Oscar Cullmann
Das Gebet im Neuen Testament
Das Gebet im Neuen Testament Zugleich Versuch einer vom Neuen Testament a...
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Oscar Cullmann
Das Gebet im Neuen Testament
Das Gebet im Neuen Testament Zugleich Versuch einer vom Neuen Testament aus zu erteilenden Antwort auf heutige Fragen
von
Oscar Cullmann
J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) Tübingen
, Die Deutsche Bibliothek - CIP·Einheitsaufnahme
Cullmann, Oscar: Das Gebet im Neuen Testament: zugleich Versuch einer vom Neuen Testament aus zu erteilenden Antwort auf heutige Fragen / von Oscar CuIImann. - Tübingen: Mohr, 1994 ISBN 3-16-146266-1 kart. ISBN 3-16'146278-5 Gewebe
©1994 J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) Tübingen. Das Werk einschließlich aIler seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar.' Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen; Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von Gulde-Druck in Tübingen aus der Century Schoolbook gesetzt, auf alterungsbeständiges Werkdruckpapier der Papierfabrik Gebr. Buhl in Ettlingen gedruckt und von der Großbuchbinderei Heinr. Koch in Tübingen geburiden.
Dem Andenken an meine liebe Schwester
Louise Cullmann, ohne deren treue Begleitung und geistige Ausstrahlung sowie ohne deren Aufopferung für meine Entlastung von allen Sorgen ich meine von ihr mit Interesse verfolgte theologische Arbeit nicht hätte verrichten können
Vorwort Der Abschluß dieses von mir längst geplanten und längst begonnenen Buches hat sich verzögert, obwohl es mein Wunsch war, das mir vorschwebende Ziel noch zu erreichen: in die Auslegung des Neuen Testaments, die ich als Gegenstand meiner theologischen Arbeit in Lehre und Forschung gewählt habe, das so zentrale Thema des Gebets aufzunehmen. Grund der Verzögerung ist vor allem die starke Beanspruchung durch meine ökumenische Arbeit, besonders die Abfassung und Diskussion meines mir ebenfalls am Herzen liegenden Vorschlags, schon jetzt über die bereits erreichten notwendigen und sehr erfreulichen, aber doch nie entscheidenden Verwirklichungen hinaus einen zwar auch nicht vollkommenen, jedoch konkreten Zusammenschluß aller christlichen Konfessionen durch die Vielfalt ihrer Charismen und die Duldung der noch nicht versöhnten Divergenzen herzustellen. Aber auch während dieser Bemühungen habe ich nie aufgehört, über die Gebete und Gebetsweisungen des Neuen Testaments nachzudenken, um so mehr, als gemeinsames Beten für. die Sache der Einheit unerläßlich ist und in der Tat schon lange ein zusammenhaltendes Band darstellt. Daß ich mich während so vieler Jahre mit der Vorbereitung dieses Buches beschäftigte, hat zur Folge gehabt, daß ich einerseits immer neu erschienene Einzelbeiträge heranziehen mußte, daß es aber anderseits zu Wiederholungen kam. Beim letzten Durchlesen meines Manuskripts habe ich mich bemüht, diese auszumerzen und überhaupt eine mir immer wichtige Straffung des umfangreichen Stoffes zu erreichen. In den meisten meiner Arbeiten über die Theologie des Neuen Testaments bin ich in die Nähe der Dogmatik gelangt, ohne die Grenze zu überschreiten; Dies ist auch hier der Fall. Allerdings gehe ich dieses Mal in dieser Richtung insofern weiter, als ich bewußt im Neuen Testament die Antwort auf die dogmatischen Gebetsprobleme zu finden versuche. Aber ich glaube, dabei den Boden der neutestamentlichen Forschung nicht verlassen zu haben, da ich bestrebt war, mich immer an diejenige
VI
Vorwort
Antwort zu halten, die sich aus der Exegese, nicht aus anderen wissenschaftlichen Erörterungen, dogmatischen und philosophischen, ergibt, deren Berechtigung damit nicht in Frage gestellt ist. Abgesehen von meiner Dankbarkeit dafür, daß ich mein Vorhaben zu Ende führen durfte, habe ich auf menschlicher Ebene vielen zu danken. Aus dem Buch wird hervorgehen, wo ich aus den zitierten Veröffentlichungen anderer gelernt habe, auch dort, wo mein Widerspruch meine eigene Position geklärt hat. Darüber hinaus habe ich mündliche und schriftliche Anregungen von Kollegen erhalten. Ich bitte um Entschuldigung, daß ich aus Befürchtung, den einen oder anderen zu vergessen, sie hier nicht namentlich aufführe und mich darauf beschränke , nur die Hilfe zu erwähnen, die mir von einigen Spezialisten der semitischen Umwelt des Neuen Testaments zuteil geworden ist: Prof. Dr. Ernst Jenni, Prof. Dr. Marc Philonenko, Dr. MaxWagner. Besonders ist es mir aber ein Bedürfnis, meimen Dank dem Doktoranden Hn. Matthieu Arnold (Straßburg) und Hn. Christoph Schrodt (Basel, Erlangen) auszusprechen, die außer bibliographischen Mitteilungen keine Mühe gescheut haben, mir zeitraubende technische Arbeit abzunehmen durch Übertragen meines handgeschriebenen Textes auf den Computer, Kontrollieren meiner biblischen und bibliographischen Verweise, Herstellung der Register usw. Ich vergesse hier auch nicht den Verleger, Herrn Georg Sieb eck, der nicht nur durch die Aufnahme meiner Arbeiten in seinen altbewährten Verlag ihre Verbreitung sichert, sondern durch Bekundung seines Interesses für ihren Irihalt immer ein Ansporn für mich ist. Basel, Neujahr 1994
Oscar Cullmann
Inhal tsverzeichnis Vorwort........................................... ....... .....
V
Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1
I. EinleitenderTeil
Schwierigkeiten des Betens und Einwände gegen das Beten 1. Kapitel: Die Schwierigkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Fragen, die das Beten selbst aufwirft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Aus menschlicher Unzulänglichkeit sich ergebende Schwierigkeiten,
8 8 10
2. Kapitel: Prinzipielle Einwändegegen das Beten . . . . . . . . . . . . . . . . . .
12 12 16 18
1.' Einwände und Gottesglaube ................................. 2. Einwände gegen alles Beten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Einwände gegen bestimmte Gebetsformen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
11. Teil
Die neutestamentlichen Aussagen über das Gebet Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
24
1. Kapitel: Das Gebet in den synoptischen Evangelien ............... 1. Gebet als Zwiegespräch mit Gott. Erleben seiner Gegenwart . . . . . . . . 2. Gott braucht nicht, aber er will das Gebet der Menschen. . . . . . . . . . . . 3. Der Gegenstand des Gebets: Das Bittgebet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Bitte um materielle Güter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Gebet um Hilfe in materieller Not . ........ ............ ..... . c) Bitte um geistige Gaben. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . d) Fürbitte. Heilungswunder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Bitte um Bewahrung in und vor der Versuchung . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Der Gegenstand des Gebets: Dank- und Lobgebet . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Gebetserhörung nach den synoptischen Evangelien. . . . . . . . . . . . . . . a) JesuVerheißungderErhörung ........ ,.................... b) Die Notwendigkeit des Glaubens . ......... . .......... ....... . c) Die Notwendigkeit der Unterwerfung unter Gottes Willen (JesuGethsemanegebet) ......... ',' . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
25 26 29 31 32 33 35 36 37 39 40 41 41 42
VIII
Inhaltsverzeichnis
d) Gebetserhörung im Lichte des unveränderlichen Pianes Gottes und seiner Freiheit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) DerGlaubeanGottesGüte................................. 6. DasVaterunser . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Vorbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Zur Sonderstellung innerhalb der Synoptiker . . . . . . . . . . . . . . . ß) Zur Bibliographie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . y) Zur Beziehung zwischen den beiden Fassungen (Matthäus und Lukas) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ö) Zur Ursprache .. . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . E) Zur Beziehung zwischen dem Vaterunser und jüdischen Gebeten ................................................. b) Die Anrede ............................................. c) Die dreHbzw. zwei) ersten Bitten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) 1. Bitte: Dein Name werde geheiligt ..... .................. ß) 2. Bitte: Dein Reich komme .............................. y) 3. Bitte: Dein Wille geschehe, wie im Himmel, so auf Erden . . . . . d) Die 4. Bitte: Unser Brotfür morgen gib uns heute .......... ; . . . . e) Die 5. Bitte: Vergib uns unsere Schulden, wie wir vergeben unseren Schuldigern .......................................... f) Die 6.Bitte: Führe uns nicht in Versuchung ................... g) Sondern erlöse uns von dem Bösen .......................... h) Die Doxologie: Denn dein ist das Reich, und die Kraft und die HerrlichkeitinEwigkeit ..................................
2. Kapitel: Das Gebet bei Paulus (Corpus paulinum) ................ 1. Vorbemerkung. Allgemeine Einteilung der Gebete. . . . . . . . . . . . . . . .
2. Gebet und Heiliger Geist ............................. '," .. .. 3. Die Forderung der Beharrlichkeit im Gebet .................... " 4. Die Vereinigung mit Gottes Willen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 5. Gegenstand der paulinischen Gebete. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 6. Gebetserhörung ........................................... 7. Gebet zu Christus. Gebet durch Christus. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 8. Das Gebetsverhalten .......................... -. . . . . . . . . . . ..
3. Kapitel: Das Gebet im Johannesevangelium und in den Johannesbriefen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 1. Vorbemerkung .... ,....................................... 2. Gebet in Geist und Wahrheit (Kap.4,20-24) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. a) Weder auf diesem Berge noch in Jerusalem . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. b) Im Geist ............................................... c) InderWahrheit ......................................... d) Zusammenfassung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 3. Das Gebet im Namen Jesu Christi in den Abschiedsreden (Kap.13,31-16,33) ......................................... a) Name, Name Gottes, Name Christi .. , ....................... b) Im Namenjemandes; im Namen Jesu Christi ..................
46 47 49 49 49 51 52 53 53 54 57 58 61 63 68 73 77 87 89 91 92 95 106 108 109 112 113 114 116 116 118 118 123 124 126 127 128 129
Inhaltsverzeichnis c) DasGebetimNamenJesu . .......... ...... .... .. ... ..... .. d) Geist und Fürbitte ....................................... e) Die Erhörung des Gebets .................................. 4. Das hohepriesterliche Gebet ................................. 5. Zusammenfassung (Das Gebet in den Johannesschriften) ..........
IX 131 133 135 137 141
4. Kapitel: Übersicht über das Gebet in den anderen neutestamentlichen Schriften (Apostelgeschichte, 1. Petrusbrief, Jakobusbrief, Hebräerbrief, Johannesoffenbarung) .......................... , 143 1. Apostelgeschichte ................................... ~ ..... , 2. 1. Petrusbrief. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 3. Jakobusbrief . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 4. Hebräerbrief . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 5. Johannesoffenbarung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..
143 145 145 146 148
III. Teil
Synthese. Zugleich Versuch einer vom N euen Testament aus zu erteilenden Antwort auf heutige Fragen Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 152 1. Kapitel:DieSchwierigk~sBetens ........................... 154
2. Kapitel: Die menschlichen Schwächen und das Gebet ............. 156 1. Falsches Beten ............................................ 156 2. Unterlassendes Betens ..................................... 157
3. Kapitel: Gottesvorstellung und Gebet . ........................ ". 161 4. Kapitel: Gottes Vorherwissen und sein Wille, daß wir trotzdem zu ihm beten ................................................... 168 5. Kapitel: Unveränderlichkeit des göttlichen Plans und göttliche Freiheit, Gebete zu erhören ....................................... 171 6. Kapitel: Das Gebet und die Frage nach Gottes Allmacht über das Böse ......... .............................................. 174
Schluß ...................................................... 180 Autorenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 183 Bibelstellenregister .......................................... 187
Vorbemerkung Ein Buch über das Gebet zu schreiben,ist ein fragwürdiges Unternehmen, und zwar für Gläubige und Ungläubige. Der Gläubige, der überzeugt ist, im Beten mit Gott zu sprechen, wird nicht ohne Scheu darüber reden, auch wenn er sich gedrungen fühlt, Zeugnis davon abzulegen. Er muß sich sogar fragen, ob er nicht das, was er als beglückenden Ausdruck seines Glaubens im Vollzug des Gebets erlebt, seiner Tiefe beraubt, wenn er es nachträglich zum Gegenstand der Analyse und der theoretischen Diskussion macht. Er könnte dies als Anmaßung und im Hinblick auf das, was im »Kämmerlein« und nicht an den »Straßenecken« geschehen soll (Mt. 6,5f.), als religiöse Unkeuschheit empfinden. Muß er deshalb darüber schweigen? Vor solche Fragen ist der sogenannte nichtgläubige Religionswissenschaftler nicht gestellt. Denn es gibt in der Tat Aspekte des Betens, die für solche, die nie gebetet haben oder nicht mehr beten, Gegenstand psychologischer Analyse oder moderner Tiefenpsychologie sein mögen. Auch für Theologen, die sich in ihrem Reden über das Gebet bewußt auf diese Aspekte beschränken, bestehen die genannten Hemmungen nicht, aber ebenfalls nicht für solche, die meinen, eine Begegnung mit einem transzendenten Gegenüber, wie sie andere Theologen zu erleben überzeugt sind, tiefenpsychologisch restlos erklären zu können. Freilich sollten sie sich fragen, ob sie das Recht haben, das, was sie selbst nie, was aber andere als über das tiefenpsychologisch Erklärbare hinausgehend erleben, einfach zu ignorieren oder zu leugnen. Für den Beter, der die Wirklichkeif dieses Erlebens mit Max Scheler füt »aller Psychologie entzogen« hält, ist gerade dieses Erleben das, was ihm deshalb alles Theoretisieren darüber zu verbieten scheint. Jedoch gibt ihm anderseits die Notwendigkeit, die Echtheit seines Erlebens zu verteidigen, nicht nur das Recht, sondern macht es ihm zur Pflicht, das Gebet, das nach Origenes »Herzpunkt aller Frömmigkeit« und nach Luther »der eigentliche Beruf des Christen« ist, zum
2
Vorbemerkung
theologisch zu behandelnd~n Thema zu machen, und in der Tat ist jede christliche Glaubenslehre mit diesem Thema untrennbar verbunden 1. Diese theologische Besinnung dient nicht nur der Verteidigung, sondern sie soll auch eine Hilfe sein für alle, die sich aufrichtig bemühen, zu beten, denen aber die zu Gottes Eigenschaften gehörende »Verborgenheit« zur Anfechtung wird, die sie daran hindert, die gesuchte Begegnung mit ihm zu finden. Es mag wenig Beter geben, denen eine solche Anfechtung, besonders angesichts nicht erhörter Gebete, ganz erspart geblieben ist. Nicht immer, aber oft ist sie Folge falschen Betens, das als solches erkannt werden muß. Das Beten ist zugleich größte uns verliehene Gnadengabe und schwierige Aufgabe, die gelernt sein muß .•• Herr, lehre uns beten«, sagen die Jünger zu Jesus (Luk. 11,1). Auch dies ist ein Grund, über das Beten nachzudenken. J esus selbst, der doch daran gehalten hat, die Heiligkeit seines Gesprächs mit Gott nicht zu profanieren und es deshalb in der Einsamkeit zu führen 2 , hat die Seinen nicht nur das Vaterunser beten gelehrt, sondern er hat ihnen immerfort Gebetsanleitungen gegeben, um sie vor falschem Verhalten zu bewahren, sie zum Verharren zu mahnen und ihrem Glauben Erhörung zu verheißen. Auch Paulus kennt die Schwierigkeit des Betens: •• Wir wissen nicht, was wir beten sollen, wie es sich gebührt« (Röm. 8,26), aber er verweist auf den Beistand des Heiligen Geistes und zeigt in allen seinen Briefen durch das eigene Beispiel und durch Belehrung, wie wir mit dieser Hilfe beten sollen. Das ganze Corpus Paulinum sowie die Jo~an neischen und die meisten andern Schriften stellen das Gebet in Zusammenhang mit ihrer Theologie, aber anderseits ist ihre Theologie im Gebet verankert. So ist es berechtigt, die Frage nach dem Wesen allen Betens an Hand einer objektiven neutestamentlichen Darstellung zu behandeln. Dabei 1 Siehe dazu GERHARD EBELING, Das Gebet, ZThK 1973, S. 206ff. und Dogmatik des christlichen Glaubens Bd.l, Tübingen 1979, S.192fT., besonders S.208: Das Gebet ist »nicht ein religiöser Akt neben andern, sondern das Ganze des Gottesverhältnisses konzentriert sich in ihm«. Siehe aber auch schon HEINRICH OrT, Theologie als Gebet und Wissenschaft, Theol. Zeitschrift 1958, S. 123, HANs URS VON BALTHASAR, Das betrachtende Gebet, Einsiedeln 1965 und HANs SCHALLER, Das Bittgebet. Eine theologische Skizze, Einsiedeln 1979, S. 11fT. Zugespitzt, aber sachlich richtig schreibt GOTTHOLD MÜLLER in: TRE, Art. Gebet S. 88: »Die entscheidende Frage kann nicht mehr lauten: Welchen Ort hat das Gebet in der Dogmatik?, sondern nur noch: Welchen Ort hat die Dogmatik im Gebet?« Daß das Gebet ein Mittel der Erkenntnis Gottes und unser selber ist, betont besonders M. Luther, siehe unten S. 13. 2 Siehe unten S. 28.
Vorbemerkung
3
soll aber ja nicht außer Acht bleiben, daß das neutestamentliche Gebet im Alten Testament verwurzelt ist. Obwohl wir uns hier ganz auf das christliche Gebet konzentrieren, dürfen wir von diesem Zentrum aus von »biblischem Gebet« sprechen. In einem weiteren Zusammenhang vergessen wir nicht, daß das Gebet im Islam und in verschiedener Ausprägun~ in andern Religionen seinen festen Platz hat 3 . Dem Neuen Testament wird also der große Hauptteil des vorliegenden Buches gewidmet sein. Aber damit er zugleich als Antwort auf alle Gebetsprobleme diene, wird er, ohne daß die exegetische Darstellung von ihnen beeinflußt wird, von einem kurzen Einleitungs- und einem SchlußteiI eingerahmt. Im ersteren soll eine Übersicht über die Einwände gegen das Gebet, die aufgeworfenen Probleme und das, was man heute die Gebetskrise zu nennen pflegt, geboten werden. Im Schlußteil werde ich versuchen, die verschiedenen neutestamentlichen Aussagen zusammenzufassen in einer Synthese, die gleichzeitig die gesuchte Antwort implizit enthalten soll. Ohne die Vollständigkeit einer Konkordanz anzustreben, werde ich mich bemühen, in drei längeren Kapiteln über die Synoptiker, Paulus und Johannes und einem kürzeren über die anderen Schriften keine wichtige Stelle zu unserem Thema zu übergehen, aber doch diejenigen Aussagen herauszuheben, von denen aus der vielleicht gewagte Versuch einer zusammenhängenden neutestamentlichen Gebetslehre ermöglicht werden kann. Ich schicke im folgenden keine eigentliche Bibliographie voraus. Mehrere z. T. wertvolle Untersuchungen, mit denen ich meine in diesem Buch vorgetragene und in meiner langjährigen Beschäftigung mit dem Neuen Testament gewonnene Sicht in kritischer Prüfung lernend konfrontierte, werde ichjeweils nur im Zusammenhang meiner Ausführungen zitieren. Dies gilt besonders auch für die neutestamentlichen Kommentare .. Im~erhin sollen hier die ausführlichen Monographien aufgeführt werden, die besonders zu berücksichtigen sind, und zwar nur die neue-
Siehe dazu das, wenn auch im einzelnen überholte, doch immer noch klassische Buch Das Gebet. Eine religions geschichtliche und religions psychologische Untersuchung, München 1920ff. 3
FRIEDRICH HElLERS,
4
Vorbemerkung
ren, obwohl ich den alten Kirchenvätern\ vor allem Origenes 5 , den Scholastikern, den Reformatoren und Autoren des 17. und 18. J ahrhunderts 6 wichtige Erkenntnisse verdanke. Unter den Monographien über das neutestamentliche Gebet gibt es nur äußerst wenige, die das ganze Neue Testament daraufhin untersucht haben wie die sehr vollständige und gut dokumentierte, zuweilen den engen Rahmen des Gebets überschreitende des französischen Franziskaners A. Hamman 7 • Stark konzentriert ist die viel kürzere, persönliche Thesen vertretende des verstorbenen Neutestamentlers Chr. Senft von Lausannes. Die andern neutestamentlichen Monographien betreffen einzelne Schriften, besonders das Vaterunser: Als ältere, aber immer noch zu beachtende ist die von E. Lohmeyer zu nennen 9 • In neuerer Zeit hat der französische klltholische Theologe J. Carmignac seine gründlichen philologischen Kenntnisse in den Dienst der Exegese des Herrengebets gestellt und in einem größeren Werk z. T. originelle und interessante, wenn auch nicht allgemein akzeptierte Erklärungen vorgeschlagen 10. Zuletzt hat der Basler reformierte Theologe J. M. Lochman dem Vaterunser eine theologisch tiefgründige Studie gewidmet l l . Über das Gebet bei Paulus besitzen wir vor allem die schon ältere sehr gründliche Arbeit von G. Harder 12 und jetzt die Dissertation vonR. Gebauer l3 • Letztere enthält eine vollständige und ausgezeichnete, auch die ganze nichtdeutsche Literatur- erfassende Geschichte der Ausle4 Für die 3 ersten Jahrhunderte siehe die ausgezeichnete Arbeit von A. HAMMAN, La Priere Bd. II: Les trois premiers siecles, Tournai 1963 (Titel des 1. Bandes siehe nachher unten Anm. 7), jetzt auch .. Das Gebet in der alten Kirche« (Übers. von A.SPOERRr) in: Traditio christiana Bd. VII, Bern 1989. Hier kommen auch Artikel in Enzyklopädien in Betracht, so der SEVERINS in ..Antike und Christentum« und besonders der von KLAus BERGER in der TRE, S. 47ff. - Zumneuen .. Katechismus der Katholischen Kirche«, siehe untenS.6. 5 :rrelJi euxii~ in: Die griechischen christlichen Schriftsteller P. KOETSCHAU, Origenes, Berlin 1899. 6 Für die Sammlung .. Beiträge zur Geschichte der biblischen Exegese« (J. C. B. Mohr, Paul Siebeck, Tübingen) wäre eine Arbeit über die Geschichte der Interpretation des christlichen Gebets in diesen Jahrhunderten wünschenswert. - Zu den Luthertexten siehe die ausftihrliche Arbeit von VILMOS VAJTA, Luther als Beter in HELMAR JUNGHANS, Martin Luther von 1526 bis 1546, 1983, S. 279 ff. 7 A. HAMMAN, La Priere I: Le Nouveau Testament, Tournai 1959. B CHR. SENFT, Le courage de prier'-La priere dans le Nouveau Testament, 1985 (2. Aufl.). 9 E. LoHMEYER, Das Vaterunser, Göttingen 1952. 10 J. CARMIGNAC, Recherehes sur le .. Nob·e Pere«, Paris 1969. 11 J. M. LoCHMAN , Unser Vater. Auslegung des Vaterunsers, Gütersloh 1988. 12 G. HAROER, Paulus und das Gebet, Gütersloh 1936. 13 R. GEBAUER, Das Gebet "bei Paulus. Forschungsgeschichtliche und exegetische Studien, Gießen-Basel 1989.
Vorbemerkung
5
gung des paulinischen Gebets. Mit den von ihm selbst gebotenen Erklärungen wichtiger Stellen werde ich mich im Kapitel über das Corpus Paulinum kritisch auseinandersetzen. Die dogmatisch ausgerichteten Monographien über das Gebet im allgemeinen behandeln alle natürlich auch neutestamentliche Texte, so besonders die schon ältere des früheren Straßburger lutherischen Dogmatikers F. Menegoz, dessen umfassendes im deutschen Sprachbereich nicht genügend berücksichtigtes Werk l4 die Relevanz des Gebets für die chris~liche Glaubenslehre aufzeigt. Während später der bekannte Basler Theologe und Seelsorger E. Thurneysen noch darüber klagt, daß die [prot.J Dogmatiker die Lehre vom Gebet vernachlässigen und den Seelsorger und Prediger in dieser Hinsicht allein lassen, findet diese nicht nur in den großen »Dogmatiken«, etwa K. Barths 15, E. Brunners, P. Tillichs, G. Ebelings, W. Pannenbergs usw. ihren gebührenden Platz, sondern seither sind im Zusammenhang mit der Verschärfung der Gebetskrise mehrere Einzelstudien erschienen: die zu wenig beachtete des schweizerischen reformierten Theologen A. de Quervain 16, die des Genfer Prof. Henry Mottu 17 , die stark neutestamentlich ausgerichtete des norwegischen Prof. O. Hallesby 18, die schon erwähnte G. Ebelings 19 und die neueste, von dem Zürcher reformierten em. Professor R. Leuenberger 20 , der die neutestamentlichen Texte berücksichtigt und auf die Probleme des Betens eingeht, aber auch stark ihre Erklärung durch die Psychologie heranzieht und von hier aus den Begriff'des Gebets sehr weit faßt. Biblische Texte, vor allem das Vaterunser, erklärt in seinem zu beachtenden Buch über das Gebet der Anthroposoph H. W. Schröder 21 • Sehr wertvoll ist auch der den dogmatischen Teil des Artikels »Gebet« behandelnde Beitrag Gotthold Müllers in Realenzyklopädie, S.84ff. Von katholischer Seite verdient da~ konzentrierte, aber tiefschürfen14 F. MENEGOZ, Le probleme de la priere. Principe d'une revision de la methode theologique, Strasbourg-Paris 1925, 19322 • 15 Viele Hinweise in der Kirchlichen Dogmatik Karl Barths pass., besonders auch über das Vaterunser. 16 A. DE QUERVAIN, Das Gebet, Zollikon 1948. 17 »La pliere et les mouvements theologiques actuels«, Bulletin du Centre protestant d'Etudes 1968. 18 O. HALLESBY, Vom Beten. Deutsch als Taschenbuch, Wuppertal1985. Übersetzt aus der norwegischen schon älteren Originalausgabe (5. a.). 19 G. EBELlNG, »Das Gebet«, ZThK 1973, S. 206ff. 20 R. LEUENBERGER, Zeit in der Zeit. Über das Gebet, Zürich 1988. 21 H. W. SCHRÖDER, Das Gebet. Übung und Erfahrung, Stuttgart 1963fT., 1977, 19883 .
Vorbemerkung
6
de Buch de~ bekannten Theologen R. Guardini 22 besondere Erwähnung. Ebenso die Arbeit über das »Bittgebet«, in dem der katholische schweizerische Studentenseelsorger H. Schaller 23 außer einer Kritik Kants und Bernets 24 positiv die Gebetsauffassung Thomas von Aquins klar wiedergibt und zu der seinen macht, wobei er gut erkennen läßt, daß sie eine vom Neuen Testament inspirierte Antwort auf die von diesem gestellten Zentralfragen erteilt. Wichtige Beiträge enthält das »Demander et rendre graces« betitelte Heft der Revue Concilium, Paris 1990 (Nr.229). Der nach Abschluß meines Manuskripts erschienene »Katechismus der Katholischen Kirche« widmet dem Gebet ein besonders lesenswertes - vielleicht das beste - Kapitel des Werks. Die Verweise auf die Kirchenväter und die Zitate aus ihnen sind sehr wertvoll. Aber auch das Neue Testament ist gebührend berücksichtigt. Nicht vom Neuen Testament aus, sondern besonders von der Tiefenpsychologie aus behandelt der Zürcher em. Professor W. Bernet 25 die Frage des Gebets. Die radikale Kritik, die er von hier aus übt, trifft implizit natürlich auch die neutestamentlichen Gebete: Gebet sei nicht Dialog, nicht Ich-Du-Beziehung, nur Reflexion über sich selbst. Weniger konsequent ist die Stellung D. Sölles, die in verschiedenen Veröffentlichungen über das Gebet geschrieben hat 26 • Sie geht nur teilweise vom Neuen Testament aus, besonders jedoch von der modernen Wirklichkeitserfahrung unq der aus ihr abgeleiteten Welt- und Gottesauffassung. Sie hält aber am Gebet fest und schafft dafür ein Modell eines diesseitig orientierten »Sich Sagens vor Gott«, für das sie sich aufs Neue Testament beruft 27 •
R. GUARDINI, Vorschule des Gebets, Einsiedeln 1952. Erste Ausgabe schon 1943. H, SCHALLER, Das Bittgebet. Eine theologische Skizze, Einsiedeln 1979. 24. W. BERNET, Gebet, Stuttgart 1970. 25 Ibidem. 26 D. SOLLE U. A., Gebet, in: Theologie flir Nichttheologen, Stuttgart 1966, abgedruckt auch in Atheistisch !In Gott glauben, Olten-Freiburg 1968, S. 109ff. (Im folgenden nach diesem Buch zitiert.) E!ldem, .Wir wissen nicht, was wir beten sollen« in: Die Wahrheit ist konkret, Olten-Freiburg 1967. Ead., Politisches Nachtgebet in Köln, Stuttgart 1969 (2. Aufl.). 27 Dies tut sie insofern mit Recht, als dieses Modell sich zu solchen Aspekten des Betens in Gegensatz stellt, die auch vorn Neuen Testament verurteilt werden. Jedoch eliminiert sie gleichzeitig andere, mit ihrem Verständnis unvereinb!lre Elemente, von denen wir exegetisch prüfen müssen, ob sie nicht konstitutiv als unentbehrliche Voraussetzungen zu allen neutestamentlichen Gebetsaussagen und Gebeten gehören. Im Laufe unserer Arbeit werden wir daraufzurückkommmen. 22 23
1. Einleitender Teil
Schwierigkeiten des Betens und Einwände gegen das Beten Die »Gebetskrise«, von der heute so oft gesprochen wird, ist nichts NeuesI. Es hat sie zu allen Zeiten, auch schon im nichtchristlichen Altertum gegeben, also unabhängig von den heutigen wissenschaftlichen Fortschritten, neuen Erkenntnissen und deren Auswirkungen, einschließlich Tiefenpsychologie, in denen gewöhnlich der einzige und entscheidende Grund aller Gebetsproblematik gesehen wird. In Wirklichkeit wirft alles Nachdenken über das Betenals solches Fragen auf. Wir haben schon gesagt: Wie das Beten selbst n.icht nur beglückend, sondern auch schwierig ist, so ruft das Reden über das Beten Einwände hervor, die zu kategorischer Ablehnung führen können. Wenn wir in der vorliegenden Arbeit im Neuen Testament die Antwort auf die Fragen suchen, so heißt dies keineswegs, daß das neutestamentliche Gebet, vom Denken aus gesehen, nur Antwort, nicht auch Frage sei. Im Gegenteil: die Schwierigkeiten und Einwände (auch menschlich bedingte Entstellungen), die wir in diesem einleitenden Teil unseres Buches aufzählen, betreffen gerade auch das christliche Beten, wie es sich uns im Neuen Testament zu erkennen gibt, obwohl wir anderseits gerade im gleichen Neuen Testament die Antwort auf die Gebetsprobleme suchen, die sich in allen Religionen stellen. So sind die Schwierigkeiten, die wir im folgenden beschreiben, solche, die wir als Glieder unserer christlichen Kirchen erleben. Die Ablehnungen stammen zwar teilweise von solchen, die sich nicht als Christen betrachten, aber das Beten, das sie bekämpfen, ist meistens das christliche, dem sie im Umkreis, in dem sie leben, begegnen. 1 Go'I'THOLD MÜLLER, TRE
op. cit. S. 85, erwähnt allerdings auch die Meinung HERMANN Wie betet der heutige Mensch?, 1972, nach der die Gebetskrise wie die "Gott ist tot-Theologie« die umgekehrte Wirkung hervorgebracht hat, daß nie so viel wie heute über das Beten gesprochen und geschrieben worden sei.
SCHMIDTS,
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Einleitender Teil
1. Kapitel Die Schwierigkeiten Wir unterscheiden einerseits die Schwierigkeiten, die den praktischen Vollzug des Betens erschweren, also ein Hindernis auch für Glaubende sind, die gebetet haben, noch beten 'oder zu beten versuchen -Schwierigkeiten, die oft auch zum Verzicht führen; anderseits: prinzipielle Ablehnung, Einwände, die theoretisch gegen alles Beten oder bestimmte Gebetsformen erhol;>enwerden. Bei den Schwierigkeiten handelt es sich zunächst um an sich berechtigte Fragen, die sich aus dem Beten ergeben, dann um solche, die durch menschliche Schwächen erzeugt werden.
1. Fragen, die das Beten selbst aufwirft
Im Vordergrund steht hier die schmerzliche Erfahrung nicht erhörter Gebete, die oft in der mehr oder weniger resignierten Klage ihren Ausdruck findet: ich habe viel gebetet, es hat nichts genützt. Massive Aussagen des Neuen Testaments, Worte Jesu selber, die für aUe Gebete Glaubender Erhörung verheißen, verschärfen den Anstoß. Wenn ein Krieg droht, wird in allen Kirchen für den Frieden gebetet, und Wie oft muß erlebt werden, daß der Krieg ausbricht. Die Bibel selbst, und gerade auch das Neue Testament, berichtet von nicht erhörten Gebeten. Die Erfahrung: Gott bleibt stumm, die Verborgenheit Gottes führt viele, die aufrichtig gebetet haben, zu der oft verzweifelten Folgerung der Nutzlosigkeit des Gebets. Nur selten bleibt es bei dem »Dennoch« des Betens, eines Verhaltens, wie ich es vor Jahren in der Bemerkung einer guten einfachen Frau aus dem Volke, deren Aufrichtigkeit und gesunden Menschenverstand ich schätzte, feststellen konnte. Bekümmert um das Schicksal eines gemeinsamen Bekannten sagte sie mir: •• Glauben Sie, daß Beten etwas nützt? Ich glaube es nicht. Aber ich werde trotzdemfür ihn beten.« Sicher war dies kein gedankenloses Gebet. Das Vorkommen nicht erhörter Gebete im Neuen Testament wird uns erlauben, von jenen Fällen aus die Antwort des Neuen Testaments zu suchen. Wir haben von Gebeten für die Erhaltung des Friedens gesprochen.
Die Schwierigkeiten
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Aber abgesehen von ihrer Nichterhörung wird die Tatsache der Kriege selbst sowie auch der Naturkatastrophen zur Anfechtung fÜr den Betenden. Aus der Geschichte des 18. Jahrhunderts ist bekannt, wie das viele Menschenleben fordernde Erdbeben von Lissabon eine allgemeine Glaubenserschütterung auslöste. Selber denken wir an Kriegsez;eignisse unserer Zeit, die die Gebetskrise verschärfen. Aus den letzten Monaten des ersten Weltkrieges ist mir eine persönliche Erinnerung an die Wirkung der Meldung geblieben, daß eines der ferngesteuerten deutschen Geschosse eine Pariser Kirche und die in ihr zum Gebet versammelte Gemeinde traf. Ich war 16 Jahre alt und weiß noch, wie diese Nachricht mich innerlich aufrüttelte und wie mir (und nicht nur mir) die bange Frage auf der Zunge brannte: Welchen Schluß sollen wir aus solchem Geschehen für das Beten ziehen? Im Anschluß an die furchtbaren Ereignisse des zweiten Weltkriegs sind ähnliche Fragen aufgetaucht, so die oft gehörte: Wie kann man nach Auschwitz noch beten?2 Sie wird begründet mit der Unmöglichkeit, angesichts solchen Geschehens an Gottes Güte zu glauben: In der Tat ist ohne diesen Glauben die von dem Betenden, wie wir sehen werden, nach dem N euen Testament geforderte Bereitschaft, sich Gottes Willen zu beugen, ausgeschlossen. Damit nehmen wir z. T. schon einen der Einwände vorweg, die mit einer bestimmten Gottesauffassung zusammenhängen und die wir erst im nächsten Abschnitt zu behandeln haben. Hier mußte im Rahmen der ohne besonderes menschliches Verschulden auftauchenden Schwierigkeiten bereits von dieser Anfechtung gesprochen werden. Wir werden im letzten Kapitel daraufzurÜckkommen 3 • Denn das Glaubensproblem des Bösen und der Theodizee ist auch ein Gebetsproblem. Ebenfalls mit der nachher zu besprechenden Gottesauffassung hängt eine weitere Frage zusammen, die sich der Betende immer wieder zu stellen versucht ist: Wie kann Gott, der das All regiert, sich um meine kleinen Anliegen kümmern? Wozu überhaupt beten, wenn er doch alles im voraus weiß? Wie kann er gleichzeitig auf diejenigen so vieler betender Mitmenschen eingehen, wie in einem Kriege zugleich auf die Gebete des einen Volks für seinen Sieg und diejenigen seiner Feinde für den ihren? Auch darauf mag im Anschluß an das Neue Testament eine Antwort versucht werden 4 • 2
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Siehe unten S.161; 167 A. 23a; 175ff. Siehe S. 174ff. Siehe unten S. 167.
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Einleitender Teil
2. Aus menschlicher Unzulänglichkeit sich ergebende Schwierigkeiten An festgesetzte Zeiten und Sitten gebundene Gebete sollen und können eine Gebetshilfe sein 5 • Gefährlich werden sie erst, wenn menschliche Schwäche ihre durch ihren Sinn gebotene Regelmäßigkeit in gedankenlose Gewöhnung verkehrt. Dieser Gefahr verfallen wir, wenn wir sie nicht sehen und nicht gegen sie reagieren. Ich denke an Abend- und Morgengebete sowie das Tischgebet, zu denen in christlichen Familien die Kinder angeleitet werden, an denen aber auch Erwachsene oft während ihres ganzen Lebens festhalten. Mönchsregeln schreiben die »Gebetsstunden