in der das Universum den Ausschließlichkeiten der Unvereinbarkeit entgeht. Solche Ausschließlichkeiten gehören zur Endlichkeit der Verhältnisse. Durch den Prozeß überwindet das Universum die Grenzen des Endlichen. Prozeß ist die Immanenz des Unendlichen im Endlichen, die alle Ketten sprengt und alle Unvereinbarkeiten auflöst. Grundsätzlich kann keine fest umrissene Endlichkeit dem Universum Schranken auferlegen. Im Prozeß treiben die endlichen Möglichkeiten des Universums ihrer Unendlichkeit der Realisierung entgegen. . Im Wesen der Dinge gibt es keine grundlegenden Ausschließlichkeiten, die mit Hilfe der Logik formulierbar wären. Wenn wir nämlich die Spanne unserer Aufmerksamkeit auf den gesamten Zeitablauf erstrecken, dann könp.en zwei Einzelwesen, die während eines bestimmten Tages in der-fernen Vergangenheit oder während eines bestimmten Tages in der jüngeren Vergangenheit
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nicht gemeinsam auf diesem Planeten auftreten können - dann können diese beiden Einzelwesen doch miteinander vereinbar sein, wenn wir den gesamten angesprochenen Zeitraum in Betracht ziehen, indem nämlich das eine während des früheren, das andere während des späteren Tages auftritt. Unvereinbarkeit ist also relativ·zu dem jeweiligen Abstraktionsgrad. Eine intellektuelle Vereinbarkeit läßt sich leicht zuwege bringen, solange wir uns mit einem hohen Abstraktionsgrad begnügen. Die reine Mathematik ist das \>este Beispiel für einen Erfolg, der sich aus dem Festhalten an einer so starren Abstraktion ergibt. Außerdem veranschaulicht die Bedeutung der Mathematik, wie sie endgültig im·sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert aufgedeckt wurde, den Grundsatz, daß der Fortschritt des begrenzten menschlichen Verstehens das Festhalten an einer sinnvollen · Abstraktion und die Entwicklung des Denkens im Rahmen dieser Abstraktion voraussetzt. Die Aufdeckung dieser Methode hat innerhalb der letzten dreitausend Jahre zu der fortschrittlichen Wissenschaft der modernen Zivilisation geführt. 6. Aber die Entdeckung gelang nur schrittweise, und die Methode wird selbst heute noch nicht ganz verstanden. Die Gelehrten haben die· Spezialisierung des Denkens mit einem unglaublichen Mangel an Vorsicht betrieben. Es wird fast global angenommen, daß die Entwicklung eines Spezialistentums die Voraussetzungen hinsichdich der Perspektive der Umgebung unberührt .läßt, die in den Anfangsphasen hinreichend waren,_ . Man kann sich gar nicht klar genug darüber werden, daß die Erweiterung irgendeines Spezialgebiets dessen ganze Bedeutung von oben bis unten verändert. Sobald sich der Gegenstandsbereich einer Wissenschaft erweitert, verringert sich ihre Relevanz für das Universum. Denn sie setzt dann eine strenger definierte Umgebung voraus. · Die Definition der Umgebung ist genau das, was bei einer speziellen Abstraktion unterbleibt. Eine solche Abstraktion besitzt keinerlei Relevanz. Sie ist irrelevant, weil sie ein Verstehen der Unendlichkeit der Dinge verlangt. Deshalb ist sie unmöglich. Alles was wir tun können, ist eine Abstraktion durchzuführen, vorauszusetzen, daß sie relevant ist, und im Rahmen dieser· Voraussetzung vorzugehen. Diese scharfe Trennung zwischen der Klarheit begrenzter Wissenschaft und dem jenseits liegenden dunklen Universum beruht
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ih~:(!rseits auf einer Abstraktion von konkreten Tatsachen. Wir können beispielsweise unsere Voraussetzungen überprüfen. Im speziellen Fall der Naturwissenschaften etwa setzen wir Geometrie voraus. Aber welche Art von Geometrie? Es gibt viele Möglichkeiten. In der Tat haben wir eine endlose Anzahl verschiedener Geometrien. Für welche sollen wir uns entscheiden? Wir alle wissen, daß dieses Thema die Physik während der letzten dreißig Jahre in Unruhe bzw. in Hochstimmung versetzt hat. Zu guter Letzt kommen die großen Wissenschaftler zu Schlußfolgerungen, die wir alle akzeptieren werden. Und doch drängt sich ein skeptischer Zweifel auf. Woher wissen wir, daß nur eine Geometrie für die komplexen Geschehnisse der Natur relevant ist? Vielleicht ist· eine dreidimensionale Geometrie relevant für eine Art von Vorkommnissen, und für ein,e andere Art wird eine fünfzehndimensionale Geometrie benötigt. Natürlich scheinen unsere deutlicheren Sinneswahrnehmungen, besonders das Sehen, nach drei Dimensionen zu verlangen. Andererseits ist der Schall, obwohl voluminös, sehr unbestimmt hinsichtlich der Dimensionen seines Volumens; es können beispielsweise drei oder fünfzehn sein. Auch bringt, soweit wir beobachten können, jede Veränderung des Maßstabs zum sehr Kleinen oder zum sehr. Großen hin überraschende Veränderungen_ in ,den Eigenschaften der sichtbar gemachten Geschehnisse mit sich. Wir haben sehr spezielle Typen sinnlicher Beobachtung entwikkelt, und folglich sind wir auf eine ähnlich spezielle Menge von Ergebnissen angewiesen, die hinreichend· richtig sind, wenn wir die geeigneten Einschränkungen hinzufügen. Aber mit der Erweiterung unserer Wissenschaft gewinnt der Bereich der Beziehungen zu anderen Aspekten der Natur zunehmend an Bedeutung. · Vielleicht ist unser Wissen verzerrt, solange wir nicht seinen inneren Zusammenhang mit Geschehnissen begreifen können, die räumliche Beziehungen von fünfzehn Dimensionen einschließen. Die· dogmatische Annahme, daß die Trinität der Natur deren einzig wichtigen dimensionalen Aspekt darstellt, war in der Vergangenheit nützlich. In der Gegenwart wird sie gefährlich. Sie kann in der Zukunft eine- verhängnisvolle Schranke für den Fortschritt der Erkenntnis bilden.
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Ferner kann sich dieser Planet oder dieser Sternnebel, zu dem unsere Sonne gehört, allmählich auf eine Veränderung des allgemeinen Charakters seiner räumlichen Relationen hin bewegen. Vielleicht wird die Menschheit in der fernen Zukunft, wenn sie dann noch existiert, auf das sonderbare, verengte dreidimensionale Universum zurückblicken, aus dem das edlere, reichere Sein hervorgegangen ist. Diese Spekulationen sind gegenwärtig weder bewiesen noch widerlegt. Sie haben jedoch einen fiktiven Wert. Sie zeigen, wie die Konzentration auf kohärente Formulierungen . bestimmter Aspekte der menschlichen Erfahrung das Vorankommen des Verstehens blockieren kann. Zu viele Äpfel vom Baum der systematischen Erkenntnis bringen den Fortschritt zu Fall. Der Sinn für das Vorankommen, für Vertiefung, ist wesentlich, um das Int~resse am Leben zu halten. Zudem gibt es zwei Arten des Vorankommens. Die eine betrifft die Verwendung festgelegter Strukturen für die Zuordnung einer reicher gewordenen Vielfalt von Einzelheiten. Aber die Zuweisung der jeweiligen Struktur schränkt die Auswahl der Einzelheiten ein. Auf diese Weise wird die Unendlichke_it des Universums als irrelevant ausgeblendet. Die Aufwärtsentwicklung, die mit der Frische der Morgenröte begann, degeneriert zu einer langweiligen Anhäufung von billigen Zuordnungskunststückchen. Die Geschichte des Denkens und die Geschichte, der Kunst veranschaulichen diese Beobachtung. Wir können dem Fortschritt nicht seine Struktur vorschreiben. Gewiß bedeutet Vorankommen zum Teil auch, Einzelheiten in festgesetzte Strukturen einzureihen. Dabei handelt es sich um das sichere Vorankommen dogmatischer Geister, die sich vor dem Wahnsinn fürchten. Aber die Geschichte weist auch einen anderen Typ des Fortschritts auf, nämlich die Einführung neuer Strukturen in die begriffliche Erfahrung. Auf diese Weise werden die bis dahin nicht differenzierten oder als zufällig und irrelevant übergangenen Einzelheiten in die zugeordnete Erfahrung erhoben. Eine neue Vision des großen Jenseits stellt sich ein. 7. Das Verstehen hat also zwei Formen des Vorgehens, das Einreihen von Einzelheiten in zugewiesene Strukturen und die Entdeckung neuer Strukturen mit ihrer Hervorhebung neuer Einzelheiten. Die menschliche Intelligenz ist durch die dogmatische Haltung gegenüber Verbindungsstrukturen gehemmt wor77
den. Das religiöse Denken, das ästhetische Denken, das Verste.hen sozialer Strukturen, die wissenschaftliche Analyse der Beobachtung sind allesamt durch diesen verhängnisvoHen Virus verkümmert. Er befiel das europäische Denken schon am Anfang seiner glänzenden Begründung. Epikur, Platon und Aristoteles waren gleichermaßen davon überzeugt, daß verschiedene Elemente ihrer Erfahrung genau in den Formen gesichert waren, in denen sie von ihnen verstanden wurden. Sie waren sich der Gefahren der Abstraktion nicht bewußt. Später gab Kant in seiner Kritik der reinen Vernunft eine meisterhafte Darstellung der Gründe, die uns veranlassen, so sicher zu sein. Hinsichtlich dieser Gewißheit herrschte unter den ge'nialen Denkern Einverständnis. Es ist eine Tragödie der Geschichte, daß in dem Sinne, in dem diese großen Männer an diesen Überzeugungen festhielten, keine einzige ihrer Lehren das breitere Wissen der letzten beiden Jahrhunderte überlebt hat. Die Mathematik ist nicht in dem Sinne gültig, in dem Platon sie begriff. Sinnesdaten sind nicht klar, deutlich und ursprünglich in dem Sinne, in dem Epikur glaubte. Die Geschichte des Denkens ist eine tragische Mischung aus zitternder Enthüllung und abtötender Verschlossenheit. Der Sinn für Vertiefung geht in der Sicherheit. vollständigen Wissens verloren. Dieser Dogm~tismus ist der Antichrist des Lernens. Im ganz konkreten Zusammenhang der Dinge gehen die Eigenschaften der zusammenhängenden Dinge in die Eigenart der Verknüpfung ein, die sie verbindet. Jedes Beispiel der Freundschaft zeigt die besonderen Charaktere der beiden Freunde. Zwei andere Menschen sind gemessen an dieser vollständig definierten Freundschaft nicht miteinander vereinbar. Auch bilden die Farben in einem Gemälde eine teils geometrische Komposition. Wenn wir nur die abstrakte geometrische Beziehung betrachten, kann ein blauer Fleck durch einen roten ersetzt werden. In dieser geometrischen Abstraktion ist das Rot genauso vereinbar mit den verbleibenden Farbflecken, wie es vorher das Blau war. Wenn wir aber das Bild konkreter betrachten, ist dadurch vielleicht ein Meisterwerk ~erstört worden. Das Rot ist unvereinbar mit der konkreten Wirkung auf die Komposition, die das Blau entfaltete. _. Unvereinbarkeit herrscht also in dem Maße, wie wir zum konkreten Verständnis vordringen. Insbesondere sind alle Einzel-
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wesen, außer einem, unvereinb;tr mit der Erzeugung der besonderen Wirkung, die dieses eine hervorbringen würde. Je mehr wir in die Abstraktion versinken, erhöht sich die Zahl der Einzelwesen, die auf verschiedene Weise dieselbe abstrakte Wirkung hervorrufen werden. Die Vereinbarkeit wächst also mit der Abstraktion vom Konkreten. Im Begriff der Unvereinbarkeit steckt demnach eine Unklarheit. Es gibt den schlichten Unterschied, der sich aus der Unterscheidung zwischen zwei Einzelwesen ergibt. Wenn der Fleck scharlachrot ist, kann er nicht gleichzeitig hellblau sein. Die beiden Vorstellungen sind durch die schlichte Unterscheidung zwischen· Rot und Blau einfach darin unyereinbar, daß es sich um verschiedene Farben handelt. Sie unterscheiden sich auch im ästhetischen Erleben. Das Blau kann ein Faktor in einem Bild sein, das ein Meisterwerk ist, ersetzt man es aber an derselben geometrischen Stelle durch Rot, so zerstört dies. den ganzen ästhetischen Wert. Andererseits sind Blau und Rot zur Markierung des Bereichs gleich gut geeignet, wenn das Interesse allein den geometrischen Beziehungen gilt. Wir sollten jetzt verstehen, daß es zwei Typen der Unvereinbarkeit gibt. Man kann sie als den logischen und den ästhetischen Typ bezeichnen. Der logische Typ beruht auf dem Unterschied zwischen verschiedenen Dingen, die als alternative Faktoren in einer Komposition aufgefaßt ·werden. Für die Totalität einer Komposition .kann es nicht gleichgültig sein, welches von zwei unterschiedlichen Dingen eine zugewiesene Rolle in der Struktur dieses zusammengesetzten Einzelwesens ausfüllt. Der Unterschied in den Faktoren wird zu verschiedenen Zusammensetzungen führen. Und durch die Hinzufügung von Faktoren werden die zugrundeliegenden Voraussetzungen gesprengt. Wir können eine Komposition niemals in ihrer ganz konkreten Wirksamkeit für alle Möglichkeiten der Umgebung verstehen. Wir sind uns nur einer Abstraktion bewußt.FürdieseAbstraktionkann die Veränderung oder HinzufügungvonFaktorengleichgültig-seiri~ · Stets aber schwebt ein Damoklesschwert über der Gleichwertigkeit oder Vereinbarkeit verschiedener Dinge. Wenn wir die Selbstverständlichkeit erweitern, verringert sich der Abstraktionsgrad, und unser Verstehen dringt zu den konkreten Tatsachen vor. Früher oder später führt also der Zuwachs an Wissen zur Evidenz des Antagonismus, der in einem Unterschied angelegt ist. 79
8. Die in dieser Vorlesung entwickelte Theorie des Verstehens
findet jenseits der Logik Anwendung. Die ästhetische Erfahrung ist eine andere Art der Freude an Selbstverständlichkeit. Diese Schlußfolgerung ist so alt wi~ das europäische Denken selbst. Das Verhältnis der angewandten mathematischen Proportionslehre zur Musik und zur Architektur erregte das Interesse der pythagoräischen und platonischen Schule. Auch das unter den Mathematikern weit .verbreitete Empfinden, daß einige Beweise schöner sind als andere, sollte der Aufmerksamkeit der Philosophen nicht entgehen. . Ich gebe Ihnen zu bedenken, daß die Analogie zwischen Ästhetik und Logik eines der unausgearbeiteten Themen der Philosophie ist. Zunächst beziehen sie sich beide auf die Freude an einer Komposition, die sich aus den Zusammenhängen zwischen ihren Faktoren ergibt. Es gibt ein Ganzes, das aus dem Wechselspiel vieler Einzelheiten hervorgeht. Die Bedeutung verdwt sich dem deutlichen Ergreifen der Interdependenz des Einen und der Vielen. Wenn eine Seite dieser Antithese in den Hintergrund absinkt, findet eine Trivialisierung sowohl der logischen als auch der ästhetischen Erfahrung statt. Die Unterscheidung zwischen. Logik und Ästhetik ergibt sich aus dem in ihnen angelegten Abstraktionsgrad. Die Logik richtet ihre Aufmerksamkeit auf hohe Abstraktionen, während sich die Ästhetik so eng an das Konkrete hält, wie es die Notwendigkeiten des begrenzten Verstehens erlauben. Logik und Ästhetik bilden also die beiden Extreme des Dilemmas, in dem sich die begrenzte Denkweise mit ihrer partiellen Durchdringung des Unendlichen befindet. Jeder dieser Gegenstände läßt sich aus zwei Gesichtswinkeln betrachten. Mankann einenlogischen Komplexerforschen und sich an diesem Komplex erfreuen, nachdem er erforscht ist. Desgleichen gibt es die Durchführung einer ästhetischen Komposition und die Freude an dieser Komposition nach ihrer .Durchführung. Diese Unterscheidung zwischen Gestaltung und Erleben darf nicht überbetont werden. Aber es gibt sie ; und der Schluß dieser Vorlesung befaßt sich mit dem Erleben und nicht mit Gestaltung. Die charakteristische Attitüde des logischen Verstehens besteht darin, bei den Einzelheiten zu beginnen und dann zu der ausgeführten Konstruktion überzugehen. Logisches Erleben bewegt sich von den Vielen zum Einen. Die Eigenschaften der
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vielen Dinge werden so verstanden, daß sie die Einheit der Konstruktion zulassen. Die· Logik verwendet Symbole, aber nur als Symbole. Beispielsweise sind die Unterschiede im Zeilenabstand, in der Randbreite und im Seitenformat (Oktav-, Quart- oder Duodezformat) bisher noch nicht in die Symbolik eingegangen. Das Verstehen der Logik ist das Erleben, in dem die abstrahierten Einzelheiten diese abstrakte Einheit zulassen. Mit der Entwicklung des Erleb_ens offenbart sich die Einheit des Konstrukts. Wir erblicken eine Möglichkeit für da:s Universum, nämlich wie das Abstrakte seinem eigenen Wesen nach über diese Annäherung an die Konkretion verfügt. Die Logik beginnt mit einfachen Vorstellungen und fügt diese dann zusammen. Die Bewegung des ästhetischen Erlebens nimmt die entgegengesetzte Richtung. Wir sind überwältigt von der Schönheit des Gebäudes, von der Freude an dem Bild, von der feinen Ausgewogenheit des Satzes. Das Ganze geht den Teilen voraus. Dann sehen wir näher hin: Gleichsam in einem Augenblick drängen sich uns die Einzelheiten als die Gründe für die Totalität der Wirkung auf. In der Ästhetik gibt es eine Totalität, die ihre einzelnen Teile enthüllt. In der Geschichte des europäischen Denkens wurde die Diskussion der Ästhetik durch die Betonung der Harmonie zwischen den Einzelheiten fast völlig zuni~hte gemacht. Die Freude an der griechischen Kunst wird stets von der Sehnsucht beeinträchtigt, die Einzelheiten möchten eine krasse Unabhängigkeit von der erdrückenden Harmonie an den Tag legen. In den größten Beispielen einer beliebigen Kunstform wird eine wunderbare Ausgewogenheit erzielt. Das Ganze entfaltet seine einzelnen Teile und erhöht den Wert eines jeden von ihnen; und die Teile führen zum Ganzen hinauf, das jenseits ihrer selbst liegt und sie dennoch nicht zerstört. Es ist jedoch bemerkenswert, wie oft die vorbereitenden Detailstudien, sofern sie überhaupt erhalten sind, interessanter sind als die endgültigen Details, wie sie im vollendeten .Werk erscheinen. Selbst die größten Kunstwerke erreichen keine Vollkommenheit. Aufgrund der größeren Konkretheit der ästhetischen Erfahrung bietet diese ein umfangreicheres Thema als die logische Erfahrung. Wenn nämlich der Gegenstand der Ästhetik hinreichend erforscht ist, läßt sich daran zweifeln, ob überhaupt noch etwas 81
für die Diskussion verbleibt. Aber dieser Zweifel ist nicht gerechtfertigt. Denn das Wesen großer Erfahrungen ist Vordringen ins Unbekannte, ins Unerfahrene. Sowohl Logik .als auch Ästhetik konzentrieren sich auf verschlossene Tatsachen. Unser Leben steht unter dem Zeichen der Erfahrung von Enthüllung. Wenn wir diesen Sinn für Enthüllung verlieren, dann begeben wir uns jener Wirkungsweise, welche die Seele ist. Wir sinken ab in die bloße Obereinstimmung mit der Quintessenz aus der Vergangenheit. Vollständige Anpassung bedeutet den Verlust des Lebens. Übrig bleibt das starre Sein der anorganischen Natur. In den drei hiermit al?geschlossenen Vorlesungen wurde versucht, die für das philosophische Denken grundlegendsten Ideen zusammenzutragen. Dabei wurde so wenig wie möglich systematisiert ; und es wurde eine Vielzahl von Vorstellungen eingeführt, die sich in den drei Vorlesungsthemen [Bedeutung, Ausdruck und Verstehen] verbargen. Hier muß eine Lehre gezogen werden. Abgesehen vom einzelnen und abgesehen vom System, bildet eine philosophische Anschauungsweise die eigentliche Grundlage des Denkens und des Lebens. Die Art von Ideen, denen wir unsere Aufmerksamkeit schenken und die Art von Ideen, die wir als bedeutungslos in den Hintergrund . schieben, beherrschen unsere Hoffnungen, unsere Ängste und die Kontrolle unseres Verhaltens. Wie wir denken, leben wir auch. Aus diesem Grund bedeutet das Zusammentragen philosophischer Ideen mehr als die Arbeit eines Spezialisten. Es gestaltet unsere Form der Zivilisation.
Paul Ricreur Der Text als Modell: hermeneutisches V erstehen
Mein Ziel in diesem Aufsatz ist es, eine Hypothese zu überprüfen, die ich kurz erläutern will. Ich gehe davon aus, daß -die primäre Bedeutung des Wortes »Hermeneutik« mit den Regeln zu tun hat, die für die interpretation von schriftlichen Dokumenten unserer Kultur erforderlich sind. Insofern bleibe ich dem Begriff Auslegung treu, wie er von Wilhelm Dilthey gefaßt wurde ; während sich der Begriff des Verstehens (uriderstanding, comprehension) - auf der Grundlage aller Arten von Zeichen, in denen sich psychisches Leben ausdrückt (Lebensäußerungen) - auf die Erfassung all dessen bezieht, was ein: fremdes Subjekt meint oder intendiert, ist der Begriff Auslegung (interpretation, exegesis) spezifischer: er umfaßt nur eine begrenzte Kategorie von Zeichen, nämlich nur jene, welche schriftlich niedergelegt worden sind- einschließiich allerdings auch aller Arten von Dokumenten und Denkmälern, die in schriftähnlicher Form fixiert worden sind. Meine Hypothese ist nun die -folgende: Wenn sich bei der Interpretation von Texten spezifische Probleme ergeben, weil es sich um Texte und nicht um das gesprochene Wort handelt, und wenn es gerade diese Probleme sind, die. die Hermeneutik als solche konstituieren, dann können die Humanwissenschaften hermeneutisch genannt werden (1) insofern ihr Untersuchungsgegenstand einige der Züge trägt, die für einen Text als Text kennzeichnend sind, und (2) insofern als ihre Methodologie die gleiche Art von Verfahren entwickelt wie sie für die Auslegung oder Textinterpretation erforderlich sind. So sind auch die beiden Hauptfragen, mit denen sich mein Aufsatz beschäftigen wird : 1. Inwieweit können wir das Konzept des Textes als ein gutes Paradigma für das sogenannte Objekt der Sozialwissenschaften ansehen? 2. Inwieweit können wir die Methodologi~ der Textinterpretation als ein _Paradigma der Interpretation auf dem Gebiet der Humanwissenschaften im allgemeinen gebrauchen ?
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1. Das Paradigma des Textes Um die Unterscheidung zwischen gesprochener und geschriebener Sprache zu rechtfertigen, möchte ich ein vorläufiges Konzept einführen, das das Diskurses. Beim Diskurs kann die Sprache sowohl gesprochen wie geschrieben sein. Aber was ist ein Di~ku~s ?. Wir werden eine Antwort auf diese Frage nicht bei den Logikern suchen, auch nicht bei den Exponenten der linguistischen Philosophie, sondern bei den Linguisten selber. Diskurs ist das Gegenstück zu dem, was die Linguisten Sprachsystem oder linguistischer Kode nennen. Der Diskurs ist Sprachereignis oder Sprachgebrauch. Dieses Paar korrelativer Begriffe·- System und Ereignis bzw. Kode und Mitteilung - hat in der Linguistik seit seiner Einführung durch Ferdinand de Saussure und Louis Hjelmslev eine große Rolle gespielt. Der erste sprach von Sprache (language) und Redeweise (parole), der zweite von Schema und Sprachgebrauch. Wir können noch das Begriffspaar Sprachkompetenz · und. Sprachgebrauch (competence and performance) in Chomskys Terminologie hinzufügen. Es ist notwendig, die epistemologiscpen Konsequenzen aus einer solchen Unterscheidung zu ziehen, vor allem die, daß der Linguistik des Diskurses andere Regeln z~grunde liegen als der Linguistik der Sprache als Sprachsystem. . Es ist daher der französische Linguist Emile Benveniste, der diese Unterscheidung der zwei linguistischen Strukturen am konsequentesten durchgeführt hat. Nach seiner Auffassung sind diese beiden Sprachstrukturen nicht aus den gleichen Einheiten zusammengesetzt. Während das Zeichen (phonetisch oder lexikalis~}!) .die Grundeinheit der Sprache ist, ist der Satz die Grundeinheit des Diskurses. Es ist deshalb gerade die Linguistik des Satzes, die die Theorie der· Rede als eines Sprachereignisses begründet. Ich möchte vier Charakteristika dieser Linguistik des Satzes im Auge behalten, die mir es ermöglichen sollen, die Hermeneutik des Sprachereignisses und des Diskurses auszuarbeiten. Erster Grundzug: Der Diskurs wird immer in der Zeit und in einer bestimmten Gegenwart realisiert, während das Sprachsystem virtuell ist und sozusagen außerhalb der Zeit liegt. Emile Benveniste nennt dies das »Ereignis des Diskurses«. Zweiter Grundzug: Während die Sprache kein Subjekt hat- in 84.
dem Sinn, daß die Frage >>Wer spricht?« hier sinnvoll anwendbar wäre -, ist der Diskurs durch einen komplexen Satz von Indikatoren, wie z. B. Personalpronomen, auf seinen Sprecher zurückbezogen. Wir können sagen, daß das »Ereignis des Diskurses« reflexiv ist. Dritter Grundzug: Während sich die Zeichen einer Sprache lediglich auf andere Zeichen innerhalb desselben Systems beziehen, und während. die Sprache daher einer Welt ebenso ermangelt wie der Zeitlichkeit und Subjektivität, dreht sich der Diskurs immer um etwas Bestimmtes. Er bezieht sich auf eine Welt, die zu beschreiben, auszudrücken oder zu repräsentieren er beansprucht. Die symbolische Funktion der Sprache wird nur im Diskurs aktualisiert. Vierter Grundzug: Während die Sprache nur die Bedingung der Möglichkeit von Kommunikation, für die sie Kodes bereithält, darstellt, werden im Diskurs wirkliche Mitteilungen ausgetauscht. In diesem Sinn hat allein der Diskurs nicht nur Welt, sondeni auch einen Anderen, eine andere Person, einen Gesprächspartner, an· den er adressiert ist. Diese vier Grundzüge zusammengenommen konstituieren die Sprache. als Sprachereignis~ Es ist anzum~rken, daß diese vier Grundzüge erst i~ Zuge der Überführung einer latenten Sprache in den Diskurs in Erscheinung treten. Eine Kennzeichnung der Sprache als eines Sprachereignisses ist daher dann und nur dann gerechtfertigt, wenn der Prozeß dieser Überführung, durch den unsere sprachliche Kompetenz sich im Sprachgebrauch aktualisiert, sichtbar gemacht werden kann. Aber dieselbe Kennzeichnung ist nicht mehr gerechtfertigt, wenn dieser Ereignischarakter von dieser Problematik der Aktualisierung, wo er zu Recht vorausgesetzt wird, auf eine andere Problematik : die des Versteheus insgesamt, übertragen wird. Was bedeutet es eigentlich, einen Diskurs zu verstehen? Betrachten wir nun, wie verschieden diese vier Grundzüge in der gesprochenen und geschriebenen Sprache aktualisiert werden. Diskurs gibt es, so stellten wir fest, immer nur als ein zeitliches und gegenwärtiges Ereignis von Diskurs. Aber dieses erste Charakteristikum wird in der gesprochenen und geschriebenen Sprache ganz verschieden verwirklicht. In der gesprochenen Sprache hat das Ereignis des Diskurses den Charakter des 85
Fließens. Das Ereignis taucht auf und entschwindet wieder. Deshalb gibt es hier ein Problem der Fixierung, der Aufzeichnung. Was wir festhalten wollen, ist das, was entschwindet, was vergänglich ist. Wenn wir verallgemeinernd sagen können, daß man versucht,· die Sprache - durch alphabetische Aufzeichnung, durch lexikalische Registrierung und syntaktische Kodifikation festzuhalten, dann nur um des Diskurses willen. Nur der Diskurs muß festgehalten werden, denn er entschwindet. Das zeitlose Sprachsystem tritt weder in Erscheinung noch entschwindet es ; es kommt für sich genommen gar nicht vor. Hier ist der Ort, um sich einen Mythos aus Platos »Phaidon« in Erinnerung zu rufen: Die Schrift wurde dem Menschen gegeben, um der Schwäche des Diskurses abzuhelfen, einer Schwäche, die in seinem Ereignischarakter liegt. Die Gabe ·der grammata - dieses »äußeren« Dinges, dieser »äußeren Zeichen«, dieser sich verkörpernden Entfremdung- sei geradezu_»Arznei« für unser Gedächt!lis. Der ägyptische König von Theben konnte zwar dem Gott Theuth antworten, daß das Schreiben ein falsches Heilmittel sei, weil es die wirkliche Erinnerung durch materielle Konservierung und die wirkliche Weisheit durch die Ansammlung von leerem Wissen ersetze. Diese Aufzeichnung ist aber, trotz ihrer Gefahren, der Zweck des Diskurses. Was wir durch das Schreiben nun tatsächlich festhalten, ist nicht der Sprachakt, sondern das was »ausgesagt« worden ist - wobei wir unter dem »Ausgesagten« die gewollte »Äußerung« (exteriorization) verstehen, die für das Ziel des Diskurses konstitutiv ist und durch die das Sagen zur Aussage wird, zur Kundgabe und zum Kundgegebenen. Kurz, was wir schreiben, was wir registrieren, ist das noema des Sprechens. Es ist der Bedeutungsgehalt des Sprachereignisses, nicht das Sprachereignis als Ereignis. Was wird nun im Geschriebenen wirklich festgehalten? Wenn es nicht das Sprachereignis ist, dann ist es die Rede selbst, insoweit sie in Worten ausgedrückt worden ist. Aber was heißt : in Worten ausgedrückt? An dieser Stelle möchte ich annehmen, daß sich die Hermeneutik - wie oben ausgeführt - nicht nur auf die Linguistik berufen kann (auf die Linguistik des Diskurses· im Gegensatz zur Linguistik der Sprache), sondern daß sie ebenso die Theorie des Sprachaktes heranziehen muß, wie wir sie bei Austin und Searle ausgearbeitet finden. Nach der Meinung dieser Autoren wird der Sprachakt durch eine Hierarchie von untergeordneten Akten
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konstituiert, welche auf drei ~benen zu lokalisieren sind : 1. auf der Ebene des lokutionalen oder propositionalen Aktes, d. h. des Aktes der Rede selbst ; 2. auf der Ebene des illokutionalen Aktes oder Momentes, d. h. dessen, was wir in der Rede tun ; und 3. auf der Ebene des perlokutionalen Aktes, d. h. dessen, was wir durch die Rede tun. Im Falle einer Aufforderung1 wenn ich dich z.. B. bitte, die Tür zu schließen, is.t »Schließe die Türe!« der Redeakt. Wenn ich dich aber im Ton eines Befehls (und nicht etwa im .Ton einer ·Bitte) auffordere, macht dies den illokutionalen Charakter der Rede aus. Schließlich kann ich dadurch, daß ich dir diesen Befehl erteile, bestimmte Wirkungen wie Angst hervorrufen. Diese Effekte machen einen Redeakt zu einem Stimulus, der zu bestimmten Reaktionen führt. Das ist der perlokutionale Akt. Was bedeuten diese Unterscheidungen nun für unser Problem der intentionalen Exteriorisierung, durch welche das Sprachereignis in seiner Bedeutung überhöht und materiell fixierbar wird? Der lokutionak Akt exteriorisiert sich im Satz. Der Satz kann ohne Schwierigkeit identifiziert und als der gleiche Satz wiedererkannt werden. Ein Satz'wird eine Aus-sage und wird so anderen· übermittelt als -Satz mit der und der Struktur und der und der Bedeutung. Aber der illokutionale Akt kann ebenso exteriorisiert werden ·durch grammatikalische Paradigmata (durch Indikativ-, Imperativ- und .Konjunktivformen, und durch andere Verfahren, welche geeignet sind, illokutionale Momente auszudrücken), ~ie. seine Identifikation und Wiedererkennung ermöglichen. Selbstverständlich wird das illokutionale Moment im mündlichen Diskurs durch Mimik und Gestik und durch die nichtartikulierten Aspekte des Diskurses, die wir Prosodie nennen, unterstüt~t. Damit ist das . illokutionale Moment in der grammatischen Struktur jedoch weniger gut verankert als· die propositionale Bedeutung. Jedenfalls ist ihre Fixierung in einer syntaktischen Struktur selbst wieder an spezifische Paradigmata gebunden, die eine schriftliche Fixierung wenigstens im Prinzip ermöglichen. Ohne Zweifel müssen wir sdiließlich zugeben, daß der perlokutionale Akt jener Aspekt ~ines Diskurses ist, der am schlechtesten festzuhalten ist und der vorzugsweise die gesprochene Sprachekennzeichnet. Aber das perlokutionale ist auch das Moment, das
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das am wenigsten diskursive am Diskurs ist. Es betrifft den Diskurs als Stimulus. Es funktioniert irgendwie unbewußt, durch direkten Einfluß auf die Gefühle und die affektiven.Dispositionen, nicht jedoch auf dem Weg über die Kenntnisnahme meiner Intentionen durch den Gesprächspartner. So sind der propositionale Akt, das illokutionale Moment und der perlokutionale Akt in dieser absteigenden Reihenfolge der intentionalen Exteriorisierung zuganglich, wodurch ihre Fixierung im geschriebenen Wort möglich ist. Für das »Verstehen« ist es daher erforderlich, - über die Bedeutung des Sprechaktes oder über das noema des Gesagten hinaus . :. . nicht nur den ·Satz (im engeren Sinn des propositionalen Aktes), sondern ebenso das illokutionale Moment und selbst die perlokutionale Handlung insoweit zu erfassen, daß diese drei Aspekte des Sprachaktes kodifiziert und in Paradigmata zusammengefaßt werden können, anhand deren sie dann auch identifiziert und als die gleiche Bedeutung tragend wiedererkannt werden können. Ich verstehe daher das Wort »Bedeutung« in einem sehr umfassenden Sinn, der alle diese Aspekte und Ebenen der intentionalen Exteriorisierung, . welche die Fixierung des Diskurses ermöglichen, mitumfaßt. Die Erläuterung der anderen drei Züge des Diskurses· im Übergang vom Gesprochenen zum Geschriebenen wird uns befähigen, die Bedeutung dieser U'qerhöhung des Sagens zur Aussage präziser zu fassen. 2. Im Diskurs, so wurde festgestellt- und das war das zweite Unterscheidungskriterium zwischen Diskurs und Sprache -, verweist der Satz durch verschiedene Indikatoren der Subjektivität und Personalität auf seinen Sprecher. Im mündlichen Diskurs bringt dieser Bezug auf den Sprecher einen spezifischen Charakter der Unmittelbarkeit hervor, den wir im folgenden näher erläutern wollen. Die subjektive Intention des Sprechers und die Bedeutung des Diskurses überschneiden sich hier in einer Weise, daß es fast dasselbe ist, zu verstehen, was der Sprecher meint und was sein Diskurs bedeutet. Die Ambiguität des französischen Ausdrucks vouloir-dire, des deutschen meinen und. des englischen to mean bescheinigt diese Überschneidung. Es ist ziemlich das gleiche zu fragen »Was meinst du?« und »Was bedeutet das?« Beim geschriebenen Diskurs jedoch fällt die Intention des Autors mit der Bedeutung des Textes nicht mehr ohne weiteres zusam-
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men. Diese Dissoziation von Wortbedeutung und Intention ist der entscheidende Punkt bei· der Fixierung des Diskurses. Nicht, daß wir uns einen Text ohne Autor vorstellen können; das Band zwischen dem Sprecher und dem Diskurs wird nicht aufgehoben, aber es wird ausgedehnt und verwickelter. Angesichts der Dissoziation von Bedeutung und Intention ist der Rückschluß vom Diskurs auf den Schreiber immer ein Wagnis. Das Schicksal des Textes aber entzieht sich dem begrenzten Lebenshorizont seines Autors völlig. Was der Text nun aus.sagt, zählt mehr als das, was der Autor damit auszusagen meint, und jede Exegese entfaltet sich in einem Umkreis von Bedeutungen, die ihre Verankerung in der Psyche des Autors verloren haben. Um nochmals Platos Ausdruck zu benutzen : der geschriebene Diskurs kann nicht »geheilt« .werden durch all die Prozesse, durch die der gesprochene Diskurs unterstützt wird - durch Intonation, Vortragsweise, Mimik, Gestik. In diesem Sinne macht die schriftliche Niederlegung in »äußeren Zeichen«, die den Diskurs zuerst :zu verfälschen schien, gerade die eigentlichen Geistigkeit des Diskurses aus. Von nun an kann nur noch eine Bedeutung die andere >>heilen«, ohne die Unterstützung durch die physische und psychische Gegenwart des Autors. Zu sagen jedoch, daß nur die Bedeutung die Bedeutung· heilen kann, heißt, daß nur die Interpretation der Schwäche des Diskurses, den sein Autor nicht mehr »zurückholen« kann, abhelfen wird. 3. Das 'Sprachereignis wird durch seinen Sinngehalt ein drittes Mal überschritten. Diskurs ist etwas, so stellten wir fest, was sich auf die Welt, auf eine Welt bezieht. Beim gesprochenen Diskurs heißt das, daß sich der Dialog letzdich auf die den Gesprächspartnern gemeinsame Situation bezieht. Diese Situation umhüllt in bestimmter Weise den Dialog, und ihre Grenzen können stets durch Gesten angedeutet werden; durch das Zeigen mit dem Finger, oder auch durch den Diskurs selbst: durch den indirekten Verweis auf ihre Indikatoren, z. B. durch Demonstrativa, Adverbialbestimmungen der Zeit und des Ortes, oder durch das Tempus der Verben. Im mündlichen Diskurs, so können wir sagen, ist dieser Bezug direkt und ostentativ. Wie wird dieser Bezug im geschriebenen Diskurs hergestellt? Können wir sagen, daß d~r Text keinen solchen Bezug mehr aufweist? Das würde heißen, Bezug und Darstellung bzw. die Welt selbst mit einer bestimmten Situation zu verwechseln. Ein Diskurs geht immer 89
um etwas. Mit dieser Feststellung distanziere ich mich bewußt von jeder Ideologie des absoluten Textes. Nur wenige hochstilisierte Texte erreichen dieses seltsame Ideal eines Textes ohne aktuellen Bezug. Es handelt sich hier um Texte, bei denen das Sprachspiel des Urhebers sich vom Ausgesagten ganz losgelöst hat. Aber diese Form kann nur als Ausnahme gewertet werden, und sie kann nicht als Schlüssel für alle anderen Texte gelten, die uns in der einen oder anderen Weise etwas über- die Welt sagen. Aber was ist dann das Subjekt solcher Texte, wenn keines nachgewiesen werden kann ? Weit davon entfernt zu behaupten, daß es einen Text ohne Welt gebe, möchte ich, ohne paradox sein zu wollen, sagen, daß .nur der Mensch eine Welt hat und nicht nur in einer Situation lebt. Genauso wie sich der Text in seiner Bedeutung von der Vormundschaft der Intention seines Urhebers loslöst, so löst sich sein Bezug von den Grenzen des ostentativen Bezuges. Für uns ist die Welt das Ensemble der durch Texte eröffneten Bezüge. So sprechen wir von der Welt der Griechen, nicht um in irgendeiner Weise die Situation derer zu bezeichnen, die dort lebten, sondern um die nichtsituativen und überdauernden Bezüge zu bezeichnen, die von nun an als mögliche Seinsweisen, als symbolische Dimensionen unseres Seins in der Welt verfügbar sind. Für mich ist das der entscheidende Bezugspunkt aller Literatur; nicht die Umwelt der ostentativen Bezüge des Dialogs, sondern die Welt, die durch die indirekten und nicht-os.tentativen Verweisungen jeden Textes, den wir gelesen, verstanden und geliebt haben, entworfen wird. Einen Text verstehen heißt gleichzeitig, unsere eigene Situation erhellen, oder, wenn man so will, in die Prädikate unserer Situation alle die Bezeichnungen einzufügen, die aus unserer Umwelt eine Welt machen. Es ist diese Erweiterung der Umwelt zur Welt, die es uns ermöglicht, von Bezügen zu sprechen, die durch den Text erschlossen werden - besser noch würde man sagen, daß die Bezüge erst die Welt erschließen. Hier manifestiert sich das geistige Moment des Diskurses wiederum im Schreiben, das uns von der Sichtbarkeit und Begrenztheit der Situationen befreit, indem eine Welt für uns erschlossen wird; d. h. neue Dimensionen unseres In-der-Welt-Seins. In diesem Sinne sagt Heidegger zu Recht- in seiner Analyse. des Verstehens in »Sein und Zeit« -, daß das, was wir in einem Diskurs zuerst verstehen, nicht eine andere Person ist, sondern
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ein Entwurf, d. h. die Skizz.e einerneuen Form des In-der-WeltSeins. Nur im Schreiben, in der Befreiung des Geschriebenen nicht nur von seinem Autor, sondern auch von der Enge der dialogischen Situation, enthüllt sich die Bedeutung des Diskurses als eines Entwurfs der Welt. Indem wir so Bezug nehmen auf den Entwurf einer Welt, beginnen wir nicht nur Heidegger neu zu entdecken, sondern auch Wilhelm von Humboldt, für den die einzige Rechtfertigung der Sprache darin besteht, daß sie die Beziehung des Menschen zur W dt herstellt. Wenn diese Beziehungsfunktion unterdrückt wird, bleibt nur ein absurdes Spiel von or~entierungslos~n Zeichengebern. 4. Aber es ist wohl der vierte Grundzug, der für die Erfüllung des Diskurses in der schriftlichen Niederlegung am kennzeichnendsten ist. Nur der Diskurs, nicht die Sprache, ist an jemanden adressiert. Das ist die Grundlage der Kommunikation; Aber es besteht ein Unterscheid zwischen ein.em Diskurs, der an einem gleichzeitig anwesenden Gesprächspartner adressiert ist, und einem Diskurs, der- wie es im Grunde bei jedem Schriftstück der Fall ist - an jeden adres'siert ist, der lesen kann. Die Enge der dialogischen Beziehung weitet sich aus. Anstatt nur an dich, die zweite Pers.on, adressiert .zu sein, ist das Geschriebene. an ein Publikum adressiert, das sich selbst schafft. Das kennzeichnet wiederum die Geistigkeit des Schreibens, die ein Gegenbild zu seiner Materialität und Verfremdung ist, die dem Diskurs ebenfalls anhaftet. Das vis-a-vis des Geschriebenen ist nun jeder, der lesen kann. Die gleichzeitige Gegenwart der dialogisierenden Objekte kann nicht mehr als das Modell jeden » Verstehens« gelten. Die Beziehung Schreiben-Lesen ist nicht mehr nur ein Spezialfall der Beziehung Sprechen-Hören. Im Gegenteil, der Diskurs erweist sich erst durch die Universalität seines Bezuges als Diskurs. Indem er sich vom Augenblickscharakter des einmaligen Ereign,isses, von den gelebten Bindungen des Autors und von der Enge der ostentativen Bezüge befreit, durchbricht er auch die allzu engen Grenzen der face-to-face-Beziehung~ Er hat keinen körperlich sichtbaren Hörer mehr. Ein unbek;mnter und unsichtbarer Leser ist der auswechselbare Adressat des Diskurses geworden. Inwieweit können wir nun behaupten, daß der Gegenstand der Humanwissenschaften diesem Paradigma ~es ~extes entspricht? Max Weher definiert diesen Gegenstand als sinnhaft orientierte: 91
Verhalten. Inwieweit können wir das Prädikat »sinnhaft orientiert« durch das, was ich - abgeleitet aus der vorher dargestellten Theorie der Textinterpretation - Lesbarkeits-Charakter nennen möchte, ersetzen? Um dies zu ermittel:p., wollen wir unsere vier Kriterien des Diskurses auf die Definition des Begriffes des sinnhaft orientierten Handeins anwenden. a) Die
F~ierung
der Handlung
Sinnhaft orientiertes Handeln kann für die Wissenschaft nur unter der Bedingung zum Untersuchungsgegenstand werden, daß eine' Objektivation de,r Art vor sich geht, wie sie· bei der schriftli~hen Niederlegung eines Diskurses erreicht wird. Dieser gemeinsame Grundzug wird den Gang unserer Analyse vereinfachen. Im gleichen Sinne wie der Gesprächscharakter durch die schriftliche Niederlegung überwunden wird, wird der Charakter der bloßen Interaktion in vielen Situationen dadurch überwunden, daß wir das Handeln wie einen fixierten Text betrachten. Solche Situationen werden in einer Theorie des Handeins gerne übersehen ; denn hier' gilt der Handlungs-Diskurs ausschließlich als Teil einer Handlungssituation, die von einem Partner zum anderen oszilliert~ genauso wie die gesprochene Sprache ganz innerball:~ des Prozesses der Unterredung begriffen wird. Deshalb ist das Handlungs-Verstehen auf der vorwissenschaftliehen Ebene nur ein »Wissen ohne Bewußtsein«, oder wie E. Anscombe sagt, »praktisches Wissen« im Sinne des »knowing how« im Gegensatz zum »knowing that«. Aber dieses Verstehen ist noch keine Interpretation in dem strengen Sinn, der die Bezeichnung »wissenschaftliche Interpretation« verdienen würde. Meine Behauptung ist, daß das Handeln selbst, das Handeln als sinnhaft orientiertes Handeln, zum wissenschaftlichen Gegenstand werden kann - ohne daß der Charakter des Sinnhaften verloren gehen müßte - durch eine Methode der Objektivation, die · det· der schriftlichen Fixierung eines Textes ähnlich ist. Vermittels dieser Objektivation ist die Handlung nicht mehr als eine bloße Transaktion zu begreifen, auf die· das Modell des mündlichen Diskurses weiter anwendbar wäre. Dem Handeln liegt eine Entwurfsstruktur zugrunde, die gemäß ihrer inneren Verbindung interpretiert werden muß. 92
Die Objektivation wird nämlich durch bestimmte innere Grundzüge des Handeins ermöglicht, die denen der Struktur des Sprechaktes gleichen und die von außen erkennbar sind. In der gleichen Weise wie die schriftliche Fixierung ermöglicht wird durch eine Dialektik det intentionalen Exteriorisierung, die dem Sprechakt selbst schon immanent ist, so ist die Loslösung des Sinnes vom Ereignis der Handlung in einer ähnlichen Dialektik im Prozeß der Transaktion selbst angelegt. Erstens hat eine soziale Handlung die Struktur eines lokutionalen Aktes. Sie hat einen propositionalen Gehalt, der _als derselbe identifiziert und. wiedererkannt werden kann. Diese »propositionale« Struktur der Handlung ist klar und überzeugend von Anthony Kenny in seinem Buch »Action, Emotion and Will« dargelegt worden. 1 Die Handlungsverben bilden eine spezifische Klasse von Prädikaten, die den Beziehungen ähnlich sind und die - ebenso wie Beziehungen selbst - auf all die anderen Arten von Prädikaten, die der Kopula »ist« folgen, nicht reduzierbar sind. Die Klasse der Handlungsprädikate ihrerseits ist auf Beziehungen nicht reduzierbar und bildef eine ganz spezifische Klasse von Prädikaten. Unter and~rem ermöglichen die Handlungsverben die Bildung einer ganzen Reihe von »Argumenten«, die zur Ergänzung des Verbs dienen können - diese Reihe reicht sozusagen von Null-Argumenten (Plato lehrte) bis zu einer unbestimmten Anzahl von Argumenten (Brutus tötete Cäsar in der Kurie; in den Iden des März, mit einem ... , mit der Hilfe von ... ). Diese. variable Vielheit von Aussagemöglichkeiten in der prädikativen Struktur der Handlungs-Sätze ist typisch für die propositionale Struktur der Handlung. Ein anderer Grundzug, der für die Übertragung des Konzeptes der Fixierung vom Bereich des Diskurses auf den Bereich der Handlung wichtig ist, betrifft den ontologischen Status der Modifikationen des Handlungsverbs. Während Beziehungen stets zwischen Termini mit gleichem ontologischen Gewicht hergestellt werden, haben bestimmte Handl;ungsverben nur ein topisches Subjekt, das als existierend vorausgesetzt wird und auf das sich der Satz bezieht ; und sie sind umgeben mit Ergänzungen, die sich a4f Nichtexistentes beziehen. Das ist der Fall bei »mentalen Akten« (glauben, denken, wollen, sich vorstellen etc.). Anthony Kenny beschreibt noch einige andere Charakteristika der propositionalen Struktur von Handlungen, die aus der 93
Beschreibung der Funktionsweise von Handlungsverben abgeleitet werden. So kann z. B. eine Unterscheidung zwischen Zuständen, Aktivitäten und Leistungen vermittels der Tempus-Beziehungen der Handlungsverben, die einige wichtige Zeitbestimmungen der · Handlung festlegen, vorgenommen werden. Die Unterscheidung zwischen dem Formal- und dem Materialobjekt einer Handlung (sagen wir der Unterschied zwischen dem Begriff des brennbaren Dinges und diesem Brief, den ich gerade verbrenne) gehört zur Logik der Handlung, wie sie in der Grammatik der Handlungsverben widergespiegelt wird. In dieser nur grob umrissenen Weise kann der propositionale Gehalt der Handlung beschrieben und eine Basis für die Dialektik von Ereignis und Sinn geschaffen werden - ganz ähnlich wie beim Sprechakt. Ich würde hier lieber von der noematischen Struktur der Handlung sprechen; denn es ist diese noematische Struktur, die fixiert undvom Prozeß der Interaktion losgelöst - Gegenstand der InterpreJ,;. t'\ , :. -~ . , · ·. ' tation werden kann. Darüber hinaus hat dieses noema 'nicht nur einen propositionalen Gehalt, sondern es trägtauch »illokutionale« Züge, die denen des kompletten Sprechaktes sehr ähnlich sind. Die verschiedenen Klassen von diskursiven Handlungsfolgen, wie sie von Austin zum Schluß seines Buches »How to Do Things with Words« beschrieben werden, können nicht nur als Paradigmata für die Sprechakte selbst, sondern auch für die den Sprechakten korrespondierenden und sie erfüllenden Handlungen gelten.2 Eine Typologie des Handelns, die dem Modell des illokutionalen Aktes folgt, ist durchaus möglich. Nicht nur eine Typologie, sondern eine »Kriteriologie«, insofern jeder Typ seine eigenen Regeln (genauer »konstitutiven Regeln«) impliziert, die - nach Searle in seinem Buch »Speech Acts« - die Konstruktion von »idealen Modellen« ähnlich den Idealtypen von Max Weber erlauben. 3 Um z. B. zu verstehen, was ein Versprechen ist, müssen wir verstehen, was die »Wesentliche Bedingung« ist, damit eine bestimmte Handlung als ein Versprechen »gelten« kann. Searles »wesentliche Bedingung« ist nicht weit von dem entfernt, was Husserl den Sinngehalt nannte, der sowohl die »Sache« (den propositionalen Gehal_t) wie die »Qualität« (das illokutionale Moment) umfaßt. Wir können nun sagen, daß eine Handlung (wie ein Sprechakt) nicht nur nach ihrem propositionalen Gehah, sondern auch nach
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ihrem illokutionalen Moment identifiziert werden kann. Beide zusammen konstituieren ihren »Sinn-Gehalt«. Wie der Sprechakt, so entwickelt das Handlungsereignis (wenn wir diesen analogen Ausdruck gebrauchen dürfen) eine ähnliche Dialektik zwischen seinem zeitlichen Status, nämlich als ein in Erscheinung tretendes und wieder entschwindendes Ereignis, und seinem logischen Status, der darin besteht, durch einen bestimmten identifizierbaren Sinngehalt ausgezeichnet zu· sein. Wenn der »Sinngehalt« das ist, was die »Fixierung« des Handlungsereignisses ermögiicht, wie ist dann eine Realisierung dieses Sinngehaltes möglich ? Mit anderen Worten, was entspricht im Bereich des Handeins der schriftlichen Notierung? Zur Beantwortung dieser Frage müssen wir auf das Paradigma des Sprechaktes zurückgehen. Was durch das Schreiben fixiert wird, so stellten wir fest, ist das noema des Sprechens, das Sagen als Gesagtes. ·Inwieweit können wir sagen, daß das Getane das Notierte und Notierbare sei? -An dieser Stelle können vielleicht ein paar Metaphern nützJ.ich sein. Wir sagen, daß ein bestimmtes Ereignis seine Spuren in seiner Zeit hinterlassen hat. Wir sprechen von »einschneidenden Ereignissen«. Gibt es nicht auch solche Markierungen und Zeichen in der Zeit, die eher »lesend« als »hörend« zu erschließen wären? Aber was ist mit dieser Metapher des gedruckten Zeichens anzufangen ? Die drei anderen Charaktet:istika eines Textes werden uns helfen, das Wesen eiil.er solchen Fixierung etwas zu verdeutlichen. b) Die Autonomisierung der Handlung Auf die gleiche Weise, wie sich ein Text von seinem Verfasser loslöst, so löst sich eine Handlung vom Handelnden und b~ingt ihre eigenen Konsequenzen hervor. Gerade diese Autonomisierung der menschlichen Handlung konstituiert die soziale Dimension der Handlung. Eine Handlung ist ein soziales Phänomen nicht nur, weil sie von verschiedenen Akteuren in einer Art und Weise ausgeführt wird, daß die Rolle des einen von der Rolle des anderen nicht zu trennen ist, sondern ebenso, weil sich unsere Taten unserer Herrschaft entziehen und weil sie Konsequenzen haben, die wir nicht beabsichtigten. Damit wird eine der Bedeutungen des Begriffes »Notation~. deutlich. Die gleiche Art der _;\'
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Distanz, die wir zwischen der Intention des Sprechers und dem verbalen Gehalt eines Textes feststellen, besteht auch zwischen dem Akteur und seiner Aktion. Es ist gerade diese. Distanz, die die Zuschreibung der Verantwortung für eine Handlung zum Problem macht. Wir fragen nicht: Wer.lächelte? Wer hob seine Hand ? ·Der Täter ist in seinen Taten ebenso präsent wie der Sprecher in seiner Rede. In einfad1en Handlungen, die keiner vorbereitenden Handlung bedürfen, um ausgeführt werden zu können, fällt der Sinn (noema) weitgehend mit der Intention (noesis) zusammen oder überschneidet sich mit ihr. Bei komplexeil Handlungen jedoch sind. einige Handlungssegmente so weit vom ursprünglichen Ausgangspunkt - von dem man behaupten könnte, daß er die· intention des Akteurs ·bezeichnet - e~tfernt, daß die Zuschreibung dieser Handlungen oder Handlungssegmente ein schwieriges Problem aufwirft. Dieses Problem ist zumindest ebenso schwierig, wie die Bestimmung der Urheberschaft in literarischen Kontroversen. Der Autor wird mehr oder weniger lückenhaft erschlossen; dieser Vorgang ist dem Historiker wohlvertraut, der die Rolle eines historischen Charakters aus dem.Lauf der·Ereignisse zu bestimmen sucht. Wir verwendeten gerade den Ausdruck »Lauf der Ereignisse«. Könnten wir nicht annehmen, daß dem, was wir den Lauf der Ereignisse nennen, ~. die Funktion der materiellen Grundlage zukommt, auf der der sich sonst verflüchtigende Diskurs fixiert wird? Wie wir schon auf eine metaphorische Weise sagten, sind einige Handlungen als Ereignisse zu betrachten, die ihre Spuren in der Zeit hinterlassen. Aber wo sind diese Zeichen eingeprägt? Ist es nicht etwas Räumliches, in dem der Diskurs fixiert wird ? Wie kann ein Ereignis in etwas Zeitliches e~ngeprägt werden ? Die »soziale Zeit« jedoch ist etwas, was sich nicht so leicht verflüchtigt ; sie ist auch das Medium dauerhafter Wirkungen, bleibender Strukturen. Eine Bandlung hinterläßt eine »Spur«, sie setzt ein »Zeichen«, wenn sie zur Entstehung solcher Strukturen und Handlungsmuster beiträgt, die Dokumente menschlichen· Handeins genannt werden können. Eine andere' Metapher könnte uns helfen, dieses Phänomen der sozialen »Prägung« besser abzugrenzen: die Metapher der »Aufzeichnung« oder der »Registrierung«. Joel Feinberg führt diese Metapher in seinem Buch »Reason and Responsibility« ein allerdings in einem anderen Kontext, in dem der Verantwortlich-
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keit, um zu zeigen, wie eine Handlung mit Verantwortung beladen ist. Nur Handlungen, sagt er, die für die Zukunft »registriert« werden können und die als ein Eintrag in jemandes »Bericht« erscheinen, müssen verantwortet werden. 4 Und wenn es keine formellen Aufzeichnungen gibt (wie sie durch Institutionen wie Arbeitsämter, Schulen, Banken und Polizei aufbewahrt werden), dann gibt es dennoch ein informelles Analogon dieser formellen Aufzeichnungen_~ ,w\r nepnen diese informellen Aufzeichnungen »Reputation«'>hermeneutische Zirkel« in nichts anderem als in der dargestellten_ Beziehung von Erklären und Verstehen und_ von Verstehen und Erklären.
Anmerkungen 1 Anthony Kenny, Action, Emotion and Will, London 1963. 2 John Austin, How to Do Things with Words, Cambridge, Mass., 1962. 3 John Searle, Speech Acts, London 1969, S. 56 (deutsch: Sprechakte, Frankfurt a. M. 1971). . 4 J. Feinberg, Reason and Responsibility, Belmont, Calif. 1965. 5 Peter Winch, The I dea of Social Science, London 1958 (deutsch: Die Idee der Sozialwissenschaft und ihr Verhältnis zur Philosophie, Frankfurt 1966). 6 Eric D. Hirsch, Validity in Interpretation, New Haven, Conn., 1967, S. 25: »The act of understanding is at first a genial (or a mistaken) guess and there are no methods for making guesses, no rules for generating insights ; the . methodological activity of interpretation commences when ~e begin to test and criticize our guesses.« Und weiter: »A mute symbolism may be construed in several ways.« 7 Paul Rica:ur, Le conflit des interpretations, Paris 1969 (ed. Anm.). 8 Immanuel Kant, Die Kritik der Urteilskraft, 1790 (ed. Anm.). 9 Karl Popper, The Logic of Scientific Discovery, New York 1959 (deutsch: Logik der Forschung, Tübingen 1966 ). 10 H. L. A. Hart, >>The Ascription o~ Responsibility and Rights«, in: Proceedings of the Aristotelian Society-49 (1948), S. 171-194. 11 Vgl. Jan M. Broekman, Strukturalismus, Freiburg und München 1972 (ed. Anm.). 12 Claude Levi-Strauss, Anthropologie Structurale, Paris 1958, S. 233 (deutsch: Strukturale. Anthropologie, Frankfurt a. M. 1967).
Michael Polanyi Sinngebung und Sinndeutung Ich möchte hier untersuchen, wie wir unseren Aussagen Bedeutung verleihen und wie wir vernommener Sprache Sinn geben. Ich werde zeigen, daß es sich dabei um Akte handelt, die ungeachtet ihres informalen Charakters eine charakteristische Struktur besitzen, welche ich die >Struktur · unausdrücklichen Erkennens< nennen werde. Ich werde zeigen, daß eine solche Struktur zu bilden gleichbedeutend ist mit der Verleihung von Bedeutung. In beiden Fällen, wenn wir unseren eigenen Äußerungen und den Äußerungen anderer Bedeutung geben, handelt es sich um Akte unausdrücklicher Erkenntnis, und zwar um Sinngebung und Sinndeutung. Meine Untersuchung bezieht sich auf die Gesamtstruktur der Sprache, ebenso auf die formalen Strukturen, die durch die moderne Linguistik mit Erfolg aufgewiesen worden sind, als auch auf die informale semantische Struktur, die bisher vor allem Gegenstand der Philosophie gewesen ist.
(1) D{e Trias der unausdrücklichen Erkenntnis Unausdrückliche Erkenntnis verknüpft drei Koeffizienten: eine Trias. Diese Trias ist der Trias der stoischen Logik verwandt: Für die Person A bedeutet das Ding B ein Objekt C. Anders gesagt: Eine Person A gibt dem Wort B die Bedeutung des Objektes C, oder auch: Die Person A vermag das Wort B in einen Zusammenhang mit Beziehung auf C zu integrieren. Ein Ding B in einen Zusammenhang mit Beziehung auf C zu integrieren heißt, B eine Bedeutung geben, welche sich auf C bezieht. Eine offenkundige Beziehung dieser Art besteht in der Verweisung von B auf C. Nehmen Sie einen Vortragenden, der mit seinem Finger auf ein Objekt zeigt und das Publikum auffordert: Sehen Sie dorthin. Das Publikum wird dem Zeigefinger folgen und auf das Objekt blicken. Es besteht eine grundsätzliche Differenz zwischen der ATt und Weise, in der wir unsere Aufmerksamkeit auf den Zeigefinger und auf das Objekt richten. Das Objekt steht im Brennpunkt 118
unserer· Aufmerksamkeit, während der Finger nicht im Brennpunkt gesehen wird, sondern als ein Hinweis auf das Objekt. Diese richtungweisende oder vektöriale Art, dem Zeigefinger zu folgen, werde ich unsere >Hilfswahrnehmung< des Fingers ne_n~ nen. Es ist unsere >Hilfswahrnehmung< des Fingers, wdche ihm eine Bedeutung gibt: eine Bedeutung, welche auf das Objekt hinweist. Die bedeutungsvolle Beziehung eines Hilfsdinges zu dem Brennpunkt der Aufmerksamkeit wird durch eine Aktion der Person gebildet, indem diese das Hilfsding auf das Brennpunktobjekt integriert. Diese Beziehung dauert an; sofern die Person diese Integration aufrechterhält. · Zusammenfassend ist- zu sagen, die Trias unausdrücklichen Erkennens besteht in Hilfsobjekten, die sich auf die Dinge um einen Brennpunkt beziehen, kraft einer von einer Person vollzogenen Integration. Wir können auch so sagen, daß wir im unausdrücklichen Erkennen von einem oder mehreren Hilfsdin...: gen aus unsere Aufmerksamkeit auf einen Brennpunkt richten, auf den diese Hilfsdinge zu verweisen bestimmt sind.
(2) Verschiedene Typen unausdrücklichen Erkennens Betrachten wir nun eine Reihe verschiedener Fälle, in denen wir diese Bedeutungsstruktur unausdrücklichen Erkennens vorfin-_ den. a) Nehmen wir die praktische Geschicklichkeit. Hier finden wir eine Reihe elementarer Bewegungen, die zur Erfüllung eines· gemeinsamen Zweckes integriert werden. Diese Elemente bilden die Hilfsmittel jenes zentrierten Aktes. Wir richten unsere Aufmerksamkeit von ihnen aus auf ihr integriertes Resultat; dies ist ihre Bedeutung. Unser Wissen um diese Bedeutung ist also gewissermaßen ein >Von- au/WissenBedeutung< jener Gesichtszüge. 119
c) Unser nächstes Beispiel bildet die Orientierung im Dunkeln mit Hilfe eines Stockes. Der Impuls, der vom Ende des Stockes in unserer Hand auf diese ausgeübt wird, dient dazu, die Lage des Objektes zu empfinden, welches durch das entlegene Ende des Stockes berührt wird. Tatsächlich spüren wir die Impulse, die auf unsere Handfläche und die Finger ausgeübt werden, als wären sie dort, wo der Stock sein Objekt berührt. Mit anderen Worten, der Berührungsimpuls, der- auf unsere Hand ausgeübt wird, hat die Bedeutung einer bestimmten Position des Objektes, und zwar des Ortes, wo der Stock das Objekt berührt. Sinngehung bewirkt hier .. Verlagerung von Wahrnehmungen von der eigenen Hand aufden äußeren Punkt, den der Stock berührt. d) Wir können schließlich den Fall einer geistigen Geschicklichkeit nehmen. Ein Schachspieler erkennt beim Schachspielen die Art und Weise, in der die Schachfiguren insgesamt auf seine Chancen verweisen, das Spiel zu gewinnen. Dies ist die zusammengefaßte Bedeutung der Schachfiguren für den Schachspieler, sofern er aus ihrer Stellung die Wahl für seinen nächsten Zug unmittelbar erschließt. :Oie Integration der Figuren bewirkt einen Schluß von deren Stellung auf den Zug.
· (3) Die Erkenntnis unseres Körpers als Beispiel
der unausdrücklichen Erkenntnis In all unseren Wechselwirkungen mit der uns umgebenden Welt gebrauchen wir unseren Leib als Instrument. Dieser Gebrauch ist von der Art einer Geschicklichkeit. Wenn wir unsere Augen auf ein sich bewegendes Objekt fixieren und zu erkennen suchen, was es für uns darstellt, so ist dies eine aufmerksame, von Intelligenz bestimmte Operation. Diese interpretiert Dutzende .von Seh- und Erinnerungsmethoden, von Muskularempfindungen usw., die als Schlüssel einer einheitlichen Wahrnehmung · dienen. Dies gilt für alle Beispiele unausdrücklichen Erkennens, die ich aufgezählt habe : all diese beruhen auf einer bedeutungsvollen Integration unseres Leibes und. der von ihm gespürten · Empfindungen. Es ist auf diese Art und Weise, daß wir gewöhnlich unseres eigenen Körpers gewahr werden. Unsere inneren Teile spüren wir direkt nur dann, wenn wir Schmerzen empfinden, und auch die 120
äußere Erscheinung unseres Körpers wird nur selten direkt von uns betrachtet. Es ist die hilfsweise Empfindung unseres Leibes, die uns diesen als unseren eigenen Leib spüren läßt. Dies ist die Bedeutung, die unser Leib gewöhnlich für uns hat. Dinge wie Kleider, Brillen, Geräte und Handwerkszeug funktionieren in ihrem Gebrauch wie unser Körper selbst und werden in diesem Falle wie dieser nur sehen direkt wahrgenommen. Wir spüren auch ein äußeres Objekt, wenn es hilfsweise funktioniert, analog wie unseren Körper selbst. Und daher können wir sagen, daß in diesem Sinne alle hilfsweisen Momente der Wahrnehmung sich im Inneren des Körpers befinden, in dem wir leben. Somit sind wir in allen hilfsweise ~rfahrenen Dingen selbst versenkt. Um zusammenzufassen: Bedeutung entsteht dadurch, daß Momente innerhalb oder außerhalb unseres Leibes als Schlüssel zur Wahrnehmung gebraucht und als solche zur 'Einheit einer Wahrnehmung integriert werden. Jede Bedeutung eines Äußeren geht darauf zurück, daß wir äußere Dinge hilfsweise wie unseren Leib selbst gebrauchen. Wir können sagen, daß wir diese Dinge >verinnerlichen< oder· auch daß >wir uns in sie versenkenweist< all dieses Weisen? Was >Vermuten< diese Vermutungen ? Sie weisen alle auf ein verborgenes Ziel : auf etwas noch nie Gesehenes. s·ie sind eben Werke der Einbildungskraft. Und das zeigt uns auch, woher all diese glücklichen Einfälle des begabten Forschers stammen. Er verdankt sie der Macht der Einbildungskraft, die auf unausdrückliche Weise. die Mittel ihrer eigenen Verwirklichung hervorbringt. . Ich habe dies schon erklärt. Das Prinzip, das allen heuristischen Errungenschaften zugrunde liegt, ist die Macht der vorstoßenden Ein~ildu.ngskraft, die ihre fehlenden Hilfsgründe hervorruft. Ich hoffe dies auch, zumindest andeutungsweise, belegt zu haben. Das ist alles, was ich hier mit fester Überzeugung über die 132
Erwerbung der Sprache durch das Kind zu sagen vermag. Ich halte es für festgestellt, daß es unmöglich, ja sinnwidrig ist, den Vorgang der Entdeckung und Erfindung in Wissenschaft und Technik durch explizite Vorschriften erklären zu wollen. Ich anerkenne daher ohne Überraschung Chomskys These, daß der ähnliche Vorgang der Spracherwerbung ebenfalls nicht durch explizite Operationen erklärbar ist. Und da mir das schöpferische Werk von Wissenschaft und Technikaufgrund des Prinzips von der Selbstverwirklichung der. Einbildungskraft erklärbar erscheint, so schließe ich daraus, daß das Problem der Spracherwerbung nunmehr ebenfalls prinzipielllösbar sei. Es wäre leicht, auf die unaufhörliche Aktivität kindlicher Einbildungskraft hinzuweisen und sich ein Bild von der kindlichen Sprachentwicklung zu machen, das meinen Ideen entspräche. Aber ich glaube nicht, daß es zur Zeit von Nutzen wäre, diese Möglichkeiten hier zu verfolgen.
Anmerkung
1 Vgl. meinen Aufsatz Schöpferische Einbildungskraft in der Zeitschrift für philosophische Forschung hrsg. von G. Schischkoff, Jahrgang XXII, Meisenheim 1967/68.
Helmuth Plessner Der Aussagewert einer philosophischen Anthropologie Moden kennt, wie man weiß, auch die Wissenschaft, und vielleicht in noch höherem Maße die Philosophie, von der Hege! sagen konnte, sie sei ihre Zeit in Gedanken gefaßt. Die philosophische Anthropologie scheint jedenfalls zu den zwanziger Jahren zu gehören, die für Deutschland eine Zeit gesteigerter Produktivität auf vielen Gebieten war, Nun wäre es ungerecht gegen die vielen Wesensbestimmungen des Menschen, die damals unter dem Eindruck der Schrift Max Schelers »Die Stellung des Menschen im Kosmos« aus dem Boden schossen, wenn man die Gründe für seine Wirksamkeit verkleinern wollte. Scheler arbeitete mit dem eingängigen Antagonismus von Trieb und Geist und fundierte das Ganze in einer Metaphysik der Person, die, wenn man so sagen darf, nach der göttlichen Person hin offen war. Der andere Autor, von dem die Zeit Notiz nahm, Heidegger und sein Buch »Sein und Zeit«, wehrte sich denn auch, in dieser Hinsicht unterstützt von Jaspers, gegen die Unterordnung der Frage nach dem Menschen unter eine biologische Anthropologie, eine empirische Disziplin. Daß die Sache aber auch für Heidegger nicht so einfach war, wie er bei jeder Gelegenheit bet~nte und mit großer Kunstfertigkeit unterstrich, daß auch heute die Akten nicht abgeschlossen sind, zeigt die subtile Untersuchung H. Fahrenbachs, »Heidegger und das Problem einer >philosophischen< Anthropologie«. 1 An Fahrenbachs dem Wort des Meisters folgende Darstellung werde ich mich zunächst halten.
I. Heideggers Sperrklausel Schon in ihren Anfängen schien eine philosophische Anthropologie von dem, was Heidegger· Daseinsontologie nannte, hoffnungslos überholt zu sein. Die Frage »Was ist der Mensch-?« kann in ihrer ganzen Schwere, so meint Heidegger, heute unter der Last einer jahrhundertelangen Tradition der Philosophie, die 134
von dieser Frage lebt und von jeher zu ihr getrieben wurde, nicht wieder aufgeworfen werden, wenn nicht zuvor die Frage nach dem Wörtchen »ist« geklärt wird. Die Frage nach dem Sein des Menschen reißt die Frage nach dem Sinn von »Sein« auf - nicht zu verwechseln mit der Frage nach dem Sinn des Seienden oder gar der Welt. " Insofern hat eine sogenannte Fundamentalontologie das absolute Prius. Nur sie kann das aufklären, was bei einer scheinbar direkt zu beantwortenden Frage sich unter dem »Was« und dem »Ist« versteckt. Das habe bisher noch keine Philosophie versucht, weshalb Heidegger ihr den etwas zweideutigen Vorwurf. der Seinsvergessenheit. macht. Da der Mensch in der Frage nach seinem »Was« und »Ist« offenbar nach sich selber fragt, gilt es, die Reflexivität, diese Rückbezogenheit in einer möglichen Antwort, wachzuhalten. Er darf nicht der Suggestion erliegen, daß es sich bei dieser Frage um· eine fremde Sache handeln könnte. Er selber fragt nach sich und nicht nach etwas, auf das ein der naturwissenschaftlichen Bildung entlehnter Begriff passen soll. Die üblich gewordene Kontrastierung des Menschen als einer zoologischen Spezies zum Tier operiert nach Heidegger nicht nur mit zwei unbekannten Größen, sondern täuscht eine Vergleichsmöglichkeit zwischen vorhandenen Größen vor, während es allererst darum gehen muß, den Menschen seiner Dinglichkeit zu entkleiden und ihn als einen, der nach sich fragen kann, in den Blick zu bekommen. Wenn die aristotelische Bestimmung des Menschen als eirtes Zoon logon echon der heutigen Neigung entgegenkommt, den Menschen als eirie besondere Art Lebewesen, mit der Gabe der Rede ausgestattet, zu. sehen, so stimmt das im Sinne der Erfahrung, die sich vom durchschnittlichen Verständnis der Worte leiten läßt. Was aber heißt Iogos, was -die Gabe seines Besitzes, ja, sogar seines Monopols? Um einer solchen Bestimmung mit unbekannten Größen zuvorzukommen, setzt Heidegger nicht beim Lebewesen oder bei dem vieldeutigen Leben an, sondern beim auf den J\1enschen eingeengten Begriff Dasein, welches dadurch ausgezeichnet ist, daß es ihm darum zu. tun ist, es ihm in ihm darum geht. Als solches »existiert« es, d. h. es ist sich erschlossen, versteht sich immer irgendwie auf etwas und als etwas. Zum Dasein, das der Mensch - und nur er - zu sein hat, gehört ein Horizont von Selbstverständlichkeit. Sein Können hält I
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sich jeweils in dem Rahmen dessen, als was oder. wen e,s sich versteht, gegebenenfalls sogar kunstvoll interpretiert. Daran als einem absoluten Prius für die Frage nach dem Menschen hat Heidegger immer festgehalten. Habermas zitiert Walter Schulz2 , dessen Analyse er zu den bemerkenswerten Ausnahmen zählt: »Schulz analysiert etwa die wichtige Dialektik der >Entsprechung< : wir können das Sein nur in· dem Maße denken und zur Sprache bringen, in dem das Sein selber ermöglicht und uns im Haus der Sprache wohnen läßt, mein mir nicht~ verfügbarer Seinssinn richtet mich erst in die Möglichkeit ein, in der ich ihm entsprechen kann.« Da zum Sein die Gesellschaft gehört, schon als Gegenspieler im Bereich der Verfügbarkeit, kann ein Marxist dem Heideggerschen Satz nur zustimmen, ob das Habermas oder der frühe Marcuse ist. Er ist im Konzept der Daseinsontologie mit eingeschlossen, d. h. spricht immer unter dem Horizont seines jeweiligen Könnens, worauf und als was er sich versteht. Von solcher Horizontverlagerung ins Dasein wird die methodische Haltung im Sinne der Busserlsehen Phänomenologie noch nicht berührt. Die · Orientierung am Vorverständnis von Worten als Vehikel zu dem, was die in ihnen gdaßte Sache meint, ist unabhängig vom Cliarakter der Rückgangsdimension da. Husserl geht es dabei um das transzendentale Bewußtsein, Heidegger sieht in ihm einen privativen Modus des Daseins. So gelingt ihm die Verbindung Busserls mit Dilthey im Zeichen lebenden Vorverständnisses, das befragt werden muß, einerlei, ob es sich um kulturelle Objektivationen eines hintergründigen Lebens oder um die Leistungen des Bewußtseins in der Konstitution von Seiendem handelt. Da Seiendes von der Art des Daseins sich auf den Sinn von Sein versteht- wohlgemerkt nicht losgelöst von seiner Geschichtlichkeit - so deckt sich der Horizont des Daseins mit dem der Geschichtlichkeit. »Dasein enthüllt sich zugleich als der durch und durch geschichtliche Charakter der Wahrheit, die als der offene Horizont aus der Welt des Menschen hervorgeht- die Wahrheit hat einen Kern aus Zeit>Logischen Untersuchungen« erschienen- bei Gelegenheit seines Besuches mit den Worten vorstellte: »Darf ich dir den größten Philosophen seit Hege! bringen?«, schien diesen Platz nach Erscheinen von »Sein und Zeit« seinem Schüler überlassen zu müssen. Denn die Wirkung war nur mit der von Hegels Phänomenologie des Geistes zu vergleichen. Hier fand sich die totale Entsicherung der Epoche gespiegelt. Die Krankheit zum Tode, di~ Vergänglichkeit des Menschen bekam den alles relativierenden Aspekt der Geschichdichkeit. Die Theologie des persönlichen Gottes entfärbte sich in die Ontologie vom Sinn des Seins, das sich auch als Sinn einer bloßen Vokabel verstehen läßt, und als »Sinn von Sein« oder Ist der Konkurrenz mit den großen Weltdeutungen ausweichen und ihnen auch noch Seinsvergessenheit vorwerfen kann. »Denn daß die Seinsweise des Menschen grundlegend durch die (freilich sprachvermittelte) Erschlossenheit des Daseins (d. h. durch Seinsverständnis) ausgezeichnet und ermöglicht ist, muß in der Tat als die ontologische Grundbedingung des Menschseins ... angesehen werden.« 4 Husserl warf, bei allem Respekt, dieser Daseinsontologie Anthropologismus vor, wogegen Heidegger sich immer wieder wehrte. Er wollte seine Fundamentalontologie am Leitfaden menschlicher Daseinsweisen und ihrer Ortung im Dasein als der Frage nach dem Sein nicht mit einer philosophischen Anthropologie verwechselt wissen. Aber wider Willen hält er dieser den Weg offen. 5 137
Man kann ver~tehen, daß dieses »den Menschen« an die Fraglichkeit des Seins selbst in seiner Fragwürdigkeit bindende Unternehmen jeden Versuch zu einer Anthropologie in seinen Bann zwingen mußte. Machte sie den Anspruch, philosophisch ZU sein, d. h. sich der Mittel der Wesensanalyse von Strukturen des Menschenhaften zu bedienen, so traf sie auf den Begriff des Existenzials als der spezifischen Bedingung der Möglichkeit, »Da zu sein« oder zu existieren. Die Weisen des Existierens selber charakterisieren Dasein ontisch-faktisch, Existenzialien dagegen transzendental. Dasein kann nur der Mensch, eine Auszeichnung, die ihn von bloßem Vorhandensein - worunter z. B. seine Lebendigkeit fällt unterscheidet. Als Dasein geht es ihm darum, es versteht sich als etwas - auf etwas, d. h. ist sich erschlossen. Existieren heißt in einer Sicht auf sich und Welt dasein, unter einem Horizont von Verständlichkeit oder Transparenz, die ein immer schon leitendes Vorverständnis manifestiert. Dieses Vorverständnis ist natürlich nicht an bestimmte, womöglich wissenschaftliche oder philosophische Auslegungen gebunden, sondern universal variabel wie die - als Antwort auf Heidegger konzipierte- »Lebenswelt« im Busserlsehen Sinn. Die Verklammerung von Mensch mit Welt- beide Termini nur als Indizes genommen - ist für eine philosophische Anthropologie, die den Winken Heideggers folgen will, ebenso entscheidend wie, daß sie sich von ihrer auf den konkreten Daseinsvollzug des Menschen gerichteten Frage aus der Ebene der Sorgestruktur und der Perspektive des Seinkönnens »nicht abdrängen läßt« 6 • In der Sorge meldet sich die Zeit, auf die man primär nicht blickt, etwa, um zu wissen, wie spät es ist, sondern in deren Richtung man zu blicken hat, will man Besorgtheit erfahren. Die Perspektive ist entscheidend, weil nur in ihr das Existieren in den Blick kommt und eingehalten werden muß als die Dimension, die einzig für die transzendentale Begründung des Menschseins zuständig ist. Nicht in einem »traditionellen Rückgang auf das ... Bewußtsein ... besteht Heideggers Wendung zum existierenden Dasein ... nicht etwa in der Preisgabe des ersteren, sondern .... gerade in dem Versuch, es als eine Möglichkeit ... ein Verhalten des Menschen ... aus der Seinsart des menschlichen Daseins· zu begreifen ... « 7 Die transzendentalphilosophische Linie KantH usserl wird eingehalten, nur wird ihre Rückgangsdimension als 138
einzig von de:r ·konkreten .Seinsart abgehobener· defizienter Modus verstanden. Das magere Bewußtsein überhaupt ma~ht dem fülligen Dasein Platz. »Damit wird die transzendentale Ontologie nicht etwa auf eine empirische Basis gestellt und dergestalt aufgehoben, sondern sie wird in ihre zugleich faktische und grundlegende (ontisch-ontologische) Voraussetzung zu.. kb ezogen ... «8 . ruc So wiederholt sich - nun aber auf dem Fundament eines faktischen Selbst - das doch k~ine Tatsache sein darf, die wundersame Konstitution alles Ontischen. überflüssig zu sagen, daß ein Rückgang solcher Art, der bis an die Grenze seinsverstehenden Daseins führt, »vor« alle Psychologie, Anthropologie oder gar Biologie führt und ihre Ansprüche auf eine Wesensbestimmung des Menschen entkräftet. Denn für Heidegger schließt die Bestimmung des Menschen als Lebewesen, die seines Menschenwesens aus. »Alle Anthropologie, auch die philosophische, hat den Menschen schon als Menschen gesetzt (Kant, S. 207) und damit die Voraussetzungen dieser Setzung aus dem Fragehorizont ausgeblendet.« 9 Zwei D.i.nge sind festzuhalten; · 1, Die Rückgangsdimension der transzendentalen Fragestellung wird nicht mehr in einem absoluten Ursprung von Seinsgeltung gesucht wie bei Kant und Busserl, »sondern im faktisch existierenden endlichen >Bewußtsein< selbst« 10 , das ein ontisches Fundament im Dasein. hat und sein defizienter Modus ist. 2. Dasein darf nach diesem Konzept nicht als »Leben« verstanden werden. Denn Leben charakterisiert zu vage auch organische Natur und entbehrt der Orientierung auf den Lebensvollzug mit seinem Können, seinem Müssen, seiner Sorge. Dem Wort Leben fehlt der Hinweis auf die Offenheit ins Kommende. Leben' als Lebendigkeit verführt zu theoretischer Interpretation ala Dilthey oder gar zu biologischer Begriffsbildung. Der erste, der an die Perspektive des zu lebenden Lebens in philosophischer Absicht, aber aus christlichem Impuls (gegen Hegel) wieder erinnerte, war Kierkegaard. Nur die Abwehr der Ontologie interessierte ihn. Der Nachfolger im Begriff aber sucht ihn für eine Ontologie fruchtbar zu machen und dieser, gelöst von jeder Glaubensbindung, gleichwohl den religiösen Impuls zu bewahren. Eine philosophisch sein wollende Lehre vom Menschen, die 139
existentiell nicht spurt und solcher Perspektive entbehrt, trägt das Stigma der Halbheit, wenn nicht gar des völligen Unverstandes. So brechen, da Heidegger keine ausgeführte Ontologie des Daseins geben wollte, nur die im beengten Horizont faßbaren Strukturen auf. Sie können zwar nicht für psychologisch gelten, haben aber nicht zufällig in der verstehenden Psychologie, Psychopathologie und Psychoanalyse wissenschaftliche Resonanz gehabt. Denn bei diesen Strukturen handelt es sich um etwas; womit sich die an Situation gebundene Person auseinandersetzt. Das schließt ihre Leiblichkeit in den Verstehenshorizont mit ein. Die transzendental-ontologische Analyse der Möglichkeitsbedingungen des Bewußtseins ist besonders von MerleauPonty . bis zur These von der konstitutiven Bedeutung de.r Leiblichkeit geführt worden, und Sartre hat seine Position zu einer ausdrücklich >>anthropologischen« weiterentwickelt. 11 , Aber das sind Weiterentwicklungen, um nicht zu sagen, Ableger von Heideggers Weg. Wenn aber Dasein die · Rolle eines ontischen-ontologischen Fundamentes spielen soll, welches die Möglichkeit transzendentaler Konstitution birgt, dann kann das Konstituierende nicht nichts', s-ondern muß etwas sein und seiend in der Art des Daseins. Man wird also einem F;1ktum konfrontiert, das keine weltlichreale Tatsache sein darf. Denn damit fußte die ganze transzendentale Dimension auf einer empirischen Basis, die im Sinne einer vorhandenen ja selber konstituiert ist. Der Mensche ist nie mir vorhanden, sondern - darf man das auch an dieser Stelle sagen? birgt Existenz, ist nicht nur innerweltlich, sondern konstituiert auch Welt. Das >>auch« gibt die Verlegenheit wieder, in die eine nur auf das Existieren konzentrierte Erfassung des Menschen sich fängt. Daraus befreit auch nicht die Erin.nerung an die zugleich ontisch-ontologische Verfassung des Daseins. Als .Faktisches besagt es eine Grenze für die kritische Bestimmung der transzendentalen Rückgangsdimension. Diese Rücksicht hebt das Recht auf die Charakterisierung des eben auch vorhandenen Menschen nicht auf. Wie kann ein Seiendes bestimmt werden, das dank seiner Sonderart zur Konstituierung seiner selbst mächtig ist? Empirisch kann sie nicht sein; darf aber die Blickrichtung im· Sinne der Existenz nicht verlassen. Wenn schon Merleau-Ponty und Sartre die Leiblichkeit für das Dasein als konstitutiv in Anspruch nehmen, wird eine Horizonterweite140
rung über das Dasein (nach der Sperrklausel Heideggers) hinaus in Richtung des Lebens unvermeidlich. Der Mensch kommt in seinem-Vorhandensein »in den Blick«.
II. Leben birgt Existenz Wie muß Leben gedacht werden, das so etwas wie Existenz da sein läßt oder birgt? Dem wirklichen Menschen mit allen Attributen einer Entwicklung von der Geburt bis :zum Tode eignet das Existieren als Müssen und Können. Wie ist solche Eignung zu denken ? Denn denken muß es sich doch lassen, da es von der Erfahrung bezeugt ist. Die mühevolle Sicherung der existentiellen Daseinssphäre erfolgt ja nur in Abgrenzung gegen das wirkliche Leben in seinem Vorhandensein. Wenn Heidegger »Dasein (Mensch)« sagte, so lenkte er die Frage nach dem Menschen in die Richtung der Frage nach dem Sinn von Dasein und unterstellt sie damit der Frage nach dem Sinn von Sein schlechthin. Anthropologie setzt so Fundamentalontologie voraus und soll auch auf dem Wege zu ihr sein. Wenn man nicht in den Bannkreis solchen Argumentierens geraten und die ontologische Vorprägung vermeiden will, bietet sich das Wo.rt Leben an, das für spezifisch Menschliches wie Außermenschliches in gleicher Weise gebraucht wird. Von einer Vorentscheidung zugunsten eines biologischen Lebensbegriffs ist damit noch keine Rede. Nicht ohne Grund hält sich der Lebensbegriff offen gegen Sein und Werden. Aber er kann sich ebensogut schließen, um den Kampf eines Menschenlebens zu fassen sowie seine natürliche Genese und Nekrose, die es mit tierischem Leben verbindet. . Existieren kann nur, wer lebt, auf welchem Niveau immer. Sich dagegen zu sperren und Leben auf einer seiner Möglichkeiten, nämlich existieren, zu fundieren heißt den Einsatz der Frage des Menschen nach sich selber uin dieser Selbstbezüglichkeit willen als die einzige legitime Direktive für eine Anthropologie in philosophischer Absicht gelten zu lassen. Man kann aber auch bei den Wesenskriterien der Lebendigkeit einsetzen und nicht wie Heidegger die Frage vom Frager her, sondern im Gesichtskreis des Lebens, gewissermaßen von unten her aufrollen. Oder gilt der Satz nicht mehr: Homo est quomodo omnia? 141
Ruht die Existenzdimension dem physischen, an den Körper gebundenen Leben nur auf? So haben alle, immer wieder erneuerten Traditionen der Philosophie gedacht und damit das Problem in eine fatale Nähe zum psychophysischen Realismus oder Parallelismus gebracht. Oder · entschließt man sich zur Identitätsthese? Kein Modell kann befriedigen, denn Existenz durchherrscht die ganze Person und überspielt jede Art von Auseinanderfallen in Psyche und. Physis. Vielmehr lautet die Frage : Was macht es einem körperlichen Leib möglich, eine Existenz vorhanden sein zu lassen? Man darf sich von der seinsnahen Wucht der Wörter Angst, Sorge, Geworfenheit, Sein zum Tod nicht darüber täuschen lassen, daß sie zwar Perspektiven der Existenz besagen - in ihrer Faktizität - aber die aufgeworfene Frage nicht hören. Dazu bedarf es eines anderen Ansatzes, der sich vom vorgeblichen Primat der Frage nach dem Sinn von Sein nicht beirren läßt. Unter der Direktive des fundamentalontologischen Problems bleibt man der Interpretation phänomenologischer Strukturen als Sinnstrukturen verhaftet, die ihre Schwere aus der Nachdrücklichkeit des Begriffs Dasein beziehen. Diese in Heideggers Rahmen legitime Interpretation und Seinsverhaftung muß rückgängig gemacht werden.. Phänomenologische Einsichten treffen auf ein Was im Horizont eines verbalen Ausdrucks. Er leitet das, was jeweils »schon immer~ unter dem Ausdruck verstanden wird, was er spezifisch meint. Wesenseinsichten können ontologisch, etwa nach dem Vorgang Platons, interpretiert werden. Damit wird man ihm allerdings eine Verdinglichung der Idee nicht anlasten dürfen. Sie droht immer, wenn sie für sich isoliert genommen wird. Husserl erkannte früh die Gefahr und lokalisierte sie im Bewußtsein überhaupt. Heidegger faßte diese Sphäre als defizienten Modus des Daseins bei voller Beibehaltung der transzendentalen Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit. Sie bleibt auch uns maßgebend. Die Frage lautet: Welche Bedingungen müssen erfüllt sein, damit die Dimension der Existenz von der des Lebens fundiert wird ? Existenz ist faktisch, darf aber nicht als ein empirisches Faktum verstanden !"erden, weil es sich dann selber konstituieren müßte. Mit dem Modell des Aufruhens der Existenzdimension auf der des Lebens gerät man in überholte Schwierigkeiten. So muß die These gewagt werden : Leben birgt als eine seiner Möglichkeiten Existenz. Heideggers 142
Argumentation gegen Husserl zugunsten der Verordnung des Daseins vor dem Bewußtsein muß nun auf das Dasein angewandt werden. Was fundiert Existenz? Wenn es keine Antwort geben kann, dann dürf!!n die Existenzcharaktere mit denen des Lebens nicht einfach zusammenfallen, aber auch ihnen nicht widerstreiten. Die Lösung scheint mir der 1928 konzipierte Begriff der exzentrischen Positionalität zu bieten. Er wurde in Unkenntnis von »Sein und Zeit« geprägt, das ein Jahr früher erschienen war, von mir aber begreiflicherweise nicht mehr in meinem Konzept mit verarbeitet werden konnte. Da sich in den letzten Jahrzehnten niemand mit der Frage befaßt hat- weil sie für Heidegger und seine Schule tabu war-, werde ich sie stellen, um sie auf eine Stufe der Reflexion zu bringen, die ich damals übersprungen hatte. Den Nachholbedarf haben die Gegner einer philosophischen Anthropologie aber immer bemerkt und ihn in den Vorwurf gekleidet, philosophische Anthropologie sei eben nicht philosophisch, und zwar, weil sie nicht wisse, was sie tue. Exzentrische .Positionalität versucht die Sonderstellung des Menschen als eines Lebewesens zu fassen. Leben im Sinne von belebt sein besagt Eigenständigkeit im Verhältnis zu dem Milieu, dem der belebte Körper angehört. Ein unbelebter Körper erleidet zwar Einwirkungen des Milieus, reagiert aber nicht auf sie, indem er sich eigenständig zu ihm verhält. Diesen Positionscharakter des belebten Körpers besagt Positionalität. Dem zentrischen Typus der Positionalität gehören alle tierischen Organisationen an. Ihre Austauschprozesse mit dem Milieu sind mittelpunktsbezogen, aber laufen - im Unterschied zum pflanzlichen Organisationstypus - über Zwischenschaltungen: Verdauung und Gedächtnis. In diesem Sinne hat die Pflanze kein Innen, wenn auch Reizbarkeit. Nur behält sie nichts und kann nichts assoziieren. Diese Möglichkeiten sind für freibewegliche Organismen, die auf Suchen und Finden angewiesen sind, unerläßlich, finden sich aber auch bei Tieren festsitzender Lebensweise wie etwa Aktinien oder Korallen. . Mit solchen typologischen oder, um es noch provozierender zu sagen: physiognomischen Charakterisierungen kann der Biologe wenig anfangen. Abgesehen davon, daß für ihn die starren Grenzen zwischen Pflanze und Tier fließend geworden sind ..:. bis auf Invariable wie etwa das Chlorophyll - wird die klare· Abgrenzung solcher Reiche klassischer Benennung im Gebiet der 143
Viren und Genstrukturen vollends fragwürdig. Trotzdem haben sie ihren Wert, ausgehend vom Untersuchungsmaterial der Biologie, versuchen sie nach den Bedingungen der Möglichkeit ihrer Gegenstände z'u fragen. Das geht einer Wissenschaftstheorie und Methodenlehre der Biologie voran, welche ihre Arbeitsweise zum Gegenstand hat. Sie orientiert sich an der vorwissenschaftliehen Erfahrung des Biologen und fragt nach dem Sinn dessen, was unter Begriffen wie Pflanze, Tier und Mensch in der Alltagswelt verstanden wird. Das heißt, sie ist phänomenologisch. Fonrial deckt sich das Verfahren mit so weit auseinanderliegenden Analysen wie denen einer Hedwig Conrad-Martius und Heideggers, soweit beide Phänomenelogen im Sinne Husserls sind.· Nur mit dem Unterschied, daß die Erstgenannte eine nichtreflektierte Wesensanalyse gibt, während Heidegger, aufbauend auf dem späteren Husserl, transzendentale ~trukturen auf ein das Bewußtsein einschließendes Dasein bezieht. Trotz dieser Divergenz eint beide das materiale Apriori, das so weit reicht wie der verbale Ausdruck, mit dem eine Sache zu Wort kommt. Die Sprache ist das Haus des Seins. Wir können uns ihrer nur so weit bemächtigen, als sie uns dazu ermächtigt. Nur bleibt fraglich, ob Sache im Horizont der Sprache, d. h., diekraftder Verbalisierung gemeinte Sache, 'Sein oder Seiendes manifestiert.
III. Zum materialen Apriori Wir unterbrechen die bisherige Erörterung des Tierhaften, um ihren phänomenologischen Charakter zu verdeutlichen. Husserl ist zwar nicht der Entdecker des materialen Apriori, wohl aber der erste, der von ihm einen ausdrücklich methodischen Gebrauch macht. Phänomenologische Forschung sollte als Grundlegung einer Philosophie betrieben werden, die als strenge Wissenschaft auftreten kann. Diese Zielsetzung . verrät den Mathematiker, der vom stetigen Fortgang einander überholender, bestätigender und eliminierender Einsichten überzeugt ist. Ob dazu aber die - gewiß methodische - Handhabung der Epoche ausreicht, ist fraglich. Sie dient dazu, Urteile über Wirklichkeit. oder Unwirklichkeit außer Kraft zu setzen, garantiert aber in ihrer positiven Funktion des zum Sehen-Bringens einen stetigen 144
Fortgang von Ergebnissen nicht. Damit soll nicht die Legitimität der phänomenologischen Praxis in Zweifel gezogen werden, sondern nur ihre Fähigkeit zur Gewinnung von Ergebnissen, die aufbewahrt werden können und auch müssen, soll sich so etwas wie ein Fortgang an ihnen zeigen. Das materiale Apriori, wie es z. B. Scheler für seine materiale, gegen den Kautischen Formalismus gerichtete Wertethik hantierte, darf natürlich nicht mit Kants synthetischen Urteilen a priori verwechselt werden. Diese sollen. eine Erweiterungsmöglichkeit notwendiger Erkenntnisse im berechenbaren Bereich der Natur sichern. Unter Führung des Ideals strikter Kausalität- und in ihrem Rahmen hält sich Kants Auffassung messender Naturwissenschaft - war den synthetischen tJ rteilen a priori schwer beizukommen. Das hat sich durch die Physik der letzten 50 Jahre geändert. Bume ist ihr näher als Kant. Die forscherliehe Praxis rechnet mit Wahrscheinlichkeiten, nicht mit der klassischen Starre der Kausalität. Das materiale oder konkrete Apriori hat seinen platonischen Ursprung nie verleugnet. Idee und Eidos sind in die phänomenologische Praxis übergegangen, auch wenn ihr ursprünglicher metaphasischer Sinn durch Busserls transzendentale Wendung geschwächt worden ist. Der Charismas der Idee vom Substrat der Erfahrung - ein Vorwurf im Auge des Aristoteles, der auf dem Fundamenturn in re beharrt (Eidos morphe) hat - gegen Platons Warnung- stets der Verdinglichung des Eidos Vorschub geleistet. Wie weicht man ihr aus, ohne dem eidetischen Charakter Abbruch zu tun? Die Wendung Busserls zur Ortung eidetischer Gehalte im reinen Bewußtsein und die ihr folgende im: Dasein bringt nur ihre Loslösung vom »überhimmlischen Ort« zuwege, will aber und kann sie in ihrem Gehalt nicht tangieren. Heideggers Absicht, die in der Frage nach der Ortung manifest werdende Verlegenheit auf die nie gestellte Seinsfrage zurückzuführen, trifft die Verlegenheit, bietet aber mit dem Gedanken der Fundamentalontologie kein Mittel, ihrer Herr zu werden, so einleuchtend der Vorwurf der Seinsvergessenheit auch ist und in ihrem mitschwingenden Doppelsinn der Gottvergessenheit bleibt, so wenig helfen uns Existenzialien, Geschichtlichkeit des Daseins und Ektasen der Zeitlichkeit aus der genannten Aporie. Wohl hat die Ortung im Dasein statt im Bewnßtsein nachdrückli145
eher dem naiven Glauben an einen Topos hyperuranios der Idee und des Eidos entgegengewirkt und zu ihrer V ennenschlichung beigetragen. Deshalb aber stimmt Busserls Wort vom Anthropologismus Beideggers noch lange nicht. Beide meinen in Sachen des materialen Apriori dasselbe. Das materiale Apriori faßt die für irgendein Thema der Besinnung ja schon leitenden »vorgängigen« und insofern für das Thema konstitutiven Charakter, die das Thema möglich machen. Die frühe Phänomenologie trifft insofern Busserls und Beideggers Vorviurf zu Recht, als- sie mit der Idee einer Sache ihre Essentia in originär gebender Anschauung zu treffen sicher war, wenn nur die Epoche beachtet blieb. Das konnte zu offenbaren Ungereimtheiten führen. Die phänomenologische Absicht kann am Leitfaden der Frage nach dem Wesen allein nicht eingelöst werden. Das Wesen der Kohlensäure ist C02, das Wesen der Schwerkraft ist noch ein physikalisches Rätsel und das der lebendigen Substanz ein Arbeitsgegenstand der Biochemie. Gibt man aber der Wesensfrage die Form: Was meint man mit Leben im Sinne von Lebendigkeit, init Stoff und Körper, Gesinnung oder Reue bzw. ihren je spezifischen Charakteren?, dann vertraut man die Antwort nicht etwa der Spr;tchforschung an, sondern einer ihr vorgelagerten Dimension der Doxa mit Sachgehalt. Dieser ist geschichtlichem Wandel nicht entrückt, trifft aber zu der Zeit, in der er ohne Umschweife verstanden wird, etwas, das wir darunter verstehen bzw. immer schon verstanden haben, wenn wir ihn in lebendiger Rede gebrauchen. 12 Was bis in die Anfänge neuzeitlicher, am Experiment sich zunehmend orientierender Wissenschaft Ziel und Gegenstand der Episteme, des ersten Wissens, gewesen war, findet sich jetzt in den Bereich der Meinung verbannt. Nur bekommt die Doxa einen anderen Charakter als der bloßen, subjektiven, schwankenden Meinung. Sie sucht die von der objektiv ausgerichteten, an· Verifikation und Falsifikation gebundenen Wissenschaft (die sich eben nicht mit der alten, auf ewige . Prinzipien gerichteten Episteme deckt), unterschiedene, intersubjektiv vorri lebendigen Einverständnis getragene Lebenswelt in i4rem vorwissenschaftliehen Recht zu »retten«. Nur ändert sich durch diese Verlagerung am materialen_oder konkreten Apriori als solchem nichts. Es hat nach wie vor eine Leitfunktion, ob ich sie platonisch-aristotelisch für ein ontologi146
sches Indiz halte oder für Jranszendentale Konstitutionsbedingungen der Erfahrung, wie z. B. die Existenzialien Heideggers. Läßt man der phänomenologischen Forschung den vollen Ernst einer Methode, deren Ergebnisse freilich der Beziehung auf Erfahrung - wohlverstanden nicht der Bestätigung durch Erfahrung - bedürfen, so kann ihre Handhabung des materialen Apriori nicht unter den Aspekt des Fortschritts rücken. Man hat den Phänomenologen erster Stunde, Moritz Geiger, Pfänder, Conrad-Martius, auch Scheler, zu~ Vol"WJ.lrf gemacht, daß sie Busserls transzendentaler Wendung seit den »Ideen« von 1913 nicht gefolgt sind. Scheinbar zu Recht, denn die Gefahr der »Bilderbuchphänomenologie« lag auf· der Hand. Wissen, was man tut, war das Motiv, das Husserl aus der eidetischen Deskription zur »Wiederentdeckung des transzendenten Nordpols« (Adorno) des Bewußtseins überhaupt führte. In seinen Spuren blieb Heidegger und - als An~ort auf ihn - das Konzept der Lebenswelt. Darf man in diesem Fortgang einen Fortschritt sehen, .der die frühere Handhabung der Methode überholt hat und außer Kraft setzt ? Wenn dem so wäre, hätte schon die Daseinsontologie gegen Husserls Konzept_ der Lebenswelt eine Barriere errichtet und widerspräche in ihrer Ablehnung des wissenschaftlichen Portschrittsgedankens sich selbst. Das materiale Apriori, Brücke zur Empirie, präferiert keine Deutung. Das macht freilich den Gedanken eines Fortschritts in der Philosophie zweifelhaft, wenn nicht unmöglich. Wohl gibt es bei festgehaltener Ausgangsbasis Gemeinsamkeiten im Fortgang: von Platon zu Aristoteles, in der Scholastik, von Descartes zu Spinoza, von Fichte zu Hegel. Gleiches läßt ~ich auch für die .phänomenologische Bewegung sagen. Aber die Ausgangsbasen unterliegen selber dem jew:eils maßgeblichen WahrheitsideaL Handlungen und Deutung des Apriori müsset} für Epochen, welche Philosophie mit ewigen Dingen befaßt sein lassen, die vom Wissen unabhängig sind, grundsätzlich anders sein als Epochen, denen das Rückgtat der Aeternitas fehlt. Heute dominiert das Wahrheitsideal der Verifikation und Falsifikation durchs Experiment im Rahmen möglicher Erfahrung. Die Essentialien stehen nicht mehr für sich, einerlei, ob .man von ihnen Notiz nimmt oder nicht, sondern verwandeln sich - unter dem Druck der Erfahrung - in Bedingungen ihrer Möglichkeit. ·so als Transzendentalien im Kanti147
sehen Sinn, wenn auch nicht auch Kautischern Zuschnitt, zeigen sie ihre Lebensfähigkeit in der phänomenologischen Forschung.
IV. Die Verschränkung von Leib und Körper als Schlüssel zur philosophischen Anthropologie Mit der Besprechung des Begriffs der exzentrischen Positionalität nehmen wir den Faden des Themas der Kriterien der Lebendigkeit,. insbesondere der tierischen Lebendigkeit, wieder auf. Was charakterisiert das Menschenhafte eines Lebewesens? Aufrechter Ga,ng, Großhirnentwicklung, Sprache, Hand, W erkzeugherstellung, Abstraktionsvermögen?· Offensichtlich besteht zwischen allen diesen Gaben und Funktionen eines zoologisch zu den Primaten gehörenden Wirbeltieres, das mit der Linneschen Bestimmung Homo sapiens seine Durchbrechung der Tierheit anzeigt, ein rein körperliche und unkörperliche Merkmale umfassender Zusammenhang. Dieser Zusammenhang kann nicht in der Ebene der einen oder anderen Merkmalsgruppe gefaßt werden, auch wenn man - sicher zu Recht - dem Großhirn die Führungsrolle unter ihnen zuspricht. Die Bezeichnung »exzentrisch« wahrt den Zusammenhang mit der bei den Wirbeltieren in steigendem Maße zum Ausdruck kdrnmenden zentrischen Lebensform und unterstreicht die im zoologischen Rahmen verbleibende und ihn sprengende Doppelnatur des Menschen, die nicht statisch zu fassen ist, sondern eine ständig zu durchlebende und zu vollziehende Verschränkung des Leibes in den Körper bedeutet. Die Sprache unterscheidet nicht immer scharf zwischen beiden Worten, weil beide Größen ineinander verschränkt sind, und zwar positional. Die Verschränkung wird in den spezifisch menschlichen Erscheinungen des Übermanntwerdens sichtbar. Hier lockert sich der innersomatische Zusammenhang zwischen Leib und Körper. Wir geraten außer uns : im Lachen und Weinen, il1J Affekt und in der Leidenschaft. Natürlich handelt es sich dabei um seelische und geistige Möglichkeiten, die nur· einem Lebewesen offenstehen, das zu sich in Opposition treten, mit sich und anderen eins seiri kann. Und nichts wäre unsinniger, als solche spezifisch menschlichen Möglichkeiten aus der positional 148
bedingten Verschränkung von Leib und Körper zu einer bloßen Ambiguität abzuschwächen, d. h. sie psychologisch zu sehen und dem Körper das Feld zu überlassen. Wer mehr darüber erfahren will, sei auf mein Buch »Lachen und Weinen« verwiesen. Die Verschränkung, die sich ansatzweise auch bei Anthropoiden sollte nachweisen lassen, darf nur als Indiz für die exzentrische Positionalität, den biologischen Charakter des Menschenhaften gewertet werden. Entscheidend bleibt : die innersomatische Trennung von Körper und Leib zwingt das Lebewesen exzentrischer Positionalität, sein Lehen zu leben, und erfüllt damit den Heideggerschen Begriff des Daseins. Es existiert- wobei die sonstigen dem Begriff zugemuteten Implikationen völlig offenbleiben. Die Verschränkung von Körper und Leib läßt sich also auch existentiell im Begriff des ambigu fassen, der durch MerleauPonty geprägt worden ist. Natürlich kann er auch Doppelsinn, Ambivalenz und Mehrdeutigkeit bedeuten. Wie viele Obersprungsbewegtingen verraten diese Wörter Verlegenheit. Das Umspringen von corps vecu- erlebtem Leib im Körper- ist nicht einem erkenntnistheoretischen Blickwechsel allein zu danken, sondern liegt in der exzentrischen .Position selber. Corps ist nicht nur Resultat einer Objektivierung, die dinghafte Komponenten der Verschränkung wird in Grenzsituationen des Übermanntwerdens offenbar. Vom lebendigen Leib dagegen lassen sich die für das Verständnis etwa des mimischen Ausdrucks zutreffenden Begriffe der Leib-Seele.:.Einheit und der psychophysischen Einheit gebrauchen. Nur für solche Erscheinungen sollten Begriffe von Klages und Merleau-Ponty gebraucht werden. Ein Lebewesen exzentrischer Positionalität hat zu existieren, sein Leben in die Hand zu nehmen und unter Einsatz aller seiner Möglichkeiten die Mängel auszugleichen, welche sein Positionscharakter mit sich bringt: Schwächung der Instinkte, Objektivierung bis zur Verdinglichung, Entdeckung seiner selbst. Sie sind auf die Formel der vermittelten Unmittelbarkeit zu bringen. Ihre Manifestation ist kulturelle Produktivität, welche, wie sich an aller Geschichte ablesen läßt, der Sicherung von gesellschaftlichen Einrichtungen dient, deren Auflösung sie dadurch heraufbeschwört. Ortlos, zeitlos ins Nichts gestellt, treibt sich das menschenhafte Wesen beständig von sich fort, ohne Möglichkeit der Rückkehr, findet sich immer als ein anderes in den Fügungen 149
seiner Geschichte, die es zu durchschauen, aber zu keinem Ende zu bringen vermag. Die menschliche Welt ist weder auf ewige Wiederkehr noch auf ewige Heimkehr angelegt. Ihre Elemente bauen sich aus · dem Unvorhersehbaren auf und stellen sich in Situationen dar, deren Bewältigung nie eindeutig und nur in Alternativen erfolgt. So stellt sich eine philosophische Anthropologie als Lehre von den Bedingungen der Möglichkeit eines menschenhaften Wesens der vollen Erfahrung in Natur und Geschichte. Ihr sind die Forschungen auf dem Gebiet der Vor- und Frühgeschichte ebenso wichtig wie die über keimesgeschichtliche und kindliche Entwicklung. Dem .Gesamtgebiet der Anthropogenese steht sie offen, die durch die Fortschritte der Genetik eine Aktualität gewonnen hat, an die weder Mendel noch seine Wiederentdecker in unserem Jahrhundert zu denken wagten. Nun wäre es unbillig, diese Offenheit zur Empirie gegen die Daseinsontologie Heideggers auszuspielen. Sie will in keine Anthropologie münden, sondern in die Frage nach dem Sinn des Seins. Das bringt sie zwar, wie Fahrenbach dankenswerterweise nachgewiesen hat, entgegen ihrer Absicht in unmittelbare Nähe zur Anthropologie, irt »Sein und Zeit« wie im Kant-Buch.·Doch weiß sich Hc;;idegg~r gegen vorschnelle Identifikation seines Vorhabens mit einer. philosophischen Anthropologie abzuschirmen - durch die Betonung des Primats der Fragen nach dem Sinn von Sein vor jeder Anthropologie. Und: »Die Bestimmung des Wesens des Menschen ist nie Antwort, sondern wesentliche Frage. 13 In diesem Punkte stimmt er mit Kant überein, der in der »Logik« die drei Fragen: Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen? zusammenfaßte in die Frage: Was ist der Mensch? Was der Mensch sei, wird also mit einem dreifachen was ich wissen kann, tun soll und hoffen darf, mit beschränkten Möglichkeiten also umschrieben, d. h. mit Daseinsvollzug in der Perspektive faktischen Seinkönnens. Da eine philosophische Anthropologie in unserem Sinne diese Frage zwar bedacht hat, sie aber in die umfassende Lebensperspektive mit einschließt und damit den Anschluß an die Erfahrung vom Menschen gewinnt, halte ich den Aussagewert einer solchen Anthropologie anderen, auch existenzialphilosophischen, für überlegen.
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An_merkungen 1 In: Durchblicke. Martin Heidegger zum 80. Geburtstag. Frankfurt a. M. 1969. 2 Philosophisch-politische Profile. Frankfurt a. M. 1971. 3 Vgl. Habermas, a.a.O., S. 80. 4 Fahrenbach (Hrsg.), Wirklichkeit und 'Reflexion. Walter Schultz zum 60. Geburtstag. Pfulüngen 1973. 5 Fahrenbach, a.a.O., S. 130/1. 6 Fahrenbach, a.a.O., S. 130. 7 Fahrenbach, a.a.O., S. 110. 8 Fahrenbach, a.a.O., s.-111. 9 Fahrenbach, a.a.O., S. 122. 10 Fahrenbach, a.a.O., S. 111. 11 Fahrenbach, a.a.O., S. 113. 12 Lothar Eley zitiert in seinem Buch Die Krise des Apriori in der transzendentalen Phänomenologie · Edmund Husserls (Den Haag 1962) aus Busserls Handexemplar von Sein und Zeit zu der Frage Heideggers: »An welchem Seienden soll der Sinn von Sein abgelesen werden . . . welches ist dieses exemplarische Seiende . . . ?«, seine Gegenfrage: »Kann es bei einer wesensallgemeinen frage den Vorrang eines Exempels geben?« (a.a.O., S. 137). Wird mit diesem Einwand Busserls gegen das Vorgehen Heideggers nicht aber die ganze phänomenologische Praxis in Frage gestellt, weil Wesen nur an ,einem als Beispiel genommenen Zufälligen aufleuchten kann?« · 13 Einführung in die Metaphysik. Zitiert nach Fahrenbach, a.a.O., S. 131.
George H. Mead Die objektive Realität der Perspektiven Des Idealismus grandioser Versuch, die Gesamtheit der Realität in die Erfahrung zu verlegen, ist gescheitert. Er scheiterte, weil er an der Vorstellung festhielt, die Perspektive des endlichen Ich sei hoffnurtgslos in die Subjektivität verstrickt und damit unwirklich. Demnach hätten die theoretischen und praktischen Lebensäußerungen des Individuums keinen Anteil am kreativen Fortschritt der Natur. Der Idealismus scheiterte außerdem deshalb, weil die wissenschaftliche Methodik - mit ihren Errungenschaften des Entdeckens und Erfindens - in seiner Dialektik keinen angemessenen Ausdruck finden konnte; er beachtete die beiden dominierenden Kräfte der modernen Zeit- das schöpferische Individuum und die schöpferische Wissenschaft- nur, um sie als Verfälschungen der Erfahrung des absoluten Ich zu verwerfen. Die Aufgabe, der Natur die Wesenszüge und Eigenschaften wiederzugeben, die eine Metaphysik des Geistes und eine Wissenschaft von Masse und Bewegung dem Bewußtsein zuzuschreiben sich gleichermaßen bemüht hatten, blieb so unerfüllt wie die, den Geist derart in der Natur anzusiedeln, daß die Natur in. der Edahrung wieder in Erscheinung treten konnte. Eine konstruktive Neuformulierung des Problems wurde von einer physiologisch und experimentell odentierten Psychologie vorgelegt, die »Geist« unlösbar an eine organische Natur band, was dann sowohl von der Naturwissenschaft als auch der Philosophie aufgegriffen wurde. Der Gewinn, den die Philosophie daraus zog, zeigt sich in der folgerichtigen Frage von William James: »Does >Consciousness< exist ?«. 1 Die Attacke gegen den metaphyschen Dualismus von Geist und Natur, der immer weniger tragbar geworden war, wurde in gemeinsamer Front vorgetragen von Bergsans evolutionistischer Philosophie, vom Neo-Idealismus, vom Neo-Realismus und vom Pragmatismus. Und doch läßt sich bisher nicht sagen, daß die .Position erfolgreich genommen sei. Ich möchte die Aufmerksamkeit auf zwei voneinander unabhängige Bewegungen lenken, die sich - wie mir scheint - einer Position von strategisch wichtiger Bedeutung nähern: man könnte sie die Objektivität von Perspektiven nennen. Diese beiden Bewegungen sind - erstens - die behavioristische Psychologie insoweit, als sie Kommunikation, 152
Denken und inhaltliche Bedeutungen, ebenso wie die biologische Psychologie tierische und menschliche Intelligenz, untrennbar mit--Natur verbindet, und - zweitens - ein Aspekt der von Professor Whitehead vorgelegten Phil