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UTe 2312
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Mare Philonenko
Das Vaterunser Vom Gebet Jesu zum Gebet der Jünger
aus dem Französischen übersetzt von Catherine und Karsten Lehmkühler Mit einem Geleitwort von Martin Hengel
Mohr Siebeek
MARe PHILONENKO, Mitglied des Institut de France, ist Ehrendekan der evangelisch-theologischen Fakultät Straßburg, an der er von 1960 bis 1999 den Lehrstuhl für Religionsgeschichte innehatte. Zusammen mit Andre Dupont-, Sommer ist er Herausgeber. der intertestamentarischen Schriften in französischer Übersetzung, die in der renommierten Reihe »La Pleiade« erschienen sind.
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Philonenko, Marc Das Vaterunser: vom Gebet Jesu zum Gebet der Jünger / Marc Philonenko. - Tübingen : Mohr Siebeck, 2002 (UTB für Wissenschaft; Bd. 2312) ISBN 3-16-147694-8 (Mohr) ISBN 3-8252-2312-4 (UTB)
Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »Le Notre pere. De la Priere de J esus ala priere des disciples« bei © Editions Gallimard, 2001. © 2002 }.C.B. Mohr (Paul Sieb eck), Tübingen, für die deutsche Ausgabe. Satz: Computersatz Staiger, Ammerbuch Druck: Hubert & Co., Göttingen
ISBN 3-8252-2312-4 UTB Bestellnummer
Geleitwort von Martin Hengel
Das Vaterunser ist wohl der bekannteste Text im Neuen Testament. Es wird von unzähligen Menschen gebetet und umspannt so den ganzen Erdball. In knapper Form faßt es die eschatologische Botschaft Jesu von der nahen, mit seinem Wirken anbrechenden Gottesherrschaft zusammen und ist zugleich Ausdruck seiner messianischen Vollmacht, seiner Gottesgewißheit, ja seines Sohnesbewußtseins. Im Laufe einer nun bald zweitausendjährigen Wirkungsgeschichte ist es vielfach ausgelegt worden. Als das Gebet eines galiläischen Zimmermanns wenige Jahrzehnte nach der Zeitenwende ist es geprägt von der Sprache und Gedankenwelt des zeitgenössischen palästinischen Judentums, es gewinnt jedoch zugleich überzeitlichen Charakter über alle Glaubensunterschiede und Konfessionen hinweg. Die neu entdeckten, beziehungsweise in ihrer Bedeutung neu erschlossenen jüdischen Texte jener Zeit, aus Qumran, aus der sogenannten intertestamentarischen Literatur, aus den aramäischen Übersetzungen des Alten Testaments, den Targumim, und aus der reichen synagogalen Gebetsliteratur können in vielfachen Brechungen ein Licht auf diesen einzigartigen Gebetstext werfen und dazu beitragen, ihn für uns heute aus seiner Zeit heraus auszulegen. Der Autor dieses Buches, Marc Philonenko, Professor emeritus der Universität des Sciences Humaines de Strasbourg, ist einer der besten Kenner dieser Literatur. Er hat sich mit dem Gebet J esu und der Urkirche und seinem sprachlichen und religiösen Hintergrund seit vielen Jahren beschäftigt. Der vorliegende Band ist eine Frucht dieser Arbeit. Professor Philonenko hatte vierzig Jahre, von 1960 bis zu seiner Emeritierung 1999, den Lehrstuhl für Geschichte der Religionen an der Fakultät für Protestantische Theologie-in Straßburg inne
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Geleitwort von Martin Hengel
und leitete lange Zeit das dortige international berühmte Centre de Recherches d'Histoire des Religions. Seine zahlreichen Veröffentlichungen zeigen ein breites Spektrum von der iranischen Religion über das antike Judentum, das frühe Christentum, den spätantiken Synkretismus bis hin zur Gnosis und zur neuplatonischen Mystik. Ein Schwerpunkt liegt auf den jüdischen Apokryphen und Pseudepigraphen sowie den Texten von Qumran. Zusammen mit seinem Lehrer A. Dupont-Sommer hat er 1987 diese Texte in französischer Übersetzung mit Kommentar herausgegeben: Ecrits Intertestamentaires, Bible de la Pleiade, tome III, Paris: Gallimard, jetzt 5. Auflage 1999, CXLIX/ 1905 Seiten. Der Umfang dieses Werks von weit über 2000 Seiten weist auf die Bedeutung jener Texte hin. Man möchte wünschen, daß die deutschen Bibelgesellschaften einen ähnlichen Zusatzband zur Bibel herausgäben. Er würde sicher viele interessierte Leser finden. Auf Grund seiner wissenschaftlichen Leistungen hat Professor Philonenko zahlreiche Ehrungen erfahren. Unter anderem ist er Ehrendoktor der Universität Uppsala und Mitglied der Academie des Inscriptions et Belles-Lettres in Paris. Seine Auslegung hat die vielfältige Literatur zum Thema in reichem Maße herangezogen und verarbeitet. Vor allem weiß er sich der deutschsprachigen Forschung verpflichtet: Die am meisten zitierten Autoren sind die Altmeister der Jesusforschung, Gustav Dalman (1855-1941) und dessen Schüler JoachimJeremias (19001979). Auf der Spur ihrer gelehrten Arbeiten legt er Wert auf philologische Gründlichkeit. Gleichwohl geht er oft bewußt eigene, ja gelegentlich eigenwillige Wege. Aber gerade sie können dem Leser neue Einsichten und der Forschung dringend benötigte Anregungen geben. Ich selbst habe das glänzend geschriebene Buch stets mit lebendigem Interesse, ja oftmals mit Spannung gelesen und bin durch dasselbe in reichem Maße belehrt worden. In Frankreich war die erste Auflage ganz rasch vergriffen. Die Übersetzung in mehrere Sprachen - u.a. Italienisch, Spanisch und Japanisch - ist in Vorbereitung. Dies zeigt, daß zentrale biblische Themen, die auf streng wissenschaftliche Weise behandelt werden, auch in einer weithin säkularisierten Gesellschaft eine breite Leserschaft ansprechen können. Philonenkos Buch ist ein Musterbeispiel dafür, daß eine recht verstandene theologische Wissenschaft sich über das Fach hinaus an eine interessierte Leserschaft wendet. Eben darum
Geleitwort von Martin Hengel
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wünschte ich, daß diese originelle Einführung in das Vaterunser und seine geistige Welt auch in deutscher Sprache zahlreiche Leser finden möge. Unser Dank gilt auch Herrn und Frau Lehmkühler für ihre vorzügliche Übersetzung in unsere Sprache. Tübingen, im Januar 2002
Martin Hengel
Inhalt
Geleitwort von Martin Hengel. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Vorwort.............................................
1
Einleitung .......................................... . Kapitel I: Die drei Du-Bitten und die drei Wir-Bitten .. . Kapitel 11: Die drei ersten Bitten des Vaterunser und der Qaddisch .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. Kapitel III: Die Anrede. . .. . . . . .. . . . . . . .. .. . . . .. . . ... Kapitel IV: Die erste Bitte: »Dein Name werde geheiligt!« Kapitel V: Die zweite Bitte: »Dein Reich komme!« .... . Kapitel VI: Die dritte Bitte: »Dein Wille geschehe!« .... . Kapitel VII: Die vierte Bitte .......................... . Kapitel VIII: Die fünfte Bitte ......................... . Kapitel IX: Die sechste Bitte ........................ . Die Doxologie .......................... . Kapitel X: Schluß Das »Gebet Jesu«, das Gebet der Jünger und das Vaterunser ...................... .
5 20 24
33 44
51 69 77 87
93 105 108
Anhang I. Übersetzung des Vaterunser, nach Matthäus 6,9-13 ...... 115 11. Übersetzung des Vaterunser, nach Lukas 11,2-4 ........ 115
Bibliographie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 117 Stellenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 129 Autorenregister. ...................................... 140
Vorwort Die Veröffentlichung dieses Buches über das Vaterunser erfordert einige Erklärungen und muß in den Zusammenhang der Forschung gestellt werden. Warum noch einmal - nach so vielen anderen - eine Erklärung des Vaterunser versuchen, als ob nicht schon alles gesagt worden wäre? Nun, in den letzten fünfzig Jahren hat sich das Quellenmaterial ganz außergewöhnlich erweitert. Die Entdeckung der Handschriften vom Toten Meer spielt eine entscheidende Rolle und muß deshalb zuerst erwähnt werden. Wir besitzen jetzt die große Bibliothek der Essener aus Palästina. Vollständige Rollen sowie Tausende von Fragmenten hebräischer, aramäischer und einiger griechischer Texte, die bis dahin oft ganz unbekannt waren, wurden in den Höhlen der Wüste Juda gefunden. Diese Dokumente waren sowohl für die Wissenschaftler als auch für die Laien eine echte Offenbarung. Als die Manuskripte von Qumran ans Tageslicht kamen, führten sie zu einer vollständigen Neubewertung der apokryphen und pseudepigraphischen jüdischen Literatur, deren Gebrauch bisher außerordentlich schwierig gewesen war. Die neu entdeckten Schriften und die schon bekannten Texte müssen nun in einem einzigen Korpus zusammengefaßt werden, den »intertestamentarischen Schriften«. Sie finden ihren natürlichen Platz zwischen dem Alten und dem Neuen Testament. Parallel zu dieser Entwicklung machte auch das Studium der alten aramäischen Übersetzungen der hebräischen Bibel, der sogenannten Targume, beachtliche Fortschritte. Es handelt sich hier um Texte von besonderer sprachlicher Vielfalt: Fachausdrücke, spezifischer Satzbau sowie das geistige Rüstzeug des Judentums an der Zeitenwende zeigen einen erstaunlichen Reichtum. Die spezialisierten, aber veralteten Wörterbücher können diese Fülle kaum ansichtig machen, weil sie ständig nur die gleichen, längst bekannten
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Vorwort
Zitate liefern. Die Konkordanzen - sofern überhaupt vorhandensind hier die besten Arbeitsmittel, aber sie ersetzen nicht die sorgsame Lektüre der Texte. Angesichts dieses veränderten Rahmens muß die gesamte Interpretation des Neuen Testaments neu aufgenommen werden. Die moderne Exegese sieht ihre Texte in diesem neuen Licht. Das Vaterunser ist einer der grundlegenden Texte des Christentums. Für ein angemessenes Verständnis der Anfänge des christlichen Glaubens ist keine Seite des Neuen Testaments wichtiger als dieses Gebet Jesu. Während es im engen Jüngerkreis ursprünglich auf Aramäisch gesprochen wurde, ist es uns in zwei Texten der Evangelien auf Griechisch überliefert. Diesem kurzen Gebet, vollkommen in seiner Art und von geheimer Tiefe, war eine außergewöhnliche Zukunft beschieden: Übersetzt in allen Sprachen der Erde, wurde das Vaterunser zu einer der bevorzugten Ausdrucksformen der Frömmigkeit unzähliger Generationen. Wie auch immer die Trennungen der Kirchen im Laufe der Geschichte ausgesehen haben, das Vaterunser galt den unterschiedlichen christlichen Denominationen als gemeinsames, untrennbares und unzerstörbares Gut. Man würde das Vaterunser gerne in eine allgemeine Geschichte des Gebets einordnen. Aber diese Geschichte ist nicht realisierbar. Eine Sammlung, die Gebete aller Sprachen, Zeiten und Orte vereinigen würde, ist noch nie erstellt worden, und auch dürre Anthologien können nicht vorgeben, ein solches Ziel erreicht zu haben. Eine Typologie des Gebets hingegen ist durchaus möglich. Man unterscheidet hier etwa das persönliche und das kollektive Gebet, das spontane und das kodifizierte Gebet, das gesprochene und das stille Gebet, das kurze und das ausführliche Gebet. Das Gebet ist in erster Linie ein Bittgebet, das an die Götter oder an Gott gerichtet ist. Es kann auch ein Dankgebet, ein Bußgebet oder ein Gebet in Not sein. Das Gebet kann mit einem Opfer zusammenhängen, einem solchen aber auch völlig fremd sein oder es schließlich sogar ersetzen. Auch die Absichten des Gebets müssen analysiert werden, unabhängig davon, ob es sich um ein Gebet für sich selbst oder um eine Fürbitte handelt. Ferner sind hier die Zeiten, die Orte und die Gesten des Gebets festzuhalten. Diese Kategorien, zu denen sich noch andere gesellen können, greifen nicht unbedingt in jedem Fall, man muß sie aber im Gedächtnis behalten.
Vorwort
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Der sicherste Zugang bleibt jedenfalls die philologische Methode. Sie allein ermöglicht es, den Sinn, die Herkunft und die Originalität der jeweiligen Formulierungen festzustellen, auch wenn dies vielleicht nur durch Vergleiche oder Konjekturen geschieht. Auf das Vaterunser haben sich zahlreiche Überlegungen der Theologen, die Forschung der Exegeten und das Interesse der Liturgen gerichtet. Der Ausleger ist heute so sehr von der Wolke der Glossatoren umgeben, daß man meinen könnte, die Interpretation des Vaterunser beschränke sich auf die Geschichte seiner Auslegung. Doch dies ist - so meinen wir - nicht der Fall. Es scheint uns im Gegenteil sogar notwendig, heute eine neue Auslegung des Vaterunser vorzulegen. Wie gewagt auch immer es sein könnte - nennen wir unser Ziel: dem ursprünglichen Gehalt des Vaterunser auf die Spur zu kommen. Wir sind also weit entfernt vom Skeptizismus, der bei zahlreichen Kritikern in Mode ist. Dieser Arbeit sind vorbereitende Forschungen vorausgegangen. Sie ist im Laufe der Jahre langsam zur Reife gekommen. Es schien uns nun die Zeit gekommen zu sein, diese früheren Forschungen wieder aufzunehmen und sie gleichzeitig zu erweitern, zu verbessern und anzupassen. Eine neu geschriebene Einleitung stellt das Vaterunser in den literarischen Rahmen der Evangelien und arbeitet den linguistischen und soziologischen Hintergrund heraus. Es sei deutlich gesagt, daß unsere Auslegung von einer neuen Hypothese getragen wird: Sie erkennt in den drei ersten Bitten des Vaterunser das Gebet J esu selbst, in den drei letzten Bitten hingegen das Gebet, welches J esus seine Jünger gelehrt hat. Diese U nterscheidung scheint uns grundlegend zu sein. Der Vergleich mit den jüdischen Gebeten, seien sie in Hebräisch, Aramäisch oder Griechisch verfaßt, zwingt sich auf. Das Vaterunser findet seinen Platz in diesem umfangreichen Korpus, unterscheidet sich aber gleichzeitig durch seine radikale Neuheit. Jede Formel des Gebets wird in einem eigenen Kapitel erklärt, unter Einbeziehung aller Varianten. Die Anrede des Vaterunser hat messianischen und nicht etwa »pietistischen« oder gar sentimentalen Charakter. Die drei ersten Bitten sind individueller und eschatologischer, die drei letzten gemeinschaftlicher Natur. Auch sie verweisen auf das nahe Ende der Zeit. Das Weggehen des Meisters machte es möglich, diese zwei unterschiedlichen Gebete in einem
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Vorwort
einzigen zu vereinen, einem Gebet, das reich an Kraft und Wirkung ist: das Vaterunser. Die Frage nach der Authentizität des Vaterunser ist insofern unangebracht. Jeder seiner beiden Teile geht letztlich auf J esus selbst zurück. Aber Jesus hat das Vaterunser nie in seiner Gesamtheit gesprochen. Das Schlußkapitel zeigt, wie die messianischen, eschatologischen und gemeinschaftlichen Elemente des Vaterunser sich bei seiner Formung harmonisch zusammengefügt haben. Trotz einiger Fachdiskussionen haben wir uns natürlich stets bemüht, für die gebildete Leserschaft, an die dieses Buch sich richtet, verständlich zu bleiben. Der Verfasser hat in Freiheit und nach bestem Wissen und Gewissen eine schwierige Frage behandelt. Er übergibt dem »wohlwollenden Leser« vertrauensvoll diese Studie auf der Grenze zwischen Religionsgeschichte und Exegese. Mare Philonenko
Einleitung 1 Das Vaterunser wurde uns auf Griechisch in zwei unterschiedlichen Formen innerhalb der Evangelien überliefert: ein langer Text in Matthäus 6, 9-13, ein kurzer Text in Lukas 11,2-4. Die beiden Formen unterscheiden sich im Wesentlichen durch die Anrede -»Unser Vater, der in den Himmeln ist« bei Matthäus, lediglich >,vater« im Vokativ bei Lukas -, ferner dadurch, daß die dritte Bitte und der zweite Teil der sechsten Bitte des matthäischen Textes bei Lukas völlig fehlen. Diese Unterschiede verlangen natürlich Erklärungen. Sie sind aber nicht bedeutender als andere Beispiele für die in den synoptischen Evangelien häufig anzutreffende Tatsache, daß dieselbe Überlieferung zweimal erzählt wird. 2 Man muß hier auch den Text des Vaterunser in der Didache erwähnen, einer liturgischen und katechetischen Schrift der alten Kirche. Dieser Text steht - mit kleinsten Varianten - dem Text des Matthäus sehr nahe. 3 Wir reden von einer matthäischen oder lukanischen »Form« des Vaterunser, denn beide Texte, die uns das Gebet übermitteln, sind nicht unabhängig voneinander. Ein Beispiel reicht aus, um dies zu 1 Die Übersetzungen der intertestamentarischen Schriften sind in den meisten Fällen zitiert nach der Edition von Dupont-SommeriPhilonenko, 1999; die Übersetzungen des palästinischen Targum zum Pentateuch nach Le Deaut, 1978-1981. [Fußnote der Übersetzer: In der deutschen Übersetzung werden die intertestamentarischen Schriften meistens zitiert nach den Editionen der Reihe»Jüdische Schriften aus hellenistisch-römischer Zeit«, die Qumranliteratur nach Johann Maier, Die Qumran-Essener. Die Texte vom Toten Meer, Bd. I-IH. Diese Übersetzungen wurden mit derjenigen des Autors verglichen und teilweise angeglichen.] 2 S. z.B. Matthäus 11,25-30 und Lukas 10,21f. 3 Didache 8,2. Vgl. Niederwimmer, 1989, 167-173.
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Einleitung
zeigen: der Gebrauch des griechischen Wortes EmoVmOt; in Matthäus 6,11 und in Lukas 11,3. Dieses Adjektiv, das moderne Übersetzungen meistens mit dem Ausdruck »täglich« wiedergeben, ist vor dem Vaterunser weder im religiösen noch im profanen Gebrauch der griechischen Sprache bezeugt. 4 Beim Hören oder besser noch beim Rezitieren des Vaterunser erweckt es den Eindruck einer ausgewogenen Zusammenstellung rhythmischer Formeln. Sogar in den Übersetzungen vernimmt man noch das Echo der vokalischen Endreime. So zum Beispiel in der lateinischen Vulgata: sanctificetur nomen tuum, veniat regnum tuum, fiat voluntas tua Dieses Verfahren wird in der hebräischen Bibel,5 in der »Sektenregel«,6 die in Qumran gefunden wurde, sowie in den Gebeten der Synagoge7 verwendet. J. Irigoin hat in einer präzisen Studie gezeigt, inwiefern die lukanische Form des Vaterunser auf die Zahl der Silben Rücksicht nimmt: Wir finden einundachtzig Silben im Gebet selbst und einundachtzig in den einleitenden Versen. Überdies zählt auch die Einleitung des Gebets bei Matthäus genau dieselbe Anzahl von Silben (81) wie bei Lukas. 8 Dieses Vorgehen ist Merkmal der mündlichen Rede und fördert das Auswendiglernen. Bei Matthäus gibt es sechs Bitten. Allerdings zählen einige Exegeten sieben Bitten, weil sie die letzte aufteilen. 9 Lukas kennt fünf Bitten, da bei ihm die dritte fehlt. Die Schlußdoxologie, die sich in einigen Handschriften in Matthäus 6,13 findet, gibt es bei Lukas nicht. Der Aufbau des Vaterunser offenbart sich schon beim ersten Rezitieren des Gebets. Als Ouvertüre fungiert die Anrede, die bei Matthäus ausführlicher ist als bei Lukas. Das Gebet selbst teilt sich Vgl. weiter unten, S. 77f. Z.B. Psalm 46, 4f u. 7-9. Vgl. Kuhn, 1950, 4f. 6 S. SektenregeI11,18-20. Vgl. Heinemann, 1977, 144. 7 Z.B. im Yö~er (Staerk, 1930,4; Birnbaum, 1990,71), oder im Hösa'nöt (Birnbaum, 1990, 679). Vgl. Kuhn, 1950, 5-26. 8 Irigoin, 2000. 9 So Fiebig, 1927, 24; Jeremias, 1966, 155 u. 1988, 190. 4
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Einleitung
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darauf in zwei Strophen. Die erste besteht aus drei kurzen, parallelen Bitten in der Du-Form, die zweite aus drei längeren, parallelen Bitten in der Wir-Form. Die drei Du-Bitten und die drei Wir-Bitten sind wie zwei Schalen einer Waage, ohne daß es allerdings möglich wäre, die jeweiligen Bitten der beiden Gruppen Wort für Wort einander zuzuordnen. Die Kritik bestätigt im allgemeinen die Teilung der Bitten in Du- und Wir-Bitten, ohne aber daraus andere als nur formelle Schlüsse zu ziehen. Wir werden sehen - und diese These ist neu -, daß die Unterscheidung zwischen den drei Du-Bitten und den drei Wir-Bitten die gesamte Exegese des Vaterunser bestimmen muß. Die Mehrzahl der Ausleger sind heute darin einig, daß die zwei Formen des Vaterunser auf ein aramäisches Original zurückgehen. lo Der aramäische Text des Gebets ist verloren gegangen, aber eine Spur der vierten Bitte hat uns Hieronymus überliefert. ll Der aramäische Ursprung des Vaterunser ist von grundsätzlicher Bedeutung. Die Wiederherstellung der aramäischen Vorlage hilft nicht nur, die Unterschiede zwischen der matthäischen und der lukanischen Form des Vaterunser herauszuarbeiten. 12 Sie ermöglicht auch, den ursprünglichen Sinn einer Redewendung zu erspüren oder manchmal sogar eindeutig wiederzufinden. 13 Das heißt natürlich nicht, daß der griechische Text des Vaterunser zugunsten einer hypothetischen Rückübersetzung ins Aramäische zu vernachlässigen wäre. Die Übersetzung des Vaterunser kann durch die Griechisch sprechendenJünger Jesu erfolgt sein, die aufgrund ihrer Nähe zum Meister ein klares Verständnis seiner Gedanken hatten. 14 Das Vaterunser ist bei Matthäus und bei Lukas in unterschiedliche Rahmen gestellt. Diese erhellen aber gerade den soziologischen Hintergrund und zeigen, in welches historische Umfeld das Gebet einzuordnen ist. 10 S. besonders Chase, 1891, 13; Burney, 1925, 112f; Dalman, 1930,283365; J ousse, 1944; Lohmeyer, 1952, 14-18; Kuhn, 1950, 32-40; J eremias, 1966, sM, 76; 1988, 190-195; Heinemann, 1977, 192; Grelot, 1984, 531-556; Cullmann, 1994,53; Gese, 1997,411-413. Vorbehalte bei Betz, 1995, 374f. Carmignac, 1969, spricht sich für ein hebräisches Original aus. 11 S. weiter unten, S. 80. 12 S. weiter unten, S. 87. 13 S. weiter unten, S. 3M. 14 Zur Kenntnis der griechischen Sprache, die einige der Jünger Jesu gehabt haben könnten, s. Hengel, 1996,29-31.
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Einleitung
Der Kontext bei Matthäus besteht in einer heftigen Auseinandersetzung zwischen J esus und den Pharisäern. Diese werden als »Heuchler« betrachtet, man wirft ihnen vor, daß sie gerne in den Synagogen und auf den Straßen beten, um von den Leuten bemerkt zu werden (6,1-8). Die Auseinandersetzung bezieht sich auf das Almosengeben (6,2-4), das Gebet (6,5-8) und das Fasten (6,1618).1 5 Das Vaterunser wird als Beispiel eines wahrhaftigen Gebets gegeben, welches im Verborgenen gesprochen werden soll (6,6). Der ursprüngliche Zusammenhang, in den es eingefügt wurde, enthielt also ein Wort über das Almosengeben, ein Wort über das Gebet und ein Wort über das Fasten. 16 Diese drei Worte Jesu tragen das Siegel der Authentizität. Die Polemik bleibt nicht ohne Analogie. Sie scheint die von den Essenern geführte Polemik gegen die Pharisäer fortzusetzen. Besonders der Ausdruck »Heuchler« nimmt die Vorwürfe gegen die Pharisäer in den Psalmen Salomos aufY Auch im Nahumkommentar,18 in der Damaskusschrift 19 und in den Hymnen,2o werden die Pharisäer als »die, die glatte Dinge suchen«, bezeichnet. Es ist nicht auszuschließen, daß J esus an dieser Stelle eine essenische Kritik des pharisäischen Gebetes wieder aufnimmt. J. Wellhausen hat sehr richtig gesehen, daß Jesus, wenn er in Matthäus 6,1 ausruft: »Hütet euch, eure Gerechtigkeit vor den Menschen zur Schau zu stellen«, mit dem Ausdruck »Gerechtigkeit« wohl nicht nur das Almosengeben, sondern auch das Gebet und das Fasten bezeichnet, ohne daß damit allerdings dem Tempelkult Raum gegeben würde. 21 Eine solche Kombination ist nun sehr Vgl. Thomasevangelium 6; 14. Bultmann, 1957, 141. 17 Psalmen Salomos 4,6 : "Gott rotte aus, die in Heuchelei leben«. Hinsichtlich eines essenischen Ursprungs der Psalmen Salomos vgl. unsere Beobachtungen in: Dupont-SommeriPhilonenko, 1999, LXXXII-LXXXV. Einige Autoren bleiben der These vom pharisäischen Ursprung der Psalmen Salomos verhaftet. Vgl. dazu Jeremias, 1988, 188, 144 Fußnote 11; Hengel, 1996,232. 18 Nahumkommentar 2,2; 2,7; 3,2; 3,4; 4,3; 4,M. Vgl. dazu Dupont-Sommer, 1963,201-227 [210-212]. Der Ausdruck »die, die glatte Dinge suchen« muß mit dem Untertitel von Psalmen Salomos 4 zusammengestellt werden: »Betrachtung Salomos über die Schmeichler«. 19 Damaskusschrift 1,18. 20 Hymnen 2,15; 2, 32; 4,10. 21 Wellhausen, 1914,24. 15
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Einleitung
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charakteristisch: Sie findet sich w'ieder in einer Passage des Buches Tobit: »Mehr wert ist das Gebet mit dem Fasten und das Almosen mit der Gerechtigkeit, als der Reichtum mit der Ungerechtigkeit«.22 Diese Zusammenstellung wird besonders bedeutsam, wenn man den essenischen Ursprung des Buches Tobit anerkennt. 23 Es sei daran erinnert, daß man in Qumran hebräische und aramäische Fragmente dieser deuterokanonischen Schrift gefunden hat. 24 Natürlich gehört dieses Buch nicht zu den esoterischen Qumranschriften. Es zählt zu einer Erbauungsliteratur, welche die Sympathie derjenigen Juden gewinnen soll, die der Sekte noch fremd sind. Die essenischen Lehren werden also im Verlauf dieses romanhaften Berichtes nur suggeriert und in Anspielungen erwähnt. Der Essenismus kann nicht auf die Sekte Qumrans reduziert werden. Neben dem Mutterhaus gab es in Palästina und anderswo zahlreiche essenische Gemeinschaften unterschiedlicher Größe. 25 Laut Flavius Josephus gab es einen anderen essenischen »Orden«, der sich vom Hauptorden getrennt hatte, weil seine Anhänger, aus Angst vor dem Aussterben der Menschheit, die Ehe nicht ablehnten. 26 Diesem dritten Orden der Essener sind neben dem Buch Tobit auch das Buch Judith27 sowie andere deuterokanonische Bücher2 8 zuzuschreiben, In diesem Milieu, abseits des Tempels, hatte sich eine neue Frömmigkeit entwickelt, die das Almosengeben, das Gebet und das Fasten eng miteinander verband. Durch den dritten Orden konnte sich das essenische Gedankengut in Palästina und darüber hinaus ausbreiten. 29 Ein anderes kommt hinzu: Jesus ist weit davon entfernt, die Teilnahme an den im Tempel oder in der Synagoge gesprochenen 22 Tobit 12,8. Wir zitieren die Lesart der griechischen Manuskripte 106 und 107 und der Vetus latina. 23 S. Dupont-Sommer, 1967-1968,411-426 [415]. 24 S. Beyer, 1994, 134-147; Fitzmeyer, 1995; Garcia Martinez/Tigchelaar, 1997,383-399. 25 S. Philo, Quod omnis pro bus liber sit, 75. 26 Flavius Josephus, Bellum iudaicum 2, 13, 160. 27 Philonenko, 1996. 28 Wir denken besonders an die Zusätze zum Buch Esther und zum Buch Daniel. 29 S. Le Deaut, 1982, 8f.
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Einleitung
Gebete zu empfehlen; er zeigt sich im Gegenteil als Verteidiger des persönlichen Gebets, das weit abseits der zudringlichen Blicke gesprochen wird: »Du aber geh in deine Kammer, wenn du betest, und schließ die Tür zu; dann bete zu deinem Vater, der im Verborgenen ist. Dein Vater, der auch das Verborgene sieht, wird es dir vergelten« (Matthäus 6,6). Vielleicht bezieht J esus sich hier unausgesprochen auf einen Vers aus Jesaja (26,20): Auf, mein Volk, geh in deine Kammern, und verschließ die Tür hinter dir! Verbirg dich für kurze Zeit, bis der Zorn vergangen ist. Ob man die Möglichkeit dieser Anspielung auf die Schrift annimmt oder nicht,30 sicher ist jedenfalls, daß Jesus sich von der pharisäischen Gebetspraxis distanziert. Er nähert sich vielmehr einem Brauch des dritten Ordens der Essener, dem des persönlichen Gebets an privatem Ort. Will man dem Buch Tobit glauben, so zieht Sara sich in das Oberzimmer ihres Vaters zurück, um dort zu beten3! und, so fügt die Vulgata hinzu, um dort »drei Tage und drei Nächte ohne Essen und Trinken« zu verbringen. Judith selbst läßt auf ihrer Terrasse ein Zelt aufbauen, um dort zu fasten. 32 Und nach dem Testament Josephs flüchtet sich der Patriarch, durch die Frau des Potiphar in Versuchung geführt, in sein Zimmer, um zu weinen und zu beten. 33 Jesus stellt sich in diese fromme Ahnenreihe, die im Buch Tobit, im Buch Judith und im Testament J osephs illustriert und im sechsten Kapitel des Matthäusevangeliums wiederaufgenommen wird. Man begreift jetzt die ganze Bedeutung der Tatsache, daß das Vaterunser in diesen Kontext gestellt wurde. Im Lukasevangelium werden die Umstände berichtet, die Jesus dazu geführt haben, seine Jünger das Vaterunser zu lehren. Als Jesus beim Beten gewesen sei (Lukas 11,1), habe ihn ein Jünger gefragt: »Herr lehre uns beten, wie schon J ohannes seine Jünger beten gelehrt hat.« Wie J. Jeremias scharfsinnig bemerkt, bedeutet 30
31 32 33
Dazu J eremias, 1988, 187. Tobit 3,10 (Sinaiticus). Judith 8,5. Testament Josephs 3,3.
Einleitung
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dieses »lehre uns beten« nicht etwa, die Jünger wüßten nicht, was beten sei. 34 Sie erwarteten vielmehr von Jesus ein Gebet, das in der Lage wäre, sie um ihn zu sammeln und sie gleichzeitig von den J üngern J ohannes des Täufers zu unterscheiden. Denn J ohannes hatte die, die sich auf ihn beriefen, ein besonderes Gebet gelehrt. Wir wissen nichts von diesem Gebet des Johannes, aber die Bitte der Jünger Jesu zeigt ihren Willen, durch ein eigenes Gebet eine unabhängige Gemeinschaft zu werden. Die Pharisäer hatten ihre Gebete, die im Laufe der Jahrhunderte zu einem umfangreichen Korpus heranwuchsen;35 die Essener hatten ihre Gebete, die uns teilweise in den Handschriften von Qumran überliefert sind;36 die Jünger J ohannes des Täufers hatten ebenfalls ihre Gebete: So wollten auch die Jünger J esu ihr eigenes Gebet besitzen. Die Authentizität des Vaterunser wurde niemals ernsthaft in Frage gestellt. 37 Allerdings haben viele Exegeten die Beziehungen des Vaterunser zu den jüdischen Gebeten unterstrichen. 38 Dieses Problem ist sehr komplex. Es scheint aber kaum möglich, mit]. Carmignac zu behaupten, der exegetischen Verwendung jüdischer Gebete müsse zunächst noch eine immense kritische Arbeit vorausgehen. »Dadurch«, so schreibt er, »würden wir die Formeln der zur Zeit Jesu gängigen Gebete besser kennen, und wir könnten besser aufzeigen, inwiefern er sie gebraucht oder sogar beeinflußt hat.«39 Mit solchen Aussagen ignoriert man aber die Arbeiten von Zunz, Pool, ElbQgen oder Heinemann,4o welche die Geschichte der synagogalen Liturgie erhellt haben. 41 Natürlich 34 35 36
J eremias, 1966, 77; 1988, 167. Dieses Korpus beschränkt sich nicht auf das Bändchen von Staerk, 1930. Vgl. einige veröffentlichte Texte bei Baillet, 1982, 73-136 und bei Nitzan,
1994. 37 S. Cullmann, 1994, 50. Nur zur Erinnerung sei auf den unglücklichen Versuch von Me!I, 1994 und 1997, zur Bestreitung der Authentizität des Vaterunser verwiesen; s. dazu Haacker, 1997. 38 Lightfoot, 1684, 299-303; Schoettgen, 1733, 60-65; Kohler, 1893,492; Norden, 1913, 257f; Wellhausen, 1914, 25; Elbogen, 1993, 81; [Strack/] Billerbeck, 1926, I, 406-424; Fiebig, 1927; Dalman, 1930, 283-365; Kuhn, 1950, 40-46; Jeremias, 1966,73-80; 1988, 188-196; Hengel, 1999,275-280. 39 Carmignac, 1969,382. Vgl. auch Schneider, 1987,416. 40 Zunz, 1859; Pool, 1909; Elbogen, 1993; Heinemann, 1977. 41 Dennoch ist diese Aufgabe noch lange nicht erfüllt; vgl. Henge!, 1999, 177.
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sind diese Gebete normalerweise schwer zu datieren. Nicht alle haben das erforderliche Alter, aber sogar die jüngsten Gebete nehmen oft alte Formulierungen auf, so daß der Vergleich dennoch gültig bleibt. Wie dem auch sei, diese Geschichte ist auf einer schmalen Basis entworfen worden. Sieht man einmal von dem glänzenden, aber alten Artikel von K. Kohler ab,42 so wurde die deuterokanonische und intertestamentariche Literatur überhaupt nicht berücksichtigt. Der neue Beitrag, den die Manuskripte von Qumran beisteuern, konnte nur sehr spät in die Forschung einbezogen werden. 43 Die Literatur der Hekhalot, der himmlischen »Paläste«, die der Mystiker während seines Aufstiegs zum göttlichen Thron durchschreitet, bleibt meist unberücksichtigt. 44 Dazu kommt, daß man sich die unbestrittenen Ähnlichkeiten des Vaterunser mit den jüdischen Gebeten im allgemeinen sehr starr, manchmal geradezu mechanisch vorstellte. 45 Unser Anliegen geht sicher nicht dahin, diese offensichtliche Verwandtschaft zu bestreiten; wir werden uns sogar besondere Mühe geben, sie ins rechte Licht zu rücken. Aber das Vaterunser ist keine bloße Zitatkombination aus Formeln jüdischer Gebete,46 und noch weniger ist es ein synagogales Gebet. 47 Wer es verstehen will, der muß auch sehen, wo es sich von den gebräuchlichen jüdischen Vorlagen entfernt, um ein ganz neues Gebet zu bilden. 48 Das Vaterunser ist der schlichteste und vollkommenste Ausdruck der Gedanken Jesu. Man kann die Worte J esu nicht hören, ohne sich ständig zu vergegenwärtigen, daß seine Gedanken bis in die Formulierungen hinein ganz vom Alten Testament49 und dessen traditioneller Auslegung gespeist wurden. Jesus zitiert häufig den Pentateuch, be-
Kohler, 1893. Vgl. Nitzan, 1994. 44 Die Arbeiten P. Schäfers haben diese Texte zugänglich gemacht. Vgl. Schäfer, 1981; 1986-1988; 1987-1991; 1988; sein Werk »Der verborgene und offenbare Gott« (1991) ist eine glänzende Einführung in diese Literatur. 45 So Jeremias, 1988, 192, bezüglich der beiden Bitten in der Du-Form. 46 Dies unterstreicht zu recht Wellhausen, 1914, 25. 47 Dies wollte Mell, 1997, glauben machen. 48 Cullmann, 1994, 53f. 49 Feine, 1931,21-29; Jeremias, 1988, 198-201. 42
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sonders in polemischem Kontext. 50 Er zitiert den Propheten Jesaja,51 die kleinen Propheten,sz das Buch Daniel und, mit besonderer Vorliebe,53 die Psalmen. 54 An dieser Stelle könnte man noch einmal neu nachfragen. Die Qumranfunde haben nämlich gezeigt, daß die Grenzen des alttestamentlichen Kanons zur Zeit J esu in allen Milieus nicht identisch waren mit denjenigen, die später festgelegt wurden. Es wäre möglich, daß der Meister auf eine bestimmte Schrift anspielt, die heute nicht zum Kanon gehört, der er selbst aber Autorität zuerkannt hat. Man kann sich so etwa fragen, ob das Wort Jesu über »den Kleinsten im Reich Gottes«55 nicht eine Anspielung auf Psalm 151,1 ist: »Ich war der Kleinste im Hause meines Vaters.«56 Der Text dieses überzähligen Psalms war nur in der Septuaginta und ihren Übersetzungen fragmentarisch überliefert, erst in Qumran wurde das hebräische Original entdecktY Man kann heute nicht ausschließen, daß J esus von ihm Kenntnis gehabt haben könnte. Auch die von Jesus gesprochene »Danksagung«, die in Matthäus 11,25-30 überliefert ist,58 scheint von den qumranischen Psalmen abhängig zu sein. Diese wichtigen Verse müssen hier zitiert werden:
50 Vgl. Markus 7,10 und Parallelen; 10,7 und Parallelen, 12,28-34 und Parallelen; hierzu auch Jeremias, 1988, 199, Fußnote 15. 5! Vgl. Markus 4,12 und Parallelen; 7,6 und Parallelen; Lukas 4,18f und dazu Jeremias, 1988, 198, Fußnote 9. 52 Vgl. Matthäus 9,13; 12,7 und dazu Jeremias, 1988, 199, Fußnote 13. 53 Vgl. Matthäus 19,28; 21,44 und Parallelen, dazu auch J eremias, 1988, 16, Fußnote 15. 54 Markus 15,34, dazu Jeremias, 1988, 198, Fußnote 10. 55 Matthäus 11,11 und Lukas 7,28. 56 Anstelle der griechischen Formulierung »im Hause meines Vaters« setzt die qumranische Handschrift »Söhne meines Vaters«. Die beiden Lesarten sind in der hebräischen Schrift sehr ähnlich. 57 Erste Publikation von Sanders, 1963, definitive Publikation 1965. Die beste Arbeit über den Psalm 151 bleibt nach wie vor diejenige von DupontSommer, 1964. In Dupont-Sommer/Philonenko, 1999, 309-312 findet man eine französische Übersetzung des Psalms 151 von Dupont-Sommer. 58 Vgl. Lukas 10,21f.
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25 Ich preise dich, Vater, Herr des Himmels und der Erde, weil du all das den Weisen und Klugen verborgen, den Unmündigen aber offenbart hast. 26 Ja, Vater, so hat es dir gefallen. 27 Mir ist von meinem Vater alles übergeben worden; niemand kennt den Sohn, nur der Vater, und niemand kennt den Vater, nur der Sohn und der, dem es der Sohn offenbaren will. 28 Kommt alle zu mir, die ihr euch plagt und schwere Lasten zu tragen habt. Ich werde euch Ruhe verschaffen. 29 Nehmt mein Joch auf euch und lernt von mir; denn ich bin gütig und von Herzen demütig; so werdet ihr Ruhe finden für eure Seele. 30 Denn mein Joch drückt nicht, und meine Last ist leicht. Die Auslegung dieser Perikope ist sehr umstritten, sie wurde lange Zeit für ein hellenistisches Offenbarungswort gehalten. 59 Doch jetzt kann man ein Umdenken der Kritik feststellen. 60 Die Verse 25-26 sind durchsetzt mit Aramaismen. 61 Hinzu kommt, daß der Vers 27 ein Echo der Prophetie Nathans in 2. Samuel 7,14 sein könnte. 62 Schließlich und vor allem sind die Verse 28-30 die Übertragung eines hebräischen Gedichts, eines alphabetischen, pseudodavidischen Akrostichon, das als Schluß des Buches Sirach diente. 63 Die erste Hälfte dieses Psalms wurde im qumranischen Psalter überliefert,64 die zweite Hälfte ist verloren gegangen, aber sie kann Bultmann, 1957, 172; Dibelius, 1966,279-284. Vgl. Widengren, 1961, 53-58; Jeremias, 1966, 51-54; 1988,62-67; Hengel/Schwemer, 1991, 14; Flusser, 1997, 119. 61 Das griechische Wort ,,vater«, im Nominativ und mit Artikel gebraucht anstelle des Vokativs, gibt das aramäische abba wieder, vgl. weiter unten, S. 36; der Ausdruck »Herr des Himmes und der Erde« findet sich wieder im aramäischen Text des Genesis-Apokryphon 22,16; 22,21; die Wendung »denn so hat es dir wohlgefallen« ist ein im Targum gebräuchlicher Ausdruck: Vgl. den Targum des Pseudo-Jonathan über Numeri 22,13. 62 Vgl. Jubiläen 1,24f. Die Prophetie Nathans wurde im qumranischen Milieu messianisch interpretiert, vgl. das »Florilegium« (4QI74, Fragment l,r, 10-11). 63 Sirach 51,13-30. 64 11QPsa21,11-17-22,1. 59 60
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anhand der alten Übersetzungen' wiederhergestellt werden. 65 Matthäus 11,28-30 ist direkt von einem Vers der zweiten Hälfte dieses Psalms inspiriert: Legt euren Hals unter Sein Joch, und eure Seele nehme seine Last!66 Vor den Entdeckungen am Toten Meer konnte niemand ahnen, daß der vollständige qumranische Psalm schon bei seiner Abfassung in fiktiver Weise David zugesprochen wurde. J esus konnte den Psalm und seine »davidische« Herkunft kennen. Die ganze »Danksagung« ist also in ein völlig neues Licht gestellt. Greifen wir noch einige weitere bemerkenswerte Beispiele solcher Zitierungen heraus. Das verstümmelte Zitat aus J esaj a 61,1-2, welches J esus in der Synagoge in N azareth nennt,67 ist in der» Hebräischen Legende Melchisedeks« (l1QMelchisedek)68 an genau derselben Stelle unterbrochen. Das fast wörtliche Zitat J esu aus Jubiläen 1,12, das sich in Lukas 11,49 findet,69 ist von größter Bedeutung, denn es zeigt, daß der Horizont der Heiligen Schriften für J esus weiter war als die Grenzen des Kanons der Synagoge. Wenn die Frage der Zitate noch ziemlich einfach ist, so ist die der Anspielungen und Reminiszenzen wesentlich problematischer. Anspielungen werden zwar gemacht, um verstanden zu werden, aber dies ist nicht unbedingt der Fall. Das Problem der Reminiszenzen ist noch schwieriger, denn die Reminiszenz berührt oft nur unauffällig das klare Bewußtsein des Redners und versteckt sich in der Rede. Diese Unterscheidungen haben lediglich formalen Charakter. Manchmal ist es in der Tat schwierig, zwischen Zitat und Anspidung sowie zwischen Anspielung und Reminiszenz zu unterscheiden. Daß Jesus Hebräisch las, zeigen seine Predigt in der Synagoge von Nazareth,l° sein Zitat aus den Jubiläen und seine Anspielungen auf die pseudo-davidischen Psalmen. Es ist dagegen keines65 Vgl. Dupont-Sommer, 1964, wieder aufgenommen in Dupont-Sommerl Philonenko, 1999,320-322. 66 Vgl. Sade. 67 Lukas 4,18f. 68 11 QMelchisedek 9. 69 Vgl. Philonenko, 1996, 89-96 [92f]. 70 Lukas 4,16-21.
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wegs sicher, ob er schreiben konnte. In der Antike wurde das Lesen unabhängig vom Schreiben erlernt,71 und es war möglich, zwar lesen, aber nicht schreiben zu können. Jesus hat nichts geschrieben. Er hat mündlich unterrichtet, und seine Lehre trägt das Siegel vollkommener Meisterschaft. 72 In römischer Zeit war die sprachliche Situation Palästinas komplex. 73 Wenn auch das Hebräische in bestimmten Milieus, wie innerhalb der qumranischen Gemeinschaft, gelesen, geschrieben und gesprochen wurde, so wurde es doch von der Mehrzahl gar nicht mehr verstanden. Das Aramäische war die Sprache aller geworden. Auch das Griechische war vielen vertraut,74 Das Lateinische war die Sprache der Behörden,75 Diese sprachliche Situation hatte erhebliche Auswirkungen auf der religiösen und kultischen Ebene. Zu dem Zeitpunkt, als im synagogalen Gottesdienst der größte Teil der Zuhörer das Hebräische nicht mehr verstand, drängte sich die Notwendigkeit einer Übersetzung auf. Der Lesung der hebräischen Perikopen folgte seitdem eine sofortige aramäische Übersetzung: der Targum. Diese mündliche Übersetzung, die mehr oder weniger paraphrasierend und von bestimmten Wendungen geprägt war, enthielt lange Abschweifungen, so daß beispielsweise die Übersetzung, die der Targum des Pentateuchs bietet, fast doppelt so lang ist wie der übersetzte Text selbst,76 Geben sich die Targumisten auch oft damit zufrieden, den zu übersetzenden biblischen Text einfach nachzuzeichnen, so benutzen sie doch sehr häufig die Mittel der Übertragungen, Ersetzungen und Zusammenstellungen ursprünglicher Elemente, wenn sie nicht sogar eine Formulierung einfach durch eine andere ersetzen. Dies kann soweit führen, daß der Anfangstext fast unkenntlich wird. Die Kenntnis dieses subtilen Spiels targumischer Umstellungen ermöglicht es manchmal, den Sinn einiger neutestamentlicher Wendungen zu verstehen.
J ousse, 1944, 98. Vgl. Jeremias, 1988, 19-38; Hengel, 1979, 163. 73 Vgl. zu diesem Thema unter anderen Dalman, 1930 und 1922; Diez Macho, 1973, 23-25; Rosen, 1979; Fitzmyer, 1997, II, 29-56. 74 Hengel, 1996, 1-90. 75 Vgl. Rosen, 1979, 54. 76 Le Deaut, 1966, 91. 71
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Jesus verstand Hebräisch und konnte einige Worte auf Griechisch sagen, wie es sein Gespräch mit Pilatus bezeugt. 77 In erster Linie aber war er aramäischsprachig. Seine letzten Worte, die uns erhalten wurden - E16i, E16i, lema sabachtani 78 - waren Aramäisch und spielten auf ein Targum von Psalm 22,2 an. Wenn Jesu Muttersprache dasAramäische war, dann wird auch deutlich, warum viele seiner Hinweise auf den biblischen Text ein neues Profil oder einen neuen Sinn erhalten, sobald man die targumische Paraphrase berücksichtigt. Jedenfalls müssen die Worte des Meisters von seinen Zuhörern meistens auf diesem Hintergrund verstanden worden sein. Die Bedeutung der aramäischen Vorlage für die Exegese der Worte Jesu ist natürlich seit langem anerkannt. Die Arbeiten von G. Dalman haben hier einen bleibenden Wert.l9 Die Forschungen von J. Wellhausen, J. Jeremias, P. Joüon und M. Black80 sind ebenfalls von großer Bedeutung. Aber diese Studien sind im wesentlichen philologischer Natur, sie behandeln das Vokabular und die Syntax und versuchen nicht, den im eigentlichen Sinne targumischen Hintergrund der Worte Jesu zu finden. Diese Forschungslücke läßt sich erklären. Man war in der Regel der Meinung, das die Targume erst sehr spät schriftlich fixiert worden seien, so daß sie für die Interpretation des Neuen Testamentes kaum in Frage kämen. Als in Qumran einige Fragmente eines Targums zu Leviticus 81 und ein großer Teil eines Targums zu Hiob 82 entdeckt wurden, veränderte dies die Perspektive grundlegend. Heute kann als sicher angesehen werden, daß im ersten Jahrhundert vor Christus die mündlichen aramäischen Übersetzungen einiger Bücher der hebräischen Bibel oder sogar der gesamten Bibel bereits schriftlich fixiert waren. Eine andere Entdeckung gab der Targum-Forschung neuen Schwung: die des Codex Neofiti, durch A. Diez Macho, 1956 in 77 78
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Johannes 18,33-38; 19,8-11. Vgl. Dalman, 1922, 5f. Markus 15,34. Dalman, 1898; 1905; 1922; 1930; 138. Wellhausen, 1911, 7-32; Jeremias, 1988, 14-19; Joüon, 1930; Black, 1967. 4Q156. S. Beyer, 1984, 278-280, u. Garcia Martfnez-Tigchelaar, 1997,
303. 82 4Q157. S. Beyer, 1984, 280-298, u. Garcia Martfnez-Tigchelaar, 1997, 303-305 und 11Q10, Garcia Martfnez-Tigchelaar, 1998, 1185-1201.
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der vatikanischen Bibliothek. Der Codex Neofiti liefert uns eine Rezension des palästinischen Targum, die wahrscheinlich alt ist. Er vereint darüber hinaus noch andere Rezensionen des palästinischen Targum, den Pseudo-Jonathan und den fragmentarischen Targum. Es ist jetzt möglich, sich an eine Studie zur Entstehung des palästinischen Targum zu wagen. 83 Die Edition dieser Rezensionen durch Diez Macho wird ihre Grundlage sein. 84 Der Vergleich dieses Materials mit den Schriften Philos und des Flavius J 0sephus, ferner mit dem Jubiläenbuch, besonders auch mit dem Buch biblischer Altertümer (Liber antiquitatum biblicarum) sowie mit den Texten von Qumran ergibt wertvolle Elemente einer relativen Chronologie. Heute ist deutlich, daß viele targumische Überlieferungen auf das erste Jahrhundert vor Christus zu datieren sind. Die Berührungen mit dem Neuen Testament sind deshalb so interessant, weil sie vom altertümlichen Charakter der targumischen Überlieferungen Zeugnis geben. In der Forschung war die Meinung weit verbreitet, daß man die Vergleiche auf die Targume zum Pentateuch beschränken sollte. 85 Diese Einschränkung beruht auf keinem seriösen Fundament. Die Zuordnungen müssen mindestens auch den Targum zu den Psalmen und den zu den Propheten einschließen. Was beispielsweise den Targum zu Jesaja angeht, so entdeckt man interessante Berührungspunkte mit dem 4. Esrabuch, die deutlich machen, daß bestimmte für diesen Targum typische Vorgehensweisen im ersten nachchristlichen Jahrhundert bekannt waren. 86 Doch damit nicht genug. Einige Ausdrücke, die für die Qumranliteratur charakteristisch sind, finden sich im Targum zu Jesaja wieder - eine Tatsache, die die Frage nach der Vorgeschichte dieses Targum aufwirft. Zu betonen ist schließlich, daß einige Worte Jesu darauf hindeuten, daß er selbst eigene Exegesen nach targumischem Muster entwikkelt hat, die aber sehr bald in der Geschichte der Überlieferung nicht mehr verstanden wurden. Die vergleichende Erforschung des Neuen Testaments und des Targum befindet sich trotz einiger exellenter Arbeiten 87 noch im 83 84
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Grelot, 1959. Diez Macho, 1977-1988. So auch in der ansonsten interessanten Arbeit von Muiioz, 1974-1975. Vgl. weiter unten, 56f. S. unter anderem McNamara, 1966 und 1972.
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Aufbaustadium. Es ist kaum nötig darauf hinzuweisen, daß die Exegeten, die sich - unserer Meinung nach zu recht - für einen aramäischen Ursprung des Vaterunser ausgesprochen haben, in der Regel keinen Vergleich mit den targumischen Überlieferungen versucht haben. 88 Wir wollen darum auf solche Berührungspunkte hinweisen. Die Auslegung des Vaterunser muß vor einem breiten Hintergrund geschehen, der sich vom Alten Testament und seinen traditionellen Paraphrasen bis zu den intertestamentarischen Schriften und der jüdischen Liturgie erstreckt.
88 So Dalman, 1930; Lohmeyer, 1952; Jeremias, 1966; Cullmann, 1994. Vgl. aber auch Jousse, 1944, dessen Studie praktisch unbekannt geblieben ist.
Kapitell Die drei Du-Bitten und die drei Wir-Bitten Die Unterscheidung der drei ersten Bitten in der Du-Form von den drei letzten Bitten in der Wir-Form ist von allen Exegeten anerkannt, ohne daß man jedoch diese stilistische Gegebenheit besonders hinterfragt hätte. Denn warum ist eigentlich nicht das gesamte Vaterunser in sechs Du-Bitten oder in sechs Wir-Bitten verfaßt? Diese Frage hat eine ziemlich einfache Antwort. Das Vaterunser ist das Ergebnis einer Zusammenfügung zweier unterschiedlicher Gebete: Das erste besteht aus drei Du-Bitten, das zweite aus drei Wir-Bitten. Das erste Gebet ist das Gebet Jesu selbst, das zweite ist das Gebet, das Jesus seine Jünger gelehrt hat. Warum haben sich die Jünger nicht einfach das Gebet zu eigen gemacht, das der Meister gewöhnlich vor ihnen gesprochen hat, anstatt Jesus zu fragen, er möge sie im Gebet unterweisen (Lukas 11,1)? Die Antwort auf diese Frage muß in der Anrede des Gebetes selbst gesucht werden, das Jesus regelmäßig gesprochen hat. Kein Jünger konnte sich an Gott wenden, indem er das messianische 'abba' wieder aufnahm.! Wie also könnte das »Gebet Jesu« ausgesehen haben? Es kann als sicher gelten, daß dieses Gebet die Anrede 'abba' (Vater) enthielt. Drei Du-Bitten folgten ihr. Diese drei sehr verinnerlichten Bitten waren von ausgeprägtem messianischem und eschatologischem Charakter. So könnte dieses in seiner Schlichtheit frappierende Gebet ausgesehen haben:
1
Zur messianischen Bedeutung der Anrede 'abba' s. weiter unten, S. 40.
Kapitell: Die drei Du-Bitten und die drei Wir-Bitten
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Vater, Dein Name werde geheiligt! Dein Reich komme! Dein Wille geschehe! Diese drei Bitten bilden eine Einheit und formen einen »Parallelismus« in drei Teilen, wie er aus der hebräischen Poesie bekannt ist. 2 Jeder Teil hat einen vollständigen Sinn, und dennoch ergibt sich zwischen den drei Teilen eine inhaltliche Harmonie. Die drei Bitten sind an den Vater gerichtet und jeweils nach gleichem Muster aufgebaut: Jede von ihnen endet, im Griechischen wie im Aramäischen, mit dem Possessivpronomen der zweiten Person Singular, das sich jeweils reimt und dem eine emphatische Bedeutung zukommt: »Dein Name«, »Dein Reich«, »Dein Wille«. Eine noch genauere Untersuchung läßt sogar Binnenreime erkennen. Bei allen drei Bitten findet sich zudem das Verb am Anfang und das Subjekt am Schluß. Es muß bezweifelt werden, daß dieses persönliche Gebet mit einer Doxologie oder einem »Amen«, ursprünglich eine Antwort der Gemeinde,3 endete. Das Vorhandensein einer Schlußdoxologie bleibt hypothetisch. Es könnte hingegen sein, daß die Formel »wie im Himmel, so auf Erden« als kurzer Schluß der drei Du-Bitten diente. So also muß das »GebetJesu« ausgesehen haben. Dennoch hatte es nichts Stereotypes an sich und konnte den jeweiligen Umständen angepaßt werden. Dies zeigt zum Beispiel das von Jesus im Garten Gethsemane gesprochene Gebet, welches mit der Anrede abba beginnt und ein Echo der dritten Bitte ist. 4 Die drei Wir-Bitten sind jeweils aus zwei Gliedern zusammengesetzt, während die Du-Bitten aus nur einem Teil bestehen. Die drei Wir-Bitten sind durch eine nebenordnende Konjunktion miteinander verbunden, während die drei Du-Bitten ohne Verbindung aufeinander folgen. Während der Imperativ der zweiten Per2
s. Lods, 1950, 74f; Watson, 1995, 177-185.
S. Dalman, 1930, 185-187; 363-365; 1922,27; Elbogen, 1993,20; 25; 190; 370; Heinemann, 1977, 16; 127, Fußnote 16; 280f. »Amen« konnte auch die Zustimmung ausdrücken, mit der man sich dem Gebet eines anderen anschloß; s. Tobit 8,8 (Vaticanus und Alexandrinus). 4 Markus 14,36. S. weiter unten, S. 110. 3
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Kapitel I: Die drei Du-Bitten und die drei Wir-Bitten
son Singular in den drei ersten Bitten vermieden wird, wird er in den drei letzten Bitten ohne Einschränkung benutzt. Dieser Gebrauch des Imperativs findet sich ebenso in der griechischen Bearbeitung des »Achtzehngebets«, die im Papyrus Egerton 5 erhalten ist: Heilige, nähre, versammle, verwalte, stärke, verherrliche, kräftige, ernähre, erhöhe, erhelle, laß in Frieden leben, leite, führe zur Vollkommenheit das Volk, das Du erworben hast, das Volk Deiner Wahl, das Volk, das Du befreit hast, das Volk, das Du gerufen hast, Dein Volk, die Lämmer Deiner Weide. 5 Die drei Wir-Bitten antworten genau auf die Anfrage eines anonymenjüngers an Jesus: »Herr, lehre uns beten« (Lukas 11,1). Dieses »uns« wiederholt sich acht mal in den drei letzten Bitten, so daß es eindeutig deren Schlüsselbegriff ist. Dieses »uns« ist deutlich verschieden von dem »uns« des »Achtzehngebets«, wie dies zum Beispiel an dessen achter Bitte deutlich wird: Heile uns J ahwe, unser Gott, so sind wir geheilt, hilf uns, so ist uns geholfen, denn Dich rühmen wir. Bringe vollkommene Heilung all unsren Krankheiten, denn ein heilender, barmherziger Gott bist Du. Gepriesen seist Du, Jahwe, der die Kranken seines Volkes Israel heilt! 6 Es ist das »Wir« des Volkes Israel, das man in diesem Gebet hört. In der qumranischen Literatur ist das »Wir«, welches redet, dasjenige der Gemeinschaft, wie in den Worten der Lichter 7 oder in den Hymnen. 8 In den drei letzten Bitten des Vaterunser redet das 5 6
7 8
Zu diesem Gebet s. Horst, 1998, und Heinemann, 1977, 220. »Achtzehngebet« (Staerk, 1930, 16; Birnbaum, 1990, 87). Worte der Lichter (4Q506, Fragmente 131-132). Hymnen, Fragment 10.
Kapitel I: Die drei Du-Bitten und die drei Wir-Bitten
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»Wir« der Jünger. Die Tatsache, daß einer unter ihnen darum bittet, das Beten zu erlernen, zeigt, daß sie auf ein Gebet warteten, welches ihrem Konventikel Zusammenhalt geben könnte. 9 Jesus erteilte seine Lehre in zwei verschiedenen Formen. Mit der ersten wandte er sich an die »Menge« oder an seine Gegner; mit der zweiten an eine begrenzte Gruppe, nämlich die der Jünger, denen er Anweisungen esoterischer Art vorbehalten hatte. IC Die drei letzten Bitten des Vaterunser gehören zu dieser vertraulichen Lehre und verlangen deshalb eine Entschlüsselung. Konkret bedeutet dies: Während die Übersetzung der drei ersten Bitten keine besondere Schwierigkeit bereitet, stellt die Übersetzung der drei letzten Bitten vor spezifische Probleme und wird deshalb erst am Schluß der jeweiligen Untersuchung gegeben. Wenn auch die eschatologische Natur der drei ersten Bitten allgemein anerkannt ist, so gilt dies nicht für die drei letzten Bitten, die von zahlreichen Exegeten dem alltäglichen Leben zugeordnet werden. ll Dies ist unserer Meinung nach nicht richtig, und wir werden zeigen, daß die drei letzten Bitten, wie die drei ersten, eine eschatologische Bedeutung haben.
Jeremias, 1988, 167. Wellhausen, 1911, 129; Jeremias, 1988,243-245; Riesner, 1988,476-487. 11 S. z.B. Buhmann, 1988, 124 (besonders für die vierte Bitte); Metzger, 1983, 125; Luz, 1985, 347 (besonders für die vierte Bitte); Cullmann, 1994,69 (für die vierte Bitte); eine nuancierte Position bei Theißen/Merz, 1997, 239240 (für die drei letzten Bitten in der Wir-Form). 9
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Kapitel 11 Die drei ersten Bitten des Vaterunser und der Qaddisch Der Einfluß der jüdischen Liturgie auf das Vaterunser ist unbestreitbar.! Die beiden ersten Bitten des Vaterunser sind inspiriert von einem sehr alten aramäischen Gebet, dem Qaddisch oder dem »Heiligen«.2 Darüberhinaus hatte dieses Gebet zweifelsohne Wirkung auf die Formulierung der dritten Bitte. Der Qaddisch ist eines der seltenen aramäischen Gebete der synagogalen Liturgie. Der Qaddisch ist deshalb auf aramäisch formuliert, weil er am Schluß der Auslegung kam, die in der Synagoge in dieser Sprache gehalten wurde. Das Gebet 'al hak-kal ist wahrscheinlich eine hebräische Bearbeitung des Qaddisch. 3 Es gibt mehrere Formen des Qaddisch, von denen eine der ehrwürdgsten der »Qaddisch der Weisen« ist. Der Kern des Qaddisch, um den herum sich die zwei ersten Strophen des Gebets gruppiert haben, ist der Segen, der am großen Versöhnungstag im Wechsel von den Priestern und dem Volk gesprochen wurde, während der Hohepriester im Tempel den Namen Gottes aussprach: »Gepriesen sei der herrliche Name seiner Königsherrschaft für immer und ewig.«4 Dieser Segen ist im synagogalen Gottesdienst beibehalten worden, wo er anläßlich des Morgengebetes nach der Rezitation des Shema' S. weiter oben, S. 1H. Zum Qaddisch s. das klassische Werk von Pool, 1909; Elbogen, 1993, 8084; Heinemann, 1997, 24f; 62f; 25M; 266-268. Text des Gebets bei Staerk, 1930, 30f; Birnbaum, 1990, 185-187. 3 Pool, 1909, 18f; Elbogen, 1993, 159 und 215. Text des Gebets bei Birnbaum, 1990, 367. 4 S. Elbogen, 1993,80; Henge!, 1999, 275f. 1
2
Kapitel 11: Die drei ersten Bitten des Vaterunser und der Qaddisch
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gesprochen wird;5 er wird dreimal in den »Liedern Davids« aufgenommen;6 man findet ihn im Targum Neofiti zu Genesis 49,2 wieder; die »Bilderreden« Henochs kennen ihn unter einer etwas anderen Form? Dieser Segen, der den »Namen« und die »Königsherrschaft« vereint, begründet in gewisser Weise die zwei ersten Bitten des Qaddisch. 8 Hier die Übersetzung der zwei ersten Strophen des Qaddisch:
I Groß gemacht werde und geheiligt werde sein großer Name in der Welt, die er geschaffen hat nach seinemWillen. Und er lasse herrschen seine Königsherrschaft In euren Lebzeiten Und in euren Tagen Und zu Lebzeiten des ganzen Hauses Israel In Eile Und in naher Zeit. Und sprechet: Amen. Es sei sein großer Name gepriesen Für die Ewigkeit Und für die Ewigkeiten der Ewigkeiten. II
Es sei gepriesen und gerühmt und verherrlicht und erhöht und erhoben und gefeiert und erhaben und gelobt der Name des Heiligen . . - gepnesen sei er-, erhaben, über alle Lobpreisungen und Lieder, 5 6 7
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Birnbaum, 1990, 75. ,>Lieder Davids«, 2, 3; 3, 8; 4,14. S. Philonenko/Marx, 1997,396. 1. Henoch, 39,13; 61,11. Hengel, 1999, 275f.
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Kapitel 11: Die drei ersten Bitten des Vaterunser und der Qaddisch
Ruhmesworte Und Tröstungen, die gesprochen werden in der Welt. Und sprechet: Amen. 9 Die beiden ersten, soeben angeführten Strophen des Qaddisch zeigen eine außergewöhnliche Verwandtschaft mit mehreren Abschnitten der »Bilderreden« Henochs, die man zu oft unberücksichtigt gelassen hat. Zitieren wir diese Verse. Zuerst 1. Henoch 47,2: In diesen Tagen werden die Heiligen, die oben in den Himmeln wohnen, gemeinsam mit einer Stimme Fürbitte halten, beten, preisen, danken und rühmen den Namen des Herrn der Geister. Dann 1. Henoch 48, 5: Alle, die auf dem Festland wohnen, werden vor ihm niederfallen und (ihn) anbeten, und sie werden preisen, rühmen, und lobsingen den N amen des Herrn der Geister. Schließlich noch 1. Henoch 61,11-12: Und an jenem Tage werden sie eine Stimme erheben und werden preisen, verherrlichen, erhöhen im Geist der Treue, im Geist der Weisheit, im (Geist) der Geduld, im Geist der Barmherzigkeit, im Geist des Rechtes und des Friedens und im Geist der Güte, und sie werden alle mit einer Stimme sprechen: »Gepriesen sei (er), und gepriesen sei der Name des Herrn der Geister für immer und ewig!« Alle werden ihn preisen: die, die nicht schlafen in der Himmelshöhe, preisen werden ihn alle Heiligen, die im Himmel sind, 9 Text bei Staerk, 1930, 30f; Birnbaum, 1990, 185-187. Deutsche Übersetzung bei Fiebig, 1927, 30-32.
Kapitel": Die drei ersten Bitten des Vaterunser und der Qaddisch
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und alle Auserwählten, die im Garten des Lebens wohnen, und jeder Geist des Lichtes, der deinen gepriesenen Namen preisen, verherrlichen, erhöhen und heiligen kann, und alles Fleisch, das deinen Namen von Ewigkeit zu Ewigkeit gewaltig verherrlichen und preisen wird. All diese Abschnitte setzen die Bekanntheit der zweiten Strophe des Qaddisch voraus: »Es sei gepriesen und gerühmt und verherrlicht und erhöht und erhoben und gefeiert und erhaben und gelobt der Name des Heiligen - gepriesen sei er«.!O Der Verfasser der "Bilderreden« sieht in dieser von ihm bearbeiteten Formel das Echo des himmlischen Gottesdienstes. In den Synagogen essenischer Richtung nahmen die Gläubigen, die sich auf Henoch beriefen, an diesem Gottesdienst teil.!! Die erste Strophe des Qaddisch als solche wurde nicht aufgegriffen. Der Gedanke einer» Heiligung des Namens« geht in die Bearbeitung der zweiten Strophe des Qaddisch ein, die der Verfasser der »Bilderreden« in aufzählender Form darbietet: »deinen gepriesenen Namen preisen, verherrlichen, erhöhen und heiligen«.12 Die Veränderungen, die der Qaddisch im Buch der »Bilderreden« erfahren hat, zeigen, daß dieses Gebet in alter Zeit noch sehr verformbar war - zumindest in bestimmten Milieus. Die drei ersten Bitten des Vaterunser zeigen auf ihre Weise diese Freiheit der Veränderung. Die erste Bitte des Vaterunser, »Dein Name werde geheiligt«, ist von der ersten Bitte des Qaddisch inspiriert: ),Groß gemacht werde und geheiligt werde sein großer Name.« Die zweite Bitte des Vaterunser, ,)Dein Reich komme«, ist von der zweiten Bitte des Qaddisch inspiriert: ,) Und er lasse herrschen seine Königsherrschaft. « Die dritte Bitte des Vaterunser, »Dein Wille geschehe«, hat keine ihr entsprechende Bitte im Qaddisch. Sie wurde nach dem Muster der ersten und zweiten Bitte des Vaterunser formuliert, und zwar im Anschluß an den Einschub des Qaddisch: »in der Welt, die er geschaffen hat nach seinem Willen«. Wenn dies so ist, dann ist die dritte Bitte des Vaterunser eine bewußte und wohlüberlegte AufText bei Staerk, 1930,30; Birnbaum, 1990, 185. Zum essenischen Ursprung der »Bilderreden« s. weiter unten, S.44, Fußnote 1. 12 1. Henoch 61,12. S. auch 61, 9 und 61,11. 10 11
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nahme der ersten Bitte des Qaddisch. Sie kann dann nicht als ein Zusatz betrachtet werden. Dieses Verfahren, einen Begriff in einer Aufzählung wegzulassen, um ihn später indirekt - wie in der Brechung des Lichtes wieder einzuführen, ist nicht ohne Beispiel. Wir haben bereits an anderer Stelle gezeigt, daß die erste Strophe der Schlußhymne einer jüdisch beeinflußten hermetischen Abhandlung, des Poimandres,13 die erste, zweite und vierte Bitte des »Achtzehngebets« aufgreift, und zwar genau in dieser Reihenfolge. 14 In der zweiten und dritten Strophe des hermetischen Hymnus 15 vernimmt man das Echo der dritten Bitte des »Achtzehngebets«, nach einem Schema a, b, d, c, c. 16 Ein vergleichbares, wenn auch schlichteres Verfahren wird bei der Aufnahme des Qaddisch in den drei ersten Bitten des Vaterunser verwendet: ein Schema a, c, b. Die Freilegung dieses Mechanismus innerhalb des »Gebetes Jesu« ist von großer Bedeutung für die Exegese der dritten Bitte, welche, wie die beiden ersten, im Lichte des Qaddisch auszulegen ist. Außerdem hat die Hinzufügung dieser dritten Bitte zur Folge, daß die zweite, »Dein Reich komme«, zur zentralen Bitte wird, um die herum sich alles anordnetY Der Vergleich zwischen dem Vaterunser und dem Qaddisch darf sich nicht auf die Ähnlichkeit der Formeln beschränken. Man muß sowohl unbestreitbare Analogien als auch wichtige Unterschiede der beiden Gebete aufzeigen. Eine solche Untersuchung ist für eine richtige Auslegung der drei ersten Bitten unerläßlich. Die Forschung muß gleichermaßen die Fragen der Form und die des Inhalts berücksichtigen, da beide eng verzahnt sind. Während der Qaddisch ein öffentliches Gebet darstellt, ist das Vaterunser ein privates Gebet, das jeder »in seiner Kammer« (Matthäus 6,6) sprechen kann.1 8 Gott ist im Qaddisch nicht genannt, aber sein Name wird angerufen. Dieses Vorgehen erklärt sich dadurch, daß Gott ursprünglich in der Homilie genannt wurCorpus Hermeticum, 31. S. Philonenko, 1975,208-210. 15 Corpus Hermeticum, 31. 16 S. die Beobachtungen von]. Pouilloux, die unserem Beitrag folgen: Philonenko, 1975,211. 17 S. weiter unten, S. 51. 18 S. weiter oben, S. 10f. 13
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de, auf die der Qaddisch folgte. Weil nun diese Verbindung mit der synagogalen Predigt für das »Gebet Jesu« nicht vorhanden ist, wird eine Anrede notwendig, und zwar >>Vater« in Lukas 11,2 und »Unser Vater, der in den Himmeln ist« in Matthäus 6,9. Während die erste Strophe des Qaddisch in der dritten Person Singular formuliert ist, verwenden die drei ersten Bitten des Vaterunser die zweite Person. Der intime Charakter dieser drei ersten Bitten ist dadurch viel mehr hervorgehoben. Diese Intimität kulminiert in der messianischen Anrede 'abba' (>>Vater«), und sie stimmt genau überein mit der zweiten Strophe der Danksagung, die von J esus gesprochen wird: Mir ist von meinem Vater alles übergeben worden; niemand kennt den Sohn, nur der Vater, und niemand kennt den Vater, nur der Sohn, und der, dem es der Sohn offenbaren will. 19 Die drei ersten Bitten des Vaterunser sind vom Sohn an den Vater gerichtet, und in dieser Hinsicht sind sie im eigentlichen Sinne messianisch. Das, was der Sohn erbittet, ist eben dies: daß der Name Seines Vaters geheiligt werde, daß das Reich Seines Vaters komme, daß der Wille Seines Vaters geschehe. 20 Der Qaddisch hingegen wird vom Vorbeter stellvertretend für alle Gläubigen gesprochen. Eines der Kennzeichen des Qaddisch ist die Verdoppelung der Ausdrücke durch Synonyme, wie etwa in der ersten Strophe: Groß gemacht werde und geheiligt werde sein großer Name. Andere Beispiele sind »in euren Lebzeiten und in euren Tagen« oder »in Eile und in naher Zeit«. Nun ist die Formel »Sein großer Name werde verherrlicht und geheiligt« eine Kombination aus Hesekiel 38,23: »So werde ich mich als groß und heilig erweisen« und Hesekiel 36,23: »Meinen großen Namen werde ich wieder heiligen«.
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Matthäus 11,27. S. Müller, 1991, 28f.
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Die aus zwei Ausdrücken bestehende Formel wird in der Septuagintaübersetzung von Hesekiel38,23 zu einer aus vier Begriffen gebildeten Formel. Diese viergliedrige Formel ist auch in den »:ailderreden« Henochs erhalten: »Sie werden alle mit einer Stimme reden und preisen und verherrlichen und erhöhen und heiligen den Namen des Herrn der Geister.«21 Im Yö~er werden in der Formel sechs Ausdrücke verwendet,22 in der zweiten Strophe des Qaddisch sogar acht. 23 Im Gegensatz dazu fällt um so mehr die extreme Straffung auf, die zu der Schlichtheit und Bündigkeit der drei ersten Bitten des Vaterunser führt. Diese Straffung zeigt sich schon ab der ersten Strophe. Keine synonymische Verdoppelung des Verbs: Jesus sagt lediglich: »Dein Name werde geheiligt.« Kein Adjektiv: Jesus sagt: »Dein Name« und nicht »Sein großer Name«. Das Adjektiv, das sich in der ersten Bitte des Qaddisch und in Hesekiel36,23 findet, wird weggelassen. Diese Besonderheit ist um so bedeutsamer, weil man in sehr vielen Texten die Tendenz bemerkt, die den Namen begleitenden Beiworte zu vermehren. Dies ist im Targum des Pseudo-Jonathan der Fall, wo man mehrfach die Formel »der große und herrliche Name« aufnimmt,24 oder beispielsweise im Buch der Jubiläen, wo der »gelobte und geehrte und große, herrliche und wunderbare und mächtige und große Name« genannt wird. 25 Dieselbe Bündigkeit ist auch in der zweiten Bitte vorhanden. Während man in der zweiten Bitte des Qaddisch liest: »Und er lasse herrschen seine Königsherrschaft«, sagt die zweite Bitte des Vaterunser: »Dein Reich komme.« Die etymologische Formulierung ist beseitigt. Der knappe Stil entspricht einer Situation der Dringlichkeit. Das Vaterunser ist ein Gebet für das Ende der Zeit. 26 Hierin ist es
1. Henoch 61,9. (Staerk, 1930, 5; Birnbaum, 1990, 73). 23 Qaddisch (Staerk, 1930, 30; Birnbaum, 1990, 187). 24 Targum des Pseudo-Jonathan zu Genesis 4,15; Exodus 2,21; 4,20; 15,25; 32,25; Leviticus 16,21; 24,11; Numeri 5,19. 25 Jubiläen 36,7. 26 S. Lohmeyer, 1952, 11; Kosmala, 1959, 198; Brown, 1965, 217-253; Jeremias, 1988, 196. 21
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dem Qaddisch eng verwandt, derin der Qaddisch ist ein eschatologisches Gebet, wie dies seine zweite Bitte verdeutlicht: Und er lasse herrschen seine Königsherrschaft in euren Lebzeiten und in euren Tagen und zu Lebzeiten des ganzen Hauses Israel in Eile und in naher Zeit. Die Zeit wird ein Ende haben, und dieses Ende kann nicht unendlich hinausgeschoben werden. Wie viele Juden seiner Zeit dachte Jesus, daß das Ende der Zeit unmittelbar bevorstünde, ohne daß man aber dessen Ankunft mit Sicherheit bestimmen könnte: »Doch jenen Tag und jene Stunde kennt niemand, auch nicht die Engel im Himmel, nicht einmal der Sohn, sondern nur der Vater.«27 Er glaubte dennoch, daß das Ende der Zeit noch zu seinen Lebzeiten eintreten würde, ja daß es sogar schon begonnen habe. 28 Die Aussendung der Jünger zur Mission in Israel hat keinen anderen Sinn: Bevor sie mit der Verkündigung der frohen Botschaft in allen Städten Israels fertig wären, würde der Menschensohn bereits gekommen sein. 29 Ein Wort Jesu, auf das wir in der Exegese der zweiten Bitte zurückkommen werden, hat dieselbe Bedeutung: »Amen, ich sage euch: Von denen, die hier stehen, werden einige den Tod nicht erleiden bis sie gesehen haben, daß das Reich Gottes in Macht gekommen ist.«3o Darunter ist zu verstehen, daß einige unter den Zuhörern Jesu noch am leben sein werden, wenn das Reich kommt. 3! Wir begreifen hier, inwiefern die Botschaft Jesu sich vom Qaddisch unterscheidet. Für den galiläischen Prediger ist »das Reich Gottes nahe«,32 sein Beginn ist gemacht, während der Qaddisch sagt, die Errichtung des Reiches Gottes geschehe in naher, aber un-
Matthäus 24,36. S. weiter unten, S. 60f. 29 Matthäus 10,23. 30 Markus 9,1. S. weiter unten, S. 58-60. 31 S. Jeremias, 1988, 137. Hengel/Schwemer, 1991, 10, Fußnote 24, sind gegenteiliger Meinung. 32 Markus 1,15. 27
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bestimmter Zeit. Das »Gebet Jesu« und der Qaddisch sprechen also recht unterschiedliche eschatologische Erwartungen aus. Der Vergleich der drei ersten Bitten des Vaterunser und der ersten Strophe des Qaddisch macht deutlich, was die beiden Gebete gemein haben, und was sie unterscheidet: Der Qaddisch ist ein eschatologisches Gebet, das »Gebet Jesu« ist eschatologisch und messianisch. Wenden wir uns nun der Anrede und den sechs Bitten des Vaterunser zu.
Kapitel 111 Die Anrede Bei Matthäus wie bei Lukas beginnt das Gebet mit einer Anrede. In Matthäus 6, 9 lesen wir: »Unser Vater, der du in den Himmeln bist«, während Lukas 11,2 lediglich >,vater« bietet. Jede dieser beiden Formeln muß für sich untersucht werden. Die Analyse der aramäischen Grundlage wird ergeben, welche der beiden ursprünglich ist. Der Ausdruck »Unser Vater, der du in den Himmeln bist« findet sich nur ein einziges Mal in den synoptischen Evangelien, hier in Matthäus 6,9. Der Ausdruck »euer Vater, der in den Himmeln ist« wird bei Matthäus 1 und außerdem in Markus 11,25 bezeugt, dies allerdings ein verdächtiger Vers, der eine Interpolation nach Matthäus 2 sein könnte. »Mein Vater, der in den Himmeln ist« findet man sieben Mal bei Matthäus 3 und ein Mal im Evangelium der Nazarener: »Wenn ihr an meiner Brust seid und den Willen meines Vaters in den Himmeln nicht tut, werde ich euch von meiner Brust stoßen.«4 Die Wendung »mein«, »unser«, »euer Vater, der in den Himmeln ist« beruht auf der semitischen Ausdrucksform des lokalen Genitivs. 5 Natürlich beinhaltet sie, dem damaligen Gedankengut entsprechend, daß die Gottheit ihren Wohnsitz in den Himmeln hat. Sie ist das Äquivalent zur Wendung »euer himmlischer Vater«, die man bei Matthäus findet. 6 Lukas verwendet weder die eine 1
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Matthäus 5,16; 5,45; 6,1; 7,11. Lagrange, 1948,407; Pernot, 1938, 10M; Bousset, 1967,52. Matthäus 7,21; 10,32; 10,33; 12,50; 16,17; 18,10; 18,19. S. Aland, 1984,93. Joüon, 1930, 35. Matthäus 5,48; 6,14; 6,26; 6,32; 23,9.
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noch die andere dieser Wendungen, sondern benutzt einmal den ungewöhnlichen Ausdruck »der Vater vom Himmel (gekommen)« (Lukas 11,13). Der Ausdruck »mein«, »unser«, »euer Vater, der in den Himmeln ist«, scheint also typisch matthäisch zu sein. Er wird bei Matthäus niemals durch das Zeugnis von Markus oder Lukas bestätigt. Manchmal ist der Abschnitt, in dem er vorkommt, ohne Entsprechung in den anderen Evangelien (so in 5,16; 5,45; 6,1; 7,11), manchmal ist dort ein anderer Ausdruck bezeugt (so in Markus 3,35 und in Lukas 12,8; 12,9). Alles scheint also zu dem Schluß zu führen, daß der Ausdruck »mein«, »unser«, »euer Vater, der in den Himmeln ist«, im Matthäusevangelium redaktionellen Charakter hat. Der Ausdruck »mein«, »unser«, »euer Vater, der in den Himmeln ist« ist dem Alten Testament fremd. Dagegen ist diese Ausdrucksweise aus dem palästinischen Targum bekannt. Man findet dazu drei Beispiele im Targum Neofiti/ sieben im fragmentarischen Targum8 und zwei im Targum des Pseudo-Jonathan. 9 In all diesen Beispielen endet das Wort >>Vater« jeweils mit dem Suffixpronomen der dritten Person Singular oder der zweiten und dritten Person Plural, aber niemals mit dem Suffixpronomen der ersten Person Plural. Eine Ausnahme bildet Leviticus 22,28, überliefert durch die 1591 erschienene Erstveröffentlichung des Targum des Pseudo-Jonathan, deren Originalmanuskript verloren gegangen ist. 10 Das bedeutet, daß die Wendung »unser Vater, der in den Himmeln ist« nicht in erster Linie der targumischen Ausdrucksweise, sondern den jüdischen Gebeten zuzuordnen ist. In der Tat entdeckt man sie auf Aramäisch im Qaddisch deRabbanan oder »Qaddisch der Rabbiner«,ll auf Hebräisch in dem Gebet 'attah htt' (»Du bist es, der«),12 vier Mal in dem Gebet yehf ra~8n (»Es sei
Targum Neofiti zu Exodus 1,19; Numeri 20,21; Deuteronomium 33,24. Fragmentarischer Targum zu Genesis 21,33; Exodus 1,19; 15,12; 17,11; Numeri 21,9; 23,24; Deuteronomium 32,6. 9 Targum des Pseudo-Jonathan zu Exodus 1,19; Deuteronomium 28,32. 10 S. Diez Macho, 1980, III, 163; McNamara, 1966, 134-155. 11 Staerk, 1930, 31; Birnbaum, 1990,47. 12 Birnbaum, 1990, 25. 7
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Dein Wille«)13 und zwölf Mal in aen Hekhalüt Zutarti oder »Kleine Hekhalüt«.14 Im Gebet 'attah hft' hat der Ausdruck »unser Vater der du in den Himmeln bist« in jedem Fall die Bedeutung einer Anrede und nicht die einer Aussage. Diese jüdische Bezeugung der Anrede »unser Vater, der in den Himmeln ist« - wie spät sie auch immer sei -läßt vermuten, daß sie nicht von Matthäus erfunden wurde, sondern daß er sie dem jüdischen Milieu, aus dem er kam, verdankt. Dennoch kann man daraus nicht schließen, daß die Anrede »unser Vater, der du in den Himmeln bist« auf J esus selbst zurückgeht. Es ist nämlich sehr zweifelhaft, daß J esus die Formel »unser Vater« jemals selbst gebraucht hat. Tatsächlich benutzt Jesus, wie man dies seit langem beobachtet hat, in den Evangelien niemals den Ausdruck »unser Vater«.t 5 Er sagt »Vater« oder »mein Vater«, wenn er sich an Gott wendet, »euer Vater«, wenn er zu seinen Jüngern von Gott spricht. Dies ist ein starker Einwand gegen den Gedanken, daß Jesus seine Jünger an seinem persönlichen Gebet teilhaben ließ. Hier ist daran zu erinnern, daß nach dem Johannesevangelium Christus zwei Formulierungen ausdrücklich unterscheidet: »Ich gehe hinauf zu meinem Vater und zu eurem Vater, zu meinem Gott und zu eurem Gott.«16 Die Anrede bei Lukas beschränkt sich auf ein einziges Wort, >>Vater«, im Vokativ, und in dieser lapidaren Form muß man sie für authentisch halten. 17 An dieser Stelle ist besonders J. J eremias zu würdigen, dessen Arbeiten hier seit fast einem halben Jahrhundert die Diskussion bestimmen. Niemand konnte und wollte besser als dieser große Forscher darstellen, welche Bedeutung die Anrede >>Vater« und ihre aramäische Grundlage 'abba' hat. Bereits 1954 hat er seine These in zwei kurzen Beiträgen l8 abgegrenzt, um sie dann in meh-
Birnbaum, 1990, 125. Schäfer, 1981, § 411 (3 mal); 416 (5 mal); 417 (3 mal); 419. 15 Dalman, 1898, 157; Bousset, 1967, 52. 16 Johannes 20,17. 17 Wir werden den Übergang der Anrede "Vater« zu "Unser Vater, der du in den Himmeln bist« später zu erklären haben. 18 J eremias, 1954 und 1954a. 13 14
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reren Etappen bis 1973 weiterzuentwickeln.1 9 Gewiß waren ihm auf diesem Weg die Beobachtungen Dalmans 20 und Kittels 21 vorausgegangen, aber Jeremias verlieh seiner These außergewöhnlichen Glanz. Dennoch sind einige seiner Schlußfolgerungen neu zu überprüfen. Nach den vier Evangelien hat sichJesus in seinem Gebet an Gott gewandt, indem er >>Vater«22 oder »mein Vater«23 sagte. Nach dem einhelligen Zeugnis der evangelischen Überlieferung hatten alle Gebete Jesu, mit Ausnahme seines Gebets am Kreuz,24 diese Anrede, sogar das Gebet im Garten Gethsemane. So hat J esus nach Markus 14,36 gesagt: »Abba, Vater, alles ist dir möglich. Nimm diesen Kelch von mir! Aber nicht, was ich will, sondern was du willst.« In dieser Passage wird abba sofort mit >>Vater« übersetzt: ein Nominativ mit vokativer Bedeutung; Matthäus 26,39 hat »0 mein Vater«: ein Vokativ gefolgt von dem Personalpronomen der ersten Person; Lukas 22,42 hat >>Vater«: ein Vokativ ohne Personalpronomen. Diese Variationen gehen zurück auf die verschiedenen Bedeutungen, die das aramäische Wort 'abba! haben konnte. 25 Die Geschichte des Wortes 'abba' ist verwickelt,26 doch sicher ist, daß 'abba' die bestimmte Form des aramäischen 'ab, »Vater« ist. Mit dem Personalpronomen der ersten Person Singular kann man 'abi oder auch die Form 'abba' finden. Zu beobachten ist beispielsweise, daß das hebräische 'abi, »mein Vater«, im Targum Neofiti zur Genesis mit 'abba' wiedergegeben wird.27 Im übrigen können die zwei Formen 'abi und 'abba' auch miteinander verwendet und in ein und demselben Dokument innerhalb weniger
19 Jeremias, 1962; 1966; 1971; 1973 (s. auch die vierte Auflage seiner Neutestamentlichen Theologie, erschienen 1988, 45f, und 184, 19lf). 20 Dalman, 1898, 157f; 1930,296-304. 21 Kittel, 1932, 92-95; 1933,4-6. 22 Matthäus 11,25; 11,26; Lukas 10,21 (zwei mal); 23,34; 23,46; Markus 14,36; Johannes 11,41; 12,27; 12,28; 17,1; 17,5; 17,11; 17,21; 17,24; 17,25. 23 Matthäus 26,39; 26,42. 24 Markus 15,34; Matthäus 27,46. 25 Jeremias, 1966, 58; 1988, 70. 26 S. unter anderem Fitzmyer, 1985, 20-32; eine große Sammlung von 'abbd'-Stellen bei Schelbert, 1981. 27 Genesis 19,34; 22,7; 27,34; 27,38; 31,42; 48,18; 50,5.
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Zeilen bezeugt sein. 28 Außerhalb des Targum und in anderen seltenen Passagen findet man schließlich 'abba' an solchen Stellen, wo man eigentlich »unser Vater« erwartet hätte. Anscheinend wurde 'abba' stillschweigend so aufgefaßt, als ob ihm das Suffixpronomen der ersten Person Plural folgen würde. 29 Man kann dem Urteil von]. Jeremias nicht zustimmen, dem zufolge 'abba' schon vor der neutestamentlichen Zeit das aramäische und das hebräische 'abt als Anrede wie auch als Aussage auf der ganzen Linie ersetzt habe. 30 Die Form 'abt, »mein Vater«, ist nämlich regelmäßig bezeugt in den aramäischen Texten, die in Qumran entdeckt wurden: so im Genesis-Apokryphon3t, im Buch Tobit,32 im Buch der Riesen,33 im »aramäischen Testament des Levi«34 oder im Testament des Qehat. 35 Die sichersten und ältesten Bezeugungen scheinen tatsächlich diejenigen zu sein, die das Neue Testament in Markus 14,36, Römer 8,15 und Galater 4,6 bietet. Fest steht jedenfalls, daß ein Sohn seinen Vater 'abi oder 'abba' nennen konnte, wobei 'abba 'vielleicht eine gefühlsbetonte Bedeutung hatte. 36 Ganz ohne Beispiel in der Geschichte des jüdischen Gebets ist hingegen, J. Jeremias zufolge, die Möglichkeit, Gott anzurufen, indem man >>Vater« sagtY Erst spät, im 10. Jahrhundert nach Christus, sei diese persönliche Anrede bezeugt. J esus sei also der erste, der sich an Gott wandte, indem er ihn >>Vater« nannte. 38 Aufgrund dieser Feststellung hat Jeremias eine gleichsam pietistische Auslegung des Vaterunser entwickelt. »Die völlige Neuheit und Einmaligkeit der Gottesanrede 'Abba in Jesu Gebeten zeigt« - so schreibt er - »daß sie das Herzstück des Gottesverhältnisses J esu ausdrückt. Er hat mit Gott geredet wie ein Kind mit seinem S. Grelot, 1983, 101-108; Beyer, 1984, 116. S. dazu Dalman, 1930, 157, Fußnote 5; Jeremias, 1966,61, Fußnote 37; FitzmyeriHarrington, 1978, 95a und b; Schelbert, 1981,417; Rüger, 1984, 73f. 30 J eremias, 1966, 60; 1988, 72. 31 Genesis-Apokryphon 2,19; 2,24; 3,3. 32 Tobit 1,22; 6,15; 7,5. 33 Buch der Riesen (6Q8, Fragment 1,4). 34 »Aramäisches Testament des Levi« (4Q213a, Fragment 1,II,12; 4Q213 b,4). 35 Testament des Qehat (4Q542, Fragment 1,II,11). 36 Beyer, 1984, 503. 37 Jeremias, 1988, 69. 38 J eremias, 1966, 3lf; 1988, 69f. 28
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Vater: vertrauensvoll und geborgen und zugleich ehrerbietig und bereit zum Gehorsam.«39 Diese These hat große Zustimmung erhalten und ist, mit kleinen Nuancen, von vielen Forschern aufgenommen worden, insbesondere von O. Cullmann, dessen Buch »Das Gebet im Neuen Testament« als klassisches Werk betrachtet werden kann. 40 Ein seit langem bekannter, aber nicht beachteter Text - der Targum zu Psalm 89 - und zwei Qumran-Texte, 1994 41 und 1995 42 publiziert, bringen uns allerdings dazu, die gängige Meinung aufzugeben. In zwei Abschnitten des Alten Testaments, Maleachi 2,10 und Psalm 89,27, wird Gott im Targum 'abba: genannt; Jeremias schließt den einen wie den anderen aus mit der Begründung, daß diese beiden Texte den Charakter einer Aussage und nicht den einer Anrede hätten. 43 Wenn dieses Argument auch für Maleachi 2,10 festgehalten werden kann, so ist es überhaupt nicht überzeugend im Blick auf Psalm 89,27, einem Vers, der ohne Schwierigkeit als Anrede gelten kann: »Er wird zu mir rufen: Mein Vater bist du ('abba 'att), mein Gott.« Die Vorstellung, der Übersetzer sei bei Psalm 89,27 durch den unterschwelligen Sinn des Textes gezwungen gewesen, 'abba' zu schreiben, und man könne also diesen einzigartigen Abschnitt hier nicht in Erwägung ziehen, ist nicht akzeptabel. Gerade der einzigartige Charakter dieses Zeugnisses macht seinen Wert aus und führt zu der Frage, ob nicht gerade dieser Abschnitt der Ursprung der Anrede abba im »Gebet Jesu« sein könnte. M. Hengel hat die Bedeutung des Targum zu Psalm 89,27 für die Auslegung der Anrede abba durchaus gesehen. »Hier«, so schreibt er, »könnte die - sicher auf Jesus zurückgehende - Wurzel des Gebetsrufs >Abba< im Urchristentum liegen.«44 Dennoch wies er die These von Jeremias nicht zurück und führte aus: »Auch wenn Jesus sich wahrscheinlich nicht expressis verbis als >Sohn Gottes< beJeremias, 1988, 73. Cullmann, 1994, 54-56. 41 4Q369 (4QGebet des Enosch). 42 4Q460 (4QNarrative Work and Prayer). S. Wachholder/Abegg, 1995, 344-347; Garcia Martfnez/Tigchelaar, 1998, 936-939. 43 Jeremias, 1966,27; 1988, 69. 44 Hengel, 1975, 73, Fußnote. 39
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zeichnet hat, so liegt doch in seinem >sohnhaften< Verhältnis zu Gott als Vater die eigentliche Wurzel zu diesem nachösterlichen Titel. «45 Es fällt auf, daß der hebräische Text von Sirach 51,1 den Psalm 89,27 aufgreift - allerdings indem er die Reihenfolge der Bezeichnungen >>Vater« und »Gott« umkehrt: »Ich werde dich loben, mein Gott, mein Vater. «46 Auch in Sirach 51,10 - immer noch im hebräischen Text -lesen wir: Ich rief: Jahwe, Du bist mein Vater, denn Du bist der Held meines Heils. 47 Auch hier läßt sich der Autor des Sirachbuches zweifelsohne von Psalm 89,27 anregen. Sicherlich ist es möglich, den beiden angeführten Texten aus Sirach den Sinn einer bloßen Aussage geben zu wollen. Dennoch: In zwei hebräischen Qumran-Texten hat »mein Vater« genau den Sinn einer Anrede. Im Joseph-Apokryphon redet der Patriarch, in stillschweigender Anspielung auf Psalm 89,27, Gott mit diesen Worten an: »Mein Vater und mein Gott.«48 In einem hebräischen Fragment, daß man in Höhle IV von Qumran entdeckt hat, erklärt der Erzähler: »[D]enn Du hast Deinen Diener nicht vergessen [ ... ], Mein Vater und mein Herr.«49 Die Formel aus Psalm 89,27 wurde also in hebräischen Gebeten als Anrede gebraucht, und nichts spricht dagegen, daß J esus dasselbe in seinen aramäischen Gebeten getan hat, indem er zu Gott 'abba' sagte. Es scheint unserer Meinung nach also möglich und sogar wahrscheinlich, daß Jesus sich in seiner Anrede 'abba' die Formel aus Psalm 89,27 zu eigen gemacht hat. Der Psalm 89 bietet uns das klarste poetische Echo der Prophetie Nathans. 50 Er wurde natürlich für eine zusammenhängende Einheit gehalten. Sobald Jesus die Anrede 'abba' aus Vers 27a aufnahm, konnte er dabei nicht vom Hengel, 1975,99. Jeremias, 1966, 32; 1988, 69 übersetzt den hebräischen Text von Sirach 51,1: »Ich werde dich loben, Gott meines Vaters«, was philologisch möglich ist. Vgl. Exodus 15,2. 47 Zu diesem Text s. Strotmann, 1991. 48 4Q372, Fragment 1,16; s. Garcia Martfnez/Tigchelaar, 1998, 736. 49 4Q460, Fragment 5, I, 5; s. Garcia Martfnez/Tigchelaar, 1998,938. 50 Caquot, 1963,218. 45
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folgenden Vers absehen, und so nahm er, Stück für Stück, den ganzen Psalm für sich in Anspruch, insbesondere die Verse 21, 27 und 28 nach dem Targum: 21 Ich habe David gefunden, meinen Knecht: Ich habe ihn gesalbt mit heiliger Salbung. 27 Er wird mich anrufen: Du bist mein Vater, Mein Gott und die Stärke meines Heils! 28 Aber ich, ich werde ihn zum Erstgeborenen der Könige des Hauses Juda machen, zum Höchsten unter den Königen der Erde. So wurde Jesus dazu gebracht, sich mit dem Nachfolger Davids zu identifizieren, mit dem erwarteten Gesalbten, dem Erstgeborenen Gottes. 51 Sicher scheint der Psalm 89 im rabbinischen Judentum kaum Gegenstand einer ausführlichen messianischen Auslegung gewesen zu sein. Im essenischen Milieu war dies völlig anders, wie dies 4Q369 zeigt. Dieses entscheidende Dokument ist aus mehreren Fragmenten zusammengesetzt, deren wichtigstes zwei Kolumnen enthält. Die beiden Herausgeber, H. Attridge undJ. Strugnell, haben es 4QGebet des Enosch genannt. 52 Laut Jubiläen 4,12 war Enosch in der Tat der erste, der den Namen des Herrn angerufen hat. Die Herausgeber ziehen dennoch in Betracht, daß die zweite Kolumne ein »Gebet Henochs« oder aber einer anderen biblischen Gestalt, wie z. B. Abrahams oder Davids, sein könnte. Die »davidische« Auslegung scheint uns viel für sich zu haben. 53 Hier die Übersetzung des hebräischen Textes, der betitelt werden könnte: »Inthronisation des Erstgeborenen Gottes auf dem Berg Zion«. 4Q369, Fragment 1, II, 1-12 1 Dein(en) Name(n). Du hast zugeteilt sein Erbteil, um Deinen Namen dort einwohnen zu lassen [ -- ] 2 sie als Weltzierde Deiner Erde (lDeines Landes) und auf ihr .. [ -- ] 3 Dein Auge auf <sie> und Deine Herrlichkeit wird dort erscheinen zu/für[ --]
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s. Gese, 1997,429. Attridge/Strugnell, 1994. S. Evans, 1995.
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4 seiner Nachkommenschaft nach ihren Generationen als ewigen Besitz, und al[l -- ] 5 und Deine guten Gesetze hast Du für ihn auserlesen, um zu.[ -- ] 6 in ewigem Licht. Und Du setztest ihn Dir zum Sohn ein, den Erstgeb[orenen, --] 7 wie ihn (?) zum Befehlshaber und Herrscher über alle Welt Deiner Erde (lDeines Landes)[ -- ] 8 .[ ..... E]rbarmen und Wolkenhimmel-Herrlichkeit stützest D[u -- ] 9 [ -- ]. Und Dein Friedens-Engel in seiner Gemeinde, und e[r -- ] 10 [gabst Du] ihm gerechte Vorschriften wie ein Vater für [(s)einen] S[ohn -- ] 11 [ ...... ]. seine Liebe, es hafte deine Seele an .[ -- ] 12 [ ........ ]. denn durch sie(lin ihnen) Deine Ehr[e -- ] Bemerkungen: 1. Um Deinen Namen dort einwohnen zu lassen: nach Deuteronomium 12,11; 16,6; 16,11. 2. Deiner Erde (lDeines Landes): vgl. Sprüche 8,31; Hiob 37,12. 3. Deine Herrlichkeit wird dort erscheinen: nach Jesaja 60,2. 4. Als ewigen Besitz: nach Genesis 48,4. 6. In ewigem Licht: typisch qumranischer Ausdruck. S. Sektenregel 4,8; Kriegsrolle 17,6. Und Du setztest ihn Dir zum Sohn ein, den Erstgeborenen: Formulierung aus Psalm 89,28. 7. Zum Befehlshaber und Herrscher: umschreibende Wendung um das schwierige 'ely8n, "Höchster«, aus Psalm 89,28 wiederzugeben. 8. Wolkenhimmel-Herrlichkeit: vgl. Targum des Pseudo-Jonathan zu Exodus 16,10. 9. Und Dein Friedens-Engel in seiner Gemeinde: vgl. Gemeinderegel2, 8-9.
Der Abschnitt, der die Auslegung der zweiten Kolumne bestimmt, findet sich in den Zeilen 6-7. H. Attridge und J. Strugnell kommentieren den Ausdruck » Erstgeborener« folgendermaßen: » The language is standard royal and messianic titulature ; cf 2 Sam. 7: 14 ; Ps. 2: 7«. Dies ist nicht zu bestreiten, aber der einzige Text, der hätte erwähnt werden müssen, nämlich Psalm 89,27f, wurde beiseite gelassen: Er wird zu mir rufen: Mein Vater bist du, ein Gott, der Fels meines Heiles. Ich mache ihn zum erstgeborenen Sohn, zum Höchsten ('elyon) unter den Herrschern der Erde.
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In der Tat sind es diese besonderen Verse des Psalms 89, auf die der qumranische Text anspielt. In Zeile 7 sind die Titel »Befehlshaber« (sar) und »Herrscher« (m6shel) nur eine Umschreibung, die das schwierige 'ely6n, Epitheton zu Gott, »dem Höchsten«, wiedergeben sollen, welches nur in diesem Abschnitt der hebräischen Bibel auf David angewandt wird. 54 Bemerkenswert ist, daß diese Erklärung des Psalms 89,28 in der Offenbarung des Johannes 1,5 vorausgesetzt wird, wo Christus der »Erstgeborene der Toten, der Herrscher über die Könige der Erde« genannt wird. 55 Die Zeilen 6 bis 10 unseres Textes ermöglichen, die unterschiedlichen Phasen eines antiken Inthronisationsritus zu rekonstruieren, dessen Erinnerung sich bis in die späte Zeit erhalten hat, wie dies das Testament des Levi,56 das Buch der Geheimnisse Henochs 57 und 3. Henoch 58 bezeugen. Man kann so fünf Abschnitte dieses Ritus unterscheiden: 1) Himmelfahrt »in einem ewigen Licht«; 2) Adoption des Davididen als erstgeborenen Sohn; 3) Inthronisation des Erstgeborenen als Befehlshaber und Herrscher für die ganze Erde; 4) Krönung des Erstgeborenen; 5) Unterweisungen des Vaters an Seinen erstgeborenen Sohn. Die Zeile 10 ist besonders interessant. Hier wird gesagt, daß Gott - »wie ein Vater seinen Sohn« - denjenigen Seine gerechten Gebote gelehrt hat, der gerade zur königlichen Würde erhoben wurde. Der Ausdruck wird in III Henoch wieder aufgenommen, und zwar im Inthronisationsbericht des Metatron. 59 Wenn unsere Interpretation berechtigt ist, der zufolge Jesus sich durch seine Anrede 'abba' als Sohn Gottes erkannte, dann folgt daraus nicht notwendigerweise, daß er sich als solcher öffentlich proklamiert hat. Auf eben sein Gebet, in das er die messianische S. Ahlström, 1959, 113. Der Ausdruck »Erstgeborener der Toten« könnte durch Hiob 18,13 angeregt worden sein: »des Todes Erstgeborener«; allerdings hat das Hebräische hier eine andere Bedeutung. 56 Testament Levis 8,1-10. S. Caquot, 1972, 156-161. 57 2. Henoch 22,3-7. 58 3. Henoch 12,1-4, oder Schäfer, 1981, § 15, und dazu s. Schäfer, 1988, 272f. 59 3. Henoch 45,2, oder Schäfer, 1981, § 64. 54 55
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Auslegung des Psalms 89 einschloß, gründete Jesus seine Gewißheit, der Sohn Gottes zu sein. Zu welcher Gelegenheit konnte Jesus sich an Gott wenden und ihn 'abba: nennen? Das einzige Ereignis aus dem Leben Jesu, an das man denken könnte, ist seine Taufe im Jordan. 60 Die Historizität dieser Handlung kann nicht in Zweifel gezogen werden,61 wie groß auch der Einfluß des Testaments des Levi 18,6-7 und des Testaments des Juda 24,2 auf die Gestaltung des Berichts gewesen sein mag. 62 Eine himmlische Stimme habe dem Täufling verkündet: Du bist mein Sohn, heute habe ich dich gezeugt. 63 'Abba' wäre so der aus seinem innersten Herzen kommende Gebetsruf J esu gewesen, die Antwort auf die göttliche Berufung.
Markus 1,10f; Matthäus 3,16f; Lukas 3,21f. S. Goguel, 1950,209; Buhmann, 1957,263; Theißen/Merz, 1997, 193. 62 S. Eppel, 1930, 103, Fußnote 3; Philonenko, 1960, 11, Fußnote 40; Hultgard, 1977,378. Jeremias, 1988,57 und DavieslAllison, 1988,329, Fußnote 70, sind gegensätzlicher Meinung. 63 Lukas 3,22, nach der Handschrift D und der Vetus latina, als Echo auf Psalm 2,7. Die Lesart der anderen Handschriften: »Du bist mein geliebter Sohn, an dir habe ich Gefallen« bezieht sich auf Jesaja 42,1. S. Jeremias, 1988, 60f. 60 61
Kapitel IV Die erste Bitte: »Dein Name werde geheiligt!« Die erste Bitte wird in den Evangelien des Matthäus und des Lukas mit denselben Worten überliefert. Sie ist direkt vom Qaddisch beeinflußt. Der Vergleich muß, wie man sehen wird, auch auf andere Dokumente ausgeweitet werden, die oft vernachlässigt wurden: andere synagogale Gebete, das »Buch der Bilderreden« Henochs, dessen jüdischer Ursprung nicht mehr in Zweifel gezogen werden sollte, l sowie die Literatur der Hekhalöt. Die erste Bitte steht, wie auch die dritte, im Imperativ Aorist Passiv. Diese umschreibende Wendung, für die es zahlreiche Beispiele im Targum und in den Worten Jesu gibt, ermöglicht, ein direktes Reden von Gott zu verhindern. Man hat sie »göttliches Passiv« (Passivum divinum)2 oder »königliches Passiv« (Passivum regium? nennen können. Diesen Bezeichnungen ziehen wir die allgemeinere des »ehrerbietigen Passivs« vor. Gott ist das implizite Subjekt des Verbes; so hört man in den »Seligpreisungen«: »Sie werden getröstet werden« für »Er wird sie trösten« (Matthäus 5,4); »Sie werden gesättigt werden« für »Er wird sie sättigen« (Matthäus 5,6); 1 S. Sjöberg, 1946, 1-39; Black, 1985, 183-188; Hengel, 1999, 179f. Für einen nicht nur jüdischen, sondern essenischen Ursprung der »Bilderreden«, s. Dupont-Sornrner, 1970-1971,386-391; Philonenko, in Dupont-SornrneriPhilonenko, 1999, LXVIf. 2 Jerernias, 1988, 20-24. 3 Macholz, 1990.
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»Sie werden Söhne Gottes 'genannt werden« für »Er wird sie Söhne Gottes nennen« (Matthäus 5,9). Jesus sagt nicht: »Heilige Deinen Namen«, sondern »Dein Name werde geheiligt«. Man hat also allen Anlaß anzunehmen, daß in der Bitte »Dein Name werde geheiligt« Gott das eigentliche Subjekt ist und daß die »Heiligung« des Namens Gottes zuallererst das Werk Gottes selbst ist. Dennoch ist, wie wir zeigen werden, auch nicht ausgeschlossen, daß andere an dieser Heiligung teilnehmen können. Aber es ist nicht J ahwe, der hier Gegenstand der Heiligung ist, sondern Sein Name. Das Wort »Jahwe«, ein unaussprechliches Wort, erhielt diesen Charakter der Unsagbarkeit vor dem christlichen Zeitalter. Es war verboten, das Tetragramm auszusprechen. 4 Man fand dafür viele Ersatzbezeichnungen: der Herr, der Höchste, der Allmächtige, der Heilige, der Starke, der Himmel, der Ort, das Wort, der Name und noch andere. 5 Diese Ersatzbezeichnungen können nicht als einfache stilistische Kunstgriffe betrachtet werden. Es tauchen neue Entitäten auf, mit unterschiedlichem Status, für welche die Begriffe »Hypostasen«, »Personifikationen« oder »Abstraktionen« mehr oder weniger gut zutreffen. 6 Beschränken wir uns hier auf den »Namen«. Der »Name« hat in den Targumen häufig, um ein Bild zu gebrauchen, die Funktion eines »Pufferwortes«,l Anstelle von »ein Opfer für Jahwe« in Exodus 35,5 hat der Targum Neofiti »ein Trennungsopfer für den Namen Jahwes«.8 Anstelle von »ein Jahwe angenehmer Geruch« in Leviticus 6,8 findet man im Targum Neofiti »ein dem Namen Jahwes angenehmer Geruch«. Dieser Kunstgriff wird sehr oft in den »Bilderreden« Henochs angewandt. 9 Der Autor untersagt sich, den Namen »Jahwe« zu benutzen. Er ersetzt ihn durch die Bezeichnung »Herr der GeiDalmann, 1930, 149; Urbach, 1979, I, 127. S. Bousset/Gressmann, 1926,308-316; 342-357. 6 S. Henge!, 1988,276, Fußnote 288. 7 Caquot, 1999, 534, Fußnote zu 1. Henoch 61,9. 8 Die kursivierten Wörter sind die in der targumischen Paraphrase hinzugefügten Wörter. 9 5.1. Henoch 39,7; 39,9; 39,13; 43,4; 46,6; 46,7; 47,2; 48,10; 61,3; 61,9 (zwei mal); 61,11; 69,24. 4
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ster«,l0 der er sehr oft noch das "Pufferwort«"der Name« voranschickt; so etwa in I Henoch 39,7: »Ihre Lippen priesen den Namen des Herrn der Geister.« Wenn er einmal die Formel »Gepriesen seist Du, und gepriesen sei der Name des Herrn immer und ewig!« (1. Henoch 39,13) benutzt, so ändert der Autor der »Gleichnisse« diese Formel um in »Gepriesen seist du, und gepriesen sei der Name des Herrn der Geister, für immer und ewig!« (61,11). Der Autor scheint sogar aus dem »Namen« eine selbständige Entität zu machen, wenn er in 61,9 verweist auf die »Rede des Namens des Herrn der Geister«. Im Targum wird »der Name« eine wirkliche Ersatzvokabel für das Personalpronomen, wenn dieses Pronomen Gott bezeichnet. Dies illustrieren die beiden folgenden Beispiele: »um mich zu heiligen« aus Numeri 20,12 wird vom Targum Neofiti mit »um meinen Namen zu heiligen« wiedergegeben; Leviticus 22,32, »damit ich in der Mitte der Kinder Israels geheiligt werde« wird vom Targum Neofiti wiedergegeben mit »damit Mein ehrwürdiger Name in der Mitte Meines Volkes, Israel, geheiligt werde«. Das Antonym zu »heiligen« ist »entweihen«, wie in Hesekiel 38,23 deutlich wird: »Ich werde meinen großen Namen heiligen, der unter den Völkern entweiht worden ist.« So bedeutet die Bitte »Dein Name werde geheiligt«: »Dein Name werde nicht entweiht«, sondern »geweiht« und »verkündigt«. Die Exegeten haben sich lange Zeit gefragt, ob die Heiligung des »Namens« das Werk Gottes oder das Werk der Menschen sei. ll Aus dem Gebrauch des »ehrerbietigen Passivs« in der Wendung »Dein Name werde geheiligt« ergibt sich, daß die Heiligung zuerst das Werk Gottes selbst ist, aber die Heiligung ist auch das Werk der Engel. Sie spielen zum Beispiel eine wesentliche Rolle für die Anerkennung der Heiligkeit Gottes durch die immerwährende Rezitation des Trishagion aus Jesaja 6,3: ' Heilig, heilig, heilig ist der Herr der Heere, von seiner Herrlichkeit ist die ganze Erde erfüllt.
10 Zu diesem Titel, s. Black, 1985, 189-192. Eine andere Erklärung bei Philonenko,1985,440-443. 11 S. Strecker, 1984, 117; Cullmann, 1994, 59.
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Der Einfluß dieses Verses aus Jesaja auf die jüdischen und christlichen Liturgien war von kaum zu überschätzender Bedeutung. Die älteste Bearbeitung des Trishagion ist zweifelsohne diejenige, die man in den »Bilderreden« Henochs lesen kann: Dich preisen die, die nicht schlafen, und sie stehen vor deiner Herrlichkeit und preisen, verherrlichen und erheben (dich), indem sie sprechen: » Heilig, heilig, heilig ist der Herr der Geister, er füllt die Erde mit Geistern! «12 Dem Trishagion folgt ein Segen: »Gepriesen seist du, und gepriesen sei der Name des Herrn immer und ewig!«13 Der Segen ist eine Kombination aus zwei unterschiedlichen Segenssprüchen: der erste, in der zweiten Person, »Gesegnet seist Du«, ist im Buch der Hymnen bezeugt,14 der zweite, in der dritten Person, ist der Segensspruch »Gesegnet sei Jahwe«, und zwar in der modifizierten Form des Targum zu den Psalmen: »Gesegnet sei der Name Jahwes ... «.1 5 Eine andere alte Bearbeitung ist diejenige aus der Offenbarung des Johannes: Und jedes der vier Lebewesen hat sechs Flügel, außen und innen voller Augen. Sie ruhen nicht, bei Tag und Nacht, und rufen: Heilig, heilig, heilig ist der Herr, der Gott, der Herrscher über die ganze Schöpfung; Er war, und er ist, und er kommt. 16 In der Apokalypse Abrahams, einem Pseudepigraphon jüdischen Ursprungs, das nur in einer slawischen Übersetzung erhalten wurde,17 hört der Patriarch während seiner Himmelfahrt »eine große 1. Henoch 39,12. 1. Henoch 39,13. 14 Hymnen (IQH) 5,20; 11,27; 11,29; 11,32; 16,8. IS Psalm 41,14; 89,53; 106,48. S. auch Daniel2,20, nicht nur im hebräischen Text, sondern auch in den Übersetzungen, insbesondere in der Vulgata: Sit nomen Domini benedictum a saeculo et usque in saeculum. 16 Offenbarung des Johannes 4,8. 17 S. Philonenko-Sayar/Philonenko, 1981. 12 13
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Stimme der Heiligkeit« - eine deutliche Anspielung auf das Trishagion.1 8 Die Leiter des Jakob, ein Pseudepigraphon, das in slawischer Sprache erhalten und der Apokalypse des Abraham nahe verwandt ist, zeigt, wie sich der Mystiker in bestimmten esoterischen Milieus den Wortlaut des Trishagion in sehr freier Art und Weise aneignete. Das Lied Jakobs anläßlich seiner Vision ist von Jesaja 6,2f inspiriert: Vor dem Angesicht Deiner Herrlichkeit sind die Seraphim mit sechs Flügeln voller Furcht: Und sie bedecken ihre Beine und ihre Gesichter mit ihren Flügeln und indem sie mit den (beiden) anderen (Flügeln) fliegen, singen sie ohne Unterlaß ein Lied, welches ich nun heilige in einem neuen (Lied): Du, der Du zwölf Höhen hast, zwölf Gesichter und zahlreiche Namen, Du, der Du Feuer bist, dessen Blick wie der Blitz (ist), Heilig! (Du bist) Heilig, Heilig, Heilig, lao laova laoe! lao, Kados Khabod Sabaoth. 19 Es sei bemerkt, daß diese persönliche Aneignung des Trishagion mit einem Abschnitt aus einer Abhandlung der Hekhalöt, dem Ma'asseh Merkäbäh oder »Werke des Wagens« zusammengestellt werden muß: ' Ich will deinen Namen heiligen, den großen, mächtigen, und furchtbaren. » Heilig, heilig, heilig ist der Herr der Heerscharen! «20 Unter dem Wort Qedushah, »Heiligung« hat die Anrufung aus J esaja 6,3 ihren Weg in die synagogale Liturgie gefunden, wo sie unter drei unterschiedlichen Formen erscheint: die erste im Yö~er, der
Apokalypse Abrahams 16,3 Leiter des Jakob 2,15-18 (Französische Übersetzung von B. Philonenko-Sayar). Zum slawischen Text s. Denis, 2000, I, 223f. 20 Schäfer, 1981, § 551; Übersetzung: Schäfer, 1987-1991, Bd. 3,254. 18 19
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zur Morgenliturgie gehört,21 die zweite im »Achtzehngebet«,22 die dritte schließlich ist die Qedusah desidra'.23 Die drei Formen der Qedushah verbinden Jesaja 6,3, das heißt das Trishagion im eigentlichen Sinne, und HesekieI3,12: »Gesegnet sei die Herrlichkeit des Herrn an ihrem Ort.« Die älteste Qedushah ist zweifelsohne die Qedushah im yö~er.24 Die Geschichte der Qedushah ist ziemlich kompliziert: Sie erstreckt sich über mehrere Jahrhunderte und spielte sich in den unterschiedlichsten Milieus ab. Es ist durchaus möglich, mit A. M. Schwemer anzunehmen, daß diese Geschichte bis auf die Tempelliturgie von Jerusalem zurückgeht. 25 Man könnte sich so die Tatsache erklären, daß Hesekiel 3,12, wo ausdrücklich auf den Tempel Bezug genommen wird, dem Trishagion hinzugefügt wurde. Ebenso könnte man erklären, wie von dem Tag an, als bestimmte fromme Milieus mit dem Heiligtum in Jerusalem und mit seinen Opfern und Liturgien brachen, das Zitat aus HesekieI3,12: »Gesegnet sei die Herrlichkeit des Herrn an ihrem Ort« durch einen einfachen Segensspruch ersetzt wurde, wie etwa in I Henoch 39,13 26 oder in den apostolischen Konstitutionen. 27 Der Hinweis auf Hesekiel 3,12 kann - noch radikaleLsogar weggelassen werden, ohne irgendwie ersetzt zu werden, wie zum Beispiel in Offenbarung des J ohannes 4,8 und sehr oft auch in den Hekhalöt. Aufgrund des Platzes, den sie in der täglichen Liturgie einnahm, war die Qedusah jedem frommen Juden ständig gegenwärtig. Durch sein Gebet war er, während er den dreimal heiligen Gott proklamierte, mit der Welt der Engel verbunden. Auch die Menschen nehmen also, zusammen mit den Engeln und mit Gott selbst, am Werk der Heiligung teil. Wenn auch die Heiligung des »Namens« im Himmel vollkommen ist, so wird sie doch auf der Erde nicht vollständig verwirklicht.
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Staerk, 1930,4-6; Birnbaum, 1990, 71-73. Birnbaum, 1990, 83. Birnbaum, 1990, 13l. S. die Zusammenfassung der Diskussion bei Heinemann, 1977,230-233. Schwemer, 1991, 325. S. oben, S. 46. Apostolische Konstitutionen 8,12,27.
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Wir müssen hier zurückkommen auf einen der rätselhaftesten Abschnitte der »Bilderreden« (1. Henoch 61,12): ".jeder Geist des Lichtes, der deinen gepriesenen Namen preisen, verherrlichen, erhöhen und heiligen kann, und alles Fleisch, das deinen Namen von Ewigkeit zu Ewigkeit gewaltig verherrlichen und preisen wird. »Jeder Geist« bezieht sich auf die Engel, und »alles Fleisch« auf die Menschen. Diese Ausdrücke sind Numeri 16,22 entnommen, wo der hebräische Text lautet: »Gott! Gott der Geister und allen Fleisches.« Während der hebräische Text bedeutet, daß Gott seinen Geist allem Fleisch einhaucht, versteht die Septuaginta, daß Gott der »Gott der Geister und allen Fleisches« ist, das heißt: Gott der himmlischen Geister und aller Menschen. Diese Auslegung wird vom Verfasser der »Gleichnisse« wieder aufgenommen. 28 Nach den »Gleichnissen« werden die Engel und die Menschen am Tage des Gerichts versammelt, um den gesegneten Namen zu »preisen, verherrlichen, erhöhen und heiligen«.29 Der Name Gottes wird also endgültig geheiligt, und das Werk der Heiligung wird auf Erden wie im Himmel vollendet. Im Rahmen dieser Erwähnung des kommenden Gerichtes ist es nicht mehr nötig, den Wunsch zu äußern, daß der Name Gottes geheiligt werde: er ist es bereits. Es reicht, wenn man das Trishagion ausruft: Heilig, heilig, heilig ist der Herr der Geister er füllt die Erde mit Geistern!3o J esus macht sich diese Vorwegnahme in der ersten Bitte seines Gebets nicht zu eigen. Er wartet darauf, daß in den letzten Tagen der Welt Gottes Name vollständig geheiligt wird.
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S. Philonenko, 1985, 44of. 1. Henoch 61,12. 1. Henoch 39,12.
Kapitel V Die zweite Bitte: »Dein Reich komme!« Die zweite Bitte wird in den Evangelien des Matthäus und des Lukas wortgleich überliefert. Die Mittelstellung, die sie bei Matthäus erhält, läßt sie zum Zentrum des »Gebets Jesu« werden. Hinter der scheinbaren Schlichtheit dieser Bitte verbergen sich schwierige Interpretationsprobleme. Die zweite Bitte ist, wie schon die erste, direkt vom Qaddisch inspiriert, ohne daß sie aber eine bloße Kopie desselben wäre. Der dem Anschein nach unbedeutende Übergang von der Bitte des Qaddisch: »Und er lasse herrschen seine Königsherrschaft« zur zweiten Bitte des Vaterunser: »Dein Reich komme« wird unsere besondere Beachtung verlangen. Die zweite Bitte ist dem »Reich« gewidmet. Das Wesen und die Herkunft dieser Bezeichnung sind sehr verwickelt und trotz vieler Arbeiten nicht vollkommen erhellt worden. Es wäre unpassend, ein so weites Thema an dieser Stelle grundlegend zu erörtern. Dennoch ist es vielleicht erlaubt, eine erneute Auslegung einiger Worte über das Reich vorzuschlagen. Sie wird von seit kurzem bekannten qumranischen Texten oder von bisher unzureichend ausgewerteten targumischen und pseudepigraphischen Texten ausgehen. Die zweite Bitte des Vaterunser wird dadurch in einigen Punkten erhellt werden. Der griechische Ausdruck ßaoLt..da, »Königtum«, in der Vulgata meist mit regnum wiedergegeben, kann als die Ausübung königlicher Macht hinsichtlich der Zeit - als »Herrschaft« - oder hinsichtlich des Raumes - als »Reich« - verstanden werden. Im N euen Testament überwiegt manchmal der räumliche Aspekt, so in Matthäus 7,21: »in das Himmelreich kommen«, manchmal aber steht auch der zeitliche Aspekt im Vordergrund, wie etwa in Markus
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Kapitel V: Die zweite Bitte: »Dein Reich komme!«
1,15: »Die Herrschaft Gottes ist nahe.« In der zweiten Bitte drängt sich die Bedeutung »Herrschaft« auf, wie auch in der zweiten Bitte des Qaddisch. In den synoptischen Evangelien wird der Ausdruck »Reich der Himmel« nur von Matthäus benutzt, 1 der außerdem auch noch den Ausdruck »Reich Gottes« kennt. 2 Die Formel »Reich der Himmel« ist eine Nachbildung des hebräischen malkut samayim, was dasselbe bedeutet, oder des aramäischen malkuta' disemayya'.3 Die Ausdrücke »Reich Gottes« oder »Reich der Himmel« sind praktisch gleichbedeutend, weil »die Himmel« ein Ersatz für den Namen Gottes selbst waren. 4 Die Bedeutung ist jedoch nicht ganz identisch, denn der Ausdruck »Reich der Himmel« verweist unausgesprochen auf die himmlischen Höhen, wo die Liturgien der Engel erklingen. Die Vorstellung des Reiches Gottes hat ihren fernen Ursprung in der Religion des alten Israel, wo die Idee des »Königtums« Jahwes eine große Rolle spielt, besonders in den »Königspsalmen«. In dieser Gruppe der Psalmen erschallt die kultische Akklamation »Jahwe herrscht« (Psalm 93,1; 96,10; 97,1; 99,1).5 Die Akklamation wird im Siegeshymnus aufgenommen, der von Mose und den Führern Israels nach dem Durchzug durchs Rote Meer gesungen wird: »J ahwe herrschtfür immer und ewig!« (Exodus 15,18). So auch inJesaja 52,7: Wie willkommen sind auf den Bergen die Schritte des Freudenboten, der Frieden ankündigt, der eine frohe Botschaft bringt und Rettung verheißt, der zu Zion sagt: Dein Gott herrscht. Wenn auch die Vorstellung eines Königtums Jahwes im Alten Testament von zentraler Bedeutung ist, so taucht die Idee eines Reiches Gottes doch nur am Rande auf. In der berühmten Prophe1
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Zweiunddreißig mal. Matthäus 12,28; 19,24; 21,31; 21,43. Dalman, 1930, 75-79. S. weiter oben, S. 45. Widengren, 1969,285.
Kapitel V: Die zweite Bitte: »Dein Reich komme!«
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tie Nathans, in 2. Samuel 7,16, sagt der Prophet zu David: »Dein Haus und dein Königtum sollen durch mich auf ewig bestehen bleiben; dein Thron soll auf ewig Bestand haben.« Der Autor von 1. Chronik 17,14 macht aus dieser Prophetie eine Aussage, die Gott in den Mund gelegt wird: »In meinem Haus und in meinem Königreich werde ich ihm ewigen Bestand verleihen; sein Thron wird für immer bestehen bleiben.« Die durch den Chronisten vorgenommene Änderung, die »dein Königtum« durch »mein Königreich« ersetzt, ist, wie spät auch immer sie sei, doch nicht weniger bedeutsam. Im allgemeinen und abgesehen von einigen Abschnitten 6 erscheint das Wort malkut, »Reich«, in der Bibel nur in den jüngsten Büchern. 7 Im Buch Daniel erhält die Vorstellung des »Reiches« einen deutlich eschatologischen Sinn, obwohl sonderbarerweise der Ausdruck »Reich Gottes« nicht vorkommt. Er erscheint zum ersten Mal erst in der Weisheit Salomos 10,10, also in einem der letzten Bücher der griechischen Bibel. Die weite, eher in der Spätzeit auftretende Verbreitung des neuen politischen Begriffs des »Reiches« trägt Züge fremder, ohne Zweifel iranischer Einflüsse. Für die Zeit nach dem Exil ist dies unbestreitbar. Die Perser hatten eine Eschatologie entwickelt, in der die den Gerechten versprochene Heimstatt mit xsathra, »Reich«, oder mit xsathra vairya, »das begehrenswerte Reich (oder Königsherrschaft)« bezeichnet wurde. So schreibt E. Benveniste: »Hier liegt der Prototyp desjenigen vor, das in der Eschatologie des prophetischenJudentums und des Christentums das »Reich der Himmel« wurde, ein Bild, das eine iranische Auffassung wiederspiegelt. «8 Wenn auch der Ausdruck »Reich der Himmel« oder »Reich Gottes« in der hebräischen Bibel nicht vorkommt, so ist er doch fast fünfzig Mal in den synoptischen Evangelien bezeugt. Diese ins Auge fallende Verschiedenheit ist um so bemerkenswerter, als der 6 Numeri 24,7; 1. Samuel20,31; 1. Könige 2,12; Jeremias 10,7; 49,34; 52,31; Psalmen 45,7; 103,19; 145,11; 145,13. 7 1. Chronik, 2. Chronik, Esra, Nehemia, Prediger. 8 Benveniste, 1969, II, 20. Vgl. auch Dumezil, 1945, 139-140. Die Hypothese ist alt und wurde vertreten von Weiß, 1900, 32-35; Gunkel, 1903, 23f; GaU, 1926, besonders 236f; Otto, 1954, 6 u. 16-20; Burrows, 1955, 8; Grant, 1959, 439f; sie wurde hingegen bestritten von Dodd, 1965,24, Fußnote 2.
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Ausdruck in den meisten FällenJesus zugeschrieben wird. Dies bedeutet, daß nach dem Zeugnis der evangelischen Tradition die durchschlagende Einführung dieses neuen Begriffes auf Jesus selbst zurückgeht. Das Reich Gottes ist das zentrale Thema seiner Predigt, um das herum sich alles organisiert und von dem die zweite Bitte des Vaterunser nicht isoliert werden kann. Seit dem bahnbrechenden Werk vonJ. Weiß wissen wir, daß die Vorstellung des» Reiches Gottes« eschatologischer Natur ist. 9 Diese Erkenntnis ist wesentlich, aber sie antwortet bei weitem nicht erschöpfend auf eine Frage, die seit mehr als einem Jahrhundert heftig debattiert wird. lo Man hat lange Zeit geglaubt, daß der Ausdruck »Reich Gottes« in der alten jüdischen Literatur sehr selten sei. ll Die Veröffentlichung der in Qumran gefundenen »Sabbatopfergesänge« hat den bedeutenden Platz aufgezeigt, den das Thema des Königtums Gottes im essenischen Gedankengut innehatte. In diesen himmlischen Liedern wird Gott ohne Unterlaß verehrt »als ein herrlicher König, Herr aller Dinge und der Zeiten«,12 und sein Königtum wird beständig gepriesen. Die liturgischen Lobgesänge sind ohne eschatologischen oder apokalyptischen Inhalt, aber sie machen deutlich, in welchem Sinne Gott schon jetzt sein Königtum in den Himmeln ausübt, und wie er dies auch bald auf der Erde tun könnte. »Dein Reich komme«: Die Wendung hätte also nichts, das ihr im Alten Testament oder in der Literatur des alten Judentums entspräche. Das Judentum würde nämlich von der »Erscheinung« des Reiches sprechen, doch Jesus spricht von der »Ankunft« des Rei9 Weiss, 1900; Schweitzer, 1913, 222-235; [Strack/] Billerbeck, 1926, I, 181; Jeremias, 1988, 103. 10 Die einschlägige Bibliographie ist sehr umfangreich. Wir verweisen lediglich auf die Werke von Weiss, 1900, GaU, 1926; Montefiore, 1927, I, 2M; Dalmann, 1930, 75-119; Dodd, 1965; Goguel, 1950, 251-255; Otto, 1954; Buhmann, 1958, 3; Perrin, 1967, 54-108; Camponovo, 1984; Jeremias, 1988, 101-105; Hengel/Schwemer, 1991, I1f; Merkei, 1991, 119-161; Giesen, 1995; Flusser, 1997, 104-112; Hengel, 1999, 275-278. Ein Überblick findet sich in dem unter der Direktion von WiUis, 1987 veröffentlichen Werk; s. auch Theißen/Merz, 1997,223-226. 11 J eremias, 1988, 41f; Schlosser, 1980, I, 70. 12 Caquot, 1997,2.
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ches. J. Jeremias hat diesen Unterschied ganz besonders betont,D ohne jedoch dafür eine Erklärung vorzuschlagen.t 4 Der Rückgang auf den Targum ist hier wesentlich. Weil sie ihre Aufmerksamkeit nicht genügend auf die targumischen Formulierungsregeln richteten, haben die Ausleger den Sinn bestimmter neutestamentlicher Ausdrücke oft nicht richtig erkannt. Eine aufmerksame Lektüre des palästinischen Targum zum Pentateuch erlaubt es, die folgende Regel aufzustellen: Wenn ein Verb des Erkennens oder der Bewegung den Namen Gottes als Subjekt hat, dann neigen die Targumisten dazu, diese unterschiedlichen Verben mit dem Verb 'tgly, »erscheinen«, »sich zeigen« oder »sich offenbaren« zu übersetzen. 15 Illustrieren wir diese Regel durch einige Beispiele. Im hebräischen Text von Genesis 31,24 liest man: »Elohim aber kam zu Laban«, was der Targum Neofiti übersetzt: »Jahwe erschien Laban.« Genauso liest man in Genesis 20,3: »Aber Elohim kam des nachts im Traum zu Abimelech«, was der Targum Neofiti übersetzt: »Aber das Wort Jahwes erschien Ablimelech im Traum, während der Nacht.« Zitieren wir ein drittes Beispiel. In Deuteronomium 33,2 liest man im Hebräischen: »Jahwe ist vom Sinai (her) gekommen«, was der Targum Neofiti übersetzt: »Jahwe ist vom Sinai (her) erschienen.« Wenn die Targumisten das Verb »kommen« durch das Verb »erscheinen« ersetzen, dann vielleicht deshalb, um zu krasse Anthropomorphismen abzuschwächen,16 und vor allem, um die göttliche Transzendenz zu unterstreichen: Gott »kommt« nicht, Er »erscheint«, Er »zeigt sich«, Er »offenbart sich«. Begünstigt hat diese Exegese ein Abschnitt aus Jesaja, in dem die Verben »kommen« und »sich offenbaren« in einem synonymen Parallelismus stehen: So spricht Jahwe: Wahrt das Recht und sorgt für Gerechtigkeit, denn bald kommt von mir das Heil, meine Gerechtigkeit wird sich bald offenbarenY
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Jeremias, 1988,42, Fußnote 24. Ebensowenig wie Chilton, 1996,60. S. das wichtige Werk von Chester, 1986,31-57. Dalman, 1930, 83; Chester, 1986, 265-292. Jesaja 56,1; s. auch Chester, 1986, 13.
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Nicht nur Gott »erscheint«, sondern auch von gewissen Wesenheiten, die an die Stelle Gottes treten können, wie etwa Sein »Wort« oder Seine »Herrlichkeit«, wird gesagt, daß sie »erscheinen«.1 8 Diese Wendungen sind außerhalb der targumischen Literatur auch in 4. Esra bezeugt. Während in Jesaja 40,10 steht: »Seht, er bringt seinen Lohn mit«, paraphrasiert der Autor von 4. Esra: » Der Lohn zeigt sich.«19 Die syrische Baruch-Apokalypse wendet diesen Sprachgebrauch auf andere Begriffe an: » ... daß Freude dann geoffenbart und Ruhe erscheinen wird.«20 Die Art und Weise solcher Erscheinungen werden von den Targumisten präzisiert. Gott erscheint »mit Kraft«. Die Vorstellung ist aus Jesaja 40,10 gewonnen: Seht, Adonai J ahwe, er kommt mit Kraft. Die Wendung wird aufgenommen im Targum des Onkelos zu Deuteronomium 33,2: »Er ist erschienen in Seiner Stärke auf dem Berge Paran«, ebenso im Targum Neofiti zu Exodus 19,9: »Siehe, Mein Wort wird dir erscheinen in der Kraft der Wolke.« Diese Weise des göttlichen Erscheinens ist aus 1. Henoch 1,4 bekannt, wo sie mit Redundanz vorgetragen wird: »Er wird erscheinen in der Stärke Seiner Macht vom Himmel der Himmel her.« Die Erscheinungen »in Macht« sind auch »plötzliche«. Eine Formulierung des Liber antiquitatum biblicarum 15,5 illustriert dies sehr gut: »Die Herrlichkeit Gottes erschien plötzlich« (subito). Dies ist auch eine der Lieblingsvorstellungen des Autors von 4. Esra, für den die eschatologischen Phänomene und Wunder jeglicher Natur »plötzlich« (subito) und unerwartet geschehen: »Die Sonne wird plötzlich bei Nacht leuchten und der Mond tagsüber«j21 »Besätes Land erscheint plötzlich als unbesät. Volle Kammern werden plötzlich leer vorgefunden«j22 »Die Posaune wird 18 19 20
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s. z. B. den Targum des Pseudo-Jonathan zu Genesis 11,8 und 16,13. 4. Esra 7,35. 2. Baruch 73,1. 4. Esra 5,4. 4. Esra 6,22.
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mit Schall ertönen; alle werden sie plötzlich hören und erschrekken.«23 Am dritten Tag der Schöpfung »sproßten plötzlich Früchte in unendlicher Menge, begehrenswert durch vielfältigen Geschmack, Blumen von unnachahmlicher Farbe, vielgestaltige Bäume und Würzkräuter von unergründlichem Duft.«24 Zu den Begriffen, die von den Targumisten als Ersatz für den Namen Gottes benutzt werden, ist auch die malkuta', die »Herrschaft« zu rechnen. Besonders die Lektüre des Targum zu Micha und zu J esaja ist hier sehr aufschlußreich. 25 Wo man im hebräischen Text von Micha 4,7 liest: »Und Jahwe wird über sie herrschen auf dem Berge Zion«, da heißt es im Targum: »Und die Herrschaft Jahwes wird über ihnen erscheinen auf dem Berge Zion.« Wo man im hebräischen Text von Jesaja 52,7 liest: »Dein Gott herrscht«, da lautet die Formulierung des Targum: »Die Herrschaft Deines Gottes ist erschienen.« Die liturgische Akklamation »Jahwe herrscht« wurde ersetzt durch die Verkündigung der Erscheinung der Herrschaft Gottes. Ein Abschnitt des Targum zu Jesaja, der wegen seiner großen Bedeutung bereits mehrfach herangezogen wurde, versammelt mehrere dieser behandelten Wendungen. Im Hebräischen liest man in Jesaja 40,9-10: Sag den Städten in Juda: Seht, da ist euer Gott, seht, Adonai Jahwe. Er kommt mit Macht, er herrscht mit starkem Arm. Seht, mit ihm sein Siegespreis, und vor ihm sein Lohn. Der Targum gibt dies wie folgt wieder: Sage den Städten des Hauses Juda: Die Herrschaft eures Gottes ist erschienen. Seht, Jahwe Elohim erscheint mit Macht,
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4. Esra 6,23. 4. Esra 6,44. Für einen ersten Zugang s. Koch, 1979; Camponova, 1984,417-432.
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und die Macht Seines starken Armes herrscht vor Ihm. Seht, der Siegespreis derer, die Sein Wort erfüllen, ist mit ihm, denn alle ihre Werke sind vor Ihm erschienen. Die Formulierung »die Herrschaft Gottes ist erschienen« könntefälschlicherweise - für spät gehalten werden: Sie ist es nicht, denn man findet sie im Testament des Mose wieder, einer essenischen Schrift mit quietistischer Tendenz. 26 Der betreffende Abschnitt verkündet das Ende der Zeiten: Und dann wird seine Herrschaft über seine ganze Schöpfung erscheinen, und dann wird der Teufel nicht mehr sein, und die Traurigkeit wird mit ihm hinweggenommen sein.27 Wir sind nun in der Lage, den targumischen Stil der beiden neutestamentlichen Texte über das Reich zu erkennen. Der erste findet sich in Lukas 19,11. Die Kritik betont bisweilen den redaktionellen Charakter des Abschnittes,28 dessen dokumentarischer Wert uns aber dennoch bedeutend erscheint. Die Aussage wird weder Jesus noch den Jüngern, sondern einer unbestimmten Öffentlichkeit zugeordnet: »Weil Jesus schon nahe bei Jerusalem war, meinten die Menschen, die von all dem hörten, das Reich Gottes werde sofort erscheinen. Daher erzählte er ihnen ein weiteres Gleichnis.« Will man dieser kurzen Notiz glauben, so gab es also in der Zuhörerschaft Jesu Männer und Frauen, die glaubten, das »Reich Gottes« werde »plötzlich« (nuQuXQ'ijl-lu) »erscheinen«. Die Ausdrücke sind hier Fachwörter. Das Adverb »plötzlich« beschreibt, wie wir sahen, den unmittelbaren Einbruch des Endes. Das Verb »erscheinen« (avucpuLvw{tm) ist, nach der Weise der Targume, anstelle des Verbs »kommen« verwendet. Diese Formulierungwird, das sei betont, nicht von Jesus, sondern von den ihn umgebenden Personen verwendet. Der zweite Text über das Reich, diesmal ein Wort Jesu, findet sich in Markus 9,1: »Und er sagte zu ihnen: Amen, ich sage euch: 26
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S. Philonenko, in: Dupont-SommeriPhilonenko, 1999, LXXXVII. Testament des Mose (= Himmelfahrt Moses) 10,1. S. Buhmann, 1957,208; Jeremias, 1980, 277f.
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Von denen, die hier stehen, werde'n einige den Tod nicht schmecken, bis sie gesehen haben, daß das Reich Gottes mit Macht gekommen ist.« Dieses isolierte Wort hat sehr bald Schwierigkeiten bereitet, wie dies die Formulierungen zeigen, die es in Matthäus 16,28 (» ... bis sie den Menschensohn in seiner königlichen Macht kommen sehen«) und in Lukas 9,27 (» ... bis sie das Reich Gottes gesehen haben«) angenommen hat. Die Verlegenheit der modernen Ausleger ist nicht weniger groß, und die Authentizität des Wortes ist sehr umstritten. 29 Aber ist nicht R. Schnackenburg Recht zu geben, der die Hypothese zurückweist, es handle sich um eine mehr oder weniger späte Bildung dieses Wortes, zu einer Zeit, wo man versucht habe, die Erwartung einer nahen Ankunft des Reiches neu zu beleben?30 Hätte man wirklich das Risiko auf sich genommen, neue Enttäuschungen hervorzubringen, wenn man unglücklicherweise eine erneute Verzögerung der Parusie hätte hinnehmen müssen? Das Wort aus Markus 9,1 ist in seinem jetzigen Zustand durchaus nicht unerklärbar. Die Redeweise »den Tod schmecken«, die drei Mal im Thomasevangelium aufgenommen wird,31 sollte den Auslegern keine Probleme bereiten. Sie wird bezeugt im Liber antiquitatum biblicarum 48,1 (»ihr werden schmecken, was des Todes ist«), in 4. Esra 6,26 (»die Männer. .. die den Tod nicht geschmeckt haben«) und besonders im Targum Neofiti zu Deuteronomium 32,1, in einer entwickelten Form: »den Kelch des Todes schmecken«. »Den Tod schmecken« ist ein im Targum gebräuchlicher Ausdruck, der nichts anderes als »sterben« bedeutet. 32 Der Zusatz »mit Macht« läßt die Ausleger meist ratlos. 33 Er hat im Wortlaut des Evangeliums die spezifische Bedeutung, die wir ihm in der targumischen Paraphrase zuerkannt haben, wo er die höchste Majestät des göttlichen Eingreifens unterstreicht. Im übrigen wird hier nicht gesagt, daß das Reich »erscheint«, sondern daß es »kommt«. In der Formulierung »das Reich Gottes gekommen mit Macht« vereinen sich biblischer und targumischer Unterbau. Blicken wir nochmals auf Jesaja 40,9f im hebräischen Text: 29 S. Bultmann, 1957, 128; HengellSchwemer, 1991, 10, Fußnote 24; Merkel, in: Hengel/Schwemer, 1991, 140f. 30 Schnackenburg, 1959, 142-144; s. auch Schlosser, 1980, I, 323-330. 31 Thomasevangelium 1; 18; s. auch 85. 32 S. auch Coran 3,185; 21,35; 29,57; 44,56. 33 S. Kümmel, 1956, 19-22.
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Seht, da ist euer Gott, seht, Adonai Jahwe. Er kommt mit Macht. Und in der targumischen Paraphrase: Die Herrschaft eures Gottes ist erschienen. Seht, Jahwe Elohim erscheint mit Macht. Das Wort Jesu nimmt einerseits den hebräischen Text von Jesaja 40,9 auf: »er kommt mit Macht«; andererseits, nach Art des Targum, macht es das »Reich« zum Ersatz für den Namen Gottes und zum Subjekt der Handlung. Die Formulierung von Markus 9,1, »das Reich Gottes gekommen mit Macht«, ist also eine Kombination von Elementen, die dem hebräischen Text aus J esaja 40,9f und seiner targumischen Paraphrase entliehen sind. Diese eigentümliche Zusammenstellung beseitigt alles, was an eine pompöse oder auch nur feierliche Ankunft des Reiches könnte glauben lassen. Das Reich Gottes wird kommen »wie ein Dieb in der Nacht«.34 In der Formulierung »gekommen mit Macht« hat das Partizip EAT]Au'frulav Vergangenheitsbedeutung; aber man würde den Text eher zwingen als übersetzen, wenn man mit C. H. Dodd formulieren würde: »bis sie gesehen haben werden, daß das Reich Gottes mit Macht gekommen ist«.35 Jesus hat ein aramäisches Partizip aktiv ('ate) benutzt, das selbst ohne zeitliche Bedeutung ist. 36 Läßt man die Frage nach der genauen Bedeutung des Partizips in Markus 9,1 offen, so findet man sich doch vor einem erheblich größeren Problem. Wir stehen vor der Tatsache, daß wir in den synoptischen Evangelien zwei Kategorien von Texten begegnen: Die einen machen aus dem Reich den Gegenstand glühender Hoffnung (Matthäus 6,10; Lukas 11,2; 17,20; 22,18; Markus 15,43), für die anderen ist das Reich Gottes bereits gegenwärtig. Zitieren wir aus dieser zweiten Textkategorie Markus 1,15 (»Die Zeit ist erfüllt, das Reich Gottes ist nahe«), die entsprechenden Formulierungen aus Matthäus 12,28 und Lukas 11,20 ( ... dann ist doch das Reich Gottes 34
1. Thessalonicher 5,2; 5,4; 2. Petrus 3,10; Offenbarung des Johannes 3,3;
16,15. 35 36
Dodd, 1965,37. J oüon, 1930, 230f.
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schon zu euch gekommen«) sowie Lukas 17,21 (»Das Reich Gottes ist mitten unter euch«).37 Es gibt also eine gewisse Spannung zwischen dem, was noch nicht vollendet ist, und dem, was bereits verwirklicht ist. O. Cullmann war der Meinung, daß diese Spannung für die Lehre J esu charakteristisch war. 38 Diese These löst in eleganter Weise das hier gestellte Problem. Aber vielleicht ist es kühner und weiser, einfach festzustellen, daß man je nach Zeit und Umständen das Reich als bereits gekommen oder als noch zu erwarten betrachtete. Die Texte, nach denen das Reich Gottes eine gegenwärtige Wirklichkeit darstellt, sind so beeindruckend, daß sie J. Jeremias und D. Flusser39 zu der Behauptung brachten, Jesus sei der einzige bekannte Jude des Altertums, der verkündigt habe, das Zeitalter des Heils habe bereits begonnen. Ein qumranischer Text, den weder J eremias noch Flusser kennen konnten, führt uns dazu, diese Interpretation aufzugeben. Dieses in der Höhle IV von Qumran gefundene Dokument hat das Sigel 4Q215a erhalten. Es enthält mehrere Fragmente und wurde seit 1992 mehrfach publiziert. 40 Der Text wurde einem ,>Testament des Naphthali« zugeordnet. Aber das erste Fragment hat nichts, was ihm im auf Griechisch erhaltenen Testament des Naphthali entsprechen würde. Garcia Martfnez und E. J. C. Tigchelaar haben ihm den Namen 4QZeit der Gerechtigkeit gegeben. Für uns ist dieses erste Fragment von größter Bedeutung. Hier die Übersetzung der Zeilen 3-9 dieses Stückes: 41 Denn vollendet ist die Endzeit der Gottlosigkeit, und jede Verkehrtheit wird vor[übergeh]en. [Denn] gekommen ist die Zeit des Rechtes, und die Erde ist voll von Erkenntnis und Lobpreis Gottes in den Tagen des [ ... ] Gekommen ist die Endzeit des Heils und der zuverlässigen Gesetze und der Bezeugung des Rechtes, um einsichtig zu machen [jedermann] auf die Wege Gottes [und] seine großen Taten Zu diesem zuletzt genannten Abschnitt s. Hengel/Schwemer, 1991, 11. Cullmann, 1994, 62f. 39 Jeremias, 1988,110, Fußnote 47; Flusser, 1997,110. 40 Eisenman/Wise, 1992, 159; Nebe, 1994,319; WacholderiAbegg, 1995, 7; Garcia Martfnez/Tigchelaar, 1997,457. 41 Nebe, 1994, 319. 37 38
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[von jetzt an b]is für alle Zeit. Die ganze Erde wird ihn (Gott) preisen, und jedermann wird sich beugen vor ihm [mit] seinem [ganzen] einmütig[en Herz]en. Denn er (Gott] [kannte] ihr Tun, bevor sie geschaffen wurden, und (bezüglich) des Rechttuns hat er eingeteilt ihre (der Menschen) Grenzgebiete [ ... (?)] in ihren Geschlechtern. Denn gekommen ist die Herrschaft des Guten. Der eschatologische Charakter von 4QZeit der Gerechtigkeit ist sehr erstaunlich und erinnert an denjenigen anderer qumranischer Texte, wie das »Buch der Geheimnisse« oder die »Unterweisung über die zwei Geister«.42 In den Ausdrücken »die Stunde der Gerechtigkeit ist gekommen«, »die Zeit des Friedens ist gekommen« und »die Herrschaft der Güte ist gekommen« hat das Verb b8', »kommen«, immer einen eschatologischen Sinn: Es verweist auf Ereignisse, die noch kommen, aber dennoch als verwirklicht angesehen werden. Zu bemerken ist in diesem Zusammenhang, daß der qumranische Ausdruck »die Herrschaft der Güte ist gekommen« - hier im Perfekt - aus Micha 4,8, »die alte Herrschaft wird kommen«, entnommen ist, wo er im Futur steht. Der Wechsel der Zeiten ist sehr aufschlußreich. Jesus hat diese Formulierungen gekannt und diese Vorstellungen geteilt, ohne aber darauf zu verzichten, Gott in seinem »Gebet« zu bitten: »Dein Reich komme!«
Zusatzbemerkung zu zwei lukanischen Varianten Der Text von Lukas 11,2 zeigt zwei wichtige Varianten, auf die hingewiesen und deren Ursprung geklärt werden muß. Die erste findet sich in der Handschrift D, dem Codex Bezae Cantabrigensis, dessen Entstehung und Bedeutung sehr umstritten sind. 43 Die Lesarten dieser griechischen Handschrift verdienen immer Aufmerksamkeit, selbst wenn sie manchmal tendenziös sind. Anstelle von »Dein Reich komme« liest man in D: »Dein Reich komme auf uns.« Die Näherbestimmung »auf uns« zeigt eine Rückwärtsbewegung der Du-Bitten zu den Wir-Bitten hin. Allein 42 43
Philonenko, 2000, 215. S. z.B. Pernot, 1938, 22f; Aland/Aland, 1989, 60f u. 118f.
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aus diesem Grund muß sie für sekundär gehalten werden. Näher besehen, könnte die Wendung »auf uns« aus Micha 4,7 stammen, einem bereits angeführten Abschnitt, den der Targum so wiedergibt: »Das Reich Jahwes wird über ihnen erscheinen.« Wer hier einwendet, der Targum sage »über ihnen« und nicht »über euch«, dem kann geantwortet werden, daß die targumische Formulierung in dem hebräischen Gebet wetiggaleh wetera'eh in folgender Form aufgegriffen wurde: »Sein Reich erscheine und sei über uns sichtbar gemacht.«44 Anstelle von »Dein Reich komme« lesen zwei griechische Handschriften, nämlich die Handschriften 700 45 und 162: »Dein heiliger Geist komme auf uns und reinige uns.«46 Diese Variante ist durch Gregor von Nyssa und Maximus Confessor bekannt. Marci on hat sie wohl beibehalten. 47 Auch im Schluß der Geist-Epiklese in den Thomasakten hallt diese Lesart nach: »Komm, Heiliger Geist, und reinige ihre Nieren und ihr Herz und versiegele sie.«48 Diese Zeugnisse können als vernachlässigbar erscheinen, wenn man auf die Menge und die Qualität derjenigen Handschriften schaut, die bei Lukas die Bitte in der matthäischen Form bezeugen. Aber es muß betont werden, daß die - sehr vereinheitlichende -liturgische Praxis das Aufkommen einer von der lukanischen Form des Vaterunser »abweichenden« Variante nicht begünstigen konnte. Die erstaunliche Tatsache ist nicht das Aufkommen eines Textes, der von dem weitestgehend angenommenen Text abweicht, sondern die Existenz einer Lesart neben dem standardisierten Text, die lediglich von seltenen Zeugen überliefert wird. Im übrigen gibt Lukas kurz nach dem Vaterunser, in 11,13, einen »willentlichen und direkten Hinweis«49 auf die Bitte um den Heiligen Geist, und auch in Apostelgeschichte 15,8 findet man eine klare Anspielung auf eben diese Bitte. Man kann sich nun die Tatsache erklären, daß mehrere Exegeten die Schlußfolgerungen Harnacks 50 angenomBirnbaum, 1990, 121. S. Hoskier, 1890, 32. 46 Die Reihenfolge der Wörter ist in der Handschrift 162 eine andere. Sie läßt auch das »auf uns« aus. 47 S. den Apparat bei Huck/Greeven, 1981, 152. 48 Thomasakten 27. 49 Loisy, 1924,315. 50 Harnack, 1904. 44 45
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men und sich für die lukanische Authentizität der Bitte um den Geist ausgesprochen haben. 51 Gibt es zwischen den beiden Varianten ein Abhängigkeitsverr hältnis? Anders gesagt, ist die Lesart der Handschrift D ein Überrest der von den Handschriften 700 und 162 beigebrachten, oder ist vielmehr die Variante der Handschriften 700 und 162 eine Erweiterung der Lesart von Handschrift D? Nach unserem Urteil sind beide Varianten voneinander unabhängig. J. Jeremias glaubt, daß die Bitte um den Geist aus einer Taufliturgie stammt, in der das Vaterunser mit dem Ritual einer Handauflegung verbunden war,52 aber die Näherbestimmung hat ohne jeden Zweifel einen anderen Ursprung: Sie verweist, wie wir sahen, auf die targumische Paraphrase von Micha 4,7, die in der jüdischen Liturgie aufgenommen wurde. 53 Die entscheidende Veränderung in der zweiten Variante ist die Tatsache, daß die Bitte um den Geist die Bitte um das Reich ersetzt. Die Kritik kümmert sich gewöhnlich kaum um die Entstehung dieser Lesart. 54 Der Ausgangspunkt dieser Tradition ist auch hier im Alten Testament und seinen jüdischen Auslegungen zu finden. Die Bitte um den Geist könnte auf Jesaja 11,2 zurückgehen: Der Der Der Der
Geist des Herrn läßt sich nieder auf ihm: Geist der Weisheit und der Einsicht, Geist des Rates und der Stärke, Geist der Erkenntnis und der Gottesfurcht.
Dieser Jesajavers nun wird in dem hebräischen Gebet Ribbono sei cO/am (»Herr der Welt«) in eine Bitte um den Geist verwandelt: Laß erscheinen über uns Den Geist der Weisheit und der Einsicht, Den Geist des Rates und der Stärke, Den Geist der Erkenntnis und der Gottesfurcht. 55
51 S. z.B. Loisy, 1924, 315; Streeter, 1926,277; Leaney, 1956, 103-111. S. auch Blaß, 1897, XLII-XLIII u. 51. 52 Jeremias, 1988, 188, Fußnote 77. 53 S. oben, S. 63, und weiter unten, S. 65. 54 Mit bemerkenswerter Ausnahme von Schmitt, 1957. 55 Birnbaum, 1990, 363.
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Man achte darauf, daß das jüdische Gebet nicht die Gabe des H eiligen Geistes erbittet, sondern, treu dem Jesajatext, die Gabe des »Geistes der Weisheit und der Einsicht ... «. Aber das »Gebet des Levi«, das im Testament des Levi 2,3 und in einem aramäischen Fragment aus der Grotte IV von Qumran überliefert wird, fügt in eine Du-Bitte, welche von Jesaja 11,2 inspiriert ist, einen Hinweis auf den Heiligen Geist ein: Zeige mir, Herrscher, den heiligen Geist. Und Rat und Weisheit und Erkenntnis und Stärke gib mir, damit ich das Dir Wohlgefällige tue und vor Dir Gnade finde. 56 Genauso verhält es sich im Psalm Salomos 17,37, der ganz von J esaja 11,2 inspiriert ist und in dem vom erwarteten davidischen Messias gesagt wird: Und er wird nicht ermatten in seinen Tagen bei seinem Gott, denn Gott hat ihn stark gemacht mit heiligem Geist und weise in einsichtigem Rat samt Stärke und Gerechtigkeit. Es ist bekannt, daß der Ausdruck »Heiliger Geist« sich zwar nur drei Mal im Alten Testament findet,57 aber in der pseudepigraphischen Literatur58 weniger selten ist; er findet sich ebenso in den Qumrantexten59 und im Targum Neofiti. 60 Was das Neue Testament angeht, so ist der Ausdruck bei Lukas üblich, jedoch seltener S. Philonenko, in: Dupont-SommeriPhilonenko, 1999, 834-836. Jesaja 63,10; 63,11; Psalm 51,13; hier ist es angebracht, einige Abschnitte der Septuagintaübersetzung hinzuzufügen: Psalm 142,10; Daniel 5,12; 6,4; Sirach 48,12; Weisheit Salomos 1,5; 9,17; s. auch Susanna 45, in der Übersetzung des Theodotion. 58 Jubiläen 1,21; 1,23; Testament des Levi 2,3; 18,11 (»Geist der Heiligkeit«); Psalm Salomos 17,37; Liber antiquitatum biblicarum 18,11; 28,6; 32,14; 4. Esra 14,22; Testament Abrahams A, 4,8. 59 S. z.B. Sektenregel3,7; 4,21; 8,16; 9,3; Hymnen 7,6f; 9,32; 12,12; 14,13; 17,26; Damaskusschrift 2,12; 5,11; 7,4; 4Q270 Fragment 2,II,11; 4Q416 Fragment 2,II,6. 60 Targum Neofiti zu Genesis 41,38; 42,1; Exodus 31,3; 35,31; Numeri 11,17; 11,25; 11,26; 11,29; 14,24; 24,2; 27,18. 56
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bei Matthäus, Markus und J ohannes, und er erscheint häufig in den paulinischen Schriften. Er ist ebenso in der rabbinischen Literatur vorhanden. 61 Der Targum Neofitiersetzt die einfache Erwähnung des Geistes in der hebräischen Bibel durch die Genitiv-Wendung »Geist der Heiligkeit«,62 während der Targum Pseudo-Jonathan gewöhnlich »Geist der Prophetie« sagt. So verhält es sich zum Beispiel in Numeri 11,25-28 und 24,2. Der Targum Onkelos vermeidet den Ausdruck »Geist der Heiligkeit« und behält »Geist der Prophetie« bei. 63 Im aramäischen Ausdruck »Geist der Heiligkeit« (rua& qudesah), wurde qudesah, »Heiligkeit«, vom Glossator des Targum Neofiti in mehreren Abschnitten als »Heiligtum« verstanden. 64 Diese Interpretation geht auf eine wesentlich frühere Zeit zurück, denn man findet sie im Targum zu Leviticus 16,20, der in Qumran entdeckt wurde;65 sie könnte den schwierigen qumranischen Ausdruck »Heiliger Geist der Gemeinschaft« erhellen. 66 Dennoch, wie A. Diez Macho richtig bemerkt hat,67 kann der Heilige Geist im Targum auch der erschaffende und lebensspendende Geist sein, wie in Jesaja 44,3:
So gieße ich Meinen Heiligen Geist über deine Söhne aus, und meinen Segen über die Söhne deiner Söhne. Der Heilige Geist spielt in den rabbinischen Texten nur eine begrenzte Rolle, aber er hat, wie nochmals betont werden soll, eine zentrale Stellung in den Qumrantexten. Man muß nun annehmen, daß, wenn die Pharisäer meinten, der Geist »erlösche«,68 die Essener vielmehr glaubten, der Geist sei wieder neu am Werke. Für die Mitglieder der Sekte aus der Wüste Judas waren die Prophetien J esajas und Joels erfüllt. S. Schäfer, 1972. S. auch den Targum zu Jesaja 42,1; 44,3; Targum zu Joel 3,1. 63 S. dennoch den Targum Onkelos zu Genesis 45,27. 64 Exodus 29,29; Leviticus 8,9; Numeri 11,25. S. dazu Le Deaut, 1978, 142, Fußnote 1. 65 4Q156, Fragment 2,4. 66 Sektenregel3,7, vgl. mit der Variante von 4Q255, Fragment 2,1. 67 Diez Macho, 1974,47". 68 S. Jeremias, 1988, 85f. 61
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So liest man im Buch der Hymnen: »Du hast heiligen Geist wehen lassen auf Deinen Knecht«,69 und, noch deutlicher, in den Worten der Lichter: »Denn Du gossest den Geist Deiner Heiligkeit über uns aus«.?o Aber mehr noch. Der Heilige Geist wird für den reinigenden Geist gehalten. Der Gläubige des Bundes muß schon jetzt durch den »Heiligen Geist der Gemeinschaft« gereinigt werden,?! und zwar bei Taufhandlungen, die von der Bekehrung des Herzens begleitet werden. Aber erst am Tage des Gerichtes wird die endgültige Reinigung vollzogen werden. In der »Unterweisung über die zwei Geister« wird von Gott gesagt: Er läutert sich den Bau (des) Menschen, um allen Unrechts geist zu tilgen aus dem Gebinde seines Fleisches, und um ihn zu reinigen durch den Heiligkeits-Geist von allen Freveltaten. 72 Der reinigende Geist hat also eine eschatologische Funktion. Der reinigende Geist ist auch der Schöpfergeist. In einer »messianischen Apokalypse«, deren qumranischer Charakter sehr ausgeprägt ist, erwähnt der Autor unter den Zeichen des Endes die Ankunft des Geistes auf die Armen: Über Armen Sein Geist schwebt und Er Getreue neu stärkt durch Seine Kraft.?3 Dies ist unseres Erachtens ein grundlegender Text. Der Heilige Geist, der in den ersten Tagen der Welt über den Wassern schwebte (Genesis 1,2), wird über den Gerechten schweben, welche aufgerufen sind, durch diese neue Schöpfung die »Armen im Geiste« zu werden (Matthäus 5,3). J. Schmitt hat mit seltenem Scharfsinn die lukanische Bitte um den Heiligen Geist mit der essenischen Lehre vom reinigenden Geist in Zusammenhang gebracht.?4 Diese Beziehung muß heute 69 70 71 72 73
74
Hymnen 17,26. 4Q504, Fragmente 1-2, V,15. SektenregeI3,7f. SektenregeI4,20f. 4Q521, Fragment 2, II,6. Schmitt, 1957, 10Sf.
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ergänzt werden durch diejenige, die sich aus dem Vergleich mit der »messianischen Apokalypse« ergibt. Die Essener hatten eine umfassende Lehre des Schöpfergeistes entwickelt. Sie erwarteten, daß der Geist Gottes am Ende der Tage auf sie käme und daß sie so Zugang zu einem neuen Leben erlangten. Diese Erwartung des Geistes hatte fromme Milieus erobert, die für den Essenismus offen waren. Einige ihrer Traditionen sind in den beiden ersten Kapiteln des Lukas aufgenommen worden?5 Simeon war ein gerechter und frommer Mann, »und wartete auf die Rettung Israels, und der Heilige Geist ruhte auf ihm.«76 Der Maria wird verkündet: Der Heilige Geist wird über dich kommen, und die Kraft des Höchsten wird dich überschattenF Die Bitte um den Heiligen Geist hat also einen targumischen, und besonders qumranischen Hintergrund, der Zeichen ihres hohen Alters ist. Diese Lesart kann aber dennoch keine Authentizität beanspruchen. Die beiden behandelten lukanischen Varianten müssen für alte Versuche gehalten werden, eine Du-Bitte in eine WirBitte zu verwandeln. Sie zeigen, daß das »Gebet Jesu« schon sehr früh Gegenstand von Bearbeitungen und Veränderungen wurde, die, ohne von der Liturgie aufgenommen zu werden, doch ihre Spuren in der handschriftlichen Überlieferung zurückgelassen haben.
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76 77
Diez Macho, 1974,44"-. Lukas 2,25. Lukas 1,35.
Kapitel VI Die dritte Bitte: »Dein Wille geschehe!« Die dritte Bitte ist durch das Evangelium des Matthäus und durch die Didache überliefert, aber sie fehlt im Evangelium des Lukas. Wenn die oben angestellten Überlegungen bezüglich ihrer Verwandtschaft mit der ersten Bitte des Qaddisch begründet sind, l dann gibt es keinen Anlaß, sie für eine Hinzufügung des Matthäus zu halten; man muß dann eher von einer Lücke bei Lukas ausgehen. Das Fehlen der dritten Bitte bei Lukas könnte sich durch die Absicht des Evangelisten erklären, das Vaterunser in eben den metrischen Rahmen einzuschließen, den er sich auferlegt hatte. 2 Die Auslassung zerstört jedoch das Gleichgewicht der drei Du-Bitten und der drei Wir-Bitten. Die dritte Bitte steht wie die erste im Imperativ Aorist Passiv. Diese ehrerbietige Wendung impliziert, daß Gott auch hier das implizite Subjekt des Verbes ist. G. Strecker stellt ohne Umschweife fest, daß es zur Formulierung »Dein Wille geschehe« in der rabbinischen Literatur keine Entsprechung gibt. 3 Ein erstaunliches Vorgehen: Man wendet sich sofort zu diesem umfangs reichen Corpus und läßt die hebräische Bibel sowie die intertestamentarische Literatur liegen. M. Hengel erinnert dagegen an die hebräische Gebetsformel, die schon von Dalman herangezogen wurde: »Daß dies Dein Wille sei zu ... «, wörtlich: »Vor dir sei der Wille, daß ... «.4 Dieser Vergleich gilt, und zwar noch wesentlich besser für Matthäus 18,14: »Es ist nicht der Wille vor eurem Vater, der in den Himmeln ist, daß ... « Es legt sich 1 2
3 4
S. oben, S. 27f. S. oben, S. 6. Strecker, 1984, 119. Henge!, 1999, 278f; Dalman, 1930, 173.
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Kapitel VI: Die dritte Bitte: »Dein Wille geschehe!«
hier die Annahme nahe, daß diese ehrerbietige Formulierung dem Evangelisten mindestens bekannt war, und daß jedenfalls Jesus selbst eine sicherlich respektvolle, aber weniger gekünstelte Yormulierung vorgezogen hat: »Dein Wille geschehe«, wörtlich: »werde getan«. Die Wendung »den Willen Gottes tun« ist biblisch. Man findet sie zum Beispiel in Psalm 40,9: »Deinen Willen zu tun, mein Gott, macht mir Freude.« Oder im Psalm 103,21: Lobt Jahwe, all seine Scharen, seine Diener, die seinen Willen tun! Oder auch im Psalm 143,10: Lehre mich, deinen Willen zu tun, denn du bist mein Gott. Auch im Buch Daniel findet man mehrere Verse, in denen vom König gesagt wird, er handle »nach seinem Willen« oder »nach seinem Belieben«.5 In der deuterokanonischen Literatur verdienen zwei Abschnitte Erwähnung. In 1. Makkabäer 3,60 vertraut sich Judas Makkabäus Gott an und sagt: »Wie es Sein Wille sein wird im Himmel, so soll er tun.« In der langen Rezension des Sir ach, in KapitellS Vers 3, wird von Gott gesagt: Er regiert die Welt mit einer Handbewegung, alles gehorcht Seinem Willen, denn Er ist der König aller Dinge durch Seine Kraft; Er trennt die heiligen Dinge von den profanen. Aber erst in der essenisch-qumranischen Literatur spielt der »Wille Gottes« (ra~on 'eI) plötzlich und unerwartet eine wesentliche Rolle. So erinnert die Sektenregel unentwegt an die Verpflichtung des Gläubigen, »den Willen Gottes zu tun«: » ... um Gottes Willen zu tun gemäß allem Offenbaren für jede Zeitperiode«;6 oder: »... um den Willen (Gottes) zu wirken, mit allem Werk (der) Hände«.7 5 6 7
Daniel8,4; 11,3; 11,16; 11,36. Sektenregel 9,13. Sektenregel9,23.
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Nach dem Jubiläenbuch hat Abraham seinem Sohn Isaak erklärt: »In allen Tagen meines Lebens war ich eingedenk des Herrn, und dabei habe ich gesucht mit meinem ganzen Herzen, daß ich seinen Willen tat«.8 Ebenso bezeugt das Jubiläenbuch, Abraham habe seinen Sohn Jakob gesegnet mit den Worten: >,Mein Sohn Jakob, der Gott aller segne dich, und er stärke dich, Gerechtigkeit zu tun und seinen Willen vor ihm«.9 Will man dem Liber antiquitatum biblicarum glauben, dann wußte die Prophetin Anna, ,>daß nicht (die), die durch Söhne sich vermehrt, reich gemacht worden ist, und (nicht die), die (an Söhnen) gemindert worden ist, entbehrt hat, sondern (die), die überströmt im Willen Gottes, ist reich gemacht worden.«IO In einem aramäischen Fragment, das einem in Qumran gefundenen >,Testament des Levi« zugeordnet wurde, wird vom eschatologischen Hohenpriester gesagt: Sein Wort ist wie ein Himmelswort und seine Belehrung entspricht Gottes Willen. ll Dieser Text verdient besonderes Interesse, weil er »Wort der Himmel« (wo »Himmel« ein Ersatzwort für »Gott« ist l2 ) und ,>Wille Gottes« in einem synonymen Parallelismus verwendet. Das Testament des Naphthali stellt die Pflicht, den Willen Gottes zu tun, wieder in einen dualistischen Rahmen: >,Bemüht euch nun nicht, durch Habsucht eure Taten zu verderben, noch durch eitle Worte eure Seelen zu betrügen. Denn wenn ihr schweigt in der Reinheit des Herzens, werdet ihr verstehen, den Willen Gottes zu ergreifen, aber den Willen Beliars zu verwerfen.«13 Diese voluntaristischen Aufforderungen können sich in fatalistische Empfehlungen verwandeln: Man muß sich in allem dem Willen Gottes unterwerfen. Das Testament des Issaschar lehrt:
8 9
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Jubiläen 21,2. Jubiläen 22,10. Liber antiquitatum biblicarum 50,5. 4Q541 Fragment 9,1,3. Caquot, 1998, 15. Testament des Naphthali 3,1.
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Der Lautere begehrt nicht Gold. Nach zahlreicher Speise verlangt er nicht, unterschiedliche Kleidung will er nicht. Er schreibt nicht vor, er müsse lange Zeiten leben, sondern wartet allein auf den Willen Gottes. 14 Im Buch Tobit, dessen Ähnlichkeiten mit der Qumranliteratur so deutlich sind,15 sagt Tobit zu Gott: Und nun, nach Deinem Wohlgefallen tue mit mir und befiehl, daß mein Geist von mir weggenommen werdeP6 Die Vulgata übersetzt dies wie folgt: Et nunc Domine secundum voluntatem tuam fac meum Et praecipe in pace recipi spiritum meum. Nach dem Liber antiquitatum biblicarum hat Abraham, bevor er in den feurigen Ofen trat, erklärt: »Und wenn etwa meine verzehrende Sünde da sein sollte, so daß ich verzehrt werde, so geschehe der Wille Gottes (Fiat voluntas Dei).«17 Man erinnere sich schließlich auch an das Gebet Jesu im Garten Gethsemane: »Mein Vater, wenn dieser Kelch an mir nicht vorüber gehen kann, ohne daß ich ihn trinke, geschehe Dein Wille! «18 Besonders interessant sind solche Qumrantexte, die die Rolle des göttlichen Willens bei der Schöpfung unterstreichen, wie etwa das sehr sorgfältig komponierte Lied, welches die Sektenregel abschließt: Denn ohne Dich wird kein Wandel vollkommen Und ohne Deinen Willen ereignet sich nichts. Du lehrtest alle Erkenntnis Und alles Gewordene ward durch Deinen Willen. 19
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18 19
Testament des Issaschar 4,2f. S. oben, S. Sf. Tobit 3,6 (Sinaiticus). Liber antiquitatum biblicarum 6,11. Matthäus 26,42. Sektenregelll,17f.
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So auch in der Hymnenrolle: Ohne Dich wird überhaupt nichts getan Und nichts wird ohne Dein Wollen erkannt. 2o Zitieren wir ebenso einen Abschnitt des »Joseph-Apokryphons«, das in der Höhle IV von Qumran gefunden wurde. Hier spielt der Redner auf den »Willen meines Schöpfers« an. 21 Nach der Apokalypse Abrahams erklärt der Erzengel Jaoel: »Ich bin geschaffen seinem Willen nach, um den Zwist unter den cherubinischen Wesen beizulegen.«22 Wenn auch in den Himmeln gelegentlich Konflikte auftreten können,23 so herrschen doch normalerweise Frieden und Freude. Dem Autor des Buches der Geheimnisse Henochs zufolge dienen die Engel der Herrlichkeit dem Herrn Tag und Nacht, indem sie »Seinen Willen tun«.24 Die Sterne der Himmel nehmen, nach dem Buch der »Bilderreden« Henochs, ebenfalls ihren Platz in diesem Konzert ein: »Ihr Blitzen geschieht zum Segen oder zum Fluch, wie es der Herr der Geister wiI1.«25 Die himmlischen Liturgien vollziehen sich also nach dem Willen Gottes. Auch der bewegte Lauf der Geschichte folgt dem Willen Gottes. In der Apokalypse des Abraham betrachtet der Patriarch ein Gemälde, das eine Zusammenfassung der Weltgeschichte, von der Schöpfung bis zum Gericht, darstellt. Gott offenbart Abraham den Sinn dieser Darstellung: »Dies ist mein Wille in bezug auf das, was in der Welt ist, und es war vor meinem Angesicht wohlgefällig.«26 Ja, Gott kann sogar, ebenfalls in der Apokalypse des Abraham, sagen: » [ ... ] so ist auch der Rat meines Willens in mir«.27 Dieser Abschnitt zeigt, daß der schöpferische Wille Gottes gemäß eines Planes ausgeübt wird, den Er in seinem Rat festgelegt hat. Die Begriffe des göttlichen »Willens« und des göttlichen »Rates« sind also sehr eng miteinander verbunden.
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Hymnen 10,9. S. auch Hymnen 1,8; 5,4; 10,2. 4Q372, Fragment 1,24. Apokalypse Abrahams 10,9. Apokalypse Abrahams 18,7f. 2. Henoch 21,1. 1. Henoch 59,1. Apokalypse Abrahams 22,2. Apokalypse Abrahams 26,4.
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Diese Ideen gehen in die hermetische Gnosis über, die so sehr von jüdischen Einflüssen geprägt ist. Für den Autor des Asclepius, der über die Beziehungen des Willens Gottes und des Rates Gottes spekuliert, ist »der Rat des Willens Gottes nichts anderes als Seine Natur. «28 Die Vorstellungen werden explizit aufgenommen in einer judenchristlichen Schrift, den pseudo-clementinischen Rekognitionen, in denen dem Apostel Petrus folgende Rede in den Mund gelegt wird: »Ich habe vom Willen (voluntas) und vom Rat (consilium) Gottes gesprochen, von einem Willen, den er vor Entstehung der Welt besaß, und von einem Rat, den er ausübte, als er die Welt erschuf, die Zeiten festsetzte, das Gesetz gab, den Gerechten das zukünftige Zeitalter als Belohnung guter Taten versprach und die Strafen bestimmte, die für die Ungläubigen zum Ausgang des Gerichtes bestimmt sind.«29 Genau diesen spezifischen Sinn eines »schöpferischen Willens nach einer bestimmten Ordnung« muß man, so meinen wir, in der dritten Bitte des Vaterunser festhalten. Er wird übrigens auch wörtlich durch den Einschub des Qaddisch nahegelegt: »in der Welt die Er erschaffen hat nach Seinem Willen«, eine Formulierung, die den Ursprung der dritten Bitte des Vaterunser bildet. Der »Wille« Gottes geschieht durch Gott selbst, durch seine Engel, durch die Menschen. Die Heiligung des Namens hatte dieselben Urheber. Insofern trifft sich die dritte Bitte mit der ersten. Der »Wille« Gottes wird in den Himmeln seit der Schöpfung der Welt ausgeübt. Auf Erden wird er endgültig am Tage des Gerichts ausgeübt werden. So wird sich die Ankündigung der Offenbarung des Johannes erfüllen: Würdig bist Du, unser Herr und Gott, Herrlichkeit zu empfangen und Ehre und Macht. Denn du bist es, der die Welt erschaffen hat, durch Deinen Willen war sie und wurde sie erschaffen. 30 Asclepius 26. Pseudo-clementinische Rekognitionen 9,1,4 (Französische Übersetzung von Schneider, leicht modifiziert). 30 Offenbarung des Johannes 4,11. 28
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Die ideale Situation, in der die Hiinmel und die Erde sich vereinen in gemeinsamer Anbetung des heiligen Gottes, wird in einem Lobgesang beschrieben, der sich in einer Schrift der Hekhilöt, dem Ma'ase Merkdbdh befindet: Dein Name ist gewaltig im Himmel und auf der Erde, groß an Kraft im Himmel und auf der Erde, gepriesen im Himmel und auf der Erde, geehrt im Himmel und auf der Erde, barmherzig im Himmel und auf der Erde, heilig im Himmel und heilig auf der Erde. 3! »Wie im Himmel, so auch auf der Erde.« Diese Präzisierung, die sich bei Matthäus und in der Didache (8,2) findet, fehlt bei Lukas. Die Übersetzung »auf Erden wie im Himmel« ist zwar eleganter, hat aber den Nachteil, daß sie die Ordnung der Worte umkehrt, indem sie die »Erde« voranstellt und den »Himmel« an zweiter Stelle erwähnt. Man muß das Griechische wie folgt verstehen: Wie (es sich) im Himmel (verhält), so (soll es sich) auf Erden (verhalten). Was also im Himmel existiert, das soll sich auch auf Erden realisieren. »Der Himmel und die Erde« ist eine zusammenfassende Formulierung, die seit den ersten Versen der Genesis verwendet wird;32 sie bezeichnet das Universum durch seine Teile, in einer Sprache, die, wie das Hebräische, zu alter Zeit noch keinen Ausdruck zur Bezeichnung des Kosmos kannte. Dennoch sind »der Himmel und die Erde« in der dritten Bitte getrennt und bilden keine Einheit, sondern zwei unterschiedene Räume: den Himmel, wo Gott thront, umgeben von seinen Engeln, und die Erde, die von den Menschen bewohnt wird und wo Satan seine gottfeindlichen Handlungen ausübt. Es ist möglich, daß ein Text aus Daniel, das »Gebet Nebukadnezzars«, die Zusammenstellung der zweiten und dritten Bitte be-
31 Schäfer, 1981, § 548 (Manuskript n° 8128), Übersetzung: Schäfer, 19871991,246. 32 Genesis 1,1. S. auch Genesis 2,4; 14,19; 14,22. Zum »Merismus« »die Himmel und die Erde« s. Krasovec, 1977, 15-25 und 153.
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günstigt hat. Der Abschnitt hat, nach der griechischen Übersetzung des Theodotion, folgenden Wortlaut: Und alle Bewohner der Erde gelten als nichts, und nach seinem Willen handelt er mit dem Heer des Himmels und mit denen, deren Wohnstätte die Erde ist. 33 In diesem einen Vers werden der Wille Gottes, das Heer des Himmels und die Bewohner der Erde erwähnt. Hinzu kommt, daß der vorangehende Vers bei Daniel ausdrücklich vom Reich spricht. Diese Schlüsselbegriffe finden sich alle in der zweiten und dritten Bitte, die von Reminiszenzen an Daniel 4,34f durchzogen sein könnten. »Wie im Himmel, so auch auf der Erde« würde sich also auch auf die beiden ersten Bitten und nicht allein auf die dritte beziehen. In seiner Abhandlung» Über das Gebet« hatte schon Origenes, im dritten Jahrhundert, diese Interpretation vorgeschlagen. 34 Diese Auslegung führt dazu, die drei ersten Bitten fest zu verbinden und ihnen einen gemeinsamen Schluß zu geben.
33 34
Daniel4,35 (Theodotion). Origenes, De oratione 26,2. S. Cullmann, 1994, 67f.
Kapitel VII Die vierte Bitte Die drei ersten Bitten bilden, wie wir sahen, das »Gebet Jesu«. Die drei letzten Bitten sind für die Jünger bestimmt und verdanken sich einer vertraulichen Unterweisung, welche deshalb eine Entschlüsselung dieser Bitten nötig macht.! Wenn auch der eschatologische Charakter der drei ersten Bitten allgemein anerkannt ist, so gilt dies doch nicht für die vierte, fünfte und sechste Bitte, die zahlreiche Exegeten dem täglichen Leben zuordnen. 2 Dem ist, so denken wir, nicht so. Wir werden dies sogleich im Blick auf die vierte Bitte sehen. Für unbefangene Geister scheint diese Bitte keine besonderen Probleme zu bereiten. Die Geschichte ihrer Auslegung zeigt dennoch, daß sie viele Fragen hervorgerufen hat hinsichtlich des Sinnes, den man dem Wort »Brot« (>Versuchung« übersetzt wird, ganz von neuem aufgenommen werden. Es ist von Bedeutung, sogleich darauf hinzuweisen, daß der Begriff JtELQua!.t6~ in der profanen Literatur griechischer Sprache äußerst selten ist. Die spezialisierten Wörterbücher 10 geben nur drei Beispiele an: das erste bei Dioscurides, einem Arzt des ersten Jahrhunderts unserer Zeitrechnung, bei dem das Wort »Erfahrungen« 6 S. Denis, 1970, 70-102. Es existieren noch weitere griechische Fragmente der Jubiläen, die Denis nicht bekannt sind, s. dazu Milik, 1971. 7 Dupont-Sommer, 1967-1968, 416; Philonenko, in: Dupont-Sommer / Philonenko, 1999, LXXII. 8 Philonenko, 1996, 92f. 9 Jenni, 1992; Cullmann, 1994, 77f. 10 Theologisches Wörterbuch zum Neuen Testament (Seesemann, 1965, 24); Bauer!Aland, 1988, co!. 1291.
Kapitel IX: Die sechste Bitte
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medizinischer Art bezeichnet;l1 das zweite aus den Kyraniden, wo es die »Gefahren« oder »Prüfungen« bezeichnet, denen man zu Lande oder auf dem Wasser begegnen kann;12 das dritte aus dem Syntipas. 13 Zu diesen drei Beispielen kann man ein viertes, von C. Spicq erwähntes hinzufügen, wo die >>Versuche« eines Verführers angezeigt werden. 14 Eine fünfte Bezeugung im Werk des Grammatikers Herodian scheint bisher nicht erwähnt worden zu sein. 15 In der Übersetzung der Septuaginta aber erscheint JtELQua!l6~ verstärkt, man zählt neunzehn Vorkommen. 16 M. Harl ordnet JtELQua!l6~ den »Neologismen« zu, die das Deuteronomium mit den anderen Büchern des Pentateuch gemein hatY In der »Bibel Alexandriens« wird es, in Exodus 17,7, sehr richtig mit »Erprobung«18 oder, in Deuteronomium 6,16, mit »Prüfung«19 übersetzt. Das Verb JtELQci1;,ELv wird in der Septuaginta sechzig mal benutzt. 20 Dort, wo ein hebräischer Text besteht, stellt man fest, daß es immer das hebräische Verb nsh im Piel übersetzt, dessen erste Bedeutung »auf die Probe stellen« ist. 21 Es wird reichen, hier die erste dieser Bezeugungen zu zitieren. Man liest in Genesis 22,1: »Nach diesen Ereignissen stellte Gott Abraham auf die Probe (EJtELQu1;,EV).« Wie dies 1. Makkabäer 2,52 und Sirach 44,20 verstanden haben, handelt es sich hier darum, jemanden auf die Probe zu stellen, um seine Treue zu erproben. In der Tat ist die Übersetzung von JtELQci1;,ELV mit »versuchen« und die von JtELQua!l6~ mit >>Versuchung« in den meisten Fällen nur eine Gewohnheit. 11 De Materia Medica, praef. 5: miJ~ btl ,ÖlV nat}Ölv nELQaa~ou~ (ed. Wellmann). 12 Kyranides: XlVÖUVOL xal nELQaa~ol EV ,E yft xal t}at..cwau (ed. De Melyl Ruelle, II, 40). 13 Syntipas: uno nELQaa~Ölv mii xoa~ou a,EvoxwQOU~EVOL (ed. Jernstedtl Nikitin,124). 14 Spicq, 1991, 1217, Fußnote 2 (Philaenis, IIEQl ucpQoöLalwv, in P. Oxy. 2891, Fragment I, col. 2: IIEQl nELQaa~Ölv). 15 Herodian, Partitiones, 110,5: nEiQo~' 1'1 unonELQa' nELQÖl~m' nELQaa~o~' xal nELQa,1\QLOv' nELQa,rl', 6 xouQaaQLO~ (ed. J.-F. Boissonade). 16 Hatch/Redpath, 1897, II, 1116a. 17 Dogniez/Harl, 1992, 65. 18 Le Boulluec/Sandevoir, 1989, 190. 19 Dogniez/Harl, 1992, 157. 20 Hatch/Redpath, 1897, II, 1115c-1116a. 21 Gesenius/Buhl, 1949, 507a.
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Kapitel IX: Die sechste Bitte
Im Neuen Testament bedeutet :rcELQaot-t6~ meistens »Prüfung«, wie in Apostelgeschichte 20,19; 1. Korinther 10,13; Galater 4,14; Jakobus 1,2; 1,12; 1. Petrus 1,6; 4,12; 2. Petrus 2,9; Offenbarung des Johannes 3,10. 22 Im zehnten Kapitel des Buches der Jubiläen findet sich ein Abschnitt, der auf die sechste Bitte des Vaterunser noch ein anderes Licht wirft. Wie in einem Diptychon präsentiert dieses Kapitel das »Gebet Noahs« (10,3-6) und das »Gebet des Masterna«, des »Prinzen der Dämonen« (10,8).23 In seinem Gebet fleht Mastema den Herrn an, er möge ihm einen Teil der Dämonen lassen, denn, wie er sagt, »sie werden meine Stimme hören und alles tun, was ich ihnen sage. Denn wenn mir nicht(s) übriggelassen wird unter ihnen, werde ich die Herrschaft meines Willens nicht tun (vollziehen) können unter den Menschenkindern. Denn sie sind zum Verderben und zur Verführung vor meiner Vollmacht. Denn groß ist die Bosheit der Menschenkinder.«24 Der Herr stimmte dieser Anfrage zu und »sagte: >Der zehnte Teil von ihnen soll übrigbleiben vor ihm, und neun Teile sollen sie herabbringen an den Ort des Gerichtes.Siehe Abraham liebt den Isaak, seinen Sohn, und er freut sich über ihn vor allen. Sage ihm, er solle ihn hinaufbringen als Brandopfer auf den Altar! Und du wirst sehen, ob er dieses Wort tut. Und du wirst wissen, ob er glaubend ist in allem, womit du ihn versuchst.«(29 Der Autor der Jubiläen ist hier zweifelsohne beeinflußt von Hiob 1,6-12 und 2,1-6. 30 Die Prüfung, der Abraham so unterzogen wird, war, den Jubiläen zufolge, weder die erste noch die letzte: »Und der Herr wußte, daß Abraham gläubig war, in aller seiner Trübsal, die er ihm genannt hatte. Denn er hatte ihn versucht mit seinem Land und durch Hungersnot. Und er hatte ihn versucht durch den Reichtum der Könige. Und er hatte ihn wiederum versucht durch seine Frau, als sie ihm geraubt wurde, und durch die Beschneidung. Und er hatte ihn versucht durch Ismael und durch Hagar, seine Sklavin, als er sie fortschickte. Und in allem, wodurch er ihn versuchte, wurde er als glaubend erfunden. Und seine Seele war nicht ungeduldig, und er hat nicht gezögert, es zu tun, denn glaubend war er und liebend den Herrn.«3! Zu den sieben hier aufgezählten Prüfungen muß man noch drei weitere hinzufügen, um auf die in Jubiläen 19,8 er:rtELQaafl6~
29
30 31
Jubiläen 17,15f. S. Caquot, 1999a, 708, Fußnote zu Jubiläen 17,15f. Jubiläen 17,17f.
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Kapitel IX: Die sechste Bitte
wähnte Zahl von zehn zu kommen: die Unfruchtbarkeit Saras, das Opfer Isaaks und der Tod Saras. Diese letzte und zehnte Prüfung (»decima temptatio« sagt die lateinische Übersetzung der Jubiläen) faßt alle anderen zusammen. So läßt der Autor der Jubiläen Gott sagen: »Und wir versuchten ihn, ob sein Geist geduldig sei und ob er nicht unwillig sei im Worte seines Mundes. Und er wurde auch darin geduldig gefunden und wurde nicht verwirrt. «32 Der Targum Neofiti zu Genesis 22,1 deckt sich hier mit den Jubiläen: »Jahwe prüfte (nsy) Abraham mit der zehnten Prüfung (bnsywnh).«33 Die Jubiläen unterstreichen die Treue Abrahams in all diesen Prüfungen. Sein Geist war zu keinem Moment schwankend. 34 Auch nach dem Targum Neofiti zu Genesis 22,14 soll Abraham erklärt haben: »In meinem Herzen gab es keinen Zwiespalt, von dem Moment an, wo du mir sagtest, meinen Sohn Isaak zu opfern.« Die Prüfung hat also zum Ziel, die Entschlossenheit der Seele und die Treue dessen zu offenbaren, der sie durchmacht. Die Zahl der zehn »Prüfungen« wurde, nach dem Targum Pseudo-Jonathan zu Exodus 15,25, sogar auf Mose ausgedehnt, oder auch, dem Testament des Joseph 2,7 zufolge, auf Joseph. Die Lehre von der »Erprobung«, die wir aus dem Buch der Jubiläen erhoben haben, findet sich im Wesentlichen in den Zusätzen der Vulgata zu den Büchern Judith und Tobit wieder. Die Abschnitte der lateinischen Vulgata des Buches Judit, die sich mit der »Erprobung« befassen, sind in zwei Versen des griechischen Textes verwurzelt: »Bei alldem aber laßt uns dem Herrn, unserem Gott, danken, daß er uns ebenso prüft (rtELQUSEL) wie schon unsere Väter. Denkt daran, was er mit Abraham machte, wie er Isaak prüfte (ErtdQuOEV) und was Jakob im syrischen Mesopotamien erlebte.«35 Diese Verse werden in der Vulgata wie folgt erweitert: »Und nun, meine Brüder, weil ihr die Ältesten des Volkes Gottes seid und weil ihr Leben von euch abhängt, erhebet ihre Herzen durch eure Worte, damit sie sich daran erinnern, daß unsere Väter geprüft wurden (tentati sunt), auf daß bestätigt würde, Jubiläen 19,3. Unsere Übersetzung korrigiert diejenige von Le Deaut, um die etymologische Formulierung wiederzufinden. 34 Jubiläen 17,18. 35 Judith 8,25f. Vgl. Lohmeyer, 1952, 140. 32
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Kapitel IX: Die sechste Bitte
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daß sie wahrhaftig ihrem Gott dienten. Sie sollen sich daran erinnern, daß Abraham, unser Vater, geprüft worden ist (tentatus est) und daß er, bestärkt durch viel Unglück, der Freund Gottes geworden ist. Auf diese Weise sind Isaak, Jakob, Mose und alle, die Gott gefielen, durch zahlreiche Mißgeschicke gegangen und dennoch treu geblieben. Diejenigen aber, die diese Prüfungen (tentationes) nicht in der Furcht des Herrn empfangen haben, die ihrer Ungeduld, ihren Vorwürfen und ihrem Murren gegen den Herrn Ausdruck verliehen, die sind von dem Vertilger vertilgt worden, und sie sind umgekommen durch die Schlangen.«36 Die Lehre der Vulgata ergänzungen zu Tobit ist nahe verwandt. Nach einer von ihnen, die sich auf die Blindheit des alten Tobit bezieht, »erlaubte Gott, daß diese Prüfung (tentationem) ihn erreichte, damit seine Geduld, wie die des heiligen Mannes Hiob, der Nachwelt zum Beispiel gegeben würde.«37 Eine Verkündigung des Engels Raphael an Tobit ist besonders erhellend: »Weil du Gott angenehm gewesen bist, mußte die Prüfung (tentatio) dich bestärken. Nun hat mich der Herr gesandt, um dich zu heilen und um Sara, die Frau deines Sohnes, vom Dämon zu befreien (a daemonio liberarem).«38 Auf diese Weise werden die Prüfung, die dem einen auferlegt wird, und die Befreiung, die der anderen gewährt wird, in einer Bewegung miteinander verbunden. Erinnern wir daran, daß die Ergänzungen der Vulgata zu den beiden Apokryphen besondere Bedeutung haben, wenn man - wie dies A. Dupont-Sommer für Tobit gezeigt39 und wir dies für Judith behauptet haben40 - ihre stark essenische Färbung anerkennen muß. Die Verwandtschaft dieser Abschnitte mit dem Buch der Jubiläen spricht im übrigen für diese These. Es ist nun an der Zeit, zum Ausdruck XUL fl,T] ELOEVEYXTJ~ ~fl,ii~ EL~ 'tOV l"tELQUOfl,OV zurückzukommen. Die Vulgata hat hier »ne inducas nos in temptationem«, was eine bloße Kopie des Griechischen ist; Judith 8,21-25 (Vulgata). Tobit 2,12 (Vulgata). 38 Tobit 12, 13f (Vulgata). Vgl. schon den griechischen Text von Tobit 12,14 nach dem Vaticanus und dem Alexandrinus einerseits, sowie nach dem Sinaiticus andererseits. 39 Dupont-Sommer, 1967-1968, 414-426, und 1968-1969, 383-391. S. oben, S. 9. 40 Philonenko, 1996a. S. oben, S. 9. 36 37
100 Kapitel IX: Die sechste Bitte
aber die seit langem gebräuchliche Übertragung mit »und führe uns nicht in Versuchung« gibt weder das Griechische noch das Lateinische exakt wieder. Im Französischen zum Beispiel hat »induire« (leiten) oft eine entwertende Bedeutung, wie etwa im Ausdruck »induire en erreur« (in die Irre leiten). IIELQaa~6t; oder tentatio bedeuten eigentlich »Prüfung«; und >>Versuchung« ist ein sekundärer und abgeleiteter, fast entfernter Sinn, und zwar im Griechischen wie auch im Lateinischen. Deshalb unterschreibt man gern das Urteil von H. Pernot: »Weder das Wort >Versuchung< noch das Wort >führen in< ist hier wirklich am Platz.«41 E. Jenni bemerkt, daß nicht gesagt wird: >>Versuche uns nicht«, sondern das eine erweiterte Formulierung benutzt wird. 42 Dadurch wird ohne Zweifel eine zusätzliche Nuance gegeben. Man kann der griechischen Formulierung einen permissiven Sinn geben: »Lasse nicht zu, daß wir (in die Prüfung) geraten«,43 oder für einen faktischen Sinn plädieren: »Mache, daß wir nicht (in die Prüfung) geraten. «44 Diese beiden Interpretationen, und besonders die zweite, lassen einen Raum, wo neben Gott ein anderer Handelnder auftreten kann, welcher zum Instrument der Prüfung wird. So ist es nicht Gott, der auf die Probe stellt, sondern derjenige, dem er die Erlaubnis gibt, dies zu tun. Wir befinden uns hier ganz auf der Linie von Hiob 1,9-12 und 2,1-6, von Jakobus 1,13 (»Gott selbst [ail1:6t;] stellt niemanden auf die Probe«)45 und - unnötig, daran zu erinnern - des Buches der Jubiläen. Eine Rückübersetzung des griechischen xaL ~Tj daeveyx'l]t; ~~at; ins Aramäische macht eine kausative Nuance deutlich. Wie G. Dalman genau gesehen hat, ist die einzige Möglichkeit, die Vorstellung des »führen in« im Aramäischen auszudrücken, das Verb 'll, im Aphel, was dem hebräischen b8' im Hiphil entspricht. 46 Wenn man die aramäische Grundlage bedenkt und wenn man den Akzent auf den »Befehls empfänger« legt, dann wird man das Griechische übersetzen mit: »Mache, daß wir nicht (in die Prüfung) geraten.« Pernot, 1925,74. Jenni, 1992, 78. 43 Jeremias, 1966, 169; 1988, 196. 44 Heller, 1901; Carmignac, 1969,282 und 292-294. 45 Cullmann, 1994, 83, Fußnote 174. 46 Dalman, 1930,344. Zu den unterschiedlichen Bedeutungen des Hiphil s. Waltke/O'Connor, 1990, 433-446. 41
42
Kapitel IX: Die sechste Bitte 101
Es war auch Dalman, der der sechsten Bitte des Vaterunser ein hebräisches Gebet zugeordnet hat, das im babylonischen Talmud (Berakhöt 60b) erhalten ist: Bring mich nicht in die Gewalt der Sünde, nicht in die Gewalt der Schuld und nicht in die Gewalt der Versuchung und nicht in die Gewalt von Schändlichem! Dalman hielt dieses Gebet für spät. 47 Im Gegensatz dazu meinte J. Jeremias, es sei sehr alt. 48 1959 haben wir die These vorgetragen, die »Fünf syrischen Psalmen Davids«, die in einigen Handschriften den hundertfünfzig Psalmen des kanonischen Psalters hinzugefügt werden, seien essenischen Ursprungs. 49 Man liest im dritten dieser Psalmen: Laß mich nicht in (Prüfungen) geraten, die zu hart für mich sind! 50 Wir haben also diesen Text der sechsten Bitte des Vaterunser zugeordnet. 51 Diese Zuordnung ist von mehreren Autoren aufgenommen worden. 52 Glücklicherweise ist seitdem das hebräische Original des syrischen Psalms in der elften Höhle von Qumran gefunden worden. 53 Man liest hier: Laß mich nicht in (Prüfungen) geraten, die zu hart für mich sind!54 Das Syrische übersetzte also das hebräische Original so genau wie möglich. Der Akzent liegt diesmal im Syrischen wie im Hebräischen auf dem »Befehlsgeber«. Dalman, 1930, 345. Jeremias, 1966, 169; 1988, 195. 49 Philonenko, 1959. 50 Syrische Psalmen 3,16. Den syrischen Text des Psalms findet man in Noth, 1930,6. 51 Philonenko, 1959,44. 52 Sanders, 1965, 72; Carmignac, 1969, 272, Fußnote 48; Luz, 1985, 348, Fußnote 98; Schneider, 1987, 413; Flusser, 1988, 22; Spicq, 1991, 1224; Gese, 1997,418, Fußnote 31. 53 11 QPsa 24,3-17. S. Sanders, 1965, 70-76. 54 11QPsa 24, 10. 47
48
102 Kapitel IX: Die sechste Bitte
Der qumranische Text verwendet dieselbe Wendung »laß mich nicht geraten in« Cl tby 'ny), die auch das zitierte Gebet aus Berakhöt 60b benutzt. Wenn man daran denkt, daß eine Anspielung den Gebräuchen der Zeit entsprechend nur sehr diskret, manchmal mit nur einem Wort gemacht werden kann, dann wird man einräumen, daß das qumranische Gebet ohne Zweifel ein Echo des in Berakhöt 60b bezeugten Gebets ist. Das Alter des talmudischen Gebets wäre so aufgezeigt, und man könnte davon ausgehen, daß J esus implizit darauf anspielen konnte. Das Buch der Jubiläen zählt die zehn Prüfungen, mit denen Abraham geprüft wurde. 55 In der sechsten Bitte des Vaterunser lehrt J esus seine Jünger, Gott darum zu bitten, daß sie nicht auf die Probe gestellt werden. Im Garten Gethsemane erinnert er sie an diese Unterweisung. 56 Der Meister entfernt sich so von der Lehre der Jubiläen, indem er nur von einer unbestimmten Prüfung redet, die in dieser Allgemeinheit nur die große, eschatologische Prüfung sein kann, der Satan die Welt unterziehen willY Es ist dies genau die Lehre der Offenbarung des Johannes, in einem Vers, in dem sich die Begriffe der »Prüfung« (3tELQao!l6~) und des »prüfen« (:rtHQa~Hv) finden: »Auch ich werde dich bewahren vor der Stunde der Prüfung, die über die ganze Erde kommen soll, um die Bewohner der Erde auf die Probe zu stellen.«58 H. Matthäus 6,13b Das zweite Glied der sechsten Bitte fehlt in der lukanischen Version des Vaterunser, aber nichts nötigt dazu, es mit J. Jeremias für eine Bildung der Tradition zu halten. 59 Im Gegenteil, läßt man es aus, so zerstört man damit den antithetischen Parallelismus der sechsten Bitte. Es ist stilistisch notwendig, und es gibt keinen Grund, daraus eine autonome siebte Bitte zu machen. Das zweite Glied der sechsten Bitte ist die natürliche Fortsetzung des ersten. In Wahrheit vermittelt das zweite Glied der sechsten Bitte eine lehrmäßige Notwendigkeit: Um nicht in die Prüfung zu geraten, 55 56 57 58 59
Jubiläen 19,8. Matthäus 26,41; Markus 14,38. s. Lohmeyer, 1952, 142f, und besonders Jeremias, 1966, 170; 1988, 195. Offenbarung des Johannes 3,10. J eremias, 1966, 169; 1988, 27f und 189f.
Kapitel IX: Die sechste Bitte 103
müssen die Jünger vor der Einwirkung Satans und seiner Geister geschützt sein. In der Tat ist es, ganz besonders im Buch der Jubiläen, das ständige Gebet des Gläubigen, daß er vor der Einwirkung Satans und seiner Geister geschützt sei. In Jubiläen 12,20 liest man in diesem Sinne ein Gebet Abrahams: »Rette mich aus der Hand der bösen Geister, die in dem Denken des Herzens der Menschen herrschen. Und sie sollen mich nicht von dir weg, mein Gott, in die Irre führen.« Ebenso wird in Jubiläen 1,20 ein Gebet des Mose hervorgehoben: »Und nicht beherrsche sie der Geist Belchors, sie anzuklagen vor dir und sie zu verstricken, weg von allen Wegen der Gerechtigkeit, so daß sie zugrunde gehen, weg von deinem Angesicht.« In Jubiläen 10,3 vernimmt man auch dieses Gebet Noahs: »Und nicht mögen böse Geister herrschen über sie«. Zitieren wir schließlich aus Jubiläen 19,28 folgende Segnung Abrahams: »Und nicht sollen Macht haben über dich und über deinen Samen die Geister Mastemas«. Das Gebet eines in Qumran gefundenen pseudo-davidischen Psalms hat keinen anderen Sinn: Nicht laß über mich herrschen einen Satan oder unreinen Geist!60 In einem Gebet, das in den Testamenten der zwölf Patriarchen erhalten ist und von dem aramäische Fragmente in Qumran wiedergefunden wurden, bittet Levi ebenso: Kein Satan soll mich überwältigen, mich von deinem Weg abzubringen. 61 Seit dem frühesten Altertum waren die Ausleger unschlüssig, ob das griechische Wort ltovTjQou als Neutrum (das Böse) oder als Maskulinum (der Böse) zu verstehen sei. 62 Beide Übersetzungen sind philologisch möglich. 63 Aber Billerbeck hat behauptet, daß Satan in den hebräischen und aramäischen Texten niemals »der Böse« heißt. 64 Dies ist nicht richtig, denn in Bereshit Rabbih wird Satan 11QPs'19,15. Testament des Levi 2,3i . 62 S. Carmignac, 1969, 308f. 63 Blaß/DebrunneriRehkopf, 1984,215. 64 [Strackl] Billerbeck, 1926, I, 422, gefolgt von Schürmann, 1981, 179, Fußnote 192, Luz, 1985, 349 und DavieslAllison, 1988,615. 60 61
104 Kapitel IX: Die sechste Bitte
eben der »Böse« (bysh) genannt. 65 Nachdem der Einwand aufgehoben ist, sind wir im Sinne unserer Auslegung veranlaßt, die personale Interpretation festzuhalten: Satan selbst ist das Instrument der von Gott gewollten Prüfung. Matthäus 6,13b ist zu übersetzen: »Aber erlöse uns von dem Bösen!«, das heißt »von Satan«. Die sechste Bitte des Vaterunser beginnt zweifelsohne mit einer Reminiszenz an ein im Talmud bezeugtes Gebet (Berakhot 60b), auf das auch in einem qumranischen Psalm angespielt wird. Der Begriff des J'tELQaa!l6~ ist in einem Feld verwandter Vorstellungen verwurzelt, die sich im Buch der Jubiläen und in der Vulgataübersetzung von Judith und Tobit finden und die von den »Prüfungen« sprechen, denen der Teufel die Menschen unterzieht. Diese Überzeugungen haben sich, auf der Grundlage einer Auslegung von Hiob 1,6-12 und 2,1-6, in essenischem Milieu entwickelt. Jesus konnte von ihnen direkte Kenntnis haben durch das Buch der Jubiläen, von dem er in einem seiner Worte ein Quasi-Zitat anführt. 66 Er hat diese Spekulationen und Formulierungen nicht aufgenommen, ohne sie gereinigt zu haben. Die Große Prüfung am Ende der Zeiten hat die zahlreichen Prüfungen des menschlichen Lebens ersetzt, und die zu enge, sektenhafte Person des Mastema ist verschwunden angesichts der anonymen und beunruhigenden Gestalt des »Bösen«. Am Ende dieser philologischen und literarischen Studie scheint es uns, daß die sechste Bitte des Vaterunser wie folgt zu übersetzen ist: Und laß uns nicht in die Prüfung geraten, sondern erlöse uns von dem Bösen!
65
Ed. TheodoriAlbeck, Jerusalem, 1965, 880, Zeile 2;
102a. 66
S. oben, S. 15.
5.
Sokoloff, 1992,
Kapitel X Die Doxologie »Denn dir gehört das Reich, die Kraft und die Herrlichkeit!« Dieser Lobpreis fehlt in Lukas 11,4 und wird auch in den ältesten, in Unziale verfaßten Handschriften von Matthäus 6,13 nicht überliefert.1 Das heißt keineswegs, daß diejenigen Handschriften, die ihn bezeugen, deshalb spät oder minderwertig seien, wie man vielleicht vorschnell glauben könnte. Dennoch bleibt die Tatsache bestehen, daß die Handschriften, die von der Existenz der Doxologie Zeugnis geben, nicht dasselbe Gewicht haben wie diejenigen, bei denen sie fehlt. 2 Die Doxologie wird auch in den Apparaten der modernen Ausgaben des Neuen Testamentes abgewiesen,3 und einige Ausleger, wie zum Beispiel Lagrange4 oder Bonnard,5 verschweigen sie; andere, wie Lohmeyer, 6 kommentieren sie ausführlich. Das durch die Existenz der Doxologie gestellte Problem ist untrennbar mit der Geschichte der Bildung des Vaterunser verbunden. 7 Beschränken wir uns zunächst auf die Frage, ob die drei WirBitten ursprünglich mit einer Doxologie endeten oder nicht. Die letzte der drei Wir-Bitten ist ein eschatologischer Schrei in der Not: »Erlöse uns von dem Bösen!« Diesem verzweifelten Ruf kann keine wie auch immer geartete Danksagung, selbst keine vorweggenommene, gefolgt sein. Allein aus diesem Grund muß man 1 2 3 4
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7
Es seien, neben dem Sinaiticus, zitiert: die Handschriften A, B, D, Z. Aland, 1989, 31 Of; Metzger, 1994, 13f. S. besonders Nestle/Aland, 1998. Lagrange, 1948. Bonnard, 1963. Lohmeyer, 1952, 162-174, und, aus der jüngeren Forschung, Black, 1990. S. unten, S. 108-113.
106 Kapitel X: Die Doxologie
schließen, daß die Doxologie von den drei Wir-Bitten unabhängig ist; dies enthebt uns natürlich nicht der Aufgabe, sie für sich selbst zu untersuchen. Nach der Mehrzahl der sie bezeugenden Handschriften enthält die Doxologie drei Begriffe: »das Reich«, »die Kraft« und »die Herrlichkeit«. Dennoch zählt die Didache in 8,2 nur zwei Begriffe, »die Kraft« und »die Herrlichkeit«; das gleiche gilt für die koptischen, sahidischen und faijumischen Übersetzungen. Die syrische Übersetzung, die von Cureton herausgegeben wurde, läßt die »Kraft« aus. Die Handschrift k der Vetus latina hat nur die »Kraft« (virtus) behalten. 8 Fassen wir zusammen: Die Doxologie enthält in den meisten Handschriften, die sie bieten, drei Begriffe; sie kann aber auch nur zwei oder sogar, nach einem einzigen Zeugen, nur einen Begriff haben. Sehr betont hat man das Zeugnis der Didache, die eine Doxologie aus zwei Begriffen hat, »die Kraft und die Herrlichkeit« - und einige konnten sogar glauben, daß dies die ursprüngliche Form der Doxologie gewesen sei. 9 Dennoch leitet W. Rordorf zu der Beobachtung an - und diese Bemerkung scheint uns zutreffend -, daß zwar die Didache in 9,4 und 10,5 eine Doxologie aus zwei Begriffen, »die Kraft und die Herrlichkeit«, verwendet, daß aber im Text dieser beiden Abschnitte eine Erwähnung des »Reiches« der Doxologie unmittelbar vorausgeht. Der Autor der Didache, der das »Reich« gerade genannt hatte, wäre so dazu gebracht worden, sie in der Doxologie in 9,4 und 10,5 auszulassen, ebenso auch, aus Gründen der Harmonisierung, in 8,2. 10 Demnach hat das Zeugnis der Didache ohne Zweifel nicht den Wert, den man ihm gewöhnlich aufgrund seines Alters zumißt. Es gibt also allen Anlaß zu denken, daß die aus drei Begriffen gebildete Doxologie ursprünglich ist. Ihre Originalität liegt in der Erwähnung des »Reiches«.l1 Dies bringt uns dazu, den Ursprung der in Matthäus 6,13 bezeugten Doxologie zu suchen. Ein Vorbild kommt sofort in den Sinn, nämlich das in 1. Chronik 29,11-13 gegebene: »Dein, Herr, sind Größe und Kraft, Ruhm und Glanz und 8
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Jülicher, 1938, 31. Dies scheint die Meinung von J eremias zu sein, 1988, 196. Rordorf, 1978, 174, Fußnote 3. Vgl. Offenbarung des Johannes 12,10.
Kapitel X: Die Doxologie 107
Hoheit; dein ist alles im Himmel'und auf Erden. Herr, dein ist das Königtum. Du erhebst dich als Haupt über alles.« Alle Elemente der aus drei Begriffen gebildeten Doxologie finden sich in diesen Versen aus 1. Chronik wieder: das »Reich«, die »Kraft« und die »Herrlichkeit«. Dieser Vers ist die Quelle der meisten Doxologien. lz Er hat in die synagogale Liturgie Einlaß gefunden 13 und findet sich auch in einer Doxologie des Hekhalöt Zutarti, wo ihm ohne Unterbrechung die Erwähnung des »Reiches« folgt. 14 Auf einen wichtigen Unterschied muß hingewiesen werden: Die Doxologie aus Matthäus 6,13 beginnt mit dem »Reich«, während in 1. Chronik das »Reich« erst später, außerhalb der eigentlichen Doxologie genannt wird. Dennoch kennen wir im Targum und in der jüdischen Liturgie Doxologien, die mit der Erwähnung des »Reiches« oder des »Königtums« beginnen. So liest man im Targum Neofiti zu Exodus 15,18: »Jahwe gehört das Reich von Ewigkeit und in alle Ewigkeit!« Das jüdische Gebet 'Alenu enthält die Formulierung »denn dir gehört das Königtum«.15 Schließlich ist auf das Vorkommen der Konjunktion »denn« in der jüdischen Segnung, wie in Matthäus 6,13, hinzuweisen. Die aus drei Begriffen bestehende Doxologie kann, wenn man es recht bedenkt, gut jüdischen oder judenchristlichen Ursprungs sein. Wenn wir die Bildung des Vaterunser ansprechen, werden wir sehen, welchen Platz genau die Doxologie in der Struktur des Gebetes einnimmt. »Amen« findet sich in den meisten Handschriften, die die Doxologie bieten. Es handelt sich um ein Verbaladjektiv, das im Hebräischen bedeutet: »Dies sei wahr.«16 Es bezeichnet die Zustimmung der Gläubigen. 17 Diese liturgischen Antworten nach der Doxologie sind ziemlich natürlich, wie dies die Offenbarung des Johannes zeigt: Ihm sei die Herrlichkeit und die Macht in alle Ewigkeit. Amen.t 8 12 \3 14 15 16 17 18
Charles, 1920, I, 17. Die Gebete des Mussa/für den Sabbat (Birnbaum, 1990,419). Schäfer, 1981, § 383 (2 mal). Birnbaum, 1990, 137. Joüon, 1947,288, Fußnote 1. S. oben, S. 21. Offenbarung des Johannes 1,6; vgl. 5,14; 7,12.
Schluß Das »Gebet Jesu«, das Gebet der Jünger und das Vaterunser Für lange Zeit stellte sich das Problem, welches der beiden Evangelien nach Matthäus und nach Lukas den Originaltext des Vaterunser besser erhalten habe. Entweder man entschied sich für das eine oder das andere Evangelium, oder man unternahm Anstrengungen, die erste Form des Gebetes wiederherzustellen, indem man von Fall zu Fall eher Matthäus oder Lukas den Vorzug gab. So hat J. Jeremias behauptet, bezüglich der Anzahl der Bitten habe Lukas Vorrang, während hinsichtlich ihres Gehaltes Matthäus der Vorzug zukomme.! J. Carmignac hat sich fest für den Text des Matthäus ausgesprochen. 2 o. Cullmann war der Ansicht, man müsse für jede Bitte gesondert untersuchen, ob die Form bei Matthäus oder bei Lukas die älteste sei. 3 Diese Fragestellung bleibt von Bedeutung. Zum Beispiel scheint uns die Anrufung »Vater« aus Lukas 11,2 eher fest zuhalten zu sein als jene aus Matthäus 6,9: »Unser Vater, der in den Himmeln ist«. Auch scheint es uns nicht nötig, die dritte Du-Bitte oder das letzte Glied der Wir-Bitte für »Zusätze« zu halten. Im übrigen ist es möglich, daß nicht Matthäus oder Lukas für die Abweichungen verantwortlich sind, durch die sich die beiden Formen des Gebetes voneinander unterscheiden, sondern daß diese vielmehr auf die Gebräuche in ihren jeweiligen Gemeinden zurückgehen. Außer-
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2 3
Jeremias, 1966, 158; 1988, 190. Carmignac, 1969, 18-28. Cullmann, 1994, 52.
Schluß 109
dem hatte das Gebet vielleicht in seiner Urform noch nicht die Feierlichkeit, die man heute dem Gebet des Herrn beimißt. Sehr bald schließlich wurde das Gebet zum Gegenstand von Veränderungen und Anpassungen, wie dies die beiden zu Lukas 11,2 bezeugten Varianten zeigen. 4 In jedem Fall gehen die matthäische und die lukanische Form des Ge~etes auf ein und dieselbe griechische Übersetzung zurück, die auf der Grundlage des Aramäischen erstellt wurde. Einige Modifikationen, die Lukas an dem ihm vorliegenden Text vorgenommen hat, erklären sich vielleicht aufgrund metrischer Überlegungen. 5 Das Fehlen der dritten Du-Bitte bei Lukas könnte keinen anderen Grund haben. Es ist im übrigen ziemlich auffallend, daß in Lukas 22,42 auf die dritte Du-Bitte mit Worten angespielt wird, die dem Text aus Matthäus 6,10 sehr nahe sind, so als ob Lukas diese Bitte zwar gekannt, sie aber dennoch im Gebet (11,2) ausgelassen hätte. Ohne auch nur einen Augenblick zu vergessen, was wir unseren Vorgängern G. Dalman, J. Jeremias und o. Cullmann schulden, müssen wir daran erinnern, wodurch unsere Studie sich von den im allgemeinen festgehaltenen Interpretationen unterscheidet. Die Geschichte der Bildung des Vaterunser muß, so glauben wir, geschrieben werden, indem man zwei Gebete unterscheidet, aus denen es zusammengesetzt ist: das »GebetJesu« und das Gebet, welches er seine Jünger lehrte. Unter »Gebet Jesu« verstehen wir das individuelle, persönliche und gewohnte Gebet Jesu, dasjenige, das er allein sprach, abgesondert und mit lauter Stimme, das aber sein Jünger hören konnten, ohne doch daran teilzunehmen. Dieses »Gebet Jesu« verwendete die Anrufung 'abba:, die aufgrund des impliziten Hinweises auf Psalm 89,27 messianische Bedeutung hatte. Das »Gebet Jesu« enthielt drei Du-Bitten. Die zweite Bitte zur Ankunft des Reiches hatte einen betont eschatologischen Sinn. Nichts weist darauf hin, daß Jesus sich hier eine andere Rolle als die des Bittenden zuordnet, aber er ist nicht irgendein Bittender, er ist ein Sohn, der sich vertrauensvoll an seinen Vater wendet. Kein anderer Text steht diesem
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S. oben, S. 62-68. Irigoin, 2000, 211.
110 Schluß
»Gebet Jesu« näher als die von Jesus ausgesprochene »Danksagung«, von der in Matthäus 11,25-30 berichtet wird. 6 Die drei Wir-Bitten hat J esus seine Jünger gelehrt. Dieses Gebet enthielt, wie das »Gebet Jesu«, drei Bitten. Es begann nicht mit einer Anrufung und endete auch nicht mit einer Doxologie. Es war ein Gebet für die Tage der Prüfung und der Not, ein eschatologisches Gebet wie das »Gebet Jesu«. Jesus hat sich diesem Gebet der Jünger nicht angeschlossen; ihre Situation war nicht dieselbe wie die seinige. Die Ausleger weisen vielleicht nicht mit ausreichendem Nachdruck darauf hin, daß Markus, wenn er auch den Text des Vaterunser nicht bietet, dennoch in seinem Passionsbericht drei mal auf dieses Gebet anspielt. Wir lesen in Markus 14,35-38: Und er ging ein Stück weiter, warf sich auf die Erde nieder und betete, daß die Stunde, wenn möglich, an ihm vorübergehe. Er sprach: Abba, Vater, alles ist dir möglich. Nimm diesen Kelch von mir! Aber nicht, was ich will, sondern was du willst, soll geschehen. Und er ging zurück und fand sie schlafend. Da sagte er zu Petrus: Si mon, du schläfst? Konntest du nicht einmal eine Stunde wach bleiben? Wacht und betet, damit ihr nicht in die Prüfung geratet! Diese Verse überschneiden sich in drei Punkten mit dem »Gebet«: in der Anrufung mit 'abba', in der dritten Du-Bitte (»Aber nicht, was ich will, sondern was du willst«) und in der dritten Wir-Bitte (»Wacht und betet, damit ihr nicht in die Prüfung geratet«). Diese Überschneidungen können keinesfalls zufällig sein. Jesus hat sich abgesondert um zu beten und macht sich die dritte der Du-Bitten wieder zu eigen. Er kehrt zurück und sagt nicht zu seinen Jüngern: »Laßt uns wachen und beten«, sondern »Wacht und betet«, und so erinnert er sie an die letzte der Wir-Bitten. Dieser Passionsbericht setzt sowohl die Kenntnis des »Gebets Jesu« als auch die des Gebets der Jünger voraus, ohne daß aber diese beiden unterschiedenen Gebete zu einem einzigen, dem Vaterunser, vereinigt würden. Eine alte Tradition, die uns der Hebräerbrief überliefert, verband den Passionsbericht und die Gebete J esu, welcher, »als er auf Erden
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S. oben,S. 13-15.
Schluß 111
lebte, mit lautem Schreien und unter Tränen Gebete und Bitten vor den gebracht hat, der ihn aus dem Tod retten konnte«.! Das Markusevangelium und der Hebräerbrief setzen also den Bericht von der Passion Jesu und die Gebete Jesu miteinander in Beziehung. Diese Beziehung ist wesentlich. Die drei Du-Bitten und die drei Wir-Bitten bildeten zwei symmetrische, aber unterschiedene Gruppen. Obwohl sie einer gegenseitigen Anziehung unterlagen, konnten sie doch erst nach dem Weggang des Meisters miteinander verbunden werden. In diesem Sinne begründet der Tod Jesu das Vaterunser. Nachdem die beiden Gebete vereinigt waren, mußte der Begriff 'abba', an den natürlicherweise kein Suffix angehängt werden konnte,8 nicht mehr im Sinne von »(mein) Vater«, sondern, aufgrund der Anpassung an die drei Wir-Bitten, als »(unser) Vater« verstanden werden. So kann man sich erklären, wie man von der Anrufung >>Vater« aus Lukas 11,2 zu »Unser Vater, der in den Himmeln ist« (Matthäus 6,9) gelangen konnte. Aus den drei ursprünglich individuellen Du-Bitten waren gemeinschaftliche Bitten geworden. Schloß das Gebet notwendigerweise mit einer Doxologie? J. Jeremias hat behauptet, es sei unmöglich, aus der Abwesenheit der Doxologie in Lukas 11,4 und in den ältesten Handschriften von Matthäus 6,13 den Schluß zu ziehen, das Vaterunser hätte ohne eine abschließende Benediktion gesagt werden können. 9 Darüberhinaus schein ihm unwahrscheinlich, daß das Gebet mit dem Wort »der (oder das) Böse« bei Matthäus, oder mit >>Versuchung« (oder »Prüfung«) bei Lukas enden konnte. lo Diese These, welche o. Cullmann erneut anführt,11 scheint uns zu absolut zu sein. In bestimmten jüdischen Milieus war es tatsächlich möglich, ein Gebet ohne jede Doxologie und mit einem Begriff zu be enden, der negative Konnotationen hatte. Im Buch Tobit zum Beispiel endet das Gebet der Sara mit dem Wort »Beschimpfung«
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Hebräer 5,7. S. Feldmeier, 1987,61-63; Brown, 1994, I, 227-233. Zu 'abba' s. oben, 36-38. Jeremias, 1966,170; 1988, 196. J eremias, 1988, 196. Cullmann, 1994, 89f.
112 Schluß
(6VELÖLaI-l6~);12 im Liber antiquitatum biblicarum endet ein Gebet des Mose mit dem Wort »Zorn« (ira).1 3 Tatsache ist, daß die Anwesenheit der Doxologie liturgischen Notwendigkeiten gehorcht. Die spätere Hinzufügung einer dreiteiligen Doxologie vollendet ein Gebet, das aus zwei Folgen von je drei Bitten besteht; so unterstreicht sie den ternären Rhythmus des Gebets des Herrn. Seither hat das Vaterunser sehr schnell seinen Platz im Gottesdienst der ersten Kirche eingenommen, wie dies seine Zitierung in extenso, unter Einschluß der Doxologie, in Didache 8,2 zeigt. 14 Der Apostel Paulus scheint ebenso eine Anspielung auf einen liturgischen Gebrauch des Vaterunser zu machen, wenn er den Gläubigen der Gemeinde in Rom schreibt: »Ihr habt den Geist empfangen, der euch zu Söhnen macht, den Geist, in dem wir rufen: Abba, Vater! So bezeugt der Geist selber unserem Geist, daß wir Kinder Gottes sind.«15 Und in Galater 4,6f schreibt Paulus: »Weil ihr aber Söhne seid, sandte Gott den Geist seines Sohnes in unser Herz, den Geist, der ruft: Abba, Vater. Daher bist du nicht mehr Sklave, sondern Sohn; bist du aber Sohn, dann auch Erbe, Erbe durch Gott.« Sicherlich können diese beiden paulinischen Texte auf jedes Gebet der Christen angewandt werden, aber sie passen besonders gut zum Vaterunser. 16 Es reicht in der Tat aus, das erste Wort des Gebetes, abba, zu zitieren, um an das ganze Vaterunser zu erinnern. 17 Wenn die Gläubigen »Abba, Vater!« rufen können, dann deshalb, weil sie durch den Sohn selbst zu Söhnen geworden sind. 18 Die Urkirche gewinnt auf diese Weise, durch die kultische Akklamation »Abba!«, wieder den ursprünglichen Sinn der Anrufung des »Gebetes Jesu«. Dies also war, soweit man sie darstellen kann, die Geschichte der Bildung des Vaterunser. Am Anfang gab es also zwei Gebete, 12 13 14
Tobit 3,15. Liber antiquitatum biblicarum 19,9. S. Audet, 1958, 171-173; Rordorf, 1978, 86f; Niederwimmer, 1989, 169-
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Römer 8,15f. Zahn, 1910, 395f. Hengel/Schwemer, 1998,437, Fußnote 1795. Cullmann, 1994,98.
Schluß 113
das »Gebet Jesu« und das Gebet der Jünger. Das »Gebet Jesu« war individuell, messianisch und eschatologisch. Das Gebet der Jünger war gemeinschaftlich und eschatologisch. Die Stimme Jesu hören wir immer noch in dem einen wie auch in dem anderen. Das »GebetJesu« hätte mit seiner Person verschwinden müssen. Das Gebet der Jünger hätte vergessen werden können von Menschen, die kurz davor waren, sich zu zerstreuen. Eine starke Verbindung aber hat sich im Garten Gethsemane zwischen den beiden Gebeten ergeben: Der Tod Jesu gebot, sie zu einem einzigen zu verbinden. Indem sie beide im Vaterunser vereinigt, rettet die Ur gemeinde das »Gebet Jesu« und das Gebet der Jünger. Die Zusammenfügung von Du-Bitten und Wir-Bitten läßt ein Gebet entstehen, welches reich ist an individueller und gemeinschaftlicher Kraft. Ausgestattet mit einer Doxologie, die ihm das Gleichgewicht der Form verlieh, aus dem Aramäischen ins Griechische und dann in alle Sprachen der Menschen übersetzt, findet sich das Vaterunser seither und für immer im Herzen aller Liturgien der Christenheit. So erfüllt sich jeden Tag neu die Prophetie dessen, der gesagt hatte: Himmel und Erde werden vergehen, aber meine Worte werden nicht vergehen. 19
19
Markus 13,31; Matthäus 24,35; Lukas 21,33.
Anhang I. Übersetzung des Vaterunser nach Matthäus 6,9-13 Unser Vater, der du in den Himmeln bist, Dein Name werde geheiligt! Dein Reich komme! Dein Wille geschehe! Wie im Himmel, so auch auf der Erde. Gib uns heute unser Brot für morgen! Erlasse uns unsere Schulden, wie wir selbst unseren Schuldnern erlassen haben! Und laß uns nicht in die Prüfung geraten, sondern erlöse uns von dem Bösen! Denn dir gehört das Reich, die Kraft und die Herrlichkeit. Amen!
H. Übersetzung des Vaterunser nach Lukas 11,2-4
Vater, dein Name werde geheiligt! Dein Reich komme! Gib uns jeden Tag unser Brot für morgen! Erlasse uns unsere Sünden, denn wir selbst erlassen jedem, der in unserer Schuld steht! Und laß uns nicht in die Prüfung geraten!
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